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German Pages [405] Year 2022
Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 83 Unter Mitwirkung von
Michael Brenner · Astrid Deuber-Mankowsky · Sander Gilman Raphael Gross · Daniel Jütte · Miriam Rürup Stefanie Schüler-Springorum · Daniel Wildmann (geschäftsführend) herausgegeben vom
Leo Baeck Institut London
Lisa Sophie Gebhard
Davis Trietsch – Der vergessene Visionär Zionistische Zukunftsentwürfe zwischen Deutschland, Palästina und den USA
Mohr Siebeck
Lisa Sophie Gebhard, geboren 1988; Studium der Geschichts- und Kulturwissenschaften in Berlin, Jerusalem, Kiel und Mailand; 2021 Promotion (Freie Universität Berlin); seit 2021 Wissenschaftliche Volontärin am Deutschen Historischen Museum.
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Axel Springer Stiftung und der Stiftung Irene Bollag-Herzheimer. ISBN 978-3-16-161816-1 / eISBN 978-3-16-161817-8 DOI 10.1628/978-3-16-161817-8
ISSN 0459-097X / eISSN 2569-4383 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2022 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen aus der Minion gesetzt und von Hubert & Co in Göttingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Den Umschlag entwarf Uli Gleis in Tübingen. Umschlagabbildungen: Karikatur von Davis Trietsch aus Schlemiel. Jüdische Blätter für Humor und Kunst 1 (1919), Nr. 8, S. 117, digitalisiert durch die Universitätsbibliothek J. C. Senckenberg Frankfurt am Main [2022]; Porträt von Davis Trietsch zu seinem Artikel „Odpowiedź niezadowolonego“, in: Leon Reich (Hg.), Almanach Żydowski, Lwów 1910, o. P., digitalisiert durch die Biblioteka Cyfrowa Uniwersytetu Łódzkiego [2022]. Printed in Germany.
Für David, Nela & Louis
Dank Mich an dieser Stelle bei all den Menschen zu bedanken, die mich auf meinem Weg durch die Promotionsphase begleitet haben, ist weniger eine akademische Gepflogenheit als ein persönliches Bedürfnis. Ein besonderer Dank gebührt meiner Betreuerin Ina Ulrike Paul, die mir zu jeder Zeit mit Rat und Tat zur Seite stand und das Projekt mit ihrem breiten Wissen außerordentlich bereichert hat. Durch sie habe ich mich über die Jahre nicht nur fachlich, sondern auch menschlich bestmöglich im Wissenschaftsbetrieb aufgehoben gefühlt. Meinem Zweitbetreuer Rainer Kampling bin ich ebenfalls zu großem Dank verpflichtet. Er ist mir stets mit Neugier und Verständnis begegnet, ebenso wie er dem Projekt zu jeder Zeit ,Nur Gutes‘ zu wünschen bereit war. Ohne die großzügige Unterstützung der Studienstiftung des deutschen Volkes wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Dass mir die Stiftung nach der Geburt meiner Tochter ein weiteres Jahr Finanzierung gewährte, habe ich als ein großes Privileg empfunden. Daniel Wildmann sei an dieser Stelle ganz besonders gedankt. Zusammen mit Elena Müller und Markus Kirchner hat er den Publikationsprozess stets anregend und kompetent begleitet. Ein großer Dank gebührt Ines Sonder und Klaus Hillenbrand. Sie haben von Anfang an die Auffassung geteilt, dass es sich bei Davis Trietsch um einen besonderen historischen Akteur handelte, dessen Lebenswerk eine eingehendere Behandlung verdient. Mit Freude denke ich an gemeinsame Tage zurück, an denen wir uns zum ,Trietschen‘ trafen. Ihnen beiden verdanke ich auch den Kontakt nach Israel zu den Enkelkindern von Trietsch. Dass sich sein Enkel Uri Jeremias als Uri Buri entpuppte, der legendäre israelische Koch für Fisch und Meeresfrüchte, war eine von vielen schönen Überraschungen. Uri und Yael Jeremias sei für ihre großartige Gastfreundschaft gedankt, die mich vergessen ließ, dass ich eigentlich nur als Wissenschaftlerin zu ihnen nach Nahariya gekommen bin. Daniela Chen ging dafür alte Familiendokumente mit mir durch. Sie interessierte sich bis zum Schluss für die Arbeit über ihren Großvater und beantwortete mir viele Fragen. Dass ich ihr die fertige Arbeit nicht mehr überreichen kann, erfüllt mich mit tiefer Trauer, dass wir uns noch kennenlernen konnten, aber mit großer Dankbarkeit. Im Zuge meiner Israelaufenthalte bin ich vielen besonderen Menschen begegnet. Adi Tovy, die mir bei den hebräischen Quellen geholfen hat, ist so ein Mensch. Zum Andenken an Trietsch, von dem auch sie zuvor nie gehört hatte, will sie uns beim nächsten Wiedersehen ein Huhn kochen. Nach allem, was ich über die moderne Geflügelwirtschaft gelesen habe, werde ich dies dankend ablehnen müssen. Giora Katz, der guten Seele aus dem Zionistischen Zentralarchiv, und Stefan Litt
VIII
Dank
aus der israelischen Nationalbibliothek (beide Jerusalem) sei für ihre fachkundige Unterstützung im Besonderen gedankt. Weitere Helferinnen und Helfer, die mich aus den USA, Europa und Israel unterstützt und inspiriert haben, sind in alphabetischer Reihenfolge: Inka Arroyo Antezana, Irene Aue-Ben-David, Gerhard Baader sel. A., Olivier Baisez, Lina Barouch, Michael Brenner, Elisabeth Briefer, Oded Fluss, Tom Fogel, Martin Geyer, Israela Ginsburg, Nora Goldenbogen, Franziska Hartleb, Gisela Hoppe, Leor Jacobi, David Jünger, Olga Kämmer, Antje Kalcher, Marion Kaplan, Semra Krieg, Ronit Lang, Edina Meyer-Maril, Vladislav Martynovitch, Sonja Miltenberger, Yair Misch, Sara Nasereddin, Sunita Nath, Stefan Noack, Hanna Plutat-Zeiner, Sarah L. Pohl, Uwe Puschner, Rochelle Rubinstein, Miriam Rürup, Annette Sasse, Sagi Schaefer, René Schreiter, Axel Schröder, Claudia Schülzky, Amiel Shefer, Asnat Shiran, Björn Siegel, Rafael Siodor, Helmut Teufel, Gunda Ulbricht, Detlev Vonde, Jörg Waßmer, Yfaat Weiss, Jutta Wiese, Mandy Wise, Laurel S. Wolfson und Tamar Yissar. An die ,Zionismen‘-Gruppe um David Hamann, Felix Schölch, Albrecht Spranger und Fabian Weber denke ich mit Vergnügen, aber auch ein wenig Wehmut zurück. Unsere Arbeiten sind nun alle zu einem Ende gekommen, die Forschung zum deutschsprachigen Zionismus hoffentlich aber nicht. Jan Rybak und Dana von Suffrin haben mich in diesem Umfeld besonders inspiriert, der eine als ein äußerst kluger und liebenswürdiger Wissenschaftler, die andere darüber hinaus als eine talentierte Romanautorin. Zum Schluss möchte ich meiner Familie danken. Insbesondere meinen Großeltern, die jeden meiner wissenschaftlichen Texte, von der Proseminar‑ bis zur Doktorarbeit, gelesen haben. Dass sie mich auch durch die Dissertation begleitet haben, werde ich ihnen, wie so vieles mehr, was sie für mich getan haben, nie vergessen. Meine Mutter, die stets hinter mir stand, hat mir oft den Rücken freigehalten, sodass ich auch tagsüber arbeiten konnte. Mein Schwiegervater hat die Arbeit als pensionierter Geschichtslehrer mit großem Interesse und Sachverstand begleitet, wofür ich ihm ebenfalls dankbar bin. Louis, obwohl erst elf Jahre alt, hat mich mit seinen vielen klugen Fragen zu Trietsch, den er in seiner kindlichen Vorstellung kurzerhand zum Gründer Israels erklärte, hervorragend motiviert. Meinem Mann gebührt an dieser Stelle der letzte Dank. Obwohl ich mich über mehrere Jahre buchstäblich dem Leben eines anderen Mannes verschrieben habe, stand er stets an meiner Seite. Neben seiner kompetenten Kritik und mentalen Unterstützung, die besonders gefragt war, als meine Festplatte mit mehr als 10.000 Archivdokumenten abzustürzen drohte, hat er mich in Israel bei mehreren Recherchen begleitet. Unsere abenteuerliche Suche nach dem Grab von Trietsch wird mir ebenso im Gedächtnis bleiben wie das sensationelle 3-Gänge-Fischgericht bei Uri Buri, das wir trotz vegetarischer Lebensweise nicht ausschlagen konnten. Berlin, im Oktober 2022
Lisa Sophie Gebhard
Inhalt Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII
1. Annäherungen an einen vergessenen Visionär Davis Trietsch (1870–1935): Eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Vom Wohnen in der Vertikalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Ein pragmatischer Utopist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.3 Ins Gelingen verliebt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.4 Imaginations‑ und Referenzräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.5 Die Bedeutung der USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
2. „Die Zukunft des Orients“ Zionistische Zukunftsvisionen für den Nahen Osten . . . . . . . . . . . . 29 2.1 Jüdische Geflüchtete in New York: Eine prägende Begegnung . . . . . . . . . 29 2.2 Die ,orientalische Lösung der Judenfrage‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.3 Aufschwung durch Zentralität: Palästina, ein globaler Knotenpunkt . . . 44 2.4 Jüdinnen und Juden als Kulturvermittelnde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2.5 Do ut des: Eine deutsch-jüdische Interessengemeinschaft . . . . . . . . . . . . . 59 2.6 Strategische Allianzen: Deutschland und der aufsteigende Halbmond . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
3. „Greater Palestine“ Zionistische Raumkonzeptionen als Geisteskinder ihrer Zeit . . . 73 3.1 Die Bestimmung der Grenzen: Wo liegt Palästina? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3.2 Davis Trietsch und sein Raumkonzept Greater Palestine . . . . . . . . . . . . . 80 3.3 Zeitgenössische Schlagworte: Greater Britain und Greater Palestine . . . 92 3.4 Das Zypern-Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3.5 Stürmische Szenen auf dem Kongress: Die Kritik Theodor Herzls . . . . . 108 3.6 Greater Palestine in der zionistischen Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
X
Inhalt
4. „Palästina und die Juden. Tatsachen und Ziffern“ Ein akribischer Autodidakt und die anerkannten Palästina-Experten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 4.1 Exkurs: Die frühen Lebensjahre von Davis Trietsch . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 4.1.1 Herkunft und Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 4.1.2 Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 4.2 Zionismus und Expertentum: Ein Selfmade-Zionist ohne Doktorhut . . 140 4.3 Ein Informationsbüro für Palästina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 4.4 Wissensvermittlung durch auflagenstarke Handbücher . . . . . . . . . . . . . . . 157
5. „Massenwanderung und Massensiedlung“ Forderungen nach einer großangelegten Einwanderung . . . . . . . . 165 5.1 „Dunam um Dunam, Ziege um Ziege“: Zionistische Maximalpositionen nach dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . 165 5.2 Die Auswahl der jüdischen Einwandernden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 5.3 Intensiv statt extensiv: Debatten um eine maximale Bodennutzung . . . . 182 5.4 Die Industrie zur Realisierung der Einwanderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 5.5 Palästina als ein moderner Garten Eden: Gartenstädtische Industriedörfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
6. „Eine californische Colonisations-Methode“ Die transatlantischen Bezugspunkte zionistischer Siedlungsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 6.1 Die USA durch die „Palästinabrille“ sehen: Davis Trietsch und das Studium US-amerikanischer Innovationen . . . . 213 6.2 Ein Informationsbüro in New York . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 6.3 Auf der Suche nach dem ,amerikanischen Geist‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 6.4 Der Einfluss kalifornischer Siedlungen und Achusot . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 6.5 Kalifornien als Modell: Zionistische Forschungsreisen in die USA . . . . 252
7. „Die Rettung der Juden im Aufbau Palästinas“ Ramot HaShavim: Das erste deutsche Eierdorf in Palästina . . . . . 263 7.1 Von Kalifornien lernen: Davis Trietschs Studium moderner Geflügelfarmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
Inhalt
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7.2 Einflüsse der US-amerikanischen Geflügelwirtschaft im Jischuv . . . . . . . 270 7.3 Theorie und Praxis: Die Anfänge von Ramot HaShavim . . . . . . . . . . . . . 278
8. Das Lebenswerk von Davis Trietsch Ergebnisse und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 8.1 Letzte Jahre in Palästina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 8.2 Das Lebenswerk von Davis Trietsch in Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
Anhang Davis Trietschs Zypern-Agitation: Ein Purim-Gedicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Quellen‑ und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Archivquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Bibliografie Davis Trietsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Zeitungen, Zeitschriften und Vereinsblätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
Abkürzungsverzeichnis ADV AECP AIU AJ AJKO BZV CAHJP CV CZA DVP FAZ HddJ ITO JA JC JDC JKV JNF JOKG JV KH PAC PEC PHC PICA TNA UC UCL USDA WIZO WZO ZO ZVfD
Alldeutscher Verband American Economic Committee for Palestine Alliance Israélite Universelle Agudas Jisroel Allgemeine Jüdische Kolonisations-Organisation Berliner Zionistische Vereinigung Central Archives for the History of the Jewish People Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens Central Zionist Archives Deutscher Palästina-Verein Federation of American Zionists Hilfsverein der deutschen Juden Jewish Territorial Organization Jewish Agency Jewish Chronicle American Jewish Joint Distribution Committee Jüdischer Kolonisationsverein Jüdischer Nationalfonds Jüdische Orient-Kolonisations-Gesellschaft Jüdischer Verlag Keren Hayesod Poultry Advisory Committee Palestine Economic Corporation Palestine Homestead Corporation Palestine Jewish Colonization Association The National Archives University of California University College London United States Department of Agriculture Women’s International Zionist Organization World Zionist Organization Zionistische Organisation Zionistische Vereinigung für Deutschland
1. Annäherungen an einen vergessenen Visionär Davis Trietsch (1870–1935): Eine Einführung 1.1 Vom Wohnen in der Vertikalen Wenn Politikerinnen und Politiker in Deutschland heute in einer satirischen Zeitschrift wie der Titanic verspottet werden, spiegelt das immer auch ihre Bekanntheit. Egal, wie tief der Schlag, wie beißend der Witz, wie bitter die Pointe – als Zielscheibe einer politischen Satire auserkoren zu werden, zeigt beides: Prominenz und Relevanz für aktuelle gesellschaftliche Debatten. Zugleich verweist sie aber auch auf die Streitbarkeit einer Person, die offene Flanken bietet. Daran hat sich in den letzten 100 Jahren wenig geändert. Und so kann es als erster Fingerzeig auf den einstigen Bekanntheitsgrad des Zionisten Davis Trietsch gelten, in welcher Frequenz er von der Redaktion der Satirezeitschrift Schlemiel mit Erwähnungen bedacht wurde. Ihrem Herausgeber, dem Zionisten Max Jungmann (1875–1970), zufolge nahm man schließlich bevorzugt die „Grössen des eigenen Volkes“1 ins Visier. Das Satireblatt, das erstmals 1903 in Berlin erschien, widmete Trietsch, dem „Altmeister“2 und „große[n] Gelehrte[n]“, wie es augenzwinkernd hieß, 1919 gleich einen mehrseitigen Artikel. Die vielbelachte Satire „Die Etagen-Siedlung“ zerpflückte dessen Pläne zur Ansiedlung mehrerer hunderttausend Jüdinnen und Juden, mit denen er sich „selbst die Krone aufsetzt[e], die ihm seine Neider bisher versagt“3 hätten. Dem vom Schlemiel erdichteten Werk Die Etagen-Siedlung in Palästina, dem angeblich „500. in der Reihe seiner grundlegenden Schriften“4, sah man mit besonders großer Spannung entgegen, denn: „Hier geschieht nichts 1 Max Jungmann, Erinnerungen eines Zionisten, Jerusalem 1959, S. 64. Zum Schlemiel bislang am ausführlichsten: Axel Stähler, Zionism, the German Empire, and Africa. Jewish Metamorphoses and the Colors of Difference, Berlin 2019; Kurt Nemitz, „Von ,Heißspornen‘ und ,Brauseköpfen‘. Julius Moses, der ,Generalanzeiger für die gesamten Interessen des Judentums‘ (1902–1910) und der ,Schlemiel‘ (1903–1906)“, in: Michael Nagel (Hg.), Zwischen Selbstbehauptung und Verfolgung. Deutsch-jüdische Zeitungen und Zeitschriften von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus, Hildesheim 2002, S. 233–252. 2 David & Goliath, „Die Etagen-Siedlung – die Lösung des Problems der Massen-immigration“, in: Schlemiel. Jüdische Blätter für Humor und Kunst, 1 (1919), Nr. 2, S. 28–30, hier S. 28. Die Rubrik Galerie des Schlemiel erinnert stark an die Galerie berühmter Zeitgenossen in der Satirezeitschrift Simplicissimus. Die dazugehörige Karikatur von Trietsch, die das Cover des vorliegenden Buches ziert, stammt von dem Künstler Menachem Birnbaum (1893–1944?). 3 Ebd., S. 28. 4 Ebd.
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1. Annäherungen an einen vergessenen Visionär
weniger, als daß die Schöpfung an ihrem wundesten Punkte korrigiert wird. […] Die Erde wird, um es kurz zu sagen, vervielfacht.“5 Mit anderen Worten: Trietsch behelligte seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter nicht nur mit einer unübersehbaren Fülle an Publikationen, sondern wollte darüber hinaus etwas Unmögliches schaffen: die endliche Erde erweitern. Das überspitzte Charakterbild, das sich fast wie eine pointierte Kurzbiografie liest, spielt auf zwei zentrale Elemente in Trietschs Werk und Person an, die den Kern der vorliegenden Studie treffen: Seinen unermüdlichen Schaffensdrang und seinen utopischen, oft streitbaren Ideenreichtum. Beide resultierten aus einer Unerschrockenheit im Denken, mit der Trietsch in Form vieler innovativer Pläne und Projekte über die Grenzen seiner Zeit hinausging. Seine Ideen, viele von ihnen großspurig, teils unüberlegt und bis heute nicht vollumfänglich realisiert, machten ihn zu einem überaus interessanten, streitbaren Zeitgenossen. Trietsch plante nach dem Ersten Weltkrieg tatsächlich Großes: Ihm schwebte eine jüdische ,Masseneinwanderung‘ nach Palästina vor, die auf kleiner Bodenfläche bei minimalen Kosten und durch moderne Technik in möglichst kurzer Zeit zu realisieren war. Ausgehend von diesen Steigerungsprämissen, die 1919 ihren vorläufigen Höhepunkt fanden, entwarf der Schlemiel eine fiktive Ansiedlungsform, in der die bisherigen Anbau‑ und Wohnflächen durch Übereinanderschichten mehrerer Etagen im großen Stil vervielfacht werden sollten. Trietschs Name, so der Schluss der Satire, würde dadurch „für die durch ihn glücklicher gewordene Nachwelt eine ewige Herzstärkung sein.“6 Zu „einer neuen menschlichen Schichtung“7 auf Glasplatten mit Erde darauf kam es in Palästina/Israel bekanntlich nicht. Und doch fühlte sich 22 Jahre später der nach Haifa geflohene Zionist Cheskel Zvi Kloetzel (1891–1951) an die bekannte Karikatur im Schlemiel erinnert, als neue Pflanzungsversuche ihm zufolge tatsächlich eine Realisierungschance erkennen ließen.8 Kloetzels Artikel in den Yediot Chadashoth, den Neuesten Nachrichten, informierte über eine neuartige Methode zur Pflanzenzucht, der sogenannten Hydroponik, die der Agronom Selig Soskin (1873–1959) auf einer Ausstellung 1941 in Jerusalem präsentiert hatte. Mit ihr sollten Nutzpflanzen nicht länger in herkömmlichen Saatbeeten gezogen werden, sondern in Wassertanks mit einer konzentrierten Nährlösung. Den Pflanzen, deren Wurzeln in einer Schicht aus Sägespänen Halt fanden, kam dadurch eine optimale Versorgung zu. Ein herkömmlicher Boden, den man hacken und von Unkraut befreien musste, was besonders für ältere Einwander*innen mit körperlichen Anstrengungen verbunden war, wurde so obsolet. Ebenso ließ sich die knappe Ressource Wasser einsparen, die nicht mehr im Ackerboden verdunstete. Tomaten, Kartoffeln und Erdbeeren, so Kloetzels wohlwollendes Fazit, werde man dadurch Ebd., S. 29 [Hervorh. im Original]. Ebd., S. 30. 7 Ebd. 8 C. Z. Kloetzel, „Emanzipation vom Boden. Dr. Soskin’s ,hydroponische‘ Experimente“, in: Yediot Chadashot oley Germanya ve-oley Austria, 16. 5. 1941, S. 4. 5 6
1.1 Vom Wohnen in der Vertikalen
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künftig auch „in der Wüste oder auf dem flachen Dach eines Haifaer Hochhauses“9 ernten können. Die hydroponischen Pflanzversuche bieten in mehrerlei Hinsicht einen geeigneten Zugang zum Lebenswerk von Trietsch. Zum einen illustrieren sie, dass seine schon früh verfochtene Prämisse kleiner Anbauflächen, deren Effizienz er mithilfe moderner Technik maximieren wollte, von einigen anderen Zionisten geteilt und später im größeren Rahmen aufgegriffen wurde. Besonders Soskin warb wie er nachdrücklich für eine intensive Bodennutzung auf kleiner Fläche, durch die möglichst viele Jüdinnen und Juden nach Palästina einwandern sollten. Damit nahmen beide Männer ein grundlegendes Prinzip vorweg, das die israelische Wirtschaft bis heute prägt: den Einsatz intelligenter und effizienter Agrotechnologien, um die begrenzte Anbaufläche des kleinen Landes bei einem für Industrieländer vergleichsweise hohen Bevölkerungswachstum lösungsorientiert zu steigern.10 Viele ihrer Überlegungen sind somit weiterhin aktuell und finden sich an mehreren Orten in Israel in der Praxis umgesetzt: Darunter im Herzen von Tel Aviv, auf dem Dach des Dizengoff-Einkaufszentrums, wo man wasserkultiviertes Gemüse anbaut. Eine Gruppe israelischer Wissenschaftler*innen hat sich dort auf Hydroponik spezialisiert und trägt ihr Wissen seit 2009 in Lehrgängen und Workshops über Israel hinaus in andere Länder.11 Zum anderen liefern die Hydroponics ein erstes instruktives Beispiel für den Transfer US-amerikanischer Wissensbestände, die über zionistische Akteure wie Trietsch oder Soskin ihren Weg nach Palästina/Israel fanden. So erfolgten erste Versuche zum hydroponischen Anbau von Nutzpflanzen 1933 in Kalifornien, wo fünf Jahre später im Umfeld der University of California das Standardwerk The Water-Culture Method for Growing Plants Without Soil erschien.12 Als sich Soskin 1944 für längere Zeit in den USA aufhielt, um dort mit führenden Pflanzenphysiologen in Austausch zu treten, war Trietsch schon fast zehn Jahre tot.13 Die hydroponische Methode hatte er zwar noch kennengelernt, ihre Weiterentwicklung aber nicht verfolgen können. Und doch war er es gewesen, der Innovationen aus den Vereinigten Staaten, wo er für mehrere Jahre gelebt hatte, noch vor Sos 9 Ebd. Zu den Vorzügen siehe auch C. Z. Kloetzel, „Palestine Experiments in Hydroponics. Fruit without Soil“, in: The Palestine Post, 9. 5. 1941, S. 6. 10 Nach Angaben des Taub Center for Social Policy Studies in Israel soll die Bevölkerung Israels bis 2040 auf 12,8 Mio. anwachsen. Population Projections for Israel, 2017–2040, abrufbar unter: https://www.taubcenter.org.il/en/pr/population-projections-for-israel-2017-2040/ (Zugriff 12. 3. 2022). 11 Für weitere Informationen siehe die Homepage https://livingreenglobal.com/, auf der Commercial Hydroponics als „Future of Agriculture“ präsentiert werden (Zugriff 12. 3. 2022). 12 Dennis R. Hoagland/Daniel I. Arnon, The Water-Culture Method for Growing Plants Without Soil, Berkeley 1938. S. auch William F. Gericke, The Complete Guide to Soilless Gardening, London 1940. 13 Selig Soskin an B. Simmenauer, 10. 8. 1944. CZA, A91/23. In diesem Ordner und in A91/20 findet sich diverses Material zu den Hydroponics. Es zeugt von dem großen Interesse, das Soskin der Methode entgegengebracht haben muss.
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1. Annäherungen an einen vergessenen Visionär
kin systematisch studiert und für Palästina vorgeschlagen hatte. Darunter einen Sonnenmotor, ebenfalls aus Kalifornien, auf dessen solarthermisches Potenzial von ihm schon 1901 hingewiesen worden war.14 Trietschs frühe Forderung nach einer systematischen Nutzung erneuerbarer Energien reiht sich somit gleichermaßen in relevante Debatten der Gegenwart ein, die seinem Leben und Wirken ein erhöhtes Maß an Aktualität verleihen.
1.2 Ein pragmatischer Utopist Die Visionen von Trietsch zur Besiedlung Palästinas, die er vorzugsweise mit gesteigerten Adjektiven versah, fielen häufig aus der Zeit und stießen bei führenden Zionisten zunächst auf Unverständnis und Widerstand. Neben der Nutzung regenerativer Energien zählte dazu etwa seine frühe Agitation für die industrielle Erschließung Palästinas. Der analytisch-intellektuelle Schriftsteller Robert Musil (1880–1942) hat einmal zwischen einem Wirklichkeits‑ und Möglichkeitssinn unterschieden. Ihm zufolge verfügten einige Menschen über einen besonders stark ausgeprägten Möglichkeitssinn und damit über die Fähigkeit, „alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“15 Dieser Zugang erweist sich auch im Hinblick auf Trietsch als fruchtbar, dessen Denken weniger an den Parametern des Wirklichen ausgerichtet war, sondern nach alternativen Möglichkeitsformen im Zukünftigen suchte. In seinen vielseitigen Ideen, die auf einen ausgeprägten Pragmatismus folgten, hätten sich, so ein ambivalenter Nachruf auf Trietsch, „Wertvolles und Phantastisches, Prophetie und Utopie“16 vermengt. Der moderne Zionismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurde selbst wiederum von den meisten Jüdinnen und Juden als eine ,phantastische Utopie‘ kritisiert. Die Vorstellung einer jüdischen Nation in ihrer affirmativen Verbundenheit zu Palästina wiesen viele besonders im westlichen Europa zurück. Darüber hinaus mussten sich seine Anhänger*innen den Vorwurf gefallen lassen, der Plan einer Rückkehr nach Zion – selbst, wenn Jüdinnen und Juden ihn in größerer Zahl teilen würden – ließe sich in der Realität gar nicht umsetzen. Mit seinem Opus magnum Das Prinzip Hoffnung beabsichtigte der Philosoph Ernst Bloch (1885–1977), wie Musil ein Zeitgenosse von Trietsch, den oft belasteten Utopie-Gedanken als eine reale Möglichkeit des menschlichen Seins zu rehabilitieren.17 Für Bloch stellte das utopische Denken eine anthropologische Invariante 14 B. E.
446.
[Davis Trietsch], „Zur Orient-Kolonisation“, in: Ost und West 1 (1901), Nr. 6, Sp. 443–
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek 1981, S. 17. „Zum Tode von Davis Trietsch“, in: Mitteilungsblatt der Hitachduth Olej Germania, 3 (1935), Nr. 2, S. 3. 17 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung. In drei Bänden, Frankfurt a. M. 1967 (dt. Ersterscheinung 1957). 15
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1.2 Ein pragmatischer Utopist
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inmitten einer unfertigen Welt dar, die jedem Menschen grundsätzlich eigen sei und so das große Potenzial bereithielt, eingelernte Denkgewohnheiten zu überwinden. Das Hoffen verstanden als eine ,konkrete Utopie‘ im prinzipiell Möglichen würde die Menschheit weit und frei machen und einer besseren Welt selbstwirksam entgegenführen.18 Über diese in jedem Individuum angelegte Fähigkeit des Hoffens und Träumens verfügte Trietsch in besonderem Maße. Im Gegensatz zu Bloch, dessen eigener ,Traum nach vorwärts‘ im Marxismus gründete, waren seine Visionen auf den modernen Zionismus ausgerichtet. Letzterem erkannte Bloch zwar eine exakte Antizipation des Möglichen zu, hielt diese letztlich aber für fehlgeleitet.19 In „Herzls Zion“ erblickte der neomarxistische Autor bloß „eine Utopie des unmittelbar Erreichbaren, mit kapitalistisch-demokratischem Hintergrund.“20 Erst wenn die zionistische Bewegung eine tiefgreifende Transformation entsprechend sozialistischen Gleichheitsversprechen in Gang setzte, so Blochs Fazit, würde sie eine echte ,heimatliche Zukunft‘ für Jüdinnen und Juden schaffen. Diese konnte genauso gut in der jüdischen Diaspora liegen, da der Sozialismus auch dort den Antisemitismus und Nationalismus aushebeln würde. Kurzum: Bloch, der selbst Jude war, hielt den modernen Zionismus für eine antiquierte nationalistische Ideologie. Während Blochs marxistischer Hintergrund ihn für soziale Schieflagen sensibilisierte, nicht aber für den Antisemitismus seiner Zeit, hoben Trietsch und andere Zionist*innen auf die zähe Beständigkeit antisemitischer Stereotype und Ressentiments wiederholt ab. Ein Leben in Sicherheit konnte es für Jüdinnen und Juden ihrer Überzeugung nach nur in einer jüdischen Mehrheitsgesellschaft geben. Ein solch von ihnen erträumtes jüdisches Utopia konstituierte sich schließlich am 14. Mai 1948 mit dem Staat Israel. Eine absolute Sicherheit, wie von zionistischer Seite erhofft und in Aussicht gestellt, gibt es allerdings auch dort nicht, wird der Staat doch bis heute von innen und außen bedroht. Die Geschichte des modernen Zionismus reicht so tief bis in die Gegenwart hinein – ein Umstand, aus dem heraus sich erklären lässt, weshalb auch die Geschichte des deutschsprachigen Zionismus in den letzten Jahren das Forschungsinteresse mehrerer Historiker*innen geweckt hat. Unter ihnen sind besonders jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, die – wie von dem Historiker Stefan Vogt 2014 bilanziert – für einen regelrechten Forschungsboom gesorgt haben.21 Eine internationale und interdisziplinäre Konferenz drei Jahre später in Berlin, an der vorrangig Nachwuchswissenschaftler*innen teilnahmen, und aus welcher der Sammelband Deutschsprachige Zionismen. Verfechter, Kritiker und Gegner, Organisationen und Ders., Das Prinzip Hoffnung (1. Bd., Kap. 1–32), S. 165. Siehe das Unterkapitel Altneuland, Programm des Zionismus: ebd., (2. Bd., Kap. 33–42), S. 698–713. 20 Ebd., S. 704. 21 Stefan Vogt, „Neue Forschungen zum deutschsprachigen Zionismus. Einleitung in den Schwerpunkt“, in: Medaon 8 (2014), Nr. 14, S. 1–5, hier S. 1. 18 19
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1. Annäherungen an einen vergessenen Visionär
Medien (1890–1938) hervorging, steht dafür stellvertretend.22 Das Ziel der Tagung war es, die Vielschichtigkeit des Zionismus im deutschen Sprachraum und dessen Ambivalenzen – im Titel als ,Zionismen‘ apostrophiert – herauszuarbeiten.23 Diskussionen auf der Konferenz legten nahe, dass das Interesse an der Geschichte des deutschsprachigen Zionismus tatsächlich aus der Aktualität der zionistischen Ideologie in Form israelischer Politik und Kultur resultiert sowie aus einer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, der sich auf die Lebenswege der Zionist*innen existenziell auswirkte. Der in den letzten Jahren wachsende Antisemitismus in Europa und den USA spielt ebenfalls eine zentrale Rolle. Fragestellungen wissenschaftlicher Studien lassen sich darüber hinaus in vielen Fällen auf Selbstverortungsbedürfnisse gegenwärtiger Gesellschaften zurückführen. Unter Rückgriff auf Bloch ließe sich argumentieren, dass sich der moderne Zionismus aus Träumen und Visionen von einer besseren Zukunft speiste, die westlichen Wohlstandsgesellschaften heute meist abhandengekommen sind. Das von dem neokonservativen Politologen Francis Fukuyama 1989 postulierte Ende der Geschichte, besiegelt durch den Siegeszug der liberalen Demokratie und freien Marktwirtschaft, hat die Perspektive auf andere Zukünfte in vielen modernen Industriestaaten verstellt.24 Diese weitverbreitete Utopie-Müdigkeit dürfte ein weiterer Grund dafür sein, weshalb das Interesse an der Geschichte des Zionismus, der trotz seines utopischen Gehalts nicht nur von Bloch heftig kritisiert wurde, zuletzt auch im deutschsprachigen Raum gewachsen ist.25 Trietsch als ein historischer Akteur der Bewegung bietet aufgrund der Fülle seiner Pläne und Projekte einen besonders interessanten Zugang zur Erforschung dieses Erfassens neuer Zukunfts‑ und Möglichkeitsräume, die er aus seiner Gegenwart heraus optativ umzusetzen hoffte. In den vergangenen Jahren sind mehreren deutschsprachigen Zionisten eigene Studien zuteil geworden.26 Bei ihnen handelt es sich fast immer um biografische 22 Lisa Sophie Gebhard/David Hamann (Hg.), Deutschsprachige Zionismen. Verfechter, Kritiker und Gegner, Organisationen und Medien (1890–1938), Berlin 2019. 23 Mit diesem Ansatz hob sie sich von älteren Forschungen ab, die Mitte der 1970er Jahre eingesetzt hatten. Sie gaben den Blick auf die Geschichte des deutschsprachigen Zionismus zwar erstmals aus wissenschaftlicher Perspektive frei und zogen wichtige Schlüsse. Fragen der neueren Forschung im Umfeld von Postkolonialismus und ‑strukturalismus oder Geschlechtergeschichte stellten sich ihnen dagegen nicht. Siehe u. a. Yehuda Eloni, Zionismus in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914, Gerlingen 1987; Stephen Poppel, Zionism in Germany, 1897–1933. The Shaping of a Jewish Identity, Philadelphia 1977; Jehuda Reinharz, „Ideology and Structure in German Zionism, 1882–1933“, in: Jewish Social Studies 42 (1980), Nr. 2, S. 119–146; ders., „Three Generations of German Zionism“, in: The Jerusalem Quarterly 9 (1978), S. 95–110; ders, Fatherland or Promised Land. The Dilemma of the German Jew, 1893–1914, Ann Arbor 1975. 24 Fukuyamas bekannter Essay, den zuletzt der 24. Februar 2022 konterkariert haben dürfte, mündete in seine Monografie The End of History and the Last Man, New York 1992. 25 Bloch spricht von einer „perspektivenlosen Gesellschaft (samt dem Reichtum der Ungenauigkeit)“, die „eine Unlust gegen vorwärts“ hegt. Bloch, Das Prinzip Hoffnung (3. Bd., Kap. 43–55), S. 1616. Den Utopie-Gedanken im Zionismus aufgegriffen hat u. a. Clemens Peck, Im Labor der Utopie. Theodor Herzl und das „ Altneuland“-Projekt, Berlin 2012. 26 Albrecht Spranger, Theodor Zlocisti. Die multiplen Zugehörigkeiten eines Zionisten, Berlin 2020; Andrea Kirchner, Richard Lichtheim (1885–1963). Von Konstantinopel nach Genf. Annähe-
1.2 Ein pragmatischer Utopist
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Annäherungen an männliche Akteure, die nicht den Blick darauf verstellen sollten, dass sich auch Frauen von Beginn an engagiert in die Bewegung einbrachten und schon 1898 auf dem zweiten Zionist*innenkongress27 das aktive und passive Wahlrecht erhielten – damals ein revolutionärer Akt. Zu den Zionistinnen der ersten Stunde, die der 1897 gegründeten Zionistischen Organisation (ZO) beitraten, gehörte unter anderem Trietschs Ehefrau Emma Trietsch (1876–1933) geb. Thomaschewsky. Gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Hulda Zlocisti (1869–1941) war sie seit mindestens 1894 in zionistischen Kreisen aktiv und übte einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf die Arbeit ihres Mannes aus.28 Auf den Kongressen traten sie und andere Zionistinnen dagegen kaum in Erscheinung, ebenso wenig wie sie sich Führungspositionen sichern konnten, die damals außerhalb der zionistischen Frauenvereine vergeben wurden.29 Indem die männliche ZO-Leitung Frauen frühzeitig gleichstellte, so das Fazit der Historikerin Manja Herrmann, lähmte sie deren Ambitionen auf echte politische Teilhabe.30 rung an eine politische Biographie. Unveröff. Dissertation [2020], Goethe-Universität Frankfurt a. M.; Dana von Suffrin, Pflanzen für Palästina. Otto Warburg und die Naturwissenschaften im Jischuw, München 2019; Frank Schlöffel, Heinrich Loewe. Zionistische Netzwerke und Räume, Berlin 2018; Ivonne Meybohm, David Wolffsohn. Aufsteiger, Grenzgänger, Mediator. Eine biographische Annäherung an die Geschichte der frühen Zionistischen Organisation (1897–1914), Göttingen 2013; Etan Bloom, Arthur Ruppin and the Production of Pre-Israeli Culture, Leiden, Boston 2011; Sonder, Lotte Cohn; Yaakov Goren, Arthur Ruppin. Hayyaw u-fo alo [Arthur Ruppin. Sein Leben und Werk], Ramat Gan 2005; Frank Leimkugel, Botanischer Zionismus. Otto Warburg (1859–1938) und die Anfänge institutionalisierter Naturwissenschaften in „Erez Israel“, Berlin 2005. Neuere Studien zum deutschsprachigen Zionismus bieten Fabian Weber, Projektionen auf den Zionismus. Nichtjüdische Wahrnehmungen des Zionismus im Deutschen Reich 1897–1933, Göttingen 2020; Manja Herrmann, Zionismus und Authentizität. Gegennarrative des Authentischen im frühen zionistischen Diskurs, Berlin 2018; Stefan Vogt, Subalterne Positionierungen. Der deutsche Zionismus im Feld des Nationalismus in Deutschland 1890–1933, Göttingen 2016. 27 Um das Engagement von Frauen im Frühzionismus typografisch sichtbar zu machen, wird im Folgenden der sog. Genderstern benutzt. Darunter fallen auch feststehende Begriffe wie Zionistenkongress. Die geschlechtergerechte Schreibweise Zionist*innenkongress zeigt an, dass von Anfang an auch Frauen an den Kongressen teilnahmen. Im Falle der sog. Experten der ZO wird dagegen das generische Maskulinum benutzt, da unter ihnen keine Frauen vertreten waren. 28 Zu den sog. Thomaschewsky-Schwestern siehe Ines Sonder, „,Das wollten wir. Ein neues Land …‘ Deutsche Zionistinnen als Pionierinnen in Palästina, 1897–1933“, in: Medaon 8 (2014), Nr. 14, S. 1–14, hier S. 6–9. http://www.medaon.de/de/artikel/das-wollten-wir-ein-neues-landdeutsche-zionistinnen-als-pionierinnen-in-palaestina-1897-1933/(Zugriff 12. 3. 2022). 29 Eine Ausnahme bildete Emma Gottheil (1862–1947), die sich mitunter rege an den Kongressdebatten beteiligte. Als Ehefrau eines Professors wurde sie in den Protokollen aber nur als „Professorsgattin“ geführt. Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des II. Zionisten-Congresses, Wien 1898, S. 240. 30 Herrmann, Zionismus und Authentizität, S. 158. Weiterführend: Claudia Prestel, „Frauen und die Zionistische Bewegung (1897–1933). Tradition oder Revolution?, in: Historische Zeitschrift 258 (1994), Nr. 1, S. 29–71; Tamara Or, Vorkämpferinnen und Mütter des Zionismus. Die deutsch-zionistischen Frauenorganisationen (1897–1938), Frankfurt a. M. 2009; Michael Berkowitz, „Transcending ,Tzimmes and Sweetness‘. Recovering the History of Zionist Women in Central and Western Europe, 1897–1933“, in: Maurie Sacks (Hg.), Active Voices. Women in Jewish Culture, Urbana 1995, S. 41–63.
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1. Annäherungen an einen vergessenen Visionär
Was Zionistinnen und Zionisten dagegen teilten, war ihr Streben nach einer jüdischen Heimstätte in Zion. Der Berg Zion am Rande der alten Stadtmauern von Jerusalem verkörperte für sie das verheißene Land Israel (hebr. Eretz Israel), dessen Aufbau sie aller Kritik zum Trotz unter modernen Vorzeichen verfolgten.31 Mit ihren ambitionierten Plänen reagierten sie vor allem auf den aufkommenden politischen Antisemitismus um die Wende zu den 1880er Jahren, der durch die Gründung antisemitischer Vereine, Parteien und Zeitschriften sowie die Veröffentlichung auflagenstarker Pamphlete zunehmend salonfähig wurde.32 Bedrohungen und Krisensituationen lockern bekanntermaßen die soziale Fantasie und veranlassten auch einige Jüdinnen und Juden, sich ins Bessere zu denken. Zu ihnen zählte der wortgewandte Wiener Schriftsteller, Journalist und spätere erste Präsident der ZO Theodor Herzl (1860–1904). 1896 erschien sein Hauptwerk Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, das den Grundstein für den modernen Zionismus legte. Der Titel der vielrezipierten Schrift sollte allerdings nicht aus der Gegenwart heraus gelesen und interpretiert werden. Ein Staatswesen nach heutigen Maßstäben schwebte Herzl nicht vor.33 Ihm und anderen Frühzionist*innen ging es zunächst darum, einen sicheren Zufluchtsort für notleidende Jüdinnen und Juden zu schaffen, dessen jüdischen Charakter sie unter dem Vorzeichen der Moderne auszubauen bestrebt waren. Im Gegensatz zur religiösen Zionssehnsucht, die so alt ist wie die jüdische Diaspora (hebr. Galut), konstituierte sich der moderne Zionismus als eine säkulare Bewegung. Ihre organisatorische Basis bildete die ZO, heute die World Zionist Organization (WZO). Dass sie in Basel, der deutschsprachigen Schweiz, auf Initiative des österreichischen Staatsbürgers Herzl ins Leben gerufen wurde, lässt die Bedeutung des deutschen Sprachraums erkennen.34 Insbesondere die deutschen Zionisten waren bis zum Ende des Ersten Weltkriegs häufig angesehene Experten und Entscheidungsträger innerhalb der ZO, deren Hauptbüro sich zunächst in Wien, später dann in Köln und Berlin befand. Obwohl das organisatorische Zentrum der Bewegung über mehrere Jahre in Deutschland lokalisiert war, stellte der Zionismus dort stets nur eine Minderheitenbewegung dar. Eine Stelle aus Victor Klemperers (1881–1960) LTI. Notizbuch eines Philologen verdeutlicht dies. Darin notierte er 1943, die Zionistinnen und Zionisten seien ihm in Berlin als eine von vielen „exzentrische[n] und exotische[n] Merkwürdigkeiten“35 begegnet, ebenso wie die meisten deutschen Jüdinnen und Juden „bis zuletzt dem Zionismus ganz 31 Einen guten Überblick zur Geschichte des modernen Zionismus gibt Michael Brenner, Geschichte des Zionismus, 5. Aufl., München 2019. 32 Ina Ulrike Paul, „Paul Anton de Lagarde und ,die Juden‘“, in: Heike Behlmer u. a. (Hg.), Der Nachlass Paul de Lagarde. Orientalistische Netzwerke und antisemitische Verflechtungen, Berlin 2020, S. 9–29, hier S. 21. 33 Theodor Herzl, Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, Leipzig, Wien 1896. Zum Staatsverständnis im Frühzionismus siehe auch Meybohm, David Wolffsohn, S. 263 f. 34 Die Verhandlungssprache der zionistischen Kongresse war in den ersten Jahren Deutsch. 35 Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Leipzig 1996, S. 260, 263.
1.3 Ins Gelingen verliebt
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fremd gegenüber[ge]standen“ hätten. Klemperers zeiträumliche Sichtweise ist für die Verortung der Bewegung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft erhellend und kommt mit Blick auf die Staatsgründung Israels ebenfalls einer teleologischen Bedeutungszuschreibung zuvor. Nach der militärischen Niederlage Deutschlands und seiner Verbündeten im Ersten Weltkrieg schwand die Bedeutung der deutschen Vertreter, die mit Erstaunen feststellen mussten, wie der Zionist Kurt Blumenfeld (1884–1963) rückblickend monierte, „daß auch die Zionisten der Entente-Länder uns als Mitbesiegte ansahen.“36 Einige von ihnen waren zwar weiterhin in führender Position tätig, und man berief sich auf ihre Expertise, darunter der in Rawitsch (Rawicz) geborene Soziologe Arthur Ruppin (1873–1943). Den politischen Ton gaben nun aber vermehrt die osteuropäischen Zionisten an. Ihr Aktionismus war mehrheitlich von sozialistischen Idealen beflügelt, ebenso wie viele von ihnen nicht mehr in der Galut, sondern in Palästina lebten, dessen Gesellschaft sie proaktiv zu gestalten angetreten waren. Diese Entwicklungen, die hier nur skizziert werden können, führten dazu, dass Trietsch in der Zwischenkriegszeit keine Rolle mehr innerhalb der ZO und ihren Institutionen spielte. Bis 1932 wohnte er weder in Palästina, noch sprach er Hebräisch oder war Sozialist. Stattdessen nahm man ihn als einen alten Vertreter des deutschsprachigen, meist bürgerlichen Zionismus wahr, dessen Glanzzeit nach dem Ersten Weltkrieg vorüber war.
1.3 Ins Gelingen verliebt Im Gegensatz zu den politischen Leitfiguren des modernen Zionismus wie Herzl oder David Ben-Gurion (1886–1973) haben Trietschs zionistische Aktivitäten bislang keine eingehende Behandlung gefunden.37 Ein Interesse an seiner Person, die trotz mehrfachen Scheiterns „ins Gelingen verliebt“ blieb und sich „ins Werdende tätig hinein[warf ]“38, um bei Bloch zu bleiben, gab es in den letzten Jahren aber durchaus. So fällt Trietschs Name in mehreren jüngeren Studien zur Geschichte des deutschsprachigen Zionismus wiederholt, ebenso wie ihm ein ausführlicherer Artikel 2006 in der taz zuteilwurde, wo ihn der Journalist und Zypern-Kenner Klaus Hillenbrand als einen „streitbaren Visionär“39 porträtiert hat. Hillenbrand und anderen zufolge sei Trietsch ein bemerkenswerter Akteur gewesen, der sich 36 Kurt Blumenfeld, Erlebte Judenfrage. Ein Vierteljahrhundert deutscher Zionismus, Stuttgart 1962, S. 121. 37 Siehe u. a. Derek J. Penslar, Theodor Herzl. The Charismatic Leader, New Haven 2020; Tom Segev, David Ben Gurion. Ein Staat um jeden Preis, München 2018. Herzls Vita ist auch als Graphic Novel illustriert worden: Camille de Toledo/Alexander Pavlenko, Herzl. Eine europäische Geschichte, Berlin 2020. 38 Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1. Bd.), S. 1. 39 Klaus Hillenbrand, „Ägypten, Zypern, Ostafrika?“, in: taz am Wochenende, 13. 5. 2006. https://taz.de/Aegypten-Zypern-Ostafrika/!433404/ (Zugriff 12. 3. 2022).
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1. Annäherungen an einen vergessenen Visionär
gewissermaßen vom zionistischen Mainstream abgehoben hätte. Die Historikerin Barbara Schäfer etwa hat ihn in ihrer Studie über das Vereinsleben Berliner Zionistinnen und Zionisten als einen „bemerkenswerten kolonialen Utopisten“40 bezeichnet. Ähnlich äußerte sich Vogt in seiner umfangreichen Studie Subalterne Positionierungen. Der deutsche Zionismus im Feld des Nationalismus in Deutschland, 1890–1933, in der er als eine „markante Ausnahme“41 präsentiert wird. Im Gegensatz zu anderen deutschen Zionisten war Trietsch in der Tat über mehrere Jahre in imperialistischen Kreisen aktiv, wobei der Zionismus, wie zu zeigen sein wird, den Dreh‑ und Angelpunkt seiner deutschnationalistischen Agitation bildete.42 Die wichtigsten Fäden zusammenhängend zu fassen, die das facettenreiche Lebenswerk von Trietsch gesponnen hat, will erstmals diese Studie. Sein Leben und Werk werden dabei gedanklich zusammengefasst, in der Überzeugung, dass beide nicht voneinander zu trennen sind.43 Mit diesem biografischen Ansatz wird an die interpretative Biografieforschung der 1980er Jahre angeknüpft, bei der das historische Subjekt als ein in gesamtgesellschaftliche Praktiken und (Re)-Produktionen von Sinnsystemen eingebundener Akteur verstanden wird, dessen soziale Lebensgeschichte im Rahmen einer Gesellschaftsgeschichte zu verorten ist.44 Trietschs Visionen für Palästina, seine Sprache und sein technokratischer Optimismus sollen somit in ihrer gesellschaftlichen Vermitteltheit analysiert werden. Eine solche Dezentrierung des historischen Subjekts, die vor allem auf diskursanalytische Theorieentwürfe folgte, eröffnet auch die Frage nach der Handlungsmacht historischer Akteur*innen. Die Biografie‑ und Diskursforschung debattieren seit Langem, ob man von einer individuellen Freiheit zur Gestaltung des biografischen Selbst sprechen könne, oder ob der vorgelagerte Diskurs eine solche Selbstkonstitution von vornherein verhindere. In Anlehnung an den Historiker Wolfram Fischer soll das historische Subjekt, in diesem Fall Trietsch, als konstituiert und sich selbst konstituierend begriffen werden.45 Dadurch wird ein „biografischer Eigensinn“ 40 Barbara Schäfer, Berliner Zionistenkreise. Eine vereinsgeschichtliche Studie, Berlin 2003, S. 117. 41 Vogt, Subalterne Positionierungen, S. 201. 42 Eine Ausnahme bietet Kurt Blumenfeld, Der Zionismus. Eine Frage der deutschen Orientpolitik, Berlin 1915. Anders als Trietsch gab sich Blumenfeld aber als Zionist zu erkennen und verzichtete auf eine aggressive Kriegspolemik. 43 Siehe dazu auch Jörg Später, Sieg fried Kracauer. Eine Biographie, Berlin 2016, S. 16. 44 Tina Spies/Elisabeth Tuider, „Biographie und Diskurs – eine Einleitung“, in: dies. (Hg.), Biographie und Diskurs. Methodisches Vorgehen und Methodologische Verbindungen, Wiesbaden 2017, S. 1–20, hier S. 3 f. Beáta Márkus/Martina Medolago/Silke Antje Niklas, „Einleitung“, in: dies. (Hg.), Menschen und ihre Biografien. Mitteleuropäische Lebenswege im Brennpunkt, Wien 2018, S. 7–12, hier S. 8. Für einen Überblick zur jüngeren Forschung siehe Helma Lutz, Handbuch Biographieforschung, 2. Aufl., Wiesbaden 2018. 45 Wolfram Fischer, „Drunter, drüber oder voll daneben? Zur Lage des Selbst im Handeln, Erleben und in biographischer Kommunikation“, in: Spies/Tuider, Biographie und Diskurs, S. 129–150, hier S. 133 f.
1.3 Ins Gelingen verliebt
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und ein „subversive[s] Potential“46 in Rechnung gestellt. Angesichts der oft unkonventionellen Art von Trietsch ist dieser Zugang aussichtsvoll. Konkret auf die Israel-Studien bezogen lässt sich die vorliegende Biografie der sogenannten Post-Post-Zionist-Historiography zurechnen. Den etwas holprigen Begriff haben die zwei Historiker David N. Myers und Assaf Likhovski geprägt.47 In Abgrenzung zum Post-Zionism, der Ende der 1980er Jahre im Umfeld des Postkolonialismus angetreten war, traditionelle Narrative kritisch zu widerlegen, fassen sie darunter Tendenzen der jüngeren Zionismusforschung. Ihr Erkenntnisinteresse orientiert sich stärker an kulturgeschichtlichen Fragestellungen und hebt die gesellschaftliche Verwobenheit der Zionistinnen und Zionisten hervor. Sie ist in ihren Analysen stark am zeiträumlichen Kontext ausgerichtet, wodurch sie insgesamt, so Likhovski, empathischer und „morally relativist, and non-judgmental“48 argumentiere. Wer sich Trietsch nähert, wird feststellen, dass es sich bei ihm um einen Akteur handelte, der aus der Gruppe der deutschsprachigen Zionistinnen und Zionisten hervorstach. Darauf weisen unter anderem die Memoiren anderer Zionisten hin, die ihn wie die Schlemiel-Redaktion als einen besonders leidenschaftlichen, gar militanten Mitstreiter erinnerten.49 Seine Meinung in öffentlichen Debatten offensiv kundzutun, war damals allerdings kein Alleinstellungsmerkmal im Frühzionismus. Vor allem in den ersten Jahren, als sich die junge Bewegung noch im Aufbau befand, kam es zu Auseinandersetzungen bis hin zu Austritten und inszenierten Abspaltungen einzelner Mitglieder und Gruppen.50 Trietsch nahm an diesen internen Richtungskämpfen jedoch über einen längeren Zeitraum besonders regen Anteil. Mit der für ihn typischen Scharfzüngigkeit, die vor den Hierarchien in der ZO nicht Halt machte, geriet er wie kein zweiter deutscher Zionist mit den führenden Vertretern immer wieder aneinander. Den vorläufigen Höhepunkt bildete hier seine Auseinandersetzung mit Herzl.51 Sie eskalierte 1903 auf dem sechsten Zionist*innenkongress in Basel und verschaffte Trietsch über den deutschsprachigen Zionismus hinaus Bekanntheit. Der tumultartigen Kongressszene vorausgegangen war seine scharfe Kritik an dem zehn Jahre älteren ZO-Präsidenten, der dem Kongressplenum eine Besiedlung im heutigen Kenia in Aussicht gestellt hatte. Als 46 Spies/Tuider,
„Biographie und Diskurs“, S. 3, 7. N. Myers, „Is there still a ‚Jerusalem School?‘ Reflections on the State of Jewish Historical Scholarship in Israel“, in: Jewish History 23 (2009), Nr. 4, S. 389–406; Assaf Likhovski, „Post-Post-Zionist-Historiography“, in: Israel Studies 15 (2010), Nr. 2, S. 1–23. 48 Likhovski, „Post-Post-Zionist-Historiography“, S. 14. 49 Max Jungmann zufolge widmete sich die Schlemiel-Redaktion mit Vorliebe „militanten Gesinnungsgenossen und bedeutenden Gegnern.“ Jungmann, Erinnerungen, S. 64. 50 Die Erinnerungen des Publizisten und Rechtsanwalts Saul Raphael Landau (1870–1943) illustrieren dies anschaulich. Seine Schrift, die er 40 Jahre nach Einberufung des ersten Zionist*innenkongresses veröffentlichte, kann als eine Abrechnung mit der zionistischen Leitung gelesen werden. Saul Raphael Landau, Sturm und Drang im Zionismus, Wien 1937. 51 Die Lebensdaten historischer Akteurinnen und Akteure werden im Folgenden bei der Erstnennung in Klammern gesetzt. Fehlen sie, ließen sich die Jahreszahlen nicht ermitteln. 47 David
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1. Annäherungen an einen vergessenen Visionär
erster Delegierter bezog Trietsch dagegen offen Stellung, da er im sogenannten Uganda-Plan eine ideologische Verwässerung des Zionismus sah. Obwohl er auf Gegenkritik stieß und sich bei dieser und anderer Gelegenheit viele Demütigungen einhandelte, meldete er sich bis 1923 regelmäßig auf den Kongressen zu Wort. Im Gegensatz zu anderen Akteuren, die sich mit der zionistischen Leitung ebenfalls überworfen und in der Folge zurückgezogen hatten, blieb Trietsch gut 25 Jahre in der Organisation aktiv. Seine wiederkehrenden Auseinandersetzungen mit der ZOLeitung liefern somit interessante Einblicke in die Debatten‑ und Streitkultur des organisierten Frühzionismus und legen gleichzeitig interne Machtstrukturen frei. Der aufsehenerregende Eklat von 1903 wird ebenso wie Trietschs Verhältnis zur ZO-Führung in den ersten Jahren der Organisation eingehender analysiert. Dadurch treten auch Hierarchien in den Fokus, die für die weitere Bewertung relevant sind, da sich neben Trietschs schwierigem Charakter auch seine fehlende akademische Ausbildung nachteilig auf seine Stellung in der ZO auswirkte, die er einmal als die eines Außenseiters bezeichnet hat.52 Während die Entscheidungsträger der Organisation, besonders die sogenannten Palästina-Experten, fast immer eine Universität besucht hatten, war Trietsch kein Homo academicus (Pierre Bourdieu). Am Beispiel seiner Herkunft und Bildung, die bislang völlig im Dunkeln lagen,53 wird die Bedeutung des ,akademischen Elements‘ innerhalb der zionistischen Bewegung erstmals exemplarisch diskutiert. Wenn im Folgenden von der ,zionistischen Leitung‘ die Rede ist, so sind damit drei Ebenen gemeint. Erstens der Präsident der ZO, den die Delegierten auf den Kongressen wählten. Sie fanden bis 1901 jedes Jahr, danach alle zwei Jahre statt. Besonders unter Herzl, aber auch seinem Nachfolger David Wolffsohn (1855–1914), übte der ZO-Präsident eine weitgehend autokratische „Führergewalt“54 aus, indem er nicht nur Vorsitzender des zionistischen Kongresses und damit des Parlaments war, sondern auch der Exekutive. Die eigentliche Leitung der Organisation fiel, zweitens, dem ,Engeren Aktionskomitee‘ zu. Zusammen mit dem Präsidenten gehörten ihm fünf Zionisten an, die auf Vorschlag eines Ausschusses vom Kongressplenum gewählt wurden. Seine Mitglieder waren besonders in den ersten Jahren enge Vertraute des ZO-Präsidenten, sodass dieser keine Opposition in den Reihen der Leitung zu befürchten hatte.55 Nach dem Ersten Weltkrieg etablierte sich als 52 Davis
Trietsch, Die Rettung der Juden im Aufbau Palästinas, Tel Aviv 1934, S. 3. hinterließ keine Ego-Dokumente, die Auskunft über seine familiäre Herkunft geben. Letztere ließ sich allein über den Nachlass von Emma Trietsch im Archiv des Jüdischen Museums Berlin rekonstruieren sowie durch Zufallsfunde in den Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem. Eine besondere Bedeutung kommt zudem den Erinnerungen seiner Tochter Hannah Jeremias geb. Trietsch (1911–2001) zu, die an mehreren Stellen auf ihren Vater zu sprechen kam. 54 Adolf Böhm, Die Zionistische Bewegung. Eine kurze Darstellung ihrer Entwicklung. 2. Teil: Die Bewegung vom Tode Herzls bis zum Ausbruch des Weltkrieges, Berlin 1921, S. 260. 55 Ders., Die Zionistische Bewegung. Eine kurze Darstellung ihrer Entwicklung. 1. Teil: Die Bewegung bis zum Tode Theodor Herzls, Berlin 1920, S. 148. Neben dem sog. Engeren Aktionskomitee existierte noch ein ,Großes Aktionskomitee‘, das der zionistischen Leitung gleicherma53 Trietsch
1.3 Ins Gelingen verliebt
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leitendes Organ die ,Zionistische Exekutive‘, die 1920 nicht mehr aus fünf, sondern 16 Männern bestand, von denen mehrere nun in Palästina lebten. Drittens und letztens agierten im Umfeld der politischen Führungsebene ständige Kommissionen, Ressorts und Departments, die in den Bereichen Finanzen, Verwaltung oder Kolonisation handlungsleitende Expertisen ausgaben. Ihre Nähe zur ZO-Leitung spiegelte sich in Doppelmitgliedschaften, wodurch als sogenannte Experten oft Vertreter der Zionistischen Exekutive auftraten.56 Trietsch gehörte zu keinem Zeitpunkt seiner über 20-jährigen Mitgliedschaft einem Fachgremium der ZO an, obwohl er sich selbst und mehrere Weggefährt*innen ihn als einen Palästina-Experten sahen. Zu seinen engsten Vertrauten gehörten die beiden Berliner Zionisten Ernst Herrmann (1878–1947) und Alexander Levy (1883–1942), mit denen er seine optimistischen Projektentwürfe teilte, aber auch seine Konflikte mit der ZO und finanziellen Sorgen. Die engen Kontakte zu Herrmann und Levy zeigen eindrücklich, dass Trietsch kein Einzelgänger war, sondern bis zum Schluss Anhängerinnen und Anhänger an seiner Seite wusste, die mit dem Kurs der ZO-Leitung ebenfalls nicht einverstanden waren.57 Levy, der als Architekt arbeitete und nach seiner Rückkehr aus Palästina 1942 in Auschwitz ermordet wurde, steht zugleich auf tragische Weise für die zionistischen Opfer der Shoah.58 Neben Trietsch und dessen Vertrauten gab es weitere Zionisten, die wegen ihrer Stellung, ihres Charakters und/oder ihrer Palästinavisionen – meist in Gemengelage – mit der ZO-Leitung zusammenstießen. Zu ihnen zählte Alfred Nossig (1864–1943), ein im habsburgischen Lemberg (Lwiw) geborener Schriftsteller und Künstler, der ähnlich hochtrabende Raumvisionen wie Trietsch entwickelte. Der eingangs erwähnte Agronom und Publizist Selig Soskin reiht sich hier in ähnlicher Weise ein. Gebürtig aus Tschurubasch (Priozernoe) auf der Krim pochte er vehement auf intensive Bewirtschaftungsformen und eine großzügige Einwanderungspolitik nach Palästina. Im Gegensatz zu Trietsch trugen er und Nossig einen Doktortitel, was besonders Soskin, der zeitweise als ein Experte von der ZO geschätzt wurde, zugutegekommen sein dürfte. Wie Nossig, der noch vor dem Ersten Weltkrieg aus der Organisation ausgetreten war, geriet allerdings auch er mit führenden Zionisten später in Konflikt. Dieses angespannte Verhältnis ßen zugerechnet wurde. In ihm saßen Delegierte, die als Vertreter ihrer Landesorganisation beschickt wurden. Wegen seiner hohen Mitgliederzahl, die zeitweise bei über 60 lag und die Delegierte aus teils weit entfernten Ländern umfasste, entwickelte sich das Komitee schnell zu einer handlungsunfähigen Körperschaft. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde seine Zahl deshalb auf 25 Mitglieder reduziert. 56 Ders., Die Zionistische Bewegung. Eine kurze Darstellung ihrer Entwicklung. 3. Teil: Die Zionistische Bewegung 1918 bis 1925, Jerusalem 1937, S. 230 f. 57 Der Briefwechsel der befreundeten Männer findet sich im Nachlass von Trietsch, der in den Central Zionist Archives in Jerusalem archiviert ist. Er besteht derzeit aus 92 Konvolutmappen, die zum größten Teil aus der Zwischenkriegszeit stammen. 58 Zum Lebenswerk Alexander Levys: Edina Meyer-Maril, „Alexander Levy – ein deutschjüdischer Architekt zwischen Berlin, Tel Aviv, Paris und Auschwitz“, in: Menora 9 (1998), S. 315–337; dies., „Alexander Levy, the Planner of the ,Pagoda-House‘ in Tel Aviv, a Forgotten Architect“, in: Cathedra 71 (1994), S. 61–73.
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und ihre Ablehnung sozialistischer Gesellschaftsentwürfe dürften wesentlich dazu beigetragen haben, dass beide in Israel, wo die Arbeitspartei bis 1977 regierte, in Vergessenheit geraten sind. Besonders Soskin, obwohl bis zu seinem Tod umtriebig und an einigen größeren Projekten wie der Gründung von Nahariya federführend beteiligt, ist bislang kaum über eine Fußnotenexistenz hinausgekommen.59 Nossigs von Brüchen gezeichnetes Lebenswerk, das im Warschauer Ghetto sein Ende fand, wo ihn die ,Jüdische Kampforganisation‘ wegen des Vorwurfs der Kollaboration erschoss, hat dagegen das Interesse einzelner Historiker*innen geweckt.60 Um Nossig und Soskin für die Geschichte des deutschsprachigen Zionismus in den Blick zu bekommen, stellt sich die Frage nach einer räumlichen Eingrenzung. Sie drängt sich bei beiden auf, da sie sich auch dem polnischen bzw. russischen Sprach‑ und Kulturraum zurechnen ließen. So wuchs Nossig in einem jüdischsäkularen Milieu Lembergs mit Deutsch61 und Polnisch auf, während Soskins Erstund Umgangssprache Jiddisch und Russisch waren. Den Mittelpunkt ihrer zionis‑ tischen Agitation bildete bis zum Ende des Ersten Weltkriegs jedoch Deutschland, wo beide in Berlin lebten. Nossig, aber auch Soskin, der wie einige andere Zio‑ nisten aus dem Russischen Reich für das Studium nach Deutschland gekommen war, reihten sich dort in die Gruppe der deutschen Zionist*innen ein. Die vorliegende Studie folgt einem breiter abgesteckten Untersuchungsraum. Damit schließt sie an transnationale Perspektiven der jüngeren Forschung an, laut der sich historische Akteurinnen und Akteure „sowohl über, unter, durch, um, als auch innerhalb eines Nationalstaates bewegten“62. Mit ihnen in Bewegung gerieten Ideen, Traditionen und Wissensbestände, die einen länderübergreifenden Transfer durchliefen.63 Am Beispiel von Nossig und Soskin, zwei Zionisten, die ebenfalls als vermeint‑ liche Akteure aus der zweiten Reihe bislang von der Forschung vernachlässigt 59 Frank
Leimkugel etwa hat Soskin in seiner Studie mehrmals genannt, ihn aber nicht in deren biografischen Anhang aufgenommen. Leimkugel, Botanischer Zionismus, S. 280–303. 60 Nossigs mutmaßliche Kollaboration mit der Gestapo ist nicht belegt und bleibt umstritten. Iwona Kotelnicka, „Alfred Nossig – ein gescheitertes Leben zwischen Kulturen, Kunst und Politik“, in: Tobias Weger (Hg.), Grenzüberschreitende Biographien zwischen Ost‑ und Mittel‑ europa, Frankfurt a. M. 2009, S. 419–444, hier S. 443. Auch zu Nossig: Mitchell Hart, „Moses the Microbiologist. Judaism and Social Hygiene in the Work of Alfred Nossig“, in: Jewish Social Studies 2 (1995), Nr. 1, S. 72–97; Shmuel Almog, „Alfred Nossig: A Reappraisal“, in: Studies in Zionism 4 (1983), Nr. 1, S. 1–29; Ezra Mendelsohn, „From Assimilation to Zionism in Lvov. The Case of Alfred Nossig“, in: The Slavonic and East European Review 49 (1971), Nr. 117, S. 521–534. 61 Mendelsohn, „From Assimilation“, S. 522 f. Zum Stellenwert der deutschen Sprache unter Jüdinnen und Juden in Lemberg: Joshua Shanes „Neither Germans nor Poles. Jewish National‑ ism in Galicia before Herzl, 1883–1897“, in: Austrian History Yearbook 34 (2003), S. 191–213. 62 David Thelen, „The Nation and Beyond. Transnational Perspectives on United States History“, in: Journal of American History 86 (1999), Nr. 3, S. 965–975. Übersetzt von und zit. nach Philipp Gassert, „Transnationale Geschichte“, in: Frank Bösch/Jürgen Danyel (Hg.), Zeit‑ geschichte – Konzepte und Methoden, Göttingen 2012, S. 445–462, hier S. 444. 63 Mit dem Schwerpunkt auf jüdische Akteurinnen und Akteure: Ava F. Kahn/Adam D. Men‑ delsohn, Transnational Traditions. New Perspectives on American Jewish History, Detroit 2014.
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wurden, lassen sich weitere Erkenntnisse über den Frühzionismus gewinnen, den von Anfang an heterogene Ideen und Positionen, Machtkämpfe und Hierarchien prägten. Die jüngere Biografieforschung hat (an)erkannt, dass sich häufig gerade anhand ihrer Lebensgeschichten neue Perspektiven „jenseits der ausgetretenen Pfade“64 eröffnen.
1.4 Imaginations‑ und Referenzräume Der „Opposi-zionist“65 Trietsch, wie ihn der Schlemiel einmal nannte, war nicht nur für seinen „nüchternen Fanatismus“ bekannt, sondern auch für seine Vision eines Greater Palestine. Darunter verstand er die territoriale Erweiterung Palästinas um mehrere angrenzende Gebiete. Im Mittelpunkt stand für ihn die Insel Zypern, die sich seit 1878 unter britischer Verwaltung befand. Ihr politischer Status, der mit einigen Modernisierungsmaßnahmen einherging, machte sie für Trietsch neben ihrer geografischen Nähe zu Palästina besonders attraktiv. Er war überzeugt, dass viele Jüdinnen und Juden, die ihre Wohnländer in der Galut wegen Verfolgung und wirtschaftlicher Not verlassen mussten, dort eine sichere Zukunft finden könnten. Nicht ,Uganda‘, das Herzl und andere führende Zionisten als eine mögliche Zufluchtsstätte ausgaben, sollte besiedelt werden. Stattdessen galt es, jegliche Energie auf die Nachbarländer zu lenken, da sie mit Palästina als unverrückbarem Zentrum ein kompakteres und ideologisch einwandfreieres Siedlungsgebiet boten. Trietschs Greater Palestine und die sich an das Konzept anschließenden Diskussionen geben den Blick für grundlegende Aushandlungsprozesse im Frühzionismus frei. An ihm zeigt sich, wie kontrovers die einzelnen Ansiedlungsgebiete diskutiert wurden, gegenüber denen es – wie im Falle von Uganda bzw. Kenia – als eine echte zionistische Alternative konstruiert war. In diesem Kontext greift das Konzept die Grundsatzfrage nach den Grenzen von Zion auf, die mitunter für hitzige Debatten sorgte. Wo Palästina lag, war nicht immer klar und konnte je nach Standpunkt verschiedentlich gedeutet werden. Die Bewegung Greater Israel, die im Anschluss an den Sechstagekrieg entstand und in ihrer expansivsten Form eine Besiedlung vom Euphrat bis zum Nil propagierte, zeigt, dass jene Debatten auch nach 1948 in einzelnen Kreisen der israelischen Gesellschaft verhandelt wurden.66 Für die Analyse des von Trietsch in die zionistische Debatte eingeführten Territorialkonzepts Greater Palestine ist es wichtig, sich zunächst seine Entstehung vor Augen zu führen, die nicht nur mit Blick nach innen, also auf die zionistische 64 Martin Mulsow, Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit, Berlin 2012, S. 9. 65 „Galerie des Schlemiel“, S. 117. 66 Zu der Bewegung, die zunächst von säkularen Juden wie Moshe Shamir (1921–2004) im Umfeld des Likud geprägt wurde, ehe man sie seit 1973 gemeinhin mit religiösen Akteur*innen in Verbindung setzt: Gil Troy, The Zionist Ideas. Visions for the Jewish Homeland – Then, Now, Tomorrow, Philadelphia 2018, S. 217–219.
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Bewegung gerichtet, sondern gleichwohl nach außen in einem größeren Zeitkontext verortet wird. Angefangen bei dem Namen Greater Palestine, den Trietsch auch in seinen deutschsprachigen Texten benutzte, wird der Fokus hier auf den Einflüssen des englischen Sprach‑ und Kulturraums liegen. Dieser wirkte nachhaltig auf seine zionistische Ideenwelt und liefert neue Erkenntnisse, die über den deutschsprachigen Raum hinausreichen. Der Einfluss kolonialistischer Denk‑ und Handlungsweisen auf Trietsch im Umfeld einer expansiven deutschen Außenpolitik wird dabei nicht ausgeklammert. Vielmehr werden seine Zukunftsvisionen für den sogenannten Orient, den osteuropäische Jüdinnen und Juden modernisieren sollten, auch vor diesem Hintergrund verortet. Dazu zählte, dass er ihnen eine sprachliche und kulturelle Verbundenheit mit Deutschland attestierte, als dessen geopolitische Agent*innen sie im türkischen Orient, allen voran in Palästina, ein modernes Handels‑ und Verkehrszentrum errichten sollten. Um Trietschs Greater Palestine aus dem Kontext seiner Zeit heraus verorten zu können, wird das Konzept Greater Britain herangezogen. Letzteres wurde von dem britischen Politiker Sir Charles Dilke (1841–1911) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägt. Das über imperialistische Kreise in Großbritannien hinaus bekannte Schlagwort inspirierte weitere deutsche Publizisten, darunter den Theologen und Schriftsteller Paul Rohrbach (1869–1956). Als Zeitgenosse von Trietsch gab Rohrbach Das Größere Deutschland. Wochenschrift für Deutsche Welt‑ und Kolonialpolitik heraus. Der Zeitschrift, die von 1914 bis 1918 erschien, war ein Aufsatz 1900 vorausgegangen, in dem Rohrbach in einem ähnlichen Duktus wie Trietsch von einem ,Größeren Deutschland‘ gesprochen hatte. Es ist davon auszugehen, dass auch er den Begriff in Anlehnung an Dilke benutzte, weshalb es in doppelter Hinsicht lohnt, in der Analyse über den deutschen Einflussbereich, der ohnehin nicht hermetisch abgetrennt war, hinauszugehen.67 Eine Gegenüberstellung von Greater Britain und Greater Palestine ermöglicht das Ziehen von Parallelen und Unterschieden. Bei allen Abweichungen waren beide das Produkt eines kolonialistischen Denkens, das Debatten in Europa und den USA bis weit über das 19. Jahrhundert hinaus prägte.68 Vorgeblich rückständige Gebiete wie Palästina vom Schreibtisch aus mit der Feder zu erobern, war eine damals weit verbreitete Denkweise, die auch Trietsch teilte. Wie sehr er und andere Zionist*innen sich in den kolonialen Diskursen ihrer Zeit bewegten, illustriert seine Agitation für eine ,deutsch-jüdische Interessengemeinschaft‘. Seine Annäherung an nichtjüdische Kreise, deren expansive Ambitionen er sich zu eigen machen wollte, wird vor dem Hintergrund eigener zionistischer Zielsetzungen thematisiert. Darüber hinaus werden die Territorialkonzepte anderer Zionisten herangezogen. Der Fokus liegt hier auf den deutschsprachigen Vertretern, zu denen 67 Siehe auch die Einschätzung von Walter Mogk, Paul Rohrbach und das ,Größere Deutschland‘. Ethischer Imperialismus im Wilhelminischen Zeitalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Kulturprotestantismus, München 1972, S. 76 f. 68 Zum sog. langen 19. Jahrhundert: Birgit Aschmann/Rebekka Habermas (Hg.), Durchbruch der Moderne? Neue Perspektiven auf das 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M., New York 2019.
1.4 Imaginations‑ und Referenzräume
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Trietsch zählte, und die bis zum Ende des Ersten Weltkriegs die führende Kraft in der ZO bildeten. Die Beschäftigung mit alternativen Territorialkonzepten wie Greater Palestine reiht sich in jüngere Forschungsarbeiten ein. Besonders der Historiker Gur Alroey hat das zionistische Narrativ von Palästina/Israel als einzig legitimes Siedlungsgebiet kritisch beleuchtet und offengelegt, dass einige Zionistinnen und Zionisten zeitweise andere Gebiete anvisierten.69 Trietsch und seine Visionen zur Besiedlung Zyperns fallen unter diese Bestrebungen. Yossi Ben-Artzi hat sich ausgiebig mit der Mittelmeerinsel im Zionismus beschäftigt und die besondere Rolle von Trietsch dabei herausgestellt.70 Seine Aktivitäten auf Zypern, die schon das Interesse des Zionisten Oskar K. Rabinowicz (1902–1969) fanden, werden auch in der vorliegenden Studie thematisiert.71 Angeführt, aber nicht systematisch analysiert werden dagegen Trietschs sogenannte Kriegsschriften.72 Er hatte sie in den Jahren 1915 bis 1917 verfasst und darin eine globale Vormachtstellung Deutschlands propagiert. Seine imperialistischen Forderungen, die von einer zeittypischen expansiven Großspurigkeit gekennzeichnet waren, liefern zwar interessante Einblicke in sein Raumverständnis, führen bei stärkerer Berücksichtigung jedoch von den bewusst gewählten thematischen Schwerpunkten Greater Palestine/Palästina und dem Zionismus weg. Darüber hinaus stellte Trietschs Kriegsagitation nur eine Episode dar, der sich Vogt bereits ausführlicher gewidmet hat.73 Der zweite Teil der Studie, der gleichermaßen den Weg hin zu einer biografischen Annäherung an Trietsch im Kontext seiner Zeit ebnen soll, nimmt die von ihm vorgeschlagenen Siedlungsmethoden und ‑techniken in den Blick. Beide sind 69 Gur Alroey, Zionism without Zion. The Jewish Territorial Organization and its Conflict with the Zionist Organization, Detroit 2016; ders.: „Mesopotamia – ‚The Promised Land‘: The Jewish Territorial Organization Project in the Bilad Al-Rafidayn, and the Question of Palestine, 1899–1917“, in: Middle Eastern Studies 50 (2014), Nr. 6, S. 911–935; ders., „Galveston and Palestine. Immigration and Ideology in the Early Twentieth Century“, in: American Jewish Archives 56 (2004), Nr. 1–2, S. 128–150. Siehe auch Adam Rovner, In the Shadow of Zion. Promised Lands before Israel, New York, London 2014. 70 Yossi Ben-Artzi, I karov-rahhok. Hityashvut Yehudit h’akla’it be-Kafrisin, 1883–1939 [Eine nahe-ferne Insel. Jüdische Siedlungen auf Zypern, 1883–1939], Ramat Gan 2015. Ein eigenes Kapitel zu Trietsch findet sich ebd., S. 133–152. Siehe auch ders., „Jewish Rural Settlement in Cyprus, 1882–1935. A ‚Springboard‘ or a Destiny?“, in: Jewish History 21 (2007), Nr. 3–4, S. 361–383 sowie die von ihm mitverantwortete Ausgabe Jewish Presence in Cyprus from the 1930s to Israel’s Establishment = Israel Affairs 25 (2019), Nr. 6. 71 Oskar K. Rabinowicz, „Davis Trietsch’s Colonization Scheme in Cyprus“, in: Herzl Year Book 4 (1961/62), S. 119–206; Stavros Panteli, Place of Refuge. A History of the Jews in Cyprus, London 2003. 72 In der Reihenfolge ihrer Erscheinung: Kriegsziele gegen England, Berlin 1915; Der Weltkrieg in Wort und Bild, Berlin 1915; Die Welt nach dem Kriege, Berlin 1915; Der Aufstieg des Islam, Berlin 1915; Deutschland. Tatsachen und Ziffern. Eine statistische Herzstärkung, München 1916; Deutsch als Weltsprache. Grundlagen und Ziele, Berlin 1916; Afrikanische Kriegsziele, Berlin 1917. Trietschs „Statistische Herzstärkung“ erschien im J. F. Lehmanns Verlag, der für sein antisemitisches Verlagsprogramm bekannt war. 73 Vogt, Subalterne Positionierungen, bes. S. 201–211.
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eng miteinander verflochten, da neue Technologien eine tiefgreifende Umwandlung in der Art und Weise hervorriefen, wie die Zionistinnen und Zionisten die Welt wahrnahmen, wodurch sich territoriale Konzepte wie Greater Palestine erst denken ließen. In der Vorstellung Trietschs und anderer Mitstreiter*innen sollte das künftige Gemeinwesen einen positiven Gegenentwurf zum Leben in der jüdischen Diaspora bieten. Sie sahen in Palästina nicht nur einen sicheren Zufluchtsort für verfolgte Jüdinnen und Juden, sondern auch ein Laboratorium künftiger Möglichkeiten, das alle Vorzüge der Moderne vereinen und ihre negativen Begleiterscheinungen von vornherein umgehen sollte. Trietschs Visionen knüpften hier vor allem an soziale Reformbewegungen in einem bürgerlichen Umfeld an. Zu ihnen zählte die sogenannte Gartenstadtidee, die er 1903 als erster in die zionistische Debatte einführte. Ein weiterer, eng damit verbundener Reformgedanke, der seine eigenen Siedlungspläne stark beeinflusste, war der der Genossenschaft. Ihn präsentierte Trietsch ebenfalls das erste Mal 1903 einer breiteren Öffentlichkeit, als er in mehreren Periodika für die von ihm initiierte Jüdische Orient-KolonisationsGesellschaft (JOKG) warb.74 Das Ziel der JOKG bestand darin, in Palästina oder den angrenzenden Ländern Böden zu kaufen, die in einen bezugsfertigen Zustand zu bringen waren, ehe die Pächterinnen und Pächter sich dort niederließen. Um mit den Vorarbeiten beginnen zu können, sollten die künftigen Bewohner*innen Geschäftsanteile der als GmbH in das Berliner Handelsregister eingetragenen JOKG erwerben, die sich in monatlichen Raten zahlen ließen. Der Grundsatz ,bezugsfertiger Heimstätten‘, wie ihn Trietsch nannte, bot eine aussichtsreiche Alternative zu früheren Projekten in Palästina, denen keine systematische Planungsphase vorangegangen war. Dadurch hatten sich die Frauen und Männer oft gezwungen gesehen, ihre Siedlungen wieder zu verlassen, da sie die strapaziöse körperliche Arbeit nicht bewältigen konnten. Ihrer damit häufig verbundenen Auswanderung aus Palästina, die das zionistische Projekt auf Dauer gefährdete, wollte die JOKG mit ihren Heimstätten zuvorkommen. Trietsch hatte das Heimstättenprinzip 1899 in Kalifornien kennengelernt und um siedlungsgenossenschaftliche Elemente für Palästina erweitert. Ein zweites Leitprinzip der JOKG bestand demnach darin, die Siedlungen auf eine kooperative Basis zu stellen. Eine Siedlungsgenossenschaft, welche die JOKG mittelfristig als Eigentümerin ablösen sollte, war hier das Ziel.75 Die JOKG vermittelt einen ersten guten Einblick in das Lebenswerk von Trietsch. So speiste sich ihr Programm aus zwei Elementen, die auch seine späteren Pläne im Wesentlichen alle kennzeichneten: bezugsfertige Unterkünfte und das genossen74 Siehe u. a. Davis Trietsch, „Die Jüdische Orient-Kolonisations-Gesellschaft. Die Vorgeschichte und Entstehung“, in: Palästina 2 (1903/4), Nr. 1–2, S. 49–51; „Der Prospekt der ,Jüdischen Orient-Kolonisations-Gesellschaft‘. Ausgearbeitet von Louis Brisch, Dr. Franz Oppenheimer und Davis Trietsch“, in: ebd., S. 52–58; „Jüdische Orient-Colonisations-Gesellschaft. Prospekt“, in: Die Welt 7 (1903), Nr. 17, S. 3 f. 75 Informationen zum Programm der JOKG sind dem Originalprospekt Jüdische OrientKolonisations-Gesellschaft. E. G. m. b. H. zu Berlin entnommen. CAHJP, M63/1, TD-476.
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schaftliche Prinzip. Um Letzteres fundiert in die Pläne der JOKG einarbeiten zu können, nahm Trietsch Kontakt zu dem angesehenen Nationalökonomen Franz Oppenheimer (1864–1943) auf. Ihn konnte er für den Aufsichtsrat der neugegründeten Gesellschaft gewinnen, was als ein gelungener Coup zu bewerten ist, da sich Oppenheimer als Vordenker der Siedlungsgenossenschaften über jüdische Kreise hinaus einen Namen gemacht hatte.76 Am Beispiel der JOKG lässt sich darüber hinaus das konfliktgeladene Verhältnis zwischen Trietsch und der zionistischen Leitung illustrieren. So warnte die Führung um Herzl in der Wochenschrift Die Welt, dem Zentralorgan der ZO, vor der Gesellschaft, weil sie zu einer Zusammenarbeit mit Nichtzionist*innen aufgerufen hatte und die zionistische Position in Palästina damit schwächen würde.77 Herzl bedrängte daraufhin Oppenheimer, seine Position als Aufsichtsratsvorsitzender aufzugeben, was dieser nach längerem Zögern auch tat.78 Die von Herzl kritisierte Kooperation mit nichtzionistischen Gruppen bildete ein weiteres Leitprinzip, das Trietsch von Beginn an vertrat und das sich mit der Gründung der Jewish A gency (JA) im Jahr 1929 schließlich auf einer größeren institutionellen Ebene durchsetzen sollte. Die öffentliche Kampfansage an die JOKG, der Provokationen von Trietsch vorangegangen waren, ließe vermuten, dass ihr Siedlungskonzept ebenfalls auf Ablehnung gestoßen wäre. Dem war allerdings nicht so. Stattdessen zeigte Herzl, den mehr mit Trietsch verband als ihre Streitigkeiten auf den ersten Blick suggerieren, großes Interesse an ihm. Deshalb sorgte er auch dafür, Oppenheimer nach seinem Austritt aus der JOKG als Experten für die ZO zu gewinnen, deren Projekte in Palästina er als Sachverständiger künftig begleitete. Während sich die JOKG um 1906 auflöste, weil ihr wegen finanzieller Engpässe keine Erfolge in der Praxis beschieden waren, kam den Siedlungsgenossenschaften in den Folgejahren eine große Bedeutung in Palästina zu. Insbesondere ab 1933 fand dort das Prinzip der ,bezugsfertigen Heimstätten‘ regen Zuspruch.79 Wie in anderen Fällen brachte man Trietsch mit dieser Entwicklung später nicht mehr in Verbindung. Dabei regte er nachweislich mehrere Projekte an, die von der 76 Franz Oppenheimer, Die Siedlungsgenossenschaft. Versuch einer positiven Überwindung des Kommunismus durch Lösung des Genossenschaftsproblems und der Agrarfrage, Berlin 1896. Mit Blick auf Palästina: ders., Genossenschaftliche Siedlung in Palästina, Köln 1910. Zu Oppenheimer im Zionismus: Haim Barkai, „Oppenheimer and the Zionist Resettlement of Palestine: The Genossenschaft versus the Collective Settlement“, in: Volker Caspari/Bertram Schefold (Hg.), Franz Oppenheimer und Adolph Lowe. Zwei Wirtschaftswissenschaftler der Frankfurter Universität, Marburg 1996, S. 17–63; Claudia Wilms, Franz Oppenheimer (1864–1943). Liberaler Sozialist, Zionist, Utopist, Köln 2018, bes. S. 153–178. 77 „Die jüdische Orient-Kolonisations-Gesellschaft“, in: Die Welt 7 (1903), Nr. 23, S. 2. 78 Theodor Herzl an Franz Oppenheimer, 18. 6. 1903. CZA, A8/2. Zum Rücktritt Oppenheimers s. die Bekanntgabe „Briefkasten“, in: Die Welt 7 (1903), Nr. 40, S. 16. 79 Barkai, „Oppenheimer“, S. 22, 43; Ita Heinze-Greenberg, Europa in Palästina. Die Architekten des zionistischen Projekts 1902–1923, Zürich 2011, S. 175. Als geistiger Vater der ,bezugsfertigen Heimstätten‘ wird oft Arthur Ruppin erinnert. Vgl. Joachim Trezib/Ines Sonder, „The Rassco and the Settlement of the Fifth Aliyah: Pre-State and Early State Middle Class Settlement and its Relevance for Public Housing in Eretz-Israel“, in: Israel Studies 24 (2019), Nr. 1, S. 1–23.
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1. Annäherungen an einen vergessenen Visionär
zionistischen Leitung anfänglich abgelehnt und mitunter abfällig belächelt worden waren, ehe sie diese später übernahm. Um seine oftmals in die Zukunft weisenden Initiativen herauszustellen, ohne ihn zu einem Propheten zu erheben, bedarf es auch hier eines größeren Kontextes. Bloch beispielsweise hat betont, dass utopische Zukunftsentwürfe nicht in einem leeren Raum entstehen, sondern ihnen Vorhandenes vorgelagert ist, das es zu erfassen gilt.80 Auch Trietsch fielen seine Ideen nicht prophetisch zu, vielmehr sind sie als das Resultat eines unermüdlichen Studiums verschiedenster Fach‑ und Sachgebiete sowie moderner Techniken und andernorts bereits erprobter Methoden zu werten. Die JOKG erweist sich hier ein weiteres Mal als aufschlussreich. Demnach warben ihre Gründer um Trietsch damit, auf Ansiedlungsmethoden aus Kalifornien zurückzugreifen, die sich „mit glänzendem Erfolge“81 bewährt hätten und auf Palästina übertragen ließen. Trietsch war schon früh zu der Überzeugung gelangt, dass „ernsthafte Kolonisationsbestrebungen […] durch zweckdienliche Verwendung der Erfahrungen, die nur von überall her zu sammeln sind, zu schnellem Erfolge führen“82 würden. Im Visier hatte er dabei besonders Innovationen aus den USA, die er mit großem Eifer studierte. Am Beispiel der modernen Geflügelwirtschaft, die ihre wichtigsten Impulse in der Zwischenkriegszeit aus den Vereinigten Staaten bezog, soll der Transfer US-amerikanischer Wissenselemente nach Palästina exemplarisch rekonstruiert werden. Wie kein zweiter Zionist warb Trietsch enthusiastisch für diesen von der ZO-Leitung zunächst geringgeschätzten Wirtschaftszweig, der zu einer der führenden landwirtschaftlichen Industrien in Israel avancieren sollte. Die Analyse dieser Entwicklung erfolgt anhand von Einflusskanälen, die einzelne Zionisten wie Trietsch oder die ZO initiierten. Transferprozesse über die britische Mandatsregierung können dagegen, ebenso wie Einflüsse auf und durch die arabische Bevölkerung Palästinas, nicht thematisiert werden. Sie würden den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Den Verbindungen zionistischer Palästina-Akteur*innen in die USA am Beispiel der modernen Geflügelwirtschaft nachzuspüren, worunter damals die kommerzielle Haltung von Hühnern, Gänsen, Enten, Puten, Tauben und Truthühnern fiel, will der zweite Teil der Studie. Er bietet erste Ansatzpunkte, die USA als eine mögliche Referenzkultur für das zionistische Projekt auch auf einer ideologischen Ebene zu analysieren, indem das Amerika-Bild der deutschsprachigen Zionistinnen und Zionisten ebenfalls in den Blick genommen wird. Dieses war äußerst ambivalent und von zeitgenössischen Zuschreibungen geprägt, die damals in einer Mischung aus Ablehnung, Bewunderung, Furcht und Neid in Europa zirkulierten. Trietsch, der als junger Mann in den USA zum Zionismus gefunden hatte, fiel hier erneut aus der Reihe. Er sah im ,Land der unbegrenzten Möglichkeiten‘ eine 80 Bloch, Das Prinzip Hoffnung (2. Band), S. 877. Bloch spricht in diesem Kontext vom „Andrängen einer antizipierbaren Gelungenheit“. Ebd. (1. Band), S. 165. 81 Jüdische Orient-Kolonisations-Gesellschaft. E. G. m. b. H. zu Berlin, S. 2. 82 Trietsch, „Zur Orient Kolonisation“, Sp. 445.
1.5 Die Bedeutung der USA
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sprudelnde Inspirationsquelle, deren Negativseiten er ausklammerte. Das amerikanische Selbstbild eines pragmatischen Selfmade-Man, als der er sich zeitlebens verstand, schätzte er in ganz besonderem Maße.
1.5 Die Bedeutung der USA Der Schwerpunkt auf den Vereinigten Staaten darf nicht zu der Annahme führen, als hätte sich Trietsch allein für US-amerikanische Reformansätze und Technologien interessiert. Überblickt man das umfangreiche Textmaterial, das er im Laufe seines Lebens sammelte und studierte, dann zeigt sich darin auch ein großes Interesse an den Entwicklungen in anderen Ländern. Seine autodidaktische Bildung dürfte seine Neugier hier potenziert haben, durch die er als ein in viele Richtungen interessierter und vernetzter Beobachter hervortrat. Mit welchen Siedlungsmethoden und ‑techniken etwa die europäischen Großmächte in ihren Kolonien vorgingen, wurde von Trietsch ebenfalls aufmerksam beobachtet. Dies taten ihm andere Zionisten gleich in dem Bestreben, daraus nützliche Modelle für Palästina ableiten zu können. Den Kolonialismus verbanden sie und Trietsch einseitig mit einem Motor des Fortschritts, der neue Impulse etwa für die Landwirtschaft und Naturwissenschaften gab. Die Schattenseiten kolonialer Herrschaft blendeten sie wie andere Zeitgenoss*innen dagegen fast immer aus. Studien, in denen mitunter leidenschaftlich darüber diskutiert wird, inwiefern Zionismus und Kolonialismus gleichzusetzen seien, liegen heute in größerer Zahl vor.83 Forschungsarbeiten zum konkreten Einfluss kolonialer Praktiken im Rahmen eines Wissenstransfers sind dagegen spärlicher gesät. Den Anfang zu diesem aussichtsreichen Themenkomplex machte 1990 der Historiker Derek J. Penslar mit seinem Aufsatz Zionism, Colonialism and Technocracy84. Penslars Beitrag entstand im Umfeld einer sich etablierenden Kulturtransferforschung, deren Ansatz es 83 Siehe u. a. den Sammelband von Ethan B. Katz/Lisa Moses Leff/Maud S. Mandel (Hg.), Colonialism and the Jews, Bloomington 2017, der zwischen Kolonialismus und Zionismus überzeugend differenziert. Dagegen stehen Publikationen wie Elia Zureik, Israel’s Colonial Project in Palestine: Brutal Pursuit, New York 2016, bes. S. 49–94. Einen guten Überblick bieten Michael Brenner/David N. Myers (Hg.), Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen, München 2002. Siehe hier den Abschnitt Zionismus und Kolonialismus, S. 181–228; Barbara Schäfer (Hg.), Historikerstreit in Israel. Die ,neuen‘ Historiker zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, Frankfurt a. M., New York 2000. 84 Derek J. Penslar, „Zionism, Colonialism and Technocracy: Otto Warburg and the Commission for the Exploration of Palestine, 1903–7“, in: Journal of Contemporary History 25 (1990), Nr. 1, S. 143–160. Der Aufsatz ging seiner Dissertation Zionism and Technocracy. The Engineering of Jewish Settlement in Palestine, 1870–1918, Bloomington 1991 voraus. Siehe zudem ders., „Zionismus und Technik. Der Einfluss deutscher Wissenschaft und Volkswirtschaft auf die zionistische Siedlungsarbeit in Palästina 1897–1927“, in: Schatz/Wiese, Janusfiguren, S. 277–301; „Technisches Wissen und der Aufbau des Staates Israel“, in: Dana von Suffrin/Kärin Nickelsen (Hg.): Zionismus und Naturwissenschaft (= Münchner Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur, 8 (2014), Nr. 1, S. 11–27.
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1. Annäherungen an einen vergessenen Visionär
ist, die traditionelle Nationalgeschichte um Perspektiven einer vieldimensionalen Verflechtungs‑ und Beziehungsgeschichte zu erweitern.85 Die von ihr in den Blick genommenen Transferprozesse konzentrieren sich dabei auf wechselseitige Austauschprozesse, auf Divergenzen und Konvergenzen und begreifen den Wandel als Kern eines jeden Transfers. In diesem Sinne umfasst der Transfer nie bloß eine Imitation, sondern eine spezifische Aneignung im Kontext lokaler und situativer Faktoren.86 Penslars Beitrag folgten weitere Arbeiten des Autors, die sich in zweifacher Perspektive auf den deutschen Sprachraum konzentrierten. Zum einen auf der Akteursebene, indem deutschsprachige Vertreter von ihm in den Blick genommen wurden, die in den ersten zwei Jahrzehnten die Palästina-Arbeit der ZO personell prägten. Zum anderen, und hieran anknüpfend, richtete sich das Erkenntnisinteresse von Penslar auf Einflüsse des deutschen Kolonialismus. Dieser Zugang ist naheliegend, da die deutschsprachigen Zionisten – in der Mehrzahl waren sie deutsche Staatsangehörige – mit der kolonialen Praxis des Deutschen Kaiserreichs stärker in Berührung kamen. Erschließungsprojekte in den deutschen Kolonien und dem Inland, wie den östlichen Provinzen Preußens, konnten sie mitunter aus nächster Nähe verfolgen. Der Fokus auf die deutsche Wissenschaft und Kolonialpraxis wurde später von anderen Historikerinnen und Historikern aufgegriffen. Wie schon bei Penslar wanderte ihr Blick dabei nicht systematisch über Deutschland hinaus, was angesichts des begrenzten Rahmens einer jeden Forschungsarbeit sinnvoll und nachvollziehbar sein mag.87 Die Dissertation der Historikerin Dana von Suffrin über den 85 Hartmut Kaelble, „Herausforderungen an die Transfergeschichte“, in: Barbara Schulte (Hg.), Transfer lokalisiert. Konzepte, Akteure, Kontexte, Leipzig 2006, S. 7–12; Michel Espagne, „Der theoretische Stand der Kulturtransferforschung“, in: Wolfgang Schmale (Hg.), Kulturtransfer. Kulturelle Praxis im 16. Jahrhundert, Innsbruck u. a. 2003, S. 63–75; Hartmut Kaelble/ Jürgen Schriewer (Hg.), Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts‑ und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2003. 86 Matthias Middell, „Kulturtransfer, Transfers Culturels“, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 28. 1. 2016 https://docupedia.de/zg/Kulturtransfer (Zugriff 12. 3. 2022). 87 Siehe u. a. den erwähnten Sammelband Zionismus und Naturwissenschaft (Anm. 84); Vogt, Subalterne Positionierungen, bes. S. 176–186; Joachim Nicolas Trezib, Die Theorie der zentralen Orte in Israel und Deutschland. Zur Rezeption Walter Christallers im Kontext von Sharonplan und ,Generalplan Ost‘, Berlin 2014, bes. 222–257; Zvi Shilony, Ideology and Settlement. The Jewish National Fund, 1897–1914, Jerusalem 1998, bes. S. 23–54; ders., „German Antecedents of Rural Settlement in Palestine up to World War I“, in: Ruth Kark (Hg.), The Land that Became Israel. Studies in Historical Geography, Jerusalem 1990, S. 196–214; Shalom Reichman/Shlomo Hasson, „A Cross-cultural Diffusion of Colonization. From Posen to Palestine“, in: Annals of the Association of American Geographers, 74 (1984), Nr. 1, S. 57–70. Weitere Studien liegen zu Einflüssen in Architektur und Stadtentwicklung vor: Ines Sonder, „Vom Geist der Steine. Deutschjüdisches Kulturerbe in der Architektur und Stadtplanung Israels“, in: Elke-Vera Kotowksi (Hg.), Das Kulturerbe deutschsprachiger Juden. Eine Spurensuche in den Ursprungs-, Transit‑ und Emigrationsländern, Berlin u. a. 2015, S. 349–358; Sonder, Lotte Cohn; Heinze-Greenberg, Europa in Palästina; Myra Warhaftig, They Laid the Foundation. Lives and Works of German-speaking Architects in Palestine, 1918–1948, Tübingen 2007; Tal A. Mozes u. a. (Hg.), Jewish Horticultural
1.5 Die Bedeutung der USA
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sogenannten Botanischen Zionismus, 2019 ebenfalls in der Schriftenreihe des Leo Baeck Instituts erschienen, kann hier als jüngstes Beispiel genannt werden. Darin geht sie der Rolle zionistischer Experten nach, die Pläne zur Bepflanzung und Besiedlung Palästinas konzipierten. Ihren Fokus auf den deutschen Kolonialismus, der „von vielen Zionisten als Idealmodell“88 bewundert worden sei, stellt von Suffrin schon in der Einleitung heraus. Während ihre erkenntnisreiche Studie zur Wissenschaftsgeschichte des Zionismus Bezugspunkte zum deutschen Kolonialismus aufdeckt, geht der Historiker Olivier Baisez in seinen 2015 erschienenen Architectes de Sion. La Conception par les Sionistes Allemands de la Colonisation Juive en Palestine (1896–1919) auch auf Einflüsse aus Nord‑ und Südamerika ein.89 Zwar widmet sich Baisez ebenfalls primär dem deutschen Kontext, wodurch US-amerikanische Bezüge nur touchiert werden. Bei ihm finden sich jedoch erste konkrete Beispiele, die über Deutschland hinausreichen.90 Überblickt man die Debattenbeiträge der hier vorgestellten Zionisten zu der von ihnen projektierten Besiedlung Palästinas, zeigt sich allerdings, dass auch andere kolonisierende Nationen auf sie inspirierend wirkten.91 Diese Beobachtung, die von der Forschung bislang nicht eingehender thematisiert wurde, ist wenig überraschend, da sich Austauschprozesse zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Zuge einer ,Weltpolitik‘ und ,Weltwirtschaft‘ zunehmend multiplizierten. Darüber hinaus gehörten die Zionist*innen einer internationalen Bewegung an, die von Anfang an länderübergreifend organisiert war. Dass beispielsweise auch das British Empire und dessen eingeübte Kolonialverwaltung ihr Interesse weckten, ist vor diesem Hintergrund naheliegend.92 Im Gegensatz zum Deutschen Kaiserreich, das sich verspätet an der imperialen Aufteilung der Welt bereicherte, blickte man in Großbritannien auf eine längere Kolonialvergangenheit zurück. Das ,Informationsbüro für Palästina‘, das Trietsch nach dem Vorbild Londons ins Leben rief, wird diesen Einfluss exemplarisch aufgreifen. Einflüsse aus Osteuropa und Russland können dagegen nicht thematisiert werden. Es wäre allerdings interessant, ihnen in einer Schools and Training Centers in Germany and their Impact on Horticulture and Landscape in Palestine/Israel, München 2020. 88 Von Suffrin, Pflanzen für Palästina, S. 11. Siehe auch dies., „Die Wissenschaft des Judenstaates. Der ,Botanische Zionismus‘, 1900–1930“, in: Gebhard/Hamann, Deutschsprachige Zionismen, S. 223–236, hier S. 228. 89 Olivier Baisez, Architectes de Sion. La Conception par les Sionistes Allemands de la Colonisation Juive en Palestine (1896–1919), Paris 2015, S. 254–262. 90 Eine kalifornische Methode erwähnt auch Yossi Katz, „Private Zionist Initiative and the Settlement Enterprise in Eretz-Israel in the Early 1900’s: ‚Nationalist Capitalism‘ of Private Capital“, in: Kark, The Land that Became Israel, S. 275–286, hier S. 283 f.; s. auch Shafir, Land, Labor and the Origins, S. 97 f. 91 Zu ihnen zählte Spanien, das für Bewässerungsfragen bereist und studiert wurde. Siehe u. a. Selig Soskin, Spanien und Palästina – Tatsachen, Ideen, Vergleiche, unveröff. Manuskript von 1920. CZA, A91/3. 92 Beispielhaft hierfür ist Ruppins Aufsatz, „Englische Kolonisationsmethoden in England und Übersee“, in: Palästina 10 (1927), Nr. 6–7, S. 290–297.
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1. Annäherungen an einen vergessenen Visionär
eigenen Studie nachzugehen, um den Themenkomplex symmetrisch über West‑ und Mitteleuropa hinausgehend zu perspektivieren.93 Bei ihrer Analyse kolonialer Bezugspunkte nahm die jüngere Forschung auch den hohen Stellenwert technischen Wissens in den Blick. Sie schlug damit einen erhellenden Bogen zur zeitgenössischen Technikbegeisterung, von der viele Zionist*innen ergriffen waren, und die daher für die Analyse ihrer Erfahrungs‑ und Handlungsstile bedeutsam ist. Der Schwerpunkt reichte hier zwar über Deutschland hinaus, blieb aber einem „europäischen Technikethos“94 verschrieben. Einflüsse aus den USA, die ab Ende des 19. Jahrhunderts mit neuen Technologien und Arbeitsweisen immer stärker auf die Märkte, Kulturen und Gesellschaften Europas ausstrahlten, fanden nur beiläufig Erwähnung.95 Am Beispiel von Trietsch lässt sich demgegenüber zeigen, dass viele Zionistinnen und Zionisten in den Vereinigten Staaten besonders auf einer technischen Ebene ein weites Inspirationsfeld erblickten.96 Vor allem Kalifornien bot aufgrund klimatischer Parallelen ein interessantes Modell für Palästina, das früh von Trietsch zur Disposition gestellt und später von Palästina-Experten der ZO bereist wurde. Die Bedeutung der USA für den zionistischen Aufbau Palästinas ist kaum erforscht. Dies mag erstaunen, da Verbindungen zwischen den Vereinigten Staaten und Israel traditionell als eng und vielseitig wahrgenommen werden. Der Historiker Joseph B. Glass, wie Penslar gebürtig aus Kanada, hat hier wichtige Vorarbeiten geleistet. In seiner Pionierarbeit From New Zion to Old Zion. American Jewish Immigration and Settlement in Palestine, 1917–1939 analysiert er die Rolle US-amerikanischer Palästina-Einwander*innen.97 Glass zufolge fiel die Gruppe zwar quantitativ nicht ins Gewicht – von 1919 bis 1939 waren Jüdinnen und Juden aus den USA nur zu 2,2 Prozent an der jüdischen Zuwanderung beteiligt –, doch gingen wichtige Impulse von ihr etwa für das Gesundheitswesen aus.98 Hieran 93 Mehrere führende Zionisten, darunter Ruppin, unternahmen Studienreisen in die Sowjetunion. Siehe ders., „Colonization in Russia and Palestine. The Basic Differences Between the Two Colonization Systems“, in: The New Palestine, 17. 2. 1928, S. 193 f. Zur jüdischen Kolonisation in der Sowjetunion als Modell: J. Moses Isler, Rückkehr der Juden zur Landwirtschaft. Beitrag zur Geschichte der landwirtschaftlichen Kolonisation der Juden in verschiedenen Ländern, Frankfurt a. M. 1929, S. 14–56. 94 Penslar, „Technisches Wissen“, S. 13. 95 Von Suffrin, Pflanzen für Palästina, S. 19. 96 Zum Technikethos in den USA: Stefan Willeke, Die Technokratiebewegung in Nordamerika und Deutschland zwischen den Weltkriegen. Eine vergleichende Analyse, Frankfurt a. M. 1995; William E. Akin, Technocracy and the American Dream. The Technocrat Movement 1900– 1941, Berkeley 1977. 97 Joseph B. Glass, From New Zion to Old Zion. American Jewish Immigration and Settlement in Palestine, 1917–1939, Detroit 2002; ders., „American Olim and the Transfer of Innovation to Palestine, 1917–1939, in: Eli Lederhendler/Jonathan D. Sarna (Hg.): America and Zion. Essays and Papers in Memory of Moshe Davis, Detroit 2002, S. 201–232. 98 Glass, „American Olim“, S. 224 f. Siehe auch Gur Alroey u. a. (Hg.), Pasim, kokhavim u-Magen David. Terumatah shel Yahadut Artsot ha-Berit la-Yishuv ule-Medinat Yisra’el [Stars, Stripes und Magen David. Der jüdisch-amerikanische Beitrag zum Jischuv und dem Staat Israel], Haifa 2016.
1.5 Die Bedeutung der USA
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anknüpfend hat sich der Historiker Nahum Karlinsky in seiner Studie California Dreaming. Ideology, Society, and Technology in the Citrus Industry of Palestine, 1890–1939 der jüdischen Zitrusindustrie gewidmet, die zwischen den Weltkriegen zur exportstärksten Landwirtschaftsindustrie aufstieg.99 Karlinsky zufolge lagen ihr in erster Linie Methoden aus den USA und hier vor allem aus Kalifornien zugrunde. Der im Titel angekündigte transfergeschichtliche Ansatz der Arbeit wird allerdings nicht eingelöst, da keine Rückbezüge auf das kalifornische Modell genommen werden. Am Ende der Lektüre stellt man sich daher die Frage, um was es sich bei dem Modell im Einzelnen überhaupt gehandelt hat.100 Während sich Glass und Karlinsky auf die jüdischen Einwander*innen und deren Initiativen konzentriert haben, hat ihr israelischer Kollege S. Ilan Troen Experten aus den USA in den Blick genommen.101 Sie hatten in der Zwischenkriegszeit mehrere Gutachten für die zionistische Leitung erstellt, die Empfehlungen für den künftigen Aufbau eines jüdischen Palästinas ausgaben. Trotz ihres internationalen Renommees traf ihre Expertise dort auf Ablehnung, da die Expertengruppe aus den USA in ihren Stellungnahmen vor sozialistischen Siedlungsmodellen gewarnt hatte.102 Die ablehnende Haltung der ZO-Führung, der vermehrt arbeiterzionistische Vertreter aus Osteuropa angehörten, besonders aus Belarus, Polen und der Ukraine, darf den Blick auf weitere Transferprozesse aber nicht verstellen. Anhand der Geflügelwirtschaft lässt sich exemplarisch zeigen, dass US-amerikanische Experten auch später konsultiert und von ZO-Vertretern zu Studienzwecken besucht wurden. Mit ihnen gelangten Praktiken und Methoden der modernen Geflügelindustrie nach Palästina, die sich am Beispiel einzelner Geflügelrassen besonders gut nachverfolgen lassen. Wie sehr die israelische Geflügelwirtschaft auf US-amerikanische Erfahrungs‑ und Wissensbestände zurückgeht, ist heute nur noch wenigen bewusst. Gleiches gilt für Deutschland.103
99 Nahum Karlinsky, California Dreaming. Ideology, Society, and Technology in the Citrus Industry of Palestine, 1890–1939, New York 2005; ders., „California Dreaming: Adapting the ,California Model‘ to the Jewish Citrus Industry in Palestine, 1917–1939“, in: Israel Studies 5 (2000), Nr. 1, S. 24–40. Zur jüdischen Zitrusindustrie s. auch Irit Amit-Cohen, Zionism and Free Enterprise. The Story of Private Entrepreneurs in Citrus Plantations in Palestine in the 1920s and 1930s, Berlin, Boston 2012. 100 Hervorzuheben ist dafür Karlinskys Veröffentlichung, die der Geschichte der arabischen Zitrusindustrie in Palästina nachgeht. Nahum Karlinsky/Mustafa Kabha, The Lost Orchard. The Palestinian-Arab Citrus Industry, 1850–1949, New York 2020. 101 S. Ilan Troen, Imagining Zion. Dreams, Designs, and Realities in a Century of Jewish Settle ment, New Haven 2003, S. 29–34; ders., „American Experts in the Design of Zionist Society: The Reports of Elwood Mead and Robert Nathan“, in: Allon Gal (Hg.), Envisioning Israel: The Changing Ideals and Images of North American Jews, Jerusalem 1996, S. 193–218. 102 Troen, Imagining Zion, S. 34 f. 103 Eine Studie, in der US-amerikanische Einflüsse stellenweise zur Sprache kommen, bietet Z. Ben-Adam, 50 Years of Activity in the Poultry Industry, Tel Aviv 1978. Zum Einfluss der USA auf die deutsche Geflügelwirtschaft: Veronika Settele, Revolution im Stall. Landwirtschaftliche Tierhaltung in Deutschland 1945–1990, Göttingen 2020, bes. S. 143–224.
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1. Annäherungen an einen vergessenen Visionär
Am Beispiel der Siedlung Ramot HaShavim, die unabhängig von der ZO nach den Plänen von Trietsch 1933 errichtet wurde, soll die Bedeutung dieses Wirtschaftszweigs für das vorstaatliche Israel näher erörtert werden. Ramot HaShavim, damals auch als das „Dorf der Eierdeutschen“104 bekannt, wirft darüber hinaus die Grundsatzfrage auf, mit welchem Erfolg sich seine Ideen in der Realität umsetzen ließen. Oder anders gefragt: Wie praktikabel waren in der Praxis die Visionen von Trietsch, der sich selbst als einen Praktiker verstand? Dass er im Gegensatz zur ZO-Leitung gegen eine ,Selektion‘ der Zuwander*innen eintrat, wie es mit dem damals noch unbelasteten Terminus hieß, ist in dieser Hinsicht bemerkenswert. So vertrat Trietsch zeitlebens die Auffassung, dass auch älteren Menschen die Chance auf eine Auswanderung nach Palästina gegeben werden müsse, wie in Ramot HaShavim später umgesetzt. Der Aufbau Palästinas gestaltete sich demnach bis 1948 äußerst divers und lässt sich nicht allein im Umfeld von ZO und JA oder ihrer Institutionen verorten. Trietschs hochtrabende Aufbaupläne nach dem Ersten Weltkrieg waren eng mit seiner Wahrnehmung der USA als einem Musterland der Effizienz, Effektuierung und modernen Technologie verbunden. Wenn im Folgenden schwerpunktmäßig nach Einflüssen aus den USA gefragt wird, dann in der Annahme, dass es eine hermetische Trennung zwischen deutschen, englischen oder US-amerikanischen Wissensbeständen nicht gab. Vor allem im Bereich sozialreformerischer Bestrebungen existierten vielseitige Berührungspunkte und Verschränkungen, denen transnationale Transferprozesse zugrunde lagen. So korrespondierten führende Vertreter der amerikanischen back-to-the-land movement mit Sozialreformern aus Europa, während das Werk des einflussreichen US-Ökonomen Henry George (1839–1897) europäische Aktivisten wie Adolf Damaschke (1865–1935) nachhaltig prägte.105 Ein weiteres Beispiel, das auch für die Ideengeschichte des Zionismus aufschlussreich ist, bietet Ebenezer Howard (1850–1928). Der Brite gilt als Begründer der Gartenstadtidee, die mehrere deutschsprachige Zionistinnen und Zionisten begeisterte, unter ihnen vor allem Trietsch. Von der Forschung ist dieser Konnex aufgegriffen worden, womit sie in einem Fall auch Einflüsse bedacht hat, die über Deutschland hinausreichten. Dieser auf Großbritannien zugespitzte Ansatz führte allerdings dazu, dass Howard allein in einem britischen bzw. englischen Umfeld verortet wurde.106 Dass er als junger Mann mehrere Jahre in den USA gelebt hatte, wo ihn sein Aufenthalt in Chicago besonders prägte, fand dadurch keine Berücksichtigung. Howard hob dagegen selbst hervor, dass die Zeit in der Stadt, die
Gabriele Tergit, Im Schnellzug nach Haifa, Berlin 1996, S. 83.
104
105 Dona Brown, Back to the Land. The Enduring Dream of Self-Sufficiency in Modern Ameri-
ca, Madison 2011, S. 23; Klaus Hugler, Adolf Damaschke und Henry George. Ansätze zu einer Theorie und Politik der Bodenreform, Marburg 2005. 106 Siehe exemplarisch den Sammelband von Liora Bigon/Yossi Katz (Hg.), Garden Cities and Colonial Planning. Transnationality and Urban Ideas in Africa and Palestine, New York 2014.
1.5 Die Bedeutung der USA
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damals nach dem großen Brand von 1871 unter dem Beinamen Garden City neu aufgebaut wurde, sein Ideenwerk stärker als England beeinflusst hätte.107 Überblickt man bisherige Arbeiten zu Trietsch, so haben sie sich vor allem mit seiner Gartenstadtagitation und dem Raumkonzept Greater Palestine befasst. Den Anfang hierzu machte 2005 die Kunsthistorikerin Ines Sonder, die in ihrer innovativen Studie über Gartenstädte in Palästina/Israel gezeigt hat, dass Trietsch die Gartenstadtidee im Zionismus als erster bewarb.108 Olivier Baisez hat daran zehn Jahre später mit seiner Dissertation zur diskursiven Ideenwelt deutscher Zionisten angeknüpft, in der er Trietsch als einen markanten Akteur porträtiert, dessen Lebenswerk er sich vor allem über Greater Palestine nähert.109 Die Arbeiten von Baisez für die Zeit von 1896 bis 1919 werden hier aufgegriffen und um neue, über den Ersten Weltkrieg hinaus reichende Erkenntnisse erweitert. Mit den Forschungen von David A. Brenner, Andreas B. Kilcher und Anatol Schenker wurde Trietschs Rolle bei der Gründung mehrerer Berliner Verlage und Zeitschriften bereits näher untersucht.110 Deshalb und aus dem Grund, dass diese publizistischen Initiativen Trietschs zeitlich limitierte Aktivität in kulturzionistischen Kreisen belegen, die nicht im Fokus dieser Studie stehen, wird hier nur in spezifischen Zusammenhängen darauf eingegangen. Überblickt man das Lebenswerk von Trietsch, der unaufhörlich nach Methoden und Techniken Ausschau hielt, die das sogenannte Aufbauwerk in Zion befördern sollten, so war er ein Vertreter des praktischen Zionismus. Statt in zionistischen Kulturprojekten in der jüdischen Diaspora, der sogenannten Gegenwartsarbeit, sah er die größte Dringlichkeit in der unmittelbaren Erschließung Palästinas. Abschließend soll nicht nur zurückgeschaut, sondern der Blick vor allem nach vorne gewagt werden. Was ist also aus dem ,Zionstraum nach vorwärts‘ geworden, der den pragmatischen Utopisten Trietsch einst angetrieben hatte? Über eine theoretisch-planerische Ebene hinaus wird so den Einflüssen nachgespürt, die den Kernelementen des hier analysierten Lebenswerks nach 1948 zukamen. Die Bedeutung von Davis Trietsch mit seinen Stärken und Schwächen für den Staat Israel überblickartig herauszustellen, wo er heute vergessen ist, kann dabei als 107 Als Parlamentsstenograf folgte Howard mehreren Debatten zur Stadtplanung in Chicago, die während seines Aufenthalts in den 1870er Jahren zum Tragen kam. Ihm zufolge hätte die Stadt einen großen Einfluss auf ihn ausgeübt, „giving me a fuller and wider outlook on religious and social questions than I should have gained in England.“ Zit. nach James Lawrenson, From Chicago via Letchworth to Westminster, 5. 7. 2019 https://commonshansard.blog.parliament.uk/ 2019/07/05/from-chicago-to-letch worth-via-hansard/ (Zugriff 12. 3. 2022). 108 Ines Sonder, Gartenstädte für Erez Israel. Zionistische Stadtplanungsvisionen von Theodor Herzl bis Richard Kaufmann, Hildesheim u. a. 2005, S. 8, 22, 45. 109 Baisez, Architectes de Sion, S. 103–105, 111, 160, 187. Zu Greater Palestine siehe zudem ders., „‚Greater Palestine‘ as a German Zionist Idea Before the British Mandate“, in: The Leo Baeck Institute Year Book 61 (2015), Nr. 1, S. 7–24. 110 Andreas B. Kilcher, „Jüdische Buchkultur in der Weimarer Republik. Der Welt-Verlag, Berlin (1918–1933)“, in: Naharaim 12 (2018), Nr. 1–2, S. 9–30, bes. 12 f.; Anatol Schenker, Der Jüdische Verlag 1902–1938. Zwischen Aufbruch, Blüte und Vernichtung, Tübingen 2003; David A. Brenner, Marketing Identities. The Invention of Jewish Ethnicity in ,Ost und West‘, Detroit 1998.
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1. Annäherungen an einen vergessenen Visionär
eine Art Heimholung begriffen werden.111 Zwar gehörte er nicht zu den Säern und Schnittern, die wie die jungen Pionierinnen und Pioniere den Boden der ,altneuen‘ Heimat entbehrungsreich bearbeiteten. Seine zahlreichen, über vier Jahrzehnte entwickelten Ideen und Projekte weisen in mehreren Fällen jedoch in die Gegenwart des israelischen Staates.
111 Die Beschlüsse und Berichte der ZO-Leitung aus den Jahren 1919 bis 1987 boten hier eine unerlässliche Quellensammlung. Im Gegensatz zu den Kongressprotokollen, die in mehreren Studien ausführlicher analysiert wurden, sind sie bislang für die Geschichte des deutschsprachigen Zionismus nicht nutzbar gemacht worden.
2. „Die Zukunft des Orients“ Zionistische Zukunftsvisionen für den Nahen Osten „Wir haben hauptsächlich zeigen wollen, dass nicht nur die mit Sicherheit zu erwartende demnächstige Entwickelung des Orients, sondern seine übergrosse Primitivität ihn heute schon zu einem verheissungsvollen Arbeitsfelde für unsere heimatlosen Brüder im Osten wie geschaffen erscheinen lässt.“1 Davis Trietsch, Die Zukunft des Orients
2.1 Jüdische Geflüchtete in New York: Eine prägende Begegnung Am 6. Juli 1893 ging Davis Trietsch an Bord des Dampfschiffs Normannia, das ihn von Hamburg nach New York bringen sollte.2 Als das Schiff acht Tage später die Metropole am Hudson River erreichte, wurden er und die anderen Passagiere – wie es damals üblich war – auf Infektionskrankheiten untersucht und von den Einreisebehörden registriert.3 Trietsch, der zu diesem Zeitpunkt 23 Jahre alt war, bestand die obligatorischen Untersuchungen und durfte einreisen. Von den Behörden hatte er sich als Kaufmann (merchant) registrieren lassen. Weiteren Passagierlisten zufolge, die 1896 und 1897 anlässlich zweier seiner Reisen nach Deutschland erstellt wurden, arbeitete er nach seiner Ankunft in New York allerdings als Schildermaler.4 Die Arbeiten eines sign painter, zu denen damals wie heute vor allem das Anfertigen von Werbeschildern zählte, waren in der aufstrebenden, mit Reklame ausstaffierten Großstadt um die vorletzte Jahrhundertwende äußerst gefragt.5 Bis in die 1980er Jahre hinein prägte das Kunsthandwerk das Gesicht der Stadt, wo es heute in Künstler*innenkreisen eine Renaissance erlebt.6 Stellengesuche aus den 1 B. Ebenstein [Davis Trietsch], „Die Zukunft des Orients“, in: Ost und West 1 (1901), Nr. 5, Sp. 321–328, hier Sp. 326. 2 StA Hamburg, Hamburger Passagierlisten, Mikrofilmnummer K_1749. 3 Vincent J. Cannato, American Passage. The History of Ellis Island, New York 2009, S. 85–87. 4 Siehe die Passagierliste vom 23. 10. 1897, in der er als sign painter registriert wurde. Diese und andere Listen sind über die Homepage der Ellis Island Foundation abrufbar. 5 Zum Stellenwert des Berufs siehe den Bericht eines deutschen Einwanderers, der als selbständiger Schildermaler erfolgreich tätig war: „It’s Safer Than Stealing Signs“, in: New-York Tribune, 2. 12. 1894, S. 26. Zur zeitgenössischen Bedeutung: James Callingham, Sign Writing and Glass Embossing. Illustrated Manual of the Art, Philadelphia 1890, S. 17. 6 Faythe Levine/Sam Macon, Sign Painters, New York 2013, S. 18.
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2. „Die Zukunft des Orients“
Abb. 1: Davis Trietsch als junger Mann in New York, 1897.
1890er Jahren legen nahe, dass auch Trietsch ein festes Einkommen als Schildermaler sicher war, wenngleich es gering ausgefallen sein dürfte.7 Wie bei den meisten Amerika-Auswander*innen werden der Emigration von Trietsch vermutlich ökonomische Motive zugrunde gelegen haben, zu denen familiäre Netzwerke traten. So lebte eine Schwester seiner Mutter in den USA, zu der er im Anschluss an seine Rückkehr 1899 nach Berlin8 Kontakt hielt. Väterlicherseits bestanden ebenfalls Verbindungen, wie ein zufälliges Treffen zwischen Trietsch und seinem Cousin David Trietsch, einem einflussreichen Manager aus New Jersey, in späteren Jahren dokumentiert.9 Wie stark solche Netzwerke die Ent7 Siehe die Ausschreibungen in The Brooklyn Daily Eagle, 3. 10. 1893, S. 6. Zur meist niedrigen Entlohnung: „Sign Painter in Skirts“, in: The World, 16. 5. 1896, S. 3. 8 Im Folgenden wird von Berlin die Rede sein, obwohl Trietsch nach seiner Rückkehr aus den USA in Stadt- und Landgemeinden lebte, die erst ab 1920 zu ,Groß-Berlin‘ zusammengefasst wurden. 9 Frances Carraher an Davis Trietsch, 5. 10. 1905. JMB 2011/267. Frances Carraher (1846–1912) wurde als Franzisca Nickelsburg in Worms geboren. Siehe ihre Geburtsurkunde vom 4. 5. 1846, StA Worms, Abt. 12/1 Nr. 01–01/48 106. Um 1870 wanderte sie in die USA aus, wo sie erst in New York und San Francisco, später in Seattle lebte. United States of America, Bureau of the Census.
2.1 Jüdische Geflüchtete in New York
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scheidung zur Emigration beeinflussten, zeigt sich auch daran, dass Trietschs zwei Jahre älterer Bruder ihm nach New York folgte.10 Carl Trietsch fand dort eine Stelle als Buchhalter und wurde später wiederum zu einer wichtigen Kontaktperson für Cousins mütterlicherseits, die sich als Kaufleute in der urbanen Wachstumsregion New Yorks niederließen.11 Über diese Familienbeziehungen und die Pull-Faktoren einer aufstrebenden US-amerikanischen Wirtschaft hinaus dürfte auch Trietsch den ,amerikanischen Traum‘ geträumt haben.12 Wie viele andere Auswanderinnen und Auswanderer hoffte er wohl, sich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten eine neue Existenz aufbauen zu können, mit der sich Selbstverwirklichung und Wohlstand erringen ließen. Fleiß, Tatkraft und Willensstärke galten vielen damals als verheißungsvolle Eckpfeiler, zwischen denen sich – ungeachtet der eigenen sozialen Herkunft – der erhoffte Erfolg aufspannen ließ. Trietsch setzte auch in späteren Jahren auf diese Ideale. Sein Engagement in der zionistischen Bewegung war durch eine unermüdliche Publikations‑ und Vortragsarbeit geprägt. Für ihn ließ sich das zionistische Projekt nur durch Hingabe und unentwegten Arbeitseinsatz verwirklichen. Jede Zionistin und jeder Zionist, die sich mit großem Eifer dem Aufbau Zions verschrieben, stellten in seinen Augen eine Bereicherung für die Bewegung dar – gleichgültig, ob sie aus guten Verhältnissen stammten und einen akademischen Titel besaßen oder nicht. Das gegenwärtig Geleistete, nicht die soziale Herkunft, war das für ihn Entscheidende. Zu diesem ausgeprägten Leistungsgedanken, dessen Ausgangspunkt in den frühen Lebensjahren von Trietsch zu suchen ist, traten weitere Merkmale des American Way of Life, die seine eigene Lebens‑ und Arbeitsweise prägten. Zu ihnen zählten besonders eine an Optimismus, Unternehmungsgeist und Flexibilität ausgerichtete Arbeitsmentalität ebenso wie ein pragmatisches Handeln.13 Vor dieser Folie überprüfte Trietsch die sich wandelnde Wirklichkeit mit großer Neugier und ohne Vorbehalte, wodurch er alternativen Lösungsansätzen zugeneigt war. Die Zulässigkeit einer Methode bemaß sich für ihn nicht an feststehenden Theorien, sondern an Erfolgen in der Praxis. Aktivismus war seine Maxime, nicht ideologische Proklamation.
Twelfth Census of the United States, Washington, D. C. 1900, Blattnr. 2. Zu David Trietsch siehe „Trietsch Gets New Job“, in: Trenton Evening Times, 9. 9. 1910, S. 2. 10 Zu Carl Trietsch, der 1900 Staatsbürger der USA wurde, siehe die US-Volkszählung 1920, Brooklyn Assembly District, New York; Rolle: T625_1158, S. 20A. 11 Carl Trietsch an Davis Trietsch, 13. 8. 1903. JMB 2011/267; Emma Aberle an Davis Trietsch, 25. 5. 1905. Ebd. In welchem Jahr Carl Trietsch starb, ließ sich nicht ermitteln. Einer Zeitungsnotiz nach muss er noch 1953 in New York gelebt haben. „Services are Held for C. T. Trietsch“, in: The Brooklyn Daily Eagle, 23. 3. 1953, S. 7. 12 Tobias Brinkmann, Von der Gemeinde zur ,Community‘. Jüdische Einwanderer in Chicago 1840–1900, Osnabrück 2002, S. 44 f. 13 Alexander Schmidt-Gernig, „Zukunftsmodell Amerika? Das europäische Bürgertum und die amerikanische Herausforderung“, in: Ute Frevert (Hg.), Das neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, Göttingen 2000, S. 79–112, hier S. 97.
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2. „Die Zukunft des Orients“
Im August 1893, kurz nach Trietschs Ankunft in New York, suchte ein Hurrikan die Stadt heim.14 Während diese Naturkatastrophe, die 37 Menschen das Leben kostete, Trietsch einen ungemütlichen Empfang bereitet haben dürfte, bereiteten ihm die schlechten Wohn‑ und Arbeitsbedingungen der jüdischen Einwander*innen aus Osteuropa große Sorgen. Ein autobiografisch gefärbtes Kapitel in seinem Buch Jüdische Emigration und Kolonisation (1917) lässt erahnen, wie prägend die Begegnung mit dieser Gruppe für ihn gewesen sein muss. Durch sie sei er, wie Trietsch rückblickend bemerkte, das erste Mal mit dem „größten aller jüdischen Probleme der Gegenwart, – der jüdischen Emigrationsfrage“15 konfrontiert worden. Zu der folgenreichen Begegnung kam es im jüdischen Viertel der Stadt, in dem er Zustände vorfand, die „in Mitteleuropa und besonders in Deutschland nicht anzutreffen“16 gewesen seien. Da sein Apartment südlich an das Viertel grenzte, das damals in der Lower East Side von Manhattan lag, konnte sich Trietsch aus nächster Nähe ein Bild von den dortigen Verhältnissen machen.17 In engen, licht‑ und luftlosen Mietshäusern drängten sich bei seiner Ankunft rund 250.000 jüdische Geflüchtete, die ihre Wohnländer verlassen hatten, in denen sie einer großen wirtschaftlichen Not und politischen Repressionen ausgesetzt gewesen waren. Vor allem im südöstlichen Abschnitt des Viertels wohnten die Menschen dicht an dicht gedrängt, wodurch die Übertragung von Infektionskrankheiten, allen voran der gefürchteten Tuberkulose, begünstigt wurde. Die Historikerin Debórah Dwork hat die Zustände in der Lower East Side näher untersucht. Ihr zufolge waren fast 70 Prozent der Geflüchteten zwischen 14 und 45 Jahre alt.18 Fast immer handelte es sich um Männer, die vorangegangen waren und ihre Familien in die Goldene Medine (jidd. Goldenes Land), wie man die USA hoffnungsvoll nannte, nachholen wollten. Die meisten von ihnen stammten aus dem heutigen Polen, Litauen, Belarus und der Ukraine, damals überwiegend Teil des Russischen Reichs, wo sie als Kleinhändler, Industriearbeiter und Handwerker beschäftigt gewesen waren. Neben einer kleinen Zahl wohlhabender Industrieller, denen in den größeren Städten der soziale Aufstieg gelungen war, lebten die meisten von ihnen in Armut. Auf seiner Reise durch das Großherzogtum Polen 1822 hatte sich schon der Dichter Heinrich Heine (1797–1856) von den Lebensbedingungen der dortigen jüdischen Minderheit erschüttert gezeigt. Er nahm sie als „zerlumpte
14 Jeff Waters, 120 Years Since the 1893 NY Hurricane & the Disappearance of Hog Island, 22. 3. 2013, abrufbar unter: http://www.rms.com/blog/2013/08/22/1893-ny-hurricane/ (Zugriff 12. 3. 2022). 15 Davis Trietsch, Jüdische Emigration und Kolonisation, Berlin 1917, S. 375. 16 Ebd. 17 Trietsch wohnte in der 63 1st Avenue und damit nur ca. 300 Meter von der Lower East Side entfernt. Seine Adresse ließ sich anhand von Briefen identifizieren. Siehe u. a. Davis Trietsch an Moses Gaster, 27. 1. 1899. UCL, Gaster Papers B 1899/117/24. 18 Debórah Dwork, „Health Conditions of Immigrant Jews on the Lower East Side of New York: 1880–1914“, in: Medical History 25 (1981), Nr. 1, S. 1–40, hier S. 3.
2.1 Jüdische Geflüchtete in New York
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Schmutzgestalten“19 wahr, die in „schweinestallartigen Löcher[n]“ hausten, wo sie „beten, schachern und – elend sind.“ Obwohl Heine, selbst Jude, in seinen Schilderungen antijüdische Stereotype bediente, lässt sich die tiefe Not vieler Jüdinnen und Juden im Russischen Reich der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht von der Hand weisen. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts nahm ihre wirtschaftliche Not weiter zu. Viele kleine Handwerker verloren im Zuge eines allmählich einsetzenden Industrialisierungsprozesses ihre Arbeit und sahen sich einem verschärften Konkurrenzkampf ausgesetzt. Mehreren gelang es, in der expandierenden Textilindustrie ein Auskommen zu finden, wo sie allerdings für einen geringen Lohn von der Nadelarbeit lebten.20 Ähnlich erging es den Kleinhändlern und Hausierern, unter denen die Juden traditionell stark vertreten waren. Durch rechtliche Diskriminierungen, darunter das Verbot, an Sonntagen und christlichen Feiertagen Handel zu treiben, verstärkte sich ihre Not. Am Ende des Jahrhunderts fristete ungefähr die Hälfte der jüdischen Bevölkerung ein Dasein als sogenannte Luftmenschen, womit Frauen und Männer gemeint waren, die über kein festes Einkommen verfügten und sich mit Hilfe von Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielten. Ohne Halt und Perspektive lebten sie gewissermaßen freischwebend in der Luft – eine Selbstzuschreibung der Betroffenen, die ihrer Misere in ironischer Verzweiflung Ausdruck gab.21 Nach der Teilung der Adelsrepublik Polen-Litauen gelangten viele Jüdinnen und Juden unter russische Herrschaft. 1897 lebten insgesamt 5,2 Millionen von ihnen im Russischen Reich, 87 Prozent im städtischen Raum.22 Als Napoleon Bonaparte (1769–1821) ihnen während seines Russlandfeldzugs 1812 in größerer Zahl begegnete, soll er seinen Soldaten mit Erstaunen zugerufen haben: „Messieurs, ich glaube, wir sind in Jerusalem.“23 Da Jüdinnen und Juden das Wohnrecht in den großen Städten verweigert worden war, wie in der Hauptstadt St. Petersburg, bildeten die Schtetlach (jidd. Städtlein) ihre Lebenswelt. Diese jüdisch geprägten Kleinstädte waren häufig „übervölkert wie die Slums der Großstädte“, wie sich der Schriftsteller Scholem Alejchem (1859–1916) erinnerte, der selbst in einem Schtetl in der heutigen Ukraine aufgewachsen war. Die ungepflasterten Straßen mit ihren einfachen Holzhäusern wirkten auf ihn „qualvoll wie ein talmudisches Argument.“ Sie seien, so Alejchem, „in Fragezeichen gebogen und in Parenthesen 19 Heinrich Heine, „Über Polen“, in: ders., Reisebilder, München 1982, S. 65–86, hier S. 69. Zu Heines Bericht: Hans-Joachim Hahn, „Europäizität und innerjüdisches Othering. ,Ostjuden‘ im literarischen Diskurs von Heine bis Zweig“, in: Caspar Battegay/Barbara Breysach (Hg.), Jüdische Literatur als europäische Literatur. Europäizität und jüdische Identität 1860–1930, München 2008, S. 124–138. 20 Heiko Haumann, Geschichte der Ostjuden, München 1990, S. 103 f. 21 Nicolas Berg, Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher, 2. Aufl., Göttingen 2014, S. 11. 22 Haumann, Geschichte der Ostjuden, S. 100 f. 23 Max Lilienthal, „Ein Bienenstock voller Juden. Über eine Reise durch Rußland“, in: Joachim Riedl (Hg.), Versunkene Welt, 2. Aufl., Wien 1984, S. 149–155, hier S. 149.
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gesetzt. Sie ende[te]n in Sackgassen wie eine Theorie, die an einer Realität an ihr Ende kommt.“24 Neben die wirtschaftliche Not trat die Angst vor Pogromen. Im April 1881 setzte eine antisemitische Gewaltwelle in der Ukraine ein, die 200 bis 250 Städte im Westen des Zarenreichs erfasste.25 Auslöser für die gewaltsamen Übergriffe war die Ermordung Zar Alexanders II. (1818–1881) gewesen, an der sich – so der Vorwurf – auch revolutionäre Jüdinnen und Juden beteiligt hätten. Im Zuge einer judenfeindlichen Pressekampagne, die von der Regierung in St. Petersburg geduldet und von der christlichen Bevölkerung bereitwillig rezipiert wurde, kam es fast jährlich zu Pogromen, die sich vor allem im Südwesten des Reichs entluden. Ein besonders brutaler Übergriff ereignete sich im April 1903 in Kischinew (Chisinău) in der heutigen Republik Moldau. Nachdem dort das Gerücht in Umlauf gebracht worden war, von jüdischer Seite sei ein Ritualmord an einem christlichen Jungen begangen worden, kam es zu mehrtägigen Gewaltausbrüchen. Dabei starben 49 Menschen, über 500 wurden verletzt, darunter viele Frauen und Kinder.26 Wie sich später herausstellte, war es ein Verwandter des christlichen Jungen gewesen, der ihn ermordet hatte. Die Pogrome von Kischinew lösten unter Jüdinnen und Juden weltweit Bestürzung aus. Die Zionist*innen, die die Ereignisse in mehreren Texten rekapitulierten, oft mit aufwühlenden Fotos der Opfer unterlegt, fühlten sich in ihrer Prognose bestätigt: Unter dem Zaren konnte es keine Zukunft geben, nur eine Auswanderung nach Palästina bot die Lösung.27 Wie viele westliche Beobachterinnen und Beobachter war auch Trietsch erschüttert. Als er ein Jahr später die Jüdische Gemeinde der Stadt besuchte, schmerzte ihn besonders, dass viele der Opfer noch immer am Ort des Verbrechens lebten: „Selten hat etwas einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht, wie das – von den Verhältnissen erzwungene – Weiterleben der Juden inmitten ihrer Mörder.“28
Angesichts wiederkehrender Gewaltausschreitungen und einer verschärften antisemitischen Gesetzgebung verließen bis 1914 mehr als zwei Millionen Jüdinnen und Juden das Russische Kaiserreich. Die große Mehrzahl von ihnen floh in die USA, wo die Behörden zwischen 1881 und 1900 circa 675.000 Neuankömmlinge
24 Zit. nach Irving Howe, „Die Last des Daseins und die Leidenschaft des Lebens. Über die Welt des osteuropäischen Judentums“, in: Riedl, Versunkene Welt, S. 13–18, hier S. 16. Zu Alejchems Kindheit: Maurice Samuel, The World of Sholom Aleichem, New York 1973, S. 24. 25 Michael Brenner, Kleine jüdische Geschichte, Bonn 2008, S. 228. 26 Edward H. Judge, Easter in Kishinev. Anatomy of a Pogrom, New York 1992, S. 41. Zu den antijüdischen Ritualmordlegenden: Eugene M. Avrutin/Jonathan L. Dekel-Chen/Robert Weinberg (Hg.), Ritual Murder in Russia, Eastern Europe, and Beyond: New Histories of an Old Accusation, Bloomington 2017; Elissa Bemporad, Legacy of Blood. Jews, Pogroms, and Ritual Murder in the Lands of the Soviets, New York 2019. 27 Siehe v. a. Berthold Feiwel, Die Judenmassacres in Kischinew, 3. Aufl., Berlin 1903. 28 Davis Trietsch, „Probleme der jüdischen Emigration und Kolonisation“, in: Jüdische Rundschau 14 (1909), Nr. 29, S. 333 f., hier S. 333.
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registrierten.29 Die meisten zog es in die florierende Metropole New York, die bis heute das jüdische Zentrum der USA bildet.30 Die Amerika-Auswanderung stellte für die Betroffenen zunächst eine rechtliche Verbesserung ihrer bisherigen Lage dar, die ihnen Sicherheit bot. Zudem war die soziale Mobilität in der sogenannten Neuen Welt insgesamt größer, wodurch die nächsten Generationen öffentliche Schulen und Universitäten (meist) ohne diskriminierende Quoten besuchen konnten und in vielen Fällen erfolgreich die Karriereleiter erklommen.31 Während es vielen von ihnen mit der Zeit gelang, in die untere und obere Mittelschicht des US-amerikanischen Bürgertums aufzusteigen, einigen sogar in die Oberschicht, fristeten die jüdischen Neueinwander*innen meist ein tristes Dasein.32 Ihr Traum, vom Hausierer zum Warenhausbesitzer aufzusteigen, entsprach nicht der Realität. Mehr als die Hälfte von ihnen war stattdessen über Jahre in der Textil‑ und Bekleidungsindustrie beschäftigt, wo sie mit langen Arbeitszeiten und Niedriglöhnen konfrontiert waren. Frauen, die in Sweatshops, den sogenannten Schwitzstätten, für wenig Lohn 16 bis 19 Stunden täglich nähten, waren keine Seltenheit.33 Die prekären Arbeits‑ und Wohnverhältnisse boten einen idealen Nährboden für Krankheiten, Prostitution und Verbrechen. Viele alteingesessene New Yorker*innen mieden deshalb die jüdischen Straßenzüge der Lower East Side mit ihren maroden Häusern, die häufig über kein fließendes Wasser und sanitäre Einrichtungen verfügten.34 Trietsch hingegen suchte das Viertel öfter auf, hatte er doch dort „reichlich Gelegenheit, die Probleme jüdischer Auswanderung […] in einem westlichen Milieu kennen zu lernen [!].“35 Neben seiner Berufsarbeit als Schildermaler bildete er sich autodidaktisch weiter. Sein Selbststudium zur ,Lösung der Judenfrage‘, für das er wirtschafts‑ und tagespolitische Debatten aufmerksam verfolgte, ließ ihn zu der Überzeugung gelangen, dass auch die USA dauerhaft keine Lösung des Problems sein konnten.36 Zwar registrierte Trietsch neben dem Elend in der Lower East Side auch die positiven Entwicklungschancen, die sich den Einwander*innen boten. Am Horizont sah er jedoch einen dunklen Antisemitismus aufziehen, der sich 29 Von
1901 bis 1914 waren es weitere 1,4 Mio. Dwork, „Health Conditions“, S. 1 f. u. a. Deborah Dash Moore, Jewish New York. The Remarkable Story of a City and a People, New York 2017. 31 Der Antisemitismus nahm in den USA nach dem Ersten Weltkrieg merklich zu. An einigen Universitäten wurden Quoten eingeführt, die den Zugang jüdischer Studierender beschränken sollten. Gil Ribak, „,You Can’t Recognize America‘: American Jewish Perceptions of Anti-Semitism as a Transnational Phenomenon after the First World War“, in: Christian Wiese/Cornelia Wilhelm (Hg.), American Jewry. Transcending the European Experience?, London, New York 2017, S. 281–304. 32 Jessica Cooperman/Shira Miriam Kohn, „Jews and Jewish Americans, 1870–1940“, in: Elliott R. Barkan (Hg.), Immigrants in American History. Arrival, Adaptation, and Integration, Bd. 1, Santa Barbara 2013, S. 459–468, hier S. 461–63, 468. 33 Dwork, „Health Conditions“, S. 13, 18. 34 Ebd., S. 7 f. 35 Trietsch, Jüdische Emigration und Kolonisation, S. 375. 36 Ebd. 30 Siehe
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in der Neuen Welt ebenfalls gewaltsam entladen würde, sollten sich noch mehr osteuropäische Jüdinnen und Juden dort niederlassen. Solange die jüdische Minderheit in einer christlichen Mehrheitsgesellschaft lebte, so Trietschs Prognose, war sie auch in den USA nicht vor Anfeindungen sicher, wo man sie ebenfalls als ungebetene Gäste missbilligte.37 Ressentiments gegen Jüdinnen und Juden hatten mit dem Sezessionskrieg 1861–1865 und der jüdischen Einwanderung aus Osteuropa am Ende des 19. Jahrhunderts in der Tat zugenommen und wurden als solche von Trietsch aufmerksam registriert.38 Allein Palästina als historische Heimat des jüdischen Volkes bot Trietsch zufolge einen sicheren Hafen, der für eine großangelegte jüdische Einwanderung in Betracht zu ziehen war. Die von ihm und anderen Zionistinnen und Zionisten ersehnte Ansiedlung im ,Land der Väter‘, das seit 1516 zum Osmanischen Reich gehörte, erwies sich in der Realität jedoch als schwierig. In Reaktion auf die Pogrome im Russischen Reich, die eine Zuwanderung nicht nur in Richtung Westen, sondern auch in die Türkei ausgelöst hatten, verbot die türkische Regierung die Niederlassung von Jüdinnen und Juden in Palästina.39 Diese restriktive Gesetzgebung ist in erster Linie auf weltpolitische Ereignisse und weniger auf judenfeindliche Einstellungen der osmanischen Behörden zurückzuführen. Nachdem Frankreich und Großbritannien in kurzer Zeit 1881/82 die beiden Provinzen Tunesien und Ägypten okkupiert hatten, befürchtete die Regierung in Konstantinopel (Istanbul) nicht zu Unrecht, auch Palästina könne wegen seiner Bedeutung für das Christentum an die europäischen Großmächte fallen.40 Ihre Vertreter nahmen die jüdischen Geflüchteten nicht als Opfer des Zaren, sondern als dessen Agenten wahr, die den russischen Einfluss stärken sollten. Als Angehörige eines Landes, mit dem man sich 1878 noch im Krieg befunden hatte, waren sie nicht willkommen.41 Die ablehnende Haltung Konstantinopels führte dazu, dass Trietsch in New York eifrig nach alternativen Zufluchtsorten suchte. Im Zuge seiner Studien wurde er dabei 1895 auf die Insel Zypern aufmerksam, um die sich zu dieser Zeit eine politische Debatte entspann. Die sogenannte cyprische Frage zielte darauf, ob die Insel von der Regierung in London aufgegeben werden sollte. Wie Palästina gehörte sie offiziell zum osmanischen Herrschaftsgebiet, stand aber seit 1878 unter
37 Berliner Büro der ZO (Hg.), Warum gingen wir zum Ersten Zionistenkongress?, Berlin 1922, S. 98–101 (Beitrag von Davis Trietsch), hier S. 99. 38 Zum Antisemitismus in den USA, der in jüngster Zeit wieder im Zunehmen begriffen ist, s. Melvin I. Urofsky, American Zionism from Herzl to the Holocaust, Lincoln, London 1975, S. 66–71; Robert Michael, A Concise History of American Antisemitism, Lanham 2005. 39 Isaiah Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, Oxford 1977, S. 39 f. Siehe außerdem Neville J. Mandel, „Ottoman Policy and Restriction on Jewish Settlement in Palestine: 1881–1908“, in: Middle Eastern Studies 10 (1974), Nr. 3, S. 312–332. 40 Gudrun Krämer, Geschichte Palästinas, 6. Aufl., München 2015, S. 121. 41 Ebd., S. 143.
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britischer Verwaltung.42 Während die einen Zypern an die Türkei zurückgeben und von einer mit Kosten verbundenen Administration absehen wollten, schlugen die anderen vor, die Insel zu einer autonomen Republik unter der Kontrolle Londons zu erheben.43 Die Debatte, die sich bis ins 20. Jahrhundert hineinzog und Raum für verschiedene Zukunftsvisionen bot, legte den Grundstein für die spätere Zypern-Agitation von Trietsch. In seiner Wahrnehmung bot sich dem jüdischen Volk hier ein Gebiet ganz in der Nähe von Palästina, dessen Möglichkeiten zur Ansiedlung er positiv bewertete: „Die Verhältnisse der Insel lagen günstig, soweit ich mich damals in New York informieren konnte. Für die Landschwierigkeit war also eine Lösung da, und zwar in einem unfraglich palästinensischen, konzentrischen Sinne.“44
In der Rückschau hob Trietsch hervor, von der jüdischen Palästinabewegung damals nur rudimentär gewusst zu haben. Diesem Narrativ folgend sei er in Bezug auf Zypern zu eigenen Lösungen gelangt, die er für sich behielt, da er niemanden kannte, dem er sie hätte erläutern können.45 Dadurch war ihm offenbar auch nicht bekannt, dass erste jüdische Siedlungsinitiativen (in der Neuzeit) schon 1883 auf Zypern erfolgt waren. Bei ihnen handelte es sich um kleinere Projekte englischer Jüdinnen und Juden, die mit einer Ausnahme allesamt scheiterten. In den USA dürften sie daher nicht weiter rezipiert worden sein.46 Das von Trietsch und anderen Zionisten wie Herzl bemühte Motiv einer selbständigen Erkenntnisfindung bleibt jedoch zu hinterfragen. Eine Postkarte an den Berliner Zionisten Willy Bambus (1862–1904), datiert vom 27. Juli 1895, belegt, dass Trietsch früh Kontakt zu Akteuren aus Deutschland suchte, die später in der ZO aktiv waren.47 Diese Beziehungen klammerte er in den autobiografischen Passagen seiner Jüdischen Emigration und Kolonisation geflissentlich aus und präsentierte sich dort als einen auf sich allein gestellten Vordenker. Erst die Lektüre eines Artikels aus Europa soll ihn Anfang 1896 aufhorchen lassen haben. Bei dem Autor handelte es sich um den polyglotten Korrespondenten der Wiener Neuen Freien Presse Theodor Herzl48, der kühn die Gründung eines ,Judenstaats‘ in Aussicht stellte. 42 Zur britischen Zypern-Politik Ende des 19. Jahrhunderts: Gail Dallas Hook, Protectorate Cyprus. British Imperial Power Before World War I, London 2020. 43 Rolf Ahmann, „Von Malta nach Zypern: Zur Entwicklung der britischen Politik in der Orientalischen Frage im 19. Jahrhundert“, in: Sabine Rogge (Hg.), Zypern und der Vordere Orient im 19. Jahrhundert. Die Levante im Fokus von Politik und Wissenschaft der europäischen Staaten, Münster 2009, S. 9–32. 44 Davis Trietsch, „,Auch‘ eine Erinnerung“, in: Tulo Nussenblatt (Hg.), Zeitgenossen über Herzl, Brünn 1929, S. 233–237, hier S. 236 [Hervorh. im Original]. 45 Trietsch, Jüdische Emigration und Kolonisation, S. 377. 46 Panteli, Place of Refuge, S. 80–94. 47 Im Sommer 1895 war Trietsch in Berlin, wo er u. a. mit Bambus in Kontakt stand. Davis Trietsch an Willy Bambus, 27. 7. 1895, NLI, Abraham Schwadron Autographs Collection, Schwad 01 09 116. 48 Theodor Herzl, „Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage“, in:
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2. „Die Zukunft des Orients“
2.2 Die ,orientalische Lösung der Judenfrage‘ Mit der Einberufung des ersten Zionist*innenkongresses beginnt 1897 die Geschichte des modernen Zionismus als einer politisch organisierten und am Zeitgeist des 19. Jahrhunderts ausgerichteten säkularen Bewegung. Wenn der Gedanke einer Rückkehr nach Zion auch kein neuer war, sondern in den Gemeinden der jüdischen Diaspora seit Jahrhunderten tradiert wurde, hatten Jüdinnen und Juden bis dahin nicht das Ziel verfolgt, Palästina systematisch zu erschließen.49 Erste Projekte zur Unterstützung jüdischen Lebens in Palästina existierten seit 1870, ihnen lagen aber keine nationaljüdischen Ambitionen zugrunde. Den Anfang machte die Alliance Israélite Universelle (AIU), eine nichtzionistische Wohltätigkeitsorganisation, die in diesem Jahr eine Landwirtschaftsschule südlich der Stadt Jaffa errichtete. Diese und weitere Initiativen der 1860 in Paris gegründeten AIU sollten dem alten Jischuv zugutekommen, womit die jüdische Bevölkerung in Palästina vor 1882 gemeint war.50 Anders als sein Name vermuten lässt, setzte sich der alte Jischuv vorwiegend aus Jüdinnen und Juden zusammen, die erst im Zuge des 19. Jahrhunderts aus arabischen und europäischen Diaspora-Gemeinden eingewandert waren. 1880 zählte er 26.000 Personen, von denen laut offiziellen Angaben 15.000 die türkische Staatsbürgerschaft besaßen. Gerade einmal vier Prozent aller Staatsbürger*innen in Palästina, damals 457.000, waren somit jüdisch.51 Fast alle von ihnen ließen sich aus religiöser Überzeugung im Land nieder. Während die einen in seinen heiligen Städten ein religiös-orthodoxes Leben führen wollten, kamen die anderen als sogenannte Sterbekandidaten nach Palästina. Sie hofften, am Hang des Ölbergs in Jerusalem beerdigt zu werden, um von dort der Ankunft des Messias unmittelbar beiwohnen zu können.52 Davis Trietsch, der das ,Goldene Jerusalem‘ erstmals 1900 besuchte, musste wie andere Beobachter*innen feststellen, dass nicht alles Gold war, was in der heiligen Stadt glänzte. Die große Mehrheit der „schmachtlockigen Streimeljuden“53, wie er die aschkenasischen Juden despektierlich nannte, lebte in bitterer Armut und blieb auf Spenden aus dem Ausland angewiesen. Das System der Chaluka, wie man die organisierten Auslandsspenden für bedürftige Jüdinnen und Juden in Eretz Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift 13 (1896), Nr. 8, S. 145–148. Zur Ausstrahlungskraft Herzls siehe Penslar, Theodor Herzl. 49 Michael Brenner, Israel. Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates. Von Theodor Herzl bis heute, München 2016, S. 44 f. 50 Ders., Geschichte des Zionismus, 4. Aufl., München 2016, S. 52 f. 51 Krämer, Geschichte Palästinas, S. 162. Zur Diversität des alten Jischuv siehe Yair Wallach, „Rethinking the Yishuv. Late-Ottoman Palestine’s Jewish Communities Revisited“, in: Journal of Modern Jewish Studies 16 (2017), Nr. 2, S. 275–294. 52 Hans Eissler/Walter Nänny, Wegbereiter für Israel. Aus der Geschichte der Anfänge 1850– 1950, Metzingen 2001, S. 17. Zur Bedeutung Jerusalems über das Judentum hinaus: Antti Laato (Hg.), Understanding the Spiritual Meaning of Jerusalem in Three Abrahamic Religions, Leiden 2019. 53 Davis Trietsch, „Jerusalem“, in: Die Welt 10 (1906), Nr. 26, S. 7 f., hier S. 8.
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Israel nannte, wurde von vielen Zionist*innen abgelehnt. Wie der Berliner Zionist Sammy Gronemann (1875–1952) kritisierte, förderte die Chaluka, die damals über Amsterdam abgewickelt wurde, während sie heute in erster Linie über New York geht, „eine große Anzahl von Müßiggängern im heiligen Lande“54. Von der Not der meisten gesetzestreuen Jüdinnen und Juden bewegt, sprach sich auch Trietsch gegen derlei Hilfen aus. Zwar lehnte er die Chaluka nicht rundum ab, obwohl ihm zufolge die „,Schnorrer Jerusalems‘ alle zwei Jahre mehr Geld ,zum Verleben‘ erhalten als alle zionistischen Fonds in neun Jahren.“55 Doch knüpfte er die Unterstützungen an den Grundsatz der Hilfe zur Selbsthilfe. Wie andere Zionistinnen und Zionisten forderte er, den Betroffenen über das religiöse Studium hinaus eine Lohnarbeit zu verschaffen, die ihnen eine unabhängige Existenz sichern sollte. Zu diesem Zweck rief er früh zur Zusammenarbeit mit orthodox-religiösen Kreisen auf, denen er in späteren Jahren als Palästina-Experte zur Seite stehen sollte.56 Neben den frommen Einwander*innen, deren Nachkommen bis heute meist auf Spenden und Transferleistungen angewiesen sind, da die Männer keiner Erwerbsarbeit nachgehen, kamen politische Geflüchtete ins Land.57 Sie legten den Grundstein für den neuen Jischuv. Während die meisten Verfolgten in die USA übersetzten, flohen zwischen 1882 und 1903 rund 30.000 von ihnen nach Palästina.58 Die meisten waren in ihrer Entscheidung ebenfalls religiös motiviert. Unterstützt wurden sie von Palästinavereinen, die sich zunächst in Rumänien und im Russischen Kaiserreich gebildet hatten. Die Mitglieder dieser gemeinnützigen Zusammenschlüsse, die als Chovevei Zion (hebr. Zionsfreunde) an die Öffentlichkeit traten, handelten aus unterschiedlichen Antrieben. Während die einen aus religiöser Überzeugung der Ankunft des Messias den Weg ebnen wollten, setzten die anderen, die sich den Idealen der Aufklärung verpflichtet fühlten, auf philanthropische Hilfsmaßnahmen.59 Beide Motive überlagerten sich oft, wie auch nationaljüdische Zielsetzungen mitunter eine Rolle spielten.60 Trietsch hatte zu den Chovevei Zion noch vor dem ersten Kongress Kontakt aufgenommen, wie seine Postkarte an Willy Bambus belegt. Vor allem der 1884 in Berlin gegründete Esra. Verein zur Unterstützung ackerbautreibender Juden in Palästina und Syrien, in dessen Zentralkomitee Bambus als treibende Kraft agierte, wurde für Trietsch zu einem wichtigen Forum.61 Bis zur Auflösung des Esra-Ver Gronemann, Erinnerungen, S. 29. Trietsch, „Jerusalem“, S. 8. 56 Ders., „Jerusalem“, in: Die Welt 10 (1906), Nr. 28, S. 19. 57 Zu den Ultraorthodoxen und der Schieflage des israelischen Arbeitsmarkts siehe u. a. Ruth Klinov, „Wirtschaft, Sozialwesen und Politik“, in: Gisela Dachs (Hg.), Länderbericht Israel, Bonn 2016, S. 456–516, hier S. 463. 58 Erik Petry, Ländliche Kolonisation in Palästina. Deutsche Juden und früher Zionismus am Ende des 19. Jahrhunderts, Köln u. a. 2004, S. 102. 59 Walter Laqueur, Der Weg zum Staat Israel. Geschichte des Zionismus, Wien 1972, S. 92. 60 Marlies Bilz, Hovevei Zion in der Ära Leo Pinsker, Hamburg 2007, S. 50, 111–115. 61 Zur Rolle von Bambus im Esra-Verein: Erik Petry, „Zwischen nationalem Bekenntnis und Pragmatismus: Heinrich Loewe und Willy Bambus“, in: Andrea Schatz/Christian Wiese 54 55
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eins 1932 engagierte er sich dort, wobei die Intensität seiner Mitarbeit im Verhältnis zu seiner Stellung innerhalb der ZO zu sehen ist. In Zeiten der Auseinandersetzung und Entfremdung nahm seine Mitarbeit im Esra zu. Der Berliner Verein, der durch Beiträge und Spenden seiner Mitglieder (1896 waren es 3900 Unterstützerinnen und Unterstützer) mehrere Siedlungen in Palästina förderte, verfolgte keine nationaljüdischen Bestrebungen. Seine Initiatoren, viele von ihnen religiös-orthodox, vertraten das Prinzip der unmittelbaren Hilfe und setzten wie Bambus auf pragmatische Lösungsansätze.62 Um eine weitreichende Hilfsaktion für Jüdinnen und Juden auf den Weg zu bringen, beteiligte sich der Esra-Verein 1894 federführend an einer gemeinsamen Konferenz.63 Neben den osteuropäischen Chovevei Zion nahmen an ihr mehrere Vertreter aus Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Österreich-Ungarn teil, wo sich, wenn auch in deutlich geringerer Zahl, ebenfalls ,zionsliebende‘ Vereine gebildet hatten. Obwohl auf die Zusammenkunft die Gründung einer Zentrale in Paris folgte, lösten sich mit Ausnahme des Esra bis 1903 alle größeren mittel‑ und westeuropäischen Vereine wieder auf.64 Vor allem finanzielle und organisatorische Schwächen, die sich durch die Institutionalisierung der ZO verschärften, waren die Ursache hierfür gewesen.65 In Osteuropa blieben viele Vereine dagegen bestehen. Wegen geringer finanzieller Mittel und der rechtlichen Beschränkungen, die ihnen seitens staatlicher Behörden auferlegt wurden, konnten sie aber nur bedingt aktionsfähig werden. Das selbstbewusste Auftreten des charismatischen Stilisten Herzl und dessen großangelegter Aktionsplan, das jüdische Volk in absehbarer Zeit zu einem politischen Machtfaktor zusammenzuschließen, bewog die meisten Chovevei Zion, ihm nach Basel zu folgen. Herzls 86-seitige Broschüre Der Judenstaat hatte unter ihnen zwar keine ungeteilte Zustimmung gefunden, ließ angesichts der spärlichen Erfolge in Palästina aber auf eine größere Aktion hoffen. Auch Trietsch war von der Bestimmtheit Herzls Forderungen angetan. Sein prägnanter und selbstsicherer Stil, der im Vorgefühl des Erfolgs auf die durchsetzungsfähige Willenskraft der Zionistinnen und Zionisten setzte, die Herzl als die „starken Juden“66 beschwor, euphorisierte ihn: (Hg.): Janusfiguren. „Jüdische Heimstätte“, Exil und Nation im deutschen Zionismus, Berlin 2006, S. 189–212, bes. S. 192 f. 62 Ebd., S. 202; Spranger, Theodor Zlocisti, S. 46. 63 Festschrift zum 25-jährigen Jubiläum des ,ESRA‘. Verein zur Unterstützung ackerbautreibender Juden in Palästina und Syrien, hrsg. vom Central-Comité des ,Esra‘, Berlin 1909, S. 5, 7. Zum Esra-Verein: Jehuda Reinharz, „The Esra Verein and Jewish Colonisation in Palestine“, in: The Leo Baeck Institute Year Book 24 (1979), Nr. 1, S. 261–289. 64 In Österreich-Ungarn existierten mehrere Vereine, wie der Jüdische Kolonisationsverein (JKV ) in Wien, in dem auch Trietsch verkehrte. Seine Kontakte dorthin sind vor der Folie zu sehen, dass der JKV die „Ansiedlung von Juden in Palästina und seinen Nebenländern“ förderte. Jüdischer Kolonisationsverein an Franz Oppenheimer, 30. 9. 1906. CZA, A161/11. 65 Zur retrospektiven Selbsteinschätzung: 35 Jahre Verein ,Esra‘, hrsg. vom Central-Comité des ,Esra‘, Berlin 1919, S. 19. 66 Herzl, Der Judenstaat, S. 12.
2.2 Die ,orientalische Lösung der Judenfrage‘
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„Mich lockte die Verwirklichung. Zu ihr glaubte ich beitragen zu können für den Fall, daß ein solcher Beitrag noch nötig sei. Die Ankündigungen klangen ja so bestimmt. Alles schien so gut durchdacht und so weit vorbereitet zu sein.“67
Was Trietsch am Judenstaat ebenfalls gereizt haben dürfte, war die von seinem Verfasser geforderte Nutzbarmachung moderner Technik. In Herzls Vision sollte Palästina von europäisch geschulten Jüdinnen und Juden zu einem progressiven „Musterland“68 aufgebaut werden, in dem, anders als von den Chovevei Zion propagiert, Landwirtschaft und Industrie prosperieren sollten. Darüber hinaus dürfte Trietsch die territoriale Flexibilität von Herzl zugesagt haben. So blieb die Frage, wo das künftige jüdische Gemeinwesen entstehen sollte, im Judenstaat noch offen. Zwar betonte Herzl, Palästina sei „unsere unvergessliche historische Heimat“69. Angesichts der großen Not vieler Jüdinnen und Juden in Osteuropa konnte sich der Autor aber auch eine Ansiedlung in Argentinien vorstellen. Im Gegensatz zum Esra, dessen Hilfsaktionen sich auf Palästina und Syrien beschränkten, wie Bambus mit Nachdruck klarstellte, bot die neue Bewegung den territorialen Ambitionen Trietschs somit einen größeren Radius.70 Interessanterweise zeigte aber auch Bambus später Interesse an Landkäufen auf Zypern, wie zwei Briefe in seinem Nachlass belegen.71 Während es die Mehrzahl der jüdischen Geflüchteten in die USA zog, setzte Trietsch auf eine „orientalische Lösung der Judenfrage“72. Für ihn resultierte sie aus der zunehmend restriktiven Einwanderungspolitik der USA, wonach die Betroffenen seiner Auffassung nach langfristig nur in und um Palästina eine sichere Zuflucht finden konnten. Die wachsende Zahl jüdischer Einwander*innen, die meist ohne Mittel und Kenntnisse der amerikanischen Kultur und Sprache in New York landeten, hatte tatsächlich zu einem verschärften Vorgehen der Behörden geführt. Auf den Immigration Act von 1891, der sich in erster Linie gegen russische Jüdinnen und Juden gerichtet hatte, ohne sie explizit beim Namen zu nennen, folgte schließlich der Immigration Act von 1924. Beide Gesetze sahen ein System der Quotierungen vor, durch das unliebsamen Zuwander*innen die Einreise in die USA verwehrt werden sollte.73 Mit dem richtigen Gespür für diese sich Trietsch, Warum gingen wir zum Ersten Zionistenkongress?, S. 98. Der Judenstaat, S. 79 f. Zu Herzls positivem Technologieverständnis siehe Asaf J. Shamis, „Power and Technology in Theodor Herzl’s Zionist Plan“, in: Israel Studies 25 (2020), Nr. 2, S. 1–24. 69 Herzl, Der Judenstaat, S. 29. 70 Siehe u. a. die „Ansprache des Herrn Willy Bambus“, in: Mittheilungen des Verein ,Esra‘, 1. 11. 1903, S. 4–6, hier S. 4. 71 J. Bergmann (Manager der JCA auf Zypern) an Willy Bambus, 2. 9. 1903; Anthony Young (Chief Secretary to the Government) an Willy Bambus, 6. 10. 1903. CZA, A28/23. 72 Trietsch, „Die Zukunft des Orients“, Sp. 327. 73 Michael, A Concise History, S. 98 f. Siehe auch Roger White, Immigration Policy and the Shaping of U. S. Culture. Becoming America, Cheltenham 2018; Maddalena Marinari/Madeline Y. Hsu/María Cristina García (Hg.), A Nation of Immigrants Reconsidered. US Society in an Age of Restriction, 1924–1965, Urbana, Chicago 2019. 67
68 Herzl,
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2. „Die Zukunft des Orients“
zuspitzende Entwicklung, die neben Jüdinnen und Juden besonders Frauen und Männer aus asiatischen Ländern betraf, verlagerte Trietsch sein Augenmerk auf den sogenannten Orient. Wie unter anderem Jürgen Osterhammel gezeigt hat, handelte es sich beim ,Orient‘ um einen von außen an die Region herangetragenen Begriff, der vor dem Hintergrund europäischer Differenz‑ und Orientierungsbedürfnisse zu sehen ist.74 Welche Länder und Gebiete damit gemeint waren, wurde meist unterschiedlich aufgefasst. Im 19. Jahrhundert spannte der Orient gemeinhin eine Brücke vom Balkan über Indien bis nach Ostasien. Trietsch bezog sich in seinen Ausführungen auf den türkischen Orient, allen voran auf Palästina und seine Nachbarländer. Das von ihm zur Diskussion gestellte Landgebiet variierte allerdings ebenfalls, wie zu zeigen sein wird.75 In dem reich bebilderten und von Alfred Nossig herausgegebenen Buch Der Orient als jüdisches Siedlungsgebiet (1910), zu dem Trietsch mehrere Karten beisteuerte, zählten neben Palästina Syrien, Anatolien, Mesopotamien, die Sinai-Halbinsel und Zypern zum Orient.76 Nossig und Trietsch zufolge bildete Palästina das unverrückbare Kernstück dieser Region, das die jüdische „Volkssehnsucht mit der vernunftgemässen Ausführungsmöglichkeit“77 sinnvoll verband. Für eine künftige Ansiedlung sprachen somit einerseits die jüdische Religion und Tradition. Der türkische Orient wies sich als ein durch die Geschichte legitimiertes Siedlungsgebiet aus, das schon im Altertum als Heimat für Jüdinnen und Juden fungiert hätte: „Was die historische Heimat betrifft“, so Trietsch 1902, „kann nur auf Grund der alleroberflächlichsten Kenntnis bestritten werden, dass die Juden […] weit über die Grenzen des engen Stammlandes hinaus fast alle Nachbarländer besiedelt hatten und teilweise beherrschten.“78 Ausgehend von dieser breit gefassten Rückschau, die für die territoriale Konzeption seines Greater Palestine grundlegend war, sah Trietsch im türkischen Orient ein „neues Amerika“, das aber den großen Vorteil besaß, „aufs neue die Heimat der Juden“ zu werden.79 Neben dem Kriterium einer emotionalen und historischen Verbundenheit traten andererseits politische und wirtschaftliche Aspekte, die Trietsch zufolge in der Ge74 Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998, S. 42. Neuere Studien zum Orientalismus: Chiara Adorisio, Zwischen Orient und Europa. Orientalismus in der deutsch-jüdischen Kultur im 19. und 20. Jahrhundert, Tübingen 2019; Geoffrey Nash (Hg.), Orientalism and Literature, Cambridge 2019; Andrew Wilcox, Orientalism and Imperialism. From Nineteenth-Century Missionary Imaginings to the Contemporary Middle East, London u. a. 2018. 75 Zum sog. türkischen Orient zählte Trietsch Ägypten, Arabien, Armenien, Kleinasien, Kreta, Kurdistan, Teile Libyens sowie Mesopotamien, Samos, Syrien (mit Palästina) und Zypern. Davis Trietsch, „Die Nachbarländer“, in: Altneuland 2 (1905), Nr. 6–7, S. 184–199, hier S. 187–189. 76 Alfred Nossig, Der Orient als jüdisches Siedlungsgebiet, hrsg. von der Allgemeinen Jüdischen Kolonisations-Organisation, Berlin 1910, S. 3–9. 77 Davis Trietsch, „Der jüdische Orient“, in: Jüdischer Almanach 5663, Berlin 1903, S. 253–258, hier S. 254. 78 Ebd., S. 258. 79 Trietsch, „Die Zukunft des Orients“, Sp. 323.
2.2 Die ,orientalische Lösung der Judenfrage‘
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genwart für „einen sofortigen Beginn praktischer, grossangelegter Kolonisationsthätigkeit“80 sprächen. So war die Einwanderung nach Palästina von der Regierung in Konstantinopel zwar erschwert worden, doch boten die umliegenden Länder eine gangbare Alternative. Das zu diesem Zweck von Trietsch großzügig ins Auge gefasste Territorium gibt ein eindrückliches Beispiel für seinen lösungsorientierten Pragmatismus. War eine jüdische Einwanderung nach Palästina nicht möglich, mussten alternative Lösungswege gefunden werden. Auf diese für ihn typische Herangehensweise verwies Trietsch selbst, wenn er 1922 rückblickend schrieb: „Besser war es selbstverständlich – auch in einem ,Größeren Palästina‘ – vom Zentrum, vom Hauptlande aus anzufangen. Aber wenn das nicht ging, so war ein Beginn der Verwirklichung vom geeignetsten Teile der Peripherie her die zweitbeste Sache.“81
Die akute Not der zu Flucht und Auswanderung gedrängten Jüdinnen und Juden wog für ihn schwerer als die exklusive Bezugnahme auf Palästina. Trietsch zufolge, der sich selbst als Zionist verstand, lagen dem Zionismus eine „Judennot und Palästina-Sehnsucht“ zugrunde, wobei erstere „die stärkere Triebkraft von beiden“82 sei. In seinem Aufsatz mit dem verheißungsvollen Titel „Der jüdische Orient“ für den Jüdischen Almanach des Jahres 1902/3 ging er davon aus, in den kommenden 20 bis 30 Jahren würden die meisten bedrängten Jüdinnen und Juden „nach dem türkischen Orient abfliessen.“83 Der von ihm prognostizierten Migration, die er kurzerhand mit einem mechanischen Abfluss verglich, würden Trietsch zufolge keine ernsten Hindernisse im Weg stehen, da das Gebiet über Palästina und seine nächsten Nachbarländer hinaus ausreichend groß und dünn besiedelt sei. In der Tat wies das trikontinentale Osmanische Reich mit seinen 24 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern (1909) auf einer Gesamtfläche von nahezu drei Millionen Quadratkilometern eine niedrige Bevölkerungsdichte auf.84 Von einem „entvölkerten Orient“85, wie Trietsch und andere Zionist*innen vorgaben, konnte allerdings nicht die Rede sein. Ein weiteres Argument, das für eine großangelegte jüdische Einwanderung in naher Zukunft sprach, war in der Darstellung von Trietsch die weitgehend positive Haltung der türkischen und britischen Behörden. Im Gegensatz zu den USA hatten sie keine starren Quoten eingeführt, wobei auch Trietsch die restriktive Haltung der Türkei nicht gänzlich ausblenden konnte. Von einem starken Leistungsgedanken geprägt ließen sich ihm zufolge aber bestehende Restriktionen für eine jüdische Ansiedlung in Palästina durch die besonderen Qualitäten der Jüdinnen und Juden auf längere Sicht aushebeln. Ihre intellektuellen und moralischen 80 Ders.,
„Der jüdische Orient“, S. 254. Warum gingen wir zum Ersten Zionistenkongress?, S. 100 [Hervorh. im Original]. 82 Ders., „Palästina oder Autonomie“, in: Palästina 2 (1903), Nr. 3, S. 115–124, hier S. 121. 83 Ders., „Der jüdische Orient“, S. 254. 84 Zum Vergleich: 1910 lebten in Deutschland 65 Millionen Menschen auf 541.000 km2. Zu den türkischen Ziffern siehe ders., Levante-Handbuch, 3. Aufl., Berlin 1914, S. 161. 85 Ders., „Die Gartenstadt“, in: Altneuland 2 (1905), Nr. 11–12, S. 349–362, hier S. 353. 81 Ders.,
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2. „Die Zukunft des Orients“
Fähigkeiten, angereichert mit modernen Wissenselementen aus Europa, machten sie in seinen Augen und denen vieler anderer Zionist*innen zu einer angesehenen Gruppe von Kulturvermittelnden. Entsprechend einem solchen Effizienzdenken befand Trietsch die von ihm mit positiven Eigenschaften Bedachten als ein kostbares ,Menschenmaterial‘, das dem als defizitär erachteten Orient ein Stück europäische Zivilisation bringen sollte. Parallel zu dieser eurozentrischen Weltsicht kehrte Trietsch das große Entwicklungspotenzial der Region hervor. Für ihn schien der Orient um die vorletzte Jahrhundertwende „aus seinem tausendjährigen Schlafe zu erwachen“86, wobei Jüdinnen und Juden die zentrale Aufgabe zufallen sollte, ihm zu neuerlicher Blüte zu verhelfen. Die Betonung künftiger Entwicklungsmöglichkeiten einerseits und einer jüdischen Sonderrolle andererseits lässt erkennen, wie stark Trietschs Visionen auf einem hierarchisierenden Kultur‑ und Zivilisationsmodell fußten. Ihm zufolge waren Palästina und die umliegenden Länder von der nichtjüdischen Bevölkerung sträflich vernachlässigt worden, weshalb sie nun innovativer (jüdischer) Köpfe aus Europa harrten.87 Diesem Selbstverständnis nach rief Trietsch selbstbewusst „zu einer neuen Aera der jüdischen Orientkolonisation“ auf, die „einmal in Fluss gekommen – immer weitere Gebiete uns zugänglich machen wird.“88 Die territoriale Konzentration von Jüdinnen und Juden in und um Palästina stellte für ihn eine Notwendigkeit ersten Ranges dar. Ebenso verhielt es sich mit der Zusammenfassung möglichst aller jüdischen Kräfte, die es zur Umsetzung seiner ambitionierten Ziele bedurfte. In Trietschs optimistischen Zukunftsvisionen, die oft der Komparativ schmückte, galten sie als Garanten für einen aktionsfähigen, ,größeren Zionismus‘.89
2.3 Aufschwung durch Zentralität: Palästina, ein globaler Knotenpunkt Ein weiterer wichtiger Grund für Davis Trietsch, sich für eine Ansiedlung im osmanischen Herrschaftsgebiet auszusprechen, bildete dessen größere Nähe zu den bisherigen Wohnländern der osteuropäischen Jüdinnen und Juden. Im Gegensatz zur überseeischen Auswanderung in die USA, die oft mit einer strapaziösen, zwei‑ bis dreiwöchigen Überfahrt in der dritten oder vierten Klasse verbunden war, konnten Palästina und die Nachbarländer in kürzerer Zeit und unter geringeren 86 Trietsch,
„Der jüdische Orient“, S. 256. neuere Studie zum Eurozentrismus bieten Marjet Brolsma u. a. (Hg.), Eurocentrism in European History and Memory, Amsterdam 2019. 88 Trietsch, „Der jüdische Orient“, S. 257. 89 „So ist das grössere Palästina nicht nur das Land für einen grösseren Teil unserer Nation […], sondern es ist auch Basis und Voraussetzung jenes grösseren Zionismus, der nicht eine Partei sein, sondern das Judentum in seiner Ganzheit umfassen will.“ Ebd., S. 258 [Hervorh. im Original]. 87 Eine
2.3 Aufschwung durch Zentralität
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Kosten erreicht werden.90 Gur Alroey hat dargelegt, dass mehrere Ausgewanderte deshalb von einer Überfahrt in die USA absahen und sich aus Kostengründen für das näher gelegenere Palästina entschieden.91 In seinem bekannten PalästinaHandbuch (1912) gab Trietsch an, von Berlin bis ins ägyptische Port Said brauche man nur noch vier Tage und von dort bis nach Jaffa zwölf weitere Stunden.92 Diese schnellste Verbindung von Deutschland aus, die damals über die italienische Hafenstadt Brindisi in Apulien ging, war für die Mehrzahl der Jüdinnen und Juden aus Osteuropa jedoch nicht erschwinglich. Außerdem lag sie nicht auf ihrer Fluchtroute. Sie schifften sich meist über das rumänische Constanţa, Odessa oder Triest ein, von wo aus sie über mehrere Zwischenhalte nach Palästina gelangten. Vor dem Ersten Weltkrieg dauerte ihre Überfahrt durchschnittlich elf bis zwölf Tage und wirkte als ein einschneidendes Erlebnis des Übergangs meist noch viele Jahre nach.93 Der Kulturwissenschaftler Joachim Schlör hat die (jüdische) Migration als eine folgenreiche kulturelle Praxis definiert, die im großen Spannungsbogen von Aufbruch und Abschied, Hoffnung und Angst zu lokalisieren ist.94 Die mehrwöchige Reise endete zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Hafenstadt Jaffa. Die Verhältnisse des kleinen Hafens dort waren, wie auch Trietsch eingestehen musste, dem Personenverkehr in keiner Weise gewachsen. Wegen vorgelagerter Felsen mussten die Schiffe vor der Küste ankern, von wo aus die Passagiere von arabischen Lastenträgern auf kleinen Booten ans Ufer gebracht wurden.95 Ben-Gurion, der als David Grün nordwestlich von Warschau 1886 zur Welt gekommen war und 1906 nach Palästina emigrierte, erinnerte sich noch gut an das nervenaufreibende Übersetzen ohne Landungssteg: „Die Araber kletterten mit Händen und Füßen auf unser Schiff. An Bord entstand ein furchtbares Lärmen und Gedränge. […] Es schien, als würde das Boot jeden Augenblick kentern und in den Wellen versinken, die aus allen Richtungen anrollten.“96 90 Siehe u. a. Davis Trietsch, „Probleme der jüdischen Emigration und Kolonisation“, in: Jüdische Rundschau 14 (1909), Nr. 29 & 30, S. 333 f., S. 343 f. 91 Gur Alroey, „Journey to Early-Twentieth-Century Palestine as a Jewish Immigrant Experience“, in: Jewish Social Studies 9 (2003), Nr. 2, S. 28–64, hier S. 38 f. Auch in nichtzionistischen Quellen wurde hervorgehoben, dass eine Fahrt von Odessa nach Jaffa (24 RM) weniger kostete als nach New York (150 RM). Siehe u. a. Der Israelit 49 (1908), Nr. 41, S. 6 f. 92 Davis Trietsch, Palästina-Handbuch, 3. Aufl., Berlin 1912, S. 285. 93 Alroey, „Journey to Early-Twentieth-Century Palestine“, S. 42. 94 Joachim Schlör, „Die Schiffreise als Denkraum. Quellen zur deutsch-jüdischen Emigration zwischen dem Abschied von Europa und der Ankunft in Palästina“, in: Jürgen Elvert/Martina Elvert (Hg.), Agenten, Akteure, Abenteurer. Beiträge zur Ausstellung „Europa und das Meer“ am DHM Berlin, Berlin 2018, S. 307–313; ders., „Abschied, Transit, Ankunft. Die Stadt am Mittelmeer und die Einwanderer aus dem Hotel Europa“, in: Anja Siegemund (Hg.), Deutsche und zentraleuropäische Juden in Palästina und Israel. Kulturtransfers, Lebenswelten, Identitäten. Beispiele aus Haifa, Berlin 2016, S. 59–74; ders., „Auf dem Schiff “, in: Moshe Zimmermann/ Jotam Hotam (Hg.), Zweimal Heimat. Die Jeckes zwischen Mitteleuropa und Nahost, Frankfurt a. M. 2005, S. 138–146. 95 Alroey, „Journey to Early-Twentieth-Century Palestine“, S. 49 f.; Trietsch, Palästina-Handbuch (1912), S. 120 f. 96 Zit. nach Segev, David Ben Gurion, S. 64. Dass die Überfahrt noch 1933 eine wacklige
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Trietsch, der im Februar 1906 und damit sieben Monate vor Ben-Gurion in Jaffa an Land gegangen war, äußerte sich ebenfalls abfällig über die Bootsleute. Er befand sie für hinterhältig, da sie die Passagiere angeblich gegen willkürliche Aufpreise an Land ruderten.97 Das erste Zusammentreffen mit der arabischen einheimischen Bevölkerung verband sich demnach bei vielen Zionist*innen mit keinen positiven Erinnerungen und dürfte ihr Bild von den ,Arabern‘ nachhaltig geprägt haben. Der Anblick der jüdischen Heimat „vor einem mehr und mehr vergoldenden Morgenhimmel“98 ließ Trietsch die Strapazen der Überfahrt jedoch rasch vergessen. Für eine Modernisierung der Hafenverhältnisse trat er später beharrlich ein. Olivier Baisez hat herausgearbeitet, wie zentral ein modernes Verkehrswesen für die deutschsprachigen Zionisten war.99 Sie erhofften sich von ihm, ein wettbewerbsfähiges Wirtschaftsgebiet zu etablieren, durch das Palästina künftig in den Weltmarkt integriert werden sollte. Neben dem Neu‑ und Ausbau von Häfen galt ihr Augenmerk der Erschließung des Landesinnern durch ein leistungsfähiges Schienennetz. Dafür spricht eine größere Anzahl von Veröffentlichungen im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts, unter denen sich auffallend viele wohlwollende Stellungnahmen angesehener nichtjüdischer Experten befanden.100 Mit ihrer Expertise sollte das Vorhaben der Zionist*innen offenbar von prominenter Seite legitimiert werden. Die einsetzende Durchschienung der Türkei, deren erster Höhepunkt die von 1900 bis 1908 erbaute Hedschasbahn bildete, befeuerte maßgeblich die Zukunftsvisionen im Frühzionismus.101 Die Linie, die heute nur noch in Teilabschnitten in Jordanien befahrbar ist, führte von Damaskus bis ins saudi-arabische Medina. Während zuvor alle anderen Strecken durch Konzessionen von ausländischen Investoren errichtet worden waren, galt die ,Heilige Bahn‘ als das erste Prestigeprojekt von Sultan Abdülhamid II. (1842–1918).102 Der Wert der insgesamt 1320 Kilometer langen Strecke, die ursprünglich bis nach Mekka führen sollte, bemaß sich für Abdülhamid II. zum einen in dem Transport von Pilger*innen. Als Kalif und damit als geistlicher und weltlicher Schutzherr aller sunnitischen Musliminnen Angelegenheit war, zeigt die Autobiografie von Alex Bein. Ders., „Hier kannst Du nicht jeden grüßen“, S. 253. 97 Davis Trietsch, „Eine Winterreise nach Palästina“, in: Die Welt 10 (1906), Nr. 9, S. 7–9, hier S. 8. Zur arabischen und jüdischen Stadtgesellschaft Jaffas: Daniel Monterescu, Jaffa Shared and Shattered. Contrived Coexistence in Israel/Palestine, Bloomington 2015. 98 Trietsch, „Eine Winterreise nach Palästina“, S. 9. 99 Baisez, Architectes de Sion, S. 353–387. 100 Josef Lau, „Palästina, ein Knotenpunkt des Weltverkehrs“, in: Die Welt 14 (1910), Nr. 41, S. 1015–1017; Paul Range, „Die neuen Eisenbahnen in Palästina“, in: Volk und Land 1 (1919), Nr. 48/9, Sp. 1515–1522; Jakob Wetzler, „Palästina im Weltverkehr“, in: Davis Erdtracht (Hg.), An der Schwelle der Wiedergeburt. Palästina, das Land der jüdischen Gegenwart und Zukunft, 2. Aufl., Wien 1920, S. 81–84. 101 Peter H. Christensen, Germany and the Ottoman Railways. Art, Empire, and Infrastructure, New Haven, London 2017, S. 17, 20. 102 Mehmet Metin Hülagü, The Hejaz Railway. The Construction of a New Hope, New York 2010, S. 3 f.
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und Muslime verlieh sie seiner panislamischen Politik einen prestigeträchtigen Anstrich, die als Reaktion auf das Vordringen der europäischen Großmächte gedeutet werden kann.103 Zum anderen ermöglichte die Bahnlinie einen leichteren Zugriff auf die arabischen Reichsgebiete, um dort gegen Unruhen vorgehen zu können.104 Konstantinopel reagierte damit auf die Anfänge des arabischen Nationalismus, der sich im Zuge einer Turkifizierungspolitik ab 1908 zunehmend verstärkte.105 Während dem Historiker Murat Özyüksel zufolge die militärische Kontrolle den entscheidenden Faktor für die türkische Regierung bildete, sahen die Zionist*innen im Ausbau des Eisenbahnnetzes vor allem wirtschaftliche Chancen.106 Sie pochten auf eine Einbindung des türkischen Orients in den internationalen Handel mit Palästina als Zentrum. So schrieb Nossig mit Blick auf die zentrale Lage der Region 1908: „Zwischen drei Erdteilen, an der Grenze des Morgen‑ und Abendlandes, der gemässigten Zone und der Tropen, am Kreuzungspunkte der grossen Handelsstrassen von Europa nach Asien und Afrika, zwischen dem Suezkanal sowie der Kap-Kairobahn auf der einen und der Bagdad‑ und Hedschasbahn auf der anderen Seite gelegen, ist dieses Gebiet zweifellos berufen, in der Zukunft ein hervorragender Knotenpunkt des Welthandels zu werden.“107
Auch Trietsch hob wiederholt die zentrale Lage Palästinas hervor. Als „einzige Landbrücke zwischen Asien und Afrika und im Schnittpunkt des Europaverkehrs mit dem fernen Osten“ käme dem Land perspektivisch „ein großer Anteil am Welthandel“108 zu, wie er 1926 prognostizierte. Die Vorstellung eines strategischen Brückenkopfs teilten auch andere Zionisten.109 So führte Herzl den künftigen Aufschwung Palästinas in seiner Romanutopie Altneuland (1902) auf „die Lage des Landes in der Mitte zwischen Europa und Asien“110 zurück. Über die Hafenstadt Haifa, die der erste ZO-Präsident selbst nie besucht hatte, die in seinen Visionen aber eine zentrale Rolle spielte, sollte der Verkehr zwischen Asien und Europa zu einem großen Teil abgewickelt werden.111 103 Ebd., S. 82. Zum Kalifat, das 1924 in der Türkei offiziell abgeschafft wurde, s. Donald Quataert, The Ottoman Empire, 1700–1922, Cambridge 2000, S. 81–83. 104 Christensen, Germany and the Ottoman Railways, S. 18. 105 Heinz Halm, Die Araber. Von der vorislamischen Zeit bis zur Gegenwart, 3. Aufl., München 2010, S. 101 f. Siehe auch Adam Mestyan, Arab Patriotism. The Ideology and Culture of Power in Late Ottoman Egypt, Princeton 2017; Ahmad Firuz, The Young Turks and the Ottoman Nationalities; Armenians, Greeks, Albanians, Jews and Arabs. 1908–1918, Salt Lake City 2014; Yasir Suleiman, The Arabic Language and National Identity. A Study in Ideology, Washington D. C. 2003. 106 Murat Özyüksel, The Berlin-Baghdad Railway and the Ottoman Empire. Industrialization, Imperial Germany and the Middle East, London, New York 2016, S. 234. 107 Nossig, Der Orient als jüdisches Siedlungsgebiet, S. 12. 108 Davis Trietsch, Die Fassungskraft Palästinas, Mährisch-Ostrau 1926, S. 5 [Hervorh. im Original]. 109 Zuerst explizit im Jüdischen Almanach (1902): Trietsch, „Der jüdische Orient“, S. 257. 110 Theodor Herzl, Altneuland, Berlin, Wien 1921, S. 250 f. 111 Ebd., S. 64.
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Der Güter‑ und Personenverkehr im Nahen Osten, der traditionell auf dem Rücken von Lasttieren wie Kamelen und Eseln erfolgte, nahm Ende des 19. Jahrhunderts zu.112 Trietsch hielt jegliche Fortschritte dazu akribisch in seinem Palästina-Handbuch fest, das mit insgesamt fünf Auflagen zu seinen bekanntesten Publikationen zählte.113 Den Anfang hatte die Bahnlinie Jaffa–Jerusalem gemacht, die 1892 als Schmalspurbahn eröffnet worden war. Neben dieser Verbindung, mit der sich im Jahr 1922 noch eine Fahrtzeit von fast fünf Stunden114 verband, waren es besonders die Zweiglinien der Hedschasbahn, die Trietsch und andere Zionisten positiv stimmten. Ab 1905/13 verbanden sie die beiden Küstenstädte Haifa und Akko mit dem palästinensischen Hinterland.115 Wie Baisez gezeigt hat, lag den zionistischen Zukunftsvisionen meist ein großes Wunschdenken zugrunde. Palästina und seinen Nachbarländern war Anfang des 20. Jahrhunderts und auch in nächster Zukunft keine größere Bedeutung im Rahmen globaler Handelsbeziehungen beschieden, wie von ihnen beschworen.116 Ihre Vorstellungen von der Region waren ideologisch idealisiert und setzten sich aus zwei paradoxen, einander ergänzenden Elementen zusammen. Einerseits bezogen sie sich selektiv auf die Geschichte und hier auf die ehemals blühenden Kulturlandschaften des Orients, deren materielles Erbe sich ihnen unter anderem im Kaiser-Friedrich-Museum, dem heutigen Bode-Museum in Berlin, eindrücklich präsentierte. Sie ließen darauf schließen, dass der Region in Zukunft abermals eine positive Entwicklung bevorstünde. In diesem Kontext unterstrich etwa der Wiener Zionist Martin Weismann (1877–1906), Mesopotamien und Babylonien seien „im Altertum die reichsten Länder der Welt“117 gewesen und böten auch künftig ein vielversprechendes Hinterland für Palästina. Andererseits rekurrierten sie auf gegenwärtige Entwicklungen in Form neuer Technologien. Um bei Weismann zu bleiben, der sich ausführlicher mit den Verkehrsverhältnissen in und um Palästina beschäftigte, setzten die Zionist*innen großes Vertrauen in „die neuzeitlichen Götter, Seine Durchlaucht den Dampf und Ihre Majestät die Electricität“118. Der von Großbritannien ausgehende industrielle Innovationsschub, der den Alltag und die Wahrnehmung der Menschen ab 1760 zunächst in Europa und den 112 Paul Cotterell, Bahnt den Weg. Ein historisches Album der Eisenbahn in Israel, Berlin 2011, S. 12. Die Handelsroute Bagdad–Aleppo bspw. wurde Anfang des 19. Jahrhunderts durch 5000 Kamele abgewickelt, die 28 Tage für eine Strecke brauchten. Lasttiere blieben auch in späterer Zeit von Bedeutung. Quataert, The Ottoman Empire, S. 120. 113 Davis Trietsch, Palästina-Handbuch, 3. Aufl., Berlin 1912, S. 113. 114 Zum Vergleich: Die neue Schnellzugstrecke Tel Aviv-Jerusalem ermöglicht es heute, in nur einer halben Stunde zwischen beiden Städten zu pendeln. 115 Cotterell, Bahnt den Weg, S. 25–27. 116 Olivier Baisez, „Zentralität in den Kolonisationsplänen der deutschen Zionisten, vom ersten Zionistenkongress (1897) bis zum Ende des Ersten Weltkriegs“, in: Michael Stolz u. a. (Hg.), Germanistik in der Schweiz (2013), Nr. 10, S. 13–20, hier S. 19. 117 Martin Weismann, „Die Bagdad-Bahn und Palästina“, in: Die Welt 6 (1902), Nr. 5, S. 1–3, hier S. 2. 118 Ders., „Die Eisenbahnen Palästinas im Anschluss an den Weltverkehr“, in: ebd., Nr. 7, S. 1–3, hier S. 3.
2.3 Aufschwung durch Zentralität
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USA revolutionierte, ehe er weite Teile der Welt erfasste, prägte auch die Handlungs‑ und Denkweisen der Zionistinnen und Zionisten.119 Unter ihnen waren es vor allem männliche Mitstreiter aus Deutschland, deren Pläne sich an den neuesten technologischen Errungenschaften ausrichteten. Ihr Vertrauen auf die allumfassende Wirkmächtigkeit der Technik, das Trietsch in besonderer Weise beflügelte, lässt sich durch deren hohen Stellenwert in der deutschen Gesellschaft und Wirtschaft erklären. Zusammen mit den USA führte das Deutsche Reich die sogenannte Zweite Industrielle Revolution an, die Ende des 19. Jahrhunderts durch neue Produktionsprozesse im Bereich Stahl, Chemie und Elektrizität den Alltag vieler Menschen revolutionierte.120 Die deutschen Zionist*innen lebten somit gewissermaßen am Puls der technischen Innovation, dessen hohe Frequenz ihre Ambitionen für Palästina belebte. Die Affinität dieser Gruppe für moderne Technologien stieß in der Realität allerdings auf Widerstände und Widrigkeiten. So nahmen damals viele Bahnprojekte mehr Geld und Zeit in Anspruch als ursprünglich veranschlagt. Neben der unwirtlichen, teils nur durch Tunnel und Brücken passierbaren Landschaft des weiten Osmanischen Reichs trugen politische Ereignisse, allen voran der Erste Weltkrieg, zu dieser hemmenden Entwicklung bei. Der Krieg und seine Folgen führten schließlich auch dazu, dass der Regelbetrieb der Hedschasbahn nur sieben Jahre währte. Der Grund für das Scheitern ist in erster Linie bei ausländischen Investoren zu suchen, die von dem Projekt abgesprungen waren. Wie die an ausländische (Staats‑)Unternehmen vergebenen Konzessionen bereits vermuten lassen, stellte das hoch verschuldete und in seinen Grenzen instabile Osmanische Reich im ausgehenden 19. Jahrhundert eine Einflusssphäre dar, die die Begehrlichkeiten anderer Länder weckte.121 Die Thronbesteigung Wilhelms II. (1859–1941) im Jahr 1888 führte dazu, dass auch Berlin neben London, Paris, Wien und St. Petersburg sein Interesse an einer Durchdringung der Türkei bekundete.122 Im Sinne einer neuen expansiven Außenpolitik machte Wilhelm II. deutlich, sich an der Aufteilung imperialer Einflusssphären künftig beteiligen zu wollen. Das Bismarck’sche Paradigma einer außenpolitischen Saturiertheit ließ der junge Kaiser damit der Vergangenheit angehören.123 Der deutsche Einfluss in der Türkei zielte primär auf den Ausbau wirtschaftlicher und militärischer Beziehungen, ohne türkisches Gebiet okkupieren zu wol119 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, Bonn 2010, S. 910. Siehe auch Andrew Ede, Technology and Society. A World History, Cambridge u. a. 2019, S. 230–251. 120 Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 925. 121 Quataert, The Ottoman Empire, S. 58 f. 122 Mustafa Gencer, Imperialismus und die Orientalische Frage. Deutsch-Türkische Beziehungen 1871–1908, Ankara 2006, S. 122. 123 Weiterführend zur Regentschaft Wilhelms II. und den deutschen Kolonien: Annika Mombauer/Wilhelm Deist (Hg.), The Kaiser. New Research on Wilhelm II’s Role in Imperial Germany, Cambridge 2003; Horst Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien, 7. aktual. und erw. Aufl., Paderborn 2018; ders./Hermann Hiery (Hg.), Die Deutschen und ihre Kolonien. Ein Überblick, 2. Aufl., Berlin 2018.
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len. Dadurch sollte er offiziell beiden Ländern zum Vorteil gereichen. An erster Stelle dürften jedoch unzweifelhaft die Interessen Deutschlands gestanden haben, das im Anschluss an die Reichsgründung einen Prozess der Hochindustrialisierung durchlief und deshalb neue Rohstoffe und Absatzmärkte zu erschließen bestrebt war.124 Die sogenannte Bagdadbahn, die zwischen 1903 und 1918 von deutschen Ingenieuren entworfen und durch die Deutsche Bank finanziert wurde, diente einer solchen pénétration pacifique.125 Ihr Streckenziel war der Persische Golf, der in Konkurrenz zum britisch dominierten Suez Kanal zu einem strategischen Stützpunkt für die deutsche Handels‑ und Kriegsflotte avancieren sollte. Die knapp 1600 Kilometer lange Strecke stellte ein prestigeträchtiges Großprojekt dar, das auch viele deutsche Zionistinnen und Zionisten in Erregung versetzte. Sie hofften, die beiden altehrwürdigen Kulturlandschaften Anatolien und Mesopotamien von einem vermeintlich „orientalischen Phlegma“126 befreien und als Wachstumsregion für Palästina erschließen zu können. In Weismanns idealisierter Vorstellung sollte so „das Phönicien des Altertums in Palästina seine Fortsetzung finden“, das dank eines modernen Schienennetzes „noch grossartiger“127 geraten würde. Diese und andere Zukunftsvisionen, die im Diskurshorizont des Kolonialismus entstanden und mehrere Zionisten auf historische Vorläufer wie das semitische Seefahrervolk der Phönizier zurückgreifen ließen, bedurften aus zionistischer Perspektive letztlich jedoch eines: der Besiedlung des Gebiets durch Jüdinnen und Juden.128
2.4 Jüdinnen und Juden als Kulturvermittelnde Der eingangs zitierte Aufsatz „Die Zukunft des Orients“, den Davis Trietsch 1901 noch mit dem Pseudonym B. Ebenstein zeichnete, griff das Erwachen des Orients aus seinem angeblich „jahrhundertelangen Schlafe“129 auf. Dieser Lesart folgend präsentierte sich die Region als ein zeitloses Refugium, das von der Moderne weitgehend unberührt blieb. Wie Yehoshua Ben-Arieh gezeigt hat, dominierte damals dieses einseitig gezeichnete Bild in Europa und den USA.130 Forschende, Künstler*innen und andere Reisende, wie christliche Pilgerinnen und Pilger, erblickten im türkischen Orient ein überwiegend statisches Gebilde, das sich je nach Beweggrund ihres Besuches subjektiv ausleuchten ließ. Gencer, Imperialismus und die Orientalische Frage, S. 46. ‚Bagdadbahn‘ siehe Özyüksel, The Berlin-Baghdad Railway. 126 Weismann, „Die Bagdad-Bahn und Palästina“, S. 2. 127 Ders., „Die Eisenbahnen Palästinas“, S. 2. 128 Zu den Phöniziern s. Olivier Baisez, „Der Phönizier-Mythos im deutschsprachigen Zionismus“, in: Gebhard/Hamann, Deutschsprachige Zionismen, S. 257–274. 129 Ebenstein, „Die Zukunft des Orients“, Sp. 321. Weitere Pseudonyme, die Trietsch anfänglich benutzte, waren Bendavid und Ben David. 130 Yehoshua Ben-Arieh, „Perceptions and Images of the Holy Land“, in: Kark, The Land that Became Israel, S. 37–53, hier S. 37, 41. 124
125 Zur
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Trietschs 1911 erschienenes und reich bebildertes Buch Bilder aus Palästina bietet einen guten Einblick in diese zeiträumliche Geisteshaltung. Der Band mit zahlreichen Fotografien und Federskizzen markierte den Auftakt für Palästina-Bildbände, denen eine jüdische Perspektive zugrunde lag.131 Anders als in Publikationen christlicher Autor*innen, die schon ab Mitte des 19. Jahrhunderts in größerer Zahl vorlagen, war das in ihnen visualisierte Palästina „mit den Augen des Juden durchschweift“132 worden. Die Gestaltung von Trietschs Buch orientierte sich an Elkan Nathan Adlers (1861–1946) Von Ghetto zu Ghetto. Reisen und Beobachtungen, das 1909 aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt worden war.133 Das ebenfalls großzügig illustrierte Werk stellte ein Novum dar, da seine Fotografien von einem jüdischen Autor aufgenommen worden waren. Im Gegensatz zu Trietsch schrieb Adler allerdings aus einer Perspektive, die den modernen Zionismus ablehnte. Trietschs Bilder aus Palästina können somit als erste zionistische Darstellung gelten, die unter den Zionistinnen und Zionisten auf großen Zuspruch traf und der später ähnliche Publikationen anderer Autoren folgten.134 Der in Südmähren geborene Zionist Berthold Feiwel (1875–1937) befand den Bildband als eine gelungene Propagandaschrift der „gediegenen Art“135. Er lobte seinen unaufdringlichen Ton bei gleichzeitiger Verwendung ansprechender Fotografien, die damals als ein modernes Mittel der Meinungsbildung dienten, und empfahl das Buch deshalb vor allem jüngeren Leserinnen und Lesern. Feiwel zufolge hoben sich Trietschs Bilder aus Palästina von früheren Arbeiten des Verfassers ab, indem der „scheinbar nur herbe und spitze Parteimann, dieser hartnäckigste unter den Kongreßzionisten“136 darin keinen spröden Statistiken Raum gab, sondern liebevoll arrangierten Bildern von Menschen und Landschaften. Wie sehr das Buch vom kolonialistischen Zeitgeist durchdrungen war, zeigt das Kapitel „Der immergleiche Orient“. Trietsch stellte sich darin das folgende Szenario vor: Wenn Abraham, der Stammvater Israels, in das „Zelt eines heutigen Beduinen oder in ein heutiges Fellachendorf träte, würde [er] nicht allzu viel – und oft nicht das mindeste – antreffen, was ihm neuartig erschiene.“137 Sein Gedanken131 Kurz darauf erschienen Leo Kann, Palästina im Bild, Wien 1912 sowie Schalom Asch, Im Lande der Väter. Bilder und Dichtungen aus Palästina, Berlin 1912. Das Buch des jiddischen Schriftstellers und Dramatikers Asch (1880–1957) wurde 1920 im Jüdischen Verlag neu aufgelegt. 132 Davis Trietsch, Bilder aus Palästina, 2. Aufl., Berlin 1911, Einleitung o. P. 133 E. N. Adler, Von Ghetto zu Ghetto. Reisen und Beobachtungen, Stuttgart 1909. Adler reiste zwischen 1888 und 1901 mehrere Male nach Palästina. Ebd., S. X. Eine kleine Schrift mit Bildern aus Palästina von 11 Seiten erschien ebenfalls 1909 von Wolf Jawitz (später Ze’ev Yavetz), Bilder aus dem jüdischen Bauernleben in Palästina, Berlin 1909. 134 Moses Calvary, Palästina. Bilder von Land und Leben, Berlin 1921; Tatsachen und Bilder aus dem neuen jüdischen Leben in Palästina, hrsg. vom Keren Hajessod, Jerusalem 1927; Georg Landauer, Palästina. 300 Bilder, München 1925; ders., Palästina. 188 Bilder nebst einer Übersichtskarte und einer viersprachigen Bildbeschreibung, Berlin 1935. 135 Berthold Feiwel, „Bilder aus Palästina“, in: Die Welt 15 (1911), Nr. 42, S. 1102–1104, hier S. 1102. 136 Ebd. 137 Trietsch, Bilder aus Palästina (1911), S. 9.
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experiment lässt sich laut Osterhammel im Umfeld eines zeitgenössischen Stagnationsdiskurses verorten, der im 18. Jahrhundert zum „Gemeingut der europäischen Weltinterpretation“138 zählte. Abgeleitet aus der antiken Vorstellung von Stagnation und Niedergang, vom Auf‑ und Abstieg der Imperien, unterschied er sich von der Kategorie der ,Degeneration‘. Im aufklärerischen Sinne wurde die Stagnation dynamisch interpretiert. Die vermeintlichen Entwicklungsrückstände des Orients waren somit durch einen von außen an die Region herangetragenen Aufholmodus langfristig wandel‑ und korrigierbar.139 Erste Ansätze meinte Trietsch bereits erkennen zu können. So hätte die moderne Technik allmählich auch in Palästina Einzug zu halten begonnen, von der die meisten Menschen in Europa nur nichts wüssten: „Der Beduine auf der Eisenbahn, der syrische Bauer, der zum Buttermachen einen thüringischen Milchseparator benutzt, die Araberwitwe in der Stadt, die sich eine SingerNähmaschine auf Abzahlung kauft […], alles das sind Bilder, die weder zu den biblischen Erzählungen, noch zu den Märchen aus 1001 Nacht stammen wollen.“140
Das von Trietsch geschilderte Vordringen der Moderne rührte aus eigenen Beobachtungen vor Ort, vor allem in Jaffa, wo er von 1906 bis 1908 lebte. Nach seiner Ankunft in der kleinen Hafenstadt bezog er mit seiner Verlobten Emma Trietsch ein Holzhaus in der dortigen Deutschen Kolonie. Die beiden hatten sich zur Zeit der ersten Zionist*innenkongresse kennengelernt und lebten später zusammen in Berlin. Trietschs spätere Ehefrau, die im ostpreußischen Braunsberg (Braniewo) geboren worden war und danach zunächst in der brandenburgischen Kleinstadt Erkner wohnte, war 1901 in die Reichshauptstadt gezogen.141 Als gelernte Buchhalterin hatte sie während ihrer gemeinsamen Zeit in Jaffa als Sekretärin bei der Anglo Palestine Company gearbeitet, einer Tochtergesellschaft der Jüdischen Kolonialbank, die seit 1903 im Auftrag der ZO Kredite für Siedlungsgenossenschaften vergab und an der Vermittlung von Bodenkäufen beteiligt war. Neben dieser Tätigkeit engagierte sich Emma Trietsch für den Aufbau des Bezalel-Vereins, der 1906 die gleichnamige Kunstgewerbeschule in Jerusalem begründet hatte. Im Sekretariat des Vereins hatte man ihr 1908 eine Stelle angeboten, die sie aber ausschlug, nachdem gleichzeitig eine Mitarbeit ihres Ehemannes abgelehnt worden war.142 Der Soziologe und Nationalökonom Arthur Ruppin, der die beiden im Frühsommer 1907 besuchte, hielt in seinem Tagebuch fest, wie Trietsch ihre Gespräche „mit kritischen Bemerkungen über seine Mitmenschen und mit der Erklärung seiner Pläne [würzte], die er immer in Fülle hatte.“143 Ihr Haus, das auch andere Zionistinnen und Zionisten aufsuchten, befand sich in einer Siedlung, die Einwander*innen aus Württemberg nahe des Zentrums von Jaffa 1869 gegründet 138 Osterhammel,
Die Entzauberung Asiens, S. 390. S. 401. 140 Trietsch, Bilder aus Palästina (1911), S. 10. 141 Frau Frey an Emma Thomaschewsky, 25. 5. 1900. JMB 2011/267. 142 Emma Trietsch an Arthur Ruppin, 9. 10. 1908. CZA, A107/554. 143 Arthur Ruppin, Tagebücher, Briefe, Erinnerungen, hrsg. von Schlomo Krolik, Königstein/ Ts. 1985, S. 141. 139 Ebd.,
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hatten. Die pietistische Gruppe, auch als ,Templer‘ bekannt, war damals in der messianischen Erwartung einer bevorstehenden Endzeit nach Palästina emigriert. In Jaffa, Jerusalem und Haifa ging sie mit gutem Erfolg der Landwirtschaft nach, besonders der Milchwirtschaft. Der von Trietsch erwähnte Milchseparator aus Thüringen, den ein syrischer Bauer benutzte, dürfte von der Gruppe an die Fellachinnen und Fellachen verkauft worden sein.144 Die Geräte der Templer stammten häufig aus Deutschland, ebenso wie ihr Wissen um die Vorzüge eines regelmäßigen Fruchtwechsels oder Düngens, die beide zuvor keine systematische Anwendung in Palästina gefunden hatten. Sie pflegten enge Kontakte zum deutschen Konsulat in Jaffa, das ihnen mit Technik und Fachwissen zur Seite stand.145 Die Methoden der württembergischen Siedlerinnen und Siedler, deren Gemeinde 1914 rund 2200 Personen zählte, wurden nicht nur für die arabische Bevölkerung, sondern auch für die jüdischen Einwander*innen zu einem teilweise nachahmenswerten Modell.146 Trietsch hob auf die Bedeutung der Templer für die Entwicklung Palästinas ebenfalls ab und widmete sich ihnen stellenweise in seinen Publikationen.147 Einen größeren Einfluss auf die Zukunft des Landes maß er ihrer kleinen Gemeinde allerdings nicht bei. Die Rolle der „innovativen Pioniere“148, als die der Historiker Yossi Ben-Artzi die deutschen Siedler*innen einmal gewürdigt hat, kam seiner Meinung nach den Jüdinnen und Juden zu. Für Trietsch personifizierten sie die gestaltende Kraft, die für eine Wissens‑ und Kulturvermittlung in Palästina und den Nachbarländern prädestiniert war. Diese Rolle führte Trietsch unter anderem auf die Berufserfahrung der jüdischen Eingewanderten in der Industriearbeit zurück. Da viele Jüdinnen und Juden im Russischen Reich und in den USA in der Industrie beschäftigt waren, besonders im Textilsektor, befand er sie für ein besonders geeignetes „industrielles Arbeitermaterial“149. Vor dieser Folie war es nur folgerichtig, dass sie der türkischen Regierung bei der Etablierung einer „eigenen Industrie im europäischen Sinne“150 helfen sollten. Da Trietsch den Jüdinnen und Juden in 144 Jakob Eisler, Der deutsche Beitrag zum Aufstieg Jaffas, 1850–1914. Zur Geschichte Palästinas im 19. Jahrhundert, Wiesbaden 1997, S. 143. Siehe außerdem Gerhard Bickel, Deutsche in Palästina, Weißenthurm 2019, S. 21–81; Aleks Karmel, Die Siedlungen der württembergischen Templer in Palästina 1868–1918. Ihre lokalpolitischen und internationalen Probleme, 3. Aufl., Stuttgart, Berlin, Köln 2000. 145 Naftali Thalmann, „Introducing Modern Agriculture into Nineteenth-Century Palestine: The German Templers“, in: Kark, The Land that Became Israel, S. 90–104, hier S. 94 f., 99. 146 Ders., „Die württembergischen Siedler und der Wandel der Agrartechnologie in Palästina“, in: Jakob Eisler (Hg.), Deutsche in Palästina und ihr Anteil an der Modernisierung des Landes, Wiesbaden 2008, S. 156–167, hier S. 162–164. 147 Trietsch, Jüdische Emigration und Kolonisation, S. 95; ders., „Industrie“, in: Jüdische Zeitung 1 (1907), Nr. 17, S. 2 f. 148 Yossi Ben-Artzi, „Traditional and Modern Rural Settlement Types in Eretz-Israel in the Modern Era“, in: Kark, The Land that Became Israel, S. 133–146, hier S. 138. 149 Trietsch, Jüdische Emigration und Kolonisation, S. 17. 150 Ebd., S. 16 f. [Hervorh. im Original]. Siehe auch ders., „Der Umschwung in der Türkei und die jüdischen Palästina-Bestrebungen“, in: Heimkehr. Essays jüdischer Denker, hrsg. vom jüd.-nat. akad. Verein „Emunah“, Czernowitz 1912, S. 100–115, hier S. 112 f.
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gleicher einseitiger Weise eine überdurchschnittliche Auffassungsgabe und Intelligenz bescheinigte, entpuppten sie sich gewissermaßen zu einem einzigen Glücksfall für Palästina.151 Aus seiner Sicht gab es keine zweite Bevölkerungsgruppe, die in gleicher verheißungsvoller Weise intelligente Industrien ins Leben rufen konnte. Trietschs Kritik richtete sich hier ganz offensichtlich gegen die arabische Mehrheitsbevölkerung in Palästina. Während er die Qualifikationen der jüdischen Eingewanderten einseitig pries, sah er in den nichtjüdischen Einwohner*innen bloß eine rückständige Gruppe. Wie bei den meisten Zionistinnen und Zionisten begegnen sie einem auch in seinen Texten als eine undifferenzierte, gesichtslose Entität, deren intellektuelle Fähigkeiten man kurzum in Abrede stellte. Insgesamt entsteht so das Bild, als hätte es sich bei den arabischen Palästinenserinnen und Palästinensern nicht um selbstdenkende Individuen gehandelt, sondern um bedürfnislose Objekte einer primitiven fellachischen Lebensweise. Der ihnen in europäisch-aufklärerischer Manier attestierte Mangel an Bildung, Erkenntnisstreben und Vernunft ließ auch Trietsch zu der Überzeugung gelangen, eine Einwanderung von Jüdinnen und Juden werde den arabischen Bewohner*innen des Landes letztlich ebenfalls zum Vorteil gereichen.152 Sein Aufsatz mit dem prägnanten Titel „Die Europäisierung Palästinas“ von 1907 spiegelt diese Denkweise: „Während vor zwanzig Jahren, wie man nur sagt, die Araber noch vielfach halbnackt in Jaffa herumliefen (was jetzt nur noch ganz ausnahmsweise zu beobachten ist), und während sie früher so etwas wie Wohnungseinrichtungen, abgesehen von ihren Diwans, Steppdecken und Kissen, kaum kannten, sieht man jetzt schon viele in europäischen Anzügen mit tadellosen Bügelfalten herumflanieren, vom Lackschuh bis zum ,Es ist erreicht‘-Schnurrbart – jeder Zoll ein Gigerl.“153
Trietschs herablassende Beschreibung dürfte sich in erster Linie auf die Gruppe der christlichen Araberinnen und Araber bezogen haben, die überwiegend in den Städten lebte und der Mittelschicht angehörte.154 Wie viele Zionist*innen unterschied er dahingehend jedoch nicht weiter, sondern betrachtete die ,Araber‘155, wie man die Palästinenserinnen und Palästinenser bis Ende der 1960er Jahre gemeinhin nannte, als eine homogene Gruppe. Im obigen Zitat manifestiert sich somit erneut das zeittypische Sendungsbewusstsein eines Europäers. Neben Trietsch bedienten sich auch andere Zionisten des damit verbundenen Begriffs der 151 Ders.,
Der Wiedereintritt der Juden in die Weltgeschichte, Mährisch-Ostrau 1926, S. 3. Hillel Cohen, „Zionism as a Blessing to the Arabs. History of an Argument“, in: Michael J. Cohen (Hg.), The British Mandate in Palestine. A Centenary Volume, 1920–2020, London 2020, S. 157–171; Alan Dowty, „The Arab-Israeli Conflict“, in: S. Ilan Troen/Rachel Fish (Hg.), Essential Israel. Essays for the 21st Century, Bloomington 2017, S. 89–117, hier S. 91. 153 Davis Trietsch, „Die Europäisierung Palästinas“, in: Jüdische Zeitung 1 (1907), Nr. 23, S. 6 f., hier S. 7. Ein Gigerl ist ein Mann, der viel Wert auf seine Kleidung legt. 154 Zu den Araber*innen christlicher Konfession: Itamar Radai, „The Rise and Fall of the Palestinian Arab Middle Class“, in: Cohen, The British Mandate in Palestine, S. 102–118. 155 Der Name bürgerte sich mit dem Palästinensischen Manifest der PLO vom 17. 7. 1968 ein. Das Manifest findet sich in Auszügen bei: Kinan Jaeger/Rolf Tophoven (Hg.), Der Nahost-Konflikt. Dokumente, Kommentare, Meinungen, Bonn 2011, S. 102 f., hier S. 102. 152
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Europäisierung, darunter der in Prag geborene Historiker und Philosoph Hans Kohn (1891–1971), der ihn sogar im Titel seiner Publikation Die Europäisierung des Orients aus dem Jahr 1934 führte.156 Von diesem eurozentrischen Standpunkt aus sollten die Vorzüge einer europäischen Lebensführung, die man in weiten Teilen für nachahmenswert erachtete, durch die Einwanderung europäischer Jüdinnen und Juden auch nach Palästina überführt werden. Jüdische Geflüchtete aus Osteuropa, die in vielen mittel‑ und westeuropäischen Städten meist als ungebetene Gäste empfunden wurden, stilisierten die Zionist*innen somit kurzerhand zu einer kulturellen Vorhut Europas.157 Während einige Zionisten, wie der Ökonom Alfred Bonné (1889–1959), statistisches Material bemühten, um die positive Wirkung auf die arabische Bevölkerung Palästinas zu bezeugen, hielt sich Trietsch im Einzelnen damit nicht auf.158 Die ,Araber‘ tauchen in seinem schriftlichen Nachlass nur selten auf, und auch der zitierte Ausschnitt hinsichtlich ihrer Europäisierung mündete wenige Zeilen später in dem Wunsch, „daß in der lebhaften Beteiligung der Juden an diesem Aufschwung des Landes unsere einzige, dabei aber wohlberechtigte Hoffnung liegt, daß Palästina ein Land jüdischer Zukunft werde.“159 Demnach sah Trietsch in der besonderen ,Qualität‘ der Jüdinnen und Juden eine Legitimation für ihre Einwanderung, die er hinsichtlich der Vorteile für die arabische Bevölkerung nicht weiter auszuführen gedachte. Palästina stellte für ihn das „ureigene Land des jüdischen Volkes“ dar, weshalb er dessen Zukunft auch nur zum Wohle seiner jüdischen Bewohner*innen ausdeutete.160 Die arabischen Palästinenserinnen und Palästinenser blieben dagegen ein lästiges Memento, das seine Pläne für Palästina durchkreuzte. Trietschs ignorante Haltung ihnen gegenüber führt letztlich dazu, dass nicht erörtert werden kann, welche Rolle er der arabischen Bevölkerung im Einzelnen zudachte. Zumindest in schriftlichen Quellen sprach er sich an keiner Stelle für ihre Verdrängung aus, sondern verortete sie weiterhin in Palästina.161 Allerdings bedurfte es ihm zufolge einer starken jüdischen Einwanderung, mit der die bis156 Hans Kohn, Die Europäisierung des Orients, Berlin 1934. Zu Kohns Begriffsverständnis: ebd., S. 262. 157 Zum schwierigen Stand osteuropäischer Jüdinnen und Juden in Deutschland: Nils Steffen/Cord Arendes, Geflüchtet – unerwünscht – abgeschoben. Osteuropäische Juden in der Republik Baden (1918–1923), 2. Aufl., Heidelberg 2017; Anne-Christin Saß, Berliner Luftmenschen. Osteuropäisch-jüdische Migranten in der Weimarer Republik, Göttingen 2012; Steven E. Aschheim, „Spiegelbild, Projektion, Zerrbild. ,Ostjuden‘ in der jüdischen Kultur in Deutschland“ in: Osteuropa 58 (2008), Nr. 8, S. 67–81. 158 Alfred Bonné, „Die jüdische Tätigkeit in Palästina und ihr Einfluß auf das arabische Wirtschaftsleben“, in: Palästina 18 (1935), Nr. 11, S. 565–578. Siehe auch Jehoschua Siman, „Die Wirkung der jüdischen Kolonisation in Palästina auf die Araber“, in: ebd. 13 (1930), Nr. 3, S. 80–88. 159 Trietsch, Bilder aus Palästina, S. 152. 160 Ebd., S. 12. Seine Voraussage, Palästina werde ein „Land jüdischer Zukunft“ sein, taucht an weiteren Stellen des Buches auf. Siehe u. a. ebd., S. 18. 161 1908 hielt er fest: „An eine Verdrängung der nichtjüdischen Elemente ist aber in keiner Weise zu denken.“ Davis Trietsch, „Die Absichten der Zionisten“, in: Jüdische Zeitung 2 (1908), Nr. 12, S. 5 f., hier ebd. [Hervorh. im Original].
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herigen demografischen Strukturen dauerhaft umzukehren waren. Sein Votum für eine möglichst rasche jüdische Mehrheitsbildung zeigt, wie stark die arabische Bevölkerung letztlich in seinem Denken wirkte. Zwar mag er sie in seinen Schriften nur beiläufig erwähnt und ihre nationalen Aspirationen aus Naivität und/oder Taktik ausgeklammert haben. In Trietschs Berechnungen bildete sie jedoch eine eigene Gerade, von der er gewusst haben dürfte, dass sie mit dem Zionismus wie bei einem Schnittpunkt in der Geometrie zusammenlief. Damit sich beide Geraden nicht zuungunsten einer jüdischen Einwanderung schnitten, kehrten die Zionist*innen in den 1920er Jahren die Mittlerrolle der Jüdinnen und Juden mit besonderem Nachdruck hervor. Sie reagierten damit auf gewaltsame Ausschreitungen im April 1920 und Mai 1921, bei denen in Palästina das erste Mal mehrere Dutzend Tote und Schwerverletzte sowohl auf jüdischer als auch arabischer Seite zu beklagen waren.162 Eine zentrale Rolle für eine solche Vermittlung erkannten sie den Mitgliedern jüdischer Diasporagemeinden des Nahen Ostens, Nordafrikas, des Kaukasus und der sogenannten Stan-Länder zu.163 Der Fokus der Zionist*innen richtete sich hier vor allem auf die Jüdinnen und Juden des Jemen, deren Einwanderung sie ab Ende des 19. Jahrhunderts in drei Phasen begrüßten. Zunächst in den Jahren 1882 bis 1914, als es zur Niederlassung von etwa 5000 Jemenitinnen und Jemeniten im osmanischen Palästina kam.164 Die jüdische Minderheit im südarabischen Jemen, die 1898 ungefähr 60.000 Angehörige zählte, hielt die zionistische Leitung in zweierlei Hinsicht für geeignet: Einerseits verband sie mit ihr ein authentisches Judentum, da sie die jüdische Tradition inklusive des Hebräischen über Jahrhunderte – anders als das Gros der ZO-Mitglieder – bewahrt und tradiert hatte. Andererseits, und hieran anknüpfend, schrieb sie der Gruppe eine große Anspruchslosigkeit zu. Diese ließ sich beim Aufbau Palästinas, so die paternalistische Annahme, in einen niedrigentlohnten Arbeitseifer ummünzen.165 Der einseitige zionistische Blick auf die jüdische Gemeinde im Jemen muss vor dem Hintergrund des ihn prägenden zeiträumlichen Denkens interpretiert werden. Unter Verweis auf Edward Said und seine einflussreiche Studie Orientalism (1978) lässt er sich im Kontext eines orientalistischen Denkens verorten.166 Said, 162 Krämer,
Geschichte Palästinas, S. 243–248. sind Länder Zentralasiens, die auf der Silbe ‑stan enden. Zu ihnen zählten v. a. Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan, wo die Gruppe der bucharischen Jüdinnen und Juden lebte. Sie imponierte Trietsch durch ihren „hohen Wuchs und eine prachtvolle Haltung“. Ders., „Jerusalem“, in: Die Welt 10 (1906), Nr. 27, S. 15 f., hier S. 16. 164 Ab 1919 folgte eine zweite größere Einwanderung von fast 16.000 jüdischen Jemenitinnen und Jemeniten. Nach der Staatsgründung Israels, v. a. von 1949–1950, trat sie in eine dritte Phase. Sie zählte ca. 50.000 Personen. Aviva Halamish, „A New Look at Immigration of Jews from Yemen to Mandatory Palestine“, in: Israel Studies 11 (2006), Nr. 1, S. 59–78, hier S. 59. 165 Tudor Parfitt, The Road to Redemption. The Jews of the Yemen 1900–1950, Leiden 1996, S. 29 f., 32, 52. Das Bild vom bedürfnislosen ‚Jemeniten‘ hielt sich nach 1948: Esther MeirGlitzenstein, „Operation Magic Carpet: Constructing the Myth of the Magical Immigration of Yemenite Jews to Israel“, in: Israel Studies 16 (2011), Nr. 3, S. 149–173. 166 Nachfolgend beziehe ich mich auf Edward Said, Orientalism, 3. Aufl., London 2003. 163 Gemeint
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der 1935 in eine arabisch-christliche Familie in Jerusalem geboren wurde, hat unter dem Begriff Orientalismus eine Ende des 18. Jahrhunderts vor allem durch europäische und US-amerikanische Wissenschaftler, Künstler und Politiker konzipierte Gegenüberstellung von Orient und Okzident gefasst. Dieser Zweiteilung, die meist über männliche Vertreter in die Kunst, Politik und Wissenschaft Einzug hielt, lagen Said zufolge Herrschaftsverhältnisse zugrunde, die die politische und kulturelle Dominanz Europas und der USA mental abstecken sollten.167 Ohne ausführlicher auf die Rezeption des Orientalismus-Konzepts eingehen zu können, das seinerseits zum Teil auf Kritik stieß, bleibt festzuhalten, dass auch Jüdinnen und Juden durch ein orientalisierendes Objektiv betrachtet wurden. Derek J. Penslar und Ivan Kalmar haben diesem wichtigen Aspekt einen eigenen Sammelband gewidmet, der zeigt, wie die an sie herangetragene Verortung zwischen Orient und Okzident auf sie zurückwirkte.168 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten Jüdinnen und Juden, so die Argumentation von Penslar und anderen, selbst eine orientalisierende Sichtweise aus. Ihr Blick wanderte in erster Linie zu den jüdischen Gemeinden der islamischen Welt.169 Die Annahme, es handele sich bei ihnen um rückständige, unterstützungsbedürftige Gemeinschaften, hatte für die jüdische Minderheit im Westen, wie Eli Bar-Chen plausibel erläutert hat, zwei Funktionen: Auf der einen Seite ließ sich mit ihr eine Abgrenzung ziehen, durch die man der nichtjüdischen Umgebungsgesellschaft signalisierte, wie wenig man selbst mit dieser fremden Lebensart gemein hatte. Auf der anderen Seite trugen gemeinsame Hilfsaktionen dazu bei, sich die eigene jüdische Identität stärker ins Bewusstsein zu rufen, die seit dem 19. Jahrhundert durch westliche Emanzipations‑ und Säkularisierungsprozesse zunehmend brüchig geworden war.170 Ein gutes Beispiel im zionistischen Kontext bietet Martin Bubers (1878–1965) „Der Geist des Orients und das Judentum“. In dem Aufsatz von 1916 unterschied auch Buber zwischen einem „abendländischen“ und einem „orientalischen Menschentypus“, wobei er Letzterem ein sinnlich-organisches Erfassen der Welt attestierte, während der ,Okzidentale‘ sie sich lediglich „objektiviere“.171 Zur Gruppe der ,Orientalen‘, die über das Materielle hinaus zu fühlen vermochten, zählte Buber an erster Stelle Jüdinnen und Juden. Ihm zufolge wollten sie die Welt nicht nur „bewältigen“, sondern kreativ „vollenden“, da sie ihr innerlich stärker verbunden 167 Ebd.,
S. 3. Ivan Kalmar/Derek J. Penslar (Hg.), Orientalism and the Jews, Waltham 2005. Siehe auch Julie Kalman, Orientalizing the Jew. Religion, Culture, and Imperialism in Nineteenth-Century France, Bloomington 2017; Ulrike Brunotte/Jürgen Mohn/Christina Späti (Hg.), Internal Outsiders–Imagined Orientals? Antisemitism, Colonialism and Modern Constructions of Jewish Identity, Würzburg 2017; Jeffrey S. Librett, Orientalism and the Figure of the Jew, New York 2015. 169 Eli Bar-Chen, Weder Asiaten noch Orientalen. Internationale jüdische Organisationen und die Europäisierung ,rückständiger‘ Juden, Würzburg 2005, S. 15. 170 Ebd., S. 45, 163. 171 Martin Buber, „Der Geist des Orients und das Judentum“, in: ders., Reden über das Judentum. Gesamtausgabe, Frankfurt a. M. 1923, S. 69–99, hier S. 71. Eine eingehendere Analyse von Bubers Text findet sich bei Vogt, Subalterne Positionierungen, S. 159–163. 168
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seien.172 Buber zeichnete damit ein verklärtes Porträt des sogenannten Orientalen, das an die westliche Imaginierung des ,edlen Wilden‘ erinnert.173 Anders als der Religionsphilosoph Buber, der seine zeitgebundene Sicht auf den Orient geistreich ausdeutete, stellte Trietsch keine feinziselierte Theorie auf. Beide zogen aus ihrer Überzeugung aber dieselben Schlüsse: Jüdinnen und Juden waren ihrer Meinung nach für die Rolle eines Mittlers zwischen Orient und Okzident in besonderer Weise geeignet, da sie die positiven Charakteristika des ,Orientalen‘ in sich trügen, die sie durch ihre Sozialisation in einer westlichen Umgebung noch um zusätzliche Fähigkeiten zu erweitern wüssten. Auch daran zeigt sich, wie stark die Sichtweisen der Zionistinnen und Zionisten in stereotypen, zeitgenössischen Dichotomien angelegt waren. Im Gegensatz zu vielen nichtjüdischen Theoretiker*innen ihrer Zeit werteten sie den Orient und die in ihm lebenden jüdischen Gemeinden allerdings auf.174 Mit Blick auf die jemenitischen Jüdinnen und Juden, an denen die Negativfolgen der Moderne ihrer Meinung nach vorbeigegangen wären, pochten sie daher auf eine gezielte Politik der Auswanderung. Das Interesse der ZO an dieser Gemeinschaft mündete ab 1911 in systematischen Anwerbungen, in deren Folge 1400 jüdische Jemenitinnen und Jemeniten bis 1912 nach Palästina migrierten.175 Im Februar 1913 gründete auch der Esra-Verein ein eigenes Hilfskomitee, für das Trietsch aktiv gewesen sein dürfte.176 Der Berliner Verein und die ZO riefen dazu auf, dem „jemenitischen Jammerdasein“ durch eine gezielte Auswanderung beizukommen, die „dem grossen Felde der jüdischen Palästina-Bestrebungen in hohem Maße zugute kommen“177 sollte. Damit machten sie deutlich, wie sehr die Ansiedlung „anspruchsloser, arbeitswilliger und intelligenter Leute“178, die außerdem türkische Staatsbürger*innen waren, was zusätzliche Vorteile brachte, ihre eigenen Interessen bediente. Ihr aufrichtiges Mitgefühl für die Jüdinnen und Juden im Jemen, der 1872 von Konstantinopel erobert worden war, soll damit nicht in Abrede gestellt werden. Jüngere Studien belegen jedoch, dass strategische Gesichtspunkte eine nicht unwesentliche Rolle für das Engagement der ZO im Jemen spielten.179
Buber, „Der Geist des Orients“, S. 82. Robert A. Williams, Savage Anxieties. The Invention of Western Civilization, New York 2012; Terry Jay Ellingson, The Myth of the Noble Savage, Berkeley 2001. 174 Zur orientalisierenden Perspektive der Zionist*innen: Vogt, Subalterne Positionierungen, S. 157–171. 175 Parfitt, The Road to Redemption, S. 55, 59. 176 In Trietschs Nachlass (A104/30) finden sich mehrere Interna des Komitees, die auf seine Mitarbeit schließen lassen. 177 Aufruf des Hilfskomitees für die yemenitischen Juden, 7. 2. 1913. CZA, A104/30; Feldmann, Die jemenitischen Juden, S. 11. Feldmanns Broschüre erschien im Verlag des JNF. 178 Aufruf des Hilfskomitees für die yemenitischen Juden, 10. 4. 1913. CZA, A104/30. 179 Ari Ariel, Jewish-Muslim Relations and Migration from Yemen to Palestine in the Late Nineteenth and Twentieth Centuries, Leiden, Boston 2014; Shafir, Land, Labor and the Origins, S. 91–111. 172
173 Weiterführend:
2.5 Do ut des
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Vor diesem Hintergrund spitzten sie die Lage der jemenitischen Jüdinnen und Juden mehrmals bewusst zu, um die Zahl der Spendengelder zu erhöhen. Die Situation im Jemen hatte sich ab den 1870er Jahren in der Tat durch eine Wirtschaftskrise dramatisch verschlechtert, der mehrere Hungersnöte folgten. Zusätzlich zu jenen Entbehrungen, die auch die muslimische Bevölkerung bitter zu spüren bekam, wurden Jüdinnen und Juden diskriminiert. So mussten sie eine eigene Steuer entrichten, die oft willkürlich eingezogen wurde.180 In mehreren Fällen kam es darüber hinaus zu tätlichen Übergriffen, die jedoch – anders als von den Zionistinnen und Zionisten behauptet – auf keine „fanatische Verfolgung“181 schließen ließen, die vergleichbar mit den Pogromen in Osteuropa war. Wie der Historiker Ari Ariel gezeigt hat, pendelte sich im 19. Jahrhundert eine weitgehend friedliche Koexistenz im Jemen ein, die allerdings anfällig für antijüdische Ausschreitungen blieb.182 Das Schicksal der Jüdinnen und Juden im Jemen, deren Gemeinde heute schätzungsweise weniger als zehn Mitglieder zählt, bewegte auch Trietsch.183 Zusammen mit einem Freund aus New York beteiligte er sich wohl deshalb 1927 an der Gründung einer wohltätigen Gesellschaft. Die Sephardic-Yemenite Colonization Association, die für ihre Ansiedlung in Palästina warb, aber aufgrund fehlender Gelder und interner Streitigkeiten nie aktionsfähig werden sollte, sah ebenfalls eine geeignete Mediatorin in der jemenitischen Gemeinde. Letzterer wurde damals nachgesagt, durch das jahrhundertelange Zusammenleben mit arabischen Musliminnen und Muslimen am besten zu wissen, wie mit ihnen umzugehen sei.184 Als ein zentrales Instrument zur Verständigung führte man hier das Arabische ins Feld, das die jemenitischen Jüdinnen und Juden im Gegensatz zu den Einwander*innen aus Osteuropa beherrschten. Die große Bedeutung von Sprachen erkannte Trietsch auch im Falle des Jiddischen, das in seinen Plänen wiederum eine strategische Brücke nach Deutschland schlagen sollte.
2.5 Do ut des: Eine deutsch-jüdische Interessengemeinschaft Während die jemenitischen Jüdinnen und Juden angeblich über eine „bessere physische Entwickelung“ verfügten, hielt Davis Trietsch „ihre europäischen Brüder“185 in der Logik des damaligen Diskurses für intelligenter. Wie viele andere 180 Zur diskriminierenden Gesetzgebung siehe u. a. Yosef Tobi, The Jews of Yemen. Studies in their History and Culture, Leiden u. a. 1999, S. 85–91. 181 Feldmann, Die jemenitischen Juden, S. 17. 182 Ariel, Jewish-Muslim Relations, S. 114 f. 183 Gabe Friedman, „Yemen’s Jewish Population, once over 50.000, Drops to below 10“, in: Haaretz, 1.4.2021 https://www.haaretz.com/middle-east-news/yemen-s-jewish-population-on ce-over-50-000-drops-to-below-10-1.9673421 [Zugriff 12. 3. 2022]. 184 David de Sola Pool an Jacob Maniloff [1927]. CZA, A104/30. 185 Davis Trietsch, Die Judenfrage und Vorschläge zu ihrer Lösung, Berlin 1904, S. 15. Zum höheren Wert der sog. Ostjuden siehe Małgorzata A. Maksymiak, Mental Maps im Zionismus. Ost und West in Konzepten einer jüdischen Nation vor 1914, Bremen 2015, S. 71 f.
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Zionist*innen schrieb er den osteuropäischen Schwestern und Brüdern, denen er sich emotional und kulturell stärker verbunden fühlte, einen regsameren Geist zu. Diese Wahrnehmung führte dazu, dass sich zionistische Hilfsaktionen in erster Linie auf Osteuropa und die dortige jüdische Minderheit konzentrierten, deren Not man für dringlicher befand als die der Glaubensgeschwister im Jemen.186 Ein wichtiges Band, das deutsche Jüdinnen und Juden mit den Gemeinden im Osten Europas verband, war die Sprache. Dieses entwickelte sich aus dem Jiddischen, das aus dem Mittelhochdeutschen hervorgegangen war und bis ins 18. Jahrhundert die Alltagskommunikation von Jüdinnen und Juden auf dem Gebiet des späteren Deutschlands dominierte.187 Während das Westjiddische infolge eines voranschreitenden Emanzipations‑ und Akkulturationsprozesses nur noch in ländlichen Regionen Deutschlands im 19. Jahrhundert zu vernehmen war, fungierte das Ostjiddische in den Gemeinden östlich der deutschen Grenze weiter als Lingua materna. In einer russischen Volkszählung von 1897 gaben 97 Prozent der jüdischen Befragten an, sich im alltäglichen Sprachgebrauch auf Jiddisch zu verständigen.188 Die morphologische und phonologische Nähe der Sprache zum Deutschen, die zudem slawische Komponenten und in ihrer Syntax viele semitische Sprachmerkmale umfasst, wurde unter den deutschsprachigen Zionist*innen besonders von Trietsch hervorgekehrt.189 Seine erste Publikation zu dem Thema erschien 1910 bezeichnenderweise nicht in einem zionistischen Medium, sondern in den alldeutsch-nationalistischen Vierteljahrsheften des Vereins für das Deutschtum im Ausland.190 Daran zeigt sich, dass es die nichtjüdische Öffentlichkeit war, die Trietsch für seine Pläne strategisch zu interessieren suchte, ging es ihm doch um eine Neujustierung der deutschen Politik zugunsten der osteuropäischen Jüdinnen und Juden. In seinem Beitrag „Das deutschsprachige Judentum im Ausland“ stellte er unter Verweis auf statistische Daten eine vermeintliche ,Deutschsprachlichkeit‘ der Jüdinnen und Juden heraus, die damals weltweit 12,3 Millionen zählten. Elf Millionen von ihnen rechnete er kurzerhand dem deutschen Sprachkreis zu, von denen 5,4 Millionen im Russischen Reich lebten.191 Ihre Deutschkenntnisse leitete 186 Davis Trietsch, „Zur Diskussion der Kolonisationsfrage“, in: Die Welt 16 (1912), Nr. 1, S. 13–15, hier S. 14. 187 Nils Roemer, „Sprachverhältnisse und Identität der Juden in Deutschland im 18. Jahrhundert“, in: Michael Brenner (Hg.), Jüdische Sprachen in deutscher Umwelt. Hebräisch und Jiddisch von der Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2002, S. 11–18, hier S. 13 f. 188 Gennady Estraikh, Soviet Yiddish. Language-Planning and Linguistic Development, Oxford 1999, S. 5. 189 Zur Struktur und Sprachgeschichte des Jiddischen siehe Arndt Kremer, Deutsche Juden – deutsche Sprache. Jüdische und judenfeindliche Sprachkonzepte und ‑konflikte 1893–1933, Berlin 2007, S. 241–244. Diesen Aspekt vertiefend s. die Grundlagenstudie von Salomo A. Birnbaum, Yiddish. A Survey and a Grammar, 2. Aufl., Toronto, Buffalo, London 2016. 190 Weiterführend zum VDA siehe Jürgen Kloosterhuis, „Friedliche Imperialisten“. Deutsche Auslandsvereine und deutsche Kulturpolitik, 1906–1918, Frankfurt a. M. 1994. 191 Davis Trietsch, „Das deutschsprachige Judentum im Ausland“, in: Vierteljahrshefte des Vereins für das Deutschtum im Ausland, 1910, Heft 6, S. 274–279, hier S. 276.
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Trietsch vom Jiddischen ab, das er gemeinhin als ,Judendeutsch‘ oder ,JüdischDeutsch‘ bezeichnete. Vom Jiddischen sprach er nicht, vermutlich weil der Begriff, der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts allmählich eingebürgert hatte, die Eigenständigkeit der Sprache terminologisch markierte.192 Mit seiner begrifflichen Präferenz stellte Trietsch die Nähe zum Deutschen bewusst heraus, auch wenn er die semitischen und slawischen Sprachelemente des Jiddischen nicht unterschlug. Ihm zufolge hinderten sie Jüdinnen und Juden in Osteuropa aber nicht daran, ohne Schwierigkeiten Deutsch zu verstehen.193 Diese Einschätzung, die für die Mehrzahl der osteuropäischen Jüdinnen und Juden zugetroffen haben mag, kulminierte in der generalisierenden These Trietschs, Deutschland sei ihnen zugleich ein kulturelles Zentrum.194 Demnach orientierten sie sich nicht nur im Sprechen, sondern auch in ihren Denk‑ und Handlungsweisen an Deutschland, dessen Literatur, Musik und Wissenschaft sie sich verbunden fühlten. Dieser Logik folgend brächten die jüdischen Gemeinden in Osteuropa dem Deutschen Reich über seine Kultur hinaus auch politisch Sympathien entgegen, die sich in Zukunft, so Trietsch, noch verstärken ließen.195 Die von ihm attestierte Nähe zu Deutschland mündete schließlich darin, dass er die russischen Jüdinnen und Juden kurzerhand als ,Auslandsdeutsche‘ bezeichnete. An die Tradition der sprachbestimmten deutschen Kulturnation anknüpfend, bedeutete „Deutschtum im Ausland“ für Trietsch „alles, was jenseits der engeren deutschen Sprachgrenzen sich in deutscher Sprache verständlich machen kann.“196 Seinen Leserinnen und Lesern im Umfeld des Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA) stellte er die jüdische Minderheit somit als eine Emissärin und Konservatorin deutscher Kultur vor, der es beizustehen galt. Dass er im Vereinsblatt des VDA veröffentlichte, der die Pflege und Ausbreitung der deutschen Sprache und Kultur im Ausland zum Ziel hatte, kann letztlich als zweckdienlich interpretiert werden.197 Das den osteuropäischen Jüdinnen und Juden monoton attestierte Deutschtum trugen auch einige andere jüdische Autor*innen in die deutsche Öffentlichkeit. Im Gegensatz zu Trietsch, der das Thema in einem nichtjüdischen Medium zur Sprache brachte, diskutierten sie es vor allem auf einer innerjüdischen Ebene. Schon vor der vorletzten Jahrhundertwende waren im Central-Verein deutscher 192 In der Sprachwissenschaft gilt das Jiddische als Einzelsprache. Kremer, Deutsche Juden, S. 242. 193 Trietsch, „Das deutschsprachige Judentum im Ausland“, S. 274 f. 194 Ebd., S. 279. 195 Ebd. Zu den deutsch-jüdischen Handelskontakten: Davis Trietsch, „Über die örtliche Verteilung der Juden in ihrer Bedeutung für die Weltwirtschaft und deren deutschen Anteil“, in: Weltwirtschaftliches Archiv 7 (1916), Nr. 1, S. 93–107, hier S. 97, 102. 196 Ders., „Die Weiterentwicklung der deutschen Sprachgeltung“, Typoskript [1915], 6 Seiten, hier S. 3. CZA, A104/57. 197 Zum VDA, heute ,Verein für Deutsche Kulturbeziehungen im Ausland‘, s. Ulrich Prehn, „Volksgemeinschaft im Abwehrkampf “. Zur Organisation und Politik des Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA) in der Weimarer Republik, Hamburg 1997.
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Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV ) Stimmen zu vernehmen gewesen, welche die osteuropäischen Jüdinnen und Juden als „Pioniere des Deutschthums im Auslande“198 imaginierten. Solche Darstellungen im CV, der das bürgerlich-liberale Judentum in Deutschland von 1893 bis 1938 vertrat, sollten dem Historiker Arndt Kremer zufolge den deutschen Antisemitinnen und Antisemiten den Wind aus den Segeln nehmen. Sie lassen sich somit auch als Abwehr‑ und Anschlussstrategien interpretieren, die vor allem in den Jahren vor und während des Ersten Weltkriegs zirkulierten.199 Wie wenig erfolgreich man damit gewesen sein dürfte, illustriert eine Bemerkung des antisemitischen Publizisten Theodor Fritsch (1852–1933). In seinem vielrezipierten Handbuch der Judenfrage, das 1919 bereits in der 28. Auflage erschien, wies er Trietschs These einer deutsch-jüdischen Kulturvermittlung zurück. Fritsch zufolge würde eine Ansiedlung von Jüdinnen und Juden auf dem Gebiet des Osmanischen Reichs „eine schwere Gefährdung des deutschen Ansehens im Auslande“200 bewirken. Von einer gesteigerten Kriegspolemik ergriffen gab Trietsch eine eigene Schrift mit dem Titel Juden und Deutsche. Eine Sprach‑ und Interessengemeinschaft heraus, nachdem er zuvor mehrere Artikel vergleichbaren Inhalts in Umlauf gebracht hatte.201 Das Buch, das im Titel bezeichnenderweise die Juden an erster Stelle führt, erschien 1915 im Wiener Verlag R. Löwit von Mayer Präger (1889–1942), einem aus Galizien stammenden und später wegen seiner jüdischen Herkunft in Auschwitz ermordeten Verleger.202 In dem Text, der früheren Publikationen stellenweise wortwörtlich entlehnt war, präsentierte Trietsch die osteuropäischen Jüdinnen und Juden als Sendboten einer deutschen Kultur. Seiner Auffassung nach lieferten sie dem Deutschen Reich ein geeignetes ,Element‘ zur wirtschaftlichen Durchdringung anderer Länder. In der Sprache sah Trietsch einen zentralen Einflussfaktor im internationalen Wettbewerb, weshalb man sich besonders gegen das Englische in einem „sprachliche[n] Kolonialgebiet“203 zu behaupten wissen musste. Der 198 „Vereinsnachrichten“, in: Im deutschen Reich 3 (1897), Nr. 12, S. 641–646, hier S. 644. Im deutschen Reich war bis 1922 das Sprachrohr des CV. Zum CV s. die Grundlagenstudie von Avraham Barkai, „Wehr dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, München 2002 sowie die beiden neueren Studien Tilmann Gempp-Friedrich, Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Anwalt zwischen Deutschtum und Judentum, Berlin 2020; Rebekka Denz, Bürgerlich, jüdisch, weiblich. Frauen im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) 1918–1938, Berlin 2018. 199 Kremer, Deutsche Juden, S. 408 f. 200 Theodor Fritsch, Handbuch der Judenfrage. Eine Zusammenstellung des wichtigsten Materials zur Beurteilung des jüdischen Volkes, 28. Aufl., Hamburg 1919, S. 358. 201 Trietschs zweiter Beitrag erschien als Artikelserie in den Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus 21 (1911), Nr. 10, 11, 13, 16, 17, 18, 19, 20. Weitere Aufsätze und Vortragsmanuskripte finden sich in seinem Nachlass CZA, A104/57. 202 Prägers Name findet sich in der zentralen Datenbank der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, abrufbar unter: https://yvng.yadvashem.org/ (Zugriff 12. 3. 2022). 203 Davis Trietsch, Juden und Deutsche. Eine Sprach‑ und Interessengemeinschaft, Wien 1915, S. 16. Als gekürzter Aufsatz: ders., „Von den Sprachenverhältnissen der Juden“, in: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden, 11 (1915), Nr. 7–9, S. 75–80.
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von ihm pauschal attestierte sprachliche „Mehrwert der Juden“ erhöhte sich noch durch ihre vermeintlich hohe Intelligenz und überwiegend urbane Lebensweise. Da die meisten Jüdinnen und Juden in der Tat damals in Städten wohnten, sollten sie für den deutschen Handel aussichtsreiche Anknüpfungspunkte schaffen.204 In der Art und Weise, wie Trietsch Jüdinnen und Juden als Gruppe charakterisierte, griff er auf rassenbiologische Identitätskonzepte seiner Zeit zurück. Für ihn wie andere Zionistinnen und Zionisten verkörperten sie nicht nur eine Religionsgemeinschaft, sondern auch eine ethnische Abstammungsgemeinschaft.205 Das Konzept der sogenannten Rasse, das seine wissenschaftliche Legitimation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhr, diente auch den Zionist*innen als eine anerkannte Zugehörigkeits‑ und Differenzkategorie, die den eigenen Zielsetzungen legitimatorisch vorgelagert werden konnte.206 Besonders in kulturzionistischen Kreisen wurden sogenannte jüdische Kulturwerte wiederholt unter Bezugnahme auf die Identitätskonstrukte Blut, Rasse und Volk erörtert. In Abgrenzung zu völkischen Theoretikern, die einer Hierarchisierung unterschiedlicher ,Menschenrassen‘ das Wort redeten, argumentierten Zionisten wie Buber allerdings primär auf einer kulturalistischen Ebene und werteten andere ,Rassen‘ nicht in gleicher Weise ab.207 Trietsch beteiligte sich an diesen Diskussionen – anders als zeitweise etwa Ruppin, für den die rassische Zugehörigkeit das zentrale Verbindungselement im Judentum bildete – offenbar nicht. Zumindest in seinen überlieferten Texten findet sich nur eine Stelle, an der er sich zu dieser Thematik ausführlicher äußerte. In dem Typoskript Grundlagen jüdischer Weltgeltung, das kurz nach dem Ersten Weltkrieg von ihm verfasst worden sein dürfte, bemerkte er, auch Jüdinnen und Juden bildeten eine eigene „Gemeinschaft“, wie „fast alle Menschentypen der Erde“208. Als ,Rasse‘ bezeichnete er sie aber nicht, ebenso wie er ihr heterogenes Erscheinungsbild hervorkehrte. Trietsch zufolge seien viele jüdische Deutsche blond und blauäugig, während Jüdinnen und Juden in England oft ein „englische[s] Beefsteakgesicht“209 hätten. Zur Erklärung dieser simplifizierenden Darstellungsweise kombinierte er rassenbiologische und lebenskontextliche Argumente, die 204 Trietsch, Juden und Deutsche, S. 25, 30. Zur Argumentation Trietschs s. auch Marc Volovici, German as a Jewish Problem. The Language Politics of Jewish Nationalism, Stanford 2020, S. 144, 178. 205 Anna Michaelis, „Die Zukunft der Juden“. Strategien zur Absicherung jüdischer Existenz in Deutschland (1890–1917), Frankfurt a. M. 2019, S. 99 f., 108 f. Zur Rassenideologie im Zionismus s. ausführlicher Raphael Falk, Zionism and the Biology of Jews, Cham 2017; Mark H. Gelber, „Deutsche Rassentheorie und Kulturzionismus“, in: Schatz/Wiese, Janusfiguren, S. 103–123; ders., Melancholy Pride. Nation, Race, and Gender in the German Literature of Cultural Zionism, Tübingen 2000; Mitchell B. Hart, Social Science and the Politics of Modern Jewish Identity, Stanford 2000. 206 Sabrina Schütz, Die Konstruktion einer hybriden ,jüdischen Nation‘. Deutscher Zionismus im Spiegel der Jüdischen Rundschau 1902–1914, Göttingen 2019, S. 235 f. 207 Ebd., S. 211, 231; Vogt, Subalterne Positionierungen, S. 130 f. 208 Davis Trietsch, Grundlagen jüdischer Weltgeltung, undat. Typoskript [1919]. CZA, A104/15. 209 Ebd.
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er einerseits auf Faktoren der „Blutmischung“, andererseits auf eine „klimatische Beeinflussung“210 zurückführte. Offen ließ er dabei letztlich, welche der beiden einen größeren Einfluss ausübte. Wenngleich sich Trietsch in seiner Schrift Juden und Deutsche. Eine Sprach‑ und Interessengemeinschaft nicht als Zionist zu erkennen gab, zeigt sich, wie wenig wert‑ und zweckfrei seine Agitation war. So hob er auf die Zukunftschancen des türkischen Orients ab, die durch die Ansiedlung ausländischer Jüdinnen und Juden – deutsche Siedler*innen ließen sich hierfür nicht in größerer Zahl gewinnen – ergriffen werden sollten. Der deutschen Wirtschaft zum Vorteil gereichen würden ihm zufolge besonders jüdische Siedlungsprojekte entlang der Bagdadbahn, die strategische „Stützpunkte der Sprache“ generierten.211 Dem Einwand, die so unter deutschem Banner angesiedelten Jüdinnen und Juden würden in Palästina aber langfristig modernes Hebräisch (Ivrit) sprechen und das Jiddische ablegen, versuchte Trietsch zuvorzukommen. So erwähnte er zwar den sogenannten Sprachenstreit von 1913/14, bei dem Zionistinnen und Zionisten leidenschaftlich für Ivrit statt Deutsch als Unterrichtssprache in Palästina eingetreten waren. Doch unterstrich er im selben Atemzug, man werde einer zweiten Sprache bedürfen, bei der es sich allein um das Deutsche als künftiger Weltsprache handeln könne.212 Der Literaturhistoriker Ludwig Geiger (1848–1919) sah darin ein „Fechterkunststückchen“213, da es Trietsch, von dem er wusste, dass er ein „bekannter Zionist“ war, in erster Linie um Ivrit ging. Trietschs Eintreten für die Verbreitung der deutschen Sprache folgte einer Logik, die sich nach außen als das patriotische Engagement eines ambitionierten Nationalisten lesen lässt, nach innen aber sein ausgeprägtes funktionales und pragmatisches Denken offenbart, das dem Zionismus verschrieben blieb. Dieses doppelseitige Kalkül, das es bei der Lektüre seiner Kriegsschriften immer mitzudenken gilt, offenbart sich an einer Stelle in seinem bereits erwähnten Palästina-Bildband. Dieser war auf eine jüdische, vor allem zionistische Leserschaft zugeschnitten und vermittelt dadurch im Gegensatz zum Beitrag für den VDA einen authentischeren Einblick in die ihn leitenden Motive. Dort heißt es: „Es ist eine Ironie des Schicksals: für alle Unfreundlichkeit der herrschenden deutschsprachlichen Gewalten zwingt uns die Tatsache unserer Deutschsprachlichkeit – ob wir es wollen oder nicht – deutschen Interessen in der Levante Vorspann zu leisten. Aber dieser merkwürdige Zustand wird nicht ewig bestehen müssen.“214 210 Ebd.
211 Trietsch, Juden und Deutsche, S. 45. Siehe auch ders., Die Juden der Türkei, Leipzig 1915, S. 11 f., 14. 212 Ders., Juden und Deutsche, S. 55–58. Zum sog. Sprachenstreit: Zeev W. Sadmon, Die Gründung des Technions in Haifa im Lichte deutscher Politik, 1907–1920, Berlin, Boston 1994, S. 313–356. 213 Ludwig Geiger, „Kriegsliteratur“, in: Allgemeine Zeitung des Judentums 79 (1915), Nr. 43, S. 512–515, hier S. 513. 214 Trietsch, Bilder aus Palästina, S. 146.
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Wie andere Zionistinnen und Zionisten war sich Trietsch der üppigen Giftblüte des Antisemitismus in Deutschland bewusst. Ihr tiefreichendes Wurzelwerk lokalisierte er sogar in seinem Geburtsland, indem er die „moderne Judenhetze ein hervorragend deutsches Produkt“ nannte, das seinen Weg in die Welt als „deutscher Exportartikel“ gefunden hätte.215 Der für ihn rundum verabscheuungswürdige Antisemitismus hatte allerdings – um zum obigen Zitat zurückzukommen – eine Kehrseite, die sich für den Zionismus positiv ausleuchten ließ: Jüdinnen und Juden aus Palästina würde es nicht nach Deutschland ziehen. Anders sah es im Falle derjenigen aus, die Französisch und Englisch beherrschten und von denen in der Tat eine nicht unbeachtliche Zahl nach Frankreich und Großbritannien emigrierte, wo sie sich ein besseres Leben erhofften.216 Um einer solchen Abwanderung aus Palästina entgegenzuwirken, die durch Bildungseinrichtungen der AIU begünstigt wurde und dem Zionismus einen herben Schlag versetzte, warb Trietsch für die Verbreitung des Deutschen, das ihm zufolge aufgrund des judenfeindlicheren Klimas in Deutschland weniger anziehend auf Jüdinnen und Juden wirkte. Der Historiker Isaiah Friedman hat Trietschs Einschätzung dahingehend bestätigt, dass der Ursprung des Antisemitismus tatsächlich von vielen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen in Deutschland, genauer in Preußen, verortet worden sei. In Großbritannien und Frankreich hätten Jüdinnen und Juden dagegen überwiegend einen Hort der Freiheit erblickt.217 Diese Gegenüberstellung ist vor allem durch Entwicklungen in der französischen Politik und Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts weniger stark zu ziehen, greift aber allgemeinere Tendenzen auf, die sich in der zeitgenössischen Wahrnehmung spiegelten.218 Ivrit sollte letztlich auch für Trietsch zur Nationalsprache von Jüdinnen und Juden in Palästina avancieren, der eine exklusive Förderung zuteilwerden sollte. In einer Ausgabe des Israelitischen Wochenblatts, einer zionistischen Zeitschrift aus Berlin, stellte er 1911 klar: „Als ob sie [die Deutschen] ein verbrieftes Anrecht darauf hätten, daß die aus Rußland, Galizien und Rumänien ausgewanderten Juden im türkischen Palästina nichts als deutsch reden – die Sprache des Landes, aus dem sie im Mittelalter vor Pogromen flüchten mußten.“219 215 Ders.,
Juden und Deutsche, S. 20 f. [Hervorh. im Original]. S. 52 f. sowie Trietsch, Bilder aus Palästina, S. 145 f. Von den Eingewanderten der 1. Aliyah, wie man die jüdische Einwanderung von 1882 bis 1903 nannte, verließ ca. die Hälfte das Land wieder. Leslie Stein, The Hope Fulfilled. The Rise of Modern Israel, Westport, Conn. 2003, S. 46. 217 Friedman, Germany, S. 204. 218 Zum Antisemitismus in Frankreich: Marie-Anne Matard-Bonucci (Hg.), Antisémythes. L’Image des Juifs entre Culture et Politique, 1848–1939, Paris 2005; Michel Winock, La France et les Juifs. De 1789 à nos Jours, Paris 2004, S. 105–132. Beispielhaft für den wachsenden Antisemitismus in Frankreich ist die sog. Dreyfus-Affäre, zu der eine Reihe von Studien vorliegt. Kürzlich erschienen: Alain Pagès, L’Affair Dreyfus, Paris 2019. 219 Davis Trietsch, „Die Juden als Faktor der Weltpolitik“, in: Israelitisches Wochenblatt 10 (1911), Nr. 45, S. 503. 216 Ebd.,
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2. „Die Zukunft des Orients“
Aus dieser Primärstellung des Neuhebräischen im Zionismus folgte, dass Trietschs Schriften zur Bedeutung des Jiddischen in der Bewegung keinen größeren Zuspruch fanden. Die allermeisten Zionistinnen und Zionisten sahen im Jiddischen eine Sprache des Exils, die in ihren Ohren die alten Mauern des Ghettos auferstehen ließ. Diese linguistische Deklassierung, der einzelne Anhänger, wie der als Sohn galizischer Einwander*innen in Wien geborene Nathan Birnbaum (1864– 1937) publizistisch entgegentraten, orientierte sich an den Werturteilen jüdischer Aufklärer. Sie hatten das ,Mauscheldeutsch‘ schon im 18. Jahrhundert als unsittlich abgelehnt.220 Konträr dazu warb die Schrift Der Zionismus. Eine Frage der deutschen Orientpolitik (1915) von Kurt Blumenfeld für das Jiddische in Gegenwart und Zukunft, wobei auch sie vor dem Hintergrund des Weltkriegs zu interpretieren ist. Unter Bezugnahme auf Trietsch unterstrich Blumenfeld, wie vorteilhaft das „Jüdisch-deutsche“ für die deutsche Wirtschaftspolitik sei und wie sehr sich die osteuropäischen Jüdinnen und Juden als „Mittler zwischen Orient und Okzident“221 eigneten. Diese pauschalen Zuschreibungen trafen in der jüdischen Welt verständlicherweise nicht nur auf Wohlwollen. So erreichte Trietsch am 18. Februar 1916 ein zorniger Brief von Binyamin Segel (1866–1931), der ihm schon zwei Jahre zuvor nahegelegt hatte, seine Schrift Juden und Deutsche nicht zu veröffentlichen.222 Segel, ein polyglotter, das Jiddische in Wort und Schrift beherrschender Schriftsteller aus Galizien, kannte Trietsch noch aus seiner Zeit als Mitherausgeber der Monatsschrift Ost und West. Er warf ihm vor, mit gefährlichen Verallgemeinerungen zu hantieren.223 So widerspräche es der gelebten Realität, mehrere Millionen Menschen, nur weil sie eine dem Deutschen verwandte Sprache beherrschten, kurzerhand zu einem Interessenvertreter Berlins zu erklären. Der Tonfall des Briefes, der mit der Drohung endete, am einst geschätzten Mitherausgeber andernfalls ein „Strafgericht [zu] vollziehen“224, war überaus angriffslustig. Segel befürchtete offenbar, die Loyalität der Jüdinnen und Juden Österreich-Ungarns zur Krone könne in Zweifel gezogen werden. Die Verbundenheit der jüdischen Galizier*innen mit Wien betonend, hielt er Trietsch in bitterem Hohn entgegen: „Warum bleiben Sie nicht bei Ihrem Leisten, und schreiben nicht lieber über Sachen, die Sie von Grund aus verstehen, z. B. über den Import von ausgeblasenen Eiern nach Palästina oder von palästinensischem Spinngewebe nach Europa?“225 220 Tobias Grill, Der Westen im Osten. Deutsches Judentum und jüdische Bildungsreform in Osteuropa (1783–1939), Göttingen 2013, S. 24 f. Zum ideologisch bewegten Lebensweg Birnbaums, der vom Zionismus über Jiddischismus zum Agudismus führte, siehe Jess Olson, Nathan Birnbaum and Jewish Modernity. Architect of Zionism, Yiddishism, and Orthodoxy, Stanford 2013. 221 Blumenfeld, Der Zionismus, S. 5. Zur Bedeutung des Jiddischen: ebd., S. 23 f. 222 Binyamin Segel an Davis Trietsch, 29. 3. 1914. CZA, A104/19. Segel ließ den Brief später in seiner Schrift Die polnische Judenfrage, Berlin 1916, S. 105–108 abdrucken. 223 Binyamin Segel an Davis Trietsch, 18. 2 . 1916. CZA, A104/1. 224 Ebd. 225 Ebd.
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Die despektierliche Art, mit der Segel an „Mister Trietsch“ – so die von ihm gewählte Anrede – schrieb, lässt persönliche Animositäten erkennen. Segels Kritik allerdings war berechtigt. Trietschs Schrift Juden und Deutsche, die auch im Ausland, wie der New York Times, Beachtung fand, erklärte eine große Zahl von Individuen kurzerhand zu Erfüllungsgehilfen einer expansiven deutschen Politik.226 Eine Eigenständigkeit, die sich unter anderem in einer autonomen Sprache, dem Jiddischen, ausgedrückt hätte, erkannte er ihnen nicht zu. „Jeder Narr kommt über uns mit seiner Utopie“, so Segel erzürnt. „Wir sind eine Art Freiwild, eine Sorte von herrenlosem Gut, das jeder Hergelaufene aller Welt zum Verkauf anbieten darf.“227 Zwar mag es in der Tat, wie auch Birnbaum zugab, eine „Anziehungskraft des deutschen Wesens“ auf Jüdinnen und Juden in Osteuropa gegeben haben, allerdings ließ sich daraus nicht zwangsläufig eine politische Interessengemeinschaft ableiten.228 Darüber hinaus lag den Zahlen von Trietsch keine differenzierte Betrachtung der Sprachpraxis zugrunde, die unter osteuropäischen Jüdinnen und Juden durch eine sprachliche Hybridität geprägt war. Letztere ließ eine einseitige Reduktion auf das Deutsche nicht zu, da auch andere Sprachen, wie Polnisch oder Russisch, gesprochen wurden. Die von Trietsch proklamierte ,Sprach‑ und Interessengemeinschaft‘ ließ sich anhand eines statistischen Rechenexempels jedenfalls nicht eruieren.
2.6 Strategische Allianzen: Deutschland und der aufsteigende Halbmond Wie viele andere deutsche Schriftsteller brachte Davis Trietsch im August 1914 sein Literaturgewehr in Anschlag, mit dem er in den nächsten Jahren mehrere polemische Kriegsschriften in die Öffentlichkeit abfeuerte. Nachdem Zar Nikolaus II. (1868–1918) am 1. August von seinem Neffen Wilhelm II. eine Kriegserklärung erhalten hatte, legte Trietsch wenige Tage später eine kleine Broschüre mit dem angriffslustigen Titel Die Zertrümmerung Russlands vor.229 Die Schrift, die nie in den Druck ging, ist beispielhaft für die zunächst positive Einstellung vieler deutscher Zionistinnen und Zionisten zum Krieg. Dabei ist die Vorstellung einer kollektiven Kriegsbegeisterung von der jüngeren Forschung überzeugend korrigiert worden, da nicht alle Deutschen euphorisch reagierten, sondern auch verängstigt und zweifelnd.230 Mehrheitlich begrüßten aber zunächst auch die Zionist*innen den 226 „Sees German Tongue as World Language“, in: The New York Times, 1. 8. 1915, S. 3. Es handelte sich um den unkommentierten Bericht eines deutschen Korrespondenten. 227 Segel, Die polnische Judenfrage, S. 107. 228 Nathan Birnbaum, Den Ostjuden ihr Recht!, Wien 1915, S. 16. Das Buch erschien kurz nach Trietschs Juden und Deutsche im Verlag R. Löwit. 229 Davis Trietsch, Weltkrieg und Palästinafrage, undat. Manuskript [1925], 4 Seiten, hier S. 1. CZA, A104/51. Das von Trietsch entworfene Titelblatt des Buches findet sich ebd., A104/81. 230 Siehe u. a. Gerald Lamprecht, „Jüdische Erfahrungen und Erwartungen im Ersten Weltkrieg“, in: Stefan Vogt u. a. (Hg.), Wegweiser und Grenzgänger. Studien zur deutsch-jüdischen
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2. „Die Zukunft des Orients“
Feldzug gegen das zaristische Russland und verbanden mit ihm die Befreiung der Glaubensgeschwister vom ,russischen Joch‘.231 Ein Aufruf vom 7. August 1914 in der Jüdischen Rundschau, die bis 1938 als Zentralorgan der ZVfD fungierte, zeigt, wie sehr sich ihre anfängliche Euphorie an der Mehrheitsgesellschaft orientierte. So hieß es in dem Appell, man solle sich wie andere jüdische Deutsche aufopferungsvoll in den Dienst des Vaterlandes stellen, um „aufs neue zu zeigen, dass wir stammesstolzen Juden zu den besten Söhnen des Vaterlandes gehören“232. Trietsch bemerkte ebenfalls im Rückblick, deutsche Jüdinnen und Juden seien oft „über das Normale hinaus[gegangen], um sich und ihre Gemeinschaft vor den allezeit wachen Zweifeln der nichtjüdischen Nachbarn zu schützen.“233 Seine sogenannten Kriegsschriften, von denen mehrere nach dem Zweiten Weltkrieg in der Sowjetischen Besatzungszone wegen ihres aggressiv-imperialistischen Duktus als ,auszusondernde Literatur‘ indexiert wurden, sind auch vor dieser Folie zu lesen.234 Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass er sich seiner Geburtsheimat, die nachhaltig auf sein Denken und Handeln wirkte, als deutscher Staatsbürger nicht emotional verbunden gefühlt hätte und seine radikalnationalistische Agitation nur strategisch vorgeschoben war. Insgesamt handelt es sich um äußerst komplexe Deutungs‑ und Handlungsebenen, die auch in der Individualbiografie Trietschs hybride Zwischenformen erzeugten. Wie Stefan Vogt gezeigt hat, agierten viele Zionist*innen aus einer Zwischenposition heraus, wodurch Ziele des deutschen Nationalismus und Kolonialismus von ihnen meist geteilt, mit Blick auf ihre jüdische Identität und eigene Marginalisierungserfahrungen aber auch abgelehnt wurden.235 Ihre ambivalente Haltung und Uneindeutigkeit ist von Vogt anhand des Konzepts der ,subalternen Positionierung‘ eingehend erörtert worden. Vor diesem Hintergrund gilt es, auch Trietschs Intentionen als ein – wie er sich einmal selbst nannte – „speziell jüdischer Politiker“236 in der Textanalyse zu berücksichtigen, da sie letztlich die Antriebsfeder seiner Kriegsagitation bildeten. Aus ihnen sprach zunächst, wenn auch klandestin, ein zionistischer Akteur, erst dann ein deutscher Patriot. Oder wie Trietsch 1907 einräumte, ein „deutscher Staatsbürger (jüdischer Nation)“237. Sein auffälliges Insistieren auf die notwendige ,Einverleibung‘ des wirtKultur‑ und Literaturgeschichte, Wien 2018, S. 273–286; Jeffrey Verhey, The Spirit of 1914. Militarism, Myth, and Mobilization in Germany, Cambridge 2000. 231 Stefan Vogt, „The First World War, German Nationalism, and the Transformation of German Zionism“, in: The Leo Baeck Institute Year Book 57 (2012), S. 267–291, hier S. 272 f. 232 „Deutsche Juden!“, in: Jüdische Rundschau 19 (1914), Nr. 32, S. 343. 233 Trietsch, Weltkrieg und Palästinafrage, S. 1. 234 Siehe die Einträge 8060 bis 8062 in: Deutsche Verwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone (Hg.), Liste der auszusondernden Literatur. Zweiter Nachtrag, Berlin 1948. 235 Vogt, Subalterne Positionierungen, S. 211. Zur ambivalenten Haltung der Zionistinnen und Zionisten siehe auch ders., „Zionismus und Weltpolitik. Die Auseinandersetzung der deutschen Zionisten mit dem deutschen Imperialismus und Kolonialismus 1890–1918“ in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 60 (2012), Nr. 7/8, S. 596–617, bes. S. 597 f. 236 Trietsch, Weltkrieg und Palästinafrage, S. 1. 237 Ders., „Industrie“, S. 5.
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schaftlich unbedeutenden Zyperns sowie der Sinai-Halbinsel, die er offenkundig nicht nur mit Blick auf deutsche Interessen aus dem britischen Einflussbereich herausgelöst wissen wollte, macht dies exemplarisch deutlich.238 Wie im Falle der Sprachenthematik wandte sich Trietsch in seinen Kriegsschriften an eine nichtjüdische Öffentlichkeit, vor der er sich nicht als Jude und Zionist zu erkennen gab. Dies führte mitunter dazu, dass sein Hintergrund auch von der Forschung nicht registriert wurde, die ihn fälschlicherweise für einen nichtjüdischen Autor hielt.239 Wie stark Trietschs zionistisches Engagement hier jedoch wirkte, gab er in der Zwischenkriegszeit selbst zu: „Als Politiker hatte ich das spezielle Programm der deutsch-islamisch-jüdischen Verständigung – eine politische Kombination von planetarischen Dimensionen, in deren Mittelpunkt die jüdischen Palästina-Bestrebungen fest und sicher verankert werden konnten.“240
Das von ihm und anderen Zionistinnen und Zionisten anvisierte Eingreifen Deutschlands zugunsten jüdischer Interessen war heikel, da Palästina zum Osmanischen Reich gehörte, mit dem man in der Berliner Wilhelmstraße am 2. August 1914 einen Bündnisvertrag geschlossen hatte. Das Ziel musste es daher sein, die deutsche und türkische Führung gleichermaßen von den Vorzügen eines jüdischen Palästinas zu überzeugen, was alles andere als leicht war.241 Trietsch platzierte dafür mehrere Aufsätze über die Vorzüge einer jüdischen Besiedlung Palästinas in bekannten Zeitschriften wie der Kolonialen Rundschau oder Der Panther.242 Beide Blätter boten sich an, da sie radikalnationalistischen Kreisen des Alldeutschen Verbands (ADV ) nahestanden, der – anders als die Staatsführung in Berlin – Teile der Türkei durchaus als ein künftiges Siedlungsgebiet in Betracht zog.243 Mehrere Mitglieder des 1891 gegründeten Vereins forderten beispielsweise, entlang der Bagdadbahn nicht nur Rohstoffe und Absatzgebiete zu erschließen, sondern auch Siedlungen anzulegen.244 An diese Forderungen konnte Trietsch anknüpfen, wobei er Jüdinnen und Juden aus Osteuropa im Blick hatte, die ihm zufolge ein „Kultur238 Ders., Afrikanische Kriegsziele, S. 25–27; ders., Die Welt nach dem Kriege, S. 27–29; ders., Der Aufstieg des Islam, S. 8–10; ders., Kriegsziele gegen England, S. 17–22. 239 Siehe bspw. Horst Benneckenstein, Die Transkaukasien-, insbesondere die Georgienpolitik des deutschen Imperialismus vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Ende des 1. Weltkrieges, Jena 1975, S. 77. 240 Trietsch, Weltkrieg und Palästinafrage, S. 1. 241 Ebd., S. 2. Zu den zionistischen Verfechtern einer deutschen ,Orientpolitik‘ s. Weber, Projektionen auf den Zionismus, S. 49–120; ders., „Zwischen Orient und Okzident. Deutsche Zionisten – Pioniere des Deutschtums?“, in: Gebhard/Hamann, Deutschsprachige Zionismen, S. 129–145. 242 Trietsch, Die östliche Judenfrage, Leipzig 1916; ders., „Deutsche und jüdische Kolonisation in Palästina“, in: Koloniale Rundschau 7 (1915), Nr. 7–8, S. 336–355. 243 Gencer, Imperialismus und die Orientalische Frage, S. 112–116. Zum ADV: Uta Jungcurt, Alldeutscher Extremismus in der Weimarer Republik. Denken und Handeln einer einflussreichen bürgerlichen Minderheit, Berlin 2016; Michael Peters, Der Alldeutsche Verband am Vorabend des Ersten Weltkrieges, 1908–1914, Frankfurt a. M. 1996. 244 Gencer, Imperialismus und die Orientalische Frage, S. 102, 115.
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element ersten Ranges“ darstellten, das zugleich über eine „deutsche Qualität“245 verfügte. Ihnen war es daher im Besonderen zuzutrauen, die Industrialisierung der Türkei voranzubringen und der deutschen Wirtschaft ein aussichtsvolles Aktionsfeld zu eröffnen. Trietsch zog dabei nicht nur eine Ansiedlung in Palästina in Betracht, sondern der gesamten Türkei, die er seinen Leser*innen kurzerhand als „industrielles Neuland“ darbot.246 Trietschs abenteuerliche Argumentation, die nicht nur Binyamin Segel sauer aufgestoßen sein dürfte, weist Parallelen zu Utilitarismusdiskursen der Spätaufklärung auf. Ihrer Logik folgend sollten Jüdinnen und Juden für ihre Emanzipation in Vorleistung treten. Die Nützlichkeit der jüdischen Minderheit bildete in den Emanzipationsdebatten des 18. Jahrhunderts den Gravitationspunkt eines christlich-bürgerlichen Wertediskurses, den jüdische Autorinnen und Autoren in ihrem Ringen um eine rechtliche Gleichstellung später selbst aufgriffen.247 Weil sie sich in besonderer Weise am Kriterium der ,Nützlichkeit‘ messen lassen mussten, verfassten viele von ihnen – im ausgehenden 19. Jahrhundert dann vor allem in Reaktion auf den politischen Antisemitismus – Schriften, die die positiven Eigenschaften ihrer Gemeinschaft akzentuierten. Trietschs Buch Der Wiedereintritt der Juden in die Weltgeschichte (1926) reihte sich hier ein. Darin betonte er unter Anführung diverser Statistiken, „die Juden – auch die der Gegenwart – [nähmen] einen höchst ungewöhnlichen, auffallend starken Anteil an allem Fortschritt der Kultur.“248 Neben Vorteilen für die deutsche Wirtschaft schwebten Trietsch immer auch „Gegenleistungen“249 vor Augen. Deutschland sollte die Ansiedlung von Jüdinnen und Juden im türkischen Orient durch Kapitalanlagen und deutsches Unternehmertum fördern und damit den „wertvollen deutschen Sympathien der Juden eine nachträgliche Unterlage verleihen.“250 In Trietschs kurzsichtiger Vorstellung würde eine jüdische Besiedlung Palästinas außerdem zu einer Festigung der Bündnispolitik zwischen Mitteleuropa und der islamischen Welt führen, wo die jüdische Minderheit als Mediatorin fungierte. In seiner Broschüre Deutschland und der Islam (1912) hatte er bereits auf die Relevanz einer engeren Zusammenarbeit mit dem Osmanischen Reich hingewiesen, das er als „Vormacht der gesamten islamischen Welt“251 erachtete. Die türkische Regierung, die 1912 noch zwischen der Triple Entente und dem sogenannten Dreibund pendelte, nachdem sie der 245 Trietsch,
Die östliche Judenfrage, S. 2 f. „Deutsche und jüdische Kolonisation“, S. 351. 247 Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004, S. 65–75; Jochen Schwenk, Generationserfahrung und Judentum. Eine denksoziologische Betrachtung des jungen Walter Benjamin, Baden-Baden 2015, S. 96 f. 248 Trietsch, Der Wiedereintritt der Juden, S. 5 [Hervorh. im Original]. 249 Ders., „Das Ostjuden-Problem und die Frage seiner Lösung durch den Zionismus“, in: Europäische Staats‑ und Wirtschafts-Zeitung 1 (1916), S. 1265–1273, hier S. 1273 [Hervorh. im Original]; ders., Die östliche Judenfrage, S. 4. 250 Ders., Die östliche Judenfrage, S. 16. 251 Ders., Deutschland und der Islam. Eine weltpolitische Studie, Berlin 1912, S. 37 [Hervorh. im Original]. 246 Ders.,
2.6 Strategische Allianzen
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Cyrenaika und Tripolitanien im Italienisch-Türkischen Krieg verlustig gegangen war, sollte für Deutschland und seine Verbündeten gewonnen werden. Für Trietsch legte ein solches Bündnis den Grundstein für ein „Reich der Mitte“, das „inmitten der drei alten Weltteile […] eine Gewähr für den Weltfrieden“252 böte. Auch andere deutsche Publizisten griffen Zentralitätsvorstellungen dieser Art auf. Zu ihnen zählten Anhängerinnen und Anhänger des ab 1915 populären Mitteleuropa-Konzepts, wie der eingangs erwähnte evangelische Theologe Paul Rohrbach. In seinem Vortrag mit dem Titel „Die Zukunft des Orients“, den er 1915 vor einer überwiegend zionistischen Hörerschaft in Berlin hielt, warb Rohrbach für eine Interessengemeinschaft mit der Türkei. Sie sollte unter anderem eine deutsche Kultur‑ und Schulpolitik in der Region fördern.253 Die beiden Orientalisten Carl Heinrich Becker (1876–1933) und Hugo Grothe (1869–1954) beschworen bei Kriegsbeginn ebenfalls eine „deutsch-türkische Bundesgenossenschaft“254. Wie Trietsch stellten sie die Bedeutung der insgesamt 300 Millionen Musliminnen und Muslime heraus, die ihrer Meinung nach ein explosives Bevölkerungselement in den Territorien der Entente bildeten, das sich gezielt ,zünden‘ ließ.255 Von einem Bündnis mit Sultan Mehmed V. (1844–1918), der gleichzeitig Kalif war, erhofften sie sich demnach panislamische Unruheherde von „werbender Großartigkeit“256. Der Ausgang des Ersten Weltkriegs sollte diese für Deutschland erhofften Aussichten zu Grabe tragen. Trietschs proklamierter Aufstieg des Islam (1915) unter deutscher Führung, so der Titel einer weiteren Schrift von ihm, erfüllte sich nicht.257 Die Welt nach dem Kriege sah gänzlich anders aus als die, die er 1915 in seinem gleichnamigen Buch noch großspurig imaginiert hatte.258 Eine Zurückdrängung besonders Großbritanniens aus dem Nahen und Mittleren Osten, für die Trietsch leidenschaftlich geworben hatte, blieb aus. Stattdessen wuchs der Einfluss Londons, und auch die Insel Zypern lag weiterhin im Hoheitsbereich der englischen Krone.259 Für Trietsch war der Kriegsausgang von großer, aber zu bewältigender Bedeutung. Als ein Pragmatiker, dessen Agitation sich an gegenwärtigen Entwicklungen ausrichtete und damit anpassungsfähig blieb, stellte er sich relativ schnell auf die 252 Ebd.,
S. 108 [Hervorh. im Original].
253 Paul Rohrbach, „Die Zukunft des Orients“, in: Jüdische Rundschau 20 (1915), Nr. 11, S. 80 f.
Zu einem mitteleuropäischen Staatenbund: Otilia Dhand, The Idea of Central Europe. Geopolitics, Culture, and Regional Identity, London 2018; Andreas Peschel, Friedrich Naumanns und Max Webers „Mitteleuropa“. Eine Betrachtung ihrer Konzeptionen im Kontext mit den „Ideen von 1914“ und dem Alldeutschen Verband, Dresden 2005. 254 Hugo Grothe, Deutschland, die Türkei und der Islam. Ein Beitrag zu den Grundlinien der deutschen Weltpolitik im islamischen Orient, Leipzig 1914, S. 28; Carl H. Becker, Deutschland und der Islam, Leipzig 1914. 255 Becker, Deutschland und der Islam, S. 27–29. 256 Grothe, Deutschland, die Türkei und der Islam, S. 38. 257 Davis Trietsch, Der Aufstieg des Islam, Berlin 1915. 258 Ders., Die Welt nach dem Kriege, Berlin 1915. 259 Zu Zypern siehe v. a. ders., Kriegsziele gegen England, S. 21 f. sowie ders., „Zypern nach dem Weltkrieg“, in: Balkan-Revue 2 (1915/16), Nr. 6, S. 307–323.
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2. „Die Zukunft des Orients“
neuen politischen Verhältnisse ein. Hatte er die Umsetzung seiner Pläne von einer deutsch-türkischen Zusammenarbeit abhängig gemacht, so kündigte er schon im Januar 1919 eine großangelegte jüdische Einwanderung unter gänzlich anderen politischen Vorzeichen an.260 Der Weg nach Palästina führte nun nicht mehr über Deutschland und die Türkei, sondern über Großbritannien, das ihn schon in früherer Zeit für sein Greater Palestine inspiriert hatte.
Ders., „Massenwanderung und Massensiedlung“, in: Volk und Land 1 (1919), Nr. 2, Sp. 33–
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38.
3. „Greater Palestine“ Zionistische Raumkonzeptionen als Geisteskinder ihrer Zeit „Niemand wollte verstehen […], was ich doch von allem Anfang an klar ausgesprochen hatte, nämlich, dass ich nicht eine Anzahl verschiedener ,Projekte‘ zu verschiedenen Zeiten vertrat, sondern, dass es immer die grosse Idee des grösseren Palästina war, die mich leitete.“1 Davis Trietsch, Greater Palestine
3.1 Die Bestimmung der Grenzen: Wo liegt Palästina? Am 29. August 1897 wurde der erste Zionist*innenkongress im Stadtcasino von Basel feierlich eröffnet. An ihm nahmen offiziell 199 Delegierte aus 24 Ländern teil, darunter ca. 20 weibliche Teilnehmende.2 Nach seiner Ankunft in der Rheinstadt hatte sich auch Davis Trietsch als Teilnehmer im eigens dazu errichteten Kongressbüro registrieren lassen. Mit zwei weiteren interessierten Beobachter*innen aus den USA, darunter die New Yorker Reporterin Rosa Sonnenschein (1847–1932), war er als Privatperson zum Kongress gereist.3 Nur ein Delegierter aus den USA konnte sich auf den Weg nach Europa machen, da für andere Vertreterinnen und Vertreter nicht genügend Mittel bereitstanden. Dass Trietsch trotzdem auf eigene Kosten in die Schweiz reiste, lässt auf finanzielle Ressourcen seinerseits schließen.4 In den 1880er Jahren waren auch in den USA mehrere Chovevei Zion-Vereine ins Leben gerufen worden, die sich von Neuengland aus entlang der Ostküste organisierten, wo die meisten jüdischen Einwanderinnen und Einwanderer lebten. Als Trietsch das erste Mal vom Judenstaat las, existierten somit auch in den USA bereits Zionsgruppen, darunter allein 36 in New York, die rund 5000 Mitglieder (1898) zählten.5 Die insgesamt fast 100 lokalen Vereine, meist lose und unsystematisch 1 Davis
Trietsch, „Greater Palestine“, in: Palästina 1 (1902), Nr. 3–4, S. 154–159, hier S. 156. Teilnehmende aus dem Russischen Reich ließen sich aus Angst vor Repressionen nicht registrieren. Schlöffel, Heinrich Loewe, S. 192. Siehe auch Aleksandr Lokšin, „Tsarist Policy Toward Zionism in Russia at the End of the Nineteenth and the Beginning of the Twentieth Centuries“, in: Heiko Haumann (Hg.), Der Traum von Israel. Die Ursprünge des modernen Zionismus, Weinheim 1998, S. 170–185. 3 Urofsky, American Zionism, S. 86. 4 Bei dem Delegierten handelte es sich um Shepsal Scha[e]ffer (1862–1933). Er war ein Rabbiner aus Baltimore, für den 100 US-Dollar aufgebracht werden konnten. Ebd. 5 Mark A. Raider, The Emergence of American Zionism, New York, London 1998, S. 8, 13. 2 Mehrere
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organisiert, schlossen sich im Juli 1898 zur Federation of American Zionists (FAZ) zusammen. Am Aufbau der FAZ nahm Trietsch regen Anteil. Hatte er nach eigenen Aussagen zuvor keine Kontakte zu US-amerikanischen Zionist*innen unterhalten, beteiligte er sich nach seiner Rückkehr aus Europa aktiv am zionistischen Zukunftsdiskurs in den USA, der mit der Gründung der FAZ an Schwung gewann.6 In diesem Zusammenhang gab er die zionistische Zeitschrift Zion Weekly News heraus, die ab Mai 1898 unter dem Titel Zion News als Zentralorgan des Verbands der Zionisten-Vereine in den USA auf Jiddisch und Deutsch erschien. Erste Erfahrungen als Herausgeber einer Zeitschrift hatte er somit in New York gesammelt. Neben dieser Tätigkeit, die ebenfalls auf bedeutendere finanzielle Mittel schließen lässt, hielt Trietsch Vorträge, in denen er über die Ergebnisse des ersten Kongresses referierte.7 An den nächsten zwei Kongressen nahm er dann als einer von elf (1898) bzw. 16 (1899) US-amerikanischen Delegierten teil.8 Der moderne Zionismus als eine international agierende Bewegung war von Beginn an durch eine große Heterogenität geprägt.9 Diese Schlussfolgerung verdankt sich nicht erst einer analytischen Zusammenschau der Forschung, sondern wurde schon von Zeitgenossinnen und Zeitgenossen registriert. Der erwähnte Berthold Feiwel bemerkte in seinem Aufsatz „Strömungen im Zionismus“ (1902), die Zionistinnen und Zionisten hätten ein „Mosaik von zionistischen Anschauungen und Bethätigungsformen“10 verkörpert. Die auch von anderen zeitgenössischen Kommentatoren konstatierte Vielschichtigkeit hatte zur Folge, dass sich ideologische Spannungen wiederholt in der jungen Bewegung entluden. Insbesondere in den transkribierten Stenogrammen der Kongresse hallen die divergierenden Anschauungen mitunter lautstark nach. In mehreren Fällen kam es dort zu sogenannten Lärmszenen, denen das Glockenzeichen des Kongressvorsitzenden und das Eingreifen der Ordner Einhalt gebieten mussten, um „die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung im Sitzungsaale“11 wiederherzustellen. Ein neues Mitglied der
6 Trietsch,
Jüdische Emigration und Kolonisation, S. 378. League Meets. Dr. Michael Singer and Davis Trietsch Deliver Addresses on the Societies’ Objects“, in: The New York Times, 30. 5. 1898, S. 7; „Palestine for the Jews. The League of Zionists Holds a Convention in New York“, in: The Baltimore Sun, 30. 5. 1898, S. 8; „Unsere erste Convention“, in: Zion News, 27. 5. 1898, S. 1–3. Vor den Zion News gab es ein deutschsprachiges zionistisches Blatt in den USA, Der Zionist (vormals Toleranz). 8 „Delegates to the Basle Conference Elected at the Conference of the Federation of American Zionists“, in: The Baltimore Sun, 20. 6. 1899, S. 10. 9 Gebhard/Hamann, Deutschsprachige Zionismen. Siehe auch Uri R. Kaufmann, „Kultur und ,Selbstverwirklichung‘: Die vielfältigen Strömungen des Zionismus in Deutschland 1897– 1933“, in: Schatz/Wiese, Janusfiguren, S. 43–60; Patrick Marcolli u. a., „Strömungen im Zionismus“, in: Heiko Haumann (Hg.), Der Erste Zionistenkongress von 1897. Ursachen, Bedeutung, Aktualität, Basel u. a. 1997, S. 250–256. 10 Berthold Feiwel, „Strömungen im Zionismus“, in: Ost und West 2 (1902), Nr. 10, Sp. 687– 694, hier Sp. 687. 11 Stenographisches Protokoll (1898), S. 245. Die Ordner waren meist jüngere Delegierte, die sich freiwillig gemeldet hatten. Trietsch war auf dem 2. Kongress einer von ihnen. Ebd., S. 13. 7 „Zionist
3.1 Die Bestimmung der Grenzen
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Berliner Ortsgruppe in der ZVfD konstatierte angesichts jener Debatten 1901, die zionistische Bewegung sei „ein junger Most, der sich erst ausgähren“12 müsse. Die verschiedenen Strömungen im Zionismus, die sich ab der vorletzten Jahrhundertwende zum Teil in eigenen Fraktionen organisierten, leiteten ihre jeweiligen Standpunkte auch aus der Grundsatzfrage ab, wo die Heimstätte des jüdischen Volkes künftig liegen sollte.13 Dies führte insbesondere auf dem sechsten und siebten Kongress zu hitzigen Wortgefechten, die auf das Regierungsangebot Londons folgten, ein jüdisches Gemeinwesen auf dem Uasin Gishu Plateau zu gründen. Zwischen 1894 und 1902 gehörte dieses Gebiet zum sogenannten Protektorat Uganda, anschließend zu ,Britisch-Ostafrika‘, heute zum Staat Kenia. Diese und weitere Redeschlachten gipfelten 1905 in der Gründung der Jewish Territorial Organization (ITO), deren Anhängerinnen und Anhänger für jüdische Siedlungen außerhalb Palästinas warben.14 Im Zuge dieser Entwicklung hatte man sich grundsätzlich darüber zu verständigen, wo genau Eretz Israel lokalisiert war. Wie Baruch Kimmerling und Aharon Kellerman gezeigt haben, ging man einer präzisen Bestimmung der Grenzen bei diesen Diskussionen meist aus dem Weg, da sie aufgrund historisch wechselnder Grenzverläufe kein leichtes Unterfangen darstellte.15 Palästina als Teil des Osmanischen Reichs, das als solches bis 1922 bestehen sollte, bildete während der etwas mehr als 400-jährigen Herrschaft Konstantinopels zu keiner Zeit eine eigenständige Einheit. Entsprechend der administrativen Gliederung des Reichs gehörte es zur Provinz Syrien und markierte deren südlichen Teil. Der Süden Syriens, dessen Bezeichnung Filistin (arab. Falastin) aus der türkischen Amtssprache nahezu verschwunden war, teilte sich im 19. Jahrhundert in drei Regierungsbezirke: die Provinz Beirut mit den Städten Beirut, Akko und Nablus im Norden, die Provinz Damaskus östlich des Jordans sowie in den unabhängigen Bezirk Jerusalem, zu dem neben der ,Heiligen Stadt‘ noch Hebron, Jaffa, Gaza und ab 1909 Be’er Sheva im Süden zählten.16 Die administrative Zusammenführung von Syrien und Palästina, die wie der ins Türkische übernommene Begriff Filistin der römisch-byzantinischen Periode (63 v. d. Z.–635 n. d. Z.) entlehnt war, ging auch in das Raumverständnis der Zionist*innen ein.17 So sprachen sie in den frühen Jahren häufig von Palästina und Syrien, wobei sich die Bezeichnung vor allem in Vereinsnamen, Resolutionen und Statuten fand. Zu vermuten bleibt, dass sie in 12 Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des V. Zionisten-Congresses, Wien 1901, S. 59.
13 Auf die einzelnen Gruppen kann hier nicht näher eingegangen werden. Für einen Überblick siehe die Literaturangabe in Anm. 9 sowie die zeitgenössische Darstellung Parteien u. Strömungen im Zionismus in Selbstdarstellungen, hrsg. von der J. A. Verb. „Barissia“, Prag 1931. 14 Alroey, Zionism without Zion, S. 73. 15 Baruch Kimmerling, Zionism and Territory. The Socio-Territorial Dimensions of Zionist Politics, Berkeley 1983, S. 16; Aharon Kellerman, Society and Settlement. Jewish Land of Israel in the Twentieth Century, New York 1993, S. 38. 16 Krämer, Geschichte Palästinas, S. 57. 17 Gideon Biger, „The Names and Boundaries of Eretz-Israel (Palestine) as Reflections of Stages in its History“, in: Kark, The Land that Became Israel, S. 1–22, hier S. 14.
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3. „Greater Palestine“
Auseinandersetzung mit der türkischen Regierung auch aus taktischen Gründen einen größeren Raumzugriff wählten.18 Wie schon angemerkt, gestaltete sich die Einwanderung in andere Provinzen des Reichs, wie Kleinasien oder das östliche Syrien, weniger restriktiv als nach Palästina. Für die Regierung in Konstantinopel minimierte eine Zuwanderung in diese Gebiete die Gefahr eines jüdischen Zentrums in Zion, aus dem sich Ansprüche auf einen autonomen Status oder gar einen ,Judenstaat‘ ableiten ließen. Dies galt es von zionistischer Seite zu berücksichtigen, auch wenn es sich bei ,Palästina und Syrien‘ – wie Trietsch betonte – bloß um eine Redensart handelte, die „niemals vom Standpunkt der jüdischen Kolonisation ernstlich in Betracht gezogen“19 worden sei. Zu einer eigenständigen politischen Entität wurde Palästina erst nach dem Ersten Weltkrieg. Mit der Ratifizierung des Völkerbundsmandats für Palästina im Juli 1922, als dessen Mandatar Großbritannien zeichnete, wechselte das Land offiziell in den Einflussbereich Londons. Die Grenzen des Mandatsgebiets, das rund 23.000 km2 umfasste, womit es in etwa so groß war wie Mecklenburg-Vorpommern, sind mit dem gegenwärtigen Staatsgebiet Israels nicht identisch. So zählten das Westjordanland und der Gazastreifen zum Mandat, ebenso wie das heutige Jordanien, das die Briten 1923 in das Emirat Transjordanien umwandelten. Mit diesem Schritt verlor Palästina weite Teil seines früheren Territoriums, das zu osmanischer Zeit rund 38.000 km2 groß gewesen war.20 Die nördliche und südliche Grenze hin zum Libanon bzw. Ägypten, von der heute nur die ägyptische für israelische Zivilist* innen mit einem Visum passierbar ist, blieb dagegen fast unverändert.21 Die Festlegung der Grenzen nach dem Ersten Weltkrieg orientierte sich, wie unter anderem Markus Kirchhoff gezeigt hat, stark an biblischen Bezügen.22 Richtungweisend war die in der Hebräischen Bibel an insgesamt neun Stellen belegte Formel ,von Dan bis Beerscheba‘, die unter anderem der britische Premierminister David Lloyd George (1863–1945) wiederholt als Richtlinie vorbrachte.23 Die bekannte Formel nahm Bezug auf das Königreich Israel und Judäa unter David und Salomo (ca. 1000–926 v. d. Z.), das Gebiete Jordaniens, Syriens und des Libanon einschloss, womit es ebenfalls größer als das heutige Staatsgebiet Israels war. Das Siedlungszentrum des Reichs, über Jahrhunderte als israelitisches Kernland definiert, reichte im Norden von der Stadt Dan am gleichnamigen Fluss bis nach Be’er Sheva im Süden. In dem späteren Reich der Hasmonäer, das mit dem erfolgreichen 18 Siehe u. a. die Resolution zur Gründung eines ,Bureaus‘ zur ,Erforschung Palästinas und Syriens‘ auf dem 3. Kongress Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des III. ZionistenCongresses, Wien 1899, S. 229. Vgl. auch den vollständigen Vereinsnamen des Esra-Vereins. 19 Davis Trietsch, „Greater Palestine“, S. 157. 20 Alan Dowty zufolge schrumpfte Palästina um ganze 77 %. Diese Zahl ist zu hoch angesetzt. Vgl. Dowty, „The Arab-Israeli Conflict“, S. 93. 21 Biger, „The Names and Boundaries of Eretz-Israel“, S. 20. 22 Markus Kirchhoff, Text zu Land. Palästina im wissenschaftlichen Diskurs 1865–1920, Göttingen 2005, S. 11, 392 f. 23 Gideon Biger, The Boundaries of Modern Palestine, 1840–1947, New York 2004, S. 69, 114.
3.1 Die Bestimmung der Grenzen
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Aufstand gegen die Seleukiden (,Makkabäer-Aufstand‘) 165 v. d. Z. begründet worden war, steckte es ebenfalls das Herzstück jüdischer Siedlungsgebiete ab.24 Neben die historischen Herrschafts‑ und Siedlungsgebiete der Israeliten, die auch von der zionistischen Delegation auf der Friedenskonferenz von Versailles als Richtlinie für die zu gründende jüdische Heimstätte verfochten wurden, trat das von Gott verheißene Eretz Israel.25 Bis in die 1930er Jahre hinein benutzten die Zionistinnen und Zionisten, mit Ausnahme der religiös-orthodoxen, den Begriff nur selten. Sie sprachen für gewöhnlich vom lateinischen Palästina, was auf ihre Anpassung an eine nichtjüdische Sprachpraxis verweist. Dazu kam ein handlungsorientierter Gegenwartsbezug, der in eine zionistische Zukunft weisen sollte. Trietsch etwa verstand unter Eretz Israel, das auch er bis zu seiner Emigration nach Palästina kaum im Munde führte, „das Land der alten Erinnerungen“, während Palästina den „Schauplatz unseres neuen Aufbaus“26 markierte. Die Grenzen des alten Eretz Israel, später dann auch offizieller Titel des britischen Mandatsgebiets Palestine/Eretz-Israel (E. I.), waren nicht klar gezogen.27 Zu ihm zählten im Wesentlichen das heutige Israel/Palästina, Jordanien, der Libanon und weite Teile Syriens.28 Von den verschiedenen, sich teils widersprechenden Angaben hinsichtlich der Lage und Größe des Landes erlangte ein Abschnitt in 1. Mose (Gen 15,18) besondere Popularität. Dort heißt es, die Grenzen des Landes, das Abraham und seinen Nachkommen von Gott gegeben wurde, hätten „von dem Strom Ägyptens bis an den großen Strom, dem Euphrat“ gereicht.29 Eine solche territoriale Ausdehnung nach Nordosten (Irak) und Süden (Ägypten, Saudi-Arabien) ging auch in die zionistische Debatte ein. So diskutierten Zionistinnen und Zionisten, ob es sich bei dem ,Strom Ägyptens‘ um den Nil oder um den auf der Sinai-Halbinsel befindlichen Wadi al-Arish handelte – ein Flusslauf mit vielen Seitenarmen, der rund 45 Kilometer südwestlich der Stadt Rafah ins Mittelmeer mündet.30 Wie die jüngere Forschung verorteten die meisten die biblische Grenze zwischen Ägypten und Eretz Israel entlang des Wadi al-Arish. Unter ihnen war es besonders Trietsch, der diesen Grenzverlauf wiederholt zur Sprache brachte.31 Of24 Krämer,
Geschichte Palästinas, S. 20, 23. Troen, „Israeli Views of the Land of Israel/Palestine“, in: Israel Studies 18 (2013), Nr. 2, S. 100–114, hier S. 102 f.; Yoram Bar-Gal, „The Blue Box and JNF Propaganda Maps, 1930– 1947“, in: Israel Studies 8 (2003), Nr. 1, S. 1–19, hier S. 4. 26 Davis Trietsch, „Wege nach Palästina“, in: Moriah 1 (1925), Nr. 3/4, S. 3–6, hier S. 3. Der Begriff wurde (und wird) in unterschiedlichen Kontexten benutzt, was schon damals zu Diskussionen führte. Siehe u. a. Ludwig Köhler, „Eine Frage betreffs des Ausdrucks ,Erez Israel‘“, in: Palästina 7 (1910), Nr. 4–5, S. 87. 27 S. Ilan Troen/Shay Rabineau, „Competing Concepts of Land in Eretz Israel“, in: Israel Studies 19 (2014), Nr. 2, S. 162–186, hier S. 162 f. 28 Krämer, Geschichte Palästinas, S. 16. 29 Benjamin Zietler, Abram – Abraham. Kompositionsgeschichtliche Untersuchungen zu Genesis 14, 15 und 17, Berlin, New York 2005, S. 242. Siehe auch W. D. Davies, The Territorial Dimension of Judaism, Berkeley, London 1982, S. 8–10. 30 Biger, „The Names and Boundaries of Eretz-Israel“, S. 6. 31 Siehe B. Ebenstein [Davis Trietsch], „Ein vergessenes Stück Palästina“, in: Ost und West 1 25 S. Ilan
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3. „Greater Palestine“
fenbar auf sein Betreiben erklärte der Delegiertentag der deutschen Zionist*innen 1901, es sei der Wadi al-Arish, der den „südöstlichen Theil des alten Palästina“ umfließe.32 Der israelische Publizist Uri Elitzur (1946–2014) hat einmal behauptet, dass der Zionismus ohne die biblische Erzählung „nichts weiter [sei] als eine kolonialistische europäische Siedlungsbewegung.“33 Auch wenn die pauschale Gleichsetzung Elitzurs, der einer nationalreligiösen Erneuerungsbewegung in Israel angehörte, eine historische Verortung und Differenzierung des säkularen Zionismus vermissen lässt, markiert sie den großen Stellenwert der Hebräischen Bibel. Diese stellte für die Zionistinnen und Zionisten in der Tat die zentrale Quelle dar, mittels derer sie eine moderne „Territorialisierung von [jüdischer] Identität“34 legitimieren konnten, die sich mit einer geschichtsmächtigen, geotheologischen Erinnerungslandschaft verband. Der Tanach fungierte so über die Jahrhunderte als ein identitätsstiftendes Zeugnis, aus dem heraus sich Jüdinnen und Juden in der Diaspora ein lebendiges Bild von der einstigen Heimat erschloss, das sie emotional an Orte band, die sie selbst nie gesehen hatten. Diese geteilte Topografie, aus der sich das kollektive jüdische Gedächtnis bis heute speist, hob auch Herzl in seiner Eröffnungsrede auf dem zweiten Zionist*innenkongress 1898 hervor: „Wenn es überhaupt legitime Ansprüche auf ein Stück der Erdoberfläche gibt, so müssen alle Völker, die an die Bibel glauben, das Recht der Juden anerkennen.“35
Das Ziel der modernen Palästinaforschung war es, die biblische Topografie nach wissenschaftlichen Kriterien zu lokalisieren und zu erforschen. Als eine Hilfswissenschaft der Theologie hatte sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa institutionell etabliert. Bedeutende Impulse gingen dabei von Großbritannien aus.36 In Deutschland kam es 1877 zur Gründung des Deutschen PalästinaVereins (DVP), dessen Ziel die Erforschung eines christlich ausgedeuteten Heiligen Landes war.37 Die protestantisch geprägte ,Palästinakunde‘, die jedes Jahr viele Abhandlungen und topografische Karten herausgab, ermöglichte interessierten (1901), Nr. 1, Sp. 49–54; ders., „Aegyptisch-Palästina“, in: Die Welt 5 (1901), Nr. 46, S. 4 f.; ders., „Terra Incognita“, in: Die Welt 10 (1906), Nr. 30, S. 9 f.; ders.: „Der äußerste Südwesten Palästinas“, in: Palästina 1 (1902), Nr. 1, S. 27–30. 32 „Delegiertentag deutscher Zionisten“, in: Die Welt 5 (1901), Nr. 20, S. 6 f., hier S. 7. 33 Joseph Croitoru, Der Neozionismus. Ohne die Bibel sind wir Kolonialisten, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. 6. 2019, abrufbar unter: https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/ debatte-ueber-den-neozionismus-in-israel-16219895.html (Zugriff 12. 3. 2022). 34 Anna Lipphardt/Julia Brauch, „Gelebte Räume – Neue Perspektiven auf jüdische Topographien“, in: Petra Ernst/Gerald Lamprecht (Hg.), Jewish Spaces. Die Kategorie Raum im Kontext kultureller Identitäten, Innsbruck, Wien, Bozen 2010, S. 13–32, hier S. 17. 35 Stenographisches Protokoll (1898), S. 7. 36 Kirchhoff, Text zu Land, S. 20 f., 313. 37 Ebd., S. 161 f. Zum DVP, dessen Ziel weiterhin die „Erforschung der Geschichte und Kultur Palästinas, insbesondere seiner biblischen Vergangenheit“ ist, s. die Homepage des Vereins http://www.palaestina-verein.de/wp/wordpress/.
3.1 Die Bestimmung der Grenzen
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Kreisen, sich wie über kein zweites außereuropäisches Land ein detailliertes Bild von Palästina machen zu können. Die Zionistinnen und Zionisten waren somit weder die erste noch einflussreichste Gruppe, die um 1900 auf eine wissenschaftliche Durchdringung Palästinas zielte. Vielmehr machten sie sich die von nichtjüdischen Organisationen schon erarbeiteten Wissensbestände zu eigen, die sie ihrer Agenda entsprechend adaptierten.38 Auch Trietsch wies besonders in seinen frühen Texten auf Arbeiten christlicher Palästinawissenschaftler hin. Ein solcher Zugriff kannte aber auch die entgegengesetzte Richtung, wenn Texte zionistischer Autoren von der nichtjüdischen Palästinaforschung rezipiert wurden. In der Vereinszeitschrift des DVP erschienen beispielsweise mehrere wohlwollende Besprechungen von Trietschs Werken.39 Im Gegensatz zum modernen Zionismus, der eine gegenwärtige Besiedlung des Landes erstrebte, konzentrierte sich die traditionelle Palästinaforschung auf sakrale Erinnerungsorte der christlichen Tradition.40 Von Interesse waren für sie einzelne biblische Orte, entlang denen sich das Urchristentum räumlich abstecken ließ. Die Zionist*innen sahen sich dagegen vor die Frage gestellt, in welchen diesseitigen Grenzen ihr ,Aufbauwerk‘ erfolgen sollte. Die Territorialität Palästinas erwies sich hierbei als äußerst flexibel, da es außer seiner westlichen Grenze, dem Mittelmeer, kein abgeschlossenes, naturräumliches Ganzes bildete.41 Diese geografische Lage, die mit Ausnahme von Inseln und dem Kontinent Australien auf alle heutigen Staaten der Welt zutrifft, führte zusammen mit den teils widersprüchlichen biblischen Quellen und einer changierenden Administration dazu, dass Palästinas Grenzen nicht eindeutig umrissen waren. Während sich die Mehrheit der Zionistinnen und Zionisten am israelitischen Kernland ,von Dan bis Beerscheba‘ orientierte, zog Trietsch aus dieser territorialen Unbestimmtheit ein flexibles Raumdenken. Gerade weil die Grenzen Palästinas verschieden ausgelegt werden konnten, war ihm zufolge eine größere Toleranz an den Tag zu legen: „Und wenn wir heute eine vernünftige Definition der Grenze geben sollen, so sind wir darauf angewiesen, aus der alten Geschichte, aus der gegenwärtigen administrativen Einteilung der Türkei, aus den Kulturverhältnissen und aus mancherlei Traditionen eine Grenze zu kombinieren. Trotz dieser etwas unbestimmten Grundlage läßt sich eine Abgrenzung dessen, was wir als Palästina anzusehen haben, geben, die von keiner Seite irgendwie wesentlich angefochten wird, während andererseits das oben Gesagte auch zeigt, daß gegenüber weiteren Auffassungen vom jüdischen Landbereiche nur Toleranz am Platze sein kann.“42 38 Markus Kirchhoff, „Von der Landeskunde zur Nationalstaatsbildung. Palästinawissenschaft, jüdische Partizipation und zionistische Adaption“, in: Becke/Brenner/Mahla, IsraelStudien, S. 19–38, hier S. 21. 39 Siehe die Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 35 (1912), Nr. 4, S. 218–220, die allein drei Rezensionen zu Trietsch veröffentlichte. 40 Kirchhoff, Text zu Land, S. 391. 41 Gideon Biger, „The Boundaries of Israel-Palestine. Past, Present, and Future: A Critical Geographical View“, in: Israel Studies 13 (2008), Nr. 1, S. 68–93, hier S. 68 f. 42 Trietsch, Palästina-Handbuch (1912), S. 14 [Hervorh. im Original].
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3. „Greater Palestine“
3.2 Davis Trietsch und sein Raumkonzept Greater Palestine Die im Alltag von Menschen durchschrittenen und erfahrenen Räume, sei es das eigene Wohnzimmer, der Arbeitsplatz oder der Supermarkt, basieren wie alle räumlichen Konfigurationen – hierzu zählen gleichermaßen Großräume wie Städte und Länder – auf sozialen Konstruktionen. Räume bilden somit keine natürlichen Ganzheiten, sondern sind das Resultat gesellschaftlicher Produktions‑ und Reproduktionsprozesse und damit sozial definiert.43 Dies bedeutet nicht, dass Räume über keine physisch-materielle Seite verfügen. Unabhängig von dieser lassen sich jedoch unterschiedliche Räumlichkeiten aus einem Raum hervorbringen. Seine Nutzung ist ebenso wie seine Bedeutung wandelbar, da beide diskursiven Dynamiken unterliegen.44 Der kontingente Konstruktionscharakter von Räumen, die sich laut Susanne Rau „zwischen Stube und Weltall“45 in diversen Formationen (geografische Räume, Sprachräume, Sakral‑ und Herrschaftsräume) manifestieren können, legt so den Blick auf die Vorstellungswelten historischer Gesellschaften frei. Aus der Art und Weise, wie Räume von ihnen gedacht und bespielt wurden, lassen sich Rückschlüsse auf kollektive Gedächtnisleistungen, zeittypische Werte und Normen sowie soziale Hierarchien ziehen – oder wie der Geograf Friedrich Ratzel (1844– 1904) einst postulierte: „Im Raume lesen wir die Zeit“.46 Ein gutes Beispiel für ein verräumlichtes Weltbild gibt der sogenannte Orient. Sein Territorium wurde und wird unterschiedlich abgesteckt, da es den Orient an sich nicht gibt. Stattdessen verbinden sich mit ihm diverse Bilder und (Vor) Urteile, die je nach Wahrnehmungsinteresse der Betrachtenden im Kontext ihrer Zeit variieren können. Am Beispiel des Imaginationsraums Orient lassen sich demzufolge zeitgenössische Differenzwahrnehmungen rekonstruieren, die wie in einem „Kabinett der Selbstbespiegelung“ (Jürgen Osterhammel) Orientierung boten.47 Räume werden einerseits durch Menschen geformt, andererseits wirken sie auf sie zurück.48 Dies trifft im Falle der Zionistinnen und Zionisten sowohl auf den Orient als auch auf Palästina zu. Ihre Zukunftsvisionen hinsichtlich beider 43 Georg Glasze/Annika Mattissek, „Diskursforschung in der Humangeographie. Konzeptionelle Grundlagen und empirische Operationalisierungen“, in: dies. (Hg.), Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial‑ und kulturwissenschaftliche Raumforschung, Bielefeld 2009, S. 11–59, hier S. 40–43. 44 Ein gutes Beispiel ist das Ghillie Dhu in Edinburgh. Ursprünglich 1843 als Kirche gegründet, beherbergt es heute ein Restaurant und Pub, nachdem das Gotteshaus zuvor als Casino und Informationscenter genutzt worden ist. http://www.scottish-places.info/features/ featurefirst90071.html (Zugriff 12. 3. 2022). 45 Susanne Rau, Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen, 2. erw. Aufl., Frankfurt a. M., New York 2017, S. 7. 46 Zit. nach Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, Frankfurt a. M. 2006, S. 10. 47 Osterhammel, Die Entzauberung Asiens, S. 21. 48 Ingrid Baumgärtner u. a., „Raumkonzepte. Zielsetzung, Forschungstendenzen und Ergebnisse“, in: dies. (Hg.), Raumkonzepte. Disziplinäre Zugänge, Göttingen 2009, S. 9–25, hier S. 12.
3.2 Davis Trietsch und sein Raumkonzept Greater Palestine
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leiteten sich von einer zu ihrer Zeit prägenden Raumwahrnehmung ab, deren geografische Ausdehnung entlang aktueller administrativer Grenzen verlief, die wiederum von wirkmächtigen Narrativen jüdischer Tradition überlagert waren. Palästina stellte somit wie der Orient einen wandelbaren, mit Geschichte und Sinn angereicherten Raum dar, der über mehrere Konstitutionsebenen verfügte. Wie das letzte Zitat von Davis Trietsch bezüglich der Grenzen Palästinas offenbart, versuchte er diese Ebenen, selektiv für das zionistische Projekt zu nutzen, indem er zu einer größeren territorialen Offenheit aufrief. Die von ihm vorgestellte Verräumlichung Palästinas war dadurch geografisch flexibler als diejenige der meisten Zionist*innen, ihre identitätsstiftende Bedeutungsebene dagegen nicht weniger exklusiv: Palästina wurde auch von Trietsch, in ferner Vergangenheit wie in naher Zukunft, als jüdisch definiert. Eine zentrale Rolle bei der Konstruktion von Räumen spielt die Sprache. Sie ist mehr als nur ein Medium zur Erfassung unserer erzählten Welt, sondern bringt diese erst hervor.49 Das zeitgeistige Raumvokabular, interpretiert als ein sich wandelnder sprachlicher Sinngebungsprozess, ermöglicht daher ebenfalls Einblicke in die Verfasstheit historischer Gesellschaften. Entlang welcher Begriffe wurde soziale Wirklichkeit produziert und reproduziert? In welchem Kontext wurden sie gebraucht und von wem? Welchen Kommunikationsregeln folgten sie? Diese und weitere Fragen, die eine kritische Analyse von Sprache vor der Folie eines relationalen Bezugssystems in Gang zu setzen vermögen, wie es der Strukturalismus (als Methode der Linguistik), die Sprechakttheorie und die Semiotik verfolgen, lassen sich auch auf das Vokabular der Zionistinnen und Zionisten anwenden. Eine systematische Analyse der von ihnen verwendeten und zu ihrer Zeit auch außerhalb der Bewegung gebräuchlichen Begriffe steht noch aus. Erste Impulse gab bereits der eingangs erwähnte Romanist Victor Klemperer, der in seiner LTI Parallelen zum völkischen Vokabular zog.50 Wie sehr das Denken und Handeln der Zionist*innen vom Geist ihrer Zeit durchdrungen war, lässt sich gerade über die Sprachpraxis anschaulich zeigen, so am Beispiel des Begriffs ,Menschenmaterial‘. Er zirkulierte bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs und teils darüber hinaus meist unreflektiert, ehe ihn 1999 eine sprachkritische Aktion zum ,Unwort des 20. Jahrhunderts‘ wählte.51 Während Theodor Herzl an einer Stelle seines Judenstaats die Bemerkung fallen ließ, es handele sich um einen „etwas rohe[n] Ausdruck“52, hinterfragte Trietsch den Begriff wie die meisten seiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen nicht.
49 Glasze/Mattissek,
„Diskursforschung in der Humangeographie“, S. 35. Klemperer, LTI, S. 255–272. 51 Der Begriff wurde gewählt, da er Menschen auf zynische Art und Weise nach ihrem vermeintlichen ,Materialwert‘ bemisst. Gottfried Oy, Unwort des Jahres 1999: „Kollateralschaden“, Unwort des 20. Jahrhunderts: „Menschenmaterial“, 25. 1. 2000, unter: https://idw-online.de/de/ news17376 (Zugriff 12. 3. 2022). 52 Herzl, Der Judenstaat, S. 26. 50
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3. „Greater Palestine“
Hinsichtlich der Verwendung zeittypischer Termini lässt sich auch Trietschs Greater Palestine analysieren. Unter den deutschsprachigen Zionistinnen und Zionisten war die Bezeichnung nicht geläufig, während sie in einzelnen englischen Quellen am Ende des 19. Jahrhunderts zu finden ist. So lässt sich der Begriff erstmals in drei Leserbriefen nachweisen, die 1891 im Jewish Chronicle (JC) abgedruckt wurden.53 Ihre Veröffentlichung im JC, 50 Jahre zuvor in London gegründet und heute die älteste, durchgängig erscheinende jüdische Zeitung, folgte auf einen kritischen Kommentar. Darin war die Gründung des ersten Chovevei Zion-Vereins in England heftig kritisiert worden.54 Ein gewisser I. M. Trachtenberg schloss sich der Kritik insofern an, als er eine jüdische Einwanderung nach Palästina zwar nicht ablehnte, anders als die Chovevei Zion, aber weitere Aufnahmeländer favorisierte. Zusammen mit Palästina bildeten sie ihm zufolge ein „Greater Palestine“55, das über territoriale Grenzen hinweg überall dort in Erscheinung trat, wo Jüdinnen und Juden lebten. Der Begriff wurde von Trachtenberg nicht näher definiert, dafür in einem anderen Leserbrief aufgegriffen. Der Autor mit dem Kürzel E. O. J. verband mit Greater Palestine ebenfalls das Volk und nicht das Land. Er hob auf die Berufung der Jüdinnen und Juden als das von Gott auserwählte Volk ab und stilisierte Greater Palestine kurzerhand zu einer „great sphere of a great and wide extending mission“56. Die Vorstellung, das Leben in der jüdischen Diaspora böte die Essenz für ein Greater Palestine, wie es in einem weiteren Artikel aus dem Jahr 1912 hieß, teilte Trietsch nicht.57 Für ihn verkörperte die jüdische Diaspora ein unnatürliches Gebilde, das auf eine ,Pulverisierung‘ des Judentums hinauslief. Der Begriff Greater Palestine wurde von ihm somit in einem konträren Bedeutungskontext verwendet, indem es ein Landgebiet begrifflich vorwegnahm, das künftig von einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit bewohnt werden würde. Ob Trietsch die Bezeichnung aus englischsprachigen Medien wie dem JC geläufig war, bleibt unklar. Da er sich allerdings erst ab Mitte der 1890er mit einer koordinierten jüdischen Auswanderung beschäftigte, dürfte er zumindest die Diskussionen um den Begriff 1891 nicht verfolgt haben. Es ist anzunehmen, dass es sich in Trietschs Wahrnehmung um eine eigene Wortschöpfung handelte, die an Begriffe erinnerte, die ihm während seines Aufenthalts in New York begegnetet waren. In erster Linie dürfte hierzu die 1898 eingeführte administrative Bezeichnung Greater New York zählen. Der Ausdruck, der in prägnanter Form die Eingemeindung bislang unabhängiger Städte wie Brooklyn 53 „Correspondence“, in: The Jewish Chronicle, 10. 4. 1891, S. 9 f., hier S. 9 sowie die beiden Ausgaben vom 24. 4. 1891 (S. 14) und 1. 5. 1891 (S. 6). 54 „The Chovevei Zion Society – A Protest and a Warning“, in: ebd., 3. 4. 1891, S. 6 f. 55 „Emigration en masse, and nothing short of it, is the only remedy for the Russian evil; but not emigration en masse into Palestine (that would be madness) but into Greater Palestine, for our Palestine is the wide, wide world.“ „Correspondence“ (10. 4. 1891), S. 9. 56 „Correspondence“ (24. 4. 1891), S. 14. 57 „Remembering Zion“, in: The Tribune, 14. 7. 1912, S. 4.
3.2 Davis Trietsch und sein Raumkonzept Greater Palestine
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bezeichnete, könnte ihm derart probat erschienen sein, dass er ihn in späteren Jahren auch auf Tel Aviv anwandte. In Trietschs Korrespondenz finden sich jedenfalls Hinweise darauf, dass er um die Jahreswende 1926/27 mit dem Architekten Alexander Levy das Projekt eines Greater Tel Aviv verfolgte.58 Levy, ein großer Bewunderer von Trietsch, der sich in der Zwischenkriegszeit ebenfalls von der ZO und ihrem vermeintlich „minimalistischen und ackerbürgerlichen Geist“59 distanziert hatte, suchte im Januar 1927 Meir Dizengoff (1861–1936) auf. Der erste Bürgermeister von Tel Aviv, den Levy als „einzige kolonisatorische Potenz“60 würdigte, dürfte Trietsch noch von dem früheren Projekt eines ,Informationsbüros für Palästina‘ (Kapitel 4.3) gekannt haben. Er war nun von einem Größeren Tel Aviv zu überzeugen, das mit den umliegenden jüdischen Kolonien fusionieren sollte. In einer nördlichen und östlichen Ausdehnung von 20 bis 30 Kilometern konnte dort Trietsch zufolge eine Million Menschen Platz finden, die eine „Majorität für ganz Palästina“61 sichern würde. So gesehen bildete Greater Tel Aviv das urbane Herzstück seines Greater Palestine. Der Plan wurde in Tel Aviv offenbar nicht positiv aufgenommen. Levys Visionen einer künftigen Metropolregion, die unter anderem ein europäisches Hollywood vorsahen, erforderten Gelder, die nicht vorhanden waren. Trietsch zog sich daraufhin von dem Gemeinschaftsprojekt zurück. An Levy, sein „liebwerter Zeitgenosse“, schrieb er im Februar 1927: „Wenn ich heute von Greater Tel Aviv oder ähnlichen Dingen in der Öffentlichkeit reden würde, so ist das Risiko schwer zu vermeiden, dass gerade durch eine solche Publizität eines von zwei unerwünschten Resultaten (wenn überhaupt eines) entstehen könnte, nämlich dass entweder alle möglichen spekulativen Köpfe die Sache aufgreifen und unter Umgehung der Initiatoren aus der grossen schönen Sache einen kleinen Privatschwindel machen – oder aber, dass der Anklang, den die Sache findet, bis nach Palästina klingt und die Preise derart in die Höhe treibt, dass die ganze Sache dadurch erschwert oder unmöglich gemacht wird.“62
Beide Szenarien sollten sich zum Teil bewahrheiten. So stiegen die Miet‑ und Kaufpreise in Tel Aviv in der Tat rasant an, allerdings schon ab Mitte der 1920er Jahre und damit vor den Plänen eines Greater Tel Aviv. Die steigenden Preise hemmten das Wachstum der Stadt allerdings nicht. Stimmen, die ein Greater Tel Aviv beim Namen aufgriffen und befürworteten, waren ab Mitte der 1930er Jahre dagegen tatsächlich immer öfter in Palästina zu hören.63 Zu einer administrativen Realität wurden die Visionen von Trietsch und Levy aber erst nach 1948, als der Tel Aviv 58 Siehe
v. a. die Korrespondenz zwischen Trietsch und Levy in CZA, A104/18.
59 Alexander Levy, „Die ,Wahrheit über Palästina‘“, in: Die Weltbühne 22 (1926), Nr. 40, S. 527–
532, hier S. 532; Alexander Levy an Davis Trietsch, 24. 4. 1927. CZA, A104/18. 60 Zitiert aus der Gliederung des Vortrags, gehalten am 14. 1. 1927 in Tel Aviv. CZA, A104/18. 61 Typoskript von Davis Trietsch, unvollst. und o. Titel [1927], 2 Seiten, hier S. 2. Ebd., A104/64. 62 Davis Trietsch an Alexander Levy, 23. 2. 1927. Ebd., A104/18. 63 So etwa 1935 auf der 15. Jahresversammlung der Association of Architects and Engineers in Palestine, auf der ein „greater Tel Aviv, extending from Rishon le Zion to Petah Tikva“ gefordert
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3. „Greater Palestine“
District gegründet wurde. Einer von heute sechs Bezirken in Israel, in dem rund 1,4 Millionen Menschen auf einer Gesamtfläche von 186 km2 leben.64 Als Teil der Tel Aviv Metropolitan Area (hebr. Gush Dan), die in einem Radius von 60 Kilometern 3,9 Millionen Bewohner*innen zählt, bildet er das wirtschaftliche Zentrum Israels.65 Die beiden Namen von Trietsch und Levy als Vordenker dieses urbanen Ballungsraums, der teilweise Greater Tel Aviv66 genannt wird, fanden keinen Eingang in die Historiografie. Beide werden nur in Bezug auf einzelne Bauprojekte und die sogenannte Gartenstadtidee, die den ideellen Rahmen bei der Gründung Tel Avivs absteckte, erwähnt.67 Mit der Stadtgründung Tel Avivs wird Trietsch in keinen Zusammenhang gebracht, obwohl er für die geplante Gesellschaft Achusat Bayit, die 1908 den Grundstein für die Stadt legte, das erste Gründungsmemorandum verfasst haben soll.68 Die spätere Tilgung seines Namens im Falle von Greater Tel Aviv dürfte Trietsch somit nicht verwundert haben, da er, wie er gegenüber Levy monierte, schon mehrmals von anderen Mitstreitenden übergangen worden sei. Trietschs erste Publikation zum Themenkomplex Greater Palestine erschien im September 1899 in der Zeitung Die Welt am Montag, für die namhafte Autoren wie Franz Oppenheimer schrieben.69 Der Pädagoge und Schriftsteller Adolf Damaschke, Leitfigur der Bodenreform in Deutschland, hatte das Berliner Blatt 1896 gegründet.70 Sein Interesse weckten nicht nur genossenschaftliche Gemeinschaften, damals Kern der Bodenreformbewegung, sondern offenbar auch territoriale Alternativkonzepte wie das eines ,Größeren Palästina‘.71 Trietschs Artikel, der die wurde. „Architects in the Communal Structure. The Building Problems of Tel Aviv“, in: The Palestine Post, 29. 12. 1935, S. 3. 64 Für aktuelle Zahlen siehe das israelische Central Bureau of Statistics http://www.cbs.gov. il/reader. 65 Zur Einwohnerzahl der Metropolregion Tel Aviv – Gush Dan siehe https://www.tel-aviv. gov.il/en/abouttheCity/Pages/CityinNumbers.aspx (Zugriff 12. 3. 2022). 66 Baruch A. Kipnis, „Greater Tel Aviv as a Global City: A Node in a Global Network and a Dominating Entity in Israel’s National Space“, in: ders. (Hg.), Tel Aviv – Yafo. Mi-parvar ganim le-ir olam. Me’ah ha-shanim ha-rishonot [Tel Aviv – Jaffa. Von einem Gartenvorort zu einer Weltstadt. Die ersten 100 Jahre], Haifa 2009, S. 228–260 (Hebräisch). 67 Beide Namen fallen bspw. mehrmals in Bigon/Katz, Garden Cities. 68 Trietsch hatte das Memorandum für Akiva Arieh Weiss (1868–1947) verfasst, der als Gründungsvater von Tel Aviv gilt. Weiss soll es dann an die JCA weitergeleitet haben. Diese Information verdankt sich Ernst Herrmann, dem Weiss persönlich davon erzählt haben soll. Ernst Herrmann an Davis Trietsch, 14. 3. 1929. CZA, A104/5. Trietsch wiederum bestätigte Herrmann, für Weiss gearbeitet zu haben und zeigte sich an einer Abschrift des Memorandums, das ihm nicht mehr vorlag, interessiert. „Vielleicht“, so Trietsch, sei es „bereits in einer Jubiläumsschrift veröffentlicht.“ Davis Trietsch an Ernst Herrmann, 20. 3. 1929. Ebd. 69 Davis Trietsch, „Das größere Palästina“, in: Die Welt am Montag, 3. 9. 1899. Trietsch zitierte den Artikel in Die Judenfrage und Vorschläge zu ihrer Lösung (1904). 70 Zu Damaschke siehe Klaus Hugler, Adolf Damaschke: Gesinnung und Tat. Versuche zum Verständnis und zur Deutung des Lebenswerkes eines deutschen Bodenreformers, Cottbus 2015; ders., Adolf Damaschke und Henry George. Ansätze zu einer Theorie und Politik der Bodenreform, Marburg 2005. 71 Elisabeth Meyer-Renschhausen/Hartwig Berger, „Bodenreform“, in: Diethart Kerbs/Jür-
3.2 Davis Trietsch und sein Raumkonzept Greater Palestine
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deutsche Bezeichnung im Titel führte, die er später meist durch das englische Greater Palestine ersetzte, erschien zwei Wochen nach seiner Teilnahme am dritten Kongress in Basel.72 Dort war er das erste Mal vor einer Delegiertenversammlung auf Zypern zu sprechen gekommen, nachdem er im Juni bereits einen Aufruf zur Besiedlung der Insel veröffentlich hatte.73 Anstatt wie bislang nur von Palästina und Syrien zu sprechen, zu denen damals auch die christlich geprägte autonome Provinz Libanon zählte, die sich für eine jüdische Niederlassung Trietsch zufolge nicht eignete, forderte er: „Wir brauchen ein grösseres Palästina. Nur haben wir die Vergrösserung in falscher Richtung gesucht. Länder trennen, Meere verbinden. Sie wissen bereits, dass ich Cypern im Auge habe.“74
Seine Hoffnung, die Delegierten mochten Zypern auf dem Kongress in ihr Arbeitsprogramm aufnehmen und damit einen „gewaltigen Umschwung“75 einleiten, wurde bitter enttäuscht. Unter stürmischen Schlussrufen und nach einer Abstimmung, die ergeben hatte, dass die Mehrheit der Teilnehmenden seine Rede nicht zu Ende hören wollte, musste Trietsch die Rednertribüne verlassen. Noch Jahre später erinnerte er sich, wie sein Zypern-Vorschlag „von der Gesamtheit des Kongresses in der temperamentvollsten Weise abgelehnt“76 worden sei. Geht man die stenografischen Protokolle und die an den Kongress anschließende Berichterstattung durch, dann waren es vor allem russische Delegierte, die ihm das Wort abgeschnitten hatten. Die von Trietsch das erste Mal auf einem Kongress zur Diskussion gestellte Besiedlung Zyperns dürfte von ihnen deshalb so ostentativ abgelehnt worden sein, da sie – viele von ihnen waren langjährige Chovevei Zion – am biblischen Palästina als dem Leitstern ihres Zionismus festhielten. So betonte der im belarussischen Dubrouna geborene Menachem Ussischkin (1863–1941) in seiner Agitationsschrift Unser Programm (1904), die zionistischen Aktivitäten hätten sich in erster Linie auf „Palästina im engen Sinne, d. h. das biblische Palästina“77 zu beziehen und erst in zweiter Linie auf umliegende Länder. Wie seine Vorredner gab allerdings auch Ussischkin kein genaues Bild davon, in welchen gegenwärtigen Grenzen das von ihm postulierte Palästina lag. Trietsch, der über ein konfliktgestähltes Seelenkostüm verfügte, hielt dagegen an seinen Plänen fest. Im Anschluss an sein missglücktes Referat zog er sich nicht entgen Reulecke (Hg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Wuppertal 1998, S. 265–276, hier S. 271. 72 Trietsch, „Greater Palestine“. Der Artikel wurde außerdem abgedruckt in: Dr. Bloch’s Öster reichische Wochenschrift 19 (1902), Nr. 44, S. 708–710. 73 Davis Trietsch, „Geehrter Herr Redacteur.“, in: Die Welt 3 (1899), Nr. 22, S. 6. 74 Stenographisches Protokoll (1899), S. 232. 75 Ben-David [Davis Trietsch], „Der Zionismus und die Judenwanderung“, in: Die Welt 3 (1899), Nr. 30, S. 8. 76 Trietsch, Jüdische Emigration und Kolonisation, S. 379 f.; „New York Delegate Raises a Storm by Advocating Cyprus as a Refuge for the Jews“, in: Chicago Tribune, 19. 8. 1899, S. 3. 77 Menachem Ussischkin, Unser Programm, Wien, Leipzig 1904, S. 13.
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3. „Greater Palestine“
täuscht zurück, sondern arbeitete mit großem Eifer von Berlin aus weiter, wo er seit Frühsommer 1899 lebte. Die deutsche Hauptstadt verkörperte für ihn das „Zentrum für alljüdische Angelegenheiten“78, in dessen zahlreichen Restaurants, Cafés und Vereinsräumen sich viele neue Kontakte zu gleichgesinnten Akteur*innen knüpfen ließen. Mit seinem Umzug nach Berlin tauchte Trietsch in die vielseitige jüdische Kulturtopografie einer pulsierenden Großstadt ein, an der seit den 1880er Jahren auch zionistische Gruppen regen Anteil nahmen.79 Während Köln, wo sich die Zentrale der ZVfD befand, als Hauptstadt des organisierten deutschen Zionismus firmierte, erwies sich die Reichshauptstadt als zentraler Sammelpunkt für zionistische Aktivistinnen und Aktivisten. Bis zur Auflösung der ZVfD im Zuge der antisemitischen Novemberpogrome 1938 lebten ihre meisten Mitglieder in Berlin.80 Die Organisation zählte vor dem Ersten Weltkrieg nicht mehr als 9000 Mitglieder, von denen rund 3500 in Berlin lebten. Bei einer jüdischen Gesamtbevölkerung von rund 615.000 (1910) stellten die deutschen Zionistinnen und Zionisten somit lediglich eine Minderheit innerhalb einer Minderheit dar – wenngleich ihre Gesamtzahl etwas höher anzusetzen ist, da einige Akteur*innen wie Trietsch zeitweise außerhalb der Organisation standen.81 Trotz ihrer geringen Zahl – zum Vergleich: Der CV zählte 1913 rund 35.000 Mitglieder82 – etablierten die Zionistinnen und Zionisten einen vielfältigen Aktionsraum in Berlin. An der Entwicklung dieses weitverzweigten Netzwerks, das Frank Schlöffel einen „zionistischen Archipel“83 genannt hat, wirkte Trietsch maßgeblich mit. Neben seiner Mitherausgeberschaft mehrerer bekannter Zeitschriften, darunter die schon erwähnte Wochenschrift Ost und West, war er 1902 an der Gründung des Jüdischen Verlags (JV ) beteiligt. Das Verlagsprogramm des JV, der seit 1990 zum Suhrkamp Verlag gehört und als dessen erster Geschäftsführer Trietsch zeichnete, war stark an die Inhalte von Ost und West angelehnt. Demnach setzte es ebenfalls auf eine Vermittlung jüdischer, vor allem jiddischer und hebräischer, Literatur, Kunst und Musik.84 Das Mitwirken von Trietsch an der Wiederentdeckung und Neuformulierung jüdischer Kulturwerte mag auf den ersten Blick nicht in sein kolonialistisches Aktionsprogramm passen. Als ein „Fanatiker der Sachlichkeit“, dessen „Liebe zur Sache in Erforschungen des Tatsächlichen, in Statistik und Tabellen“ gründete, wie 78 Trietsch,
Jüdische Emigration und Kolonisation, S. 380. den Produktionsstätten zionistischer Kultur in Berlin siehe v. a. Schäfer, Berliner Zionistenkreise. 80 Zur numerischen Bedeutung Berlins siehe Eloni, Zionismus in Deutschland, S. 75, 122. 81 Lavsky, Before Catastrophe, S. 22. Die ZVfD hatte 1901 2.200 Mitglieder. 1911/12 waren es 7.442 und weitere zehn Jahre später (1921/22) 18.145. Poppel, Zionism in Germany, S. 176 f. 82 Hinzu kamen noch ungefähr 200.000 korporierte Mitglieder. Reinharz, „’Deutschtum‘ and ‚Judentum‘“, S. 22. 83 Schlöffel, Heinrich Loewe, S. 36. 84 Schenker, Der Jüdische Verlag, S. 49, 537–605. Zu Ost und West siehe Gavriel D. Rosenfeld, „Defining ‚Jewish Art‘ in Ost und West, 1901–1908. A Study in the Nationalization of Jewish Culture“, in: The Leo Baeck Institute Year Book 34 (1994), Nr. 1, S. 83–110. 79 Zu
3.2 Davis Trietsch und sein Raumkonzept Greater Palestine
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die Zionisten Julius Berger (1883–1948) und Feiwel einmal bilanzierten, war sein Handeln mit ganzer Energie auf die jüdische Landfrage gerichtet.85 Letztere schloss ein Interesse an Kulturfragen allerdings nicht aus, da beide einander bedingten. In diesem Sinne appellierte Trietsch an die Leser*innen des Jüdischen Almanachs des Jahres 1902/3, der stark kulturzionistisch gefärbt war, „weder im jüdischen Lande, noch in jüdischer Kultur allein, sondern in der Verbindung beider das Heil [zu] sehen.“86 Allerdings ließ er durchblicken, dass die Landfrage stets vorging, da ihm zufolge eine „neujüdische“ Kultur nur auf dem Wege der „territorialen Concentration“ zu sichern sei.87 Trietschs Mitarbeit im JV dürfte sich außerdem auf taktische Überlegungen zurückführen lassen. Der Verlag bot ihm und den anderen Mitinhabern, neben Buber und Feiwel waren dies die Zionisten E. M. Lilien (1874–1925) und Chaim Weizmann, ein probates Sprachrohr. Da die fünf Männer 1901 mit der ZO-Leitung zusammengestoßen waren, ermöglichte ihnen ein eigenes Verlagshaus alternative Kanäle, die nicht an die Organisation gebunden blieben.88 Neben seinen Aktivitäten im Umfeld des JV gründete Trietsch im Dezember 1900 gemeinsam mit dem Zionisten Leo Motzkin (1867–1933) den Berliner Verein Scha’are Zion. Als Initiator der ,Thore Zions‘, wie man den Zusammenschluss übersetzte, wandte sich Trietsch Anfang Januar 1901 erstmals an die Öffentlichkeit: „,Scha’are Zion‘ ist eine gute Übersetzung für Palästina und seine Nachbarländer, denn nach hebräischem Sprachgebrauch bedeutet ,Thore Zions‘ nicht nur die Thore selbst, sondern auch was sie einschließen und ebenso auch die Zugangsstellen im weiteren Sinne: die umliegenden Länder. Es werden von dem Verein außer dem engeren Stammlande diejenigen Nachbarländer Palästinas in Betracht gezogen, die bereits zur Zeit unserer alten Geschichte jüdisch waren. Das größere Palästina, das damals war, haben wir als unsere Heimat anzusehen, und die heutigen national-jüdischen Bestrebungen müssen wieder auf dieses größere Palästina hinstreben. […] Wir bieten ein größeres Land – Greater Palestine – und auch einen größeren Zionismus.“89
Eine Kommission von Fachleuten sollte die Nachbarländer zunächst an Ort und Stelle erforschen. Unternehmungen dieser Art, die Trietsch und Motzkin offenbar selbst zu leiten beabsichtigten, wurden von ihnen nachdrücklich als zionistisch reklamiert. Ihnen zufolge bot der Verein die Möglichkeit für eine „Thätigkeit auf 85 Julius Berger, „Zum fünfzigsten Geburtstag von D. Trietsch“, in: Jüdische Rundschau 25 (1920), Nr. 1, S. 2; Berthold Feiwel, „Bilder aus Palästina“, in: Die Welt 15 (1911), Nr. 42, S. 1102– 1104, hier S. 1102. 86 „Geleitwort“, in: Jüdischer Almanach 5663, S. 9; Trietsch, „Der jüdische Orient“, S. 253 [Hervorh. im Original]. Zum sog. Kulturzionismus siehe u. a. Birgit M. Körner, Hebräische Avantgarde. Else Lasker-Schülers Poetologie im Kontext des Kulturzionismus, Köln 2017, bes. S. 50–113; Vogt, Subalterne Positionierungen, S. 41–112; Mark H. Gelber, Melancholy Pride. Nation, Race, and Gender in the German Literature of Cultural Zionism, Tübingen 2000. 87 Trietsch, „Der jüdische Orient“, S. 253. 88 Zu der Gruppe siehe Barbara Schäfer, „Zur Rolle der ,Demokratischen Fraktion‘ in der Altneuland Kontroverse“, in: Jewish Studies Quarterly 2 (1995), Nr. 3, S. 292–308. 89 Davis Trietsch, „Thore Zion’s“, in: Jüdisches Volksblatt 3 (1901), Nr. 1, S. 5 f., hier S. 5 [Hervorh. im Original]. Siehe auch ders., Die ,Thore Zions‘“, in: ebd., Nr. 3, S. 6.
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historisch-jüdischem Boden – [im Sinne] einer gutzionistischen Abhilfe der Judennoth.“90 Diese öffentliche Pointierung sollte einer Kritik vonseiten der ,PalästinaZeloten‘, wie Trietsch die Chovevei Zion abschätzig nannte, zuvorkommen. Auf dem zweiten Kongress hatte Motzkin, der in der Nähe von Kiew geboren worden war und das Gymnasium und die Universität in Berlin besuchte, die Einbeziehung weiterer Länder in das zionistische Programm erstmals gefordert. Der spätere Präsident der Zionistischen Exekutive sah darin eine Notwendigkeit, solange eine freie Einwanderung nach Palästina nicht möglich war.91 Ursprünglich hatte auch Trietsch ein Referat zu den Nachbarländern halten wollen, doch dürfte er die Reaktionen auf den Vorschlag Motzkins abgewartet haben.92 Sie schlugen sich in Schweigen nieder, wobei mehrere Delegierte im Verlauf der Sitzung betonten, es könne sich nur um „Palästina und Syrien“93 handeln. Die Mittelmeerinsel Zypern, die Trietsch als das „historisch-jüdischste Land nach Palästina“94 präsentiert hatte, kam für die allermeisten nicht in Betracht. Eine Ausnahme bildete Max Bodenheimer (1865–1940), der die Insel als „Eintrittsthür nach Palästina“95 strategisch in Erwägung zog. Neben Zypern, das im Programm der Scha’are Zion an erste Stelle gesetzt war, warb Trietsch für ein ,Ägyptisch-Palästina‘. Bei diesem handelte es sich um einen rund 40 Kilometer langen und 25 Kilometer breiten Küstenstreifen im Nordosten der Sinai-Halbinsel, der von der Stadt Rafah bis zum Wadi al-Arish reichte.96 Das dünn besiedelte Gebiet, in dem damals rund 1000 Menschen lebten, bot nach Meinung von Trietsch zwei Vorteile: Zum einen gehörte es infolge einer Grenzregulierung seit 1887 nicht mehr zum Osmanischen Reich, sondern zu Ägypten. Da das Land am Nil unter der Leitung eines britischen Generalkonsuls stand, setzte Trietsch auf eine von London unterstützte jüdische Einwanderung. Anders als die osmanische Regierung, so hoffte er, würde man sich in Kairo und London nicht gegen eine größere Niederlassung sperren. Zum anderen rechnete er den Küstenstreifen auf dem Sinai dem engeren Palästina zu, dessen Grenze der Nachal Mizraim bildete, den Trietsch mit dem Wadi al-Arish gleichsetzte. Nach diesem Verständnis war das von ihm in Aussicht genommene Gebiet Teil des biblischen Palästinas, wie er in mehreren Artikeln klarstellte, die den bezeichnenden Titel „Ägyptisch-Palästina“ oder „Ein vergessenes Stück Palästina“ trugen.97 Das von Trietsch anvisierte Gebiet stellte in der Tat ein weitgehend vergessenes Stück Land dar, das – anders als von der Forschung behauptet – durch ihn Ein Ders., „Thore Zion’s“, S. 5. Stenographisches Protokoll (1898), S. 155. 92 Eine Kopie des Vortragsmanuskripts (Der Anfang der zionistischen Action) findet sich im Nachlass von Moses Gaster: UCL, Gaster B 1898/109/65. 93 Stenographisches Protokoll (1898), S. 159, 165 f., 171. 94 Trietsch, „Der Zionismus und die Judenwanderung“, S. 11. 95 Stenographisches Protokoll (1898), S. 173. 96 Samiel, „El-Arisch“, in: Palästina 2 (1903/4), Nr. 3–6, S. 212–220, hier S. 215. 97 Trietsch, „Ein vergessenes Stück Palästina“; ders., „Ägyptisch-Palästina“; ders., „Der äusserste Südwesten Palästinas“, in: Palästina 1 (1902), Nr. 1, S. 27–30. 90 91
3.2 Davis Trietsch und sein Raumkonzept Greater Palestine
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gang in die zionistische Debatte fand.98 Wie er 1923 zugab, hatte er dabei die Bindestrich-Bezeichnung ,Ägyptisch-Palästina‘ gewählt, um das Gebiet „den Zionisten schmackhafter zu machen“99. Ausgehend von seiner Agitation, die auch Herzl bewog, von „Egyptisch Palästina“100 zu sprechen, fand im Frühjahr 1903 die sogenannte El-Arisch-Expedition statt. Die von der ZO initiierte und von ihrem Präsidenten persönlich begleitete Forschungsreise, auf die zurückzukommen sein wird, wurde auch im Jischuv aufmerksam verfolgt. Unter den jüdischen Siedler*innen dürfte besonders der in Ungarn geborene Josua Stampfer (1852–1908), den Trietsch im Winter 1897/98 in New York kennengelernt hatte, der Expedition wohlgesonnen gewesen sein.101 Offenbar war es Stampfer, der ihn auf El-Arisch (arab. al-Arish) aufmerksam gemacht hatte, wozu die gleichnamige Provinzhauptstadt an der ägyptischen Mittelmeerküste zählte. Nachdem er von Trietschs Zypern-Plänen erfahren hatte, legte er ihm jedenfalls nahe, bei gleicher Eignung ein näheres Gebiet in Betracht zu ziehen. Für den religiös-orthodoxen Stampfer, der die Gründung der ,frommen Kolonie‘ Petach Tikwa 1878 angeleitet hatte, lag El-Arisch auch vom biblischen Standpunkt näher als Zypern.102 Diese Sichtweise animierte Trietsch offenbar dazu, nach dem missglückten Kongress von 1899 nun für ,Ägyptisch-Palästina‘ zu werben, wenngleich es von religiösen Zionistinnen und Zionisten keineswegs einstimmig Eretz Israel zugerechnet wurde.103 Neben historischen Verbindungslinien reicherte Trietsch seine Agitation bevorzugt mit Visionen zukünftiger Infrastrukturprojekte an. Sie basierten auf Zentralitätsvorstellungen, wonach er das Gebiet als „einzige Brücke, welche Afrika mit dem Rest der alten Welt verbindet – mit Asien und Europa“104 präsentierte. ,Ägyptisch-Palästina‘ war für Trietsch die „Verbindungslinie der afrikanischen mit den asiatischen und europäischen Bahnsystemen“, die im Süden von Kapstadt über Kairo bis nach Europa führen sollten.105 Seine Mobilitätsvisionen orientierten sich dabei an der von Großbritannien 1874 projektierten Kap-Kairo-Bahn, von
98 U. a. Dominik Peters zufolge sei Trietsch nur einer von mehreren Urhebern gewesen. Dem muss widersprochen werden, zumal Peters die anderen Akteure nicht nennt. Dominik Peters, Sehnsuchtsort Sinai. Eine israelische Kulturgeschichte der ägyptischen Halbinsel, Göttingen 2018, S. 27. 99 Davis Trietsch, „Jüdische Emigrations-Politik“, in: Ha-Olam 18 (1923), Nr. 45, S. 1–19, hier S. 5 [Typoskript]. CZA, A104/19. 100 Theodor Herzl an Nathaniel Mayer Rothschild, 12. 7. 1902, in: Alex Bein u. a. (Hg.), Theodor Herzl. Briefe und Tagebücher, Bd. 6: Briefe Ende Aug. 1900–Ende Dez. 1902, Berlin 1993, S. 556. 101 Siehe den Nachruf auf Stampfer von Trietsch, „Ein historischer Kolonist“, in: Jüdische Zeitung 2 (1908), Nr. 30, S. 5 f., hier S. 6. 102 Ebd. 103 Siehe den Artikel „Die Entdeckung Mesopotamiens“, in: Der Israelit 50 (1909), Nr. 25, S. 1–3, in dem die El-Arisch-Expedition als eines der ersten „außerpalästinischen Kolonisationsprojekte“ bezeichnet wurde. Ebd., S. 2. 104 Trietsch, „Ägyptisch-Palästina“, S. 5. 105 Ders., „Die Thore Zion’s“, S. 5.
Abb. 2: Karte von Palästina und den umliegenden Ländern, 1926. Davis Trietsch zeichnete die Bahnverbindungen auch hier gesondert ein.
90 3. „Greater Palestine“
3.2 Davis Trietsch und sein Raumkonzept Greater Palestine
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der mehrere Abschnitte damals schon in Betrieb waren.106 Die Bahnlinie, die nie zum Abschluss kam, deren Modernisierung und Weiterführung heute aber wieder das Interesse vor allem chinesischer Investoren wecken (Neue Seidenstraße), beflügelte Trietschs technoide Zukunftsprojektionen.107 Später im Ersten Weltkrieg, als britische Streitkräfte die Sinai Military Railway installierten, die ab 1917 die Stadt al-Arish mit Haifa verband, gewannen sie erneut an Auftrieb.108 Für Trietsch bildete der Küstenstreifen nunmehr ein strategisches Drehkreuz, das Europa mit Afrika tatsächlich verband. Der sogenannten Sinai-Bahn mit ihrem Anschluss an die Palestine Railways sollte jedoch nur eine kurze Existenz beschieden sein. Ihre Trassen wurden im Israelischen Unabhängigkeitskrieg, den die Palästinenserinnen und Palästinenser als ,Palästinakrieg‘ erinnern, demontiert. Neben ,Ägyptisch-Palästina‘ und Zypern bezog Trietsch weitere Gebiete in sein Greater Palestine ein. Sie variierten allerdings stark im zeitlichen Verlauf. Hatte er beispielsweise 1901 noch Kleinasien und Mesopotamien als potenzielle Siedlungsgebiete ins Visier genommen, befand er sie ab 1905 für untauglich.109 Mit Ausnahme einzelner Streckenabschnitte entlang der Bagdadbahn, mit der sich ein lokaler wirtschaftlicher Aufschwung verbinden ließ, strich Trietsch beide Länder wieder aus seinem Konzept. Wie im Falle des restlichen Ägyptens, Arabiens und Armeniens bildeten sie für ihn ein zu weitläufiges Gebiet, in dem sich eine konzentrierte jüdische Landpolitik nicht umsetzen ließ. Gegenüber dem Oberrabbiner Moses Gaster (1856–1939) betonte er, es müsse auf ein „Greater Palestine, das Arbeitsmöglichkeiten bietet, aber dabei so klein als möglich [ist], damit wir die grösstmögliche Concentration erreichen!“110, hinauslaufen. Zusätzlich zur geografischen Nähe zu Palästina, das für Trietsch „vom jüdischnationalen Standpunkte zweifellos und absolut das wichtigste Land“111 darstellte, kam der Aussicht auf eine jüdische Bevölkerungsmehrheit eine große Bedeutung zu.112 Um künftig einen Minderheitenstatus wie in der Galut zu vermeiden, schieden großflächige Gebiete wie Ägypten oder Kleinasien, die zehn bzw. 9,5 Millionen Einwohner*innen 1905 zählten, schon im Vorfeld aus.113 Trietschs Interesse weckten dagegen einzelne Gebiete, wie El-Arisch oder zeitweise die Provinz Adana im Süden der heutigen Türkei. Hinzu kamen weitere Teile der Sinai-Halbinsel, besonders entlang der Mittelmeerküste in westlicher Ausdehnung bis Port Said, die Insel Rhodos, die tripolitanische Provinz Bengasi im heutigen Nordosten Libyens 106 Siehe George Tabor, The Cape to Cairo Railway and River Routes, London, Kapstadt 2003.
107 Zur jüngeren Entwicklung s. Charles Onyango-Obbo, Africa’s on the Move. Time to Get Aboard that Train, 3. 7. 2018, abrufbar unter: http://www.theeastafrican.co.ke/oped/ comment/ Africa-on-the-move/434750-4644312-146cp9y/index.html (Zugriff 12. 3. 2022). 108 Cotterell, Bahnt den Weg, S. 33 f.; Trietsch, „Jüdische Emigrations-Politik“, S. 5. 109 Trietsch, „Die Zukunft des Orients“, Sp. 327. Im Vergleich hierzu siehe seine Haltung vier Jahre später: ders., „Die Nachbarländer“, S. 190 f. 110 Davis Trietsch an Moses Gaster, 4. 7. 1905. UCL, Gaster Papers A, Box 105, 17/195. 111 Trietsch, „Greater Palestine“, S. 157. 112 Ebd. 113 Ders., „Die Nachbarländer“, S. 190, 192.
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3. „Greater Palestine“
sowie ein Küstenstreifen von etwa 100 Kilometern Breite. Dieser reichte von Saida über Tripolis und Latakia bis nach Alexandrette (İskenderun).114 Das Areal, zu dem noch das Ostjordangebiet und an vorderster Stelle Zypern gehörten, umfasste nach Trietschs Berechnungen insgesamt 306.000 km2. Damit war es etwas größer als Italien in seinen heutigen Grenzen. Dass dieses ,Größere Palästina‘, in denen sich jüdische Mehrheitsverhältnisse in wenigen Jahrzehnten etablieren sollten, zu großzügig berechnet war, gestand auch Trietsch ein. Deshalb schlug er vor, „für absehbare Zeit“115 lediglich eine Zone von 120.000 km2 in Erwägung zu ziehen, zu der er auch Ostjordanien nicht mehr zählte. „Im Sinne einer konzentrierten Arbeit“ war es ihm zufolge zentral, von der infrastrukturell höher entwickelten Küste aus zu beginnen. Erst wenn „in Westjordanien das Land überfüllt“116 sei, so Trietsch 1909, kämen auch Gebiete östlich des Jordans in Frage. Trietschs Greater Palestine blieb somit flexibel und an die Tagespolitik angepasst. Allein Palästina rangierte in seinem Denkmodell als unverrückbares Zentrum, das vor allen anderen Gebieten zu bevorzugen war. Die von ihm für günstig befundenen Nachbarländer, allen voran Zypern und ,Ägyptisch-Palästina‘, sollten nur insoweit bedacht werden, „als die vorzunehmende Tätigkeit in Palästina sich gar nicht oder mit wesentlich grösseren Schwierigkeiten durchführen“117 ließ. Zugleich sah sich Trietsch, den das Schicksal notleidender Jüdinnen und Juden seit seiner Zeit in New York bewegte, dem Leitspruch verpflichtet: „Es geht uns zuerst um das Volk – dann erst um das Land.“118 Sein Greater Palestine, dessen Grenzen pragmatisch gezogen waren, musste daher einen großangelegten Aktionsplan ermöglichen. Ihn sollten Zionist*innen wie Nichtzionist*innen gleichermaßen unterstützen, unabhängig davon, ob sie sich in ihrem Geburtsland als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger jüdischen Glaubens oder jüdischer Nation definierten.119
3.3 Zeitgenössische Schlagworte: Greater Britain und Greater Palestine Künftige jüdische Siedlungen in Greater Palestine, die es in zionistischen Kreisen salonfähig zu machen galt, legitimierte Davis Trietsch mit Rückgriff auf die Geschichte. Ihm zufolge ließen sich aus der Vergangenheit immer auch kollektive Ebd., S. 192, 194 f. S. 195; ders., „Das zionistische Palästinaprogramm“, in: Jüdische Rundschau 14 (1909), Nr. 46, S. 512 f., hier S. 513 [Hervorh. im Original]. 116 Ders., „Das zionistische Palästinaprogramm“ (Fortsetzung), in: ebd., Nr. 47, S. 524 f., hier S. 525 [Hervorh. im Original]. 117 Ders., „Die Nachbarländer“, S. 190 [Hervorh. im Original]. 118 Ders., „Greater Palestine“, S. 159. 119 Zum angespannten Verhältnis zwischen ZVfD und CV siehe Tilmann Gempp-Friedrich, „Gemeinsame Brüche. Centralverein und Zionistische Vereinigung vor dem Ersten Weltkrieg“, in: Gebhard/Hamann, Deutschsprachige Zionismen, S. 59–73. 114
115 Ebd.,
3.3 Zeitgenössische Schlagworte
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Handlungsbereitschaften für die Gegenwart ableiten. Im Gegensatz zu den meisten Zionistinnen und Zionisten, die ihr Siedlungsprogramm primär unter Verweis auf die Hebräische Bibel verorteten, aus der sie – wenn auch nicht immer einheitlich und selten detailliert – ein ,engeres Palästina‘ schlussfolgerten, griff Trietsch auf jüngere Quellen zurück. Eine besondere Bedeutung maß er dabei einer Schrift des Philosophen und Theologen Philo von Alexandrien (ca. 10 v. d. Z. – 40 n. d. Z.) bei, der aus einer einflussreichen jüdischen Familie in Alexandrien stammte.120 Bei dem Text handelte es sich um einen Bericht über die von dem Gelehrten 39/40 n. d. Z. angeführte Gesandtschaft alexandrinischer Juden, die über ihre Verfolgung und Unterdrückung in Rom Klage führte.121 Der Bericht, der auch die Audienz bei Caligula (Gaius Caesar Augustus Germanicus) näher schilderte, erwies sich für Trietschs Agitation als bedeutsam, da sein bekannter Verfasser darin auch auf die Wohnländer der Jüdinnen und Juden zu sprechen kam. An einer Stelle der Schrift, die Trietsch in längeren Auszügen mehrmals zitierte, bemerkte Philo von Alexandrien: „Jerusalem ist meine Vaterstadt und die Hauptstadt nicht bloss von Judäa, sondern von so vielen anderen Ländern wegen der Kolonien, die wir von Zeit zu Zeit in die benachbarten Länder, nach Aegypten, Phönizien, Syrien, sowohl in dessen übrigen Teil als auch in denjenigen, welcher Cölesyrien genannt wird, ausgeschickt haben […]. Auch sind nicht nur die festen Länder mit jüdischen Kolonien angefüllt, sondern auch die vornehmsten und berühmtesten Inseln, Euböa, Cypern, Kreta.“122
Philo von Alexandrien, den der Theologe Otto Kaiser als bedeutsamsten jüdischhellenistischen Schriftsteller charakterisiert hat, beabsichtigte mit dieser Aufzählung, die Gnade des römischen Kaisers über die alexandrinische Gemeinde hinaus für weitere Städte und Länder zu gewinnen, in denen damals Jüdinnen und Juden lebten.123 Trietsch griff die Ausführungen des angesehenen Gelehrten eifrig auf, da sie ihm eine autoritative Quelle für die geografische Verteilung der jüdischen Gemeinden lieferten. Schließlich muss ihm bewusst gewesen sein, dass er Zypern oder Rhodos nicht als alte Stammesgebiete ausgeben konnte. Dafür aber als historische Wohnländer, in denen es mit dem Babylonischen Exil (587 v. d. Z.) zur Gründung jüdischer Siedlungen gekommen war. Trietsch zufolge seien die Nachbarländer „bereits zur Zeit unserer alten Geschichte jüdisch“ gewesen und mussten deshalb in das Landprogramm der ZO integriert werden, da schon in 120 Otto
Kaiser, Studien zu Philo von Alexandrien, hrsg. von Markus Witte, Berlin 2017, S. 9. Leisegang, „Philons Schrift über die Gesandtschaft der alexandrinischen Juden an den Kaiser Gaius Caligula“, in: Journal of Biblical Literature 57 (1938), Nr. 4, S. 377–405. 122 Die Passage samt Hervorhebungen stammt aus: „Das ,grössere Palästina‘ Philos von Alexandrien“, in: Palästina 2 (1903/4), Nr. 3–6, S. 246 sowie „Die Zukunft des Orients“, Sp. 328. Trietsch zitierte wiederum Philo von Alexandrien, Die Gesandtschaft an den Cajus. Aus dem Griechischen des Philo übersetzt von Johann Friedrich Eckhard, Leipzig 1783, S. 117. Seine Zitation weicht geringfügig vom Original ab. 123 Otto Kaiser, Philo von Alexandrien: denkender Glaube. Eine Einführung, Göttingen 2015, S. 25. 121 Hans
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3. „Greater Palestine“
früheren Zeiten „die wachsende Anzahl [von Jüdinnen und Juden] ein größeres Land nöthig“124 gemacht hätte. Die von ihm gezogene Parallele zwischen Vergangenheit und Zukunft weist zielorientierte Züge auf. So existierten zwar jüdische Siedlungen in den von Trietsch favorisierten Ländern, doch waren sie deshalb keineswegs jüdisch. Die Einwanderung von Jüdinnen und Juden in diese Gebiete, in denen sie stets nur eine Minderheit bildeten, erfolgte außerdem nicht aufgrund ihrer wachsenden Zahl, sondern wegen Fluchtbewegungen, die mit der Eroberung Judäas 722 v. d. Z. eingesetzt hatten. Außerdem bezog sich Trietsch selektiv auf Philo von Alexandrien, der neben den nächsten Nachbarländern auch Europa genannt hatte, wo das heutige Griechenland ebenfalls „mit jüdischen Colonisten angefüllt“125 gewesen sei. Europäische Gebiete jenseits des östlichen Mittelmeers nahm Trietsch jedoch nicht in sein Greater Palestine auf, da sie ihm zufolge nicht der alten Heimat, sondern der Galut zuzurechnen waren. Eine zentrale Funktion zur Rechtfertigung seiner Visionen spielte der Name Greater Palestine. Trietsch dürfte ihn mit Sorgfalt gewählt haben, um sich von zionistischer Seite nicht ankreiden lassen zu müssen, die palästinensischen Nachbarländer zählten nicht weniger zur jüdischen Diaspora als die von Jüdinnen und Juden bewohnten Städte und Länder auf dem europäischen Festland. Für seine Agitation von Bedeutung war daher, wie er selbst einräumte, „der süße Duft des Wortes Palästinas“.126 Die Ausstrahlungskraft des Begriffs sollte seinen Plänen eine größere Akzeptanz verleihen. Wer von Palästina sprach, so Trietsch zu Recht, konnte mit mehr Zustimmung innerhalb der zionistischen Bewegung rechnen. Neben dieser werbenden Wirkung war es der ,Schlagwort-Klang‘, der Trietsch bei der Namensgebung seines Konzepts geleitet haben dürfte. Für wie wichtig er diesen befand, zeigt seine Rezension für Friedrich Naumanns (1860–1919) Schrift Bulgarien und Mitteleuropa von 1916. In seiner wohlmeinenden Besprechung bemerkte Trietsch, es müsse für den Bündnisbereich Deutschlands, ÖsterreichUngarns und der Türkei, dem andere Länder wie Bulgarien beitraten, unbedingt eine prägnante begriffliche Prägung gefunden werden. Sie sollte sich durch einen „Schlagwort-Klang“ abheben.127 Ein Schlagwort weist neben einer spezifischen semantischen Struktur eine herausragende Funktion in der Alltagskommunikation auf.128 Schlagwörter lassen sich somit als eine als gelungen empfundene Wortschöpfung interpretieren, die für eine Idee oder ein Programm steht, die auf dem Wege des alltäglichen Sprachgebrauchs appellativ in die breite Gesellschaft getragen werden soll. Die jeweilige Zugkraft eines Schlagworts drückt sich dabei in 124 Trietsch,
„Die Thore Zion’s“, S. 5. Die Gesandtschaft an den Cajus, S. 117. 126 Trietsch, „Die Thore Zion’s“, S. 5. 127 Ders., „Bulgarien und Mitteleuropa von Friedrich Naumann“, undat. Typoskript [1916], 2 Seiten, hier S. 2. CZA, A104/76. 128 Dieter Felbick, Schlagwörter der Nachkriegszeit 1945–1949, Berlin 2003, S. 17. 125
3.3 Zeitgenössische Schlagworte
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seiner öffentlichen Präsenz aus, das heißt in der Art und Weise, wie oft es von den Sprechenden im Alltag benutzt wird. Für Greater Palestine lässt sich festhalten, dass es von anderen Zionistinnen und Zionisten übernommen und zeitweise öfter verwendet wurde. In den Jahren 1903 bis 1908 erreichte der Begriff in deutschsprachigen Kreisen, die wie Trietsch auf alternative Aktionspläne setzten, eine weitreichendere Präsenz. Wichtige Impulse gingen hier von Berlin und Breslau (Wrocław) aus, Heimat der größten bzw. drittgrößten Jüdischen Gemeinde im Deutschen Reich.129 In das Programm der ZO fand der Begriff dagegen keinen Eingang, obwohl die Nachbarländer-Thematik nach Herzls Tod 1904 einen breiteren Diskussionsraum füllte. Erst in späteren Jahren wurde Greater Palestine von einzelnen Zionistinnen und Zionisten vermehrt aufgegriffen. Zu ihnen zählten die sogenannten Revisionisten, die mit dem Begriff eine Revision der Mandatsgrenzen forderten. So sprach unter anderem der in Wien geborene Zionist Wolfgang von Weisl (1896–1974) in der Vossischen Zeitung mehrmals von Greater Palestine, welches das „kleine Palästina von anno 1920“130 hinter sich lassen sollte. Von Weisl zufolge musste das Mandatsgebiet zu einem Greater Palestine erweitert werden, das sich ostwärts über den Jordan erstreckte, „in der Wüste des Ostens beinahe die Grenzen des Euphratlandes berührt[e] und im Süden tief in den Hedjas reicht[e].“131 Die Verwendung des Begriffs in der Zwischenkriegszeit durch von Weisl und andere Revisionisten zeigt, wie sich Trietschs Greater Palestine auch in das Sprachrepertoire anderer Zionist*innen einspeiste, wenngleich sich die Inhalte seines Denkmodells mit ihren Ansichten nicht eins zu eins deckten. Wie schon an anderer Stelle erörtert, waren Trietschs territoriale Aspirationen entlang der Mittelmeerküste lokalisiert, wodurch Gebiete im Inneren der Region – wie Ostjordanien, an dem man von revisionistischer Seite festhielt – eine nachgeordnete Rolle spielten. Als Namensgeber geriet er dafür nicht in Vergessenheit. Sowohl im In‑ wie im Ausland wurde Greater Palestine noch in späteren Jahren mit Trietsch in Verbindung gebracht, wie ein Festartikel zu seinem 60. Geburtstag in der Jüdischen Rundschau und ein Nachruf im JC belegen.132 Ein weiteres wichtiges Merkmal von Schlagwörtern besteht darin, von den Hörenden leicht verstanden zu werden. Für den Erfolg eines Schlagworts ist es demnach entscheidend, Assoziationen bei der Hörerschaft zu wecken. Nur wenn man das Wort entsprechend seiner aktuellen Bedeutung und Brisanz (an)erkennt, kann
129 Zur Jüdischen Gemeinde in Breslau: Till van Rahden, Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925, Göttingen 2000; Leszek Zia̜tkowsk, Die Geschichte der Juden in Breslau, Wrocław 2000; Marcin Wodziński/Janusz Spyra (Hg.), Jews in Silesia, Krakau 2001. 130 Wolfgang von Weisl, „Araber-Politik“, in: Vossische Zeitung, 16. 7. 1925, S. 4. 131 Ebd. 132 „Zwei Sechzigjährige. Davis Trietsch“, in: Jüdische Rundschau 35 (1930), Nr. 3, S. 21; „Obituary. Mr. Davis Trietsch“, in: The Jewish Chronicle, 8. 2. 1935, S. 10.
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3. „Greater Palestine“
es in der kollektiven Diskussion effektiv zum Einsatz gelangen.133 Auch Trietsch orientierte sich am Duktus seiner Zeit, um möglichst viele Menschen ansprechen und sein Konzept in die zionistische Debatte einfließen lassen zu können. Als Schriftsteller nahm auch er für sich das Recht in Anspruch, gelesen werden zu wollen. Entscheidend dürfte für ihn zum einen die erste Steigerungsform des Adjektivs great gewesen sein, die im englischen Sprachraum für Metropolregionen verwendet wurde. Das heute wie damals gebräuchliche Adjektiv bot durch seine Doppelbedeutung den Vorteil, nicht nur die quantitative Ausdehnung, sondern auch den qualitativen Wert eines ,Größeren Palästina‘ positiv zu benennen.134 Zum anderen war es das damals populäre Schlagwort Greater Britain, das die Namensgebung seines Konzepts nachhaltig geprägt haben dürfte. Eine Verbindung zwischen beiden deutete Trietsch selbst an. In seinem Aufsatz „Ein russisch-jüdischer Kongress“ (1902), der über die von ihm besuchte Konferenz zionistischer Gruppen und Vereine in Minsk berichtete, bemerkte er diesbezüglich: „Sir Charles Dilke, der ,Erfinder‘ und Namengeber von ,Greater Britain‘, spricht an einer wundervollen Stelle von dem Eindruck, der ihn auf allen seinen Reisen und überall begleitet hat, von seinem Gefühl von der Grossartigkeit der englischen Rasse, welche in klar absehbarer Zeit die Erde beherrschen werde.“135
Der die zeitgenössische Debatte über Großbritannien hinaus prägende Begriff Greater Britain ging auf einen zweibändigen Reisebericht des Politikers Sir Charles Dilke (1841–1911) zurück, der 1869 in London erschienen war. Die umfangreiche, fast 700-seitige Arbeit mit dem Titel Greater Britain. A Record of Travel in EnglishSpeaking Countries During 1866–7 machte ihren 28 Jahre jungen Verfasser zu einem Bestsellerautor.136 Allein im ersten Jahr wurden mehr als 100.000 Exemplare der englischen Originalausgabe verkauft, ehe sie auch in anderen Ländern erschien und Dilke zeitlebens ein Einkommen sicherte.137 Die große Popularität des Buches dürfte einerseits auf die plastischen Schilderungen Dilkes zurückzuführen sein, die sich stellenweise wie ein Abenteuerroman lesen und als solche für ein breites Publikum bestimmt waren. Andererseits weckte eine Vielzahl von Illustrationen das Interesse der Leserschaft, von deren propagandistischer Wirkung auch Trietsch in seinem Palästina-Bildband später Gebrauch machen sollte. In dieser Kombination gewährte das Buch einen exklusiven Einblick in die Weiten des British Empire, das seine meisten Bürgerinnen und Bürger nur mit einem „distant, cigarette-card aspect of British life“ verbanden.138 133 Felbick,
Schlagwörter der Nachkriegszeit, S. 25. den Eintrag zum Adjektiv ,great‘ in den Oxford Dictionaries: https://en.oxford dictionaries.com/definition/great (Zugriff 12. 3. 2022). 135 Davis Trietsch, „Ein russisch-jüdischer Kongress“, in: Ost und West 2 (1902), Nr. 10, Sp. 649–656, hier Sp. 656. 136 Sir Charles Wentworth Dilke, Greater Britain. A Record of Travel in English-Speaking Countries During 1866–7. Two Volumes in One. With Maps and Illustrations, London 1869. 137 David Nicholls, The Lost Prime Minister. A Life of Sir Charles Dilke, London 1995, S. 21. 138 Bill Nasson, Britannia’s Empire. Making a British World, Stroud 2004, S. 208. 134 Siehe
3.3 Zeitgenössische Schlagworte
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Dilke, der einer wohlhabenden Adelsfamilie entstammte, hatte im Anschluss an sein Jura-Studium beschlossen, mehrere englischsprachige Länder zu bereisen.139 Seine Reisepläne führten ihn zunächst in die USA und nach Kanada, anschließend nach Neuseeland und Australien sowie nach Indien und Sri Lanka. Die Route orientierte sich dabei an der patriotischen Maßgabe, den Einflüssen und Errungenschaften seiner Heimat folgen zu wollen.140 Dilke teilte wie viele andere Engländer*innen die Überzeugung, es sei dem Empire zu verdanken, dass über die Grenzen Großbritanniens hinaus Zivilisation und Fortschritt Einzug in andere Länder hielten. Für Dilke bildeten die USA neben den Dominions Australien, Kanada und Neuseeland sowie die britischen Kolonien im heutigen Südafrika die Hauptelemente des von ihm erdachten Greater Britain, dessen transkontinentale Textur sich aus weiteren englisch geprägten Territorien zusammensetzte, allen voran British India.141 Was sie trotz großer Entfernungen miteinander verband – zwischen Kanada und Südafrika liegen mehr als 15.000 Kilometer – war die gemeinsame Sprache. Im Falle von British India sollten fehlende Kenntnisse daher durch Sprachkurse überwunden werden. Nur so konnte Dilke zufolge auch dort „all the civilization of our time“142 implementiert werden. Dank seines Publikationserfolgs entwickelte sich Greater Britain Ende des 19. Jahrhunderts zu einem stehenden Begriff. So wurde unter anderem 1899 in London eine Greater-Britain-Ausstellung veranstaltet, auf der eine Vielzahl an Produkten aus allen Teilen des Empire bestaunt werden konnte. Schon zuvor war es in Großbritannien zur Veröffentlichung mehrerer Schriften gekommen, die das Schlagwort im Titel führten.143 Wie Duncan Bell gezeigt hat, ließen sich unter dem Begriff Greater Britain allerdings verschiedene Dinge verstehen.144 Seine unterschiedlichen Bedeutungsebenen sind darauf zurückzuführen, dass Dilke selbst kein scharf umrissenes Bild von der Gemeinschaft zeichnete, die er proklamierte. Dadurch konnten Agitatoren verschiedener Couleur seinen Begriff aufgreifen und entsprechend ihrem eigenen Programm verwenden. Der englische Faschist Oswald Mosley (1896–1980) etwa ließ inmitten der Weltwirtschaftskrise eine Schrift drucken, die den verheißungsvollen Titel The Greater Britain (1932) trug.145 Wie 139 Nicholls,
The Lost Prime Minister, S. 1, 16. Greater Britain [Vol. I], S. v. 141 Ebd., S. vi. Zur Kronkolonie British India/British Raj: Gunnel Cederlöf/Sanjukta Das Gupta (Hg.), Subjects, Citizens, and Law. Colonial and Independent India, London 2017; Makarand R. Paranjape, Making India. Colonialism, National Culture, and the Afterlife of Indian English Authority, Dordrecht u. a. 2013. 142 Dilke, Greater Britain [Vol. II], S. 319. 143 Siehe u. a. Arthur Paul, How Great Britain Became Greater Britain. A Short Sketch, London 1895; Charles Waddie, The Federation of Greater Britain, Edinburgh 1895. Zur Ausstellung: London Exhibitions, Ltd. (Hg.), The Greater Britain Exhibition 1899, London 1899. 144 Duncan Bell, The Idea of Greater Britain. Empire and the Future of World Order, 1860– 1900, Princeton, Oxford 2007, S. 7. 145 Oswald Mosley, The Greater Britain, London 1932. Zu Oswald Mosley: David Howell, Mosley and British Politics 1918–32. Oswald’s Odyssey, Basingstoke u. a. 2015. 140 Dilke,
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3. „Greater Palestine“
schon bei Dilke tauchte der Begriff Greater Britain im Haupttext nicht auf, weshalb er Mosley in erster Linie als klangvolles Schlagwort im Buchtitel gedient haben dürfte. Die Stärken und Schwächen des Konzepts lagen in seiner Vagheit. Als Trietsch es um die Jahrhundertwende aufgriff, konnte es a) für das gesamte British Empire stehen, b) für alle englischsprachigen Länder inklusive den USA oder c) für Großbritannien und die Dominions. Bell zufolge dominierte letztere Auslegung, die Anhänger*innen eines Föderationsprinzips ab Mitte der 1870er aufgriffen, die sich für ein föderales Organisationsprinzip aussprachen.146 Dem Aufruf der heterogenen Gruppe zur Gründung einer Föderation, der bis Mitte der 1890er Jahre in London immer lauter zu vernehmen war, schloss sich Dilke nicht an. Sein Greater Britain stellte kein politisches Bündnis unter einer zentralen Führung dar, sondern eine lose Wertegemeinschaft, die auf den ,zivilisierenden‘ Kulturwerten des englischen Mutterlandes basierte.147 Die selbstgerechte Überzeugung einer wohlmeinenden Einflussnahme, die sich in Großbritannien am Ende des 19. Jahrhunderts klassenübergreifend zu der Vorstellung eines social imperialism verstieg, verlieh auch den Visionen der Zionistinnen und Zionisten ihr legitimatorisches Gepräge.148 Trietschs Greater Palestine sollte solchermaßen nicht nur dem jüdischen Volk von Nutzen sein, sondern – obgleich nachgeordnet – auch anderen Bewohnerinnen und Bewohnern des Mittelmeerraums. Wie aussichtsreich er diesen Raum für die Zukunft befand, stellte er in seiner Schrift Jüdische Emigration und Kolonisation heraus. In dem Kapitel „Jüdische Mittelmeerpositionen“, das sich sowohl in der Auflage von 1917 als auch 1923 findet, begrüßte er die „Ansammlung von Juden an den südlichen und östlichen Randländern des Mittelmeeres“, wo es künftig zu einer „lebhafteren Beteiligung an Handel, Verkehr und europäischer Kulturvermittlung“ kommen sollte.149 In Trietschs Vorstellung sollte der Mittelmeerhandel und ‑verkehr in jüdischer Hand konzentriert werden, um die ,Europäisierung‘ der Anrainerstaaten und die Vernetzung der jüdischen Gemeinden zu fördern. Eine solche „Konzentration von ,Mittelmeer-Juden‘ nach den Küstenplätzen“, die eine größere Sicherheit bieten und Jüdinnen und Juden in ihrer „Vermittlungsrolle zwischen Orient und Okzident in hohem Maße“150 stärken sollte, durfte allerdings nicht auf Kosten Palästinas erfolgen. So musste die jüdische Auswanderung weiter vorrangig nach Palästina gehen, worunter Trietsch allerdings sein Greater Palestine fasste, welches die „küstennahen Landstrecken zwischen Aegypten und Konstantinopel“ abdecken sollte.151 Das Zentrum eines jüdisch dominierten Mittelmeerraumes bildete für Trietsch Greater Palestine mit dem engeren Palästina als Herzstück, das den Aufschwung 146 Bell,
The Idea of Greater Britain, S. 7 sowie Kap. 9 „Envisioning America“, S. 231–259. The Lost Prime Minister, S. 27. 148 Bell, The Idea of Greater Britain, S. 267. Siehe auch Nasson, Britannia’s Empire, S. 202. 149 Trietsch, Jüdische Emigration und Kolonisation, S. 40. 150 Ebd., S. 38. 151 Ebd., S. 36. 147 Nicholls,
3.3 Zeitgenössische Schlagworte
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der gesamten Region zusammen mit anderen Küstenstädten vollzog. Nach dem Vorbild der griechischen Hafenstadt Thessaloniki, die wegen ihres hohen jüdischen Bevölkerungsanteils bis 1943 auch als ,Jerusalem des Balkan‘ bekannt war, sollten weitere kommerzielle Zentren entlang der östlichen und südlichen Mittelmeerküste entstehen, in der sich eine größere Anzahl von Jüdinnen und Juden niederlassen würde. Als zentrale Umschlagplätze für materielle, aber auch immaterielle Güter sollten sie die Weichen für eine weitverzweigte, einflussreiche Gemeinschaft sogenannter Mittelmeer-Juden stellen, die über drei Kontinente reichte.152 Die von Trietsch und Dilke entworfenen Raumkonzeptionen eines Greater Palestine bzw. Greater Britain gingen beide auf eine zeitgenössische „Verdichtung von Raum und Zeit“153 zurück. Demnach konnten sie erst infolge eines veränderten Welthorizonts gedacht werden, dem Verflechtungsprozesse auf globaler Ebene zugrunde lagen. Die beschleunigte Einebnung von Raum und Zeit führte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Etablierung einer Weltpolitik und Weltwirtschaft, die frühere grenzübergreifende Kontakte durch neue Transport‑ und Kommunikationsmittel in den Schatten stellten. Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel haben gezeigt, dass es vor allem die sich zwischen 1860 und 1880 durchsetzende internationale Dampfschifffahrt war, die neben den ersten Eisenbahnverbindungen und einer einsetzenden „Verkabelung der Welt“ das Raum‑ und Zeitverständnis der Menschen revolutionierte.154 Im Gegensatz zur Eisenbahn, dem „neuartigen Ungetüm auf Rädern“155, dessen globalisierender Effekt wegen nationaler Schienennetze limitiert war, eröffneten moderne Überseefahrten eine schier grenzenlose Mobilität von Personen und Gütern. Die verkürzten Reisezeiten zu Land und zu Wasser, die eine tiefgreifende Umwandlung in der Art und Weise hervorriefen, wie die Zeitgenoss*innen ihre Umwelt wahrnahmen, bahnten Trietschs Greater Palestine gewissermaßen den Weg. Die von ihm proklamierten Mittelmeerpositionen, die eine jüdische Gemeinschaft um Palästina herum begründen sollten, die in Wohlstand und Sicherheit lebte, war aus dieser Perspektive weniger realitätsfern als noch zu Beginn des vorletzten Jahrhunderts. Trietsch, der selbst viel reiste, mehrmals das Mittelmeer und den Atlantik überquerte und dessen Ehefrau einmal im Scherz bemerkte, ihrer Zweitältesten müsse als Tochter ihres Vaters „ein ererbtes Anrecht auf Eisenbahn-Abonnements“156 zukommen, zog aus diesen neuen Möglichkeiten seine Inspiration. 152 Zu den jüdischen Einflüssen im Mittelmeerraum siehe David Cesarani/Gemma Romain (Hg.), Jews and Port Cities, 1590–1990: Commerce, Community and Cosmopolitanism, London 2006. 153 Der Humangeograf David Harvey hat den Begriff in den 1990er Jahren geprägt: ders., „Die Postmoderne und die Verdichtung von Raum und Zeit“, in: Andreas Kuhlmann (Hg.), Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne, Frankfurt a. M. 1995, S. 48–78. 154 Sebastian Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, 2. Aufl., München 2010, S. 39; Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 1018, 1023. 155 Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 1020. 156 Emma Trietsch an Lina Kahn, 8. 1. 1922. JMB 2011/267.
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3. „Greater Palestine“
Greater Britain, das aus einer mehrmonatigen Fernreise hervorging, ist ebenfalls vor dieser Folie zu sehen. Neben diesen Gemeinsamkeiten lassen sich aber auch Unterschiede zwischen beiden Konzepten ausmachen. Im Gegensatz zu Trietsch verfolgte Dilke keine expansive Siedlungspolitik, die sich auf einen spezifischen Länderkreis bezog, sondern die Pflege einer gemeinsamen Identität. Ein jüdisches Greater Palestine musste erst geschaffen werden. Weder im engeren Palästina noch in den angrenzenden Ländern stellten Jüdinnen und Juden eine demografische Mehrheit, die einen prägenden Einfluss auf die Region hätte ausüben können. Ein zentrales Ziel für Trietsch war deshalb die Etablierung einer ,jüdischen Majorität‘, wie er es nannte. Sie sollte das Ergebnis einer räumlichen Konzentration sein und die Galut zahlenmäßig übertrumpfen. Eine Ansiedlung in weit voneinander entfernten Ländern schwebte ihm nicht vor. Zwar kehrte auch er die Qualitäten der Jüdinnen und Juden hervor, wobei er von Volk und Nation, anstatt wie Dilke von Rasse sprach. Doch sollte die von ihm befundene Höherwertigkeit in erster Linie einem jüdischen Greater Palestine zugutekommen – zumindest vorläufig. In Abgrenzung zu Dilke stellte Trietsch klar: „Das jüdische Volk will nicht die Erde beherrschen, sondern sich selbst wiederfinden und den abgerissenen Faden der Geschichte wieder aufnehmen, um weiter auszugestalten das jüdische Ideal von Freiheit und Gerechtigkeit, sich selbst zum Nutzen und den Völkern zum Beispiel.“157
Erst wenn sich Greater Palestine zu einem sicheren Hafen für Jüdinnen und Juden entwickelte, sollte von seinen Anlegestellen aus entlang der Küste weiterer Einfluss über den östlichen Mittelmeerraum hinaus geltend gemacht werden. Bis dahin mussten alle Energien gebündelt und ein Anfang in einem kleineren Raum gesucht werden. Die Mittelmeerinsel Zypern bot sich dazu nach Ansicht von Trietsch besonders an.
3.4 Das Zypern-Projekt Im Anschluss an den Kongress 1899, auf dem sein Zypern-Referat lautstark unterbrochen worden war, gab Davis Trietsch eine öffentliche Stellungnahme in Die Welt ab. Die Zeitschrift fungierte von 1897 bis 1914 als Zentralorgan der Zionistischen Bewegung, in der wöchentlich über relevante Ereignisse in‑ und außerhalb der eigenen Reihen berichtet wurde. Neben einer regelmäßigen Berichterstattung bot sie eine zentrale Plattform für Debatten, die von Leitartikeln und anderen meinungsstarken Beiträgen lebten.158 Trietsch, „Ein russisch-jüdischer Kongress“, Sp. 656. publizistischen Diskussionskultur siehe Lisa Sophie Gebhard, „,Judenstaatler‘ und ,Kleinkolonisatoren‘. Zionistische Selbstverortungen in der publizistischen Debatte von 1903 bis 1914“, in: dies./Hamann, Deutschsprachige Zionismen, S. 25–39. 157
158 Zur
3.4 Das Zypern-Projekt
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Die Rubrik Tribüne, deren Namensgebung an die Redner*innentribüne auf den Kongressen angelehnt war, bildete ein wichtiges Forum, in dem wöchentlich Aufrufe und Erklärungen abgegeben werden konnten. Auch Trietsch nutzte die Tribüne mehrmals, die mit der letzten Ausgabe 1905 eingestellt wurde und rund 5000 Exemplare erzielte, um die von ihm favorisierte Kolonisation Zyperns öffentlich zu verteidigen. Knapp vier Wochen nach seinem Referat rechtfertigte er sich dort, seine Pläne hätten den Delegierten vorgelegt werden müssen, auch wenn sie zunächst nicht auf Gegenliebe gestoßen wären. Er selbst sah sich in der Rolle eines kundigen Arztes, „der ein neues Heilmittel gefunden hat, und der daher die Verpflichtung hat, die Kenntnis davon zu verbreiten, damit den Kranken geholfen werden konnte.“159 Bei der Krankheit handelte es sich um die „Judennoth“, die Trietsch zufolge nur durch einen „stolzeren und grösseren Zionismus“ geheilt werden konnte. Letzterer sollte alle jüdischen Kreise mit dem gemeinsamen Ziel eines „grösseren Palästina“160 schlagkräftig vereinen. Der Rede von Krankheit und Heilung bedienten sich auch andere Zionistinnen und Zionisten. Sie kann somit als ein bekanntes Sprachbild im Kontext einer allgemeineren Kulturkritik gelesen werden.161 Um seinen vielversprechenden Therapieansatz breit anwenden zu können, trat Trietsch mit nichtzionistischen Gruppen in Kontakt. Zunächst versuchte er, die Jewish Colonisation Association (JCA) für seine Pläne zu gewinnen. Die gemeinnützige Organisation, die der Philanthrop Maurice de Hirsch (1831–1896) zur Unterstützung osteuropäischer Jüdinnen und Juden 1891 gegründet hatte, war selbst seit 1897 auf Zypern aktiv, wo sie die Siedlung Margo unterstützte. Eine Gruppe russischstämmiger Jüdinnen und Juden aus London hatte sie zwischen Nikosia und Larnaca ins Leben gerufen, nachdem ihnen 1896 eine Niederlassung in Palästina verweigert worden war.162 Schon 1882 war die Insel von jüdischen Kreisen in London als ein möglicher Zufluchtsort breiter diskutiert worden, was im darauffolgenden Jahr zur Gründung der ersten jüdischen Siedlung in moderner Zeit führte. Innerhalb eines Jahres verließen ihre rund 200 russischen Bewohner*innen sie allerdings wieder, und auch eine zweite Siedlung, die 1886 eine Gruppe rumänischer Jüdinnen und Juden ins Leben gerufen hatte, scheiterte nach kurzer Zeit.163 Dem Historiker Stavros Panteli zufolge lassen sich für diese Misserfolge mehrere Faktoren anführen. Zum einen waren es widrige Bodenverhältnisse und Davis Trietsch, „Sehr geehrter Herr Redacteur!“, in: Die Welt 3 (1899), Nr. 37, S. 6 f., hier
159
S. 6.
160 Ebd.,
S. 7. Edelmann-Ohler, Sprache des Krieges. Deutungen des Ersten Weltkriegs in zionistischer Publizistik und Literatur (1914–1918), Berlin 2014, S. 63 f. Weiterführend zur Kulturkritik: Thorsten Carstensen/Marcel Schmid (Hg.), Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900, Bielefeld 2016; Thomas Rohkrämer, Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880–1933, München 1999. 162 John M. Shaftesley, „Nineteenth-Century Jewish Colonies in Cyprus“, in: Transactions & Miscellanies 22 (1968/69), S. 88–107, hier S. 101. 163 Ebd., S. 91–93, 97–100. 161 Eva
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3. „Greater Palestine“
eine andauernde Wasserknappheit, die den Betroffenen neben ungewohnt heißen Sommern, Missernten und Viehdiebstählen zusetzten. Zum anderen kamen die Probleme mit den Siedlerinnen und Siedlern selbst, die meist über keine eigenen finanziellen Mittel und nur über rudimentäre Kenntnisse in der Landwirtschaft verfügten.164 Zu Beginn Trietschs Zypern-Agitation lebten etwas mehr als 100 Jüdinnen und Juden auf der Insel.165 Bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 235.000 bildeten sie somit eine äußerst überschaubare Minderheit. Trotz ihrer geringen Zahl und aller bisher gescheiterten Siedlungsversuche mit Ausnahme von Margo, die bis 1927 Bestand haben sollte, stellte Zypern Trietsch zufolge ein überaus geeignetes ,Abflussgebiet‘ für jüdische Geflüchtete dar.166 Zurück in Berlin nahm er daher Kontakt zu einer Gruppe einflussreicher deutscher Juden auf, die Interesse an einer Besiedlung Zyperns zeigten. Zu ihnen zählten der Gründer des Hilfsvereins der deutschen Juden, Paul Nathan (1857–1927), und Otto Warburg (1859–1938), späterer dritter Präsident der ZO.167 Der gemeinnützige und nichtzionistische ,Hilfsverein‘, im Folgenden mit HddJ abgekürzt, wurde 1901 in Berlin mit dem Ziel gegründet, die Not der Jüdinnen und Juden in Osteuropa durch Hilfsprojekte zu lindern.168 Trietschs Informationsmaterial, das er für Nathan und Warburg vorbereitet hatte, befanden beide allerdings für „absolut ungenügend“169, weshalb Trietsch selbst nach Zypern reiste, um sich vor Ort ein eigenes Bild zu machen. Diese Aktivitäten, die die New York Times prompt zu der Falschmeldung veranlasste, prominente Berliner Juden wollten Teile der Insel kaufen, führten Trietsch im Oktober 1899 über Boryslaw nach Zypern.170 Unter den jüdischen Bewohnerinnen und Bewohnern der galizischen Stadt unweit von Lwiw herrschte große Armut, wie ein Hilfskomitee schon auf dem dritten Kongress öffentlich gemahnt hatte.171 Grund für ihre missliche Lage war die Schließung privater Bergbaubetriebe gewesen, in denen seit den 1850er Jahren erfolgreich Naphtha und Erdwachs gewonnen wurde. Die Bergbauparzellen, die rund 20.000 Boryslawern (darunter gut 8000 jüdische Bergleute) Arbeit gaben, wurden von der Österreichischen Länderbank aufgekauft, und ihre Stilllegung wegen Sicherheitsbedenken für Februar 1900 anberaumt.172 Vom Anblick der 164 Panteli,
Place of Refuge, S. 83. Ebd., S. 140. 166 Danny Goldman, Jewish Settlers in Cyprus During the British Rule, 1880s–1940s, [2007], abrufbar unter: http://www.haruth.com/jw/cyprusjewishsettlers.htm (Zugriff 12. 3. 2022). 167 Zu Paul Nathan s. Christoph Jahr, Paul Nathan. Publizist, Politiker und Philanthrop 1857– 1927, Göttingen 2018. Zu Otto Warburg siehe von Suffrin, Pflanzen für Palästina. 168 Zum HddJ s. David Hamann, Ein Ticket von Brody über Berlin nach New York. Die organisierte Solidarität deutscher Juden für osteuropäische jüdische TransmigrantInnen im Krisenjahr 1881/82. Unveröffentlichte Dissertation [2020], Freie Universität Berlin. 169 „Ausland“, in: Jüdisches Volksblatt 1 (1899), Nr. 25, S. 4. 170 „Jews Talk of Buying Cyprus“, in: The New York Times, 7. 8. 1899, S. 7. 171 Stenographisches Protokoll (1899), S. 138, 158. 172 Demetrius Herny, „Die Minen von Boryslaw“, in: Berliner Korrespondenz für Kunst und Technik 3 (1900), Nr. 4, S. 2 f. Davis Trietsch, The Situation in Boryslaw, 1-seitiges Manuskript, 165
3.4 Das Zypern-Projekt
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„gebrochenen Gestalten der einst so rüstigen und stämmigen Grubenarbeiter“173 berührt, reiste Trietsch weiter nach Zypern. Dort traf er den High Commissioner of Cyprus, Sir William Haynes Smith (1839–1928), der die Interessen Londons auf der Insel vertrat. Nominell befand sich Zypern zwar im Besitz des Sultans, an den jährlich weiterhin ein Tribut zu entrichten war. 1878 fiel die Insel aber offiziell unter britische Verwaltung, womit in der Folge die englische Gesetzgebung eingeführt und ein Hochkommissar an die Spitze der Exekutive gesetzt wurde.174 Haynes Smith, dem auch die Kontrolle der Legislative oblag, stand Trietschs Plänen interessiert gegenüber. In einem Brief an seinen Vorgesetzten Joseph Chamberlain (1836–1914), den britischen Kolonialminister, warb er dafür, das Projekt einer jüdischen Einwanderung „on a large scale“175 zu prüfen. Laut Haynes Smith hätte sich Trietsch als ein Vertreter der JCA vorgestellt, was sich zumindest seinem ausführlichen Schreiben und Exposé nicht entnehmen lässt, die er dem Hochkommissar bei seinem Besuch auf Zypern überreicht hatte. Was Trietsch dagegen aber in Aussicht stellte, waren „Jewish capital and enterprise“176, die Zypern zugutekämen, sollte London eine jüdische Einwanderung größeren Umfangs gutheißen. Die einheimische Bevölkerung, die sich zu drei Vierteln aus griechisch-orthodoxen und zu einem Viertel aus türkisch-muslimischen Zyprer*innen zusammensetzte, würde Trietsch zufolge nur profitieren. Schließlich sei auch sie durch eine „backwardness“177 zurückgeworfen, die wie in Palästina durch den Zuzug von Jüdinnen und Juden zum Wohle aller überwunden werden könnte. Trietschs Abwiegelung, vonseiten der Alteingesessenen seien keine Anfeindungen zu befürchten, da sie ja nur profitierten, erinnert stark an seine beschwichtigende Argumentationsweise in Bezug auf Palästina. So betonte er, dass auch Jüdinnen und Juden auf Zypern bislang in „bestem Einvernehmen“178 mit den anderen Inselbewohner*innen zusammengelebt hätten. Um einen solchen positiven Einfluss geltend machen zu können, sollte den jüdischen Geflüchteten zunächst in größerer Zahl Arbeit verschafft werden. Trietsch hoffte, die britische Regierung möge sie an Infrastrukturprojekten beteiligen, von denen er den Bau einer Bahnstrecke zwischen Nikosia und Famagusta (Gazi22. 11. 1899. TNA, CO 67/120/34061. Zur Ölförderung in und um Boryslaw: Valerie Schatzker (Hg.), Jewish Oil Magnates of Galicia, Montreal, Kingston 2015, bes. S. 3–180. 173 Abschrift eines Briefs von Trietsch o. Empfänger, 8. 2 . 1900. CZA, A9/30. 174 Elcin Dindar, Die türkische Zypernpolitik im Konfliktfeld des östlichen Mittelmeers, 1950– 1974, München 2017, S. 32. 175 Sir William Haynes Smith an Joseph Chamberlain, 25. 11. 1899. TNA, CO 67/120/34061, 177–179. 176 Davis Trietsch an Sir William Haynes Smith, 22. 11. 1899. Ebd., 180–197. 177 Davis Trietsch, The Future of Cyprus, April 1899. Ebd., 188–197. Das Exposé findet sich als 8-seitiges Typoskript auch in Trietschs Nachlass (A104/40) sowie als Manuskript in den Moses Gaster Papers (UCL, Gaster Papers B, Box 22, 27/121). 178 Ben David [Davis Trietsch], „Jüdische Colonisation in den Nachbarländern Palästinas“, in: Jüdischer Volkskalender für das Jahr 5661= 1900/1, hrsg. von der ZVfD, Leipzig 1901, S. 86–95, hier S. 95.
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3. „Greater Palestine“
mağusa) am verheißungsvollsten befand.179 Die jüdischen Bergbauarbeiter aus Boryslaw hielt er für diese Arbeiten für besonders geeignet, da „diese arbeitsfrohen Menschen“ schon in der Vergangenheit „mit Graben, Hacken und Schaufeln ihr Brot verdient“180 hätten. Die Antwort von Chamberlain fiel trotzdem negativ aus. Zwar erkannte er die Vorzüge eines Bahnprojekts an, das 1904 auch tatsächlich begonnen werden sollte. Trietschs Vorschläge hielt er ansonsten aber für „a great deal of rubbish“181. Trotz der Berufserfahrung der männlichen Boryslawer sah Chamberlain in jüdischen Geflüchteten keine wünschenswerten Arbeiter. Seine ablehnende Haltung folgte offenbar auch antisemitischen Stereotypen, wonach sich Juden für körperliche Arbeiten nicht eignen würden. Von einem realpolitischen Standpunkt aus berücksichtigte Chamberlain außerdem die einheimische Bevölkerung, von der er annahm, sie werde gegen eine jüdische Einwanderung opponieren. Im Ergebnis hielt das Colonial Office daher fest: „The fewer Jews we get in Cyprus the better. Why can’t they go to the Holy Land?“182
Die abschlägige Antwort des Kolonialministeriums beirrte Trietsch nicht. Noch auf Zypern besorgte er den Boryslawern eine Beschäftigung bei den örtlichen Wasserwerken, die unter der Aufsicht der Regierung standen, aber in privater Hand waren.183 Die Einwanderung von Jüdinnen und Juden sollte Chamberlain zufolge zwar nicht gefördert, aber auch nicht verboten werden. Solange es ausreichende Mittel zur Unterstützung der Eingewanderten gab und sie sich auf der Insel zurechtfanden, sollte ihnen eine Niederlassung prinzipiell erlaubt bleiben.184 Trietsch kehrte daraufhin nach Berlin zurück, wo sich in der Zwischenzeit ein ,Hilfskomitee für die Boryslawer Arbeiter‘ gegründet hatte. Diese wohltätige Vereinigung war aus dem schon erwähnten Zypern-Komitee hervorgegangen, dem neben Nathan und Warburg auch der Berliner Zionist Adolf Friedemann (1871– 1932) beigetreten war.185 Das Komitee beschloss, versuchsweise zehn Arbeiter nach Zypern zu bringen. Die Umsetzung sollte Trietsch übernehmen, der auch die Männer auswählte, da er zuvor schon in Boryslaw gewesen war. Am Ende hatte er 15 Ausreisewillige zusammen, von denen sich letztlich aber nur elf zur Überfahrt entschlossen, da Berichte im Umlauf waren, es handele sich bei Zypern um eine „sumpfige Fiebergegend“.186 Im Herbst 1899 hatte schon ein gewisser Wylli [!] Heß kritisiert, das Klima der Insel sei nicht derart gesundheitsfördernd, wie Trietsch vorgab. Wie in anderen Davis Trietsch an Sir William Haynes Smith, 22. 11. 1899. Davis Trietsch, „Die Geschichte einer Hilfsaktion“, in: Palästina 2 (1903/4), Nr. 1–2, S. 17– 32, hier S. 17. 181 Meeting of the Colonial Office, 12. 1 2. 1899. TNA, CO 67/120/34061, 175–176. 182 Ebd. 183 Trietsch, „Die Geschichte einer Hilfsaktion“, S. 19. 184 Ebd. 185 In Adolf Friedemanns Nachlass (CZA, A8/30) sind einige Dokumente zum Projekt überliefert. 186 Trietsch, „Die Geschichte einer Hilfsaktion“, S. 22. 179 180
3.4 Das Zypern-Projekt
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Ländern des Mittelmeerraums gab es auch auf Zypern wiederholt Fälle von Malaria und anderen Infektionskrankheiten, die mitunter tödlich verliefen. In dem dreiteiligen Artikel „Cypern als Ziel jüdischer Kolonisten“, der in der jüdisch-orthodoxen Zeitschrift Der Israelit erschien, bemängelte Heß außerdem Trietschs Kostenaufstellungen.187 Ihm zufolge berücksichtigten sie weder Ausgaben für den Bodenkauf und Häuserbau, noch etwaige Sonderposten für Unwetter, Heuschreckenplagen oder andere Katastrophen, die zu erwarten seien. Das Siedeln, so die Kritik, sei „kein Rechenexempel“188, sondern hänge von einer Vielzahl teils unberechenbarer Faktoren ab. Trotz dieser berechtigten Einwände, mit denen sich Trietsch noch häufiger konfrontiert sehen sollte, sprach sich Heß grundsätzlich für eine Besiedlung Zyperns aus. Zwar sei Palästina vorzuziehen, doch die „Idee, die Juden in Cypern zu kolonisieren“189, hielt er auf der Basis eines durchdachteren Plans für begrüßenswert. Der Mitherausgeber der Pariser Zeitschrift L’Écho Sioniste, Léon Paperin, sah dies vom zionistischen Standpunkt aus anders. In einem kritischen Kommentar in Die Welt unterstrich er, „der Zionismus [habe] sich mit der Cypernfrage nicht zu befassen“.190 Eine Besiedlung der Insel war für ihn mit der zionistischen Idee nicht vereinbar. Trotz dieser und anderer kritischer Stimmen hielt Trietsch an seinen Plänen fest. Wie er einmal zugab, hatte er sich schon als Kind für Inseln begeistert: „In meinen Knabenträumen war ich ein Seefahrer, vor dem kein noch so fernes Gestade sicher war. Später als die modernen Verhältnisse anfingen, mir kompliziert zu erscheinen, und die Nothwendigkeit einer Spezialisirung [!] (die mir verhaßt war) sich zeigte – da sehnte ich mich nach der verhältnißmäßigen Abgeschiedenheit irgend einer Art ,Insel‘, wo der Einzelne eine Möglichkeit behielte, sich nach allen Seiten auszuleben.“191
Die ,Insel‘, die sich auch als Metapher für Trietschs zionistisches Engagement inmitten einer nichtzionistischen Umgebungsgesellschaft lesen ließe, ermöglicht erste Rückschlüsse auf seinen Bildungsweg, auf den zurückzukommen sein wird. Ein weiterer Grund für seine positive Bezugnahme auf Zypern war neben dieser persönlichen Komponente die jüdische Vergangenheit der Insel. Zypern wurde im Laufe seiner Geschichte in der Tat durch verschiedene Kulturen geprägt, zu denen auch die jüdische zählte. Als strategische Schnittstelle zwischen Orient und Okzident geriet die drittgrößte Insel im Mittelmeer zunächst unter assyrische, ägyptische und persische Kontrolle, ehe sie in den politischen Machtbereich der Ptolemäer, Römer, Genuesen und Venezianer fiel. Von ihnen übte vor allem der
187 Wylli [!] Hess, „Cypern als Ziel jüdischer Kolonisten“, in: Der Israelit 40 (1899), Nr. 64, S. 1353 f.; Nr. 71, S. 1521–1523; Nr. 78, S. 1637 f. 188 Ebd., Nr. 78, S. 1637. 189 Ebd., S. 1638. 190 Leo Paperin, „Die Cypernfrage“, in: Die Welt 4 (1900), Nr. 12, S. 2 f., hier S. 3. 191 Davis Trietsch, „Die Cypern-Frage“, in: Allgemeine Zeitung des Judenthums 64 (1900), Nr. 41, S. 488–490, hier S. 488.
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3. „Greater Palestine“
Hellenismus eine nachhaltige Prägung aus, die im Anschluss an die Eroberung durch das Osmanische Reich 1571 um die Kultur des Islam bereichert wurde.192 Die jüdische Geschichte Zyperns griff Trietsch ausführlicher in seinem Buch Cypern. Eine Darstellung seiner Landesverhältnisse (1911) auf, das von dem schon erwähnten Geografen und Orientalisten Hugo Grothe herausgegeben wurde. Mit der Länderstudie, die im Grundton die positive Entwicklung Zyperns seit 1878 referierte, wollte Trietsch das Interesse der deutschen Öffentlichkeit an diesem „Garten des Ostens“193 wecken. Er erhoffte sich auf diesem Wege eine politische Einflussnahme des Deutschen Kaiserreichs, die eine jüdische Einwanderung nach Zypern befördern sollte. Trietsch zufolge hätten auf der Insel „schon seit den Zeiten Salomos“194 Jüdinnen und Juden gelebt. Im Verlauf der Jahrhunderte sei ihre Zahl stetig gestiegen, wodurch die Jüdische Gemeinde um 100 v. d. Z. „zahlreich und mächtig“ gewesen sei. Genaue Angaben machte er hier nicht, was sich aufgrund fehlender Quellen laut Panteli aber auch nicht bewerkstelligen ließe. Panteli zufolge lebten zu dieser Zeit rund 12.000 Jüdinnen und Juden auf Zypern, die vor allem im Handel tätig waren.195 Als es in den Jahren 115 bis 117 n. d. Z. zum großen Diasporaaufstand kam, der sich gegen die Politik des römischen Kaisers Trajan (53–117 n. d. Z.) richtete, trat auch die Gemeinde auf Zypern in Aktion. Bis zur gewaltsamen Niederschlagung der Rebellion sollen ihre Mitglieder 240.000 Zivilistinnen und Zivilisten ermordet haben – eine bemerkenswert hohe Zahl, die aus der Feder römischer Historiografen stammt und somit vermutlich nicht der Realität entsprach. Unabhängig von der tatsächlichen Opferzahl ging Rom mit großer Härte gegen die Aufständischen vor. All diejenigen, die die römische Gegenoffensive überlebt hatten, wurden der Insel verwiesen.196 Im 12. Jahrhundert ließ sich schließlich eine kleine jüdische Gruppe erneut auf Zypern nieder. Eine nennenswerte demografische Größe bildeten Jüdinnen und Juden auf der Insel in den nächsten Jahrhunderten allerdings nicht mehr. Erste Spuren jüdischen Lebens lassen sich zwar erst ab dem 3. Jahrhundert v. d. Z. archäologisch belegen, doch hatte Trietsch Recht, wenn er betonte, Zypern sei für Jüdinnen und Juden schon im Altertum ein bedeutendes Siedlungsgebiet gewesen. Wie der Obertitel von Pantelis Studie A Place of Refuge. A History of the Jews in Cyprus anzeigt, war die Insel über mehrere Jahrhunderte ein zentraler Zufluchtsort für geflüchtete Jüdinnen und Juden. Zypern bildete somit tatsächlich 192 Einen historischen Abriss (10.000 v. d. Z. – 1960 n. d. Z.) gibt Panteli, A Place of Refuge, S. 134–139. Weiterführend zum Hellenismus und Islam: Peter Scherrer (Hg.), Hellenistisches Zypern. Akten der internationalen Tagung, Institut für Archäologie, Universität Graz, Graz 2012; Evangelia Balta (Hg.), Ottoman Chrysochou (mid-19th Century), Istanbul 2019. 193 Davis Trietsch, Cypern. Eine Darstellung seiner Landesverhältnisse, besonders in politischer und wirtschaftlicher Beziehung, Frankfurt a. M. 1911, S. 11, 106. 194 Ebd., S. 32. 195 Panteli, A Place of Refuge, S. 2 f. 196 William Horbury, Jewish War under Trajan and Hadrian, Cambridge 2014, S. 176 f. Zur Darstellung von Trietsch siehe ders., Cypern, S. 20, 32.
3.4 Das Zypern-Projekt
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eine wichtige Station in der jüdischen Diasporageschichte.197 Vor diesem Hintergrund sollte die Insel auch für die Arbeiter aus Boryslaw Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem sicheren Ort werden. Der Plan war es, dass Trietsch die Männer in Triest traf und mit ihnen nach Zypern fuhr. Bei seiner Ankunft in der italienischen Hafenstadt fand er sie allerdings nicht vor, da die Gruppe noch immer unterwegs war. Anstatt wie vereinbart auf die Männer zu warten und mit ihnen gemeinsam aufzubrechen, verließ Trietsch Triest und fuhr allein weiter nach Zypern. Zuvor hatte er den Kultusvorstand der hiesigen Jüdischen Gemeinde gebeten, die Gruppe bei ihrer Anschlussfahrt nach Zypern zu begleiten.198 Einige Tage später landeten die Boryslawer schließlich im Hafen von Larnaca. Persönlich begrüßen konnte Trietsch sie allerdings nicht, da sie erst kurz vor Mitternacht in der Nähe von Famagusta eingetroffen waren. Dort befanden sich die Wasserwerke, in denen sie künftig arbeiten sollten. Nach ihrer Ankunft im April des Jahres 1901, der eine mehr als zweiwöchige Anreise vorangegangen war, mussten sie vorläufig im Freien übernachten. Die für sie vorbereiteten und ihnen versprochenen Wohnungen waren in der Nacht nicht zugänglich. Die Männer, die noch Zuhause von den Unzulänglichkeiten des Projektes erfahren hatten, sahen sich diesen nun in der Realität gegenüber. Ihre Motivation muss folglich von Beginn an eine geringe gewesen sein, sodass Trietsch am nächsten Tag auf eine desillusionierte Gruppe traf, die berechtigte Klagen an ihn richtete.199 Die pessimistische Grundhaltung der Boryslawer äußerte sich prompt darin, dass sie sich am nächsten Tag weigerten, ihre Arbeit in den Wasserwerken aufzunehmen. Die Männer waren an einem Donnerstagabend auf Zypern angekommen, wodurch ihr erster Arbeitstag ausgerechnet mit Beginn des Schabbats zusammenfiel. Wohl auch wegen der getrübten Gesamtsituation beschlossen sie daher, den ganzen Freitag über nicht zu arbeiten und beklagten sich Trietsch zufolge unentwegt. So sollen sie sich über das regionale Brot beschwert haben, das ihnen nicht zusagte, ebenso wie über mangelnde Fleischrationen und das fremde Klima samt Moskitos. Zu Recht befürchteten sie eine Infektion mit Malaria. Zudem sahen sich die Männer um ihren Lohn betrogen, von dem sie geglaubt hatten, er werde höher ausfallen.200 Trietsch wies all ihre Kritik zurück und versuchte, sie mit der Aussicht auf eine andere Arbeitsgelegenheit umzustimmen. Im Rückblick und von außen betrachtet mögen die gegen ihn vorgebrachten Einwände nicht immer gerechtfertigt gewesen sein – zumindest in der Weise, wie Trietsch sie schilderte. Allerdings müssen sie auch vor dem Hintergrund der körperlichen und seelischen Verfassung der Männer gesehen werden, die erschöpft und verunsichert auf Zypern angekommen waren. Zusätzlich kam es, wie Trietsch einräumte, zu Missverständnissen, durch die sich die Situation noch zuspitzte.201 197 Panteli,
A Place of Refuge, S. 11. Trietsch, „Die Geschichte einer Hilfsaktion“, S. 23. 199 Ebd., S. 25. 200 Ebd., S. 27–29. 201 So z. B. bei der Abfassung der Lohnzettel: ebd., S. 29. 198
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3. „Greater Palestine“
So gaben die Männer dem Vorhaben letztlich keine Chance und seien, wie Trietsch rückblickend bemerkte, „Vernunftgründen nicht zugänglich“202 gewesen. Wie kleine Kinder hätten sie gejammert und gedroht: „Einer wollte auf das nächste Schiff gehen und, wenn ihn dasselbe nicht mitnehmen würde, sich ins Meer werfen. […] Ein anderer fand diesen Ausweg sehr nachahmenswert, ein Dritter schlug vor, zum Konsul zu gehen und sich zu beklagen, einem Vierten war der Konsul keine genügend hohe Instanz. Er wollte bis zum ,Franz Joseph‘ gehen, um festzustellen, wer an dem ,Verrat‘ schuld sei.“203
Trietsch hielt die Männer von ihrer Abreise nicht ab. Zwar war er enttäuscht und gekränkt, doch ging er auf ihre Forderungen ein und organisierte schnellstmöglich die Rückreise, deren Kosten das Berliner Hilfskomitee trug. Nach nur wenigen Tagen war das Projekt gescheitert.
3.5 Stürmische Szenen auf dem Kongress: Die Kritik Theodor Herzls Im Anschluss an das vorzeitig beendete Zypern-Unternehmen war Davis Trietsch mit vielen Angriffen konfrontiert. Um sein Handeln vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen, nutzte er das von ihm und Alfred Nossig 1902 gegründete Fachblatt Palästina. Zeitschrift für die culturelle und wirtschaftliche Erschließung des Landes. Wie andere Zeitschriften, an deren Gründung er beteiligt gewesen war, sollte das Blatt seiner Sicht der Dinge einen Raum geben. Trietschs Aufsatz „Die Geschichte einer Hilfsaktion“ (1903) erschien im zweiten Jahrgang von Palästina, die er nach dem Ausscheiden Nossigs allein herausgab. Der persönliche Text gibt interessante Einblicke in die sinnhaften Deutungen des von ihm Erlebten im Rahmen einer konstruierten Erfahrungssynthese.204 Die zwei Jahre nach den Ereignissen erschienene Verteidigungsschrift offenbart, dass Trietschs aufrichtiges Mitgefühl für die osteuropäischen Jüdinnen und Juden nur so weit reichte, wie ihr Wille zur Kooperation. Dem Ton und der Wortwahl des Textes nach zu urteilen, sah er sich weiterhin in der Position eines befähigten Arztes, der die Weigerung seiner unwissenden Patienten zur Behandlung nicht akzeptierte. Trietschs retrospektive Schilderungen lassen insgesamt wenig Verständnis erkennen. Stattdessen äußerte er sich zum Teil herablassend über die Männer aus Boryslaw, die er mit Kindern verglich. Mit ihrer „wundervolle[n] Intelligenz“205 – ihm zufolge konnten sie kaum lesen und schreiben – verdienten die Männer zumindest sein Mitleid nicht. Ebd. Ebd., S. 28. 204 Zur Rolle von Sinnsynthesen in der individuellen Erzählung s. Ulrike Jureit, Konstruktion und Sinn. Methodische Überlegungen zu biographischen Sinnkonstruktionen, Oldenburg 1998. 205 Trietsch, „Die Geschichte einer Hilfsaktion“, S. 26 f. 202 203
3.5 Stürmische Szenen auf dem Kongress
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Trotz seiner paternalistischen Positur, die auch viele andere deutschsprachige Zionistinnen und Zionisten einnahmen, räumte Trietsch Fehler ein. So hätte die Gruppe von Beginn an größer sein müssen, ihr eine kundige Begleitperson und ein Arzt an die Seite gestellt werden sollen, ebenso wie sie eigene finanzielle Mittel hätte aufbringen müssen, wodurch die Männer „den Ernst mit[brächten], der für den Erfolg solcher Versuche entscheidet.“206 Für Trietsch stellte Zypern trotz allem weiterhin das vielversprechendste Einwanderungsland für Jüdinnen und Juden dar, da er die Versäumnisse nicht mit der Insel in Verbindung brachte. Während Palästina durch Restriktionen und eine weithin korrupte Verwaltung viele Nachteile für eine systematische Einwanderung aufwies, bot Zypern den Vorteil eines britischen Einflussgebietes, das einer zunehmenden Modernisierung entgegenschritt und dem Zuzug jüdischer Geflüchteter weitgehend mit Wohlwollen begegnete.207 Dass die Regierung in London eine jüdische Einwanderung allerdings nicht derart begrüßte, wie Trietsch meinte, zeigt neben der ablehnenden Haltung von Chamberlain ein Vorfall im Juni 1901. In einem Schreiben an seinen Vorgesetzten berichtete der Hochkommissar Haynes Smith, wie rund 100 rumänische Jüdinnen und Juden kürzlich versucht hätten, in Zypern an Land zu gehen. Die Landung sei ihnen untersagt worden, da sie die Auflagen zur Einreise nicht erfüllten.208 Sie gingen auf eine Verordnung von Juli 1898 zurück, der zufolge mittellose Einwanderinnen und Einwanderer einen Mindestbetrag und eine Unterkunft für die ersten zwölf Monate vorzuweisen hatten, durch die ihr Auskommen auf der Insel sichergestellt werden sollte.209 Kurz nachdem die rumänische Gruppe deshalb abgewiesen worden war, erhielt Haynes Smith ein Telegramm aus der Stadt Galatz (Galaţi), dem zufolge sich 240 weitere rumänische Jüdinnen und Juden nach Zypern eingeschifft hätten. Haynes Smith telegrafierte daraufhin nach Konstantinopel, wo die Gruppe aus Galatz einen Zwischenhalt eingelegt hatte. Die Einreise war ihnen auch dort verweigert worden.210 Das Schicksal der mehrfach zurückgewiesenen jüdischen Familien schlug hohe Wellen der Empörung. Die Betroffenen wussten meist nicht, wohin sie als nächstes gehen sollten, nachdem viele ihren Besitz für die Fahrt nach Zypern veräußert hatten. Für mehrere zionistische Beobachterinnen und Beobachter stand fest, ihre missliche Lage sei durch Trietschs Agitation verursacht worden. Letzterer sah sich daher veranlasst, eine öffentliche Erklärung abzugeben. In der Welt betonte er, mit der Gruppe aus Galatz nichts zu tun zu haben, ebenso wie er vor einer „Einwan-
206 Ebd.,
S. 31. weiterhin positiven Einschätzung Zyperns siehe u. a. D. T. [Davis Trietsch], „Der Spruch der Einwanderungskommission“, in: Ost und West 2 (1902), Nr. 8, Sp. 505–516. 208 Sir William Haynes Smith an Joseph Chamberlain, 16. 7. 1900. TNA, CO 67/124/24125, 11–14. 209 Statement of the Conditions on Which the Landing of Destitute Persons is Permitted in Cyprus Under the Proclamation of the High Commissioner of the 27th July, 1898. Ebd., 15. 210 Sir William Haynes Smith an Joseph Chamberlain, 16. 7. 1900. 207 Zur
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3. „Greater Palestine“
derung ohne Mittel und ohne Organisation“211 ausdrücklich gewarnt hätte. Der Leiter der Gruppe, ein gewisser L. J. Feldmann, erwiderte dem gegenüber, dass Trietsch zu ihrem Ehrenpräsidenten ernannt worden sei, nachdem er ihnen eine Auswanderung nach Zypern nahegelegt hatte.212 Wie Trietsch später in seiner „Geschichte einer Hilfsaktion“ zugab, hatte sich auf seine Agitation hin tatsächlich ein Auswanderungsverein in Galatz gegründet.213 Trietsch hatte die Stadt auf der Rückfahrt seiner ersten Zypern-Reise im November 1899 besucht und in der dortigen Jüdischen Gemeinde offenbar große Hoffnungen geweckt. Was er den Leuten vor Ort im Einzelnen versprach, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Mit Blick auf seinen großen Optimismus und Tatendrang dürfte er mit positiven Voraussagen allerdings nicht gespart haben. An anderer Stelle ist außerdem belegt, dass er sich einen Monat vor der Abreise der Galatzer Gruppe in der Stadt aufgehalten hatte, um ihre Auswanderung nach Zypern vorzubereiten.214 Der Skandal um die rumänischen Auswanderinnen und Auswanderer sollte dem Ansehen von Trietsch in der Bewegung auf lange Sicht schaden. Nicht das Scheitern des eigentlichen Projekts wurde ihm zur Last gelegt, nämlich das der Boryslawer Bergbauarbeiter, sondern seine mutmaßliche Verantwortung für die Familien aus Galatz. Obwohl er beteuerte, sie vor einer überstürzten Auswanderung gewarnt zu haben, wie zwei Zeitungsberichte von November 1899 tatsächlich belegen, mehrten sich Anschuldigungen gegen seine Person.215 Im Oktober 1901 monierte Trietsch in der Tribüne, es seien in letzter Zeit Gerüchte in Umlauf gebracht worden, die ihn diskreditiert hätten. Um „zur Aufklärung dieser hässlichen Angelegenheit beitragen“216 zu können, bat er um die Namen der Verantwortlichen. Herzl verfolgte die Geschehnisse aufmerksam von Wien aus, wo ihn ebenfalls ein erbostes Schreiben von Trietsch erreichte, in dem er einen vermeintlichen „AntiCypern-Feldzug“217 der zionistischen Leitung beklagte. Damit reagierte er auf das Verhalten des Präsidenten, das er ihm gegenüber als unfair empfand. Von Herzl bitter enttäuscht, kritisierte Trietsch besonders das Vorgehen der Wiener WeltRedaktion, die unter dem Einfluss der ZO-Leitung stand. Ohne Genehmigung hätte sie mehrere Änderungen an einem seiner Artikel vorgenommen, ebenso wie sie lediglich negative Stellungnahmen zu seinem Zypern-Projekt abgedruckt hätte, während positive Einschätzungen von ihr bewusst zurückgehalten worden wären. Eine Notiz in der Tribüne brachte das Fass im Mai 1900 schließlich zum Überlaufen. Darin hieß es, drei Galatzer „Opfer der Emigration nach Cypern“ seien in 211 D. Trietsch, „Cypern und die rumänischen Auswanderer“, in: Die Welt 4 (1900), Nr. 28, S. 9 [Hervorh. im Original]. 212 L. J. Feldmann, „Löbliche Redaction!“, in: ebd., Nr. 30, S. 9 f. 213 Trietsch, „Die Geschichte einer Hilfsaktion“, S. 23. 214 „Galatz“, in: Jüdisches Volksblatt 2 (1900), Nr. 22, S. 4. 215 „Bukarest“, in: Jüdisches Volksblatt 1 (1899), Nr. 40, S. 4; „Jassy“, in: Die Neuzeit 38 (1899), Nr. 48, S. 484. 216 Davis Trietsch, Zuschrift o. T., in: Die Welt 5 (1901), Nr. 40, S. 10. 217 Davis Trietsch an Theodor Herzl, 16. 6. 1900. NLI, Martin Buber Archive, ARC. Ms. Var. 350 08 823.
3.5 Stürmische Szenen auf dem Kongress
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„jämmerlichem, wahrhaft bemitleidenswertem Zustande“218 in Fiume (Rijeka) gestrandet. Der dramatische Ton der Meldung brüskierte Trietsch. Er richtete an Herzl, dessen „Auftreten vom ersten Anfang an [seine] volle Sympathie gefunden“ hätte, daraufhin eine „loyale Kriegserklärung“219, in der er auf eine Klarstellung drängte. Werde sie ihm nicht zuteil, müsse der Präsident künftig mit seiner Gegnerschaft rechnen. Sein Schreiben schloss Trietsch mit dem Aufruf: „Alle diejenigen Mitarbeiter in der Sache, die sich zurückgezogen haben, weil sich die Sache zurückgezogen hat auf ein kleineres Land, auf ein kleineres Programm und auch auf kleinere Chancen, alle diese zionistischen Toten sollen uns wiedererwachen. […] Also Greater-Palestine oder wenigstens Greater Zionism – und unbedingt: (sonst ist’s der Tod auch für die kleinere Sache) Reinliche Kampfesweise.“220
Trietschs vorwurfsvoller Brief ist in den mehrbändigen Briefeditionen von Herzl, die ab 1983 im Propyläen Verlag erschienen, nur in stark gekürzter Form zu finden. Dieser Umstand mag einerseits der Länge des Briefes geschuldet sein, der insgesamt acht Schreibmaschinenseiten umfasste. Andererseits warfen die Anschuldigungen ein ungünstiges Licht auf den Begründer des modernen Zionismus. Dem Herausgeber Alex Bein (1903–1988), der Herzl nicht mehr kennenlernte, ihn aber offenkundig verehrte und die erste umfassende Herzl-Biografie 1934 verfasste, dürfte der Brief mit seiner durchaus gerechtfertigten Kritik einer einseitigen Berichterstattung nicht genehm gewesen sein.221 Der besagte Brief, der sich in Bubers Nachlass in der National Library of Israel findet, täuscht darüber hinweg, dass auch Herzl mit einer jüdischen Besiedlung Zyperns geliebäugelt hatte. So findet sich in seinem Tagebuch im Oktober 1899 der Vermerk, er würde das Zypern-Projekt von Trietsch für „sehr vernünftig“ halten, obgleich er sich „mit Rücksicht auf die Chovevei Zion nicht dafür aussprechen“222 dürfe. Wie ihm die Reaktionen auf dem dritten Kongress lautstark vor Augen geführt hatten, konnte Herzl öffentlich nicht für Zypern votieren. Den Plänen von Trietsch brachte er daher eine wohlwollende Neutralität entgegen, „falls er nicht gegen uns intrigirt [!].“223 Trietsch hatte seinerseits früh den Kontakt zu Herzl gesucht, um ihn für seine Zypern-Agitation zu gewinnen.224 Eine wichtige Vermittlerrolle spielte dabei der schon erwähnte Moses Gaster, der ein enger Vertrauter Herzls war und als 218 „Zur
Cypern-Agitation“, in: Die Welt 4 (1900), Nr. 19, S. 9. Trietsch an Theodor Herzl, 16. 6. 1900. 220 Ebd. [Hervorh. im Original]. 221 Bein sprach in seinen Erinnerungen von „Herzls Genialität“ und gab zu, als „Herzlist“ gegolten zu haben. Bein, „Hier kannst Du nicht jeden grüßen.“, S. 219, 263; Alex Bein, Theodor Herzl. Biographie, Wien 1934. 222 Tagebucheintrag von Theodor Herzl, 30. 10. 1899, in: Alex Bein (Hg.), Theodor Herzl. Zionistisches Tagebuch. Bd. 3: 1899–1904, Berlin 1985, S. 64. 223 Theodor Herzl an Heinrich Rosenbaum, 22. 10. 1899, in: Alex Bein u. a. (Hg.), Theodor Herzl. Briefe. Bd. 5: Anfang Dez. 1898–Mitte Aug. 1900, Berlin 1991, S. 239. 224 Siehe u. a. Davis Trietsch an Theodor Herzl, Ende März 1898, in: ebd., Bd. 4: Anfang Mai 1895–Anfang Dez. 1898, Berlin 1990, S. 450. 219 Davis
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3. „Greater Palestine“
Großrabbiner der sephardischen Gemeinde und Präsident der English Zionist Federation ein hohes Ansehen über London hinaus genoss.225 Gaster, der 1856 in Bukarest geboren und wegen seiner Kritik an der dortigen Regierung 1885 des Landes verwiesen worden war, sah in Trietschs Vorhaben eine Chance, der jüdischen Minderheit in seinem Geburtsland zu helfen. Zypern stellte für ihn ein vorübergehendes Refugium dar, das er allerdings, anders als El-Arisch, nicht zu Greater Palestine zählte.226 Trietschs Kontakte nach London stellten für Herzl und die Wiener Leitung insoweit kein Problem dar, da sie intern über zionistische Kanäle abgewickelt wurden. Was ihnen dagegen missfiel, war Trietschs Nähe zur dortigen Regierung, die er ohne Rücksprache allein aufgesucht hatte. Sein eigensinniges Vorgehen dürfte dabei vor allem Herzl irritiert und verärgert haben. Er hatte immer wieder betont, wie sehr verschiedene Projekte den Weg der Diplomatie erschwerten, besonders wenn sie fehlschlügen. Der ZO-Präsident hielt es deshalb für unerlässlich, die Erlangung einer Generalkonzession für ein jüdisches Gemeinwesen – ab 1899 sprach man gemeinhin von einem Charter – dem Verhandlungsgeschick einzelner befähigter Männer zu überlassen, allen voran ihm selbst. Um die sogenannte Judenfrage zu einer politischen Weltfrage zu erheben, die „im Rathe der Culturvölker“227 diplomatisch gelöst werden sollte, wandte sich auch Herzl 1902 der Regierung in London zu. Von ihr erhoffte er sich neue Optionen, nachdem seinen Verhandlungen mit Sultan Abdülhamid II. über Palästina im Sommer des Jahres kein Erfolg beschieden gewesen war. Herzls Pläne konzentrierten sich daraufhin auf Zypern und ,Egyptisch-Palästina‘, für die er die Zionist*innen zu gewinnen hoffte. Anders als Trietsch, der es Herzl zufolge „dummer Weise auf eigene Faust machen woll[te]“, sah er sich imstande, nun die zwei als „nächste Station, durch die wir gehen müssen“ zu präsentieren, ohne die Bewegung darüber zu spalten.228 Die Gespräche zwischen Herzl und Chamberlain ließen allerdings schnell erkennen, dass der Kolonialminister auch gegenüber dem charismatischen ,Zionistenführer‘ nicht geneigt war, Zypern für eine Einwanderung von Jüdinnen und Juden freizugeben. Mit Blick auf die einheimische Bevölkerung und deren ablehnende Haltung wies er Herzls Pläne zurück, stellte aber eine Ansiedlung entlang des Wadi al-Arish in Aussicht.229 Daraufhin machte sich in Absprache mit 225 Georg Herlitz/Josef Meisl, „Gaster, Moses“, in: Georg Herlitz/Bruno Kirschner (Hg.), Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden, Bd. 2: D–H, Berlin 1928, Sp. 898 f. Zu Gaster s. Ben Gidley, „Jews, Englishmen, and Folklorists. The Scholarship of Joseph Jacobs and Moses Gaster“, in: Eitan Bar-Yosef/Nadia Valman (Hg.), „The Jew“ in Late-Victorian and Edwardian Culture. Between the East End and East Africa, Basingstoke 2009, S. 113–130. 226 Siehe Davis Trietsch an Moses Gaster, 4. 7. 1905. 227 Herzl, Der Judenstaat, S. 11. 228 Theodor Herzl an Leopold Jacob Greenberg, 7. 4. 1902, in: Bein, Theodor Herzl. Briefe und Tagebücher, Bd. 6, S. 485. 229 Laqueur, Der Weg zum Staat Israel, S. 139 f.
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dem britischen Generalkonsul Lord Cromer (1841–1917) im Februar 1903 ein Expeditionsteam unter der Leitung der ZO auf den Weg, um das Gebiet persönlich in Augenschein zu nehmen. Im Verlauf der 43-tägigen Forschungsreise gelangten ihre Teilnehmer zu dem Ergebnis, eine Besiedlung sei wegen unzureichender Wasserquellen nicht möglich. Da die Regierung in Kairo nicht gewillt war, den Nil umzuleiten, erklärte man das Projekt nach kurzer Zeit für gescheitert.230 Herzl, der vom Erfolg des Projekts derart überzeugt gewesen war, dass er keine Grabstätte mehr für sich und seine Familie in Wien anlegen lassen wollte, notierte am 16. Mai resigniert in sein Tagebuch: „Ich halte die Sache jetzt für so gescheitert, daß ich schon auf dem Bezirksgericht war und die Gruft Nr. 28 erwerbe.“231
Trietsch glaubte dagegen weiterhin an die Möglichkeiten von El-Arisch und machte der zionistischen Leitung schwere Vorwürfe. In seinem Artikel „Die Landfrage im Zionismus“, den er in der Wiener Monatsschrift Der Weg im Frühjahr 1903 veröffentlichte, teilte er verbal aus.232 In der Zeitschrift hatten sich schon andere meinungsstarke Autoren wie Nathan Birnbaum ihren Unmut von der Seele geschrieben, der sich gegen den ,offiziellen Zionismus‘ richtete. Trietsch zufolge wäre es zunächst die „allerselbstverständlichste Pflicht der Wiener Leitung“233 gewesen, ihn an den Vorbereitungen der Expedition zu beteiligen. Schließlich sei er es gewesen, der das Gebiet in die zionistische Debatte eingeführt hätte. Dass die Leitung ohne sein Wissen nach El-Arisch gereist war und das Gebiet entgegen seiner eigenen Einschätzung kurzerhand für ,unbesiedelbar‘ erklärte, empfand Trietsch als persönliche Kränkung. Seine angriffslustige Kritik richtete sich besonders gegen Herzl, den er einen „Schädling der Sache“ nannte, da er sich bloß „mit Nullen“234 umgäbe. Anstelle einer „one man’s movement“, getragen von geltungssüchtigen „Dekorationsfiguren“235, rief Trietsch zu einer demokratischeren Bewegung auf. Von ihr erhoffte er sich, dass auch Akteuren wie ihm künftig eine größere Teilhabe an Entscheidungsfindungen beschieden werde. Als Ende August 1903 der sechste Zionist*innenkongress feierlich in Basel eröffnet wurde, reiste auch Trietsch an. Im Gepäck hatte er unter anderem seinen
230 Peters, Sehnsuchtsort, S. 35 f. Eine Umleitung des Nils wurde erst Ende der 1980er Jahre in die Wege geleitet, um die nördliche Sinai-Halbinsel landwirtschaftlich zu erschließen. Zu jüngeren Entwicklungen siehe Al-Masry Al-Youm, 400,000 Feddans Allocated to North Sinai Development Project, 13. 3. 2018, abrufbar unter: https://www.egyptindependent.com/ 400000-feddans-allocated-north-sinai-development-project/ (Zugriff 12. 3. 2022). 231 Bein, Theodor Herzl. Biographie, S. 602. 232 Davis Trietsch, „Die Landfrage im Zionismus“, in: Der Weg. Jüdische Monatsschrift 1 (1903), Nr. 1&2, S. 23–36. Für die Bereitstellung des Artikels danke ich Laurel S. Wolfson und Israela Ginsburg vom Hebrew Union College, Cincinnati. 233 Ebd., S. 31 [Hervorh. im Original]. 234 Ebd., S. 25 f. 235 Ebd., S. 25, 35.
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Weg-Artikel, den er im Vorfeld mit anderen Weg-Gefährten unter die Delegierten gebracht hatte. Die Eröffnung des Kongresses gebührte traditionell dem ZO-Präsidenten, der auch als erster das Wort ergriff. In seiner Begrüßungsrede, die seine letzte sein sollte, räumte Herzl zunächst die missglückten Verhandlungen in Bezug auf El-Arisch ein.236 Zypern erwähnte er hingegen nicht, wohl in dem Wissen, die meisten Zionistinnen und Zionisten hätten einer Besiedlung der Insel ohnehin ablehnend gegenübergestanden. Angesichts der wenige Monate zuvor erfolgten Pogrome in Kischinew konnte er dem Kongress dafür aber eine „Kolonisationsaushilfe“237 präsentieren, die zwar nicht Zion war, aber eine sofortige Hilfe versprach: Ostafrika. Die Reaktionen auf das Angebot Londons, ein jüdisches Gemeinwesen in einem Teil Britisch-Ostafrikas zu gründen, fielen zunächst positiv aus. Das Protokoll berichtet von einem euphorischen „Hüte‑ und Tücherschwenken“ und einem nicht enden wollenden Applaus, der den aus London angereisten Israel Zangwill (1864–1926) zu dem Ausruf „Three Cheers for England!“238 animierte. Der erste Redner, der in diesen Freudentaumel nicht einstimmte, war Trietsch. Er hielt stattdessen an Greater Palestine fest und betonte, dass Aktionen in Afrika nur zu einer weiteren Zerstreuung führen würden.239 Mit Blick auf El-Arisch forderte er neue Untersuchungen. Er hielt das Gebiet weiterhin für aussichtsreich, wenn man von Anfang seine industrielle Erschließung in Betracht zöge. Zunächst auf kleiner Grundlage ließen sich durch eine wachsende Industrie Trietsch zufolge dort mehr Menschen ansiedeln als in der Landwirtschaft. Ein weiterer Vorteil lag für ihn darin, dass die Agrikultur mehr Wasser benötigte, das die aride Region nicht hergab.240 Die Rede, die stellenweise seinem Weg-Artikel entnommen war, wurde von „Zischen und Pfuirufen“, aber auch von „lebhaftem Beifall“ begleitet. Sie endete schließlich mit der selbstbewussten Forderung Trietschs, ihm und seinen Mitstreiter*innen „einen Teil der Befugnisse, mit denen unsere jetzige Führung nichts erreicht hat“, zu geben, damit sie „näher zu Palästina Besseres finden als Ostafrika.“241 Herzl ließ sich auf solche Kompetenzverlagerungen natürlich nicht ein, sondern holte zum verbalen Gegenschlag aus. Trietsch und seinen Anhängerinnen und Anhängern, die vor allem in der Breslauer Ortsgruppe um den Zahnarzt Hugo Schachtel (1876–1949) organisiert waren, warf er ein zersetzendes Verhalten vor.242 Insbesondere Trietsch lastete er an, durch fahrlässige Unternehmungen im Allein-
236 Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des VI. Zionisten-Kongresses, Wien 1903, S. 6–8. 237 Ebd., S. 8. 238 Ebd., S. 9. 239 Ebd., S. 36, 39. 240 Ebd., S. 36, 41, 113, 308. 241 Ebd., S. 44 f. [Hervorh. im Original]. 242 Van Rahden, Juden und andere Breslauer, S. 113; Richard Lichtheim, Die Geschichte des deutschen Zionismus, Jerusalem 1954, S. 158.
3.5 Stürmische Szenen auf dem Kongress
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gang der Sache nachhaltig geschadet zu haben. Um zu zeigen, wie gefährlich solche Aktionen waren, kam Herzl auf sein misslungenes Zypern-Projekt zu sprechen. In der richtigen Vorannahme, Trietsch werde ihm wegen des Uganda-Plans die Stirn bieten, hatte sich der ZO-Präsident ein Protokoll vorbereiten lassen. Dieses stammte von einer gewissen Betty Kaufmann aus Galatz, die mit ihrem Mann und den sechs Kindern nach Zypern aufgebrochen war, nachdem Trietsch sie dazu ermutigt hätte. Da ihre Einreise dort verhindert worden war, gelangte die Familie „bettelarm“ zurück nach Rumänien, wo ihr männliches Oberhaupt zu allem Übel „an den mitgemachten Strapazen“243 verstorben sei. Trietsch, der Herzl entgegenhielt, es handele sich nicht um Tatsachen, sondern nur um „die Tatsache eines Protokolls“, konnte zu den Vorwürfen vorerst keine Stellung beziehen. Unter „begeisterte[n] Hochrufe[n] auf Dr. Herzl“ und „Hinunter mit Trietsch“244-Rufen musste er die Tribüne verlassen. In der Gedenkschrift Zeitgenossen über Herzl (1929) kritisierte Buber noch Jahre später das Verhalten des ansonsten von ihm hochgeschätzten Präsidenten: „Um es vorweg klarzustellen […]: der Hieb war – ganz abgesehen davon, daß er die Person statt der Sache treffen wollte – mit einem nicht korrekten Degen geführt worden: das ,Opfer‘ war kein Opfer, und das Protokoll …, nun es war ein Protokoll.“245
Empört über das gebieterische Auftreten Herzls, soll Buber ihn nach der Sitzung aufgesucht haben. Bei einem Gespräch unter vier Augen erklärte ihm der ebenfalls aufgewühlte Herzl, er hätte sich Trietsch noch ganz anders „vorgenommen“, wäre nicht dessen „Braut“246 [Emma Trietsch] erzürnt vor der Tribüne erschienen. Der Hintergrund für Herzls Angriffe lässt sich in der Tat als eine persönliche Abrechnung interpretieren. Dem Präsidenten dürfte es demnach missfallen haben, dass Trietsch auf dem Kongress so offensiv Kritik an ihm geäußert hatte. Das erste Prinzip der ZO war damit durchbrochen worden, das Friedemann einmal als den absoluten Gehorsam und die Unterdrückung der Individualität bezeichnet hat.247 Trietschs schonungslose Kritik war vor dieser Folie nicht hinnehmbar. Nicht zu Unrecht kam er daher zu dem Schluss, die ZO-Leitung hätte sein Zypern-Projekt, das zwei Jahre zurücklag, nur aufgegriffen, um ihn öffentlich in die Schranken weisen zu können: „Die Herren haben Staub über diese Dinge kommen lassen (Schlussrufe), bis ich wieder unbequem wurde. Und jetzt kommen sie wieder in die Höhe.“248
243 Stenographisches
Protokoll (1903), S. 52. S. 53. 245 Martin Buber, „Sache und Person“, in: Nussenblatt, Zeitgenossen über Herzl, S. 41–43, hier S. 41. 246 Ebd., S. 42. 247 Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des IV. Zionisten-Congresses, Wien 1900, S. 183. 248 Stenographisches Protokoll (1903), S. 58. 244 Ebd.,
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3. „Greater Palestine“
Abb. 3: Karikatur „Aus der zionistischen Klippschule“, 1903. Im Zentrum: Theodor Herzl, der Davis Trietsch verprügelt, während Alfred Nossig, Willy Bambus und Saul Raphael Landau schon Prügel vom ZO-Präsidenten bezogen haben.
Die Affäre Trietsch, die sich über zwei Tage hinzog und die entscheidende Diskussion der Ostafrikafrage hinauszögerte, wurde von Herzl mit der Einberufung eines Untersuchungsausschusses schließlich für beendet erklärt.249 Die Arbeit des Ausschusses, dem Buber und Gronemann angehörten, wurde zum Leidwesen Trietschs jedoch nie abgeschlossen. Gronemann, der als Rechtsanwalt arbeitete, war bei seiner Flucht 1933 nach Palästina später gezwungen, alle diesbezüglichen Akten in Berlin zurückzulassen. Wie er später einräumte, dürften sie damit „endgültig verschwunden sein“.250 249 250
Ebd., S. 59. Gronemann, Erinnerungen, S. 248.
3.6 Greater Palestine in der zionistischen Debatte
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Die öffentlichen Anschuldigungen gegen Trietsch, verpackt in eine „geschmacklose […] Theaterszene“251, wie Nossig abschätzig kommentierte, schadeten seinem Ansehen nachhaltig. Auch wenn prominente Weggefährten wie Warburg noch in späteren Jahren bemüht waren, „die Trietsch herabsetzende Legende zu zerstören“252, haftete sie zeitlebens an ihm. So trat unter anderem der Zionist Emil Simonsohn (1865–1942) im General-Anzeiger 1906 die rumänische ,Witwengeschichte‘ breit, um Trietsch im Rahmen einer anderen Angelegenheit zu diskreditieren.253 Trotz dieser „kindlichen Bahnhofsgeschichten“, wie Freunde von ihm kritisierten, hatten die Sturmszenen auf dem sechsten Kongress aber auch dazu geführt, dass sich Trietsch, wie ein russischer Delegierter bemerkte, „unsterblich gemacht“254 hatte. Sein Name war vielen Zionistinnen und Zionisten spätestens jetzt über Deutschland hinaus bekannt und sollte ihm, verknüpft mit seiner Opposition gegen Herzl, nach dessen Tod zu Popularität verhelfen. Als das ,Uganda-Projekt‘ von der Kongressmehrheit 1905 abgelehnt wurde, konnte sich Trietsch schließlich darauf berufen, der erste Delegierte gewesen zu sein, der den Mut besessen hatte, gegen Herzl und seine Afrika-Pläne offen Stellung zu beziehen. Mit Ausnahme Nossigs, der das erste Mal an einem Kongress teilnahm und dort ähnlich kampfeslustig das Wort ergriff, äußerten die übrigen Teilnehmenden erst am dritten Verhandlungstag ihre Bedenken.255 Diese zeitliche Abfolge der Ereignisse hat die Forschung bislang, bewusst oder unbewusst, nicht zur Kenntnis genommen. Stattdessen präsentierte sie andere Delegierte als erste oppositionelle Wortführer und blendete Trietschs Rolle wie so häufig aus.256
3.6 Greater Palestine in der zionistischen Debatte Wenige Tage nach dem ereignisreichen Kongress kam Theodor Herzl im Beisein einiger Vertrauter im gutbürgerlichen Café Spitz in Basel erneut auf Davis Trietsch zu sprechen. Den Erinnerungen Sammy Gronemanns zufolge, dem die Überlieferung dieser Szene zu verdanken ist, hätte der Präsident erklärt, wie er „schweren Herzens, sozusagen aus Notwehr, ihn hätte bekämpfen müssen, daß er 251 Stenographisches
Protokoll (1903), S. 77. Warburg, „Davis Trietsch“, in: Jüdische Rundschau 40 (1935), Nr. 11, S. 5. 253 Davis Trietsch, „Zangwill, Bamberg & Co.“, in: General-Anzeiger für die gesamten Interessen des Judentums 5 (1906), Nr. 35, o. P.; Emil Simonsohn, „Denn Patroklus liegt begraben“, in: ebd., Nr. 36, o. P. 254 Stenographisches Protokoll (1903), S. 105. Zur Verteidigung Trietschs: Heinrich Weiss, „Davis Trietsch und die ,Nachbarländer‘“, in: Jüdische Volksstimme 7 (1906), Nr. 20, S. 3 f. 255 Siehe Nossigs Vortrag: Die Bilanz des Zionismus. Kritik und Reform, Basel 1903. 256 Eloni zufolge sei Heinrich Loewe (1869–1951) der „einzige ,Nein-Sager‘ der deutschen Landsmannschaft“ gewesen. Eloni, Zionismus in Deutschland, S. 173. Loewe hatte sich allerdings erst im Laufe der Verhandlungen der Gruppe angeschlossen. 252 Otto
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aber trotz allem seine Fähigkeiten und die Ehrlichkeit seiner Absichten durchaus anerkenne.“257 Dass Trietsch und Herzl mehr verband als ihr Streit in der Öffentlichkeit vermuten lässt, belegt ihr Landprogramm. Die Not vieler osteuropäischer Jüdinnen und Juden hatte beide zu der Überzeugung kommen lassen, ihnen so schnell wie möglich einen Zufluchtsort zu sichern, der sich notfalls auch über das ,engere Palästina‘ erstrecken sollte. Im Gegensatz zu den Chovevei Zion, die wie Hillel Zlatopolsky (1868–1932) klarstellten, „Gegner eines jeden Unternehmens [zu sein], das uns von unserem Palästinagedanken abbringen konnte“258, wozu er das Zypern-Projekt zählte, dachten sie über Palästina hinaus. Herzls Gespräche über eine Besiedlung Zyperns, wie im Sommer 1902, als er zusammen mit Zangwill und anderen britischen Zionisten für ein „Jüdisches Reservat“259 auf der Insel warb, sind dafür bezeichnend. In einem wichtigen Punkt unterschieden sich beide Männer jedoch voneinander: Herzl hielt auch eine Niederlassung in Uganda bzw. Kenia für legitim, worin ihm Trietsch nicht folgte. Mit seiner unverblümten Kritik am ,Uganda-Projekt‘ stieß er den ZO-Präsidenten stattdessen in aller Öffentlichkeit vor den Kopf, ohne dessen ersten diplomatischen Erfolg zu würdigen. Herzl, der die Greater-PalestineDebatten mit Wohlwollen verfolgte, sah sich schließlich auch deshalb gezwungen, gegen Trietsch vorzugehen, da dieser noch vor dem Kongress erneut im Alleingang Kontakt nach London aufgenommen hatte. So belegen Dokumente des Kolonialministeriums, dass er dort Anfang August vorstellig wurde, um sich über mögliche Landkäufe auf Zypern zu informieren.260 Schon im Juni hatte er eine schriftliche Anfrage an Haynes Smith gestellt, in der er sein Interesse an der fruchtbaren Ebene Mesaoria bekundete. Trietsch gab an, im Namen einer Genossenschaft zu agieren, die im Februar 1902 ins Berliner Handelsregister eingetragen worden war.261 Bei ihr muss es sich um die schon erwähnte JOKG gehandelt haben, die programmatisch an den Verein Scha‘are Zion anknüpfte, der um das Jahr 1902 aufgelöst worden war.262 Wie eingangs erläutert, verfolgte die Leitung um Herzl die Agitation der JOKG mit großer Missbilligung. Sie befürchtete, Trietschs Aktivismus könne sich in einem zweiten Siedlungsprojekt auf Zypern niederschlagen, welches ihrem Ansehen Schaden zufügte. Unterdessen ließ auch Haynes Smith durchblicken, dass er eine jüdische Ansiedlung auf Zypern nicht guthieß. Zwar schloss er sie nicht grundlegend aus, knüpfte sie aber an strengere Kriterien. So durften nur noch Personen einwandern, die über Erfahrungen in der Landwirtschaft verfügten und deren fi257 Gronemann, 258 Hillel
Erinnerungen, S. 248 f. Zlatopolsky, „Drei Begegnungen“, in: Nussenblatt, Zeitgenossen über Herzl, S. 251 f.,
hier S. 251. 259 Israel Zangwill, Joseph Cowen, L. J. Greenberg an unbekannt, 9. 6. 1902. CZA, H1/3574. 260 Davis Trietsch an Joseph Chamberlain, 12. 9. 1903. TNA, FO 2/785, 72–75. 261 Davis Trietsch an Sir William Haynes Smith, 26. 6. 1903. Ebd., 82–83. 262 Davis Trietsch, „Die Jüdische Orient-Kolonisations-Gesellschaft. Die Vorgeschichte und Entstehung“, in: Palästina 2 (1903/4), Nr. 1–2, S. 49–51, hier S. 51.
3.6 Greater Palestine in der zionistischen Debatte
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nanzielles Fortkommen sichergestellt war. Ausschlaggebend für diese Verschärfungen dürfte die „strong local opposition by the Orthodox Christian community“263 gewesen sein. Die Gründung der JOKG, die bis mindestens 1906 existierte, belegt, dass Kreise im deutschsprachigen Zionismus einer Besiedlung der Nachbarländer zugeneigt waren.264 Neben der Breslauer Zionistischen Vereinigung, der Trietsch ab spätestens 1904 selbst angehörte, gab es auch in Berlin mehrere Anhängerinnen und Anhänger.265 Zu ihnen zählten in erster Linie Trietsch, Nossig und Warburg. Die drei Männer, die zunächst ein gutes Verhältnis miteinander verband, publizierten und hielten jeweils mehrere Reden zur Nachbarländer-Thematik. Im Zuge ihrer Agitation kam es wiederholt zur Zusammenarbeit, die im Falle von Trietsch und Nossig in der Herausgabe der Fachzeitschrift Palästina mündete. Sie stellte ein Novum dar, indem sie, wie Trietsch sichtlich stolz bemerkte, die realen Verhältnisse in Palästina erstmals aus jüdischer Perspektive systematisch in den Blick nahm und damit die „zionistische Bewegung in die Bahn des Objektiven und des Wissens“266 lenkte. Während die ZO-Leitung zunächst nur auf diplomatische Gespräche gesetzt hatte, markierte die Zeitschrift in der Tat den Beginn des koordinierten Sammelns, Auswertens, Bereitstellens und Vervielfältigens landeskundlicher Informationen, auf deren Basis erste Siedlungsprojekte der ZO folgen sollten. Die Zeitschrift, die in Trietschs Erinnerung „von vornherein keinen leichten Stand“267 hatte, erwies sich als erfolgreich und wurde schließlich mit dem dritten Jahrgang als Sprachrohr für die Kommission zur Erforschung Palästinas (kurz Palästina-Kommission) übernommen. Sie war 1903 auf dem sechsten Kongress auf Druck der Opposition gegründet worden, der Herzl damit signalisierte, das ,zionistische Aufbauwerk‘, wie es damals hieß, nicht länger hinauszögern zu wollen. Als anerkannte und ihm loyal gesinnte Experten ließ er Oppenheimer, Soskin und Warburg in die Palästina-Kommission wählen. In Anlehnung an Herzls kurz zuvor erschienenen Roman benannte man das Blatt schließlich in Altneuland um.268 Als Mitherausgeber hatte Nossig seine Beteiligung an Palästina bereits nach dem ersten Jahrgang aufgegeben. Der Grund hierfür dürften weniger Unstimmigkeiten bezüglich des Inhalts als vielmehr Fragen des Tagesgeschäfts, der Organisation und Finanzierung gewesen sein. Eine vertrauliche Bewertung von 1908, in der Nossig auf die Schwächen seines ehemaligen Geschäftspartners Trietsch zu sprechen kam, liefert interessante Einblicke für die weitere Analyse: 263 Sir
William Haynes Smith an Joseph Chamberlain, 5. 10. 1903. TNA, FO 2/785, 131–134. Schachtel an Franz Oppenheimer, 20. 3. 1906. CZA, A161/10. 265 Max Walk, Bericht der Breslauer Zionistischen Vereinigung, Breslau 1904, S. 9 (darin ist eine Mitgliederliste mit Trietschs Namen abgedruckt). LBI Jerusalem, 329b Breslau. 266 Davis Trietsch, „Schlusswort des Herausgebers“, in: Palästina 2 (1903), Nr. 3–6, S. 247 f., hier S. 247. 267 Ebd., S. 247. 268 Böhm, Die Zionistische Bewegung (1. Teil), S. 166; Penslar, „Zionism, Colonialism and Technocracy“, S. 143–160. 264 Hugo
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3. „Greater Palestine“
„Sein [Davis Trietschs] Gebaren auf administrativem Gebiete wie in Geldsachen kenne ich ziemlich genau, da ich eine zeitlang mit ihm zusammen die Zeitschrift ,Palästina‘ herausgab […]. Er ist in Verwaltungssachen von unglaublicher Unpünktlichkeit und Nachlässigkeit und hat von Geldangelegenheiten originelle Begriffe, ohne direkt unehrenhafte Intentionen zu haben. Nach meinen Erfahrungen würde ich Hrn. T. allein nie eine Verwaltung übergeben noch eine grössere Geldsumme zu irgendeinem Zweck anvertrauen.“269
Die Leitung eines Unternehmens bereitete Trietsch auch bei anderer Gelegenheit Probleme, wie sein Freund E. M. Lilien durchblicken ließ. Der um Harmonie bemühte Lilien, der auf dem sechsten Kongress für Trietsch eingetreten war, da er „ein guter Mensch, ein ehrlicher Mensch, ein prachtvoller Zionist“270 sei, fand für seine Arbeit im JV keine guten Worte. Im Juni 1904 schrieb er an Feiwel: „Unser verehrter Geschäftsführer ist in Cypern oder irgendwo. Er ist fort ohne Sitzung einzuberufen und einen ordentlichen Vertreter zu lassen.“271
Da sich auch Lilien negativ über Trietsch äußerte, ist anzunehmen, dass er zumindest in den Jahren 1903/1904 unzuverlässig arbeitete. Diese Einschätzung, die es mit Blick auf seine späteren Projekte im Kopf zu behalten gilt, hinderte Nossig aber nicht daran, von den Möglichkeiten eines Greater Palestine weiterhin überzeugt zu sein. Während einer Versammlung, die vom Zentralkomitee des Esra im Oktober 1903 in Berlin veranstaltet wurde, forderte er in Anlehnung an Trietsch, „von Anfang an an ein greater Palestine zu denken.“272 Nur dadurch ließe sich eine „sofortige unerläßliche Rettungs-Kolonisation“ realisieren, welche die „praktische Aufgabe, die Behebung der Judennoth, mit der idealen, der Wiederaufrichtung Zions“273 verbinde. Sein Referat schloss Nossig mit der Resolution, künftige Aktionen nicht nur auf Palästina, sondern auch auf Syrien auszuweiten.274 Nossigs Antrag, der sich den Satzungen des Esra entsprechend nur auf Palästina und Syrien erstreckte, womit andere Nachbargebiete wie Zypern ausgeschlossen blieben, wurde schließlich angenommen.275 In der Überzeugung, über das ,engere Palästina‘ hinausdenken zu müssen, gründete Nossig 1909 eine eigene Kolonisationsgesellschaft. Bei ihr handelte es sich um die Allgemeine Jüdische Kolonisations-Organisation (AJKO) mit Sitz in Berlin. Sie zeigte schon im Namen an, dass sie als eine neutrale Vereinigung an die Öffentlichkeit trat, die auf eine gesamtjüdische Kooperation setzte. Demnach
Alfred Nossig an Wilhelm Stiassny, 3. 2. 1908. CZA, A80/1 [Hervorh. im Original]. Protokoll (1903), S. 97. Anders als Nossig empfahl Lilien seinen Freund Trietsch „aufs wärmste“. E. M. Lilien an Wilhelm Stiassny, o. D. [1901]. CZA, A80/1. 271 E. M. Lilien an Berthold Feiwel, 6. 6. 1904. Zit. nach Schenker, Der Jüdische Verlag, S. 63. 272 „Referat des Herrn Dr. Alfred Nossig“, in: Mittheilungen des Verein „Esra“, 1. 11. 1903, S. 1–4, hier S. 3 [Hervorh. im Original]. 273 Ebd., S. 3 [Hervorh. im Original]. 274 Ebd., S. 5. 275 „Ansprache des Herrn Dr. Hirsch Hildesheimer“, in: ebd., S. 7 f., hier S. 8. 269
270 Stenographisches
3.6 Greater Palestine in der zionistischen Debatte
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teilte auch Nossig Trietschs Prämisse, möglichst viele Akteurinnen und Akteure an seinen Plänen zu beteiligen, um sie in großem Maße realisieren zu können. Unter Verweis auf die „konziliante Haltung“276 seiner AJKO gelang es ihm in kurzer Zeit tatsächlich, mehrere angesehene Vertreter des deutschen Judentums zu gewinnen. Zu ihnen zählten die beiden solventen Berliner Zionisten Hans Gideon Heymann (1883–1918) und Warburg, die bis 1910 im Vorstand der AJKO saßen, sowie der spätere Generalkonsul Sally Guggenheim (1875–1937) und der Fabrikant Isidor Ginsberg (1854–1917). Ginsberg war bis 1909 ein „hochverdiente[s] Vorstandsmitglied“277 des CV. Der territoriale Arbeitsschwerpunkt Nossigs und seiner Mitstreiter war auf den Orient ausgerichtet. Als aussichtsvolle Siedlungsgebiete zogen sie neben dem engeren Palästina auch Anatolien, Mesopotamien, Syrien und Zypern sowie ,Ägyptisch-Palästina‘ in Betracht.278 Das Aktionsfeld der AJKO reichte somit weiter als Trietschs Greater Palestine.279 Im Gegensatz zu Trietsch hielt Nossig kurzerhand eine Ausdehnung bis an den Persischen Golf für erforderlich. Seiner Meinung nach würde Palästina langfristig maximal sieben Millionen Menschen aufnehmen können, während die umliegenden Länder insgesamt auf 100 Millionen kämen.280 Eine solche Ansiedlung von mehreren Millionen Menschen in einem so weitgefassten Gebiet setzte naturgemäß enorme finanzielle und administrative Kapazitäten voraus. Über diese verfügte weder die AJKO noch die JOKG zu keinem Zeitpunkt, wodurch ihre realen Erfolge, entgegen Nossigs selbstsicheren Verlautbarungen, sehr überschaubar blieben. Im Vereinsorgan der AJKO Der Orient. Monatsschrift für die wirtschaftliche Erschliessung des Orients hieß es im Juni 1913, „nach längeren Vorbereitungen, die sich ursprünglich auf ein anderes Terrain bezogen“281 hätten, sei es zur Gründung einer ersten Siedlung gekommen. Konträr zur eigenen großspurigen Agitation, die vor allem für eine Ansiedlung in den Nachbarländern geworben hatte, befand sich die kleine Siedlung auf halber Strecke zwischen Jaffa und Jerusalem. In Kiriath Mosche lebten 30 jüdische Familien aus Białystok bis mindestens Ende 1916. Infolge der Kriegshandlungen in Palästina verliert sich die Spur der Siedlung, weshalb davon auszugehen ist, dass sie von ihren Bewohner*innen aufgegeben wurde.282
276 „Die allgemeine jüdische Kolonisations-Organisation“, in: Jüdische Zeitung 3 (1909), Nr. 34, S. 6. 277 „Vereinsnachrichten“, in: Im deutschen Reich 15 (1909), Nr. 1, S. 54. 278 Nossig, Der Orient als jüdisches Siedlungsgebiet, S. 3, 6, 8. 279 Zu seinen früheren Forderungen: ders., Die Bilanz des Zionismus, S. 19. 280 Ders., Der Orient als jüdisches Siedlungsgebiet, S. 14. 281 „Eine neue jüdische Kolonie mit Unterstützung der A. J. K. O.“, in: Der Orient 1 (1913), Nr. 1, S. 2 f., hier S. 2. 282 Mit der Eroberung Palästinas durch britische Streitkräfte riss der Kontakt zwischen der Kolonie und der AJKO ab. „General-Versammlung der A. J. K. O.“, in: Der Orient 6 (1918), o. Nr., S. 1 f., hier S. 2.
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3. „Greater Palestine“
Briefe zwischen Friedemann und David Wolffsohn, zu diesem Zeitpunkt Präsident der ZO, belegen, dass auch Nossig Interesse an El-Arisch zeigte.283 Zum großen Missfallen der zionistischen Leitung hatte er, wie vor ihm bereits Trietsch, eigenmächtig Gespräche mit britischen Autoritäten geführt, in denen er vorgab, über große Geldsummen zu verfügen.284 Aufgrund dieser Alleingänge Nossigs, den Richard Lichtheim einmal einen „gefährlichen Scharlatan“ nannte, sah man in der AJKO einen ernstzunehmenden „Störungsfaktor“285. Die für Empörung sorgenden Aktionen ihres exzentrischen Gründers kulminierten schließlich 1915, als Nossig selbstbewusst nach Konstantinopel reiste, um dort in Eigenregie zu verhandeln.286 Interessanterweise wollten sich mehrere Zionisten dadurch die Möglichkeit einer Besiedlung der angrenzenden Länder, besonders ,Ägyptisch-Palästinas‘, nicht zunichtemachen lassen. So trat unter anderem Friedemann wiederholt an Wolffsohn mit der Bitte heran, er solle selbst mit London über dieses Gebiet verhandeln.287 Das Fazit von Olivier Baisez, Trietsch hätte mit seinem El-Arisch-Plan kaum Zustimmung unter den deutschsprachigen Zionistinnen und Zionisten gefunden, ist somit anzuzweifeln.288 Zwei Beispiele mögen ihm entgegengehalten werden: Zum einen erwiderte Wolffsohn, ,Ägyptisch-Palästina‘ sei nur „vorläufig“289 nicht in Betracht zu ziehen, ohne dem Ersuchen von Friedemann prinzipiell eine Abfuhr zu erteilen. Zum anderen belegen die Reaktionen auf dem siebten Kongress 1905, dass es in den Reihen der Delegierten durchaus Sympathien für die Sinai-Halbinsel gab. So stellte Schachtel einen Antrag, den Bericht über die El-Arisch-Expedition zu veröffentlichen, der mit Beifall quittiert wurde. Er war von der zionistischen Leitung bislang zurückgehalten worden, weshalb man Schachtels Antrag auf dem Kongress annahm.290 In der Folge schickte die ZO-Führung erneut Experten in die Region, die die Aussichten des schmalen Küstenstreifens prüfen sollten. Da ihr Urteil positiv ausfiel, wandte man sich Anfang 1906 ein weiteres Mal nach London, in der Hoffnung, mit zeitlichem Abstand nun eine Konzession erwirken zu können. Die Antwort des Foreign Office fiel dagegen erneut negativ aus. Aus Rücksicht auf die ägyptische Regierung wollte man die Angelegenheit dort nicht wieder aufrollen.291 Der 283 David Wolffsohn an Adolf Friedemann, 26. 1. 1911. A12/70. Zu Wolffsohn: Meybohm, David Wolffsohn; Michael Brenner, „The President Before Weizmann. David Littwak and the Politics of ,Old New Land‘“, in: ChaeRan Freeze u. a. (Hg.), The Individual in History. Essays in Honor of Jehuda Reinharz, Waltham 2015, S. 28–41. Der Titel klammert die Präsidentschaft Otto Warburgs, der auf Wolffsohn folgte, aus. 284 Adolf Friedemann an das Zionistische Aktionskomitee, 25. 1. 1911. A12/70. 285 Lichtheim, Rückkehr, S. 119. 286 Ebd., S. 315. Lichtheim war von 1913 bis 1917 Vertreter der ZO in Konstantinopel. 287 Adolf Friedemann an das Zionistische Aktionskomitee, 25. 1. 1911. 288 Baisez, „,Greater Palestine‘“, S. 18. 289 David Wolffsohn an Adolf Friedemann, 26. 1. 1911. 290 Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des VII. Zionisten-Kongresses, Berlin 1905, S. 248. 291 M. Medzini, „From Sinai Scheme to Balfour Declaration. Lloyd George and Zionism“, in: The Palestine Post, 21. 1. 1943, S. 4.
3.6 Greater Palestine in der zionistischen Debatte
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zionistische Traum von El-Arisch war somit ein zweites Mal geplatzt. Wie die Verhandlungen des Jahres 1906 belegen, ist er jedoch länger geträumt worden. Dafür sprechen auch in späterer Zeit Äußerungen unter anderem von Motzkin, der die Chancen einer Besiedlung El-Arischs 1907 zur Debatte stellte, da „niemand bezweifelt, daß ein Teil dieses Landes sogar direkt zu Palästina gehört hat“292. Wie stand Trietsch zu dieser Entwicklung? Die Aktivitäten der AJKO, der er anfänglich noch Kartenmaterial zur Verfügung gestellt hatte, verfolgte auch er kritisch.293 Ihm missfiel nicht das Programm der Organisation, das er als Verfechter des Nachbarländer-Prinzips im Großen und Ganzen begrüßte, sondern ihre fehlenden Resultate. Zu Recht bemängelte er die bisherigen Leistungen der AJKO in der Praxis, die „in einem krassen Mißverhältnis zu den bei der Gründung angeschlagenen hohen Tönen“294 standen. Seine Kritik, die die Gegenfrage provoziert, welche Resultate denn die JOKG vorweisen konnte, spiegelt den hohen Stellenwert, den Trietsch praktischen Unternehmungen beimaß. Mit Warburg, der einer international vernetzten Bankiersfamilie angehörte, fand er einen einflussreichen Unterstützer, durch den sich, so Trietschs Hoffnung, seine Pläne realisieren ließen. Die unternehmerische Neugier Warburgs, den Richard Lichtheim einmal als einen optimistischen Botaniker charakterisiert hat, der „in jedem Keim bereits die fertige Pflanze sah“295, hatte die zwei Männer 1899 zusammengeführt. Ihr beider Ziel war es, den rumänischen Jüdinnen und Juden proaktiv zu helfen. Die Not dieser Gruppe hatte um 1899/1900 einen vorläufigen Höhepunkt erreicht, als Rumänien von einer schweren Wirtschaftskrise erfasst wurde, die dem Antisemitismus einen idealen Nährboden bot.296 Bis 1904 verließen 41.754 Jüdinnen und Juden das Land, von denen es die allermeisten in die USA zog.297 Eine kleinere Gruppe suchte ihr Glück im Mittelmeerraum und ließ sich in Anatolien nieder. Von Anatolien als Ansiedlungsgebiet, das damals in etwa so groß wie Deutschland war, aber nur 16 statt 106 Einwohner pro Quadratkilometer (1904) zählte, war insbesondere Warburg überzeugt.298 Nachdem ihn Trietsch auf die Region aufmerksam gemacht hatte, steuerte er eine größere Summe bei, um jüdische 292 Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des VIII. Zionisten-Kongresses, Köln 1907, S. 287. 293 Siehe bspw. Trietschs Kartenskizzen bei Nossig, Der Orient als jüdisches Siedlungsgebiet. 294 Davis Trietsch, „Neben dem Zionismus“, in: Die Welt 18 (1914), Nr. 23, S. 547 f., hier S. 548. 295 Lichtheim, Rückkehr, S. 198. Zur Warburg-Familie: Ron Chernow, The Warburgs. The Twentieth-Century Odyssey of a Remarkable Jewish Family, New York 2016. 296 Carol Iancu, Jews in Romania 1866–1919: From Exclusion to Emancipation, New York 1996, S. 168; Irina Marin, Peasant Violence and Antisemitism in Early Twentieth-Century Eastern Europe, Cham 2018. 297 Satu Matikainen, Great Britain, British Jews, and the International Protection of Romanian Jews, 1900–1914, Jyväskylä 2006, S. 59. Insgesamt lebten ca. 260.000 Jüdinnen und Juden in Rumänien. 298 Otto Warburg, „Die jüdische Kolonisation in Nord-Syrien auf Grundlage der Baumwollkultur im Gebiete der Bagdad-Bahn“, in: Altneuland 1 (1904), Nr. 7, S. 193–199, hier S. 196.
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3. „Greater Palestine“
Geflüchtete „in ein ruhigeres Fahrwasser hinüber zu steuern“299 und dort eine eigene Siedlung zu gründen. Im Frühjahr 1900 lebten schon ungefähr 300 jüdische Familien auf anatolischem Boden, den die meisten wegen Malaria und anderer existenzieller Widrigkeiten jedoch wieder verließen. Die von Warburg finanzierten Initiativen, die 1902 einen kleinen Aufschwung nahmen, als sich 100 jüdische Familien in Anatolien niederließen, trugen mittelfristig keine Früchte.300 Trietsch zufolge lebten 1917 nur noch einige wenige Jüdinnen und Juden dort, die sporadisch von der JCA unterstützt wurden. Anders als Warburg hatten ihre Vertreter*innen allerdings keine Administration installiert, die einen Verbleib der Familien sichern sollte, sondern drängten perspektivisch auf eine Rückführung der Geflüchteten nach Rumänien.301 Warburgs Interesse an Anatolien war stark an zeitgenössischen Infrastrukturprojekten ausgerichtet, denen er ebenfalls eine große Bedeutung beimaß. Entlang der sogenannten Anatolischen Bahn sollten in seiner Vorstellung neue Siedlungen entstehen, da „jeder neue Verbindungsweg, jede neue Eisenbahn“302 positive Auswirkungen auf die Region mit Palästina als Zentrum hätte. Mit dem Baubeginn der ,Bagdadbahn‘ 1903 erstreckten sich Warburgs Pläne nicht mehr nur auf Anatolien, sondern reichten bis in den heutigen Irak. Er warb für die Gründung mehrerer jüdischer Siedlungen entlang der Bahnstrecke, um dem einstigen „Zwischenstromland“, das Warburg als „Stätte der ältesten Geschichte der Menschheit“303 identifizierte, zu neuem Glanz zu verhelfen. Jüdinnen und Juden stellten für ihn wie Trietsch ideale Kulturvermittelnde dar, deren Aufgabe es sein sollte, „die Errungenschaften der westlichen Nationen dem Orient mundgerecht zu machen“.304 Wie Nossig prognostizierte Warburg, dass bis zu 100 Millionen Menschen in den Nachbarländern leben könnten, während auch er die Aufnahmekapazität Palästinas für begrenzt hielt.305 Warburgs imaginiertes Vorzugsgebiet, das von Zypern, über Anatolien und Nordsyrien bis hin zum Euphrat und Tigris reichte, umfasste somit insgesamt eine größere Fläche als Greater Palestine.306 Während Warburg für die praktische Umsetzung seiner Pläne wichtig war, diente Trietsch der bekannte Schriftsteller Nathan Birnbaum als eine intellektuelle Autorität für deren theoretischen Unterbau. Birnbaum hatte in seinem Artikel „So lange es Zeit ist“ (1894) ebenfalls für eine sofortige Hilfsaktion geworben, „ohne Schaden 299 Ders., „Jüdische Ackerbau-Kolonien in Anatolien“, in: Palästina 1 (1902), Nr. 2, S. 66–71, hier S. 66. 300 Ebd., S. 69. 100 Familien waren ca. 500 Personen. 301 Trietsch, Jüdische Emigration und Kolonisation, S. 403. 302 Otto Warburg, „Syrien als Wirtschafts‑ und Kolonisationsgebiet“, in: Altneuland 3 (1906), Nr. 3, S. 65–77, hier S. 65. 303 Ders., „Die jüdische Kolonisation in Nord-Syrien“, S. 197. 304 Ders., „Palästina als Kolonisationsgebiet“, in: Altneuland 1 (1904), Nr. 1, S. 3–13, hier S. 13. 305 Ders., „Palästina und die Nachbarländer als Kolonisationsgebiet“, in: Alfred Nossig (Hg.), Die Zukunft der Juden. Sammelschrift, Berlin 1906, S. 16–21, hier S. 17. 306 „Ansprache des Herrn Prof. O. Warburg“, in: Mittheilungen des Vereins „Esra“, S. 6 f., hier S. 6.
3.6 Greater Palestine in der zionistischen Debatte
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für die Zionssache“ zu nehmen.307 Als Zufluchtsort in Betracht zog er Kleinasien, Zypern und Teile Ägyptens, da dort „im Laufe mehrerer Jahrzehnte mindestens zwei Millionen verfolgter und unglücklicher Juden angesiedelt werden“308 könnten. Diese Gebiete sollten den räumlichen und geistigen Zusammenhalt des jüdischen Volks sichern, da es Birnbaum zufolge in „allernächster Nähe [zu] seiner nationalen Heimat“ leben werde.309 Auch wenn sich Birnbaum von diesen Ideen wie dem Zionismus im Allgemeinen später distanzierte und die Nachbarländer nicht mehr als einen „Rettungsweg für die Strasse nach Zion“310 ausgab, wirkte sein Artikel nachhaltig auf Trietsch. Er vervielfältigte ihn 1901, 1903 sowie 1919 und damit 25 Jahre nach seinem ersten Erscheinen – zu einer Zeit, als sich sein Autor schon nicht mehr der zionistischen Bewegung zurechnete. Unter Verweis auf Birnbaum, der in jüdischen Kreisen, wenn auch nicht bloß unter positiven Vorzeichen, bekannt war, vermochte Trietsch zu zeigen, dass die Besiedlung der Nachbarländer bereits früh von einem namhaften Intellektuellen als legitim erachtet worden war. Zugleich hob er hervor, von Birnbaums Text erst erfahren haben zu wollen, nachdem er seine eigenen Ideen selbständig entwickelt hatte.311 Die Thematik der Nachbarländer oder ,Nebenländer‘, wie es damals hieß, erfuhr durch das Uganda-Projekt einen Aufschwung in der zionistischen Debatte. Nachdem das Projekt auf dem Kongress 1905 endgültig abgelehnt worden war, zeichnete sich ab, dass sich die Mehrheit der Delegierten nun für eine Aufnahme der Nachbarländer in das Baseler Programm gewinnen ließ. Eine zentrale Rolle für diese veränderte Haltung spielte die Gründung der ITO unter Zangwill, die sich im August konstituiert hatte und an einer Besiedlung Ostafrikas festhielt.312 Diese Entwicklung, die die Gefahr einer Spaltung barg, veranlasste selbst Menachem Ussischkin, einer Aufnahme der nächsten Nachbargebiete in das Programm der ZO zuzustimmen. Noch ein Jahr zuvor hatte er gemahnt, sich nur auf Palästina festzulegen, da sonst „unter Nachbarländern irgend ein Ostafrika oder Afghanistan“313 zu verstehen sei. Als am dritten Verhandlungstag unter anhaltendem Applaus der Antrag der zionistischen Leitung „mit grosser Majorität angenommen“314 wurde, alle „kolo307 Nathan Birnbaum, „So lange es Zeit ist“, in: Jüdische Volkszeitung 7 (1894), Nr. 14, S. 1–3, hier S. 1. 308 Ebd., S. 2. 309 Ebd. 310 Nathan Birnbaum, „So lange es Zeit ist“, in: Volk und Land 1 (1919), Nr. 38–39, Sp. 1181– 1184, hier Sp. 1181. 311 Trietsch, Jüdische Emigration und Kolonisation, S. 379. Trietsch ließ den Artikel abdrucken in: Israelitische Rundschau 6 (1901), Nr. 32 [o. P.]; Palästina 2 (1903/4), Nr. 3–6, S. 125–127. 312 Zur ITO, deren Abkürzung mit I statt J die jiddische Bezeichnung aufgreift, s. Alroey, Zionism without Zion; David Glover, „Imperial Zion: Israel Zangwill and the English Origins of Territorialism“, in: Bar-Yosef/Valman, ‚The Jew‘ in Late-Victorian and Edwardian Culture, S. 131–143; Meri-Jane Rochelson, „Zionism, Territorialism, Race, and Nation in the Thought and Politics of Israel Zangwill“, in: ebd., S. 144–160. 313 Ussischkin, Unser Programm, S. 14; Stenographisches Protokoll (1905), S. 45. 314 Stenographisches Protokoll (1905), S. 132 f.
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3. „Greater Palestine“
nisatorische Tätigkeit“ in und um Palästina zu verorten, schien es, als hätte sich das erweiterte Landprogramm durchgesetzt. Die Annahme des Antrags dürfte vor allem Trietsch euphorisiert haben. Auch wenn auf die einzelnen Gebiete in der Resolution nicht näher eingegangen wurde, sah er sie als „grösste[n] Fortschritt, den wir in diesen letzten zwei Jahren im Zionismus zu verzeichnen hatten.“315 Damit folgte die ZO ihren deutschen Mitgliedern, die schon 1901 auf dem Delegiertentag in Berlin bekräftigt hatten, es sei „Pflicht […], ihr Augenmerk auch den Palästina benachbarten Ländereien zuzuwenden.“316 Trietschs Ansehen, das nach dem gescheiterten Zypern-Projekt schweren Schaden genommen hatte, erfuhr nun eine positive Aufwertung. So wurde auf dem Kongress mehrmals der von ihm geprägte Begriff Greater Palestine aufgegriffen, wie von dem in der Ukraine geborenen Arzt und Schriftsteller Daniel Pasmanik (1869–1930).317 Pasmanik, der Trietsch in Abneigung verbunden war, wie der sechste Kongress gezeigt hatte, brachte zwar nur Warburg mit dem Konzept in Verbindung. Ganz im Sinne von Trietsch kündigte er aber ein „Zeitalter des schnellen Verkehrs“ an, das auch zu einer „Kolonisation der Nebenländer führen“ werde. „Die Idee vom ,greater Palestine‘“, so Pasmanik weiter, sei „gerade jetzt, in Anbetracht des Territorialismus, zu einer Lebensbedingung“318 geworden. Mit dieser Einschätzung war Pasmanik nicht allein. Die ITO, die parallel zum siebten Kongress eine eigene Versammlung in Basel abhielt, stellte für viele Zionistinnen und Zionisten eine ernstzunehmende Bedrohung dar.319 Der Appell der ITO-Anhänger*innen, man dürfe nicht länger an Palästina festhalten, sondern müsse angesichts des tiefen Elends in Osteuropa schnellstmöglich weitere Zufluchtsorte sichern, stieß besonders im Russischen Reich auf Gehör. Dort war es allein in den Jahren zwischen 1905 und 1906 zu insgesamt 657 Pogromen gekommen, in deren Folge mehr als 3000 Jüdinnen und Juden ermordet wurden.320 Eine derartige Gewaltwelle, die sich vor allem in der heutigen Ukraine infolge der Russischen Revolution 1905 Bahn brach, brachte der ITO große Sympathien ein.321 Das territoriale Interesse der Organisation reichte von Angola, über Landstrecken in Australien und Kanada, bis hin nach Ostafrika und Texas.322 Neben diesen Gebieten, über deren Zukunft mit den jeweiligen Regierungen in den nächsten neun Jahren zu verhandeln war, legte die ITO Anfang 1909 auch Siedlungspläne 315 Ebd.,
S. 255. „Delegiertentag deutscher Zionisten“, S. 7 [Hervorh. im Original]. 317 Daniel Pasmanik, „Zeit‑ und Streitfragen im Zionismus“, in: Die Welt 9 (1905), Nr. 12, S. 6 f., hier S. 7. 318 Ebd., S. 7. Pasmanik hatte Trietsch auf dem sechsten Kongress einen Feind „im Geist der Herabzerrung unserer Führer“ genannt. Stenographisches Protokoll (1903), S. 91. 319 Das ITO-Treffen fand vom 30.7. bis 1. 8. 1905 statt. Alroey, Zionism without Zion, S. 73. 320 Ebd., S. 87. 321 Zur Revolution und ihren Folgen für die russischen Jüdinnen und Juden s. Stefani Hoffman/Ezra Mendelsohn, The Revolution of 1905 and Russia’s Jews, Philadelphia 2008. 322 Zu den einzelnen Gebieten s. Alroey, Zionism without Zion, S. 202–253. 316
3.6 Greater Palestine in der zionistischen Debatte
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für Mesopotamien vor.323 Die geografische Nähe des Landes zu Palästina, seine historische Bedeutung als Geburtsstätte Abrahams und Sitz der ältesten jüdischen Diasporagemeinde machten es für die ,Territorialisten‘, wie man die ITO-Anhänger*innen nannte, zu einem geeigneten Zukunftsort.324 In der Folge zeigten sich einige Zionistinnen und Zionisten bereit, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Zu ihnen zählte Nossig, der 1907 optimistisch verkündete: „Palästina als geeignetstes Territorium, besonders aber die Nachbarländer Palästinas als Gebiete für [eine] jüdische Masseneinwanderung bilden die natürliche Sphäre des Zusammenarbeitens von Zionisten und Territorialisten.“325
Für Nossig fungierten die Nachbarländer demnach als eine strategische Brücke, die eine gemeinsame Arbeitsbasis ermöglichte. Ihre vermittelnde Funktion dürfte auch dem Kongress bei seiner Annahme des Nachbarländerprinzips vorgeschwebt haben, wobei die Erweiterung des zionistischen Landprogramms in erster Linie als ein wirksames „Gegengewicht gegen alle territorialistischen Tendenzen“326 zu werten ist, wie Trietsch klarstellte. Den meisten in der ZO organisierten Zionistinnen und Zionisten ging es somit um eine Abgrenzung, nicht um eine Kooperation. Die Popularität der ITO, die bis nach Palästina in den neuen Jischuv reichte, setzte die ZO zeitweise stark unter Druck. Dass ein ,Palästinazelot‘ wie Ussischkin plötzlich Interesse an Gebieten außerhalb Palästinas zeigte, ist auf diese Entwicklung zurückzuführen. Dem Fazit Gur Alroeys, die ZO-Leitung hätte sich ausschließlich auf Palästina festgelegt „with hardly any heed to the existential distress of Eastern European Jewry“327, muss somit widersprochen werden. Alroey, der die Debatten um die Nachbarländer in seiner lesenswerten ITO-Studie nicht aufgreift, bleibt entgegenzuhalten, dass die zionistische Führung eine Besiedlung außerhalb Palästinas, wenn auch in nächster Nähe, nachweislich sanktionierte. Zwischen einer offiziellen Erklärung und einer anschließenden Aktion besteht bekanntlich häufig eine Diskrepanz, zumal, wenn es sich wie im Falle der Nachbarländer-Causa um eine Entscheidung handelt, bei der strategische Überlegungen eine immanente Rolle spielten. Nur zwei Jahre später, auf dem achten Kongress 1907, monierte Trietsch daher, auf die Ankündigungen sei keine Umsetzung in der Praxis gefolgt.328 Bis 1917, als eine systematische Besiedlung Palästinas mit der Balfour-Erklärung in greifbarere Nähe rückte, kam es vonseiten der ZO in keinem Nachbarland zu einer jüdischen Ansiedlung. Grund hierfür war in erster Linie 323 Ders., „Mesopotamia – ‚The Promised Land‘: The Jewish Territorial Organization Project in the Bilad Al-Rafidayn and the Question of Palestine, 1899–1917“, in: Middle Eastern Studies 50 (2014), Nr. 6, S. 911–935, hier S. 921. 324 Ebd., S. 933. 325 Alfred Nossig, Jüdische Landpolitik, Berlin 1907, S. 9. 326 Stenographisches Protokoll (1905), S. 262. 327 Alroey, Zionism without Zion, S. 116. 328 Stenographisches Protokoll (1907), S. 97 f.
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3. „Greater Palestine“
die chronische Unterfinanzierung der Organisation, durch die sie nicht noch in anderen Gebieten aktiv werden konnte. Die wenigen Ressourcen, über die ihre Institutionen verfügten, wurden allein für Palästina verwendet und auch hier nur für Siedlungen, die in räumlicher Nähe zueinander lagen. In zweiter Linie waren die Nachbarländer nicht derart zugänglich, wie Trietsch und andere vorgegeben hatten. So sah sich die ZO im Falle von El-Arisch mit einem anhaltenden Widerstand Londons und Kairos konfrontiert, der einer systematischen jüdischen Einwanderung wie auf Zypern einen Riegel vorschob. Ähnliche Erfahrungen musste auch die ITO machen. Ihre hochtrabenden Pläne, die eine großangelegte Einwanderung binnen kurzer Zeit vorsahen, scheiterten grandios. Mit Ausnahme einer einzigen Ansiedlung in der Stadt Galveston an der Ostküste Texas, wo zwischen 1907 bis 1914 ca. 8000 jüdische Geflüchtete Aufnahme fanden, blieben alle Projekte von Misserfolg getrübt.329 Das Scheitern der ITO, die im Jahr 1925 ihrer Selbstauflösung entgegenging, rührte ebenfalls primär aus fehlenden Geldern und der Ablehnung durch internationale Verhandlungspartner.330 Trietsch begrüßte diese Entwicklung. Er hielt es für ein gutes Zeichen, dass sich der „Ito-Spuk“331 seinem Ende neigte, da er eine gefährliche Erosion für die Palästinabewegung bedeutet hatte. Für ihn und die allermeisten Zionist*innen war ein Zusammengehen mit den ,Territorialisten‘, deren Aktivitäten weg von Zion führten, nicht vorstellbar.332 So sehr Trietsch von der Not der osteuropäischen Jüdinnen und Juden ergriffen war, so sehr hielt auch er letztlich an Palästina fest. An einem Greater Palestine, das umliegende Länder einschloss und so von seinem zionistischen Standpunkt aus eine echte Option bot. Pragmatisch bei der Bestimmung von Territorien und Grenzen, so ließe sich resümieren, war zweifelsfrei auch Trietsch. Beliebig mit Blick auf die in Frage kommenden Gebiete war er allerdings, anders als die ITO mit ihrem weitgefassten Landprogramm, nicht.
329 Alroey, Zionism without Zion, S. 250. Die Texas State Historical Association spricht von 10.000 Eingewanderten. Jane Manaster, Galveston Movement, 15. 6. 2010, abrufbar unter: https:// tshaonline.org/handbook/online/articles/umg01 (Zugriff 12. 3. 2022). 330 Robert G. Weisbord, „Israel Zangwill’s Jewish Territorial Organization and the East African Zion“, in: Jewish Social Studies 30 (1968), Nr. 2, S. 89–108, hier S. 94, 104. 331 Trietsch, „Neben dem Zionismus“, S. 547. 332 Ders., „Zur Cyrenaikafrage“, in: Jüdische Rundschau 14 (1909), Nr. 19, S. 215 f.
4. „Palästina und die Juden. Tatsachen und Ziffern“ Ein akribischer Autodidakt und die anerkannten Palästina-Experten „Der Verfasser will mit der nachfolgenden Zusammenstellung […] einem größeren Kreise politisch interessierter Menschen aus dem allgemeinen und dem jüdischen Lager eine Informationsgrundlage bieten.“1 Davis Trietsch, Palästina und die Juden. Tatsachen und Ziffern
4.1 Exkurs: Die frühen Lebensjahre von Davis Trietsch 4.1.1 Herkunft und Erziehung Die frühen Lebensjahre von Davis Trietsch heben sich von den Biografien anderer deutscher Zionistinnen und Zionisten ab. Im Gegensatz zu ihnen verbrachte er seine Kindheit und Jugend nicht im Umfeld der eigenen Herkunftsfamilie, sondern wuchs in einer wohltätigen Erziehungsanstalt auf. Geboren am 4. Januar 1870 war er das jüngste von drei Kindern, die der Ehe von Ludwig und Rosalie Trietsch entstammten.2 Während sein zwei Jahre älterer Bruder Carl später ein wichtiger Weggefährte für ihn werden sollte, verstarb Benno, das erstgeborene Kind seiner Eltern, noch vor Trietschs Geburt.3 Ludwig Trietsch, 1835 wie seine Söhne in Dresden geboren, besuchte von 1855 bis 1856 die dortige Königlich Sächsische Polytechnische Schule, wo er Kurse im Modellieren und Zeichnen belegte.4 Die Schule kann bis zu ihrer Erhebung zum Polytechnikum 1871 als gewerbliche Fachschule eingestuft werden, in der Gesellen nach bestandener Aufnahmeprüfung lernten. Trietschs Vater dürfte somit über Vorkenntnisse im handwerklichen Bereich verfügt haben, während eine höhere Bildung nicht vorausgesetzt wurde.5 Im Anschluss an seine Zeit an der Polytechnischen Schule wechselte Ludwig Trietsch das Berufsfeld und fand eine Anstellung 1 Davis
Trietsch, Palästina und die Juden. Tatsachen und Ziffern, Berlin 1919, S. 4. der Forschungsliteratur, v. a. in der israelischen und amerikanischen, ist oft die Rede von David Trietsch. Seine Geburtsanzeige belegt jedoch, dass sein bürgerlicher Vorname Davis lautete, während David sein Synagogenname war. StA Dresden, KW-1870. 3 Benno, geb. am 18. 4. 1867, verstarb mit 11 Monaten. Zu ihm, Trietsch und Carl, geb. am 10. 7. 1868, siehe den Bestand des Dresdner Ratsarchivs mit der Signatur 2.1.3-C XLII 240a. 4 Schriftliche Auskunft des Universitätsarchivs der TU Dresden [8. 2 . 2018]. 5 Vgl. das Programm zu den am 15.-19. März 1845 mit den Schülern der technischen Bildungs2 In
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4. „Palästina und die Juden. Tatsachen und Ziffern“
als Schächter bei der Gemeinde in Dresden. Bis nachweislich 1870 übernahm er dort als niederer Kultusbeamter die Vollziehung einer der wichtigsten Riten im halachischen Judentum, die ihm ein regelmäßiges, wenn auch geringes Einkommen sicherte.6 Die finanzielle Situation von Ludwig Trietsch, die als prekär zu werten sein dürfte, muss sich nach Ende seiner Tätigkeit als Schächter noch verschlechtert haben. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass er nach der Trennung von seiner Ehefrau Rosalie Trietsch bis zu seinem Tod bei seinen Eltern lebte.7 Seine Mutter Johanna Trietsch arbeitete als Hebamme für die Jüdische Gemeinde in Dresden, während sein Vater, Nathan David Trietsch, für ihre Krankenverpflegungsgesellschaft langjährig aktiv war.8 Mit Blick auf ihre Berufe dürfte die Familie auch im Privaten eine enge Verbindung zum traditionellen Glauben gepflegt haben, die sie bewusst an die nächste Generation weitergab. Während Trietschs Familie väterlicherseits aus Dresden stammte, kam seine Mutter Rosalie Trietsch geborene Nickelsburg aus dem hessischen Worms.9 In der ehemals wichtigen Handelsstadt am Rhein hatten sich ab der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts auch jüdische Warenhändler niedergelassen, die damit den Grundstein für eine der ältesten und bedeutendsten jüdischen Gemeinden in Deutschland legten.10 Wie viele andere jüdische Familien waren auch die männlichen Nickelsburgs über mehrere Generationen im Handel tätig gewesen. Trietschs Großvater Bernhard Nickelsburg, der im Jahr 1814 als Sohn eines „Handelsmannes“11 zur Welt kam, dürfte als Kurzwarenhändler zu gewissem Wohlstand gelangt sein. So finden sich in mehreren Adressbüchern der Stadt sowie aus Frankfurt am Main Hinweise, dass seine Söhne das Geschäft übernahmen und erfolgreich expandierten.12 Der soziale und wirtschaftliche Aufstieg der Familie dürfte indes nicht dazu geführt haben, dass sie ihre jüdische Identität im Takt der voranschreitenden Verbürgerlichung und Akkulturation ablegte. Vielmehr stand anstalt und der Baugewerken-Schule zu Dresden anzustellenden Prüfungen, Dresden 1845, S. 81–88. 6 Adreß‑ und Geschäfts-Handbuch der Königlichen Haupt‑ und Residenzstadt Dresden für das Jahr 1871 [Druck beendet am 3. 1. 1871], Dresden 1871, S. 309. 7 Siehe hierzu die Dresdner Adressbücher von 1871 bis 1886, abrufbar unter: http://www. sachsendigital.de/ressourcen/quellen/dresdner-adressbuecher/. 8 Zur Gesellschaft, gegründet 1750, s. Emil Lehmann, Zur Geschichte der Juden in Dresden, Dresden 1875, S. 16–23. Als Aufwärter stand Nathan David auf der untersten Stufe in der Hierarchie der Gesellschaft. Seine Mitgliedschaft ist dennoch als exklusiv zu werten, da sie nur einzelnen Glaubensbrüdern zuteilwurde. Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum, S. 521. 9 Siehe Rosalies Geburtsanzeige vom 31. 10. 1843. StA Worms, Abt. 12/1 Nr. 01–01/45 238. 10 Fritz Reuter, Warmaisa. 1000 Jahre Juden in Worms, Worms 1984, S. 18, 31–123, 201. Zur Bedeutung Worms s. auch Hans Berkessel (Hg.), Warmaisa – Klein-Jerusalem am Rhein. Zeugnisse jüdischen Lebens in Worms, Mainz 2019. 11 Zur Berufsstruktur der Wormser Jüdinnen und Juden: Reuter, Warmaisa, S. 170. Zu Bernhard Nickelsburg siehe seine Heiratsurkunde vom 6. 6. 1841. StA Worms, Abt. 12/1 Nr. 01–02/42 28. 12 Während Bernhard Nickelsburg und seine Brüder als „Kammmacher“ und „Kleidertrödler“ gelistet waren, tauchten ihre Söhne als „Kleiderfabrikanten“ auf. Adreß-Buch der Stadt Worms für das Jahr 1895, Worms 1895, S. 88.
4.1 Exkurs
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auch sie in einem engen Verhältnis zur Gemeinde und hielt in späteren Jahren wie die Trietschs an ihrer jüdischen Herkunft bewusst fest. Darauf deuten Bernhard Nickelsburgs Aktivitäten von 1849 bis zu seinem Tod als Synagogendiener hin, während sich seine Töchter noch 30 Jahre später echauffierten, dass ihr Neffe Carl Trietsch eine Katholikin geheiratet hatte.13 Wie die Familien Nickelsburg und Trietsch zusammenfanden, lässt sich nicht rekonstruieren. Da Bernhard Nickelsburg und Nathan David Trietsch beide in der Gemeinde aktiv waren, könnten sie sich über die Gemeindearbeit gekannt haben. Ihren Nachnamen nach könnte auch ein Verwandtschaftsverhältnis vorgelegen haben.14 Erste Kontakte zwischen beiden Familien lassen sich jedenfalls ab 1865 rekonstruieren. In diesem Jahr heiratete Ludwig Trietsch Bernhard Nickelsburgs älteste Tochter Friedrike, mit der er einen Sohn hatte.15 Da Friedrike Trietsch offenbar während oder kurz nach der Geburt von Alfred, geboren 1866, starb und der Junge der mütterlichen Fürsorge bedurfte, entschieden sich die Nickelsburgs, ihre Tochter Rosalie mit dem verwitweten Schwiegersohn zu verheiraten. Dieser Schritt war damals nicht unüblich. Auch Trietschs Schwiegervater, der Vater von Emma Trietsch, heiratete nach dem Tod seiner ersten Frau deren Schwester.16 Mit Alfred Trietsch, der demzufolge gleichzeitig sein Halbbruder und Cousin war, verband Trietsch offenbar ein enges Vertrauensverhältnis, dem er ein Zeichen gesetzt haben dürfte, als er seinen erstgeborenen Sohn nach ihm benannte.17 Während die Beziehung der Brüder durch Innigkeit geprägt war, muss es zwischen Ludwig und Rosalie Trietsch früh zu Konflikten gekommen sein. Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass die beiden in einer arrangierten Ehe lebten, der keine persönlichen Neigungen zugrunde lagen, sondern in erster Linie die Bedürfnisse eines alleinerziehenden Witwers.18 Nur wenige Monate nach Trietschs Geburt verließ sein Vater die Familie, womit Rosalie Trietsch fortan für die alleinige 13 Brief
Emma Aberle geb. Nickelsburg an Trietsch, 31. 3. 1908. JMB 2011/267. Als Synagogendiener war Bernhard Nickelsburg für die Verwaltung der Synagoge zuständig. Das jährliche Gehalt war gering, doch soll er „die grosse Freude [erlebt haben], alle seine Kinder in günstigen Stellungen zu sehen.“ Samson Rothschild, Beamte der Wormser Jüdischen Gemeinde. Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 1920, S. 79. 14 Beide Familien hatten offenbar einen südmährischen Ursprung. So deutet der Name Nickelsburg auf die Stadt Nikolsburg (Mikulov) und Trietsch auf Triesch (Třešť) hin. In beiden Städten gab es eine bedeutende Jüdische Gemeinde. Mehr dazu bei Kateřina Čapková, Hillel J. Kieval (Hg.), Zwischen Prag und Nikolsburg. Jüdisches Leben in den böhmischen Ländern, Göttingen 2020. 15 Siehe die Heiratsurkunde datiert vom 14. 5. 1865. StA Dresden, 2.1.3-C. XXI. 20/150. 16 Jeremias, Urgrossmutter Hannah, S. 1. 17 Der älteste Sohn von Trietsch hieß Alfred Benjamin. Sein Bruder Alfred Trietsch verstarb 1887 im Alter von 20 Jahren. Siehe seine Sterbeurkunde vom 2. 2. 1887. HHStAW Bestand 469/6, Nr. 8550. 18 Zu den sog. Vernunftehen in jüdischen Kreisen s. Marion Kaplan, Jüdisches Bürgertum. Frau, Familie und Identität im Kaiserreich, Hamburg 1997, S. 129–166; Martina G. Herrmann, Sophie Isler verlobt sich. Aus dem Leben der jüdisch-deutschen Minderheit im 19. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 2016.
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4. „Palästina und die Juden. Tatsachen und Ziffern“
Erziehung der drei minderjährigen Söhne verantwortlich war. Der Inschrift auf ihrem Grabstein zufolge lebte die junge Mutter in Scheidung. Ob die Auflösung der Ehe, die in allen Strömungen des Judentums als dauerhafte Lebensgemeinschaft geschlossen wird, von ihr ausging, bleibt unklar. Scheidungen wurden damals jedenfalls nur selten vollzogen, da sie vor allem für die wirtschaftliche Situation der Frauen große Risiken bargen.19 Nach der Trennung ging Rosalie Trietsch offenbar keiner Erwerbsarbeit nach. Sie dürfte von ihrer Familie unterstützt worden sein.20 Nach Worms kehrte sie allerdings nicht zurück, sondern blieb in der sächsischen Residenzstadt, wo sie sich im Alter von 35 Jahren 1879 das Leben nahm.21 Drei Wochen nach dem Selbstmord kamen Trietsch und seine beiden Brüder in eine Erziehungsanstalt. Die Initiative hierzu muss von ihrem Vater ausgegangen sein, der es als gesetzlicher Vormund ohne Einkommen offensichtlich vorzog, seine erzieherische Verantwortung an eine wohltätige Institution zu delegieren. Bernhard Nickelsburg war nur wenige Wochen zuvor verstorben, was sich als ein möglicher Beweggrund für den Selbstmord seiner Tochter deuten ließe, woraufhin die Familie Nickelsburg den Plänen zustimmte.22 Bei der Einrichtung, welche die drei Brüder im April 1879 aufnahm, handelte es sich um die sogenannte Nauen’sche Erziehungsanstalt in Berlin. Sie war 1789 nach dem Tod der Bankiers-Witwe Dina Aron Cohn geborene Zaduck-Nauen gegründet worden. Ihrem Willen entsprechend sollte die Anstalt zehn männliche Glaubensgenossen im Alter zwischen acht und 16 Jahren aufnehmen, deren Eltern nicht in der Lage waren, für sie zu sorgen. Eine weitere Bedingung, um in die Obhut des Hauses zu gelangen, das sich zunächst ganz in der Nähe vom Alexanderplatz in Berlin-Mitte befunden hatte, bildete das Verwandtschaftsverhältnis der Kinder. Unterstützungsberechtigt waren demnach nur Jungen, die ein Verwandtschaftsverhältnis mit der Familie der Stifterin vorweisen konnten. Zu ihnen hatten bereits Ludwig Trietsch und sein sieben Jahre älterer Bruder David gezählt, die 1838 bzw. 1855 ebenfalls in die Anstalt nach Berlin gekommen waren. Den Akten zufolge waren sie väterlicherseits mit Dina Nauen verwandt, wodurch die Erziehungsanstalt von gewisser Tradition in der Familie Trietsch war.23
19 Arne Duncker, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe. Persönliche Stellung von Mann und Frau im Recht der ehelichen Lebensgemeinschaft 1700–1914, Köln 2003, S. 1015 f. 20 In den Dresdner Adressbüchern taucht Rosalie Trietsch nicht auf. Berufstätige Frauen finden sich dort dagegen in nicht unbeträchtlicher Zahl. Zum Anteil weiblicher Erwerbstätiger in Dresden: Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum, S. 589 f. 21 Schriftliche Auskunft von HATiKVA – Bildungs‑ und Begegnungsstätte für jüdische Geschichte und Kultur Sachsen e. V. [21. 2. 2018]. 22 Siehe Bernhard Nickelsburgs Sterbeurkunde vom 13. 1. 1879. StA Worms, Abt. 16/Nr. 01–03 004. 23 Liste der Zöglinge aus dem Hauptbuch für das Aronsche Institut. CAHJP, D Be4 360. Für das Verwandtschaftsverhältnis vgl. den hebräischen Vermerk zu David Trietsch. Ebd., D Be4 361. Da für die Zeit vor 1824 keine Listen überliefert sind, kann es gut sein, dass schon Trietschs Großvater dort aufgewachsen ist.
4.1 Exkurs
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Bis zur Institutionalisierung der staatlichen Armenpflege waren Stiftungen für jüdische Bedürftige von außerordentlich großer Bedeutung, da sie vom christlichen Unterstützungsnetzwerk in der Regel ausgeschlossen blieben.24 Die Grundlage für eine jüdische Wohltätigkeit bildete die Zedaka. Sie speist sich aus dem göttlichen Gebot, Hilfsbedürftigen mit Sach‑ und Geldspenden zu helfen. Von der christlichen Karitas unterschied sie sich dahingehend, dass sie nicht nur die Symptome der Armut linderte, sondern auch deren Ursachen bekämpfte. Jüdische Wohltätige richteten ihr Handeln somit am proaktiven Prinzip der ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ aus, durch das die Betroffenen ihre Bedürftigkeit selbst überwinden sollten.25 Dieser sozialdynamische Grundsatz, den auch Trietsch zeitlebens favorisierte, wenn er etwa das Chaluka-System in Palästina ablehnte, verband sich Ende des 18. Jahrhunderts mit Emanzipations‑ und Integrationsbestrebungen. Viele jüdische Stifterinnen und Stifter waren demnach darauf bedacht, die Empfänger*innen ihrer Zuwendungen, zu denen häufig Kinder zählten, zu vorbildlichen Bürgerinnen und Bürgern zu erziehen. Oscar Götz, der von 1894 bis 1932 Direktor der Nauen’schen Anstalt war, bemerkte dazu, man hätte auch in seinem Haus großen Wert auf den erfolgreichen „Eintritt ins bürgerliche Leben“ gelegt. Die Zöglinge, wie man die Jungen damals nannte, sollten vor diesem Hintergrund zu „brauchbaren Subjekten“26 erzogen werden, die eine zeitgemäße Bildung erhielten, die ihnen Zuhause versagt blieb. Im Gegensatz zu älteren Assimilationskonzepten der Forschung, nach denen sich Jüdinnen und Juden einseitig an die Mehrheitsgesellschaft angepasst hätten und den normativen Paradigmen einer nationalen Homogenität gefolgt seien, ist in Anlehnung an Simone Lässig zu betonen, dass jene Initiativen nicht bloß nachgeahmt waren. Vielmehr beruhten sie auf eigenen, im Judentum verankerten Werten, wie der schon erwähnten Hilfe zur Selbsthilfe. In dieser Form fungierten sie als Vehikel einer Verbürgerlichung und führten dazu, dass beispielsweise bedürftige jüdische Kinder früher als ihre christlichen Altersgenossen zum Besuch einer Bürgerschule angehalten wurden, die sich von herkömmlichen Armenschulen qualitativ unterschied.27 Dass die jüdische Wohltätigkeit nicht allein auf Akzeptanzgewinne außerhalb der eigenen Gemeinschaft gerichtet war, zeigt auch der Stiftungswille Dina Nauens. Er stellte die religiöse Erziehung der Jungen in den Mittelpunkt, die neben dem Studium biblischer und rabbinischer Texte das Erlernen des Hebräischen umfasste.28 Ergänzend zum religiösen Unterricht, der 24 Andreas Ludwig/Kurt Schilde, „Jüdisches Mäzenatentum zur Förderung wohltätiger Zwecke. Einleitung, Überblick und Ausblick“, in: dies. (Hg.), Jüdische Wohlfahrtsstiftungen. Initiativen jüdischer Stifterinnen und Stifter zwischen Wohltätigkeit und sozialer Reform, Frankfurt a. M. 2010, S. 9–30, hier S. 22. 25 Ebd., S. 16 f.; Michaelis, „Die Zukunft der Juden“, S. 49, 208. 26 Oscar Götz, Geschichte der Nauen’schen Erziehungsanstalt zu Berlin. Von 1789 bis 1909, Berlin 1909, S. 33, 47. 27 Siehe hierzu v. a. Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum, S. 441, 659 f. 28 Götz, Geschichte, S. 4 f.
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an sechs Wochentagen stattfand, sollten auch säkulare Fächer wie Deutsch oder Mathematik erteilt werden. Zum Primat des Religiösen, der den Alltag in der Anstalt bis zu ihrer Schließung 1932 prägen sollte, trat ab den 1850er Jahren die Forderung, die sogenannten Schützlinge auf den Besuch einer höheren Schule vorzubereiten. Nach Konflikten mit dem Vorstand des orthodoxen Talmud-ToraInstituts, der die Stiftung beaufsichtigte, beschloss man 1867, die Jungen auf externe Schulen zu schicken. Der Direktor und die Hilfslehrer waren fortan nur noch für den Religionsunterricht zuständig.29 Dina Nauens Testament sah vor, „arme Verwandte“ unentgeltlich in Obhut zu nehmen, während es Waisen nicht explizit nannte. Anders als von seiner zweitältesten Tochter Hannah Jeremias überliefert, wuchs Trietsch somit nicht in einem Waisenhaus auf.30 In seiner subjektiven Wahrnehmung mag es sich vielleicht um ein solches gehandelt haben, da es der Selbstmord seiner Mutter war, in dessen Folge er und seine Brüder nach Berlin kamen. Objektiv gesehen war es aber ein Internat für bedürftige Jungen. Die Anstalt wich auch in ihrem Aufbau von einem herkömmlichen Waisenhaus ab. So beherbergte sie bis zu ihrer Auflösung insgesamt lediglich 280 Jungen.31 Die Größe der Gruppe war damit sehr überschaubar und zählte im Durchschnitt nicht mehr als zehn Personen. Infolge dieser geringen Zahl, die an heutige Pflegegruppen erinnert, konnten sich Trietsch und seine Brüder einer individuelleren Betreuungssituation sicher sein. Gleichzeitig erlaubte sie aber auch größere Zugriffs‑ und Kontrollmöglichkeiten. Götz bemühte in seiner dreibändigen Geschichte der Nauen’schen Erziehungsanstalt (1909, 1919, 1932) in diesem Kontext das Bild eines familiären Zusammenlebens.32 Ihm zufolge sollen die männlichen Erzieher – als Frauen waren nur eine Haushälterin und die Ehefrau des Direktors präsent – jeden Morgen mit den Jungen den Gottesdienst besucht, Ausflüge gemacht und das Essen gemeinsam an einem Tisch eingenommen haben. Das von Götz gezeichnete Familienbild, das die Kinder in weniger harmonischen Farben wahrgenommen haben könnten, lässt erahnen, wie minutiös der Tagesablauf in der Anstalt geplant war. So beklagten Ehemalige die rigide Hausordnung, die neben eine Uniform „Regelmäßigkeit, Sauberkeit und pünktlichen Gehorsam“33 vorsah. Trietschs Kindheit und Jugend waren somit durch eine autoritäre Erziehungspraxis geprägt, die sich am gesellschaftlich sanktionierten Prinzip von ,Zucht und Ordnung‘ orientierte. Als er 1879 mit seinen beiden älteren Brüdern nach Berlin
29 Ebd., S. 32. Zum Talmud-Tora Institut, gegr. 1712 in Berlin, siehe Jörg H. Fehrs, Von der Heidereutergasse zum Roseneck. Jüdische Schulen in Berlin 1712–1942, Berlin 1993, S. 28–31. 30 Jeremias, Urgrossmutter Hannah, S. 1. 31 Zum Vergleich: Im Auerbach’schen Waisenhaus für jüdische Mädchen und Jungen in Berlin lebten 1882 rund 90 Schützlinge. Fehrs, Von der Heidereutergasse, S. 153. 32 Götz, Geschichte, S. 44. 33 Ebd., S. 24. Oscar Götz, Geschichte der Nauen’schen Erziehungsanstalt zu Berlin. Von 1909 bis 1919, Berlin 1919, S. 8.
4.1 Exkurs
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kam, gehörte er einer Gruppe von zehn Jungen an.34 Die Anstalt war in diesem Jahr in die Elsasser Straße (heute Torstraße) gezogen, die sich im ärmlichen Berliner Osten unweit des Scheunenviertels befand. Neben Räumen für den Direktor und das Personal verfügte sie über zwei Schlafsäle, eine Wohn‑ und Lernstube sowie einen kleinen Spiel‑ und Turnplatz.35 Da das Haus an die Maschinenbauanstalten der Firma Borsig angrenzte und zur anderen Seite von drei‑ bis vierstöckigen Häusern umgeben war, hätten einige Jungen, die nur selten die Sonne zu Gesicht bekamen, „Frostschäden“36 erlitten. Überblickt man Trietschs Herkunft und frühe Erziehung, so bleibt festzuhalten, dass sie sich von derjenigen der meisten deutschen Zionistinnen und Zionisten erheblich unterschied: So war sie einerseits stark religiös geprägt und ließ andererseits durch eine Fremdbetreuung familiäre Intimität und Geborgenheit vermissen. Diese zwei Aspekte, zu denen noch die soziale Bedürftigkeit zu zählen wäre, benötigen mit Blick auf Trietschs zionistische Tätigkeit einer eingehenderen Erläuterung, auch wenn es sich nur um eine retrospektive Interpretation handeln kann. Angesichts seiner religiösen Erziehung lässt sich zunächst die Behauptung aufstellen, dass sie das Fundament für sein zionistisches Engagement legte. Für die Herausbildung einer Persönlichkeit sind Erfahrungen in der frühen Sozialisationsphase von zentraler Bedeutung. Prägungen im Umfeld des Religiösen wirken dabei besonders nachhaltig auf die mentale Tiefenstruktur eines Individuums.37 Da auch Trietsch seine Kindheit und Jugend in einer religiösen Umgebung verbrachte, ist davon auszugehen, dass sie sich ihm biografisch – unabhängig, ob positiv oder negativ – eingeschrieben hat.38 Bevor er in die Nauen’sche Anstalt kam, hatte er acht Jahre lang in einer Familie gelebt, deren Mitglieder sowohl mütter‑ als auch väterlicherseits in der Jüdischen Gemeinde aktiv gewesen waren. Als Tochter eines Synagogendieners dürfte seine Mutter Rosalie Trietsch, die bis zu ihrem Tod seine primäre Bezugsperson war, eine engere Verbindung zum Glauben gepflegt und sie an ihre Söhne weitergegeben haben. Mit neun Jahren gehörte Trietsch schließlich einem Anstaltskollektiv an, dessen Erziehung auf dem Boden des gesetzestreuen Judentums fußte. Durch einen Alltag, der neben religiösen Lerninhalten und Ritualen eine uniformierte Kleidung vorsah, war er dort Teil einer gelebten jüdischen Gemeinschaft. Die gemeinsamen Praktiken und Riten, die Trietschs jüdische Zugehörigkeit stark gefestigt haben mögen, wurden von ihm nach Verlassen der Anstalt indes nicht übernommen. Seiner Tochter Hannah Jeremias zufolge wurden im Hause Trietsch weder die Speisevorschriften noch der Schabbat eingehalten, ebenso wie 34 Manuskript
Verzeichnis der Zöglinge Ende September 1879. CAHJP, D Be4 362. Götz, Geschichte [wie Anm. 26], S. 41 f. 36 Fehrs, Von der Heidereutergasse, S. 147 f. 37 Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum, S. 55. 38 Hannah Jeremias erinnerte ihren Vater als einen „großen Kenner“ der Bibel. Jeremias, Urgrossmutter Hannah, S. 16. 35
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4. „Palästina und die Juden. Tatsachen und Ziffern“
man die Synagoge nur unregelmäßig besuchte.39 Wenngleich die Haushaltsführung und Weitergabe religiöser Werte traditionell in den Aufgabenbereich der Frauen fielen, womit Emma Trietsch als ,Priesterin des Hauses‘40 agierte, nahm Trietsch hieran offensichtlich keinen Anstoß. Möglich wäre, dass er eine religiöse Lebensführung für sich und seine Familie ablehnte, nachdem er sie in der Anstalt als Zwang empfunden hatte. Mit Ausnahme der jüngsten Tochter Judith Trietsch, die auf eine jüdische Erziehung drängte, besuchte keines seiner fünf Kinder eine jüdische Schule.41 Wie die meisten deutschen Zionistinnen und Zionisten lebte Trietsch im Alltag ein säkulares Judentum, das in der Glaubenspraxis keine engere Verbindung mehr zur jüdischen Tradition aufwies. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Gruppe völlig losgelöst vom religiösen Bezugsrahmen agierte. Wie Marion Kaplan aufgezeigt hat, verlagerte sich die öffentliche Observanz oft in die Sphäre des Privaten, wodurch die Religiosität des Individuums in einer bürgerlichen Familienreligion und verinnerlichten Religiosität Ausdruck fand.42 Zu ihr zählten neben den religiösen Praktiken, die sich individuell adaptieren ließen, ein innerer Kompass jüdischen Lebensgefühls. Er spiegelte sich vor allem in einem jüdischen Freundes‑ und Bekanntenkreis. Die sogenannten assimilierten Jüdinnen und Juden, die von der älteren Forschung meist als einseitig angepasst charakterisiert wurden, bewegten sich somit sehr häufig in einem jüdisch geprägten Umfeld.43 Sie rechneten sich einer jüdischen Erfahrungsgemeinschaft zu, definierten sich gleichzeitig aber überwiegend als (Staats‑)Angehörige einer deutschen Nation.44 Diese Säkularisierungs‑ und Privatisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts und mit ihnen die Erosion der traditionellen, religiös strukturierten Gesellschaft führten dazu, dass die jüdische Gemeinschaft nach neuen weltlichen Identitäten suchte.45 In einer von Umbrüchen geprägten Gesellschaft, die sich durch neue Lebensentwürfe ausdifferenzierte, fungierte unter anderem der Zionismus als eine Klammer zwischen Tradition und Moderne. Als eine dezidiert säkulare Bewegung bot der moderne Zionismus auch Trietsch ein alternatives Vergemeinschaftungsangebot und Tätigkeitsfeld, in das er seine jüdische Zugehörigkeit nicht mehr vor 39 Ebd.,
S. 5. Jüdisches Bürgertum, S. 94. 41 Jeremias, Urgrossmutter Hannah, S. 3. 42 Kaplan, Jüdisches Bürgertum, S. 301. 43 Zur Problematik des Assimilationsbegriffs, der von der jüngeren Forschung meist durch Begriffe wie Akkulturation ersetzt wird, siehe Andreas B. Kilcher/Urs Lindner, „Jenseits von starren Grenzen. Eine theoretische und historische Neuperspektivierung der Assimilationsthematik“, in: dies. (Hg.), Zwischen Anpassung und Subversion. Sprache und Politik der Assimilation, Paderborn u. a. 2019, S. 3–36. 44 Zu den Zugehörigkeitsgefühlen entsprechend einer ,situativen Ethnizität‘, die keinen Widerspruch bedeuten mussten: Benno Nietzel, Handeln und Überleben. Jüdische Unternehmer aus Frankfurt am Main 1924–1964, Göttingen 2012, S. 28. 45 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 1248; Ingke Brodersen/Rüdiger Dammann, Zerrissene Herzen. Die Geschichte der Juden in Deutschland, Bonn 2007, S. 141, 145. 40 Kaplan,
4.1 Exkurs
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dem Hintergrund der Religion, sondern einer jüdischen Nation sinnvoll einspeisen konnte. Die Basis dieses neuerlichen Bewusstseins ist trotz seiner säkularen Konzeption zugleich im religiösen Kontext zu verorten, war doch die Religion der gelebte Garant für den jahrhundertelangen Zusammenhalt in der jüdischen Diaspora, an dem die Zionist*innen ansetzen konnten.46 Trietschs spätere Hinwendung zum Zionismus, den man in der Nauen’schen Anstalt nicht geduldet hätte, lässt sich dabei zugleich als geistiger Ausbruch aus der erstickenden Atmosphäre eines sozialdisziplinierenden Anstaltslebens interpretieren. Nur wenige deutsche Zionistinnen und Zionisten erhielten wie Trietsch eine traditionell-religiöse Erziehung. Neben Sammy Gronemann zählten zu ihnen die aus jüdisch-orthodoxen Messingwerk-Familien stammenden Brüder Felix und Martin Rosenblüth (1887–1978, 1886–1963) sowie Moses Calvary (1876–1944).47 Im Gegensatz zu Trietsch waren sie allerdings in keiner jüdischen Erziehungsanstalt aufgewachsen. Bislang ließ sich eine Fremdbetreuung nur im Falle des eingangs erwähnten C. Z. Kloetzel nachweisen, der als Halbwaise seine Kindheit und Jugend in einer religiösen Einrichtung für Bedürftige verbracht hatte.48 Eine solche außerhäusliche Erziehung führte dazu, dass Trietsch schon als Kind lernen musste, selbständig zu sein. Er wuchs fernab seiner Heimatstadt in einem fremden Umfeld auf, das familiäre Züge getragen haben mag, ihm aber kein Elternhaus ersetzen konnte. Diese einschneidende Erfahrung, zu der Erziehungsmethoden kamen, die auf Selbstdisziplinierung und Strebsamkeit zielten, könnte Trietschs außerordentlichen Arbeitseifer geprägt haben. Bedenkt man außerdem den Selbstmord seiner Mutter und das daraus erwachsene Lebenstrauma eines ohnmächtigen Kindes, das den auf sich projizierten Freitod nicht zu verhindern vermochte, mag ihm der Zionismus zudem ein Gefühl von Handlungs‑ und Selbstwirksamkeit vermittelt haben. Sein zionistisches Engagement, das ihm eine ideologische Heimat gab und sich als eine richtungsweisende Lebensaufgabe deuten ließe, verfolgte die Ansiedlung Hilfsbedürftiger. Ihr Schicksal dürfte Trietschs ausgeprägten Willen kanalisiert haben, proaktiv Hilfe zu leisten. Auf diesen Konnex hat auch die Historikerin Claudia Prestel hingewiesen, die die Suche nach innerer Heimat und Sinnhaftigkeit auf die Politisierung vieler ehemaliger Zöglinge zurückführt.49
46 Heiko Haumann, „Zionismus und die Krise jüdischen Selbstverständnisses. Tradition und Veränderung im Judentum“, in: ders., Lebenswelten und Geschichte. Zur Theorie und Praxis der Forschung, Wien, Köln, Weimar, 2012, S. 325–371, hier S. 343 f. 47 Gronemann, Erinnerungen, S. 39, 50 f. Zum sog. Messingwerk-Kreis am Stadtrand von Eberswalde (Finow) bei Berlin s. Arnold Kuchenbecker, „Zionisten und Chaluzim in Messingwerk“, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 62 (2011), S. 129–139. 48 Zu Kloetzel siehe die Kurzbiografie RP300 Kloetzel unter www.global-archives.de. 49 Claudia Prestel, Jugend in Not. Fürsorgeerziehung in deutsch-jüdischer Gesellschaft (1901– 1933), Wien, Köln, Weimar 2003, S. 396.
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4. „Palästina und die Juden. Tatsachen und Ziffern“
4.1.2 Ausbildung Während die primitiven Wohnverhältnisse und die strikte Hausordnung ihm nur wenig Anlass zur Freude gegeben haben dürften, konnte Trietsch dank der Stiftung eine höhere Lehranstalt besuchen. Die Anstaltsleitung, welche das Schulgeld für ihn übernahm, legte auf eine solche Ausbildung großen Wert. So unterstrich Götz sichtlich stolz, die meisten Jungen hätten ab 1882 das Gymnasium, Realgymnasium oder die Oberrealschule besucht.50 Trietschs Schullaufbahn lässt sich mithilfe eines Abschlussberichts aus dem Jahr 1886 rekonstruieren. Dass der Bericht überliefert und ausfindig gemacht werden konnte, ist als großes Glück zu werten. Zwar bekam jeder Zögling beim Verlassen der Anstalt einen solchen Bericht ausgehändigt, aber es haben sich insgesamt nur fünf erhalten. Darunter der von Trietsch.51 Nachdem er die Knabenschule der Jüdischen Gemeinde besucht hatte, auf der die Kinder zu „brauchbaren Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft“52 erzogen werden sollten, wechselte Trietsch 1880 an das Friedrichs-Realgymnasium in der Friedrichstraße. Ursprünglich als eine Realschule für Jungen konzipiert, unterhielt die 1850 in Berlin-Mitte gegründete Schule drei Jahre später auch einige Gymnasialklassen. 1874 kam es zur räumlichen Trennung der kombinierten Anstalt, deren obere Klassen auf dem Realschul‑ und Gymnasialzug jeweils zum Abitur führten. Trietsch besuchte ab der fünften Klasse die Realschule, die sich unweit der Nauen’schen Anstalt befand.53 Im Gegensatz zu einem humanistischen Gymnasium unterrichtete man ihn dort schwerpunktmäßig in modernen Sprachen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern, die den Weg in einen gutbürgerlichen Beruf ebnen sollten.54 Diese ,realistische‘, auf eine Berufstätigkeit außerhalb der Universität zuführende Schulbildung, dürfte das spätere Wirken von Trietsch nachhaltig beeinflusst haben. Demnach verstand er sich zeitlebens als ein Praktiker, dessen Denk‑ und Handlungsweisen vorrangig an pragmatischen Nützlichkeitserwägungen ausgerichtet waren und nicht an den theoretischen Debatten akademischer Zirkel. Diese Einschätzung deckt sich auch mit der Wahrnehmung mehrerer Wegbegleiter. Eine Episode in den Memoiren des schon erwähnten Kurt Blumenfeld ist hierfür bezeichnend. Die beiden Männer sollen das erste Mal auf einer Vorkonferenz zum siebten Zionist*innenkongress 1905 miteinander ins Gespräch gekommen sein. Während der 19-jährige Student Blumenfeld angeregt über
50 Götz,
Geschichte [wie Anm. 26], S. 35, 37. für Davis Trietsch datiert vom 3. 10. 1886. CAHJP, D Be4 362. 52 Fehrs, Von der Heidereutergasse, S. 102. 53 Carl Gerstenberg, „Zur Geschichte des Friedrichs-Realgymnasiums zu Berlin von Ostern 1850 bis Ostern 1925“, in: ders./Paul Starick, Festschrift zum 75jährigen Bestehen des FriedrichsRealgymnasiums zu Berlin, Berlin 1925, S. 5–91, hier S. 7 f., 12, 26. 54 Lucas Lohbeck, Das höhere Schulwesen in Preußen im 19. Jahrhundert, Marburg 2005, S. 68–74; Karl-Ernst Jeismann, Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft. Bd. 2: Höhere Bildung zwischen Reform und Reaktion 1817–1859, Stuttgart 1996, S. 485 f. 51 Abschlussbericht
4.1 Exkurs
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Hegel und Simmel philosophierte, hätte ihm Trietsch irritiert entgegengehalten: „Wir kolonisieren Palästina. Sie scheinen zu viel vom Denken zu halten.“55 Im Unterschied zu Blumenfeld und den meisten anderen deutschsprachigen Zionisten, die an einer Universität studierten, verließ Trietsch 1886 mit der Obersekunda-Reife die Schule, ohne das Abitur abzulegen.56 Er erwarb in der Folge keinen akademischen Abschluss, sondern bildete sich bis zu seinem Tod autodidaktisch weiter. Im eifrigen Selbststudium wandte er sich diversen Siedlungspraktiken und technologischen Innovationen zu, um sie für den Zionismus nutzbar zu machen. Trietsch war somit ein klassischer Autodidakt, der unter ständigem Zwang stand, sein Wissen und Können beweisen zu müssen. Seine fehlende universitäre Anbindung dürfte ihm jedoch nicht nur zum Nachteil gereicht haben. Mit ihr verband sich zugleich eine größere Neugier und Offenheit, durch die er Ideen vorbrachte, die vom zionistischen Establishment nicht in Betracht gezogen wurden. Julius Berger wies darauf anlässlich Trietschs 50. Geburtstags hin: „Nichts entgeht seinem berühmten Blick über die Kneifergläser, und er findet Analogien und Chancen, wo jeder andere lässig vorübergeht. So brachte er uns und bringt uns jeden Tag ein neues Projekt, eine andere Idee, eine dritte Möglichkeit, eine vierte Erfindung.“57
Welche Berufsausbildung Trietsch absolvierte, ist nicht bekannt. In einem Nachruf von Otto Warburg heißt es, er habe „von seiner handwerklichen Ausbildungszeit her ein besonderes Talent für graphische Darstellungen“58 besessen. Seine Arbeiten als Schildermaler in New York deuten ebenfalls darauf hin, dass Trietsch im Bereich der Grafik ausgebildet wurde. In den Klassen‑ und Zensurenlisten der Universität der Künste sowie in den Studierenden‑ und Gasthörermatrikeln der Technischen Universität Berlin taucht sein Name jedenfalls nicht auf. Ihre Vorgängerinstitutionen setzten das Abitur damals nicht voraus.59 Möglicherweise besuchte Trietsch die Kunstgewerbe‑ und Handwerkerschule in Charlottenburg, die 1861 mit dem Fokus gewerbliches Zeichnen und dekoratives Malen eröffnet worden war.60 Auch wenn sich sein Ausbildungsweg nach 1886 verliert, liegt es nahe, dass Trietsch wie sein Vater eine Lehre im Kunstgewerbe absolvierte. Darauf deuten neben seiner Privatbibliothek61, die überwiegend mit Büchern aus dem Bereich Kunst und Kunstgewerbe bestückt war, mehrere Auftragsarbeiten als Kartograf und 55 Blumenfeld,
Erlebte Judenfrage, S. 38. die Liste mit den Namen der Abiturienten bei Gerstenberg, Geschichte, S. 72–90. 57 Berger, „Zum fünfzigsten Geburtstag“, S. 2. 58 Warburg, „Davis Trietsch“, S. 5. 59 Siehe die Bestände der Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums (1867), der Hochschule für die Bildenden Künste (1875) und der Königlich Technischen Hochschule zu Berlin (1879) im Archiv der Universität der Künste Berlin. 60 Hans J. Wefeld, Ingenieure aus Berlin. 300 Jahre technisches Schulwesen, Berlin 1988, S. 382. Die Schülerlisten der Anstalt wurden im 2. Weltkrieg zerstört. Trietschs Besuch der Schule ist somit nicht zu belegen, ebenso wie nicht auszuschließen ist, dass er in einer privaten Einrichtung ausgebildet wurde. 61 Davis Trietsch an Ernst Herrmann, 26. 3. 1931. CZA, A104/55. 56 Siehe
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4. „Palästina und die Juden. Tatsachen und Ziffern“
eigene Publikationen hin. Trietschs landeskundliche Grafiken und Zeichnungen in Form diverser Karten, Tabellen und Diagrammen verdankten sich augenscheinlich einem sicheren Umgang mit Stift, Lineal und Zirkel. Der mit 30 farbigen Grafiken im Jahr 1926 erschienene Palästina-Wirtschafts-Atlas ist bezeichnend für seine Arbeitsweise, der er an einem eigenen Werk‑ und Zeichentisch nachging.62
4.2 Zionismus und Expertentum: Ein Selfmade-Zionist ohne Doktorhut Unabhängig von seiner beruflichen Ausbildung verstand sich Davis Trietsch als ein „praktisch erprobte[r] Kenner“63 Palästinas, der überzeugt war, einen essenziellen Beitrag für den Aufbau des Landes leisten zu können. Dieser Selbstanspruch kollidierte häufig mit seiner Stellung in der ZO, wo er sich oft als Außenseiter wiederfand. Zwar gewann Trietsch nach Annahme des Nachbarländer-Programms an Ansehen und wurde 1907 sogar in das Große Aktionskomitee der Organisation gewählt, doch stand sein Wirken dort auf tönernen Füßen.64 So zählte er sich selbst und seine Verbündeten zu „gelegentlichen Outsidern“65, die nicht im unmittelbaren Umfeld der ZO-Leitung, sondern vom äußeren Rand der Organisation aus agierten. Diese Abseitsposition war seiner Ansicht nach nicht auf eine fehlende Eignung der ,Outsider‘ zurückzuführen, sondern auf die Ignoranz der zionistischen Führung. Sie hätte es nicht verstanden, die Tragweite ihrer innovativen Ideen zu erkennen. Trietsch bemerkte dazu 1914: „Wobei ich das gelegentliche Outsidertum dahin verstanden wissen möchte, daß manche Dinge, die erst später vom Zionismus akzeptiert werden, eben vorher ,outside‘ gewesen sein müssen. Für meine eigene Outsiderei kann ich das jedenfalls nachgerade in Anspruch nehmen.“66
Wie Stephen M. Poppel gezeigt hat, gehörten die deutschen Zionistinnen und Zionisten mehrheitlich der bürgerlichen Mittelschicht an, die in deutschen Groß‑ und Mittelstädten beheimatet war.67 Ihre männlichen Vertreter waren Poppel zufolge meist Akademiker. Sie verdienten ihren Lebensunterhalt als Ärzte, Architekten, Journalisten, Rechtsanwälte oder Schriftsteller. Unter den jüngeren Zionisten gab 62 Die Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt erwarb 2018 einen Atlas, von dem weltweit nur noch drei Exemplare existieren sollen. Wertvolle Sammlungszuwächse, 17. 12. 2018, abrufbar unter: https://aktuell.uni-erfurt.de/ 2018/12/17/wertvolle-sammlungszuwaechse/ (Zugriff 12. 3. 2022). 63 Davis Trietsch an Ernst Herrmann, 19. 1 2. 1929. CZA, A104/5. 64 Stenographisches Protokoll (1907), S. 395 f. Zum sog. Großen Aktionskomitee, das als Nahtstelle zwischen Exekutive (sog. Engeres Aktionskomitee) und den einzelnen Landesorganisationen die Legislative ausübte: Meybohm, David Wolffsohn, S. 134–137. 65 Davis Trietsch, „Das rote Heft“, in: Die Freistatt 1 (1913/14), Nr. 12, S. 709–713, hier S. 709. 66 Ebd., S. 709 f. 67 Poppel, Zionism in Germany, S. 37.
4.2 Zionismus und Expertentum
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es zudem viele Studenten, die, wie Blumenfeld und Lichtheim, in späteren Jahren Schlüsselpositionen in der ZVfD besetzen sollten.68 Da die Unterlagen der Vereinigung nach ihrer erzwungenen Auflösung 1938 im Zuge des Zweiten Weltkriegs größtenteils zerstört wurden, liegen keine Mitgliederlisten mehr vor. Eine Statistik zum Berufsleben ihrer Mitglieder lässt sich für die ZVfD, die ihre Büroräume 1906 in Charlottenburg eröffnete, daher nur über Umwege ermitteln.69 Eine geeignete, bislang von der Forschung nicht beachtete Quelle bieten die Abstimmungsergebnisse zum ,Uganda-Projekt‘ auf dem sechsten Kongress. Auf fünf Seiten sind hier die sogenannten Ja‑ und Nein-Sager jeweils mit ihrem Beruf aufgelistet, das heißt die Delegierten, die für oder gegen eine Prüfung des Projekts votierten, ebenso wie die sich enthaltenden Stimmberechtigten.70 Das Dokument stellt Poppels These, es habe sich bei den deutschen Zionisten vor allem um Akademiker gehandelt, in Frage. So finden sich unter ihnen zwar mehrere Universitätsabsolventen, auffallend ist aber, dass der kaufmännische Beruf dominierte. Insgesamt waren mehr Delegierte Kaufleute als in freien Berufen beschäftigt oder der Studierendenschaft zugehörig. Die von Poppel und anderen Historikerinnen und Historikern bilanzierte Akademisierung der deutschen Zionisten dürfte damit zusammenhängen, dass ihre führenden Akteure in der Tat überwiegend promovierte Akademiker waren.71 Zu ihnen zählten die Entscheidungsträger in den Führungsebenen der zionistischen Institutionen sowie die Herausgeber, Redakteure, Journalisten und Schriftsteller, die die publizistischen Debatten gewissermaßen mit führender Feder prägten. Der akademische Hintergrund dieser einflussreichen Gruppe, deren Aktionsfelder sich überlappen konnten, traf auch auf Akteure aus Österreich-Ungarn und dem Russischen Reich sowie ihren Nachfolgestaaten zu. So verfügten die ,Zionistenführer‘ aus den östlichen Nachbarländern ebenfalls fast immer über eine akademische Ausbildung.72 Nimmt man vor dieser Folie exemplarisch alle bislang in dieser Studie genannten zionistischen Akteure in den Blick – 35 an der Zahl – so besuchten lediglich fünf von ihnen nicht die Universität.73 Wie sehr ein Univer68 Gebhard,
„,Die zionistische Situation‘“, S. 83. 1906 bis 1911 befand sich das Büro in der Bleibtreustraße 49. 1911 zog die ZVfD in die Sächsische Straße 8, 1924 in die Meinekestraße 10. Am letzten Standort erinnert eine Gedenktafel an die ZVfD. Gedenktafel zionistischer Organisationen, abrufbar unter: https://www.berlin.de/ ba-charlottenburg-wilmersdorf/ueber-den-bezirk/geschichte/gedenktafeln/artikel.154951.php (Zugriff 12. 3. 2022). 70 Stenographisches Protokoll (1903), S. 223–227. Die Leitung, einschließlich ihres Präsidenten, enthielt sich der Abstimmung. Ebd., S. 227. 71 Siehe u. a. Eloni, Zionismus in Deutschland, S. 100. 72 Zu den frühen russischen Leitfiguren zählten Prof. Dr. Max Mandelstamm (1839–1912), Dr. E. W. Tschlenow (1863–1918) und Dr. Jacob Bernstein-Kohan (1859–1929). 73 Alex Bein, Meir Dizengoff, Alexander Levy, Richard Lichtheim, Leo Motzkin, Menachem Ussischkin, Israel Zangwill und Ben-Gurion waren alle an einer Universität immatrikuliert gewesen, erwarben dort aber keinen der höchsten Abschlüsse. Mit ihren akademischen Titeln zu nennen sind dagegen: Dr. Julius Berger, Dr. Nathan Birnbaum, Dr. Max Bodenheimer, Prof. Dr. Martin Buber, Dr. Berthold Feiwel, Dr. Adolf Friedemann, Dr. Moses Gaster, Dr. Sammy 69
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4. „Palästina und die Juden. Tatsachen und Ziffern“
sitätsabschluss unter den tonangebenden Zionisten dominierte, bemerkte auch Lichtheim hinsichtlich der deutschen Repräsentanten: „Das akademische Element spielte im deutschen Zionismus von Anfang eine bedeutende Rolle. Es gab zwar auch eine Anzahl zionistischer Kaufleute, aber es entsprach dem Charakter der Bewegung und den Verhältnissen im deutschen Judentum, dass die meisten Sprecher und Führer des Zionismus Akademiker waren.“74
Die Einschätzung von Lichtheim, der selbst eine Dissertation verfasst hatte, aber keine Promotion anstrebte, kann unter Heranziehung weiterer Quellen bestätigt werden.75 Ein Blick auf die Führungsebenen der ZVfD und die Redaktion der Jüdischen Rundschau mit Sitz in Berlin zeigt, dass ihre männlichen Akteure fast ausnahmslos Akademiker waren.76 Die Bewegung in Deutschland war dadurch von Hierarchien durchzogen, die ein starkes akademisches Gepräge nach oben hin aufwiesen. Der hohe Stellenwert einer universitären Ausbildung strahlte damals nicht nur auf die Zionisten aus. Insgesamt war es im sogenannten langen 19. Jahrhundert zu einer Ausdifferenzierung und Breitenwirkung von Wissen gekommen, die immer mehr bürgerlichen Kreisen ein Universitätsstudium ermöglichten.77 Der Entwicklung hin zu einem Zeitalter der modernen Wissensgesellschaft folgend avancierten Wissen und Wissenschaft zu einer „kulturellen Instanz von außerordentlichem Prestige“78 (Jürgen Osterhammel). Eine wissenschaftlich fundierte Ausbildung stellte somit ein anerkanntes, hohes gesellschaftliches Gut dar.79 Wie erstrebenswert ein Universitätsbesuch gerade für die jüdische Minderheit in Deutschland war, hat Simone Lässig in ihrer Habilitationsschrift Jüdische Wege ins Bürgertum erörtert. Ein erfolgreicher akademischer Abschluss kam in der jüdischen Bevölkerung besonders häufig vor, da sie mit ihm eine Integration in die männlich dominierte Bürgergesellschaft erstrebte.80 Eine Erzählung im Feuilleton der Jüdischen Gronemann, Dr. Theodor Herzl, Dr. Hans Gideon Heymann, Dr. Max Jungmann, Dr. Alfred Klee, Prof. Dr. Heinrich Loewe, Dr. Daniel Pasmanik, Prof. Dr. Franz Oppenheimer, Dr. Hugo Schachtel, Dr. Emil Simonsohn, Dr. Selig Soskin, Prof. Dr. Otto Warburg, Dr. Wolfgang von Weisl und Dr. Martin Weismann. 74 Lichtheim, Die Geschichte des deutschen Zionismus, S. 149. 75 Zu Lichtheim siehe die Biografie von Andrea Kirchner, Richard Lichtheim. 76 Schütz, Die Konstruktion einer hybriden ,jüdischen Nation‘, S. 96, 132; Michael Nagel, „Jüdische Rundschau“, in: Dan Diner (Hg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 3, Stuttgart, Weimar 2012, S. 253–255, hier S. 254. 77 Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 1105 f. Siehe auch Martin Kintzinger/Sita Steckel (Hg.), Akademische Wissenskulturen. Praktiken des Lehrens und Forschens vom Mittelalter bis zur Moderne, Basel 2015. 78 Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 1107. 79 Ebd. Siehe zudem Frederick de Moll, Bildung als Medium der jüdischen Emanzipation. Eine Untersuchung des jüdischen Bildungsverständnisses zwischen Aufklärung und Tradition, Stuttgart 2009. 80 1887 waren rund 8 % aller deutschen Studierenden jüdisch. Gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung studierten 1886 in Preußen sieben Mal so viele Juden. Miriam Rürup, Ehrensache. Jüdische Studentenverbindungen an deutschen Universitäten 1886–1937, Göttingen
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Volksstimme mit dem Untertitel „Ein Zeitbild“ (1903) spiegelt diese zeitgenössische Wertschätzung, die durch den hohen Stellenwert des Lehrens und Lernens im Judentum ebenfalls wichtige Impulse erhielt. Ein Vorstandsmitglied einer Jüdischen Gemeinde ist darin auf der Suche nach einem geeigneten Ehemann für seine Tochter. Sie selbst hat zumindest in einer Hinsicht konkrete Vorstellungen: „Sie sagte es ja unzählige Male, es wäre ihr ganz gleichgiltig [!], was für ein Doktor es sei, juris, medicinae, sie würde sogar einen Doktor rerum technicarum nicht verschmähen, aber ein Doktor soll er sein. Ein akademisch gebildeter Mann mit Titel, mit dem man reden kann und der auch ganz andere Ansichten von der Ehe hat als etwa ein Kaufmann oder ein Kommis.“81
Trietsch konnte mit einem Doktortitel, der auch in nichtjüdischen Kreisen einen hohen sozialen Stellenwert genoss, nicht aufwarten. Mit Bambus, Kloetzel, Lilien und Wolfssohn, die als einzige aller bislang hier genannten Zionisten keine Universität besucht hatten, fiel er gewissermaßen aus dem akademischen Raster. Dieser Umstand dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass seine Palästina-Expertise kritischer als die studierter Mitstreiter beäugt wurde, denen man ein größeres Vertrauen schenkte. Ein Artikel aus der schon zitierten Ausgabe der Jüdischen Volksstimme erhärtet diese Einschätzung. Ihr Autor Hugo Schachtel wusste darin von einem Vorfall zu berichten, der sich auf einer zionistischen Versammlung in Berlin zugetragen haben soll. Ein bekannter Berliner Zionist, vermutlich war es Friedemann, soll dort in abschätziger Weise auf Trietsch zu sprechen gekommen sein. So bemerkte er in Bezug auf dessen Erfahrungen und Kenntnisse, die er als unzureichend degradierte, Trietsch habe ja „nicht einmal einen akademischen Grad erreicht“82. Um den damaligen Stellenwert einer Hochschulausbildung methodisch zu fassen, bietet sich das bekannte Kapitalkonzept des Soziologen Pierre Bourdieu an. Neben dem sogenannten ökonomischen, sozialen und symbolischen Kapital fungiert das ,kulturelle Kapital‘ bei ihm als ein weiteres zentrales Strukturelement, das die gesellschaftliche Stellung eines Akteurs „durch die Struktur der Beziehungen zwischen allen relevanten Merkmalen“83 bestimmt. Allgemein versteht Bourdieu unter dieser Kapitalsorte den Besitz von Bildung, worunter der Erwerb von Wissenselementen, ein ästhetisches Urteil, die Sprachkompetenz, der Besitz von materiellen Gütern wie Büchern oder Kunstwerken sowie alle schulischen und akademischen Titel fallen.84 Letztere rechnet Bourdieu dem sogenannten 2008, S. 75 f. Zum Bildungsideal siehe u. a. George L. Mosse, Jüdische Intellektuelle in Deutschland. Zwischen Religion und Nationalismus, Frankfurt a. M. 1992. 81 D. Rothblum, „Die Rabbinerwahl“, in: Jüdische Volksstimme 4 (1903), Nr. 14, S. 1–3, hier S. 2 f. 82 Hugo Schachtel, „Gegenwartsarbeiten?“, in: ebd., S. 4 f., hier S. 4. 83 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 26. Aufl., Frankfurt a. M. 2018, S. 182. 84 Ders., „Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital“, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183–199, hier S. 186–191.
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institutionalisierten Kulturkapital zu, dem eine besondere, weil gesellschaftlich akzeptierte Geltung zukommt. Den Trägerinnen und Trägern formaler Bildungstitel wird somit eine gültige Qualifikation zuerkannt, ungeachtet des kulturellen Kapitals, das sie zu einem späteren Zeitpunkt tatsächlich besitzen. Im Gegensatz zu einem Autodidakten, der zeitlebens gezwungen ist, sein Kulturkapital unter Beweis zu stellen, bleiben sie hiervon befreit.85 Nach den Maßstäben von Bourdieu war Trietsch ein solcher Autodidakt, der unter einem ständigen Beweiszwang stand. Es ist nach allem Gesagten daher naheliegend, dass sich sein fehlender akademischer Titel nachteilig auf seine Stellung in einer Bewegung auswirkte, deren Entscheidungsträger fast alle akademisiert waren. Zum Nachteil dürfte ihm nicht nur ein fehlender Titel gereicht haben, der vor allem auf den Kongressen und in den Protokollen als Distinktionsmerkmal verwendet wurde – was mitunter dazu führte, dass Stenotypist*innen versehentlich Dr. Trietsch notierten. Die Tatsache, kein Homo academicus zu sein, führte außerdem dazu, dass Trietsch die Klaviatur der Universitätskultur nicht beherrschte und sie im Ensemble mit den führenden Zionisten nicht authentisch zu spielen vermochte.86 Die fehlende Aneignung und Habitualisierung akademischer Traditionswerte dürfte ihm selbst bei bestimmten Anlässen bewusstgeworden sein. Wie etwa im Rahmen der Kommers, die seit dem ersten Kongress in Anlehnung an die offiziellen Feierlichkeiten von Studentenverbindungen regelmäßig abgehalten wurden. Die Bedeutung dieser beliebten Zusammenkünfte, die an mehreren Abenden nach den Kongressdebatten stattfanden, hat Michael Berkowitz herausgestellt. Ihm zufolge dienten sie dazu, neue Verbindungen zu knüpfen, wobei es die Studierenden und Alumni waren, die sich bei dieser Gelegenheit ihrer studentischen Kultur bewusstwurden bzw. erinnerten.87 Trietsch dürfte es dagegen schwer bis unmöglich gemacht worden sein, von sozialen Netzwerken zu profitieren, die sich im Umfeld der Universitäten gebildet hatten. Er konnte nicht in studentischen Gruppen Kontakte knüpfen, aus deren Reihen mehrere führende Zionisten hervorgingen. Zu ihnen zählte unter anderem Chaim Weizmann, der vierte ZO-Präsident und erste Staatspräsident Israels, dessen Karriere in dem von Studenten 1889 in Berlin gegründeten ,Russisch-jüdisch wissenschaftlichen Verein‘ ihren Ausgang nahm.88 Zionistische Studentenverbindungen boten einen wichtigen intersubjektiven Rahmen, entlang dem sich symbiotische Freundschaften knüpfen ließen, die wie im Falle von Blumenfeld 85 Ebd.,
S. 190 f.; Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 47–57, 513–515. hat auch diesen Begriff geprägt, wobei er darunter v. a. das wissenschaftliche Personal einer Hochschule verstand. Ders., Homo academicus, 7. Aufl., Frankfurt a. M. 2018. 87 Michael Berkowitz, Zionist Culture and West European Jewry Before the First World War, Cambridge 1993, S. 19 f. Siehe auch Spranger, Theodor Zlocisti, S. 72. 88 Eloni, Zionismus in Deutschland, S. 61; Jack Wertheimer, „Between Tsar and Kaiser. The Radicalisation of Russian-Jewish University Students in Germany“, in: The Leo Baeck Institute Year Book 28 (1983), Nr. 1, S. 329–349, hier S. 334. 86 Bourdieu
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Abb. 4: Davis Trietsch bei der täglichen (hier inszenierten) Lektüre, 1904.
und Lichtheim oft ein Leben lang hielten. Mit ihnen verbanden sich strategische Allianzen, die sich über Jahre aktivieren ließen und Aufstiegsmöglichkeiten in den Institutionen der ZO eröffneten. In den Verbindungen und der Universität lernten die Männer darüber hinaus, sich in Wort und Schrift gewählt auszudrücken, indem sie sich in Seminararbeiten, Diskussionen und Vorträgen stilistisch üben konnten. Vielen leitenden Zionisten wurde aufgrund des dort geschulten „selbstsicheren Verhaltens zur Welt“89 eine aristokratische Eleganz zugesprochen, die sie von anderen Mitstreitern abhob. Dieses Attribut verband sich in erster Linie mit Herzl, dessen Auftreten die meisten Zionistinnen und Zionisten als besonders elegant empfanden. Herzl, so hieß es in einem Artikel 1903, verkörpere „die vornehme Eleganz; die Gemessenheit bei aller Erregung“. Er sei „der geistvolle Causeur, der mit Scherzen jongliert, der kleine Salonfeuerwerke aufleuchten lässt.“90 Trietsch dagegen fiel, wie sich Gronemann erinnerte, durch eine „süffisante Art des Sprechens auf “, obgleich er ein „geistreich, rhetorisch ungeheuer gewandter Redner“91 gewesen sein mag. Die von den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen ausgemachte Eloquenz und noble Erscheinung vieler, wenn auch nicht aller, studierter Zionisten ließ die männliche Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 104. Nathanja Sahuwi, „Vor Hermann Struck’s Herzl-Portrait“, in: Ost und West 3 (1903), Nr. 10, Sp. 709–714, hier Sp. 711. 91 Gronemann, Erinnerungen, S. 246. 89 90
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Studierendenschaft Lichtheim zufolge zu einer „Kadettenanstalt der Bewegung“ werden, aus der sich ihre tonangebenden „Offiziere“92 rekrutieren sollten. Trietsch konnte diese Verbindungswege, die in mehreren Fällen nachweislich in die oberen Etagen der ZO führten, nicht gehen. Seine fehlende akademische Ausbildung sollte in der Analyse allerdings nicht überstrapaziert werden. Auch die Kategorie der Klasse bietet einen möglichen Zugang. So gehörten die meisten deutschsprachigen Zionisten, die Führungspositionen bekleideten, der oberen Mittelschicht an und waren in einigen Fällen Vertreter eines solventen Großbürgertums. Trietsch stammte dagegen aus ärmlichen Verhältnissen. Inwiefern andere Zionistinnen und Zionisten um seine prekäre Kindheit und Jugend wussten, bleibt allerdings unklar. In späteren Jahren dürfte er sich ihnen jedenfalls als ein Vertreter des deutschen Bürgertums präsentiert haben, der zumindest bis zur Hyperinflation 1923 über gewisse finanzielle Ressourcen verfügt haben muss, mit denen er seine vielen Projekte – darunter die Gründung mehrerer Buchverlage – finanzierte. Eindeutiger sah es dagegen im Falle seines Charakters aus, der von mehreren Zeitgenossen als schwierig beschrieben wurde. Besonders Trietschs Umgang mit Autoritäten dürfte sich hier negativ auf seine Stellung ausgewirkt haben. So hob beispielsweise Friedemann in Replik auf die Kritik von Schachtel hervor, die zionistische Leitung sei deshalb gegen ihn vorgegangen, weil Trietsch sie persönlich angegriffen hätte.93 Friedemann zufolge sei er mit seiner unsachlichen Kritik negativ aus der Reihe gefallen, da er nicht länger nur ein „Soldat, sondern ein Führer zu sein“94 beabsichtigt hätte. Trietschs harsche und mitunter respektlose Kritik an Herzl war in der hierarchisch strukturierten ZO mit ihrer Parteidisziplin nicht hinnehmbar. An ihrer Spitze stand ein selbstbewusster Präsident, der „gegen Opponenten sehr rücksichtslos“ vorging, wie sich einer seiner loyalen Anhänger erinnerte.95 Friedemanns Erwiderung leuchtet vor diesem Hintergrund ein, auch wenn sie erkennen lässt, dass er die Bildungsbiografie von Trietsch durchaus als Makel empfand. Im Gegensatz zu Warburg, den er in diesem Zusammenhang „Herr Professor“ nannte, sah er in Trietsch ohne akademischen Titel keinen Fachmann. Friedemann zufolge würde er bloß von sich selbst behaupten, ein „Palästinagelehrter“ zu sein, ohne hierfür echte „Tatsachen“96, wie einen akademischen Titel, vorlegen zu können. Wie sensibel die zionistische Leitung auf Kritik aus den eigenen Reihen reagierte, zeigt das Beispiel anderer Zionisten. Demzufolge ist es wichtig zu betonen, dass Trietsch nicht der einzige war, der auf den Kongressen austeilte und angegangen wurde. Gronemann zufolge hätte es dort von Beginn an „eine solche Fülle von 92 Lichtheim, Rückkehr, S. 90. Zur zionistischen Studierendenschaft: Moshe Zimmermann, „Jewish Nationalism and Zionism in German-Jewish Students‘ Organisations“, in: The Leo Baeck Institute Year Book 27 (1982), Nr. 1, S. 129–153. 93 Stenographisches Protokoll (1903), S. 54. 94 Ebd., S. 56. 95 Böhm, Die Zionistische Bewegung (1. Teil), S. 148. Zur dominanten Rolle Herzls und seiner Glorifizierung siehe Schütz, Die Konstruktion einer hybriden ,jüdischen Nation‘, S. 314–318. 96 Stenographisches Protokoll (1903), S. 54 f.
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Charakterköpfen“97 gegeben, die leidenschaftlich für ihre Standpunkte eintraten, weshalb es öfter zu Konflikten kam. Zu ihnen zählte der eingangs erwähnte Saul Raphael Landau, der als erster Chefredakteur der Wochenzeitung Die Welt anfänglich in einem guten Verhältnis zu Herzl gestanden hatte. Schon auf dem zweiten Kongress kam es allerdings zum öffentlichen Bruch zwischen beiden Männern. Nachdem Herzl Landau im Anschluss an dessen Kritik das Wort entzogen hatte, empörte sich dieser, er sei von der Leitung soeben „vergewaltigt“98 worden. Die verbalen Angriffe Landaus, der über ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein verfügte, wie seine Memoiren belegen, gipfelten in einer Ehrenbeleidigungsklage gegen ihn.99 Sie führte schließlich dazu, dass er die ZO verließ, die er noch Jahre später als „Herzl und seine Hampelmänner“100 herabwürdigte. Die Auseinandersetzungen zwischen Landau und der zionistischen Führung illustrieren, dass auch Akademiker nicht davor gefeit waren, öffentlich abgestraft zu werden. Trotzdem hatte es der Rechtsanwalt Dr. Landau vor seinem renitenten Aufbegehren in die Chefredaktion des Zentralorgans der ZO geschafft, die einem Autodidakten wie Trietsch sicher nicht zugänglich gewesen wäre. Eine Ausnahme in diesem Kontext stellte David Wolffsohn dar, der trotz seiner fehlenden akademischen Ausbildung zum Nachfolger Herzls gewählt wurde. Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen in Litauen, das seit 1795 zum Russischen Reich gehörte, war Wolffsohn als Jugendlicher nach Deutschland emigriert, wo er eine kaufmännische Lehre absolvierte. In den Folgejahren gelang es ihm, als Unternehmer erfolgreich Fuß zu fassen und sich ein stattliches Vermögen zu erarbeiten.101 Durch seinen Fleiß, Arbeitseifer und die Sozialkompetenz, strategische Kontakte zu knüpfen, stieg Wolffsohn ins deutsche Wirtschaftsbürgertum auf. Im Unterschied zu Trietsch, Nossig oder Landau, die mit ihrem impulsiven Verhalten immer wieder aneckten, verstand er es, sich mit einflussreichen Persönlichkeiten in der Bewegung gut zu stellen. Daraus resultierte auch sein enges Verhältnis zu Herzl, der ihn als seinen Nachfolger vorschlug.102 Als ein „treuer Diener und Anhänger“103 des Präsidenten, wie ihn Lichtheim charakterisierte, schätzte man Wolffsohn für sein vermittelndes, auf Einigung gerichtetes Naturell. Wie die Historikerin Ivonne Meybohm herausgestellt hat, kam ihm nach Herzls Tod die bedeutsame Rolle eines Mediators zu, wobei das Bild eines um Ausgleich bemühten Ruhepols unter seinen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen nicht unumstritten war.104 97 Gronemann,
Erinnerungen, S. 222. Stenographisches Protokoll (1898), S. 226. 99 Landau, Sturm und Drang im Zionismus, S. 165. 100 Ebd., S. 107. 101 Meybohm, David Wolffsohn, S. 21, 24. 102 Lichtheim, Rückkehr, S. 115. 103 Ebd. 104 So attestierten ihm mehrere Kritiker einen nicht weniger autokratischen Führungsstil als Herzl. Siehe u. a. die scharfe Kritik eines litauischen Delegierten, der in beiden Präsidenten „Despoten“ sah. Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des XIII. Zionisten-Kongresses, London 1924, S. 258. 98
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4. „Palästina und die Juden. Tatsachen und Ziffern“
Obwohl Wolffsohn häufig um Ausgleich bemüht war, geriet er gerade wegen dieser balancierenden Haltung zunehmend in die Kritik. Bezeichnenderweise kam dabei auch Wolffsohns Bildung wiederholt zur Sprache, die er sich wie Trietsch im Selbststudium erworben hatte. Sein Status eines Autodidakten, dem eine „intellektuelle Überlegenheit“105 fehlte, wie Lichtheim geringschätzig bemerkte, wurde gegen ihn mehrere Male in Stellung gebracht. Die Aufstiegsproblematik eines Autodidakten hing somit auch Wolffsohn nach. Im Gegensatz zu Trietsch dürfte ihm aber bewusst gewesen sein, wie wichtig es war, sich loyal in die ZO einzufügen. Seine Meinung zu äußern, war prinzipiell legitim und konnte im näheren Umfeld des Präsidenten aus einer loyalen Opposition heraus erfolgen. Allerdings wusste Wolffsohn, sie auf eine besonnene Art und Weise zu artikulieren, wodurch er keinen Streit provozierte, der seiner Person negativ nachgehangen hätte. Für Trietsch standen dagegen offenbar nicht Bündnisse an erster Stelle, sondern seine eigenen Überzeugungen. Er hielt sich mit Kritik nicht zurück. Hierarchien innerhalb der Organisation setzten ihm keine Grenzen, wie seine Konfrontation mit Herzl deutlich gemacht hat. Berger sah darin ein erfrischendes „Erneuerungselixier“ für die Bewegung, da Trietsch „keine Ehrfurcht vor Dogmen oder Autoritäten“ besessen hätte, sondern seine Überzeugungen „gegen alle Widerstände“ durchzusetzen bereit war. „Nicht jedes Volk hat einen Davis Trietsch“, so Berger anlässlich dessen 50. Geburtstags würdigend, „der unweigerlich jede Regung bekämpft, die er als eine Abweichung vom Wege empfindet.“106 Um Trietschs Stellung im Abseits des Lichtkegels der zionistischen Leitung nicht einseitig vor dem Hintergrund einer fehlenden akademischen Ausbildung zu verorten, muss schließlich auch sein Charakter mitberücksichtigt werden. So beschrieb ihn Warburg gleichermaßen als eine „markante Figur der Frühzeit des Zionismus“107, die sich mit einem „herben Wesen“ hervortat. Gleichzeitig soll Trietsch äußerst bescheiden gewesen sein.108 So erinnerte sich Lichtheim an ein gemeinsames Abendessen, zu dem er ihn eingeladen hatte. Obwohl er dort aufgefordert worden sei, sich reichlich zu bedienen, hätte sein Gast, den Lichtheim als „die Bedürfnislosigkeit selbst“109 charakterisierte, nur eine Sardine mit Brötchen verzehrt. Die für Entscheidungsträger typischen Aufstiegsaspirationen dürften Trietsch demnach weniger stark geleitet haben. Seine Unangepasstheit, Entschlossenheit und sein Festhalten an apodiktischen Ansichten, die wenig bis gar keinen Widerspruch duldeten, trugen offenbar wie seine Bescheidenheit und sein fehlendes Gespür für politische Allianzen dazu bei, dass ihm die ZO-Führungsebenen verschlossen blieben. Als ein in seinen Ambitionen gefangener, streitbarer Enthusiast charakterisierte ihn auch der Schlemiel. Die Zeitschrift nahm Trietsch 1919 in ihre 105 Lichtheim, Rückkehr, S. 115. Siehe hierzu auch Meybohm, David Wolffsohn, S. 22; Eloni, Zionismus in Deutschland, S. 171. 106 Berger, „Zum fünfzigsten Geburtstag von D. Trietsch“, S. 2. 107 Warburg, „Davis Trietsch“, S. 5. 108 Siehe u. a. Leo Grünthal, „Davis Trietsch“, in: Jüdische Zeitung, 43 (1936), Nr. 12, o. P. 109 Lichtheim, Rückkehr, S. 87.
4.3 Ein Informationsbüro für Palästina
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beliebte Galerie auf, in der bekannte Zionisten nach Vorbild des Simplicissimus porträtiert wurden. Das satirische Charakterbild, das aus der Feder von Gronemann stammen dürfte, deutet Trietschs weitgehendes Unvermögen an, ein Publikum für sich einzunehmen: „Er hat sehr oft recht, aber man merkts nicht. Er ist mißtrauenerregend geistreich und versteht es, durch seinen nüchternen Fanatismus, seine skeptische Begeisterung und seine zynische Pathetik jede Zuhörerschaft kopfscheu zu machen. Seine Ideen haben bisweilen einen Erfolg, – er selbst nie.“110
4.3 Ein Informationsbüro für Palästina Das institutionelle Ausbildungsniveau der Zionisten, das in der ZO als Statuskompetenz fungierte, entschied maßgeblich mit darüber, wer von ihnen als Experte gelten konnte. Bei dem Begriff des Experten handelt es sich um eine recht junge Bezeichnung, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum gebräuchlich wurde.111 Zwar hatte es schon in der Antike Spezialisten gegeben, deren Fachberatung sich seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert institutionell auszudifferenzieren begann. Eine größere Anzahl an Experten, die ihr Wissen als eine Dienstleistung anboten, förderte allerdings erst die moderne Industriegesellschaft mit ihrem wachsenden Pro-Kopf-Einkommen und einer steigenden Bevölkerungszahl zutage.112 Der Begriff ist weiterhin männlich konnotiert, wie ein Eintrag im Brockhaus zeigt. Dort heißt es, ein Experte sei ein Sachverständiger und Fachmann.113 Die Kompetenz eines Experten bestünde darin, neue Wissensinhalte in ihrer Komplexität zu reduzieren. Ausgehend von dieser Definition treten Experten demzufolge als „Vermittler zwischen Wissensproduzenten und Wissensnutzern“114 auf, die Handlungshilfen aus einer Fülle wechselnder Wissensbestände filtern und ratsuchenden Personen an die Hand geben. Die von ihnen bereitgestellte Expertise ist wie ihre eigene Position innerhalb der Gesellschaft nie statisch. Wie Ulrike Thoms betont hat, werden beide in der jeweiligen historischen Situation konstruiert und verhandelt, wodurch sie zeit‑ und kulturspezifisch sind.115 Die Variabilität eines 110 „Galerie
des Schlemiel. Davis Trietsch“, S. 117. Nico Stehr/Reiner Grundmann, Expertenwissen. Die Kultur und die Macht von Experten, Beratern und Ratgebern, Weilerswist 2010, S. 17; Björn Reich u. a., „Vorwort“, in: ders. u. a. (Hg.), Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne, München 2012, S. 7–11, hier S. 7. 112 Stehr/Grundmann, Expertenwissen, S. 17; Caspar Hirschi, „Moderne Eunuchen? Offizielle Experten im 18. und 21. Jahrhundert“, in: Reich u. a., Wissen, maßgeschneidert, S. 289–327, hier S. 303. 113 Experte, in: https://brockhaus.de/ecs/enzy/article/experte (Zugriff 12. 3. 2022). 114 Stehr/Grundmann, Expertenwissen, S. 43, 109. 115 Ulrike Thoms, „Arzneimittelaufsicht im 19. Jahrhundert. Konflikte und Konvergenzen zwischen Wissen, Expertise und regulativer Politik“, in: dies. u. a. (Hg.), Figurationen des Ex111
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4. „Palästina und die Juden. Tatsachen und Ziffern“
Expertenstatus zeigt sich unter anderem in den Anforderungen, die an die Spezialisten gestellt werden. Sie stützen sich einerseits auf einen anerkannten Nachweis der eigenen Fachkompetenz. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts verband sich damit nicht zwingend ein wissenschaftliches Studium in Deutschland. Um als ein Experte gelten zu können, erfuhr die Zugehörigkeit zu akademischen Kreisen erst zu Beginn des darauffolgenden Jahrhunderts deutlich an Relevanz.116 Neben einer anerkannten Qualifikation, die sich zusehends aus dem Akademischen speiste, fungierten andererseits Ansehen und Vertrauen als zweite elementare Voraussetzung zur Begründung eines Expertenstatus. Die Ratschläge eines Experten mussten und müssen sich demnach als in der Praxis wirksam erweisen, da er seinen Anspruch auf eine privilegierte Teilhabe an der Wissensvermittlung nur durch eine praktikable Glaubwürdigkeit aufrechterhalten kann. Darüber hinaus leitete sich seine Reputation aus der Stellung zu anderen Experten ab. Den eigenen Sachverstand galt es somit ebenfalls, in der Community unter Beweis zu stellen.117 Diese beiden Kernelemente eines Experten konnte Davis Trietsch nicht vorweisen. Weder gehörte er einer scientific community an, noch verfügte er über einen daraus abgeleiteten Vertrauensbonus. Sein misslungenes Zypern-Projekt hatte vielmehr dazu geführt, dass seine Ideen noch kritischer beäugt wurden. Die ablehnende Haltung der ZO-Leitung, die ihn nicht in die Reihe ihrer Experten aufnahm, muss auch vor diesem Hintergrund gesehen werden. Wissenschaft und Technologie, so hat es unter anderem Derek J. Penslar gezeigt, spielten im modernen Zionismus von Beginn an eine herausragende Rolle.118 Wie andere Zeitgenossinnen und Zeitgenossen waren auch viele Zionist*innen von einem westlichen Technikethos beseelt. Dieser ließ sie darauf vertrauen, die Menschheit sei mithilfe moderner Wissenschaft und Technik befähigt, in einem schier unbegrenzten Maße die Welt zu einem besseren Ort zu machen.119 Ein solches Zukunftsvertrauen beförderte vor allem das Ansehen der Natur‑ und Staatswissenschaften, die als zentrale Wegbereiter für das ,zionistische Aufbauwerk‘ erachtet wurden. Neben den Agrarwissenschaften, der Botanik, Chemie und Physik waren es besonders die Medizin, Jura und die angesehene Nationalökonomie, in die man Vertrauen setzte. Absolventen dieser Fächer zog die ZO-Leitung zur Planung ihrer Siedlungsarbeit daher bevorzugt heran, wobei hierfür nicht nur Zionisten aus Deutschland und Österreich-Ungarn als Sachverständige in Frage kamen. Mehrere Vertreter aus Osteuropa, von denen die meisten wie Selig Soskin im deutschspraperten. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2005, S. 123–145, hier S. 144. 116 Andrea Hofmeister, „Professoren oder Praktiker? Externe Fachkompetenz in der preußischen Öffentlichkeitspolitik um 1800“, in: Thoms u. a., Figurationen des Experten, S. 61–77, hier S. 63; Jakob Vogel, „Felder des Bergbaus. Entstehung und Grenzen einer wissenschaftlichen Expertise im späten 18. und 19. Jahrhundert“, in: ebd., S. 79–100, hier S. 79, 84, 99. 117 Stehr/Grundmann, Expertenwissen, S. 38, 45 f. 118 Penslar, Zionism and Technocracy, S. 154; ders., „Zionismus und Technik“, S. 277. 119 Ders., „Technisches Wissen und der Aufbau“, S. 11–27, hier S. 12 f.
4.3 Ein Informationsbüro für Palästina
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chigen Raum ausgebildet worden waren, wurden ebenfalls von ihr als Experten konsultiert.120 Anders als die Absolventen geisteswissenschaftlicher Studiengänge konnten sie Studienfächer vorweisen, deren Relevanz für den Aufbau Palästinas anerkannt war. Eine Äußerung von Warburg, der als ein angesehener Agrarbotaniker über die zionistischen Reihen hinweg als Experte geschätzt wurde, bekräftigt diese Annahme. In einem Aufsatz von 1904 wies er die negative Einschätzung des promovierten Schriftstellers Ludwig Fulda (1862–1939) im Anschluss an dessen Palästina-Reise zurück, da ihm zufolge „ein guter literarischer Schriftsteller nicht immer gleichzeitig ein guter Geograph oder landwirtschaftlicher Sachverständiger zu sein braucht.“121 Warburgs Kritik, die seine eigene Fachautorität bekräftigen sollte, verdeutlicht, dass eine Universitätsausbildung allein nicht ausreichte. Um als Palästina-Experte gelten zu können, bedurfte es zudem eines anwendungsorientierten Studiums, das für den erfolgreichen Aufbau des Landes applizierbar war. Eine gute Möglichkeit, um sich als Kenner auszuweisen, bot darüber hinaus ein Aufenthalt im Land. Je länger dieser andauerte und je mehr er sich mit der Erforschung der ,alten Judenheimat‘ verbinden ließ, desto mehr Ansehen ließ sich über ihn erzielen. In dieser Hinsicht stellte Palästina in der inneren Geografie der Zionistinnen und Zionisten den Fixpunkt dar. Ihr zionistisches Engagement und die damit verbundene Vision einer besseren Zukunft waren von dem kleinen Land beseelt, ihr Lebenswerk trotz Verpflichtungen in ihren Geburtsländern im Wesentlichen nach ihm ausgerichtet. Palästina, das die meisten von ihnen nur aus Büchern und Lichtbildvorträgen kannten, wirkte auf sie vertraut. Durch diese gefühlte Nähe stieg das Land, das sich mit der eigenen Identität emotional und sinngebend verknüpfen ließ, zu einer Projektionsfläche individueller und kollektiver Sehnsüchte auf.122 Die innere Kompassnadel von Trietsch zeigte trotz seines Lebensmittelpunktes in Deutschland ebenfalls in Richtung Palästina. Auch für ihn bildete das kleine Land den Bezugspunkt seines Schaffens, der seine Denk‑ und Handlungsweise nachhaltig prägte. Im Gegensatz zu den allermeisten deutschen Zionistinnen und Zionisten, die in der Proklamation Genüge fanden, es sei vorerst aussichtsreicher, für statt in Palästina zu arbeiten, ließ Trietsch auf seine Verbundenheit mit dem Land auch Taten folgen. Beflügelt von einem impulsiven Konsequenzdenken wanderte er im Frühjahr 1906 nach Palästina aus. Dass er seine vertraute Umgebung für eine ungewisse Zukunft in einem Land aufgab, dessen ,Primitivität‘ von den Zionistinnen und Zionisten immer wieder beschworen worden war, ist somit als Ausnahme denn als Regel zu werten. In den Jahren vor 1933 entschlossen sich nur etwa 2000 jüdische Deutsche, ihren Wohnsitz dauerhaft nach Palästina zu verlegen. Von 1904 bis 1914 waren es gerade einmal ein paar Dutzend, darunter
Ders., „Zionismus und Technik“, S. 277 f. Warburg, „Die jüdische Kolonisation in Nord-Syrien“, S. 193. 122 Siehe allgemein Leonard J. Greenspoon/Ronald A. Simkins (Hg.), „ A Land Flowing With Milk and Honey“: Visions of Israel from Biblical to Modern Times, Omaha, Neb. 2001. 120 121
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4. „Palästina und die Juden. Tatsachen und Ziffern“
viele Mitglieder zionistischer Studentenverbindungen.123 Der israelische Schriftsteller Samuel Agnon (1888–1970), der sich als junger Mann 1908 in Palästina niederließ, hat dies in seinem autobiografischen Roman Gestern, Vorgestern (1945) anschaulich geschildert: „Wer Zionist ist und Geld hat, fährt zu Konferenzen; besitzt er viel, so fährt er zum Kongreß. Es war bei ihnen noch nicht üblich, ins Land Israel einzuwandern, sondern wer immer Zionist war, blieb in seiner Stadt, saß fest an Ort und Stelle und warb für den Zionismus.“124
Daneben reisten mehrere Akteur*innen aus Deutschland nach Palästina, um sich im Rahmen eines kürzeren Aufenthalts einen ersten Eindruck vor Ort zu verschaffen. Zu ihnen zählten Willy Bambus und Heinrich Loewe, die beide im Herbst 1895 für fast vier Wochen Palästina bereisten.125 Ihre Erlebnisse sorgten in zionistischen Kreisen für ein großes Interesse. Frank Schlöffel zufolge sollen die beiden Männer bei ihrer Rückkehr nach Berlin von einem neugierigen Publikum feierlich in Empfang genommen und mit einer Vielzahl von Fragen überschüttet worden sein.126 Eine Reise nach Palästina glich damals in der Tat einem kleinen Abenteuer. Wer es auf sich nahm, wurde von anderen als kühn und mutig betrachtet.127 Das Ansehen der Palästina-Reisenden, die ihre Erfahrungen bevorzugt auf den Kongressen und in einschlägigen Periodika teilten, wuchs dadurch. Auch Trietsch konnte hieraus Vorteile ziehen. Gegen ein gutes Gehalt teilte er seine Eindrücke als ,Spezialkorrespondent‘ unter anderem in der Wiener Jüdischen Zeitung.128 Eine Reise nach Palästina verlor zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwar immer mehr an Exotik, da sich die Mobilität in der Region insgesamt verbessert hatte und ein Besuch des Landes von einem wachsenden Interessentenkreis in Erwägung gezogen wurde.129 Angesichts der sehr überschaubaren Zahl deutscher Zionist*innen vor Ort konnte sich Trietsch allerdings bei seiner Abreise vom Anhalterbahnhof in Berlin im Winter 1906 zu einem kleinen Kreis wagemutiger Pionierinnen und Pioniere rechnen, die es nicht nur für ein paar Tage oder Wochen nach Palästina verschlug, sondern für längere, vorerst unbestimmte Zeit. Diesen Umstand wusste er wie andere Mitstreiterinnen und Mitstreiter öffentlich zu inszenieren. So bemerkte er auf dem Kongress in Den Haag 1907 auffallend häufig, er sei für die
123 Lilo Stone, „German Zionists in Palestine before 1933“, in: Journal of Contemporary History 32 (1997), Nr. 2, S. 171–186, hier S. 171; Spranger, Theodor Zlocisti, S. 340. 124 Samuel Joseph Agnon, Gestern, Vorgestern, Berlin 1982, S. 15. 125 Schlöffel, Heinrich Loewe, S. 169, 177. 126 Ebd., S. 177. 127 Siehe hierzu Ruppin, Tagebücher, Briefe, S. 139. 128 Siehe u. a. Jüdische Zeitung 2 (1908), Nr. 4, S. 6 f.; ebd., Nr. 7, S. 4 f.; ebd., Nr. 13, S. 5. 129 Zur wachsenden Zahl jüdischer Touristinnen und Touristen in der Zwischenkriegszeit siehe Michael Berkowitz, Western Jewry and the Zionist Project, 1914–1933, Cambridge 1997, S. 125.
4.3 Ein Informationsbüro für Palästina
153
Versammlung eigens aus Palästina angereist, wo er mit Wegbegleitern einen neuartigen Informationsdienst aufgebaut hätte.130 Trietschs Aktivitäten in Palästina führten schließlich dazu, dass viele Zionist*innen wie Nichtzionist*innen ihn im Anschluss an seinen Aufenthalt als Fachmann wertschätzten. Darauf deuten Vortragsankündigungen hin, in denen er als „einer der besten Kenner des Orients“131 vorgestellt wurde. 1912 warb der Teplitz-Schönauer Anzeiger aus Teplice damit, Trietschs Vortrag werde „von höchstem Interesse sein“, da der Referent „durch den langen Aufenthalt in Palästina ein gründlicher Kenner von Land und Leuten“132 sei. Trietsch selbst setzte seine Erfahrungen und Kenntnisse auch visuell in Szene. So unterlegte er seine Vorträge mit Lichtbildern, die er selbst aufgenommen hatte. Ihre Bedeutung als ein anschauliches Agitationsmittel dürfte ihm früh bewusst geworden sein, weshalb er auch die anatolischen Siedlungsversuche 1899/1900 und sein Zypern-Projekt mit der eigenen Kamera festhielt.133 Seine gutbesuchten Lichtbildvorträge werden damit nicht bloß der visuellen Veranschaulichung gedient haben, sondern sollten zugleich anzeigen, dass er, der Fotograf, die abgebildeten Motive mit eigenen Augen gesehen hatte.134 Wie schon geschildert, ließ sich Trietsch im Februar 1906 in Jaffa nieder. Seine Entscheidung, Berlin zu verlassen, wurde offenbar durch den Umzug der ZO von Wien nach Köln bestärkt. Auf einer Versammlung deutscher Zionistinnen und Zionisten hatte er schon im Mai 1902 den Antrag gestellt, die Zentrale der ZVfD nach Berlin zu verlegen. In der Israelitischen Rundschau befand man den Antrag, dem unter anderem Buber beistimmte, für „bemerkenswert“135. Da sich vorerst beide Organisationen in Köln niederließen, Trietsch zufolge eine unkluge Standortwahl, die bloß „dem zufälligen Wohnsitz des gegenwärtigen Präsidiums“136 geschuldet war, sah er in Palästina einen vielversprechenderen Arbeitsort. Nach seiner Ankunft in Jaffa war Trietsch federführend an der Gründung des ,Allgemeinen Informationsbureaus für Palästina‘ beteiligt. Es öffnete im März 1906 seine Türen, die sich in der Boutrus/Howard Street unweit des berühmten Jaffa Clock Tower befanden.137 Agnon zufolge markierte ein weißes Schild mit blauen 130 Stenographisches Protokoll (1907), S. 244 f. Trietsch war das erste Mal 1900 nach Palästina gereist, allerdings nur für einige Tage im Rahmen seines Zypern-Projekts. 131 „Vortragsabend Davis Trietsch“, in: Prager Tagblatt, 23. 4. 1909, S. 5. 132 „Vereinsnachrichten“, in: Teplitz-Schönauer Anzeiger, 27. 3. 1912, S. 6. Trietsch hielt 1909 auch Vorlesungen in den Wiener Hochschul-Kursen für Palästinakunde, wo man ihn als Landeskenner ebenfalls schätzte. Trietsch, Probleme der jüdischen Emigration, S. 333. 133 Ders., Jüdische Emigration und Kolonisation, S. 401. 134 Trietsch reiste bspw. im Herbst 1907 durch Galizien, wo er in mehreren Vorträgen „Lichtbilderdemonstrationen“ vorführte: „Agitation für Palästinaarbeit“, in: Jüdische Zeitung 1 (1907), Nr. 15, S. 6. Zur Palästina-Fotografie siehe Evgenia Grishina, Ein Land im Licht. Studien zur Palästina-Reiseliteratur (1918–1934), Heidelberg 2012, S. 291–317; Berkowitz, Zionist Culture, S. 144–160; Rebekka Grossmann, Visions of Belonging. Photography, Mobility and Nation in Mandate Palestine. Unveröffentlichte Dissertation [2020], Hebrew University of Jerusalem. 135 „Allerlei“, in: Israelitische Rundschau 7 (1902), Nr. 20, o. P. 136 Stenographisches Protokoll (1907), S. 248. 137 Trietsch, Palästina-Handbuch (1912), S. 281.
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4. „Palästina und die Juden. Tatsachen und Ziffern“
Buchstaben den Eingang des Büros, das neueingewanderten und schon länger in Palästina ansässigen Juden, die meist „elend und müdegelaufen“138 auf der Suche nach Arbeit waren, eine wichtige Anlaufstelle bot. Auch Agnon dürfte das Büro als junger Mann angesteuert haben, in der Hoffnung, dort eine Verdienstmöglichkeit zu finden. Wie Trietsch später stolz hervorhob, lag das innovative Potenzial des Büros darin, „statt einzelner persönlicher Auskünfte“ erstmals „eine einheitliche, systematische Auskunftserteilung zu ermöglichen.“139 Durch die enge Zusammenarbeit mit Fachleuten vor Ort sollten „authentische Nachrichten über die Verhältnisse Palästinas und seiner Nachbarländer verbreitet“140 und die Einwanderung von Jüdinnen und Juden dorthin begleitet werden. Das Büro stand unter der Leitung des Zionisten Menachem Scheinkin (1871–1924), der in Belarus geboren und später in Odessa promoviert worden war. Trietsch und Scheinkin dürften sich in ihrer Persönlichkeit geähnelt haben. So charakterisierte Arthur Ruppin Scheinkin, der mit 53 Jahren bei einem Verkehrsunfall in Chicago starb, als einen großen Optimisten und Enthusiasten, der allerdings „ungeeignet für Kleinarbeit und ordentliche Verwaltung“141 gewesen sei. Die Herkunft der Mitarbeitenden, unter ihnen später bekannte Zionisten wie Meir Dizengoff, war osteuropäisch geprägt. Außer Trietsch gehörten dem engeren Komitee nur Vertreter aus dem Russischen Reich an, und auch das größere Komitee rekrutierte sich fast ausschließlich aus ihnen. Ihr Informationsdienst, der ein Novum in Palästina darstellte, richtete sich in erster Linie an Jüdinnen und Juden aus Osteuropa.142 Aus dieser Arbeitssituation lässt sich schließen, dass Trietsch im Unterschied zu den meisten deutschen Zionistinnen und Zionisten eine persönliche Zusammenarbeit mit Akteur*innen aus dem Russischen Reich nicht scheute. Schon seine Teilnahme am Minsker Kongress im September 1902, auf dem sich rund 500 Delegierte trafen, um über die Zukunft des russischen Judentums zu debattieren, deutet darauf hin. Trietsch, offenbar der einzige ZO-Vertreter aus Deutschland, berichtete später begeistert in der Zeitschrift Ost und West, „niemals […] die Einheit des Blutes, die Grossartigkeit und die Ewigkeit unserer Gemeinschaft so tief empfunden [zu haben], als da in Russland in den Provinzen“143. Wie schon sein Besuch in Boryslaw erkennen ließ, hatte er keine Berührungsängste, sondern fühlte sich unter den russischen Anhängern verschiedener Strömungen ganz offensichtlich wohl. 138 Agnon,
Gestern, Vorgestern, S. 112. Palästina-Handbuch (1912), S. 281. 140 Ders., Jüdische Emigration und Kolonisation, S. 374. 141 Ruppin, Tagebücher, Briefe, S. 170. 142 Als Sachverständiger arbeitete noch einer der drei Treidel-Brüder für das Büro. Wahrscheinlich war es Joseph Treidel, der wie Alfred und Oskar aus dem Rheinland kam. Zu den einzelnen Mitarbeitern siehe „Palästina“, in: Die Welt 10 (1906), Nr. 17, S. 17. 143 Trietsch, „Ein russisch-jüdischer Kongress“, Sp. 652. Eine ähnliche Ausnahme bildete Heinrich Loewe, der früh Kontakte zu russischen Studierenden in Berlin unterhalten hatte. 139 Trietsch,
4.3 Ein Informationsbüro für Palästina
155
Die Russische Revolution von 1905, in deren Folge bis zum Sommer 1906 rund 1500 Jüdinnen und Juden in Palästina an Land gingen, bildete den Ausgangspunkt für die Gründung des Informationsbüros. Die Zahl der Eingewanderten, unter ihnen viele junge Arbeiter*innen und „unbemittelte Berufslose“144, stieg nach kurzer Unterbrechung im Winter 1906/7 erneut an. Ungefähr 20 bis 30 Personen landeten nun jede Woche in Jaffa, wo sie auf eine bessere Zukunft hofften. Nur die wenigsten von ihnen verfügten allerdings über aktuelle, ausführlichere Informationen, die ihnen im Vorfeld ein genaueres Bild von Palästina vermittelt hätten. Meist beriefen sie sich auf teils widersprüchliche Aussagen von Personen aus ihrem näheren Umfeld, die selbst ausgewandert waren oder Kontakte ins Land unterhielten. Das Büro in Jaffa setzte an dieser Lücke an. Das Informationsdefizit, das eine höhere Rückwanderungsquote unter den Neueingewanderten zur Folge hatte, da sie in der Realität häufig enttäuscht wurden, musste behoben werden.145 Mithilfe regelmäßiger Notizen, vor allem in der russischen Tagespresse, sowie durch Broschüren, Flugblätter und weitere breitenwirksame Publikationen, wie Handbücher, sollte den Auswanderungswilligen alles Wissenswerte über Anreise, Landesverhältnisse und Arbeitsgelegenheiten mitgeteilt werden. Die von den Büromitarbeitenden, meist Kaufleute, Landwirte, Unternehmer oder Ingenieure, aufbereiteten Informationen wurden von der Zentrale in Jaffa koordiniert. In Palästina existierten außerdem zwei Filialen in Haifa und Jerusalem, während es weitere Zweigbüros in Aleppo, Beirut, Istanbul, Kairo, Odessa und Thessaloniki gegeben haben soll.146 Über diese Städte gelangte damals das Gros der jüdischen Geflüchteten nach Palästina, weshalb sich Zweigstellen dort als sinnvoll erwiesen. Finanziert wurde das breitgefächerte Auskunftsnetz durch mehrere jüdische Hilfsorganisationen. Wie schon sein Name deutlich macht, war das ,Allgemeine Informationsbureau für Palästina‘ ganz nach Trietschs Geschmack das Ergebnis einer ,alljüdischen‘ Zusammenarbeit. Zwar handelte es sich um eine von Zionisten gegründete und überwiegend geführte Einrichtung, doch haftete ihr kein zionistisches Label an. An ihrer Finanzierung beteiligte sich neben der ZO der HddJ und die JCA, die beide die größten Summen beisteuerten. Im Winter 1906/7 übernahm schließlich der Dachverband der Chovevei Zion, das sogenann-
144 Dr. M. Scheinkin, „Die praktische Arbeit in Palästina in den letzten zwei Jahren“, in: Palästina 4 (1907), Nr. 6/8, S. 141–149, hier S. 141. Zur Russischen Revolution und ihren jüdischen Akteur*innen: Jan Rybak, „The Radical Re-Interpretation of Jewish Class and Nation. Poale Zion and the Revolutions of 1905 and 1917, in: Frank Jacob/Sebastian Kunze (Hg.), Jewish Radicalisms. Historical Perspectives on a Phenomenon of Global Modernity, Berlin, Boston 2020, S. 101–128. 145 Zur hohen Rückwanderungsrate siehe Ben Halpern/Jehuda Reinharz, Zionism and the Creation of a New Society, New York, Oxford 1998, S. 157 f. 146 Davis Trietsch, „Die jüdische Emigrationsfrage“, in: Neue Jüdische Monatshefte 4 (1919/20), Nr. 6, S. 122–127, hier S. 122.
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4. „Palästina und die Juden. Tatsachen und Ziffern“
te Odessaer Komitee, die Organisation des Büros, wobei der HddJ weiterhin die meisten Gelder bereitstellte.147 Ein systematischer Informationsdienst für Palästina war von Trietsch schon Anfang des Jahres 1903 zur Diskussion gestellt worden. In seinem Artikel „Die jüdische Emigrationsfrage“, der am 2. Januar in der Zeitschrift Die Welt erschien, forderte er eine zentrale Auskunftsstelle mit Filialen in allen für Jüdinnen und Juden relevanten Aus‑ und Einwanderungsländern.148 Seinem zionistischen Verständnis nach erstreckten sie sich nicht nach Westen in die USA oder Südamerika, sondern nach Osten in den Orient. Dass Trietsch hier nicht nur von Palästina, sondern allgemein von der Gründung eines „Informations-Bureaus für jüdische Orient-Kolonisation“149 sprach, lässt sich auf seine Vision eines Greater Palestine zurückführen. So erklärte er 1917, es hätte sich um einen „Informationsdienst nach dem Orient“150 gehandelt, der über Palästina und die Nachbarländer Auskunft erteilte. Inwiefern das den realen Arbeitsweisen des Büros entsprach oder seinen eigenen Zielsetzungen, lässt sich nicht klären. Anzunehmen ist jedoch, dass der Fokus des Büros auf dem türkischen Palästina lag und seine Nachbarländer nur für Studienzwecke miteinbezogen wurden. Ebenfalls nicht rekonstruieren lässt sich der genaue Anteil von Trietsch an der Gründung und Organisation des Büros. Außer zweier Schreiben konnten keine Belege zur Klärung dieser Frage ausfindig gemacht werden.151 Trietsch selbst präsentierte sich jedenfalls später als Initiator des Projekts, während er Scheinkin und den anderen Mitarbeitern für ihre „Mithilfe“152 dankte. In der Tat dürfte Trietsch für die Kontakte des Büros nach Deutschland, die für seine Finanzierung entscheidend waren, eine zentrale Rolle gespielt haben. So wurden die zwei überlieferten Briefe, die an die ZO in Berlin und Köln gingen, von ihm unterzeichnet.153 Dass Scheinkin und die anderen Jaffaer Aktivisten ihm beim Aufbau des Informationsdienstes zur Hand gingen, ist nicht auszuschließen, kann aber auch einer nachträglichen Verklärung der eigenen Leistungen entsprungen sein. Was sich dagegen mit Sicherheit nachweisen lässt, ist die führende Rolle, die Trietsch bei der Agitation für ein Auswanderungsamt spielte. Zwar hatte der Zionist David Farbstein (1868–1953) aus Zürich schon im Juli 1902 einen Artikel 147 Scheinkin, „Die praktische Arbeit“, S. 149. Siehe auch Sechster Geschäftsbericht des Hilfsvereins der deutschen Juden (1907), Berlin 1908, S. 128. Das Odessaer Komitee, eigentlich ,Gesellschaft zur Unterstützung jüdischer Landarbeiter und Handwerker in Syrien und Palästina‘, wurde 1890 in Odessa gegründet und bestand bis 1917. Siehe Alexis Hofmeister, Selbstorganisation und Bürgerlichkeit. Jüdisches Vereinswesen in Odessa um 1900, Göttingen 2007, S. 175–202. 148 David (!) Trietsch, „Die jüdische Emigrationsfrage“, in: Die Welt 7 (1903), Nr. 1, S. 10–12, hier S. 12. 149 Ders., „Jüdisches Auswanderungsamt“, in: Die Welt 7 (1903), Nr. 7, S. 6 [Hervorh. im Original]. 150 Ders., Jüdische Emigration und Kolonisation, S. 372. 151 Die ausführlichste Quelle bildet ein Brief Trietschs an Otto Warburg vom 17. 8. 1906. Dem Schreiben angehängt ist eine Übersicht über die Arbeiten des Büros. CZA, A12/6. 152 Trietsch, „Die jüdische Emigrationsfrage“ (1919/20), S. 122. 153 Davis Trietsch an Otto Warburg, 17. 8. 1906; Davis Trietsch an Max Bodenheimer, o. D. [1907]. Ebd., A15/114.
4.3 Ein Informationsbüro für Palästina
157
veröffentlicht, in dem er die Gründung eines Auswanderungsamtes befürwortet hatte.154 Einen präzisen Plan zur Organisation einer solchen Auskunftsstelle legte aber erst Trietsch vor, der sich in weiteren Aufrufen engagiert zu dem Thema äußerte und die Debatte damit anstieß.155 Herzl, der den Plänen beigepflichtet haben soll, setzte sich allerdings zu Trietschs Bedauern nicht für ihre Umsetzung ein. Zu einem Auswanderungsbüro kam es daher vorerst nicht, dafür zum endgültigen Bruch zwischen beiden Männern.156 Wie Trietsch mehrfach betonte, hatte er sich im Rahmen seiner Pläne an dem britischen Emigrants’ Information Bureau orientiert, das 1886 in London eröffnet worden war.157 Das Büro stand unter der Aufsicht des Colonial Office und gab jährlich eine Vielzahl preisgünstiger Veröffentlichungen heraus. Sie sollten es allen an einer Emigration Interessierten ermöglichen, sich über das Ziel ihrer Auswanderung im Vorfeld systematisch informieren zu können. Die Auskünfte des Büros beinhalteten auch Warnungen, die ähnlich dem Auswärtigen Amt heute von einer Einwanderung in bestimmte Länder abrieten.158 Trietsch sah zu einem solchen Vorgehen keinen Anlass. Zwar gab er ebenfalls Empfehlungen aus und hielt bestimmte Gebiete für weniger gut geeignet, insgesamt aber sprach er keine Warnungen aus, die eine jüdische Zuwanderung letztlich minimiert hätten.159 Von der Organisation des Londoner Büros war er dennoch begeistert und empfahl es als „ein gutes Muster für das, was hier [in Palästina] nottut.“160 Während Trietschs Antrag zur Gründung eines Auswanderungsamts auf dem Kongress 1905 noch abgelehnt worden war, zeigte die ZO in späteren Jahren großes Interesse an einer Einrichtung dieser Art.161 Den Höhepunkt dieser Entwicklung bildete in der Zwischenkriegszeit das von ihr und der Jewish Agency 1929 gegründete ,Zionistische Informationsbüro‘ in Jerusalem.162 Mit dem Unternehmen gesellte sich die ZO zu anderen jüdischen Organisationen wie dem HddJ oder der JCA, die schon vor dem Ersten Weltkrieg mehrere solcher Büros in Osteuropa ins Leben gerufen hatten.163 154 Dr. D. Farbstein, „Ein jüdisches Auswanderungsamt“, in: Jüdischer Volkskalender für das Jahr der Welt 5663 (1902/03), Brünn 1902, S. 107 f. 155 Siehe auch die Einschätzung „Was ist’s mit dem jüdischen Auswanderungsamt?“, in: Jüdische Volksstimme 4 (1903), Nr. 9, S. 1. Die wichtigsten Beiträge von Trietsch: „Die jüdische Emigrationsfrage“ (1903); „Eingesendet/Tribüne“, in: Die Welt 7 (1903), Nr. 19, S. 6; „Jüdisches Auswanderungsamt“. Farbstein legte später einen detaillierteren Artikel vor: Dr. Farbstein, „Ein Auswanderungsamt“, in: Die Welt 8 (1904), Nr. 48, S. 1 f. 156 Trietsch, „Die jüdische Emigrationsfrage“ (1919/20), S. 122. 157 Ders., „Die jüdische Emigrationsfrage“ (1903), S. 126; ders., Jüdische Emigration und Kolonisation, S. 372. 158 Walter F. Willcox, International Migrations. Vol. II: Interpretations, New York 1931, S. 253. 159 Trietsch, Jüdische Emigration und Kolonisation, S. 373. 160 Ders., „Die jüdische Emigrationsfrage“ (1903), S. 126. 161 Stenographisches Protokoll (1905), S. 262 f. 162 Grishina, Ein Land im Licht, S. 76. 163 Allein die JCA soll 1906 über 160 Informationsbüros im sog. Ansiedlungsrayon verfügt haben. Ein Jahr später waren es bereits 296. Alroey, Zionism without Zion, S. 118.
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4. „Palästina und die Juden. Tatsachen und Ziffern“
4.4 Wissensvermittlung durch auflagenstarke Handbücher Der Bezug auf Wissenselemente und Erfahrungswerte des British Empire, die nicht nur Davis Trietsch aufmerksam verfolgte, kam auch auf den Kongressen zur Sprache. Max Mandelstamm etwa hatte schon auf dem zweiten Kongress gefordert, „die Engländer als leuchtendes Vorbild“ zu sehen, da sie sich „zur ersten Colonialmacht der Welt emporgeschwungen“164 hätten. Max Nordau (1849–1923), der für Gespräche mit London bezüglich ,Uganda‘ eingetreten war, kündigte wiederum neun Jahre später an, die Zionistinnen und Zionisten würden sich bemühen müssen, „in Vorderasien zu tun, was die Engländer in Indien getan haben.“165 Nordau zufolge hätte das British Empire mit seiner fortschrittlichen Administration in Südasien unter Beweis gestellt, was auch Jüdinnen und Juden über Palästina hinaus leisten könnten: Der rückständigen Region ein Stück ,zivilisiertes Europa‘ bringen und seine „moralischen Grenzen bis an den Euphrat hinauszurücken.“166 Trietsch stimmte ebenfalls in solche und andere Loblieder auf Großbritannien ein. So zählte er das Land zu Beginn des letzten Jahrhunderts neben den USA zu den „fortgeschrittensten Kulturländer[n] der Welt“167 und hob die vielen Vorzüge einer britischen Verwaltung auf Zypern hervor. Politisch getrübt wurde seine positive Wahrnehmung durch den Ersten Weltkrieg. Während des Kriegs nahm Trietsch vehement Anstoß an den Aktivitäten Londons auf der Mittelmeerinsel, die er wenig überraschend dem hegemonialen Einflussbereich Deutschlands und seiner Verbündeten zurechnete. Im Vergleich zu anderen europäischen Großmächten war Deutschland ein Nachzügler im Prozess der kolonialen Expansion. Während besonders Großbritannien, Frankreich und die Niederlande im Zuge des 19. Jahrhunderts eine funktionale Kolonialverwaltung mit eigenen Kolonialbeamten und ‑ministerien sowie kolonialwissenschaftlichen Forschungsinstituten etabliert hatten, erfuhr die deutsche Kolonialpolitik erst um die vorletzte Jahrhundertwende eine Systematisierung.168 Diese zeitliche Verzögerung führte dazu, dass man die Erfahrungen anderer kolonialer Akteure von Deutschland aus aufmerksam studierte. Besonders die Institutionen und Organisationsformen des British Empire dienten in den deutschen Reformdebatten als Vorbild.169 Die deutschen Zionistinnen und Zionisten verfolgten unter diesem Aspekt ebenfalls die Aktivitäten Londons. Wie Ruppin in einem Aufsatz von 1927 zogen Stenographisches Protokoll (1898), S. 90. Protokoll (1907), S. 22. 166 Ebd. Zur Verwaltung in Südostasien siehe Farish A. Noor, Data-Gathering in Colonial Southeast Asia, 1800–1900, Amsterdam 2020. 167 Trietsch, „Der jüdische Orient“, S. 256. 168 Jens Ruppenthal, Kolonialismus als „Wissenschaft und Technik“. Das Hamburgische Kolonialinstitut 1908 bis 1919, Stuttgart 2007, S. 47. Zur Bedeutung Großbritanniens s. auch Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, S. 117 f. sowie allgemeiner Timothy H. Parsons, The British Imperial Century, 1815–1914, 2. Aufl., Lanham u. a. 2019. 169 Ruppenthal, Kolonialismus als „Wissenschaft und Technik“, S. 60. 164
165 Stenographisches
4.4 Wissensvermittlung durch auflagenstarke Handbücher
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sie noch in späteren Jahren Vergleiche zwischen der „Ansiedlung in England und den englischen Dominien mit unserer Kolonisation in Palästina.“170 Das Anliegen eines solchen komparativen Ansatzes war es, Lehren aus den bestehenden Modellen zu ziehen. Demzufolge ging es den Zionistinnen und Zionisten um keine „vollkommene Nachahmung“, wie Nordau unter „tosende[m] Beifall und Händeklatschen“171 der Kongressdelegierten 1907 klargestellt hatte, sondern darum, sich die Erfahrungen anderer zunutze zu machen. Eine bloße Imitation sollte vermieden werden. Angepasst an die geografischen und politischen Besonderheiten Palästinas, die spezifischen Berufsbiografien der jüdischen Eingewanderten und die geringeren finanziellen Möglichkeiten der ZO sollte das Beste für das eigene ,Aufbauwerk‘ zur Anwendung gelangen. Eine elementare Grundlage bildete hier das „Palästina-Erforschungswerk“172. Trietsch und andere Berliner Zionisten, die im Oktober 1901 das ,Komitee zur wirtschaftlichen Erforschung Palästinas‘ gegründet hatten, verstanden darunter die systematische Sammlung und Bereitstellung von Informationen, die sie als „Voraussetzung des Gelingens des grossen nationalen Restaurationsplans“173 erachteten. Ihr großer Siedlungsplan umfasste auch die Nachbarländer. Wie die spätere Palästina-Kommission der ZO bezweckte das Komitee, das im Wesentlichen auf Betreiben von Trietsch entstanden sein dürfte, nützliche Daten über Palästina in Umlauf zu bringen. Die Arbeitsweisen des Komitees unterlagen einem „Imperativ des Empirischen“ (Jürgen Osterhammel), der sich im Zuge des 18. Jahrhunderts in Europa manifestiert hatte.174 Wie die Aufklärer waren auch die Mitglieder des Komitees von der Prämisse geleitet, stichhaltige Daten, anstelle von Fiktionen auszugeben. Sie sollten ein plausibles, möglichst objektives Materialfeld freilegen, das dem Fortschritt und Wohl der Allgemeinheit zu dienen hatte. In ihrer ehrlichen Absicht, Tatsachen und Fakten vorzulegen, gefielen sie sich allerdings nicht selten in der Zuversicht, die von ihnen untersuchten Länder und Menschen besser zu verstehen als diese sich selbst. Obwohl das Berliner Komitee eigene Expeditionen geplant hatte, verlagerten sich seine Aktivitäten auf die Gründung einer wissenschaftlichen Bibliothek durch „Beschaffung einer brauchbaren Palästina‑ und Kolonisations-Litteratur“175. Der Grundstock der geplanten Palästina-Bibliothek dürfte besonders von Trietschs obsessiven Bücher‑ und Zeitschriftenkäufen profitiert haben. Zu ihm zählten neben Standardwerken der jüngeren (christlichen) Palästinaforschung Konsulatsberichte, 170 Ruppin,
„Englische Kolonisationsmethoden“, S. 295. Protokoll (1907), S. 22. 172 „Aufruf zur Begründung eines Vereins zur wirtschaftlichen Erforschung Palästinas“, in: Palästina 1 (1902), Nr. 3–4, S. 92–94, hier S. 94. 173 Ebd. [Hervorh. im Original]. Dem Berliner Komitee gehörten neben Trietsch u. a. Gaster, Motzkin, Nossig, Soskin und Warburg an. Ebd., S. 93. 174 Osterhammel, Die Entzauberung Asiens, S. 143. 175 „Aufruf zur Begründung“, S. 93. [Hervorh. im Original]. Siehe außerdem „Das Komitee zur wirtschaftlichen Erforschung Palästinas“, in: Palästina 1 (1902), Nr. 1, S. 10. 171 Stenographisches
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4. „Palästina und die Juden. Tatsachen und Ziffern“
die wegen ihrer hohen, regelmäßig aktualisierten Informationsdichte eine zentrale Quelle lieferten.176 In übersichtlicher Weise, meist mit Schlagwortsystem, erteilten sie Auskunft über die demografische, politische und wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Als besonders aufschlussreich befand Trietsch die britischen Berichte, die jährlich im Frühjahr erschienen.177 Nachdem London sein erstes Konsulat in Jerusalem 1839 eröffnet hatte, fanden sich auch in weiteren Städten des Landes Konsuln ein. Das System dieser konsularischen Vertreter, welches von Frankreich schon 1621 „zum Schutze der katholischen Christen Palästinas“178 begründet worden war, gewährte den ausländischen Staaten einen exklusiven, exterritorialen Zugriff auf ihre im Osmanischen Reich lebenden Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Ein wichtiger Anlaufpunkt für die Zionist*innen bildete das britische Konsulat in Jaffa, das sich bezeichnenderweise direkt neben dem ,Allgemeinen Informationsbureau für Palästina‘ befand.179 Die räumliche Nähe der beiden Einrichtungen schlug sich auch in Trietschs Publikationen nieder, in denen er sich maßgeblich auf die Konsulatsberichte stützte. Zu seinen wichtigsten Quellen zählten neben den britischen Berichten die österreichischen, da sie auch die jüdischen Aktivitäten in Palästina dokumentierten, während das deutsche Konsulat erst 1913 hierzu überging.180 Aus diesen und weiteren Quellen speiste sich Trietschs vielrezipiertes Palästina-Handbuch, das sich als praktisches Nachschlagewerk im Gepäck vieler zionistischer Palästinareisender befand und als sein erster großer publizistischer Erfolg zu werten ist.181 Durch seine mehrfache Veröffentlichung im In‑ und Ausland, die ihm ein regelmäßigeres Einkommen gesichert haben dürfte, machte sich Trietsch über Deutschland hinaus einen Namen. Das Handbuch erschien in fünf Sprachen: zunächst auf Ivrit 1906, 1907 auf Deutsch und Englisch, 1911 auf Russisch und schließlich 1921 auf Jiddisch. Die deutsche Ausgabe, an deren Finanzierung sich die ZO und der Berliner Esra-Verein beteiligten, erzielte insgesamt fünf Auflagen.182 Das Palästina-Handbuch zirkulierte somit vor allem längerfristig im deutschsprachigen Raum. 176 „Mitteilung II des Komitees zur wirtschaftlichen Erforschung Palästinas“, in: Palästina 1 (1902), Nr. 3–4, S. 91 f., hier S. 92. 177 Trietsch, Palästina-Handbuch (1912), S. 10, 131. 178 Ebd., S. 131 f. Andere konsularische Vertreter kamen aus Belgien, Italien, den Niederlanden, Österreich-Ungarn, Russland, Spanien und den USA. Der erste preußische Konsul wurde 1842 in Jerusalem eingesetzt. Zu den Konsulaten in Palästina und der Mittelmeerregion: Mika Suonpää/Owain Wright (Hg.), Diplomacy and Intelligence in the Nineteenth-Century Mediterranean World, London 2019. 179 Ebd., S. 281. Zu den Anfängen der englischen Konsulate siehe M. Vereté, „Why was a British Consulate Established in Jerusalem?“, in: The English Historical Review 85 (1970), Nr. 335, S. 316–345. 180 Davis Trietsch, „Deutsche und Juden in Palästina“, in: Die Welt 17 (1913), Nr. 46, S. 1573 f., hier S. 1574. 181 Theodor Zlocisti, „Unsere Palästinafahrt“, in: Der Jüdische Student 10 (1913), S. 360–365, hier S. 365. 182 Sie sind 1907, 1910, 1912, 1919 und 1922 erschienen. Zur Publikationsgeschichte s. die einleitende Erklärung in: Trietsch, Palästina-Handbuch (1922).
4.4 Wissensvermittlung durch auflagenstarke Handbücher
161
Die erste Auflage war von Trietsch noch im Herbst 1905 in Berlin begonnen worden. Er beendete sie im Frühjahr 1906 in Jaffa. Seine Arbeiten für das Informationsbüro, das sich ebenfalls an der Verbreitung des kleinen Buchs beteiligte, dürften ihm bei der Fertigstellung sehr hilfreich gewesen sein. Mit seiner handlichen Größe und dem geringen Gewicht ähnelte das Handbuch einem zeitgenössischen Baedeker-Reiseführer. Diese schlichte Gestaltung war gewollt. Seine Handlichkeit sollte es für Reisende attraktiv machen, der günstige Preis, trotz eleganter Bindung, die „ärmeren Gesinnungsgenossen“183 ansprechen. Wie Wolf Kaiser in seiner Studie über die Geschichte der deutschsprachigen Palästina-Reisebeschreibungen gezeigt hat, lagen Ende des 19. Jahrhunderts diverse Reiseführer und ‑berichte für das Heilige Land vor.184 Dass Trietsch ein PalästinaHandbuch zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den Buchmarkt brachte, stellte somit keine Besonderheit dar. Was sein Handbuch allerdings von anderen Veröffentlichungen unterschied, war wie im Falle seiner Bilder aus Palästina eine dezidiert jüdische Perspektive. Im Vorwort der ersten Auflage bemerkte er dementsprechend, sein Buch möge den „Freunden der jüdischen Kolonisation […] als eine jüdische Ergänzung zu den allgemeinen Reiseführern dienen.“185 Die von ihm anvisierte Leserschaft sollte dabei nicht nur aus Zionistinnen und Zionisten bestehen. Indem er in seinen Geleitworten alle an Palästina interessierten Kreise ansprach, wies er seinem Handbuch einen größeren Rezeptionsradius zu, der das wachsende „alljüdische Interesse an der neuen Entwicklung Palästinas“186 bedienen sollte. Durch neueste und zuverlässige Angaben wollte Trietsch seinen Leser*innen eine praktische Informationsgrundlage an die Hand geben, mit der sie sich ein genaueres Bild von den Entwicklungsmöglichkeiten Palästinas machen konnten. Nicht zufällig streifte sein Palästina-Handbuch hier auch die Nachbarländer, denen er ein ausführlicheres Kapitel im Anhang widmete.187 Wie Trietsch im Vorwort der fünften deutschen Auflage zu verstehen gab, wollte sein Handbuch niemals nur gedruckte Literatur sein. Stattdessen sollte es „von Anfang an den an der jüdischen Kolonisation in Palästina interessierten Juden eine reiche Fülle von Möglichkeiten allseitiger Betätigung zeigen und dazu beitragen, so viele jüdische Auswanderer als tunlich von ihren Hauptzielen im Westen nach dem jüdischen Orient abzulenken.“188
Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, Trietschs Angaben, denen eine ausführliche und gewissenhafte Recherche zugrunde lag – wie mehrere Rezensenten lobten – in 183 „Bericht der Palästina-Kommission für die Berichtsperiode 1905/07“, in: Die Welt 11 (1907), Sep. 3, S. 6–11, hier S. 7. 184 Siehe das Kapitel „Zur Geschichte der Palästinareisen und der Palästinaliteratur“, in: Wolf Kaiser, Palästina – Erez Israel. Deutschsprachige Reisebeschreibungen jüdischer Autoren von der Jahrhundertwende bis zum Zweiten Weltkrieg, Hildesheim, New York, Zürich 1992, S. 41–64. 185 Trietsch, Palästina-Handbuch (1912), S. 8. 186 Ebd., S. 11 [Hervorh. im Original]. 187 Ebd., S. 307–315. Der Begriff „Größeres Palästina“ fällt auf Seite 313. 188 Trietsch, Palästina-Handbuch (1922), S. 9.
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4. „Palästina und die Juden. Tatsachen und Ziffern“
ihrer Anordnung, Ausführlichkeit und Gewichtung genauer zu betrachten. Während seine Ziffern und Statistiken mit offiziellen Daten korrespondierten, die mit jeder Auflage aktualisiert und infolge von Zuschriften korrigiert wurden, zeichneten seine Beschreibungen ein auffallend positives Bild von Palästina. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen. In dem Kapitel „Unterkunft für Reisende“ widmete sich Trietsch auf zwei Seiten den Unterkunftsbedingungen in Palästina, die ihm zufolge besonders in Jaffa und Jerusalem den Ansprüchen des europäischen „Durchschnittsreisenden“ entsprachen.189 Negative Aspekte, wie die meist primitiven Behausungen abseits der größeren Städte und in den jüdischen Siedlungen, sparte er geflissentlich aus. Es ist daher ratsam, auch die Eindrücke anderer Besucher*innen heranzuziehen. Ruppin etwa kam angesichts seiner ersten Palästinareise 1907 auf die vielen Bettwanzen und Flöhe zu sprechen, die ihn in Hotels außerhalb von Jerusalem und Jaffa plagten. Die Begegnung mit den lästigen Parasiten musste sich ihm derart eingeprägt haben, dass sie ihn noch 1940 zu der spöttischen Bemerkung veranlasste, „es hätte sich gelohnt, einen Artikel über die ,Bettfauna‘ Palästinas zu schreiben.“190 Die ärztliche Versorgung befand Ruppin gleichermaßen für mangelhaft. Er und seine erste Ehefrau Selma Ruppin (1879–1912) hatten daher 1909 beschlossen, wenige Monate vor der Geburt ihres Kindes, Palästina in Richtung Deutschland zu verlassen.191 Diesen Weg war auch Trietsch ein Jahr zuvor eingeschlagen, als er im Spätsommer 1908 mit der schwangeren Emma Trietsch nach Berlin zurückkehrte. Anhand seiner Darstellungen der medizinischen Versorgung lässt sich die Rückkehr allerdings nicht nachvollziehen. Im Palästina-Handbuch von 1910 schrieb er, es seien in allen größeren Orten Ärztinnen und Ärzte zu finden, die in Europa ausgebildet wurden.192 Das Leben seiner Frau und des ersten ungeborenen Kindes war er ihnen offenbar jedoch nicht bereit, anzuvertrauen. Das Prinzip eines kompakten Handbuchs, durch das sich Leserinnen und Leser in knapper und übersichtlicher Form, ohne „Studium vieler dicker Bücher“193, informieren konnten, hielt Trietsch für vielversprechend. In einer Prägnanz, Verknappung und Wendung zum Wesentlichen sah er die große Chance, weite Kreise erreichen zu können. Als Vorbild dienten ihm auch hier Druckerzeugnisse aus Großbritannien, von denen er das 1864 erstmals erschienene Stateman’s Yearbook besonders schätzte. Das Jahrbuch, das bis heute erscheint, stellte zu jedem Land der Welt auf Grundlage von Statistiken kompakte Informationen zusammen, durch die vor allem Diplomaten, Politiker und Unternehmer mit neuestem Wissen versorgt werden sollten.194 Wie Entwürfe in seinem Nachlass belegen, plante Trietsch 189 Ders.,
Palästina-Handbuch (1912), S. 125. Tagebücher, Briefe, S. 166. 191 Ebd., S. 245. 192 Trietsch, Palästina-Handbuch (1910), S. 131. 193 Ders., Palästina-Handbuch (1912), S. 7. 194 The Stateman’s Yearbook and Archive, 10. 11. 2018, abrufbar unter: https://www.galileo. usg. edu/scholar/ggc/databases/stak-gwin/ (Zugriff 12. 3. 2022). 190 Ruppin,
4.4 Wissensvermittlung durch auflagenstarke Handbücher
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für das Jahr 1906/7 ein Welt-Lexicon, das dem „Stateman’s Yearbook recht nahe“195 kommen sollte. Was seine Publikation allerdings vom Original unterschied, war ihr Adressatenkreis. Zwar hatte auch Trietsch Vertreter aus Politik und Wirtschaft im Auge, die über einzelne Länder informiert werden sollten. Sein Handbuch richtete sich aber gezielt an eine deutschsprachige Leserschaft, deren Blick auf bestimmte Regionen es vor der Folie eines deutschen und österreichischen Einflussgebietes zu schärfen galt.196 Während das von ihm noch in späterer Zeit verfochtene Projekt eines Welt-Lexicons nicht zur Drucklegung kam, erschien 1909 sein vielrezipiertes Levante-Handbuch.197 Das Handbuch, das bis 1914 in drei Auflagen erschien und durch seinen mehrsprachigen Annoncenteil ebenfalls eine wichtige Einnahmequelle bot, verschaffte Trietsch einen zweiten schriftstellerischen Erfolg. Anders als sein Palästina-Handbuch fungierte es besonders in nichtjüdischen Kreisen als ein beliebtes Nachschlagewerk, dessen Aufbau sich noch stärker an das Stateman’s Yearbook anlehnte. Betrachtet man den inhaltlichen Rahmen des Levante-Handbuchs genauer, so zeigt sich, dass auch dieser nicht neutral gesetzt war. Bezeichnend ist etwa, dass Trietsch den Länderkreis der sogenannten Levante, zu dem man damals üblicherweise Kleinasien, Syrien und Ägypten zählte, bewusst vergrößerte. Dadurch war es ihm möglich, auch die Insel Zypern zu behandeln, der er mit Blick auf Greater Palestine „grosse Fortschritte“198 voraussagte. Ebenfalls eingehender widmete er sich bei dieser Gelegenheit Palästina und den dortigen jüdischen Aktivitäten, wie die Jüdische Zeitung aus Wien wohlwollend registrierte.199 Auch mit diesem Handbuch verfolgte Trietsch somit ein ganz bestimmtes Ziel: Das Interesse einflussreicher Kreise an dem „so nahen und doch so wenig bekannten Orient“200 zu wecken, von dem in Zukunft besonders jüdische Unternehmungen profitieren sollten. Zu diesem Zweck schickte er mehrere Exemplare des Levante-Handbuchs an einflussreiche Personen aus Politik und Wirtschaft, darunter Mitglieder des Deutschen Reichstags und des 1876 gegründeten Centralverbands Deutscher Industrieller. Sie und andere Akteure wollte Trietsch für ein Engagement in der Region gewinnen, das mit seinen Zielen korrespondierte.201 Seine Handbücher fungierten somit als ein probates Medium, um die eigenen Positionen in die breitere Öffentlichkeit und einflussreiche Kreise zu heben. Neben 195 Davis Trietsch, Verlags Project betreffend Welt-Handbuch oder Welt-Lexicon, 3-seitiges undat. Manuskript [1906], S. 2. CZA, A104/63. 196 Ebd. 197 Davis Trietsch, Welthandbuch, 1-seitiges undat. Typoskript [1916]. CZA, A104/58. Zur Bedeutung des Levante-Handbuchs s. die Rezension von Bernhard Harms, der es „zu einem unentbehrlichen Nachschlagewerk“ erklärte. In: Weltwirtschaftliches Archiv 5 (1915), S. 400 f., hier S. 400. 198 Davis Trietsch (Hg.), Levante-Handbuch, 3. Aufl., Berlin 1914, S. 196. 199 „Zeitschriften‑ und Bücherschau“, in: Jüdische Zeitung 3 (1909), Nr. 33, S. 6. 200 Trietsch, Levante-Handbuch (1914), S. 8. 201 Begleitschreiben zum Levante-Handbuch an die Reichstagsabgeordneten, o. D. [1915], CZA, A104/14; Centralverband Deutscher Industrieller an Davis Trietsch, 6. 7. 1915. Ebd., A104/58.
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4. „Palästina und die Juden. Tatsachen und Ziffern“
den beiden Handbüchern zur Levante und Palästina veröffentlichte Trietsch daher weitere Nachschlagewerke.202 Eine neutrale Informationsvermittlung lag auch ihnen nur auf dem ersten Blick zugrunde.
202 Davis Trietsch, Handbuch über die wirtschaftlichen Verhältnisse Marokkos und Persiens, sowie ihrer Nachbargebiete: Algerien, Tunesien, Spanisch-Nordafrika, Afghanistan und Belutschistan, Berlin 1910; ders./Axel von Boustedt (Hg.), Das Russische Reich in Europa und Asien. Ein Handbuch über seine wirtschaftlichen Verhältnisse, Berlin 1910.
5. „Massenwanderung und Massensiedlung“ Forderungen nach einer großangelegten Einwanderung „Die neue politische Situation, die sich für uns ergeben hat, und die uns Palästina ganz plötzlich in erreichbarer Nähe zeigt, stellt uns vor die Aufgabe, nun auch die Konsequenz zu ziehen und eine größtmögliche Ansiedlung in die Wege zu leiten.“1 Davis Trietsch, Massenwanderung und Massensiedlung
5.1 „Dunam um Dunam, Ziege um Ziege“: Zionistische Maximalpositionen nach dem Ersten Weltkrieg Das von Davis Trietsch prophezeite „reinigende Gewitter des Weltkrieges“2 entlud sich nicht in der von ihm erhofften Art und Weise. Auf die auch von anderen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen empfundene Gewitterstimmung, die den Krieg mit einer unausweichlichen Naturgewalt verglichen, folgte kein Sieg des Deutschen Reichs. Zugriffsmöglichkeiten auf Palästina unter deutscher Führung blieben in der Folge aus. Das Ende des ,Völkerkriegs‘ am 11. November 1918 ging für Trietsch und andere deutsche Zionistinnen und Zionisten mit großen Neuorientierungen einher. Hatte er im letzten Kriegsjahr noch im Statistikamt des Deutschen Heeres gearbeitet und mehrere polemische Kriegsschriften verfasst, sah er sich nun neuen politischen Realitäten gegenüber.3 Mit seiner Arbeit der letzten Jahre, in denen er für einen Sieg der Mittelmächte geworben hatte, waren diese nicht in Einklang zu bringen. Neben dem Kriegsausgang traf Trietsch und seine Familie zudem ein schwerer persönlicher Schicksalsschlag. Der erstgeborene Sohn, Alfred-Benjamin, war im Oktober 1917 im Alter von acht Jahren an Diphterie verstorben.4 Der Tod des Jun1 Davis Trietsch, „Massenwanderung und Massensiedlung“, in: Volk und Land 1 (1919), Nr. 2, Sp. 33–38, hier Sp. 33. 2 Ders., Das Osmanische Reich als Wirtschaftsfaktor vor und nach dem Kriege, 6-seitige Druckfahne o. D. [1916], hier S. 2. CZA, A104/58. Zur populären Kriegsrhetorik siehe Julian Walker, Words and the First World War. Language, Memory, Vocabulary, London 2017. 3 Ada Barlewski, „Gedenkfeier für Davis Trietsch. Zum 120. Geburtstag des Frühzionisten aus Dresden“, in: Israel Nachrichten, 4. 1. 1990, S. 2. 4 Jeremias, Urgrossmutter Hannah, S. 2. Mein Dank gebührt Daniela Chen sel. A., die mir mehrere persönliche Aufzeichnungen ihrer Großmutter anvertraut hat, aus denen der tiefe Schmerz über den Verlust des Sohnes spricht.
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5. „Massenwanderung und Massensiedlung“
gen, den alle liebevoll ,Schnucks‘ nannten, muss Trietsch sehr zugesetzt haben. In ihren Erinnerungen schildert Hannah Jeremias die tiefbetrübte Stimmung der Eltern, an die sie sich noch erinnerte, obwohl sie damals erst sechs Jahre alt gewesen war.5 Zum Andenken an Alfred-Benjamin Trietsch rief die Familie in der Jüdischen Rundschau die Spendenaktion „Freunde Benjamins“ ins Leben, die Waisenkindern in Jerusalem zugutekommen sollte. Der erste Aufruf erschien am 2. November 1917, nachdem Trietsch wenige Tage zuvor den Verlust seines „kleinen Palästinensers“6 öffentlich gemacht hatte. Wovon er zu diesem Zeitpunkt nicht wissen konnte, war die historische Tragweite, die dieser Tag für die zionistische Bewegung bereithalten sollte. Ebenfalls am 2. November wurde die sogenannte Balfour-Deklaration zu Papier gebracht, bei der es sich um einen Brief des britischen Außenministers Arthur Balfour (1848–1930) an den Bankier und Zionisten Lionel Walter Rothschild (1867–1937) aus London handelte. Im Namen seiner Regierung sprach Balfour darin der „Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk“7 sein Wohlwollen aus. Die Veröffentlichung der Erklärung, in der die Ziele des Zionismus erstmals von einem Staat anerkannt worden waren, löste begreiflicherweise unter vielen Zionistinnen und Zionisten einen Sturm der Begeisterung aus. Obwohl sie kein offizielles Regierungsdokument darstellte, an das sich konkrete Maßnahmen knüpften, sahen sie den alten Vorwurf, sie seien bloß „Träumer und verrückte Schwärmer“8, damit widerlegt. Auch Trietsch begrüßte die Sympathieerklärung Londons euphorisch. Für ihn stellte sie den „schönsten historischen Akt der Neuzeit“9 dar, wie er noch Jahre später hervorhob. Die wachsende politische Bedeutung Großbritanniens, das sein Interesse am Nahen und Mittleren Osten schon in früheren Jahrzehnten bekundet hatte, war von mehreren führenden Zionisten noch während des Krieges registriert worden.10 Im Frühjahr 1918 war etwa ein Delegiertenausschuss unter Chaim Weizmann nach Palästina gereist, um von der britischen Militärführung als offizielle Vertreter des Jischuv anerkannt zu werden.11 Das Vorgehen der Gruppe, die später der Friedens 5 Ebd.
6 Davis Trietsch, „Für die Jerusalemer Waisenkinder“, in: Jüdische Rundschau 22 (1917), Nr. 43, S. 349. 7 Michael Brenner, „Vom Zionismus zu Zion“, in: Gisela Dachs (Hg.), Länderbericht Israel, Bonn 2016, S. 56–80, hier S. 73. Zur Politik Balfours: Nancy W. Ellenberger, Balfour’s World. Aristocracy and Political Culture at the Fin de Siècle, Woodbridge 2015. 8 Ben-David [Davis Trietsch], „Orientalische Autonomien“, in: Die Welt 3 (1899), Nr. 41, S. 2 f., hier S. 2. Monika Brockhaus, „Ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung“. Die BalfourDeklaration in der veröffentlichten Meinung, Frankfurt a. M. 2011, S. 111. 9 Davis Trietsch, Statistische Überraschungen aus dem englischen Blaubuch über Palästina, 8-seitiges Typoskript o. D. [1930], hier S. 1. CZA, A104/71. 10 Zum britischen Einflussbereich: Justin Quinn Olmstead (Hg.), Britain in the Islamic World. Imperial and Post-Imperial Connections, Cham 2019; Robert T. Harrison, Britain in the Middle East 1619–1971, London 2016; Peter Mangold, What the British Did: Two Centuries in the Middle East, London 2016. 11 Brenner, „Vom Zionismus zu Zion“, S. 72.
5.1 „Dunam um Dunam, Ziege um Ziege“
167
konferenz in Versailles 1919 den Vorschlag unterbreiten sollte, man möge Großbritannien mit der Verwaltung Palästinas betrauen, erwies sich als zielführend. Nur ein paar Monate später wurde London auf der Konferenz von Sanremo das Völkerbundmandat für Palästina übertragen. Das nach dem Krieg geschaffene Mandatssystem sollte die Bewohnerinnen und Bewohner der betroffenen Länder auf ihre Unabhängigkeit vorbereiten. Gudrun Krämer zufolge schuf es dagegen eine „Kolonialherrschaft in neuem Gewand“12, da den Siegermächten damit die Möglichkeit gegeben war, ihre Einfluss‑ und Kontrollsphären völkerrechtlich abzustecken. In der kolonialistischen Selbstgewissheit, die ihnen anvertrauten Gesellschaften in die Zivilisation zu überführen, sahen sich die Mandatsmächte in der Rolle eines altväterlichen Vormunds. Mit der Ratifizierung des Mandatsvertrags 1922 erhielt Großbritannien die volle gesetzgeberische und administrative Kontrolle über Palästina, die, wie auf Zypern, stellvertretend durch einen Hochkommissar ausgeübt wurde.13 Die Zionistinnen und Zionisten begrüßten die Entscheidung des Völkerbunds frenetisch, der auch für den ehemals deutschnationalistischen Agitator Trietsch nun „die oberste politische Instanz der Welt“14 verkörperte. Ihre Begeisterung rührte aus dem Vertragstext. Dieser sicherte dem jüdischen Volk „die Wiedereinrichtung seiner nationalen Heimstätte“ in Palästina unter der Bedingung zu, die Rechte der nichtjüdischen Einwohner*innen nicht zu beeinträchtigen. Unter Bezug auf die Balfour-Deklaration wollte man künftig eine „jüdische Einwanderung unter geeigneten Bedingungen erleichtern“15. Trietsch hatte die Balfour-Erklärung als ein „Zeichen zum Aufbruch“16 gedeutet, dem in der Praxis nun schnellstmöglich Konsequenzen folgen mussten. Sein Umschwenken von einem deutschen Nationalisten, der den populären „Haßgesang gegen England“17 durch polemische Schriften befeuert hatte, hin zu einem Befürworter der britischen Palästinapolitik, zeigt beispielhaft, wie flexibel und pragmatisch Trietsch im Hinblick auf neue Allianzen reagierte. Hatte er noch im Juli 1918 eine Kriegsschrift mit dem Titel Wer Englands Brot isst, stirbt daran veröffentlichen wollen, so setzte er wenig später auf eine Zusammenarbeit mit London, die eine jüdische „Millionensiedlung“18 vorbereiten sollte.
12 Krämer,
Geschichte Palästinas, S. 193. S. 199. 14 Davis Trietsch, Die jüdische Welt und das neue Palästina, Berlin 1923, S. 1. 15 Jaeger/Tophoven, Der Nahost-Konflikt, S. 47 f. 16 Davis Trietsch, „Das Zeichen zum Aufbruch“, in: Volk und Land 1 (1919), Nr. 29/30, Sp. 905–916, hier Sp. 905. 17 Ernst Lissauer, Haßgesang gegen England. Gedicht von 1914. Zu Lissauer, der ebenfalls Jude war, siehe Arne Offermanns, Ernst Lissauer. Identitätskonstruktion und Weltanschauung zwischen Deutschtum und Judentum, Berlin, Boston 2019. 18 Davis Trietsch, „Ansiedlungsmöglichkeiten“ (Referat gehalten auf dem Palästina-Delegiertentag der ZVfD, 26.-29. 5. 1919), in: Volk und Land 1 (1919), Nr. 22/23, Sp. 683–702, hier Sp. 686; Davis Trietsch an Arthur Kirchhoff, 27. 7. 1918. CZA, A104/1. 13 Ebd.,
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5. „Massenwanderung und Massensiedlung“
Im Verlauf des Russischen Bürgerkriegs, der mit dem Sieg der Roten Armee und der Gründung der Sowjetunion im Dezember 1922 endete, fand sich die jüdische Minderheit zwischen allen Fronten wieder. Vor allem in der Ukraine, die zum blutigen Schauplatz von über 1000 antisemitischen Pogromen wurde, durch die schätzungsweise 30.000 bis 70.000 Menschen starben, war sie von den Nachkriegswirren an Leib und Leben bedroht.19 Die Verantwortlichen für die Gewaltexzesse, denen auch viele Kinder zum Opfer fielen, unterstellten den Jüdinnen und Juden, mit der jeweils gegnerischen Seite zu paktieren. Zum Verhängnis wurde ihnen dabei oft ausgerechnet ihre Nähe zur deutschen Sprache und Kultur, wie sie unter anderem Trietsch wenige Jahre zuvor beschworen hatte.20 Wie der Rest der jüdischen Welt war Trietsch angesichts dieser Vielzahl brutaler Übergriffe schockiert. Auf seine Kassandrarufe, mit denen er immer wieder die prekäre Lage im Osten Europas angemahnt hatte, mussten nun seiner Meinung nach schnellstens Taten folgen. Die von der ZO seit zwei Jahrzehnten proklamierte Rettung der bedrohten Glaubensgeschwister gehörte endlich großzügig umgesetzt. Frustration und Ungeduld waren angesichts der dramatischen Lage in Osteuropa auch unter den Betroffenen gewachsen. So meldete das Wiener Palästina-Amt im Frühjahr 1919, es hätten sich mehrere Jüdinnen und Juden aus dem polnischen Będzin im Alleingang auf den Weg nach Palästina gemacht, nachdem ihnen in Wien nicht geholfen werden konnte. Die Gruppe, die überwiegend aus jungen Männern bestand, strandete schließlich auf halbem Weg in Triest, wo sie erschöpft und mittellos auf Hilfe angewiesen blieb.21 Die unübersichtliche Lage in der unmittelbaren Nachkriegszeit machte eine systematische Einwanderung nach Palästina unmöglich, auch weil das Land über mehrere Monate von der Außenwelt abgeschnitten blieb. Trotz dieser Umstände drängte Trietsch auf eine schnelle und umfassende Aktion. Die Pogrome in Osteuropa und die neuen politischen Aussichten in Palästina erlaubten ihm zufolge „keine Verkleisterung der Gegensätze, keine Höflichkeiten und keine akademischen Redewendungen.“22 Die abwartende Haltung der ZO-Leitung, die unter vielen Betroffenen für Enttäuschung und Wut sorgte, musste seiner Auffassung nach umgehend hinter sich gelassen werden. Um der deutschsprachigen jüdischen Öffentlichkeit die Dringlichkeit der Situation vor Augen zu führen, gründete Trietsch die Zeitschrift Volk und Land. Schon der Titel des inhaltlich anspruchsvollen Blattes, das im Januar 1919 erstmals erschien und für das mehrere 19 Zu den verschiedenen Opferzahlen siehe Giuseppe Motta, The Great War Against Eastern European Jewry, 1914–1920, Cambridge 2017, S. 199 f. 20 Katrin Steffen, Jüdische Polonität. Ethnizität und Nation im Spiegel der polnischsprachigen jüdischen Presse, 1918–1939, Göttingen 2004, S. 247; Frank Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen 1881–1922. Eine Studie zur Geschichte des Antisemitismus in Osteuropa, Wiesbaden 1981, S. 140 f. 21 Jan Rybak, Everyday Zionism in East-Central Europe. Nation-Building in War and Revolution, 1914–1920, Oxford 2021, S. 268. 22 Trietsch, „Massenwanderung und Massensiedlung“, Sp. 34.
5.1 „Dunam um Dunam, Ziege um Ziege“
169
bekannte deutsche Zionisten schrieben, spiegelt die Priorität seines Herausgebers. Für Trietsch stand das jüdische Volk an erster Stelle, während das Land von ihm an zweite Stelle gesetzt wurde. „Wäre nicht die Notwendigkeit des Volkes“, so bemerkte er in der September-Ausgabe, „so würde uns der Zustand Palästinas nicht mehr interessieren als etwa eine alte Stammburg.“23 In ganz ähnlicher Weise hatte Herzl in seinem Judenstaat betont, dem jüdischen Volk sei eine größere Bedeutung beizumessen als dem Land Palästina.24 Trietschs Berechnungen nach konnten in Palästina allein in seinen westlichen Grenzen (ohne das Ostjordanland) 15 Millionen Menschen leben.25 Auf dieser Grundlage stellte er in seiner Schrift Die Fassungskraft Palästinas 1926 eine Zuwanderung von rund 500.000 Personen jährlich in Aussicht, durch die in wenigen Jahren eine jüdische Mehrheit in Palästina etabliert werden sollte.26 Die demografischen Mehrheitsverhältnisse des Landes, das 1922 insgesamt 752.048 Einwohnerinnen und Einwohner zählte, darunter 589.177 muslimische, 83.790 jüdische und 71.464 christliche, sollten sich so dauerhaft umkehren.27 In der Vorstellung von Trietsch war das Ziel ein „große[s] jüdische[s] Palästina einer sehr nahen Zukunft“, in dem zwar auch Muslim*innen, Christ*innen und Drus*innen lebten, die aber als Minderheit im kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Leben des Landes keine zentrale Rolle spielen würden.28 Die schnellstmögliche Schaffung einer ,jüdischen Majorität‘ bot nicht nur für Trietsch die Voraussetzung, um sich der Zusagen Großbritanniens und des Völkerbunds sicher sein zu können. Auch die sogenannten Revisionisten um den in Odessa geborenen Zionisten Ze’ev Jabotinsky (1880–1940) strebten entsprechend ihren Gründungsstatuten von 1925 ein „selbständig regiertes Territorium mit einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit“29 an. Im Gegensatz zu Trietsch gründete eine zentrale Forderung dieser bürgerlich, antisozialistischen Gruppe jedoch in der Besiedlung Transjordaniens.30 Während einige Mitglieder der Cherut-Partei, die das Erbe Jabotinskys in der Knesset antrat, noch bis in die 1970er Jahre für diesen 23 Ders., „Der Zionismus am Scheideweg“, in: Volk und Land 1 (1919), Nr. 36/37, Sp. 1117–1128, hier Sp. 1022. Siehe auch seine Rede auf dem 10. Kongress: Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des X. Zionisten-Kongresses in Basel, Berlin, Leipzig 1911, S. 177. 24 „Das Volk ist die persönliche, das Land die dringliche Grundlage des Staates. Und von diesen beiden Grundlagen ist die persönliche die wichtigere.“ Herzl, Der Judenstaat, S. 68. 25 Trietsch, Die jüdische Welt und das neue Palästina, S. 7. 26 Ders., Die Fassungskraft Palästinas, S. 9. 27 7617 Personen fielen unter die Kategorie ,Sonstige‘. Bei ihnen handelte es sich primär um die Gruppe der Drus*innen. Krämer, Geschichte Palästinas, S. 214. 28 Trietsch, „Massenwanderung und Massensiedlung“, Sp. 173. Zur Stellung der arabischen Einwohner*innen: ders., „Das Zeichen zum Aufbruch“, Sp. 914. 29 Zentralbüro der Union der Zionisten Revisionisten (Hg.), Grundsätze des Revisionismus. Aus den Resolutionen der I., II. und III. Weltkonferenzen der Revisionistischen Union, Paris 1929, S. 3. Zum revisionistischen Zionismus: Colin Shindler, The Rise of the Israeli Right. From Odessa to Hebron, Cambridge 2015; Yaacov Shavit, Jabotinsky and the Revisionist Movement 1925–1948, Hoboken 2013. 30 Zentralbüro der Union der Zionisten Revisionisten, Grundsätze des Revisionismus, S. 4.
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5. „Massenwanderung und Massensiedlung“
Grundsatz warben, sah Trietsch in den Gebieten östlich des Jordans keinen untrennbaren Teil Palästinas.31 Die ,Revisionisten‘ agitierten in ihren Einwanderungszielen zurückhaltender als Trietsch. Zwar warben sie ebenfalls für eine „beschleunigte Übersiedlung […] der leidenden jüdischen Massen“ im Sinne einer „Massenimmigration“32, wie sie in einer Resolution 1928 festhielten. An erster Stelle stand für sie aber die Schaffung einer Staatsgewalt, die eine Zuwanderung im Einklang mit dem britischen Mandatar garantieren sollte. Erst durch eine souveräne politische Handlungsfähigkeit, die in Absprache mit London zur „Errichtung des Judenstaates“ führen sollte, war ihnen zufolge eine „Massenansiedlung“33 in Angriff zu nehmen. Für Trietsch, der eine Kooperation mit Jabotinsky ausschloss, auch weil er fand, dass er und seine Anhänger*innen zu viele Ausgaben für militärische Aktionen vorsahen, stand dagegen eine schnelle großzügige Einwanderung an erster Stelle.34 Sie bildete für ihn die Voraussetzung zur Schaffung eines handlungsfähigen ,Nationalheims‘, auf dessen politische Strukturen er nicht näher einging. Von einem jüdischen Staat als letztem Ziel des Zionismus sprach Trietsch nicht. Vielmehr hatte er schon zu Zeiten der osmanischen Herrschaft wiederholt betont, die Bewegung würde einen solchen souveränen Staat nicht anvisieren. Stattdessen seien die Zionistinnen und Zionisten der Türkei loyal verbunden und bereit, sich „unter gesunden nationalen Verhältnissen“35 in das Reich einzugliedern. Derartige Bekundungen, die Trietsch und einige andere Zionisten vor allem nach der ,Jungtürkischen Revolution‘ 1908 öffentlich platzierten, dürften taktischen Erwägungen geschuldet gewesen sein. Schließlich erhoffte man sich von den neuen politischen Machthabern am Bosporus Zugeständnisse, die sich durch eine deutsch-jüdisch-türkische Zusammenarbeit erringen ließen.36 Trotzdem ist bemerkenswert, dass sich zumindest in Trietschs schriftlichem Nachlass keine einzige Angabe zur politischen Verfasstheit Palästinas findet, die auf einen souveränen Staat schließen ließe. Trietsch muss einer solchen Entwicklung deshalb aber nicht desinteressiert oder ablehnend gegenübergestanden haben. Vielmehr dürfte auch er nach 1917 und 1922 in der Hoffnung beflügelt worden sein, die neue politische 31 Nadav Shelef zufolge rückten die sog. Revisionisten von ihrem Leitmotiv Both Banks of the Jordan ab Mitte der 1970er Jahre fast gänzlich ab. Ders., „From ‚Both Banks of the Jordan‘ to the ‚Whole Land of Israel‘: Ideological Change in Revisionist Zionism“, in: Israel Studies 9 (2004), Nr. 1, S. 125–148, hier S. 133. 32 Zentralbüro der Union der Zionisten Revisionisten, Grundsätze des Revisionismus, S. 5 f. 33 Ebd., S. 6. Siehe auch Brenner, Israel, S. 99–101. 34 Davis Trietsch an Ernst Herrmann, 29. 1 2. 1927. CZA, A396/6. 35 Davis Trietsch, „Das zionistische Palästinaprogramm“, in: Jüdische Rundschau 14 (1909), Nr. 45, S. 500 f., hier S. 501; ders., „Der politische Zionismus und die Türkei“, in: ebd., Nr. 33, S. 377 f., hier S. 377. 36 Um das deutsch-türkische Bündnis nicht zu belasten, schrieb Trietsch: „Der ,selbständige jüdische Staat‘ in Palästina […] ist so ziemlich die Auffassung der Gasse – und zwar einer feindseligen Gasse.“ Jüdische Emigration und Kolonisation, 8-seitiges Typoskript, o. D. [1916]. CZA, A104/61, hier S. 8.
5.1 „Dunam um Dunam, Ziege um Ziege“
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Situation könne den Weg hin zu einem jüdischen Staatswesen ebnen. Im Mittelpunkt seiner Agitation stand jedoch zeitlebens die unmittelbare Hilfe in Form einer aktiven Einwanderung, die, anders als die Etablierung staatlicher Strukturen, keinen Aufschub vertrug. So betonte er 1926, die „Rettung des Volkes aus seinen heutigen Nöten geht allen idealen Zwecken und sogar allen praktischen Zukunftsplänen weit voran.“37 Die von Trietsch verfochtene jüdische Bevölkerungsmehrheit unterlegte er mit numerischen Argumenten. Zahlen und Statistiken gaben ihm offenbar ein Gefühl von Berechenbarkeit, Kontrolle und Stichhaltigkeit, von denen er sich Bewältigungsstrategien in der Praxis versprach. Für seine Berechnungen und Prognosen waren die Arbeiten des aus Lettland stammenden Carl Ballod (1864–1931) zentral, der seit 1914 an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin als Honorarprofessor lehrte. Ballod, laut Trietsch „ein großer Nationalökonom und Statistiker, […], ein Freund der Freiheit und der Juden“38 hatte in der Europäischen Staats‑ und Wirtschafts-Zeitung 1916 zur jüdischen Einwanderung nach Palästina veröffentlicht. Sein Aufsatz „Das Ostjudenproblem und die Frage seiner Lösung durch den Zionismus“, der in überarbeiteter Form später in zionistische Sammelwerke Eingang fand, gab konkrete Zahlen hinsichtlich der Aufnahmefähigkeit Palästinas.39 Ballod zufolge konnte das Land in wenigen Jahren ganze sechs Millionen Geflüchtete aufnehmen, die er pauschal der Gruppe der ,Ostjuden‘ zurechnete.40 Diese „billige Ansetzung von Millionenmassen“41, wie es damals ingenieurhaft hieß, sollte durch eine moderne, intensive Landwirtschaft realisiert werden. Von ihr versprach sich Ballod rentablere Böden in Palästina, die unter systematischer Einführung künstlicher Bewässerung, moderner Maschinen und Kunstdünger erzielt werden sollten. Die optimistischen Berechnungen von Ballod, der sich wiederum auf den „bekannten Palästinakenner Dr. Davis Trietsch“42 berief, rezipierte Trietsch mit großer Euphorie. Seiner Meinung nach, sei „niemals etwas ähnlich Großzügiges und dabei Reales geschrieben worden.“43 Für ihn war Ballod eine anerkannte akademische Autorität, die große Sympathien für den Zionismus hegte, wie sein Vorsitz in ,Pro 37 Trietsch,
Die Fassungskraft Palästinas, S. 10 [Hervorh. im Original]. „Ansiedlungsmöglichkeiten“, Sp. 688. Ballod hatte schon vor dem Weltkrieg für die Lage der russischen Jüdinnen und Juden Interesse gezeigt: „Prof. Dr. K. Ballod über die Judenfrage in Rußland“, in: Jüdische Zeitung 3 (1909), Nr. 15, S. 4. 39 Karl Ballod, „Das Ostjudenproblem und die Frage seiner Lösung durch den Zionismus“, in: Europäische Staats‑ und Wirtschafts-Zeitung 1 (1916), S. 874–880; ders., „Produktions‑ und Aufnahmefähigkeit Palästinas“, in: Davis Erdtracht, An der Schwelle, S. 41–52. 40 Zum Begriff ,Ostjuden‘ siehe Gertrud Pickhan, „,Ostjudentum‘ und Mizrekh-Yidishkeyt. Begriffskonstruktionen, Selbstwahrnehmungen und Fremdzuschreibungen“, in: Ernst Baltrusch/Uwe Puschner (Hg.), Jüdische Lebenswelten. Von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 2016, S. 285–294. 41 Ballod, „Produktions‑ und Aufnahmefähigkeit“, S. 45. Zu Ballods Berechnungen: Baisez, Architectes de Sion, S. 100–103. 42 Ballod, „Produktions‑ und Aufnahmefähigkeit“, S. 45. 43 Davis Trietsch, „Ein Maximalprogramm der jüdischen Kolonisation in Palästina“, in: Der Jude 1 (1916), Nr. 5, S. 301–307, hier S. 301. Siehe auch seine positive Besprechung „Das Ost38 Ders.,
172
5. „Massenwanderung und Massensiedlung“
Palästina. Deutsches Komitee zur Förderung der jüdischen Palästinasiedlung‘ belegt.44 Das 1918 gegründete Komitee, dem später unter anderem Albert Einstein (1879–1955) und Konrad Adenauer (1876–1967) angehören sollten, trug die Ziele des Zionismus durch Publikationen und Vorträge in die deutsche Öffentlichkeit. Trietsch hatte mit Blick auf die von ihm prognostizierte ,Zukunft des Orients‘ vorbereitende Schritte für eine größere Einwanderung schon vor 1914 vorgesehen.45 Hinsichtlich konkreter Ziffern hatte er sich jedoch bedeckt gehalten, ebenso wie er lediglich eine allmähliche, langsam ansteigende Zuwanderung befürworte. Diese Haltung wurde durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und die daran anknüpfende politische Neuordnung überformt. Die hohe Mobilität von Soldaten und Zivilist*innen hätte Trietsch zufolge gezeigt, wie man große Menschenzahlen künftig nach Palästina bringen könnte. Als wichtigste Referenz fungierte für ihn der 1923 im Vertrag von Lausanne beschlossene Bevölkerungsaustausch zwischen der Türkei und Griechenland. Wie viele Beobachterinnen und Beobachter war Trietsch vom Erfolg dieses ,Transfers‘ überzeugt, der im Krieg eingesetzt hatte, und in dessen Verlauf fast zwei Millionen Menschen umgesiedelt wurden.46 Die dramatischen Folgen der Aktion, die in beiden Ländern dem Historiker Onur Yıldırım zufolge für „thousands of homeless, jobless and hungry refugees“47 sorgte, klammerte Trietsch offenbar bewusst aus. Für ihn waren die realen Schattenseiten des Unterfangens nachrangig, ebenso wie später für die JA, die sich Ende der 1930er Jahre gegenüber der britischen Regierung ähnlich anerkennend auf den griechisch-türkischen Austausch bezog.48 Neben Ereignissen im Zuge des Ersten Weltkriegs, den auch andere Zionistinnen und Zionisten als „Lehrmeister“49 empfanden, berief sich Trietsch auf prominente Mitstreiter in der Bewegung. Bezeichnenderweise war es Herzl, den er zur Beglaubigung seiner Zukunftsprojektionen heranzog. Wie Trietsch hatte der erste ZO-Präsident eine Einwanderung großen Stils gefordert. Anlässlich seines 15. Todestages druckte Trietsch deshalb im Juli 1919 Auszüge aus Der Judenstaat und Altneuland in seiner eigenen Zeitschrift Volk und Land ab.50 In besonderer Weise bemühte er dort eine Stelle in Herzls Romanutopie, die ihm zufolge keine bloße
juden-Problem und die Frage seiner Lösung durch den Zionismus“, in: Europäische Staats‑ und Wirtschafts-Zeitung 1 (1916), S. 1265–1273. 44 Ballod verfasste für das Komitee die Schrift Palästina als jüdisches Ansiedlungsgebiet, Berlin 1918. Auch darin sprach er von einer „Volksverdichtung bei intensiver landwirtschaftlicher Kultur“. Ebd., S. 7. Zum Komitee siehe auch Weber, Projektionen auf den Zionismus, S. 115–120. 45 Siehe u. a. Trietsch, „Die Zukunft des Orients“, Sp. 324. 46 Siehe u. a. Davis Trietsch an eine gewisse Frau Fraenkel, 16. 7. 1927. CZA, A104/31. 47 Onur Yildirim, Diplomacy and Displacement. Reconsidering the Turco-Greek Exchange of Populations, 1922–1934, New York, London 2006, S. 3. 48 Ebd., S. 13. Zu den negativen Aspekten des Austauschs siehe ebd., S. 180–188. 49 Ernst Herrmann, „Herzl als Maximalist“, in: Volk und Land 1 (1919), Nr. 32, Sp. 989–992, hier Sp. 990. 50 „Aus dem ,Judenstaat‘. Von Theodor Herzl“, in: ebd., Nr. 28, Sp. 861–864.
5.1 „Dunam um Dunam, Ziege um Ziege“
173
Fiktion war. Stattdessen las er Altneuland als ein Zeugnis, das Herzls „Programm der Verwirklichung des Zionismus darlegen sollte“51. In der besagten Passage beschrieb Herzl eine tägliche Einwanderung von 2000 Menschen. Trietsch setzte hier an und sprach kurzerhand davon, der erste ZO-Präsident hätte eine monatliche Einwanderung von rund 60.000 Jüdinnen und Juden für realistisch gehalten. Herzl, der dagegen recht vage von „fünfhundert, tausend und zweitausend“52 Personen gesprochen hatte, die täglich an Land gingen, wurde so selektiv von Trietsch bemüht. Sein Rückgriff auf einen Roman zeigt darüber hinaus, wie bereitwillig er verschiedene Quellen heranzog, die seine Sichtweise stützten – zumal, wenn sie der Feder des Gründungsvaters des modernen Zionismus entsprungen waren. Trietschs positiver Bezugnahme auf Herzl dürfte demnach ein Kalkül zugrunde gelegen haben, durch das er seine eigenen Pläne zu legitimieren beabsichtigte. So räumte Trietsch 1929 zwar ein, zwischen dem Präsidenten und ihm hätten Differenzen bestanden, hinsichtlich einer großzügigen Einwanderung seien sie sich aber einig gewesen.53 Nach seiner Auffassung gab es „keinen krasseren Maximalisten als Theodor Herzl“, womit er die aktuelle ZO-Leitung beschuldigte, „eine antizionistische, dem Sinne des gefeierten Führers ins Gesicht schlagende Politik zu betreiben.“54 Während Trietsch seinen einstigen Kontrahenten nachträglich würdigte, dem er kurz vor dessen Tod am 3. Juli 1904 noch eine „Wolken-Kukuksheim-Politik“55 unterstellt hatte, bezog er sich nicht weniger lobend auf Nordau. Der ,Altmeister‘, den Trietsch in der Vergangenheit gleichermaßen kampfeslustig angegangen war, wurde von ihm nun als tatkräftiger „Maximalist“56 gefeiert. Ausgangspunkt für diese Kehrtwende war der sogenannte Nordau-Plan des Jahres 1919, der vorsah, binnen kurzer Zeit 500.000 Jüdinnen und Juden nach Palästina zu bringen.57 Wie bei Trietsch und Ballod handelte es sich hier um eine beträchtliche Zahl, führt man sich die Gesamtbevölkerung von 752.000 Menschen (1922) vor Augen, unter denen nur 83.790 Jüdinnen und Juden waren.58 Aufgrund der neuen politischen Lage pochte auch Nordau auf ein sofortiges Handeln, durch das langfristig mehrere Millionen jüdische Einwander*innen ins Land gelangen sollten. Sein ambitionierter Plan zeigt, wie vielfältig die Gruppe der Zionistinnen und 51 Trietsch, „Ansiedlungsmöglichkeiten“, Sp. 702. Zur literarischen Einordnung des Romans als utopischer Text: Peck, Im Labor der Utopie, bes. S. 212–232; Bloch, Das Prinzip Hoffnung (2. Band), S. 704. 52 Theodor Herzl, Altneuland. Roman, Wien, Basel, Stuttgart 1962, S. 167. 53 Trietsch, „,Auch‘ eine Erinnerung“, S. 233. 54 Ders., „Der Zionismus am Scheideweg“, Sp. 1021. 55 Ders., „Die Landfrage im Zionismus“, S. 35. 56 „Max Nordau – Maximalist“, in: Volk und Land 1 (1919), Nr. 33/34, Sp. 1021–1024; Davis Trietsch, „Zur neuesten Lage. Nordaus Berufung nach London“, in: ebd., Nr. 51/52, Sp. 1595– 1598. 57 Brenner, Israel, S. 104; Heinze-Greenberg, Europa in Palästina, S. 162 f. 58 Krämer, Geschichte Palästinas, S. 214.
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5. „Massenwanderung und Massensiedlung“
Zionisten war, die die Etablierung einer ,jüdischen Mehrheit‘ befürwortete. In Kreisen des sozialistischen Zionismus gab es ebenfalls Vertreterinnen und Vertreter, die einer schnellen, umfassenden Einwanderung das Wort redeten. Der von ihnen geprägte Leitspruch „Dunam um Dunam, Ziege um Ziege“59 spiegelt diese expansive Besitznahme von Böden durch Jüdinnen und Juden exemplarisch. Ihr Slogan, der auf das osmanische Flächenmaß Dunam60 rekurrierte, gewann in den 1930er Jahren an Brisanz und lässt sich im Sinne eines raumgreifenden ,Schritt um Schritt‘ interpretieren. Wie kontrovers die Dimensionen einer jüdischen Zuwanderung schon im vorangegangenen Jahrzehnt diskutiert worden waren, soll der folgende Abschnitt zeigen.
5.2 Die Auswahl der jüdischen Einwandernden Der 25. Delegiertentag der deutschen Zionistinnen und Zionisten fand im Dezember 1918 statt. Da die Teilnehmenden mit Blick auf Palästina „vor einer vollkommen ungeklärten Situation“61 standen, berief man für Ende Mai 1919 einen eigenen ,Palästina-Delegiertentag‘ in Berlin ein. Dort sollten Konzepte für künftige Siedlungen erarbeitet werden, wobei auch Davis Trietsch die Möglichkeit erhielt, seinen Standpunkt darzulegen.62 Diejenigen Delegierten, denen seine Zeitschrift Volk und Land bereits in die Hände gekommen war, konnten sich wohl denken, dass es ein besonders kritischer, angriffslustiger Vortrag werden würde. Und tatsächlich: In seinem Referat nahm Trietsch vorwurfsvoll Bezug auf die Prognosen führender Zionisten, darunter Jakob Oettinger (1872–1945), Lichtheim und Ruppin. Alle drei hatten zwar die Bedeutung einer ,jüdischen Majorität‘ anerkannt, allerdings betont, dass sie nur schrittweise, über Jahrzehnte erreicht werden könnte.63 Besonders in den Kalkulationen von Ruppin, der als Leiter des 1908 gegründeten ,Palästinaamts‘ der ZO ein hohes Ansehen über den Kreis der deutschen Zionist*innen hinaus genoss, sah Trietsch eine Gefahr für seine eigenen Visionen. Auf dem Delegiertentag 1918 sprach der „architect of the building“, wie Jabotinsky Ruppin einmal würdigte, von einer jährlichen Einwanderung von 20.000 Per59 Uri
152.
Avnery, Israel ohne Zionisten. Plädoyer für eine neue Staatsidee, Gütersloh 1969, S. 91,
60 1 Dunam wurde gemeinhin bei ländlichem Boden zu 920 m2, bei städtischem zu 900 m2 umgerechnet. „Was ist ein Dunam?“, in: Moriah 1 (1925), Nr. 2, S. 41. 61 Arthur Hantke, „Eröffnungsrede zum Palästina-Delegiertentag“, in: Volk und Land 1 (1919), Nr. 22/23, Sp. 679–684, hier Sp. 679. 62 Zum Programm des Delegiertentags, der vom 26. bis 29. 5. 1919 stattfand: „Zionistische Nachrichten. Palästina-Delegiertentag“, in: Neue Jüdische Presse 17 (1919), Nr. 18, S. 3. 63 Jakob Oettinger (Jacob Akiva Ettinger), Methoden und Kapitalbedarf jüdischer Kolonisation in Palästina, Berlin 1917, S. 110; Richard Lichtheim, Der Aufbau des jüdischen Palästina, Berlin 1919, S. 5; Arthur Ruppin, Zionistische Kolonisationspolitik (Bericht an den XI. Zionistenkongress), Berlin 1914, S. 28; ders., Der Aufbau des Landes Israel. Ziele und Wege jüdischer Siedlungsarbeit in Palästina, Berlin 1919, S. 65.
5.2 Die Auswahl der jüdischen Einwandernden
175
sonen in den ersten zehn Jahren.64 In den zwei darauffolgenden Dekaden ließe sich die Zahl auf 40.000 bzw. 60.000 Einwanderinnen und Einwanderer anheben. Im Grundsatz betonte Ruppin jedoch, dass sich die Aufnahmefähigkeit Palästinas nicht schematisch berechnen ließe: „Ein Land ist nicht ein Schiff oder ein Eisenbahnabteil, in dem nur für soundso viele Personen Platz ist. Die Aufnahmefähigkeit eines Landes wechselt vielmehr mit seinen jeweiligen Produktionsbedingungen. Es ist theoretisch denkbar, daß diese in Palästina später so günstig sein werden, daß Palästina die ganzen 15 Millionen Juden der Welt aufnehmen kann. Aber diese theoretische Möglichkeit besagt für die Aufnahmefähigkeit im gegenwärtigen Moment gar nichts.“65
Ballods Zahl von sechs Millionen Jüdinnen und Juden, die in den nächsten Jahren nach Palästina einwandern könnten, hielt Ruppin für wenig realistisch. Zu Recht kritisierte er, es sei der falsche Ansatz, die Ansiedlung von Menschen als ein Rechenexempel zu begreifen. Da Ballod ihm zufolge „weder der Eigenart Palästinas, noch insbesondere der Eigenart der Juden Rechnung“ trug, seien seine Zahlen zudem auf ein „xbeliebiges Normalvolk und ein xbeliebiges Normalland zugeschnitten.“66 Trietsch, der die spezifische Eigenart Palästinas und die der jüdischen Einwander*innen ebenfalls immer wieder unterstrichen hatte, hielt an Ballods Berechnungen fest. Für ihn lieferten sie einen wichtigen Anreiz, um in ein aktives Handeln zu kommen. Im Gegensatz zur Verzagtheit der ZO-Leitung und ihrer „minimalistischen Gehirne“67 erzeugten sie ihm zufolge Optimismus und Zuversicht. Eine solche Wirkung war für Trietsch letztlich entscheidend. Zwar räumte auch er ein, dass sich die Zukunft nicht exakt berechnen ließe, ebenso wie er Ballods Zahlen für den Anfang auf mindestens ein Zehntel reduziert wissen wollte, weil es eines Übergangs und einer Konsolidierungsphase bedurfte. Grundsätzlich hielt er aber an einer absehbaren Millionensiedlung fest.68 Die Essenz für einen erfolgreichen Zionismus war es seiner Meinung nach, „Pläne in großen Zügen zu haben.“69 Trietsch bezog sich hier erneut auf Herzl. Den ,Professionellen‘, wie Trietsch die Palästina-Experten in der ZO abschätzig nannte, fehlte dagegen eine solche Weitsicht. In einem Aufsatz von 1920 warf er ihnen vor: „Für die großen Einfachheiten genügen große Köpfe, die nicht durch den üblichen Wissenschaftsbetrieb verbildet sind, Köpfe freilich müssen es sein. So war auch der NichtNationalökonom Herzl imstande, einen Plan der Besiedlung Palästinas zu zeichnen, der 64 Alex Bein, „Arthur Ruppin: The Man and His Work“, in: The Leo Baeck Institute Year Book 17 (1972), Nr. 1, S. 117–141, hier S. 135. Siehe auch Bloom, Arthur Ruppin. Zu Ruppins Zahlen: Lichtheim, Der Aufbau, S. 9. 65 Arthur Ruppin, Der Aufbau des Landes Israel, S. 107 [Hervorh. im Original]. 66 Ebd., S. 109. 67 Trietsch, „Der Zionismus am Scheideweg“, Sp. 1118 f. 68 Ders., „,Vor dem Wandersturm‘“, in: Volk und Land 1 (1919), Nr. 44/45, Sp. 1373–1378, hier Sp. 1375; ders., „Ein Maximalprogramm der jüdischen Kolonisation“, S. 306. 69 Ders., „Zu Bergers Aufbau-Sorgen“, in: Jüdische Rundschau 25 (1920), Nr. 35, S. 272 f., hier S. 272.
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5. „Massenwanderung und Massensiedlung“
turmhoch über den Plänchen steht, wie sie von unseren ,Professionellen‘ jetzt – nach der Balfour-Erklärung, nach San Remo usw. vorgetragen werden.“70
Im Anschluss an seine Kritik, mit der er die akademische Ausbildung eines studierten Nationalökonomen Ruppin kurzerhand abqualifizierte, legte Trietsch auf der Palästinatagung einen eigenen Plan für eine großangelegte Einwanderung vor. Obwohl die meisten Delegierten mit Blick auf die neue politische Lage für eine Beschleunigung der Siedlungsarbeit warben, lehnten sie sein Vorhaben nach zweieinhalb Tagen stürmischer Debatte mehrheitlich ab. Ihrer Ansicht nach war Palästina in den nächsten Jahren nicht imstande, einer ,Massenansiedlung‘ Raum zu bieten, da es einer planmäßigen Vorbereitung des Landes und der Einwander*innen bedurfte.71 Für das Gros der Delegierten war „ein schnelles Hineinwerfen ungeeigneter und unvorgebildeter Massen“ nicht erstrebenswert, sondern allein „die Verwurzelung kleinerer, geeigneter Volksschichten.“72 Ihre Sprache hinsichtlich der betroffenen Menschen, die als formbare Objekte imaginiert wurden, die es ,umzupflanzen‘ galt, mag herablassend klingen. Die Verwendung einer objektifizierenden Bildlogik und Pflanzenmetaphorik, die Kathrin Wittler etwas umständlich als „vegetabile Transplantationsvokabeln“73 bezeichnet hat, entsprach jedoch dem Sprachstil der Zeit. Nachdem sich die deutschen Zionistinnen und Zionisten auf eine schrittweise Zuwanderung im kleinen Rahmen verständigt hatten, versuchte Trietsch auf dem zwölften Kongress, der im September 1921 in Karlsbad stattfand, die ZO von seinen Plänen zu überzeugen. Seine Hoffnungen richteten sich in erster Linie auf den neuen Präsidenten Chaim Weizmann, der in früheren Reden eine Einwanderung von 60.000 Menschen pro Jahr für realistisch gehalten hatte.74 Weizmanns Prognosen, die er kurz nach Ende des Krieges publik gemacht hatte, resultierten dem Wiener Zionisten Adolf Böhm (1873–1941) zufolge aus der damals undurchsichtigen politischen Lage.75 So waren unter anderem die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten Palästinas in der unmittelbaren Nachkriegszeit gar nicht absehbar, weshalb Weizmann seine Zahlen in den nächsten Jahren auch revidierte. Zwar bildete eine Einwanderung für ihn ebenfalls weiterhin die Voraussetzung für den Erfolg des Zionismus, doch ließ sie sich mit 60.000 Menschen pro Jahr vorläufig nicht realisieren.76 Trietsch, der Weizmann noch von der gemeinsamen Verlagsarbeit 70 Ders., „Grundlagen des Aufbauwerkes“, in: Jüdische Rundschau 25 (1920), Nr. 65/66, S. 506 [Hervorh. im Original]. 71 Beispielhaft für diese Auffassung: Elias Auerbach, „Das Tempo der Einwanderung“, in: Volk und Land 1 (1919), Nr. 20/21, Sp. 631–642. 72 „Der Palästina-Delegiertentag der Zionistischen Vereinigung für Deutschland“, in: Neue Jüdische Presse 17 (1919), Nr. 22, S. 1. 73 Kathrin Wittler, Morgenländischer Glanz. Eine deutsche jüdische Literaturgeschichte (1750– 1850), Tübingen 2019, S. 344. 74 Böhm, Die Zionistische Bewegung (3. Teil), S. 23. 75 Ebd., S. 17. 76 Chaim Weizmann, „Juden und Araber“, in: ders., Israel und sein Land. Reden und Ansprachen, hrsg. vom Keren Hajessod, London 1924, S. 33–36, hier S. 33.
5.2 Die Auswahl der jüdischen Einwandernden
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im JV kannte, war von dieser Kehrtwende bitter enttäuscht. Er führte sie nicht auf äußere Entwicklungen zurück, sondern auf innere Strukturen in der ZO. Vor diesem Hintergrund sah er in Weizmann einen „Gefangenen der Organisation“77, der nicht offen seine Meinung vertreten konnte, ohne damit rechnen zu müssen, sein Amt zu verlieren. Auf dem Karlsbader Kongress wurden die Möglichkeiten einer großzügigen Einwanderung ebenfalls hitzig debattiert. In ihren Referaten stellten Trietsch und Selig Soskin klar, dass eine großzügige Zuwanderung dringend notwendig sei.78 Neben ihnen forderten auch andere Delegierte, in erster Linie aus Osteuropa, eine raschere Einwanderung. Sie bedauerten besonders, dass die ZO bislang keinen systematischen Ansiedlungsplan vorlegen konnte, waren sie mit der Not der Auswanderungswilligen doch meist aus nächster Nähe konfrontiert.79 Kritik kam darüber hinaus aus Palästina. Der Gewerkschaftsbund Histadrut, der 1920 in Haifa gegründet worden war, beklagte, man hätte in der ZO bislang zu wenig getan. Die Vertreterinnen und Vertreter der jüdischen Arbeiterschaft unterstellten der zionistischen Leitung, „nicht die günstige Gelegenheit für den Aufbau Palästinas ausgenützt“80 zu haben. Die Vorwürfe der Histadrut und einzelner Delegierten, wie Trietsch und Soskin, wies die ZO-Leitung zurück. Sie warnte vor einer Überspannung der Hoffnungen, die der neue politische Status unter vielen Zionistinnen und Zionisten bewirkt hatte.81 Zwar zeigte auch sie sich angesichts des Palästina-Mandats hoffnungsvoll, doch verwiesen ihre führenden Köpfe auf den Hochkommissar, der einer freien Einwanderung schon im Juli 1920 eine Absage erteilt hatte.82 Demnach sei der ZO gestattet worden, maximal 16.500 Jüdinnen und Juden jährlich ins Land zu bringen – unter der Auflage, im ersten Jahr ihr Fortkommen sicherstellen zu können.83 Die Haltung der britischen Regierung sollte sich aufgrund von Spannungen in Palästina weiter verschärfen. Infolge der sogenannten Maiunruhen 1921, bei denen es an mehreren Orten zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Arbeiterzionist*innen und arabischen Palästinenser*innen kam, die vor allem auf jüdischer Seite Tote und Verletzte forderten, wurde vorläufig ein Einwanderungsstopp verhängt. Im Juni desselben Jahres erließ London eine erste Immigration Ordinance, die Regeln für die Vergabe von Visa aufstellte. Die Verordnung wurde in den da77 Davis Trietsch, „Aufbau und Abwehr“, in: Jüdische Rundschau 26 (1921), Nr. 69, S. 497 f., hier S. 498. 78 Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des XII. Zionisten-Kongresses, Berlin 1922, S. 351, 369, 421. 79 Ebd., S. 414–417. 80 Ebd., S. 325. Zur Histadrut: Jonathan Preminger, Labor in Israel. Beyond Nationalism and Neoliberalism, Ithaca 2018; Manuela Maschke, Die israelische Arbeiterorganisation Histadrut. Vom Staat im Staate zur unabhängigen Gewerkschaft, Frankfurt a. M. 2003. 81 Siehe exemplarisch die Rede von Ussischkin: Stenographisches Protokoll (1922), S. 262–269. 82 Ebd., S. 352. 83 Sir John Hope Simpson, Palestine Report on Immigration, Land Settlement and Development, London 1930, S. 120.
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5. „Massenwanderung und Massensiedlung“
rauffolgenden Jahren mehrmals aktualisiert. Sie sah vor, dass alle Einwanderinnen und Einwanderer, also nicht nur Jüdinnen und Juden, ihr Fortkommen in Palästina durch Eigenkapital, eine berufliche Eignung oder im Land lebende Verwandte bzw. andere Unterstützungspersonen sicherzustellen hatten. Für ein Kapitalistenzertifikat, wie es damals hieß, waren mindestens 1000 Pfund Sterling vorzuweisen.84 Das Churchill-Memorandum vom Juni 1922 verfügte zudem, die wirtschaftliche Aufnahmefähigkeit Palästinas als künftige Richtschnur heranzuziehen.85 Eine Zuwanderung von mehreren hunderttausend Einwander*innen im Jahr, wie Trietsch und Soskin forderten, war angesichts dieser Haltung undurchführbar. Zwar bot das Memorandum mit der ,wirtschaftlichen Aufnahmefähigkeit des Landes‘ einen dehnbaren Begriff, der sich breiter interpretieren ließ. Eine freie Zuwanderung konnte letztlich aber nicht im Interesse der ZO liegen. Ihre begrenzten finanziellen Mittel erlegten ihr Zurückhaltung auf, ebenso wie die Verpflichtung dem britischen Mandatar gegenüber, bei der Zuteilung von Einwanderungszertifikaten vielversprechende Kandidatinnen und Kandidaten auszuwählen.86 Die Organisation sah sich dadurch gezwungen, die Schaffung einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit hintanzustellen. Auch deshalb stellte Ruppin in seinem Kongressreferat klar, eine große Einwanderung sei wünschenswert, ihr Gelingen hinge aber vor allem von Geldern ab, die derzeit nicht zur Verfügung stünden.87 Wie schwierig sich die Integration der Eingewanderten in der Praxis gestaltete, kam auf dem Kongress ebenfalls als ein wichtiges Argument gegen Trietschs Pläne zur Sprache. So warf der in Bessarabien geborene Zionist Eliezer Joffe (1882–1944) Trietsch vor, seit 15 Jahren nicht mehr im Land gewesen zu sein. Joffe war für den Karlsbader Kongress extra aus Palästina angereist, wo er sich 1910 niedergelassen hatte. Im Gegensatz zu ihm konnte sich Trietsch, so Joffe, von den neueren Bedingungen und Möglichkeiten vor Ort daher gar kein Bild machen.88 Ein mehrfach an Trietsch gerichteter Vorwurf lautete, dass ausgerechnet diejenigen am eifrigsten für eine großzügige Zuwanderung warben, die am wenigsten über die aktuellen Verhältnisse im Land wüssten. Dieser berechtigten Kritik muss entgegengehalten werden, dass sich Trietsch kurz vor dem Kongress, nämlich von Oktober 1920 bis April 1921, in Palästina aufgehalten hatte. Offenbar war ihm sein Status als ein praktisch erprobter ,Palästinakenner‘ trotzdem aberkannt worden.89 Zu den landeskundigen Pionierinnen und Pionieren zählte Trietsch, dessen Lebensmittel84 Zu den verschiedenen Einwanderungskategorien: Victoria Kumar, Land der Verheißung – Ort der Zuflucht. Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945, Innsbruck 2016, S. 48–51. 85 Böhm, Die Zionistische Bewegung (3. Teil), S. 238–243. 86 Baruch Ben-Avram, „Das Dilemma des Zionismus nach dem Ersten Weltkrieg“, in: Historische Zeitschrift 244 (1987), Nr. 1, S. 605–631, hier S. 615, 620. 87 Ruppins Referat wurde als eigenständige Publikation von der ZO veröffentlicht: Arthur Ruppin, Wirtschaftliche Tätigkeit in Palästina, Jerusalem, London 1922, S. 34. 88 Stenographisches Protokoll (1921), S. 400. 89 „Davis Trietsch“, in: Jüdische Presse 6 (1920), Nr. 15/31, S. 3; „Davis Trietsch über seine Palästinareise“, in: Jüdische Rundschau 26 (1921), Nr. 33/34, S. 229.
5.2 Die Auswahl der jüdischen Einwandernden
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punkt sich seit 1908 in Berlin befand, aus Sicht der Aktivistinnen und Aktivisten im Jischuv jedenfalls nicht mehr. Die jüdische Einwanderung nach Palästina verlief in den Jahren zwischen den Weltkriegen ungleichmäßig. Von 1920 bis 1923 gelangten jedes Jahr etwas mehr als 8000 Menschen ins Land, 1924 bis 1926 waren es insgesamt 62.000. Ab 1927 sank ihre Zahl infolge einer Wirtschaftskrise, wodurch nur noch ca. 3000, 1928 etwas mehr als 2000, Jüdinnen und Juden einwanderten.90 Gerade in Zeiten ökonomischer Krisen war die zionistische Leitung darauf bedacht, nur eine kleine Zahl von Menschen nach Palästina zu bringen. Die wachsende Arbeitslosigkeit im jüdischen Sektor 1927 sollte durch zusätzliche Erwerbslose nicht vergrößert werden. Als Leitziel wurde daher die sogenannte Auslese der Ausreisewilligen ausgegeben, entsprechend dem nur bestimmte Personen für eine Niederlassung in Frage kamen. In seinem Aufsatz „Die Auslese des Menschenmaterials für Palästina“, der 1918 in Martin Bubers Zeitschrift Der Jude erschien, hatte Ruppin bereits auf die Notwendigkeit einer solchen Auswahl gedrängt.91 Der Text fällt insgesamt durch radikale Töne auf. Vom Zeitgeist und den Erfahrungen des Weltkriegs offenbar nachhaltig geprägt, sprach Ruppin, der sonst für sein mitfühlendes Wesen bekannt war, von einer „Ausmerzung der Antisozialen“, damit sie in Palästina keine „Geschwüre am Leibe“92 der anderen bildeten. Seiner Ansicht nach mussten die Kandidatinnen und Kandidaten hinsichtlich ihrer beruflichen, gesundheitlichen und charakterlichen Eignung streng geprüft werden. Personen, die eine landwirtschaftliche Ausbildung vorweisen konnten, waren stets vorzuziehen. Erst danach folgten Handwerker und Industriearbeiter, an letzter Stelle kamen die Freiberufler, Kaufleute und Pensionäre.93 Frauen wie Männer hatten zudem körperlich und geistig gesund zu sein, ebenso wie sie von einem idealen Gemeinschaftssinn geleitet werden sollten. Eine wichtige Zielgruppe bildeten für Ruppin Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren. Sie sollten über einen längeren Zeitraum landwirtschaftlich ausgebildet werden, um ihr Wissen an die nachfolgenden Generationen weitergeben zu können.94 Männer und Frauen, die ein gewisses Eigenkapital besaßen und nicht älter als 30 Jahre waren, eigneten sich dagegen als sogenannte Kleinsiedler. In Ruppins Vorstellung würden sie in Palästina über ein kleines Stück Land verfügen, auf dem sie sich durch Gemüse, Obst‑ und Kleintierzucht selbst versorgen sollten. Eine Einwanderung von Jüdinnen und Juden fortgeschrittenen Alters wollte er allerdings nicht fördern. Angesichts der schwierigen Lebensbedingungen in Palästina hielt 90 Jewish Immigration to Palestine (1919–1941), abrufbar unter: https://www.jewishvirtual library.org/jewish-immigrantion-to-palestine-1919-1941 (Zugriff 12. 3. 2022). 91 Arthur Ruppin, „Die Auslese des Menschenmaterials“, in: Der Jude 3 (1918–1919), Nr. 8–9, S. 373–383. 92 Ebd., S. 382. Zur Verortung der sozialdarwinistischen Argumentation Ruppins s. Raphael Falk, Zionism and the Biology of Jews, Cham 2017, S. 65–70. 93 Ruppin, „Die Auslese des Menschenmaterials“, S. 376. 94 Ebd., S. 378 f.
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5. „Massenwanderung und Massensiedlung“
er es für das Beste, in erster Linie junge, körperlich zupackende Einwanderinnen und Einwanderer anzuwerben. Für ältere Personen mit finanziellen Mitteln stellte er dagegen die Arbeit eines ,Pflanzers‘ in Aussicht, wobei ihre Zahl mit Blick auf die Gruppe der sozialistischen Zionistinnen und Zionisten nicht überhandnehmen sollte. Ohnehin fasste Ruppin darunter nur den Kreis der 40- bis 50-Jährigen, während Menschen jenseits der 50 von ihm nicht bedacht wurden.95 Den Grundsätzen von Ruppin, der zu diesem Zeitpunkt 42 Jahre alt war, schloss sich unter anderem Richard Lichtheim an. Er betonte, eine strenge Auswahl sei in Zukunft unabdingbar, woraufhin Trietsch ihn abfällig als „Kirchenvater des Minimalismus“96 bezeichnete. Auch die zionistische Leitung hielt eine genauere Überprüfung der Einwandernden für sinnvoll. Sie delegierte diese Aufgabe an die ,Palästina-Ämter‘, die in der Zwischenkriegszeit in mehreren Städten der jüdischen Diaspora gegründet wurden, zunächst 1918 in Wien. Sie waren dafür verantwortlich, die von den britischen Behörden ausgegebenen Einwanderungszertifikate „nach Maßgabe der Würdigkeit der Bewerber“97 zu verteilen. Während die ,Kapitalistenvisa‘ von den britischen Konsulaten direkt ausgegeben wurden, waren sie für Bewerber*innen zuständig, die kein Eigenkapital besaßen. Wie Ruppin bevorzugte man unter ihnen junge motivierte Pionierinnen und Pioniere (Chaluzot/Chaluzim), die die landwirtschaftliche Erschließung Palästinas aktiv in die Hand nehmen sollten.98 Ihr Aktionismus war meist sozialistisch motiviert, weshalb arbeiterzionistische Gruppen im Jischuv ihre Niederlassung in Palästina besonders unterstützten. Während sich die sozialistischen Zionistinnen und Zionisten ebenfalls für eine großzügige Einwanderung aussprachen, favorisierten sie somit im Gegensatz zu Trietsch eine ihren ideologischen Idealen entsprechende Auswahl. Trietsch lehnte eine solche ,Auslese‘, wie es damals gemeinhin hieß, konsequent ab. Ausschlaggebend hierfür waren drei Gründe: Erstens verfolgte er die Rettung aller Jüdinnen und Juden, die der Hilfe bedurften, egal wie alt sie waren. Seiner Überzeugung nach hatten somit auch ältere Personen ein Anrecht auf Sicherheit, zumal für viele ein Lebensabend in Palästina „die Erfüllung einer Sehnsucht bedeuten würde.“99 Zweitens stellte für ihn eine jüdische Mehrheitsbildung das wichtigste Ziel der nächsten Jahre dar, die von einer Einwanderung älterer Menschen zahlenmäßig profitierte. So hob Trietsch zwar hervor, die Auswahl sei einer wahllosen Zuwanderung prinzipiell vorzuziehen, doch bliebe „die rasche Erzielung der Mehrheit im Lande von so überragender Wichtigkeit, daß man auch Unzuträglichkeiten mit in den Kauf nehmen könnte.“100 Diesen Punkt griff der Breslauer Zionist Fritz Stern 95 Ebd., S. 379. Siehe auch Halpern/Reinharz, Zionism and the Creation of a New Society, S. 201, 205. 96 Lichtheim, Der Aufbau, S. 7; Trietsch, „Aufbau und Abwehr“, S. 497. 97 Böhm, Die Zionistische Bewegung (3. Teil), S. 58; Martin Rosenblüth, „Die PalästinaAemter“, in: Gerhard Holdheim (Hg.), Zionistisches Handbuch, Berlin 1923, S. 86–90. 98 Ruth Fiedler/Herbert Fiedler (Hg.), Hachschara. Vorbereitung auf Palästina. Schicksalswege, Berlin 2004, S. 12, 16. 99 Trietsch, „Massenwanderung und Massensiedlung“, Sp. 69. 100 Ebd. [Hervorh. im Original]. Siehe auch ders., Probleme der Massenwanderung, S. 419.
5.2 Die Auswahl der jüdischen Einwandernden
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berg (1895–1963) auf, der wie Trietsch von der Notwendigkeit einer unmittelbaren Aktion überzeugt war. Er sah in einer strengen Auswahl, auch wegen des jüdischen Bevölkerungsrückgangs während des Krieges, ebenfalls keine Lösung.101 Drittens und letztens brachte die Einwanderung älterer Menschen Trietsch zufolge auch Vorteile. Schließlich besaßen sie im Unterschied zu den jungen, meist mittellosen Chaluzot und Chaluzim häufig Eigenkapital. Dadurch waren sie in der Lage, die Kaufkraft und den Konsum in Palästina stärker anzukurbeln, die dem jüdischen Sektor zugutekommen sollten.102 Mithilfe ihres Ersparten und/oder einer Rente konnten sie sich eine Existenz als sogenannte Kleinsiedler aufbauen, deren Gruppe Trietsch bis zu seinem Tod favorisierte. Die Anwendung und Hinzuziehung geeigneter Methoden und moderner Hilfsmittel konnten, so seine Überzeugung, auch Einwander*innen fortgeschrittenen Alters ein gutes Auskommen in Palästina sichern. Die Widerfahrnisse und Kalamitäten, mit denen die Neuankömmlinge in Palästina oft konfrontiert waren, konnten Trietsch zufolge dank der vorzüglichen ,Qualitäten‘ der jüdischen Einwanderinnen und Einwanderer überwunden werden. Seiner Ansicht nach hatten Jüdinnen und Juden, die 1919 insgesamt rund 15 Millionen und 1925 18 Millionen zählten, einen überproportional großen Anteil „am allgemeinen Fortschritt“103 in der Welt. Anhand von statistischen Daten und Grafiken, die seine Thesen illustrieren sollten, bescheinigte Trietsch ihnen eine besonders hohe „Geistigkeit“104. Den Grundsatz moderner Statistik, wonach Korrelation nicht gleich Kausalität ist, wandte er dabei nicht an. Stattdessen galten ihm die bisher erbrachten ,Qualitäten‘ kurzerhand als Beweis für das künftige Gelingen einer generationenübergreifenden Einwanderung jüngerer und älterer Menschen nach Palästina, ohne die spezifischen Verhältnisse des Landes oder die individuellen Fähigkeiten der Eingewanderten in Rechnung zu stellen. Ausgehend vom jüdischen Volk, das für ihn stets vor dem Land rangierte, hielt Trietsch den ,Zionswächtern‘ in der ZO entgegen: „Bisher hat man sich viel zu sehr von den Verhältnissen – von den vermeintlichen oder tatsächlichen Verhältnissen – des Landes bestimmen lassen. Das ist grundfalsch. Der bestimmende Faktor bei der jüdischen Kolonisation in Palästina ist unser jüdischer Mensch und seine Fähigkeiten.“105 101 Fritz Sternberg, „Die Auslese des Menschenmaterials. Eine Gefahr?“, in: Volk und Land 1 (1919), Nr. 5, Sp. 129–136, hier Sp. 130. Mehrere tausend Jüdinnen und Juden verließen Palästina infolge von Flucht und Ausweisungen. Zu den Abschiebungen, die auf Befehl der türkischen Regierung erfolgten: Osik Moses, Deportation of the Jewish Population in Palestine During World War I (2015), abrufbar unter: https://www.academia.edu/11548530/Deportation of the Jewish population in Palestine during World_War_I (Zugriff 12. 3. 2022). 102 Stenographisches Protokoll (1921), S. 367. 103 Trietsch, Der Wiedereintritt der Juden, S. 5 f. 104 Ders., „Grundlagen jüdischer Weltgeltung“, in: Volk und Land 1 (1919), Nr. 1, Sp. 5–10. Zu den Zahlenangaben: ders., Palästina und die Juden, S. 38; ders., Der Wiedereintritt der Juden, S. 10. 105 Stenographisches Protokoll (1921), S. 371.
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5.3 Intensiv statt extensiv: Debatten um eine maximale Bodennutzung Die britische Mandatsregierung beschloss mehrere neue Einwanderungsrichtlinien, die weniger restriktiv zu Buche schlugen als die osmanischen Beschränkungen. Eine freie Einwanderung von Jüdinnen und Juden sahen sie allerdings nicht vor. Auch die Grenzziehung des Mandatsgebietes hatten sich die Zionistinnen und Zionisten anders erhofft, wie Böhm rückblickend bemerkte.106 Führende Vertreter wie Nahum Sokolow (1859–1936), von 1931 bis 1935 Präsident der ZO, hatten im Januar 1919 eine Nordgrenze entlang des Flusses Litani anvisiert, der im heutigen südöstlichen Libanon verläuft. Im Süden sollte das Mandatsgebiet bis nach al-Arish, im Osten wenn möglich über den Jordan reichen. Die von Sokolow und anderen auf der Friedenskonferenz von Versailles präsentierten Grenzverläufe, die kein „greater Palestine of Solomon“107 vorsahen, aber den historischen Grenzen nach ein ausreichend großes Territorium, wies man zurück. In Absprache mit der französischen Mandatsregierung, der das Völkerbundmandat für den Libanon erteilt worden war, fixierten die Briten die nördliche Grenze entsprechend dem heutigen israelisch-libanesischen Grenzverlauf. Gebiete im Süden der Provinz Damaskus, die zu osmanischer Zeit noch zu Palästina gehört hatten, gingen an Syrien, das ebenfalls unter französischem Mandat stand. Das Mandatsgebiet im Süden reichte bis nach Rafah, im Osten kam es später zur Abtrennung Transjordaniens. Während Palästina vor dem Ersten Weltkrieg noch rund 38.000 km2 umfasst hatte, schrumpfte das Mandatsgebiet nun auf etwa 23.000 km2 zusammen.108 Davis Trietsch verfolgte die territorialen Verhandlungen von Berlin aus. Im Hinblick auf seine eigenen Auswanderungspläne und der sich abzeichnenden Verkleinerung des Mandatsgebiets wandte er sich im Juli 1920 selbst an das Kolonialministerium in London, um Zugeständnisse für eine jüdische Einwanderung nach Zypern zu erwirken. Ohne selbst einem Juden äußerlich zu ähneln – so die Beschreibung durch einen Ministeriumsmitarbeiter, die augenscheinlich als Kompliment gemeint war und antisemitischen Wahrnehmungsmustern folgte –, kehrte er in flüssigem Englisch die Vorzüge einer jüdischen Einwanderung hervor.109 In den Augen von Trietsch ließ sich Palästina nicht schnell genug vorbereiten, um die große Zahl osteuropäischer Geflüchteter aufzunehmen. Daher hielt er eine Besiedlung Zyperns, die die Entwicklungen in Palästina sinnvoll ergänzen sollte, weiterhin für vorteilhaft. Die Antwort des Colonial Office, das sich in der Zwischenkriegszeit mit den Unabhängigkeitsbestrebungen der griechischen Zyprer*innen konfrontiert 106 Böhm,
Die Zionistische Bewegung (3. Teil), S. 29, 281. „Zion’s Future an Issue“, in: The Baltimore Sun, 4. 1. 1919, S. 2; „Disposal of Territory Taken from the Turk“, in: Lincoln Evening Journal, 4. 1. 1919, S. 3. 108 A. Bm., „Palästina. IV. Gegenwart. Grenzen und politischer Status“, in: Jüdisches Lexikon (Bd. 4.1 Me-R) Sp. 698 f., hier Sp. 699. 109 „[Trietsch] is a German, and a Jew by religion (though he did not look at all as if he were a Jew by descent)“. CO 67/201/37152, 157. 107
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sah, fiel unmissverständlich aus: „The answer is of course ‚no‘. Mr. Treitsch [!] has learnt nothing. Anyhow no German need apply however Hebraic.“110 Aus der klaren Absage des Kolonialministeriums spricht der vorangegangene Weltkrieg. Anders als bei seinen Verhandlungen im Jahr 1899 reagierte man in London nun äußerst sensibel auf die deutsche Staatsangehörigkeit von Trietsch, wobei sich seine polemischen Kriegsschriften noch erschwerend auf das Ersuchen ausgewirkt haben dürften. Da Trietsch während des Krieges mit Klarnamen111 veröffentlicht hatte, wird das Colonial Office über seine Tätigkeiten informiert gewesen sein. Dafür spricht auch die ablehnende Haltung des Passport Control Office in London, das ihm zwei Jahre später zunächst kein Visum für Palästina und Zypern ausstellen wollte, da man sich dort seiner antibritischen Kriegspolemik erinnerte.112 Trietschs alter Forderung, auch die Nachbarländer mit einzubeziehen, schloss sich die ZO-Leitung nach dem Krieg nicht an.113 Sie konzentrierte sich in den 1920er Jahren ausschließlich auf Landkäufe im engeren Palästina. Zu ihren wichtigsten Erwerbungen zählten Käufe in der fruchtbaren Jesreelebene, Ruppin zufolge „die alte Kornkammer Palästinas“114, wo größere Flächen ab 1920 in den Besitz der ZO übergingen. Im Unterschied zur Einwanderung nahm der jüdische Landerwerb, an dem weitere Organisationen wie die JCA (ab 1924 unter dem Namen PICA) und Privatpersonen beteiligt waren, bis in die 1930er Jahre kontinuierlich zu. Während jüdische Reflektant*innen in osmanischer Zeit keine Böden rechtmäßig erwerben konnten, es sei denn, es handelte sich bei ihnen um türkische Staatsangehörige, waren Landkäufe seit Oktober 1920 von Gesetzes wegen erlaubt.115 Dadurch ergaben sich neue Kaufoptionen, die allerdings an die finanziellen Mittel der ZO gebunden blieben. Im Gegensatz zur PICA, die 1925 fast die Hälfte des jüdischen Bodenbesitzes in Palästina auf sich vereinte, waren die Gelder der ZO und ihrer Institutionen äußerst limitiert. Auf den Jüdischen Nationalfonds (JNF), der seit seiner Gründung 110 „Immigration
of Jews to Cyprus“, 28. 7. 1920, in: CO 67/201/37152, 156. Kriegsliteratur erschien häufig unter Pseudonym oder ohne Namensnennung, um die eigene publizistische Karriere längerfristig nicht zu gefährden. Stefan Noack, „Der Zusammenbruch der alten Welt. Ein politisch-militärisches Gedankenexperiment“, in: Uwe Puschner u. a. (Hg.), Laboratorium der Moderne im Wilhelminischen Kaiserreich, Frankfurt a. M. 2015, S. 231–247, hier S. 239. 112 The Zionist Organisation. Central Office an Davis Trietsch, 23. 5. 1922. CZA, A104/2. Dass Trietschs Kriegsschriften im englischsprachigen Ausland registriert wurden, belegt die Publikation Emil Zimmermann (Hg.), The German Empire of Central Africa. As the Basis of a New German World-Policy, New York 1918. In der Einleitung der Broschüre werden die Kernideen von Trietsch eingehender erläutert. Siehe ebd., S. xxix–xxxiii. 113 Trietsch, „Der Zionismus am Scheideweg“, Sp. 1119–1022. 114 Arthur Ruppin, Die landwirtschaftliche Kolonisation der Zionistischen Organisation in Palästina, Berlin 1925, S. 70. Die Jesreelebene (Emek Jisreel) erstreckt sich von der Bucht Haifas bis zum Jordan. Der ZO-Besitz in diesem Gebiet betrug 1925 109.000 Dunam. Böhm, Die Zionistische Bewegung (3. Teil), S. 419. 115 Krämer, Geschichte Palästinas, S. 285. 111
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1901 neben dem Bodenkauf vor allem für Aufforstungs‑ und Bewässerungsprojekte zuständig war, kamen 1925 nur 17,7 Prozent der Böden.116 Die dem JNF zur Verfügung stehenden Gelder bemaßen sich nach Spenden und Jahresbeiträgen der organisierten Zionistinnen und Zionisten. Eine zentrale Rolle spielte auch der 1920 gegründete ,Palästina-Aufbaufonds‘ (Keren Hayesod), der seinem Namen nach den Aufbau des Landes verfolgte. Um im größtmöglichen Maße aktiv werden zu können, definierte er sich als ein neutraler Spendenfonds, der auch Nichtzionist*innen adressierte. Mithilfe internationaler Zuwendungen, vor allem aus den USA, investierte er bis 1929 1,2 Millionen Pfund Sterling in ländliche Siedlungen.117 Bemessen auf neun Jahre war das eine ziemlich geringe Summe, sodass die Konsolidierung und der Ausbau bestehender Siedlungen in den Vordergrund und die Gründung neuer Siedlungen in den Hintergrund traten.118 Im Jahr 1925 betrug der jüdische Bodenbesitz nur vier Prozent der Gesamtfläche Palästinas (ohne die Wüste Negev). Neben den fruchtbaren Talebenen im Norden war das damals noch dünn besiedelte Küstengebiet, das sich für den prosperierenden Orangenanbau besonders eignete, unter jüdischen Reflektantinnen und Reflektanten am begehrtesten.119 Überblickt man die finanzielle Situation der ZO und ihrer Institutionen, so waren ihnen auch beim Bodenkauf letztlich Grenzen gesetzt, die durch wachsende Bodenspekulationen in der Zwischenkriegszeit zementiert wurden. Trietsch schlussfolgerte aus diesen Umständen, es müsse eine möglichst große Anzahl von Menschen auf einer möglichst kleinen Fläche angesiedelt werden. Damit das gelingen konnte, forderte er eine intensive Bodenbewirtschaftung. Mit ihr hatte er bereits im Prospekt der JOKG geworben, da sie eine insgesamt höhere Ertragssteigerung erwarten ließ.120 Wie im Falle von Greater Palestine, das er unter Bezugnahme auf Philo von Alexandrien zur einstigen Heimat des jüdischen Volkes stilisiert hatte, griff Trietsch auch hier auf antike Quellen zurück. Aus ihnen zog er „Parallelen für dichteste Siedlungsformen in Palästina“121, so mithilfe des antiken Historikers Flavius Josephus (37/38 n. u. Z. – ca. 100 n. u. Z.), der die Gegend um den See Genezareth in seinen Antiquitates Judaicae als dicht besiedelt beschrieben hatte. Die Königreiche Israel und Judäa seien Josephus zufolge einst „Gartenstadt-
116 Böhm, Die Zionistische Bewegung (3. Teil), S. 418. Zum JNF siehe Shilony, Ideology and Settlement; Yossi Katz, The Land Shall not be Sold in Perpetuity. The Jewish National Fund and the History of State Ownership of Land in Israel, Berlin, Jerusalem 2016. 117 „Keren Hajessod“, in: Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden (3. Band), Berlin 1928, Sp. 654–656, hier Sp. 655. Die Einnahmen des JNF waren noch geringer. Sie beliefen sich zwischen 1901–1928 auf 2,4 Mio. Pfund Sterling. „Keren Kajemeth LeJisrael“, in: ebd., Sp. 656–660, hier Sp. 659. 118 Böhm, Die Zionistische Bewegung (3. Teil), S. 415 f. 119 Ruppin, Die landwirtschaftliche Kolonisation, S. 69. 120 „Der Prospekt der ,Jüdischen Orient-Kolonisations-Gesellschaft‘“, S. 52. 121 Davis Trietsch, „Die Fassungskraft Palästinas (6. Fortsetzung und Schluß)“, in: Leipziger Jüdische Zeitung 3 (1924), Nr. 3, S. 1.
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Land“122 gewesen, in dem auf kleiner Anbaufläche und in Terrassenkultur ertragreich gewirtschaftet worden sei. Diese und andere Rückverweise gaben Trietschs Ideen ihr legitimatorisches Gepräge. Um die Bodenflächen in Palästina bestmöglich nutzen zu können, bedurfte es Trietsch zufolge zweier Mittel. Zum einen sollten sich Jüdinnen und Juden moderner Techniken bedienen, die sich in anderen Ländern bereits bewährt hatten. Bei seiner Forderung nach einer „Umformung der Landwirtschaft zu einer Industrie und einer Wissenschaft“123 orientierte er sich vor allem an den Schriften US-amerikanischer Reformer. Trietsch zitierte so den New Yorker Architekten Philip G. Hubert (1830–1911), der in seinem Buch Liberty and a Living (1889) für moderne landwirtschaftliche Methoden eingetreten war.124 In Anlehnung an Hubert musste man auch in Palästina, so Trietsch, nicht „zum primitiven Pflug, zum schlechtgenährten Ochsen, zu unsicheren Erträgen“ zurück, sondern „vorwärts, zu neuen Formen des Lebens.“125 Eine moderne, effiziente Landwirtschaft sollte das Ziel sein. Zur Intensivierung der Bodenbewirtschaftung bedurfte es zum anderen ihrer Verkleinerung. Durch kleinere Anbauflächen sollte die Ertragfähigkeit des Landes gesteigert und gleichzeitig für eine größere Zahl von Menschen eine Lebensgrundlage geschaffen werden. 1905 hatte Trietsch erstmals gefordert, an eine Familie mit durchschnittlich fünf Mitgliedern nicht mehr als 1 Hektar (10.000 m2) Boden auszugeben.126 Eine maximale Bodenfläche, die er später mit einem halben Hektar angab, auf dem Kongress 1921 dann nur noch mit 500 bis 1000 m2, sollte eine engmaschigere Besiedlung ermöglichen.127 Im Gegensatz zu einer extensiven Bodenbewirtschaftung, die große Flächen etwa für den Anbau von Getreide benötigte, boten Kleinsiedlungen für Trietsch zudem den Vorteil, den einzelnen Familien zu einer sicheren Existenz im Sinne der Selbstversorgung zu verhelfen. Sie sollten damit in die Lage versetzt werden, ihren täglichen Bedarf an Obst, Gemüse und tierischen Produkten weitgehend eigenständig zu decken. Eine solche autarke Lebensführung ließ sich Trietsch zufolge nur durch einen intensiven Gartenbau realisieren.128 Trietsch bezog sich auch hier auf US-amerikanische Vorbilder im Umfeld der sogenannten back-to-the-land movement. Die Reformbewegung war Ende des 19. Jahrhunderts durch mehrere Publikationen in Erscheinung getreten, darunter Huberts Liberty and a Living. Ihre führenden (männlichen) Köpfe strebten nach einer autonomen Form des friedlichen Zusammenlebens, die sie im ländlichen 122 Davis
Trietsch, undatiert. Typoskript o. T. [1923]. CZA, A104/89. Jüdische Emigration und Kolonisation, S. 83. 124 Philip G. Hubert, Liberty and a Living, New York, London 1889. 125 Zit. nach Trietsch, Jüdische Emigration und Kolonisation, S. 330 [Hervorh. im Original]. 126 Ders., „Die Gartenstadt“, in: Altneuland 2 (1905), Nr. 11–12, S. 349–362, hier S. 353. 127 Ders., Jüdische Emigration und Kolonisation, S. 51; Stenographisches Protokoll (1921), S. 366. 128 Trietsch, Das neue Palästina, S. 33. 123 Ders.,
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Raum in der Nähe der Städte zu realisieren suchten. In der Gartenarbeit auf kleinerer Anbaufläche sahen sie, unter ihnen Anarchisten, Progressives, Sozialisten und Anhänger des bekannten Ökonomen Henry George, eine vielversprechende Option.129 Die vielschichtige Bewegung, die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ihre größte Bekanntheit erreichte, reagierte damit auf die von vielen Zeitgenoss*innen als schädlich empfundene Lebensweise in den Großstädten. Hinzu kamen Finanzkrisen, wie die von 1893 und 1907, die in der US-amerikanischen Bevölkerung ein verstärktes Sicherheitsbedürfnis auslösten.130 Einer der bekanntesten Vertreter der nur lose organisierten back-to-the-land movement war Bolton Hall (1854–1938). Auf ihn bezog sich auch Trietsch wiederholt, der vor allem seine Schrift Three Acres and Liberty (1907) als „eine Fundgrube von Materialien über hohe Rentabilität kleinster Besitztümer“131 pries. Hall hatte darin eine Fläche von drei Acres (1 Acre = 0,4 Hektar) für die Selbstversorgung einer Familie als ausreichend befunden. Damit griff er ältere Forderungen nach einer Verkleinerung der Bodenfläche auf, die im Gegensatz zu den traditionell großen Ländereien standen, wie sie etwa der Homestead Act von 1862 abgesteckt hatte.132 Den westwärts ziehenden Siedlerinnen und Siedlern war darin die Inbesitznahme von je 160 Acres Land zugestanden worden. Wie die meisten führenden back-tothe-land-Vertreter war Hall überzeugt, die nach US-amerikanischen Maßstäben derart verkleinerten Flächen ließen sich nur auf dem Wege moderner Technik und fachlicher Beratung erfolgreich bewirtschaften.133 Er setzte hierzu auf ein new intensive gardening, das den Familien über die Eigenversorgung hinaus ein profitables Geschäft eröffnen sollte. In den von Trietsch visionierten Gartenparzellen sollten ebenfalls verschiedene Obst‑ und Gemüsesorten nach bestem Wissen angebaut und die Haltung von Nutztieren professionell verfolgt werden. An der Arbeit im Garten waren sämtliche Familienmitglieder zu beteiligen: Frauen, Kinder und ältere Personen. Durch eine Arbeitsteilung erhoffte sich Trietsch Ertragssteigerungen, aber auch einen größeren Gemeinschaftsgeist, der sich positiv auf das Zusammenleben auswirken sollte. Der Gartenbau wurde von ihm somit als ein in mehrerer Hinsicht lohnender Nebenerwerb gepriesen, durch den sich Zeit‑ und Arbeitsaufwand sinnvoll ein129 Dona Brown, Back to the Land, S. 3, 5. Siehe auch Jeffrey Jacob, New Pioneers. The backto-the-land Movement and the Search for a Sustainable Future, State College 1997. 130 Brown, Back to the Land, S. 3. 131 Trietsch, „Ein Maximalprogramm“, S. 302. Bolton Hall, Three Acres and Liberty, New York 1907. Ebenfalls von Trietsch für hilfreich befunden: ders., A Little Land and a Living, New York 1908. 132 Siehe v. a. Edmund Morris, Ten Acres Enough: A Practical Experience. Showing How a Very Small Farm May Be Made to Keep a Very Large Family, New York 1864. Das Buch war in den USA ein großer Erfolg, wie mehrere Auflagen und Nachdrucke (zuletzt 2008) zeigen. Der Homestead Act findet sich online auf den Seiten des US-Innenministeriums, National Park Service: https://www.nps.gov/home/learn/historyculture/upload/MW,pdf,Homestead%20Act, txt.pdf (Zugriff 12. 3. 2022). 133 Brown, Back to the Land, S. 25.
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sparen ließen. Die Pflege des eigenen Gartens sollte dabei täglich für ca. eine Stunde nach Feierabend bzw. Schulschluss erfolgen. In Ergänzung zur außerhäuslichen Erwerbsarbeit stellte sie für Trietsch einen unkomplizierten Zuverdienst dar, der gleichzeitig eine gesündere Lebensweise offerierte.134 Dieses einseitige Bild stieß auf Kritik. So bemängelte unter anderem der Wiener Zionist Paul Diamant (1887–1966), eine gründliche Gartenarbeit, die außerdem nicht nur erholsam, sondern auch anstrengend und kräftezehrend sein konnte, sei mit nur einer Stunde am Tag nicht zu realisieren.135 Trietsch dagegen fasste die körperliche Arbeit an der frischen Luft als keine zusätzliche Belastung auf und betonte stattdessen, wie sehr sie der Gesundheit aller Familienangehörigen zuträglich sei. Dass sie sich zu glücklicheren, naturverbundeneren Menschen entwickelten, deren soziales Miteinander gleichzeitig auf eine höhere Ebene gehoben würde, stand für ihn außer Frage. Mit ihren kleinen Gärten, die kooperativen Siedlungen angehörten, sollten die Familien nicht nur neue Bodenwerte, sondern auch neue Kultur‑ und Sozialwerte in Palästina schaffen. Trietschs Hochschätzung des familiären Selbsthilfezusammenschlusses erfuhr auch in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg großen Zuspruch. Inspiriert durch Reformen im viktorianischen England und den USA war es bereits ab den 1870er Jahren zu intensiveren Debatten gekommen, wie den negativen Begleiterscheinungen von Industrialisierung und Urbanisierung am besten begegnet werden könne.136 Das wachsende Wohnungselend in den großen Städten wie Berlin, wo besitzlose Industriearbeitende in karge Mietskasernen abgedrängt und segregiert wurden, versuchte man zum Wohle des sozialen Ausgleichs zu bremsen und zu überwinden. In sozialreformerischen Kreisen wie dem 1898 gegründeten ,Bund Deutscher Bodenreformer‘ wurden dazu auch die Umverteilung und Verstaatlichung von Grund und Boden, die antispekulative Wirkung von Pachtsystem und Einheitssteuern auf den Bodenwert (single-tax) sowie die Vorzüge genossenschaftlicher Siedlungen ins Spiel gebracht.137 Im Anschluss an den Ersten Weltkrieg zeigte sich eine breitere Öffentlichkeit an diesen Debatten interessiert. Der deutsche Staat brachte nun Gesetze auf den Weg, die, wie im Falle des sozialen Wohnungsbaus, zu einer Lösung der Existenznot führen sollten.138 Schon während des Kriegs hatten sich Großstädte wie Berlin oder Hamburg veranlasst gesehen, Kleingärten an Erwerbslose zu verpachten, um der wachsenden Not beizukommen.139 Die Zuteilung kleiner Gärten, die auch Davis Trietsch, Neue Grundlagen für den Aufbau des jüdischen Palästina, Berlin 1923, S. 4. Diamant an Davis Trietsch, 8. 10. 1923. CZA, A104/23. 136 Meyer-Renschhausen/Berger, „Bodenreform“, S. 265, 271. 137 Kevin Repp, Reformers, Critics, and the Paths of German Modernity. Anti-Politics and the Search for Alternatives, 1890–1914, Cambridge 2000, S. 80 f.; Brian Ladd, Urban Planning and Civic Order in Germany, 1860–1914, Cambridge 1990, S. 177 f.; Corona Hepp, Avantgarde. Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhundertwende, München 1987, S. 167 f. 138 Meyer-Renschhausen/Berger, „Bodenreform“, S. 272 f. 139 Ebd., S. 269 f. 134
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für Kriegsversehrte zu einer wichtigen Existenzsicherung werden sollten, war seit 1915 in mehreren Schriften beworben worden.140 Trietsch, der ebenfalls für einige Jahre einen Schrebergarten in Berlin besaß, sah darin einen richtigen Weg. Unter Berücksichtigung der landesspezifischen Verhältnisse war er seiner Vorstellung nach in abgewandelter Form auch in Palästina zu beschreiten.141 Neben Trietsch interessierte sich auch Franz Oppenheimer für die Aktivitäten der back-to-the-land movement. Bei einer mehrwöchigen USA-Reise im Frühjahr 1914 kam er in New York mit Bolton Hall zusammen, den er wegen seiner Gedankengänge zum Genossenschaftswesen aufgesucht haben dürfte.142 Wie Oppenheimer, der in den USA Gelder für einen Genossenschaftsfonds der ZO einzuwerben versuchte, hatte auch Hall wiederholt die Vorzüge genossenschaftlicher Siedlungen herausgestellt.143 Durch sie sollten die Mitglieder von zeitgemäßen Methoden und Techniken Gebrauch machen können, indem ihnen als Interessengemeinschaft beispielsweise für den Kauf moderner Arbeitsgeräte größere Summen zur Verfügung standen. Während sich Oppenheimer für die Siedlungsgenossenschaften interessierte, weckte das Selbstversorgungsprinzip auf kleiner Fläche das Interesse von Selig Soskin. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Weltkriegs verstärkten auch sein Drängen auf Kleinsiedlungen, deren Vorzüge er in seinem Referat auf dem Kongress 1921 einer größeren Zuhörerschaft das erste Mal darlegte.144 Soskin zufolge waren es in Palästina vor allem die engen Grenzen des Landes und der wachsende Konflikt mit den ,Arabern‘, die eine intensivere Nutzung der vorhandenen Böden notwendig machten.145 Anders als Trietsch forderte er auch die Besiedlung Transjordaniens, das er als historische Heimat des jüdischen Volks verstand. Zudem nahm Soskin näheren Bezug auf die autochthone Bevölkerung Palästinas, der man durch kleinere, kompaktere Siedlungen vermitteln konnte, das Land sei für beide Völker groß genug. Eine jüdische Mehrheit strebte langfristig aber auch Soskin an.146
140 Siehe u. a. Paul Behrendt, Die kleinste Landwirtschaft. Eine Anleitung zur Bewirtschaftung eines Eigenheims mit 1250 Quadratmeter Gartenland, Bethel 1916; Ludwig Lesser, Der Kleingarten. Seine zweckmässigste Anlage und Bewirtschaftung, Berlin 1915. 141 Undat. Typoskript von Davis Trietsch [1927], o. T. CZA, A104/55; Rede von Trietsch vor den zionistischen Mitgliedern der Bnai Brith-Logen [1921], 15-seitiges Typoskript, S. 560–575, hier S. 560. Ebd., A104/56. 142 „Vereinigte Staaten von Nordamerika. Die Reise Dr. Franz Oppenheimers“, in: Die Welt 18 (1914), Nr. 21, S. 514. 143 Hall, Three Acres and Liberty, S. 379–384. 144 Stenographisches Protokoll (1921), S. 342–351. 145 Ebd., S. 342, 344. 146 Selig Soskin, Agrarpolitik und Landbesiedelung in Palästina. Referat, gehalten am 11. August 1930 auf der IV. Konferenz der Zionisten-Revisionisten, London 1930, S. 8, 17; ders., Die Kolonisation Palästinas. Eine nichtgehaltene, programmatische, für den XVII. Zionistenkongreß, Juli 1931, bestimmt gewesene Kongress-Rede, Wien 1931, S. 10, 14.
5.3 Intensiv statt extensiv
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Soskin, der bis 1937 der revisionistischen Partei um Jabotinsky angehörte, trat wie Trietsch für eine großzügige jüdische Einwanderung ein.147 Seine Prognosen, die auch er als numerisches Argument ins Feld führte, steigerten sich mit der Zeit. Während er 1930 noch davon ausging, Palästina könne west‑ und ostwärts des Jordans 6,3 Millionen Menschen aufnehmen, waren es ein Jahr später allein im Mandatsgebiet sechs Millionen.148 Euphorisiert von den Möglichkeiten der in den USA entwickelten Hydrokultur (siehe Kapitel 1.1), die Soskin 1938 aus eigener Anschauung in New Jersey kennengelernt hatte, maximierte er die Aufnahmefähigkeit Palästinas 1944 auf 15 Millionen.149 Mit dieser Angabe orientierte er sich an dem bekannten britischen Archäologen Charles Warren (1840–1927), der schon 1875 einer Einwohnerzahl von 15 Millionen das Wort geredet hatte.150 In seiner Beweisführung rekurrierte somit auch Soskin auf anerkannte Fachleute, die außerhalb der zionistischen Reihen standen und deren Expertise er nebst der Verheißung neuester technischer Innovationen argumentativ zusammenzubringen beabsichtigte. Damit sich möglichst viele Jüdinnen und Juden in Palästina niederlassen konnten, warb Soskin gleichsam für eine Verkleinerung der Böden. In seiner vom JNF herausgegebenen Schrift Kleinsiedlung und Bewässerung. Die neue Siedlungsform für Palästina (1920) hieß es, die Parzellen dürften pro Familie nicht mehr als einen halben Hektar zählen.151 In kleinen Selbstversorgergärten auf genossenschaftlicher Grundlage sollte zugleich das System der Lohnarbeit, die in den jüdischen Pflanzungskolonien meist von arabischen Arbeitenden ausgeübt wurde, abgeschafft und eine „soziale Erlösung“152 im Jischuv erzielt werden. Während die Fellachinnen und Fellachen im extensiven Ackerbau tätig sein sollten, sah Soskin im intensiven Gartenbau eine ideale Arbeits‑ und Lebensform für Jüdinnen und Juden, der sie „ihrem höheren Lebensstandard entsprechend der höchsten Stufe der Landwirtschaft, der intensiven Kultur“153 zuführen würde. Der Einsatz moderner Geräte sollte es den Familien neben einer systematischen Bewässerung und Düngung ermöglichen, über die eigene Versorgung hinaus exportfähige Naturalien zu produzieren. Trietsch, der 1922 in seinem Orient-Verlag eine Sammlung der wichtigsten 147 Soskin verließ die Partei, nachdem sie den Bericht der britischen Peel Commission, die 1937 erstmals einen Plan zur Teilung Palästinas vorlegte, abgelehnt hatte. „Jewish State Party Rejects Partition“, in: The Sentinel 107 (1937), Nr. 6, S. 31. 148 Soskin, Agrarpolitik und Landbesiedelung, S. 9; ders., Die Kolonisation Palästinas, S. 14; ders., Das Kolonisationsproblem. Referat gehalten auf der III. Weltkonferenz der Revisionistischen Union in Wien den 28. Dezember 1928, Paris 1929, S. 16. 149 Ders., „Palestine’s Absorptive Capacity“, in: The New Palestine 35 (1944), Nr. 1, S. 17 f., hier S. 18. 150 Charles Warren, The Land of Promise or Turkeys Guarantee, London 1875, S. 8. 151 Selig Soskin, Kleinsiedlung und Bewässerung. Die neue Siedlungsform für Palästina, Berlin 1920, S. 31. 152 Ebd., S. 36, 46. Ders., Agrarpolitik und Landbesiedelung, S. 17. 153 Ders., Agrarpolitik und Landbesiedelung, S. 18. Siehe außerdem ders., „Neue Wege für die Kolonisation [in] Palästina“, in: Jüdische Rundschau 29 (1924), Nr. 61, S. 440.
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Schriften Soskins veröffentlichte, pflichtete diesen Forderungen im Grundsatz bei.154 Auch er sah in jenen Bewirtschaftungsformen eine „Intensivierung, Beschleunigung, Verbilligung und Vergrößerung unseres Ansiedlungswerkes“155, wie er ein Jahr zuvor auf dem Kongress in Karlsbad eingefordert hatte. Die für Fragen der Kolonisation zuständigen Experten der ZO erörterten das Potenzial kleiner Einzelwirtschaften ebenfalls ausführlicher nach 1918. Auch sie waren von den kriegsbedingten Entbehrungen und Existenznöten geleitet, die künftig durch eine autarkere Grundversorgung vermindert werden sollten. Ruppin, der damals Mitglied der Zionistischen Exekutive war und gleichzeitig das Amt für Kolonisation leitete, schlug 1919 den ,Kleinsiedler‘ als einen von fünf Ansiedlungstypen vor, der künftig stärker gefördert werden sollte.156 Die für einen solchen Kleinsiedler in Aussicht gestellte Fläche, auf der er und seine Familie Milchwirtschaft, Gemüsebau und Geflügelzucht treiben sollten, bemaß sich auf 15 Dunam (13.800 m2) bewässerten Bodens. Sie lag somit über den Angaben von Trietsch und Soskin.157 Ruppin führte diese Kalkulation auf Erfahrungen in jüdischen ,Arbeitersiedlungen‘ zurück, in denen sich 10 bis 15 Dunam für die Eigenversorgung und den Verkauf als notwendig erwiesen hätten.158 Eine kleinere Anbaufläche hielt er zumindest zu diesem Zeitpunkt für nicht ausreichend ertragreich. Während das Verhältnis zwischen Trietsch und der ZO-Leitung im Laufe des Jahres 1921 spürbar abkühlte, wurden Soskins Pläne auf den Kongressen 1921 und 1925 noch eingehender erörtert. Ruppin und andere führende Experten wie Joffe und Oettinger sprachen sich in den Diskussionen prinzipiell für eine Selbstversorgung auf Basis landwirtschaftlicher Nebenzweige aus und hoben positiv hervor, dass der Gemüsebau seit dem Krieg schon intensiver in den jüdischen Kolonien betrieben worden sei.159 Und doch äußerten sie Kritik. Ihnen zufolge waren es vor allem die schwierigen Absatzverhältnisse, die aus der Konkurrenz arabischer Gemüsebauern in und um Palästina resultierten. Das billig produzierende Ägypten wurde von ihnen als besonders große Gefahr für den jüdischen Export erachtet.160 Im Unterschied zum Nachbarland am Nil mit seinem umfangreicheren Bewässerungssystem kamen ihren Berechnungen zufolge in Palästina weit weniger Flächen in Betracht, die sich für eine intensive Landwirtschaft eigneten. Eine Intensivierung vor allem durch künstliche Bewässerung ließe sich erst allmählich, unter nicht geringen Kosten realisieren, weshalb eine extensive Bewirtschaftung 154 Ders., Intensive Kolonisation. Aufsätze und Reden zur Frage der jüdischen Palästina-Siedlung, Berlin 1922. 155 Stenographisches Protokoll (1921), S. 370. 156 Böhm, Die Zionistische Bewegung (3. Teil), S. 231. Zu den verschiedenen Siedler*innentypen bei Ruppin: Ruppin, Der Aufbau des Landes Israel, S. 200–206. 157 Ebd., S. 203. 158 Ruppin, Die landwirtschaftliche Kolonisation, S. 32. 159 Die gemischte Wirtschaft und „kleinbäuerliche Eigenproduktion“ würdigte auch Curt Nawratzki, Das neue jüdische Palästina, Berlin 1919, S. 102. 160 Stenographisches Protokoll (1921), S. 402; Protokoll der Verhandlungen des XIV. ZionistenKongresses 1925 in Wien, London 1926, S. 357, 359, 448.
5.3 Intensiv statt extensiv
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weiterhin vorzuziehen blieb.161 Trietsch setzte an diesem wichtigen Kritikpunkt an, den er frühzeitig zu entkräften versuchte. Die für eine intensivere Bodennutzung unabdingbaren Irrigationsarbeiten wollte er dank moderner Technologien, wie dem schon erwähnten Sonnenmotor aus Kalifornien, zeit‑ und kostensparend umsetzen. In diese Diskussion schaltete sich auch der angesehene zionistische Agronom Yitzhak Wilkansky (1880–1955) ein, der dafür warb, zunächst größere Flächen in Besitz zu nehmen und durch eine gemischte Wirtschaft in Form von Getreidebau, Pflanzungen und Milchviehzucht zu bearbeiten.162 Der Gemüsebau stellte für ihn zwar auch einen lohnenden Wirtschaftszweig dar, jedoch in Form eines Nebenverdiensts. Die ZO bzw. der von ihr 1923 ins Leben gerufene ,Landwirtschaftliche Rat‘ (Vaad Haklaut), der sich aus in Palästina lebenden Sachverständigen wie Oettinger, Joffe und Wilkansky rekrutierte, hielt daher am Prinzip der gemischten Wirtschaft auf größerer Fläche fest. Die ausgewiesenen ZO-Experten sahen für jeden Ansiedler mit Familie durchschnittlich 100 Dunam vor, wobei dem Gemüse‑ und Obstbau sowie der Haltung von Nutztieren künftig mehr Beachtung geschenkt werden sollte.163 Um die intensive Kleinsiedlung in der Praxis zu erproben, ohne sie auf Kosten bisheriger Methoden als Allheilmittel auszugeben, bewilligte der Kongress 1921 ein Budget für Soskins Pläne.164 Die Summe von 20.000 Pfund Sterling kam aufgrund der begrenzten Finanzmittel der ZO jedoch nie zur Auszahlung. Als man Soskin denselben Betrag 1925 erneut zusagte, kaufte er in der Nähe von Haifa ein Areal, auf dem versuchsweise 250 Jüdinnen und Juden angesiedelt werden sollten.165 Neben dem Gemüsebau und der Zucht von Obstbäumen sollten die künftigen Bewohnerinnen und Bewohner, die ein Eigenkapital von 400 Pfund Sterling vorweisen mussten, auch Geflügel halten.166 Das Projekt, das durch die von Soskin 1924 gegründete Small Holders Cooperative Society ausgeführt werden sollte, wurde ebenfalls nie realisiert. Wie Briefe zwischen ihm und dem Direktorium des Keren Hayesod (KH) in den Jahren 1924 bis 1926 belegen, stand neben den finanziellen Engpässen der ZO die Sorge im Raum, das Projekt könne sich ihrer Kontrolle entziehen.167 161 Kritisch zu den Bewässerungskosten: Hermann Hirsch, „Gedanken zur zionistischen Kolonisation auf bewässerten Böden“, in: Palästina 11 (1928), Nr. 11–12, S. 354–361. 162 Stenographisches Protokoll (1925), S. 408–411. Zu den wichtigsten Pflanzungen zählten damals der Orangenanbau sowie die Anlage von Öl‑ und Obstbäumen. 163 Ruppin, Die landwirtschaftliche Kolonisation, S. 93; Oettinger, Methoden und Kapitalbedarf, S. 47–54. Zum Vaad Haklaut siehe Bericht der Exekutive der Zionistischen Organisation an den XII. Zionistenkongress, Karlsbad 1923, S. 159. 164 Stenographisches Protokoll (1921), S. 596. 165 Stenographisches Protokoll (1925), S. 682; „Site for Soskin Colony Purchased Near Haifa“, in: The Sentinel 62 (1926), Nr. 9, S. 29; „New ‚Middle-Class‘ Colonisation Supported by Keren Hayesod“, in: The Palestine Bulletin, 21. 2. 1926, S. 3. 166 „Soskin Plan, Reducing Colonization Cost, Put into Operation“, in: Jewish Daily Bulletin, 5. 3. 1926, S. 1. 167 Shlomo Kaplansky an die Mitglieder der Exekutive und des Wirtschaftsrates, 12. 1. 1925. CZA, Z4/40686–50 bis 55. Die gesamte Korrespondenz findet sich ebd., Z4/40686.
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Verbittert über die abschlägige Haltung „der Herren Führer“168 zog sich auch Soskin aus der Organisation zurück. Anders als Trietsch, der ab 1923 nur noch als Beobachter zu den Kongressen fuhr und sich keiner zionistischen Partei anschloss, betrat Soskin 1929 als Delegierter der Revisionist*innen wieder die Kongressbühne.169 In ihrem Umfeld hoffte er, seine Pläne einer ,intensiven Kolonisation‘ im großen Maßstab verwirklichen zu können. Trietsch dagegen war aus der ZO ausgetreten und beabsichtigte im selben Jahr, ein Buch über „den Kampf um Zion – gegen die zionistische Organisation“170 zu schreiben. Am liebsten am See Genezareth, seiner „stillen Liebe“, wo er, so Trietsch weiter, bei „Appelkuchen mit Schlachsahne“ gewohnt angriffslustig zu Stift und Papier greifen wollte.
5.4 Die Industrie zur Realisierung der Einwanderung Der Kritik der ZO-Experten, die palästinensische Wirtschaft werde durch den Gemüsebau und einige andere landwirtschaftliche Nebenzweige nicht allein in Aufschwung zu bringen sein, glaubte Davis Trietsch mit seinen eigenen Plänen begegnen zu können. Im Unterschied zu Soskin erblickte er in der Bewirtschaftung von Selbstversorgergärten keine Haupt-, sondern nur eine Nebentätigkeit.171 Wie schon erläutert, sollten sich die Familien bei ihm nur für einige Stunden in der Woche ihrem Nutzgarten widmen, während der Großteil ihrer Zeit der Erwerbsarbeit und Schulausbildung vorbehalten blieb. Sie bezogen ihren Hauptverdienst somit aus der Freiberuflichkeit oder aus kaufmännischen, handwerklichen und industriellen Berufen, von denen Letztere eine zentrale Rolle bei Trietsch spielten. Schon auf dem sechsten Kongress im Jahr 1903 hatte er eine „industrielle Kolonisation“172 für Palästina und die Nachbarländer gefordert. Trietsch wich damit von der großen Mehrheit der Delegierten ab, die dem Ausbau einer jüdischen Landwirtschaft den Vorrang gaben, auf dessen Grundlage Industrien erst systematisch gegründet werden sollten.173 Vor dem Hintergrund der Berufsstruktur der jüdischen Auswandernden, die nur zu einem sehr geringen Prozentsatz im primären Sektor tätig waren, lehnte Trietsch diese Haltung ab. Für ihn war sie antiquiert und mit der Lebensrealität der allermeisten Einwander*innen nicht in Einklang zu bringen, die mehrheitlich im Handel, Handwerk, Gewerbe und der Industrie ihr Auskommen fanden.174 In einer einseitigen Bevorzugung der Land Soskin, Agrarpolitik und Landbesiedelung, S. 1.
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169 Protokoll der Verhandlungen des XVI. Zionistenkongresses und der konstituierenden Tagung
des Council der Jewish Agency für Palästina in Zürich 1929, London 1929, S. XVIII. 170 Davis Trietsch an Ernst Herrmann, 25. 7. 1929. CZA, A104/5. 171 Vgl. Trietsch, Jüdische Emigration und Kolonisation, S. 292; Selig Soskin, „Das Problem der Kleinsiedlung in Palästina“, in: Jüdische Rundschau 24 (1919), Nr. 51, S. 403 f., hier S. 403. 172 Stenographisches Protokoll (1903), S. 307–311. 173 Ebd., S. 313 f. 174 1926 soll der Anteil jüdischer Arbeitnehmer*innen an der Industrie bei 86 %, am Handel und Handwerk bei 70 bzw. 52 % in Polen gelegen haben. Trietsch, Der Wiedereintritt der Juden,
5.4 Die Industrie zur Realisierung der Einwanderung
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wirtschaft sah er einen Rückschritt, indem er die Industrie als eine „überlegene Form menschlicher Betätigung“ pries, der die Zukunft gehörte. Diese Prognose hielt er den Landwirtschaftsbefürworter*innen, „diesen sympathischen Trägern eines etwas primitiven Idealismus“175, wie er einmal bemerkte, entgegen. Trietschs positive Bezugnahme auf eine industrielle Entwicklung bedeutete im Umkehrschluss nicht, dass er landwirtschaftliche Siedlungen in toto ablehnte. Stattdessen bewunderte er den tatkräftigen Einsatz ihrer Bewohnerinnen und Bewohner, die den widrigen Ausgangsbedingungen in Palästina mühsam trotzten. Die hohen Anlagekosten ihrer Siedlungen, von denen sich 1921 insgesamt 21 im Besitz der ZO befanden, waren Trietsch zufolge jedoch mit einem zu geringen wirtschaftlichen Nutzen verbunden.176 Er hielt den Aufwand an Geld, Kraft und Zeit, der auf die vielen Meliorationsarbeiten wie Drainage und Umpflanzung folgte, für zu hoch. Im Ergebnis ließen sich dadurch nur wenige Menschen ansiedeln. Trietsch richtete seine Lösungsansätze stattdessen an der Frage aus, „auf welche Weise die grösste Zahl in kürzester Zeit und mit den geringsten Mitteln im Orient zu irgendeiner Existenz gelangen“177 könnte. Angesichts der ungünstigen Bodenverhältnisse und der spezifischen Berufsschichtung der Einwander*innen war es die Industrie, von der er sich eine großzügige Aktion versprach. Die systematische Einführung von Industrien sollte neben der Landwirtschaft, deren Effizienz durch moderne Technik zu steigern war, zu vielfältigeren und resilienteren Produktionsverhältnissen in Palästina führen. Der Begriff Industrie (lat. industria: Fleiß, Betriebsamkeit) wurde schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts oft verschiedentlich weit gefasst. Unter einer Industrie, die mit dem Gewerbe den sekundären Sektor einer Volkswirtschaft bildet, versteht man traditionellerweise die Gewinnung von Rohstoffen und ihre Weiterverarbeitung zu einem Sachgut. Wenn wir heute von der Finanz‑ oder Tourismusindustrie sprechen, handelt es sich somit um keine Industrie, da mit ihnen keine Sachgüterproduktion verbunden ist.178 Trietsch benutzte den Begriff ebenfalls breit und summierte unter Industrie „beinahe alle Arten von Produktion“179. Ihm zufolge eigneten sich die menschlichen Grundbedürfnisse in ihrer materiellen Entsprechung (Kleidung, Nahrung, Wohnen) besonders für eine industrielle Fertigung. In ihrer S. 7. Heiko Haumann gibt dagegen für 1931 nur 42 % in Industrie und Handwerk sowie 37 % im Handel an. Vgl. Haumann, Geschichte der Ostjuden, S. 177. 175 Davis Trietsch, Die Rolle der Industrie, Berlin 1921, S. 20 [Hervorh. im Original]; ders., Die östliche Judenfrage, S. 13. 176 Die Zahl der Siedlungen stieg 1923 auf 32, 1925 auf 44. 1925 lebten in ihnen ca. 23.000 Menschen. Ruppin, Die landwirtschaftliche Kolonisation, S. 80. 177 Davis Trietsch, „Die Industrien Palästinas“, in: Palästina 4 (1907), Nr. 6–8, S. 149–163, hier S. 150 [Hervorh. im Original]. 178 Siehe auch die International Standard Industrial Classification of all Economic Activities der Vereinten Nationen: https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index .php/Glossary:In ternational_standard_industrial_classification_of_all_economic_activities_%28ISIC%29 [Zugriff 12. 3. 2022]. 179 Trietsch, Die Rolle der Industrie, S. 3.
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5. „Massenwanderung und Massensiedlung“
Produktionsweise und Kapitalaufwendung unterschied er zwischen einer Groß‑ und Kleinindustrie sowie der Hausindustrie und dem Kunstgewerbe. Da die ZO nur über bescheidene finanzielle Mittel verfügte und die Privatinitiative erst in der Zwischenkriegszeit allmählich ins Gewicht fiel, gab Trietsch den kleinen Industrien vorläufig den Vorrang.180 Zu Beginn der 1920er Jahre rangierte die Bauindustrie für ihn an erster Stelle, nachdem sich unter der neuen Mandatsverwaltung ein Aufschwung des Baugewerbes abgezeichnet hatte. In kleineren Betrieben, wie Kalksandstein‑ und Zementfabriken, sollten jüdische Arbeiter die wachsende Bautätigkeit im Land begleiten.181 An zweite Stelle setzte Trietsch die landwirtschaftliche Industrie, durch die eine flächendeckende Versorgung der jüdischen Bevölkerung zu sichern war. Zu ihr zählte er unter anderem den Orangenanbau und Weinbau, die Konserven-, Parfüm‑ und Tabakindustrie sowie die Fabrikation von Ölen, Seide und Seife.182 Landwirtschaft und Industrie sollten demzufolge Hand in Hand gehen und gemäß rationellen Arbeitsweisen koordiniert werden. Trietsch schwebte eine industrialisierte Landwirtschaft vor, für die Jüdinnen und Juden seiner Meinung nach besonders geeignet waren, da sie zwar oft einen „Mangel an roher Kraft“ aufwiesen, aber über eine große geistige „Geschicklichkeit“183 verfügten. An dritter Stelle stand für ihn schließlich die Textilindustrie. Sie knüpfte einerseits an die Berufsstruktur vieler Eingewanderter an und ließ sich andererseits in Form sogenannter Hausindustrien realisieren. Die Anfertigung von Spitze und Knöpfen, die Trikotagen‑ und Strumpfstrickerei sowie Stickereien konnten Trietsch zufolge nicht nur in kleinen Betrieben, sondern auch von Zuhause in Heimarbeit vorgenommen werden. Die Vorzüge solcher Hausindustrien lagen für Trietsch in einem geringeren Kapitalaufwand und einer kürzeren Lehrzeit. Jüdinnen und Juden befand er auch hier für besonders geeignet, da sie eine „Intelligenz und Sorgfalt“184 an den Tag legten, die in einer sorgsamen, gründlichen Handarbeit zur profitablen Ausführung gelangen könnten. Im Mittelpunkt seiner Agitation stand die sogenannte Spitzenindustrie. Unter diesem Begriff fasste Trietsch eine damals noch weithin unbekannte Technik der Häkelei, auf die er in einem britischen Konsulatsbericht gestoßen war und die heute als ,Teneriffa-Spitze‘ bekannt ist. Aus dem Bericht hatte er erfahren, dass es sich um eine in Handarbeit gefertigte strahlenförmige Spitzentechnik handelte, die 15 bis 20.000 Frauen und Mädchen auf den Kanarischen Inseln Arbeit verschaffte.185 Die leicht zu erlernende Technik, für die es nur eine Nähnadel und Garn brauchte, sollte in der Vorstellung von Trietsch auch in Palästina jüdischen 180 Ders., „Eine Spitzenindustrie für Palästina“, in: Palästina 7 (1910), Nr. 10, S. 211–220, hier S. 213 f. 181 Ders., Die Rolle der Industrie, S. 8 f. 182 Ebd., S. 10 f. 183 Trietsch, Die östliche Judenfrage, S. 13. 184 Ders., „Eine Spitzenindustrie für Palästina“, S. 215. 185 Ders., Jüdische Frauenarbeit und Frauenberufe für Palästina, Mährisch-Ostrau 1919, S. 5 f.
5.4 Die Industrie zur Realisierung der Einwanderung
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Einwanderinnen eine Erwerbsmöglichkeit bieten.186 Im Blick hatte er besonders Frauen aus ultraorthodoxen Familien, die ihre „Schnorr-Existenzen“187 in Zukunft abstreifen sollten. Seine Ideen für eine Spitzenindustrie, in die nachweislich auch das Wissen arabisch-palästinensischer Frauen einging, führten 1909 zu ersten Resultaten. Nachdem Trietsch in einer Ausstellung im ostpreußischen Königsberg (Kaliningrad) mehrere Modelle seiner ,Palästinaspitzen‘ präsentiert hatte, eröffnete in Jaffa ein erstes Spitzenatelier.188 In den religiös geprägten Städten Jerusalem, Safed und Tiberias kam es zur Gründung weiterer Spitzenschulen, in denen bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs rund 400 jüdische Frauen und Mädchen eine Arbeitsgelegenheit fanden. Die Spitzenindustrie zählte damit neben der Kunstgewerbeschule Bezalel189 zur wichtigsten kunstgewerblichen Industrie im Vorkriegspalästina. Der Weltkrieg beendete die weitere Entwicklung des Projekts, das 1917 ausgesetzt werden musste.190 Eine zentrale Rolle für die Ausarbeitung seiner Pläne spielte Emma Trietsch. Sie hatte offenbar die ersten Modelle für die Königsberger Ausstellung angefertigt, von denen einige auch im Berliner Israelitischen Wochenblatt abgedruckt wurden.191 Der Stellung jüdischer Frauen in Palästina galt ihr besonderes Interesse. Ein persönliches Anliegen, das sie zum Schreiben mehrerer Texte animierte, bildete „Die Befreiung der Frau“192. Unter diesem feministischen Titel fasste sie Strategien zusammen, durch die (bürgerliche) Frauen in der Haushaltsführung und Kindererziehung entlastet werden sollten. Emma Trietsch, die selbst fünf Kinder hatte, wusste aus eigener Erfahrung, wie kräftezehrend der Alltag als Mutter war. Eine Gemeinschaftserziehung hielt sie, die ihre eigene Tochter mehrmals für einige Monate an ihre beste Freundin in Mannheim „ausgeliehen“193 haben soll, für sinnvoll. Daneben warb Emma Trietsch für den Ausbau sogenannter Einküchenhäuser. Sie gingen auf Reformprojekte in Chicago zurück, bei denen Mehrparteienhäuser mit einer zentralen Küche ausgestattet worden waren. Sie sollten vor allem die Frauen entlasten, die nicht länger mehrere Stunden am Tag für die Essenszubereitung aufbringen mussten. Trietsch, der ein großes Interesse an Reformprojekten hatte, war von dem Konzept offenbar auch angetan. 1909 zog er mit seiner Ehefrau 186 Ders., „Jüdische Frauenarbeit für Palästina“, in: Palästina 7 (1910), Nr. 8, S. 158–167, hier S. 161 f. 187 Ders., „Die Industrien Palästinas“, S. 162. 188 „Palästinensische Hausindustrie“, in: Jüdische Zeitung 3 (1909), Nr. 23, S. 7. 189 Zur Geschichte von Bezalel, heute als Bezalel Academy of Arts and Design Jerusalem die renommierteste Kunstschule Israels: Ori Z. Soltes, „Bezalel“, in: Dan Diner (Hg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 1, Stuttgart, Weimar 2011, S. 302–306; Heinze-Greenberg, Europa in Palästina, S. 55–82. 190 Davis Trietsch an Jakob Thon, 19. 10. 1917. CZA, A104/1; Trietsch, Jüdische Frauenarbeit, S. 5, 17. 191 JMB 2011/267; Davis Trietsch, „Eine kleine Industrie mit ziemlich grossen Perspektiven“, in: Israelitisches Wochenblatt 10 (1911), Nr. 48, S. 551–553, hier S. 552. 192 Emma Trietsch, Die Befreiung der Frau. Typoskript o. D. [1919]. JMB 2011/267. 193 Jeremias, Urgrossmutter Hannah, S. 4.
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5. „Massenwanderung und Massensiedlung“
in ein Einküchenhaus, das nach den Plänen des Architekten Hermann Muthesius (1861–1927) in Berlin-Lichterfelde errichtet worden war. In dem Haus, wo man das Essen in einer Zentralküche im Untergeschoss zubereitete und nach Bestellung per Haustelefon in die Wohnung mit dem Speisenaufzug fuhr, lebten sie ein Jahr lang.194 Die Miete dürfte angesichts dieses besonderen Service hoch ausgefallen sein, weshalb davon auszugehen ist, dass Trietschs Einkünfte als Schriftsteller zu dieser Zeit nicht allzu gering waren.195 Emma Trietschs feministisches Engagement dürfte auf ihren Mann abgefärbt haben.196 So ist bemerkenswert, wie früh Trietsch im Gegensatz zu anderen deutschen Zionisten die Bedeutung der Frau für den Aufbau Palästinas anerkannte. Aus seiner Sicht stellte sie nicht bloß eine „Gefährtin des Mannes“197 (Anna Michaelis) dar, sondern trat als eine ernstzunehmende und für die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft in Palästina zentrale Akteurin in Erscheinung. Vom modernen Zionismus, so ließe sich zwischenbilanzieren, erhoffte sich Trietsch demnach die Lösung weiterer sozialer Fragenkomplexe wie der ,Frauenfrage‘, zu der seine Spitzenindustrie einen Ansatz bieten sollte.198 Dem berechtigten Einwand, Hausindustrien seien rückständig und führten durch geringe Löhne und oft ungesunde Arbeitsverhältnisse zur Ausbeutung und Isolation der Frauen, hielt Trietsch zwei Argumente entgegen.199 Erstens sollten sich die Heimarbeiterinnen genossenschaftlich organisieren und ihre Produkte in eigenen Verkaufsstellen absetzen, womit Niedriglöhne und lange Lieferketten verhindert würden. Zweitens lehnte auch Trietsch eine Arbeit im Akkord wie in den US-amerikanischen Sweatshops ab, die er noch aus seiner Zeit in New York kannte. Ihm schwebte stattdessen ein angemessener und fairer Nebenverdienst vor, der in 194 Das Haus stand in der Zietenstraße 1 und wurde im April 1909 eröffnet. Alfred Aberle an Davis Trietsch, 1. 6. 1909. JMB 2011/267. Davis und Emma Trietsch lebten in den nächsten Jahren weiterhin im Westen der Stadt und zwar in der Warnemünder Straße 5, Potsdamer Chaussee 53, Kaiserallee (heute Bundesallee) 158 sowie in der Blankenbergstraße 8. 195 Bestätigt wird diese Annahme durch zeitgenössische Kritiken, denen zufolge die Einküchenhäuser für Familien mit niedrigem Einkommen nicht erschwinglich gewesen seien. Siehe u. a. Celina Kress, „Gemeinschaft als Leitmotiv im Wohnungsbau der Großstadt“, in: Dirk Schubert (Hg.), Die Reform der Großstadt, Berlin 2014, S. 17–27; Christa Höllhumer, „Das Einküchenhaus. Ein verdrängtes Wohn‑ und Lebensmodell“, in: Utopie. Notizen zur Alltagskultur 6 (1991), Nr. 2, S. 27–29. 196 Emma Trietsch, „Zur Lösung der Hausfrauen‑ und Dienstbotenfrage in Palästina“, in: Volk und Land 1 (1919), Nr. 10/11, Sp. 307–316. Zu Emma Trietsch s. auch Claudia Prestel, „Feministische und zionistische Konstruktionen der Geschlechterdifferenz im deutschen Zionismus“, in: Schatz/Wiese, Janusfiguren, S. 125–148, hier S. 137 f. 197 Michaelis, „Die Zukunft der Juden“, S. 193. 198 Undat. Notiz von Davis Trietsch. JMB 2011/267. Zur Lebensrealität jüdischer Frauen in Palästina: Ruth Kark u. a. (Hg.), Jewish Women in Pre-State Israel: Life, History, Politics and Culture, New York 2008; Deborah Bernstein (Hg.), Pioneers and Homemakers: Jewish Women in Pre-State Israel, Albany 1992. 199 Siehe den Einwand eines Dr. Moses aus Mannheim: Stenographisches Protokoll (1901), S. 185.
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kleinen Betrieben oder von Zuhause aus erzielt werden konnte.200 In Verbindung mit der täglichen Gartenarbeit sollte die Gesundheit und Unabhängigkeit der Arbeiterinnen geschützt werden. Ein eigener kleiner Garten würde ihre Ausbeutung im Gegensatz zum „kapitalistischen Elend“201 des großstädtischen Proletariats verhindern. Wie schwierig eine Umsetzung dieser Arbeitsverhältnisse samt angemessener Entlohnung in der palästinensischen Praxis war, wusste Trietsch aus eigener Erfahrung. Er hatte 1906 eine Werkstatt für Holzarbeiten in Jaffa eröffnet, in der Möbel und kleinere Gegenstände nach seinen Zeichnungen hergestellt wurden. Zusätzlich zu dieser Werkstatt, für die 15 jüdische Tischler arbeiteten, beaufsichtigte er ein weiteres Tischlereigewerbe in Jaffa. Die 35 Arbeiter dieses Gewerbes traten 1907 in den Streik.202 Ihr Protest, der in Agnons Roman Gestern, Vorgestern literarisch Eingang fand und auf dem Kongress 1907 dazu führte, dass Vertreter der jüdischen Arbeiterschaft gegen die Wahl Trietschs in das ,Große Aktionskomitee‘ protestierten, folgte offenbar auf eine zu geringe Bezahlung.203 Die Tischlerei wurde daraufhin aufgelöst und Anfang 1908 dem Bezalel angegliedert. Wie die Spitzenindustrie bot auch das Tischlereigewerbe ein aussichtsreiches Feld, das Trietsch frühzeitig erkannt hatte. Im Bezalel stieg es später zu einer der wichtigsten Werkstätten auf, deren Erzeugnisse sich besonders unter Touristinnen und Touristen großer Beliebtheit erfreuten.204 Während Trietsch für die Hausindustrien nur geringe Investitionen vorsah, da sie wie im Falle der Häkelarbeit keiner kostspieligen Maschinerie bedurften, setzte er bei der landwirtschaftlichen Industrie auf eine moderne Ausstattung. In seiner Idealvorstellung sollte Palästina zu einem Vorbild für Europa avancieren, wo „selbst in den fortgeschrittensten Ländern […] die Nahrungsmittel noch heute mit mehr oder weniger primitiven Mitteln gewonnen“205 würden. Der Einsatz moderner Maschinen führte Trietsch zufolge zu einer Reduzierung der Produktionskosten und einer höheren Qualität der Erzeugnisse. Dadurch sei langfristig „mit dem geringsten Aufwand an Kraft und Zeit das höchste Ergebnis zu erzielen“, für das sich Jüdinnen und Juden besonders eigneten, da sie seiner Meinung nach „mit einem hohen Verständnis für industrielle Produktionsformen“206 aufwarten konnten. 200 Trietsch, „Eine Spitzenindustrie für Palästina“, S. 218; ders., „Jüdische Frauenarbeit“, S. 162. Zu seinen Eindrücken aus New York: Ben-David [Davis Trietsch], „Die Juden und die Bodencultur“, in: Die Welt 3 (1899), Nr. 27, S. 1 f., hier S. 2. 201 Trietsch bezog sich in seiner Argumentation auf Franz Oppenheimer. Trietsch, Jüdische Emigration und Kolonisation, S. 414. 202 Ebd., S. 405–409. 203 Agnon, Gestern, Vorgestern, S. 121; Stenographisches Protokoll (1907), S. 395 f. 204 Trietsch, Palästina-Handbuch (1912), S. 242. Die Arbeitsbedingungen im Bezalel wurden von der Arbeiterschaft ebenfalls kritisiert, da die Arbeiter*innen, die meisten von ihnen aus dem Jemen, zu gering entlohnt wurden. Dalia Manor, „Orientalism and Jewish National Art: The Case of Bezalel“, in: Kalmar/Penslar, Orientalism, S. 142–161, hier S. 146. 205 Trietsch, Die Rolle der Industrie, S. 4. 206 Ebd.
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5. „Massenwanderung und Massensiedlung“
Um in Palästina ein Maximum an Bodenqualität und Ertragfähigkeit erreichen zu können, wandte sich Trietsch früh der Gewinnung erneuerbarer Energien zu. Neben dem Wind war es in erster Linie die Sonne, die eine gezielte energetische Verwendung finden sollte.207 Einerseits, und das war der Ausgangspunkt seiner Argumentation, weil das Land holz‑ und kohlenarm war. Andererseits wies Palästina eine hohe jährliche Globalstrahlung auf, womit die pro Quadratmeter eingestrahlte Sonnenenergie gemeint ist. Sie lag im Jahresmittel deutlich höher als etwa im industriereichen England, weshalb Trietschs euphorische Pläne zur ,Ausnützung der Sonnenwärme‘, wie er es nannte, in der Tat vielversprechend, ja visionär, waren. In diesem Zusammenhang hatte er auf die Möglichkeiten eines sogenannten Sonnenmotors hingewiesen, der wenige Monate zuvor auf einer Straußenfarm im südkalifornischen South Pasadena in Betrieb genommen worden war.208 Der Solar Motor oder Solar Generator, der im Durchmesser zehn Meter groß war und fast 4000 Kilogramm wog, war technologisch simpel und physikalisch clever. Mit ihm ließ sich Wärmeenergie in Bewegungsenergie umwandeln. Im Juni 1901 druckte Trietsch in der Monatsschrift Ost und West eine ausführlichere Beschreibung der Anlage samt zweier Fotografien ab.209 Die solarthermische Großanlage bestand aus einem großen Reflektor, auf dessen innerer Fläche 1788 Spiegelflächen montiert waren. Sie bündelten die eingestrahlte Sonnenenergie und konzentrierten sie auf einen Dampfkessel. Der etwa vier Meter lange zylindrische Kessel, der ein Volumen von rund 400 Litern Wasser fasste, erzeugte als Wärmeträger Dampf. Der Wasserdampf trieb mit einem Druck von mehreren Bar einen Motor an, der wiederum eine Höchstleistung von 15 PS erreichte und dem eine Wasserpumpe angeschlossen war. Mit ihr ließen sich gut 6000 Liter Grundwasser in der Minute heben, die für Bewässerungszwecke auf der Straußenfarm verwendet werden konnten.210 Trietsch befand die „phantastisch aussehende Maschine“211 aus Kalifornien für überaus geeignet, da Palästina wie der Sunshine State im Westen der USA über keine nennenswerten fossilen Brennträger verfügte, während die Sonne dort an über 300 Tagen im Jahr schien. Aus der klimatischen Ähnlichkeit zwischen Palästina und Kalifornien schlussfolgerte er: „Die ausserordentliche Bedeutung des SonnenMotors [!] auch für den Orient liegt auf der Hand. Auch hier, wie in Kalifornien, scheint die Sonne fast das ganze Jahr, ist Kohle schwer zu beschaffen und das Land, wie reich auch an unterirdischem Wasser, doch auf 207 Siehe
u. a. Trietsch, Palästina-Handbuch (1912), S. 247–250. Thomas, South Pasadena’s Ostrich Farm, Charleston 2007, bes. S. 69–76. 209 B. E. [Davis Trietsch], „Zur Orient-Kolonisation“, in: Ost und West, 1 (1901), Nr. 6, Sp. 443– 446. 210 Alison Bell, „Ostrich Farm? Solar Engine? In 1901, yes“, in: Los Angeles Times, 24. 4. 2011, S. 33. Zeitgenössische Beschreibungen der Funktionsweise finden sich in: „Harnessing the Sun. The Solar Motor“, in: Los Angeles Sunday Times, 13. 1. 1901, S. 1; „Machine to Harness the Rays of the Sun“, in: Stockton Evening Mail, 5. 2. 1901, S. 5; „Means Found to Utilize the Sun as a Source of Motive Power“, in: The Brooklyn Daily Eagle, 17. 2. 1901, S. 2. 211 Trietsch, „Zur Orient-Kolonisation“, Sp. 444. 208 Rick
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Abb. 5: Der sogenannte Sonnenmotor aus Kalifornien, 1901.
der Oberfläche trocken und daher unfruchtbar. Die Frage der künstlichen Bewässerung ist eine Lebensfrage für solche Länder.“212
In der technophilen Vorstellung von Trietsch und anderen Zionisten, darunter Soskin, der die Vorzüge der Solarenergie in späteren Jahren ebenfalls hervorkehrte, kannte die Entwicklungsfähigkeit Palästinas kein Ende.213 Ihr Blick auf das kleine Land war ein überaus optimistischer, der von einem hypertrophen Vertrauen in die Technik geprägt war. Dynamik, Effizienz und Fortschritt bildeten die Leitkategorien in ihrem Denken, mit denen sie den Aufbruch in eine bessere Zukunft verbanden. Trietsch war von diesen Möglichkeiten der Technik besonders euphorisiert. Aus ihnen leitete er eine für seine Agitation typische Steigerungslogik ab, die seine Erlösungshoffnungen im Sinne eines billiger, besser und schneller flankierten. Die um 1890 in bürgerlichen Kreisen der deutschen Gesellschaft wachsende Technikbegeisterung, an der sich mitunter grenzenlose Projektionen entzündeten, Ebd., Sp. 445. Trietsch, Die Fassungskraft Palästinas, S. 7; Soskin, „Das Problem der Kleinsiedlung“, S. 403. 212
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5. „Massenwanderung und Massensiedlung“
aber auch Kritik, ging mit einem veränderten Zeitbewusstsein einher.214 Demnach folgte auf die Transport‑ und Kommunikationsrevolution des 19. und 20. Jahrhunderts nicht nur eine Verdichtung von Raum, sondern auch von Zeit. Der Alltag wurde fortan einer effizienteren Zeitökonomie unterworfen. Die mit einer neuartigen Geschwindigkeitskultur konfrontierten Zeitgenoss*innen richteten sich dadurch immer stärker nach „dem Takt der Spinn‑ und Druckmaschinen, Eisenbahnen und Dampfschiffe“; ihre Lebensführung wurde von einem Beschleunigungsimperativ erfasst.215 Die ihnen zur Verfügung stehende Zeit entwickelte sich auf diese Weise zu einer kostbaren Ressource, die es optimal zu nutzen galt. Trietsch war von diesem veränderten Bewusstsein, das bei den Betroffenen nicht nur Faszination, sondern auch Ängste und Sorgen, bis hin zu einer nervösen Überforderung auslöste, nachhaltig eingenommen.216 Auch die von ihm geforderten Maximen für Palästina duldeten keinen Zeitverlust. Sowohl in seinen frühen als auch späteren Texten unterstrich er immer wieder, wie wichtig es sei, schnell und ergiebig zu handeln, da den jüdischen Palästinabestrebungen allein durch Entschlossenheit Erfolg beschieden sei. Sein Postulat eines eilfertigen Einsatzes richtete er auch an sich selbst. So arbeitete er oft bis tief in die Nacht, wie Briefe von ihm aus dem Romanischen Café in Berlin belegen. Das berühmte Café an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche wurde auch von anderen Zionistinnen und Zionisten besucht, denen Trietsch in der Zwischenkriegszeit meist aus dem Weg ging, worin er nach eigenen Aussagen Übung hatte. Er selbst widmete sich lieber geschäftig seinen Projekten, ehe das ,Romanische‘, wie es damals umgangssprachlich hieß, in den frühen Morgenstunden seine Türen schloss.217 Neben Trietschs Erwartungen an die Möglichkeiten der Technik, die er häufig in ein superlativisches Fortschrittsvokabular kleidete, bildete der Mensch den Ausgangspunkt seiner Agitation. Seine Fähigkeit, sich die Gesetze der Natur als ein „Mängelwesen“218 (Arnold Gehlen) lösungsorientiert anzueignen, übertrug Trietsch in besonderem Maße auf Jüdinnen und Juden in Palästina. Die von ihm und anderen Zionist*innen bedauerte und zugleich als Chance verstandene Rückständigkeit des Landes ließ sich somit überwinden, denn, so Trietsch 1921: „Der bestimmende Faktor bei der jüdischen Kolonisation in Palästina ist unser jüdischer 214 Hartmut Berghoff, „,Dem Ziele der Menschheit entgegen‘. Die Verheißungen der Technik an der Wende zum 20. Jahrhundert“, in: Frevert, Das Neue Jahrhundert, S. 47–78, hier S. 50, 70–76. 215 Peter Borscheid, Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt a. M. 2004, S. 143. 216 Ebd., S. 169. Zur Neurasthenie weiterhin grundlegend: Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, Darmstadt 1998. Eine neuere Studie bietet Patrick Kury, Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout, Frankfurt a. M. 2012. 217 Davis Trietsch an Ernst Herrmann, 9. 2. 1928 und 19. 7. 1928. CZA, A396/7. Zum Romanischen Café s. Jürgen Schebera, Vom Josty ins Romanische Café. Streifzüge durch Berliner Künstlerlokale der Goldenen Zwanziger, Berlin 2020. 218 Arnold Gehlen, Der Mensch: seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940.
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201
Mensch und seine Fähigkeiten.“219 Durch die systematische Aneignung technischer Innovationen sollten Jüdinnen und Juden den vorgeblichen „Industriebedarf des Orients“220 stillen. Die Forderung nach Industriegründungen war auf den ersten Kongressen kaum bis gar nicht zu vernehmen gewesen. Neben Trietsch war Willy Bambus einer der wenigen, der dafür geworben hatte, „die industrielle und gewerbliche Colonisation in den Vordergrund [zu] stellen.“221 Angesichts der geringen finanziellen Mittel der ZO verstand auch Bambus hierunter vorerst nur die Gründung kleiner Industrien, von denen er die Hausindustrie für besonders lohnend hielt.222 Wie Trietschs Anregungen wurden auch die von Bambus, der nach langer schwerer Krankheit im November 1904 verstarb, von der ZO nicht ernsthaft bedacht.223Als sie 1908 ihre ersten Schritte in der Siedlungsarbeit unternahm, konzentrierte sie sich ausschließlich auf die landwirtschaftliche Kolonisation. Trietsch, der wie kein zweiter auf die Vorzüge industrieller Initiativen hinwies, geriet so gewissermaßen zu einem Rufer in der Wüste. Die meisten Zionistinnen und Zionisten, an ihrer Spritze namhafte Vertreter wie Oppenheimer oder Ruppin, gaben der Landwirtschaft den Vorrang, auf deren Basis Industrien zu gründen waren.224 Einen einflussreichen Befürworter, der, anders als Trietsch und Bambus, von der ZO-Leitung als verlässlicher Experte geschätzt wurde, gab es allerdings: Otto Warburg. Der Berliner Professor hatte 1906 die Gründung eines ,Palästina-Industriesyndikats‘ angeregt. Das Syndikat, das ein Jahr später als private Gesellschaft mit geschäftlicher Basis in Berlin eröffnete, wollte die industriellen Möglichkeiten Palästinas auf ihre Rentabilität hin prüfen und durch private Kapitalanlegende, die von der ZO bislang nicht adressiert worden waren, vorbereiten helfen.225 Die Arbeit des Syndikats trat schon in den ersten Monaten auf der Stelle und führte in den nächsten Jahren zu keinen Ergebnissen. Mehrere seiner Zeichner zogen sich mit ihren Anteilen zurück, da sie die Projekte für nicht ausreichend rentabel hielten.226 Trietsch, der, wie zu erwarten, große Hoffnungen in das Projekt gesetzt hatte, beklagte die Untätigkeit des Syndikats. Für ihn war die Schuld auch bei Warburg zu suchen, der „allzu viele Sachen zu gründen und nichts richtig durch Stenographisches Protokoll (1921), S. 371 [Hervorh. im Original]. Trietsch, „Varia. Zur Lage der Türkei“, in: Jüdische Rundschau 18 (1913), Nr. 12, S. 114 f., hier S. 115; ders., Die östliche Judenfrage, S. 11. 221 Stenographisches Protokoll (1898), S. 185. 222 Ein Antrag zur Förderung der Hausindustrien in Palästina war von Bambus schon auf dem ersten Kongress gestellt worden. Stenographisches Protokoll (1897), S. 179. 223 Heinrich Loewe, „Willy Bambus“, in: Jüdische Rundschau 9 (1904), Nr. 45, S. 379 f. 224 Exemplarisch für diese Haltung: B. I., „Industrielle Kolonisation in Palästina“, in: Jüdische Rundschau 13 (1908), Nr. 44, S. 438. Dagegen Josef Gerstmann, „Einige Bemerkungen über industrielle Möglichkeiten in Palästina“, in: Die Welt 12 (1908), Nr. 26, S. 5 f. 225 Schäfer, Berliner Zionistenkreise, S. 128 f.; „Das Palästina-Industriesyndikat“, in: Die Welt 10 (1906), Nr. 48, S. 3 f.; „Palästina. Prof. O. Warburg über die wirtschaftliche Entwicklung Palästinas“, in: Jüdische Zeitung 2 (1908), Nr. 24, S. 7. 226 „Bericht über die Sitzung des Großen-Aktions-Komitees“, in: Die Welt 12 (1908), Nr. 2, S. 9. 219
220 Davis
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zuführen“227 vermochte, wie er sich 1914 beschwerte. Sein nicht unberechtigter Vorwurf, Warburg würde „fast auf jede Art der Palästinaarbeit ein Monopol“ legen, dürfte auch Ausdruck eines persönlichen Konflikts gewesen sein. So nahm Trietsch Warburg offenbar noch übel, dass er ihm Ende 1907 eine leitende Position im neuen Palästina-Ressort der ZO zugesagt hatte, von der er kurz darauf jedoch nichts mehr gewusst haben wollte.228 Trietschs Angriffe auf seinen früheren Weggefährten, der ihn 1906 ermuntert hatte, über die Aussichten der Industrie in der Fachzeitschrift Altneuland zu schreiben, bedürfen einer näheren Einordnung.229 Demzufolge war es damals kein leichtes Unterfangen, Industrien im türkischen Vorkriegspalästina zu gründen. Durch Binnenzölle, die im Prozentsatz den Einfuhrzöllen auf ausländische Industrieprodukte entsprachen, wurde der Aufbau einer eigenen Industrie maßgeblich erschwert. „Der Osmane“, so die herablassende Beurteilung Fritz Sternbergs, sei nicht nur „unfähig, selbst ein größeres Unternehmen zu leiten, er verstand es auch, jede bedeutende industrielle Entwicklung zu verhindern.“230 Die ungünstige Zollpolitik in Palästina, die ab 1910 zugunsten der Inlandsproduktion allmählich gelockert wurde, war entgegen Sternbergs chauvinistischer Kritik allerdings primär auf äußere Rahmenbedingungen zurückzuführen. So hatte das Osmanische Reich 1876 den Staatsbankrott erklären müssen, wodurch es unfreiwillig zu einem Rohstofflieferanten und Absatzmarkt für europäische Industrieprodukte degradiert wurde. Eine eigene Industrie kam dadurch nur in Form einzelner Projekte zum Tragen, die sich, wie in Palästina, fast immer ausländischen Investitionen verdankten. Letztere förderten schwerpunktmäßig eine Verwertung agrarischer Produkte, die günstig nach Europa exportiert wurden, sowie die Bauindustrie und das Kunstgewerbe.231 Erst der politische Umschwung nach dem Ersten Weltkrieg, mit dem die etwas mehr als 400-jährige osmanische Herrschaft ihr Ende fand, trug neben einer wachsenden Einwanderung bemittelter Jüdinnen und Juden zu einem größeren Interesse aufseiten der Privatwirtschaft bei. Hatten vor dem Krieg nur einige kleinere Fabrikanlagen existiert, von denen sich viele nicht in jüdischer, sondern in arabischer und deutscher Hand (,Templer‘) befanden, wuchs ihre Zahl zu Beginn der 1920er Jahre.232 Von 1923 bis 1926 stieg die Zahl der Fabriken in Palästina von 279 auf 592, die sich räumlich vor allem an der Küste in und um Haifa sowie in Tel 227 Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des XI. Zionisten-Kongresses, Berlin 1914, S. 219 [Hervorh. im Original]. 228 Davis Trietsch an Menachem Ussischkin, 20. 1. 1908. CZA, A24/994. 229 Gemeint ist Trietschs Aufsatz „Die Industrien Palästinas“, [wie Anm. 177]; Otto Warburg an Davis Trietsch, 9. 1. 1906. CZA, L1/8–130. 230 Fritz Sternberg, „Gedanken über Industrie und Handel in Palästina“, in: Erdtracht, An der Schwelle, S. 71–80, hier S. 71. Ähnlich kritisch: Böhm, Die Zionistische Bewegung (2. Teil), S. 142. 231 Quataert, The Ottoman Empire, S. 128–133. 232 Eine Übersicht über Industrien im türkischen Palästina findet sich bei Trietsch, PalästinaHandbuch (1912), S. 230–242. Zur Privatwirtschaft siehe v. a. Amit-Cohen, Zionism and Free Enterprise; Yossi Katz, The ,Business‘ of Settlement. Private Entrepreneurship in the Jewish Settlement of Palestine, 1900–1914, Jerusalem 1994.
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203
Aviv konzentrierten. Jerusalem und andere Städte im Innern des Landes blieben von dieser Entwicklung weitgehend unberührt.233 Einen wichtigen Motor für den Aufschwung bildete die Zuwanderung polnischer Jüdinnen und Juden ab 1924. Mit ihr gelangte erstmals eine größere Zahl von Menschen ins Land, die der Mittelschicht angehörten. Die Eingewanderten, von denen die meisten eigentlich in die USA emigrieren wollten, die durch das Immigration Law von 1924 aber nur noch per Quote passierbar waren, verfügten mehrheitlich über Eigenkapital und gewerbliche Erfahrungen. Indem viele ihren Besitz in Geschäften, Werkstätten oder Hotels anlegten, lösten sie einen kleinen Bau‑ und Investitionsboom aus, der besonders Tel Aviv ergriff. Die jüdische Konsumkraft in Palästina stieg parallel dazu an.234 Die mittelständische Einwanderung der 4. Aliyah, wie die ca. 82.000 Jüdinnen und Juden genannt werden, die bis 1929 nach Palästina einwanderten, wurde von vielen Zionistinnen und Zionisten begrüßt, vom arbeiterzionistischen Lager aber auch kritisiert.235 Innerhalb der ZO-Leitung führte sie zu einem Umdenken. So lobte etwa Ruppin die neue Entwicklung und sah wie Trietsch besonders in der Bau‑ und Textilindustrie vielversprechende Aussichten. Gleichzeitig betonte er aber, die Landwirtschaft müsse weiterhin die Basis des Jischuv bilden, da ihre Produktion erst Nebenindustrien ermögliche. Zudem würden landwirtschaftliche Siedlungen dafür sorgen, dass keine jüdischen Inseln in den Städten entstünden, sondern das gesamte Land großflächig besiedelt würde.236 Die verstärkte Bezugnahme auf die Entwicklungsmöglichkeiten der Industrie hatte 1919 in der ZO zur Gründung eines Handels‑ und Industriedepartments geführt. Mit ihm sollten die Aussichten für Industriegründungen erforscht und an interessierte, kapitalkräftige Kreise herangetragen werden.237 Wie Warburgs Palästina-Industriesyndikat konnte das ZO-Department, das zwischenzeitlich aufgelöst werden musste, nur auf geringe finanzielle Mittel zurückgreifen. Seine Arbeit lief in den 1920er Jahren daher weitgehend ins Leere.238 Neue jüdische Industriebetriebe verdankten sich stattdessen fast ausschließlich der sogenannten Privatinitiative, 233 Böhm,
Die Zionistische Bewegung (3. Teil), S. 406. Rund ein Drittel der zwischen 1924 und 1929 eingewanderten Jüdinnen und Juden verließen Palästina wieder. Immigration to Israel: The Fourth Aliyah (1924–1929), abrufbar unter: https://www.jewish virtuallibrary.org/the-fourth-aliyah-1924-1929 (Zugriff 12. 3. 2022). 235 Der ,kleinkapitalistische Geist‘ der 4. Aliyah wurde teilweise auch im bürgerlichen Lager kritisiert. So warnte Weizmann, Palästina dürfe nicht zu einem neuen „Dzika und Nalewki“ werden, womit er zwei jüdische Verkaufsstraßen in Warschau meinte. Böhm, Die Zionistische Bewegung (3. Teil), S. 405. 236 Arthur Ruppin, „Aufbauarbeit in Palästina in den nächsten zehn Jahren“, in: Palästina 11 (1928), Nr. 8–10, S. 341–354, hier S. 343. 237 Berichte der Executive der Zionistischen Organisation an den XII. Zionisten-Kongress. III. Organisationsbericht, London 1921, S. 75. Das Department gab auch Broschüren heraus, wie N. Wilbuschewitz, The Industrial Development of Palestine, London 1920. 238 Für Oktober 1920 bis Juni 1921 standen dem Department nur 822 Pfund Sterling zur Verfügung. Die Tätigkeit der Zionistischen Organisation im Jahre 1921/1922. Berichte der Exekutive der Zionistischen Organisation an die Tagung des Zentralrates Karlsbad 1922, S. 117. 234
204
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während die ZO nur an einzelnen Großprojekten, wie dem hydroelektrischen Ruthenberg-Projekt, beteiligt war.239 Das nach dem Wasserbauingenieur Pinhas Ruthenberg (1879–1942) benannte Projekt zielte darauf, die Wassergefälle des Jordans, auf die Trietsch schon 1910 in seinem Palästina-Handbuch hingewiesen hatte, in Elektrizität umzuwandeln.240 Trietsch, der die Bedeutung des Privatkapitals noch vor dem Ersten Weltkrieg hervorgehoben hatte, verfolgte den allmählichen Aufschwung der Industrie in der Zwischenkriegszeit mit Wohlwollen. Viele der von ihm seit Jahren zur Diskussion gestellten Industrien gewannen nun an Zugkraft, darunter die Tabakindustrie in Palästina, die ab 1924 ein regelrechtes „Tabakbaufieber“241 auslöste. Forderungen nach einer großzügigeren Finanzierung der Industrie wurden auch in den Führungsebenen der ZO im Laufe der Zwischenkriegszeit lauter. Besonders kleineren Industrien und der sogenannten Hausindustrie, die Trietsch und Bambus schon vor mehr als 20 Jahren proponiert hatten, schenkte man nun größere Aufmerksamkeit.242 Die Beschlüsse der zionistischen Leitung sahen so eine höhere Budgetierung für Industrieprojekte vor. Da ihre Mittel allerdings weiterhin begrenzt blieben, war es letztlich die Landwirtschaft, die auch künftig die meisten Gelder für sich reklamieren konnte.243 1929 erkannte der Kongress zwar ganz im Sinne von Trietsch an, dass „eine ständige Verstärkung der jüdischen Einwanderung nach Palästina nur möglich ist, wenn gleichzeitig […] der jüdischen Industrie die Möglichkeit einer gesunden Entwicklung gegeben wird“244. Das limitierte Budget der ZO und ihrer Institutionen blieb jedoch weiterhin der Landwirtschaft vorbehalten. Trietsch bedauerte diese einseitige und seiner Meinung nach antiquierte Zuteilung, die durch den wachsenden politischen Einfluss der jüdischen Arbeiterschaft in Palästina begünstigt wurde. Für ihn bildete eine Kombination aus Industrie und Landwirtschaft, die er im ,Industriedorf ‘ verwirklicht sah, den besten Weg.245
5.5 Palästina als ein moderner Garten Eden: Gartenstädtische Industriedörfer Das wachsende Interesse der zionistischen Leitung an industriellen Projekten verschaffte Davis Trietsch, der auf ihre Bedeutung schon vor 1914 hingewiesen hatte, nach dem Ersten Weltkrieg eine größere Anerkennung innerhalb der ZO. So konn Halpern/Reinharz, Zionism and the Creation of a New Society, S. 234. der Exekutive an den XV. Zionistenkongress, Basel 30. August 1927, London 1927, S. 285–289; Trietsch, Palästina-Handbuch (1910), S. 212. 241 Böhm, Die Zionistische Bewegung (3. Teil), S. 420. 242 Bericht der Exekutive an den XV. Zionistenkongress, S. 294 f. 243 Beschlüsse der zionistischen Actions-Comités, 1919–1935, Fol. XVI 45, XIV 49, XV 26. CZA L100/2824. 244 Beschlüsse des 16. Zionisten-Kongresses Zürich 28. Juli – 11. August 1929, London 1929, S. 13. 245 Davis Trietsch, „Industrielle oder agrarische Kolonisation in Palästina?“, in: Jüdische Rundschau 14 (1909), Nr. 11, S. 122. 239
240 Bericht
5.5 Palästina als ein moderner Garten Eden
205
te er auf dem Karlsbader Kongress ein Grundsatzreferat halten, obwohl mehrere in Palästina lebende Delegierte ihm dieses exklusive Rederecht nicht zugestehen wollten, da er in Berlin wohnte. Darüber hinaus gab der KH seine Schrift Die Rolle der Industrie beim Aufbau Palästinas (1921) heraus.246 Trotz abweichender Meinungen in Bezug auf die Zahl der Einwander*innen konnte Trietsch zu dieser Zeit noch hoffen, dass seine Pläne nun einer Verwirklichung entgegensähen. Sein Optimismus verstärkte sich zusätzlich, als auf dem Kongress beschlossen wurde, ein ,Gartenstadtdezernat‘ ins Leben zu rufen, mit dessen Leitung Trietsch betraut werden sollte.247 Wie Böhm bilanzierte, fasste jeder Zionist*innenkongress allerdings „eine Unzahl von Beschlüssen, die teils Demonstrations-, teils Wunschcharakter [hatten], für deren Durchführung aber die nötige Kraft nur in wenigen Fällen vorhanden“248 war. Dies führte schließlich dazu, dass auch das Ressort für gartenstädtische Siedlungen – sehr zum Missfallen von Trietsch – aufgrund fehlender Mittel nicht realisiert werden konnte. Erschwerend kam hinzu, dass er vorerst kein Visum für Palästina erhielt, weshalb er die Ressortleitung vor Ort auch gar nicht hätte übernehmen können.249 Als ihm das Konsulat in Berlin im Laufe des Jahres 1923 die Einreise schließlich gestattete, musste Trietsch verbittert feststellen, dass die Gartenstadt-Pläne der ZO in der Zwischenzeit ausgesetzt worden waren.250 1925 versuchte er erneut, die Leitungsebenen der Organisation von der Notwendigkeit eines Gartenstadtdezernats zu überzeugen. Wenige Wochen später stellten die Delegierten auf dem 14. Kongress in Wien tatsächlich den Antrag, ein Dezernat für die „Behandlung aller mit diesen Problemen zusammenhängenden Fragen (Gartenstadt, Industriedorf )“251 zu gründen. Da dem Antrag keine praktischen Resultate folgten, zog sich Trietsch, der dem Kongress im August 1925 nur noch als Beobachter beigewohnt hatte, endgültig aus der Organisation zurück. Seine große Enttäuschung über die zaghaften Schritte der ZO veranlassten ihn zu dem bissigen Kommentar, er hätte mittlerweile „das grösste Interesse sogar an der Teilnahme bei einer Siedlungs-Konferenz ausgesprochen antisemitische[r] Organisationen.“252 Trietschs Bemerkung, die er gegenüber der nichtzionistischen Agudas Jisroel zwei Monate nach dem Wiener Kongress fallen ließ, illustriert seine tiefsitzende Verbitterung, die er der ZO-Leitung bis zu seinem Tod entgegenbringen sollte. Im Rahmen seiner Industrieagitation hatte Trietsch auch auf die Negativseiten einer industriellen Entwicklung in Palästina hingewiesen. So warnte er eindring Ders., Die Rolle der Industrie. „Gartenstadt-Kolonisation“, in: Jüdische Rundschau 26 (1921), Nr. 78/79, S. 577; Stenographisches Protokoll (1921), S. 762. Ruppin, Tagebücher, Briefe, S. 327. 248 Böhm, Die Zionistische Bewegung (3. Teil), S. 226. 249 Siehe Kapitel 5.3, Anm. 112. 250 The Zionist Organisation. Berlin Office an Davis Trietsch, 27. 7. 1923. CZA, A104/2. 251 Zentralbüro der Zionistischen Organisation (Hg.), Der XIV. Zionistenkongress. Wien, 18. – 31. August 1925. Kurzer Bericht, Beschlüsse, Erläuterungen, London 1925, S. 24. 252 Davis Trietsch an Salomon Ehrmann und Siegfried Oppenheimer, 15. 10. 1925. CZA, A104/41. 246
247 Ders.,
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lich davor, die Schattenseiten der Hochindustrialisierung, wie man sie aus Europa und den USA kannte, zu übernehmen.253 Wie andere Zionistinnen und Zionisten, darunter Herzl, imaginierte er Palästina als ein Laboratorium künftiger Möglichkeiten, das Schutz vor Verfolgung bieten und gleichzeitig zu einem Vorbild für andere Nationen werden sollte. In der allgemeinen zionistischen Wahrnehmung, von links wie von rechts, stellte Palästina ein probates Testfeld für Reformansätze dar, in das sich zeitgenössische Debatten in Bezug etwa auf die ,Volksgesundheit‘ oder den sozialen Ausgleich sinnstiftend einspeisen ließen.254 Von zentraler Bedeutung für Trietsch war dabei die Frage, wie sich Arbeits‑ und Wohnverhältnisse im Umfeld einer bürgerlichen Sozialreform bestmöglich gestalten ließen. Eine industrielle Produktionsweise sollte seiner Meinung nach zwar breitflächig gefördert werden, da sie in kürzerer Zeit mehr Arbeitsplätze schuf, gleichzeitig durften die „Wohnhöhlen der städtischen Industriequartiere“255 Europas aber keinen Einzug in Palästina halten. Das Modell der Gartenstadt, welches eine Kombination aus städtischer und ländlicher Lebensweise bereithielt, befand Trietsch daher für besonders geeignet. Palästina sollte unter modernen Vorzeichen in den ,Weltverkehr‘ eingebunden und durch eine zeitgemäße Industrieproduktion modernisiert werden, seiner Bevölkerung sollten die Kehrseiten einer solchen Umstrukturierung aber von vornherein erspart bleiben. In einem größeren Kreis von Zionist*innen sprach er das erste Mal auf dem sechsten Kongress über die Vorteile gartenstädtischer Siedlungen. In Reaktion auf das Referat von Oppenheimer, der den Grundsatz vertreten hatte, „dass Bauern schaffen muss, wer Städte schaffen will“256, hielt Trietsch den Delegierten entgegen, industriell-städtischen Siedlungsformen den Vorzug zu geben. Unter Verweis auf englische Gartenstadt-Experimente, die auch in Deutschland positiv rezipiert worden waren, betonte er, es dürfe sich in Palästina nicht um städtische Gemeinwesen handeln, „wie wir sie hier kennen, wie diese engen, schmutzigen, dürftigen Fabrikstädte.“257 Der Alltag dort sollte stattdessen durch gesunde Wohnverhältnisse geprägt sein, die ein glückliches und friedliches Zusammenleben im Windschatten der Industrie ermöglichten. Nähere Angaben zum Aufbau einer Gartenstadt, deren Vorzüge den jüdischen Bewohnerinnen und Bewohnern Palästinas vorbehalten sein sollten, machte Trietsch erstmals 1905. In seinem Aufsatz „Die Gartenstadt“, der ebenfalls in der Zeitschrift Altneuland auf Veranlassung von Warburg erschien, befürwortete er eine „halb ländliche, halb städtische Ansiedelung – im Zentrum mehr städtisch, nach der Peripherie […] mehr landwirtschaftlich“. Die dort lebenden Frauen und 253 Davis
Trietsch, Jüdische Emigration und Kolonisation, S. 266. „Ja, wir haben die Kraft, einen Staat, und zwar einen Musterstaat zu bilden.“ Herzl, Der Judenstaat, S. 26. Bezeichnend für die gedachte Vorbildfunktion Palästinas ist Herzls Roman Altneuland. Siehe auch Heinze-Greenberg, Europa in Palästina, S. 28–34. 255 Trietsch, „Die Gartenstadt“, S. 352. 256 Stenographisches Protokoll (1903), S. 187. 257 Ebd., S. 311. 254
5.5 Palästina als ein moderner Garten Eden
207
Männer sollten die Möglichkeit erhalten, „industrielle, hausindustrielle, merkantile, landwirtschaftliche und andere Berufe“258 zu ergreifen. Die konzentrisch angelegten Siedlungen waren vorzugsweise in der Nähe von größeren und kleineren Städten im Binnenland, oder aber entlang der sich im Aufschwung befindlichen Küste zu gründen. In Trietschs Vorstellung waren Palästina und seine Nachbarländer einst altes Garten‑ und Kulturland gewesen, in dem wieder ,Milch und Honig‘ dank einer planvollen Siedlungspolitik fließen sollten.259 Die innere Anordnung der Siedlungen basierte auf einem funktionalen Planungsprinzip, das gemäß einer zeit‑ und wegsparenden Gliederung die drei Grundfunktionen Wohnen, Arbeiten und Erholung abdeckte. Das Zentrum einer jeden Gartenstadt sollte öffentlichen Gebäuden und Plätzen vorbehalten bleiben, die für ihre Bewohner*innen entlang mehrerer baumbestandener Ringstraßen auf möglichst kurzen Wegen passierbar waren. Neben kommunalen Einrichtungen, wie Gemeindehäusern, Schulen oder Synagogen, die das Gemeinschaftsleben stärken sollten, zählte Trietsch mehrere Park‑ und Grünanlagen. Sie sollten für Erholung und eine gesündere Lebensweise sorgen. Im weiteren Innenbereich der ringförmigen Siedlung waren Wohnhäuser mit kleineren Nutzgärten vorgesehen, aus denen sich die Familien ihren täglichen Nahrungsbedarf selbständig ziehen konnten. Eine äußere Ringstraße führte zu den Fabrikanlagen der Gartenstadt, die ihr industrielles Kernstück bildeten. Der Arbeitsweg der dort Beschäftigten war ebenfalls kurz bemessen, da Trietsch das ,Prinzip der kurzen Wege‘ auch auf den äußeren Bereich der Siedlung planerisch anwandte. Die einzelnen Betriebsstätten waren außerdem an das regionale Eisenbahnnetz angeschlossen. Die Industrieprodukte der Siedlung gelangten dadurch ohne Umwege in den regionalen Verkauf, der durch eine Verdichtung des Verkehrsnetzes über Palästina hinaus zu intensivieren war. Ein dritter Ringgürtel blieb schließlich der landwirtschaftlichen Produktion vorbehalten. Er sollte die größeren Gärten und die mit modernen Maschinen ausgestatteten kooperativen Landwirtschaftsbetriebe beherbergen.260 Nach Trietschs Plänen sollten in den Siedlungen mindestens 1000 bis 5000 Menschen leben. Davon versprach er sich eine größere Sicherheit, die es anscheinend brauchte, obwohl er das Verhältnis zur nichtjüdischen Bevölkerung als überwiegend friedlich beschrieb. Jede Familie sollte einen Nutzgarten mit einem Haus auf einer Grundfläche von 1 Hektar erhalten. Das Stück Land konnte nur in Erbpacht genommen werden, wodurch man eine einseitige Aneignung des Wertzuwachses und Bodenspekulation verhindern wollte, vor allem aber den Verkauf an nichtjüdische Interessenten.261 Auch der JNF hatte das Prinzip des unveräußerlichen nationalen Bodens zu seinem Leitsatz erklärt, indem er die von ihm ausgegebenen Trietsch, „Die Gartenstadt“, S. 357. S. 353. 260 Ebd., S. 356. 261 Ebd., S. 355. 258
259 Ebd.,
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Böden für 49 Jahre verpachtete. In vielen Fällen gingen seine Böden allerdings an junge Pionier*innen, die die Pacht nicht bezahlen konnten, wodurch der JNF meist auf den Vorschüssen sitzen blieb. Trietsch plante dagegen, die Familien über einen Pachtzins zu beteiligen, um den Kaufpreis der Böden und die laufenden Kosten zu decken. Dieser fiel allerdings moderat aus, wodurch auch Personen mit geringem Eigenkapital eine Einzelwirtschaft betreiben konnten, was als ein gebührender sozialreformerischer Baustein gewertet werden kann. Trietschs Gartenstadtvision lag das genossenschaftliche Prinzip zugrunde. Wie schon im Programm der JOKG sollte eine Terraingesellschaft den Boden kaufen, die als Eigentümerin mittelfristig von einer ‚Gemeinde-Genossenschaft‘, wie er es nannte, abgelöst werden sollte. Gemeinwirtschaftliches Eigentum an Grund und Boden und das „Ideal einer in sich geschlossenen Wirtschaft“262 waren das Ziel. Damit grenzte sich Trietsch von den Initiativen einzelner Unternehmer ab, die, wie der US-amerikanische Automobilbauer Henry Ford (1863–1947), Arbeitersiedlungen im Umkreis ihrer Betriebsstätten anlegen ließen.263 Zwar verfolgte er sie mit großem Interesse, da sie die Wohn‑ und Lebensbedingungen ebenfalls verbessern wollten, doch strebten Ford und andere Unternehmer keine weitreichendere Sozialreform an. Eine genossenschaftliche Selbstverwaltung der Arbeiterinnen und Arbeiter lag ihren Plänen nicht zugrunde. Für Trietsch, der nicht als Fabrikant, sondern als Humanist argumentierte, stellten der Selbsthilfezusammenschluss, die Solidarität und Selbstversorgung dagegen den Schlüssel für eine ,Versöhnung der sozialen Gegensätze‘ in Palästina dar. Während die Familien ihre Grundnahrungsmittel überwiegend selbst aus ihren Gärten beziehen sollten, blieben alle weiteren Lebensmittel im äußersten Ring der Siedlung herzustellen. Trietschs Planungsideal baute so auf dem einer selbstwirtschaftenden Produzent*innengemeinschaft auf, die am Privatbesitz festhielt, in Konsumtion und Produktion aber dem Prinzip des gemeinsamen Einkaufs und Verkaufs folgte. So waren Großeinkäufe vorgesehen, mit denen unter anderem Transportkosten gespart und der verteuernde Zwischenhandel umgangen werden sollten. Der Hauptverdienst der Bewohnerinnen und Bewohner, deren Kaufkraft somit auf einer Interessensolidarität basierte, sollte Trietsch zufolge aber nicht nur aus einer Arbeit im Garten und in den genossenschaftlichen Landwirtschaftsbetrieben resultieren. Hauptberuflich in der Landwirtschaft arbeiten sollten die ,Araber‘, da Palästina „kein leeres Land“ sei, wie Trietsch bilanzierte, sondern ein Land, das „von einer agrarischen Bevölkerung mit agrarischen Überschüssen“264 bewohnt werde. Im Sinne einer volkswirtschaftlichen Produktionsteilung sollten 262 Trietsch,
„Palästina als jüdisches Siedlungsland“, S. 156. Zu den von Ford nach dem 1. Weltkrieg in Michigan gegründeten village industries siehe Howard P. Segal, Recasting the Machine Age. Henry Ford’s Village Industries, Boston 2005; Quentin R. Skrabec, The Green Vision of Henry Ford and George Washington Carver. Two Collaborators in the Cause of Clean Industry, Jefferson, London 2013, S. 127–139. 264 Trietsch, Neue Grundlagen, S. 6. Siehe auch seinen Artikel „Vorzeichen einer neuen Entwicklung“, in: Wiener Morgenzeitung, 7. 6. 1923, S. 2. 263
5.5 Palästina als ein moderner Garten Eden
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sie und die jüdische Bevölkerung einander ergänzen. Der arabischen Bevölkerung, die sonst kaum Erwähnung in Trietschs Texten fand, kam dadurch die wichtige Rolle eines preisgünstigen Lebensmittelproduzenten zu, der letztlich die Bedürfnisse einer wachsenden Zahl jüdischer Eingewanderter stillen sollte. Während sich die ,Araber‘ dieser kolonialistischen Lesart folgend bloß für landwirtschaftliche Arbeiten eigneten, die an den Bedürfnissen von Jüdinnen und Juden ausgerichtet blieben, sollten die Bewohnerinnen und Bewohner der Gartenstädte in kleinindustriellen Betrieben eine lohnende Beschäftigung finden. Eine „dichte Besiedlung im Kleinbesitz, aber in großen Kolonien“265, in der sich mehrere Industriebetriebe befanden, hielt Trietsch für überaus geeignet. Durch ein breiteres, resilienteres Erwerbsangebot, das sich aus einer angegliederten Industrie und Landwirtschaft, der Gartenarbeit und hausindustriellen Heimarbeit speiste, sollten Monostrukturen verhindert werden. Saisonal bedingten Produktionsschwankungen und Absatzkrisen konnte dadurch im Voraus begegnet werden, während sich zugleich verschiedene Personenkreise niederlassen konnten. Ein solch ausdifferenziertes Arbeits‑ und Wohnangebot war für Trietschs großzügige Einwanderungspläne grundlegend, da sie auf keiner ,Auslese‘ basierten und älteren Menschen eine Ansiedlung ermöglichen sollten.266 Durch die gemeinsame Arbeit im Familien‑ und Genossenschaftsverbund konnte diese Gruppe ebenfalls am zionistischen ,Aufbauwerk‘ beteiligt werden, ohne sich selbst vor den Pflug spannen lassen zu müssen. Auch Trietsch hatte hinsichtlich seiner eigenen Einwanderung nicht „ans Hacken und Graben“267 gedacht, wie er 1929 seinem Freund Ernst Herrmann anvertraute. Stattdessen wollte er, zu diesem Zeitpunkt 59 Jahre alt, seine Arbeit als Schriftsteller fortsetzen und sich in Palästina nebenberuflich in der Gartenarbeit betätigen. Um den hohen Stellenwert des industriellen Sektors in seinem Planungsmodell begrifflich zu markieren, gab Trietsch letztlich der Bezeichnung ,Industriedorf ‘ den Vorzug. Zwar sprach er gleichermaßen von Gartenstadt und Industriedorf, betonte aber, dass Letzterer der beiden Begriffe „der größeren Deutlichkeit wegen“268 vorzuziehen sei. Auf diese Weise kehrte er die Bedeutung von Industriegründungen hervor und verband die beiden gegensätzlichen Sphären Moderne und Ursprünglichkeit geschickt miteinander. So versteht man im herkömmlichen Sinne unter einem Dorf eine ländliche Gruppensiedlung mit einer vorwiegend agrarischen Einwohnerschaft, die in der Regel eine geringere Mobilität und Arbeitsteilung 265 Ders., „Palästina als jüdisches Siedlungsland“, S. 153 f.; ders., Jüdische Emigration und Kolonisation, S. 292. 266 Zu dieser Grundsatzhaltung von Trietsch hieß es in einem Bericht: „Die strenge Auslese der Menschen hält er [Trietsch] für grundfalsch, da die Arbeitsmöglichkeiten in Palästina sehr vielfältig sind und jedem Juden nach Kraft und Neigung den geeigneten Platz anweisen.“ „Die Erez Jisroel-Tagung der Agudas-Jisroel am 15. und 16. Februar“, in: Der Israelit 66 (1925), Nr. 8, S. 1–4, hier S. 3. 267 Davis Trietsch an Ernst Herrmann, 19. 1 2. 1929. CZA, 104/5. 268 Trietsch, Die östliche Judenfrage, S. 15; ders., „Palästina als jüdisches Siedlungsland“, S. 155.
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5. „Massenwanderung und Massensiedlung“
aufweist. Die Sozialbeziehungen gestalten sich dadurch meist informeller.269 Industrien werden dagegen mit größeren gewerblichen Betriebsstätten in einem urbanen Milieu assoziiert, in denen eine höhere Anzahl von Menschen in moderner Arbeitsteilung Beschäftigung findet. Anders als das Leben in dörflichen Strukturen bewirkt diese verdichtete Ballungszone eine größere Anonymität im Sozialgefüge, aus der eine stärkere Mobilität resultiert, oft aber auch infrastrukturelle Devianzen und ökologische Belastungen.270 Trietschs ,Industriedörfer‘, in denen landwirtschaftliche Produkte effizient, beinahe industriell erzeugt wurden, sollten diese Negativfolgen planvoll umgehen und eine Harmonisierung des technisch-industriellen Fortschritts ermöglichen. Sein Ziel war ein gleichmäßiges Wachstum der jüdischen Siedlungen, die sich dank Subsistenzwirtschaften, Grün‑ und Erholungsflächen sowie diverser kultureller und sozialer Einrichtungen durch eine gesündere Lebensweise und ein höheres Versorgungsniveau auszeichneten. Diese sozialreformerische Vision hob sich von den ,Industriedörfern‘ ab, wie sie von bundesdeutschen Historikern Ende der 1970er Jahre aufgefasst wurden. Sie verstanden unter ihnen Dörfer im Ruhrgebiet, insbesondere entlang der Emscher, die im Zuge der Hochindustrialisierung explosionsartig angewachsen waren, ohne eine schrittweise Stadtentwicklung zu durchlaufen.271 Da ihnen das preußische Innenministerium die Stadtrechte trotz ihres expansiven Wachstums meist vorenthielt, gerieten sie in der Folge zu aufgeblähten Riesendörfern in einem industriellen Ballungsraum. Während der Begriff in der Forschung als ein urbanisierungsgeschichtlicher Zugriff fungiert, um städteähnliche Gebilde zu beschreiben, die weder Stadt noch Dorf waren, zirkulierte der Terminus unter den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen nicht. Anstatt von ,Industriedörfern‘ sprachen sie gemeinhin von Land‑ und Industriegemeinden oder schlicht von Dörfern.272 In zionistischen Kreisen fand der Begriff ebenfalls keine Verwendung, bis ihn Trietsch das erste Mal 1911 in einem Welt-Artikel gebrauchte.273 Er wurde daraufhin mit ihm in Verbindung gebracht, so unter anderem von Carl Ballod, der 1919 von „Industriedörfern [sprach,] (um den Ausdruck von Davis Trietsch zu gebrauchen)“274. Trietsch wiederum dürfte mit dem Terminus, wie schon im Falle von Greater Palestine, über englischsprachige Texte in Kontakt gekommen sein. So war parallel zum Begriff Garden City Anfang des 20. Jahrhunderts häufig von 269 Detlev Vonde, Revier der großen Dörfer. Industrialisierung und Stadtentwicklung im Ruhrgebiet, Essen 1989, S. 15. 270 Ebd., S. 203. 271 Vonde, Revier der großen Dörfer; Lutz Niethammer, Umständliche Erläuterung der seelischen Störung eines Communalbaumeisters in Preußens größtem Industriedorf – oder: die Unfähigkeit zur Stadtentwicklung, Frankfurt a. M. 1979; Jürgen Reulecke, Die deutsche Stadt im Industriezeitalter. Beiträge zur modernen deutschen Stadtgeschichte, Wuppertal 1978. 272 Schriftliche Auskunft durch Detlev Vonde vom 4. 4. 2019. 273 Trietsch, „Organisation der Emigration“, S. 1256. 274 Carl Ballod, „Die Möglichkeiten des Zionismus“, in: Volk und Land 1 (1919), Nr. 8/9, Sp. 225–244, hier Sp. 233 [Hervorh. im Original].
5.5 Palästina als ein moderner Garten Eden
211
Village Industries die Rede, wovon sich sein Industriedorf abgeleitet haben könnte.275 Beide, die Genossenschafts‑ und die Gartenstadtidee, hatten ihren Ursprung in Großbritannien genommen. Während der Genossenschaftsgedanke im Zuge der Frühindustrialisierung aufgekommen und schon im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts durch Sozialexperimente erprobt worden war, die in anderen Ländern rezipiert wurden, drang die später entwickelte Gartenstadtidee erst an der Schwelle zum 20. Jahrhundert in die Diskussion um neue Formen des Städtebaus ein.276 Der „Vater der Idee“277 war, wie auch Trietsch anerkannte, der schon eingangs erwähnte Ebenezer Howard. Mit seiner Schrift To-Morrow. A Peaceful Path to Real Reform (1898), die 1902 unter dem Titel Garden Cities of To-Morrow in zweiter Auflage erschien, legte er das theoretische Fundament für die Gartenstadtbewegung.278 Darin sah Howard eine Dezentralisierung in Form neuer autarker Städte vor, die eine begrenzte Einwohner*innenzahl von rund 30.000 kennzeichnete. Sie sollten außerhalb städtischer Agglomerationen entstehen, wo sie ein Leben im Einklang mit Natur und Urbanität ermöglichten.279 Howards Gartenstadtidee, die international breit rezipiert wurde, ist somit nicht als eine bloße Rückkehr zu einem ländlichen Lebensstil zu verstehen. Vielmehr war sie das Ergebnis eines urbanen Reformdiskurses, der neue Formen des städtischen Zusammenlebens visionierte, bei denen ein Wertzuwachs der Gemeinschaft hinzukam, während Bodenspekulation und Leerstand von vornherein verhindert wurden. Dieser Ansatz dürfte auch Trietsch, der sich frühzeitig gegen die „Ackerbauschwärmer“280 in der ZO positioniert hatte, begeistert haben. Für die Verbreitung der Gartenstadtidee im Frühzionismus war Trietsch eine Schlüsselfigur, wie schon Zeitgenossinnen und Zeitgenossen registrierten. So würdigte man ihn 1911 unter anderem in der Jüdischen Volksstimme, die in Wien erschien, als einen „unermüdlichen Vorkämpfer der palästinensischen Gartenstadt“281. Sein bemerkenswertes Engagement wurde im Zuge des zwölften Zionist*innenkongresses auch von der ZO-Leitung anerkannt. Zwar setzte sie den Ausbau landwirtschaftlicher Siedlungen weiterhin an erste Stelle ihrer nationalen 275 Siehe exemplarisch M. Hyamson, „The Mission of Judaism“, in: B’nai B’rith Messenger 4 (1901), Nr. 73, S. 3. In dem Artikel ist von „garden colonies and village industries on a sufficiently large scale in the outskirts of London“ die Rede. Ebd. 276 Sonder, Gartenstädte für Erez Israel, S. 13; Michael Prinz, „Genossenschaften“, in: Kerbs/ Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen, S. 251–263, hier S. 256. Zur Rezeption in Deutschland s. Teresa Harris, The German Garden City Movement: Architecture, Politics, and Urban Transformation, 1902–1931, New York 2012. 277 Davis Trietsch, „Gartenstädte und Gartenstädte“, in: Jüdische Rundschau 17 (1912), Nr. 13, S. 112 f., hier S. 112. 278 Die transnationale Breitenwirkung der Gartenstadtidee fokussiert u. a. der Sammelband Garden Cities and Colonial Planning von Liora Bigon und Yossi Katz. 279 Kristiana Hartmann, „Gartenstadtbewegung“, in: Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen, S. 289–299, hier S. 290. 280 Davis Trietsch, „Gartenstadt-Probleme“, in: Jüdische Rundschau 16 (1911), Nr. 29, S. 331 f. 281 „Literatur. Die deutsche Gartenstadtbewegung, 1911“, in: Jüdische Volksstimme 12 (1911), Nr. 39, S. 6
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5. „Massenwanderung und Massensiedlung“
Aufbauarbeit, städtische Siedlungsformen traten in der Zwischenkriegszeit aber vermehrt in ihr Blickfeld. Angesichts der Sozialstruktur der jüdischen Einwander*innen, die in der Galut zumeist im urbanen Raum gelebt hatten, musste auch ihr klar gewesen sein, dass nicht alle von ihnen für ein Leben auf dem Land zu begeistern waren. Viele führende ZO-Vertreter, unter ihnen besonders Ruppin, bezogen die früheren Lebenswelten der an ein „städtisches Milieu gewöhnten Hirn‑ und Nervenjuden“282, wie er sie nannte, mit der Zeit daher stärker in ihre Pläne mit ein. Für sie wie für Trietsch war es maßgebend, die vielerorts als verheerend empfundenen Wohnbedingungen in den Großstädten der jüdischen Diaspora nicht in Palästina zu duplizieren, sondern dort gesunde und harmonische Lebensverhältnisse zu schaffen. Das Konzept der Gartenstadt bzw. des Industriedorfs bot hier eine geeignete Lösung, da es das Land‑ und Stadtleben symbiotisch miteinander zu verbinden in Aussicht stellte. Wie Ines Sonder herausgearbeitet hat, wurde die Gartenstadtidee schließlich zum ersten städtebaulichen Leitbild für das ,zionistische Aufbauwerk‘.283 Bis in die 1940er Jahre hinein orientierten sich viele Stadtplaner*innen und Architekt*innen am Gartenstadtmodell, das sie in Palästina und später in Israel zum leitenden Gestaltungsprinzip einer neuen städtischen Kultur deklarierten.284 In der Folge kam es zur Gründung mehrerer jüdischer Gartenvororte außerhalb bestehender Städte, deren bekanntester Achusat Bayit war. 1909 als Gegenentwurf zu den beengten jüdischen Wohnvierteln in der Hafenstadt Jaffa konzipiert, entwickelte er sich zur heutigen Großstadt Tel Aviv.285 Trietsch legte den Grundstein für diese breite Adaption der Gartenstadtidee, die er nicht nur in deutsch-, sondern auch in englischsprachigen Publikationen bewarb.286 Sein langjähriges Eintreten für gartenstädtische Siedlungen, die mehr sein sollten, als ein durchgrünter Vorort, wie ihm später Oppenheimer und Ruppin beipflichten sollten, machte ihn so zu einem zentralen Impulsgeber.287
282 Ruppin,
Der Aufbau des Landes, S. 199. Gartenstädte für Erez Israel, S. 217. 284 Trezib, Die Theorie der zentralen Orte, S. 201. 285 Liora Bigon/Yossi Katz, „Urban Development and the ‚Garden City‘: Examples from Late Ottoman Era Palestine and the Late British Mandate“, in: dies (Hg.), Garden Cities and Colonial Planning, S. 144–165, hier S. 147–154. Zu Tel Aviv s. Ruth Kark/Miki Zaidman, „Garden Cities and Suburbs in Palestine: The Case of Tel Aviv“, in: ebd., S. 167–189 sowie Baruch Kipnis (Hg.), Tel Aviv – Yafo. Mi-parvar ganim le-ir olam. Me’ah ha-shanim ha-rishonot [Tel Aviv – Jaffa. Von einem Gartenvorort zu einer Weltstadt. Die ersten 100 Jahre], Haifa 2009. 286 Siehe u. a. Davis Trietsch, „Odpowiedź niezadowolonego“, in: Leon Reich (Hg.): Almanach Żydowski, Lwów 1910, S. 222–226, bes. S. 225 f. 287 Zu Levy, Ruppin, Soskin und anderen Akteuren im zionistischen Umfeld siehe Sonder, Gartenstädte für Erez Israel, S. 35–110. 283 Sonder,
6. „Eine californische Colonisations-Methode“ Die transatlantischen Bezugspunkte zionistischer Siedlungsarbeit „Im Folgenden soll eine Colonisations-Methode skizziert werden, die in Californien mit schönem Erfolge angewendet wird […]. Ich möchte sie die ,ideale Methode‘ nennen.“1 Davis Trietsch, Eine californische Colonisations-Methode
6.1 Die USA durch die „Palästinabrille“ sehen: Davis Trietsch und das Studium US-amerikanischer Innovationen Davis Trietschs Engagement für den modernen Zionismus zeichnete sich von Beginn an durch einen großen, nahezu unerschöpflichen Arbeitseifer aus. Neben einer Vielzahl an Publikationen und Vorträgen, die er im Laufe seiner 40-jährigen Tätigkeit als Zionist schrieb und hielt, war er federführend an der Gründung mehrerer Zeitschriften, Vereine und Verlage beteiligt. Auch andere Mitstreiterinnen und Mitstreiter verschrieben sich dem zionistischen Projekt mit entsagungsvollem, oft ehrenamtlichem Elan, was ihnen nicht nur Anerkennung brachte, sondern mitunter dazu führte, dass einige von ihnen gesundheitliche Schäden davontrugen. Eine anhaltende Überarbeitung führte in mehreren Fällen zu Erschöpfungs‑ und Ermüdungszuständen bis hin zu tödlichen Herzleiden und Schlaganfällen. Der bekannteste Betroffene war Herzl. Der geistige Vater des modernen Zionismus verstarb im Alter von nur 44 Jahren, nachdem Ärzte eine chronische Herzinsuffizienz bei ihm im Frühjahr 1904 diagnostiziert hatten, die sie auf eine jahrelange Verausgabung zurückführten.2 Den Quellen und medizinischen Erkenntnissen der damaligen Zeit nach zu urteilen, war die Zahl der herzkranken Zionisten – man denke an Abraham Goldberg (1883–1942), Ze’ev Jabotinsky, Nachman Syrkin (1868–1924), Vladimir Tiomkin (1861–1927) oder David Wolffsohn – auffallend hoch.3 1 Ben-David [Davis Trietsch], „Eine californische Colonisations-Methode“, in: Die Welt 3 (1899), Nr. 25, S. 4 f., hier S. 4. 2 Kurz vor seinem Tod soll Herzl bezeichnenderweise einem Freund gegenüber geäußert haben: „Grüßen Sie alle von mir, und sagen Sie ihnen, daß ich mein Herzblut für mein Volk gegeben.“ Zit. nach Bein, Theodor Herzl, S. 684. 3 In einem Nachruf auf den russischen Zionisten Tiomkin hieß es dazu: „Es scheint, als wäre Herzkrankheit das Schicksal aller der, die im neuen Judentum an erster Stelle stehen.“ O. V.: „Wladimir Tiomkin gestorben“, in: Die Stimme 1 (1928), Nr. 1, S. 6 f., hier S. 6.
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6. „Eine californische Colonisations-Methode“
Die zionistische Agitation von Trietsch, der ebenfalls an einem langjährigen Herzleiden litt, durchdrang nicht nur seinen Arbeitsalltag, sondern auch sein Privatleben. Eine Trennung beider Sphären existierte offenbar nicht, wie die Memoiren seiner Tochter Hannah Jeremias nahelegen. Aus ihnen lässt sich das Bild eines vielbeschäftigten Mannes rekonstruieren, der sich mit großer Leidenschaft dem Zionismus verschrieb. Trietsch umgab sich auch im Privaten mit Menschen, die seine Ideale teilten. So war seine Ehefrau eine überzeugte Zionistin, wie auch Hannah Jeremias, die als Jugendliche dem zionistischen Wanderbund ,Blau-Weiß‘ angehörte und als Erste der Familie 1931 nach Palästina emigrierte.4 Viele Freunde Trietschs waren ebenfalls in der zionistischen Bewegung aktiv, darunter die Herrmanns aus Berlin. Der langjährigen Verbundenheit beider Familien ging eine Freundschaft zwischen Trietsch und Ernst Herrmann voraus. Beide hatten sich um 1900 im Umfeld der Berliner Zionistischen Vereinigung (BZV ) kennengelernt, deren Vorstand Herrmann zeitweise angehörte.5 Herrmann, der sich in dieser und anderer Funktion zunächst aktiv in die Organisation eingebracht hatte, wandte sich wie Trietsch in späteren Jahren von der ZO ab. Auch er war mit ihren Siedlungsinitiativen unzufrieden, die er als zu ungenügend tadelte. Sein ausgeprägter Aktionismus – dem von Trietsch nicht unähnlich – veranlasste ihn 1925, mit seiner Familie nach Palästina zu emigrieren, wo er zunächst als Realschullehrer arbeitete.6 In der Zwischenkriegszeit war er die wichtigste Kontaktperson für Trietsch, die ihn von Haifa, später von Tel Aviv aus, mit Informationen über aktuelle Entwicklungen im Land versorgte. Über ihn dürfte Trietsch auch Carl Ballod kennengelernt haben, dessen Ehefrau Herrmanns Schwester war.7 Neben diesen privaten Kontakten ging Trietsch das Jahr über viel auf Reisen, um seine Visionen in Vorträgen in die Öffentlichkeit zu tragen. Seine häufige Abwesenheit von Zuhause führte dazu, dass seine Kinder, die offenbar sehr an ihrem Vater hingen, ihn mitunter traurig den „Reiseonkel“8 nannten. Wenn sich Trietsch für längere Zeit in Berlin aufhielt, wo er mit seiner Familie im Ortsteil Wilmersdorf lebte, verfasste er zahlreiche Bücher und Artikel. Eine eigene Sekretärin, die seine 4 Jeremias, Urgrossmutter Hannah, S. 7. Zum zionistischen Jugendverein ,Blau-Weiß‘ siehe Ivonne Meybohm, Erziehung zum Zionismus. Der Jüdische Wanderbund Blau-Weiß als Versuch einer praktischen Umsetzung des Programms der Jüdischen Renaissance, Frankfurt a. M. 2009; Jörg Hackeschmidt, Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias. Die Erfindung einer jüdischen Nation, Hamburg 1997, bes. S. 36–47. 5 Herrmann wurde 1901 in den Vorstand der BZV gewählt. „Aus der Bewegung“, in: Israelitische Rundschau 6 (1901), Nr. 26, o. P. 6 Herrmann unterrichtete an der bekannten Hebräischen Realschule in Haifa, die 1913 von deutschen Zionist*innen gegründet worden war und zu den ältesten Privatschulen Israels zählt. Wie Trietsch hatte er bereits in früheren Jahren in Palästina gelebt. 1910 war Herrmann das erste Mal nach Haifa gekommen, wo er mit seinem Bruder eine Zementfabrik eröffnet hatte. Zur Familie Herrmann siehe Elias Auerbach, „Zionisten aus Deutschland im Vorkriegs-Palästina“, in: Jüdische Rundschau 42 (1937), Nr. 49, S. 3. 7 Davis Trietsch an Ernst Herrmann, 25.11. und 23. 1 2. 1925. CZA, A104/4. 8 Jeremias, Urgrossmutter Hannah, S. 2, 10.
6.1 Die USA durch die „Palästinabrille“ sehen
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vielen Bleistift-Manuskripte auf der Schreibmaschine zu Papier brachte, half ihm dabei.9 Trietschs optimistischer Handlungs‑ und Gestaltungswille ließ ihn aber nicht nur zu einem Vielschreiber werden. Mit der zähen Ausdauer eines Talmudstudenten wandte er sich auch den Texten anderer Autor*innen zu. Wie umfassend diese Lektüre im Laufe seines Lebens gewesen sein muss, belegt der Umfang seiner Privatbibliothek. Die Wohnung der Familie, die sich in einem repräsentativen Gründerzeithaus am Nürnberger Platz befunden hatte, zählte insgesamt sechs Zimmer. Allein zwei von ihnen waren Trietsch als Arbeitszimmer vorbehalten, die den Erinnerungen seiner Tochter zufolge unzählige Bücher beherbergten. Sie bestanden fast nur aus Fachliteratur, darunter die Bestände seines Orient-Verlags, den er 1910 gegründet hatte und in dem überwiegend seine eigenen Schriften erschienen.10 Trietsch, so Herrmann, las keine Belletristik.11 Sein Interesse galt dem Studium Palästinas und seiner Nachbarländer sowie der damit verbundenen Frage, auf welche Weise eine großzügige Ansiedlung in dieser Region realisiert werden könnte. Vor diesem Hintergrund weckten vor allem solche Texte sein Interesse, in denen zu den Themenfeldern Nationalökonomie, Demografie und Geografie geschrieben wurde oder Innovationen auf dem Gebiet der Landwirtschaft und Industrie besprochen wurden. Bei der Analyse solcher Schriften hatte er stets das Potenzial Palästinas vor Augen. Oder wie er es selbst einmal beschrieb, lebte er regelrecht in den „Palästinadingen“ und nahm alles, was um ihn herum in der Welt geschah durch eine „Palästinabrille“12 wahr. Diese spezifische Herangehensweise führte dazu, dass Trietsch im Laufe seines Lebens eine beträchtliche Fülle von Anregungen zur Diskussion stellte. Mehrere Nachrufe von nahestehenden Zeitgenossen, die ihn als Ideenspender charakterisierten, belegen, wie ihm dadurch nicht nur in der Eigen-, sondern auch in der Fremdwahrnehmung ein innovatives Denken attestiert wurde.13 Während Trietsch einem Talmudstudenten gleich diverse Texte studierte, gingen ihm die dialogischen Fähigkeiten, die man im Talmudstudium erlernt, dagegen ab. Das Zuhören und selbstkritische Einbeziehen anderer, abweichender Meinungen in die eigene Urteilsfindung war eine Fähigkeit, über die er nur in geringem Maße verfügte. Für einen Autodidakten wie Trietsch war seine über die Jahre angereicherte Privatbibliothek, aus der er sein Wissen im ständigen Selbststudium zog, von besonders großer Bedeutung.14 Die Vorbereitungen zu seiner Auswanderung belegen 9 Ebd.,
S. 7. „Jüdische Buchkultur“, S. 13. 11 Ernst Herrmann an Davis Trietsch, 14. 3. 1929. CZA, A104/5. 12 Davis Trietsch, „Kampf und Arbeit“, in: Volk und Land 1 (1919), Sp, 673–680, hier Sp. 677. 13 Ebd. Diese Zuschreibung findet sich in mehreren hier zitierten Nachrufen, in denen Trietsch als ein Ideenspender charakterisiert wurde. 14 Zum hohen Stellenwert des Buches im Judentum siehe Felicitas Grützmann, „Jüdische Bibliophilie und deutscher Ordnungssinn. Der Beitrag deutsch-jüdischer Emigranten zum Aufbau eines Archiv‑ und Bibliothekswesens in Palästina/Israel“, in: Elke-Vera Kotowski (Hg.), Das Kulturerbe deutschsprachiger Juden. Eine Spurensuche in den Ursprungs-, Transit‑ und Emigrationsländern, Berlin u. a. 2015, S. 328–336. 10 Kilcher,
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6. „Eine californische Colonisations-Methode“
dies. So äußerte Trietsch gegenüber Freunden im März 1931, als sich seine Emigrationspläne verdichteten, er wolle trotz seiner geringen finanziellen Mittel allein 1000 bis 2000 Kilogramm Bücher und Schriftsachen mit nach Palästina nehmen.15 Fünf Jahre zuvor hatte ihm Herrmann geraten, der zu diesem Zeitpunkt bereits in Palästina lebte, er solle für den Transport seiner Buchbestände mit mindestens zwei Liftvans rechnen.16 Diese Container zur Lagerung von Umzugsgut per Schiffspassage, umgangssprachlich ,Lifts‘ genannt, boten meist so viel Stauraum, dass sich einige Einwanderinnen und Einwanderer aus ihnen eine erste Unterkunft in Palästina zimmerten. Ein als Wohnraum umfunktionierter Lift war bis 2021 im Museum des Deutschsprachigen Judentums östlich der Stadt Nahariya ausgestellt. Auf zwei mal vier Metern konnte darin eine kleine komplette Küche beschaut werden, anhand derer sich die Dimension des von Trietsch angedachten Büchertransports erahnen lässt.17 Trietschs Privatbibliothek fand schließlich zum Teil ihren Weg über das Mittelmeer nach Palästina. Eine solche „Emigration der Bücher“18 stellte dem Kulturwissenschaftler Joachim Schlör zufolge mehr als einen bloßen Transfer von Sachgütern dar. Vielmehr waren die Bücher anschlussfähige Bedeutungs‑ und Erinnerungsträger. Mit ihrer individuellen Besitzgeschichte verbanden sie Vergangenes mit Gegenwärtigem und dürften auch für Trietsch wichtige Anknüpfungspunkte an eine ihm vertraute Lebenswelt geschaffen haben, die eine Brücke zu den deutschsprachigen Kulturzentren Berlin, Budapest, Prag und Wien schlugen. Seine Bücher wurden in den Jahrzehnten nach Trietschs Tod von Antiquariaten aufgekauft, darunter das bekannte M. Pollak Antiquariat, das 1899 in Tel Aviv gegründet worden war.19 Ein weiterer Teil, vor allem seine eigenen Publikationen, ging an die Zentralbibliothek Beit Ariela Shaar Zion in Tel Aviv.20 Neben Büchern mussten auch Möbel transportiert werden. Hannah Jeremias bemerkte dazu, dass mehrere Stücke der Familie von vornherein so angefertigt worden waren, um sie problemlos zusammenlegen zu können.21 Trietsch und seine Frau hatten in der Zwischenkriegszeit viele Male mit einer Auswanderung nach Palästina geliebäugelt. Die finanziellen Verluste im Zuge der Inflation ab 1914 machten es ihnen jedoch unmöglich, Deutschland zu verlassen. Wie andere Familien litten auch die Trietschs unter dem hohen Wertverlust der deutschen 15 Davis
Trietsch an die Familie Herrmann, 12. 3. 1931. CZA, A104 55. Herrmann an Emma Trietsch, 8. 12. 1926. Ebd., A104 36. 17 Ein Foto des Lifts findet sich bei Aya Bach, Israel. Festhalten an der Heimat, 2. 1 2. 2012, abrufbar unter: https://www.dw.com/de/festhalten-an-der-heimat/a-16222927 (Zugriff 12. 3. 2022). 18 Joachim Schlör „Heinrich Loewe und die jeckische Bibliophilie“, in: Gisela Dachs (Hg.), Die Jeckes (= Jüdischer Almanach), Frankfurt a. M. 2005, S. 53–60, hier S. 57. Zur Bedeutung von Büchern als Bruchstücke früherer Lebenswelten s. Caroline Jessen, „,Alte Bücher in Haifa‘. Materielle Zeugnisse und Erinnerungsrhetorik“, in: Siegemund, Deutsche und zentraleuropäische Juden, S. 461–480. 19 Mündliche Auskunft von Cornel Pollak, 25. 8. 2018. 20 Schlöffel, Heinrich Loewe, S. 397. 21 Jeremias, Urgrossmutter Hannah, S. 2. 16 Ernst
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Mark und dem 1923 galoppierenden Anstieg der Warenpreise, der der Lohnentwicklung der Konsument*innen in keiner Weise entsprach.22 Die Familie, die sich zuvor noch zwei Angestellte für die Kinderbetreuung und Haushaltsführung hatte leisten können, musste im Alltag nun auf vieles verzichten.23 Trietsch, der zunächst am östlichen Rand der Reichshauptstadt in einfachen Verhältnissen gelebt hatte, als er 1899 von New York nach Berlin umgezogen war, musste es in den vorangegangenen Jahren gelungen sein, sich und seiner Familie eine gutbürgerliche Existenz zu sichern.24 Dafür spricht zunächst die Wohnung am Nürnberger Platz, der mit seinen vornehmen Miets‑ und Caféhäusern zu einer wohlhabenden Wohngegend Ende des 19. Jahrhunderts avanciert war. Die Häuser, die durch Bombardierungen Ende 1944 vollständig zerstört wurden, wie Erich Kästner (1899–1974) später beklagte, dessen Stammcafé sich am Nürnberger Platz befunden hatte, lassen demnach auf beachtliche finanzielle Ressourcen der Familie schließen.25 Sie dürften sich in erster Linie auf die vielen Veröffentlichungen und Vorträge von Trietsch im In‑ und Ausland zurückführen lassen, darunter auflagenstarke Publikationen wie sein Palästina-Handbuch. Darüber hinaus gaben und liehen ihm Verwandte mütterlicherseits mehrmals Geld für seine Projekte, wie Briefe im Nachlass von Emma Trietsch belegen.26 Die Wohnung der Familie in der dritten Etage, bei der es sich um Eigentum handelte, bot eine gute Anbindung. So befand sich ihr direkt gegenüber ein U-Bahnhof, von dem aus Trietsch schnell durch die Stadt kam. Auch der Kurfürstendamm war fußläufig zu erreichen. Mit seinen Cafés, Kabaretts, Kinos und Theatern fungierte er als ein zentraler Ort in Berlin, den der Schriftsteller Erich Mühsam (1878–1934) einmal als das „Industriegebiet der Intelligenz“27 bezeichnet hat. Die berühmten Treffpunkte deutscher und internationaler Intellektueller, darunter auch Zionist*innen, lagen für Trietsch somit in geringer Entfernung. 22 Zur Inflation, die im Herbst 1923 ihren Höhepunkt erreichte: Helmut Kerstingjohänner, Die deutsche Inflation 1919–1923. Politik und Ökonomie, Frankfurt a. M. 2004; Theo Balderston, The Origins and Course of the German Economic Crisis: November 1923 to May 1932, Berlin 1993. 23 Jeremias, Urgrossmutter Hannah, S. 4 f. 24 Trietsch lebte mit Emma Trietsch bis mindestens 1903 in der Fischerstraße 6 im heutigen Bezirk Lichtenberg, damals kreisfreie Stadt Berlin-Lichtenberg. Im selben Haus hatte zehn Jahre zuvor schon der Zionist Heinrich Loewe gewohnt. Schlöffel, Heinrich Löwe, S. 57. 25 Michael Bienert, Kästners Berlin. Literarische Schauplätze, 5. Aufl., Berlin 2019, S. 16 f., 21. Dass sich die Wohnung im Besitz der Familie befand, belegt ein Brief, in dem die Zahlung einer Hauszinssteuer erwähnt wird. Diese Ertragsteuer erhob man für Wohneigentum, das vor Juli 1918 in Deutschland erworben worden war. Davis Trietsch an Ernst Herrmann, 11. 6. 1931. CZA, A104/55. 26 Siehe den Brief einer gewissen Grete Nickelsburg, die Trietsch im April 1933 aufforderte, seine Schulden zu begleichen, da sie sonst als NSDAP-Mitglied ihre Rechte geltend machen würde. Grete Nickelsburg an Davis Trietsch, 8. 4. 1933. JMB 2011/267. Grete Nickelsburg, offenbar selbst keine Jüdin, war die Ehefrau seines Cousins Berthold Nickelsburg. Er hatte Trietsch mehrere tausend Reichsmark zur Herstellung einer Lichtmaschine geliehen. Siehe den Schriftwechsel zwischen Berthold Nickelsburg und Davis Trietsch: CZA, A104/75. 27 Bienert, Kästners Berlin, S. 24.
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Die Einführung der Rentenmark im Oktober 1923 und das Inkrafttreten des Dawes-Plans ein knappes Jahr später, der die jährlichen Reparationszahlungen des Deutschen Reichs an dessen Wirtschaftskraft band, führten vorerst zu einer Stabilisierung der Weimarer Republik. Diese war zwar nur relativ und nicht absolut, weshalb sie maßgeblich von äußeren Faktoren abhängig blieb. Im Bewusstsein der Zeitgenoss*innen markierte sie jedoch den Beginn einer neuen Ära. Die als die ,Goldenen Zwanziger‘ bezeichneten Folgejahre waren durch einen Aufschwung der deutschen Konjunktur geprägt, der sich in erster Linie US-amerikanischen Auslandsanleihen verdankte, die auch in anderen europäischen Ländern für einen wirtschaftlichen Aufwärtstrend sorgten. Die globale Wirtschaftsdominanz der USA, die in ähnlicher Weise auf die Märkte Asiens und Südamerikas wirkte, manifestierte sich während dieser Jahre. Ihr vorausgegangen war ein rasantes Wirtschaftswachstum des Landes, das das eurozentrische Koordinatensystem der internationalen Handelspolitik ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ins Wanken brachte. War bis dahin Europa, allen voran Großbritannien, der Dreh‑ und Angelpunkt im globalen Beziehungsgeflecht gewesen, so begannen die Vereinigten Staaten von Amerika, die alte Weltordnung aufzulösen.28 Allein von 1860 bis 1914 verdreifachte sich ihre Einwohner*innenzahl von 31,3 auf 91,9 Millionen (bei insgesamt 21 Millionen Eingewanderten), während die US-amerikanische Produktion um rund 2000 und das Investitionskapital um 4000 Prozent anwuchsen.29 Den Aufstieg der USA zu einer dynamischen Wirtschaftsnation verfolgte man in Europa mit regem Interesse. Die wirtschaftliche Expansion der einstigen Kolonien, die sich ab den 1880er Jahren zu einer ernsthaften Konkurrenz für die europäischen Volkswirtschaften entwickelten, faszinierte die meisten Beobachterinnen und Beobachter.30 Eine besondere Anziehungskraft übte auf sie die ,amerikanische Maschinenwelt‘ aus, die sich von der noch weitverbreiteten Handarbeit in Europa abhob. Der zunehmende Einsatz moderner, arbeitssparender Maschinen in Landwirtschaft und Industrie hatte ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Beschleunigung der Produktionsprozesse in den USA geführt. Die Automatisierung und Mechanisierung von Arbeitsabläufen senkten zudem den Anteil der Löhne an den Produktionskosten, wodurch in US-amerikanischen Betrieben nicht nur Zeit, sondern sukzessive auch Geld eingespart werden konnte. Die solcherart hergestellten Produkte waren im Erwerb erschwinglicher und ebneten durch ihre maschinelle Standardisierung den Weg hin zur modernen Massenproduktion. Der weltwirtschaftliche Bedeutungszuwachs der USA spiegelte sich auch in ihren Handelsbeziehungen mit dem Deutschen Reich. Ab den 1890er Jahren waren 28 Marek Czaja, Die USA und ihr Aufstieg zur Weltmacht um die Jahrhundertwende: Die Amerikaperzeption der Parteien im Kaiserreich, Berlin 2006, S. 14; Egbert Klautke, Unbegrenzte Möglichkeiten. „ Amerikanisierung“ in Deutschland und Frankreich (1900–1933), Wiesbaden 2003, S. 17, 27. 29 Hermann Kinder u. a. (Hg.), dtv-Atlas Weltgeschichte. Bd. 2: Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart, 41. Aufl., München 2011, S. 395. 30 Klautke, Unbegrenzte Möglichkeiten, S. 61.
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die Vereinigten Staaten nach Großbritannien sein zweitwichtigster Handelspartner. Allein zwischen 1890 und 1903 stiegen die jährlichen Einfuhren nach Deutschland von 86 auf 190 Millionen Reichsmark, wodurch sich der US-amerikanische Export fast verdoppelte. Die Ausfuhr deutscher Produkte in die USA verbuchte im selben Zeitraum dagegen einen Zuwachs von 99 auf 120 Millionen Reichsmark. Aufgrund dieser Entwicklungen nahm man die USA in Berlin als eine ernstzunehmende Konkurrentin wahr, deren wachsende Wirtschaftskraft auf den Weltmarkt ausstrahlte und die heimischen Märkte bedrängte.31 Das Deutsche Kaiserreich war im Zuge der Zweiten Industriellen Revolution selbst zu einer expandierenden Wirtschaftsnation aufgestiegen. Zusammen mit den USA verbuchte es nach der Reichsgründung 1871 die größten Wachstumsraten, sodass sich beide Länder binnen weniger Jahre an die Spitze der Weltwirtschaft katapultierten.32 Eine steigende Kapitalkraft, der Einsatz moderner Maschinen und mehrere Innovationsschübe ließen die zwei einst agrarisch geprägten Volkswirtschaften zu global agierenden Industriestaaten avancieren. Neben die Roheisen‑ und Stahlproduktion traten neue Branchen, die diesem wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland und den USA den Weg bereiteten. Die neuen Schlüsselindustrien waren die Elektrotechnik und der Maschinenbau sowie die chemische und pharmazeutische Industrie.33 Um 1900 wurde die deutsche Industrieproduktion von den USA, die parallel zu ihrer wachsenden Wirtschaftskraft in der Außenpolitik – zunächst in Lateinamerika – immer selbstbewusster als neue Großmacht auftraten, schließlich überholt.34 Japan übertraf in den nächsten Jahren ebenfalls erstmals die industrielle Produktion Deutschlands und Großbritanniens, der zwei produktivsten Industrienationen Europas. Entscheidend für diese Entwicklung hin zu einer polyzentrischen Weltwirtschaft waren in den USA neben der Förderung von Rohöl und einem hohen Technisierungsgrad, der bereits in den 1870er Jahren die Landwirtschaft in Deutschland unter Druck gesetzt hatte, neue Organisationsformen in den Betrieben.35 Sie setzten auf eine Effizienzsteigerung durch Maschinen und einen höheren Einsatz der Arbeitenden. Ein schnelleres Arbeiten bei schrittweiser Reduzierung der Arbeitszeit war die Maßgabe. 31 Czaja,
Die USA und ihr Aufstieg, S. 14; Rodgers, Atlantic Crossings, S. 370. Unbegrenzte Möglichkeiten, S. 47. Siehe u. a. Joachim Mohr/Eva Maria Schnurr (Hg.), Die Gründerzeit. Wie die Industrialisierung Deutschland veränderte, München 2019. 33 Czaja, Die USA und ihr Aufstieg, S. 159; Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 925. 34 Rodgers, Atlantic Crossings, S. 47; Der Spanisch-Amerikanische Krieg von 1898 markierte den Beginn einer expansiven Außenpolitik der USA. Zu den Folgen des Krieges, v. a. für die Philippinen, Kuba, Puerto Rico und Guam: Joseph Smith, The Spanish-American War. Conflict in the Carribean and Pacific: 1895–1902, New York, London 2014 sowie Chris J. Magoc/C. David Bernstein (Hg.), Imperialism and Expansionism in American History. A Social, Political, and Cultural Encyclopedia and Document Collection (= Volume 3: Spanish-American War to World War II), Santa Barbara, Denver 2016. 35 Alexander Schmidt, Reisen in die Moderne. Der Amerika-Diskurs des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich, Berlin 1997, S. 128; Czaja, Die USA und ihr Aufstieg, S. 125, 159. 32 Klautke,
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Diese neuartige Form der Betriebsführung wurde von dem in Pennsylvania geborenen Ingenieur Frederick Winslow Taylor (1856–1915) begründet, der dem Begriff des Taylorismus seinen Namen gab. In seinem vielfach rezipierten Hauptwerk Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung von 1911 fasste er seine Reformvorschläge für ein modernes, rationalisiertes Arbeitsmanagement zusammen.36 Ausgehend von großangelegten Zeit‑ und Bewegungsstudien, die er Anfang der 1880er Jahre mit Hilfe von Stoppuhren hatte durchführen lassen, warb Taylor für eine größtmögliche Arbeitsteilung. Demnach sollte der einzelne Arbeitende nur noch einen von mehreren Arbeitsschritten erledigen, die nach einem festgelegten Raster zu erfolgen hatten. Damit verbunden war eine Leistungsentlohnung, die Taylor an den Ergebnissen seiner Feldstudien bemaß. Für die Arbeiter*innen hatte dies zur Folge, fortan ein bestimmtes Pensum erfüllen zu müssen. Im Falle der Nichterfüllung wurden sie mit Lohnabzug oder Suspendierung bestraft, um so ihre Arbeitsbereitschaft zu steigern.37 Die Prinzipien des Taylorismus wurden auch in Deutschland eifrig rezipiert. Das Interesse an US-amerikanischen Verfahrensweisen und Innovationen hatte sich bereits in den 1860er Jahren geäußert, als deutsche Unternehmende in die USA reisten, um von den neuen Entwicklungen zu lernen.38 Neben Produktionstechnologien war es die dort praktizierte Arbeitsorganisation, die wissbegierig von ihnen studiert wurde. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs nahm diese Rezeption in Deutschland und Europa spürbar zu, da man sich von ihr die Regeneration des vom Krieg gebeutelten eigenen Binnenmarkts erhoffte.39 Taylors Lehre stieß jedoch von Beginn an nicht nur auf Zustimmung, auch nicht in den USA. Vor allem Gewerkschaften kritisierten das ihr zugrundeliegende mechanistische Menschenbild, das durch eine monotone Arbeitsteilung zur Entfremdung des einzelnen Arbeitenden vom Gesamtprozess der Produktion führte.40 Grundsätzlich lösten die USA mit ihrem wachsenden Führungsanspruch nicht nur Bewunderung in Europa aus, sondern riefen auch Ängste hervor, die sich in Ablehnung und Kritik artikulierten. Die Amerikawahrnehmung des deutschen Bürgertums des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts war, wie der Historiker Egbert Klautke anhand zeitgenössischer Debatten gezeigt hat, auch von negativen Stereotypen durchzogen. Viele Beobachterinnen und Beobachter aus dem Aus36 Frederick
1911.
Winslow Taylor, The Principles of Scientific Management, New York, London
37 Jill Lepore, Diese Wahrheiten. Eine Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, Bonn 2020, S. 467. Zu den Prinzipien des Taylorismus siehe Borscheid, Das Tempo-Virus, S. 260–270; Walter Hebeisen, F. W. Taylor und der Taylorismus. Über das Wirken und die Lehre Taylors und die Kritik am Taylorismus, Zürich 1999; Angelika Ebbinghaus, Arbeiter und Arbeitswissenschaft. Zur Entstehung der „wissenschaftlichen Betriebsführung“, Opladen 1984. 38 Borscheid, Das Tempo-Virus, S. 259. 39 Klautke, Unbegrenzte Möglichkeiten, S. 184. 40 Lepore, Diese Wahrheiten, S. 469. Siehe ausführlicher Christian Hausser, Amerikanisierung der Arbeit? Deutsche Wirtschaftsführer und Gewerkschafter im Streit um Ford und Taylor (1919–1932), Stuttgart 2008.
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land werteten die USA als eine vermeintlich geschichts‑ und kulturlose Nation ab, deren Fokus im Gegensatz zum eigenen Wertekanon bloß auf dem geschäftlichen Erfolg lag. Sie attestierten den US-Amerikaner*innen eine materialistische Lebensführung, die ihnen zufolge unweigerlich auf eine Vermassung und Verflachung der Kultur hinauslief. Als Inbegriff dieser Überbewertung alles Materiellen wurden der Taylorismus und dessen profitorientierte Zeitökonomie gewertet.41 Trietsch beteiligte sich offenbar nicht an derartigen Diskussionen. Zumindest lassen sich hierfür keine Belege finden. Er dürfte die negativen Stereotype einer Kultur‑ und Rücksichtslosigkeit nicht geteilt haben. Stattdessen zählte er die USA zu den „fortgeschrittensten Kulturländern der Welt“, wie er 1902 in einem Aufsatz hervorhob.42 Bedenkt man seine eigene Biografie, und hier besonders seine fehlende akademische Bildung, so ist davon auszugehen, dass er die den US-Amerikaner*innen einseitig attestierten Charakterzüge vielmehr schätzte. Ihr Unternehmungsgeist, Leistungswille und Pragmatismus, ebenso wie die damit verknüpfte Hochschätzung von Arbeit und Effizienz waren Eigenschaften, die sich Trietsch selbst angeeignet hatte. Als ein aus ärmlichen Verhältnissen stammender Autodidakt vertrat auch er das Prinzip der Selbsthilfe und setzte auf die Chance zu sozialem Aufstieg nach Maßgabe individueller Leistung. Ein Kontinuum in seinem Lebensweg bildete das unbedingte Engagement, seinen Zielen zu folgen und ihnen mit optimistischen Aufstiegsbotschaften den Weg zu ebnen. Für ihn zeichnete sich der ,amerikanische Geist‘ durch eben jene Zielstrebigkeit, Effektuierung und Entschlussschnelligkeit aus sowie durch einen großen Wagemut. Wie sehr Trietsch diese Zuschreibungen hochhielt, belegt ein Abschnitt aus seinem Buch Jüdische Emigration und Kolonisation. Es erschien erstmals 1917 und zählt zu seinen bekanntesten Werken, die von zionistischer Seite positiv besprochen wurden. Die Vielzahl praktischer Beispiele und Anregungen zur Besiedlung Palästinas und seiner Nachbarländer, die Trietsch in der umfangreichen Arbeit gab, ließ Hugo Schachtel von einem „Buch der tausend Wunder“43 sprechen. Aus dieser Bemerkung sprach keine Ironie, sondern Anerkennung. Schachtel war wie andere Rezensenten von der Fülle der Techniken und Methoden, die Trietsch über Jahre gesammelt und ausgewertet hatte, beeindruckt. Die meisten seiner Anregungen gingen auf Vorbilder aus den USA zurück, dem als „klassischem Lande praktischer Kolonisation“44 offensichtlich auch Schachtels besonderes Interesse galt. In einem Kapitel schilderte Trietsch fasziniert, wie um 1900 in der Stadt Peoria in Illinois an nur einem Tag eine Kirche errichtet worden sei. Die Kirchenmitglieder hätten sich am Morgen getroffen und auf dem von ihnen vorbereiteten Steinfundament ein Gotteshaus aus Holz errichtet. Ohne sich in Diskussionen und Abwägungen zu verzetteln, machten sie sich ans Werk, sodass bereits am Abend der Klautke, Unbegrenzte Möglichkeiten, S. 87; Schmidt, Reisen in die Moderne, S. 163. Trietsch, „Der jüdische Orient“, S. 256. 43 Hugo Schachtel, „Von der Verwirklichung des Zionismus“, in: Jüdische Rundschau 23 (1918), Nr. 56, S. 433. 44 Ebd. 41 42
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erste Gottesdienst abgehalten werden konnte.45 Konträr zu diesem erfolgreichen Gemeinschaftsprojekt setzte Trietsch den Chaluka-Geist in Palästina, der ihm zufolge nicht nur in den religiös-orthodoxen Kreisen von Jerusalem, Safed oder Tiberias vorherrschte, sondern auch viele sozialistische Einwanderinnen und Einwanderer ergriffen hätte. Mit Ausnahme der frühen Pionierinnen und Pioniere der Jahre 1882 bis 1903, bei denen es sich meist um bürgerliche, religiös motivierte Frauen und Männer46 aus dem heutigen Polen und Rumänien gehandelt hatte, die privatwirtschaftliche Individualwirtschaften (Moshavot) in Palästina errichteten, hätten die meisten Eingewanderten seit dem frühen 20. Jahrhundert Trietsch zufolge einen „Geist der eingebildeten Ansprüche“47 an den Tag gelegt. Von den Einwander*innen der Jahre 1903 bis 1914, unter ihnen mehrere bekannte Arbeiterzionisten, die wie Ben-Gurion oder Yitzhak Ben Zvi (1884–1963) einflussreiche Positionen in Palästina/Israel besetzen sollten, seien mehr Gelder als nötig für ihre Niederlassung gefordert worden. Oft hätten sie sich widersetzt und mit Geldgebern gestritten, wodurch sich Projekte in Palästina verzögerten oder sogar abgebrochen werden mussten. Ihr unbotmäßiges Verhalten, wie es Trietsch beschrieb, wirkte sich potenziell negativ auf die Spendenbereitschaft ausländischer Wohltäter*innen aus und brachte damit das zionistische Projekt, das auf jene Gelder angewiesen blieb, ernstlich in Gefahr. Statt sich in solch zeitraubende Diskussionen zu verstricken, forderte Trietsch, die US-amerikanischen Akteurinnen und Akteure als Vorbild zu sehen. Das tendenziöse Urteil von Trietsch, der selbst nie mit seiner eigenen Hände Arbeit am Aufbau einer Siedlung beteiligt gewesen war, klammerte die schwierigen Realitäten in Palästina aus, mit denen die Eingewanderten konfrontiert waren. Seiner Auffassung nach lagen die bisherigen Kalamitäten „viel weniger in den Dingen selbst […] als vielmehr in den bei uns noch üblichen falschen Auffassungen.“48 Dieser Logik folgend war es letztlich die Einstellung der Palästina-Einwander*innen, die über Erfolg oder Misserfolg entschied. Auch andere Zionistinnen und Zionisten bezogen sich positiv auf Eigenschaften und Werte, die sie als typisch amerikanisch wahrnahmen. So hieß es in einem Aufsatz mit dem programmatischen Titel „Amerikanische Palästinapioniere“ (1913), Jüdinnen und Juden hätten sich in den USA von einem „Volk des Buches“ zu einem „Volk der Tat“49 entwickelt. „Im Lande der Freiheit und Arbeit“, so weiter, seien aus „unpraktischen Theoretikern und Ideologen recht energische, praktische und weitblickende Menschen geworden.“50 Auch Lichtheim attestierte den USA 45 Trietsch,
Jüdische Emigration und Kolonisation, S. 179. überwiegend bürgerlichen Gruppe der sog. 1. Aliyah siehe Liora Halperin, The Oldest Guard. Forging the Zionist Settler Past, Stanford 2021. 47 Trietsch, Jüdische Emigration und Kolonisation, S. 180. 48 Ebd., S. 183. 49 Adolf Löwy, „Amerikanische Palästinapioniere“, in: Die Welt 17 (1913), Nr. 21, S. 649 f., hier S. 649. 50 Ebd. 46 Zur
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die Bevorzugung einer praktischen „Lebenskenntnis“, durch die Doktrinen und eine „eingelernte Bücherweisheit“51, die er als hemmend befand, in den Hintergrund träten. Neben das Bild des tüchtigen, unbekümmerten Amerikaners traten weitere Positivattribute, die im Wesentlichen um die Werte der Freiheit, Toleranz, Offenheit, Humanität und Großzügigkeit kreisten.52 Gleichzeitig mischten sich in diese stereotypen Zuschreibungen jedoch fast immer negative Kehrseiten, von denen man sich als Europäerin und Europäer gezielt abzugrenzen suchte. So bemerkte die deutsche Zionistin Helene Hanna Cohn in einer Artikelserie von 1913, in den USA herrsche ein stark ausgeprägter Individualismus und amerikanischer Patriotismus, der auch Jüdinnen und Juden zunehmend ergreife.53 Im Zuge dieser ,Amerikanisierung‘, wie es damals hieß, würden viele ihre Traditionen und Werte, die das jüdische Zusammenleben über Jahrhunderte prägten, ablegen. Nicht mehr die Gemeinschaft, sondern der Einzelne in seinem geschäftigen Streben nach Aufstieg und Selbstverwirklichung stünde nun vermehrt im Vordergrund. Im Gegensatz zu Trietsch beklagte Cohn zudem das „rasende amerikanische Lebenstempo“, das den Betroffenen „ein Vertiefen in fernerliegende Ziele“54 im stumpfen Umfeld von Effizienz, Nüchternheit und Sachlichkeit massiv erschwerte. Die daraus resultierende Gefahr einer ideologischen Obdachlosigkeit, die sich durch keine tradierbaren Gemeinschaftswerte mehr auszeichnete, sondern bloß individuelle Eigentumswerte im Hier und Jetzt hervorbrachte, wurde auch von anderen Zionist*innen problematisiert. Ihre Kritik am vermeintlichen Materialismus der USA, den Cohn kurzerhand auf eine „amerikanische wilde Gier nach Besitz“55 zurückführte, kam naheliegenderweise vor allem von arbeiterzionistischer Seite. In ihrer Ablehnung des kapitalistischen Systems bildeten die Vereinigten Staaten, die den industriellen Kapitalismus mit ihrer ökonomischen Potenz und rasanten Kapitalakkumulation global befeuerten, ein negatives Paradebeispiel, das es keineswegs zu imitieren galt. Auch im bürgerlichen Lager der ZO teilte man viele der genannten Kritikpunkte, die an eine zeitgenössische antiamerikanische Kritik in Europa angelehnt waren.56 Mehrere Vertreterinnen und Vertreter warben jedoch 51 Richard Lichtheim, „Henry Morgenthau. Eine psychologische Skizze“, in: Jüdische Rundschau 20 (1915), Nr. 19, S. 145–147. 52 Siehe u. a. ebd. In seinem aufschlussreichen Charakterbild betonte Lichtheim, Morgenthau würde die besten Eigenschaften eines Amerikaners und Juden verkörpern. 53 Helene Hanna Cohn, „Judentum und Zionismus in Amerika“, in: Die Welt 17 (1913), Nr. 15, S. 467–470 sowie ebd., Nr. 17, S. 531–534. Zu Cohn, die damals in New York lebte und um 1920 nach Palästina emigrierte, ließen sich keine weiterführenden Informationen finden. Dabei verfasste sie in einschlägigen zionistischen Blättern mehrere Aufsätze v. a. zur Rolle der Frau in Palästina. 54 Cohn, „Judentum und Zionismus in Amerika“, S. 533 [Hervorh. im Original]. 55 Dies., „Judentum und Zionismus in Amerika“, S. 470. 56 Zum europäischen Antiamerikanismus und die Reaktionen darauf in den USA, wo man wiederum die Differenz zur ,Alten Welt‘ oft selbstbewusst hervorkehrte: Adelheid von Saldern, Amerikanismus. Kulturelle Abgrenzung von Europa und US-Nationalismus im frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 2013.
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für eine symbiotische, sich ergänzende Zusammenarbeit, darunter Julius Berger, der für kurze Zeit in New York gelebt hatte und um eine Annäherung zwischen amerikanischen und europäischen Zionist*innen bemüht war. In seinem Aufsatz „Amerikanischer Zionismus“, der 1926 in der Jüdischen Rundschau erschien, konstatierte Berger eine weitgehende Isolation der amerikanischen Vertreter*innen innerhalb der zionistischen Gesamtbewegung.57 Neben eigenen Strukturen und Arbeitsschwerpunkten, die in Europa häufig als zu äußerlich und wenig ideell kritisiert wurden, rührte diese Stellung Berger zufolge daher, dass sich europäische Zionistinnen und Zionisten nur selten näher mit dem Zionismus jenseits des Atlantiks befassten.58 Ihre Unwissenheit führte er in erster Linie auf fehlende Sprachkenntnisse zurück. Demnach hätten damals nur wenige europäische Vertreter*innen die englische Sprache beherrscht, weshalb sie die zionistische Publizistik aus den USA nicht durchdringen konnten.59 Neben solchen Sprachbarrieren, mit denen sich Trietsch nicht konfrontiert sah, sei es außerdem auf den Kongressen nur vereinzelt zu persönlichen Begegnungen gekommen. Die Anreise zu den Versammlungen in Europa, auf denen man sich Berger zufolge auch ohne Englischkenntnisse austauschen konnte, war für die amerikanischen Anhänger*innen mit einem hohen Geld‑ und Zeitaufwand verbunden. Ihre geringe Präsenz auf den Kongressen führte somit zu einer einseitigeren Wahrnehmung unter den europäischen Delegierten, deren Denken oft von antiamerikanischen Stereotypen durchzogen war.60 Berger attestierte den Zionistinnen und Zionisten in den USA dagegen auch auf einer ideellen Ebene eine aufrichtige Begeisterungsfähigkeit, die es zu schätzen und nutzen galt. Und doch saß auch er gängigen Stereotypen auf. Während sich die europäischen Anhänger*innen in ideologischen Debatten verkämpften, so Berger, erwartete man von den amerikanischen Mitstreiterinnen und Mitstreitern „die unbeirrte und zielsichere Führung in wirtschaftlichen Dingen, die Beherrschung aller technischen und organisatorischen Mittel und Möglichkeiten, die klare und gesunde Einfachheit des Denkens, die ganze Großzügigkeit der Auffassung, d. h. der Dinge, die das eigentliche Amerika bilden und es groß machen.“61
Ein solch ausgemachter ,amerikanischer Geist‘ war auch Trietschs Maximalplänen förderlich, die in kürzester Zeit mit den geringsten Mitteln größtmögliche Resultate erzielen sollten. Seine Aufrufe zur schnellen Tat, die stilistisch häufig von einem Superlativismus durchzogen waren, den viele Zeitgenoss*innen als typisch amerikanisch wahrgenommen haben dürften, orientierten sich an Vorbildern aus den USA.62 Neben allgemeinen Charakterzuschreibungen waren es konkrete Einzel57 Julius Berger, „Amerikanischer Zionismus“, in: Jüdische Rundschau 31 (1926), Nr. 46, S. 337 f. 58 Ebd., S. 337. 59 Ebd. 60 Ebd. 61 Ebd., S. 338. 62 Siehe das Kapitel „Der Fluch des Superlativs“, in: Klemperer, LTI, S. 273–284.
6.1 Die USA durch die „Palästinabrille“ sehen
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personen, auf die sich Trietsch hier bezog. Eine besonders große Anziehungskraft übte der schon erwähnte Unternehmer Henry Ford auf ihn aus. Ford, der aus Michigan stammte und dort im Alter von 40 Jahren die weltweit bekannte Ford Motor Company ins Leben rief, gilt als Begründer der industriellen Massenproduktion von Automobilen.63 Die noch vor dem Ersten Weltkrieg in seinen Fabriken erprobte Fließbandtechnik ermöglichte eine standardisierte Serienherstellung, die einen Massenkonsum Made in U. S. A. in Gang setzte. Das ,Fließband-Fieber‘, das sich von den Ford-Fabriken aus in andere Länder ausbreitete, hatte offenbar auch Trietsch erfasst. Mit großem Interesse las er wie viele andere Zeitgenossinnen und Zeitgenossen in Europa Fords 1922 erschienene Autobiografie, aus der er später mehrere Stellen zitierte.64 In einer Passage bezeichnete er den US-Unternehmer als den „größten und erfolgreichsten Praktiker […], den die Welt bisher gesehen hat.“65 Der „amerikanische Automobilkönig“66, wie er ihn auch nannte, besaß für Trietsch all jene Tugenden, die er für das zionistische Projekt als erfolgversprechend wertete: Zielstrebigkeit und Risikobereitschaft sowie die Unterwerfung des Theoretischen unter praktische Kriterien. Ford, der als typisch amerikanisch wahrgenommen wurde, war für Trietsch ein Mann der Tat. Die antisemitische Agitation von Ford, der in der Zwischenkriegszeit unter anderem die Protokolle der Weisen von Zion verbreitete, womit er der bis heute virulenten Verschwörungserzählung von einem ,Weltjudentum‘ Auftrieb verlieh, registrierte Trietsch, spielte sie aber herunter.67 So beschwichtigte er, dass Fords Antisemitismus offenbar in erster Linie der Verkaufssteigerung diene. Er hielt ihn vornehmlich für Strategie, statt für echte Überzeugung.68 Wie in anderen Fällen ging Trietsch hier in der Art eines Eklektikers vor, der für seine eigenen Zielvorstellungen nur jene Teilelemente auswählte, die er für nützlich hielt. Von der Fließbandproduktion Fords, die wie im Falle von Taylor nicht nur bejubelt wurde, sondern für Kritik vor allem in den Gewerkschaften sorgte, war er offenbar nachhaltig beeindruckt. In einer Mechanisierung des Arbeitsprozesses sah Trietsch auch für Palästina neue Produktionsmöglichkeiten, die von einem ungeduldigen Optimisten wie ihm dankbar rezipiert wurden. So ermöglichten moderne Maschinen, auch Personen in Arbeitsschritte einzubinden, die aufgrund ihrer körperlichen Verfasstheit bislang von der ZO-Leitung nicht in Betracht gezogen worden waren. Für Trietsch war dieser Aspekt enorm wichtig, sprach er sich doch für eine Einwanderung nicht nur jüngerer, sondern auch älterer Menschen Lepore, Diese Wahrheiten, S. 468. Ford, My Life and Work, Garden City 1922. Die Autobiografie erschien 1923 in Deutschland, wo sie zu einem Bestseller wurde. Rodgers, Atlantic Crossings, S. 372. 65 Davis Trietsch, „Einwanderung und Ausbildung (Schluß)“, in: Leipziger Jüdische Zeitung 3 (1924), Nr. 25, S. 1 f., hier S. 1. 66 Ebd. 67 Zu Fords antisemitischer Hetze: Victoria Saker Woeste, Henry Ford’s War on Jews and the Legal Battle of Hate Speech, Stanford 2012; Neil Baldwin, Henry Ford and the Jews: The Mass Production of Hate, New York 2003; Ribak, „’You Can’t Recognize America’“, S. 292–294. 68 Trietsch, „Einwanderung und Ausbildung (Schluß)“, S. 1. 63
64 Henry
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6. „Eine californische Colonisations-Methode“
aus. Die USA, für Trietsch das Land „der großen Maßstäbe und schnellen Entschlüsse“69, fungierten für ihn somit als ein weites Feld der Inspiration. Im Zuge mehrerer Aufenthalte ging er eifrig daran, dieses Feld mit seiner ,Palästinabrille‘ aufmerksam zu erkunden.
6.2 Ein Informationsbüro in New York Der wirtschaftliche und politische Aufschwung der USA setzte sich während des Ersten Weltkriegs fort. Ausschlaggebend hierfür waren die sinkenden Exportleistungen der europäischen Kriegsparteien, deren Fokus die heimische Rüstungsindustrie bildete. In den von Europa bislang belieferten Ländern blieben viele gewohnte Einfuhren daher aus, wodurch es in den betroffenen Regionen zum Handel mit anderen Staaten und dem Ausbau einer eigenen Produktion kam. Insbesondere in Südamerika waren es die USA, die an die Stelle der europäischen Lieferanten traten und die Handelslücke strategisch für sich zu schließen wussten. Zwischen 1914 und 1918 verbuchte die US-amerikanische Handelsbilanz einen Einnahmeüberschuss, der so groß ausfiel, wie der Aktivsaldo der vorangegangenen 125 Jahre.70 Parallel zu dieser rasant wachsenden Exportleistung stieg die Finanzkraft des Landes. In nur wenigen Jahren gelang es den USA, von einem Schuldnerland zu einem Gläubigerland aufzusteigen, dessen Goldbestände und Auslandsguthaben (foreign assets) stetig zunahmen. Die ersten Jahre nach dem Weltkrieg waren weltweit, auch in den Vereinigten Staaten, durch einen kritischen Übergang hin zu einer Friedenswirtschaft geprägt. Die einstige Freizügigkeit des Waren‑ und Personenverkehrs, wie sie vor 1914 bestanden hatte, wurde in der Zwischenkriegszeit nicht wieder erreicht.71 Ab Mitte der 1920er Jahre erfuhren die globalen Handelsbeziehungen schließlich aber eine Zunahme, und auch in Deutschland kam es zu einer Konsolidierung, auf die ein Aufschwung der Konjunktur dank ausländischer Kredite folgte. Kreditgeber waren in erster Linie die USA, deren Wachstumsraten die der europäischen Nehmerländer, wenn auch mit großen Unterschieden in den einzelnen Branchen, weiterhin übertrafen.72 69 Ders., „Wege nach Palästina (Schluß)“, in: Moriah 1, Nr. 3/4, S. 3–6, hier S. 4. Zum Ideal einer industriellen, effektiven Landwirtschaft in den USA siehe Deborah Fitzgerald, Every Farm a Factory. The Industrial Ideal in American Agriculture, New Haven 2003. 70 Heinz Hürten, „Die Welt der Zwischenkriegszeit“, in: Reinhard Elze/Konrad Repgen (Hg.), Studienbuch Geschichte. Eine europäische Weltgeschichte. Bd. 2: Frühe Neuzeit, 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2003, S. 509–530, hier S. 510. 71 Ebd., S. 511. Zur ökonomischen Krise in den USA, die sich im Winter 1919 zuspitzte, siehe: Tom Streissguth, The Roaring Twenties, New York 2009, S. 3 f. 72 Lepore, Diese Wahrheiten, S. 496. Zur wirtschaftlichen Dominanz der USA in der Zwischenkriegszeit s. Alan Greenspan/Adrian Woolridge, Capitalism in America. A History, New York 2018, bes. S. 123–219; Lee E. Ohanian, „The Record of Economic Growth, Business Cycles, and Economic Policies in American Economic History“, in: Louis P. Cain u. a. (Hg.), The Oxford
6.2 Ein Informationsbüro in New York
227
Die wirtschaftliche Prosperität der Vereinigten Staaten, die im Alltag ihrer Bürgerinnen und Bürger mit einer wachsenden Konsumgüterindustrie und Elektrifizierung der Privathaushalte einherging, elektrisierte Davis Trietsch. Er dürfte davon ausgegangen sein, dass sich Innovationen, die er für seine eigenen Palästina-Pläne als aussichtsreich befand, dort in größerer Zahl studieren ließen. Die wachsende Finanzkraft des Landes ließ ihn wie andere Zionist*innen außerdem damit rechnen, in den USA größere Geldsummen für den Zionismus akquirieren zu können. Für eine finanzielle Unterstützung zog auch die ZO die US-amerikanischen Jüdinnen und Juden zunehmend in Betracht, deren Zahl in den vergangenen vier Jahrzehnten stark zugenommen hatte. Lebten 1914 bereits rund 2,9 Millionen von ihnen in den USA, waren es um das Jahr 1930 schon 4,2 Millionen bei einer Gesamtbevölkerung von rund 123 Millionen.73 Der Großteil dieser Gruppe bestand aus osteuropäischen Geflüchteten, denen es meist gelungen war, für die nachkommende Generation eine Verbesserung ihres sozialen Status zu erwirken. Erst allmählich und über einen demokratischen Zugang zur Bildung war es ihnen möglich, die soziale Leiter in den USA zu erklimmen. Aus jüdischen Hausierern wurden so mit der Zeit kleine Ladenbesitzer, deren Kinder immer öfter die Universität besuchen konnten.74 Dieser gesellschaftliche Aufstieg wurde von den europäischen Zionist*innen aufmerksam registriert. Jüdinnen und Juden aus den USA stellten in der Zwischenkriegszeit die zahlenmäßig und finanziell stärkste Gruppe dar, die man naheliegenderweise für sich zu gewinnen trachtete. Manch ein Zionist äußerte sich dabei recht unverhohlen. So Alexander Levy, der 1927 in einem Brief an Trietsch von „amerikanischen grossen Kinder[n]“ und „Dollaristen“75 sprach, deren Großzügigkeit besser genutzt werden sollte. Dass dies nicht ausreichend geschah, bemängelte noch zehn Jahre später Adolf Böhm, wenn er mit Blick auf die USA von einer „ungehobene[n] Reserve des Zionismus sprach.“76 Die zionistische Bewegung in den Vereinigten Staaten hatte sich im Zuge des Ersten Weltkriegs konsolidieren können. Die Kampfhandlungen in Palästina, an denen sich auch einzelne Freiwillige aus den USA beteiligt hatten, und die BalfourDeklaration hoben den Zionismus stärker in das Bewusstsein der US-amerikanischen Jüdinnen und Juden und erzeugten eine breitere Zustimmung. Am Ende des Krieges waren rund 200.000 von ihnen zionistisch organisiert, wobei neben der FAZ weitere, mitunter mitgliederstärkere Organisationen existierten, wie die von US-amerikanischen Zionistinnen 1912 gegründete Hadassah.77 Sie ist bis heute vor Handbook of American Economic History, Bd. 2, New York 2018, S. 225–256; Douglas A. Irwin, „Trade Policy in American Economic History“, in: ebd., S. 305–324. 73 Samson D. Oppenheim, „The Jewish Population of the United States“, in: American Jewish Year Book 20 (1918–1919), S. 31–74, hier S. 31 f.; Brenner, Kleine jüdische Geschichte, S. 364. 74 Brenner, Kleine jüdische Geschichte, S. 213. 75 Alexander Levy an Davis Trietsch, 10. 2 . 1927. CZA, A104/18. 76 Böhm, Die Zionistische Bewegung (3. Teil), S. 533. 77 Berkowitz, Western Jewry, S. 56.
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6. „Eine californische Colonisations-Methode“
allem im Gesundheitswesen aktiv und unterstützt Frauen und Mädchen in Israel.78 Das gewachsene Interesse an Palästina, das die zionistische Leitung durch diverse Vortragsreisen zu stärken hoffte, nahm allerdings bald wieder ab. So sank die Mitgliederzahl der FAZ bis 1929 auf 65.000, wovon allein etwa 45.000 auf die Hadassah entfielen. 1933 erreichte die FAZ mit 9000 Mitgliedern ihren Tiefpunkt, wobei auch die Hadassah nur noch rund 24.000 Mitglieder auf sich vereinen konnte.79 Der Historiker Mark Raider hat diese rückläufigen Zahlen ab 1929 auf die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zurückgeführt, durch die auch andere jüdische Vereine Einbußen verzeichneten. Da es allerdings schon zu Beginn der 1920er Jahre zu einem merklichen Rückgang kam, bedarf es weiterer Erklärungen. Eine wichtige Rolle dürften hier die Roaring Twenties gespielt haben, wie man die Goldenen Zwanziger in den USA gemeinhin nennt. Die wirtschaftliche und politische Konsolidierung dieser Jahre, von der auch die osteuropäischen Gemeinden profitierten, ließ die Relevanz Palästinas als Zufluchtsort in den Hintergrund treten. Die Aktivitäten der Jüdinnen und Juden in den Vereinigten Staaten verlagerten sich stattdessen auf das jüdisch-amerikanische Zusammenleben, das sie besonders auf kommunaler Ebene mitzugestalten trachteten. Aufgrund wachsender Diskriminierungen, die in den antisemitischen Hasskampagnen des gewaltbereiten Ku-KluxKlans und antijüdischen Quoten an privaten Universitäten wie Harvard gipfelten, richtete sich ihr soziales Engagement verstärkt nach innen.80 Die Anzahl der deklarierten Anhängerinnen und Anhänger sollte, wie in Europa, allerdings nicht den Blick darauf verstellen, dass in den USA auch außerhalb der an die ZO angegliederten Organisationen Unterstützungsnetzwerke für Palästina existierten. Besonders ab Mitte der 1930er Jahre engagierten sich mehrere nichtzionistische Vereine, wie das 1914 in New York gegründete einflussreiche American Jewish Joint Distribution Committee (JDC), kurz Joint. Sie belegen, dass die Unterstützung von Jüdinnen und Juden in Palästina keine rein zionistische Angelegenheit blieb, sondern im Rahmen eines nichtzionistischen, philanthropischen Engagements starke Impulse erfuhr. Während das JDC, das sich dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe verschrieb, im Zeitraum von 1921 bis 1925 21 Millionen US-Dollar über Spenden einnehmen konnte, kamen die Zionist*innen gerade einmal auf sechs Millionen US-Dollar.81 Die von Levy als leicht beeinflussbar charakterisierten „großen amerikanischen Kinder“ hegten somit zwar in vielen Fällen Sympathien für das zionistische Projekt, beteiligten sich deshalb aber nicht 78 Siehe
die Homepage von Hadassah: https://www.hadassah.org/. The Emergence of American Zionism, S. 58. 80 Ebd., S. 43 f.; „Anti-Semitism in the U. S.: Harvard’s Jewish Problem“, in: Jewish Virtual Library, abrufbar unter https://www.jewishvirtual library.org/harvard-s-jewish-problem (Zugriff 12. 3. 2022). 81 Yfaat Weiss, Deutsche und polnische Juden vor dem Holocaust. Jüdische Identität zwischen Staatsbürgerschaft und Ethnizität, 1933–1940, München 2000, S. 88. Zum Joint, der ursprünglich zur Unterstützung palästinensischer Jüdinnen und Juden ins Leben gerufen wurde, siehe ebd., S. 87–101. 79 Raider,
6.2 Ein Informationsbüro in New York
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notwendigerweise an ihm. Brachten sie sich finanziell und/oder ideell für Palästina und dessen jüdische Bevölkerung ein, dann taten sie es außerdem zu einem nicht unwesentlichen Teil über nichtzionistische Vereine.82 Trietsch vermutete in den USA wie Levy noch ungenutzte finanzielle Möglichkeiten, die ihn neben seinem Interesse an technologischen Innovationen zu einer eigenen Reise veranlassten. Sein Ziel bildete die ihm bereits bekannte Metropole New York, die mit ihren damals rund 1,3 Millionen jüdischen Einwohner*innen das Zentrum des US-amerikanischen Judentums bildete.83 Trietschs finanzielle Verhältnisse waren kurz vor seiner Abreise, wie er gegenüber Ernst Herrmann Anfang Mai 1926 einräumte, „grässlich“, weshalb er sich bemühte, „sobald wie möglich die vollständige Übersiedlung nach Palästina zu bewirken.“84 Der von ihm auf zwei bis drei Monate angesetzte Aufenthalt in den USA sollte dieses Vorhaben ermöglichen. Wie sehr es Trietsch nach Palästina zog, ließ er auch Levy wissen, dem er im März 1927 aus New York schrieb, die „Berliner Zelte“85 so schnell wie möglich abbrechen zu wollen. Dass Trietsch in Bezug auf sein Leben in Deutschland von Zelten sprach, ist bezeichnend. Ein Zelt, das sich in wenigen Schritten auf‑ und abbauen lässt, steht für eine örtliche Ungebundenheit. Die Bewohnerinnen und Bewohner eines Zeltes fühlen sich mit der Erde, die sie für einen bestimmten Zeitraum bewohnen, nie stärker emotional verbunden. Wie losgelöst sich Trietsch in dieser Hinsicht schon in früheren Jahren gefühlt haben muss, zeigt ein Artikel von ihm von 1900. Darin schrieb er, dass sich kaum ein Jude finden ließe, auf den der Begriff des ,Wanderers‘ nicht zuträfe. Demnach würden selbst einige Jüdinnen und Juden in den USA und Westeuropa, inklusive ihm, „einen Wechsel ihres Aufenthaltsortes“86 in Betracht ziehen. Ein Aufenthaltsort ist mit einer Heimat freilich nicht zu vergleichen. Trietschs Drängen auf eine baldige Ausreise wurde durch finanzielle Nöte bestärkt. So notierte er während seiner Überfahrt nach New York, die er dritter Klasse antrat, es werde dieser Tage entschieden, ob einige seiner Möbel und Bücher in Berlin gepfändet würden. Mit ihrer Versteigerung, zu der es im Dezember 1926 kam, sollte eine Garantie eingelöst werden, die er für ein Projekt gegeben hatte.87 Die finanziellen Sorgen der Familie, die 1932 ihren Höhepunkt erreichten, als gegen Trietsch ein Haftbefehl wegen unterbliebener Zahlungen erging, waren in der ganzen Zwischenkriegszeit mehr oder weniger stark ausgeprägt.88 Diese Annahme 82 Raider,
The Emergence of American Zionism, S. 44 f.
83 Aktuell leben rund 1,78 Mio. Jüdinnen und Juden in New York (Bundesstaat). „Jewish Pop-
ulation in the United States by State. 1899–Present“, in: Jewish Virtual Library, abrufbar unter: https://www.jewishvirtuallibrary.org/jewish-population-in-the-united-states-by-state (Zugriff 12. 3. 2022). 84 Davis Trietsch an Ernst Herrmann, 5. 5. 1926. CZA, A104/4. 85 Davis Trietsch an Alexander Levy, 25. 3. 1927. Ebd., A104/18. 86 Davis Trietsch, „Cypern und die Judenfrage“, in: Jüdisches Volksblatt 2 (1900), Nr. 20, S. 2 f., hier S. 2. 87 Ders. an Emma Trietsch, 3. 12. 1925. CZA, A104/3. 88 Im Nachlass von Emma Trietsch findet sich für die Jahre 1932–1933 eine eigene Mappe mit Mahnungen, Pfändungsbescheiden und Kontoauszügen. JMB 2011/267.
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6. „Eine californische Colonisations-Methode“
geht aus den Erinnerungen Hannah Jeremias’ hervor, ebenso wie aus mehreren Briefen. In einem von ihnen, datiert vom 16. Dezember 1925, ließ sich Trietsch über die schwierigen Verhältnisse in Berlin aus. An Ernst Herrmann schrieb er nach Palästina: „Ich weiss nicht[,] ob Sie Nachrichten über den Zustand in Deutschland haben. Ich habe den Eindruck, dass es nirgends schlimmer sein kann als zur Zeit hier. Seit Wochen rührt sich hier gar nichts. Alle Zahlungen stocken, Wechsel gehen zu Protest[,] und es regnet Konkurse. So schlimm kann es in Palästina nicht sein. Aber ist das ein Trost?“89
Trietschs Schilderungen illustrieren exemplarisch, wie einseitig die ,Goldenen Zwanziger‘ für gewöhnlich erinnert werden. Das bis heute besonders in der Populärkultur gezeichnete Bild einer ab 1924 prosperierenden, goldenen Ära steht hierzu im krassen Widerspruch. Nimmt man die Zahlen des Statistischen Reichsamtes für 1925 zur Hand, so kam es tatsächlich Ende des Jahres – wie Trietsch beklagte – zu einem Anstieg der Konkurse.90 Die weithin zu einem Mythos stilisierten Goldenen Zwanziger dürften demnach von ihm und anderen Zeitgenoss*innen nicht als eine Zeit des bloßen wirtschaftlichen Aufschwungs erlebt worden sein.91 In New York hoffte Trietsch, neue Gelder für seine Projekte einwerben zu können. Seine Ankunft am 25. Juni 1926 wurde in den jüdischen Kreisen der Stadt aufmerksam registriert. So informierte der 1924 gegründete Jewish Daily Bulletin, die erste nur auf Englisch erschienene jüdische Tageszeitung New Yorks: „David Trietsch, well-known authority on Palestine and on Jewish colonization, arrived Friday on the Mauretania.“92 Auch wenn sein Vorname fälschlicherweise mit David statt Davis angegeben war, was ihm häufiger passierte, dürfte Trietsch von der Meldung angetan gewesen sein. Schließlich wurde er als eine Autorität bezeichnet, die über Deutschland hinaus Ansehen genoss. Nachdem er in New York an Land gegangen war, fuhr er am 26. Juni weiter nach Buffalo. Dort eröffnete am nächsten Tag die 29. Jahresversammlung der US-amerikanischen Zionistinnen und Zionisten. Trietschs Teilnahme an der Veranstaltung, die insgesamt rund 1200 Delegierte und Zuschauerinnen und Zuschauer besuchten, ermöglichte ihm eine Fühlungnahme mit zionistischen Zirkeln in den USA. Hier traf er auch auf alte Bekannte, denen er von seinen Projekten erzählte, hoffend, ihre Unterstützung zu gewinnen.93 Die Beschlüsse der Versammlung, die bis zum 29. Juni tagte, dürften Trietsch darin bestärkt haben, sein eigenes Vorhaben ließe sich realisieren. So unterstrich man in Buffalo, die industrielle Entwicklung Palästinas künftig fördern zu wollen, 89 Davis
Trietsch an Ernst Herrmann, 16. 12. 1925. CZA, A104/4. Statistisches Reichsamt (Hg.), Wirtschaft und Statistik. Deutsche Wirtschaftszahlen 5 (1925), Nr. 23. 91 Zur Idealisierung der Weimarer Zeit siehe Walter Laqueur, Weimar. A Cultural History, 2. Aufl., New Brunswick 2012, S. 274 f. 92 „David [!] Trietsch arrives in the United States“, in: The Jewish Daily Bulletin, 27. 6. 1926, S. 2. 93 Davis Trietsch an Ernst Herrmann, o. D. [Juli 1926]. CZA, A396/3. 90
6.2 Ein Informationsbüro in New York
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ebenso wie eine Zusammenarbeit mit Nichtzionistinnen und Nichtzionisten in Form einer Jewish Agency.94 Trietsch, der immer betont hatte, wie wichtig es sei, mit anderen palästinophilen Kreisen zu kooperieren, stellte in den nächsten Monaten selbst Verbindungen dieser Art her. Einer der ersten von ihm kontaktierten Personen war der aus Hamburg stammende Bankier und mit Otto Warburg verwandte Felix Warburg (1871–1937). Er war zu diesem Zeitpunkt Vorsitzender des JDC und hatte mehrere Zehntausend US-Dollar an den KH gespendet.95 Warburg gehörte zur deutsch-jüdischen Elite New Yorks, die auch in vielen zionistischen Vereinen führende Positionen bekleidete. Bei ihr handelte es sich um die Nachkommen deutschsprachiger Jüdinnen und Juden, die sich ab den 1840er Jahren in den USA niedergelassen hatten. Neben Warburg, der erst 1894 aus Deutschland emigriert war, wandte sich Trietsch an Henry Morgenthau senior (1856–1946). Morgenthau, der als Sohn jüdischer Eltern in Mannheim zur Welt gekommen war, gehörte einer Gruppe einflussreicher amerikanischer Immobilienhändler an.96 Mithilfe dieser „Real Estate Leute“97, wie Trietsch sie nannte, wollte er neuen Grundbesitz in Palästina kaufen und bestehende jüdische Siedlungen mit Menschen „auffüllen“98. Trotz mehrerer Treffen und einer längeren Korrespondenz, die auf Sympathien für Trietschs Anliegen schließen lassen, kam es vonseiten Morgenthaus zu keiner Beteiligung. Trietsch zufolge wollte er vermeiden, in der Öffentlichkeit für einen Zionisten gehalten zu werden, stieß die Bewegung im gutsituierten New Yorker Bürgertum doch ganz überwiegend auf Ablehnung.99 An einer Zusammenarbeit zu einem späteren Zeitpunkt hielt Trietsch dennoch fest, auch weil Morgenthau federführend an der Ansiedlung von mehr als 1 Million Menschen im Zuge des schon erwähnten Bevölkerungsaustauschs zwischen Griechenland und der Türkei beteiligt gewesen war. Die ,griechische Hilfsaktion‘, bei der tausende Familien innerhalb von drei Jahren ihren Wohnort auf Basis niedriger Ansiedlungskosten wechselten, imponierte Trietsch. Er verglich sie mit seinen Maximalplänen, für die er besonders in Volk und Land geworben hatte, und hielt sie einander für „verblüffend ähnlich“100. Dass in Griechenland 50 bis 75 Prozent der von der Regierung ausgegebenen Böden über Pflanzungen und Häuser verfügten, wodurch für die Ansiedlung zentrale 94 „The
Buffalo Convention“, in: The New Palestine 11 (1926), Nr. 1, S. 4–52, hier S. 6, 28. Trietsch an Ernst Herrmann, o. D. [Juli 1926]. Im November 1926 spendete Felix Warburg dem KH 50.000 US-Dollar: „Eröffnung der Palästina-Kampagne in Amerika“, in: Jüdische Rundschau 31 (1926), Nr. 93, S. 667. 96 Zu den Morgenthaus siehe die posthum veröffentlichte Familienbiografie von Henry Morgenthau junior, Mostly Morgenthaus. A Family History, New York 1991. Morgenthau jr. (1891–1967) war von 1934 bis 1945 Finanzminister der USA. 97 Davis Trietsch an Ernst Herrmann, 23. 2. 1927. CZA, A104/18. 98 Davis Trietsch an Ernst Herrmann, 24. 11. 1926. Ebd., A396/3. 99 Ruppin hatte schon 1922 Kontakt zu Morgenthau aufgenommen, der ihn allerdings auch zurückwies. Für ihn war Morgenthau ein „engagierter Antizionist“. Ruppin, Tagebücher, Briefe, S. 343. 100 Ebd. 95 Davis
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6. „Eine californische Colonisations-Methode“
Kostenpunkte entfielen – anders als in Palästina – problematisierte Trietsch indes nicht.101 Neben Warburg und Morgenthau trat Trietsch auch mit Zionisten in Kontakt, die wie er von der zionistischen Leitung abgerückt waren. In den USA war das vor allem die sogenannte Brandeis-Gruppe, deren Opposition er sich aus mehreren Gründen anschloss. So kritisierte die Gruppe, die sich um den angesehenen Richter Louis D. Brandeis (1856–1941) formiert hatte, die ZO-Leitung würde sich einseitig auf Spendengelder stützen und die Privatinitiative ausklammern.102 Trietsch und andere Zionist*innen, darunter die Hadassah-Präsidentin Irma Lindheim (1886–1978), sprachen in diesem Kontext abwertend von einer „Schnorrer-Psychologie“103, die sich seit Jahren in der ZO breitgemacht hätte. Wie Trietsch setzten vor allem die Anhängerinnen und Anhänger Brandeis’ auf private Investitionen und effiziente Managementmethoden, durch die den Aktionen der Organisation „business principles“104 zugrunde gelegt werden sollten. Die Gruppe um Brandeis, der ein brennender Verfechter des Taylorismus war, forderte zudem alle der ZO zur Verfügung stehenden Mittel allein für den Aufbau Palästinas zu verwenden.105 Projekte in der Galut, wie Hebräischkurse, Publikationen oder Kulturveranstaltungen, die man damals unter dem Begriff ,Gegenwartsarbeit‘ subsumierte, sollten fortan anderweitig finanziert werden. Gleichermaßen durfte in Palästina nicht in unwirtschaftliche Sektoren investiert werden, wie in das jüdische Erziehungswesen, sondern sämtliche Kräfte waren für rentable Projekte zu verwenden, die eine größere Einwanderung ermöglichten.106 Der Zionismus sollte, wie auch der Revisionist Wolfgang von Weisl betonte, „kein hebräischer Schulverein“107 sein. Trietsch teilte diese Auffassung. Zwar hatte auch er sich in seinen frühen Berliner Jahren im Bereich der ,Gegenwartsarbeit‘ engagiert, doch stellte er frühzeitig klar, dass die „jüdische Kultur in den Ländern der Zerstreuung die Chancen auf jüdisches Land nur indirekt tangieren könnte.“ Während das Land, das für ihn nach dem Volk an allererster Stelle stand, „mit Sicherheit zu jüdischer Kultur“108 führen würde. Um den Aufbau Palästinas voranzubringen, setzte Trietsch wie die 101 Chaim Weizmann stellte diesen wichtigen Unterschied auf dem Kongress 1927 heraus, nachdem sich auch Ze‘ev Jabotinsky auf die Aktion positiv bezogen hatte. Protokoll der Verhandlungen des XV. Zionisten-Kongresses. Basel 30. August bis 11. September 1927, London 1927, S. 206 f. 102 Zu Brandeis, der zum ersten jüdischen Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten ernannt wurde: Urofsky, American Zionism, S. 120–133; ders., Louis D. Brandeis: A Life, New York 2012. 103 Berkowitz, Western Jewry, S. 58. 104 Ebd., S. 59; Laqueur, Der Weg zum Staat Israel, S. 479; „Brandeis über amerikanischen Zionismus. ‚Der fundamentale Unterschied‘“, in: Jüdische Rundschau 26 (1921), Nr. 10, S. 61. 105 Lepore, Diese Wahrheiten, S. 467–469. 106 Laqueur, Der Weg zum Staat Israel, S. 479 f.; Böhm, Die Zionistische Bewegung (2. Teil), S. 196 f. 107 Neue Wege der Palästinapolitik des Jüdischen Nationalfonds von Wolfgang Weisl, 14. November 1920 dem Hauptbüro des JNF überreicht. CZA, A104/29. 108 Trietsch, „Der jüdische Orient“, S. 253.
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Brandeis-Gruppe auf eine Zusammenarbeit mit nichtzionistischen Notabeln. Den Einwand, diese könnten einen zu großen Einfluss auf die Bewegung ausüben und den Zionismus ideologisch verwässern, teilte Trietsch entweder nicht, oder er nahm eine mögliche Einflussnahme für eine größere Aktion bewusst in Kauf.109 Trietschs Verhandlungen mit einflussreichen jüdischen Akteuren in den USA war letztlich kein Erfolg beschieden. Weder Warburg noch Morgenthau gingen eine Zusammenarbeit mit ihm ein, und auch die Brandeis-Gruppe konnte er nicht gewinnen, obwohl sie in Bezug auf Palästina vieles miteinander verband. So verliefen Gespräche über seine Mitarbeit in der von Brandeis mitgegründeten Palestine Economic Corporation (PEC) ebenfalls im Sande, die seit 1925 über private Investoren Kredit und Kapital nach Palästina brachte. Wie Trietsch favorisierte die New Yorker PEC kleine Wirtschaftseinheiten, die kooperativ organisiert und mit möglichst modernen Maschinen ausgestattet werden sollten.110 Ihr Interesse an seinen Plänen zur Geflügelwirtschaft, durch die er „zum ersten Mal [s]ein altes Rezept wahr[zumachen]“111 hoffte, führte allerdings zu keinem Zusammenschluss. Die Gründe hierfür bleiben unklar. Aufgrund der langwierigen Verhandlungen sah Trietsch sich gezwungen, seinen Aufenthalt mehrmals zu verlängern. Zum Leidwesen seiner Familie wurde aus den zwei Monaten, die er ursprünglich zu bleiben beabsichtigt hatte, ein ganzes Jahr.112 Trietsch konnte aber auch Erfolge in den USA verbuchen. Im Oktober 1926 eröffnete er in New York ein Informationsbüro für Palästina. Das Büro, mit dem er ab Februar 1927 an die Öffentlichkeit trat und das an seine Zeit in Jaffa anknüpfte, befand sich in NoHo.113 In dem einst prosperierenden Viertel in Manhattan, das eine Vielzahl an Geschäften und Lagerhäusern beherbergt hatte, war es in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zu einem Leerstand vieler Gebäude und einem Rückgang der Mieten gekommen. Dieser Umstand dürfte Trietsch dazu bewogen haben, sich dort niederzulassen, während NoHo zugleich zentral lag.114 Sein Büro in der 6 Bond Street bestand aus einem großen Hauptraum von 70 m2, in dem er diverse Fotos, Landkarten, grafische Darstellungen und Siedlungspläne ausstellte.115 Das bunte Anschauungsmaterial sollte an eine interessierte Öffentlichkeit 109 Laqueur,
Der Weg zum Staat Israel, S. 489. Karlinsky, „California Dreaming: Adapting the ,California Model‘“, S. 31. Siehe auch Allon Gal, „Brandeis’ View on the Upbuilding of Palestine, 1914–1923“, in: Studies in Zionism 2 (1982), Nr. 6, S. 211–240. 111 Davis Trietsch an Alexander Levy, 26. 4. 1927. CZA, A104/18. 112 States Immigration Officer at Port of Arrival, 25. 6. 1926. 113 O. V., „Palestine Information Bureau Opened by Trietsch“, in: The Jewish Daily Bulletin 15. 2. 1927, S. 5. Der Begriff NoHo (North of Houston Street) ist in Abgrenzung zu SoHo (South of Houston Street) seit den 1980er Jahren gebräuchlich. Zuvor war das Viertel als „warehouse district“ bekannt. NYC Landmarks Preservation Commission, NOHO Historic District. Designation Report, 29. 6. 1999, S. 4, abrufbar unter: https://www.gvshp.org/gvshp/pdf/PDFs/nohoreport.pdf (Zugriff 12. 3. 2022). 114 Ebd., S. 19 f. Zum Haus Bondstreet 6, das 1828/9 erbaut wurde: ebd., S. 40 f. 115 Davis Trietsch an Alexander Levy, 10. 12. 1926. CZA, A104/17. 110 Nahum
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herangetragen werden, um sie mit allen nötigen Informationen über die Potenziale Palästinas zu versorgen. Ziel war es, „to establish the whole Palestine colonisation question on an entirely new basis of true information of facts and possibilities[,] and of profitable enterprise.“116 Um eine solche neue Grundlage etablieren zu können, verstand sich das Büro als eine parteiunabhängige Einrichtung, die sich der ZO nicht zurechnete. Mit dieser neutralen Ausrichtung beabsichtigte Trietsch, einen breiteren Kreis von Unterstützenden zu gewinnen, während sie zugleich seine persönliche Distanz zur zionistischen Leitung markierte. So warb er damit, Gründer eines „independent, non-partisan Information Bureau“117 zu sein, von dem neue Impulse für Palästina ausgehen sollten. Die Zielgruppe des Informationsbüros waren US-amerikanische Jüdinnen und Juden osteuropäischer Herkunft, die finanziell in der Lage waren, ihren zurückgebliebenen Verwandten zu einer Niederlassung in Palästina zu verhelfen. Dass sich nicht wenige von ihnen in den USA der 1920er Jahre finden ließen, hatte auch der Esra-Verein erkannt, dessen Vertreter ebenfalls auf die sogenannte Verwandtenhilfe setzten.118 Im Unterschied zu ihnen rechnete Trietsch vorwiegend mit Privatkapital und geschäftlichen Anlagen in Form unternehmerischer Investitionen. Zusätzlich warb er für eine Zuwanderung bürgerlich sozialisierter Jüdinnen und Juden, die Geld ins Land bringen und Palästinas Entwicklung hin zu einer modernen, auf Industrie und Landwirtschaft basierenden Volkswirtschaft ankurbeln sollten. In einer Mitteilung des Büros hieß es mit einem Seitenhieb auf die ZO optimistisch: „Mr. Trietsch is confident, that private initiative and middle class immigration – both of whom were so much neglected all these years – will be the best means of developing the truly great possibilities of Palestine.“119
6.3 Auf der Suche nach dem ,amerikanischen Geist‘ Der Nachlass von Davis Trietsch zählt mehrere Dutzende werbliche Drucksachen wie Flugblätter, Broschüren und Prospekte. Fast alle von ihnen stammen aus Deutschland oder den USA, wobei die Sammlung Lücken aufweisen dürfte, da er nicht jedes im Laufe seines Lebens gesammelte Druckerzeugnis aufhob und später mit nach Palästina nahm.120 Die von Trietsch offenbar für besonders relevant befundenen Texte, die noch aus Berlin stammten, widmeten sich unter anderem dem Häuserbau. Dieser interessierte ihn ganz besonders, erforderten seine eigenen 116 What is the Purpose of your Present Visit to the United States? Manuskript von Trietsch, o. D. [Juni 1926]. CZA, A104/3. 117 Palestine Information Bureau, 6 Bond Street, New York, Informationsblatt zur Neueröffnung des Büros. Typoskript o. D. [Oktober 1926]. CZA, A396/4. 118 Exemplarisch Ernst Herrmann an Davis Trietsch, 25. 5. 1926. CZA, A104/4. 119 Palestine Information Bureau, 6 Bond Street, New York, Informationsblatt. 120 Zu finden v. a. in den Ordnern A104/51, 56 und 64.
6.3 Auf der Suche nach dem ,amerikanischen Geist‘
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Pläne doch in beträchtlicher Zahl neuen Wohnraum. Damit schnell und kostengünstig viele Unterkünfte in Palästina errichtet werden konnten, setzte Trietsch auf eine simple Bauweise. Ihm schwebten besonders einfache, aber solide Häuser aus Holz vor, wie er sie aus seiner Zeit in Jaffa kannte. Er selbst hatte in der dortigen ,Deutschen Kolonie‘ in einem Holzhaus gelebt, bei dem es sich um ein transportables Modulhaus handelte, dessen Einzelteile in Maine hergestellt worden waren. Mit rund 20 anderen Holzhäusern war es 1866 von amerikanisch-protestantischen Familien erbaut worden, die mehrheitlich aus Washington County stammten und sich drei Jahre vor den württembergischen Templern in Jaffa niedergelassen hatten.121 Einige ihrer Häuser, die später von den deutschen Einwander*innen bezogen wurden, stehen noch heute. Zwar mussten sie restauriert werden, wofür sich die Stadtverwaltung Tel Aviv seit den 1980er Jahren einsetzt. Ihr Fortbestand zeugt jedoch davon, wie beständig Holzbauten im Allgemeinen sind. Ihre Gesamtnutzungsdauer, die jüngeren Studien zufolge bei einer normalen Instandhaltung mehrere 100 Jahre zählen kann, ist dem eines Massivhauses durchaus vergleichbar.122 Der von der ZO-Leitung gegen Trietsch gerichtete Vorwurf, Holzhäusern sei keine lange Lebensdauer beschieden, kann somit nachträglich entkräftet werden. Ein berechtigter Kritikpunkt dagegen war das nicht ausreichend vorhandene Baumaterial. So verfügte Palästina damals über keine nennenswerten Baumbestände, mit denen man in größerer Zahl hätte bauen können. Initiativen des JNF zur Aufforstung des Landes, der seit seiner Gründung 1901 bis 2018 rund 260 Millionen Bäume gepflanzt hat, trugen gewissermaßen erst allmählich Früchte.123 Trietsch warb daher gleichermaßen für eine Einfuhr transportabler Holzhäuser, die er aus den Vereinigten Staaten kannte. Da damals gut zwei Drittel aller US-Amerikaner*innen in Holzhäusern lebten, gab es ihm zufolge dort kostengünstige Serienmodelle, durch die sich in kurzer Zeit neuer Wohnraum auch in Palästina schaffen ließ.124 Die anfallenden Transportkosten hielt er für kein Hindernis. Elektrisiert von einem großen Fortschrittsoptimismus ging Trietsch davon aus, die weltweite Vernetzung werde in nächster Zeit besonders stark zunehmen und neue Transporttechnologien zu einem Ausbau des Personen‑ und Warenverkehrs führen. Dadurch würde auch Palästina, das er und andere Zionistinnen und Zionisten zu einem Schnittpunkt im Welthandel erklärten, leichter zu erreichen sein. 121 Diese und weitere Informationen zur Siedlung sind der Homepage der Jaffa American Colony entnommen: http://www.jaffacolony.com/index.html (Zugriff 12. 3. 2022). Zur Geschichte der Kolonie siehe Reed M. Holmes, The ForeRunners, 2. Aufl., Jaffa 2003. 122 O. V., Forschungsergebnis: Häuser aus Holz haben eine lange Lebensdauer, 17. 5. 2002, abrufbar unter: https://www.baulinks.de/webplugin/2002/0418.php4 (Zugriff 12. 3. 2022). Gebäudeprinzipien, wie die sog. Woodscrapper, bei denen es sich um modulare Hochhäuser aus Holz und Stroh handelt, erfahren derzeit ein großes Interesse. Mehrere Architekturbüros, die sich dem Cradle-to-Cradle-Prinzip verpflichtet fühlen, werben für eine Holzbauweise. 123 „70 Jahre Israel und der Jüdische Nationalfonds. Die grüne Wüste ist kein Traum mehr“, in: Neuland. Das Magazin des Jüdischen Nationalfonds e. V., Nr. 41 (2018), S. 5–7, hier S. 5. 124 Davis Trietsch, Eine neue deutsche Heimstätten-Bewegung, Berlin 1927, S. 4.
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6. „Eine californische Colonisations-Methode“
Neben dem effizienten Häuserbau interessierte sich Trietsch von New York aus für einzelne Erwerbszweige in den USA, denen er große Zukunftschancen für Palästina voraussagte. An erster Stelle stand für ihn die Geflügelwirtschaft, die er als eine „highly profitable branch of agricultural industry“125 bewarb. Um mehr über sie in Erfahrung bringen zu können, wandte sich sein Büro an verschiedene staatliche Behörden, Forschungsinstitute und Privatpersonen. In seinen Anfragen erbat es Auskunft über neue Methoden und Techniken, wobei für diese zeitaufwendige Kommunikation ein Mitarbeiter zuständig war, den Trietsch eigens dazu eingestellt hatte.126 Inwiefern er ihn aus eigenen Mitteln bezahlte, bleibt unklar. Neben der Geflügelwirtschaft attestierte Trietsch der Herstellung von Seide besonders profitable Aussichten. Er hielt das mediterrane Klima im Norden Palästinas für sehr geeignet, um eine systematische Zucht von Seidenraupen und den Anbau von Maulbeerbäumen, dem Futterlaub der Raupen, professionell zu betreiben. Der Seidenbau im benachbarten Libanon bestärkte ihn in seinen Plänen, weshalb Trietsch wiederholt auf ihn Bezug nahm. Dort hatte man seit Jahrhunderten erfolgreich Seide hergestellt, deren Absatz zu Beginn des 20. Jahrhunderts fast 80 Prozent der libanesischen Wirtschaftskraft ausmachte.127 Auch in Kalifornien wurde zu dieser Zeit, wenn auch in weitaus geringerem Maße, Seidenbau betrieben. Trietsch interessierte sich brennend für die dortige Arbeit, da sie mit moderneren Mitteln als im Libanon vonstattenging. Um über die neuesten Entwicklungen unterrichtet zu sein, studierte er Fachzeitschriften wie das American Silk Journal. Zudem ließ er über sein Büro das Landwirtschafts‑ und Handelsministerium der USA sowie die Handelskammern von San Diego und Los Angeles kontaktieren.128 Die Antworten dieser Stellen fielen zurückhaltend aus. Zwar hätte es mehrere Initiativen in Kalifornien gegeben, doch seien diese nur im kleinen Rahmen erfolgt. Ihr kommerzieller Erfolg, der sich gegen günstige Produkte aus China und Japan behaupten musste, ließ Ende der 1920er Jahre auf sich warten. Anders blickte die 1924 privatwirtschaftlich gegründete Firma American Silk Factors auf die Entwicklungsmöglichkeiten der kalifornischen Seidenindustrie. In einem Schreiben an das Informationsbüro rühmte sich ihr Gründer, „highly technical methods“129 zu 125 Palestine
Information Bureau, 6 Bond Street, New York, Informationsblatt. Name des Mitarbeiters war C. Kirsten. 127 Trietsch nahm wiederholt auf den Libanon Bezug. U. a. in seinem Typoskript Silkworm Raising in Palestine, o. D. [1927]. CZA, A104/45. Die libanesische Seidenindustrie, deren Exporte v. a. nach Frankreich gingen, verlor ab den 1940er Jahren an Bedeutung. Grund hierfür war die Konkurrenz chinesischer und japanischer Produzenten. Der Beginn des Libanesischen Bürgerkriegs 1975 führte schließlich zur Schließung vieler Seidenfabriken. Seit ein paar Jahren wird über eine Wiederbelebung der Seidenindustrie debattiert. Alia Fares, Silk Making Part of the Historical Tapestry of Lebanon, 22. 8. 2017, abrufbar unter: https://en.annahar.com/article/645462silk-making-part-of-the-historical ‑tapestry-of-lebanon (Zugriff 12. 3. 2022). 128 Die dazugehörige Korrespondenz findet sich in A104/3, 10 und 72. Zur Geschichte der Seidenproduktion in den USA (mit dem Schwerpunkt auf Neuengland) siehe Jaqueline Field u. a., American Silk 1830–1930. Entrepreneurs and Artifacts, Lubbock 2007. 129 Glenn D. Hurst an C. Kirsten, 1. 7. 1927. CZA, A104/72. 126 Der
6.3 Auf der Suche nach dem ,amerikanischen Geist‘
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verwenden, wodurch sich im Gegensatz zum traditionellen Seidenbau Ostasiens völlig neue Dimensionen ergäben. Um eine solche moderne Arbeitsweise korrekt umsetzen zu können, setzte er auf Arbeiterinnen – im Seidenbau arbeiteten überwiegend Frauen und Mädchen –, die über eine „intelligence far above the abilities of cooly or peasant labor“130 verfügten. Trietsch nahm die Berichte aus Kalifornien begeistert auf. Ihm schwebte ebenfalls eine moderne Produktion in Palästina vor, durch die die Qualität der Seide gehoben und die Produktionskosten gesenkt werden sollten. „Jewish brains and hands, and modern methods render it absolutely possible“, so Trietsch euphorisch, „that Palestine could supply, within a short enough period, the growing needs.“131 Wie im Falle der sogenannten Spitzenindustrie sollte der Seidenbau vor allem Frauen eine Erwerbsmöglichkeit bieten. Elektrische Geräte würden die Arbeit erleichtern, indem sie die Maulbeerbäume ernteten oder die Seidenraupen maschinell fütterten. Das aufwändige Abhaspeln der Kokons, die noch heute mitsamt der lebenden Puppen in kochendes Wasser geworfen oder heißem Wasserdampf ausgesetzt werden, sollte ebenfalls nicht mehr nur von Hand erfolgen. Die im San Diego County ansässige American Silk Factors arbeitete bereits mit halbautomatischen Haspelmaschinen, die Trietsch faszinierten. Ihm zufolge gab die Firma ein aussichtsreiches Modell für Palästina ab, weshalb er sie für seine Pläne zu begeistern suchte, was ihm aber nicht gelang.132 Für eine Zusammenarbeit unter ihrer fachlichen Anleitung setzte sie Kapitalien voraus, über die Trietsch nicht verfügte. Im Gegensatz zu ihm konnte die American Silk Factors über 1 Million US-Dollar von Investoren einwerben, die dem modernen Seidenbau in Kalifornien große Chancen einräumten.133 Palästina stellte für sie dagegen kein aussichtsreiches Investitionsfeld dar. Das kalifornische Projekt, das im Zuge der Weltwirtschaftskrise 1929 zum Erliegen kommen sollte, bezog seine hohe Beteiligung nicht nur aus den Verheißungen einer modernen Maschinenwelt. Die Initiatoren der American Silk Factors warben außerdem damit, über Maulbeeren zu verfügen, deren Blätter dicker und größer waren als die herkömmlicher Bäume.134 Diese effizienteren Exemplare waren das Ergebnis von Hybrid‑ und Kombinationszüchtungen, die der berühmte US-amerikanische Pflanzenzüchter Luther Burbank (1849–1926) vorgenommen hatte. Das Vertrauen der Anleger dürfte durch den Bezug auf Burbank wesentlich gestärkt worden sein, da er über die USA hinaus eine Berühmtheit war, der zahlreiche 130 Ebd.
131 Davis
Trietsch, Plan of a Sericultural Enterprise in Palestine, o. D. [1927]. CZA, A104/45. Equipment der Firma, die auch mit Inkubatoren und Pflückmaschinen arbeitete, siehe „Opportunity Seen in Territory for Development of Raw Silk Industry“, in: Honolulu Star-Bulletin, 12. 1. 1929, S. 13. 133 David Karo, „The Fruit of Broken Dreams“, in: Los Angeles Times, 19. 7. 2000, abrufbar unter: https://www.latimes.com/archives/la-xpm-2000-jul-19-fo-55036-story.html (Zugriff 12. 3. 2022). 134 „Opportunity Seen in Territory“, S. 13. 132 Zum
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6. „Eine californische Colonisations-Methode“
Würdigungen zuteilwurden.135 Burbank hatte sich schon in seiner Kindheit für Pflanzen begeistert, die er auf der elterlichen Farm in Massachusetts spielerisch erforschte. Dass er später einmal als Plant Magician oder Plant Wizard international gefeiert werden würde, konnten er und seine Eltern zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen.136 Für einen sogenannten Pflanzen-Zauberer hielt man Burbank, weil er zwischen 1873 und 1925 mehr als 800 neue Variationen von Obst‑ und Gemüsesorten, Zierpflanzen, Nüssen sowie Getreide durch Selektion und Kreuzung entwickelt hatte. Seine bedeutendste Zucht bildete die sogenannte Burbank Potato, eine besonders große, widerstandsfähige Kartoffelsorte mit einem hohen Stärkegehalt, die noch heute am häufigsten in den USA angebaut wird.137 Wie viele Zeitgenoss*innen war Trietsch von der Arbeit Burbanks fasziniert. Er bewunderte ihn für seine Kühnheit, mit der er die vielen Züchtungen vornahm. Burbank, der über keinen akademischen Grad verfügte, arbeitete nicht nach wissenschaftlichen Standards. Viele seiner Zuchtversuche sind gar nicht oder nur kryptisch dokumentiert, was Wissenschaftler*innen noch heute vor viele Fragen stellt.138 Seine unorthodoxe Arbeitsweise, die häufig sehr erfolgreiche Ergebnisse zu Tage förderte, dürfte Trietsch mit eben jenem ,amerikanischen Geist‘ in Verbindung gebracht haben, den er sich auch für Palästina wünschte. Burbank, der nur einen Highschool-Abschluss besaß, war als junger Mann nach Kalifornien gegangen, wo er nördlich von San Francisco ein Stück Land erwarb. Auf eigene Initiative errichtete er dort einen kleinen Versuchsgarten, dessen Zuchtergebnisse in den kommenden Jahren für Aufsehen sorgen sollten. Burbank, zu dessen Bewunder*innen auch Henry Ford zählte, verkörperte für Trietsch einen cleveren Selfmademan, dem es an Wagemut und Aktionismus nicht fehlte.139 Um sein Wissen auch in Palästina zu vervielfältigen, beabsichtigte Trietsch, dort ein Luther-Burbank-Institut zu gründen.140 Persönlich kennengelernt hatten sich die beiden Autodidakten, zum großen Bedauern Trietschs, nicht. Burbank war wenige Wochen vor seiner Ankunft in New York verstorben. Die Faszination, die auch nach 1926 von Burbanks Werk ausging, nutzte Trietsch für seine Seidenbau-Pläne. Gegenüber potenziellen Investoren hob er hervor, ebenfalls auf die effizienten Maulbeerzüchtungen des Plant Wizard zurückgreifen
135 Siehe u. a. Edward J. Wickson, Luther Burbank. Man, Methods, and Achievements. An Appreciation, San Francisco 1903; W. S. Harwood, New Creations in Plant Life. An Authoritative Account of the Life and Work of Luther Burbank, New York 1924. 136 H. H. Dunn, „What Burbank Plans to Do in the Next Five Years“, in: Popular Science Monthly 108 (1926), Nr. 4, S. 11 f., hier S. 11. Darin der Verweis auf den Maulbeerbaum. 137 Jane S. Smith, The Garden of Invention. Luther Burbank and the Business of Breeding Plants, New York 2009, S. 36. 138 Ebd., S. 87, 297 f., 323. Burbanks Art der Dokumentation erklärt sich vor dem Hintergrund, dass es damals noch kein Patent auf Pflanzen gab. 139 Zu Henry Ford, der nach dem Tod Burbanks ihm zu Ehren ein kleines Museum errichtete, s. ebd., S. 247 f., 276 f. 140 C. Kirsten an The Luther Burbank Experiment Farms, 22. 4. 1927. CZA, A104/72.
6.3 Auf der Suche nach dem ,amerikanischen Geist‘
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zu wollen.141 Die gezüchteten Maulbeerbäume waren um 1927 jedoch nicht ohne Weiteres zu bekommen. Sie gingen nur in sehr geringer Zahl in den Verkauf, und ihre Anschaffung war kostspielig. Trietsch aber besaß offenbar ein Exemplar, dessen er sich in mehreren Rundschreiben rühmte. Sein Baum dürfte den Versuchsgarten in Kalifornien, wo man ihn bis zu seiner nächsten Überfahrt nach Palästina aufbewahrte, allerdings nie verlassen haben.142 Ein zentrales Ziel von Burbank war es, durch Züchtungen resistentere und reichhaltigere Nahrungsmittel zu erzeugen. Sie sollten Hungersnöte und Versorgungsmängel in Zukunft verhindern.143 Auch Trietsch interessierte sich für derart ertragreichere Pflanzen, mit denen der Hunger in der Welt bekämpft werden sollte. Sein Augenmerk war auf Palästina gerichtet, dessen Bewohner*innen künftig mit allen wichtigen Nahrungsmitteln zu versorgen waren. Eine zentrale Rolle für diese Grundversorgung spielte ihm zufolge das Getreide. Ob Weizen, Gerste, Hirse oder Reis: Getreide konnte als ein Grundnahrungsmittel für den Menschen und ein kohlenhydratreiches Viehfutter dienen. Mit Blick auf die Haltung von Geflügel, vor allem von Hühnern, interessierte sich Trietsch primär für den Anbau von Gerste.144 Neben Weizen und Mais zählt Gerste zu den geeignetsten Futtermitteln, die von Hühnern gut angenommen werden. Für seine eigenen Projekte bemühte sich Trietsch deshalb, eine reichhaltige und robuste Gerstensorte ausfindig zu machen. Zu diesem Zweck schickte er diverse Gerstenproben an Ernst Herrmann und dessen Sohn in Palästina, die für ihn vor Ort Anbauversuche unternahmen.145 Ihnen gegenüber sprach er wiederholt von seiner „amerikanischen Gerste“146, weshalb davon auszugehen ist, dass es sich auch hier um eine Sorte aus den USA handelte. Neben dem Anbau aussichtsreicher Pflanzensorten, die Trietsch in den Vereinigten Staaten kennenlernte, sollte der Getreideanbau in Palästina durch moderne Arbeitsgeräte revolutioniert werden. Das Ziel seines Aufenthalts, so Trietsch kurz vor seiner Einreise in die USA, sei die „Vervielfachung der Ernten durch technische Mittel“147. Sein Engagement in dieser Hinsicht dürfte sich wesentlich aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs gespeist haben. Wie viele Deutsche hatte Trietsch im sogenannten Kohlrübenwinter am eigenen Leib Hunger erfahren müssen. Besonders im städtischen Raum war es 1916/17 zu einem flächendeckenden Versorgungsmangel gekommen, da man viele Lebensmittel und Rohstoffe kriegs-
Ders. an Audiger & Meyer Silk Co., 1. 4. 1927. Ebd., A104/72. A Special Proposition for the Introduction of the Silk Industry in Palestine, o. D. [1927]. Ebd. 143 Smith, The Garden of Invention, S. 38 f., 326. 144 Davis Trietsch an Ernst Herrmann, 20. 3. 1929. CZA, A104/5. 145 Jehuda Herrmann schickte seinerseits Proben zurück nach Berlin. Jehuda Herrmann an Davis Trietsch, 13. 12. 1928, 17. 1. 1929. Ebd. 146 Davis Trietsch an Ernst Herrmann, 20. 3. 1929, 14. 8. 1929. Ebd. 147 Davis Trietsch, An Bord der „Mauretania“, 21. 6. 1926. CZA, A104/51. 141
142 Trietsch,
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bedingt nicht mehr aus dem Ausland beziehen konnte. Die Zuteilungsmengen von Grundnahrungsmitteln wie Brot oder Kartoffeln, die ab Ende 1915 rationiert wurden, schrumpften dramatisch. Nachdem dann noch die Kartoffelernte des Jahres 1916 schlecht ausgefallen war, kam es zu einer Hungersnot. Bis Kriegsende starben 700.000 bis 800.000 Zivilistinnen und Zivilisten – die Zahlen variieren – an den Folgen von Mangelernährung und Hunger in Deutschland.148 Von der Versorgungsnot, die im Frühjahr 1917 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte, war auch die Familie Trietsch in Berlin betroffen. Davon zeugen Briefe von Verwandten, die Lebensmittel in die Hauptstadt schickten, die sie Bauern in Süddeutschland abgekauft hatten.149 Trietschs Einsatz im Kampf gegen den Hunger führte in den Jahren nach dem Krieg dazu, dass er sich zusehends verschuldete. Seinen Schulden, die der Grund für die bereits erwähnten Pfändungen waren, lag ein Herzensprojekt zugrunde: die Konstruktion einer Pflanzmaschine zur Getreideumpflanzung. Sein Partner in diesem Unternehmen war Simcha Blass (1897–1982), ein in Warschau geborener jüdischer Ingenieur. Auf Trietschs Anregung entwarf er in den Jahren 1919 bis 1924 die sogenannte Fortuna-Pflanzensetzmaschine, durch die Getreide nicht mehr zeitaufwendig von Hand, sondern maschinell umgepflanzt werden sollte. Die Maschine zog zu diesem Zweck eine Furche in den Boden und setzte durch einen Trichter, in den der Setzling zuvor gelegt worden war, das Pflanzgut im erforderlichen Abstand ein. Zwei Druckräder schlossen daraufhin die Furche und walzten die Erde mitsamt der Pflanze fest. Das Furchenziehen, Einpflanzen und Festdrücken erfolgte somit automatisch, während für das Ziehen der Maschine zwei Pferde benötigt wurden.150 Das Befüllen der Trichter konnte von ungelernten Arbeitskräften vorgenommen werden, wobei sich Trietsch zufolge besonders Mädchen und Jungen im Alter von ca. 15 Jahren eigneten.151 Die simple Handhabung der ,Fortuna-Pflanzensetzmaschine‘ hatte den Vorteil, dass diejenigen, die sie bedienten, sich weder geistig noch körperlich verausgabten. Das war ein zentrales Kriterium für Trietsch. Dadurch, dass die Feldarbeit nicht mehr kräftezehrend sein würde, konnte er wortwörtlich auch die Mitarbeit älterer Personen ins Feld führen. Trietschs Pflanzmaschine, durch die sich Zeit und Kosten sparen ließen, sollte zudem eine intensivere Ausnutzung des Bodens gewährleisten. Zu diesem Zweck 148 Vgl. Andrea Fadani, „Brotlose Zeiten. Hunger an der deutschen Heimatfront im Ersten Weltkrieg“, in: ders. u. a. (Hg.), Zwischen den Fronten. Leben und Sterben im Ersten Weltkrieg; 1914–1918, Bonn 2014, S. 266–285, hier S. 283; Gustavo Corni, „Hunger“, in: Gerhard Hirschfeld u. a. (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2009, S. 565–567, hier S. 565. 149 Bertha Hemmerdinger an Davis Trietsch, 22. 3. 1917. JMB 2011/267. Bertha Hemmerdinger geb. Aberle (1883–1941) war eine Cousine von Trietsch. Sie lebte 1917 in Freiburg. 150 Eine Beschreibung und Abbildung der ,Fortuna-Pflanzensetzmaschine‘ findet sich bei Hans-Egon Döblin, Einführung in die Getreide-Umpflanz-Technik auf Grund eigener Versuche und Beobachtungen, 2. Aufl., Berlin 1928, S. 12 f. 151 Davis Trietsch, „Los von mittelalterlichen Methoden!“, in: Berliner Tageblatt, 7. 1. 1928, 1. Beiblatt, o. P.
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wurden die Pflanzen im Saatbeet vorgezüchtet und die vorgezogenen Jungpflanzen dann maschinell eingesetzt. Dieses Getreideumpflanzverfahren, das traditionell in Ostasien von Bauern händisch praktiziert wurde, sollte zu einer Steigerung der Ernten unter Ersparnis von Saatgut führen. Anders als in China oder Japan, wo die jungen Reispflanzen büschelweise ausgerissen und in Abständen wieder eingepflanzt wurden, setzte Trietsch auf die Vorzüge maschineller Verfahren, die ihm aus den USA geläufig waren. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg waren dort Pflanzmaschinen entwickelt worden, die die Setzlinge zusätzlich bewässerten und düngten.152 Die in Ohio hergestellten und im Gemüse‑ und Tabakbau verwendeten Maschinen weckten auch das Interesse mehrerer deutscher Wissenschaftler und Politiker. So erwarb das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft nachweislich mehrere Pflanzmaschinen, und es erfolgten Studienreisen in die USA.153 Trietsch spielte für die Verbreitung des Wissens um die US-amerikanischen Pflanzmaschinen eine zentrale Rolle in Deutschland. So regte seine ,FortunaPflanzensetzmaschine‘, die er erstmals 1924 in der auflagenstarken Deutschen Landwirtschaftlichen Presse154 öffentlich bewarb, andere Ingenieure zu ähnlichen Konstruktionen an. Weitere Veröffentlichungen von ihm lösten zudem in der deutschen Fach‑ und Tagespresse lebhafte Diskussionen über die Chancen maschinellen Getreideumpflanzens aus, das überwiegend als aussichtsreich befunden wurde. 1928 erreichte das Interesse an dem Verfahren seinen Höhepunkt, wie ein Artikel von Trietsch im auflagenstarken Berliner Tageblatt erkennen lässt. Mehrere positive Besprechungen erschienen darüber hinaus im Ausland, wie im Londoner Daily Express oder im faschistischen Il Popolo d’Italia.155 Das über Deutschland hinausgehende Interesse an Umpflanztechniken, das zeitweise besonders in Österreich und Italien ausgeprägt war, ebbte um 1930 ab. Ein wichtiger Grund dafür dürfte die Weltwirtschaftskrise im Anschluss an den New Yorker Börsencrash gewesen sein, die das Investitionskapital drastisch hemmte, das für Pflanzversuche nötig war. Außerdem bemängelten Kritiker den hohen Zeit‑ und Arbeitsaufwand des Verfahrens. Ihnen zufolge rentierten sich die verschiedenen Arbeitsschritte von der Aussaat bis zur Auspflanzung nicht, zu denen die mehrmalige Behäufelung der Setzlinge zählte. Trotz maschineller Hilfsmittel blieb es ein aufwendiges Prozedere, das sich auf kleineren Anbauflächen lohnen 152 Döblin,
Einführung in die Getreide-Umpflanz-Technik, S. 11 f. S. 11. Studienreisen unternahmen u. a. Georg Kühne, Die Technik in der Landwirtschaft in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Bericht über die Ergebnisse einer 1925 durchgeführten Studienreise, Berlin 1926 sowie Max Augstin, Die Entwicklung der Landwirtschaft in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, Leipzig, München 1914. 154 Davis Trietsch, „Maschinelles Umpflanzen“, in: Deutsche Landwirtschaftliche Presse (Beilage Landmaschinentechnische Rundschau), 30. 8. 1924, S. 1. 155 Davis Trietsch, „Los von mittelalterlichen Methoden!“; „Promise of a Farming Revolution: New Corn-Growing Method“, in: The Daily Express, 16. 1. 1928, S. 1; Eguar, „Nuovi Orizzonti della Tecnica Frumentaria. Intorno al Trapianto del Grano“, in: Il Popolo d’Italia, 14. 11. 1928, S. 6. 153 Ebd.,
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Abb. 6, Davis Trietsch bei der Inspektion eines Weizenfeldes im Rahmen seiner Pläne zur Getreideumpflanzung, um 1927.
mochte; für einen extensiven Getreideanbau eignete es sich ihrer Meinung nach jedoch nicht. Trietsch dagegen hielt an den Vorzügen einer Getreideumpflanzung fest. Für seine Palästina-Pläne waren sie zielführend, da ihnen eine intensive Landwirtschaft auf kleinerer Nutzfläche zugrunde lag. Seine ,Fortuna-Pflanzensetzmaschine‘ ließ ihn hoffen, einen größtmöglichen Nutzen aus begrenzten Anbauflächen ziehen zu können, der durch weitere Hilfsmittel wie künstlichen Dünger zu erzielen war. Trietschs Aufenthalt in New York beflügelte dieses Vertrauen in die Möglichkeiten der Technik. Ob Sonnenmotor oder Pflanzmaschine: Die technischen Innovationen, die er in den USA kennenlernte, stärkten seine Überzeugung, dass sich einige von ihnen auch in Palästina anwenden ließen. Was es für ein Gelingen brauchte, war Trietsch zufolge ein ,amerikanischer Geist‘.
6.4 Der Einfluss kalifornischer Siedlungen und Achusot Das Informationsbüro von Davis Trietsch war nicht das einzige seiner Art in New York, wo um 1925 rund 1,6 Millionen Jüdinnen und Juden lebten. Schon zu Beginn des Jahrhunderts waren einige private Gruppen bemüht gewesen, verlässliche
6.4 Der Einfluss kalifornischer Siedlungen und Achusot
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Auskünfte über Palästina zu geben.156 Ein hierzu errichtetes Palestine Information Bureau wurde auch von der FAZ ins Leben gerufen. Für wie wichtig die Zionistinnen und Zionisten aktuelle Informationen mit Blick auf künftige Projekte erachteten, zeigt die Gründung weiterer Büros. So votierten die Delegierten auf dem schon erwähnten Delegiertentag in Buffalo, ein „Information Bureau for Palestine Investments“157 zu eröffnen. Dieses sollte US-amerikanische Investoren über mögliche Investitionsfelder in Kenntnis setzen, darunter die aufstrebende Bauindustrie bzw. Bauwirtschaft. Im Unterschied zu diesen bloßen Auskunftstellen war Trietschs Büro auch an der Umsetzung von Siedlungsprojekten aktiv beteiligt. So kooperierte es engmaschig mit der Palestine Homestead Corporation (PHC), die sich im selben Gebäude befand. Das Gründungsziel der Gesellschaft war, wie ihr Name verrät, die Schaffung sogenannter Heimstätten in Palästina.158 Trietsch hatte sie im Herbst 1926 ins Leben gerufen, nachdem die US-amerikanische Landesorganisation der Agudas Jisroel (AJ) auf ihn zugekommen war, um einige ihrer Böden unter seiner Leitung zu erschließen.159 Trietsch und die Aguda, damals wie heute die gebräuchliche Kurzform der im polnischen Katowice 1912 gegründeten Organisation, hatten schon in früheren Jahren gemeinsame Projekte verfolgt. Ihre Zusammenarbeit mag auf den ersten Blick verwundern, da die AJ eine Interessenvertretung ultraorthodoxer Jüdinnen und Juden war. Mit Trietschs Lebensrealität hatte ihr Anliegen, das auf die Religion ausgerichtete Leben der „gesetzestreuen Judenheit“160 stärken zu wollen, jedenfalls nichts zu tun. Wie Kapitel 4.1 gezeigt hat, bestimmten die 613 Ge‑ und Verbote der Tora nicht seinen Alltag. Dass Trietsch dennoch mehrmals mit strengreligiösen Kreisen zusammenging, muss daher in einem größeren Kontext gesehen werden. Zu bedenken ist vor allem sein schlechtes Verhältnis zur ZO, das um 1925 seinen vorläufigen Tiefpunkt erreichte. Hatte Trietsch zunächst noch auf die Unterstützung des Präsidenten Chaim Weizmann gesetzt, der Sympathien für seine Pläne gezeigt hatte, so sollten sich diese Hoffnungen nicht erfüllen. Gegenüber Bernard Kahn (1876–1955), der sich viele Jahre im HddJ engagiert hatte, ließ Trietsch im Mai 1927 die Bemerkung fallen, seit über zwei Jahren nicht mehr mit dem ZO-Präsidenten zu rechnen, da „er sich soweit seinem Apparat assimiliert“161 hätte, dass ein Zusammengehen nicht mehr zu erwarten sei. Trietschs Isolation innerhalb der ZO, deren Führung er mit einem technischen Gerät verglich, das durch personelle 156 Initiativen gingen bspw. von der 1908 gegründeten Agudath Chaluzim aus, einer Gruppe selbsternannter Pioniere, die in Palästina siedeln wollte. „Increased Interest in Palestine“, in: The Brooklyn Daily Eagle, 9. 10. 1908, S. 28. 157 „The Buffalo Convention“, S. 24; Zu den Information Bureaus der US-amerikanischen Zionist*innen siehe Glass, From New Zion to Old Zion, S. 77. 158 Dokumente zu den Aktivitäten der Gesellschaft finden sich v. a. im Ordner A104/52. 159 Davis Trietsch an Ernst Herrmann, 17. 9. 1926. CZA, A104/36. 160 J. Rm, „Agudas Jisroel“, in: Georg Herlitz/Bruno Kirschner (Hg.), Jüdisches Lexikon, 1. Bd. (A-C), Berlin 1927, Sp. 124–131, hier Sp. 126. 161 Davis Trietsch an Bernard Kahn, 27. 5. 1927. CZA, A395/5. Zu Kahns zentraler Rolle im JDC der 1930er Jahre siehe Weiss, Deutsche und polnische Juden, S. 91–101.
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Machtkämpfe blockiert war, rückte ihn in die Nähe nichtzionistischer Gruppen. Neben Kahn, der seit 1924 Direktor des JDC in Europa war, suchte er offenbar auch den Kontakt zur Aguda. Der Arbeitsschwerpunkt der AJ hatte in den ersten Jahren ihres Bestehens auf Unterstützungsprojekten in der jüdischen Diaspora gelegen. Erst auf ihrer Delegiertenversammlung 1923 in Wien nahm sie auf Betreiben des Frankfurter Philosophen Isaac Breuer (1883–1946) auch „den Wiederaufbau des heiligen Landes als einer Stätte geheiligten jüdischen Geistes und Wirtschaftslebens“162 in ihre Satzungen auf. Zur Koordinierung ihrer Arbeit in Palästina errichtete sie in Frankfurt am Main eine ,Palästina-Centrale‘, mit der Trietsch während des Jahres 1925 in regem Kontakt stand.163 Mit der ZO strebte die AJ, von einigen Annäherungsversuchen abgesehen, keine Kooperation an.164 Wie der Berliner Rabbiner Hermann Klein (1879–1955) klarstellte, ein Schüler von Breuer, sollte die Gruppe der Zionistinnen und Zionisten nicht den Anspruch erheben dürfen, „die alleinigen Wortführer des Judentums“165 in Palästina zu sein. In Abgrenzung zum säkularen Programm der ZO förderte die Aguda die Niederlassung religiöser Jüdinnen und Juden in Eretz Israel. Um ihr Vorhaben zu realisieren, erwarb sie bis 1926 insgesamt 5000 Hektar Land in der Jesreelebene im Norden Palästinas.166 Mit dem Kauf, der in etwa 7000 Fußballfeldern entsprach, gesellte sich die AJ zur ZO, die zur gleichen Zeit rund doppelt so viele Böden im Emek besaß. Damit der nicht unbeträchtliche Grundbesitz erschlossen und besiedelt werden konnte, war die Aguda, die keine Siedlungserfahrungen in Palästina besaß, auf externe Experten angewiesen. Hier kam Trietsch ins Spiel. Für ihn bot die Unerfahrenheit der AJ eine große Chance, aus der sich neue Handlungsspielräume ergaben. Im Gegensatz zur ZO, deren Führungsebenen ihm verschlossen blieben, nahm Trietsch die Aguda als ein noch unbeschriebenes Blatt wahr, das sich mit seinen Leitsätzen versehen ließ. In seinem ersten Beitrag einer Aufsatzreihe, die er im Januar 1925 in der Palästina-Zeitschrift Moriah der AJ veröffentlichte, bemerkte er diesbezüglich erwartungsvoll: „Aber neue Elemente, die sich der praktischen Arbeit in Palästina zuwenden wollen, haben es nicht nötig, sich mit den irrtümlichen Voraussetzungen und fehlerhaften Systemen zu belasten, die der bisherigen Arbeit von Anbeginn zugrunde lagen.“167
Von einer Zusammenarbeit profitierte aber auch die Aguda. So konnte Trietsch ein außerordentlich breites Wissen in Bezug auf Palästina und die Möglichkeiten sei162 „Was
wir wollen“, in: Moriah 1 (1925), Nr. 1, S. 1. Korrespondenz mit der Zentrale ist v. a. im Ordner A104/41 dokumentiert. 164 Zum Verhältnis zwischen Aguda und ZO siehe Daniel Mahla, Orthodox Judaism and the Politics of Religion. From Prewar Europe to the State of Israel, Cambridge 2020, S. 104–130. 165 Hermann Klein, „Einiges zur לארשי ץרא בושי-Bewegung“, in: Moriah 1 (1925), Nr. 1, S. 1 f., hier S. 2. 166 From Special Tourist Number of the Palestine Weekly, Jerusalem (1926): Agudat Israel. Abschrift einer Zeitschriftennotiz. CZA, A104/55. 167 Davis Trietsch, „Wege nach Palästina“, in: Moriah 1 (1925), Nr. 1, S. 2–10, hier S. 2. 163 Trietschs
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ner Erschließung vorweisen. Mit seinen vielen Publikationen zu diesem Themenkomplex und den Entwicklungsperspektiven des Nahen Ostens hatte er sich über die Jahre im In‑ und Ausland einen Namen gemacht, der auch in nichtjüdischen Kreisen zirkulierte. Darüber hinaus konnte Trietsch auf eine dreißigjährige Tätigkeit in der zionistischen Bewegung zurückblicken, ohne selbst länger ein ,offizieller Zionist‘ zu sein. Dass er lange Zeit in der ZO aktiv gewesen war, wodurch er ihre internen Abläufe bestens kannte, dürfte das Interesse der AJ gleichermaßen geweckt haben. Darüber hinaus wird Trietschs Erziehung manchen Kontakt erleichtert haben. Durch eine ihm aus Kindheit und Jugend vertraute religiös-orthodoxe Lebenswelt dürfte er leichter Zugang zu den AJ-Verantwortlichen gefunden haben. Vor allem aber war Trietsch ein vielseitig vernetzter Akteur, der über Kontakte in die USA verfügte. Diese wurden in der Zwischenkriegszeit auch für die Aguda immer wichtiger, die bei der Finanzierung ihrer Palästina-Projekte ebenfalls auf die ,Verwandtenhilfe‘ setzte. Ein großer Erfolg, den Trietsch in dieser Hinsicht verbuchen konnte, war eine Artikelserie von ihm in der angesehenen jiddischen Tageszeitung Der Tog.168 Das seit 1914 in New York erschienene Blatt, das ein intellektuelles Publikum ansprach, druckte im Juni 1926 eine Voranzeige zu der geplanten Serie. Darin hieß es über Trietsch, er sei für den praktischen Zionismus das, was Theodor Herzl für den politischen Zionismus gewesen sei. Auch wenn nur ein Teil der insgesamt 90 Artikel im Tog veröffentlicht wurde, dürfte es Trietsch entzückt haben, in einer der bekanntesten jüdischen Zeitungen der USA auf eine Stufe mit Herzl gestellt zu werden.169 Solche und andere Würdigungen stimmten die Aguda offenbar zuversichtlich, mit Trietsch einen Fachmann an ihrer Seite zu wissen. Auf einer Konferenz zum Auftakt ihrer Palästina-Arbeit im Februar 1925 reihte sie ihn in die Riege „erstklassige[r] Fachleute“170 ein, von deren Expertise man künftig zu profitieren hoffte. Für die Erschließung der Aguda-Böden griff Trietsch auf seine alte Maxime zurück: Es sollten in kürzester Zeit mit möglichst wenig Mitteln möglichst viele Menschen angesiedelt werden. Die jüngsten Entwicklungen in Polen, die er als eine „beginnende jüdische Massensiedlung“171 interpretierte, ermutigten ihn in diesem Vorhaben. Ab der zweiten Jahreshälfte 1924 stieg die Zahl polnischer Palästina-Einwander*innen stark an, die damit die 4. Aliyah in Gang setzten.172 Wie schon erwähnt befanden sich unter ihnen vor allem Kaufleute und Handwerker, die als kleinere und mittlere Unternehmer in Palästina Fuß zu fassen suchten. Bis 1929 gelangten insgesamt 82.000 Personen ins Land, etwa die Hälfte von ihnen 168 Zu der Zeitung siehe Gennady Estraikh u. a. (Hg.), The Newspaper for the Jewish Intelligentsia. Der Tog 1914–1971, Cambridge 2021. 169 Davis Trietsch an Ernst Herrmann, o. D. [Juli 1926]. CZA, A396/3. 170 „Die Palästina-Konferenz der Agudas-Jisroel in Frankfurt a. Main“, in: Moriah 1 (1925), Nr. 2, S. 29–32, hier S. 31. 171 Trietsch, „Wege nach Palästina“, S. 4. 172 Aliyah (hebr. Aufstieg) steht für die jüdische Einwanderung nach Palästina/Israel. Das Wort stammt ursprünglich aus dem Talmud, wo es den Aufstieg zum Tempelberg meint.
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6. „Eine californische Colonisations-Methode“
aus Polen.173 Ihr Entschluss zur Emigration folgte auf eine schwere Wirtschaftskrise, die die Zweite Polnische Republik Mitte der 1920er Jahre erfasst und den Antisemitismus in Staat und Gesellschaft, unter anderem in Form einer diskriminierenden Steuerpolitik, befeuert hatte.174 Da die USA, bis dato das wichtigste Zielland polnischer Emigrantinnen und Emigranten, im Frühjahr 1924 ihre Einreisebestimmungen verschärften, wurde Palästina für sie zu einer ernstzunehmenden Alternative. Die Aguda, die in Polen traditionell stark vertreten war, wollte den Auswandernden bei ihrer Niederlassung in Palästina helfen. Die Gruppe, die mehrheitlich über Eigenkapital verfügte und aus dem städtischen Raum kam, ließ Trietsch auf den Beginn einer großen Aktion entsprechend seinen Leitsätzen hoffen. Um sie erfolgreich umsetzen zu können, setzte er auf die planvolle Gründung jüdischer ,Heimstätten‘. Schon 1899 hatte er betont, wie wichtig es sei, bezugsfertige Böden und Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. Die Erfahrung in Palästina hätte gezeigt, dass häufig Projekte vorzeitig beendet werden mussten, da sich die Arbeiten als zu beschwerlich und kräftezehrend erwiesen. An diesen Missständen setzte Trietsch an. Ihm zufolge war es dringend an der Zeit, eine probate und einheitliche Methode zu finden, mit der endlich „System in die Sache gebracht werden“175 sollte. Ein erfolgversprechendes Vorgehen war ihm aus Kalifornien bekannt, auf das er während seiner ersten Zeit in New York, in den 1890er Jahren, aufmerksam geworden sein dürfte. Im Bundesstaat im Westen der USA hatten sich mehrere private Gesellschaften gegründet, die ertragfähige Böden zum Kauf anboten. Die bekannteste von ihnen war die Central California Colony, die 1875 südlich der Stadt Fresno angelegt wurde.176 Auf einer Fläche von 1554 Hektar konnten dort 192 Grundstücke auf Ratenzahlung erworben werden. Das Besondere an der Kolonie, die über Zentral-Kalifornien hinaus viele Nachahmende fand, war ihr Vorgehen: Ohne selbst Hand anlegen zu müssen, ließen sich die Käufer*innen ihre Böden vorbereiten. Die Kosten für den Bodenerwerb und die Vorbereitung der Parzellen, die mit Weinreben und Obstbäumen bepflanzt wurden, konnten über einen Zeitraum von fünf Jahren abbezahlt werden. Hierzu erwarben die Beteiligten jeweils Anteile an der Gesellschaft, deren Geschäftsvermögen außerdem für den Bau gemeinschaftlich genutzter Wirtschaftsgebäude, einer Schule und Kirche verwendet wurde. Mit einer einmaligen An‑ und Abschlusszahlung konnten die Gesamtkosten, durch173 Andere wichtige Herkunftsländer waren Litauen, Rumänien und der Jemen. Immigration to Israel: The Fourth Aliyah (1924–1929), abrufbar unter: https://www.Jewishvirtuallibrary. org/ the-fourth-aliyah-1924-1929 (Zugriff 12. 3. 2022). 174 Zur Wirtschafts‑ und Finanzkrise in Polen, die sich durch schlechte Ernteerträge noch zuspitzte: Neal Pease, Poland, the United States, and the Stabilization of Europe, 1919–1933, New York 1986, S. 35. Zum religiös-xenophob motivierten Antijudaismus: Rainer Kampling (Hg.), „Nun steht aber diese Sache im Evangelium …“ Zur Frage nach den Anfängen des christlichen Antijudaismus, Paderborn u. a. 1999. 175 Trietsch, „Eine californische Colonisations-Methode“, S. 4. 176 John Panter, „Central California Colony: ‚Marvel of the Desert‘, in: Fresno Past&Present 36 (1994), Nr. 2, S. 1–11, hier S. 1.
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schnittlich 900 US-Dollar, monatlich zinslos aufgebracht werden.177 Während die Käufer*innen bis zur Fertigstellung somit an ihrem bisherigen Wohnort bleiben konnten, übernahmen Arbeiter, bei denen es sich fast immer um African Americans handelte, die Vorbereitung der Böden. Die Fruchtreife der Pflanzen, die bei Obstbäumen nach sechs bis sieben Jahren erreicht wird, während sich die ersten Weintrauben schon ab dem dritten Standjahr ernten lassen, bedachte man hierbei mit, sodass erste Ernteerträge bis zur Niederlassung garantiert waren. Mit seinem Verweis auf die Kolonien in Kalifornien hatte Trietsch damals auch das Interesse der zionistischen Leitung wecken können. Sie sah darin ein Vorgehen, das sich in abgewandelter Form auch auf Palästina anwenden ließ. Auf Bitten von Herzl veröffentlichte Trietsch daher noch im Sommer 1899 den Artikel „Eine californische Colonisations-Methode“, der unter Pseudonym in Die Welt erschien. Offenbar wollte er sich damit die Option offenhalten, mit jüdischen Kreisen zusammenzugehen, die ebenfalls an der Methode interessiert waren, ohne dass sich eine zionistische Beteiligung mit ihr verband.178 Zudem ließ sich mit einem Nom de Plume, das auch einige andere Zionistinnen und Zionisten zu Beginn ihrer publizistischen Karriere nutzten, strategisch auf eigene Texte rekurrieren. Ein größeres Echo auf seinen Kalifornien-Artikel blieb jedoch aus. Zu Trietschs Bedauern folgten auch keine praktischen Schritte, wie er drei Jahre später in seiner Zeitschrift Palästina monierte, in der er den Artikel erneut abdrucken ließ.179 Zwar kam es ab 1905 zur Gründung einiger Pflanzungsgesellschaften, darunter der ,Pflanzungsverein Palästina‘ der ZO. Ihre Statuten wichen aber in erheblichem Maße von Trietschs Plänen ab, indem sie die Anlage von Orangenhainen und Obstbaumplantagen durch jüdische Arbeiter anvisierten, ohne dass sich damit eine Ansiedlung ihrer Mitglieder verband.180 Pflanzungsgesellschaften, die dagegen eine Niederlassung in Palästina zum Ziel hatten, erlebten erst um 1908 einen Aufschwung in zionistischen Zirkeln. Neben Russland waren es besonders private Initiativen in den USA, die die Achusa-Bewegung (hebr. Besitz) zeitweise auch in Deutschland populär machten.181 Das erste Unternehmen dieser Art ging auf 40 Familien aus St. Louis zurück, die sich 1908 zu einer Genossenschaft zusammenschlossen und zwei Jahre später südlich der Stadt Tiberias 355 Hektar Land erwarben. Fast die Hälfte der vorbereiteten Ebd., S. 4 f. „Eine californische Colonisations-Methode“, S. 4 f. Anhaltspunkte zu seinem taktischen Vorgehen finden sich bei ders., „Jüdische Gartenstadtbestrebungen“, S. 7. 179 Ben-David [Davis Trietsch], „Eine Kalifornische-Kolonisations-Methode“, in: Palästina 1 (1902), Nr. 5–6, S. 186–188. 180 Der Pflanzungsverein Agudat Netaim, der 1905 in Palästina gegründet worden war, machte den Auftakt. „Die Gesellschaft Agudath Netaim“, in: Die Welt 12 (1908), Nr. 6, S. 17. Zum ,Pflanzungsverein Palästina‘ siehe Schäfer, Berliner Zionistenkreise, S. 126–128. 181 Berichte und Korrespondenzen hinsichtlich der US-amerikanischen Achusot finden sich in den Beständen der FAZ: CZA, Z3/1525. Zu Aktionen in Russland siehe u. a. „Die Wilnaer Achusa“, in: Die Welt 18 (1914), Nr. 23, S. 552. Siehe auch Amit-Cohen, „American Jewry“. 177
178 Trietsch,
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Böden war bis 1915 mit Oliven‑ und Mandelbäumen bepflanzt, wofür jede Familie insgesamt 1400 US-Dollar ratenweise zu zahlen hatte.182 Das Achusa-Prinzip fand in der Folge breite Nachahmung. Ruppin, der die einzelnen Projekte mit Wohlwollen von Palästina aus verfolgte, zählte am Vorabend des Ersten Weltkriegs 20 Achusa-Gesellschaften mit rund 1000 Mitgliedern, die in den USA und Russland existierten oder in Gründung begriffen waren.183 Die Achusot erregten auch das Interesse mehrerer deutscher Zionistinnen und Zionisten. Oppenheimer etwa war ein prominenter Befürworter bezugsfertiger Heimstätten nach kalifornischem Modell.184 Ihre Popularität wuchs besonders nach dem Delegiertentag 1912 in Posen, auf dem sich die Anwesenden verpflichtet hatten, „die Übersiedlung nach Palästina in ihr Lebensprogramm aufzunehmen.“185 Die sogenannte Posener Resolution löste im Nachgang hitzige Debatten aus, da besonders ältere Zionist*innen oft nicht bereit waren, ihr bisheriges Leben für eine unsichere Zukunft in Palästina aufzugeben.186 Sich einer Achusa-Gruppe anzuschließen, bot daher eine gangbare Alternative, da sich ihre Mitglieder erst nach mehreren Jahren oder in vielen Fällen auch gar nicht in Palästina niederließen. Theodor Zlocisti kehrte diesen Vorteil zwei Jahre später hervor. Es sei, so Zlocisti auf dem Delegiertentag in Leipzig, „jedem Genossen überlassen, so lange er will, in seinem Wohnort zu bleiben. […] Die persönliche Freiheit darf nicht berührt werden. Das ist ein amerikanischer Grundsatz.“187 Zlocistis Betonung amerikanischer Freiheitswerte wurde nur wenige Wochen später mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs tief erschüttert. Böden in Palästina zu erwerben und sich dort niederzulassen, war nun nicht mehr möglich. Die Folgen des Krieges, darunter die willkürliche Beschlagnahmung von Ernten durch türkische Behörden, brachten die Achusot in existenzielle Nöte. So auch die Siedlung Poria der St. Louis-Gruppe, die sich von den Strapazen des Krieges nicht erholen sollte. Während der 1920er Jahre wuchsen ihre Schulden, und die meisten Mitglieder zogen sich von dem Unternehmen am See Genezareth zurück. 1929 lebten nur noch zwei von ihnen dort, die Poria schließlich aufgaben, nachdem es
182 Hoachooza Companies in America. Report on Their Activity [1912], CZA, Z3/1525; Glass, From New Zion to Old Zion, S. 156. Siehe auch „A Plan for Settling in Palestine. The Hoachozo Idea and the Details of Its Organization“, in: The Maccabaean 22 (1912), Nr. 3, S. 83 f. 183 Ruppin, Der Aufbau des Landes Israel, S. 218. 184 Franz Oppenheimer, „Eine neue Hilfsmethode der palästinensischen Kolonisation“, in: Die Welt 14 (1910), Nr. 51, S. 1342 f. 185 „Zusammenstellung der Anträge, die vom XIII. Delegiertentag zum Beschluß erhoben wurden“, in: Die Welt 16 (1912), Nr. 24, S. 222. 186 Zum Verhältnis zwischen älteren und jüngeren Zionist*innen in Deutschland: Gebhard, „Die zionistische Situation im Wandel der Generationen“, S. 83–93. 187 Theodor Zlocisti, „Eine deutsche Achusa. Referat, gehalten auf dem XIV. Delegiertentag der Zionistischen Vereinigung für Deutschland“, in: Die Welt 14 (1914), Nr. 26, S. 278–281, hier S. 279.
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in der nahegelegenen Stadt Safed zu Gewaltausschreitungen im jüdischen Viertel gekommen war.188 Der Historiker Yehuda Eloni hat Zlocisti in seiner Grundlagenstudie zum deutschen Zionismus als weitsichtigen Verfechter des Achusa-Gedankens in Deutschland gewürdigt. Trietsch findet bei ihm dagegen keine Erwähnung, obwohl er schon 15 Jahre vor seinem Schwager auf die Methode hingewiesen hatte, bevor es die Achusa-Bewegung überhaupt gab.189 Trietsch bezog sich auch in späteren Jahren auf Unternehmungen in Kalifornien und die Achusot, deren Form er allerdings von Beginn an modifiziert wissen wollte. Grundsätzlich waren jegliche Aktivitäten in Palästina ihm zufolge „nicht nach der Schablone irgendwelcher anderer Kolonisationen zu beurteilen.“190 Die Kulturtransferforschung hat Ende der 1980er Jahre an dieser Einschätzung angesetzt, indem auch sie betont, dass Übertragungen einen Wandel bzw. eine Aneignung im Kontext des Lokalen implizieren und nie bloße Imitation meinen.191 Trietschs zur Debatte gestellten Modelle aus den USA sollten ebenfalls nicht eins zu eins in der Praxis übertragen werden. Für die Siedlungsmethoden bedeutete das konkret: eine Vorbereitung der Böden durch eigene Leute. Anstelle also der afroamerikanischen Arbeiter in den USA sollten Jüdinnen und Juden den Boden in Palästina bearbeiten. Zudem pochte Trietsch auf kleinere Böden für die einzelnen Familien bei einer größeren Gesamteinwohnerschaft, auf die Niederlassung in der Nähe bereits existierender Städte (Greater Tel Aviv) sowie ein vielfältigeres Angebot an Einkommensmöglichkeiten. Im Hinblick auf seine Gartenstadt‑ und Industriedorfpläne forderte er ein breiteres Spektrum vor allem städtischer und industrieller Berufe, die über die einseitigen Aktivitäten der Pflanzungsgesellschaften hinausgehen sollten.192 Diese für Trietsch wichtigsten Punkte wurden von einer US-amerikanischen Achusa-Gruppe übernommen. Ihre Mitglieder, die sich 1912 in New York zusammengeschlossen hatten, errichteten 1922 die jüdische Siedlung Ra’anana. Sie grenzt heute nördlich an Ramot HaShavim und zählt mit ihren rund 74.000 Einwohner*innen zur Metropolregion Tel Aviv. Im Gegensatz zu anderen Achusot, die wie Poria meist in der Peripherie lagen, zeichnete sich Ra’anana somit durch eine zentralere Lage aus. Zudem arbeiteten ihre Bewohner*innen nicht allein in 188 Glass,
From New Zion to Old Zion, S. 163. Eloni, Zionismus in Deutschland, S. 370–373. Albrecht Spranger hat darauf hingewiesen, dass Zlocisti nicht der erste Zionist gewesen sei, der die Idee der Achusot öffentlich vertrat. Auf Trietsch kam er in diesem Kontext allerdings ebenfalls nicht zu sprechen. Spranger, Theodor Zlocisti, S. 281. 190 Trietsch, „Die Gartenstadt“, S. 349. 191 Im deutschsprachigen Raum hat v. a. Hartmut Kaelble die Adaption als Kern eines jeden Transfers herausgestellt. Zu den damit verbundenen Divergenzen und Konvergenzen, die sich mit einem klassischen Vergleich nicht fassen lassen, siehe u. a. ders./Jürgen Schriewer, Vergleich und Transfer. 192 Davis Trietsch an Arthur Ruppin, 17. 7. 1914. CZA, Z3/1525; Trietsch, „Massenwanderung und Massensiedlung“, Sp. 178. 189
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6. „Eine californische Colonisations-Methode“
der Landwirtschaft. Bereits im Jahr 1936 gingen nur noch 58,8 Prozent von ihnen einer landwirtschaftlichen Tätigkeit nach, während viele in Tel Aviv arbeiteten. 1929 gab es zwei Fabriken, sechs Werkstätten und drei Läden vor Ort, durch die weitere Arbeitsplätze geschaffen werden konnten. Ra’anana, die mit 2299 Einwohner*innen 1936 zu den größeren jüdischen Siedlungen in Palästina zählte, war folglich nicht primär auf die Erzeugung agrarischer Produkte ausgelegt, wenngleich der exportorientierte Orangenanbau die wichtigste Einnahmequelle der ersten Jahre bildete.193 Der Erfolg der amerikanisch geprägten Siedlung, die auf Anbaumethoden aus Kalifornien zurückgriff, dürfte Trietsch bestärkt haben. Im Sinne eines „eigenwilligen kritischen Geistes“194, wie es anlässlich seines 60. Geburtstags in der Jüdischen Rundschau hieß, schwebten ihm allerdings weitere Verbesserungsvorschläge vor. So sollten die Ansiedlungskosten so niedrig wie möglich gehalten werden, was man in Ra’anana nicht systematisch durchzusetzen vermochte. Für Trietsch war dies jedoch von größter Bedeutung, da sich nur auf diesem Weg eine große Aktion ankurbeln ließ. Setzte man die Kosten zu hoch an, wie er es der ZO vorwarf, schreckte man Käufer*innen ab. Während die Sachverständigen der Organisation 1924 für die Ansiedlung einer Familie 1100 Pfund Sterling veranschlagten, rechnete Trietsch mit nur 400.195 Vor allem durch ein kleineres Landmaß und den Bau einfacher Häuser konnte ihm zufolge Geld eingespart werden. Statt auf neun Hektar pro Familie setzte er auf Einzelparzellen von maximal 1000 m2.196 Die Bereitstellung kostengünstiger Serienhäuser, die weder für die Achusot noch die Central California Colony vorgesehen waren, befand Trietsch in diesem Kontext für entscheidend. Die künftigen Bewohnerinnen und Bewohner sollten sich nicht mit dem Bau von Unterkünften auseinandersetzen müssen, sondern ihn an jüdische Arbeiter vor Ort delegieren. Sein Zypern-Projekt, das auch deshalb gescheitert war, weil die von ihm auf die Insel gebrachten Männer nach ihrer Ankunft teils unter freiem Himmel, teils in Zelten schlafen mussten, hatte Trietsch dahingehend offenbar sensibilisiert. Nur über das Prinzip einer vorbereiteten ,Heimstätte‘ ließ sich ihm zufolge eine großangelegte Aktion verwirklichen, die auf mehreren Ebenen wirkte. So sollte der Bau bezugsfertiger Siedlungen unter anderem eine Vielzahl neuer Arbeitsplätze schaffen. Diese blieben Jüdinnen und Juden vorbehalten, während arabische Hilfskräfte nur behelfsmäßig herangezogen werden sollten. Sie arbeiteten zwar für einen niedrigeren Lohn, weshalb sie auch in mehreren Achusot anzutreffen waren, doch wurde dadurch das zionistische Leitprinzip der ,jüdischen Arbeit‘ (Avoda Ivrit) untergraben. An der Avoda Ivrit, die besonders von den sozialistischen Zionistinnen und Zionisten hochgehalten wurde, Glass, From New Zion to Old Zion, S. 174 f. „Zwei Sechzigjährige“, in: Jüdische Rundschau 35 (1930), Nr. 3, S. 21. 195 Ruppin, Die landwirtschaftliche Kolonisation, S. 96. Im Gegensatz dazu Das neue Programm des Kolonisationsvereins „Esra“, das von Trietsch 1924 ausgearbeitet wurde. CZA, A104/60. 196 Ruppin, Die landwirtschaftliche Kolonisation, S. 93. 193 194
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hielt auch Trietsch fest. Seine Pläne sahen vor, die jüdischen Arbeiter*innen, die oft nur vorübergehend an einem Ort Beschäftigung fanden, langfristig in die von ihnen errichteten Siedlungen zu integrieren.197 Um sie emotional stärker an den Boden zu binden und ihren persönlichen Arbeitseinsatz zu steigern, sollten auch sie die Chance auf eine eigene Heimstätte erhalten. In Trietschs Vorstellung ließen sich die Kosten für eine solche Erwerbsheimstätte, ausgestattet mit einem Selbstversorgergarten und einem einfachen Haus aus Holz oder Lehm, zu einem guten Teil durch die erbrachten Vorbereitungsarbeiten begleichen. Die restliche Summe konnten die meist männlichen Arbeiter, die wie alle Bewohner*innen nur Erbpächter waren, durch einen niedrigen Pachtzins monatlich bezahlen.198 Auf diese Weise sollte ihnen ein harmonischer Weg des nationalen Aufbaus geebnet werden, der sich von dem der „Klassenkampf-Propheten“199 positiv abheben würde. Angesichts der künftigen Rolle der Arbeiterinnen und Arbeiter bemerkte Trietsch, der mit diesen und anderen Dysphemismen das arbeiterzionistische Lager in Palästina angriff: „Der Übergang zu einem noch so kleinen Besitzertum liegt auch dem organisiertesten Arbeiter näher, wenn man ihm einen Weg zeigen kann. Dieser aber ist bei meinen Heimstättenplänen durchaus gegeben […]. Auf alle Fälle kann ich mich mit der Idee des ,ewigen Arbeiter‘ oder mit irgend welchem Arbeitertum als dauernder Einrichtung nie und nimmer befreunden, und besonders in einem Neuland mit dem Klima Palästinas haben wir das auch am allerwenigsten nötig.“200
Trietschs Pläne für Palästina, das er bezeichnenderweise als ,Neuland‘ charakterisierte, sollten auf drei Wegen finanziert werden: Erstens durch eine sogenannte Nationalanleihe. Sie bemaß sich am Gesamtvermögen der jüdischen Welt, das er 1914 auf 100 Milliarden Reichsmark schätzte. Die jährliche Verzinsung einer solchen Anleihe von zunächst etwa 1 Milliarde konnte Trietsch zufolge ohne Weiteres aufgebracht werden, wenn man das Kapital sinnvoll investierte. Für besonders lukrativ hielt er die Finanzierung von Infrastrukturprojekten, da sie sich schneller rentierten. Eine nationale Anleihe in Milliardenhöhe hatte auch Herzl zu Beginn seiner zionistischen Agitation in Erwägung gezogen, da sich durch sie neue Arbeitsplätze schaffen ließen, die wiederum die Kaufkraft ankurbeln und weitere Anreize für Neuinvestitionen in Palästina bieten sollten.201 Das Eigenkapital der Eingewanderten lieferte eine zweite wichtige Finanzierungsmöglichkeit. Trietsch ging davon aus, dass viele von ihnen künftig dem Mittelstand angehören würden. Gerade diese Gruppe musste in größerer Zahl als bislang für Palästina gewonnen werden, während unbemittelte Einwander*innen 197 Die unsicheren, meist kurzfristigen Arbeitsverhältnisse sind in Agnons Roman Gestern, Vorgestern [Kap. 4.3, Anm. 138] anschaulich dargestellt. 198 Trietsch, „Projekt einer jüdischen Groß-Siedlung“, Sp. 383 f. 199 Davis Trietsch an Ernst Herrmann, 17. 2. 1926. CZA, A104/4. 200 Ebd. 201 Davis Trietsch, „Die Finanzierung des jüdischen Gemeinwesens in Palästina“, in: Volk und Land 1 (1919), Nr. 40/41, Sp. 1245–1254, hier Sp. 1247, 1250.
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durch solvente Verwandte zu unterstützen waren. Drittens und letztens kamen gewerbliche Unternehmer und kapitalkräftige Gesellschaften in Frage, die insbesondere für Bauvorhaben, Gewerbe‑ und Industrieprojekte zu interessieren waren.202 Die Reihenfolge der wichtigsten Kapitalgebenden, wie sie von Trietsch Ende 1919 festgelegt worden war, lag seinen Plänen nur kurzzeitig zugrunde. Schon Anfang der 1920er Jahre verabschiedete er sich von der (Wunsch)Vorstellung einer milliardenstarken Nationalanleihe. Ihm dürfte klar geworden sein, dass bei weitem nicht alle Jüdinnen und Juden in der Welt interessiert an Palästina waren, dessen Aufbau sie aus eigenen Mitteln unterstützen sollten. Zwar stieg das Interesse an dem Land nach der Balfour-Deklaration, doch löste es keinen breiten Aktionismus in Form neuer Kapitalanlagen aus.203 Vor diesem Hintergrund verlagerten sich Trietschs Finanzierungspläne auf das Kapital der Einwandernden, während von einer möglichen Nationalanleihe bei ihm in späteren Jahren keine Rede mehr war. Die Schaffung bezugsfertiger Heimstätten bot Trietsch zufolge die beste Chance für einen wachsenden Kapitalfluss. Von zentraler Wichtigkeit war es seiner Auffassung nach, von Beginn an in größeren Dimensionen zu denken. Demnach mussten einwohnerstarke Siedlungen von mindestens 1000 Seelen geschaffen werden. Nur in der Errichtung zahlreicher neuer Großsiedlungen sah er ein sicheres Investitionsfeld, das Arbeitsplätze schuf und die Kaufkraft im Land stärkte. Der damit verbundene wirtschaftliche Aufschwung sollte das Interesse weiterer Geldgeber wecken, während er für all diejenigen, die schon an einer großangelegten ,Heimstättenaktion‘ finanziell beteiligt waren, eine höhere Rentabilität auf das investierte Kapital sicherte. Die dadurch entfaltete Dynamik, mit der eine Ansiedlung auch mittelloser Jüdinnen und Juden möglich sein sollte, fasste Trietsch unter der Devise „Die Rettung der Juden im Aufbau Palästinas“ zusammen. Mit ihr verband er die Vision, die Einwanderung von morgen durch die Einwanderung von heute finanzieren zu können. Für wie bedeutsam er dieses Prinzip hielt, das in überschaubarer Zeit eine jüdische Bevölkerungsmehrheit generieren sollte, illustriert seine letzte selbständige Publikation. Sie erschien im März 1934 in Tel Aviv und trägt den Leitspruch eines systemischen Aufbaus im Titel.204
6.5 Kalifornien als Modell: Zionistische Forschungsreisen in die USA Die großangekündigte ,Heimstättenaktion‘ der Aguda nach den Plänen von Davis Trietsch gelangte nicht zur Ausführung. Eine Notiz in der Jüdischen Rundschau hatte zwar noch Anfang November 1926 berichtet, dass der Palestine Homestead 202 Ebd.,
Sp. 1246; Trietsch, „Ansiedlungsmöglichkeiten“, Sp. 693 f. Siehe hierzu 5.2 in der vorliegenden Arbeit. 204 Davis Trietsch, Die Rettung der Juden im Aufbau Palästinas, Tel Aviv 1934. 203
6.5 Kalifornien als Modell
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Corporation 300.000 US-Dollar zur Verfügung stünden, mit denen sie in naher Zukunft 300 Familien ansiedeln wolle.205 Trietsch wies die Zeitungsnotiz in einem vertraulichen Brief an Ernst Herrmann, der angesichts dieser Summe wie andere Leserinnen und Leser hellhörig geworden war, aber als „erheblich übertrieben“206 zurück. Zwar hätten rund 550 Personen Böden von der Aguda erworben, doch sei nicht abzusehen, ob sie in nächster Zeit tatsächlich weitere Mittel zu investieren bereit sein würden. Konkrete Schritte für ihre eigene Übersiedlung oder die bedürftiger Verwandter ließen sich, sehr zum Bedauern von Trietsch, somit nicht unternehmen.207 Die Zurückhaltung vieler Käuferinnen und Käufer aus den USA nahm infolge der negativen wirtschaftlichen Entwicklung in Palästina 1926/1927 weiter zu. Wegen einer Rezession waren zwar dort die Bodenpreise zwischenzeitlich gesunken, weshalb sich Reflektant*innen für die Aguda-Böden fanden. Sinkende Löhne und eine wachsende Arbeitslosenzahl wirkten neben einbrechenden Investitionen jedoch abschreckend auf Interessent*innen im Ausland. Mehrere Briefe der Familie Herrmann zeugen von der großen Not in Palästina, die hohe Rückwanderungsquoten zur Folge hatte.208 Trietsch bemühte sich, zu helfen, obwohl er selbst kaum über finanzielle Ressourcen verfügte. Auch er musste nach eigenen Aussagen wiederholt Bekannte „anpumpen“209, was ihm unangenehm war. Sein Aufenthalt in New York, den er größtenteils bei seinem Bruder Carl Trietsch auf Long Island verbrachte, um Mietkosten zu sparen, endete schließlich im Sommer 1927. Anfang Juli kehrte er „nach Monate[n] der Enttäuschung und Rückschläge“210 nach Berlin zurück. Trietschs Scheitern wurde auch von Ernst Herrmann aufrichtig bedauert. Er hatte ihn zu dem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten ermutigt und sich wiederholt Broschüren nach Haifa schicken lassen, durch die er sich neue Impulse für Palästina erhoffte. Bereits in früheren Jahren hatten Wissensbestände aus den USA ihren Weg nach Palästina über einzelne Zionist*innen gefunden. Eine Stellungnahme Herrmanns für den Esra-Verein, in dem er über mehrere Jahre wie Trietsch aktiv war, belegt diesen Sachverhalt. So bezog sich Herrmann darin positiv auf den zionistischen Landwirt Alfred Treidel (1879–1921), der ihm zufolge „durch die Schule Amerikas gegangen“211 sei, ehe er 1908 die Farm Kinneret am See Genezareth ins Leben rief. Der im rheinischen Mayen geborene Treidel, der ein hohes Ansehen unter den deutschen Zionistinnen und Zionisten genoss, die ihn regelmäßig als Sachverständigen konsultierten, erhielt seine Ausbildung somit nicht nur „Eine amerikanische Siedlung“, in: Jüdische Rundschau 31 (1926), Nr. 87, S. 622. Trietsch an Ernst Herrmann, 20. 12. 1926. CZA, A104/4. 207 Davis Trietsch an Ernst Herrmann, 16. 2 . 1927. Ebd., A396/4. 208 1926 bis 1927 verließen 78 % der Eingewanderten Palästina. Dadurch kam es zu einem Nettorückgang der jüdischen Gesamteinwohnerzahl. Krämer, Geschichte Palästinas, S. 227. 209 Davis Trietsch an Ernst Herrmann, o. D. [Juli 1926]. CZA, A396/3. 210 Davis Trietsch an Ernst Herrmann, 7. 4. 1927. Ebd., A396/5b; Davis Trietsch an Bernard Kahn, 27. 5. 1927. Ebd., A395/5. 211 Ernst Herrmann, Bemerkungen über die beabsichtigte Gründung in Migdal und das Flugblatt: „Zur Organisation der Privatinitiative“ [1923]. Ebd., A104/2. 205
206 Davis
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6. „Eine californische Colonisations-Methode“
in Deutschland. Wie einige andere Palästina-Akteure, darunter sein Bruder Joseph Treidel, hatte er über sein Geburtsland hinaus offenbar in den Vereinigten Staaten Erfahrungen im Bereich der Landwirtschaft sammeln können.212 Eine besonders große Anziehungskraft übte Kalifornien auf die Zionistinnen und Zionisten aus. Ihr Interesse an dem Bundesstaat im Westen der USA resultierte zum einen aus dessen klimatischen und topografischen Analogien zu Palästina. So umfassen beide Gebiete, deren territoriale Ausdehnung lang und schmal ist, mehrere Klimazonen. Im Verhältnis zu ihrer Gesamtfläche ergibt sich daraus eine überaus vielfältige Geografie. Letztere reicht von einem mediterranen Klima entlang der Mittelmeer‑ bzw. Pazifikküste, über Bergland und Gebirge im Innern, die das fruchtbare Jordantal bzw. Central Valley umschließen, bis hin zu einem ariden Klima im Süden mit der Wüste Negev bzw. der Mojave‑ und Colorado-Wüste.213 Das Klima und die Vegetation Südkaliforniens setzte man hier in besonderer Weise mit Palästina in Verbindung. Zum anderen weckte die wirtschaftliche Prosperität des Bundesstaats das Interesse einiger Zionistinnen und Zionisten. Der Wirtschaftsaufschwung, der ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte, war ein zentrales Kriterium für ihre positive Bezugnahme auf Kalifornien. Der Golden State, mit fast 40 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern heute der bevölkerungsreichste und wirtschaftlich wichtigste US-Bundesstaat, erlebte ab 1848 eine starke Zuwanderung. Ausschlaggebend für diese demografische Entwicklung waren Goldfunde, die in den nächsten sieben Jahren einen regelrechten Goldrausch auslösen sollten.214 Die Bedeutung des 31. Bundesstaats der USA nahm in der Folge rapide zu, die sich durch den Bau der ersten transkontinentalen Eisenbahn 1869 noch beschleunigte. Der rasante Anstieg der Bevölkerung führte in Kalifornien früh zu einer Intensivierung der Landwirtschaft. Besonders mithilfe einer systematischen Bewässerung versuchte man dort, eine effektivere Landnutzung zu erreichen, die die wachsende Zahl der Siedler*innen, unter ihnen hunderte Jüdinnen und Juden aus Osteuropa und anderen Bundesstaaten, versorgen sollte.215 Areale, die bislang ungenutzt blieben, wollte man nun anbaufähig machen. Die Verwendung von Schmelzwasser, das über eine Vielzahl von Kanälen und Aquädukten vor allem von den Sierra Nevada transportiert wurde und wird, spielte hier neben der Erschließung von Grundwasser über Pumpsysteme (siehe Sonnenmotor) und der Anlage von Stauseen und ‑dämmen eine elementare Rolle. Darüber hinaus ging man in Kalifornien 212 Zvi Shilony, Ideology and Settlement, S. 66. Zu Alfred Treidel siehe den Nachruf von Otto Warburg, „Alfred Treidel“, in: Jüdische Rundschau 26 (1921), Nr. 22, S. 151. 213 Zur klimatischen Vielfalt Israels bzw. Palästinas: S. Ilan Troen u. a., „Israel: Geography, Demography, and Economy“, in: ders./Fish, Essential Israel, S. 12–39, hier S. 16–18. 214 Siehe hierzu Mark A. Eifler, The California Gold Rush: The Stampede that Changed the World, New York, London 2017; James J. Rawls/Richard J. Orsi (Hg.), A Golden State: Mining and Economic Development in Gold Rush California, Berkeley 1999. 215 Harriet Rochlin/Fred Rochlin, Pioneer Jews. A New Life in the Far West, Boston 1984, S. 23. S. auch Jacob L. Ornstein-Galicia, Jewish Farmer in America. The Unknown Chronicle, Mellen 1993; Uri Herscher, Jewish Agricultural Utopias in America, 1880–1910, Detroit 1981.
6.5 Kalifornien als Modell
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früh dazu über, Wasser aus Oberflächengewässern zu entnehmen. Der Colorado River bildet dabei bis heute die zentrale Quelle. Mehrere Projekte zu seiner Erschließung ermöglichten es, dass sich Anfang des 20. Jahrhunderts Siedler*innen in bislang von ihnen216 unbewohnten Gegenden Südkaliforniens niederlassen konnten. So im Coachella Valley in der Colorado-Wüste, das heute trotz einer jährlichen Niederschlagsmenge von gerade einmal 100 mm für seinen vielfältigen Anbau von Obst‑ und Gemüsepflanzen bekannt ist.217 Die Faszination, die Kalifornien zu Beginn des letzten Jahrhunderts auf die Gruppe der Zionistinnen und Zionisten ausübte, führte noch vor dem Ersten Weltkrieg zu vereinzelten Studienreisen. Den Anfang machte der in Moldawien geborene Agronom und Zionist Aaron Aaronsohn (1876–1919), der im Juni 1909 für mehrere Monate die USA besuchte. Sein Aufenthalt führte ihn von New York über Mississippi, Texas, Nebraska und Arizona bis nach Kalifornien. In einer Vorankündigung in der Welt hieß es, Aaronsohn werde sich der kalifornischen Landwirtschaft im Besonderen widmen, da sie für Palästina sehr aufschlussreich sei.218 Von großem Interesse waren darüber hinaus „die nach den neuesten Ergebnissen der Wissenschaft eingerichteten Versuchsstationen“219 in den USA, in denen neue landwirtschaftliche Methoden und Techniken erprobt wurden. Sie waren ab 1887 vom United States Department of Agriculture (USDA) mit Sitz in Washington D. C. gegründet worden, das in den nächsten Jahrzehnten insgesamt 42 Agricultural Experiment Stations finanzierte.220 Im Verlauf seiner Reise gelang es Aaronsohn, der durch seine Entdeckung des Urweizens 1906 über zionistische Kreise hinaus berühmt geworden war, ausreichend Mittel für die Eröffnung einer Versuchsstation in Palästina zu akquirieren.221 Die Station, die im Sommer 1910 südlich von Haifa in Atlit eröffnet werden konnte, wollte in Anlehnung an das kalifornische Modell profitable Kulturen und Verfahren für die eigene Landwirtschaft einführen.222
216 Indigene
Gruppen, wie die westlichen Shoshonen, hatten dort bereits gelebt. B. Pick, Renewable Energy: Problems and Prospects in Coachella Valley, California, Cham 2017, S. 4–10. Zur Bedeutung des Colorado River: Norris Hundley Jr., The Colorado River Compact and the Politics of Water in the American West, 2. Aufl., Berkeley 2009. Zur landwirtschaftlichen Erschließung Kaliforniens: David Vaught, Cultivating California: Growers, Specialty Crops, and Labor, 1875–1920, Baltimore 1999. 218 „Mitteilung des Komitees zur Errichtung einer landwirtschaftlichen Versuchsstation in Palästina“, in: Die Welt 13 (1909), Nr. 23, S. 510 f., hier S. 511. 219 Ebd. 220 Smith, The Garden of Invention, S. 3, 59. 221 „Landwirtschaftliche Versuchsstation in Palästina“, in: Die Welt 14 (1910), Nr. 34, S. 830. Zu Aaronsohn und seinem Urweizenfund siehe Leimkugel, Botanischer Zionismus, S. 99–106; Dana von Suffrin/Kärin Nickelsen, „Die Pflanzen, der Zionismus und die Politik: Aaron Aaronsohn auf der Suche nach dem Urweizen“, in: dies. (Hg.), Münchner Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 8 (2014), Nr. 1, S. 48–65. 222 Aaron Aaronsohn, „Die jüdische landwirtschaftliche Versuchsstation und ihr Programm“, in: Die Welt 14 (1910), Nr. 41, S. 1068–1071. Zu Aaronsohns Reise in die USA s. auch Leimkugel, Botanischer Zionismus, S. 106–111. 217 James
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Weitere systematische Studienreisen von Zionist*innen in die USA fanden in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg nicht statt. Die ZO ging dazu erst nach dem Krieg über, um die dortigen Verhältnisse durch ihre Vertreter eingehender studieren zu lassen. Dem Historiker S. Ilan Troen zufolge war die Etablierung des britischen Palästina-Mandats hierfür ausschlaggebend.223 Das Ende der osmanischen Herrschaft, die viele Zionistinnen und Zionisten als rückschrittlich empfunden hatten, weckte neue Hoffnungen und verlieh ihren Zielen Antrieb. Wie Trietsch ging man auch in den Führungsebenen der ZO erwartungsvoll davon aus, die Zeit für eine größere Einwanderung sei nun gekommen. Sie erachteten ein planvolles Vorgehen deshalb für unerlässlich, mit dem die besten Methoden ausfindig gemacht und in Palästina erfolgreich zur Anwendung gelangen sollten. Dass zionistische Akteure zu diesem Zweck Studienreisen unternahmen, war damals nicht außergewöhnlich. Das USDA nahm beispielsweise schon seit Ende des 19. Jahrhunderts die Landwirtschaft anderer Länder gezielt in den Blick. Transferprozesse von Wissensbeständen fanden somit auch in die andere Richtung statt und wurden von den Zionist*innen aufmerksam verfolgt.224 Das im Jahr 1889 gegründete und dem Department angeschlossene Office of Foreign Seed and Plant Introduction ist für diese Vorgänge bezeichnend. So entsandte das Büro mehrere Botaniker, die in entfernte Länder reisten, um die dortige Pflanzenwelt zu studieren. Im Zuge der Expeditionen dieser Plant Hunters, wie man die Männer auch nannte, wurden hunderte neuer Pflanzenarten in die USA eingeführt. Darunter diverse Varietäten der Mango, Avocado und Papaya sowie die eiweißhaltige Sojabohne.225 Ihre Reisen nach China, Indien, Afrika, Südamerika und Nordeuropa, denen in erster Linie kommerzielle Absichten zugrunde lagen, prägen bis heute die Landwirtschaft und Esskultur der USA. Insbesondere in Kalifornien kam es aufgrund seiner vielfältigen Vegetations‑ und Klimazonen zum Anbau vieler neuer Pflanzen. Dass das Coachella Valley heute für seine Datteln berühmt ist, verdankt sich beispielsweise Studienreisen nach Nordafrika zu Beginn des 20. Jahrhunderts.226 Im Oktober 1919 reiste Yitzhak Wilkansky im Auftrag der ZO-Leitung nach New York.227 Wilkansky, der sich ab Mitte der 1920er Jahre Elazari-Volcani nannte, stammte gebürtig aus Litauen. Wie viele andere bekannte Zionisten aus Osteuropa, unter ihnen Weizmann, Soskin, Pasmanik oder Shlomo Kaplansky (1884–1950), hatte er im deutschsprachigen Raum studiert. Nach seinem Studium in Berlin und Bern sowie dem anschließenden Diplom an der Albertus-Universität Königsberg emigrierte er 1908 nach Palästina, wo er zu einem der angesehensten jü223 Troen,
„American Experts“, S. 194. u. a. Soskin, „,Groß‘‑ und ,Klein‘-Kolonisation“, S. 138. 225 Robert R. Alvarez, „The March of Empire. Mangos, Avocados, and the Markets of Transfer“, in: Gastronomica. The Journal of Food and Culture 7 (2007), Nr. 2, S. 28–33, hier S. 28, abrufbar unter: https://www.d.umn.edu/~pfarrell/Environemntal%20Conservation/4-3 %20P olitics%20of%20Food%20Transfer.pdf (Zugriff 12. 3. 2022). 226 Zu den einzelnen Forschern und den von ihnen eingeführten Pflanzen: ebd., S. 28–30. 227 Die Unterlagen zur Forschungsreise von Wilkansky finden sich in CZA, Z4/41076. 224 Siehe
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dischen Agronomen avancierte.228 Wilkansky gehörte der sozialistischen Partei HaPoel HaTzair an, die sich 1905 in Palästina gegründet hatte. Im Gegensatz zu den marxistischen Poale Zion (hebr. Arbeiter Zions) vertraten ihre Anhänger*innen einen moderateren, etatistischen Sozialismus, der auch unter deutschen Zionistinnen und Zionisten in der Zwischenkriegszeit auf breitere Zustimmung stieß.229 Wilkansky, der den Marxschen Materialismus zurückwies, kritisierte daher auch die Siedlungsform der Kwuzah. Wie Eliezer Joffe, der als junger Mann in die USA emigriert war, um dort moderne Landwirtschaftstechniken für Palästina zu studieren, favorisierte er Siedlungsformen auf kooperativer Basis bei individuellem Einzelbetrieb.230 Die Siedlerinnen und Siedler sollten sich demnach wie in den Kwuzot zu Genossenschaften zusammenschließen, die einen gemeinsamen Einkauf und Verkauf organisierten und sich die Nutzung von Arbeitsgeräten teilten. Das Selbstbestimmungsrecht der einzelnen Familien etwa in Bezug auf die Kindererziehung oder das Privateigentum sollte davon unberührt bleiben.231 Die Kwuzot, die im Alltag unterschiedlich stark kommunistisch geprägt waren, lehnten privates Eigentum dagegen ab. Ihre Rolle für den Aufbau des Jischuv führte besonders ab 1925 zu hitzigen Debatten auf den Kongressen, an denen sich Trietsch nicht mehr beteiligte. Er hatte Kwuzot und Kibbuzim stets entschieden abgelehnt, da beide, die sich in ihrer Mitgliederzahl232 voneinander unterschieden, ihm zufolge nicht rentabel wirtschafteten. Ebenso hätten sie dem „individuellen Schaffenstrieb des Siedlers“233, so Trietsch, keinen Raum gegeben. Der Beschluss der zionistischen Leitung, Wilkansky für Forschungszwecke in die USA zu schicken, lässt sich somit nicht allein auf seine Erfahrungen und sein Ansehen in Palästina zurückführen. Wilkansky, der seine akademische Ausbildung an mehreren deutschsprachigen Universitäten erhalten hatte und über gute Kontakte zu den ,bürgerlichen Zionisten‘ verfügte, spannte darüber hinaus einen Bogen zwischen Letzteren und der zionistischen Arbeiterbewegung.234 Nach seinem Aufenthalt in New York, wo Wilkansky auch die Achusa Aleph besuchte, deren Mit228 Anlässlich Wilkanskys 50. Geburtstags hieß es, er sei „eine der populärsten Figuren des jüdischen Palästina“ gewesen. „Ein Fünfzigjähriger“, in: Jüdische Rundschau 36 (1931), Nr. 14, S. 92. Zu Wilkansky s. Eran Kaplan/Derek J. Penslar (Hg.), The Origins of Israel, 1882–1948. A Documentary History, Madison 2011, S. 103 f. 229 Vogt, Subalterne Positionierungen, S. 254. 230 Zu Joffe in den USA: Arthur A. Goren, „Zionism in the Promised Land“, in: Wiese/Wilhelm, American Jewry, S. 259–280, hier S. 263. 231 Siehe ausführlicher Eliezer Joffe, Moshav ovdim (hebr.), Tel Aviv 1920; Yitzhak ElazariVolcani, The Communistic Settlements in the Jewish Colonization in Palestine, Tel Aviv 1927. 232 Bestanden Kwuzot aus über 100 Genoss*innen, sprach man gemeinhin von Kibbuzim. Die Verwendung des Begriffs Kwuzah (hebr. Versammlung) ging ab den 1930er Jahren spürbar zurück. Heute nennt man landwirtschaftliche Produktivgenossenschaften, die auf der Basis sozialistischer Gemeinschaftsideale in ländlichen Siedlungen zusammenleben, Kibbuzim. Für eine zeitgenössische Begriffsbestimmung siehe Robert Weltsch, „Kewuza“, in: Jüdisches Lexikon (Bd. 3), Sp. 683 f. 233 Ders., „Moschaw Owedim“, in: Jüdisches Lexikon (Bd. 4.1), Sp. 300 f., hier Sp. 301. 234 Kaplan/Penslar, The Origins of Israel, S. 103.
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glieder später Ra’anana gründen sollten, ging es für ihn nach Washington D. C. In der Hauptstadt der USA nahm er Kontakt zum USDA auf. Das US-amerikanische Landwirtschaftsministerium gab ihm die Chance, sich mit mehreren seiner Experten austauschen zu können.235 Wilkansky, der der ZO-Leitung regelmäßig Berichte über diese und andere Zusammenkünfte nach London schickte, fuhr anschließend über Alabama, Louisiana und Texas nach Kalifornien. Dort hielt er sich von Februar bis Ende Juli 1920 auf.236 In seinen Berichten hob auch Wilkansky die klimatischen Ähnlichkeiten zwischen Palästina und Kalifornien hervor. Mit dieser Einschätzung war er, ebenso wenig wie Aaronsohn elf Jahre vor ihm, nicht der erste. Schon zu Beginn der 1890er Jahre waren in den USA und Großbritannien mehrere Artikel erschienen, in denen Parallelen zwischen beiden Ländern gezogen worden waren. Den Anfang machte ein im Londoner Jewish Standard abgedruckter Brief eines gewissen Maximilian Majeran, der für längere Zeit als Wein‑ und Obstbauer in Kalifornien gelebt hatte. In seinem Schreiben, das er im Oktober 1890 an eine Gesellschaft zur Förderung jüdischer Siedlungen in Palästina geschickt hatte, sagte er dem kleinen Land am Mittelmeer einen ähnlichen Aufschwung wie Kalifornien voraus.237 Zwar verfügte Palästina über keine Goldvorkommen wie der Golden State, doch sei der Wohlstand Kaliforniens nicht primär aus dem Abbau des Edelmetalls zu erklären. Majeran zufolge war es der Anbau von Obst, Gemüse und Wein, der die ökonomische Prosperität des Bundesstaates begründet hätte. Dieses Potenzial ließe sich auch in Palästina ausschöpfen, sobald dort ein Bewässerungssystem installiert würde, das eine intensivere Landnutzung ermöglichte.238 Während sich das Schreiben Majerans an ein jüdisches Publikum wandte, dessen Interesse an Palästina geweckt werden sollte, erschienen mehrere Artikel vor einem christlichen Hintergrund. Mit Titeln wie „A Modern Palestine“ oder „California the Modern Palestine“ zogen Autoren darin Verbindungslinien unter Rückgriff auf die Bibel.239 Entsprechend dieser Lesart böte sich den Bewohner*innen Kaliforniens eine Landschaft, die der des Heiligen Landes überaus ähnlich sei. Insbesondere Südkalifornien würde starke Analogien zu Palästina aufweisen. Die Vorstellung, in einem biblischen Umfeld zu leben, wurde von den christlichen Autoren bevorzugt zur Weihnachtszeit in Umlauf gebracht. Zugleich diente sie profanen Werbezwecken. Die Handelskammer von Los Angeles etwa warb in einer Broschüre von 1897 damit, der Süden Kaliforniens sei eine im Aufstieg begriffene Region, in der es sich
235 Yitzhak
Wilkansky an Inner Actions Committee, 30. 11. 1919. CZA, Z4/41076–52 ff. Expert Here to Study Colonization“, in: San Francisco Chronicle, 11. 1. 1920, S. 4; „Wilkansky nach Palästina zurückgekehrt“, in: Jüdische Rundschau 25 (1920), Nr. 63/64, S. 492; Yitzhak Wilkansky an Actions Committee, 11. 5. 1920. CZA, Z4/41076–23. 237 Maximilian Majeran, „Letter“, in: The Jewish Standard 3 (1891), Nr. 148, S. 11. 238 Ebd. 239 Walter Gifford Smith, „A Modern Palestine“, in: San Francisco Chronicle, 25. 1 2. 1895, S. 1; ders., „California the Modern Palestine“, in: ebd., 11. 7. 1897, S. 8. 236 „Zionist
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vorzüglich wohnen und arbeiten ließe.240 Jeder könne dort unter seinem eigenen Oliven‑ oder Feigenbaum sitzen, umgeben von einem Land, in dem reichlich Milch und Honig flössen. Im Gegensatz zu Palästina sei Südkalifornien allerdings, wie es weiter hieß, nicht nur „a melancholy reminder of its former greatness, but a center of active, aggressive American enterprise.“241 Im Zuge seines mehrmonatigen Aufenthalts war auch Wilkansky bestrebt, die besagte Innovationskraft Kaliforniens aus nächster Nähe zu studieren. So traf er mehrere innovative Köpfe, darunter Luther Burbank in Santa Rosa, den er wie Trietsch bewunderte.242 Die meiste Zeit über hielt sich Wilkansky jedoch unter Wissenschaftlern der University of California (UC) auf, vor allem auf dem Campus in Berkeley, wo er das renommierte College of Agriculture (heute Rausser College of Natural Ressources) regelmäßig aufsuchte. Dort traf er auch auf Elwood Mead (1858–1936), ein angesehener Ingenieur und Professor, der über Kalifornien hinaus als ein Experte für Be‑ und Entwässerungssysteme gefragt war. Neben seiner Lehrtätigkeit in Berkeley besetzte Mead mehrere staatliche Leitungspositionen. Unter anderem war er von 1899 bis 1907 Leiter der Fachabteilung Irrigation and Drainage Investigations des USDA; von 1924 bis zu seinem Tod stand er dem Bureau of Reclamation vor, das seit 1902 unter dem Dach des Innenministeriums für die Wasserversorgung der USA zuständig ist.243 Neben diesen Arbeiten zeigte Mead ein großes Interesse an der Zukunft Palästinas. Wie mehrere andere USamerikanische Landwirtschaftsexperten, deren Expertise von den Zionistinnen und Zionisten eingeholt wurde, sah er es als eine Ehre an, am Aufbau des Heiligen Landes mitzuwirken. Sein christlicher Glaube dürfte hier eine zentrale Rolle gespielt haben.244 Nach eigenen Angaben war Meads Interesse bereits durch jüdische Studenten geweckt worden, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg aus Palästina zum Studium nach Berkeley gekommen waren.245 Die jungen Männer, meist Söhne jüdischer Eingewanderter der 1. Aliyah, gründeten nach ihrer Rückkehr die Kolonie Binyamina südlich von Haifa. Die Arbeiten dort waren stark durch Wissensbestände geprägt, die sie in Kalifornien auf dem Gebiet der Landwirtschaft erworben hatten. Da sich ihre Erfahrungen als nützlich erwiesen, begannen sie früh auch andere Siedler*innen zu unterrichten und verließen zu diesem Zweck Binyamina. Am 240 „Klondyke to California“, in: The San Bernardino County Sun, 26. 11. 1897, S. 2. Siehe auch „Palestine of America“, in: The Los Angeles Times, 11. 6. 1899, S. 59. 241 „Klondyke to California“, S. 2. 242 Yitzhak Wilkansky an Actions Committee, o. D. [Februar 1920]. CZA, Z4/41076–59 f. 243 „Elwood Mead Dies: Reclamation Head“, in: The Baltimore Sun, 27. 1. 1936, S. 9; „Pays Tribute to Dr. Elwood Mead, Father of Reclamation“, in: The Yuma Weekly Sun, 31. 7. 1936, S. 4. Weiterführend zum Lebenswerk von Mead: James R. Kluger, Turning on Water with a Shovel. The Career of Elwood Mead, Albuquerque 1992. 244 „Prof. Mead’s Return From Palestine“, in: K. H. Bulletin, 13. 12. 1923. CZA, KH1/1278. 245 Elwood Mead, Agricultural Development in Palestine. Report to Zionist Executive, London, 1924, S. 1. CZA, A91/10.
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Beispiel der Gruppe, die damals auch als ,Kalifornier‘ bekannt war, lässt sich ein Wissenstransfer von Kalifornien nach Palästina exemplarisch belegen.246 Die Verbindungen zwischen Mead und der ZO wurden durch eine weitere Reise intensiviert. Im Dezember 1922 erreichte Arthur Ruppin New York. Im Gegensatz zu Wilkansky verband sich mit seinem Aufenthalt, der ihn bis März 1923 nach Kanada, Illinois, Texas und Kalifornien führte, eine großangelegte Werbekampagne für Palästina.247 Ruppin, den im Verlauf seiner Reise eine „ohnmächtige Wut“248 ergriff angesichts der Gleichgültigkeit vieler US-amerikanischer Jüdinnen und Juden, suchte ebenfalls Mead in Kalifornien auf. Wie Aaronsohn und Wilkanksy war er in besonderer Weise an Entwicklungen in dem Bundesstaat interessiert, die ihn, wie er in einem Zeitungsinterview begeistert hervorhob, magnetisch anzögen.249 Ruppin konnte Mead schließlich dafür gewinnen, im Herbst 1923 nach Palästina zu reisen, um die Siedlungen der ZO zu begutachten.250 Der darauffolgende Bericht von Mead fiel grundlegend positiv aus. Er sah große Perspektiven für Palästina, das ihm zufolge mehr Menschen aufnehmen und ernähren könnte als bislang angenommen. Jegliche Fortschritte im Land hätten sich dabei jüdischen Initiativen verdankt. Während sich Mead immer wieder lobend über die Aktivitäten jüdischer Akteur*innen äußerte, schätzte er die arabische Bevölkerung gering. Wie viele Zionistinnen und Zionisten befand er sie für ,primitiv‘, wobei seine Abneigung hervorsticht.251 Mead, den einzelne Anhänger in dieser Hinsicht begierig aufgriffen, um ihren Anspruch auf Palästina unter Verweis auf einen angesehenen internationalen Experten legitimieren zu können, übte aber auch Kritik an der zionistischen Siedlungspolitik.252 In seinem ersten Bericht an die Zionistische Exekutive und in anschließenden Gesprächsrunden mit Vertretern aus Palästina, unter ihnen Wilkansky, sprach er sich entschieden gegen sozialistische Siedlungen aus. Mead hielt sie für unrentabel und erklärte, dass die Siedler*innen langfristig nach individuellem Besitz streben würden. Um sie an den Boden zu binden, durften deshalb nur einzelne Bereiche genossenschaftlich orga-
246 Zu der Gruppe s. Joseph B. Glass, „American Olim and the Transfer of Innovation to Palestine, 1917–1939“, in: Eli Lederhendler/Jonathan D. Sarna (Hg.), America and Zion. Essays and Papers in Memory of Moshe Davis, Detroit 2002, S. 201–232, hier S. 230. 247 Arthur Ruppin, Report of my Trip to Canada, Illinois, Texas and California, 14. 2 . 1923. CZA, Z4/41867–16–18. 248 Arthur Ruppin an Menachem Ussischkin, o. D. (Abschrift). Ebd., Z4/41867–2 f. 249 „California attracts me like a magnet, because the way this State is solving the problems of colonization and agricultural and industrial development holds out the fairest promise to us, applying your methods, in Palestine.“ Zit. nach „Palestine May Copy California Colonizing“, in: San Francisco Chronicle, 2. 2. 1923, S. 10 [Hervorh. im Original]. 250 Ruppin, Report of my Trip, Z4/41867–18. 251 Siehe u. a. Elwood Mead, „Reclaiming Palestine“, in: Lansing State Journal, 13. 8. 1925, S. 4. 252 Siehe den offenen Brief des Londoner Zionisten Israel Cohen (1879–1961), der sich auf Mead als „one of the world’s recognised experts“ bezog. Israel Cohen, „Jew and Arab in Palestine“, in: The Guardian, 9. 1. 1930, S. 13.
6.5 Kalifornien als Modell
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nisiert werden, wie der Kauf kostspieliger Arbeitsgeräte.253 Troen zufolge waren Meads Empfehlungen von einem starken „American ethos of capitalism, efficiency, and individualism“254 geprägt. In der Tat betonte Mead gegenüber Experten in Palästina, man brauche unbedingt einen „business plan“255. Jegliche Kosten sollten demnach im Vorfeld genauestens bestimmt und die jüdischen Siedlungen nicht nach ideologischen Gesichtspunkten, sondern am Prinzip der Wirtschaftlichkeit ausgerichtet werden. Dass die Chaluzot und Chaluzim das ihnen vom JNF geliehene Geld bislang kaum oder in vielen Fällen gar nicht zurückzahlten, musste sich Mead zufolge ändern. Künftig sollten daher nur Verträge geschlossen werden, in denen sich die Laufzeiten der Kredite auf maximal fünf Jahre beliefen.256 Meads Kritikpunkte, die trotz behutsamer Formulierung unter den arbeiterzionistischen Vertretern des Jischuv erwartungsgemäß auf breite Ablehnung stießen, waren auch von Trietsch wiederholt artikuliert worden.257 Beide Männer verband in weiterer Hinsicht viel miteinander. So warb Mead ebenfalls für bezugsfertige Heimstätten und schnelle Landkäufe in Palästina, durch die größere Siedlungen systematisch geschaffen werden sollten. Mehrere Experten vor Ort hatten die Familien bei diesem Unterfangen zu begleiten, die Obst und Gemüse anbauten, Hühner hielten und Seidenbau betrieben. Hinsichtlich der Größe der Einzelwirtschaften und der Auswahl der Siedler*innen wichen ihre Pläne jedoch voneinander ab. Im Gegensatz zu Trietsch hielt Mead an einer Fläche von zwei bis vier Dunam pro Familie fest, ebenso wie er auf eine gründliche Auswahl der Siedler*innen bestand. Seine Pläne sahen außerdem Siedlungen vor, in denen Jüdinnen und Juden ausschließlich der Landwirtschaft nachgingen.258 Trotz dieser wichtigen Unterschiede registrierten schon Zeitgenoss*innen die Parallelen zwischen Trietsch und Mead, unter ihnen Weizmann. Der vierte Präsident der ZO hatte im September 1927 daher in Aussicht gestellt, beide Männer in London miteinander bekannt machen zu wollen.259 Das Treffen kam allerdings nie zustande, was offenbar an Weizmann lag. Dass der ZO-Präsident ihn fallenließ, nachdem er an einigen seiner Ideen Interesse bekundet hatte, verbitterte Trietsch. Nur wenige Monate vorher hatte er selbstbewusst angekündigt, auf dem nächsten Kongress in Basel sein „neues Baseler Programm“ vorzustellen, das „die Schaffung und den Ausbau einer sicheren Heimstätte für das Jüdische Volk in und 253 Elwood Mead, The New Palestine, S. 5. CZA, KH1/1278; ders., Agricultural Development in Palestine, S. 24. Der Bericht findet sich außerdem in: KH1/1278, KH1/1279 sowie S25/658. 254 Troen, „American Experts“, S. 193. 255 Minutes of an Extraordinary Meeting of the Agricultural Committee with Professor E. Mead, 13. 11. 1923. CZA, A91/10. 256 Mead, Agricultural Development in Palestine. 257 Zu den Vorbehalten gegenüber Meads Kritik s. Minutes of Meeting with Prof. Elwood Mead and the Agricultural Workmen’s Organisation, 21. 11. 1923. CZA, A91/10. 258 Vgl. Davis Trietsch an Ernst Herrmann, 10. 8. 1927. CZA, A396/6. Zu Meads Leitlinien: Mead, Agricultural Development in Palestine; Minutes of an Extraordinary Meeting of the Agricultural Committee with Professor E. Mead. Siehe auch Rodgers, Atlantic Crossings, S. 348. 259 Davis Trietsch an Ernst Herrmann, 22. 9. 1927. CZA, A396/6.
262
6. „Eine californische Colonisations-Methode“
um Palästina“260 garantieren sollte. Das Programm, das die Bedeutung der Nachbarländer durch den Zusatz um unterstrich, legte Trietsch nie vor. Herrmann hatte ihm davon abgeraten, da man ihn und Levy, der den Text mit ausgearbeitet hatte, bloß mit „Jaffa-Orangen von der vergangenen Saison“261 bewerfen würde. Das Desinteresse führender Zionisten wie Weizmann ließ Trietsch schließlich von seinem ambitionierten Vorhaben abrücken. Während Trietsch nie als ein Sachverständiger von der ZO konsultiert worden war, reiste Mead mit einer Expertenkommission zwei weitere Male nach Palästina. Die Studienreisen, die unter Beteiligung mehrerer Kollegen der UC in den Jahren 1927 und 1932 stattfanden, wurden über zionistische Kreise hinaus interessiert verfolgt.262 Die positiven Berichte der Kommission über die Aussichten in Palästina trugen dazu bei, dass Nichtzionist*innen der JA in größerer Zahl beitraten, in deren Auftrag Mead forschte. Dank seiner akademischen Autorität wurde das Potenzial Palästinas auf einer breiteren Ebene offenbar optimistischer diskutiert. Wie Soskin in einem Brief an Mead 1923 bemerkte, sei es dem Professor aus Kalifornien ebenfalls zu verdanken gewesen, dass auch seine Pläne in der ZO Aufmerksamkeit erführen, nachdem er sie bereits auf dem Kongress in Karlsbad vorgestellt hatte.263 Anders als Soskin, dem vom KH für seine Small Holders Cooperative Society daraufhin Gelder zugesagt wurden, erhielt Trietsch keine Unterstützung. Er konnte mit Mead und anderen akademischen Experten, die viele seiner Ideen teilten, über die ZO nicht in Austausch treten.
260 Davis
Trietsch an Ernst Herrmann, 7. 4. 1927. Ebd. Herrmann an Davis Trietsch, 25. 4. 1927. Ebd., A396/5. 262 Siehe u. a. „American Experts on Palestine Survey Commission Return Home“, in: The Wisconsin Jewish Chronicle, 14. 10. 1927, S. 1; „Prominent Americans Back Restoration of Palestine for Jews“, in: The Daily Times, 18. 1. 1932, S. 2; „U. S. Gov’t Leaders organize a Pro-Palestine Body“, in: The Wisconsin Jewish Chronicle, 22. 1. 1932, S. 1, 4. 263 Selig Soskin an Elwood Mead, 7. 12. 1923. CZA, A91/9. Den Briefen nach zu urteilen, bewunderte Soskin, der sich v. a. für Bewässerungsfragen interessierte, Meads Arbeit. 261 Ernst
7. „Die Rettung der Juden im Aufbau Palästinas“ Ramot HaShavim: Das erste deutsche Eierdorf in Palästina „Der neue Wirtschaftszweig, den ich hier proponiere, ist die Eierfarm […]. Hier ist ein neuer, ganz grosser Erwerbszweig für das jüdische Palästina.“1 Davis Trietsch, Die Rettung der Juden im Aufbau Palästinas
7.1 Von Kalifornien lernen: Davis Trietschs Studium moderner Geflügelfarmen Während ihres Aufenthalts in Kalifornien besuchten Yitzhak Wilkansky und Arthur Ruppin mehrere Geflügelfarmen. Wilkansky wurde dabei von dem US-amerikanischen Zionisten und Geflügelexperten Aaron D. Shapiro begleitet, dessen Lebensdaten nicht überliefert sind. Bekannt ist allerdings, dass er in Kalifornien studiert hatte, wie Wilkansky an die ZO-Leitung schrieb.2 Shapiro war Wilkansky nicht nur als ein Experte für Geflügelwirtschaft zur Seite gestellt worden, sondern auch als Übersetzer, da der Besucher aus Palästina kaum Englisch sprach. Die ungenügenden Sprachkenntnisse Wilkanskys, der an drei Universitäten in Europa studiert hatte, zeigen exemplarisch, dass nicht alle Zionist*innen damals Englisch sprachen. Im Falle der deutschen Vertreter*innen waren die meisten von ihnen an einer Höheren Schule primär mit Latein und Altgriechisch in Kontakt gekommen. Hatten sie wie Davis Trietsch statt des Humanistischen Gymnasiums ein Realgymnasium besucht, lernten sie auch Englisch und Französisch. Ihr Sprachniveau dürfte allerdings insgesamt niedrig gewesen sein, wie Julius Berger mit Blick auf die Gruppe der Zionist*innen bilanzierte.3 Trietsch, der mehrere Jahre in New York gelebt hatte und des Englischen mächtig war, hob sich somit von anderen deutschsprachigen Anhänger*innen ab.4 Im Zuge ihrer Studienreise hielten sich Wilkansky und Shapiro auch in der Stadt Petaluma auf. Die Kleinstadt nördlich von San Francisco war damals über die USA hinaus als World’s Egg Basket bekannt und übte auch auf viele Zionistinnen und Zionisten eine große Faszination aus. Wilkansky zeigte sich an der Entwicklung Pe Davis Trietsch, Die Rettung der Juden im Aufbau Palästinas, Tel Aviv 1934, S. 8 f. Yitzhak Wilkansky an Inner Actions Committee, 30. 11. 1919; Ruppin, Report of my trip. 3 Berger, „Amerikanischer Zionismus“, S. 337 [Siehe auch Kap. 6.1 der vorliegenden Arbeit]. 4 Die geringen Englischkenntnisse von Wilkansky fielen in Kalifornien auf. Siehe hierzu „A Visitor From Palestine“, in: The Petaluma Argus-Courier, 19. 1. 1920, S. 1. 1 2
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7. „Die Rettung der Juden im Aufbau Palästinas“
talumas ebenfalls interessiert und berichtete sichtlich beeindruckt an die ZO, dass von den rund 7000 Bewohnerinnen und Bewohnern der kleinen Stadt 4000 ihren Lebensunterhalt allein mit der Geflügelwirtschaft verdienten.5 Das Besondere an Petaluma, das zu diesem Zeitpunkt bereits fünf Millionen Hühner beherbergte, war die große Zahl von Jüdinnen und Juden unter den Farmer*innen. 1925 wurden rund 100 jüdische Familien in Petaluma registriert, die auf ihren Farmen mit überwiegendem Erfolg Hühner hielten.6 Dass sie in der Landwirtschaft tätig waren und nicht, wie sonst in den USA üblich, in der Textilindustrie oder im Kleinhandel, sorgte für Aufsehen in der jüdischen Welt. Mehrere bekannte Zionist*innen wie Golda Meir (1898–1978), Ben Zvi oder Warburg, der im Anschluss an seinen Besuch zu Luther Burbank nach Santa Rosa fuhr, kamen daher nach Petaluma, um sich ein genaueres Bild von diesem ungewöhnlichen Ort zu machen.7 Der erste dieser „amerikanischen Eierjuden“8 in Petaluma, wie Ernst Herrmann die Gruppe nannte, war ein gewisser Ben Zion Friedman. Er ließ sich 1900 in der Stadt nieder und stammte wie viele der jüdischen Farmer*innen gebürtig aus Polen. Zuvor hatte er sein Glück in Palästina versucht, emigrierte dann aber nach Kalifornien, weil er sich dort bessere Chancen erhoffte. In San Francisco wurde Friedman auf Petaluma aufmerksam, von dem es hieß, man könne dort leicht mit einer Hühnerfarm gutes Geld verdienen.9 Die positiven Aussichten einer aufsteigenden Geflügelindustrie in den USA ließen Petaluma zunehmend in das Bewusstsein jüdischer Kreise treten. Sogar in Britisch-Ostafrika, wo sich trotz des gescheiterten Uganda-Plans einige jüdische Familien niedergelassen hatten, interessierten sich Ausreisewillige für die Stadt.10 Verbindungen gab es außerdem nach Palästina. So lebten nachweislich mehrere Männer in Petaluma, die in Palästina geboren worden waren und an der UC in Davis Agrarwissenschaften studiert hatten. Bei ihnen dürfte es sich um die Gruppe der ,Kalifornier‘ gehandelt haben, von denen einige nach dem Ersten Weltkrieg Palästina wieder verließen und sich mit ihren Ehefrauen auf einer Hühnerfarm in Petaluma niederließen.11 Der Historiker Kenneth L. Kann hat in den 1970er und 1980er Jahren mehr als 200 jüdische Bewohnerinnen und Bewohner Petalumas interviewt. In seinen Gesprächen zeigte sich, dass sie meist zionistisch eingestellt waren und Sympathien für die jüdisch-palästinensische Arbeiterbewegung hegten.12 Viele von ihnen wollten in der Zwischenkriegszeit selbst nach Palästina emigrieren, doch nur wenige 5 Yitzhak
Wilkansky an Actions Committee [Report 2]. Kenneth L. Kann, Comrades and Chicken Ranchers. The Story of a California Jewish Community, Ithaca, London 1993, S. 4. 7 Ebd., S. 61 f., 86. 8 Ernst Herrmann an Davis Trietsch, 22. 8. 1929. CZA, A104/5. 9 Kann, Comrades and Chicken Ranchers, S. 57. Zur Stadtgeschichte: Petaluma Chamber of Commerce (Hg.), A History of Petaluma. Its Birth, Growth, and Achievements from 1579 to 1947: The World’s Egg Basket, Petaluma 1947. 10 Kann, Comrades and Chicken Ranchers, S. 17. 11 Ebd., S. 25, 54. 12 Ebd., S. 26, 42, 86, 90, 95 f. 6
7.1 Von Kalifornien lernen
265
verließen tatsächlich die USA. Aus der Reihe fiel hier eine gewisse Batya Menuhin, die sich 1933 in Ma’agan Michael niederließ und dort beim Aufbau einer „modern chicken industry“13 mitwirkte. Auf Ma’agan Michael, einem der wohlhabendsten Kibbuzim in Israel, wird im Fazit zurückzukommen sein. Ein weiterer Grund für führende Zionistinnen und Zionisten, Petaluma zu besuchen, lag somit in der positiven Einstellung vieler jüdischer Bewohner*innen dem Zionismus gegenüber, von denen man sich Spenden erhoffte. Wilkanskys Aufenthalt in Begleitung von Shapiro, der selbst eine Hühnerfarm in Petaluma besaß, zielte dagegen in erster Linie auf das Studium der Geflügelwirtschaft. Sein Ziel war es, das Potenzial dieses Erwerbszweigs für die jüdische Wirtschaft in Palästina auszuloten. Petaluma bot dafür ein besonders geeignetes Untersuchungsfeld, da einerseits mehrere jüdische Familien dort bereits in der Branche arbeiteten. Die meisten von ihnen waren nach dem Ersten Weltkrieg aus Osteuropa eingewandert oder von der Ostküste in Richtung Westen gezogen. Andererseits war die Stadt damals der weltweit größte Produktionsstandort für Geflügelfleisch und Vogeleier. Mit dieser führenden Stellung, die man ab 1911 in US-amerikanischen Zeitungsannoncen zu bewerben wusste, ging die Entwicklung wichtiger technischer Innovationen einher.14 Darunter war der erste in der Praxis erprobte Inkubator, durch den die Hennen ihre Eier nicht mehr selbst bebrüten mussten bzw. durften. Damit sie sich ausgiebiger dem Eierlegen widmen konnten, übernahm der 1879 in Petaluma konzipierte elektrische Brutapparat die Funktion einer Glucke.15 Insgesamt verzeichnete die Geflügelwirtschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts hohe Zuwachsraten in Kalifornien. Infolge einer zunehmenden Bevölkerung stieg auch der Konsum von Geflügelprodukten, der um 1900 noch durch Importe aus dem Mittleren Westen gedeckt werden musste.16 Im Laufe der nächsten Jahre stieg Kalifornien zu einem führenden Produktionsstandort in den USA auf, der den wachsenden Bedarf anderer Bundesstaaten deckte, vor allem in Großstädten wie New York. Mit jährlichen Einnahmen von rund 75 Millionen US-Dollar (1930) wurde die Geflügelwirtschaft, vor allem die kommerzielle Eierproduktion, zu einer der führenden Landwirtschaftsindustrien in Kalifornien. Allein Petaluma lieferte 30 Prozent aller dort produzierten Vogeleier.17 Ihre vorteilhafte Lage am Petaluma River und ihr Anschluss an die San Francisco and North Pacific Railroad verhalfen der kalifornischen Kleinstadt auf diesem Weg zur führenden Eier-Exporteurin.18 Die Geflügelproduktion in Kalifornien wurde in der Hauptsache von kleinen Familienbetrieben getragen. So auch in Petaluma, wo durchschnittlich fünf bis zehn Acres große Farmen (1 Acre = 0,4 Hektar) zum Kauf oder zur Miete angeboten 13 Ebd.,
S. 206. „World’s Greatest Poultry Center“ präsentierte sich die Stadt in: „Petaluma Poultry Show“, in: The San Francisco Call, 6. 12. 1911, S. 9. 15 Katherine J. Rinehart, Petaluma. A History in Architecture, Charleston u. a. 2005, S. 7. 16 „The Poultry Business in California“, in: Santa Cruz Sentinel, 29. 5. 1900, S. 1. 17 „The Poultry Yard. Big Business“, in: The Los Angeles Times, 3. 8. 1930, S. 87. 18 Rinehart, Petaluma, S. 7. 14 Als
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7. „Die Rettung der Juden im Aufbau Palästinas“
wurden.19 In der Regel bauten die Familien dort Obst und Gemüse an und hielten sich einige hundert, teilweise auch mehrere tausend Hühner. Neben der Aussicht auf ein gutes Einkommen reizte viele jüdische Farmer*innen die Vorstellung, auf ihren Einzelwirtschaften eine eigene Unabhängigkeit zu gewinnen. Viele von ihnen hatten zuvor Akkordarbeit in der Textilindustrie geleistet, weshalb sie ihr neues Leben in Petaluma in erster Linie mit einer „independence of the small farm“20 verbanden. Ihr Hoffen auf Selbständigkeit in Form kleiner Hühnerfarmen, wo sie eine gesündere Lebensweise als in den beengten Großstädten der Ostküste erwartete, deckte sich auch mit den Plänen von Trietsch. Es verwundert daher nicht, dass er noch vor Wilkansky und der ZO-Leitung auf Petaluma aufmerksam geworden war. In einem Schreiben an die Handelskammer der Stadt vom 28. August 1929 bekräftigte er sein großes Interesse. Seit mehr als 30 Jahren, so Trietsch, würde er schon für Petaluma Werbung machen. Um dies auch in Zukunft tun zu können, bat er um aktuelle Broschüren, von denen er sich schon 1920/1922 einige hatte schicken lassen.21 Ob Trietsch wie Wilkansky auch vor Ort in Petaluma gewesen ist, muss offenbleiben. Da eine seiner Tanten mütterlicherseits in San Francisco lebte, ist nicht auszuschließen, dass er sie und das 60 Kilometer entfernte Petaluma besuchte. Den Aufenthalt könnte er mit der Besichtigung weiterer Orte verbunden haben, die ihn zu dem Artikel „Eine californische Colonisations-Methode“ inspirierten. Während man über die frühen Verbindungen von Trietsch nach Kalifornien nur spekulieren kann, lässt sich sein Interesse an der Geflügelwirtschaft näher bestimmen. Schon in seinen frühen Texten kam er immer wieder auf die Haltung von Geflügel zu sprechen, die er neben dem Anbau von Obst und Gemüse als einen wichtigen landwirtschaftlichen Erwerbszweig erachtete.22 So nahm die von ihm initiierte JOKG die Geflügelwirtschaft in ihr Programm auf. In einem Prospekt der Gesellschaft hieß es dazu, zusätzlich zum Anbau von Olivenbäumen sollten „Vieh‑ und Geflügelzucht, Bienenzucht, Tabak‑ und Seidenbau […] als weitere bedeutende Erwerbsmöglichkeiten in Betracht“23 gezogen werden. Neben Trietsch dürfte vor allem Louis Brisch, der dem Vorstand der JOKG angehörte, für die Geflügelhaltung geworben haben. Er schrieb 1902 an Herzl, dass er seit seiner frühen Jugend an der Geflügel‑ und Kleintierzucht „ein lebhaftes Interesse gehabt“ und beide auch „praktisch ausgeführt“24 hätte. 19 Für 2500 US-Dollar konnte man 1911 5 Acres erwerben inkl. eines vollausgestatteten Hauses mit vier Zimmern und einer Komplettausrüstung zur Haltung von 500 Hühnern. Zu den Miet‑ und Kaufoptionen s. „Real Estate“, in: Petaluma Daily Morning Courier, 12. 4. 1909, S. 3; „Petaluma Poultry Farms“, in: The Petaluma Argus-Courier, 9. 11. 1911, S. 6. 20 Kann, Comrades and Chicken Ranchers, S. 37, 51. 21 Davis Trietsch an Chamber of Commerce Petaluma, 28. 8. 1929. CZA, A104/39. 22 Trietsch forderte u. a. in seinem Palästina-Handbuch, die Geflügelzucht müsse künftig eine größere Rolle in den jüdischen Siedlungen spielen. Trietsch, Palästina-Handbuch (1912), S. 69. 23 „Der Prospekt der ,Jüdischen Orient-Kolonisations-Gesellschaft‘“, S. 56. 24 Louis Brisch an Theodor Herzl, 12. 1. 1902. CZA, H1/861. Ruppin beschrieb Brisch 1905 als „ein kleines Männchen im Alter von etwa 50 Jahren, sehr ehrlich und anständig“. Ruppin,
7.1 Von Kalifornien lernen
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Die Haltung von Geflügel stellte einen elementaren Bestandteil in Trietschs Plänen dar. Besonders in die Hühnerhaltung setzte er große Hoffnungen. In der Zwischenkriegszeit verstärkte sich sein Interesse an diesem Erwerbszweig, für den er bis zu seinem Tod mit großer Leidenschaft in Palästina warb. Seine unermüdliche Agitation führte dazu, dass er sich einen Namen auf diesem Gebiet machte und Zionist*innen seinen Rat erbaten. So etwa die Agronomin Channa Maisel-Schochat (1883–1972), die sich im Juli 1933 an Trietsch wandte und ihn um eine Einschätzung hinsichtlich des Potenzials von Geflügelmischfutterfabriken bat.25 Maisel-Schochat, die in Nahalal eine Landwirtschaftsschule für junge Frauen gegründet hatte, in der auch Hühner gehalten wurden, interessierte sich offenbar sehr für die Geflügelwirtschaft.26 Die Aufzucht und Pflege der Tiere galt auch in Palästina als eine lohnende Beschäftigung vor allem für Frauen und Mädchen. Der Geschlechterforscherin Susan M. Squier zufolge war die Hühnerhaltung eine „gendered activity“27, die traditionell von Frauen ausgeübt wurde. Auch in den USA waren es die Ehefrauen und Töchter, die sich mit der Pflege der Tiere ein eigenes Einkommen dazuverdienten, das sogenannte „egg money“28. Das Buch California Poultry Culture von O. H. Burbridge aus dem Jahr 1906 gibt dafür ein gutes Beispiel. Der Autorin zufolge, die selbst eine Geflügelhalterin aus Los Angeles war, lebten in Kalifornien viele Frauen, die eine Hühnerfarm besaßen und dadurch ein weitgehend unabhängiges Leben führten.29 Auch auf den Familienfarmen in Petaluma waren Frauen und Mädchen fest in den täglichen Arbeitsablauf integriert. Diesen Aspekt dürfte Trietsch mitgedacht haben, der sich nachdrücklich für die Mitarbeit von Frauen in Palästina aussprach und ihre Arbeitskraft früh berücksichtigte. Die Hühnerhaltung und besonders die Eierproduktion setzte er mit einer simplen Tätigkeit gleich, die nur ein geringes Quantum körperlicher Arbeit erforderte und fast keinerlei Kenntnisse voraussetzte. Sie eignete sich dadurch, so Trietsch optimistisch, „für die ältesten Jahrgänge, für Frauen, für Invaliden, für die halbwüchsige Jugend und für allerlei sonstige ,halbe und viertel Arbeitskräfte‘“30. Eine zentrale Voraussetzung zur Einbeziehung dieser Gruppe bildeten Trietsch zufolge arbeitssparende, rationelle Geflügelsysteme. Wie in anderer Hinsicht hielt er moderne Hilfsmittel für unabkömmlich, da „gerade die Juden beim Aufbau Palästinas ganz besondere Veranlassung [hätten], ihren Mangel an landwirtschaftTagebücher, Briefe, S. 186. Brisch, zu dem keine weiteren Informationen vorliegen, soll gelernter Gärtner gewesen sein. 25 Channa Maisel-Schochat an Davis Trietsch, 20. 7. 1933. CZA, A104/39. 26 Zu der Geflügelzucht in Nahalal siehe Martha Hoffmann, „Frauenarbeit in Palästina“, in: Palästina 10 (1927), Nr. 8–9, S. 417–421, hier S. 420. 27 Susan M. Squier, Poultry Science, Chicken Culture. A Partial Alphabet, New Brunswick u. a. 2012, S. 103. Siehe bes. das Kapitel „Gender“, S. 138–155. 28 Ebd., S. 103. 29 O. H. Burbridge, California Poultry Culture, Los Angeles 1906, S. 7. Zu Burbridge und der Rolle von Frauen s. auch „Poultry in California“, in: Santa Cruz Sentinel, 21. 6. 1906, S. 8. 30 Trietsch, Die Rettung der Juden, S. 8; ders., „Jüdische Frauenarbeit für Palästina“, S. 164.
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7. „Die Rettung der Juden im Aufbau Palästinas“
licher Tradition durch die beste Technik der Neuzeit zu ersetzen.“31 Geräte, die die Geflügelhaltung erleichtern sollten, wurden damals in erster Linie in den Vereinigten Staaten entwickelt. Dass die meisten technischen Innovationen aus den USA kamen, dem weltweiten Marktführer für die Produktion von Geflügelfleisch und Vogeleiern, wusste auch Trietsch. Er nutzte seinen Aufenthalt in New York daher dazu, um sich über die neusten Entwicklungen in der Branche eingehend informieren zu können. Sein Wissen zog er vor allem aus US-amerikanischen Geflügelfachzeitschriften, die schon Burbridge ihren Leserinnen und Lesern zur Lektüre empfohlen hatte.32 Neben Fachzeitschriften ließ sich Trietsch über sein Informationsbüro diverse Prospekte schicken, die neueste Geräte und Techniken bewarben.33 Unter der Fülle des von ihm gesammelten Werbematerials ist auch die Broschüre Raising Chicks the ARNDT Way34 zu finden, die für den Kauf viergeschossiger Käfige warb, in denen man Küken bis zu zwölf Wochen halten konnte. Diese erste systematische Legebatterie, die an die Stromzelle einer Batterie erinnert, wurde Anfang der 1930er Jahre von dem US-Amerikaner Milton H. Arndt konzipiert. Mit ihr gab er der industriellen Geflügelhaltung ein System, das für Milliarden von Tieren bis heute eine bittere Lebensrealität ist. Hatte Burbridge noch freien Auslauf, Sonnenlicht und frische Luft zur Bedingung für eine erfolgreiche Geflügelhaltung erklärt, endeten im Laufe der 1930er Jahre immer mehr Tiere in Käfigen.35 1941 wurden bereits 20 Prozent aller Hennen in Legebatterien gehalten, die überwiegend in Kalifornien gebaut wurden.36 Das System von Arndt, das sich an älteren Holzkisten orientierte, in denen man die Vögel kurzfristig zur Mast gehalten hatte, setzte sich zunehmend durch.37 Die Vorteile der Käfighaltung, die in fast allen Bundesstaaten der USA heute gängige Praxis ist, waren für Geflügelhalter*innen zahlreich.38 Da die Tiere oft einzeln gehalten wurden, konnte die Ausbreitung von Parasiten minimiert und Kannibalismus verhindert werden. Die Legekapazität der einzelnen Hennen ließ sich überwachen und die Eier, die durch eine Klappe in eine separate Box fielen, wurden nicht verschmutzt. All dies sparte Zeit und Arbeitskraft bei gleichzeitig höheren Erträgen, auch weil man die Hennen bei nachlassender Legeleistung gezielt ,aussortieren‘ konnte.39 Ders., „Wege nach Palästina“, S. 5. California Poultry, S. 3, 90. 33 Das Werbematerial findet sich in CZA, A104/39. 34 Ebd. 35 Burbridge, California Poultry, S. 9, 13. Zum Stellenwert des Auslaufs siehe auch „Poultry Raising. California and its Opportunities in the Profitable Industry“, in: Petaluma Daily Morning Courier, 2. 9. 1905, S. 3. 36 M. T. Kidd/K. E. Anderson, „Laying Hens in the U. S. Market: An Appraisal of Trends from the Beginning of the 20th Century to Present“, in: The Journal of Applied Poultry Research 28 (2019), Nr. 4, S. 771–784, hier S. 776. 37 Burbridge, California Poultry, S. 52 f.; Milton H. Arndt, Battery Brooding, New York 1931. 38 Die Käfighaltung überwiegt auch in Israel, soll ab 2037 aber komplett abgeschafft werden. Sabine Brandes, „Ein großer Sieg für die Tiere‘. Israel schafft die Käfighaltung ab“, in: Jüdische Allgemeine 26 (2022), S. 4. 39 Kidd/Anderson, „Laying Hens in the U. S. Market“, S. 778. 31
32 Burbridge,
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Trietsch dürfte die Käfighaltung, zu der er mehrere Prospekte anforderte, mit großem Interesse verfolgt haben. In einem enthusiastischen Brief an Ernst Herrmann bemerkte er, ein kleines Bodenmaß ohne Auslauf werde auch in Palästina für eine „straffere Ordnung“40 sorgen. Dass man die Tiere über Monate in kleinen Käfigen halten konnte, die so eng waren, dass sie darin nicht einmal mit den Flügeln schlagen konnten, verdankte sich in der Zwischenkriegszeit der Entdeckung von Vitamin D. Seit 1925 kann mithilfe der modernen Biochemie die Kalziumversorgung der Vögel durch die Futterbeigabe von Vitamin D3 sichergestellt werden.41 Die Supplementierung mit dem Vitamin, die der Arndtschen Legebatterie zum Erfolg verhalf und die Geflügelhaltung in dunkle Zuchthallen verlagerte, wurde auch von Trietsch genau verfolgt. So finden sich in seinem Nachlass mehrere Broschüren, die für das neue Spezialfutter warben.42 Inwieweit Trietsch von den neuen Möglichkeiten einer hochrationellen, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden Geflügelhaltung im Einzelnen Gebrauch in Palästina machen wollte, lässt sich nicht bestimmen. Die Geflügelhaltung, wie sie etwa in Petaluma betrieben wurde, wollte er jedenfalls nicht eins zu eins auf Palästina übertragen wissen. In einem Brief an Alexander Levy warb er dafür, in den jüdischen Siedlungen weniger Tiere zu halten, ebenso wie die Grundstücke kleiner sein sollten.43 Die Größenverhältnisse in Kalifornien waren für die Siedlungspläne von Trietsch, der mehrere hunderttausend Menschen in Palästina ansiedeln wollte, nicht nachahmenswert. Während es in Petaluma vorkam, dass Familien einige tausend Hühner auf einem 10 Acres großen Grundstück hielten, sollte eine Familie in Palästina mit rund 250 Tieren auf einer Fläche von 1 Dunam auskommen.44 Ein geeigneteres Modell fand Trietsch schließlich in den Aktivitäten des USamerikanischen Geflügelexperten Charles Weeks (1873–1964), den er neben Burbank offenbar bewunderte. Weeks, der aus Indiana stammte, ist wie Bolton Hall der US-amerikanischen back-to-the-land movement zuzurechnen. Er hatte 1922 im Süden von Kalifornien in der Nähe von Owensmouth (Winnetka) die Gründung einer Siedlung angeregt, deren Erwerbsgrundlage die Hühnerhaltung bildete.45 Die dort lebenden 350 Familien verband ein starkes Gemeinschaftsgefühl, das auf alternativen Lebenskonzepten beruhte. Was Trietsch an der Charles Weeks Poultry Community faszinierte, die bis Anfang der 1930er Jahre erfolgreich wirtschaftete, war neben ihrem genossenschaftlichen Prinzip die Vision von One Acre and Independence. Weeks zufolge, der unter diesem verheißungsvollen Titel 1926 ein Buch verfasst hatte, benötigte jede Familie zur Selbstversorgung nur 1 Acre Land. 40 Davis
Trietsch an Ernst Herrmann, 8. 11. 1928. CZA, A104/5. „Laying Hens in the U. S. Market“, S. 775. 42 Siehe den Ordner A104/39 in Trietschs Nachlass. 43 Davis Trietsch an Alexander Levy, 23. 2. 1927. CZA, A396/4. 44 Ebd. Zur Erinnerung 1 Acre = 4047m2; 1 Dunam ländlichen Bodens = 920m2. 45 Laura R. Barraclough, Making the San Fernando Valley. Rural Landscapes, Urban Develop ment, and White Privilege, Athens, London 2011, S. 45. 41 Kidd/Anderson,
270
7. „Die Rettung der Juden im Aufbau Palästinas“
Dadurch brauchte es keine externen Arbeitskräfte, was sich mit dem Prinzip der Avoda Ivrit in Palästina verbinden ließ.46 Auf ihrem Grundstück, dessen Größe von anderen Siedlungseinheiten in Kalifornien deutlich abwich, sollte jede Familie Obst und Gemüse anbauen und sich Nutztiere halten können. Die Haltung von je 2500 Hühnern war als Haupteinkommen gedacht, das mit einem jährlichen Gewinn von rund 5000 US-Dollar über eine bloße Selbstversorgung hinausging.47 Weeks hatte es mit diesem Konzept des „Intensive Egg Farming“48, wie er es nannte, in den Süden Kaliforniens gezogen, da die Tiere dort dank der milden Winter das ganze Jahr über draußen bleiben konnten. Im Unterschied zu anderen Farmen, wie in Petaluma, setzte Weeks auf den systematischen Einsatz von Ställen. Die Stallhaltung, die keinen Auslauf mehr vorsah, war damals ein relativ neues Vorgehen. Weeks erhoffte sich von ihr eine höhere Eierproduktion, sah er doch in der modernen Henne nur noch eine „living egg machine“49, wie er 1926 ingenieurhaft bemerkte. Dass sich rund 100 Hennen in 4 x 8 Meter großen ungeheizten Ställen, ohne Auslauf das ganze Jahr über halten ließen, griff Trietsch begierig auf. Unter Verweis auf Weeks warb auch er für effiziente Eierfarmen in Palästina.50
7.2 Einflüsse der US-amerikanischen Geflügelwirtschaft im Jischuv Neben Davis Trietsch verfolgten auch andere Zionisten die Entwicklungen der modernen Geflügelwirtschaft in den USA, besonders in Kalifornien. Wie in anderen Bereichen waren es Akteure, die ihm gedanklich nahestanden. So zählte Selig Soskin zu den wenigen, die um die Aktivitäten von Charles Weeks wussten, der in Europa ansonsten unbekannt war. Wie Trietsch hatte Soskin das Buch One Acre and Independence mit großem Interesse gelesen und Weeks als einen „Philosoph[en] des Intensivismus“51 gerühmt. Soskin, der sich in der Zwischenkriegszeit mehrere Male in den USA aufhielt, unter anderem in Kalifornien, beschäftigte sich ab Mitte der 1920er Jahre selbst ausgiebiger mit den Chancen der Geflügelzucht.52 Den Ausschlag hierzu gab ein sich ab 1925 konkretisierendes Siedlungsprojekt Soskins, das speziell für den jüdischen Mittelstand konzipiert war. Die Siedlung, die mit der finanziellen Unterstützung der PICA und des KH südlich von Haifa entstehen sollte, sah neben einem hauptberuflichen Obst‑ und Gemüsebau die 46 Charles Weeks, One Acre and Independence, Owensmouth 1926; Barraclough, Making the San Fernando Valley, S. 49. 47 Weeks, One Acre and Independence, S. 112. 48 Ebd., S. 71. Zur Standortwahl Südkaliforniens: ebd., S. 102. 49 Ebd., S. 71. Siehe auch Charles Weeks, Egg Farming in California, San Francisco 1920. 50 Das Konzept von Charles Weeks fasste Trietsch anerkennend in dem Text „Neues von amerikanischer Geflügelzucht“ [1928] zusammen. CZA, A104/39. 51 Selig Soskin, „Das Glaubensbekenntnis eines Intensivisten“, in: Wiener Morgenzeitung, 11. 10. 1926, S. 2. 52 Zur USA-Reise Soskins: Ernst Herrmann an Davis Trietsch, 23. 5. 1929. CZA, A104/5.
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Haltung von Hühnern vor. Die rund 250 jüdischen Familien, mit denen man im Frühjahr 1926 rechnete, sollten je 50 Hennen zur Eierproduktion erhalten.53 Die Zahl der Tiere fiel im Vergleich zu Petaluma oder der poultry community von Weeks somit gering aus, weshalb Herrmann an Trietsch nach Berlin meldete, die Geflügelhaltung spiele bei Soskin keine wichtige Rolle. Ihm zufolge sei es aber zielführend, so Herrmann weiter, eine „Kombinierung von Soskin’s System mit Ihrem [Davis Trietschs] System der Ansiedlung aller intensiven Methoden“54 zu erreichen. Unter diese Methoden fiel zunächst die Geflügelhaltung, die Trietsch schon 1923 mit Verweis auf Petaluma als künftigen Hauptzweig der Landwirtschaft in Palästina vorgestellt hatte.55 Die Beobachtung von Herrmann, der das Soskin-Projekt aus nächster Nähe von Haifa aus verfolgte, illustriert die unterschiedliche Gewichtung der Interessen: Zwar hatte auch Soskin die Geflügelwirtschaft in seine Pläne integriert und sie zu einem wichtigen Erwerbszweig deklariert. Er konzentrierte sich jedoch weiterhin vorrangig auf den Anbau exportfähigen Gemüses und die dafür benötigten Bewässerungssysteme, während die Geflügelhaltung nur ergänzend erfolgen sollte. Die von Soskin entworfenen Pläne fielen insgesamt bescheiden aus: 1925 rechnete er damit, ein Huhn werde rund 100 Eier jährlich legen können.56 Diese Legeleistung war mit Blick auf die Eierproduktion in den USA niedrig, verwies doch Weeks darauf, dass seine Hennen angeblich bis zu 300 Eier im Jahr legten.57 Um diese Differenz einordnen zu können, bedarf es eines Überblicks über die Verhältnisse in Palästina. Folgt man den Beschreibungen jüdischer Autorinnen und Autoren, dann erfolgte die Haltung domestizierten Geflügels in Palästina Anfang des 20. Jahrhunderts fern jeder modernen Wissenschaft und Technik. Die Tiere, die im Zuge der römischen Besatzung in größerer Zahl eingeführt worden sein dürften, erhielten in den arabischen Dörfern keine besondere Pflege. Zwar fanden sich dort für gewöhnlich einige Hühner und Enten, allerdings wurden sie nicht systematisch gezüchtet. Die Körpergröße und Legeleistung der Tiere waren dementsprechend gering. Da außerdem moderne Geräte wie elektrische Inkubatoren noch nicht im Einsatz waren, griff man auf traditionelle Kulturtechniken wie das Ausbrüten von Vogeleiern auf Düngehaufen zurück.58 Das tradierte Wissen der 53 „Soskin Plan, Reducing Colonization Cost, Put into Operation“, in: Jewish Daily Bulletin, 5. 3. 1926, S. 1. 54 Ernst Herrmann an Davis Trietsch, 11. 4. 1925. CZA, A104/4 [Hervorh. im Original]. Siehe außerdem Ernst Herrmann an Davis Trietsch, 11. 1. 1927. Ebd., A104/36. 55 Trietsch, Neue Grundlagen, S. 12. 56 Dr. Alt, „Die Geflügelzucht im Siedlungsplan Dr. Soskins“, in: Wiener Morgenzeitung, 21. 1 2. 1925, S. 2. 57 Weeks, One Acre and Independence, S. 71. Sollten Weeks Angaben korrekt sein, dann kam die jährliche Legeleistung seiner Hennen an die heutiger Lege-Hybridhühner heran. Sie liegt bei rund 330 Eiern. Zum Vergleich: Übliche Haushuhnrassen legen 160 bis 230 Eier im Jahr (Naturbrut). 58 Bericht der Exekutive der Zionistischen Organisation an den XIX. Zionistenkongreß in Luzern, London 1935, S. 380; Dorothy Kahn, „Psychology for Hens. Flattered into Egg Laying“,
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Fellach*innen war dennoch von Bedeutung für die jüdischen Siedler*innen. Insbesondere in den Anfangsjahren suchten sie nachweislich arabische Dörfer auf, um von den Praktiken ihrer Bewohner*innen, meist Frauen, zu lernen.59 Die Geflügelwirtschaft war über lange Zeit auch in den jüdischen Siedlungen von einer geringen ökonomischen Bedeutung. Sowohl in den Siedlungen der ZO, als auch in anderen Niederlassungen von Jüdinnen und Juden stellte sie bis zum Ende der 1920er Jahre einen untergeordneten Zweig der Landwirtschaft dar. Für die Tiere existierten keine ordentlichen Ställe und ihre Eierproduktion lag bei nur 50 bis 60 Eiern im Jahr. Zudem waren sie klein und lieferten kein gutes Fleisch.60 Die Siedlerinnen und Siedler, die das Geflügel fast nur zur Selbstversorgung hielten, waren darüber hinaus häufig mit Geflügelkrankheiten konfrontiert, die zu erheblichen Verlusten führten. Wie stark die Tiere im Allgemeinen für Infektionen anfällig waren, zeigt das Buch von Burbridge. In zwei ausführlichen Kapiteln widmete sie sich darin einer Vielzahl an Krankheiten, die neben Läuse‑ und Milbenbefällen die Geflügelzucht massiv erschwerten.61 Von Bronchitis, über Geflügelpocken, ‑cholera und ‑pest bis hin zur tödlichen, bis heute nicht behandelbaren Tuberkulose: Hausgeflügel war und ist äußerst anfällig für Krankheiten, die eine Keulung und damit große finanzielle Schäden für die Halter*innen nach sich ziehen können. Davon wusste man auch in Petaluma ein Lied von zu singen, wo von der „Petaluma symphony“62 die Rede war, wenn die Tiere wieder im Chor niesten und röchelten. In Palästina kam es ebenfalls zu Seuchen mit gravierenden Folgen für Mensch und Tier. Ein russischer Geflügelexperte namens Glasmann, der über seinen Aufenthalt in einer jüdischen Siedlung 1906 einen Bericht verfasst und sich über die Rückständigkeit der Geflügelzucht ausgelassen hatte, forderte daher eine „radikale Reform“63. Glasmann zufolge musste man sich von jüdischer Seite künftig mit größerer Aufmerksamkeit diesem aussichtsreichen Erwerbszweig widmen. Neben einer Brüterei und modernen Zucht, die leistungsfähigere Vögel hervorbringen sollten, mussten die jüdischen Siedlerinnen und Siedler von Experten geschult werden. Nur eine fachliche Unterweisung konnte bei epidemisch erkrankten Vögeln Abhilfe schaffen.64
in: The Palestine Post, 11. 1. 1940, S. 3. Zur traditionellen Geflügelhaltung s. auch Elisabeth von der Osten-Sacken, Untersuchungen zur Geflügelwirtschaft im Alten Orient, Fribourg 2015. 59 So eine gewisse Genesia, die um 1910 von einem arabischen Dorf zum nächsten geritten sein soll, um sich das dortige Wissen anzueignen. Genesia, die gebürtig aus Russland kam, leitete später mit ihrem Ehemann eine der größten Zuchtbetriebe und Brutzentralen in Palästina. Kahn, „Psychology for Hens“, S. 3. 60 Bericht der Exekutive der Zionistischen Organisation (1935), S. 380. 61 Burbridge, California Poultry, S. 62–86. 62 Kann, Comrades and Chicken Ranchers, S. 227. 63 D. Glasmann, „Über die Geflügelzucht in Palästina“, in: Palästina 5 (1908), Nr. 5–6, S. 85– 88, hier S. 86. 64 Ebd., S. 87 f.
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Dem Aufruf Glasmanns folgten vorerst keine Taten. Offenbar befanden sich unter den Zionistinnen und Zionisten nur wenige, die von den Möglichkeiten der Geflügelwirtschaft ernstlich überzeugt waren. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg erschienen nur vereinzelt Texte, in denen auf die Chancen dieses Wirtschaftszweigs, oft unter Verweis auf die USA, aufmerksam gemacht wurde.65 Erste Maßnahmen zur Optimierung erfolgten schließlich 1913 in Ben Schemen, wo die ZO eine landwirtschaftliche Versuchsstation unterhielt. Die 1909 auf Initiative von Warburg und Wilkansky gegründete Forschungseinrichtung, die an Versuchsstationen des USDA angelehnt war, widmete sich in erster Linie der Milchwirtschaft. Kurz vor Kriegsbeginn unternahmen ihre Mitarbeitenden aber auch erste Versuche im Bereich der Geflügelzucht. Darunter fielen der Bau moderner Hühnerställe, die eine hygienischere Haltung gewährleisten und Seuchen vorbeugen sollten, sowie Zuchtversuche.66 Das Augenmerk dieser Initiativen richtete sich auf Hühner, die für die Eierproduktion gehalten wurden. Um ihre Legeleistung, Körpergröße und Resistenz gegenüber Krankheiten zu steigern, führte man weitere Rassen ein. Mit ihnen kreuzte man das heimische Arabische Huhn und verdoppelte so dessen Legefähigkeit. Um Letztere noch weiter zu erhöhen, ging man 1923 systematisch dazu über, reinrassige Hühner aus dem Ausland einzuführen.67 Dieses Vorgehen prägt die israelische Geflügelwirtschaft bis heute und kann als ein gutes Beispiel für die hier besprochenen Transferprozesse gewertet werden. Die meisten der nach Palästina eingeführten Hühnerrassen stammten somit aus den USA, darunter das White Leghorn und der Plymouth Rock.68 Sie alle waren das Ergebnis von Zuchtversuchen, bei denen wiederum Wild‑ und Haushühner asiatischen und europäischen Ursprungs miteinander gekreuzt worden waren. Die systematische Herauszüchtung neuer Hühnerrassen, die später auch in Europa Verbreitung fanden, war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten aufgekommen. Ihnen zugrunde lagen kommerzielle Interessen, sodass man die Tiere auf Legeleistung und Mast züchtete.69 Über jüdische Akteurinnen und Akteure gelangten die ,Leistungshühner‘, meist White Leghorns, auch nach Palästina, wo sie das Erscheinungsbild vieler jüdischer Siedlungen prägten. Die in Berlin geborene Schriftstellerin Gabriele Tergit (1894–1982), eigentlich Elise Reifenberg, hat diese Entwicklung in ihren Palästina-Reportagen anschaulich geschildert. Auf einer ihrer Fahrten durch das Land im Jahr 1935 sah Tergit „Tausende
65 Siehe bspw. „Handel mit Eiern und Hühnern in den Vereinigten Staaten von Amerika“, in: Altneuland 3 (1906), Nr. 2, S. 63. 66 Bericht der Exekutive der Zionistischen Organisation (1935), S. 380. Zur Versuchsstation in Ben Schemen nahe der Stadt Lod s. Shilony, Ideology and Settlement, S. 258–273. 67 Bericht der Exekutive der Zionistischen Organisation (1935), S. 380 f., 383. 68 Bericht der Exekutive der Zionistischen Organisation an den XIV. Zionistenkongreß, London 1925, S. 227. 69 Squier, Poultry Science, S. 105 f.
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von schneeweißen Hühnern“70 und „moderne Geflügelställe mit weißen Leghornhühnern, jener Rasse, die man in Palästina allein zieht.“71 Einen Hahn bekäme man dort nicht mehr zu Gesicht, und wenn doch, handelte es sich Tergit zufolge um ein „altmodisches Vieh“, das „dieser Welt der rationalisierten Eiererzeugung“72 nicht angehörte. Die Geflügelhaltung in den arabischen Dörfern stand dazu im Kontrast. So schrieb Tergit 1934: „Beim Fellachen laufen die Hühner im Hof hinter der Mauer. Im jüdischen Land sieht man die Wellblechhühnerställe, wissenschaftlich erprobt. Dort lebt der bunte Hahn, hier die weiße Legerasse. Dort kommt ein winziges Ei heraus, hier das landwirtschaftliche Musterprodukt. […] Dort sind Dornen und hier ist Versuchsland. Dort ist Morgenland, hier nicht Europa, sondern eine Mischung aus Rußland und Amerika.“73
Die wachsende Orientierung an US-amerikanischen Methoden, die Tergit wahrnahm, setzte um 1923 ein. Den Ausgangspunkt hatte auch hier die Versuchsstation in Ben Schemen gebildet, die ein Jahr zuvor wiedereröffnet worden war. Nachdem ihre Tätigkeiten im Krieg eingestellt werden mussten, widmeten sich ihre Mitarbeitenden ab 1922 intensiv der Geflügelzucht.74 Um sie moderner und rentabler zu gestalten, lud man schließlich einen Sachverständigen aus den USA ein, der in Berkeley ausgebildet worden war. Mithilfe seiner Expertise und der Einführung US-amerikanischer Geflügelrassen strebte nun auch die ZO-Leitung eine Modernisierung ihrer Siedlungen an.75 Die personellen Kontakte in die Vereinigten Staaten nahmen ab 1932 durch die Gründung des American Economic Committee for Palestine (AECP) weiter zu. Das von US-amerikanischen Zionisten in New York ins Leben gerufene Komitee zielte darauf, erfolgversprechende Erwerbszweige für die jüdische Wirtschaft in Palästina aufzuspüren und auf dem Weg der Privatinitiative zu fördern.76 Das AECP, das sich vorrangig für industrielle Unternehmungen einsetzte, wandte sich im Zuge der 1930er Jahre auch der Geflügelzucht in Palästina zu. Das belegt das Poultry Advisory Committee (PAC), das 1936 als Expertengruppe innerhalb des AECP gegründet wurde. Bezeichnenderweise stand das PAC unter der Leitung von Professoren der UC, die am dortigen Department of Poultry Husbandry (Berkeley) lehrten und forschten.77 Tergit, Im Schnellzug nach Haifa, S. 82. S. 89. 72 Ebd. 73 Ebd., S. 24. 74 Bericht der Exekutive der Zionistischen Organisation (1935), S. 380. 75 Bericht der Exekutive der Zionistischen Organisation an den XIII. Zionisten-Kongreß, Karlsbad 1923, S. 163. Bei dem kalifornischen Experten handelte es sich um einen gewissen Joseph L. Kramer des renommierten College of Agriculture. Lincoln Journal Star, 15. 2. 1923, S. 12. 76 Zum AECP: „New American Economic Committee for Palestine Formed: Immediate Task of Stimulating Palestine Invest“, in: Daily News Bulletin issued by the Jewish Telegraphic Agency, 9. 6. 1932, S. 1. 77 Simon Bornstein, The American Poultry Industry as Applied to Palestine, New York 1947, S. VI. Mindestens einer der Professoren, Samuel Lepkovsky (1901–1984), war jüdisch. Ebd. 70
71 Ebd.,
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Dass das New Yorker AECP auf die Expertise von Wissenschaftlern aus Kalifornien setzte, dürfte neben dem hohen Ansehen der UC vor allem auf die Erfolge der kalifornischen Geflügelwirtschaft zurückzuführen sein. Anzunehmen ist außerdem, dass die klimatischen Parallelen zwischen Kalifornien und Palästina eine Rolle spielten. So ermöglichte ein ähnliches Klima, dass sich unter anderem der herkömmliche Anbau von Futtermitteln in Kalifornien auf Palästina übertragen ließ. Insgesamt wurde das Klima des Bundesstaates als vorteilhaft für die kommerzielle Geflügelhaltung gewertet. Burbridge beispielsweise betonte, in Kalifornien, dem „land of sunshine“78, könne ganzjährig Grünfutter angebaut werden, während die Sonne gleichzeitig keimtötend wirkte. Das für die Geflügelhaltung gleichermaßen günstige Klima Kaliforniens und Palästinas, auf dessen Vorzüge Trietsch früh hingewiesen hatte, trug offenbar wesentlich mit zum erstarkten Interesse der ZO bei.79 Ihre Bemühungen zur Förderung der Geflügelwirtschaft blieben in den ersten Zwischenkriegsjahren allerdings noch relativ gering. Dies führte mitunter zu Kritik. So beschwerte sich ein gewisser Dr. Alt in der jüdischen Wiener Morgenzeitung, in der auch Trietsch und Soskin gelegentlich veröffentlichten, führende Zionisten wie Ruppin würden der Geflügelzucht nicht genügend Aufmerksamkeit schenken und sie in ihren Publikationen als wenig rentabel darstellen.80 Die Kritik von Alt, der selbst ein Geflügelzüchter aus Österreich war, dürfte Trietsch geteilt haben. Dass man in Ben Schemen eine eigene Abteilung für Geflügelzucht unterhielt, war aus seiner Sicht zu begrüßen. Weshalb man ihr bis Anfang der 1930er Jahre im Vergleich zu anderen landwirtschaftlichen Arbeitsgebieten allerdings ein geringeres Interesse entgegenbrachte, verstand er nicht. Sieht man sich für das Jahr 1925 die Budgets der einzelnen Abteilungen in Ben Schemen an, zeigt sich in der Tat, dass die Geflügelzucht eine untergeordnete Rolle spielte. Während den Mitarbeitenden für die Bereiche Pflanzenzucht und Milchwirtschaft 1040 bzw. 1154 Pfund Sterling zur Verfügung standen, hatte sich die Geflügelzuchtabteilung mit 365 Pfund Sterling im Jahr zu begnügen.81 Besonders der Produktion von Milch und Milcherzeugnissen schenkte die ZO-Leitung über die 1920er Jahre hinaus großes Interesse. Wilkansky, seit 1922 Leiter der wiedereröffneten Versuchsstation, dürfte hier eine zentrale Rolle gespielt haben. Er war von den Chancen der Milchwirtschaft überzeugt und nahm selbst diverse Zuchtversuche an Rinderrassen vor.82 Anhand der Berichte der Zionistischen Exekutive an den Kongress, die bis 1939 vom Hauptbüro der ZO alle zwei Jahre herausgegeben wurden, lässt sich die Entwicklung der Geflügelwirtschaft in ihren Siedlungen rekonstruieren. Ihre zunehmende Bedeutung kam erstmals im Bericht von 1929 ausführlicher zur Sprache. 78 Burbridge,
California Poultry, S. 5. Siehe u. a. Trietsch, Die Rettung der Juden, S. 9; ders., Neue Grundlagen, S. 12. 80 Dr. Alt, „Die palästinensische Geflügelzucht“, in: Wiener Morgenzeitung, 14. 9. 1925, S. 3 f. 81 Bericht der Exekutive der Zionistischen Organisation (1925), S. 230. 82 Kreuzungsversuche fanden zwischen einheimischen Rinderrassen (sog. Libanon-Kuh) und dem leistungsstarken Holstein-Rind statt. Ebd., S. 227. 79
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Dort hieß es, die Geflügelhaltung hätte sich in den letzten zwei Jahren zu einem der rentabelsten Landwirtschaftszweige entwickelt. In fast allen Siedlungen seien Hühnerställe errichtet und reinrassige White Leghorns eingeführt worden.83 Auch der nächste Bericht zeigt, wie Methoden und technisches Inventar aus den USA vermehrt Verbreitung fanden. So wurden in größerer Zahl moderne Inkubatoren verwendet und Impfungen gegen Hühnerpocken und Diphterie verabreicht. Darüber hinaus hatte sich eine Kommission von Expert*innen gebildet, die den Verkauf von Bruteiern kontrollierte.84 Eine solche Professionalisierung, die in vielen größeren kalifornischen Farmen schon vor dem Ersten Weltkrieg eingesetzt hatte, setzte sich in den nächsten Jahren fort. 1933 konnte an den 18. Kongress in Prag berichtet werden, die Geflügelwirtschaft verzeichne weiterhin Fortschritte. Durch die Einführung von Stammbüchern konnte die Legefähigkeit der Hennen gesteigert werden, ein Spezialist für Geflügelkrankheiten wurde engagiert, und neben dem Bau ordentlicher Ställe setzte sich eine rationelle Fütterung durch. Getreide, das als Hauptfutter für die Tiere diente, hatte sich infolge einer Dürre und Mäuseplage allerdings verteuert.85 Trotz einer insgesamt positiven Entwicklung kam es demnach auch zu Rückschlägen, verursacht vor allem durch endemische Infektionen. Die Berichte der Jahre 1935, 1937 und 1939 lassen insgesamt eine positive Entwicklung erkennen. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs, in dessen Folge die Berichterstattung bis 1946 ausgesetzt werden musste, entwickelte sich die Geflügelhaltung zu einem wichtigen und stabilen Faktor der Landwirtschaft.86 Die wachsende Zahl von Geflügel in den jüdischen Siedlungen bei gleichzeitiger Steigerung der Eierproduktion spiegelt diesen Trend. Während man Ende 1934 rund 150.000 Hühner, Enten, Gänse und Truthühner zählte, verdoppelte sich ihre Zahl binnen zwei Jahre auf 300.000.87 1937 waren es bereits 531.000 Tiere, darunter ungefähr 400.000 Hennen. Ihre Gesamtzahl belief sich in Palästina auf rund 2,48 Millionen Vögel (ohne Tauben), woraus ersichtlich wird, dass sich das meiste Geflügel letztlich im Besitz arabischer Bäuerinnen und Bauern befand.88 Die Vögel in den jüdischen Siedlungen, in der Mehrzahl Hühner, hielt man primär wegen ihrer Eier. Die jährliche Eierproduktion nahm ab Mitte der 1930er 83 Bericht der Exekutive der Zionistischen Organisation an den XVI. Zionistenkongreß, London 1929, S. 228 f. 84 Bericht der Exekutive der Zionistischen Organisation an den XVII. Zionistenkongreß, London 1931, S. 277 f. 85 Bericht der Exekutive der Zionistischen Organisation an den XVIII. Zionistenkongreß, London 1933, S. 293, 320. Siehe auch Alfred Bonne, Palästina. Land und Wirtschaft, Berlin 1935, S. 107 f. 86 Zur positiven Entwicklung s. auch „Poultry Industry Progressing“, in: The Palestine Post, 12. 5. 1939, S. 5; „Poultry Industry in Palestine. Development and Future Possibilities“, in: ebd., 23. 2. 1938, S. 7. 87 Report of the Executives of the Zionist Organisation and of the Jewish Agency for Palestine Submitted to the XXth Zionist Congress, Jerusalem 1937, S. 555. 88 „Poultry Industry in Palestine“, S. 7.
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Jahre erheblich zu und stieg von 15 Millionen Eiern (1935) auf fast 50 Millionen (1938).89 Diese Zuwachsraten konnten mit dem steigenden Verbrauch des Jischuv allerdings nicht Schritt halten. 1938 deckten die jüdischen Geflügelhalter*innen lediglich 45 Prozent des Eierbedarfs und 34 Prozent des jährlichen Geflügelfleischkonsums.90 Insgesamt fiel auch der Bedarf an Geflügel überdurchschnittlich hoch aus. Für 1937 berechnete man in Palästina einen jährlichen Fleischverbrauch von 2,8 Kilogramm pro Kopf, während er in Großbritannien 300 Gramm darunterlag. Vor allem Jüdinnen und Juden, die wie die muslimische Mehrheitsbevölkerung kein Schweinefleisch aßen, sorgten für einen hohen Verzehr, der an jüdischen Feiertagen noch zunahm. Stärker hob sich ihr jährlicher Eierkonsum ab. Mit einem Verbrauch von rund 300 Eiern pro Kopf – in Großbritannien waren es damals 158, in Deutschland 114 – verbuchte die jüdische Bevölkerung Palästinas einen überdurchschnittlich hohen Konsum.91 Der große Bedarf an Geflügel stieg durch die 5. Aliyah kontinuierlich, die von 1932 bis 1939 rund 250.000 bis 300.000 Jüdinnen und Juden vor allem aus Mitteleuropa nach Palästina brachte. Ein Großteil der Produkte musste daher – zum Missfallen der arbeiterzionistischen Pionierinnen und Pioniere – im arabischen Sektor gekauft werden. Daneben spielten Importe aus dem Ausland eine wichtige Rolle. Die meisten der eingeführten Produkte stammten aus den arabischen Nachbarländern, besonders aus Ägypten und Syrien, sowie aus Rumänien. Wegen ihrer niedrigen Preise stellten sie eine große Konkurrenz für die sich im Aufbau befindliche jüdische Geflügelhaltung dar, deren Vertreter bei der Mandatsregierung deshalb wiederholt auf eine Erhöhung der Einfuhrzölle drängten.92 Der wachsende Konsum von Geflügeleiern und ‑fleisch in Palästina sicherte eine Rentabilität dieses landwirtschaftlichen Wirtschaftszweigs, die zu einem Umdenken in der zionistischen Leitung führte. Im Verlauf der 1930er Jahre erkannte sie die Relevanz der Geflügelwirtschaft für den Jischuv an, wie ihre Berichte an den Kongress belegen. Neben dem weltmarktabhängigen, auf Export ausgerichteten Zitrusanbau, der neben der Milchwirtschaft ebenfalls Zuwachsraten in der Zwischenkriegszeit verbuchen konnte, reihte sich die Geflügelzucht in die Gruppe der führenden Landwirtschaftszweige des Jischuv ein. Um sie weiter auszubauen und sich von nichtjüdischen Produzent*innen emanzipieren zu können, unterstützte die ZO daher die Gründung von Siedlungen, in denen die Haltung von Geflügel eine wichtigere Rolle spielte. Als nach achtjähriger Pause wegen fehlender Mittel 1935 neue Siedlungen in Judäa und der Scharon-Ebene gegründet werden konnten, legte man ihnen das Prinzip einer ,gemischten Wirt89 Bericht der Exekutive der Zionistischen Organisation (1935), S. 385; Bericht der Exekutive der Zionistischen Organisation (1939), S. 356. 90 Bericht der Exekutive der Zionistischen Organisation (1939), S. 373. 91 Alle Angaben für das Jahr 1937 stammen aus „Poultry Industry in Palestine“, S. 7. Der jährliche Eierkonsum liegt heute in Deutschland bei rund 240 Eiern. 92 Bericht der Exekutive der Zionistischen Organisation (1939), S. 374.
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schaft‘ zugrunde.93 Die Familien wurden mit einer Milchkuh, 50 Stück Geflügel und 10 Dunam bewässerten Boden ausgestattet, der dem Orangenanbau und Gemüsebau vorbehalten blieb. Wie Trietsch schon früher gefordert hatte, ging man allmählich dazu über, die Siedlungseinheit pro Familie zu reduzieren. Mit 15 bis 18 Dunam, einschließlich des bewässerten Bodens, lag die Gesamtfläche allerdings weiterhin deutlich über seinen Forderungen.94 Gerade die Geflügelwirtschaft eignete sich für die Nutzung kleinerer Flächen. Wie Trietsch unterstrich auch die Zionistische Exekutive in ihren Berichten, die Geflügelhaltung setze keine größere Bodenfläche voraus. Ein weiterer Vorzug war ihr zufolge darin zu sehen, dass sich keine schwere körperliche Arbeit mit ihr verband, wodurch auch ältere Personen für die Haltung von Geflügel in Frage kamen.95 Da unter den Einwander*innen der 5. Aliyah viele ältere Personen waren, worunter man damals gemeinhin Frauen und Männer über 35 Jahre zählte, stieg die Geflügelhaltung somit zu einem neuen wichtigen Betätigungsfeld auf. In den Siedlungen der ZO bildete sie vorerst jedoch nur einen Nebenverdienst. Das Modell der kalifornischen Eierfarmen, in denen die Haltung von Geflügel als Haupterwerbszweig fungierte, fand erst ab Ende der 1930er Jahre in die Siedlungspläne der ZO Eingang. Die 1933 nach den Plänen von Trietsch errichtete Siedlung Ramot HaShavim – das erste ,deutsche Eierdorf ‘ in Palästina – diente ihr als Vorlage.
7.3 Theorie und Praxis: Die Anfänge von Ramot HaShavim Der langgehegte Wunsch von Davis Trietsch, erneut nach Palästina auszuwandern und am Aufbau des Landes mitzuwirken, wuchs Ende der 1920er Jahre. Wie Briefen zwischen ihm und Ernst Herrmann zu entnehmen ist, drängte es ihn regelrecht nach Palästina. Für sich und seine Familie hatte er schon in früheren Jahren keine Zukunft mehr in Deutschland gesehen. Trietschs Vertrauen in die erste deutsche Republik, die ihren jüdischen Bürgerinnen und Bürgern in Artikel 109, 128 und 136 der Weimarer Reichsverfassung erstmals eine vollumfängliche Gleichberechtigung zusagte, dürfte nicht sonderlich groß gewesen sein.96 Wie Herrmann, der sie im August 1923 mit einer „Karre“97 verglich, die mehr schlecht als recht vorankam, 93 Zum „mixed farming“ siehe Halpern/Reinharz, Zionism and the Creation of a New Society, S. 200 f. 94 Bericht der Exekutive der Zionistischen Organisation (1935), S. 341 f. 95 Bericht der Exekutive der Zionistischen Organisation (1937), S. 555; Bericht der Exekutive der Zionistischen Organisation (1939), S. 373. 96 Andreas Reinke, „Jüdisches Krisenbewusstsein in den Jahren der Weimarer Republik“, in: Arno Herzig/Cay Rademacher (Hg.), Die Geschichte der Juden in Deutschland, Bonn 2008, S. 188–195, hier S. 188. 97 Ernst Herrmann an Rudolf Sundermann, 22. 8. 1923. Archiv des Open Museum Tefen. G. F. 0440/3.
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ehe sie gegen die Wand krachen würde, setzte er offenbar wenig Hoffnungen in die junge Republik. Zwei Monate nach dieser pessimistischen Einschätzung kam es in Nürnberg und Berlin zu antisemitischen Ausschreitungen, die über die deutsche Tagespresse hinaus für Bestürzung sorgten. Im Vorfeld des sogenannten Hitler-Putschs griffen in Nürnberg am 5. November Mitglieder des Jugendbunds der NSDAP jüdische Passant*innen an, drangen gewaltsam in Wohnungen und Geschäfte von Jüdinnen und Juden ein, die dabei mitunter schwer verletzt wurden.98 In Berlin wiederum ereigneten sich am 5. und 6. November gewaltsame Übergriffe, die besonders im Scheunenviertel für Angst und Schrecken sorgten. In dem ärmlichen Wohngebiet, in dessen Nähe Trietsch aufgewachsen war, lebten viele jüdische Kleinhändler und Handwerker aus Osteuropa mit ihren Familien. Als am Morgen des 5. November vor dem Arbeitsamt in der Alexanderstraße mehrere tausend Arbeitslose für ein Unterstützungsgeld anstanden, teilte man ihnen dort mit, keine Gelder mehr ausgeben zu können. Dies sorgte für große Entrüstung, auch weil der Brotpreis zuvor auf 140 Milliarden Reichsmark festgesetzt worden war.99 Nationalsozialistische Agitatoren, die sich zeitgleich einfanden, wussten die Verzweiflung der Hungernden infolge der Hyperinflation für sich zu nutzen. Sie brachten das Gerücht in Umlauf, die „Galizier“100 aus dem Scheunenviertel hätten das Notgeld für die Arbeitslosenfürsorge kurzerhand aufgekauft. Daraufhin zogen viele der arbeitsuchenden Frauen und Männer in bewusster Begleitung gewaltbereiter Nationalsozialisten in das Viertel, wo es unter Rufen wie „Tötet die Juden!“101 zu Plünderungen und Misshandlungen kam. Die Überfälle griffen auch auf das Stadtzentrum über, wo nationalsozialistische Überfallkommandos mitten am Tag Passantinnen und Passanten beleidigten, ausraubten, entkleideten und verprügelten, von denen sie glaubten, sie seien jüdisch. Die Ausschreitungen, die von langer Hand geplant waren, sorgten vor allem unter jüdischen Berlinerinnen und Berlinern für Fassungslosigkeit. Was sie besonders bestürzte, war das zögerliche Eingreifen der Polizei. Zeugenberichten zufolge griff die Schutzpolizei erst am zweiten Tag systematisch durch. Zu Beginn der dreitägigen Unruhen waren Jüdinnen und Juden, besonders die hilflosen Bewohner*innen des Scheunenviertels, der aufgebrachten Menge schutzlos ausgeliefert. „Antisemitische Exzesse in Deutschland“, in: Jüdische Rundschau 28 (1923), Nr. 95, S. 554.
98
99 „Der unmögliche Brotpreis. Ein Brot 140 Milliarden?“, in: Berliner Tageblatt, 5. 11. 1923, S. 3;
David Clay Large, „,Out with the Ostjuden‘. The Scheunenviertel Riots in Berlin, November 1923“, in: Christhard Hoffmann/Werner Bergmann (Hg.), Exclusionary Violence. Antisemitic Riots in Modern German History, Ann Arbor 2002, S. 123–140. 100 „Die judenfeindlichen Ausschreitungen in Berlin“, in: Jüdische Rundschau 28 (1923), Nr. 96, S. 557–559, hier S. 557. 101 „Berlin unter dem Hakenkreuz. Die Pogrome im Scheunenviertel“, in: Wiener Morgenzeitung, 7. 11. 1923, S. 1. Zur Berichterstattung aus Wien s. Patrice G. Poutrus, „Die antisemitischen Ausschreitungen im Berliner Scheunenviertel 1923. Zur Berichterstattung der Wiener Tagespresse“, in: S. I. M. O. N. – Shoah: Intervention, Methods, Documentation 2 (2015), Nr. 2, S. 56–72.
280
7. „Die Rettung der Juden im Aufbau Palästinas“
Die Ereignisse rund um die „Pogrome im Scheunenviertel“, wie mehrere Zeitungen titelten, dürften Trietsch in seinen zionistischen Zielen bestärkt haben. Auch die Redaktion der Jüdischen Rundschau war angesichts der Übergriffe schockiert, die sich nicht irgendwo in Osteuropa, sondern vor der eigenen Haustür zugetragen hatten. Sie sprach von einer „Schicksalsstunde“ und forderte andere jüdische Gruppen dazu auf, gemeinsam „das deutsche Judentum als kraftvollen Organismus wieder aufzubauen.“102 Auch Trietsch hatte sich früh für eine Zusammenarbeit mit nichtzionistischen Akteur*innen stark gemacht, allerdings im Hinblick auf Palästina. Initiativen zur Verbesserung der Lage von Jüdinnen und Juden in Deutschland waren für ihn nicht von vergleichbarem Interesse, weswegen ihn der Aufruf zum Aufbau eines kraftvollen Judentums in Deutschland nicht erreicht haben dürfte. Wie die meisten führenden Zionisten in der ZVfD der 1920er Jahre hing Trietsch der sogenannten palästinozentrischen Richtung an. Im Sinne der Resolution von Posen verstanden Zeitgenoss*innen darunter das Bestreben, sich selbst in Palästina niederzulassen. Zwischen ideologischer Rhetorik und gelebter Praxis bestand allerdings oft ein großes Spannungsfeld. Bei den meisten Zionistinnen und Zionisten blieb es bis 1933 bei einer Absichtserklärung, die sich als deklamatorisch erwies. In Zahlen ausgedrückt wanderten von 1920 bis 1932 lediglich 3306 deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger nach Palästina aus.103 Da mehrere von ihnen das Land wieder verließen, fiel die Zahl der sich dauerhaft Niedergelassenen noch geringer aus. Dem Historiker Daniel Fraenkel zufolge emigrierten bis 1932 etwas weniger als 3000 deutsche Jüdinnen und Juden, die fast alle zionistisch motiviert gewesen sein dürften.104 Sie stellten damit eine Minderheit gemessen an der Gesamtzahl der organisierten Zionistinnen und Zionisten in Deutschland dar, die sich in der Zwischenkriegszeit aus rund 20.000 ZVfD-Mitgliedern speiste. Bedenkt man außerdem, dass einige Ausgewanderte wie Trietsch nicht als Mitglieder der ZVfD gelistet waren, sich selbst aber als Zionist*innen verstanden, so ist die Gesamtzahl der ZO-Anhänger*innen noch niedriger anzusetzen.105 Trietsch, der von 1906 bis 1908 bereits in Palästina gelebt hatte, stach somit hervor. Die meisten deutschen Zionistinnen und Zionisten waren nicht bereit, ihr gewohntes Leben für eine unsichere Zukunft aufzugeben.106 Selbst Kurt Blumen102 „Die Schicksalsstunde des deutschen Judentums“, in: Jüdische Rundschau 28 (1923), Nr. 96, S. 557. 103 Hagit Lavsky, The Creation of the German-Jewish Diaspora. Interwar German-Jewish Immigration to Palestine, the USA, and England, Berlin u. a. 2017, S. 67; dies., Before Catastrophe, S. 104. 104 Daniel Fraenkel, „Die Reaktion des deutschen Zionismus auf die nationalsozialistische Verfolgungspolitik“, in: Schatz/Wiese, Janusfiguren, S. 303–314, hier S. 304. In der Literatur wird gemeinhin von 3000 Auswander*innen gesprochen. Mordechai Eliav gibt dagegen ca. 2000 Zionist*innen an, die bis 1933 emigrierten. Ders., „German Jews’ Share in the Building of the National Home in Palestine and the State of Israel“, in: The Leo Baeck Institute Year Book 30 (1985), Nr. 1, S. 255–263, hier S. 256. 105 Zur Zahl der ZVfD-Mitglieder siehe Poppel, Zionism in Germany, S. 176 f. 106 Albrecht Spranger, „Theodor Zlocisti (1874–1943): Ein deutscher Zionist in Palästina“, in: Gebhard/Hamann, Deutschsprachige Zionismen, S. 209–221, hier S. 209.
7.3 Theorie und Praxis
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feld, einer der leidenschaftlichsten Vertreter des Palästinagedankens, ließ sich erst nach der Wahl Adolf Hitlers (1889–1945) zum Reichskanzler in Palästina nieder.107 Trietsch dagegen zog seine Emigration seit Beginn der 1920er Jahre ernsthaft in Erwägung, musste sie wegen finanzieller Engpässe aber immer wieder verschieben. Nachdem er den Großteil seiner Vermögenswerte in der Inflation verloren hatte, war seine Familie auch in späterer Zeit mitunter von einer akuten Geldnot betroffen. Damit stand sie nicht allein da. Viele Angehörige der Mittelschicht, die ihr Vermögen nicht in Sachwerten angelegt hatten, gerieten durch die Hyperinflation in akute Bedrängnis. Dem Historiker Andreas Reinke zufolge waren ihre Einkommensverhältnisse in der Weimarer Republik zudem starken Schwankungen unterworfen, wodurch viele selbst in den Jahren der wirtschaftlichen Stabilisierung in die Armut abrutschten.108 Im März 1932 gelang es Trietsch schließlich, nach Palästina auszuwandern. Das Land wurde für ihn damit von einem abstrakten Sehnsuchtsort zu einer realen Lebensoption. Seiner Emigration waren monatelange Verhandlungen mit dem EsraVerein vorausgegangen, der die Kosten der Auswanderung schließlich übernahm. Der Verein hatte ihm schon in früheren Jahren Geld geliehen und erklärte sich im April 1931 erneut dazu bereit, nachdem der KH eine Bürgschaft für Trietsch übernommen hatte.109 Eine entscheidende Rolle spielte hier Blumenfeld, auf den der insolvente Kreditnehmer schon bei ihrem Kennenlernen 1905 „einen ungeheuer sympathischen Eindruck“110 gemacht haben soll. Mit Julius Berger, der mehrere Jahre für den JNF arbeitete, zählte Blumenfeld offenbar zu den wenigen ,offiziellen‘ Zionisten, mit denen Trietsch noch ein gutes Verhältnis verband. Während Berger sein Lebenswerk in der Jüdischen Rundschau öffentlich würdigte, setzte sich Blumenfeld für eine Einigung zwischen Trietsch und dem JNF-Direktorium ein, nachdem es Anfang des Jahres 1928 zu einem Rechtsstreit zwischen beiden gekommen war.111 Auslöser für den Prozess, der sich bis 1931 hinzog, war eine zweidimensionale Reliefkarte gewesen. Trietsch hatte sie 1926 für den JNF zu Propagandazwecken angefertigt, in der die jüdischen Besitzungen in Palästina entsprechend ihrer geografischen Lage originalgetreu eingezeichnet waren.112 Die topografische Karte hob sich damit von älteren Darstellungen ab, in denen die Siedlungen durch verschiedenfarbige Symbole konventionell markiert waren, die keine tiefergehendere visuelle Assoziation hervorriefen. Der JNF ließ die Karte ohne Trietschs Wissen 107 Lavsky,
Before Catastrophe, S. 234. „Jüdisches Krisenbewusstsein“, S. 190 f. 109 Davis Trietsch an die Familie Herrmann, 30.4., 11.6. und 21. 6. 1931. CZA, A104/55; Kurt Blumenfeld an den Esra-Verein, 9. 6. 1931. Ebd. 110 Blumenfeld, Erlebte Judenfrage, S. 37. 111 „Man hat einmal von Davis Trietsch gesagt, daß er nach zehn Jahren immer recht hat, vielleicht ist das etwas übertrieben. Daß er aber viel öfter recht gehabt hat, als man ihm zehn Jahre vorher zugegeben hat, das dürfte feststehen.“ Berger, „Zum fünfzigsten Geburtstag“, S. 2. 112 Davis Trietsch an Richard Lichtheim, 31. 3. 1926. CZA, A104/51. 108 Reinke,
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nachdrucken, woraufhin er den Nationalfonds verklagte. Der mehrjährige Prozess besiegelte endgültig den Bruch zwischen ihm und der ZO-Leitung. Dank Blumenfeld, der Trietsch als einen „alten Vorkämpfer“113 gewürdigt hatte, erhielt er schließlich die Hälfte der Summe. Trietsch, der nicht altersmilde wurde, hatte es wohl auch deshalb auf einen Prozess ankommen lassen, weil er unter großer finanzieller Not litt. Er war auf die Entschädigungszahlung, für die auch Berger eintrat, der sich mit dem JNF ebenfalls überworfen hatte, dringend angewiesen.114 Zu den negativen Auswirkungen der Inflation kamen die spätere Weltwirtschaftskrise und Ausgaben für seine Pflanzmaschine, die ihn existenziell in Bedrängnis brachten. Vor allem die Konstruktion der Maschine und diverse Pflanzversuche schlugen zu Buche. 1929 schrieb Trietsch deprimiert an Herrmann, seine Einnahmen aus Veröffentlichungen und Vorträgen reichten „nicht mal für die Zigarette eines Nichtrauchers.“115 Da er jedoch weiterhin von den Chancen einer maschinellen Umpflanzung überzeugt war, zog es ihn nur noch stärker nach Palästina. Er wollte dort selbst Versuche vornehmen. Als Trietsch seine Pläne im März 1932 realisieren konnte, stand seine Familie vor dem finanziellen Ruin. Davon zeugt der Nachlass Emma Trietschs, in dem zahlreiche Mahnungen, ein Räumungstermin sowie ein Versäumnisurteil gegen ihren Ehemann dokumentiert sind. Am 11. März und damit nur drei Tage vor seiner Ankunft in Palästina sollte die gemeinsame Wohnung am Nürnberger Platz geräumt werden.116 Das Urteil, das wegen Mietrückständen gefällt worden war, konnte jedoch in letzter Minute abgewendet werden. Augenfällig gelang es Emma Trietsch noch, durch den Verkauf privater Wertgegenstände, darunter Briefe zwischen ihrem Mann und Theodor Herzl, rechtzeitig zu zahlen. Gleichzeitig stattete ihr der Gerichtsvollzieher einen Besuch ab, der mehrere Gegenstände pfändete.117 Seine Frau in dieser schweren Situation allein zurückzulassen, dürfte Trietsch ein äußerst schlechtes Gewissen bereitet haben. Er wollte deshalb im August zurück zu ihr nach Berlin, wie er in mehreren Briefen versicherte.118 Aus diesem Vorhaben wurde aber nichts. Vermutlich verfügte er über keine ausreichenden Mittel für eine Rückreise. Auch dürfte er auf ein besseres Auskommen in Palästina gehofft haben, von dem seine Familie vorerst mehr profitieren sollte. So pessimistisch Trietsch in Bezug auf sein altes Leben in Deutschland war, so optimistisch blickte er einer gemeinsamen Zukunft in Palästina entgegen. Nachdem seine Tochter Hannah schon im März 1931 mit anderen jungen Zionist*innen emigriert war, sollte seine 113 Der
Schriftwechsel zum Prozess ist dokumentiert in: ebd., KKL/4251. Trietsch an die Familie Herrmann, 21. 6. 1931. Zum JNF und Berger siehe Stone, „German Zionists in Palestine“, S. 179. 115 Davis Trietsch an Ernst Herrmann, 14. 3. 1929. CZA, A104/5. 116 Hr. Hora an das Wohnungsamt Berlin-Wilmersdorf, 2. 3. 1932; Hora an Davis Trietsch, 10. 3. 1932; Firma Carl. Fr. Fleischer an Davis Trietsch, 7. 7. 1932. JMB 2011/267. 117 Koehler & Volckmar AG an Emma Trietsch, 18. 4. 1932; Emma Trietsch an Gustav Brauns Buchholz, 23. 4. 1932; Übersicht der gepfändeten Gegenstände, 15. 7. 1932. Ebd. 118 Davis Trietsch an Emma Trietsch, 8. 7. 1932. Ebd. 114 Davis
7.3 Theorie und Praxis
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Frau mit den zwei Kindern Judith und Emanuel nachkommen.119 Trietsch selbst trat seine Auswanderung zusammen mit der ältesten Tochter Rachel an. Mit einem Visum für Touristinnen und Touristen, das sie beim Konsulat in Berlin erworben hatten, erreichten die beiden am 14. März Tel Aviv.120 Trietsch, damals 62 Jahre alt, kam zunächst bei der Familie Herrmann unter. Wenige Tage zuvor hatte ihm Amanda Herrmann aus Tel Aviv noch nach Berlin geschrieben, seine bevorstehende Ankunft spräche sich herum und „alle Freunde freu[t]en sich aufrichtig“121. Trietsch verfügte somit über mehrere freundschaftliche Kontakte in Palästina, weshalb ihn nicht nur die Herrmanns bei sich aufnahmen, sondern auch andere Zionist*innen.122 Obwohl er zu diesem Zeitpunkt schon mehrere Jahre nicht mehr in der ZO aktiv war, darf er demnach keineswegs als Einzelgänger betrachtet werden. Stattdessen hatte Trietsch nachweislich mehrere Anhänger*innen in Deutschland und Palästina, darunter Herrmann und Levy, die seinen Plänen beipflichteten. Es bleibt somit zu bedenken, dass die zionistische Bewegung insgesamt äußerst vielschichtig war und es über die ZO hinaus viele weitere Aktivitäten anderweitig organisierter Zionistinnen und Zionisten gab.123 Mithilfe des Esra-Vereins hoffte Trietsch, seine Pläne in Palästina endlich in die Tat umsetzen zu können. Sein Ziel war es, eine Beispielwirtschaft ins Leben zu rufen, deren Grundlage die Hühnerhaltung in Anlehnung an kalifornische Eierfarmen bilden sollte. Ebenfalls durch das kalifornische Modell und den dort wirkenden Luther Burbank beeinflusst, wollte er Baumpflanzungen und Gemüsebau zur Selbstversorgung hinzuziehen.124 Trietsch erhoffte sich davon ein Erfolgsmodell im Kleinen, das sich später im großen Stil anwenden lassen sollte. Wie so häufig waren seine Pläne von einem starken Optimismus geprägt. In Trietschs Vorstellung würde sich das Darlehen vom Esra-Verein, für den er als Vertreter in Palästina arbeitete, „in viel kürzerer Zeit“125 zurückzahlen lassen. Er ging davon aus, durch zusätzliche Einnahmen, vor allem durch Publikationsarbeiten, seine Geldsorgen schnell überwinden zu können. In der Praxis traten die Pläne für seine eigene Ansiedlung allerdings auf der Stelle, wie er dem Esra-Verein im Mai 1932 mitteilen musste.126 Herrmann hatte ihn schon 1929 zu bremsen versucht, als er ihm erklärte, dass nicht hebräischsprachige Texte einen schweren Stand im Jischuv hätten.127 Da Trietsch, wie die 119 Jeremias, Urgrossmutter Hannah, S. 11. Emanuel (Eli) Trietsch (1913–2001) arbeitete später als Wasserbauingenieur in Palästina/Israel, unter anderem an der Seite von Simcha Blass. 120 Machleket ha’aliya veha’avoda shel ha’sochnoot ha’yehudit le’eretz-Israel, Tel Aviv [Einwanderungs‑ und Arbeitsdepartment für Eretz-Israel der Jewish Agency, Tel Aviv], 14. 3. 1932. CZA, S104/5680–40. 121 Amanda Herrmann an Davis Trietsch, 9. 3. 1932. JMB 2011/267. 122 Davis Trietsch an Emma Trietsch, 22. 5. 1932. Ebd. 123 Zur Diversität der Bewegung siehe Gebhard/Hamann, Deutschsprachige Zionismen. 124 Davis Trietsch, Skizze des Vorschlages, o. D. [1931]. CZA, A104/55. 125 Ebd. 126 Davis Trietsch an Siegfried Hirsch, 5. 5. 1932. JMB 2011/267. 127 Ernst Herrmann an Davis Trietsch, 7. 2. 1929. CZA, A104/5.
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meisten Eingewanderten aus Deutschland, Ivrit nicht beherrschte, ließ sich über das Publizieren folglich kein größeres Einkommen erzielen.128 Mit welchen Schwierigkeiten deutschsprachige Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Palästina konfrontiert waren, hat die Kulturwissenschaftlerin Caroline Jessen am Beispiel von Josef Kastein (1890–1946) gezeigt. Kastein, der mit seiner Abhandlung Geschichte der Juden (1931) über Deutschland hinaus bekannt geworden war, floh 1935 nach Palästina. Seine deutschsprachigen Texte, mehrere bloß hektografierte Privatausgaben, bedachte man dort fast gänzlich mit Schweigen.129 Dass Deutsch als Umgangs‑ und Literatursprache im Palästina der Mandatszeit einen schweren Stand hatte, dürfte auch Trietsch zu spüren bekommen haben.130 Bis Ende Januar 1933, womöglich darüber hinaus, war er wegen fehlender Einnahmequellen auf eine Unterkunft bei der Familie Herrmann angewiesen.131 Die Wohnung, die so klein war, dass Gäste gelegentlich zum Schlafen auf das Dach ausweichen mussten, geriet damit entgegen seinen ursprünglichen Plänen vorerst zu einem dauerhaften Domizil. Die sich dramatisch zuspitzenden politischen Ereignisse in Deutschland verliehen Trietschs Tatendrang neue Energie. Wie Hannah Jeremias am 31. Januar 1933 nach Berlin an ihre Mutter schrieb, einen Tag nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, sei ihr Vater „wie immer ulkig optimistisch“132. Sein Elan dürfte sich aus den jüngsten Entwicklungen im politischen Berlin gespeist haben, die seinen alten Plänen zur Einwanderung mittelständischer Familien auf dramatische Weise neue Relevanz verliehen. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten führte 1933 dazu, dass die jüdische Zuwanderung aus Deutschland im Vergleich zu früheren Jahren erheblich anstieg. Hatte ihr Anteil an den Eingewanderten bei nur rund vier Prozent in den Jahren 1926 bis 1932 gelegen, so wuchs er zwischen 1933 und 1936 auf 17 Prozent.133 Die Niederlassung deutschsprachiger Geflüchteter in Palästina umfasste in der Zeit von 1933 bis 1940 rund 60.000 Personen (bis 1945 stieg ihre Zahl auf 90.000), darunter mehrere tausend Jüdinnen und Juden aus der Tschechoslowakei und Österreich.134 Unter ihnen befanden sich viele Zionist*innen. Bis Anfang 1936 kehrten 7000 langjährige ZVfD-Mitglieder Deutschland den Rücken.135 Der Berliner Zionist Hans Sternberg, der sich in der Hachschara verdient machen Zu Trietschs mangelnden Hebräischkenntnissen s. u. a. Trietsch, Bilder aus Palästina,
128
S. 79.
129 Caroline Jessen, „Schwierigkeiten eines zionistischen Schriftstellers. Josef Kastein in Haifa“, in: Siegemund, Deutsche und zentraleuropäische Juden, S. 316–328. 130 Zur deutschen Sprache im Jischuv s. Volovici, German as a Jewish Problem, S. 200–228. 131 Hannah Trietsch [Jeremias] an Emma Trietsch, 31. 1. 1933. JMB 2011/267. 132 Ebd. 133 Krämer, Geschichte Palästinas, S. 214. Die meisten Einwander*innen kamen aus Polen. Von 1919 bis 1936 lag ihr Anteil bei 43 %. Ebd. 134 Chana Schütz, „,Gründlich, pünktlich, Mittagsschläfer‘. Das Erbe der deutschen Juden in Israel“, in: Kotowski, Das Kulturerbe deutschsprachiger Juden, S. 321–327, hier S. 322; Siegemund, „,Die Jeckes‘“, S. 11. 135 Lavsky, Before Catastrophe, S. 234 f.
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sollte, beschrieb sie als eine Gruppe, „die ein grausames Schicksal gezwungen hat, die Träume ihrer Jugend zu verwirklichen.“136 Viele der Eingewanderten hatten trotz ihrer zionistischen Ideale große Schwierigkeiten, sich in Palästina einzuleben. Ihr Festhalten an der deutschen Sprache und Kultur löste im Jischuv Misstrauen und Ablehnung aus, von denen pejorative Bezeichnungen wie „Hitler-Zionisten“137 zeugen. Während die Zionist*innen trotz der diffizilen Umstände in Palästina ihrer Einwanderung einen höheren Sinn beimaßen, konnten sich andere Geflüchtete diesen nicht ins Bewusstsein rufen. Sie hatten es in doppelter Hinsicht schwer, da sie nicht aus ideologischer Überzeugung nach Palästina gekommen waren, sondern aus blanker Not. In ihre Sorgen und Ängste, die sich mit jeder Auswanderung verbinden, mischte sich stärker als bei den Zionist*innen die Trauer über den Verlust der Heimat. Gleichzeitig war die jüdische Zuwanderung bis zur Veröffentlichung des sogenannten Weißbuchs im Mai 1939 nicht ernsthaft eingeschränkt, während sie in den USA durch strikte Quoten limitiert war. Palästina fungierte somit für viele von ihnen nur als eine Zuflucht zweiter Wahl. Zwischen 1931 und 1936 stieg die Zahl der Jüdinnen und Juden in der Folge um mehr als das Doppelte auf 370.000 Personen, die damit schon 27 Prozent der Gesamtbevölkerung stellten.138 Die deutschsprachigen Einwanderinnen und Einwanderer entsprachen nicht dem Idealbild der sozialistischen Zionistinnen und Zionisten, die die politischen, ökonomischen und kulturellen Strukturen des Jischuv maßgeblich prägten. Statt junger Pionier*innen waren die meisten von ihnen ältere Menschen, die keine Erfahrungen in der Landwirtschaft vorweisen konnten. In der Regel hatten sie eine höhere Bildung genossen und waren verheiratet. Geprägt durch bürgerliche Normen legten sie meist einen größeren Wert auf ihre Privatsphäre und hielten am Privatbesitz fest.139 Trietsch wollte dieser Gruppe, der er selbst angehörte, helfen. Die betroffenen Frauen und Männer, die nicht selten als „unpraktische Anzugträger und Schöngeister“140 verhöhnt wurden, trugen ungünstige Startbedingungen im Gepäck. Neben ihrer Sprachlosigkeit, mit der viele von ihnen wegen fehlender Hebräischkenntnisse im wahrsten Sinne des Wortes geschlagen waren, fanden sie im Jischuv eine dynamische Gesellschaft vor, die sich in einem Prozess der Nationenbildung befand. Die Entledigung jeglicher Diaspora‑ und Bindestrichidentitäten wurde dort ebenso eingefordert wie die Überwindung bürgerlicher Lebensstile entsprechend dem Leitbild eines hebräischen Schmelztiegels. 136 Zit.
nach Fraenkel, „Die Reaktion des deutschen Zionismus“, S. 303. Joffe nannte so die deutschen Zionist*innen im Mai 1933. Er sah in ihnen eine Bedrohung für den Jischuv, sollten sie sich nicht integrieren und Enklaven gründen. Gelber, „Deutsch-jüdische Identität in der ,Heimstätte‘“, S. 267. 138 Krämer, Geschichte Palästinas, S. 278. 139 Schütz, „,Gründlich, pünktlich, Mittagsschläfer‘“, S. 322. 140 Anja Siegemund, „Zionistisch, sozialliberal, deutsch. Die Alija Chadascha und die Gestaltung von Stadt, Gesellschaft und Staat“, in: dies., Deutsche und zentraleuropäische Juden, S. 142–167, hier S. 142. 137 Eliezer
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Eine Lösung bot hier die sogenannte Mittelstandssiedlung Ramot HaShavim (hebr. Hügel der Zurückgekehrten) in der Scharon-Ebene. Für sie hatte Trietsch im Oktober 1933 einen Prospekt verfasst, der der Siedlung später ihr spezifisches Gepräge verlieh. Das vierseitige Schreiben, das in 200 Exemplaren gedruckt wurde und vor allem unter deutschen Einwander*innen in Tel Aviv Verbreitung fand, warb für eine landwirtschaftliche Siedlung in Stadtnähe. Sie sollte auf der Haltung von Hühnern basieren. Auf kleinflächigen Eierfarmen von zwei Dunam konnten Familien dort ihr Auskommen finden, wobei als Nebenverdienst zusätzlich zwei Dunam für Gemüsebau und Bienenzucht vorgesehen waren.141 Ramot HaShavim unterschied sich damit von allen bereits bestehenden Siedlungen in Palästina, denen das Prinzip einer sogenannten gemischten Wirtschaft zugrunde lag, was bedeutete, dass auf einer Bodenfläche von rund 15 bis 20 Dunam mindestens zwei Haupterwerbszweige existierten, denen mehrere Nebenerwerbszweige untergeordnet waren. Dass man in Ramot HaShavim dagegen auf kleiner Fläche mit einem einseitigen Fokus auf Hühnerhaltung wirtschaftete, stieß in der ZO und JA auf Kritik. Beide sahen in einer solchen Monowirtschaft eine Gefahr und fürchteten zudem wegen der geringeren Bodenfläche eine mangelnde Rentabilität. Ramot HaShavim rief darüber hinaus in ideologischer Hinsicht Ablehnung hervor. So kritisierten insbesondere die Arbeiterzionistinnen und ‑zionisten, dass man in der Mittelstandssiedlung eine eigene örtliche Kooperative gegründet hatte, ohne sich der Histadrut anzuschließen. Die fehlende politische Bindung an eine Partei erregte Misstrauen, ebenso wie ihr landsmannschaftliches Prinzip. Die Ramot HaShavimer*innen kamen allesamt aus Deutschland. Ihr gemeinsamer Alltag blieb von der deutschen Sprache und Kultur geprägt – ein Umstand, der im Jischuv vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg auf großes Unverständnis stieß. In den ersten Jahren ihres Bestehens erfuhr die Siedlung, wie sich einige Bewohnerinnen und Bewohner enttäuscht erinnerten, daher auch keine Anerkennung oder finanzielle Unterstützung seitens offizieller Stellen.142 Peter Leers, der 1937 mit seiner Frau aus Berlin nach Palästina geflohen war, sah in diesen Strukturen gerade die Vorzüge von Ramot HaShavim. Ihm zufolge sei es den mittelständischen und ungelernten Einwander*innen aus Deutschland, die „im Alter zwischen 40–50 Jahren vom Schreib‑ oder Verkaufstisch gekommen waren“143, gar nicht möglich gewesen, sich eine landwirtschaftliche Existenz in Palästina aufzubauen. Die Landwirtschaftssiedlungen im Jischuv blieben jüngeren Kandidatinnen und Kandidaten vorbehalten, die in der Regel höchstens 35 Jahre alt sein durften.144 Auf eine größere Zahl älterer Einwander*innen, die gleichermaßen landwirtschaftlich arbeiten wollten, war man nicht eingestellt. Da ihre Zahl in den Städten im Laufe des Jahres 1933 rasant anstieg, allen voran in Tel Aviv, zog 141 Kurt Kiewe, „Erinnerungen an den Anfang“, in: Karl Igel, Ramot HaShavim, 1933–1943, hrsg. vom Waad Ramoth Haschawim, Tel Aviv 1943, S. 1–9, hier S. 6 f. StA Ramot HaShavim. 142 Igel, Ramot HaShavim, S. 55; Sonder, Lotte Cohn, S. 116. 143 Peter Leers, Ramoth Hashavim, 1933–1973, Tel Aviv 1974, S. 19. 144 Halpern/Reinharz, Zionism and the Creation of a New Society, S. 205.
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Abb. 7: Transport von White Leghorns. Wie in anderen jüdischen Siedlungen wurde diese Hühnerrasse auch in Ramot HaShavim bevorzugt gehalten, um 1950.
es einige von ihnen aufs Land. Zum einen, weil sie sich dort ein gesünderes und selbstbestimmteres Leben erhofften. Zum anderen fanden sie in den Städten oft keine Arbeit, da sie kein Ivrit sprachen, und es ein Überangebot an Arbeitskräften gab. Die starke Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt führte schließlich dazu, dass mehrere von ihnen in fachfremden Branchen arbeiteten. So war es keine Seltenheit, einen Facharzt aus Deutschland als Taxifahrer anzutreffen.145 Trietsch hatte im Rahmen seiner Gartenstadtagitation wiederholt die Problematik der überfüllten Städte angemahnt, wo das Wohnen durch steigende Mieten noch erschwert wurde. Er richtete seinen Blick daher früh auf das Umland und beteiligte sich zu Beginn lebhaft an den Planungen für Ramot HaShavim, das nördlich von Tel Aviv an einer Landstraße gelegen war. Erich Moses (1896–1944), wie Trietsch ein aus Berlin ausgewanderter Zionist und „engagierter Verfechter der intensiven Wirtschaft auf kleinstem Raume“146, setzte seine langgehegten Siedlungspläne schließlich in die Tat um. Moses, der schon 1926 nach Palästina emigriert war, hatte im Oktober 1933 westlich des Dorfes Kfar Malal 400 Dunam Land erworben. Der Großteil der Fläche war Privatboden, 80 Dunam erwarb er vom JNF.147 Zusammen mit drei anderen deutschen Zionisten streckte Moses die Livnat, „Jekische Lebenswege par excellence?“, S. 198. „Der Siedler aus Deutschland. Psychologisches zu diesem Thema“, in: Jüdische Rundschau 43 (1938), Nr. 4, S. 10. 147 Igel, Ramot HaShavim, S. 13. 145 146
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Kosten für den Bodenkauf vor, in der Annahme, es würden sich genügend Interessent*innen finden. Trietsch nahm an den Besprechungen der Gruppe regelmäßig teil. Wenige Wochen nachdem sein Prospekt vervielfältigt worden war, meldeten sich über 200 Personen.148 Die ersten 91 Siedler*innen bezogen im Sommer 1934 ihre Unterkünfte. Die Zahl an einer Niederlassung Interessierter wuchs kontinuierlich, weshalb man den Kauf weiterer Böden beschloss. Im Jahr 1943 zählte die Siedlung schon 350 Bewohner*innen.149 Mit Ausnahme der Arbeiter und Handwerker besaßen fast alle von ihnen genügend Eigenkapital, meist 1000 bis 1500 Pfund Sterling. Damit fielen sie unter die Kategorie der sogenannten Kapitalisten, denen die Einreise von den britischen Behörden erlaubt worden war. Wie eine Statistik aus dem Jahr 1936 über die früheren Berufe der Ramot HaShavimer*innen zeigt, befanden sich unter den Männern besonders viele Kaufleute, Ärzte und Rechtsanwälte.150 Im Gegensatz zu vielen anderen Siedlungen war Ramot HaShavim, das auch als „Studiertendorf “151 belächelt wurde, akademisch geprägt. Auch die Altersstruktur stach hervor. Einer Statistik von 1943 zufolge war die Mehrheit der Bewohner*innen zwischen 36 und 55 Jahre alt.152 Die Zustände in Ramot HaShavim müssen in den ersten Monaten und Jahren äußerst diffizil gewesen sein. Wie sich Kurt Kiewe erinnerte, einer der vier Gründungsmitglieder, hätte das Land zu Beginn nur aus Sand und Unkraut bestanden. Pflanzungen geschweige denn Wege oder asphaltierte Straßen gab es nicht.153 Nach Abschluss der Bodenarbeiten ging man im Dezember 1933 dazu über, die ersten Hühnerställe zu bauen. Damit man die gelieferten Küken vor Ort versorgen konnte, wurden temporäre Unterkünfte für die Familien errichtet. Bei ihnen handelte es sich um kleine, niedrige Schuppen aus Blech, denen eine Gemeinschaftstoilette und notdürftige Dusche im Freien angeschlossen waren. Während die Frauen für die Aufzucht der Tiere zuständig waren, übernahmen die Männer den Aufbau der eigenen Wirtschaft. Auf Eseln, die in den ersten Jahren das Haupttransportmittel auf den versandeten Wegen bildeten, ritten sie zu ihren Einzelwirtschaften. Sie standen, wie Kiewe bemerkte, in völligem Gegensatz zur früheren behaglichen „5-Zimmerwohnung mit Zentralheizung“154. Trotzdem versuchte man, die neue Lebenssituation mit Humor zu nehmen: „Da saß der stadtbekannte Arzt oder der Notar mit der großen Praxis, der tüchtige Firmenvertreter oder der erfahrene Fabrikant und lachten über den gestrigen Arbeitstag, wie der Kiewe, „Erinnerungen an den Anfang“, S. 6; Leers, Ramoth Hashavim, S. 27. Ramoth Hashavim, S. 122. 150 Ebd. Die Statistik zählte außerdem 2 Apotheker, 1 Buchprüfer, 2 Beamte, 1 Landwirt, 2 Fabrikanten, 1 Nationalökonomen und jeweils 1 Lehrer und Versicherungsangestellten. 151 Arno Ullmann, „Hühnerdorf der Akademiker“, in: Leers, Ramoth Hashavim, S. 39–41, hier S. 40. 152 Igel, Ramot HaShavim, S. 10; Leers, Ramoth Hashavim, S. 122. 153 Kiewe, „Erinnerungen an den Anfang“, S. 7. 154 Ebd., S. 1. 148
149 Leers,
7.3 Theorie und Praxis
289
kluge Herr Rechtsanwalt bald eine Stunde gebraucht hatte, bis er das Huhn gefangen hielt und wie während dessen ,Der Frau Doktor‘ die Suppe anbrannte; nachdem sie vorher eine halbe Stunde mit dem ,Primus‘ [Petroleumkocher] gerungen hatte! […] Und dann diskutierte man, wie weit ein Mensch bei einer Dusche für 8 Familien sauber sein konnte und wie die Glatze des Nachbarn aus der im Freien stehenden Dusche herausragte und in der Abendsonne glänzte!“155
Insbesondere die Anfangszeit gestaltete sich hart und entbehrungsreich in Ramot HaShavim. Die Frauen und Männer, von denen niemand zuvor in der Landwirtschaft gearbeitet hatte, stießen oft an ihre Grenzen. Moses, der unablässig als ein besonnener Berater zugegen gewesen sein soll, bemühte sich, ihnen so gut es ging zur Seite zu stehen. Den ersten Bewohnerinnen und Bewohnern zufolge soll es seine Anwesenheit vor Ort gewesen sein, die den schwierigen Übergang in ein neues Leben maßgeblich erleichterte.156 Trietsch zeigte dagegen keine vergleichbare Präsenz, sondern war bereits mit anderen Projekten zur Gründung weiterer Siedlungen beschäftigt. Vor diesem Hintergrund charakterisierte ihn Peter Leers als „Unbedingtere[n], Schöpferische[n]“157, während sein jüngerer Freund Moses der realere und landeserfahrenere von beiden gewesen sei. Was beide Männer aber einte, war die Forderung nach einer fachlichen Unterweisung. Damit sich die Bewohner*innen langfristig ein gutes Auskommen aus ihren Hühnerfarmen erwirtschaften konnten, sollte ein Experte sie anlernen und begleiten. Ein gewisser Yitzhak Weinmann, der gebürtig aus Russland kam und nur auf Jiddisch kommunizierte, konnte hierfür gewonnen werden. Am Beispiel von Weinmann zeigt sich, dass es auch in Ramot HaShavim ganz konkret Kontakte in die USA gab. So betrieb er eine große Hühnerfarm in den USA mit seinen Eltern, die dorthin in den 1890er Jahren geflohen waren. Weinmann hatte, wie Leers sichtlich stolz bemerkte, „das Fach in den USA nicht nur gründlich gelernt“158, sondern war darüber hinaus in der jüdischen Community von Vineland in New Jersey als Geflügelexperte aktiv. Die Stadt südlich von Philadelphia hatte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem Zentrum für Geflügelwirtschaft entwickelt, in der auch viele jüdische Bürgerinnen und Bürger eine lohnende Beschäftigung fanden.159 Wie Petaluma erregte Vineland das Interesse vieler zeitgenössischer Beobachter*innen, die von der ungewöhnlichen Lebens‑ und Arbeitsweise der dortigen Jüdinnen und Juden berichteten. Neben den personellen Kontakten in die USA ging man in Ramot HaShavim frühzeitig daran, moderne US-amerikanische Geräte einzuführen. Die Bestellungen 1934 dürfte Weinmann initiiert haben. Nachdem die ersten Eintagsküken noch in Palästina gekauft worden waren, wollte man künftig eine eigene Aufzucht betrei155 Leers,
Ramoth Hashavim, S. 30. Kiewe, „Erinnerungen an den Anfang“, S. 5; Leers, Ramoth Hashavim, S. 24. 157 Leers, Ramoth Hashavim, S. 31. 158 Ebd., S. 25. 159 Louis Russo, The Founding of Vineland and its Growth as an Agricultural Center, 1994, abrufbar unter: http://westjersey.org/vland.htm (Zugriff 12. 3. 2022). 156
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7. „Die Rettung der Juden im Aufbau Palästinas“
ben. Dadurch sollte die Siedlung unabhängiger werden, und es ließen sich Kosten sparen. Mit einer Kapazität von rund 16.000 Eiern traf im Januar 1935 ein Inkubator aus den USA ein, in dem die Bruteier ausgebrütet werden konnten.160 Das Besondere an dem Brutapparat der Firma Petersime, deren Zentrale sich damals in Ohio befand, war seine Funktionsweise. 1912 war er als erster elektrischer Inkubator entwickelt worden, ehe er ab den 1920er Jahren in größerer Zahl auf den Markt kam. Der Brutapparat war somit eine äußerst moderne und vermutlich kostspielige Anschaffung, die sich von herkömmlichen Geräten in Palästina unterschied. Neben dem Inkubator, den man 1941/42 durch größere Modelle von Petersime ersetzte, deren Kapazität nunmehr bei 120.000 Eiern lag, erwarb man weitere Technik aus den USA.161 Darunter eine Futtermischmaschine, die Leers zufolge später zu einem Modell für alle im Staat Israel hergestellten Maschinen werden sollte.162 Auch bei der Behausung der Hühner griff man auf US-amerikanische Bauweisen zurück. Bis Ende der 1930er Jahre wurden die Tiere, bei denen es sich ausschließlich um White Leghorns handelte, in Ställen gehalten. Sie bestanden aus zwei Stallungen mit drei Einheiten, in denen insgesamt 600 Hühner Platz fanden.163 Damit ihre Zahl erhöht werden konnte, was sich auf einer Gesamtfläche von nur zwei Dunam pro Einzelwirtschaft nicht ohne Weiteres bewerkstelligen ließ, ging man von der Bodenhaltung zur Käfighaltung über. Als Vorbild dienten Legebatterien, die einige Ramot HaShavimer*innen beim Aufbau der Siedlung Kfar Shmaryahu kennengelernt hatten. Die Siedlung, die 1937 von deutschen Jüdinnen und Juden nördlich von Tel Aviv gegründet worden war, widmete sich ebenfalls der Geflügelwirtschaft.164 Ihre Bewohnerinnen und Bewohner verwandten dort von Beginn an Hühnerbatterien aus den USA, in denen sie jeweils 200 Tiere hielten. Von der US-amerikanischen Käfighaltung begeistert, führte ein gewisser William Stern die Methode auch in Ramot HaShavim ein. Stern, der Verwandte in New York hatte, reiste außerdem 1951 in die Vereinigten Staaten, „um die Hühnerwirtschaft einmal drüben genauestens zu studieren.“165 Sein Interesse galt vor allem den neuesten Legebatterien aus Kalifornien. Während einer Reise in den westlichen Bundesstaat machte er zahlreiche Fotos und Notizen, um aus der Vielzahl der Hühnerbatterien die für Ramot HaShavim geeignetste zu finden. Im Auftrag der britischen Mandatsregierung war schon zu Beginn der 1940er Jahre eigens eine Kommission nach Kalifornien entsandt worden, die eine größere Zahl von Legebatterien nach Palästina einführte. Da ihr Bau allerdings viel Material voraussetzte, das in Palästina nicht vorhanden war, entschied sich Stern für ein anderes Modell. Bei diesem handelte es sich um zweizellige Batterien, die robust und einfach in der 160 Leers,
Ramoth Hashavim, S. 61. S. 62. 162 Igel, Ramot HaShavim, S. 28; Leers, Ramoth Hashavim, S. 53. 163 Leers, Ramoth Hashavim, S. 75. 164 Zu Kfar Shmaryahu, ebenfalls eine sog. Mittelstandssiedlung: Trezib/Sonder, „The Rassco“, S. 8. 165 Leers, Ramoth Hashavim, S. 43. 161 Ebd.,
7.3 Theorie und Praxis
291
Abb. 8: Käfighaltung nach US-amerikanischem Modell in Ramot HaShavim, um 1950.
Bedienung waren. Auf seinem Hof konnte Stern damit schon 2600 Legehennen halten, wobei man in Ramot HaShavim später zur sogenannten Einzelzelle überging, da sie eine höhere Legeleistung gewährleistete und dem Federpicken wortwörtlich einen Riegel vorschob. Die Übernahme US-amerikanischer Techniken verlief somit nicht im Sinne einer Eins-zu-eins-Übertragung, sondern wurde entsprechend den örtlichen Gegebenheiten ausgewählt, geprüft und im Einzelnen angepasst. Mehrere Vertreter der palästinensischen Regierung und Hebräischen Universität kamen nachweislich nach Ramot HaShavim, um die dort gebräuchlichen Käfige wiederum für sich zu inspizieren.166 Dass die Bewohnerinnen und Bewohner Ramot HaShavims frühzeitig auf Erkenntnisse aus den USA zurückgriffen, ist besonders vor der großen Konkurrenz arabischer Produzent*innen zu sehen. Wie ein Bewohner zehn Jahre nach Gründung der Siedlung bemerkte, musste die eigene Produktion von Beginn an solcherart professionalisiert und intensiviert werden, dass sie gegen die preisgünstigen Produkte aus dem In‑ und Ausland bestehen konnte.167 Das in der Praxis erprobte Wissen aus den Vereinigten Staaten, „dem Hauptlande der intensiven Hühnerwirtschaft“168, wie einer der ersten Ramot HaShavimer betonte, bot daher eine überaus wichtige Ausgangsbasis. Durch die Einführung leistungsfähiger Hühnerrassen und eine moderne, rationale Arbeitstechnik gelang es in Ramot HaShavim, die Produk166 Ebd.,
S. 44. Igel, Ramot HaShavim, S. 35. 168 Ebd. 167
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7. „Die Rettung der Juden im Aufbau Palästinas“
tion schon in frühen Jahren beachtlich zu steigern. Inmitten des Zweiten Weltkriegs besaß die Siedlung rund 35.000 Legehennen, die verteilt auf 65 Einzelwirtschaften etwas mehr als drei Millionen Eier legten.169 Die von ihnen über den Eigenbedarf hinaus produzierten Hühnereier waren gemessen an der Gesamtproduktion des jüdischen Sektors besonders in den ersten Jahren beträchtlich. Je mehr allerdings auch andere jüdische Siedlungen auf die Geflügelwirtschaft umstiegen, desto kleiner geriet ihr Anteil an der Produktion im Jischuv. Kamen 1933/34 noch rund 1,5 Millionen Eier von insgesamt elf Millionen aus Ramot HaShavim, waren es 1941/42 nur noch knapp drei Millionen bei einer Gesamtzahl von 42 Millionen.170 Die ersten Verbindungen Ramot HaShavims in die USA dürfte Trietsch mit großem Wohlwollen registriert haben, war er für die Nutzbarmachung von Wissen, das sich andernorts bewiesen hatte, doch stets eingetreten. Ein weiteres zentrales Element, das er in seinem Prospekt für die Siedlung festgehalten hatte, waren ihre genossenschaftlichen Strukturen. Demzufolge handelte es sich bei den Einzelwirtschaften zwar um Privatbesitz, der mit Eigenkapital erworben und auf eigenes Risiko betrieben wurde. Sie waren aber, wie ein Bewohner hervorhob, keine bloßen Individualwirtschaften.171 Ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl und Prinzip der gegenseitigen Hilfe waren für Ramot HaShavim charakteristisch. Darüber hinaus wurde im Mai 1934 die Kooperative El-Al ins Leben gerufen, die – nicht zu verwechseln mit der israelischen Fluggesellschaft – für den Erfolg der Siedlung besonders in der Anfangszeit entscheidend war. Als eine Einkaufs‑ und Verkaufskooperative griff sie den unerfahrenen Siedler*innen unter die Arme, indem sie alle wichtigen Facharbeiten übernahm. Unter anderem waren das die Brut und Aufzucht der Jungtiere, die Bereitstellung von Mischfutter und technischem Gerät sowie der Verkauf von Eiern und Fleisch. Außerdem koordinierte sie die fachliche Beratung durch ausgewiesene Experten. Den Ramot HaShavimer*innen blieb dadurch nur die Fütterung, das Einsammeln der Eier und das Säubern der Ställe bzw. Käfige.172 Auf externe Arbeitskräfte griff man in den Einzelwirtschaften nicht zurück. Im Jahr 1939 wurde außerdem eine eigene Kreditkooperative gegründet, die, wie El-Al, auf Mitgliedseinlagen beruhte. Damit sie ausreichende Anleihen ausgeben konnte, mussten ihr alle Siedler*innen beitreten, auch diejenigen, die vorerst keinen Kreditbedarf hatten.173 Das Gemeinschaftsleben spielte sich überwiegend im 1940 fertiggestellten Gemeindehaus ab, in dem die Ortsverwaltung und ein eigenes Schiedsgericht tagten sowie Kulturveranstaltungen abgehalten wurden.174 In Gemeindeversammlungen besprach man dort aktuelle Fragen, die das tägliche Zusammenleben betrafen. 169 Die Angaben beziehen sich auf das Jahr 1942/43. C. Z. Kloetzel, „Of Hens and Men“, in: The Palestine Post, 3. 3. 1943, S. 4. 170 Igel, Ramot HaShavim, S. 30. 171 Ebd., S. 26. 172 Leers, Ramoth Hashavim, S. 26 f. 173 Ebd., S. 52. 174 „Town Hall for Ramath Hashavim“, in: The Palestine Post, 15. 1. 1940, S. 2.
7.3 Theorie und Praxis
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Neben eigenen Betreuungseinrichtungen für Kinder beaufsichtigte die munizipale Verwaltung die Einhaltung der Feuerschutzrichtlinien und Bauordnung. Die Ortsverwaltung, die anfänglich noch durch „Kontrollritte auf dem Esel“175 für Aufsehen gesorgt hatte, wurde auf Grundlage einer freiwilligen Anerkennung aller Bewohner*innen gewählt. Eine Gehorsamspflicht ihr gegenüber existierte formal nicht. Ebenso wenig konnten die Siedlerinnen und Siedler, die ihre Grundstücke selbst erworben hatten, im Falle einer Auseinandersetzung zum Verlassen der Siedlung gezwungen werden.176 Leers zufolge sei es aber nur selten zu größeren Streitigkeiten gekommen, da die „wort‑ und papiergläubigen ,Jeckes‘“177 – ein bis heute gängiges Klischee in Israel – die Regeln der Ortsverwaltung bereitwillig befolgt hätten. Unabhängig von dieser stereotypen Zuschreibung spielte die Herkunft der Ramot HaShavimer*innen in der Tat eine essenzielle Rolle. Sie alle waren aus Deutschland geflohen und wurden in den ersten Jahren durch ein Auswahl verfahren geprüft, wodurch sie einen ähnlichen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Hintergrund aufwiesen.178 Die Siedlung Ramot HaShavim, deren Ortsverwaltung keiner politischen Partei angehörte, fiel demzufolge weder in die Kategorie eines Kibbuz noch in die eines Moshav. Ihre Bewohnerinnen und Bewohner definierten sich stattdessen als ein Kfar Shitufi, also ein landwirtschaftliches Dorf, das auf einer gemeinschaftlichen Basis fußte. Wie in einem Moshav blieb der Privatbesitz in den Einzelwirtschaften gewahrt, allerdings ohne einer parteipolitischen Disziplin zu unterliegen. Die Siedlung mit ihrer eigenen Kooperative, die nicht an die An‑ und Verkaufsinstitutionen der Histadrut angeschlossen war, glich damit am ehesten einer Moshava.179 Die bürgerlich-akademische Herkunft der Ramot HaShavimer*innen ließ sie im vorstaatlichen Israel eigene Wege gehen. So bauten sie sich vergleichsweise komfortable Einfamilienhäuser, die ihrem Wunsch nach Privatsphäre und Häuslichkeit entsprachen. Aller Kritik zum Trotz entwickelte sich ihr Dorf zu einer prosperierenden Siedlung, die zu einem Vorbild für andere mittelständische Gründungen avancierte.180 Karl Igel, einer der ersten Bewohner, bemerkte im Fazit seiner Darstellung zum zehnjährigen Bestehen Ramot HaShavims: „Man stelle sich unsere damalige Situation vor. Wir kamen ins Land mit falschen oder gar keinen Vorstellungen von seinen Bedingungen, waren sämtliche Städter ohne Gewöhnung an körperliche Arbeit, und kamen aus einem Milieu bürgerlicher Lebensweise. Hätte man uns angeboten, große Bodenflächen zu bearbeiten, so wären wir davor zurückgeschreckt. Und mit Recht. Wir wissen heute, dass die Mehrzahl diese Arbeit nicht hätte leisten können. Die Folge wäre gewesen, dass ein großer Teil entweder an seiner Fähigkeit zu 175 Leers,
Ramoth Hashavim, S. 84. S. 130. Zum Prinzip der Freiwilligkeit siehe auch Oren, „The Kfar Shitufi“, S. 248. 177 Zit. nach Ullmann, „Hühnerdorf der Akademiker“, S. 39. 178 Leers, Ramoth Hashavim, S. 127. 179 Siehe auch ebd., S. 124–126. Zu den Merkmalen der Moshavim (nicht zu verwechseln mit den Moshavot) s. R. W. [Robert Weltsch], „Moschaw Owedim“, in: Jüdisches Lexikon (Bd. 4.1 Me-R), Sp. 300 f. 180 Trezib/Sonder, „The Rassco“, bes. S. 10. 176 Ebd.,
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7. „Die Rettung der Juden im Aufbau Palästinas“
siedeln verzweifelt wäre und aufgegeben hätte oder einen großen Teil des Bodens hätte brachliegen lassen. […] Es war richtig, was da getan wurde, da ohne diese Voraussetzungen der Versuch ohne Zweifel missglückt wäre.“181
181 Igel,
Ramot HaShavim, S. 56 f.
8. Das Lebenswerk von Davis Trietsch Ergebnisse und Perspektiven „Für einen Narren und Träumer gehalten zu werden, ist oft ein sicheres Zeichen dafür, daß man auf dem rechten Wege ist. Nur erlebt’s nicht jeder, daß seine Narrheit zur Wirklichkeit wird.“1 Davis Trietsch, Bilder aus Palästina
8.1 Letzte Jahre in Palästina Während sich die Bewohnerinnen und Bewohner von Ramot HaShavim eine neue Existenz aufbauten und schrittweise in ihrem gemeinschaftlichen Dorf einlebten, blieb Davis Trietsch weiterhin auf die Gastfreundschaft anderer angewiesen. Dem Esra-Verein gegenüber hatte er zwar versichert, seine eigene Ansiedlung stünde kurz bevor, doch verzögerte sie sich wieder und wieder.2 Die längste Zeit über wohnte er bei der Familie Herrmann in Tel Aviv, die vorübergehend auch seine drei Kinder aufnahm. Neben Rachel und Emanuel Trietsch war das Hannah Jeremias, die sich dankbar an die gastfreundlichen „Vize Eltern“3 erinnerte. Trietsch kam insgesamt fast zwei Jahre bei ihnen unter. Im Gegensatz zu den Herrmanns, die für gewöhnlich früh zu Bett gingen, arbeitete er oft bis spät in die Nacht. Wie Amanda Herrmann im Dezember 1932 an Emma Trietsch schrieb, sei sie dazu übergegangen, ihrem Gast zur Beruhigung Baldrian zu geben. Trietsch nahm zudem regelmäßig Medikamente ein, vermutlich wegen eines Herzleidens und erhöhten Blutdrucks.4 An die für ihn typische Rastlosigkeit, mit der er seine vielen Projekte vorantrieb, hat sich auch Richard Lichtheim erinnert. Bis zu seiner eigenen Flucht aus Deutschland 1934 lebte Lichtheim nahe des Kurfürstendamms, wo er Trietsch öfter antraf: „Jahrein, jahraus ging er mit […] eine[r] Aktenmappe unter dem Arm. In dieser Mappe trug er Notizen, Pläne, Entwürfe, Statistiken und Zeitungsausschnitte, mit deren Hilfe er seine Projekte bewies und seine Gegner vernichtete. Denn Davis Trietsch war ein Mann der Projekte: sie waren sein Lebensinhalt, und ihre Richtigkeit zu beweisen, war sein Lebensglück.“5 1 Davis
Trietsch, Bilder aus Palästina, 2. Aufl., Berlin 1911, S. 79. u. a. Davis Trietsch an Siegfried Hirsch, 5. 5. 1932. JMB 2011/267. 3 Jeremias, Urgrossmutter Hannah, S. 21. Emanuel Trietsch floh im Februar 1933 nach Palästina. Ebd. 4 Amanda Herrmann an Emma Trietsch, 30. 12. 1932. JMB 2011/267. 5 Lichtheim, Rückkehr, S. 87. 2 Siehe
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8. Das Lebenswerk von Davis Trietsch
Neben seiner Mitarbeit an der Planung von Ramot HaShavim war Trietsch an der Gründung einer weiteren jüdischen Siedlung nahe Tel Aviv beteiligt: die sogenannte Mittelstandssiedlung Tel Litvinsky (Tel HaShomer), die ebenfalls auf die Initiative von Privatpersonen außerhalb der ZO zurückging. Ihre Gründer waren die Brüder Emil und Moshe Litvinsky aus Tel Aviv, die die Siedlung 1934 im heutigen Ramat Gan errichten ließen.6 Das der Siedlung zugrundeliegende Konzept war das einer Gartenstadt, für dessen breitere Rezeption im Zionismus Trietsch den Grundstein gelegt hatte. Wie es in dem von ihm verfassten Prospekt mit dem verheißungsvollen Titel Die Erste Wirkliche Gartenstadt bei Tel Aviv hieß, sollte Tel Litvinsky „alle Annehmlichkeiten von Stadt‑ und Landleben in sich vereinen.“7 Entsprechend seiner Heimstätten-Agitation war den Bewohner*innen bei ihrer Ankunft eine fertige Heimstätte von rund 1000 m2 zur Verfügung zu stellen, auf der sie Obst‑ und Gemüsebau, Milchwirtschaft und einen kleinen Hühnerhof betreiben konnten. Die bezugsfertigen, vollständig bepflanzten Parzellen sollten eine Selbstversorgung garantieren, wobei die Familien, angeleitet durch Sachverständige vor Ort, auch über den Eigenbedarf hinaus produzieren würden. Eine besonders hohe Rentabilität ließ sich laut dem Prospekt von sogenannten Eierfarmen erwarten, die genossenschaftlich zu organisieren waren.8 Musterbetriebe, eine fachliche Beratung und moderne Geräte sollten die Bewohnerinnen und Bewohner, die hauptberuflich nicht in der Landwirtschaft arbeiteten, bei diesem Unternehmen unterstützen.9 1936 lebten rund 200 Personen in Tel Litvinsky. Die meisten von ihnen kamen aus Deutschland, waren akademisch ausgebildet und verfügten über ausreichend Eigenkapital.10 Mehrheitlich älter als 30 Jahre, glichen sie in ihrer sozialen Herkunft den Bewohner*innen Ramot HaShavims, weshalb Trietsch auch ihnen die Geflügelwirtschaft als einen lohnenden Erwerbszweig nahelegte.11 Dank der Kapitalkraft der Litvinsky-Brüder hoffte er, seine langgehegte Vision einer autarken Gartenstadt, die nicht bloß ein Vorort von Tel Aviv sein würde, endlich in die Realität umsetzen zu können. Seine positive Erwartungshaltung wurde jedoch jäh erschüttert, als es zwischen ihm und den Litvinskys zum Bruch kam. Die Ursache hierfür lässt sich nicht mehr klären. Hannah Jeremias zufolge sei einer der beiden Brüder „ebenso reich wie geizig und unzuverlässig“ gewesen, weshalb sich ihr Vater „bitter enttäuscht“12 von dem Projekt zurückgezogen hätte. Eine Zukunft als ideale Gartenstadt sollte Tel Litvinsky nicht beschieden sein. Die Siedlung mit rund 1800 6 Shlomo Nakdimon, „The Lost City of Tel HaShomer“, in: Ynetnews, 6. 12. 2006, abrufbar unter: https://www.ynetnews.com/articles/1,7340,L-3261917,00.html (Zugriff 12. 3. 2022). 7 Davis Trietsch, Die Erste Wirkliche Gartenstadt bei Tel Aviv, Tel Aviv [1933], S. 6. 8 Ebd., S. 20, 22. 9 Ebd., S. 1, 9, 14, 16. 10 „Neueste Wirtschaftsnachrichten aus Erez Jisroel“, in: Der Israelit 77 (1936), Nr. 18, S. 8. Siehe außerdem „Tel Litwinsky“, in: Palästina 17 (1934), Nr. 6–7, S. 290 f. 11 Zum Aufbau der Siedlung, die entsprechend einer Gartenstadt aus drei Wirtschaftszonen bestand, siehe „Neueste Wirtschaftsnachrichten aus Erez Jisroel“, S. 8. 12 Jeremias, Urgrossmutter Hannah, S. 24.
8.1 Letzte Jahre in Palästina
297
Dunam wurde im Zweiten Weltkrieg in eine britische Militärbasis umfunktioniert. 1948 ging das Areal, in dem heute die israelische Armee (Zahal) sitzt, schließlich an den Staat Israel über und wurde in Tel HaShomer umbenannt.13 Trietschs Schaffensfreude wurde trotz der frühzeitig beendeten Mitarbeit in Tel Litvinsky nicht eingetrübt. Wie sein Sohn Emanuel Trietsch im März 1935 an eine langjährige Freundin nach Berlin schrieb, sei einer seiner letzten Pläne die „eigene Ansiedlung im Rahmen von Eierfarm[en] auf kleinster Fläche“14 gewesen. Gemeinsam mit seinen Kindern wollte er sich am See Genezareth niederlassen, dessen Landschaft er liebte. Aufgrund eines Angebots hatten sie dazu in Migdal nördlich der Stadt Tiberias 200 Dunam Land erworben. Weil sie den Boden dort jedoch nicht entsprechend gesetzlichen Vorgaben zeitnah bearbeiteten, nahmen ihn Bewohner*innen umliegender arabischer Dörfer in Besitz.15 Weshalb das Projekt scheiterte, muss offenbleiben. Emanuel Trietsch zufolge sei sein Vater „auf einen schlechten Kerl reingefallen“16, durch den sich die Arbeiten immer wieder verzögert hätten. Folgt man seiner und Hannah Jeremias’ Darstellung, dann war ihr Vater für das Scheitern seiner Pläne selbst nie verantwortlich. Dieses Erinnerungs‑ und Erklärungsmuster weist starke einseitige Bezüge auf und sollte daher nicht als eine objektive Darstellung der Ereignisse interpretiert werden.17 Vielmehr ließ sich zeigen, dass Trietsch von mehreren Geschäftspartnern als unzuverlässig beschrieben wurde. Er hatte offenbar kein unternehmerisches Talent, nur wenig Gespür für strategische Allianzen und stahl sich mehrmals aus der Verantwortung, wenn es im Tagesgeschäft zu Problemen kam. In der für ihn typischen Euphorie rechnete er häufig zu optimistisch – und das auch auf Kosten anderer. Die letzten Jahre in Palästina dürften für Trietsch nicht einfach gewesen sein. Sein Alltag ging oft mit Enttäuschungen einher, die vom erträumten zionistischen Ideal abwichen. Wie Albrecht Spranger am Beispiel von Theodor Zlocisti eindrücklich gezeigt hat, der schon 1921 nach Palästina emigriert war, sah sich besonders die Gruppe der deutschen Zionistinnen und Zionisten mit großen Umstellungen konfrontiert. Ihr früherer Lebensstandard unterschied sich meist eklatant von den Verhältnissen im britischen Mandatsgebiet.18 Auch anderen Neueinwander*innen, etwa aus Litauen oder Polen, fiel es nicht immer leicht, sich in Palästina einzuleben.19 Im Gegensatz zu den deutschen Jüdinnen und Juden verfügten viele von ihnen jedoch über Fähigkeiten, die ihre Integration erleichterten. Zu ihnen zählten
13 Nakdimon,
„The Lost City of Tel HaShomer“. Trietsch an Ruth, 17. 3. 1935. JMB 2011/267. 15 Ders. an Ruth, 15. 2 . 1935. Ebd. 16 Ders. an Ruth, 17. 3. 1935. Ebd. 17 Jureit, Konstruktion und Sinn, bes. S. 17 f. 18 Spranger, Theodor Zlocisti, S. 297–309; ders., „Theodor Zlocisti (1874–1943). Ein deutscher Zionist in Palästina“, in: Gebhard/Hamann, Deutschsprachige Zionismen, S. 209–221, hier S. 216 f. 19 Steffen, Jüdische Polonität, S. 372. 14 Emanuel
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8. Das Lebenswerk von Davis Trietsch
unter anderem Hebräisch‑ und Jiddischkenntnisse sowie eine gewisse Flexibilität und Chuzpe, mit der sie sich im Jischuv besser behaupten konnten.20 Trietsch, so sehr er innerlich für den Aufbau des Landes brannte, dürfte angesichts seiner Wohnsituation, des fremden Klimas und des ihm im Alltag nicht vertrauten Ivrit ebenfalls an die Grenzen seines Optimismus gestoßen sein. Zwar hatte er im Gegensatz zu anderen Eingewanderten bereits im Ausland gelebt. Allerdings war er damals ein junger Mann gewesen, den es in die Metropole New York gezogen hatte. In Palästina war er dagegen über 60 Jahre alt, und die Verhältnisse dort unterschieden sich eklatant von einer US-amerikanischen Großstadt. Erschwerend kam hinzu, dass er seine Frau zurücklassen musste. Eigentlich sollte Emma Trietsch nach Palästina nachkommen, doch konnte sie wegen gesundheitlicher Beschwerden ihre Ausreise vorerst nicht antreten.21 Auf Anraten ihres Schwagers Zlocisti, der als Arzt in Palästina arbeitete, wollte sie sich zunächst in Deutschland behandeln lassen.22 Um sie nicht allein auf sich gestellt zu wissen, blieb die jüngste Tochter Judith Trietsch bei ihr in Berlin. Sie schrieb am 6. April 1933 nach Palästina, dass ihre Mutter am Vortag operiert worden sei.23 Nur vier Tage vor der Operation, am 1. April, war es deutschlandweit zu einem antisemitischen Boykott gekommen. Er kann als der erste koordinierte Angriff auf deutsche Jüdinnen und Juden gewertet werden, der sich nach dem Machtantritt Hitlers „vor aller Augen“24 vollzog. Von ihm betroffen waren Einzelhandelsgeschäfte, darunter Kauf‑ und Warenhäuser, sowie Arztpraxen, Banken und Rechtsanwaltskanzleien, deren Inhaber*innen als ,Juden‘ diffamiert wurden.25 Auch in Berlin kam es zu Blockaden und Übergriffen durch SA-Mitglieder. Zu wissen, dass sich seine schwerkranke Frau und die jüngste Tochter zum Zeitpunkt der Ausschreitungen in der Hauptstadt aufhielten, muss Trietsch in große Sorge versetzt haben. Radikale, republikfeindliche Kräfte von links wie rechts hatten die politische Landschaft in Deutschland schon ab Mitte der 1920er Jahre in Aufruhr versetzt. Insbesondere die NSDAP vermochte, mit Ausnahme der Reichstagswahlen von 20 Yoav Gelber, „Deutsch-jüdische Identität in der ,Heimstätte‘. Deutsche Zionisten in Palästina zwischen Distanz, Eigensinn und Integration“, in: Schatz/Wiese, Janusfiguren, S. 263–276, hier S. 265 f. 21 Neben Asthma bronchiale und einem Wirbelsäulenschaden, den sie sich bei einem Unfall als Kind zugezogen hatte, litt Emma Trietsch an einer schweren Gallen‑ und Lebererkrankung. 22 Hulda Zlocisti an Emma Trietsch, 21. 3. 1933. JMB 2011/267. Zu ihren Gebrechen s. auch Amanda Herrmann und Ida Lublinski an Emma Trietsch, 17. 2. 1933 und 19. 4. 1933. Ebd. 23 Judith Trietsch an Davis Trietsch, 6. 4. 1933. Ebd. 24 Zur Sichtbarkeit der NS-Verbrechen im öffentlichen Raum s. die gleichnamige Dokumentation Vor aller Augen. Die Deportation der Juden und die Versteigerung ihres Eigentums. Fotografien aus Lörrach, 1940, hrsg. von Klaus Hesse und Andreas Nachama, Berlin 2011. 25 Heinz Wewer, „ Abgereist ohne Angabe der Adresse“. Postalische Zeugnisse zu Verfolgung und Terror im Nationalsozialismus, Berlin 2017, S. 54. Siehe auch Hannah Ahlheim, „Deutsche, kauft nicht bei Juden!“ Antisemitismus und politischer Boykott in Deutschland 1924–1935, Göttingen 2011.
8.1 Letzte Jahre in Palästina
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1928, wachsende Wahlerfolge für sich zu verbuchen.26 Was Trietsch im Hinblick auf diese Entwicklung dachte, ist nicht überliefert. In seinem Nachlass finden sich keine Einschätzungen oder Reaktionen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass er die wachsende Popularität des Nationalsozialismus als Zionist feinfühlig registrierte. Seine engste Vertraute Emma Trietsch hatte schon 1931 im Vorgefühl einer Katastrophe von schrecklichen Zeiten gesprochen, sollte kein Wunder geschehen.27 Zur Zeugin der an den 1. April anknüpfenden antisemitischen Gewaltverbrechen wurde sie nicht mehr. Emma Trietsch starb am 22. April 1933 im Alter von 56 Jahren im Jüdischen Krankenhaus in Berlin.28 Mit ihrem Tod verlor Trietsch die Mutter seiner Kinder und eine langjährige Gefährtin, mit der er gemeinsame Ideale geteilt hatte. Sie war es, die ihn über Jahre unterstützt und mit außerordentlicher Geduld an seinen zahlreichen Projekten Anteil genommen hatte. Anlässlich ihres Todes schrieb die Jüdische Rundschau, Emma Trietschs „warme Menschlichkeit und Mütterlichkeit [hätten] jeden, der mit ihr in Berührung kam, ergriff[en].“29 Ein mütterliches Wesen attestierte ihr auch Arthur Ruppin, der sie einmal als „gütig-mütterlich“30 beschrieb. Trietsch, der seine eigene Mutter in jungen Jahren verloren hatte, dürfte diesen Charakterzug des Mitgefühls, der Geduld und des intellektuellen Verständnisses besonders geschätzt haben. Darüber hinaus hatte seine Ehefrau ihn für die ,Frauenfrage‘ im Zionismus sensibilisiert. Sein frühes Eintreten für die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt des Jischuv hob Trietsch von anderen männlichen Vertretern ab. Seine und Emma Trietschs Rolle bei der Gründung der ersten Stickereiwerkstätten in Palästina hat die Forschung bislang nicht gewürdigt.31 Dabei zeigt unter anderem das Beispiel des berühmten Modeunternehmens Maskit, dass das Sticken nach 1948 zu einem wichtigen Tätigkeitsfeld für Neueinwanderinnen werden sollte. 1954 gegründet, machte sich das israelische Modehaus die heimischen Stickkünste eingewanderter Jüdinnen zu eigen, die durch sie einen eigenen Lohn bekamen und wesentlich zum Erfolg von Maskit beitrugen.32 Trietsch verfolgte die politischen Entwicklungen in Deutschland mit großer Sorge. Wie er im Frühjahr 1934 bekräftigte, müssten alle deutschen Jüdinnen und Ju26 Eine neuere Studie zur NSDAP bietet Hans-Ulrich Thamer, Die NSDAP. Von der Gründung bis zum Ende des Dritten Reiches, München 2020. 27 Jeremias, Urgrossmutter Hannah, S. 23. 28 Siehe Emma Trietschs Sterbeurkunde, in: JMB 2011/267. Ihr Leichnam wurde in das Krematorium nach Dessau überführt. Anschließend sollte sie in Berlin beigesetzt werden. Die Urne kam dort aber nie an, da Emanuel Trietsch die sterblichen Überreste seiner Mutter mit nach Palästina nahm. Emma Trietsch, die nicht in Deutschland beerdigt werden wollte und sich deshalb zu einer im Judentum verbotenen Feuerbestattung entschloss, liegt heute in Nahariya begraben. Mündliche Auskunft von Uri Jeremias, 28. 5. 2022. 29 „Sterbefall“, in: Jüdische Rundschau 38 (1933), Nr. 33, S. 164. 30 Ruppin, Tagebücher, Briefe, S. 141. 31 Siehe Or, Vorkämpferinnen, S. 134 f.; Dalia Manor, Art in Zion: The Genesis of Modern National Art in Jewish Palestine, London, New York 2005, S. 196. 32 Daniela Segenreich, Zwischen Kamelwolle und Hightech. Starke Frauen in Israel, Wien u. a., 2014, S. 35.
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den, sofern es ihnen möglich sei, umgehend das Land verlassen. Der zionistischen Führung warf er vor, den Betroffenen nicht ausreichend zu einer Niederlassung in Palästina zu verhelfen, obwohl es in Deutschland „lichterloh brennt“33. Dass Chaim Weizmann im Januar 1934 vorschlug, einige tausend Geflüchtete nach Argentinien zu bringen, war für Trietsch unbegreiflich. Seinen „verflossenen Freund“34 forderte er auf, stattdessen die britische Kronkolonie Zypern, die viel näher zu Palästina lag, in Betracht zu ziehen. Von den Möglichkeiten der Insel blieb er in der Zwischenkriegszeit überzeugt. Nach der Balfour-Deklaration hatte sich Trietschs Fokus zwar auf Palästina verlagert, da er dort künftig größere Chancen vermutete. Je mehr das Land jedoch zur Einwanderung vom britischen Mandatar gesperrt wurde, desto mehr rückten Alternativen entsprechend einem Greater Palestine in sein Blickfeld. Sein Vorhaben, weitere Publikationen zu diesem raumgreifenden Themenkomplex zu veröffentlichen, ist vor allem mit Blick auf die politische Entwicklung in Deutschland zu lesen. So kündigte Trietsch im März 1934 an, eine Zusammenschau unter dem Titel Greater Palestine vorzubereiten. Sie sollte alle wichtigen Punkte zum „Nachbarländer-Thema“35 der Jahre 1891 bis 1934 behandeln, die er nun für besonders aktuell erachtete. Das Buch gelangte nie zum Druck. Die wachsende Diskriminierung von Jüdinnen und Juden in Europa ließ die Einwanderung ab 1932 spürbar ansteigen. Von 1932 bis 1935 wuchs die Zahl der jüdischen Bevölkerung Palästinas um 180.000, wodurch ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung von 17 auf 27 Prozent stieg. Waren unter den 816.000 ,Palästinensern‘ 1922 lediglich rund 93.000 Jüdinnen und Juden gewesen, zählten sie 1946 schon etwas mehr als 600.000 bei einer Gesamtbevölkerung von 1,96 Millionen.36 Bis 1939 wanderten jedes Jahr mehrere tausend jüdische Geflüchtete legal nach Palästina ein. Die Einwanderung blieb dabei an die Erteilung von Zertifikaten geknüpft, die die Mandatsregierung halbjährig an die JA und die Zionistische Exekutive ausgab. Wie Adolf Böhm 1937 monierte, sei die Regierung in letzter Zeit dazu übergegangen, noch weniger Einwanderungserlaubnisse zu erteilen als von jüdischer Seite angefordert.37 Da die Wirtschaft Palästinas, besonders der jüdische Sektor, zu dieser Zeit beachtliche Zuwachsraten verbuchte, stieß das Vorgehen bei den Zionistinnen und Zionisten auf großes Unverständnis. Die britische Mandatsmacht warnte dagegen vor den Risiken einer möglichen Rezession, die besonders im Baugewerbe für hohe Arbeitslosenzahlen sorgen würde. Gleichzeitig hatte sich der arabisch-jüdische Konflikt zugespitzt, der 1936 in gewaltsamen Übergriffen arabischer Aufständischer kulminierte, die damit gegen die wachsende Präsenz von
33 Trietsch,
Die Rettung der Juden, S. 6. Ebd., S. 13. Zu Weizmanns Rede: „Die Londoner Tagung des Emigrantenhilfswerks“, in: Jüdische Rundschau 39 (1934), Nr. 10, S. 2. 35 Siehe die Ankündigung, in: Trietsch, Die Rettung der Juden, S. 15. 36 Krämer, Geschichte Palästinas, S. 214 f. Krämers Angaben weichen teilweise voneinander ab, da die Autorin verschiedene Volkszählungen benutzt hat. Vgl. ebd., S. 278. 37 Böhm, Die Zionistische Bewegung (3. Teil), S. 397. 34
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Jüdinnen und Juden in ihrer Heimat protestierten.38 Wenige Monate vor Beginn des Zweiten Weltkriegs erfolgte schließlich eine weitreichende Restriktion der Einwanderung. In den nächsten fünf Jahren, und damit ausgerechnet inmitten eines Krieges, dem Millionen jüdische Zivilist*innen zum Opfer fallen sollten, durften nur mehr maximal 75.000 Jüdinnen und Juden nach Palästina einwandern.39 Die neuen Bestimmungen, mit denen London vor allem auf die Proteste der arabischen Bevölkerung reagierte, führten zu einem größeren Interesse an Zypern. So wandten sich mehrere jüdische Gruppen direkt an den Premierminister, um eine Ansiedlung von Jüdinnen und Juden auf der Mittelmeerinsel zu erwirken.40 Schon 1934 hatten sich nahe Famagusta (Gazimağusa) und Larnaca etwa 250 deutsche Geflüchtete niedergelassen, die dort Zitrusplantagen betrieben. Da sie über ausreichend Kapital verfügten, war ihnen eine Niederlassung gewährt worden. Eine größere Zuwanderung blieb aber weiterhin unerwünscht.41 Auch einige führende Zionisten zeigten Interesse an den deutschen Siedlungen auf Zypern, die bis 1939 rund 400 Menschen Zuflucht boten. Um sich ein genaueres Bild von der Insel zu machen, reiste etwa Ruppin im Mai 1934 nach Larnaca. In seinem Bericht hob er die günstigen Boden‑ und Lebenshaltungskosten hervor, die eine Ansiedlung attraktiv scheinen ließen.42 Aufgrund dieser Vorzüge sahen einige Beobachter eine ernstzunehmende Konkurrentin in Zypern, während die ZO eine Besiedlung der Insel nicht in Betracht zog.43 Damit unterschied sich ihre Haltung von den Debatten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als mehrere ihrer Mitglieder, darunter der ZO-Präsident, mit einer Aktion auf Zypern geliebäugelt hatten. Die illegale Einwanderung der Jahre 1939 bis 1948 zeigt, dass man 35 Jahre später an Palästina als zionistischem Zielland festhielt. Im Zuge der Aliyah Bet gelang es ungefähr 110.000 Jüdinnen und Juden, sich ohne Erlaubnis der britischen Behörden und nicht selten unter Lebensgefahr nach Palästina zu retten.44 Zypern bildete auf ihrer Flucht nur eine Zwischenstation, wo sie mitunter gegen ihren Willen festgehalten wurden. Der traurige Höhepunkt stellte hier die Internierung von über 50.000 jüdischen Geflüchteten dar, die zwischen 1946 und 1949 nach Palästina/Israel zu gelangen versuchten. In 38 Zum ‚Arabischen Aufstand‘ von 1936 bis 1939 siehe Matthew Hughes, Britain’s Pacification of Palestine. The British Army, the Colonial State, and the Arab Revolt, 1936–1939, Cambridge 2019; Carly Beckerman, Unexpected State. British Politics and the Creation of Israel, Bloomington 2020. 39 Zum sog. MacDonald-Weißbuch vom 17. 5. 1939: Jaeger/Tophoven, Der Nahost-Konflikt, S. 49. 40 Panteli, Place of Refuge, S. 112. 41 Ebd., S. 110 f., 116; Ben-Artzi, I karov-rahhok, S. 175–183. 42 Arthur Ruppin, Bericht über meine Reise nach Cypern, 1934. CZA, F38/1228. 43 „Cyprus and Palestine. Our Supplier and Potential Competitor“, in: The Palestine Post, 11. 12. 1935, S. 9; „Cyprus vs. Palestine“, in: ebd., 6. 8. 1934, S. 5; „Jewish Colonies in Cyprus. Palestine Citrus Growers Shift to the Island“, in: ebd., 26. 6. 1934, S. 2. Zur abschlägigen Haltung der ZO-Führung s. auch Ben-Artzi, I karov-rahhok, S. 195–198. 44 „Immigration to Israel: Aliyah Bet 1939–1948“, in: Jewish Virtual Library, abrufbar unter: https://www.jewishvirtuallibrary.org/aliyah-bet-1939-1948 (Zugriff 12. 3. 2022).
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mehreren internment camps wurden sie – unter ihnen tausende Holocaust-Überlebende – unfreiwillig auf Zypern festgesetzt.45 Anders als um 1900 war der Jischuv bei Kriegsbeginn ein in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht ernstzunehmender Faktor in Palästina, dessen Anteil an der Gestaltung des Landes immer sichtbarer ins Gewicht fiel. Für seine politischen Vertreter stand auch deshalb fest, diesen Prozess mit aller Kraft voranzubringen. Aktivitäten auf Zypern standen hierzu im Gegensatz und wurden als Kräftezersplitterung kritisiert. Am Beispiel von Trietschs Greater Palestine ließ sich jedoch zeigen, dass es zu dieser zionistischen Maxime Alternativen gegeben hatte. Organisationen wie die von Israel Zangwill angeführte ITO oder Alfred Nossigs AJKO warben beispielsweise ebenfalls für alternative Ansätze, mit denen sie zeitweise auf Anklang stießen. Das herkömmliche Narrativ vom palästinazentrierten Zionismus konnte besonders am Beispiel der ITO in Frage gestellt werden, deren Mitglieder für eine Besiedlung zum Teil weit entfernter Gebiete eintraten, während sie sich weiterhin als Zionistinnen und Zionisten verstanden. Im Gegensatz dazu entwickelte Trietsch sein Greater Palestine, das er für eine historisch legitimierte Erweiterung des eigentlichen Palästinas ausgab. Sein Landkonzept legt damit exemplarisch das subversive Potenzial von Geschichte frei, mit dem unter Rückgriff auf historische Vorbilder weitreichende Eingriffe in gegenwärtige Strukturen und Systeme legitimiert werden. Die damalige Flexibilität der Grenzen erwies sich dabei als hilfreich. So bildete Palästina vor 1948 kein festumrissenes Territorium, sondern einen Imaginationsraum, der sich je nach Perspektive unterschiedlich bestimmen ließ. Mit dem für ihn typischen Pragmatismus setzte Trietsch hier an, um Zionist*innen wie Nichtzionist*innen für eine gemeinsame Aktion zu gewinnen. Für ihn fungierte Greater Palestine als ein Modell der überparteilichen Integration, welches er immer dann besonders bemühte, wenn sich die Situation für Jüdinnen und Juden in der Diaspora verschärfte und die Einwanderung nach Palästina erschwert war. Für die ZO wurde das Konzept indes nicht bestimmend. Jedoch eigneten es sich einzelne Zionisten an, darunter Selig Soskin, der eine Besiedlung Zyperns zwar ablehnte, in der Palestine Post aber noch 1943 für ein Wiederaufleben des El-Arisch-Plans warb.46 Diskussionen um ein Greater Palestine, für das Trietsch zeitlebens warb, wurden somit auch in späterer Zeit geführt – eine Tatsache, die von der Forschung bislang nicht registriert worden ist. Wie sich zeigte, blieben die territorialen Aushandlungsprozesse nicht auf die Anfangsjahre der ZO beschränkt, sondern reichten zeitlich über die sogenannte Uganda-Debatte hinaus. Gleichzeitig wurden Teile der Sinai-Halbinsel, Dominik Peters zufolge „mehr als nur eine von der Sonne verbrannte Wüste“47, auch nach 1948 als Ansiedlungsgebiete dis45 Panteli, Place of Refuge, S. 139. Siehe auch Morris Laub, Last Barrier to Freedom. Internment of Jewish Holocaust Survivors on Cyprus, 1946–1949, Berkeley 1985. 46 Selig Soskin, „El Arish – 40 Years Ago. First Zionist Territorial Plan“, in: The Palestine Post, 11. 2. 1943, S. 4. 47 Peters, Sehnsuchtsort Sinai, S. 9.
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kutiert. So kam es nach dem Sechstagekrieg 1967 auf der ägyptischen Halbinsel zur Gründung mehrerer Kibbuzim und Moshavim, in denen bis 1982 einige hundert säkulare Israelis lebten.48 Das von Trietsch entworfene Greater Palestine, das in erster Linie unter den deutschsprachigen Zionistinnen und Zionisten auf Anklang stieß, gab zudem Einblicke in das Raumverständnis seiner Anhänger*innen. Wie sich herausstellte, war es maßgeblich durch den Kolonialdiskurs der Zeit geprägt, der tief in die Sprache der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen hineinwirkte. In ihrer Wahrnehmung stellten Palästina und die umliegenden Länder einen dehnbaren Raum dar, dessen Grenzen sich flexibel ziehen ließen. Die Traditionen und Empfindungen der arabischen Bevölkerung traten bei ihnen dadurch in den Hintergrund, auch weil man der rückständigen Region – so die Überzeugung in der Logik des damaligen Diskurses – vielerlei Vorteile brächte. Um diesen Selbstanspruch erheben zu können, stilisierte Trietsch die osteuropäischen Jüdinnen und Juden kurzerhand zu Sendboten einer westlichen Moderne. Die jüdischen Einwander*innen aus den umliegenden Ländern Palästinas, wie dem Jemen, sah er dagegen als künftige Vermittler im Umgang mit der arabischen Bevölkerung. Diese generalisierende Zuschreibung reduzierte beide Gruppen somit auf Stereotype. Im paternalistischen Denken Trietschs gerieten die einzelnen Frauen und Männer kurzweg zu verfügbaren Objekten seiner Fürsorge. Diese summarische Behandlung von Individuen im Sinne einer Objektifizierung, deren Hierarchien die israelische Gesellschaft bis weit nach 1948 polarisieren sollten, schlug sich besonders in der Sprache vieler Zionist*innen nieder. Dass ein Mitstreiter Trietsch zu seiner Pflanzmaschine mit den Worten beglückwünschte, er wolle ja auch Menschen ,umpflanzen‘, ist eines von vielen instruktiven Beispielen.49 Neben dem zeitgenössischen Kontext dieser und anderer Sprachbilder wurden die internen Strukturen der ZO näher analysiert. Dadurch zeigte sich, wie prägend das ,akademische Element‘ in der Organisation wirkte. Die deutschsprachigen Zionisten in führender Position waren fast durchweg Akademiker, wobei auch die erste Generation der osteuropäischen Palästina-Experten eine Universität besucht hatte. Zu ihnen zählten Yitzhak Wilkansky oder der in Białystok geborene Ingenieur Shlomo Kaplansky, die belegen, dass führende Experten mit sozialistischem Hintergrund ebenfalls studiert waren. Trietsch, der nie an einer Universität immatrikuliert gewesen war, fiel hier aus der Reihe. Seine fehlende akademische Bildung trug maßgeblich dazu bei, dass er von der zionistischen Leitung nie als Palästina-Experte anerkannt wurde. Darüber hinaus verschaffte ihm sein streitbares Auftreten früh einen schweren Stand in der ZO, der in der Auseinandersetzung mit Theodor Herzl kulminierte. Auch hier war es nicht allein seine fehlende Universitätsbildung, die zu der berüchtigten 48 Die Stadt al-Arish soll in den israelischen Siedlungsplänen keine zentrale Rolle gespielt haben. Ebd., S. 81–83. 49 Davis Trietsch an Ernst Hermann, 12. 1. 1928. CZA, A396/6.
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Kongressszene 1903 führte. Vorangegangen waren ihr diplomatische Alleingänge, die nach dem gescheiterten Zypern-Projekt verständlicherweise für Verärgerung in Wien sorgten. Warum jedoch allein Trietsch für das Projekt verantwortlich gemacht wurde, erschließt sich nicht. Immerhin hatten Otto Warburg und Adolf Friedemann federführend an seiner Planung mitgewirkt und es finanziert. Da die zwei gutsituierten Berliner Zionisten ansonsten aber im Einvernehmen mit der Wiener Führung agierten, und man Professor Warburg darüber hinaus als ausgewiesenen Experten schätzte, blieben sie offenbar verschont.50 Wie sich herausstellte, war auch Herzl von den Möglichkeiten einer großen Einwanderung überzeugt, die sich ihm zufolge dank moderner Technik in absehbarer Zeit umsetzen ließ. Trietsch knüpfte an seine Visionen vor allem nach dem Ersten Weltkrieg an, als er das Vorgehen der ZO angesichts der neuen politischen Ausgangslage als zu zaghaft kritisierte. Mit den optimistischen Zukunftsplänen von Herzl, der auf einer seiner Visitenkarten einmal notiert haben soll, „Wer in dreißig Jahren Recht behalten will, muß in den ersten drei Wochen seines Auftretens für verrückt erklärt werden“51, verband ihn mehr. Trietsch wie auch Herzl zielten auf eine jüdische Bevölkerungsmehrheit in Palästina. Die nationalen Aspirationen der nichtjüdischen Einwohner*innen wurden von ihnen dabei nicht (an)erkannt, da sie ihre Pläne konterkariert hätten. In den arabischen Unruhen des Spätsommers 1929 sah Trietsch keine eigenständige nationale Bewegung, sondern bloß „die Untaten einer politisierenden Clique und eines mord‑ und beutegierigen Mobs“52. Die Perspektiven und Bedürfnisse der arabischen Bevölkerung blendete er aus, wodurch er einer Auslagerung von Risiken in die Zukunft Vorschub leistete. Dass ein wachsender Jischuv das Konfliktpotenzial in Palästina langfristig erhöhte, wie größere Unruhen schon 1920/21 gezeigt hatten, dürfte auch Trietsch nicht verborgen geblieben sein. Seine Pläne einer ,jüdischen Majorität‘ blieben stets an der Präsenz der arabischen Bevölkerung im Land ausgerichtet, wo er ihr eine spezifische Rolle als künftige Minderheit zudachte. Trietschs Zukunftsentwürfe sahen vor, dass Jüdinnen und Juden vor allem in der aufstrebenden Industrie arbeiteten, während er die arabischen Einwohner*innen Palästinas der Landwirtschaft zuwies. Sie sollten die jüdische Mehrheit mit günstigen Nahrungsmitteln versorgen, wobei ihre Zahl – so Trietschs kurzsichtige Prognose – mit der Zeit sinken würde. Dazu passte, 50 Zu
Warburgs Expertenstatus siehe auch von Suffrin, Pflanzen für Palästina, S. 99 f. Heid, „Machet keine Dummheiten, während ich todt bin“, in: Zeit Online, 24. 6. 2004, abrufbar unter: https://www.zeit.de/2004/27/A-Herzl (Zugriff 12. 3. 2022). 52 Davis Trietsch, Statistische Überraschungen aus dem englischen Blaubuch über Palästina, undat. Typoskript [1930], S. 6. CZA, A104/71. Zu den Auseinandersetzungen: Hillel Cohen, Year Zero of the Arab-Israeli Conflict 1929, Waltham 2015; Alan Dowty, Arabs and Jews in Ottoman Palestine. Two Worlds Collide, Bloomington 2019; Martin Kolinsky, Law, Order, and Riots in Mandatory Palestine, 1928–1935, Basingstoke 1993. Zur arabischen Nationalbewegung in Palästina: Yehoshua Porath, The Emergence of the Palestinian-Arab National Movement, 1918–1929, Florence 2015; Yezid Sayigh, Armed Struggle and the Search for State. The Palestinian National Movement, Oxford 1997. 51 Ludger
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dass er den Anteil der im primären Sektor Beschäftigten von vornherein niedrig kalkulierte. Er ging davon aus, ihre Arbeit ließe sich mittelfristig mithilfe moderner Maschinen ersetzen. In dieser einseitigen Rollenzuteilung, die keine individuellen Entfaltungsmöglichkeiten erlaubte, spiegelt sich die damals weitverbreitete Herabsetzung des arabischen ,Anderen‘.53 Trietschs Glaube an die bahnbrechenden Möglichkeiten der Technik, mit der er die Weichen für Palästinas Zukunft zu stellen hoffte, war außerordentlich groß. Auch andere deutschsprachige Zionisten wie Warburg oder Soskin zeigten sich dahingehend euphorisch. Ihre Visionen von Palästina als einem künftigen Kreuzungspunkt des Welthandels sollten durch die Auswahl und Übernahme bester Techniken realisiert werden. Trietschs hypertrophe Technophilie stach hier hervor. Er sah die Welt gewissermaßen durch eine ,Palästinabrille‘, mit der er verschiedenste Innovationen auf ihre Brauchbarkeit hin für Palästina prüfte. Sein Kritiker Ruppin gewann dadurch den Eindruck, „als ob für Herrn Trietsch alles, was in einer Fachzeitschrift über neue technische Erfindungen steht, heilige Wahrheit“54 sei. Ruppins Urteil, das er im Anschluss an eine Auseinandersetzung mit Trietsch fällte, greift diesen Punkt zwar auf, ist aber überspitzt. Der von ihm Kritisierte empfahl nicht jede Technik für Palästina, sondern traf eine Auswahl. Auch waren seine Ideenvorschläge weder sprunghaft noch beliebig. Die schon 1901 von ihm geforderte Nutzung erneuerbarer Energien beispielsweise vertrat er über mehrere Jahrzehnte.55 Ebenso wiesen Trietschs Palästina-Visionen insgesamt keine tiefgreifenden Varianzen auf. Die zentralen Elemente seiner zionistischen Agitation – Greater Palestine, die Gründung von Industrien und Gartenstädten bzw. ,Industriedörfern‘ sowie intensive Bewirtschaftungsformen auf kleiner Fläche – waren von ihm früh entwickelt und in geringer Abwandlung bis zu seinem Tod vertreten worden. Sein großes Interesse an technischen Entwicklungen ließ Trietsch zu einem Anreger im Zionismus werden, der unvoreingenommener an potenziell nützliches Material herantrat. Wie sich zeigte, spielte seine autodidaktische Bildung hier eine zentrale Rolle. Durch sie spürte er gewissermaßen Zukunftskeime in der Gegenwart auf, die von anderen übersehen oder ignoriert wurden. In dieser für ihn typischen Herangehensweise liegt ein gewisser Eigensinn, der Trietsch von der Mehrzahl der deutschsprachigen Zionistinnen und Zionisten unterschied. Seine hervorragenden Englischkenntnisse, damals keine Selbstverständlichkeit, begleiteten diesen Ansatz. Sie ließen Trietsch, der die Gruppe der Jüdinnen und Juden zu Kulturvermittelnden stilisierte, letztlich selbst zu einem transnationalen 53 Zur palästinensischen Perspektive auf den Zionismus: Uriya Shavit/Orit Winter, Zionism in Arab Discourses, Manchester 2016. Shavit ist Professor für Islamwissenschaften an der Universität Tel Aviv. 54 Arthur Ruppin, Wirklichkeit und Illusion, undat. Typoskript [1920], S. 23. CZA, A107 262–3–35. 55 Zu Trietschs Sonnenmotor-Agitation in späteren Jahren: Davis Trietsch, „Das Zeichen zum Aufbruch“, in: Volk und Land, 1 (1919), Nr. 29–30, Sp. 905–930, hier Sp. 925–927.
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Wissensvermittler werden. Sein Vorhaben, die Schriften des in Deutschland unbekannten Charles Weeks ins Deutsche zu übersetzen, belegt dies exemplarisch.56 Das Lebenswerk von Trietsch weist naturgemäß aber auch Ambivalenzen und Brüche auf. Eine biografische Eindeutigkeit und Linearität lässt sich vor allem hinsichtlich seiner Suche nach möglichen politischen Bündnispartnern nicht festmachen. Hatte er noch während des Ersten Weltkrieges mehrere Schriften veröffentlicht, die von einem glühenden deutschen Patriotismus durchzogen waren, setzte er entsprechend den neuen politischen Verhältnissen in der Nachkriegszeit auf eine Annäherung an Großbritannien. Dieser radikale Umschwung schlug sich allerdings weniger stark in seinem schriftstellerischen Schaffen nieder als sein vorheriges Eintreten für eine geostrategische Hegemonie Deutschlands – ein Umstand, der auf die veränderten Verhältnisse nach dem Krieg und seine Sprecherposition als deutscher Staatsbürger zurückzuführen sein mag. Inwiefern Trietsch dem Land seiner Geburt über die eigenen Palästinapläne hinaus aufrichtig verbunden war und es nach 1918 blieb, muss wegen fehlender Selbstzeugnisse letztendlich offenbleiben. Einzelne eindrückliche Passagen aus seinem schriftlichen Nachlass legen jedoch nahe, dass der Zionismus seiner prodeutschen Kriegsagitation stets vorgeschaltet blieb. Ebenfalls nicht konsistent und widerspruchsfrei war Trietschs Heranziehung von Theorien und Praktiken einzelner Akteure, die offen antisemitisch in Erscheinung getreten waren. Neben dem von ihm bewunderten Henry Ford zählte dazu der völkische Publizist Theodor Fritsch, dessen Schriften er im Rahmen seiner Gartenstadtagitation mehrmals anführte.57 Nützlichkeitserwägungen rangierten für Trietsch offenbar bisweilen vor moralischen Bedenken. Sein schnelles Umschwenken nach dem Ersten Weltkrieg kann wie sein eklektisches Vorgehen insgesamt als Ausdruck eines lösungsorientierten Pragmatismus ausgelegt werden, oder – je nach Perspektive – als eine opportunistische Wendigkeit. Die Rettung notleidender Jüdinnen und Juden stellte für ihn die oberste Prämisse dar, die ihn überall nach möglichen Lösungswegen suchen und offenbar den Antisemitismus eines Ford, dessen Porträt zeitweise im Arbeitszimmer von Adolf Hitler hing, ausklammern ließ.58 Wie sich herausstellte, bildeten die Vereinigten Staaten die zentrale Inspirationsquelle für Trietsch. Indem er als junger Mann für mehrere Jahre in New York gelebt und sich dort für technische Innovationen begeistert hatte, war er früher als andere Zionist*innen auf US-amerikanische Modelle aufmerksam geworden. 56 Mr.
C. Kirsten an Charles Weeks, 3. 8. 1927. CZA, A104/39. Trietsch zitierte Fritschs Die Stadt der Zukunft (1896) und Die neue Gemeinde (1897), während er später selbst von ihm herangezogen wurde. Fritsch, Handbuch der Judenfrage, S. 357 f. Zu Fritschs Gartenstadtvision: Dirk Schubert, „Theodor Fritsch and the German (Völkische) Version of the Garden City“, in: Planning Perspectives 19 (2004), Nr. 1, S. 3–35; Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache–Rasse–Religion, Darmstadt 2001, S. 155–164. 58 Ribak, „,You Can’t Recognize America‘“, S. 294. 57
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Während er schon 1899 Parallelen zwischen Kalifornien und Palästina gezogen hatte, begannen ZO-Experten erst Anfang der 1920er Jahre, Erfahrungen aus den USA systematisch in ihre Pläne miteinzubeziehen. Sie agierten somit vergleichsweise spät, registrierten aber wie andere Zeitgenossinnen und Zeitgenossen die wachsende Bedeutung des Landes. Der Einfluss der USA unter anderem auf die ZO-Leitung ließ sich anhand mehrerer Forschungsreisen und Aktivitäten erstmals akzentuieren. In die Analyse miteinbezogen wurde auch das zeitgenössische Amerika-Bild, das die Rezeption und den Transfer US-amerikanischer Modelle begleitete. Dabei zeigte sich, dass der von Trietsch als nachahmenswert befundene ,amerikanische Geist‘ auch von anderen Zionist*innen wahrgenommen wurde – allerdings nicht nur positiv. Viele von ihnen kritisierten besonders den vermeintlichen Materialismus jenseits des Atlantiks, mit dem sie eine Oberflächlichkeit, Selbstbezogenheit und Kulturlosigkeit verbanden, die das nationale Gemeinschaftsprojekt in Palästina keineswegs tragen sollten. Gleichzeitig kam es aber vor allem in der kritischen Auseinandersetzung mit der ZO und dem Jischuv zu einer Würdigung amerikanischer (Freiheits)Werte. Neben den ideologischen Grabenkämpfen zwischen sogenannten sozialistischen, bürgerlichen, religiösen und revisionistischen Zionisten trugen die institutionellen Strukturen der ZO, die nicht nur Trietsch als hierarchisch, doktrinär und träge kritisierte, zu einer positiveren Rezeption unter deutschsprachigen Vertreter*innen bei. Überblickt man Trietschs eigene Arbeitsweise, so war auch sie von Wertvorstellungen geprägt, die gemeinhin mit den USA als Hort der Freiheit und Möglichkeitsentfaltung in Verbindung gebracht wurden. Als ein ambitionierter Autodidakt, dessen Freiheitsdrang sich in alternativen Konzepten niederschlug, lehnte er wie viele US-amerikanische Zionistinnen und Zionisten die zentralistischen Tendenzen der ZO ab und plädierte für eine größere Offenheit, um ein breites Handlungspotenzial zu entfalten.59 Sozialistische Bestrebungen in Palästina, die in der Zwischenkriegszeit zunahmen und sich in Kollektivsiedlungen ohne Privateigentum niederschlugen, wies er vor dieser Folie gleichermaßen zurück. Inwiefern der ,amerikanische Geist‘ Eingang in den Jischuv fand und dort die zionistische Ideologie der Chaluziut prägte, also der jüdischen Pionierinnen und Pioniere im Umfeld eines osteuropäischen Sozialismus, ließe sich in weiterführenden Studien analysieren. Sie böten das große Potenzial, den bislang von der Forschung einseitig als sozialistisch definierten Pioniergedanken im Zionismus um einen ideologischen Transferprozess aus den USA, der anhand von Trietsch exemplarisch identifiziert werden konnte, systematisch zu ergänzen. Ein besonders nachahmenswertes Modell für Palästina erblickte Trietsch in der modernen Geflügelwirtschaft. Sie hatte ihren Ursprung in den USA, wo sich die Haltung von Geflügel ab Ende der 1920er Jahre zunehmend zu einem technisierten, auf Effizienz gerichteten Wirtschaftszweig entwickelte. Diese Anfänge 59 Siehe „Die Krise des amerikanischen Zionismus“, in: Jüdische Rundschau 25 (1920), Nr. 72, S. 547.
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8. Das Lebenswerk von Davis Trietsch
der Intensivtierhaltung elektrisierten Trietsch, der einige ihrer Techniken und Methoden in Palästina anwenden wollte. Von führenden Zionisten wurde er dafür zunächst meist belächelt. Viele von ihnen dürften allerdings noch zu seinen Lebzeiten erkannt haben, dass die Geflügelhaltung in der Tat das Potenzial bot, zu einem lukrativen Geschäft zu werden. Trietschs Vision einer effizienten Geflügelwirtschaft nach amerikanischem Vorbild erfüllte sich. Nach der Staatsgründung Israels erlebte sie einen fulminanten Aufschwung, und schon zu Beginn der 1960er Jahre war sie zur wichtigsten landwirtschaftlichen Industrie des Landes neben der Zitrusindustrie avanciert. Der bis heute überdurchschnittlich hohe Konsum von Eiern und die daraus resultierende Bedeutung vor allem der ,Eierlegeindustrie‘ in Israel trat während des ersten Lockdowns infolge der COVID-19-Pandemie besonders eindrücklich zutage. Während in den Supermärkten anderer Länder Mehl, Nudeln oder Toilettenpapier zur Mangelware gerieten, kauften israelische Kund*innen im März 2020 kistenweise Eier. Die Zeitung The Times of Israel sprach angesichts dieser Panikkäufe augenzwinkernd von einer „eggsistential crisis“60. Ab 1955 begann Israel, das zuvor noch auf Importe vor allem aus den arabischen Ländern angewiesen blieb, selbst Eier in Millionenhöhe zu exportieren.61 Die durch den Unabhängigkeitskrieg abgebrochenen Handelsbeziehungen in der Region, die seit 2020 allmählich wiederbelebt werden (sog. Abraham-Abkommen), beförderten von Beginn an eine Intensivierung der Geflügelwirtschaft. Von größter Bedeutung waren hier Beziehungen in die USA, die schon im Jischuv eine herausragende Rolle bei der Vermittlung von Fachwissen gespielt hatten. Auch nach der Staatsgründung kam es zu mehreren Forschungsreisen, die das USDA in Washington D. C. organisierte. Unter anderem mit seiner Hilfe entwickelte sich die Geflügelwirtschaft zu einer modernen Branche in Israel.62 Eigene Innovationen führten in der Folgezeit dazu, dass das kleine Land am Mittelmeer nicht mehr einseitig von Expertisen aus den USA abhing, sondern ab den 1960er Jahren eigene Sachverständige ins Ausland schickte. Der schon erwähnte Kibbuz Ma’agan Michael zwischen Haifa und Hadera gibt ein gutes Beispiel für den traditionell hohen Modernisierungsgrad der israelischen Geflügelwirtschaft. Seit 1964 ist er Sitz der Firma Plasson Industries, einem globalen Technologieführer für Rohrverbindungselemente. Die Anfänge des börsennotierten Unternehmens gehen auf moderne Geflügelsysteme aus Kunststoff zurück, in denen es heute weltweit Marktführer ist.63 60 Toi Staff, „Agriculture Minister Orders Egg Imports as Panicked Buyers Spark Shortage“, in: The Times of Israel, 28. 3. 2020, abrufbar unter: https://www.timesofisrael.com/agricultureminister-orders-egg-imports-as-panicked-buyers-spark-shortage/ (Zugriff 12. 3. 2022). 61 Israel Company for Fairs & Exhibitions, The Israeli Pavilion at the International Exhibition of Poultry Farming Kiev 1966, o. P., Tel Aviv 1966. 62 Die Informationen zum USDA sind dem Ordner CZA, F45/83 entnommen. Zur Entwicklung der israelischen Geflügelwirtschaft: Z. Ben-Adam, 50 Years of Activity in the Poultry Industry, Tel Aviv 1978. 63 Jackie Linden, „Plasson Celebrates 50th Anniversary in 2014“, in: The Poultry Site, 3. 7. 2014,
8.1 Letzte Jahre in Palästina
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Die Anfangsjahre in Ramot HaShavim dagegen waren mit den heutigen Standards in keiner Weise zu vergleichen. Effiziente Geflügelsysteme konnten dort erst allmählich eingeführt werden, da die Ausgangslage im Palästina der Mandatszeit von der etwa in Kalifornien erheblich abwich. Die USA fungierten somit zwar als eine zentrale Referenzkultur, eine simple Eins-zu-eins-Übertragung dortiger Technik fand letztlich aber nicht statt. Wie sich unter anderem am Beispiel der US-amerikanischen Käfighaltung zeigen ließ, passte man sie in Ramot HaShavim an die örtlichen Gegebenheiten in Form eigener Käfigmodelle an. In diesem Kontext ist es daher äußerst aussichtsreich, auch nach den abgelehnten Transfers zu fragen. Das Beispiel der US-amerikanischen Expertengruppe um Elwood Mead hat gezeigt, dass an Palästina herangetragene Siedlungsmethoden von den führenden Zionisten durchaus selbstbestimmt zurückgewiesen wurden. Am Beispiel von Ramot HaShavim ließ sich ein transatlantischer Wissenstransfer anschaulich rekonstruieren. So griffen die Bewohnerinnen und Bewohner für ihre Geflügelwirtschaft nachweislich auf die Expertise des „bedeutendste[n] Eierfachmann[s] aus Amerika“64 zurück, dem sie Gabriele Tergit zufolge regelrecht nachgejagt wären. Die zionistische Leitung begann, sich ebenfalls in der Zwischenkriegszeit für die moderne Geflügelwirtschaft aus den Vereinigten Staaten zu interessieren. Trietsch hatte hier wichtige Impulse gesetzt. Er trat als ein Anreger und Ideengeber auf, der von der ZO offenbar gehört wurde, dort aber selbst nicht zu Wort kam. Ein Grund dafür mag auch darin gelegen haben, dass er die Entwicklungen vor Ort nie länger begleitete. Dass Trietsch für die Ramot HaShavimer*innen kein direkter Ansprechpartner in der Anfangszeit war, die besonders große Schwierigkeiten kennzeichneten, folgt einem Muster. So war schon sein Zypern-Projekt auch deshalb gescheitert, weil er den Männern aus Boryslaw nicht ausreichend zur Seite gestanden hatte. In der Aguda-Siedlung, die exemplarisch für Trietschs überparteiliches Engagement steht, wurden ebenfalls in dieser Hinsicht Vorwürfe gegen ihn laut. Ernst Herrmann, der die Siedlung für ihn betreute, beschwerte sich, dass die traditionstreuen Siedler nicht genügend ausgebildet und die Kosten von ihm zu niedrig angesetzt worden seien. Es sei schade, so Herrmann vorwurfsvoll, dass Trietsch nicht selbst drei Monate mit den Charedim verbringen konnte, weil er dann gesehen hätte, wie viele Schwierigkeiten sich vor Ort ergaben.65 So sehr sich Trietsch selbst als einen Praktiker inszenierte, so wenig präsent war er in der Praxis und übernahm für gescheiterte Projekte die Verantwortung. Sein in dieser Hinsicht mangelndes Verantwortungsbewusstsein zeigte sich auch im privaten Bereich und hier besonders im Hinblick auf Emma Trietsch, die er nach seiner Emigration mit vielen Schulden in Berlin zurückließ. abrufbar unter: https://thepoultrysite.com/news/2014/07/plasson-celebrates-50th-anniversar y-in-2014 (Zugriff 12. 3. 2022). Siehe auch https://plassonlivestock.com/. 64 Tergit, Im Schnellzug nach Haifa, S. 81. 65 Ernst Herrmann an Davis Trietsch, 14. 3. 1927. CZA, A396/4.
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8. Das Lebenswerk von Davis Trietsch
Obwohl sich die Ausgangsbedingungen in Ramot HaShavim nicht leicht gestalteten, glückte das Projekt. Zwar war die Siedlung keine Gartenstadt, wie sie Trietsch im großen Stil für Palästina projektiert hatte, aber mit ihr war eine über Jahrzehnte von ihm verfochtene Vision Realität geworden: die Ansiedlung älterer Menschen, die keine landwirtschaftliche Ausbildung vorweisen konnten. Während die Zuwanderung der Chaluzot und Chaluzim von der ZO einseitig unterstützt wurde, hatte Trietsch von Anfang an Einwander*innen im Blick, die nicht dem Ideal der jungen sozialistischen Pionierinnen und Pioniere entsprachen. „Das Dorf der Eierdeutschen“, so die 41-jährige Tergit nach einem Besuch in Ramot HaShavim 1935 anerkennend, „entstand entgegen allen Theorien der zionistischen Organisation.“66 Als eine sogenannte Mittelstandssiedlung entwickelte sie sich zu einem Modell für weitere jüdische Siedlungen, die sich in den 1930er Jahren mit einer wachsenden Zahl von Geflüchteten konfrontiert sahen, die andere Anforderungen an ein Leben in Palästina stellten. Unter ihnen waren viele akademische Geflüchtete. Trietsch, der Autodidakt und von der ZO-Leitung nie anerkannte Experte, schuf so letztlich eine wichtige Existenzgrundlage ausgerechnet für das ,akademische Element‘, dem er selbst nicht angehörte. Die bekannteste Siedlung war Nahariya, heute eine Stadt mit etwas mehr als 58.000 Einwohner*innen nördlich von Haifa.67 Wie in Ramot HaShavim lag ihr eine intensive Agrikultur mit dem Schwerpunkt auf Gemüsebau und Geflügelhaltung zugrunde, die auch ältere Menschen selbständig betreiben sollten. Die Parzellen, ebenfalls kein JNF-Land, wurden 1934 von der Kapitalgesellschaft Nahariah Small Holdings Ltd. erworben und als Privatbesitz an deutsche Jüdinnen und Juden ausgegeben. Zu den ersten Bewohnerinnen und Bewohnern Nahariyas zählte Hannah Jeremias, die auf Vermittlung ihres Vaters dort in einem transportablen Holzhaus wohnte, mit dem sie und ihre Familie innerhalb der Siedlung umziehen konnten.68 Wie Ramot HaShavim und Tel Litvinsky entstand Nahariya außerhalb des institutionellen Rahmens der ZO und JA.69 Der Initiator der Gesellschaft war Soskin, der mit ihr das Prinzip einer Intensivwirtschaft auf kleinster Fläche bei größtmöglicher Bodennutzung praktisch umzusetzen hoffte.70 Wie sich herausstellte, wiesen seine Pläne viele Parallelen zu denen von Trietsch auf, während die beiden Männer im Privaten offenbar keine Freundschaft miteinander verband. In seiner 1935 66 Tergit,
Im Schnellzug nach Haifa, S. 81. Vorbildcharakter für andere jüdische Siedlungen: „Ramot Hashavim bat esrim“ [Ramot HaShavim ist 20 Jahre alt], in: HaMeshek HaChaklayie, 3. 12. 1953, S. 3. Zu Nahariya: Klaus Kreppel, Nahariyya. Das Dorf der „Jeckes“. Die Gründung der Mittelstandssiedlung für deutsche Einwanderer in Eretz Israel 1934/35, Tefen 2005; ders., Nahariyya und die deutsche Einwanderung nach Eretz Israel. Die Geschichte seiner Einwohner von 1935 bis 1941, Tefen 2010. 68 Kreppel, Nahariyya (2010), S. 576. 69 Ebd., S. 45. 70 Im Nachlass von Soskin findet sich diverses Material zu Nahariya, bes. in CZA, A91/15. 67 Zum
8.2 Das Lebenswerk von Davis Trietsch in Israel
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erschienenen Apologetik Warum Nahariah? würdigte Soskin aber in besonderer Weise Ramot HaShavim, und führte die kleine Siedlung gegen die Kritik der ZO als Beweis für die Durchführbarkeit seiner eigenen Pläne an.71 Am Beispiel von Trietsch, Soskin und anderen Akteuren, darunter die LitvinskyBrüder oder der Bauingenieur Joseph Loewy (1885–1949), der an der Gründung Nahariyas federführend beteiligt war, zeichnet sich ein breites Spektrum zionistischer Initiativen in Palästina jenseits der etablierten Institutionen ab. So wirkte allein Loewy, der wie Trietsch von offizieller Seite angegriffen und lange Zeit von der Zionismusforschung ignoriert wurde, an mehreren privaten Unternehmungen in der Küstenebene Palästinas mit.72 Trietsch stellte demnach keinen Einzelfall dar, sondern agierte neben anderen Zionisten, die sich wie er häufig unverstanden und zurückgesetzt von der zionistischen Leitung fühlten, weshalb sie eigene Wege beschritten. Anhand ihrer vielseitigen Tätigkeiten lässt sich der traditionelle Erzählbogen des ,zionistischen Aufbauwerks‘ somit breiter spannen. Die Heterogenität der zionistischen Bewegung dürfte dadurch nicht nur im Hinblick auf ihre Ideologie, sondern auch die zionistische Praxis in Palästina stärker herauszuarbeiten sein, worin ein großer Erkenntnisgewinn künftiger Studien liegt. Ramot HaShavim und andere Gründungen nach dem Prinzip eines Kfar Shitufi boten mehreren tausend Geflüchteten eine Existenz im ländlichen Raum. Während sie in Nahariya ein vorbereitetes Grundstück samt bezugsfertiger Unterkunft erwartete, mussten sich die Ramot HaShavimer*innen selbst ans Werk machen. Ramot HaShavim folgte somit nicht Trietschs ,Heimstättenprinzip‘, was erneut zeigt, dass sich viele seiner Visionen in der palästinensischen Praxis nicht eins zu eins umsetzen ließen. Die Vorzüge sogenannter Mittelstandssiedlungen erkannten letztlich aber auch die ZO und JA, die 1934 angesichts der sozialen Herkunft vieler Geflüchteter dazu übergingen, eigene Siedlungen zu planen. Vorbildhaft war hier Ramot HaShavim.73
8.2 Das Lebenswerk von Davis Trietsch in Israel Die Shoah, die große Katastrophe, der mehrere seiner Verwandten mütterlicherseits in Europa zum Opfer fielen, erlebte Davis Trietsch nicht mehr.74 Er starb 71 Selig Soskin, Warum Nahariah? Zu dem Bericht des Herrn D. Stern, Leiter der Kolonisations-Abteilung, an die Jewish Agency, Eger 1935, S. 14, 16, 20. Siehe auch Hugo Cahn, Ein halbes Jahr Nahariah, Eger 1935. 72 Zu Loewy, der mehrere private Gesellschaften zum Bodenerwerb in und um Haifa gegründet hatte: Jossi Ben-Artzi, „Der Unternehmer und Visionär der Haifa Bay Joseph Loewy. Zionist für den Aufbau von Stadt und Land“, in: Siegemund, Deutsche und zentraleuropäische Juden, S. 292–315. 73 Die erste ,Mittelstandssiedlung‘ der JA bzw. ihrer Baugesellschaft RASSCO entstand 1936. Hierzu ausführlich: Ines Sonder/Joachim Trezib, Mit RASSCO siedeln: Transferwege der Deutschen Alija nach Palästina-Erez Israel (1933–1948) [2023]. 74 Seine Cousine Bertha Hemmerdinger starb bspw. im Camp de Gurs [Kap. 6.3, Anm. 149].
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8. Das Lebenswerk von Davis Trietsch
am 31. Januar 1935 im Alter von 65 Jahren in der Nähe von Tel Aviv infolge einer schweren Herzerkrankung. Mehrere in‑ und ausländische Zeitungen berichteten anlässlich seines Todes, darunter der Jewish Chronicle in London, der Trietsch als „famous Jewish statistician and economist“75 würdigte. In den letzten Monaten vor seinem Tod hatte Trietsch bei einem Freund in Ramatayim (Hod HaSharon) gelebt, der dort als Arzt arbeitete. Ihm soll er Leo Grünthal zufolge noch auf dem Sterbebett seine nächsten Pläne die Nacht hindurch erläutert haben, obwohl ihm das Sprechen schon schwerfiel. Grünthal war bis zu seiner Flucht nach Palästina 1937 vier Jahrzehnte in der Breslauer Ortsgruppe aktiv gewesen, wo er als „Förderer der kolonisatorischen Ideen Davis Trietschs“76 agierte. Ein satirisches Purim-Gedicht aus dem Jahr 1905, das unter Breslauer Zionist*innen für Heiterkeit gesorgt haben dürfte, illustriert die enge Zusammenarbeit zwischen Trietsch und Grünthal (Abbildung 10). Anlässlich des ersten Todestags von Trietsch meldete sich Grünthal, der gleichermaßen für eine jüdische Besiedlung Zyperns eingetreten war, voll der Anerkennung zu Wort. Sein in der Jüdischen Zeitung (Breslau) erschienenes Jahrgedächtnis greift dabei eine Zuschreibung auf, die mehrere andere Zionisten teilten. So beschrieb Grünthal den Verstorbenen als einen Pionier und Vordenker, der „seiner Zeit um einige Jahrzehnte in seinen Ideen voraus“77 gewesen sei. Er würdigte ihn als einen „Realphantasten“, der genau so viel Fantasie besessen hätte, dass sie sich am Ende auch in die Realität umsetzen ließ. Trietsch hätte Grünthal zufolge ein richtiges Gespür für Zukünftiges gehabt und mehrmals bekannte Gedankenpfade verlassen, um auf neue Lösungswege zu stoßen. Ein solch mutiges Voranschreiten, das auch andere Weggefährten nachträglich würdigten, hatte ihm zu Lebzeiten allerdings immer wieder Probleme bereitet. Trietschs oft unzeitgemäß wirkenden Ideen, die der Historiker Élias José Palti einmal als „misplaced ideas“78 bezeichnet hat, und sein Insistieren auf deren Richtigkeit, ließen ihn zu einem unbequemen Zeitgenossen werden. Für ihn gab es nur zwei Meinungen: seine und die falsche, ebenso wie er den Mut besaß, von anderen nicht gemocht zu werden. Das Urteil, mehrere Ideen von Trietsch seien zukunftweisend gewesen, teilten auch einige seiner Widersacher. So ließ die von der Histadrut herausgegebene Tageszeitung Davar ein Jahr nach seinem Tod anlässlich des Setzens seines Grabsteins verlauten, die nach ihm Kommenden mögen ernten, was er säte. Besonders Trietschs frühe Forderung nach Industrien sei weitsichtig gewesen und nun äu-
75 „Mr. Davis Trietsch (Palestine)“, in: The Jewish Chronicle, 8. 2 . 1935, S. 10. Siehe auch „Mr. David Trietsch“, in: The Palestine Post, 1. 2. 1935, S. 1; „Distinguished Zionist Dies in Palestine“, in: The Gazette and Daily, 1. 2. 1935, S. 1; „David Trietsch, Noted Economic Expert, Dead at 65“, in: The Sentinel, 7. 2. 1935, S. 25. 76 „Persönliches“, in: Jüdische Rundschau 42 (1937), Nr. 69, S. 6. 77 Leo Grünthal, „Davis Trietsch“, in: Jüdische Zeitung (Breslau), 43 (1936), Nr. 12, o. P. 78 Élias José Palti, „The Problem of ‚Misplaced Ideas‘ Revisited. Beyond the ‚History of Ideas‘ in Latin America“, in: Journal of the History of Ideas 67 (2006), Nr. 1, S. 149–179.
8.2 Das Lebenswerk von Davis Trietsch in Israel
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ßerst aktuell.79 Auch in den Yediot Iriyat Tel-Aviv, dem offiziellen Blatt der Stadtverwaltung Tel Avivs, würdigte man ihn als einen aufmerksamen Beobachter, dessen Visionen bereits realisiert wurden oder nun im Begriff seien, verwirklicht zu werden.80 Anerkennend äußerte sich außerdem Ruppin, obwohl er mit dem Verstorbenen „manche Lanze gebrochen“81 hatte. In seinem Nekrolog für die Jüdische Rundschau schrieb er: „Seine weitfliegende Phantasie, seine reizvolle Art im Gespräch, seine außerordentliche persönliche Genügsamkeit, seine restlose Hingabe an eine von ihm erfaßte Idee und sein unversieglicher Optimismus in allen Nöten des Lebens waren dazu angetan, ihm die Herzen vieler Menschen zu gewinnen. Sein Glück und sein Unglück waren, daß er seiner Zeit um Jahrzehnte voraus war. Das gab ihm die Möglichkeit unter Beiseitesetzung der Schwierigkeiten, die in der Gegenwart wurzelten, Pläne zu entwickeln und sich an ihnen, unbeschwert von Bedenken, zu erfreuen.“82
Trotz des häufig überstürzten Vorgreifens Trietschs ging auch Ruppin davon aus, viele seiner Vorschläge zur Besiedlung Palästinas würden sich künftig als nützlich erweisen. In ähnlicher Weise äußerte sich Otto Warburg. Sein Nachruf ist wie Ruppins besonders aufschlussreich, da er sich mit dem Verstorbenen ebenfalls überworfen hatte, wodurch der Text nicht bloß als ein letzter Freundschaftsdienst zu lesen ist. Warburg zufolge sei Trietsch ein „ideenreicher Mann, voll von Energie und polemischer Frische“ gewesen, der „zu Zeiten scharf umkämpft […], aber stets als Anreger geachtet“83 worden sei. In seinen zahlreichen Ideen hätte stets „ein richtiger Kern“ gesteckt, auch wenn er „in seinen Forderungen der Zeit vorauseilte.“84 Trietschs frühe Pläne zur Nutzung der Solarenergie können als ein solches zukunftweisendes Unterfangen gewertet werden, das in gewisser Weise in unsere Gegenwart reicht. Utopien, so der Historiker Rutger Bregman, verraten jedoch stets mehr über die Zeit, aus der heraus sie entwickelt und gedacht wurden, als über das, was später aus ihnen wird.85 Trietschs Sonnenmotor verdeutlicht dies exemplarisch. Während die Nutzung erneuerbarer Energien gegenwärtig vor allem im Zusammenhang mit der Klimakrise breiter diskutiert wird, ging es ihm damals zunächst um die Schaffung einer sicheren Zufluchtsstätte für verfolgte Jüdinnen und Juden in Palästina. Ihn leitete die Frage, wie eine größere Zahl von ihnen aus einem meist städtischen Milieu dort in möglichst kurzer Zeit angesiedelt werden 79 Vereinigung der Milchbauern in Palästina: „Matseva al kivro shel David Trietsch“ [„Der Grabstein am Grab von David Trietsch“], in: Davar, 4. 3. 1936, S. 3291. 80 „LeZecher Cholem Gadol“ [„Zur Erinnerung an einen großen Träumer“], in: Yediot Iriyat Tel-Aviv, 15. 1. 1935, S. 106. Keine Erwähnung fand dagegen der Umstand, dass Trietsch offenbar für die geplante Häuserbaugesellschaft Achusat Bayit das erste Gründungsmemorandum verfasst hatte. Siehe Kap. 3.2, Anm. 68. 81 Arthur Ruppin, „Davis Trietsch“, in: Jüdische Rundschau 40 (1935), Nr. 15. S. 4. 82 Ebd. 83 Warburg, „Davis Trietsch“, S. 5. 84 Ebd. 85 Rutger Bregman, Utopien für Realisten, Reinbek 2017, S. 19.
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8. Das Lebenswerk von Davis Trietsch
konnte. Debatten um eine ökologische Nachhaltigkeit, die damals noch nicht in vergleichbarer Weise geführt wurden, interessierten ihn nicht. Statt den Planeten entsprechend seinen natürlichen Belastungsgrenzen zu schonen, wollten Trietsch und andere Akteur*innen, etwa im Umfeld der back-to-the-land movement, den größtmöglichen Nutzen aus ihm und seinen Ressourcen ziehen.86 Diese und andere in die Zukunft weisenden Nutzbarmachungen, denen kalifornische Modelle zugrunde lagen, ließen sich in Palästina nicht realisieren. Der Grund hierfür lag in den spezifischen politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten des Landes, denn Palästina war nicht Kalifornien. Zwar mochten sich beide hinsichtlich ihres Klimas ähneln, weshalb ein Studium der kalifornischen Landwirtschaft in der Tat nützliche Erkenntnisse versprach. In weiterer Hinsicht unterschieden sich beide jedoch fundamental voneinander. Anders als in Kalifornien, dessen wirtschaftliche Entwicklung von staatlicher Seite ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts systematisch gefördert wurde, existierte in Palästina kein Staat, der eine sukzessive Modernisierung in vergleichbarer Weise forciert hätte. Zwar kam es während der britischen Mandatszeit zu höheren Investitionen, besonders für Infrastrukturprojekte, die viele neue Arbeitsplätze schufen. Die finanziellen Mittel der Mandatsregierung waren mit denen der Vereinigten Staaten allerdings in keiner Weise zu vergleichen.87 Während die USA Ende des 19. Jahrhunderts in mehreren Branchen eine mitunter fulminante Entwicklung hinlegten, durch die sie an die Spitze der westlichen Industriestaaten aufstiegen, blieb Palästina ein agrarisch geprägtes Land in einer wirtschaftsschwachen Region. Gelder, die für Trietschs innovative Projekte nötig gewesen wären, konnten staatliche Stellen nicht zur Verfügung stellen. Ebenso wenig verfügten jüdische Vereine und Organisationen, die für den Aufbau Palästinas warben, über ausreichende Mittel. Besonders die ZO und die ihr angeschlossenen Institutionen blieben nach dem Ersten Weltkrieg im Vergleich zu ihren Zielsetzungen massiv unterfinanziert. Von der Privatinitiative, auf die Trietsch frühzeitig gesetzt hatte, war ebenfalls vorerst nicht viel zu erwarten. Zwar erhöhte sich unter britischem Mandat die Zahl der meist männlichen Investoren, mit gewerblichen Investitionen in Kalifornien waren sie aber nicht zu vergleichen. Die von Trietsch beworbene Seidenindustrie hat dies verdeutlicht. Während die kalifornische Firma American Silk Factors Ende der 1920er Jahre über 1 Million US-Dollar einwerben konnte, waren für Palästina zur gleichen Zeit keine größeren Summen zu gewinnen. Dem Seidenbau unter Anwendung
86 Forderungen nach einem Ausbau regenerativer Energien schließen eine größere Ausnutzung des Planeten (sog. Extraktivismus) allerdings auch in der Gegenwart nicht aus. Zur aktuellen Nachhaltigkeitsdebatte in Deutschland siehe u. a. Maja Göpel, Unsere Welt neu denken. Eine Einladung, 16. Aufl., Berlin 2021. Göpel et al. beziehen sich in ihren Überlegungen auf die Grundlagenstudie Grenzen des Wachstums, die 1972 vom Club of Rome veröffentlicht wurde. 87 Siehe auch Katz, „Private Zionist Initiative“, S. 286.
8.2 Das Lebenswerk von Davis Trietsch in Israel
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moderner Technik kam in späteren Jahren wohl auch deshalb keine größere Bedeutung für die israelische Wirtschaft zu. Die großangelegten Pläne Trietschs zur Einwanderung hunderttausender Jüdinnen und Juden ließen sich vor diesem Hintergrund nicht realisieren. Neben finanzielle Engpässe traten fehlende administrative Strukturen, die entscheidend für eine Umsetzung in der Praxis waren. Weder unter osmanischer noch unter britischer Herrschaft war jemals eine große jüdische Einwanderung erwünscht. Erst die Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948 machte den Weg für eine staatlich sanktionierte Zuwanderung frei. Allein von 1948 bis 1951 ließen sich in Folge der Shoah sowie der Flucht und Vertreibung von Jüdinnen und Juden aus arabischen Ländern 687.624 jüdische Geflüchtete in dem jungen Staat nieder, woraufhin sich die Zahl seiner jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner verdoppelte. Hatten sie bis 1947 lediglich eine Minderheit gebildet, kehrten sich die Mehrheitsverhältnisse bereits im darauffolgenden Jahr um. Von insgesamt 872.700 Israelis waren nun 716.700 jüdisch, womit sie 82,1 Prozent der Gesamtbevölkerung stellten. Bis 1960 stieg ihr Anteil auf 88,9 Prozent, ehe er kontinuierlich auf 74,1 Prozent im Jahr 2020 sank.88 Trietschs Vision einer jüdischen Mehrheit wurde somit tatsächlich binnen kurzer Zeit zur Realität. Dass in wenigen Jahren hunderttausende Jüdinnen und Juden ins Land gelangten, während gleichzeitig rund 700.000 arabische Zivilistinnen und Zivilisten ihre Heimat fluchtartig verließen, konnte er allerdings nicht vorhersehen.89 Dennoch sollte er mit der Annahme Recht behalten, binnen eines Menschenalters könnten mehrere Millionen Menschen in Palästina leben – eine Prognose, die die meisten Zionist*innen seinerzeit als völlig illusorisch zurückgewiesen hatten. Damit das Land möglichst viele Menschen aufnehmen und versorgen konnte, brauchte es Trietsch zufolge moderne Methoden zur effizienten Nutzung der begrenzten Anbauflächen sowie eine Förderung der Landwirtschaft durch industrielle Verfahrensweisen. Dieser von ihm früh entwickelte Grundsatz, den er unter den beiden Schlagworten ,industrielle Landwirtschaft‘ und ,Intensivismus‘ subsumierte, sollte für die israelische Wirtschaft richtungsweisend werden. Wie der Ökonom und erste Präsident der israelischen Zentralbank David Horowitz (1899–1979) in seiner grundlegenden Studie The Development of the Economy
88 Die Daten sind der Jewish Virtual Library entnommen: Total Immigration to Israel by Year. 1948–Present, abrufbar unter: https://www.jewishvirtuallibrary.org/total-immigration-toisrael-by-year; Jewish & Non-Jewish Population of Israel/Palestine. 1517–Present, abrufbar unter: https://www.jewishvirtuallibrary.org/jewish-and-non-jewish-population-of-israel-palestine1517-present (Zugriff 12. 3. 2022). 89 Das Schicksal der Palästinenser*innen wird je nach Perspektive mitunter sehr verschieden dargestellt. Vgl. PLO (Hg.), Nakba. Die unbeachtete Geschichte einer kulturellen Katastrophe. Aktual. Version des engl. Originaltexts von 2013, o. O. 2018; Jörg Rensmann, Der Mythos Nakba. Fakten zur israelischen Gründungsgeschichte, hrsg. von der Deutsch-Israelischen Gesellschaft e. V., Baden-Baden 2013.
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8. Das Lebenswerk von Davis Trietsch
of Israel gezeigt hat, waren es die Industrie und vor allem der Dienstleistungssektor, die in den Folgejahren hohe Zuwachsraten verbuchten und die Gesellschaft prägten.90 Die Landwirtschaft machte ebenfalls Fortschritte, trug allerdings in weit geringerem Maße zum israelischen Bruttoinlandsprodukt bei. Am Ende der Mandatszeit war der primäre Sektor nur mit einem Sechstel am BIP beteiligt, womit seine nachgeordnete Stellung noch vor der Staatsgründung sichtbar wurde. Während die arabischen Einwohner*innen Palästinas zum allergrößten Teil in der Landwirtschaft arbeiteten, waren weder vor noch nach 1948 mehr als 20 Prozent der jüdischen Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt.91 Dass man das Augenmerk im Jischuv zunehmend auf den sekundären und tertiären Sektor legte, sollte sich angesichts der hohen Zuwanderungszahlen als zielführend erweisen. Ohne diese Perspektive wäre die Integration so vieler Menschen, die in der israelischen Rückschau tatsächlich als eine Erfolgsgeschichte zu lesen ist, letztlich nicht möglich gewesen.92 Trietsch hatte stets betont, durch Industrie und Dienstleistungen ließe sich eine größere Zahl an Arbeitsplätzen in kurzer Zeit generieren. Die sozialistischen Zionistinnen und Zionisten, aber auch bürgerliche Vertreter wie Franz Oppenheimer oder Ruppin, setzten dagegen auf eine Förderung der Agrikultur als künftigem Fundament der Gesellschaft. Ihr Credo wurde im Laufe der Zwischenkriegszeit zunehmend in Frage gestellt.93 Man musste nicht erst Bauern schaffen, um Städte zu gründen, wie Oppenheimer einst auf dem Kongress 1903 unter Beifall gefordert hatte. Bereits vor 1948 lebten die meisten Jüdinnen und Juden im urbanen Raum, während nie mehr als sechs Prozent Mitglied in einem Kibbuz waren.94 Die geringe Zahl der Landbevölkerung, zu der noch die Moshavim und Kfar Shitufim hinzuzuzählen wären, soll die zentrale Bedeutung der ,ackerbautreibenden Pioniere‘ allerdings nicht schmälern.95 Für den Aufbau des Landes waren sie ein entscheidender Faktor, den auch Trietsch mehrmals anerkennend hervorhob.
90 David
Horowitz, The Development of the Economy of Israel, Tel Aviv 1965, S. 232. Troen/Azaryahu/Golan, „Israel“, S. 32; S. Ilan Troen, „Zionist Settlement in the Land of Israel/Palestine“, in: ders./Fish, Essential Israel, S. 62–88, hier S. 73. 92 Troen/Azaryahu/Golan, „Israel“, S. 33; Ruth Klinov, „Wirtschaft, Sozialwesen und Politik“, in: Dachs, Länderbericht Israel, S. 456–515, hier S. 484. 93 Der Zionist Walter Preuss zeichnete diese Entwicklung in seinem 77-seitigen Typoskript Die jüdische Industrie in Palästina und ihre Probleme [1936] nach. CZA J18/27–80. Preuss, der Trietsch darin als einen Vordenker charakterisierte, schrieb auch für die Zeitschrift Palästina. In den 1930er Jahren erschienen dort immer mehr Aufsätze, die für eine industrielle Entwicklung des Landes plädierten. 94 Gisela Dachs, „Der Kibbuz Samar“, in: dies., Länderbericht Israel, S. 531–537, hier S. 531; Brenner, Geschichte des Zionismus, S. 92. 95 In Israel lebten schon immer mehr Menschen in einem Moshav. Zum Vergleich: Von 1943– 1967 entstanden 328 neue Moshavim und 155 Kibbuzim. Gemessen an der Gesamtbevölkerung fiel ihre Zahl allerdings ebenfalls gering aus. 1986 lebten rund 156.700 Israelis in einem von insgesamt 448 Moshavim. Troen, „Zionist Settlement“, S. 73. 91
8.2 Das Lebenswerk von Davis Trietsch in Israel
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Israel ist vergleichsweise arm an fossilen Energieträgern und Wasser, ebenso wie es über eine begrenzte Anbaufläche verfügt. Die israelische Regierung unter Führung der Arbeitspartei rückte daher schon ab den 1950er Jahren immer mehr von extensiven Bewirtschaftungsformen ab. Horowitz zufolge sei damit der Weg hin zu einer „highly intensive agriculture on irrigated land, with selected seeds and improved rotation of crops“96 beschritten worden. Trietsch hatte eine solche intensive Landwirtschaft schon nach dem Ersten Weltkrieg anvisiert, war von der ZOLeitung jedoch immer wieder abgewiesen worden. Nimmt man die Berichte der Zionistischen Exekutive an die Kongresse der Jahre 1923 bis 1987 zur Hand, dann zeigt sich, wie viele seiner Grundsatzideen schon vor 1948 eine bedeutende Rolle im Jischuv gespielt hatten. Im Bericht von 1935 hieß es beispielsweise, es habe sich seit einigen Jahren „eine Tendenz zur Errichtung intensiver Wirtschaften […] auf kleinen Bodenflächen entwickelt.“97 Für 1939 findet sich wiederum der Vermerk, die Industrie hätte im jüdischen Sektor große Fortschritte verzeichnet, wobei besonders das Baugewerbe und kleinere Industrien Zuwachsraten verbuchten.98 1938 rief die ZO schließlich ein eigenes Technical Instruction Bureau für Industrien ins Leben, das Betriebe begutachtete und Ratschläge erteilte. Ganz im Sinne von Trietsch eröffnete zudem ein Informationsbüro zur Förderung von Industrie und Handel, und man gab ein eigenes Handbuch heraus.99 Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Bedeutung der Industrie weiter zu, was sich auch daran zeigt, dass die Berichte der Zionistischen Exekutive fortan nicht mehr mit den jüngsten Zahlen aus der Landwirtschaft begannen. Stattdessen widmeten sie sich zuerst der Industrie, die im Jischuv an erste Stelle rückte.100 Bereits 1946 arbeitete mehr als ein Drittel aller erwerbstätigen Jüdinnen und Juden im sekundären Sektor, der zum größten Teil durch die Privatinitiative finanziert wurde. Erst allmählich waren während des Krieges „Histadruth Industries“101 entstanden, in denen zwölf Prozent aller in der Industrie Arbeitenden 1945 beschäftigt waren. Trietsch hatte auf die Bedeutung privater Investoren früh verwiesen, war damit vor allem bei den Arbeiterzionist*innen jedoch auf Ablehnung gestoßen. Mehrere Industrieprojekte der Histadrut kamen nun ausgerechnet durch Privatkapital zustande.102 Die Landwirtschaft in Israel zeichnete sich früh durch einen hohen Spezialisierungs‑ und Technisierungsgrad aus, da sich die Landwirtinnen und Landwirte dort meist mit ungünstigen Bedingungen konfrontiert sahen. Zwei Faktoren begleiteten diese Entwicklung hin zu einer hochtechnisierten Landwirtschaft. Einerseits der 96 Horowitz,
The Development of the Economy, S. 231. der Exekutive der Zionistischen Organisation (1935), S. 316. 98 Report of the Executives of the Zionist Organisation (1939), S. 406–409. 99 Ebd., S. 418 f. 100 The Jewish Agency for Palestine. Trade and Industry Department, Report submitted to the 22nd Congress at Basle, December 1946, Jerusalem 1946, S. 3. 101 Ebd., S. 16. 102 Ebd. 97 Bericht
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ab 1948 einsetzende hohe Kapitalstrom nach Israel, der aus Krediten und Aufbauhilfen aus den USA, einem erhöhten Spendenaufkommen jüdischer Vereine und den sogenannten Wiedergutmachungszahlungen der Bundesrepublik Deutschland entsprang. Andererseits setzte ein hohes Humankapital viele Modernisierungen in Gang, da die israelische Regierung einen Großteil dieser ausländischen Kapitalbeträge, an die sich ein stabiler Kapitalzufluss anschloss, für Investitionen im Inland einsetzte. Mit rund 30 Prozent des BIP investierte sie allein in das staatliche Bildungssystem, womit sie den Qualifizierungsgrad der Arbeitnehmenden erheblich steigerte.103 Investitionen in modernes Sachkapital, besonders in neue Maschinen und Infrastruktur, ließen die israelische Wirtschaft zudem frühzeitig auf technische Innovationen setzen. Wie Trietsch immer wieder hervorgehoben hatte, hingen Erfolg oder Misserfolg statt von den natürlichen Gegebenheiten eines Landes von den ,Qualitäten‘ seiner Bevölkerung ab. Nicht Palästina, sondern seine jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner – die arabischen Einheimischen blieben für ihn ein lästiges Memento – stellten ihm zufolge den entscheidenden Faktor dar. In der Vergangenheit verbuchte die israelische Wirtschaft zwar tatsächlich immer dann die größten Zuwachsraten, wenn die Zahl der Neueinwander*innen hoch ausfiel.104 Ihre Integration in den Arbeitsmarkt war allerdings nur dank der hohen Kapitalbeträge aus dem Ausland und einer großzügigen Investitionspolitik der Regierung möglich. Beide Faktoren existierten vor 1948 nicht, weshalb Trietschs Forderungen nach einer sogenannten Masseneinwanderung zu Recht auf Kritik stießen. Sein Drängen auf moderne Maschinen setzte hohe Kapitalinvestitionen voraus, die damals schlichtweg nicht vorhanden waren. Insgesamt flossen weniger Gelder nach Palästina, die Kreditbedingungen waren demzufolge schlecht und der Inlandskonsum niedrig. Auch gab es noch keine Regierung, die systematisch in den wirtschaftlichen Aufbau des Landes investiert hätte, etwa durch Steuererleichterungen, Grundüberlassungen oder Schutzzölle. Die Mandatsverwaltung, der sich zwar Fortschritte besonders in der Infrastruktur verdankten, setzte naturgemäß nicht in demselben Maße auf Reformen wie die erste Regierung des neugegründeten jüdischen Staates. Großbritannien hatte auch die Interessen anderer Länder in der Region im Auge, weshalb man die Inlandsproduktion in Palästina durch Zölle nur zaghaft förderte. Zukunft lässt sich aus der Gegenwart nicht linear denken. Weder Trietsch noch seine Kritiker konnten voraussehen, dass sich in wenigen Jahren tatsächlich ein souveräner Staat etablieren würde, dem hohe Kapitalbeträge aus dem Ausland zuflossen. Im Anschluss an die Balfour-Deklaration hatte Trietsch eine ,jüdische 103 Horowitz, The Development of the Economy, S. 240; Klinov, „Wirtschaft, Sozialwesen und Politik“, S. 475 f. 104 Klinov, „Wirtschaft, Sozialwesen und Politik“, S. 469. Die Gründe hierfür sind komplex. Ein wichtiger Faktor dürfte bei den Zugewanderten selbst zu suchen sein, die oft flexibler, motivierter und dynamischer waren als die schon länger im Land lebende Bevölkerung.
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Nationalanleihe‘ zur Diskussion gestellt, sie 1919 aber schon wieder verworfen. Stattdessen setzten er und andere bürgerliche Zionisten wie die sogenannte Brandeis-Gruppe auf die Privatinitiative, die in der Zwischenkriegszeit tatsächlich an Relevanz gewinnen sollte. Die wirtschaftliche Rückständigkeit und politische Instabilität Palästinas boten zwar vorerst wenig Anreiz für Investitionen, wodurch Trietschs großangelegte Pläne auf Grundlage privater Investitionen zurückgewiesen wurden. Die Bedeutung der wirtschaftlichen Privatinitiative für den Aufbau Israels, die von arbeiterzionistischer Seite lange Zeit aus ideologischen Gründen abgelehnt wurde, nahm jedoch kontinuierlich zu. Jüngere Studien haben diesen wichtigen Punkt akzentuiert, der das traditionelle, von der Arbeitspartei geprägte zionistische Masternarrativ (alilat ha-al ha-zionit) herausfordert, das den Aufbau des Landes primär unter sozialistischen Vorzeichen erzählt.105 Das einstige Agrarland Palästina ist heute auf israelischem Territorium eine hochentwickelte Industrie‑ und Dienstleistungsnation mit einer pulsierenden Hightech-Branche. Als Start-Up Nation ist Israel für viele in‑ und ausländische Investor*innen reizvoll, die es regelmäßig zum „innovativsten Land der Welt“106 küren. Die Privatinitiative trug und trägt maßgeblich zu dieser hohen Wirtschaftsleistung bei, die zwischen Zentrum und Peripherie allerdings äußerst ungleich verteilt ist. Eine Ungleichverteilung bleibt auch im Falle von Besitz und Vermögen zu registrieren, die sich infolge hoher Lebens‑ und Wohnkosten weiter zuspitzt.107 Ein Blick auf die Wirtschaft Israels und deren Innovationskapital zeigt, wie weitreichend die Verbindungen in die USA weiterhin sind. So stammt ein Großteil des Venture-Capital aus den Vereinigten Staaten, ebenso wie der größte private Arbeitgeber und Exporteur in Israel der Halbleiterhersteller Intel mit Hauptsitz im Silicon Valley ist.108 Trietsch hatte immer wieder die Bedeutung agronomischer Innovationen unterstrichen, vor allem aus den USA. Früher und intensiver als andere Zionistinnen und Zionisten war er systematisch auf der Suche nach technischen Lösungswegen gewesen, die das kleine Land mit seinen ungünstigen Voraussetzungen künftig für mehrere Millionen Menschen bewohnbar machen sollten. Allein die große Zahl der von ihm vorgeschlagenen Methoden legt nahe, dass nicht allen Erfolg 105 Amit-Cohen, Zionism and Free Enterprise; Halperin, The Oldest Guard. Zur sog. zionistischen Meistererzählung s. Sebastian Schirrmeister, „Plurale Perspektiven. Literaturwissenschaft und Israel-Studien“, in: Becke/Brenner/Mahla, Israel-Studien, S. 155–164, hier S. 158. 106 Dan Senor, Start-Up Nation: The Story of Israel’s Economic Miracle, New York 2009. In deutscher Übersetzung erschien das Buch unter dem Titel: Start-Up Nation Israel. Was wir vom innovativsten Land der Welt lernen können, München 2012. 107 Bereits 2012 kam es in Israel zur sog. Hüttenkäse-Revolution, die gegen steigende Preise u. a. in Supermärkten vorging. 2020 lebte rund jeder fünfte Israeli unterhalb der Armutsgrenze. Fast 30 % der Kinder waren von Armut betroffen. Tibor Luckenbach, „Israel feiert den 72. Geburtstag. Erfolg und anhaltende Herausforderungen“, in: Keren HaYesod Journal 30 (2020), Nr. 2, S. 15. 108 Reinhard Engel, „Erfindungsreichtum und Hightechindustrie“, in: Dachs, Länderbericht Israel, S. 521–530, hier S. 522.
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beschieden war. Ohnehin sollte Trietsch nicht als ein Ideengeber charakterisiert werden, dessen Zukunftsentwürfe mit etwas Verspätung allesamt reüssierten. Sein Vorhaben, galizische Juden auf Zypern anzusiedeln, das nach kurzer Zeit grandios scheiterte, hat das beispielhaft illustriert. Die Mittelmeerinsel, auf der heute rund 350 jüdische Familien leben, ist seit seiner Agitation zu keiner zweiten jüdischen Heimstatt geworden.109 Ein weiteres Beispiel liefert Trietschs ,Fortuna-Pflanzensetzmaschine‘, in die er während der Zwischenkriegszeit viel Zeit und Geld investierte. Von ihrer Konstruktion erhoffte er sich eine Vervielfachung der Ernten, um dem Hunger in der Welt zu begegnen. Wie Trietsch 1926 einmal bemerkte, hätte ihn die „Frage des täglichen Brotes“110 über Palästina hinaus besonders umgetrieben. Angesichts einer schnell wachsenden Weltbevölkerung, die zu dieser Zeit zwei Milliarden zählte, sah er eine ausreichende Versorgung mit Grundnahrungsmitteln in Gefahr. Seine Maschine setzte hier an, blieb aber ohne Erfolg.111 Weder in Israel noch in anderen Ländern hat sich das Verfahren der maschinellen Getreideumpflanzung durchgesetzt. Während der Anbau von Getreide keine Rolle in der israelischen Landwirtschaft spielt, wodurch es fast vollständig importiert werden muss, ist das Umpflanzen junger Getreidepflanzen im Allgemeinen zu kostenintensiv und zeitaufwendig. In die modernen Landwirtschaftsbetriebe, die einer effizienten Zeit‑ und Kostenreduktion folgen, hat es keinen Einzug gehalten. Die Frage, wie viele Menschen unser Planet künftig wird ernähren können, bleibt angesichts einer Weltbevölkerung von acht Milliarden jedoch hochaktuell. Obwohl Trietschs Pläne für Getreideumpflanzverfahren scheiterten, lag ihnen ein elementares Prinzip zugrunde, das die israelische Landwirtschaft bis heute prägt: der Einsatz von Innovationstechnologien. Diese Verbindungslinie lässt sich an der Person Simcha Blass exemplarisch nachzeichnen, der die ,Fortuna-Pflanzensetzmaschine‘ einst für Trietsch gebaut hatte. Blass war damals ein junger, noch unbekannter Ingenieur aus Warschau, dessen Talent zunächst Trietsch entdeckt haben dürfte. Beide Männer verband zeitlebens ein freundschaftliches Verhältnis. Blass, der als ein genialer Konstrukteur galt, im Umgang mit anderen aber als schwierig, sollte 35 Jahre später die berühmte Tröpfchenbewässerung erfinden. Sie gilt als ein Gründungsmythos Israels, da sich die knappe Ressource Wasser erst durch sie auf simple, aber geniale Weise auf die Felder bringen ließ.112 Das von Blass 1965 mitgegründete Unternehmen Netafim, das die bekannten schwarzen Kunststoffschläuche und weitere Wassertechnologien vertreibt, ist seit vielen Jahren globaler Marktführer für Präzisionsbewässerungslösungen. Ganz im Sinne von 109 Zur jüdischen Bevölkerung Zyperns s. die Daten des European Jewish Congress (euroje wcong.org ). 110 Trietsch, An Bord der „Mauretania“. 111 Trietsch hatte selbst „vom völligen Versagen der Umpflanzsache“ gesprochen. Davis Trietsch an Emma Trietsch, 27. 5. 1932. Deutsches Exilarchiv, EB autograph 0894. 112 Reinhard Engel, „Wasser in der Wüste“, in: Dachs, Länderbericht Israel, S. 538–547, hier S. 540.
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Trietsch wirbt das Vorzeigeunternehmen mit dem Slogan „Grow more with less“113 und hat damit auch im Ausland großen Erfolg. So verkauft Netafim viele seiner Produkte an andere Hightech-Nationen, darunter an den Bundesstaat Kalifornien, wo es seit 2011 wiederholt zu anhaltenden Dürreperioden kommt.114 Mit seinen Agrotechnologien ist Israel in den letzten fünf Jahrzehnten zu einem international gefragten Innovationsstandort aufgestiegen, der eigenes Fachwissen in Umlauf bringt. Anders als zu Zeiten von Elwood Mead, dem bekannten Wasseringenieur aus Berkeley, ist das Land nicht mehr einseitig auf externe Wissensbestände angewiesen. Stattdessen empfängt es heute selbst Delegationen ausländischer Wissenschaftler*innen, darunter aus Kalifornien.115 Trietsch kann auch in diesem Kontext als ein wichtiger Vordenker gesehen werden. Schließlich erkannte er frühzeitig die Bedeutung mehrerer Innovationsfelder, die er – häufig begleitet vom Kopfschütteln führender Zionisten – mit großer Euphorie studierte und synthetisierte. Als zentrale Referenzkultur dienten ihm die USA, die ab den ausgehenden 1960er Jahren zum wichtigsten Partner Israels auf politischer und wirtschaftlicher Ebene werden sollten.116 Trotz seiner Affinität für lösungsorientierte Innovationstechnologien, die für die israelische Wirtschaft heute charakteristisch sind, geriet Trietschs Lebenswerk nur wenige Jahre nach seinem Tod in Vergessenheit. Fragt man heute Passantinnen und Passanten in Israel, ob sie mit dem Namen Davis oder David Trietsch etwas anzufangen wissen, erntet man ein Kopfschütteln. Zwar existiert in Tel Aviv eine eigene David-Trietsch-Straße, die an den unkonventionellen Zionisten aus Berlin erinnert, ihre Lage und Länge spiegeln allerdings seine marginale Rolle innerhalb der zionistischen Erinnerungskultur. Im Gegensatz zu den meist zentral gelegenen Straßen zum Andenken an berühmte Zionisten wie Ze’ev Jabotinsky, dessen Name auf personenbezogenen Straßenschildern am häufigsten zu lesen ist, findet man die kleine David-Trietsch-Straße am Rande der Stadt.117 In Tel Avivs Nordosten grenzt sie an den Se’adaya Shoshani Garden, eine Parkanlage, die offenbar an Trietschs Engagement für Gartenstädte erinnern soll. Die unscheinbare Straße in der Peripherie der Stadt zeigt, wie wenig die ZO, die israelische Regierung und die Tel Aviver Stadtgesellschaft bemüht waren, die Erinnerung an einen der bemerkenswertesten Akteure im Frühzionismus wachzuhalten.
113 Siehe
die Homepage von Netafim: https://www.netafim.de/ (Zugriff 12. 3. 2022). California Farmers Can Learn from Israel’s Water-Saving Practices, abrufbar unter: http://newsroom.almonds.com/index.php/content/what-california-farmers-can-learn-from-is rael%E2 %80 %99s-water-saving-practices (Zugriff 12. 3. 2022). 115 „California Delegation Visiting Climate-Smart Israel“, in: Vegetable Growers News, 16. 6. 2016. Abrufbar unter: https://vegetablegrowersnews.com/news/california-delegation-visitingclimate-smart-israel/ (Zugriff 12. 3. 2022). 116 Stephan Stetter, „Israel-Studien und Politikwissenschaft. Wirklich ein State of Exceptionalism?“, in: Becke/Brenner/Mahla, Israel-Studien, S. 102–119, hier S. 115. 117 Zur Funktion der Straßenbenennung siehe Troen/Azaryahu/Golan, „Israel“, S. 23 f. 114 What
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8. Das Lebenswerk von Davis Trietsch
Abb. 9: Festakt zur Eröffnung des Gemeindehauses in Ramot HaShavim. An der Wand hängt ein Porträt von Davis Trietsch, das die Aufmerksamkeit eines Jungen erregt, 1939.
Während das Lebenswerk von Trietsch im kollektiven Gedächtnis des Landes schnell verblasste, ohne darin jemals festverankert gewesen zu sein, pflegt man sein Andenken in Ramot HaShavim mit einem kleinen Trietsch-Erholungsgarten und Gedenkfeiern. Die letzte größere Veranstaltung fand 1990 anlässlich seines 120. Geburtstags statt. Ein Freund der Familie Trietsch-Jeremias stellte im Nachgang der Feier fest, es sei über den Verstorbenen „viel zu wenig geschrieben worden, obwohl er eine der interessantesten Gestalten in der zionistischen Geschichte“118 sei. Überblickt man Trietschs Lebenswerk, so ist er in der Tat als ein bemerkenswerter Zionist zu werten, dessen utopische Visionen vieles vorwegnahmen, was später als typisch israelisch gelten sollte. Ihre Umsetzung in Palästina zu begleiten, vermochte er aus mehreren hier dargestellten Gründen allerdings nicht. Lediglich einen Erfolg konnte er zu Lebzeiten für sich in Anspruch nehmen: die nach seinen Plänen errichtete Siedlung Ramot HaShavim.119 Auf einer Anhöhe nordöstlich des Dorfes, in dem heute knapp 1800 Menschen leben, befindet sich auf einem kleinen, unscheinbaren Friedhof Trietschs Grab. Dem ehemals freien Blick von dort auf die Scharon-Ebene sind heute die Bahngleise der Linie 1 der Israel Railways vorgelagert, die von Be’er Sheva im Süden 118 12-seitiges Redemanuskript anlässlich des 120. Geburtstags von Davis Trietsch, 1990. Privatnachlass von Ada Barlewski sel. A. 119 Siehe auch „Zum Tode von Davis Trietsch“, S. 3.
8.2 Das Lebenswerk von Davis Trietsch in Israel
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nach Ra’anana im Norden führt. Vor dem Friedhof findet sich außerdem der freeway 531, der den Norden des Landes mit der Metropolregion Tel Aviv verbindet. Mit ihren rund vier Millionen Einwohner*innen bildet sie heute das Herzstück Israels, dessen Technologiesektor, Finanzwesen und verarbeitende Industrie hier angesiedelt sind. Trietsch, der visionäre Zionist, der frühzeitig für ein Greater Tel Aviv und die Erschließung des Landes durch ein modernes Straßen‑ und Bahnnetz warb, hätte an der turbulenten Umgebung seiner letzten Ruhestätte sicher Gefallen gefunden. Schließlich zeigt sich dort, um mit seinen Worten zu enden, wie „Narrheit zur Wirklichkeit wird.“120
120 Trietsch,
Bilder aus Palästina, S. 79.
Anhang Davis Trietschs Zypern-Agitation: Ein Purim-Gedicht Scene in Hahns Konditorei An allen Tischen herrscht viel Geschrei. Der Trietsch mit seinem wüsten Bart Kehrt heim von seiner Cypernfahrt, Erzählt, was alles ihm geglückt, Und was er durch die Brill’ erblickt, Durch die er ja, wie allbekannt, Am schärfsten sieht im ganzen Land. (Drum ist sein Urteil auch gesünder Als das der andern Menschenkinder.) Der Dr. Sandler schreit entsetzt: Hört, wie er ketzert, hetzt und petzt!!! Und bald ertönt auch Gottschalks Schrei: Schon wieder ist der Trietsch dabei Und kritisiert schon wieder ruppig, Autoritäten sind ihm schnuppig. Der Trietsch nach Philosophenart Streicht lächelnd den Prophetenbart. Indessen ist der Silbergleit Zum Zuckermausen schon bereit. Der Doktor Schachtel hört in Ruh der großen Trietschdebatte zu. Doch Grünthal spricht. Noblesse oblitsch! Trau bis zum Grab dem großen Trietsch. Auch Trietsch läßt schweren Herzens gleiten den Böhm für „polit’sche Unmöglicheiten“ So wird bei Hahn bei Tag und Nacht die hohe Politik gemacht. Wli.
Abb. 10: Scene in Hahns Konditorei aus der Purim-Zeitung der Zionistischen Vereinigung Breslau, 1905. In der Mitte Davis Trietsch mit seinen beiden Vertrauten Leo Grünthal und Hugo Schachtel, auf die er sich stützen konnte. Hinter ihm Aron Sandler, der den ZypernPlänen dagegen ablehnend gegenüberstand.
Abbildungsnachweise Abb. 1, 4, 6: © The Central Zionist Archives, Jerusalem Abb. 2: Davis Trietsch, Palästina-Wirtschaftsatlas. Mit 30 Karten, Berlin: Orient-Verlag 1926, Lithografie; Mappe aus Papier, Marmorpapier über Strohpappe, Textil, 38,5 x 26 x 1 cm; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2015/680/0 Abb. 3: Karikatur aus Schlemiel. Illustriertes jüdisches Witzblatt, Sammlung aller erschienenen Nummern, Berlin: Verlag von Louis Lamm 1906; Jüdisches Museum Berlin, Inv-Nr. BIB/106.465/0 Abb. 5: Ost und West 1 (1901), Nr. 6, Sp. 443–446, digitalisiert durch die Universitätsbibliothek J. C. Senckenberg Frankfurt am Main [2022], [https://sammlungen.ub.unifrankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/2608914] Abb. 7, 8, 9: © Photo Joseph, Center for Documentation and Heritage Ramot Hashavim Abb. 10: © Archiv des Leo Baeck Institute Jerusalem, Sammlung Breslau Collection 1901– 1975, LBIJER 329
Quellen‑ und Literaturverzeichnis Archivquellen Archiv des Leo Baeck Institute (LBI), Jerusalem Breslau Collection 1901–1975, LBIJER 329 Archiv der National Library of Israel (NLI), Jerusalem Abraham Schwadron Autographs Collection, Schwad 01 09 116 Martin Buber Archive, ARC. Ms. Var. 350 08 823 Archiv des Museums des Deutschsprachigen Judentums, Migdal Tefen (The Open Museum Tefen) G. F. 0440/3 Sammlung Ernst Herrmann (1878–1947) G. F. 0313/40 Sammlung Mirjam und Yisrael Shiloni (1901–1996) Archiv des University College London (UCL) Moses Gaster Papers (1856–1939) Korrespondenz mit Davis Trietsch: 1898/109/65, 1899/111/59, 1899/117/24, 1899/118/6,62, 1899/120/26A, 1899/121/27 The Central Zionist Archives (CZA), Jerusalem A8 Nachlass Adolf Friedemann (1871–1932) A12 Nachlass Otto Warburg (1859–1938) A15 Nachlass Max I. Bodenheimer (1865–1940) A24 Nachlass Menachem Ussischkin (1863–1941) A28 Nachlass Willy Bambus (1862–1904) A80 Nachlass Wilhelm Stiassny (1842–1910) A91 Nachlass Selig Soskin (1872–1959) A104 Nachlass Davis Trietsch (1870–1935) A107 Nachlass Arthur Ruppin (1876–1943) A161 Nachlass Franz Oppenheimer (1864–1943) A396 Ernst Herrmann (1878–1947) H Nachlass Theodor Herzl (1860–1904) F38/1228 Cyprus. Report on a trip to Cyprus by Arthur Ruppin KH1 – Keren Hayesod, Head Office, London KH1/1278 (Reports, correspondence, newspaper clippings etc. Apr. 1923 – Nov. 1924) KH1/1279 (Reports, correspondence, newspaper clippings etc. Nov. 1924 – Jan. 1925) KKL – Jewish National Fund, Head Office, Jerusalem KKL/4251 (Davis Trietsch Lawsuit) L1 – Commission for the Exploration of Palestine and the Palestine Department, Berlin L1/8–130 (Correspondence with various individuals, M to Z) S25 – Jewish Agency, Political Department S25/658 (Reports by Elwood Mead regarding agronomy)
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Bibliografie Davis Trietsch
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Bibliografie Davis Trietsch Selbständige Publikationen – Die Rettung der Juden im Aufbau Palästinas, Verlag der „Neuen Vereinigung“, Tel Aviv 1934. – Die Erste Wirkliche Gartenstadt bei Tel Aviv, Druck Schoschany, Tel Aviv 1933. – Eine neue deutsche Heimstätten-Bewegung, Berlin 1927, Broschüre Selbstverlag. – Die Fassungskraft Palästinas, Verlagsbuchhandlung Dr. R. Färber, Mährisch-Ostrau 1926. – Der Wiedereintritt der Juden in die Weltgeschichte, Verlagsbuchhandlung Dr. R. Färber, Mährisch-Ostrau 1926. – Palästina-Wirtschaftsatlas [mit 30 mehrfarbigen Karten], Orient-Verlag, Berlin 1926. – Palästina-Wirtschafts-Atlas [mit 18 mehrfarbigen Karten], R. Löwit Verlag, Wien 1925. – Atlas der jüdischen Welt, Orient-Verlag, Berlin 1925. – Die jüdische Welt und das neue Palästina, Orient-Verlag, Berlin 1923. – Neue Grundlagen für den Aufbau des jüdischen Palästina, Orient-Verlag, Berlin 1923. – Gartenstadt und Industriedorf. Die beste Form jüdischer Ansiedlung im Orient, OrientVerlag, Berlin 1923. – Jüdische Emigration und Kolonisation, 2. Aufl., Benjamin Harz Verlag, Berlin, Wien 1923. – Palästina-Handbuch, 5. Aufl., Benjamin Harz Verlag, Berlin, Wien 1922. – Die Rolle der Industrie beim Aufbau Palästinas (= Schriften des Keren Hajessod, Heft VIII), Berlin 1922. – Bilder fun Eretz Yisroel, Welt-Verlag, Berlin 1921 [Jiddisch]. – Das neue Palästina, L. Sänger Verlag, Frankfurt a. M. 1920. – Bilder aus Palästina, 4. Aufl., Orient-Verlag, Berlin 1920. – Palästina-Handbuch, 4. Aufl., Welt-Verlag, Berlin 1919. – Palästina und die Juden. Tatsachen und Ziffern (= Schriften des Deutschen Komitees zur Förderung der jüdischen Palästina-Siedlung. Heft VII/VIII), Berlin 1919. – Jüdische Frauenarbeit und Frauenberufe für Palästina (= Vortrag von Davis Trietsch gehalten im Verein „Mirjam“ in Mährisch-Ostrau im März 1919), Mährisch-Ostrau 1919. – Der große Plan zum Aufbau Palästinas (= Schriften des Zionistischen Distriktkomitees für Mähren und Schlesien, Heft III), Mährisch-Ostrau 1919. – Georgien und der Kaukasus, Deutsch-Georgische Gesellschaft, Berlin 1918. – Jüdische Emigration und Kolonisation, Orient-Verlag, Berlin 1917. – Afrikanische Kriegsziele, Verlag Süsserott, Berlin 1917. – Die östliche Judenfrage (= Sonderabdruck aus Heft 3 (März 1916) der Deutschen Monatsschrift für Politik und Volkstum „Der Panther“), Leipzig 1916. – Bilder aus Palästina, 3. Aufl., Orient-Verlag, Berlin 1916. – Deutschland. Tatsachen und Ziffern. Eine statistische Herzstärkung, J. F. Lehmanns Verlag, München 1916. – Deutsch als Weltsprache. Grundlagen und Ziele, Ostlandverlag, Berlin 1916. – Kriegsziele gegen England, Puttkammer & Mühlbrecht, Berlin 1915. – Der Weltkrieg in Wort und Bild, Verlag für Kriegsliteratur, Berlin 1915. – Die Welt nach dem Kriege, Puttkammer & Mühlbrecht, Berlin 1915. – Der Aufstieg des Islam, Puttkammer & Mühlbrecht, Berlin 1915.
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Personenregister Aaronsohn, Aaron 255, 258, 260 Abdülhamid II. 46, 112 Aberle, Alfred 196 Aberle, Bertha [siehe Hemmerdinger] 240 Aberle, Emma [siehe Nickelsburg] 31, 131 Adenauer, Konrad 172 Adler, Elkan Nathan 51 Agnon, Samuel 152–154, 196, 251 Alejchem, Scholem 34 Alexander II. 34 Arndt, Milton H. 268 f. Asch, Schalom 51 Balfour, Arthur 166 Ballod, Carl 171–175, 210, 214 Bambus, Willy 37, 39–41, 116, 143, 152, 201, 204 Becker, Carl Heinrich 71 Bein, Alex 46, 89, 111–113, 141, 175, 213 Ben Zvi, Yitzhak 222, 264 Ben-Gurion, David [David Grün] 45 f., 141, 222 Berger, Julius 87, 139, 141, 148, 175, 187, 224, 263, 281 f. Bernstein-Kohan, Jacob 141 Birnbaum, Nathan 66 f., 113, 124 f., 141 Blass, Simcha 240, 283, 320 Bloch, Ernst 4–6, 9, 20, 173 Blumenfeld, Kurt 9 f., 66, 138 f., 141, 144, 214, 280–282 Bodenheimer, Max 88, 141, 156 Böhm, Adolf 176, 182, 205, 227, 300 Bonne, Alfred 55, 276 Brandeis, Louis D. 232, 283, 319 Breuer, Isaac 244 Brisch, Louis 18, 266 f. Buber, Martin 57 f., 63, 87, 110 f., 115 f., 141, 153, 179
Burbank, Luther 237–239, 259, 264, 269, 283 Burbridge, O. H. 267 f., 272, 275 Calvary, Moses 51, 137 Carraher, Frances [Franzisca Nickelsburg] 30 Chamberlain, Joseph 103 f., 109, 112, 118 f. Cohen, Israel 260 Cohn, Dina Aron [siehe Zaduck-Nauen] 132 Cohn, Helen Hanna 223 Cowen, Joseph 118 Damaschke, Adolf 26, 84 Diamant, Paul 187 Dilke, Sir Charles 16, 96–100 Dizengoff, Meir 3, 83, 141, 154 Einstein, Albert 172 Elitzur, Uri 78 Farbstein, David 156 f. Feiwel, Berthold 34, 51, 74, 87, 120, 141 Flavius Josephus 184 Ford, Henry 208, 225, 238, 306 Friedemann, Adolf 104, 115, 122, 141, 143, 146, 304 Friedman, Ben Zion 264 Fritsch, Theodor 62, 306 Fulda, Ludwig 151 Gaius Caesar Augustus Germanicus [Caligula] 93 Gaster, Moses 32, 88, 90, 103, 111 f., 141, 159 Geiger, Ludwig 64 George, Henry 26, 84, 186 Ginsberg, Isidor 121 Goldberg, Abraham 213
376
Personenregister
Gottheil, Emma 7 Götz, Oscar 133–135, 138 Greenberg, Leopold Jacob 112, 118 Gronemann, Sammy 39, 116–118, 137, 142, 145–147, 149 Grothe, Hugo 71, 106 Grünthal, Leo 148, 312 Guggenheim, Sally 121 Hall, Bolton 186, 188, 269 Harms, Bernhard 163 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 139 Heine, Heinrich 32 f. Hemmerdinger, Bertha [siehe Aberle] 240, 311 Herrmann, Ernst 13, 84, 172, 209, 214–217, 229–231, 239, 253, 262, 264, 269–271, 278, 282–284, 295, 309 Herrmann, Jehuda 239 Herzl, Theodor 5, 8 f., 11 f., 15, 19, 37, 40 f., 47, 78, 81, 89, 95, 108, 110–119, 145–148, 157, 169, 172 f., 175, 206, 213, 245, 247, 251, 266, 282, 303 f., 321 Heß, Wylli [!] 104 f. Heymann, Hans Gideon 121 Hirsch, Maurice de 101 Horowitz, David 315–318 Howard, Ebenezer 26 f., 211 Hubert, Philip G. 185 Igel, Karl 286–288, 290–294 Jabotinsky, Vladimir [Ze‘ev Jabotinsky] 169 f., 174, 189, 213, 232, 321 Jeremias, Hannah [siehe Trietsch] 12, 131, 134–136, 165 f., 195, 214, 216 f., 230, 283 f., 295–297, 299, 310 Joffe, Eliezer 178, 190 f., 257, 285 Jungmann, Max 1, 11, 142 Kahn, Bernard 243 f., 253 Kastein, Josef 284 Kästner, Erich 217 Kaufmann, Betty 115 Kiewe, Kurt 286, 288 f. Klee, Alfred 142 Klein, Hermann 244
Klemperer, Victor 8 f., 81 Kloetzel, Cheskel Zvi 2 f., 137, 143, 292 Kohn, Hans 55 Kramer, Joseph L. 274 Landau, Saul Raphael 11, 116, 147 Leers, Peter 286, 288–293 Lepkovsky, Samuel 274 Levy, Alexander 13, 83 f., 141, 227–229, 233, 262, 269, 283 Lichtheim, Richard 122 f., 141 f., 145–148, 174 f., 180, 222 f., 295 Lilien, E. M. 87, 120, 143 Lindheim, Irma 232 Lissauer, Ernst 167 Litvinsky, Emil 296, 311 Litvinsky, Moshe 296, 311 Lloyd George, David 76, 122 Loewe, Heinrich 7, 39, 73, 117, 142, 152, 154, 201, 216 f. Lord Cromer 112 Maisel-Schochat, Channa 267 Majeran, Maximilian 258 Mandelstamm, Max 141, 158 Mead, Elwood 25, 259–262, 309, 321 Mehmed V. 71 Meir, Golda 264 Menuhin, Batya 265 Morgenthau, Henry jun. 231 Morgenthau, Henry sen. 223, 231–233 Moses, Erich 287, 289 Mosley, Oswald 97 f. Motzkin, Leo 87 f., 123, 141, 159 Mühsam, Erich 217 Musil, Robert 4 Muthesius, Hermann 196 Napoleon Bonaparte 33 Nathan, Paul 102, 104 Naumann, Friedrich 71, 94 Nickelsburg, Bernhard 130–132 Nickelsburg, Berthold 217 Nickelsburg, Emma [siehe Aberle] 131 Nickelsburg, Grete 217 Nikolaus II. 67 Nordau, Max 158, 173
Personenregister
377
Nossig Alfred 13 f., 42, 47, 108, 116 f., 119–124, 127, 147, 159, 302
Sternberg, Hans 284 Syrkin, Nachman 213
Oettinger, Jakob [Jacob Akiva Ettinger] 174, 190 f. Oppenheimer, Franz 18 f., 40, 84, 119, 142, 188, 197, 201, 206, 212, 248, 316
Taylor, Frederick Winslow 220, 225 Tergit, Gabriele [Elise Reifenberg] 26, 273 f., 309 f. Thomaschewsky, Emma [siehe Trietsch] 7 Thomaschewsky, Hulda [siehe Zlocisti] 7 Thon, Jakob 195 Tiomkin, Vladimir 213 Trachtenberg, I. M. 82 Treidel, Alfred 154, 253 f. Treidel, Joseph 154, 254 Treidel, Oskar 154 Trietsch, Alfred 131 Trietsch, Alfred Benjamin 131, 165 f. Trietsch, Benno 129 Trietsch, Carl 129, 131 Trietsch, David [Cousin von Davis Trietsch] 30 Trietsch, David [Onkel von Davis Trietsch] 132 Trietsch, Davis [Syn. B. Ebenstein, Bendavid, Ben David, Ben-David]: passim Trietsch, Emanuel 283, 295, 297, 299 Trietsch, Emma [siehe Thomaschewsky] 7, 12, 52, 99, 115, 131, 136, 162, 195 f., 217, 229 f., 282–284, 295, 298 f., 309, 320 Trietsch, Friedrike 131 Trietsch, Hannah [siehe Jeremias] 12, 131, 134–136, 165 f., 195, 214, 216 f., 230, 282–284, 295–297, 299, 310 Trietsch, Johanna 130 Trietsch, Judith 136, 298 Trietsch, Ludwig 129, 131 f. Trietsch, Nathan David 130 f. Trietsch, Rosalie 129–132, 135 Tschlenow, E. W. 141
Paperin, Léon 105 Pasmanik, Daniel 16, 142, 256 Philo von Alexandrien 93 f., 184 Präger, Mayer 62 Preuss, Walter 316 Rabinowicz, Oskar K. 17 Ratzel, Friedrich 80 Rohrbach, Paul 16, 71 Rosenblüth, Felix 137 Rosenblüth, Martin 137, 180 Rothschild, Nathaniel Mayer 89 Rothschild, Walter 166 Ruppin, Arthur 7, 9, 19, 24, 52, 63, 152, 154, 158 f., 162, 174–180, 183 f., 190 f., 201, 203, 212, 231, 248–250, 260, 263, 266, 275, 299, 301, 305, 313 f., 316 Ruppin, Selma 162 Ruthenberg, Pinhas 204 Schachtel, Hugo 114, 119, 122, 142 f., 146, 231, 325 Schaeffer, Shepsal 73 Scheinkin, Menachem 154–156 Segel, Binyamin 66 f., 70 Shamir, Moshe 15 Shapiro, Aaron D. 263, 265 Simmel, Georg 139 Simonsohn, Emil 117, 142 Smith, Sir William Haynes 103 f., 109, 118 f. Sokolow, Nahum 182 Sonnenschein, Rosa 73 Soskin, Selig 2 f., 13 f., 119, 142, 150, 159, 177 f., 188–192, 199, 256, 262, 270 f., 275, 302, 305, 310 f. Stampfer, Josua 89 Stern, William 290 f. Sternberg, Fritz 180 f., 202
Ussischkin, Menachem 85, 125, 127, 141, 177, 202, 260 Warburg, Felix 231–233 Warburg, Otto 102, 104, 117, 119, 121, 123 f., 126, 139, 142, 146, 148, 151, 159, 201 f., 206, 231, 264, 273, 304 f., 313
378
Personenregister
Warren, Charles 189 Weeks, Charles 269–271, 306 Weinmann, Yitzhak 289 Weisl, Wolfgang von 95, 142, 232 Weismann, Martin 48, 50, 142 Weiss, Akiva Arieh 84 Weizmann, Chaim 87, 144, 166, 176 f., 203, 232, 243, 256, 261 f., 300 Wilhelm II. 49, 67 Wilkansky, Yitzhak [Yitzhak ElazariVolcani] 191, 256–260, 263–266, 273, 275, 303
Wolffsohn, David 7 f., 12, 122, 140, 147 f., 213 Zaduck-Nauen, Dina Aron [siehe Cohn] 132 Zangwill, Israel 114, 117 f., 125, 128, 141, 302 Zlatopolsky, Hillel 118 Zlocisti, Hulda [siehe Thomaschewsky] 7, 298 Zlocisti, Theodor 6, 144, 152, 160, 248 f., 280, 297 f.
Ortsregister Adana [osmanische Provinz] 91 Afghanistan 125 Ägypten 36, 42, 76 f., 88, 91, 125, 163, 190, 277 Akko 48, 74 Alabama 258 al-Arish 77 f., 88, 91, 182, 303 Alexandrette [İskenderun] 92 Angola 126 Apulien 45 Arabien 42 Argentinien 41, 300 Arizona 255 Armenien 42 Atlit 255 Auschwitz 13, 62 Australien 79, 96, 126 Babylonien 48 Baltimore 73 Basel 8, 11, 40, 73, 85, 113, 117, 126, 261 Będzin 168 Be'er Sheva 75 f., 322 Belarus 25, 32, 154 Bengasi [osmanische Provinz] 91 Berkeley 259, 274, 321 Berlin 1, 5, 8, 14, 30, 39, 45, 48 f., 52, 65, 69, 71, 86, 88, 95, 102, 104, 117, 119, 120, 126, 132, 134, 138 f., 142–144, 152 f., 156, 161 f., 171, 174, 178, 182, 187 f., 196, 201 f., 205, 214, 216 f., 219, 229 f., 234, 240, 253, 256, 271, 273, 278, 282–284, 286 f., 297–299, 309, 321 Bern 256 Bessarabien 178 Białystok 121 Binyamina 259 Boryslaw 102, 104, 107 f., 154, 308 Braunsberg [Braniewo] 52
Breslau [Wrocław] 95, 312 Britisch-Ostafrika 75, 114, 264 British India 97 Budapest 216 Buffalo 230, 243 Bukarest 112 Central California Colony 246, 250 Central Valley 254 Charlottenburg 139, 141 Chicago 26 f., 154, 195 China 236, 241, 256 Coachella Valley 255 f. Colorado-River 255 Colorado-Wüste 254 f. Cyrenaika 71 Damaskus 46, 75, 182 Dan 76, 79 Davis 264 Dessau 299 Deutsches Reich [Kaiserreich] 49, 61 f., 95, 218 f. Deutschland 1, 5, 8, 10, 14, 16, 22–26, 29, 32, 37, 40, 45, 49, 53, 59, 61 f., 65, 67, 70, 71 f., 78, 84, 117, 123, 130, 142, 147, 150–154, 156, 158, 160, 162, 187, 206, 216–220, 226, 229–231, 234, 240 f., 247, 249, 254, 277 f., 280, 282–284, 286 f., 293, 295 f., 298–300, 306, 314, 318 Dominions 97 f. Dresden 129 f. Dubrouna 85 El-Arisch 89, 91, 112–114, 122 f., 128, 302 Emek Jisreel 183, 244 England 27, 63, 82, 114, 159, 167, 187, 198 Eretz Israel 8, 77, 89, 244 Euphrat 15, 77, 124, 158
380
Ortsregister
Fiume [Rijeka] 110 Frankfurt am Main 130, 244 Frankreich 36, 40, 65, 158, 160 Fresno 246 Galatz [Galaţi] 109 f., 115 Galizien 62, 65 f., 153 Galveston 128 Gaza 75 Gazastreifen 76 Gazimağusa/Famagusta 301 Goldene Medine 32 Griechenland 94, 172, 231 Großbritannien 16, 23, 26, 36, 40, 48, 65, 72, 76, 78, 89, 96 f., 98, 158, 162, 167, 211, 218 f., 258, 277, 306, 318 Gush Dan 84 Hadera 308 Haifa 2, 47 f., 53, 91, 155, 177, 191, 202, 214, 253, 255, 259, 270 f., 308, 310 Hamburg 187, 231 Hebron 75 Illinois 221, 260 Indien 42, 97, 158, 256 Irak 77, 124 Israel [Staat] 2 f., 5, 14, 17, 20, 24, 26 f., 78, 84, 212, 222, 228, 265, 290, 293, 297, 301 f., 308, 315–322 Jaffa 38, 45 f., 48, 52–54, 75, 121, 153, 155 f., 160–162, 195, 197, 212, 233, 235 Japan 219, 236, 241 Jemen 56, 58–60, 246, 303 Jerusalem 2, 8, 33, 38 f., 48, 52 f., 57, 75, 93, 99, 121, 155, 157, 160, 162, 166, 195, 203, 222 Jordanien 46, 76 f. Jordantal 254 Kalifornien 3 f., 18, 20, 24 f., S. 190, 198 f., 236–239, 246 f., 249 f., 252, 254–256, 258–263, 265–270, 275, 290, 307, 309, 314, 321 Kanada 24, 97, 126, 260 Kanarische Inseln 194 Kapstadt 89
Katowice 243 Kaukasus 56 Kenia 11, 15, 75, 118 Kfar Malal 287 Kfar Shmaryahu 290 Kiew 88 Kiriath Mosche [Siedlung der AJKO] 121 Kischinew [Chisinău] 34, 114 Kleinasien 76, 91, 125, 163 Köln 8, 153 Königsberg [Kaliningrad] 195, 256 Konstantinopel [Istanbul] 36, 43, 47, 58, 76, 98, 109, 122 Kreta 42, 93 Kurdistan 42 Kurfürstendamm 217, 295 Larnaca 101, 107, 301 Latakia 92 Lateinamerika 219 Lemberg [Lwiw] 13, 102 Lettland 171 Libyen 42, 91 Lichtenberg 217 London 36, 49, 82, 88, 91, 96–98, 101, 103, 109, 112, 114, 118, 122, 157 f., 160, 166 f., 170, 177, 182 f., 258, 261, 301, 312 Long Island 253 Los Angeles 236, 258, 267 Louisiana 258 Ma’agan Michael 265, 308 Mähren 51 Maine 235 Manhattan 32, 233 Mannheim 195, 231 Margo 101 f. Massachusetts 238 Mayen 253 Mecklenburg-Vorpommern 76 Medina 46 Mekka 46 Mesaoria 118 Mesopotamien 42, 48, 50, 91, 121, 127 Messingwerk [Eberswalde] 137 Michigan 208, 225 Migdal 297
Ortsregister
Minsk 96 Mississippi 255 Moldau 34 Moldawien 255 Nahalal 267 Naher Osten 29, 48, 56, 245 Nebraska 255 Neuengland 73 New Jersey 30, 189, 289 New York 29–32, 35–39, 41, 59, 73 f., 82, 89, 92, 139, 185, 188, 196, 217, 224, 226, 228–231, 233, 236, 238, 240, 242, 245 f., 249, 253, 255–260, 263, 265, 268, 274 f., 290, 298, 306 Nikolsburg [Mikulov] 131 Nil 113 Odessa 45, 154–156, 169 Ohio 241, 290 Osmanisches Reich 36, 43, 49, 62, 69 f., 75, 88, 106, 160, 202 Ostasien 42, 241 Österreich 241, 275 Österreich-Ungarn 94, 141, 150 Owensmouth [Winnetka] 269
381
Rawitsch [Rawicz] 9 Rom 93, 106 Romanisches Café 200 Saida 92 Samos 42 San Diego 236 f. San Francisco 238, 263 f., 266 Sanremo 167 Santa Rosa 259, 264 Scheunenviertel 279 f. See Genezareth 184, 192, 248, 253, 297 South Pasadena 198 Sowjetunion 24, 168 Spanien 23, 160 Sri Lanka 97 St. Louis 247 f. St. Petersburg 33 f., 49 Südamerika 23, 156, 226, 256 Südkalifornien 254 f., 270 Suez Kanal 50 Syrien 40, 42, 75 f., 85, 88, 93, 120 f., 163, 182
Paris 38, 40, 49 Pennsylvania 220 Peoria 221 Persischer Golf 50 Petach Tikwa 89 Petaluma River 265 Petaluma 263–267, 269–272, 289 Phönizien 93 Polen [Großherzogtum] 32 Polen 24, 32, 192, 222, 245 f., 264, 297 Polen-Litauen [Adelsrepublik] 33 Poria 248 f. Port Said 45, 91 Prag 55, 216, 276
Tel Aviv District 83 f. Tel Litvinsky [Tel HaShomer] 296 f., 310 Teneriffa 194 Teplitz [Teplice] 153 Texas 126, 128, 255, 258, 260 Thüringen 53 Tiberias 195, 222, 247, 297 Transjordanien [Emirat] 169, 182, 188 Triesch [Třešť] 131 Triest 45, 107, 168 Tripolis 92 Tripolitanien 71 Tschurubasch [Priozernoe] 13 Türkei 36 f., 43, 46, 49, 69–72, 79, 91, 94, 170, 172, 231 türkischer Orient 16, 42 f., 50, 70
Ra’anana 249 f., 258, 323 Rafah 77, 88, 182 Ramat Gan 296 Ramatayim [Hod HaSharon] 312 Ramot HaShavim 26, 249, 263, 278, 286–290, 292 f., 295 f., 309–311, 322
Uasin Gishu Plateau 75 Ukraine 25, 32–34, 126, 168 Ungarn 69 USA [Vereinigte Staaten von Amerika] 3, 6, 16, 20 f., 24–26, 30–32, 34–37, 39, 41, 43–45, 48, 50, 53, 57, 73 f., 97 f.,
382
Ortsregister
123, 156, 158, 160, 184, 187–189, 198, 203, 206, 213, 218–234, 236–242, 245–249, 252–259, 263–265, 267 f., 270–276, 285, 289–292, 306–309, 314, 318–321 Vineland 289 Washington County 234 Washington D. C. 255, 258, 308 Westjordanland 76
Wien 8, 49, 66, 95, 110, 113, 153, 163, 168, 180, 205, 211, 216, 244, 304 Wilmersdorf 214 Worms 30, 130, 132 Württemberg 52 Zürich 156 Zypern 15, 17, 36 f., 41 f., 69, 71, 85, 88 f., 91 f., 100–108, 110–118, 120, 125, 128, 150, 153, 158, 163, 167, 182 f., 250, 300–302, 304, 309, 312, 320
Sachregister Achusa Aleph 257 Achusat Bayit 84, 212, 313 Agricultural Experiment Station 255 Agronom*in 2, 13, 191, 255, 267 Agrotechnologie 3, 321 Agudas Jisroel [Aguda] 205, 209, 243–246, 252 f., 309 Agudat Netaim 247 Ägyptisch-Palästina 88 f., 91 f., 121 f. Akademiker 140–142, 147, 303 Akkulturation 130, 136 Aktionismus 9, 180, 214, 238, 252 Aliyah Bet 301 Aliyah 65, 203, 245, 259, 277 f., 301 Alldeutscher Verband 69 Allgemeine Jüdische Kolonisations-Organisation 120–123, 302 Allgemeines Informationsbureau für Palästina 155, 160 f. Alliance Israélite Universelle 38 American Economic Committee for Palestine 274 American Jewish Joint Distribution Committee [Joint] 228 American Silk Factors 236 f., 314 amerikanischer Geist 221–226, 234, 238, 307 Amerikanisierung 220, 223 Amerikawahrnehmung [im Zionismus] 220–224, 307 Anglo Palestine Company 52 Ansiedlung 1, 36 f., 41–44, 58 f., 62, 64, 70, 100, 112, 118, 121, 127 f., 137, 175, 209, 215, 231 f., 247, 250, 252, 271, 283, 295, 297, 301, 310 Ansiedlungsrayon 157 Antiamerikanismus 223, 307 Antisemitismus 5 f., 8, 35 f., 65, 70, 123, 225, 246, 306 Araber [einheimische Bevölkerung Palästinas] 20, 45 f., 54 f., 59, 169, 177,
188 f., 195, 208 f., 250, 260, 271, 276, 291, 300 f., 303–305, 315 f., 318 Arabisch 59 Aufnahmefähigkeit [Palästinas] 124, 171, 175, 178, 189 Außenpolitik 16, 49, 219 Autodidakt 35, 129, 139, 144, 221, 307, 310 Automatisierung 218 Avoda Ivrit 250, 270 Babylonisches Exil 93 back-to-the-land movement 26, 185 f., 188, 269, 314 Bagdadbahn 50, 64, 69, 91, 124 Balfour-Deklaration [Balfour-Erklärung] 127, 166 f., 176, 227, 252, 300, 318 Bauindustrie 194, 202, 243 Berliner Zionistische Vereinigung 214 Bevölkerungsaustausch 172, 231 Bewässerung 171, 189 f., 199, 254 Bezalel-Verein 52, 195, 197 Bodenfläche 2, 185 f., 278, 286, 293, 317 Bodenreform [Reformbewegung] 84, 187 Botanik 150 f., 256 Brandeis-Gruppe 232 f., 319 Breslauer Zionistische Vereinigung 114, 119, 312 Bund Deutscher Bodenreformer 187 Centralverband Deutscher Industrieller 163 Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 62, 86, 121 Chaluka 38 f., 133, 222 Chaluzim 180 f., 261, 310 Chaluziut 307 Chaluzot 180 f., 261, 310 Charter 112 Cherut [politische Partei] 169
384
Sachregister
Chovevei Zion 39–41, 73, 82, 85, 88, 111, 118, 155 Churchill-Memorandum 178 College of Agriculture [Rausser College of Natural Ressources] 259 Colonial Office 104, 118, 157, 182 f.
Fortuna-Pflanzensetzmaschine 240–242, 320 Frauenfrage [im Zionismus] 196, 299 Friedenskonferenz von Versailles 77, 167, 182 Frühzionismus 7 f., 11 f., 15, 211, 321
Dampfschifffahrt 99, 200 Dawes-Plan 218 Debattenkultur [im Zionismus] 11 f., 15, 75, 100, 127, 138, 224, 248, 257 Delegiertentag [der ZVfD] 78, 126, 174, 243, 248 Department of Poultry Husbandry 274 Deutscher Palästina-Verein 78 f. Diaspora [Galut] 5, 8, 15, 18, 27, 38, 56, 78, 82, 91, 94, 100, 127, 137, 180, 212, 232, 285, 302 Diasporaaufstand [Zypern] 106 Doktortitel 13, 143 Drainage 193, 259 Dreibund 70 Dunam 165, 174, 190 f., 261, 269, 278, 286 f., 290, 297
Gartenbau 185 f., 189 Gartenstadt 184, 205–207, 209, 211 f., 249, 296, 310 Gartenstadtagitation [von Davis Trietsch] 27, 287, 306 Gartenstadtdezernat [der ZO] 205 Gartenstadtidee 18, 26 f., 84, 211 f. Geflüchtete [jüdische] 29, 32, 39, 55, 102, 106, 124, 128, 171, 285, 300 f., 310, 315 Geflügelindustrie 25, 264 Geflügelwirtschaft 20, 25, 233, 236, 263–267, 270–278, 289 f., 292, 296, 307–309 Gegenwartsarbeit [im Zionismus] 27, 232 gemischte Wirtschaft 191, 277 f., 286 Gemüsebau 190–192, 270, 278, 283, 286, 296, 310 Genossenschaft 18, 84, 118, 208, 247 Gerste 239 Getreideumpflanzung 240, 242, 320 Greater Britain 16, 92, 96–100 Greater Israel 15 Greater Palestine 15–18, 27, 42, 72 f., 82–87, 91 f., 94 f., 98–100, 111 f., 114, 117 f., 120 f., 124, 126, 128, 156, 163, 182–184, 210, 300, 302 f., 305 Greater Tel Aviv 83 f., 249, 323 Grenzen 15, 42, 73, 75–77, 79, 81 f., 85, 92, 95, 97, 128, 169, 182, 188, 302 f. Größeres Deutschland 16
Effizienz 3, 26, 193, 199, 221, 223, 307 Eierfarm 263, 270, 278, 283, 286, 296 f. Eierproduktion 265, 267, 270–273, 276 Einküchenhaus 196 El-Al [Kooperative] 292 El-Arisch-Expedition 89, 122 Emigrants’ Information Bureau 157 English Zionist Federation 112 Erster Weltkrieg 49, 63, 76, 86, 91, 157 f., 165, 182, 186 f., 202, 204, 225, 233, 241, 255 f., 259, 264 f., 273, 276, 304, 306, 314, 317 Esra-Verein 39–41, 58, 120, 160, 234, 253, 281, 283, 295 Europäisierung 54 f., 98 Expertise [für Palästina] 143, 189, 245 extensiv [Bodennutzung] 182, 185, 189, 241 Federation of American Zionists 74, 227 f., 243 Ford Motor Company 225 Foreign Office 122
Hachschara 284 Hadassah 227 f., 232 HaPoel HaTzair 257 Hausindustrie 194, 201, 204 Hebräisch [Ivrit] 9, 64, 284, 287, 298 Hebräische Bibel 76, 78, 93 Hebräische Universität 291 Hedschasbahn 46–49
Sachregister
Heimstättenaktion 18, 252, 311 High Commissioner of Cyprus [Hochkommissar] 103, 109, 167, 177 Hilfe zur Selbsthilfe 39, 133, 221, 228 Hilfskomitee für die Boryslawer Arbeiter 104 Hilfsverein der deutschen Juden 102, 155–157, 243 Histadrut 177, 286, 293, 312, 317 Homestead Act 186 Hühnerrasse 273, 291 Hydroponik [Hydroponics] 2 f. Hyperinflation 146, 279, 281 Immigration Act 41 Industrie 41, 53, 114, 185, 192–197, 202–206, 215, 218 f., 234, 304, 316 f., 319, 323 Industriedepartment [der ZO] 203 Industriedorf 204 f., 209, 211 Inkubator 265, 290 Innovation [technologisch] 3, 20, 139, 189, 201, 215, 220, 227, 229, 242, 265, 268, 305 f., 308, 318 f. intensive Landwirtschaft 3, 13, 171, 184, 186, 190 f., 242, 305, 310, 317 Irrigation 191, 259 Jewish Agency 19, 231, 310 Jewish Territorial Organization 75, 125–128, 302 Jiddisch 59–61, 66 f., 74, 160, 289 Jischuv 38 f., 89, 127, 179 f., 189, 203, 257, 261, 279, 277, 283, 285 f., 292, 298 f., 302, 304, 307 f., 316 f. Jüdische Kolonialbank 52 Jüdische Orient-Kolonisations-Gesellschaft 18–20, 118 f., 121, 123, 184, 208, 266 Jüdischer Kolonisationsverein [Wien] 40 Jüdischer Nationalfonds 183 f., 189, 207 f., 235, 261, 281 f., 287, 310 Jüdischer Verlag 86 f., 120, 177 Jungtürkische Revolution 170 Kalif 46, 71 Kapitalkonzept [Pierre Bourdieu] 143 f. Kap-Kairo-Bahn 47, 89
385
Keren Hayesod 184, 191, 205, 231, 262, 270, 281 Kfar Shitufi 293, 311, 316 Kinneret [Landwirtschaftsfarm] 253 Kleinsiedler 179, 181, 190 Kleintierzucht 179, 266 Kolonialismus 16, 21–23, 50 f., 68, 167, 209 Kolonialverwaltung 23, 158 Komitee zur wirtschaftlichen Erforschung Palästinas 159 Kriegsagitation [Erster Weltkrieg] 17, 68, 306 Ku-Klux-Klan 228 Kulturzionismus 27, 63, 87 Kunstgewerbe 139, 194, 202 Kwuzah/Kwuzot 257 Landkauf 41, 118, 183, 261, Landprogramm 93, 118, 126, 128 landwirtschaftliche Industrie 25, 194, 207, 210 landwirtschaftliche Versuchsstation 255, 273–275 Landwirtschaftlicher Rat [Vaad Haklaut] 191 Legebatterie 268 Legeleistung 268, 271, 273, 291 Lichtbildvortrag 151, 153 Liftvan 216 Luftmenschen 33 Luther-Burbank-Institut 238 MacDonald-Weißbuch 285, 301 Mandatssystem 20, 76, 95, 167, 182, 194, 256, 277, 284, 290, 300, 314, 318 Marxismus 5 maschinelle Umpflanzung 241, 282, 320 Maskit 299 Masseneinwanderung 2, 127, 318 Massenproduktion 218, 225 Maulbeerbaum 236 f., 239 Mechanisierung 218, 225 Mehrheitsgesellschaft [nicht-jüdische] 5, 36, 68, 133 Melioration 193 Menschenmaterial 44, 81, 179
386
Sachregister
Milchwirtschaft 53, 190, 273, 275, 277, 296 Missernte 102 Mitteleuropa [politisches Konzept] 71, 94 Mittelmächte 165 Mittelstandssiedlung 286, 293, 296, 310 Moshav/Moshavim 293, 303, 316 Moshava/Moshavot 222, 293 Nachbarländer [Palästinas] 15, 42 f., 44, 87, 92–95, 119, 121, 123–128, 140 f., 154, 156, 159, 161, 183, 192, 207, 215, 221, 262, 300 Nachkriegszeit 168, 176, 306 Nationalanleihe 251 f., 318 f. Nationalismus 5, 47, 60, 68 Nationalökonomie 150, 215 Nationalsozialismus 6, 279, 299 Nauen’sche Erziehungsanstalt 132, 134 Nichtzionist*innen 19, 101, 92, 153, 184, 205, 262, 302 Nordau-Plan 173 NSDAP 279, 298 Nutzpflanzen 2 f. Odessaer Komitee 156 Office of Foreign Seed and Plant Introduction 256 Okzident 57 f., 66, 98, 105 Optimismus 10, 31, 110, 175, 205, 283, 298, 313 Orangenanbau 184, 194, 250, 278 Orient 16, 42–44, 50, 57 f., 80 f., 98, 105, 121, 156, 163, 193, 198 Orientalismus 42, 57 Orient-Verlag 189, 215 Ostafrikafrage 114–116 Österreichische Länderbank 102 Ostjuden 59, 171 Pachtsystem 187, 207 f., 251 Palästina-Amt 168, 174, 180 Palästina-Handbuch 45, 48, 160–163, 204, 217 Palästina-Industriesyndikat 201, 203 Palästina-Kommission [der ZO] 119, 159
Palästinakrieg [Israelischer Unabhängigkeitskrieg] 91 Palästinakunde [protestantische] 78 Palästina-Reise 160, 162 Palestine Economic Corporation 233 Palestine Homestead Corporation 243, 252 f. Palestine Information Bureau 234, 236, 243 Palestine Jewish Colonization Association 183, 270 Palestine Railways 91 Petersime 290 Pflanzenzüchtung 2, 237, 275 Pflanzmaschine 240, 242, 282, 303 Pflanzungsverein Palästina [der ZO] 247 Plant Hunters 256 Plasson Industries 308 Pogrom 34, 36, 114, 168, 280 Posener Resolution 248, 280 Post-Post-Zionist-Historiography 11 Post-Zionism 11 Poultry Advisory Committee 274 Praktiker 26, 138, 225, 309 praktischer Zionismus 27, 245 Präsident [der ZO] 11 f., 47, 112 f., 115 f., 118, 144, 172 f., 243, 261, 301 primärer Sektor 316 Privatinitiative 194, 203, 232, 274, 314, 317, 319 Privatwirtschaft 202, 236 Pro Palästina. Deutsches Komitee zur Förderung der jüdischen Palästinasiedlung 171 f. Protokolle der Weisen von Zion 225 Quoten [Einwanderung] 41, 43, 285 Quoten [Universitäten] 35, 228 Raumvision/-wahrnehmung 13, 81, 302 Revisionismus [im Zionismus] 95, 169 f., 189, 232, 307 Ritualmordlegende 34 Roaring Twenties 228 Rückwanderungsquote 155, 253 Russisch-jüdischer wissenschaftlicher Verein 144 Ruthenberg-Projekt 204
Sachregister
Säkularisierungsprozess 57, 136 San Francisco and North Pacific Railroad 265 Scha’are Zion [Verein] 87 f. Schienennetz 46, 50, 90, 99 Schildermaler 29 f., 35, 139 Schlagwort 16, 94, 96–98 scientific community 150 Seidenbau 236–238, 261, 266, 314 Seidenraupen 236 f. sekundärer Sektor 193, 316 f. Selbststudium 35, 139, 148, 215 Selbstversorgung 185 f., 188–190, 208, 269 f., 272, 283, 296 Sephardic-Yemenite Colonization Association 59 Shoah 13, 311, 315 Siedlungsgenossenschaft 18 f., 188, 208, 269, 292 Sinai Military Railway 91 Small Holders Cooperative Society 191, 262 Solarthermie 4, 198 Sonnenmotor 4, 191, 199 [Foto], 242, 254, 305, 313 Sozialismus [im Zionismus] 5, 9, 25, 174, 180, 250, 257, 285, 307, 310, 316, 319 Sozialreform 26, 187, 206, 208 Spitzenindustrie 194–197, 237 Sprachenstreit [in Palästina] 64 Statistik 67, 86, 141, 181, 230, 288 Subsistenzwirtschaft 210 Superlativismus 200, 224 Sweatshops 35, 196 Talmud-Tora-Institut 134 Tanach 78 Taylorismus 220 f., 232 Technikbegeisterung 24, 199 Templer 53, 202 Territorialisten 126–128 Textilindustrie 33, 194, 203, 264, 266 Transfer [von Wissen] 3, 14, 20, 22, 25 f., 256, 273, 307 Triple Entente 70 f. United States Department of Agriculture 255 f., 258 f., 273, 308
387
University of California 3, 259 Urbanisierung 187, 286 Utopie 4–6, 20, 67, 322 Verbürgerlichung 130, 133 Verkehrswesen 46, 48, 207 Vertrag von Lausanne 172 Verwandtenhilfe 234, 245 Village Industries 208, 211 Visionen 4–6, 10, 17 f., 26, 44, 47, 83, 89, 94, 98, 174, 214, 304 f., 311, 313, 322 Völkerbund 76, 167, 169 Wanderbund Blau-Weiß 214 Weimarer Republik 218, 278, 281 Weinbau 194 Weltwirtschaftskrise 97, 228, 237, 241, 282 White Leghorn 273, 276, 287 [Foto], 290 Wissensbestand 3, 14, 25 f., 79, 149, 253, 256, 259, 321 Wissenschaftsgeschichte 23 Wissensgesellschaft 142 Wohnungselend 187 World Zionist Organization 8 Zahal 297 Zedaka 133 Zeitökonomie 200, 221 Zion 4, 8, 38, 125 Zionismen 6 Zionismus 4–6, 8–12, 17, 20 f., 23, 26 f., 38, 43, 44, 51, 56, 64–66, 74–79, 86, 101, 105, 111, 113, 119, 125 f., 136 f., 138, 140, 142, 148, 150, 152, 166, 170–176, 196, 213 f., 224, 227, 232 f., 245, 249, 265, 296, 299, 302, 305–307 Zionistische Exekutive 12 f., 88, 103, 190, 260, 275, 278, 300, 317 zionistische Leitung [ZO-Leitung] 7, 12 f., 19 f., 25 f., 28, 56, 87, 110, 113, 115, 119, 122, 125, 127, 140, 146, 148, 150, 168, 173, 175, 177, 179 f., 183, 190, 201, 203 f., 205, 211, 225, 228, 232, 235, 256, 258, 263, 266, 274 f., 282, 307, 309–311 Zionssehnsucht 8 Zitrusindustrie 25, 277, 308
388
Sachregister
Zollpolitik 202 Zukunftsentwurf 20, 304 Zweite Industrielle Revolution 49 Zweiter Weltkrieg 68, 81, 141, 276, 286, 292, 297, 301, 317 Zwischenkriegszeit 9, 20, 25, 69, 83, 95, 152, 157, 180, 182, 184, 194, 200, 204,
212, 214, 216, 225, 226 f., 229, 245, 257, 264, 267, 269, 270, 277, 280, 300, 307, 309, 316, 319, 320 Zypern-Agitation 37, 102, 111 Zypern-Projekt 100, 110 f., 114 f., 118, 126, 150, 153, 250, 304, 309
Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts Herausgegeben vom Leo Baeck Institut London unter Mitwirkung von Michael Brenner, Astrid Deuber-Mankowsky, Sander Gilman, Raphael Gross, Daniel Jütte, Miriam Rürup, Stefanie Schüler-Springorum und Daniel Wildmann (geschäftsführend)
Die Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts ist eines der führenden Publikationsorgane für die Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums in Europa. Seit der ersten Veröffentlichung im Jahr 1959 sind mehr als 70 Monographien und Sammelbände in der Reihe erschienen. Das Spektrum der Veröffentlichungen ist umfassend: So deckt die Reihe einen Zeitraum von der Aufklärung bis in die Moderne hinein ab, mit einem Schwerpunkt auf der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Beiträge vereinen klassische politik- und sozialgeschichtliche Ansätze mit modernen Entwicklungen aus den Bereichen der Intellectual History, Kulturgeschichte, Gender Studies, Körpergeschichte, Wissenschaftsgeschichte oder Musikwissenschaft. Unter den Autoren und Autorinnen der Reihe finden sich Namen wie Selma Stern oder Jacob Toury aus der Gründergeneration des Faches wie auch die gegenwärtigen Vertreter der Forschung wie Christian Wiese oder Simone Lässig. ISSN: 0459-097X Zitiervorschlag: SchrLBI Alle lieferbaren Bände finden Sie unter www.mohrsiebeck.com/schrlbi
Mohr Siebeck
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