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German Pages [740] Year 1998
Europäische Kulturstudien Literatur - Musik - Kunst im historischen Kontext Herausgegeben von
Klaus Garber, Hanns-Werner Heister, Jutta Held Band 9
Harry Goldschmidt
Das Wort in Beethovens Instrumentalbegleitung herausgegeben von
Hanns-Werner Heister
1999 Böhlau Verlag Köln Weimar Wien
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Das vorliegende Buch ist der dritte Band der „Beethoven-Studien" von Harry Goldschmidt. Band 1 erschien unter dem Titel „Beethoven-Studien I. Die Erscheinung Beethoven", Leipzig 1974. Band 2 erschien unter dem Titel „Beethoven-Studien II. Um die unsterbliche Geliebte. Eine Bestandsaufnahme", Leipzig 1977.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Goldschmidt, Harry: Beethoven-Studien / Harry Goldschmidt. - Köln ; Weimar ; Wien : Böhlau Bis Bd. 2 im Dt. Verl. für Musik, Leipzig Bd. 3. Goldschmidt, Harry: Das Wort in Beethovens Instrumentalbegleitung. - 1999 Goldschmidt, Harry: Das Wort in Beethovens Instrumentalbegleitung / Harry Goldschmidt. Hrsg. von Hanns-Wemer Heister. - Köln ; Weimar ; Wien : Böhlau, 1999 (Beethoven-Studien / Harry Goldschmidt; Bd. 3) (Europäische Kulturstudien ; Bd. 9) ISBN 3-412-03096-1 Umschlagabbildung: Collage unter Verwendung einer Federzeichnung von Moritz von Schwindt (Münchner Privatbesitz) sowie einer Skizze Beethovens zur „Missa solemnis". © 1999 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Alle Rechte vorbehalten Satz und Lithografie: Punkt für Punkt GmbH, Düsseldorf Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Druck u. Bindung: Druckerei Runge GmbH, Cloppenburg Printed in Germany ISBN 3-412-03096-1
Inhalt
Geleitwort I von Ludwig Pinscher Geleitwort II von Hartmut Krones Vorwort des Herausgebers Editorische Vorbemerkung von Marina Gordienko VORWORT DES AUTORS I
MODELLFÄLLE DES EINFACHEN LIEDES
II VOR-, NACH- UND ZWISCHENSPIELE Die Vorspiele Unveränderte Antizipation Teilweise veränderte Antizipation Vollständig veränderte Antizipation Typus der nicht mehr wiederkehrenden Einleitung „Ritornell" und Ritornell
Die Nachspiele Unvariierte Seconda volta Variierte Repliken Kurze nachgezogene Schlüsse Interpretierende und kommentierende Instrumentalschlüsse
Synonyme Nachspiele Authentische Ritornelle „Ritornelle"
ix XIII
xv xix 1 19 25 25 26 42 68 68 79
129 129 155 138 143
153 153 164
VI Die Zwischenspiele Authentische Zwischenspiele Einschübe und Interpolationen
182 182 214
Antizipierende Einschübe Rekapitulierende oder replizierende Einschübe Invariable Repliken Variante Repliken Synonyme Repliken Rommunizierende Einschübe Weitere Ritornell-Probleme Interpolationen
215 243 244 263 274 279 289 308
III REZITATIV, MELODRAM U N D INTRODUKTION .
329
Das Rezitativ Das Leonoren-Rezitativ Ein Rezitativ aus der Joseph-Kantate (WoO 87) Das Eingangsrezitativ aus dem Oratorium Christus am Ölberge (op. 85)
331 331 343
Das Melodram Das Melodram aus Leonore Prohaska Ein Melodram aus König Stephan Das Mde/to-Melodram Das Eg-moni-Melodram
357 360 364 370 379
Die Introduktion Der Elegische Gesang (op. 118) Der Trauerchor aus der Joseph-Kantate (WoO 87) Die Introduktion zu Christus am ölberge Introduktion und Rezitativ zur Florestan-Arie
399 401 409 430 443
IV DAS OBLIGATE PRINZIP Die Leonoren-Arie Das Quartett aus dem 2. Akt des Fidelio Das Dona nobis pacem der Missa solemnis Adelaide (op. 46) Als die Geliebte sich trennen wollte (WoO 132) An die Hoffnung (op. 94) An die ferne Geliebte (op. 98)
348
479 481 495 511 542 566 574 593
VII
SCHLUSSBETRACHTUNG
632
Anhang PROSODISCHE VERFAHRENSWEISEN BEI CHRISTIAN GOTTLOB NEEFE
636
Die Erinnerung Ranzonette aus Claudine von Villa Bella aus den Serenaten, beim Klavier zu singen (1777) Die Sommernacht Eine Sopranarie aus Adelheit von Veltheim Ein Recitativo accompagnato aus derselben Oper Sophonisbe - letzter Auftritt
639 644 648 656 674 686
VERZEICHNIS DER BEHANDELTEN WERKE
701
SIGEL
706
LITERATURVERZEICHNIS
707
DANRERSTATTUNG
715
Geleitwort I von Ludwig Finscher
Das nachgelassene Werk - in erster, aber in sich geschlossener und vor allem schlüssiger Fassung vorliegend - ist gleichsam das erste Kapitel der großen Synthese, auf welche die langjährigen Beethovenstudien des bedeutenden Gelehrten erkennbar zielten. So schmerzlich das Fehlen des zweiten Kapitels, der Darstellung des Zusammenspiels von vokaler und instrumentaler Sphäre in der „reinen" Instrumentalmusik auch ist, so dankbar muß man für den vorliegenden Text sein. Goldschmidt geht von der Beobachtung aus, daß Beethovens Vokalmusik und erst recht das, was er mit einem glücklichen Ausdruck das „partizipierende Eigenleben" der instrumentalen Sphäre in ihr nennt, von der Beethovenforschung seit jeher vernachlässigt worden ist und daß analytische Betrachtungen, soweit sie überhaupt vorliegen, sich allzu schnell mit dem Konstatieren und Beschreiben der Struktur „textierte Melodie und Begleitung" begnügt haben. Dem stellt er als Gegenmodell die Einheit von vokaler und instrumentaler Ebene entgegen, die sich einerseits in der Übertragung der Idee des „obligaten" Satzes selbst auf einfache Liedtypen, andererseits in einer (für alle Musik Beethovens postulierten) durchgehend prosodischen Struktur der instrumentalen Ebene (in synonymen und idionymen Bezügen), schließlich in einer semantischen Strukturierung durch „Schlüsselwörter" (eine Lieblingsidee Goldschmidts) manifestiert. Das für Beethoven zentrale, in den späteren Jahren immer wichtiger werdende Schlüsselwort - dies hat der Verfasser in früheren Studien schon ausführlich dargestellt, auf die er hier zurückgreifen kann - soll „Hoffnung" sein. Dieses in sich eindrucksvoll geschlossene Konzept, das die gewohnten Interpretations-Modelle der Beethovenforschung entschieden hinter sich läßt, wird im Hauptteil der Arbeit in systematischer Gliederung anhand einer Vielzahl von Analysen von Liedern und Abschnitten aus den großen Vokalwerken (Fidelio, Christus am Ölberge, 9. Symphonie, Missa solemnis) ausgeführt und zugleich auf seine Tragfähigkeit geprüft. Eindrucksvoll ist dabei einerseits die tief ins Detail gehende Gründlichkeit der Analyse, bei der oft auch - mit z.T. sehr erhellenden Ergebnissen, z.B. zur Reihenfolge der Entstehung von Formteilen eines Werkes - die Skizzen ausgewertet werden; eindrucksvoll ist andererseits - nicht zuletzt im Vergleich mit älteren Arbeiten des Verfassers - die methodische Umsicht, mit der die eigene Position immer wieder hinterfragt wird und mit der auch Fälle dargestellt werden, die nicht
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ins „System" passen. Einen erheblichen Fortschritt gegenüber den älteren Arbeiten zeigt auch der Umgang mit dem Konzept der „Schlüsselwörter", die jetzt auch aus dem Rontext des je einzelnen Werkes herauspräpariert werden - und das sind in der Regel die überzeugenden Beispiele, während die „übergeordneten" Schlüsselwörter jetzt wie früher ihre problematische Seite haben. Bei allen Vorbehalten, die der konventionell arbeitende Musikhistoriker gegenüber einem solchen Konzept haben kann und wohl haben muß, lesen sich die Analysen durchweg überaus anregend, ja spannend, und es gibt eine ganze Reihe von Abschnitten, die geradezu Kabinettstücke sind - so über das „Dona nobis pacem" der Missa solemnis und über das Finale der 9. Symphonie, über die Introduktion zur Christus-Szene in Christus am Ölberge und zur großen LeonorenArie im Fidelio. Fast durchgehend überzeugend, d.h. aus dem Material abgeleitet, wirkt die Darstellung dessen, was man Beethovens prosodisches Denken auch in instrumentalen Strukturen nennen könnte - ein Ansatz, der in der Beethoven-Interpretation (übrigens auch in der praktischen) eine erhebliche Bedeutung bekommen könnte und sollte (die Beziehung dieser Form des kompositorischen Denkens zu Beethovens Lehrer Neefe, die Goldschmidt im Anhang der Arbeit herstellt, könnte leicht ergänzt werden durch den Hinweis auf die Kompositionslehre Heinrich Christoph Kochs). Es ist unvermeidlich, daß eine so entschiedene Ausarbeitung eines so originellen Konzepts Widerspruch auslöst, vor allem im analytischen Detail. An manchen Stellen scheint mir die Interpretation einen Schritt zu weit zu gehen - so bei der Deutung der instrumentalen Strophen (Variationen) der Freuden-Melodie im Finale der 9. Symphonie als (quasi) „singend" zusammenströmende Menge, wenngleich der Eindruck des Anwachsens einer Menge unabweisbar, der Bezug auf die Feste der französischen Revolution fast unabweisbar ist Nicht ganz selten wirkt die Überlagerung der vertonten Textworte durch „selbständig konvergierende Synonyme" z.B. „Alleluia") weit hergeholt; prosodische und mimetische Aspekte - grundsätzlich methodisch sauber auseinandergehalten - werden in solchen Fällen vielleicht allzu schnell zur Deckung gebracht. Der Schluß mit der ausführlichen Interpretation der Lieder Adelaide, Als die Geliebte sich trennen wollte, An die Hoffnung und des Liederkreises An die ferne Geliebte zeigt die Vorzüge und die Schwächen des Konzepts noch einmal deutlich: sie sind durchweg glänzende Analysen, aber die gleichsam in einem großen crescendo sich steigernde Fixierung auf das Schlüsselwort „Hoffnung" ist am Notentext - teilweise - nur mit Mühe nachzuvollziehen. An der Interpretation des sehr merkwürdigen Liedes Als die Geliebte sich trennen wollte zeigt sich schließlich eine eher läßliche Sünde, die wohl alle engagierten Beethovenforscher einmal begehen: Goldschmidt
XI nimmt, eben weil das Lied so befremdlich ist, einen tieferen Sinn hinter den Befremdlichkeiten an und versucht ihn zu entschlüsseln; nach dem Prinzip der einfachsten Interpretation liegt es aber viel näher anzunehmen, daß dies einfach ein mißglücktes Stück ist (und das gibt es eben auch bei Beethoven) - zumal es ganz fest in der Tradition der modischen französischen Romanze des späten 18. Jahrhunderts steht Die hier gemachten Einwände sollen keineswegs dazu dienen, das Werk Goldschmidts herabzusetzen - sie sollen im Gegenteil demonstrieren, daß man diesen Entwurf sehr ernst zu nehmen hat und daß er gründlich diskutiert und weiterverfolgt werden sollte. Schon aus diesem Grund - ganz abgesehen von der Vielzahl wertvoller Einsichten, die es vermittelt - ist seine Veröffentlichung sehr zu begrüßen. Für die Beethoven-Forschung, in der die Werk-Interpretation (abgesehen von jüngeren Entwicklungen in den USA, diese aber meist unter dem dogmatischen Vorzeichen der „Schenkerian Analysis") noch immer ziemlich im argen liegt, ist es ein höchst wichtiger Text
Geleitwort II von Hartmut Krones
Harry Goldschmidt hat sich in jahrzehntelanger Forschung eingehend mit Leben und Werk Ludwig van Beethovens auseinandergesetzt und zahlreiche unschätzbare Ergebnisse vorgelegt. Zu den wichtigsten zählen dabei insbesondere jene, die Beethovens Naheverhältnis zum Wort (als gleichsam emphatischem Mittel einer im Sinne der alten rhetorischen Kunst gestalteten Mitteilung bzw. Verkündigung) einerseits, zur Literatur andererseits untersuchten und unter anderem beweisen konnten, daß der Komponist sogar in seiner Instrumentalmusik „wortgeprägt" bzw. prosodisch orientiert war. Noch deutlicher liegt naturgemäß dann eine Prägung instrumentaler Linien durch Worte - ja durch einen Text - vor, wenn es sich um Vor-, Zwischen- und Nachspiele von Liedern, aber auch von größeren Vokalmusikformen, handelt, in denen die Melodien vorweggenommen, variiert, wiederholt, verknappt oder erweitert werden; gerade in Vorspielen „singt" das Klavier logischerweise den Text vorweg, ehe die Gesangsstimme einfallt und nun tatsächlich die Worte mit Musik versieht. In diesem Zusammenhang von Interesse erscheint es auch, wenn Beethovens erster Biograph Anton Schindler berichtet, daß Beethoven den Interpreten seiner Klaviermusik den Rat gab, nach der „Methode gebildeter Sänger" zu verfahren oder gar „bisweilen passende Worte einer streitigen Stelle unterzulegen und sie zu singen...". Harry Goldschmidt nimmt in seiner nachgelassenen Schrift nun alle jene Erkenntnisse und Tatsachen zum Ausgang für umfangreiche Nachforschungen, wie das Wort-Ton-Verhältnis in verschiedenen Vokalwerken gestaltet erscheint. Unter anderem zieht er für seine Untersuchungen auch Skizzen des Komponisten heran, die in vielen Fällen zusätzliche Hinweise auf Melodieprägungen durch Worte geben und zudem tiefe Einblicke in Schaffensweise und „Werkstatt" Beethovens vermitteln. Solcherart ergeben sich durch akribische Untersuchungen geradezu sensationelle Erkenntnisse zur Missa solemnis, zur Oper Fidelio sowie zum Melodram aus der Z?gmoni-Musik. Doch auch zahlreiche Lieder (z.B. Adelaide oder An die Hoffnung) erfahren Beleuchtungen, die das bisherige Wissen um diese Werke wesentlich bereichern. Ein Grundprinzip des methodischen Vorgehens von Harry Goldschmidt bei diesen Untersuchungen ist die Unterscheidung zwischen sogenannten „Cantando"- und „Sonando"-Melodisierungen, also zwischen genuin vokaler und instrumentaler Erfindung. Spezielle Semantisierungen gerade in wortgeprägter Instrumentalmusik zeigen aber,
XIV in welch hohem Ausmaß eine Durchdringung der beiden Prinzipien stattfindet: Einerseits kann Goldschmidt mit Recht von einer „stellenweisen Tropierbarkeit selbst des Sonando" sprechen, andererseits sind Cantando und Sonando gleichermaßen von Prosodie und Wortbau geprägt und somit häufig von ähnlicher, nicht zuletzt auch bildhaft durchdrungener Gestalt Auch hier gelingt es dem Autor, Beethovens von genauen inhaltlichen Vorstellungen geprägte Rompositionsweise tiefer zu verstehen und dies auch anschaulich darzustellen - besonders überzeugend sind seine Ausführungen zum Melodram aus der Egmont-Musik, in dem er gewisse prosodische Eigenheiten des Textes bis in kleinste Baubestandteile der Musik hinein zu verfolgen weiß. Eine spezielle Methode Goldschmidts, gewissen Werken Beethovens sogenannte „Schlüsselwörter" zuzuordnen, deren Wortduktus und Affektfelder die Melodie, ja sogar die gesamte Faktur, prägen bzw. „auslösen", erscheint zwar auch in vorliegender Schrift bisweilen problematisch (weil allzu absolut und übersteigert angewandt), doch im Rontext der allgemeinen Wort- und Versprägung kann sogar dieser Ansatz bestehen. In einzelnen Fällen trägt er durchaus zu Erkenntnissen über die semantischen Schichten der Werke bei - gerade in diesem Zusammenhang muß bedauert werden, daß Goldschmidts plötzlicher Tod diese Untersuchungen vorzeitig abgebrochen hat. Schließlich liegt ein weiterer Vorzug der Goldschmidtschen Untersuchungen im Herausarbeiten der Bedeutung, die Beethovens Lehrer Christian Gottlob Neefe - und damit auch die von der Affektenlehre geprägte Ästhetik von dessen großem Vorbild Carl Philipp Emanuel Bach - für unseren Romponisten besitzt. Neefe war es, der den jungen Beethoven nachdrücklich mit inhalts- und textgeprägter instrumentaler Rompositionsweise vertraut gemacht hat, er war es wohl auch, der ihm die alte Ansicht von der Musik als „Rlangrede" nahebrachte, und er ist für Beethoven daher wohl auch das wesentliche Verbindungsglied zwischen „alter" Nachahmungsästhetik und „neuer" Gefühlsästhetik, welche beiden Prinzipien im Oeuvre unseres Romponisten zu einer letzten großen Synthese fanden. Goldschmidt vermag dies am Beispiel wortgeprägter Instrumentalmusik deutlich herauszuarbeiten, wodurch sich die angesprochenen stilgeschichtlichen Verbindungen ganz konkret analytisch nachweisen und daher endgültig dingfest machen lassen. Die hier in aller Rürze dargestellten Vorzüge bzw. Ergebnisse der Arbeit „Das Wort in Beethovens Instrumentalbegleitung" werden ganz sicher zahlreiche weitere Forschungen initiieren und auch das methodische Spektrum der Beethoven-Literatur wesentlich bereichern. Für sich allein stellen die Untersuchungen eine Summe von neuen Erkenntnissen zum Schaffensvorgang der Beethovenschen Musik dar, die bereits jetzt geeignet ist, das Bild des Meisters in etlichen Bereichen zu ergänzen, ja, neu zu formen.
Vorwort des Herausgebers
Harry Goldschmidt, 1910 in Basel geboren, 1986 in Dresden gestorben, war einer der bedeutendsten Beethoven- und Schubert-Forscher unseres Jahrhunderts. Er kam aus „gutbürgerlichem" Milieu; er studierte am Konservatorium seiner Vaterstadt Basel (Felix Weingartner) und an der Basler Universität (Karl Nef, Jacques Handschin) Musikwissenschaft, Ethnologie, Philosophie; weitere Studienjahre in Königsberg (Hermann Scherchen), Berlin, Paris schlössen sich an. Vor allem unter dem Einfluß von Scherchen wie auch von Manfred Bukofzer begann Anfang der 1930er seine produktive Aneignung des Marxismus, die er bis an sein Lebensende in immer neuen Ansätzen fortführte, auch im Zusammenhang mit der fortschrittlichen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung. So arbeitete er als Musikkritiker der Basler Nationalzeitung und des Schweizer Vorwärts, organisierte Arbeitersymphoniekonzerte der Gewerkschaften und leitete einen Arbeiterchor. Von Paris aus nahm er mit Mythen-und Sprachforschern an Feldforschungen in Westafrika teil, die nach vier Monaten wegen des Kriegsbeginns abgebrochen werden mußten. 1948 übersiedelte Goldschmidt aus der Schweiz nach Berlin und wurde Leiter der Musikabteilung des Berliner Rundfunks, 1950 dann Professor für Musikgeschichte an der Deutschen Hochschule für Musik; 1955/56 lehrte er in der VR China. 1961 übernahm er Aufbau und Leitung des Zentralinstituts für Musikforschung. Ansonsten wirkte er vor allem als freiberuflicher Musikforscher mit pointierten Beiträgen zu einem umfangreichen Fächer der Teilbereiche von Musikgeschichte und Musikästhetik in Diskussionen, Vorträgen, Schallplatteneinführungen und Veröffentlichungen. Seit den 1970ern konzentrierte sich die stofflich-thematische Vielfalt seiner Studien allmählich auf das Gebiet der Wiener Klassik (mit Schwerpunkten Beethoven und Schubert) sowie systematische Grundfragen der Musikwissenschaft und -ästhetik im Spannungsfeld von Musiksprache und Realität, zumal der historisch-gesellschaftlichen. Die Verfahren und Methoden bei der Erforschung dieses Spannungsfelds und der Dechiffrierung von „Musik im Sozialkontext" gehen oft genug bis ins philologische oder gar kriminologische Detail der Untersuchung von Wasserzeichen, Fahrplänen, Kopistenhandschriften usw. Bei aller Vielfalt der Ansätze und Themen betonte Harry Goldschmidt in der musikalischen Analyse die für die Erkenntnis und den Erkenntnischarakter der Musik entscheidende Bedeutung des Worts, die intimen genetischen wie strukturellen Beziehungen zwi-
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sehen Musik und Sprache. Im Zentrum seines Interesses standen dabei latente generative Tiefenstrukturen in der Musik, die (wieder) manifest werden zu lassen für Goldschmidts wissenschaftliches, musiksystematisches Ingenium eine der stärksten Herausforderungen bildete. Konkret heißt das, daß er u.a. mit methodologisch und methodisch aufwendig abgesicherten Verfahren instrumental erklingende Musik gedanklich-analytisch „tropiert", also mit Textzuordnungen versieht, oder gegebenenfalls sogar vokale Musik mit einem zusätzlichen Text kontrafazierL In einem vielstufigen Forschungsprozeß, gekennzeichnet durch das Verfahren von methodisch angelegtem Versuch und Irrtum, probierte er unermüdlich mögliche, wahrscheinliche, manchmal auch unmögliche Text-Zuordnungen aus, vorzugsweise eben zu sogenannter „reiner" Instrumentalmusik, um eine reflexionslos als gültig angenommene „dualistische Musikästhetik" zu überwinden. Dabei waren es in späteren Jahren vor allem tradierte Schlüsselwörter, denen sein Hauptaugenmerk galt: zumal das über fast zwei Jahrtausende sanktionierte und milliardenfach eingehämmerte „Kyrie eleison" und das korrelative Jubel-Wort „Alleluja", das mindestens bis ins Zeitalter der Wiener Klassik sicher weit über den Bereich der kirchlichen Musik hinaus ausstrahlte und angesichts der noch fortdauernden Rolle der Religion auch ausstrahlt. Für die Klassik schienen Harry Goldschmidt zentrale Parolen „Hoffnung" oder „Freude". Solche oft umstrittenen Tropierungen sind freilich nur ein kleiner Teil des großen analytischen Werks. Während die Suche nach Schlüsselwörtern der erwähnten allerallgemeinsten Art, die er vor allem in seinen letzten Lebensjahren betrieb, über weite Strecken oft experimentell-vorläufigen Charakter hatte, gibt es in seinem breitgefächerten Ansatz viele und überzeugende und diskussionslos gültige Ergebnisse - auch und gerade in den Beethoven-Studien. Harry Goldschmidt hat, von zahlreichen, oft großen unvollendeten Werken abgesehen, über 90 Veröffentlichungen vorzuweisen. Davon widmen sich zwei gewichtige Bücher Schubert, drei Beethoven (dazu kommt noch ein unter Pseudonym veröffentlichtes umfangreiches Drehbuch für einen imaginären Beethoven-Film). In unserem Zusammenhang zu erwähnen sind v.a.: Franz Schubert - Ein Lebensbild, Berlin 1954 (7. Überarb. 1980). Um die Sache der Musik, Leipzig 1967 (2. erw. 1976). Die Erscheinung Beethoven (Beethoven-Studien I), Lpz. 1974. Um die unsterbliche Geliebte: Eine Bestandsaufnahme (Beethoven-Studien II), Lpz. 1977. Cantando-Sonando. Einige Ansätze zu einer systematischen Musikästhetik, in: Musikästhetik in der Diskussion, Lpz. 1977. Aspekte der gegenwärtigen Beethoven-Forschung, in: Beiträge zur Musikwissenschaft, 1976 (H. 1) u. 1978 (H. 4). Das Wort in instrumentaler Musik: Die Ritornelle in Schuberts Winterreise (Zwischen/Töne Bd. I), Hamburg 1996.
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Mit den Beethoven-Studien III liegt nun ein weiteres Ergebnis jahrzehntelanger Arbeit vor. Methodisch innovativ, untersucht Goldschmidt hier systematisch die strukturellen und semantischen Prägungen der instrumentalen Teilsysteme in Beethovens gesungener Musik. Schlüsselformulierungen bzw. Codewörter für die „Tropierung" (Textzuordnung) dieser Teilsysteme gewinnt er aus den Vokaltexten selber oder aus den erwähnten allgemeineren MottoParolen „Freude", „Hoffnung" u.a.m. Er deckt mit solcher „prosodischer" Analyse neue und präziser gefaßte semantische Dimensionen in Beethovens Werk auf. Diesen Sprachcharakter der Tonkunst untersucht er exemplarisch in sämtlichen Vokal-Gattungen in Beethovens Oeuvre - Oratorium, Kantate, Messe, Lied, Melodram, Finale der Neunten. Die Wurzeln dieser Musikästhetik in Bestrebungen und Traditionen der Aufklärung werden überdies noch deutlicher durch einen ausführlichen Anhang mit entsprechenden Analysen einiger Werke von Beethovens Lehrer Christian Gottlob Neefe. In seiner zur konventionellen Musikauffassung querständigen experimentellen, bei aller Innovationsfreude aber doch weitgehend abgesicherten Kühnheit eröffnet das Buch der Beethoven-Forschung wie der Musikästhetik neue, bislang kaum berücksichtigte Horizonte und Perspektiven. Wie die anderen zentralen analytischen Arbeiten von Goldschmidt zeigen auch die Beethoven-Studien III, wie ergiebig es ist, die musikalische Analyse so weit wie irgend möglich zu treiben, nichts unaufgehellt und unaufgeklärt zu lassen und nicht vor den Schwierigkeiten eines entwickelten, kognitiven Musikverstehens irrationalistisch oder skeptizistisch oder formalistisch zu kapitulieren. Wie Beethoven (1819 in einem Brief an den Erzherzog Rudolph) sah Goldschmidt „Freiheit, weiter gehn" als Zweck „in der kunstweit wie in der gantzen großen Schöpfung". Das hier nun vorliegende Buch, der III. Band von Goldschmidts Beethoven-Studien, repräsentiert ein letztes, wenn auch im Grunde nicht eigentlich abgeschlossenes Stadium dieses lebenslangen Weitergehens. Es ist eine der beiden umfangreichen, jahrelang, in manchen Aspekten sogar jahrzehntelang vorbereiteten Studien zur Frage der Zusammenhänge zwischen Wortsprache und Musiksprache, die bei dem plötzlichen Tod Harry Goldschmidts im November 1986 im Prinzip satzfertig vorlagen, wenn auch seiner Auffassung nach noch weiterer Revision bedürftig (s. dazu die Editorischen Vorbemerkungen). (Die andere Studie befaßt sich, als zweites großes der Schubert gewidmeten Bücher, mit dem Wort im Instrumentalsystem von Schuberts Winterreise - s.o. die Literaturhinweise.) Unsere Edition bringt den vollständigen Text des Manuskripts samt den noch von Harry Goldschmidt bearbeiteten Notenbeispielen. Zusät-
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ze und Anmerkungen des Herausgebers, Marina Gordienkos und Silke Wenzels stehen in eckigen Klammern. Ich danke Marina Gordienko für die sorgfältige und unschätzbare Hilfe bei Vorbereitung und Korrekturlesen am Typoskript, Silke Wenzel für entscheidende Hilfe bei den letzten Korrekturgängen sowie Iris Gehrke für das geduldige und in vielen Fällen entgegenkommende Lektorat. Außerdem danke ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die mit ihrer großzügigen finanziellen Unterstützung die Drucklegung dieses Buchs ermöglicht hat Hanns-Werner Heister
Editorische Vorbemerkung von Marina Gordienko
Mit dem vorliegenden Band III der „Beethoven-Studien" von Harry Goldschmidt wird nun das ursprünglich als vierbändig geplante Forschungsprogramm abgeschlossen. Während in den beiden früheren Bänden das Schwergewicht auf biographische Probleme fällt, findet man es hier auf die musikalischen verlegt. Der Band III befaßt sich mit dem Wort in Beethovens Instrumentalmusik, d.h. mit dem instrumentalen Teilsystem seiner Vokalmusik. Hiervon ausgehend, beabsichtigte Goldschmidt im vierten und letzten Band die Zuordnungsverhältnisse in Beethovens reiner Instrumentalmusik näher zu untersuchen, wobei dafür empirische Untersuchungen seit Jahrzehnten die Arbeitsgrundlage bildeten. Seit langem angekündigt und mehrfach überarbeitet liegt mit Band III nun ein abgeschlossenes Ergebnis umfangreicher Analysen im instrumentalen Umfeld der Vokalmusik Beethovens vor. Mehr als einmal sah sich Goldschmidt vor die Tatsache gestellt, das bereits Fixierte und Etablierte wieder in Frage zu stellen. Dabei war er selbst stets sein schärfster Kritiker und mußte beim Ringen um ein akzeptables und plausibles Ergebnis - was nahezu an die Grenzen seiner physischen und psychischen Kräfte ging - stets erneut Revidierung und Modifizierung einzelner Analysen hinnehmen. Seine Skepsis gegenüber der Endgültigkeit der Methoden ließ ihn letztmalig im Frühjahr 1986 das bereits druckfertige Manuskript zurückziehen, da ihm eine umfassende Überarbeitung unumgänglich schien. Sein jäher Tod im Herbst 1986 riß ihn jedoch aus dieser Arbeit heraus. Da der Band nun in seiner ursprünglichen und unüberarbeiteten Fassung erscheint, sollen hier einige grundsätzliche Bemerkungen festgehalten werden, die Goldschmidt zu einer Überarbeitung bewogen hatten, und die der Verfasserin dieses Vorwortes aus den Arbeitsgesprächen bekannt sind. Die konzeptionelle Grundidee zu seinem Änderungsvorhaben entstand parallel zu der Untersuchung der prosodischen Strukturverhältnisse in Liedern und Arien von C.G. Neefe, J.A. Hiller und C.Ph.E. Bach. Hier gewann Goldschmidt mehr und mehr die Erkenntnis, daß die prosodische Analyse sowohl in Vokal- als auch Instrumentalwerken auf der Basis kürzester syllabischer Entitäten und weniger mittels genuiner Repliken durchführbar sei. Bezogen auf Beethovens Vokal-
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musik hieße das, die Komprimierung seiner Sprachlichkeit auf eine Handvoll Sprachfiguren, wobei die bisher systematische Betrachtungsweise durch eine chronologische ersetzt werden sollte. Was zunächst durch kleine Korrekturen auf sich aufmerksam machte, wuchs heran zu einer radikalen Umgestaltungsarbeit. Bemerkenswert dabei war, daß hier eine jahrzehntelange Forschungsarbeit durch eine spontane Idee ausgetauscht werden sollte. So war es nicht verwunderlich, daß Kollegen und Freunde, die Goldschmidt über dieses Projekt informierte und konsultierte, mit zögernder Skepsis reagierten. Dies ließ ihn zunächst von der radikalen Umgestaltung Abstand nehmen. In dieser Phase zog er es vor, sich einem völlig anderen Untersuchungsgegenstand zu widmen. Es wäre heute rein spekulativ zu sagen, welche Fortsetzung die Rückkehr zu dem schwebenden Projekt „Beethoven-Studien III" gefunden hätte. Dies zunächst, was die äußeren Umstände zu Goldschmidts Vorhaben angeht Die Umgestaltung des Manuskripts sollte geordnet nach den prosodischen Entitäten erfolgen und war in der folgenden Gliederung vorerst geplant: 1.) Genuine Repliken Die laute Klage Der freie Mann Der Bardengeist Flohlied Sehnsucht 1-4 (Nur wer die Sehnsucht kennt) Gedenke mein Wonne der Wehmut 2.) Prosodische Entitäten a.) „Freude" Chorfinale der 9. Sinfonie Chorfantasie Seufzer eines Ungeliebten aus Fidelio: „Mir ist so wunderbar" Chor der Gefangenen Schluß des II. Aktes Bonner Jugendwerke: An einen Säugling Schilderung eines Mädchens Klage (Dein Silber schien) Joseph-Kantate (Da stiegen die Menschen) Mailied Ruf vom Berge Opferlied
XXI Sehnsucht (Die stille Nacht umdunkelt) An die Geliebte Klärchens Soldatenlied Messe C-Dur: Kyrie eleison Dona nobis pacem Missa solemnis: Kyrie eleison Agnus Dei/ Dona nobis pacem b.) „Hoffnung" An die Hoffnung op. 32/ op. 94 c.) „Kyrie eleison" Fidelio: Melodram und Duett Nr. 12 (Wie kalt ist es/ Nur hurtig fort, nur frisch gegraben) „In questa tomba oscura" Messe C-Dur: Agnus Dei Missa solemnis-. Agnus Dei Christus am Ölberge (Nr. 1) Joseph-Kantate (Trauerchor) d.) „Alleluja" Die Ehre Gottes aus der Natur Messe C-Dur: Credo und Gloria Missa solemnis-. Fuge „et vitam venturi saeculi" 3.) Kombinationsformen (Codewort und genuiner Text) Abendlied unterm gestirnten Himmel Klärchens Lied Nr. 4 (Freudvoll und leidvoll) Andenken Fidelio: Terzett Nr. 13 Rezitativ und Arie der Leonore Quartett Nr. 14 Adelaide Egmont (Melodram) An die ferne Geliebte op. 98 Als die Geliebte sich trennen wollte Die genannten Werke sollten den näheren Untersuchungsgegenstand bilden und in der einen oder anderen Form in Notenbild und Kommentar erscheinen. Die obligaten Begriffe, wie Replik, Interpolation, Prima volta, Seconda volta, Ritornell, Idionymie etc. beabsichtigte der Verfasser in separater Form zu definieren. Für die inhaltliche Prägung des Bandes waren folgende Aspekte ausschlaggebend:
XXII Das Hauptfeld der Konzeption bildete die Grundfrage nach dem Verhältnis von generativer zu manifester Dimension in den Vokalwerken Beethovens. Der Verfasser ging aus von der engen Wortgebundenheit im Begleitverfahren Beethovens, sowohl in ihrer Eigenständigkeit der diskreten prosodischen Strukturen, als auch beim Durchschlagen auf die manifesten. Besonders in der Melismatik schien es bemerkenswert, daß die genuin auf Syllabik beruhende prosodischmetrische Ordnung die Zeichenbedeutung eines jeden einzelnen Tones mit Eigenwert bewirken würde. Bei seinen Analysen im vokalen Teil eines Werkes waren sogenannte „Verwerfungen" ein unfehlbares Indiz für eine Parodierung. Hier galt es die Stellen, an denen sich die Musik über den Text hinwegsetzt, mit genuinen Repliken oder kurzen syllabischen Entitäten, die konnotativ im Werk enthalten waren, aufzulösen. Dabei entwarf Goldschmidt ein Netzwerk von Regeln, die allgemein für die Methoden der prosodischen Strukturanalysen grundlegend Bedeutung haben sollten. Unmittelbar darin eingebunden stellte sich die Frage nach dem Verhältnis von konnotativem und prosodischem Umfeld. Während die prosodische Dimension das gesamte tektonische Gefüge der musikalischen Entitäten bestimmt, sind die konnotativen Momente in der ideellen Zuordnung durch den Text zu ermitteln. Ziel des Verfassers war es - und hier gab es kaum Abweichungen vom ursprünglichen Konzept - am Beispiel der Vokalmusik Beethovens durch textliche Zuordnung die Existenz eines prosodischen Regelkreises sowohl im vokalen als auch instrumentalen Bereich nachzuweisen. Inwieweit die geplante Überarbeitung tatsächlich eine qualitative Veränderung gebracht hätte, steht mir nicht zu festzustellen. In der Reihe der Arbeiten Harry Goldschmidts stellt dieser Band mit der Darstellung des Systemcharakters im Beethovenschen Begleitverfahren und seiner Ausdehnung bis zur Eigenständigkeit der prosodischen Strukturen in jeder Hinsicht ein wichtiges Dokument seines Lebenswerkes zur Darstellung der Einheit von Vokal- und Instrumentalsphäre im Schaffen eines Komponisten dar. Abschließend sei noch folgender Hinweis gestattet: Trotz seines Änderungsvorhabens erscheint der vorliegende Band nicht gegen den Willen des Autors, sondern gleichsam als Arbeitsergebnis jahrzehntelanger Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Verhältnis von Wort und Ton bei Beethoven, zugleich auch als Anregung zur Fortsetzung der Diskussion über die Semantik klassischer Vokal- und Instrumentalmusik. Der Anregung zu einer produktiven Diskussion sah Harry Goldschmidt stets freudig und hoffnungsvoll entgegen: „Der Explorationsprozeß befindet sich also in Bewegung und dürfte es auch über das Erscheinen dieses Buches und die Person seines Autors hinaus weiter bleiben."
Marina Gordienko
(Januar 1990)
Vorwort des Autors
Daß es selbst in der Beethoven-Literatur mit wissenschaftlichem Anspruch bis heute noch kein Werk über das Begleitwesen in seiner gesungenen Musik gibt, darf gewiß als eine verzeichnenswerte Lücke verbucht werden. So unübersehbar die Studien zu seiner Instrumentalmusik - generell oder zu Einzelwerken -, so merklich beginnt ihre Zahl zu versickern, sobald es sich um Vokales handelt. Und selbst hierbei fallt das Augenmerk nur nach Belieben auf den instrumentalen Begleitapparat. Ohne prinzipielle Hinterfragung seines partizipierenden Eigenlebens finden wir ihn mit einer Kasuistik behandelt, die nach weitreichendem Ronsens keiner methodischen Untersuchung bedarf. Die Folgen dieser Einäugigkeit sind kaum zu überschätzen. Einmal reicht ihr strukturelles Verständnis nicht über blasse und abgegriffene Vorstellungsbereiche hinaus, die sich mit allgemeiner Charakterisierung zufrieden geben, sofern sie nicht - was fraglos noch bedenklicher ist - zu illustrativen Krücken Zuflucht nehmen. Von methodischer Überschaubarkeit erscheinen Beethovens Begleitungsfelder wie durch ein Tabu ferngehalten. Sodann wird man sich nach den Motiven zu fragen haben, denen diese weißen Flecken in der Beethoven-Literatur zu verdanken sind. Wir wollen hier nicht das alte Vorurteil wiederkäuen, bei der Vokalmusik habe Beethoven durch die Rücksicht auf die menschliche(n) Stimme(n) sich im freien Ausdruck seiner Ideen gehemmt gefühlt. Erstens liegen die Gegenbeweise, um nur an solche Hauptwerke wie den Fidelio, das Finale der Neunten oder die Missa zu erinnern, doch zu sichtlich auf der Hand; zweitens ist unsere Fragestellung gerade nicht auf den Vokalsatz, sondern auf sein instrumentales Umfeld gerichtet, das in diesem Fall erst recht die vermißte Entfaltung hätte bieten müssen. Die wirklichen Gründe liegen fraglos tiefer. Beethoven gilt nun einmal als der Prototyp des Instrumentalkomponisten. An seinen Sinfonien, Sonaten und Quartetten hat sich seit Generationen die analysierende Interpretation abgearbeitet Wäre im instrumentalen Umfeld seiner gesungenen Musik „thematische Arbeit", „Ableitungsverfahren", Dialektik als „musikalische Eigenbewegung", „Metamorphose", „thematic Processus" bis hin zur „Urlinie" zu verfolgen, es wäre mit Sicherheit nicht links liegen gelassen worden. Die augenscheinliche Abwesenheit dieser für so unabdinglich gehaltenen Verfahren ließ die praktische Abwertung des uneigentlichen vom eigentlichen Beethoven aufkommen. Der eigentliche Beethoven - das war der „absolute Musiker", der
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bei der Hinzunahme des Wortes seine Gestehungskosten zu entrichten hatte. Es wäre ein nutzloses Unterfangen, die lange Reihe der Autoren hier aufzuzählen, die, durchaus nicht im Einklang mit der weltweiten Beethoven-Hörerschaft, ihr dieses Bild zu suggerieren sucht Reine Theorie- und Rompositionsklasse an den Ronservatorien, in denen es nicht neu gepinselt würde. Dabei hätte doch mindestens die methodische Frage auf der Hand gelegen, welches Äquivalent Beethoven im Instrumentalfeld seiner Vokalmusik zu jenen Verfahren im „absoluten" Bereich sich zu eigen machte. Doch selbst Vergleiche dieser Art, so nahe sie gelegen wären, unterblieben.1 Am Modellfall „Beethoven" durfte kein Abstrich vorgenommen werden. So befindet sich der Idealismus, zumal der deutsche, im besten Einklang mit sich selbst, wenn er für den Mythos der „absoluten Musik" gegen alle Unstimmigkeiten mit besonderer Vorliebe immer wieder auf Beethoven rekurriert Die Folgen sind evident Es leuchtet ein, daß mit solchen ästhetischen Maßstäben die weiten Bereiche der nichtthematischen Musik nicht nur ignoriert blieben; es fehlte auch das geeignete Werkzeug, sie zu analysieren. So hat sich die vereinseitigte Einstellung selbst ihre Hürden gebaut Infolge dieser selbsterrichteten Hindernisse ist es kein Wunder, daß es über Funktion und Strukturierung der „Begleitung" bei Beethoven im besonderen, bei der Rlassik im allgemeinen, bislang zu keiner grundsätzlichen Fragestellung gekommen ist. Bald werden sie nach dem Grad ihrer Selbständigkeit, bald nach den Merkmalen ihrer Charakterisierung im Sinne der Textauslegung bemessen. Meistenteils findet man sie, wenn überhaupt, nur am Rande berücksichtigt. Noch Sandberger konnte in seiner Würdigung der ersten und einzigen Monographie über das Beethoven-Lied2 das mangelnde Eingehen auf die Rolle des Rlaviers beanstanden. Die (unter seiner Betreuung entstandene) Arbeit, auf die er sich dabei berief3, zeigt jedoch hinlänglich, daß auch er nichts anderes im Auge hatte als die Aufrechnung der deskriptiven Romponente.4 Daß es sich dabei um viel einschneidendere und komplexere Probleme handelt, wurde nicht gesehen. Erst in neuerer Zeit bemerken wir dazu einen Ansatz in dem enzyklopädisch angelegten Artikel „Begleitung" in MGG, der Herta Goos zur Verfasserin hat Darin wird meines Wissens zum ersten Mal ein weit genug gefaßter Versuch 1 Es sei jedem Zweifler unbenommen, diesen Sachverhalt an den einschlägigen Bibliographien wie RILM, Bibliographie der Musikwissenschaft, International Music Index, desgleichen in den Verzeichnissen des BeethovenSchrifttums in den BJB zu überprüfen. 2 Boettcher 1928. 3 Sandberger 1930, S. 153f. 4 [Fußnote entfällt]
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unternommen, die Rolle der Begleitung sowohl unter systematischen als auch historischen Gesichtspunkten als musikalisches Teilsystem im Gesamtgefüge der Musik überschaubar zu machen. Entscheidend wird, nach Goos, an der Begleitung im Zeitalter der Wiener Klassik ihr obligater C h a r a k t e r . „Erst mit dem ,obligaten Akkompagnement ist für sämtliche musikalische Gattungen und Formen die Übereinstimmung von Aufzeichnung und tatsächlichem Klangbild erreicht. Damit wird dem bis dahin aller Begleitung anhaftenden Moment des Improvisatorisch-Zufalligen der Boden entzogen und ihre Gestaltung einzig und ausschließlich Sache des Komponisten. Die fundamentale Bedeutung dieser Tatsache für die gesamte Musik der Folgezeit, also des 19. und 20. Jahrhunderts bis hin zu uns, wird am Beispiel textgebundener Musik, bei Lied und Oper, wohl am ehesten erkennbar... Irgendwie bleibt in der Fülle der Probleme - personal- und nationalstilistischer - immer das Grundprinzip des klassischen , obligaten Akkompagnement^ spürbar und wirksam: das der thematisch-motivischen Arbeit, das Hauptstimme und Begleitung zu einer organischen Einheit verschmilzt" 5 Der Vorteil dieser Betrachtungsweise, auf die schon in den zwanziger Jahren, wenn auch noch nicht so systematisch, Guido Adler den Blick gelenkt hat6, liegt primär einmal darin, daß sie Instrumental- und Vokalmusik ästhetisch nicht auseinanderfallen läßt; das „obligate Akkompagnement" ist genauso gültig für den einen wie den anderen Bereich. „Ich kann gar nichts unobligates schreiben, weil ich mit einem obligaten Akkompagnement auf die Welt gekommen bin", bekennt Beethoven in einem Brief an Hofmeister (15.12.1800), und dieses im Zusammenhang mit dem Septett, also einem Instrumentalwerk. Als obligat können die Nebenstimmen nur gelten, insofern sie nicht weggelassen werden können, d.h. relative Selbständigkeit erlangen. Dennoch bleiben sie Begleitstimmen, Rahmen, Fundament und Hintergrund für die Leitstimme. Es ist dasselbe Prinzip, das ebenso im Vokalbereich - Oper, Kirchenmusik, Kantate und Lied - zur vollen Durchbildung strebt. Die Frage, in welchem der beiden Teilbereiche das Verfahren sich zuerst festsetzte, liefe auf die Entstehungsfrage zwischen dem Huhn und dem Ei hinaus. Entscheidend ist, daß sämtliche Musik - gesungen oder gespielt - obligat begleitet oder begleitend wird. Ebenso ausschlaggebend, daß ihre organische Einheit durch Polarisierung in den beiden Ebenen zustande kommt. Der zweite Gewinn ergibt sich für die textgebundene Musik im real gegebenen Fall. Zwar werden wir die Gesangsstimme(n) in der Regel (es gibt auch Ausnahmen) nicht zu den obligaten Begleitstimmen zu rechnen haben, hingegen kann der Instrumentalsatz nicht mehr pau5 [Goos 1949, Sp. 1569.] 6 Vgl. Adler 1926.
4 schal als „Begleitung" klassifiziert werden. Meistens bietet er in sich schon das Bild jener organischen Einheit, in die sich Hauptstimmen und begleitende Nebenstimmen teilen. Wiederum konstatieren wir die Unzulänglichkeit einer bloßen Unterscheidung in instrumentale und vokale Romponiersphäre. Die korrelativen Teilsysteme Cantando und Sonando - musikalische Universalien, die den genuinen vom pragmatischen vokalen oder instrumentalen Zeichengebrauch abheben - laufen darüber hinweg, ohne sich mit ihnen zu decken. Gerade hierin liegt ihr operativer ästhetischer Zeichenwert.7 Ihr Systemcharakter wird sich an den praktischen Beispielen und ihren Überschneidungen erweisen. Eine nicht unerhebliche Einschränkung muß allerdings an der zitierten Definition angebracht werden: Die thematisch-motivische Arbeit kann, muß aber nicht die organische Einheit beim obligaten Akkompagnement verbürgen. Natürlich fehlt sie auch in Beethovens Vokalmusik nicht, und wo wir ihr begegnen, werden wir das gebührende Augenmerk auf sie zu richten haben. Doch ist gerade sie nicht obligat! Hier walten andere tektonische Prinzipien. Welche fundierenden Kategorien dabei ins Spiel kommen, die wiederum in der Instrumentalmusik nur eine partielle Rolle übernehmen, ist bereits an den Teilen I bis III des Inhaltsverzeichnisses abzulesen. Zusammengesehen lassen sie sich als Kategorien bestimmen, die selbst in einem genuinen Verhältnis zu den gesungenen Gattungen - ob Lied, Arie oder Chorsatz, ob als Akkompagnato zu Rezitativ oder sogar der gesprochenen Rede im Melodram - stehen. Einerlei, ob sie dabei als Vor-, Zwischen- oder Nachspiel klassiert werden können, ob es sich um Antizipationen, Repliken oder kommunizierende Einschübe handelt oder ob sie in Gestalt von Ritornellen auftreten - allein schon aus der adäquaten Terminologie ist die gemeinsame Bindung an die gesungene bis gesprochene Wortsphäre zu ersehen. Ohne diese wären sie automatisch um ihre musikalische Daseinsweise gebracht Und doch sind sie es und nicht das motivische Evolutionsverfahren, worin die formalen Kriterien ihrer Funktion und Gestaltungsweise zu finden sind. Selbst in den teilweise bis zum selbständigen Instrumentalsatz ausgebauten Introduktionen sieht man die Bindung an die vorgegebenen Sprachfelder nicht aufgehoben. Das vieldiskutierte Wort-Ton-Verhältnis, so fraglos es im realen Singen verankert ist, einzig nur aus diesem Grund auf die evidente sprachgebundene Vokaldimension einzuengen, müßte deshalb notwendig zur Folge haben, seine ganze operative Ausdehnungsmöglichkeit im strikt instrumentalen Bereich aus dem Auge zu verlieren. Was Ernst Bücken unter „Dimensionalisierung des Wortes" verstanden 7 Vgl. Goldschmidt 1983.
5 wissen wollte, bezog sich wohl zunächst auf die primäre Aufhebung der Sprache im Gesang, wobei er auf die Feststellung Wert legte, „daß sie keinerlei Beeinträchtigung des Wortes durch die Musik zur Folge hatte".8 Der Satz verträgt indessen auch seine Umkehrung, nämlich daß die extensionelle Eignung der Musik, über die Vokalsphäre hinauszugehen, keine Beeinträchtigung des Wortes nach sich zog. Auch dieser Konsequenz sieht man Bücken im theoretischen Ansatz Rechnung tragen, wenn er sogar vom Sinfoniker Beethoven sagt, daß dessen Phantasie „ihre Uridee des Sprechens durch das Sinfonische nicht aufgeben mochte."9 Bevor man jedoch daran denken darf, die weitreichende Hypothese im strikten Instrumentalbereich zu verifizieren, werden es allein schon die Gebote der Induktion verlangen, sie an einem instrumentalen Material zu prüfen, wo das Wort real gegeben ist, nämlich in den Begleitsystemen seiner Vokalmusik. Und hierfür hat leider auch Bücken keine Einstiegsmöglichkeiten gesehen. Dennoch wäre es zu kurz gegriffen, das Problem lediglich als ein methodisches zu betrachten. Es ist ein grundlegend ästhetisches, nämlich ein solches, das die Musik selbst als Sprache begreift. Ohne auf die Kontroversen einzugehen, die heute über den Sprachcharakter der Musik geführt werden, kann hier schon soviel vorweggenommen werden, daß die zur Behandlung anstehenden Materialien geeignet sind, jeden Zweifel an Beethovens eigener Stellung hierüber zu beseitigen. Sein Verhältnis zu seiner Kunst war ein fundamental tonsprachliches. Dieser Satz darf nicht in dem einengenden Sinn verstanden werden, als ob der Ton sich der Sprache unterordne. Mit Recht hat Bücken unterstrichen, daß es sich immer um aus dem Wort geschöpfte Sinngebung durch den Ton handelt. „Der Ton bestimmt und der Tonsetzer, der Tondichter, bestimmt. Er bestimmt den Grad, die Dichte und die Fülle der Übereinstimmung der Gesetze des musikalischen Prozesses mit denen des Wortes: Einer Übereinstimmung, die das Höchste anstrebt: das Worttonkunstwerk."10 Eine solche Idealkonkurrenz zwischen Wort- und Tonsprache setzt als gemeinsame Berührungsebene ein tieferreichendes Sprachverhältnis voraus, als es etwa durch positive und negative Parametervergleiche zwischen verbaler Sprache und Musik eingesehen werden kann. Es ist auch nicht mit dem Prinzip der Deklamation zu fassen. Beethovens unausgesetztes Interesse an den Problemen der Deklamation, in seinem Fall ohne Frage ein Erbgut der deutschen Aufklärung, vermittelt durch seinen Lehrer Neefe, ist nur ein Teil seines umfassenden pro sodischen Musikverständnisses, in dem sich musikali8 Bücken 1937, S. 174. 9 A.a.O., S. 173. 10 A.a.O., S. 166.
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sehe und verbale Sprachkompetenz begegneten. Diese Ebene macht das von Bücken und anderen für so wesentlich gehaltene „Nord-SüdGefälle", hervorgerufen durch die deklamatorische Tradition der norddeutschen Schule und der von Italien beeinflußten Kantilenen-Tradition des Südens mit dem Zentrum Wien, letztlich gegenstandslos. Denn prosodische Ordnungen beherrschen ebenso die Musik Mozarts wie C.Ph.E. Bachs. Nicht weniger maßgeblich sind sie für Beethoven. In dieser Hinsicht gibt es keine Diskontinuität zwischen dem jungen Beethoven am Rhein und dem an Haydn und Mozart gereiften Beethoven in Wien. „Man kennt Beethoven nicht, wenn man nicht weiß, mit welcher Gründlichkeit, Umständlichkeit und zuweilen sogar Pedanterie er bei der Arbeit an Vokalkompositionen das Metrum des Textes beobachtete."11 Die vielen metrischen Zeichen in seinen Skizzen, gelegentlich sogar an Briefstellen, wo man sie am wenigsten erwarten würde12, das Interesse an der Verslehre namentlich bei J. H. Voss und seine sprachlichen Annotate über Jamben, Daktylen, Trochäen und andere Versmaße und ihre Eignung für die vorschwebende Komposition, die eigenhändigen Einzeichnungen und Anweisungen zu metrischem Spiel der Cramer-Etüden für seinen Neffen13, selbst der Ehrgeiz, so widersetzliche Versarten wie den Hexameter zu vertonen, machen es beweiskräftig bis zur Evidenz, daß er in prosodischen Kategorien gedacht hat.14 Sie verbürgten ihm die unabdingbare Klassizität und mit ihr die gebundene Rede, das poetisch bedingende Element in der Musik. Insofern waren sie, über den musikalischen Bereich hinaus, zuinnerst ideologisch motiviert, die musikalische Erfüllung eines historischen Zeitgebots an die Kunst und ihre Idealität Es würde deshalb auf eine Beschädigung dieser ästhetischen Prämissen und Maximen hinauslaufen, die prosodischen Denkweisen nur auf die Vokalmusik und diese wiederum nur auf das vokale Teilsystem zu nivellieren. Mit ihnen ist umgekehrt das ästhetische Kategoriensystem benannt, in dem der pragmatische Gegensatz vokal-instrumental als durchaus nachgeordnet gegenseitig ausgetragen und aufgehoben erscheint Das aber muß die Untersuchung auf die Problemstellung lenken, welche sprachlichen Entitäten, in welchem Umfang und in welcher Gliederung sie in den instrumentalen Strukturen anzutreffen sind. Beethovens Sprachlichkeit, sein Umgang mit den prosodischen Sprachfiguren hat viele Aspekte, die, auf ihren Zusammenhang geprüft, alle miteinander korrelieren. Erstens zeigt sich im instrumen11 12 13 14
Schmitz 1927, S. 121. An Steiner, 27. Mai 1824. Vgl. Goldschmidt 1974 (3), S. 114-130. Ders. 1974 (1), S. 25-41.
7 talen Begleitsystem ein selektives Verhältnis zu den gesungenen Texten. Nur wenige, oft nur ein einziges Wort kann genügen, um ganze Felder abzudecken und die gebotene musikalische Flächenentfaltung zu gewährleisten. Weiter ist die Regel zu beachten, daß sie den gesungenen Texten entnommen, strukturell ihnen abgewonnen sein müssen, für die methodische Exploration eine kaum zu überschätzende Erleichterung. Erst auf diesem festen Boden läßt sich die nötige Entscheidungssicherheit gewinnen, auch die Abweichung von der Regel zu bemerken. Diese besteht darin, daß solche musikalischen Schlüsselwörter von anderswo bezogen werden, zu deren Bestimmung abermals Strukturvergleiche in hinreichender Anzahl vorliegen müssen. Die Beschränkung der Sprachfiguren auf einen minimalen Textvorrat wäre nicht denkbar, würden sie nicht in eine feste prosodische Ordnung gebracht. Ohne diese wären sie einem ästhetisch unzuträglichen Wiederholungszwang ausgesetzt. Man stelle sich deren Abwesenheit vor, und man käme auf eine ungegliederte, kunstfremde Häufung, die allenfalls mit den paroxystischen Wiederholungsmustern des Tourock, schwerlich aber mit der Klassizität des künstlerischen Ergebnisses bei einem Beethoven in Einklang zu bringen wäre. Um dieses kardinale Problem an einem Beispiel zu erläutern, sei ein so Beethoven-eigenes Sigelwort wie „Hoffnung" herangezogen. Mechanisch aufgehäuft, unprosodisch aneinandergereiht, würde es seinen inhaltsträchtigen Sinn weniger transparent machen als begraben. Durch die prosodische Fügung „Hoffnung o Hoffnung" entsteht sofort eine zweihebige Halbzeile, die, durch Wiederholung auf eine vierhebige Ganzzeile gebracht, musikalisch vollwertig operativ gemacht werden kann. Die prosodisch geordnete Wort- und Satzwiederholung ist an sich ja kein unbekanntes Phänomen. Nirgendwo läßt sie sich so mühelos studieren wie an der Arie und den Chorsätzen weltlicher und geistlicher Provenienz. Georg Rnepler hat sich einmal die Mühe gemacht, im Kyrie der Bachschen h-Moll-Messe die Wiederholungen des Wortes „eleison" zu zählen. Er ist allein für die gesungenen auf die Zahl 448 gekommen.15 Oder man denke an ebenso kurze hierarchisierte Wortprägungen, die zu ihrer Entfaltung der Musikalisierung bedürfen, wie das eleison-synonyme lateinische „miserere" oder als das hymnodische Gegenstück, an das hebräische Derivat „Alleluja". Sie wären für ihren sakralen oder parasakralen Einsatz unverwendbar, würden sie nicht durch Paarung und andere prosodische Mittel zu höheren musikalischen Entitäten gebunden.16 So lückenlos bündeln sie sich einoder mehrstimmig im vokalen Feld, daß von einem eigentlichen 15 Vgl. Knepler 1980, S. 29. 16 Vgl. Goldschmidt 1983.
8 h o r r o r v a c u i zu sprechen wäre. Es handelt sich hier u m prosodische Verfahren sehr hohen und höchsten Alters; konzertant sieht m a n sie bis ins Barock zurückreichen. Vocaliter sind sie eine sogenannte „geläufige Sache", über die niemand stolpert; nur im Instrumentalbereich harren sie immer noch ihrer Erschließung. Dabei wird m a n die manifeste von der diskreten Sprachebene zu unterscheiden haben. Während die manifeste, real gesungen, das jeweils gegebene liturgische oder weltliche Wortpensum in vollem Umfang zu absolvieren hat, kann sich die diskrete, instrumentale, selektiv dazu verhalten und daraus verkürzte eigene prosodische Prägungen ableiten. Systemtheoretisch betrachtet, herrscht hier echte, gegenseitig sich bedingende Korrelation vor. Der gesamte Text soll und will ja musikalisch dargeboten werden. Dazu reicht aber die vokale Darbietungsform aus; umso freier der instrumentale Spielraum. Ohne sich vom gemeinsamen Sprachboden loszureißen, verhält er sich fragmentierend, indem er die gewählten Segmente zu eigenen prosodischen Entitäten zusammenschließt und musikalisch thematisiert. Rein anderes Bild bietet auch die Beethovensche Verfahrensweise. Daß er dabei auf sicheren Traditionen fußt, zeigt allein der im Anhang gebotene Vergleich mit der Praxis seines Lehrers Neefe. Im instrumentalen Teilsystem konnte er die prosodische Konfiguration dank des hier uneingeschränkt verfolgbaren, weil gültigen Wiederholungsprinzips bis zu musikalisch-rhetorischen Verdichtungen treiben, die er sich auf der gesungenen Sprachebene versagen mußte. Selbst in der figurativsten Simile-Technik bezieht hier die einfachste Begleitfigur ihren konstantisierten und perpetuierten Zeichenwert 17 aus dem Sprachderivat. Das im realen Gesang Widersinnige erlangt in der diskreten, gespielten Musizierebene seinen Sinn. Es wäre zu wenig, darin n u r die formale Seite der Korrelation zu sehen. Mit der relativen Verselbständigung der selektierten Entitäten konnten auch die inhaltlichen Akzente gesetzt und abgehoben werden. Mit den organischen Qualitäten verbanden sich dank der Nabelschnur mit dem mitgeführten Wort die unverwechselbaren Einstimmungsmomente und Charaktereigenschaften. Schließlich erlaubte es das Verfahren - kein zu unterschätzender Vorteil für den Komponierenden, ein behütetes Werkstattgeheimnis - mit verdeckten Karten zu spielen. Stimmten die prosodischen Werte, w a r auch die musikalische Gestalt, die ästhetische Suggestivität verbürgt Das Übersehen der prosodischen Dimension, nicht allein bei Beethoven, sondern bei der gesamten Klassik einschließlich Bach und Händel ist für Theorie und Praxis nicht ohne schwerwiegende Folgen 17 Ich bediene mich hier einer definitorischen Formulierung Georg Kneplers. Ders. 1982, S. 581.
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geblieben. Mit dem Verlust ihrer Tradition sind Verständnis und adäquate Interpretationen gleichermaßen verschüttet worden. Man denke nur an die Unsicherheiten in den Tempofragen, in den Artikulations- und Phrasierungsproblemen. Alles „Stilverständnis" kann jene lebendige Tradition höchstens intuitiv und noch weniger durch einen leblosen Historizismus ersetzen. Mit der Sprachlichkeit sind die beiden Eckpfeiler Aristotelischer Ästhetik, Mimesis und Katharsis, unlöslich verknüpft. Und wer ihre intakten aristotelischen Grundlagen ignoriert, sollte sich besser von ihr fernhalten, statt naiv zu behaupten, sich in ihr auszukennen. Was sie an „Nachahmung der Natur" und „Wahrheit des Ausdrucks" aufzubieten hat, erweist sich immer in musikalische Sprachform gebunden und daher frei von Verselbständigung. Das ist, zugegeben, für ein Zeitalter mit besonderen Schwierigkeiten belastet, in dem Aristotelik nicht mehr gefragt und statt der Versprachlichung die Entsprachlichung der Musik auf der Tagesordnung zu stehen scheint Mit Nachdruck ist daher von sonst recht gegensätzlicher Seite darauf hingewiesen worden, wie fremd unserem eigenen Zeitalter bei aller „Vertrautheit" mit dem Erbe, bei aller Spontanität seines Nachvollzugs, die Klassik im Grunde geworden ist.18 Umso eher besteht dazu Veranlassung, „Befremdliches" an ihr wie ihre Sprachlichkeit ohne Unterschied des Teilsystems wahrzunehmen. Namentlich die musikalische Struktur, deren Autonomie man damit endlich auf den Begriff gebracht zu haben glaubte, erweist sich von ihr kontaminiert. Beschränken wir uns allein auf den melodischen Parameter. Was die Klassik an Melismatik entfaltet, erweist sich bei näherer Untersuchung als variiert artikulierte Syllabik. Stets liegt ihr das syllabische Modell als genuine Infrastruktur zugrunde. (Daher der legitime Gebrauch des Wortes „Tonsilbe"!) Beethoven macht hierin keine Ausnahme. Er repräsentiert dafür sogar einen besonders suggestiven Fall. Schon immer wurde das „redende Prinzip", die syllabische Diktion mit und ohne Silbentrennung bei ihm bemerkt. Um es nicht zur leeren Metapher verkommen zu lassen, wird man seinen Sprachcharakter endlich ernst zu nehmen haben. Den Gewinn hat nicht allein die Analyse, obwohl sie zu allererst. Nicht ohne Ursache erweist sich der Rückgriff zumal auf der Linguistik entlehnte Grundbegriffe als so ergiebig. Eine vorläufige Vorstellung hiervon mag die nachstehende Synopsis vermitteln:
18 Vgl. Dahlhaus 1977, S. 104f.; Goldschmidt 1973, S. 70f.
10 Idionym Sprache Musik
in beliebigem Kontext wiederkehrende Wortfügung in unveränderter Bedeutung in beliebigem Kontext wiederkehrendes Gebilde in unveränderter Bedeutung Synonym
Sprache Musik
anders lautende Wortfügung in derselben oder ähnlicher Bedeutung anderes Gebilde in derselben oder ähnlicher Bedeutung Homonym (Äquivokation)
Sprache Musik
dasselbe Wortgefüge in unterschiedlicher Bedeutung dasselbe Gebilde in unterschiedlicher Bedeutung
An diesem Vergleichsbild fallt über die definitorischen Werte hinaus der gemeinsame Gebrauch des Begriffes „Rontext" auf. Nur beiläufig sei darauf hingewiesen, daß er sich auch dort in der Literatur eingebürgert hat, wo die Übereinstimmungsmerkmale zwischen Sprache und Musik geleugnet werden. Dementsprechend erscheint es in der Musik ebenso angebracht, von Syntax zu sprechen, obwohl ihre Universalien anders strukturiert sind.19 Was die in allen drei Begriffsfeldern anzutreffende semiotische Kategorie der musikalischen Bedeutung betrifft, ist sie hier in jedem Fall aus dem gesungenen Wortzusammenhang abzuleiten, ohne notwendigerweise sprachlich mit ihr zusammenzufallen. Hierfür ist Äquivalenz ausreichend. Als äquivalent seien zwei morphologisch beziehungslose Bedeutungsträger oder Evolutionen auf sprachlicher und musikalischer Ebene verstanden, die durch Vergleichsoperationen zustande kommen (tertium comparationis). In der Zeichentheorie wird der Vorgang auch mit Analogkodierung bezeichnet.20 Andere Begriffe beziehen sich vorzugsweise auf musikalische Operationen, obwohl sie auch in Phonetik, Lexik und sprachlicher Syntax ihre Gegenbegriffe haben. Es sind dies vor allem die Kategorien der Varianz und Invarianz, deren korrelatives Wechselverhältnis für die Musik eine so fundamentale Rolle spielt Ein Gebilde kann in einem Musikstück invariant strukturiert sein und in unveränderlicher Zeichenbedeutung wiederkehren. Das prägnanteste Beispiel wäre gerade bei Beethoven zu finden; man denke nur an den ersten Satz seiner c-Moll-Sinfonie, die nicht zuletzt dieser Eigenschaft ihren Ruf verdankt. Das Gebilde 19 Vgl. Bierwisch 1979, S. 64-70. 20 Ders., S. 56f.
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kann aber je nach verändertem Aspekt variabel (konjugabel) auftreten und sich - der dritte Gesichtspunkt - variant zu einem anderen, gegebenen verhalten. Bekanntlich gehört das Variieren zu den musikalischen Grundoperationen, unter die alle Arten der Figuration bis hin zur motivisch-thematischen Arbeit oder der Zwölftontechnik fallen. Diesen Begriff hat die Theorie der Musik weder der Sprachwissenschaft noch der allgemeinen Zeichentheorie entlehnen müssen. Er ist ihr endogen. Dementsprechend hoch ist ihre eigene Verzweigung. So können wir auf den Varianten Gebrauch invarianter Gebilde stoßen; in diesem Fall bleibt die Grundgestalt unangetastet, anders konturiert, in der Bewegungsrichtung verändert oder, wie in der Reihenkomposition, permutiert. Gestaltvariation selbst kann einer derart durchgreifenden Umstrukturierung unterworfen werden, daß eine neue selbständige Gestalt organisch daraus hervorgeht. In diesem Fall erscheint es angebracht, auf den Goetheschen Begriff der M e t a m o r p h o s e zu rekurrieren. 21 Bemerkenswert, daß er naturwissenschaftlich konzipiert, ohne Seitenblick auf die Musik, das generative musikalische Variationsverfahren voll impliziert. Im übrigen berührt unser terminologisches Inventar in erster Linie die Bezugspunkte zwischen Zeichen und Bedeutung, eingelagert in die jeweils gegebenen prosodischen Gefiige. Zu ergänzen wären sie durch spezifisch prosodische Vorgänge wie Silbenbrechung, Silbenversenkung und syllabische Verwerfung. Musikalische S i l b e n b r e c h u n g kommt, wie schon am vokalen Gebrauch zu verfolgen ist, durch die Tendenz zur Silbendehnung in Verbindung mit anderen Auszeichnungen der Silbe, in erster Linie der Hebung, zustande. Ihre Regel lautet: Zwei oder mehrere Töne auf einer Silbe. - Das Gegenstück dazu bildet die nicht immer so evidente S i l b e n v e r s e n k u n g , weil sie sich ausschließlich im instrumentalen Feld abspielt: Zwei benachbarte Silben werden in einem einzigen Ton mit gelängtem Zeitwert untergebracht In vielen Fällen kann der Vorgang überhaupt erst durch Vergleich mit dem manifesten vokalen Gebrauch aufgedeckt werden; in anderen muß er angenommen werden. Unter dem der Geologie entnommenen Begriff der V e r w e r f u n g verstehen wir hingegen eine spezifisch vokale Erscheinung. Betroffen davon sind derart gezwungen deklamierte Stellen, daß man daraus weniger auf das Versagen des Komponisten als auf die Kollision zweier prosodischer Sprach- und Bedeutungsschichten, einer manifesten und einer latenten, zu schließen h a t Dabei läßt sich die empirische Regel angeben, daß die latente immer im instrumentalen Begleitsystem verankert ist, was die Dekodierung erheblich erleichtert. Störungen und Aufstauungen dieser Art gehören zu den interessantesten Struk21 Vgl. Goldschmidt 1974 (4), S. 157f.
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turerscheinungen nicht allein Beethovenscher Vokalkomposition; zeigen sie doch in der Regel ein mißglücktes verdecktes Parodieverfahren an22, das selbst den Skizzen nicht zu entnehmen ist, weil es von Anbeginn zweispurig konzipiert wurde. Allein die definitorische Abhebung dieser Fälle muß es einsichtig machen, mit welchen Varietäten der syllabischen Quantitierung wir zu rechnen haben. Sehr richtig wurde gefordert: „Eine validierbare, nachvollziehbare Segmentation setzt die präziseste Explikation dessen voraus, was überhaupt in die Betrachtung einbezogen wird"25. So wenig die hier vorgenommenen Untersuchungen solche szientistisch gestellten Postulate immer zu erfüllen vermögen, so vollständig wird man sie beachtet finden, allerdings nicht mittels errechneter statistischer Werte im Sinne strukturistischer Methoden oder etwa der Faktorenanalyse, dagegen in den nachweislichen prosodisch-metrischen Ordnungen mit ihrem unberechenbaren syllabischen Rontraktions- und Dehnungskoeffizienten, der das weite Spannungsfeld zwischen Invarianz und Variabilität determiniert. Gerade diese Eigenschaften, mit denen man beim hochorganisierten Kunstwerk ständig zu rechnen hat, machen statistische Prozeduren weiterhin so problematisch. Bei der hier zur Anwendung gelangenden p r o s o d i s c h e n Segm e n t i e r u n g wird deshalb ebenso die Ausnahme wie die Regel unsere volle Aufmerksamkeit auf sich lenken, aus dem einfachen Grund, weil die Ausnahme zur Regel gehört. Um ein besonders kniffliges Problem heranzuziehen, vor dem die statistische Segmentation eingestandenerweise die Waffen streckt: Der Verlust bzw. die Hinzufügung eines Auftakts bei sonst idionymen Gebilden. Jeder praktische Musiker sieht sich hier vor ein undurchlässiges Gestrüpp anscheinend reiner Willkür gestellt: „Einmal mit, einmal ohne" et vica versa. Einzig die prosodische Analyse wird ihm hierauf eine zureichende Antwort zu bieten haben, die keiner maschinellen Durchrechnung bedarf. Aus Beethovens Skizzenarbeit wissen wir, welches Gewicht er auf prägnante, den gesamten Wortsinn umfassende, auch mit ihm spielende in Wirklichkeit interpretierende - Deklamation legte. Sie konnte ihm nicht syllabisch durchgeformt und sinnbezogen genug sein. Auch dafür werden wir zahlreichen Beispielen begegnen. Das prosodische Moment spielt dabei eine entscheidende Rolle. Eine metrische Hebung mußte für ihn klingend sein. So konnte er sich sein Leben lang mit der vorgeschriebenen orthographischen Trennung der Silben durch Kopisten und Notenstecher nicht anfreunden. Ohne zu berücksichtigen, daß sie von den Sängern in der Praxis ohnehin nicht befolgt wird, die der musikalischen vor der orthographischen Silbentrennung 22 Vgl. Goldschmidt 1983. 23 Raden 1976, S. 317, unter Berufung auf Kluge 1974.
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grundsätzlich den Vorrang geben, vertrug er die „falsche" Schreibweise oft im Notenbild nicht. Ein drastisches Beispiel dafür bietet seine nachträgliche Rasierkorrektur in der Stichvorlage der Neunten bei dem Worte „Tochter". Obwohl es uns nur in besonders lohnenden Ausnahmefallen geboten erscheint, im Notenbild der Beispiele Beethovens Intentionen bei den vorgenommenen Tropierungen zu folgen, sei auf das Problem ausdrücklich hingewiesen. Maßgeblich ist immer die musikalische, nicht die orthographische Silbentrennung. Zu welchem echten Problem prosodischer Segmentierung sie werden kann, muß namentlich an dem phonetischen Umgang mit einem existenziell so befrachteten Schlüsselwort wie „Hoffnung" - nicht zufallig dem Schlüsselwort aller Beethovenscher Schlüsselwörter - deutlich werden. Bald wird es als „Hoff-nung", „Ho-ffnung", „Ho-ff-nung" segmentiert. Im letzten Fall sieht man das Phonem /ff/ eine eigene Tonsilbe bilden. Der Verfasser gesteht, daß es Jahre bedurfte, ehe er hinter dieses semantische, weil zeichensetzende Regulativ kam. Man bemerkt, welche Rolle die einwandfreie Silbentrennung für eine zuverlässige Tropierung spielt. Unter Tropierung verstehe ich unter Anlehnung an den prosodisch-musikalischen Gebrauch des Begriffes im Mittelalter nicht eine beliebig vorgenommene Textierung an vorhandenen musikalischen Strukturen, sondern die kritisch eruierende Auffindung des prosodisch gefaßter Musik innewohnenden sprachlichen Rontextes. Sie erstreckt sich entweder auf die angemessene sprachliche Dekodierung syllabisch geprägter Gebilde oder vorgegebener Melismen, die ihrerseits sich als syllabische Derivate und damit ihr ursprüngliches prosodisches Gefüge zu erkennen geben. Sofern keine prosodische Ordnung zu ermitteln ist, besteht keine Notwendigkeit zur Tropierung. Dagegen setzt Tropierung als immanenter Vorgang sprachlicher oder musikalischer Prosodie die genuine Einheit von Poesie und Musik voraus, ebenso die Musikalisierung des Verses wie die Versabhängigkeit des Melos implizierend.24 In diesem Sinn ist Melodiefindung zu einem Vers oder einer Versgruppe ebenso musikalische Tropierung wie die sprachlich-prosodische Zuordnung zu einer Melodie. Tropierung setzt somit nicht erst im Rezeptionsvorgang, sondern schon im Kompositionsakt ein. Sprachliche Tropierung auf Seiten der Erkundung wäre dann im gelungenen Fall die Rückkodierung musikalischer Tropierung auf die Wortebene. Mithin wäre das Wesen der Sache nicht getroffen, wollte man es sich so einfach machen, Tropierung schlicht für Textunterlegung zu 24 In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß der mittelalterliche Tropus immer in Gestalteinheit mit neugeschaffenen Texten in die Liturgie eingefügt wurde.
14 halten. Bei dem Verfahren handelt es sich ausschließlich um Zuordnung zu musikalischen „Texten", deren prosodische Strukturierung durchwegs aus dem vokal vorgegebenen Zusammenhang hervorgeht. Schließlich sei auch auf den spezifizierten Gebrauch gewisser musikalischer Termini hingewiesen. So versteht man unter Colla v o c e (mit dem äquivalenten Colla p a r t e ) in der Praxis das Zusammengehen von Begleitung mit Gesang vorzugsweise in Hinsicht auf das Tempo. Ihre hohe semantische Ergiebigkeit erbringt die Bezeichnung jedoch erst, sofern man das Zusammengehen unter systematischem Aspekt als G e s a m t e r s c h e i n u n g , darunter vor allem in der melodischen Dimension, erfaßt. Ihr kritischer Stellenwert liegt in der aufgehobenen Trennung zwischen Gesang und Begleitung. Ähnliche Zeichenbedeutung erlangt die Gleichwertigkeit statt in simultaner in sukzessiver Anordnung bei dem Begriffspaar P r i m a v o l t a , S e c o n d a v o l t a , das aus demselben semiotischen Grund abweichend von der Praxis verwendet wird. Dabei bestätigt der Skizzenvergleich in der Regel, daß das genetische Verhältnis zwischen instrumentaler Prima volta und gesanglicher Seconda volta gerade umgekehrt liegt. Chronologisch statt ästhetisch bewertet, müßten die beiden korrespondierenden Begriffe umbenannt werden, denn die diachrone Prima volta stellt in den meisten Fällen die nachgebildete Version dar. Überhaupt erscheint die generelle Feststellung angebracht, daß musikalische Kategorien in zeichentheoretischer Hinsicht in der Regel weitaus mehr hergeben, als von systemtheoretischer Seite bisher angenommen wurde. Von dieser unausgeschöpften Möglichkeit optimalen Gebrauch zu machen, liegt auch der A n l a g e dieser Untersuchung zugrunde. Dabei wurde Wert darauf gelegt, bei den einfachsten Verhältnissen zu beginnen, schrittweise bis zu den mehrschichtigen Komplexen vorzudringen, um hier wie dort die inhärenten prosodischen Bedeutungsfelder freizulegen. Die gesicherte Ausgangslage hierfür, zugleich das unzerreißbare Bindeglied, bieten die vertonten Texte. Um in dem breiten Spielraum ihrer musikalischen Applikatur die Modalitäten aller Vorkommen von der partiellen bis zu der durchgehenden Abbildung im Begleitsystem möglichst vollständig zu erfassen, bedurfte es der Aufstellung eines „catalogue raisonné", dessen Gliederung die Darstellung folgt Aus diesem Grund findet man das Inhaltsverzeichnis vorangestellt. Der systematische Aufbau bringt es mit sich, daß dabei die Darstellungsweise wechselt. Während die erste Abteilung des Buches (Teil I und II) paradigmatisch angelegt ist, indem sie für die untergliederten Spielarten Vergleichsgruppen aussondert bzw. zusammenzieht, herrscht für die zweite Abteilung der syntagmatische, die Kombination berücksichtigende Aspekt. Statt verglichenen Ausschnitten werden hier ganze zusammenhängende Stücke in gradueller Fortsetzung und Zuspitzung der Problematik geboten. Trotz der Verla-
15 gerung bleibt die Kontinuität des Verfahrens gewahrt. Es ist klar, daß die zweite Darstellungsmethode nur auf der ersten fußen kann, weil sie deren Modalitäten voraussetzt Das Schwergewicht liegt hier nicht mehr auf den Spielarten der Textzuordnungen, sondern auf den Gattungen, in denen sie wechselnd zur Anwendung gelangen. Zuletzt findet man auch noch diese Trennung aufgehoben zugunsten des durchgehenden, freiwaltenden Begleitverfahrens an sich, mit allen zusätzlichen Implikationen und Bedeutungsaspekten, die sogar über die vorgegebenen Texte hinausreichen (IV). Dem „obligaten Akkompagnement" wird nicht weniger summativ das obligate prosodische Begleitprinzip zugeordnet. Dem Nachweis seiner geschichtlichen Verankerung, zugleich der Feststellung, daß es sich bei Beethoven bei aller Selbständigkeit um keinen partikularen Fall handelt, dient schließlich das in den Anhang verwiesene Kapitel über dieselbe Verfahrensweise bei seinem Lehrer und Mentor Ch.G. Neefe. So sieht man die Wahl der Beispiele zuletzt über Beethoven hinaus ausgedehnt. Die Unabweisbarkeit überpersönlicher Konsequenzen drängt sich auf. Wegleitend für den ungewöhnlichen Umfang der Untersuchung war außer den Erfordernissen der Systematik einschließlich des diachronen Aspektes das Bestreben der Überprüfung am „massenhaften Material", die das Umschlagen der quantitativen in die qualitative Beweisführung gewährleistet.23 Dieser Umstand war umso gebieterischer zu beachten, als der heuristische Charakter der Ermittlungswege weder geleugnet werden kann noch geleugnet werden soll. Dies lenkt uns auf den letzten Punkt: Die Methode. Der Versuch einer schrittweisen systematischen Annäherung, ausgehend von den vorgegebenen Texten, wurde bereits beschrieben. Namentlich bei den Ritornellen, Vor- und Nachspielen kann gezeigt werden, daß der kompositorische Weg immer vom Text und seiner Vokalfassung seinen Ausgang nimmt. In mehr als in einem Fall ist das Vorspiel erst aus dem Nachspiel hervorgegangen, das seinerseits auf den gesungenen Text eingeht. Was hierfür an Skizzen vorhanden ist - es wird im Einzelfall darauf verwiesen - bestätigt mit ausnahmsloser Regelmäßigkeit die Chronologie dieser Abläufe. Entsprechendes gilt für Repliken, Antizipationen und Interpolationen aller Art. Mit Absicht wurde jedoch vermieden, die Quellenlage in den Skizzen vor der fertigen Komposition zu befragen. Umso höher ist ihr Wert als Beweismittel zu veranschlagen. Umgekehrt finden sich in den Skizzen gelegentlich zu instrumentalen Verbindungsstücken die Worte hinzugefügt, ein Beweis, daß Beethoven sie verbalisiert hat Die Fälle werden an gegebener 25 Vgl. Engels 1859.
16 Stelle zur Sprache kommen. Auf einen methodisch besonders ergiebigen sei indessen hier schon eingegangen. In dem Lied Feuerfarb (op. 52 Nr. 2) erweist sich das viertaktige Nachspiel prosodisch als unauflösbar, sofern man sich an eine der vorausgegangenen Strophentexte hält. Die Lösung des Problems bietet die Skizze: Daraus geht hervor, daß Beethoven die sprachliche Zeilenfolge anders geordnet hat, indem er für die erste Zeile eine Textvariante hinzufügte. Den Rest ließ er untextiert. - Daraus läßt sich zweierlei entnehmen. Erstens steht der Auflösung, besonders sofern man den Dur-Moll-Wechsel beachtet, nichts mehr im Wege. Sie wird im Gesamtkontext des Liedes geboten (s. S. 154). Womöglich noch wichtiger ist die zweite Feststellung, daß ein solcher Fall unabweislich die ganze Taktfolge, nicht nur die mit Worten versehene, betrifft. Auch an vielen anderen Stellen begnügt Beethoven sich mit der Textierung der Eingangszeile in der Entwurfsarbeit. Die übrigen schenkt er sich, weil er sie kennt. Daraus die Folgerung abzuleiten, daß sie nicht zu tropieren seien, wäre geradezu ein Fehlschluß. Ohne sie mit Texten zu versehen, hat Beethoven den Wechsel von vokalen und instrumentalen Abschnitten in den meist einzeiligen Skizzen, wenn überhaupt, vielfach in anderer Weise für sich kenntlich gemacht; entweder mit harmonischen oder satztechnischen Andeutungen, mit dem Buchstaben R(itornell) oder einfach mit dem Wechsel der Schlüssel (Violin- statt Gesangsschlüssel). Jedenfalls beweisen die Skizzen, daß Beethoven in den instrumentalen Partien seiner Vokalstücke die verbale Kontinuität seiner Entwürfe nicht unterbrach. Das ist ohne Frage ein weiterer stabiler Anhaltspunkt für die Notwendigkeit textlicher Zuordnung seiner Begleittechnik. Zur Ausschaltung der Beliebigkeit ist aber vom Analysator ein ganzes Netzwerk von Regeln zu beachten: 1. 2. 3. 4.
5.
Seine Zuordnungen müssen strukturell stimmig sein. Sie müssen (in der Regel) im Text, sei es nur an einer einzigen Stelle, verankert sein. Sie müssen mit dem Charakter der musikalischen Struktur vereinbar sein. Sie müssen prosodisch vollwertige Entitäten herstellen. Sofern sich keine metrisch-prosodischen Einheiten bilden, kann die Stelle nicht als ermittelt gelten. Sie müssen ästhetisch nachvollziehbar sein.
Selbst unter strikter Beachtung dieser Voraussetzungen werden selbstverständlich längst nicht alle Fehler zu eliminieren sein. So wird man sich immer zu vergegenwärtigen haben, daß die ermittelten Lesarten Annäherungswerte darstellen. Diese Einschränkung kann jedoch
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nicht so weit führen, das Verfahren als solches in Frage zu stellen. Erweist sich eine Zuordnung als nicht angemessen, kann sie nur durch eine angemessenere ersetzt werden. In dieser Hinsicht ist das Vorgehen als ein Lernprozeß auf der Basis des Trial-error-Verfahrens zu beschreiben und zu betreiben, dem die begründete Annahme eines prosodischen Regelkreises auf Seiten des Komponisten zugrunde liegt, in dem es Fuß zu fassen gilt. Wenn so viele stimmige, durch die Skizzen bestätigte Tropierungen zustande kommen, ist die Wahrscheinlichkeit gegeben, daß man damit Beethovens eigene Verfahrensweise befolgt Es soll hier nicht rekapituliert werden, was ich in erkenntnistheoretischem Zusammenhang über Möglichkeiten und Grenzen approximativen Verstehens und seinem Verhältnis zum adäquaten Verstehen ausgeführt habe.26 Wenn jedoch interpretative Zuordnung in so ausgiebigem Maße als adäquat anerkannt werden kann, muß sie auf genuiner Zuordnung im analysierten Musikstück beruhen. Der positivistische Einwand, daß dem Verfahren die erforderlichen induktiven Voraussetzungen fehlen, wäre gegenstandslos. Auch sollte man nicht vergessen, daß auf dem Boden des Positivismus die ganze Problemstellung nicht zustande gekommen wäre. Basiert ihre Heuristik gewiß nicht auf seinen Methoden, so dürfte sie dennoch hinreichend gesichert sein. Bis auf welche subtilen Entscheidungen diese prinzipielle Differenz sich erstrecken kann, sei wenigstens an einem vorgezogenen Beispiel demonstriert. Gewählt sei Mephistos Lied vom „großen Floh" (op. 75 Nr. 3). Bei unüberhörbarem Rekurs auf die realistische mimetische Veranstaltung der vier Einleitungstakte stößt man jeweils genau in der Mitte jeder der drei Strophen auf eine kurze Interpolation in erweiterter Sprunggestalt des großen Flohs (vgl. S. 123, erstes Nbsp.). So evident die Ikonik, so bezweifelbar der nächste Schritt, sie prosodisch zu integrieren, zu allem bei jeder neuen Strophe in anderer Apposition zur vorausgegangenen Zeile (s. S. 122). Der große Floh erscheint so nicht nur sprachlich tropiert, sondern auch noch variantisch dekliniert, je nach Ausgangslage der zugehörigen Zeile. Bald wäre zu lesen: ,,'nen großen Floh" „den großen Floh" „der große Floh" „vom großen Floh"
(Introduktion) (Strophe 1) (Strophe 2) (Strophe 3)
Das wäre nach positivistischer Auffassung „reine Hermeneutik", die sich nicht beweisen läßt. - Umgekehrt im induktiv erlernten Regelspiel Beethovenscher Zuordnungstechnik. Hier wäre es ein glatter Fehler, an der musikalisch unangetasteten Gestalt die attributive De26 Vgl. Goldschmidt 1973, S. 68f.
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klinationsform nicht bemerkt zu haben. Die jeweils anders gesetzte „Pointe" wäre verfehlt Zuletzt noch ein Wort zur Nomenklatur. Um den Unterschied zwischen authentischen und angenommenen Zuordnungen im Notenbild jederzeit sichtbar zu machen, ohne die prosodische Kontinuität zu beeinträchtigen, auf die es so essentiell ankommt, ist nach mancherlei Experimenten einem denkbar einfachen Verfahren der Vorzug gegeben worden. Die authentischen Textierungen werden ohne, die zugewiesenen mit eckiger Klammer versehen. Zur Sichtbarmachung der angenommenen prosodischen Ordnungen werden Wiederholungssigel in runder Klammerform, diese jedoch nicht beliebig verwendet. Zum Unterschied von der absichtsvoll ungegliederten Simile-Technik mit ihrem Schwergewicht auf Figurierung besteht ihr Zeichenwert gerade darin, das dyadische Paarungsprinzip, die Aufrundung zur Halb- und Ganzzeile, wo immer kenntlich zu machen. Beethoven, den großen unbekannten Tondichter, von seiner unterbelichteten prosodischen Seite anzustrahlen, mit allen Konsequenzen, die sich für sein Werkverständnis daraus ergeben, ist die erklärte Aufgabe dieses Buches.
I Modellfalle des einfachen Liedes
Um in Beethovens vielschichtiges Verfahren instrumentaler Zuordnung zum textlich vorgegebenen Wort vorzudringen, wird es sich als zweckmäßig erweisen, auf möglichst elementare Verhältnisse zurückzugehen. Was er nämlich auf dem historischen Stand bei seinem Eintritt in die Musikgeschichte vorfand, war keineswegs nur auf das in voller Ausbildung befindliche obligate Akkompagnement gerichtet. Immer noch herrschte das einfache Strophenlied der zweiten Jahrhunderthälfte vor, das ursprünglich überhaupt keine selbständige Riavierbegleitung aufwies. Von obligaten Stimmen kann hier nicht die Rede sein. Semantisch betrachtet, geht die Gesangsstimme mit der Melodiestimme des Klaviers zusammen, indem sie sich in das „Cantando" mit ihm teilt, während das „Sonando" sich auf die akkordunterlegende und kadenzierende Fundamentierung beschränkt. Aber selbst hier, auf der allereinfachsten Stufe, schießen die beiden Teilsysteme zusammen. Schon Marpurg urteilte: „Ein Gesang, der keinen Bass zuläßt, ist allezeit ein sehr elender, unmusikalischer Gesang"!27. Umgekehrt sah er darin aber auch die Möglichkeit, ein Lied als Klavierstück aufzufassen: „...nichts desto weniger können diese Liederchen teils ohne, teils mit wenig Zusätze oder mit sonst einer kleinen Veränderung in der entweder manchesmal leeren oder hin und wieder zweideutigen Harmonien ebenfalls zu kleinen Ciavierstücken dienen."28 Übereinstimmend schickte C.Ph.E. Bach seinen Gellert-Oden im Vorwort den Hinweis voraus: „Ich habe meinen Melodien die nötige Harmonie und Manieren beigefügt Auf diese Art habe ich sie der Willkür eines steifen General-Bass-Spielers nicht überlassen dürfen, und man kann sie also zugleich als Handstücke brauchen." Das Lied konnte also ebenso „gespielt" wie „gesungen" werden. Semantisch ändert sich daran nichts, sieht man von der gedanklichen Brechung einer praktischen in eine ideelle Textzuordnung ab. Real gegeben blieb sie in dem einen wie dem anderen Sinn. - Dieser doppelten Verwendungsweise - einer gesungenen und einer gespielten - entsprach auch die Notierung auf zwei Systemen. Erst unter dem Einfluß von Oper und Kantate (Recitativo accompagnato!), als das Kla-
27 Kritische Briefe I, Brief 5, S. 22. 28 Kritische Briefe I, Brief 21, S. 161.
20 vier zunehmend größere Bewegungsfreiheit zugestanden erhielt, wurde die Gesangsstimme separat notiert.29 Geht man Beethoven unter diesem Aspekt durch, wird man auf eine bemerkenswert hohe Homogenität gelenkt. Bei weitem in der Überzahl folgen sie dem Modell des einfachen Liedes, bei dem die Oberstimme des Klaviers sich von der Gesangsstimme nicht löst Unter den acht Liedern op. 52, die noch in die Bonner Jahre gerechnet werden30, befinden sich mindestens sechs, die man ebensogut noch nach der alten Notierungsweise auf zwei Systemen lesen könnte. Die Probe aufs Exempel liefern die beiden frühesten erhaltenen Lieder Schilderung eines Mädchens und An einen Säugling, beide von 1783. Am ersten kann man sogar die unausgeschiedenen vokalen und instrumentalen Abschnitte beobachten; ohne Zäsur gehen sie ineinander über. Zu dieser Bonner Praxis wird man auch das Pfeffel-Lied vom freien Mann zu rechnen haben, desgleichen die Einrichtung von Schubarts Kap-Lied für den Gebrauch seines Freundes Wegeier, dessen instruktives Autograph mit Beethovens Fingersatz Jürgen Mainka im Faksimile veröffentlichte.31 Deutlich verläuft sie in den Bahnen Neefes, der auch in dieser Hinsicht eine Zweigstelle C.Ph.E. Bachs, der Berliner Schule und seines eigenen Lehrers Adam Hiller am Rhein vertrat.32 Ihr volles Gewicht erlangt sie aber erst durch den Umstand, daß für Beethoven diese Liedauffassung auch später die maßgebliche blieb. Natürlich wird die alte zweizeilige Notierungsweise beseitigt. An ihre Stelle tritt das vielfach durchgezogene Colla voce der rechten Klavierhand. Besonders drastische Beispiele bieten dafür die vier Vertonungen „Nur wer die Sehnsucht kennt" von 1808 (WoO 134). Sieht man von der in die Tiefe verlegten Baßstimme ab, könnten Nr. 1 und 2 praktisch noch auf zwei Systemen geschrieben sein; die Lage der Gesangsstimme wäre auch im Violinschlüssel bequem unterzubringen gewesen. In Nr. 3 und 4 kommt dieses Bild denn auch fast durchgehend zustande; die rechte Hand geht fast überall mit der Gesangsstimme ausgeterzt oder im einstimmigen Colla parte mit. Wie wenig Beethoven sich im Grunde von dieser Praxis getrennt hat, beweist sein allerletztes Sololied, das Abendlied unterm gestirnten Himmel (WoO 150, 1820). Das Colla voce der rechten Klavierhand wird zwar hier sinnreich akkordisch verstärkt, wodurch die Annäherung an den beabsichtigten Choralsatz und in den Triolenbrechungen dann die hymnische Versetzung unter die Sterne simuliert wird. Unangetastet bleibt hingegen das Prinzip. Schließlich darf an das Lied an 29 30 31 32
Vgl. Friedlaender 19021/1, S. 161, Ode von Sack. [Vgl. Kinsky-Halm, S. 122.] BzMW 3/4 1970 Abb. 2, Kommentar S. 210. Vgl. Irmgard Leux 1925, S. 18-25.
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die Freude in der Neunten erinnert werden, in das sich gesungene und gespielte Stimmen teilen und worin den gespielten vor den gesungenen in der „Ouverture" sogar der Vortritt überlassen wird, ehe sie sich zusammenschließen. Behält man die Möglichkeit im Auge, daß dieses Lied sich schon in der Sammlung op. 52 befunden haben kann33, wäre der Kreis mit der einheitlichen Bonner Jugendproduktion sogar noch enger zu schließen. Dabei darf man sich durch das äußere Notenbild nicht täuschen lassen. Der Klavierpart mag noch so selbständig erscheinen, die Frage, ob die Gesangsmelodie und die Begleitstimme zusammengehen, tritt dabei keineswegs in den Hintergrund. 34 Mit Recht ist gelegentlich die übereinstimmende Faktur eines Liedes wie Das Glück der Freundschaft mit dem zweiten Satz der Sonate op. 90 vermerkt worden. Tft flndqnte quasi ßUegreffo ±ti
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22 rung des Lieds im Instrumentalbereich. Beim Glück der Freundschqft (op. 88) läßt sich schon nicht mehr mit Sicherheit entscheiden, welcher der beiden Stimmen, der Begleitoberstimme oder der Gesangsstimme, das Colla parte zugedacht ist 36 In op. 90 entfallt diese einfach. („Nicht zu geschwind und sehr singbar vorzutragen".) Den Satz darum als „Lied ohne Worte" zu bezeichnen, wäre methodisch voreilig; genuin ist er als Lied ohne g e s u n g e n e Worte angelegt. Man braucht nur op. 88 zu spielen, ohne zu singen, und man befindet sich in derselben Lage.57 Was man vor sich hat, ist ein vollkommen regelmäßig gebautes Drei-Strophen-Lied. Nicht anders ist die vollakkordliche „Begleitung" in Nr. 2 des Liederkreises op. 98 An die ferne Geliebte zu lesen. Nicht allein die Gesangsstimme, auch das Klavier „singt" die Strophen. Den eindeutigen Beweis dafür bietet Strophe 2: T.IO
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36 Sogar ein selbständiges Nachspiel ist vorhanden. Vgl. auch den 1. Satz in op. 101. 37 Über die Radenz T. 59ff. und das Nachspiel s. S. 170.
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zeigt sich schon daran, daß die genannten Beispiele nicht unter dieses Kriterium fallen, obwohl ihnen ihre ästhetische Vollwertigkeit nicht abgesprochen werden kann. Dasselbe bestätigt sich an der Mehrzahl der übrigen Fälle. Im Gegenteil, der Aussagewert wird durch das Zusammengehen gehoben, „unterstrichen". Sonst hätte Beethoven an diesem Verfahren nicht so energisch festgehalten. Von „Text-Ausdeutung" kann dabei schwerlich die Rede sein, sofern sie nicht in die Melodieführung selbst eingegangen ist.38 Nicht um ausdeutende Textbeziehung handelt es sich, sondern um p r o s o d i s c h e I d i o n y m i t ä t . Das entscheidende Moment liegt in der tonsprachlichen Selbstständigkeit und Gleichwertigkeit mit der real gesungenen Stimme. Auch berühmte Partien wie der Eingang des Credos in der Missa, der Einsatz der Chorstrophe „Seid umschlungen, Millionen" der Neunten oder auch die Meeresstille op. 112 folgen diesem Verfahren. Die Cantando-Sonando-Relation ordnet sich schon im eigenen Teilbereich. Daher die hohe Deckungsgleichheit mit der vokalen und instrumentalen Melodieführung bis in die späten Gesangswerke. In dieser Deckungsgleichheit kommt, prosodisch verstanden, nur ein idionymes Verhältnis zum Wort, zu Vers und Strophe zur Geltung. Der Text muß daher ebenso in der „Begleitung" wie in der Gesangsstimme verfolgt werden.
38 Bedauerlicherweise ist auch der Artikel „Begleitung" von Herta Goos von dieser Auffassung nicht frei.
II Vor-, Nach- und Zwischenspiele
Die Vorspiele Man sieht, die einfachsten Fälle brauchen nicht notwendig die primitivsten zu sein; wie in der Missa oder der Neunten kann mit dem Elementaren das Umfassendste, Universalste und Erhabenste getroffen sein. Das Einfache als Qualität des Lapidaren ist daher seit jeher als besondere Seite des Beethovenstils gewertet und gewürdigt worden. (Womit auch seine Bewunderung für Händel erklärt ist.) Daß die sogenannten einfachen Fälle nicht in technischen Kategorien wie „melodische Verstärkung", „Stimmverdoppelung" oder „klanglicher Fundamentierung" aufgehen, zeigt sich sofort, sobald man sich jenen Partien der Gesangsstücke zuwendet, wo die Vokalstimme schweigt, also den Vor-, Nach- und Zwischenspielen. Ein großer Teil dieser Abschnitte führt, über seine musikalische Bahmenfunktion hinaus, ausschließlich nur Melodieteile mit sich, die dem textverhafteten Gesang angehören. Je nach Stellung ist es der Anfang oder das Ende, mit entsprechenden Halb- oder Ganzschlüssen. Diese Praxis wurzelt bekanntlich in der Opernarie. Über ihre historische Tradierung ist hier weiter kein Wort zu verlieren, wohl aber über ihre semantische Funktion. Wenn diese einen Sinn aufweisen soll, kann er nur darin gefunden werden, daß bestimmte Teile der Arie bzw. des Liedes instrumental antizipiert bzw. rekapituliert werden. Mit der tektonischen Bahmenfunktion verbindet sich das formale Moment der Ausdehnung in der musikalischen Grunddimension, der Zeit. Daß es tonnenweise Gesangsstücke gibt, in denen diese Existenzformen gleichsam nackt und mechanisch praktiziert werden, bedarf keines besonderen Eingehens. Aber im Falle Beethoven haben wir es ja nicht mit musikalischer Meterware zu tun. Tradition war für ihn wie für alle Selbständigen in der Tonkunst nur zu gebrauchen, sofern sie reflektiert war. Wenn wir daher bei ihm vollausgebildeten Vor-, Zwischen- und Nachspielen begegnen und diese überdies musikalisch nicht von der gesungenen Form abweichen, dann haben wir in jedem Fall mit B e d e u t u n g zu rechnen. Die Bedeutung aber ergibt sich, wie bald näher zu zeigen sein wird, zumeist aus dem engeren Rontext. Betrachtet seien zunächst die Vorspiele. Dort, wo sie das Schema der achttaktigen Doppelperiode nicht übertreten, lassen sich drei Modalitäten erkennen:
26 1. Unveränderte Antizipation 2. Teilweise veränderte Antizipation 3. Vollständig veränderte Antizipation
Unveränderte Antizipation Erste Feststellung: In allen Fällen dieser Klasse haben wir es mit einer echten Prima volta zu tun; dieselben Takte mit hinzutretender Gesangsstimme haben die Funktion einer Seconda volta. Dieses Verfahren wäre unmöglich, würde sich die Cantando-Sonando-Relation nicht schon vollständig im instrumentalen Teilsystem abbilden. Von dieser artistischen Möglichkeit bezieht sie gleichsam ihre ästhetische Relevanz. Das gilt zweifellos für ihre historische Genese, etwa bei Monteverdi, Cavalli, Cesti und ihrer Nachfolge im 18. Jahrhundert. So auch im speziellen Fall bei Beethoven. Die Frage ist nur: W a s wird in der Prima volta vorgegeben? Ist es das melodische Substrat der Arie bzw. des Liedes oder die melodisch-rhythmische Ausformulierung des vorgetragenen Textes? Im ersten Fall wäre es eine musikalische Abstrahierung, im zweiten die komponierte Totale, mit derselben Textzuordnung, diesmal aber instrumentaliter. Eindeutige Fälle dieser Art bieten die Lieder: Andenken (6 Takte) Lied aus der Ferne (18 Takte) Seltzer eines Ungeliebten „Wo lebte wohl", Andantino 3/4 (8 Takte) Bitten (8 Takte) Büßlied (Allegro ma non troppo, 8 Takte) Sehnsucht (2 Takte) Der Liebende (6 Takte) ferner, aus dem Fidelio Nr. 11, Florestans Arie (Adagio cantabile, 6 Takte) Wie man sieht, ist die Länge der unveränderten oder kaum veränderten Antizipationen ganz unterschiedlich. Sie schwankt zwischen 2 und 18 Takten! Dementsprechend liegt die Zuordnung zwischen zwei und vier Versen. Im Lied aus der Ferne fallt auf sie eine Strophe, nicht ohne eine gewisse figurative Ausbreitung über dem zweiten Verspaar (T. 14-18): „Wie glich da mein Leben dem blühenden Kranz Dem Nachtigallwäldchen, voll Spiel und voll Tanz" Beachtung verdient die kleine Abweichung bei Sehnsucht (WoO 146). Die gesungene Version, selbst das Ergebnis eines gründlichen me-
27 trisch-syllabischen Durchdenkens 39 , hat schließlich folgende Gestalt angenommen:
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39 Das Skizzenbuch Scheide weist allein für dieses Verspaar über 16 Varianten auf. Vgl. Nott II, S. 332f. und Lockwood 1973, S. 104 u. Tafel VIII mit der Übertragung der Skizzenseiten 60-64.
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Einen „einfachen" Fall besonders ausgeheckter Art, wie er, soweit wir sehen, kein zweites Mal bei Beethoven wiederkehrt, bietet das Vorspiel zu dem Lied Der Liebende (1809, WoO 139). Von dem ersten Zeilenpaar „Welch ein wunderbares Leben, Ein Gemisch von Schmerz und Lust" wird nämlich nur die Begleitung vollständig antizipiert, unter Tacet der Cantandostimme. Wären die verräterischen beiden syllabischen Auftaktachtel nicht, wäre sogar der Zweifel am Platz, ob Beethoven dieses ohne Frage hinzugefügte Vorspiel überhaupt den zwei gesungenen Zeilen zugeordnet wissen wollte. So bleibt nur noch die Frage nach der Motivierung. Aber gerade dafür bieten sie semantisch den sinnfälligsten Anhaltspunkt. Das wunderbar wogende Leben, das Gemisch von Schmerz und Lust konnte mimetisch gar nicht besser „ins Bild gesetzt" werden als durch diesen Kunstgrilf der „Begleitung senza voce". Man beachte nur die beibehaltenen Akzentzeichen auf den unbetonten Nebensilben
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29 ohne Akzentgebung, dafür hervorgehoben durch die synkopisch verteilten melodischen Spitzentöne, dann die anschließende Replizierung in denselben Bahnen (T. 4-6). Überall bietet sich dasselbe reflektierte Bild. Die Verwendung oder NichtVerwendung der Prima volta, ihre Verlängerung, Versetzung oder instrumentale Verselbständigung, ihre fast durchgehende Beschränkung auf die Eingangszeile oder das erste Zeilenpaar bekundet deutlich konzeptionellen Gebrauch. Von einer „reinmusikalischen", textunabhängigen Vorwegnahme kann unter solchen Gegebenheiten schwerlich die Rede sein. Ob Lied, Arie oder Ensemble, das Ergebnis bestätigt sich, auch wenn man über das klavierbegleitete Sololied hinausblickt. In Marcellines Arie „O wär ich schon mit dir vereint" hören wir gerade diese Verszeile, den Kern ihres ganzen Wünschens und Trachtens, unverändert zuerst in Flöten und Fagotten angestimmt, ehe sie ihr ihre Stimme verleiht. Im Terzett Nr. 5 ist es ausnahmsweise die zweite Rurzzeile „hab immer Mut", die Roccos Zuspruch als Prima volta dient. Später (T. 14ff.) wird sie ritornellmäßig auch von Leonore zu den Worten „ich habe Mut" abgenommen. - In Klärchens Soldatenlied gehen der zweiten Strophe die beiden ersten Verspaare ganz ihrem Sinn entsprechend instrumentaliter als Prima volta voraus. (Dasselbe wiederholt sich bei der 3. Zeile.) Interessant die kleinen metrischen Abweichungen; so wird ohne syntaktische Beschädigung die erste Auftaktsilbe „ging" in der instrumentalen Prima volta beseitigt: Gesungen
Gespielt
Ich folgt' ihm zum Tor 'naus Mit mutigem Schritt, Ging durch die Provinzen, Ging überall mit
Ich folgt' ihm zum Tor 'naus Mit mutigem Schritt, Durch die Provinzen, Ging üb'rall mit.
Im zweiten Rlärchen-Lied wird die Eingangszeile in der Prima volta beziehungsvoll in ihre beiden Kola zerlegt, die überdies noch durch eine ganze Pause getrennt werden.
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Man beachte bei den vorausgenommenen Gliedern den subtilen Eingriff in den Versrhythmus. Der Daktylus wird zerschnitten und neugeordnet, ohne daß das Tongefüge beschädigt wird; angetastet werden
30 lediglich die Wortsilben: an die Stelle der eliminierten „und" und ,,ge"(dankenvoll) tritt die weibliche Längung der ausgehenden Tonsilben. (In T. 8-11 mit der Rontraktion auf die Diminutionen wird es genau umgekehrt sein.) Der springende Punkt, die Zerschneidung - hier mit weiblichem Ausgang - nimmt sich in einem unbenützt gebliebenen alternativen 6/8-Entwurf folgendermaßen aus40: [ Freud- vfffl
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Der beibehaltene stufenweise Anstieg von Vers zu Vers erfolgt hier statt von eis nach e von h nach d mit der zusätzlichen Mollfarbung auf „leidvoll". Nicht weniger relevant ist die Rontraktion der instrumentalen und vokalen Rurzzeilen. Die Prima volta schmilzt hier auf eine Antizipation bzw. Interpolation zusammen. Und schließlich das abermals veränderte prosodische Moment: Statt des weiblichen Ausgangs die Längung der Vordersilbe durch rhythmische Brechung. Aus dem Umstand, daß beide Versionen sich auf dem Skizzenblatt überschneiden, schließt Nottebohm, daß Beethoven die Wahl zwischen ihnen nicht leicht gefallen sei. Auf eine unveränderte Prima volta besonderer Art stößt man in der Arietta (auch Aria) In questa tomba oscura (Carpani) WoO 133. Hier fallt sie nicht an die Gesangsstimme, die in den beiden vorangestellten Takten antzipiert würde, sondern an die sie stützenden kadenzierenden Begleitakkorde. Auch dieser ungewöhnliche Einfall, in gewisser Hinsicht an seine Separierung des Basses im Finalthema der Eroica anknüpfend, ist Beethoven wie so oft erst im Verlauf der Überarbeitung gekommen.41
40 Nott. II, S. 559. 41 Diese Feststellung verdanken wir A. Tyson, der sie aus dem Vergleich der beiden Niederschriften gewann. Ders. 1977, S. 241f.
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Gleichzeitig hat er die Akkordfolge von vier auf drei Takte zusammengezogen. Dadurch haben sie auch ihren quasi colla voce gesetzten Stellenwert verloren. Wenn sie in der neugefaßten Radenzgestalt als tropiertes Sonando auf eine der beiden Gesangszeilen bezogen werden sollen, kann es nur noch die zweite, abschließende sein. Vielleicht haben wir es nicht zuletzt dieser Zuordnung zuzuschreiben, daß beim Dacapo dieser Strophe (T. 21) die vorausgeschickte Antizipation um einen weiteren Takt verlängert erscheint. Hier läßt sich die Zeile auch mühelos unterbringen:
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Im übrigen wird man die - auch in der Gesangsstimme durch Tonwiederholung vorgegebene - Silbenversenkung auf dem ersten Akkord zu berücksichtigen haben: ri Kiew.
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32 Ohne Frage hat die Gestalt in dieser prosodischen Entität auf die gesamte Begleitung dieser Strophe und ihrer Wiederkehr abgefärbt.42 Man vergleiche die Takte 7-8, 8-10,10-11, in gewissem Sinn auch die Rodagestaltung, obwohl man gerade von ihr aus auf eine weitere Zeilenverkürzung im Sinne einer Replik gelangt (s. S. 139f.). Insofern haftet ihr ein gewisser Ritornellcharakter an. Und durch dieses Ritornell schlägt sogar von fern das Modell der Passacaglia durch. Ein ganz ähnlich choralisch gesetztes Ostinato hatte Mozart im Don Giovanni seinem Komtur auf dem Friedhof in den Mund gelegt. Die Übereinstimmung reicht bis zum Text: ßdagiofjl CtmmemMore) Di
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Im einen Fall handelt es sich um eine singende Statue, im anderen um Gesang aus der Gruft Dem einen wie dem anderen ist das Genre des musikalischen Epitaphs aufgeprägt Dem Sonderfall, daß die Prima volta statt dem Gesangspart dem Begleitsystem entnommen ist, begegnen wir sodann in seiner eindrucksvollsten Gestalt im Fidelio. Nur dem Umstand, daß dieser Problemstellung bisher so gut wie keine Beachtung geschenkt wurde, wird es zuzuschreiben sein, daß an einem so vielbetrachteten Stück wie dem Quartett „Mir ist so wunderbar" (Nr. 3) über dem faszinierten Blick auf die vier Kanonstimmen das stabile Gefüge des Instrumentalsatzes und seiner Eigentümlichkeiten ignoriert wurde. Dazu gehört die nahezu unangetastete Wiederholung bei jedem neuen Stimmeneinsatz, unter wechselnder Führung eines anderen Instrumentenpaares: T.
9 17 25
Marzelline Leonore Rocco
Klarinetten Flöten Hörner
42 Auch sie ist in der ersten Niederschrift noch nicht so prägnant gefaßt (Auflösung in nachschlagenden Achtelakkorden).
33 Erst beim vierten Einsatz (T. 33, Jaquino) löst sich der festgefügte Satz in Figuration auf. Dagegen hört man ihn geschlossen dem ersten Stimmeneinsatz vorausgeschickt (T. 1-8). Hier fallt er an die geteilten Bratschen und Celli. Mithin: ein tief angelegter Fall einer Prima volta, mit dem ausschließlichen Träger des „Begleitsatzes"! Dessen strukturelle Abgehobenheit vom Vokalsatz sollte allein schon durch dieses Ereignismoment evident sein. Allein es wird auch noch durch das abweichende metrische Gefüge greifbar. Der Kanon der Gesangsstimmen folgt homogen dem jambischen Gefalle; sein Auftakt ist konstitutiv. Marzeline r.ff
h p » p p » i r > > g i p > > * > 11
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Anders der Instrumentalsatz. Er kennt zwar auch die Einflechtung des Auftakts; ebenso maßgeblich ist aber sein regelmäßiger volltaktiger Einsatz (T. 1, 9, 17, 25): r/tiT.w. VC XX,
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Namentlich die Prima volta muß unter diesem Aspekt ihr Gewicht geltend machen. Ein solcher eindeutiger Satzbeginn im Volltakt verbietet die Annahme eines möglicherweise „verschluckten" Auftakts. Die zweite Unvereinbarkeit bietet der Schluß. Während die gesungenen Textstrophen durchgehend männlich enden, weist der Instrumentalsatz hier regelmäßig einen betont weiblichen Ausgang auf. Um den Vokalsatz hier auf dieselbe Länge zu bringen, sieht man Beethoven zu
34 einer Zwangsoperation veranlaßt. Welche Schwankungen ihn begleiteten, läßt sich an der jedesmal anderen Version der drei Leonore-Fassungen ablesen: a MarzelUne T.15 «»=
(1805)
g r j, i j, j aif tjCücklich seirTl
(1806)
p 1 r p j> j, /cfr uer-de glücklich sein. b ^ Marz -
™ o 1r y I j na-tnen-lo - se Tein'..
nr^ . „ r p
-t—
(1814) na - men- na — men — lo - se "Pein !
Beim Duett kennen wir die Ursache der Verwerfungsstelle, die Anpassung des neuen Textes an die beibehaltene Melodiegestalt:
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( Vestas Feuer) f j nie-
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IC r fühlt
ü ich
1
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Freu-de.
tt*"r*"'.. . - > t~-f-f . r -t— y r f f f r i c f u T fe O /»i> — /»««— /•>» - me» - le - se Freu-de!
35 Einem ähnlichen Zwang zur Aufrundung, diesmal in Angleichung an die Instrumentalpartie, sah sich Beethoven in den Kanonschlüssen des Quartetts ausgesetzt. Von einer natürlichen Unterlegung des Textes unter eine „durchaus instrumental empfundene Melodie", wie sie Hess suggerieren möchte43, kann weder in dem einen noch dem anderen Fall die Rede sein. Prosodischer, mithin vokaler kann die jambisch gefaßte Melodie bis auf ihre Störung am Schluß nicht empfunden werden. Und ebenso sind es die anders gesetzten prosodischen Akzente des mitgehenden Instrumentalsatzes, denen sie sich zuletzt unterwerfen. Ein weiterer Beweis für dessen relative Selbständigkeit und Abgehobenheit, die ihren sprechendsten Ausdruck in der unangetasteten Prima-volta-Stellung findet. Stoßen wir hier vielleicht auf das berufene „durchaus instrumental empfundene" Gebilde, das sich der Textunterlegung entzieht? Feststeht, daß der jambische Text ihm weder vollständig noch partiell unterlegbar ist. Dennoch sind seine abweichend gefügten prosodischen Entitäten unverkennbar. Außer Ein- und Ausgang wird man auch die eigentümliche Phrasierung zu beachten haben, die deutlich auf syllabische Substrate verweisen. Zu ihrer Identifizierung bedarf es allerdings eines erheblich weitergezogenen Untersuchungsfeldes, das zugleich auch eine Verifizierung erlaubt. Dazu ist hier noch nicht der Ort gegeben. Begnügen wir uns daher mit drei Feststellungen: 1. der prosodischen Gefügtheit dieses instrumentalen Kontrapunktes 2. seiner Geschlossenheit und Stabilität 3. seiner semantischen Bedeutung, die ihm sogar die Stellung der vokal unkonturierten Prima volta zukommen läßt und ziehen wir daraus den Schluß, daß, insofern hier andere Wortfügungen im Spiel sind, sie mit den real gesungenen engstens konvergieren müssen. Man sieht sich so auf ein Vokalquartett mit zwei obligaten Zusatzstimmen in der instrumentalen Extension gelenkt, die auch für sich allein ihre Stellung behaupten. Kehren wir zu den regulären Fällen zurück. An sich sind und bleiben sie ein Reservat der Oper. So trifft man sie denn auch in einem (zu Beethovens eigener späterer Mißbilligung) an die Gattung angelehnten Werk wie dem Christus-Oratorium (op. 85) an. In dem Terzetto zwischen Petrus, Jesus und dem Seraph (Nr. 6) wird zum mindesten der Eintritt der beiden Männerstimmen in solcher Weise antizipiert. Ganz im Stil der traditionellen Rache-Arie singt Petrus: 43 Vgl. Hess 1953, S. 50.
36
„In meinen Adern wühlen Gerechter Zorn und Wut" Seinem musikalischen Toben tritt Jesus mit den Worten entgegen: „Du sollst nicht Rache üben". Beides wird instrumentaliter nahezu unangetastet vorgegeben. In ähnlicher Weise hebt die Arie des Seraphs (Nr. 2) an. Auch hierbei treten leichte syllabische Verschiebungen auf. Der Blick auf die Skizze erlaubt, sie in ihrer Genese zu studieren44: R\iTernetf\
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Daraus entsteht für das „Ritornell" auch sprachlich die Verdichtungsform:
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37
Durch die triolische Auftaktgestalt kommt erst einmal die prosodisch vollwertige Fügung „Preiset, preist" zustande, an die sich dann die eingezogenen Wiederholungssilben schließen. Auf kleinstem Raum entsteht so ein dichter Preisgesang, ehe er überhaupt durch den Eingangsvers seine Abrundung erfahrt. Dabei kommt es auch hier zur metrischen Verschiebung durch die verkürzten und figurierten Werte der Flöte gegenüber der Vokalfassung. Die Tendenz zur leichten Variante haftet selbst solchen stabilen „Ritornellen" an. Festzuhalten ist dabei die Beobachtung, daß die musikalische Veränderung nicht unabhängig von der prosodischen zustande kommt. Wo es die Konzeption erfordert, können wir aber auch mit einer äußerst starr gehaltenen Prima volta rechnen. Einem solchen Fall begegnet man in dem Eingangschor maestoso zur Schlußfuge „Welten singen Dank und Ehre Dem erhabnen Gottessohn". Hier erscheinen Prima und Seconda volta unverändert in die Posaunen gelegt, während der bei T. 8 eintretende Chor vom Posaunensatz nur diastematisch abweicht. Diesen nicht als tropiertes Sonando zu rezipieren, liefe direkt auf Fehlinterpretation hinaus. Dasselbe gilt für die Streicher- und Holzbläser-Repliken, ebenfalls im konzeptionell bedingten tropierten Sonando. Auch bei teilweiser Antizipation treffen sie schließlich mit den gesungenen Chorstimmen zusammen:
Ebenso unverändert bleibt für Prima und Seconda volta der stabile Maestoso-Rahmen, dessen Tropierung in andere, allerdings konvergierende Richtung weist (Alleluja). Zum Unterschied vom Oratorium wird in den beiden Messen von der unveränderten Prima volta nur verschwindend geringer Gebrauch gemacht Während ihr die C-Dur-Messe so gut wie ganz aus dem We-
38 ge geht, kennt die Missa wenigstens doch zwei herausragende Fälle. Der eine ist das „Christe" im Kyrie, der andere der Anfang des Credo mit dem verdoppelten Motto-Ruf der Posaunen „Credo credo". Instrumentale Einleitungen, in der C-Dur-Messe äußerst sparsam angebracht, finden sich in der Missa sonst in der Mehrzahl als modifizierte Prima volta. Daraus ein Werturteil ziehen zu wollen, etwa in dem Sinn, daß Beethoven der einfachen Form weniger Gewicht beigemessen habe, verbietet sich schon aus dem immensen Bedeutungszuwachs der beiden Stellen. In dem einen wie dem anderen Fall handelt es sich um betont kurze Antizipationen von nicht mehr als zwei Takten, mit dem formalen Akzent, der anschließenden polyphonen Durchgestaltung gleichsam als monumentale Themenaufstellung zu dienen. Ganz anders verhält es sich mit dem ausgedehntesten und gewiß berühmtesten Fall einer unveränderten Prima volta bei Beethoven. Es handelt sich um den instrumentalen Eintritt der Freudenmelodie im Finale der 9. Sinfonie. Niemand wird hier auf den absurden Gedanken verfallen, in dem ereignisvollen Vorgang etwa nur eine besonders präsentierte Themenaufstellung erblicken zu wollen. Das vorausgegangene Rezitativ - „Worte denkend", obwohl auch dieses instrumental!45 beseitigt jeden Zweifel: Hier wird mehr als die Freudenmelodie intoniert. Hier wird die Ode an die Freude angestimmt. Und das ist durchaus nicht dasselbe. Aus den Skizzen wissen wir, daß Beethoven dem Instrumentalvorspiel zum Schlußchor den Stellenwert und die Ausdehnung einer „Overtur" geben wollte.46 Tatsächlich nimmt es, nur vom Eintritt des Allegro assai bis zur Wiederkehr des Rezitativs gerechnet, 116 Takte in Anspruch. Sieht man von Fortsetzung und Überleitung T. 187-207 ab, bringt der Instrumentalsatz nichts als die Freudenmelodie in vierfacher Wiederholung bzw. Figurierung: Das erste Mal solo von Celli und Kontrabässen vorgetragen; das zweite Mal in Bratschen und Celli mit konturierendem Kontrapunkt in Fagott und Kontrabässen; das dritte Mal in den ersten Violinen mit kontrapunktisch figuriertem Streichersatz; das letzte Mal als geschlossenen Bläsersatz mit marschmäßig skandierendem Streichercorps. Wie man hier von autonom instrumentaler Anlage reden will, bleibt unerfindlich.47 Die Idee kann klarer nicht gefaßt sein: Bei den Stimmen, die hier hintereinander eintreten, handelt es sich zwar um alternierende Instrumentalgruppen, nichtsdestoweniger sind es eben „Stimmen". Die Korrespondenz zu den späteren sukzessiven Eintritten der Vokalstimmen ist vollständig gewahrt: 45 Vgl. Autograph 8. 46 Nott II, S. 190. 47 Vgl. Treitler 1981, S. llf.
39
(T. (T. (T. (T.
92) 116) 140) 164)
Celli-Kontrabässe Bratschen-Celli Streichquartett Tuttisatz
-
Bariton solo (T. 241) Alt, Tenor u. Bariton (T. 269) Soloquartett m. Sopran (T. 297) Vollchor (T. 543)
Sollte aus dieser extensiven Progression geschlossen werden, daß die Instrumentalstimmen auch strophenmäßig vordringen? Dafür fehlt in den konturierenden Figuralstimmen jeder bündige Hinweis, besonders wenn man sie mit den zugeordneten Vokalfigurationen der zweiten und dritten Strophe vergleicht. Alles spricht dafür, daß der Bereich der ersten Strophe überhaupt nicht verlassen wird. Es ist ja auch die Leitstrophe. Von den Vorsängern angeführt, treten die Stimmen ein, bis sie sich schließlich im dithyrambisch aufstampfenden Chorus zusammengeschlossen haben, dessen vokales Gegenstück erst bei T. 543 nachvollzogen wird. „Heute ist ein feierlicher Tag...dieser sei gefeiert durch Gesang und..." lesen wir in den Skizzen.48 Das Verfahren erinnert auffallend an die Progressionen in der zeitlich benachbarten Ouvertüre Zur Weihe des Hauses (op. 124). In beiden Stücken vollzieht sich ein durchgesungener Aufzug der Feiernden.49 Noch auf zwei frühere, parallel konzipierte Werke aus der „heroischen Periode" muß unter diesem Aspekt ein Licht fallen: Auf das Finale der Eroica und seinen Vorläufer in den Riaviervariationen op. 35. Die Stelle der „Overtur" vertritt hier die „Introduzione col Basso del Tema". Auch die Gradation ist darin schon angelegt: Basso del Tema, a due, a tre, a quattro, Tema con Basso. Nach der gemeinsamen Idee des Balletts vollzieht sich die sukzessive Belebung der Geschöpfe des Prometheus. Um von hier aus auf die ideelle Funktion der „Overtur" im Rahmen der Chorfeier der Neunten zu blicken, wird man sie weniger auf der Bühne als in der Realität zu suchen haben. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß die historischen Vorbilder zeitlich noch gar nicht so fern lagen: Die „Feste des höchsten Wesens" unter Robespierre auf dem Champs de Mars. Die „Overtur" selbst wird zur gesungenen Aktion. An diesem unlöslichen Zusammenhang ändert auch die instrumentale Lesart der Freudenmelodie nichts, die von der gesungenen bekanntlich etwas abweicht, einmal durch die regelmäßigen Halben anstelle der fast durchwegs syllabischen Viertel, dann durch die Beseitigung des Melismas auf „Brüder" bei Zeile 7:
48 49
Vgl. Nott II, S. 190. In dieser Hinsicht kann man der Interpretation von Otto Baensch trotz der idealistischen Verpackung nicht die Berechtigung absprechen. Vgl. Baensch 1930.
40
Mit Absicht wurde die instrumentale Alla-breve-Notierung aus den Skizzen gewählt50, weil sie den Sinn der halben Notenwerte erkennen läßt. Mit der Überbetonung der eins auf jedem Verseingang, mit der notwendig folgenden Silbenversenkung, wird an der Melodie der Schreit- und Aufzugcharakter hervorgehoben, wie er zuletzt scharf skandiert in der Tuttifassung laut wird. Für das vielgeübte Verfahren der Silbenversenkung könnte kaum ein bekannteres Beispiel vorgestellt werden. Das erlaubt jedoch nicht, der Melodie hier die CantandoArtikulation, die festgefügte Textzuordnung abzusprechen. Noch eine „Prima volta" bedarf in diesem Zusammenhang einer Richtigstellung. Bekanntlich werden dem Bariton-Solo vier Takte vorausgeschickt, in der jedermann die Anspielung auf die Freudenmelodie zu erkennen vermag. In derselben sequentischen Gruppierung über dem Orgelpunkt der Hörner werden sie von den Holzbläsern schon gegen Ende des Instrumentalrezitativs angestimmt: T.77
Oh. Klar.
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1% .jjJJ 1 ) J J t i i i * 1| * i A ¡[=1 r r r j j r J ü r 'f f - J J fjgF Die Identität der Melodie steht außer Zweifel; aber fallt sie schon mit der Eingangszeile zusammen? Das ist die große Frage. Man betrachte außer der paarigen Stimmführung die taktweise gesetzten Phrasierungsbögen und das hinzugefügte „dolce": Weder mit der ersten noch gar mit der zweiten Verszeile ist diese abweichende Diktion in Übereinstimmung zu bringen. Doch gibt es auch einen eminent musikalischen Grund: Weder bei den gesungenen Stellen (T. 242,244, 545, 549) noch in ihrer instrumentalen Antizipation (T. 117,119) läßt Beethoven den „Götterfunken" oder die hervorgehobene Silbe in „Elysium" 50 Nott II, S. 184.
41 jemals auf einen (dissonierenden) Septakkord fallen, und dieses mit gutem Zeichengrund, die Affirmation wäre unleidlich beeinträchtigt. Anders bei der Replizierung der Freuden-Exklamation; hier dient die Ausweitung zum Septakkord der syllabischen Vorbehaltbrechung [sie!] des Schlüsselwortes. Ein Blick in die Skizzen bestätigt den Befund31. Zwar hat Beethoven ursprünglich tatsächlich an eine echte Prima volta der Eingangszeile gedacht, bald darauf aber seine Absicht modifiziert. Jetzt lesen wir: „Voce: Freude! Freude!" Damit erklärt sich auch die veränderte Strukturierung mit der Dolce-Bezeichnung. Zu lesen haben wir:
Tatsächlich läßt er auch bei der Wiederholung dieses Holzbläsersatzes bei T. 237-240 die Männerstimmen zweimal „Freude, Freude" hineinsingen! Somit haben wir es nur bedingt mit einer genuinen Prima volta zu tun. Nur melodisch würde sie die Voraussetzung dafür erfüllen; in Stimmführung, Gliederung, Harmonisierung, Phrasierung und Prosodierung hingegen nicht. - Das schöne Beispiel beweist, wie wenig man sich vom melodischen Anschein allein leiten lassen darf. Jetzt bemerken wir auch die konzeptionelle Stellung, die dem vorangestellten Derivat zugedacht ist. Muß besonders daran erinnert werden, daß das Lied „An die Freude" heißt? Bevor die Odenstrophen ihren Lauf nehmen, wird die Freude als personifizierte Allegorie („Tochter aus Elysium") apostrophiert. Nach der Anrede die „Overtur". Mit ihr tritt uns die umfassendste und ideell durchdringendste Anlage einer unmodifizierten, nur marginal variierten Prima volta entgegen. Hier sind wir zugleich am weitesten entfernt von einer unbesehenen Adaptation eines vorgegebenen Formschemas. Der Fall lehrt uns vielmehr, was aus dem Prima-voltaVerfahren gerade im unangetasteten, kaum veränderten Anwendungsbereich herauszulesen ist, sofern man mit dem konzeptionellen Denkansatz eines Beethovens zu rechnen hat. Umso weniger wird man die ihr vorausgehende Abweichung von ihm auszunehmen haben. Ehe die Verse der Freudenode ihren Lauf nehmen, wird die Freude selbst invoziert. 51 Vgl. Nott. II, S. 191.
42
Teilweise veränderte Antizipation Auch hier liegt die Prima volta noch gut erkennbar zu Grunde, so gut, daß primär kein Anlaß zu einer Textzuordnung besteht. Die nicht übereinstimmenden Glieder sind dann unter dem Aspekt der Äquivalenz zu untersuchen. Damit wird der Prima volta eine größere musikalische Selbständigkeit gegenüber der Seconda volta zugestanden, die jedoch, wie gezeigt werden kann, die Textbindung nicht beeinträchtigt Das Äquivalent erweist sich in den meisten Fällen als Synonym. Mehr noch als die unveränderte Antizipation ist dieser Typus der Gewohnheit zuzuschreiben, die instrumentale Einleitung erst am Schluß der Romposition hinzuzufügen.52 An seinen Eingriffen ist das taedium repetitionis, das variative Denken nicht unmaßgeblich beteiligt. Die veränderte Prima volta stellt sich so als Bearbeitungsform dar. Wie sich die Verse neu zusammenschließen, beweist bereits ein so frühes Stück aus der Bonner Zeit wie die Vertonung von Goethes Mailied (1792). Schon hier wird das 14 Takte lange Vorspiel benützt, um die Eingangsverse - praktisch die erste Goethe-Strophe - nicht nur mechanisch in der Prima volta zu antizipieren. Wiederholt hat man darauf hingewiesen, daß Beethoven die neun Kurzstrophen des Gedichts zu drei Langstrophen zusammengezogen hat, um die drei daraus gebildeten musikalischen Strophen unverändert als einfaches Strophenlied zu behandeln53. Nimmt man aber die Introduktion hinzu, ohne sie in unzuverlässiger Weise nur „instrumental" im Sinne von Text-Unbezogenheit zu interpretieren, wird man bemerken, daß auch der Goetheschen Kurzstrophe ihr Recht widerfährt. Erhalten bleibt dabei die enge Versfügung, die zwei Gedichtverse zu einem musikalischen Vers zusammenschließt: „Wie herrlich leuchtet/mir die Natur, Wie glänzt die Sonne,/wie lacht die Flur." 52 Als indirekter Beweis dafür kann das Lied Die laute Klage (Herder) gelten. Sowohl in der Skizze als auch im (von Beethoven nicht zum Druck gebrachten) Autograph sind die beiden Einleitungstakte frei gehalten worden. Erst bei der postumen Veröffentlichung 1837 hat sie der Herausgeber Diabelli „ergänzt"; auf diesem Wege ist die Komposition dann (mit einer weiteren Entstellung) in die Gesamtausgabe gelangt Vgl. Boettcher 1928, S. 52, 99 u. Tafel IX/I; der genaue Sachverhalt mit den beiden vorgesehenen Einleitungstakten bleibt freilich auch von diesem unberücksichtigt 53 Vgl. Boettcher 1928, S. 78; Dürr 1962; Goldschmidt 1974, S. 69f. - Dagegen hat er die Zusammenziehung zweier Goethescher Kurzzeilen zu einem regulären Vierheber mit anderen Komponisten gemein, die das Gedicht vertonten. Vgl. Boettcher, S. 78f.
43
Musikalisch wird die Paarigkeit der beiden neuen Verse durch ihre ikonische Gegenbewegung unterstrichen. Vers 1 fallt, Vers 2 steigt. In diese klare Gliederung fügen sich auch die Takte 1-8 der Einleitung. Die kontrastierende Linienführung findet man sogar noch konsequenter gezeichnet als in den entsprechenden Takten der Seconda volta mit ihrer Dominantwendung („wie lacht mir die Flur"). Von hier ab stauen sich die Beethovenschen Halbzeilen. Man hat die Wahl zwischen: T.9
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s In beiden Fällen geht ein Kolon ab, das dritte in Lesart a, das zweite in Lesart b. Es ist nicht nur die angemessenere Diktion, die uns für die zweite optieren läßt. Sie lenkt uns nämlich auf eine neue Entität, die zusätzliche stichische Anaphora: „Wie herrlich leuchtet, wie glänzet die Sonne, wie lachet die Flur." Durch die syllabische Gleichwertigkeit von „leuchtet", „glänzet" und „lachet", dazu überall auf Zweisilbigkeit gebracht, kommt eine assonantische Reihung zustande. Durch die Eliminierung des ersten Subjekts („Natur") erscheinen „leuchten und glänzen" auf ein einziges gemeinsames Subjekt bezogen, nämlich die „Sonne". Sofern wir richtig dekodiert haben, wäre damit auch etwas Entscheidendes vom Wesen des ganzen Gedichtes getroffen, das von den strukturierenden Werten der Anaphora und Assonanz geradezu lebt; Dürr zitiert dafür die Strophe54: 54 Dürr 1962.
44 „O Mädchen, Mädchen, Wie lieb ich dich! Wie blickt dein Auge! Wie liebst du mich!" Gleichzeitig klärt sich auch der „unregelmäßige Periodenbau" auf. Die Verkürzung von acht auf sechs Takte (T. 9-14) kommt durch die Zeilenverkürzung bzw. die Eliminierung einer Goetheschen Rurzzeile zustande. Die taktweisen Phrasierungsbögen in der Melodiestimme leisten ein übriges. Ein anderes, relativ frühes Lied mit diesem konzentrierenden Einleitungstypus ist die erst 1825 als opus 128 erschienene Ariette Der Kuß (Weisse); nach Nottebohms Feststellung wurde sie aber schon 1798 unter den Arbeiten zu den ersten Streichquartetten op. 18 entworfen. 35 Die noch vorhandenen Aufzeichnungen lassen keinen Schluß zu, bis zu welchem Grade sie gediehen waren, ehe die Romposition von Beethoven, mitten in der Arbeit zur Neunten, einer Umarbeitung für würdig gehalten wurde. Hätte Max Friedlaender schon die Briefe Charlotte von Telekys an Josephine Brunsvik gekannt, er würde sich wohl kaum mit der Charakterisierung des „Liedchens" - „sehr liebenswürdig, im galanten Stil gehalten" - zufrieden gegeben haben. Denn darin begegnen wir, Beethoven betreffend, dem besorgten Schwesternrat „Ne sois jamais seule avec lui".56 Leider ist vom Fehlen der Skizzen gerade der instrumentale Anteil am meisten betroffen. Aber auch so erscheint es unwahrscheinlich, daß eine so souveräne Durcharbeitung des Riaviersatzes wie die folgende Stelle
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nicht das Werk der letzten Hand gewesen sei. Ohne die syllabische Auflösung immer in der Beethovenschen Silbentrennung mit dem vollen Zischlaut auf der zweiten Tonsilbe muß allerdings viel von ih55 [Vgl. Nott. II, S. 477.] 56 [Vgl. Goldschmidt 1977, S. 124.]
45 rer Pointierung verloren gehen. In der imitatorischen Engführung gibt sie den humoristischen Küssetausch preis. Daß es sich unzweideutig um ein tropiertes Cantando handelt, unterstreicht aber erst die modifizierte Fortsetzung, die mit demselben musikalischen „Küsse-Material" wieder anders verfahrt:
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Man beachte die gleichlautenden drei Baßnoten T. 4-5, sodann die ebenfalls schon im vorhergehenden Beispiel vorhandene syllabische Brechung, die nicht weniger formierenden Quart- und Sextsprünge und nicht zuletzt die duettierende Stimmführung, die in der modifizierten Prima volta zu anderer Ordnung der Tongruppen im Diskant führt. Das sind untrügliche Kennzeichen einer weiteren variantischen Ausgestaltung der Halbzeile „und küssen". Davon kann aber auch nicht die Schlußgestaltung ausgenommen werden. Während in der rechten Hand die syllabische Brechung zu „Miniküssen" in Sechzehnteln diminuiert, folgt die linke der eingeschlagenen Segmentierung. Das eingeschobene „ja" anstelle des letzten „und" ist nicht allein syntaktisch motiviert, weil sonst die Rückbeziehung auf die Aussageform „wollt ich sie" (T. 3-4) fehlen würde. Es erscheint auch diastematisch durch das herausspringende h markiert. Schließlich darf auf die verbale Interpolierung eines weiteren solchen „ja" verwiesen werden. Es steht im viertletzten Takt der Arietta („ja lange, lange hinterher"). Auch dem auffallend abgesetzten Schlußakkord in diesem Scherzo-Lied („...scherzend vorzutragen") wird man den syllabischen Stellenwert nicht versagen wollen. Zusammengenommen mit ihrer Replik würde die ganze Stelle lauten:
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57 Über das häufige Einschieben der Partikel „ja" vgl. Boettcher 1928, S. 52f.
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Gerade wenn die enge Berührung auf Unkenntnis beruhen sollte, müßte sie als gutes Beispiel für die vorgezeichneten Bahnen des „Personalstils" in den Zwangsläufigkeiten des „Zeitstils" gelten. Das betrifft nicht allein die stilisierte Artikulierung des Vogelrufs, für die zweifellos noch manche weitere Beispiele aus der Zeit zu finden wären.62 Auch Auffassung, Idiom und Diktion werden davon berührt. So persönlich die Leistung, so überpersönlich die musikalische Sprachverwendung. Die teilweise veränderten Prima volten bieten jedoch auch 61 So Beethovens Bezeichnungsweise in einem Brief an Breitkopf & Härtel im Herbst 1803. 62 Vgl. Hoffmann 1908; Lach 1925.
52 gewisse Fallstricke. Nicht in allen Fällen kann man sicher gehen, daß die gesungene Eingangszeile oder wie im Wachtellied das folgende Zeilenpaar antizipiert wird. Die musikalische Übereinstimmung kann auch täuschen. In ihrer Fortsetzung erscheint sie mitunter mit solchen Unstimmigkeiten verquickt, daß man vor der Wahl steht, entweder vor einer Zuordnung zu kapitulieren und aprosodische Verhältnisse anzunehmen oder aber auf zusätzliche mitgeführte Modelle unter der Sprachoberfläche zu schließen. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß die erste Möglichkeit uns mit Beethovens geistiger Welt unvereinbar erscheint (s. Vorwort); außerdem wird sie durch die Masse der hier gebotenen und noch zu bietenden Beispiele beweiskräftig widerlegt. Ehe man sich daher dazu entschließt, gewisse Fälle als undekodierbar zu rubrizieren, wird man zu untersuchen haben, ob nicht andere Zuordnungsebenen, sei es als mitgeführte Topen, sei es als bewußt eingesetzte prosodische Formeln oder Formulierungen, im Spiel sind. Einen solchen herausragenden Fall - das kontrapunktische Stimmenpaar zum Kanon der Vokalstimmen im ersten Quartett des Fidelio - haben wir offen gelassen. Wesentlich leichter zu dekodieren ist das lapidare Beispiel allereinfachster Art, das das bekannte Gellert-Lied Die Ehre Gottes aus der Natur (op. 48, Nr. 4) bietet Die nur geringfügig modifizierte Prima volta scheint hier mit Händen zu greifen: Majestätisch und erhaben
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53 Eingangsklausel nicht in ihrer Terzüberhöhung erscheinen. Aber vielleicht liegt hier wieder ein Fall von Äquivokation vor; vielleicht haben wir das Subjekt der zweiten Strophe „Die Sonne" einzusetzen? Dadurch hingen wieder die beiden Eingangstakte in der Luft Auf diesem Weg widersetzt sich also das so simple Gebilde hartnäckig einer schlüssigen deklamatorischen Zuordnung. Sollte sie überhaupt nicht in dem gegebenen Sprachkontext zustande gekommen sein? Unter dem Zwang dieser Feststellung sieht man sich auf einen verdeckten motivischen Zusammenhang mit dem vorausgehenden Lied Nr. 3 Vom Tode gelenkt Dieses schließt über einer achttaktigen Roda, in der verschiedene Gedanken zusammenschießen, die immer enger um Ablauf der Lebensuhr, Grab und Tod kreisen (s. S. 175). Was uns hier interessiert, ist die Verbindung des ostinaten jambischen Metrums mit den schweren auftaktigen Akkordschlüssen, die sich zuletzt - liegend und absteigend zugleich - in unzweideutiger Mimese an die vier unentrinnbaren Silben
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heften. Die Übereinstimmung mit den hochgereckten vier Eingangsakkorden der „Ehre Gottes" ist evident: dieselben vier Klanggestalten in adäquater Rhythmisierung, auf jeden Wert ein voller Akkord, verbunden mit jähem Moll-Dur-Wechsel (dazu von fis-Moll nach C-Dur!) und der ostensiven Lageversetzung von der Tiefe in die Höhe. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier ein direkter motivischer Anschluß hergestellt werden sollte. Ebenso sinnfällig die zugrunde liegende Konzeption: Auferstehung vom Tode. Alles spricht somit für eine gedankliche Motivierung der motivischen Versetzung. Offen bleibt nur die Frage, ob wir es hier einzig mit einem symbolhaften Akt zu tun haben oder ob er sich in einem festen viersilbigen Sprachgefüge vollzieht. Für die Baßgestalt wird ein solches leicht nachzuweisen sein: „(Denk o Mensch) an deinen Tod" (s. S. 175). Sollte es sich ausgerechnet bei der jubelnden Transfiguration verflüchtigt haben? In diesem Zusammenhang verdient ein Hinweis von G. Massenkeil Beachtung, daß Gellerts Ehre Gottes aus der Natur in ihren ersten Zeilen an den Psalm 19 angelehnt ist.63 Den Psal63 Vgl. Massenkeil 1978, S. 89.
54 men Davids ist jedoch ex- und implizit die obligate Alleluja-Invokation vor- oder nachgestellt In dieser doppelten Funktion sieht man ja auch die Eingangsgestalt in Beethovens Vertonung an entsprechender Stelle am Schluß wiederkehren. Jetzt begreift man auch, weshalb sie hier in der Umspannung des Tonraumes durch unvollständigen Ganzschluß noch einen Schritt hinaus geht Mit dem Alleluja-Ruf erscheint hier wie dort die Lobpreisung auf ihren lapidarsten Nenner gebracht. Man darf sogar noch weiter gehen. In dem tropierten Sonando ist die semantische Funktion dieser Alleluja-Gestalt optimal gefaßt. Man denke nur an Händeis Alleluja-Fanfarolik. 84 Ist es darum ein Zufall, daß die anschließenden Gesangszeilen ebenso in striktem Sonando verlaufen? Bei diesem Unisono ist es nicht schwer auszumachen, was an ihrem raumdurchmessenden zerlegten Dreiklang genuin beteiligt ist Natürlich sind es die fortissimo blasenden Instrumente, hier durch das Riavier simuliert In den Takten 5-6 und 9-10 gehen sie denn auch in authentischen Posaunensatz über. 65 Die Verse bestätigen es: „Ihr Schall pflanzt seinen Namen fort". Die Himmel rühmen aber auch des Ewigen Ehre, was eine deutsche Umschreibung für Alleluja ist („Preiset Jahweh"). Muß daher nicht auffallen, daß der gesamte Lobgesang, am greifbarsten in diesem und seinem korrespondierenden Teil (T. 29-40) mit seinen obligaten Elisionen geschlossen in den Bahnen eines Alleluja verläuft?
64 Zu erinnern wäre hier auch an die bemerkenswert übereinstimmende vokale und instrumentale Apostrophierung in Mozarts Freimaurerkantate KV 429 Dir, Seele des Weltalls, wo ähnliche tonraumdurchmessende Verhältnisse den gesamten Eingangschor bestimmen. Die entsprechenden Anfangstakte lauten dort:
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Sogar der Vorschlag in Takt 6 erfahrt dadurch seine prosodisch-semantische Motivierung. Was sollte er hingegen in Verbindung mit der Doppelfermate, dazu in zurückgenommener Lautstärke, auf „Ehre" (später auf „ferne") zu besagen haben? Noch eine Überlegung systematischer Natur erscheint hier angebracht. In ihrer Alleluja-Kodierung würden sowohl die Vorspiel- als auch die Nachspieltakte aus dem Rontext fallen, wären sie nicht durch die arkane Alleluja-Ebene des Liedgefüges gedeckt. Ohne diese würden sie prosodisch weder als Antizipation noch als Replik ihre Funktion versehen können. Wie soll ein Wortsubstrakt vorweggenommen oder nachgestellt werden, wenn es im gesungenen Text nicht vorkommt oder, wie hier, eine zweite Sprachebene bildet? Zusammen mit ihrem Gegenstück Vom Tode erweist sich die bekannte Ehre Gottes somit als ein wahres Paradigma transformierter Tiefenstrukturen uralter Provenienz, ganz abgesehen von der musikalisch-verbalen Kohärenz ihrer Teile. Unvermeidlich stellt sich die Frage, ob Beethoven diesen Prozeß unreflektiert oder in voller Absicht vollzogen hat. Im ersten Fall hätte er sich unwillkürlich an eine ihm geläufige Topik angelehnt; im zweiten hätte er bewußt von ihr Gebrauch gemacht. Die enge motivische Verknüpfung der beiden Lieder, die Metamorphose des
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Ende des einen in den Anfang des anderen spricht für ein geklärtes konzeptionelles Vorgehen. Die vom Dichter eingedeutschte Alleluja-Topik wird vom Komponisten wieder restituiert Außerdem steht dieses Ergebnis nicht isoliert da. Im weiteren Verlauf der Untersuchungen werden wir ihm noch wiederholt begegnen. Dagegen lohnt es sich, einen so bedenkenswerten Fall wie das frühe Matthisson-Lied An Laura (1790, WoO 112) schon hier anzuschließen. Entdeckt, beschrieben und veröffentlicht wurde es zum ersten Mal durch Kinsky.66 1925 folgte dann die Einarbeitung durch Schiedermair, der in den weiteren Auflagen seines „Jungen Beethoven" das Gesangsstück auch im Faksimile bot.67 Beide waren sich darin einig, daß das neuentdeckte Lied neben der Klage (Hölty) zu den besten und wertvollsten Gesängen der Bonner Produktion zählte „und ihm vielleicht nur noch das anmutige ,Ich, der mit flatterndem Sinn' (WoO 114) an die Seite gestellt werden kann".68 Schiedermair fiel dabei die gezwungene Deklamation der Gesangsstimme auf, was ihn auf die generelle Vermutung brachte, „daß bei der Entstehung einzelner Lieder oder Liedteile der Klavierpart die Priorität vor der Singstimme hatte oder daß sogar Klavierthemen die Gesangsstimme aufgepfropft wurde".69 Die Beobachtung ist zweifellos zutreffend. Sie wird auch durch den Vergleich mit der einzigen erhaltenen, von Nottebohm mitgeteilten Skizze70 gestützt, die die „Verwerfung" schon in den ersten Gesangstakten zu erkennen gibt:
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AMZ 10.1.1913; Kinsky 1916, Abt. IV, S. 213. 2. Auflage 1939, 3. Auflage 1951. Kinsky 1916, IV, S. 162. Schiedermair 31951, S. 266. Nottebohm I, S. 45. Auch die übrigen Interpolierungen der „Begleitung" sind der Beachtung wert
57 Wie man sieht, hat Beethoven hier den kritischen „Überschuß" vokal noch unbesetzt gelassen. E i n e Zwangslösung wäre die Wiederholung des Wortes „allen" gewesen; Beethoven zog die verschleppte Diktion vor. Ähnliche Überbeine finden sich, bis auf die rezitativische Behandlung des Mittelteils - bei Matthisson die ersten drei Zeilen der dritten Strophe - in der gesamten Liedvertonung. Störend bis zur Unerträglichkeit müssen sie sich in der zweiten Gedichtstrophe bemerkbar machen. Ganz im Gegensatz dazu weist der Riavierpart eine durchgehend homogen artikulierte Gestaltungsweise mit ebenso intakter Segmentierung auf. So richtig die Nichtübereinstimmung von Schiedermair bemerkt wurde, so angebracht dürfte die Frage sein, ob der Primat der Riavierstimme, in dem er schon den kommenden Instrumentalkomponisten Beethoven am Werk sieht, wirklich instrumentaler Thematik zu verdanken ist In dieser Fragestellung sieht man sich bestärkt durch die unveränderte Prima volta der vier Vorspiel-Takte, freilich nur im Hinblick auf die oben wiedergegebenen „Begleittakte" 7-8. Aus dieser Auszeichnung ist auf einen eigenen gedanklichen Stellenwert zu schließen. Am nächsten würde es liegen, die Eingangszeile im Sinne einer Variante dafür heranzuziehen. Doch sieht man sich hier vor dieselbe Schwierigkeit gestellt; der Versuch einer Tropierung würde nicht weniger gezwungen ausfallen:
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58 schließt, wird man die Möglichkeit einer indirekten Textverschaltung zu prüfen haben. Hier muß der Blick zuallererst auf das Gedicht gelenkt werden. Erstens sein Inhalt: Unter den insgesamt acht LauraGedichten konnte der junge Matthisson-begeisterte Beethoven bereits in der ersten Sammlung (Mannheim 1787) auf deren drei stoßen, die dieselbe hymnische Hingegebenheit verband: 1. Die Betende („Laura betet, Engelharfen hallen") 2. An Laura („Freud' umblühe dich auf allen Wegen") 3. An Laura („Über den Sternen, Freundin,...") Deutlich stellt Nr. 2 die Verklärung der Dahingegangenen dar. Ebenso zutreffend könnte es lauten „An Lauras Grab". Sodann die Form: drei Fünfzeiler mit artistisch ungerader Reimung (1/3/4 - 2/5), dazu noch in Pentametern. Zieht man weiter in Betracht, daß der junge Komponist Strophe I und II zusammenfallen läßt, wird noch einsichtiger, weshalb er einen musikalischen Nenner suchte, der ihn von diesem Bündel prosodischer Schwierigkeiten unabhängig machte. Diese Lösung bot sich aber nicht unausweichlich in einer instrumentalen Thematisierung; dazu war es nicht nötig, die strikt prosodischen Bahnen zu verlassen. Es kam nur darauf an, ein vollwertiges sprachliches Äquivalent für die Gesamtheit des Strophen- und Zeilengefüges zu finden. In der Tat: Man braucht nur die widerspenstigen unmusikalischen Gedichtzeilen durch das einfache, dafür umso musikalischere Schlüsselwort „Alleluja", das sich schon in „Laura betet" angeboten hätte71, zu ersetzen, und man sieht sich zu aller vollkommenen Deckungsgleichheit der prosodischen Schwierigkeiten enthoben:
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Die kadenzierenden Alleluja-Silben fallen hier an den gesungenen Diskant im Zusammenschluß mit dem gespielten Baß. Auch das ebenfalls viertaktige Zwischenspiel, durch seine Wiederholung nach Strophe I und II in Wirklichkeit ein zweites Ritornell, müßte zu den ausgehenden Gedichtzeilen in seltsamer Beziehungslosigkeit stehen, wenn es nicht in synonymen Werten das Alleluja figurierte:
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Umgekehrt hat man in der sequentischen Ablösung der Takte 1-3 ein weiteres musikalisches Beweismittel, daß man die „thematische" Fi-
60 gur in schroffem Widerspruch zu der gesungenen Zeilenfügung im Takt- für Taktwechsel zu lesen hat Das Alleluja-Feld erweist sich somit einschließlich seines zweiten synonymen Ritornells als die konstitutive Liedtotale. Selbst das eingeschaltete Rezitativ fallt daraus nicht heraus. Zunächst seine formale Stellung: Erstens hat es genau die Länge einer Terzine mit der Reimung der Zeilen 1 und 3. Zweitens endet es auf die Zeile: „Und der Freund an deinem Grabe sage:". Das Paradox kann ästhetisch kaum pointierter gegeben werden: Was der trauernde Freund sagen wird, kehrt zum Cantando zurück; daß er aber sagend dargestellt wird, motiviert den Rückgriff auf Recitando! Selbst Form und Genre findet man der semantischen Mimese unterworfen. Ähnliches möchte man auch von der musikalischen Formulierung behaupten. Tatsächlich darf man in dem stimmenverdichteten Accompagnato T. 29-30 und 32-34 Gottes ernste Waage sich hin- und herbewegen hören, durch den Recitando-Einschub der Halbzeile „von jedem Mißklang frei" sogar zur sprachsyntaktischen Einheit zusammengeschlossen. Dennoch läßt sich weder über den choraliter gebundenen Satz72 noch über den sequentischen Aufstieg zur Höhe hinwegsehen; beides Elemente, die das gebundene Gebilde zu dem Ritornell in seiner ausklingenden Version (vgl. S. 59, erstes Nbsp.) in deutliche Parallele setzen. Die Alleluja-Versikel erscheint somit auch hieran genuin beteiligt. Darum wird man nicht zu weit gegangen sein, indem man auch die übrigen Teile des Rezitativs - das gesungene Recitando ebenso wie die gehaltenen Akkorde - einbezieht: T.ei
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72 Vgl. die ähnlichen Satzmittel in den beiden Laura-Vertonungen Schuberts, D 102 und 115.
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Lassen wir es bei diesen Feststellungen bewenden. Sie dürften hinreichend dokumentieren, daß der Rückgriff auf die Alleluja-Versikel als infrastrukturelle Totale in einem so bekannten Gesang wie der Ehre Gottes aus der Natur schon einen Vorgänger in dem dreizehn Jahre früheren, so wenig bekannten Lied An Laura hat. Darüber hinaus kommt dem Fall unfraglich exemplarische Bedeutung zu. Er zeigt, daß bereits der neunzehnjährige Beethoven sich solcher Verfahren bediente und mit doppelter Zuordnung operierte (vgl. S. 59, drittes Nbsp.).73 Doch kehren wir zu der Gruppe der teilweise veränderten Prima volta zurück. In demselben mutmaßlichen Entstehungsjahr 1790 für 73
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62
die Verklärung An Laura entstand - diesmal verbürgterweise 74 Beethovens einziges ausgeführtes Hölty-Lied, die Klage. Die „Spurensicherung" des Einflusses Neefes auf den jungen Beethoven scheint Schiedermairs Blick für den Eigenwert dieser Liedkomposition etwas getrübt zu haben,75 sonst hätte er sie unzweifelhaft mit Selbstgespräch und An Laura in einem Atemzug nennen, wenn nicht sogar darüber stellen müssen. Anders urteilte Boettcher: „In dem ersten Teil von Höltys Klage schlägt der junge Beethoven Töne an, die für das damalige Lied modern zu nennen sind und die sich in ihrer Neuartigkeit vor allem von den Erstlingsliedern Beethovens selbst stark abheben. Beethoven hat auch im späteren Liede nie wieder solche Töne angeschlagen." Sogar eine merkwürdige Vorahnung des späteren Instrumentalstils glaubte er darin zu bemerken76. Obschon auch uns der Einfluß Neefes gerade in diesem Lied - wenn auch in einer vollkommen anderen, bisher unbeachteten Dimension beschäftigen wird (s. Anhang), stehen wir nicht an, die Höltysche Klage an die Spitze der Bonner Liedproduktion zu stellen. Das durchkomponierte dreiteilige Strophenlied ohne Dacapo-Anlehnung an den Arientypus ist an sich schon ein Ereignis. Obwohl es gewiß auch damit zusammenhängt, ist es aber längst nicht der einzige Grund, weshalb wir dieses Jugendlied in eine Reihe mit Beethovens Spitzenleistungen auf diesem Gebiet zu stellen wagen. Allein nicht der ästhetische Gesamteindruck hat uns hier zu interessieren, sondern das durchgebildete, erstaunlich ausgereifte Verhältnis zwischen Gesangsstimme und Instrument, dem es in hohem Grade diese Wirkung verdankt Der Klaviersatz ist auffallend „obligat" gehalten, immer wieder durchsetzt von selbständigen Mittelstimmen und zusammengehalten von einer wirklich modernen Baßführung. In diesem vorläufig angedeuteten Wechselverhältnis erlangt nun die teilweise veränderte Prima volta der Einleitungstakte ihr volles semantisches Sprachgefüge. Daß es sich nicht um eine mechanische Vorwegnahme der beiden Eingangsverse handeln kann, beweist schon die gerafftere musikalische Version (4 gegen 5 Takte) mit durchaus nicht gleichlautendem Verlauf. Zur vollen und vorsätzlichen Einheit scheinen die beiden Partner - und auch hier nicht nur im Colla voce erst von der Mitte der 3. Strophenzeile an zu kommen:
74 Auf demselben Doppelblatt wie 3 Chortakte aus der Joseph-Kantate WoO 87 befindet sich von dem Lied eine Reinschrift ohne Text Wien GMf. Vgl. SV 296. 75 Vgl. Schiedermair 1925, S. 345f. 76 Boettcher 1928, S. 158.
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Anders verhält es sich mit dem Vorderteil der Strophe, bestehend aus den beiden Eingangszeilen und ihrem herübergezogenen Überhang „Dein Silber schien durch Eichengrün, das Kühlung gab, auf mich herab, o Mond..." Wie man sieht, werden hier schon im Gedicht die jambischen Vierheber symmetrisch gehälftet und die Hälften durch Binnenreimung voneinander abgehoben. Genau auf diese korrespondierende Ordnung geht auch die Vertonung ein; selbst die Apostrophierung „o Mond" wird nicht nur rhetorisch in Verdoppelung gegeben. Einzig für den Strophenrest wird diese Ordnung durch einen umfassenden Zusammenschluß in einem großen ungebrochenen Linienzug sinnvoll aufgehoben. Vergleicht man nun Prima und Seconda volta, wird man dieselbe Ordnung zwar eingehalten finden, jedoch mit dem signifikanten Unterschied, daß von Zeile 2 nur das zweite Kolon, und dieses überdies variantisch und zur Ganzzeile erweitert gegeben wird. Schon diese Merkmale lassen die Einleitung wiederum als nachgefertigt erscheinen. In diesem Prozeß scheint auch die Textgliederung einer variantischen Umstellung und Verkürzung unterworfen worden zu sein. Doch fragt es sich, ob diese Operation nicht schon in dem genuinen Bereich der Seconda volta zu der ausdrucksvollen kontrapunktischen Verselbständigung des Stimmengefüges im Sinne eines mehrstimmigen Vokalsatzes gefuhrt h a t Zu lesen wäre:
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Schon hier würde sich zeigen, daß die musikalische Zeichenfügung zum Unterschied von der Gesangsstimme auf den Extrakt zusammengezogen wird: „Dein Silber schien, o Mond, auf mich herab" Genau dieser Ordnung scheint jetzt die viertaktige Vorspielversion zu folgen: \pein
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65 Der Eliminierung der beiden attributiven Halbzeilen „durch Eichengrün, das Kühlung gab" steht die Integrierung des nachgestellten Zeilenfragments „o Mond" mit seinem gehäuften Anschwung gegenüber. Regelmäßig vollzieht er sich, auf beide Systeme verteilt, über der odisch semantisierten Quart; besonders schön in der „silbernen" Silbenbrechung mit dreifachem Ansatz bis hinauf zum Scheitelpunkt a" mit dem ebenso mimetisch zurückfallenden Abschluß in syllabischen Sechzehnteln („auf mich herab"). Auch die übrigen Teile des durchkomponierten Strophenliedes folgen dieser selbständigen instrumentalen Gedankenführung. Hier sei allein der höchst operative Umgang mit der Einleitung betrachtet, der seinerseits auf der nicht minder unabhängigen „Begleitung" der Liedstrophe fußt. Nur diesem konzeptionellen Ansatz in der Verdichtung auf das Konzentrat der Zeilenfolge werden wir den obligaten Quartettsatz des Stimmengefüges zuzuschreiben haben, der in der Tat schon an den späten Beethoven denken läßt. Wieder bestätigt sich der syllabische Umgang mit dem Wort bis in das instrumentale Gefiige hinein in denkbar reflektierter Weise schon bei dem jungen Beethoven der Bonner Jahre. Es war Ernst Bücken, der in der Klage vor allem den Beweis einer wirklichen Aneignung der durch Neefe vermittelten Grundsätze des deklamatorischen Liedstils nord- und mitteldeutscher Provenienz erfüllt sah, die dieser dann in Wien unter dem Einfluß gegenteilig-südlicher Kantabilität weitgehend ins Schwanken, teilweise sogar in Verlust geraten fand. Als das paradigmatische Gegenstück hierfür diente ihm die fünf Jahre später entstandene Adelaide77. Unter prosodischem Aspekt muß eine stilistische Problemstellung dieser Art allerdings gegenstandslos werden. Das syllabische Prinzip wird man in Beethovens Adelaide- Vertonung, wiederum einem Matthisson-Gedicht, sogar durchdringend durchgeführt finden. Mehr noch: Abermals werden wir einem substrukturierten Schlüsselwort begegnen, diesmal keinem hymnodischen, hingegen einem eminent lyrischen, geheftet an den Mädchennamen der Besungenen. Doch halten wir uns vorerst ausschließlich wieder an die Prima volta. Im Vergleich mit der gesungenen Eingangszeile erscheinen zumindest die ersten drei Takte perfekt identisch, weshalb der Gedanke nahe genug liegt, sie mit dieser Zeile zu lesen. Zustande käme etwa folgende Textzuordnung:
77 Vgl. Bücken 1937, S. 163.
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Die kritische Stelle dieser Tropierung bildet fraglos der unmotivierte Oktavsprung in Verbindung mit der Appoggiatur über „-garten"; weshalb die semantisch absurde Hervorhebung gerade der ausgehenden unbetonten Silbe? Dazu käme die Mißachtung des vorausgehenden Legatobogens, der ausgerechnet mit dem Vortakt endet, wodurch das so poetisch zusammengesetzte Wort „Frühlingsgarten" mittlings zerschnitten würde. Wir haben hier somit eine Prima volta, die völlig intakt zu beginnen scheint, um sich in der Fortsetzung einer einwandfreien Textzuordnung, wenigstens dieses Wortbereichs, zu entziehen. Sollte hier, um mit Bücken zu argumentieren, das Kantabilitätsprinzip über das deklamatorische den Sieg davon getragen haben? Um das Gegenteil zu erweisen, bedarf es allerdings einer durchgehenden prosodischen Analyse im Rahmen der Gesamtkomposition, die einen weiteren eindrucksvollen Fall transformierter Tiefenstrukturen erbringt In Anbetracht der Notwendigkeit ihrer Lückenlosigkeit und nicht zuletzt des damit verbundenen Umfangs sei ihr jedoch mit anderen Stücken dieser Art eine geschlossene Behandlung in Abteilung IV vorbehalten. Natürlich kann die Frage der teilweise modifizierten Prima volta damit nicht als abgeschlossen gelten. Auf weitere, relativ intakte Beispiele sei hier nur noch verwiesen. Nicht zufallig begegnet sie besonders klar angelegt in den beiden Messen. Hervorgehoben sei das Quoniam und das Sanctus der C-Dur-Messe, aus der Missa das Kyrie und das Agnus Dei. Aber auch eine so breite Einleitung wie die des Elegischen Gesangs (op. 118) bietet ein eindrucksvolles Bild. Praktisch steht man damit an der Schwelle der Introduktionen überhaupt, wie sie besonders den begleiteten Rezitativen vorausgehen. Da aber ihre Zuordnungen weitgehend von der Bestimmung der instrumentalen Synonyme in den Rezitativen selbst abhängen, sei für diese ebenfalls eine eigene Darstellung an späterer Stelle vorgesehen (Abteilung III). Dagegen sei zum Abschluß dieser Reihe ein kleines Beispiel aus Beethovens weltlicher Kantatenproduktion geboten, das die teilweise modifizierte Prima volta in einem besonders prägnanten Kontext erscheinen läßt Es handelt sich um die beiden (ebenfalls hinzugefügten) Einleitungstakte zu seiner Cantata campestre auf die Worte des auch
67 von Goethe geschätzten Abbate Bondi „Un lieto brindisi" (WoO 103). Komponiert in unmittelbarer Nachbarschaft zu dem erwähnten Elegischen Gesang, entstand sie im Juni 1814 für den Malfatti-Kreis. Der motivische Zusammenhang mit dem akkordischen Volleinsatz der vier Gesangsstimmen ist evident: fllleqto MmF ±
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Ebenso abweichend ist jedoch die metrisch-melodische Gestalt. Die gesungene Textzeile ist in ihr nicht unterzubringen. Und doch fühlt man die Zusammengehörigkeit. Sie unaufgelöst hinzunehmen, hieße sich um eine Beethovensche Pointe bringen. Dem gesungenen Trinkspruch geht ebenso „a capella" der gespielte voraus. Strikt syllabisch gefaßt, kommt jedoch eine andere Wortfügung zustande, die nicht allein auf Verkürzung beruhen muß. Im Gegenteil, durch die elidierte Reduplikation eines Wortes kommt man auf die vollwertige Lesart: filleqro Kim.
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Der Hauptakzent fallt somit in der Prima volta auf „brindisi", in der Seconda volta auf „Giovänni". Diese sinnreiche Progression wird in der Folgezeile „cantiam cosi" fortgesetzt (T. 6-12), ehe der Trinkspruch vollständig zur Abrundung gelangt und das Preislied auf den Gefeierten beginnen kann (T. 13). „Man bemerkt, selbst in anscheinend so anspruchslosen Gelegenheitskompositionen hat Beethoven, sofern er bei der Sache war, seinen wachen, pointierenden Geist blitzen lassen."78 Im Verhältnis der gesungenen Textzeilen zu ihrer Antizipation in der abgewandelten Prima volta ist immer ein semantisch-prosodisches Spannungsfeld eingelagert. 78 Vgl. Goldschmidt 1974 (5), S. 215-223.
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Vollständig veränderte Antizipation Die teilweise Verselbständigung der instrumentalen Einleitungen führt, wie festgestellt, nicht zur Lockerung von den gesungenen Texten. Wo sie nicht verbal zugeordnet erscheinen, trifft man wie bei der Ehre Gottes oder An Laura auf selbständige konvergierende Synonyme. Dieser Regelkreis wird auch dann nicht durchbrochen, wenn die vorausgeschickten Instrumentaltakte überhaupt keine motivischen Zusammenhänge mit dem Gesang oder seiner „Begleitung" mehr aufweisen. In solchen Fällen ist es angebracht, von vollständig veränderter, musikalisch synonymer Antizipation zu sprechen. Von einer Prima volta kann daher nur noch insofern die Rede sein, als die in Frage stehenden Verse - nicht immer sind es die ersten - in genuin anderem Material formuliert werden. Dabei wird man auf zwei abweichende Typen mit verschiedenem Stellenwert gelenkt Der eine ist durch seine einmalige Position als nicht mehr wiederkehrende Einleitung gekennzeichnet, während der andere alle Merkmale eines authentischen Ritornells aufweist, mit regelmäßigem Eintritt in unveränderter Stellung und Fassung vor jeder neuen Strophe.
Typus der nicht mehr wiederkehrenden Einleitung Die erste Gruppe sei zunächst in einigen Liedern betrachtet. Zur Auswahl mögen zeitlich und typologisch teilweise so weit auseinanderliegende Gesangsstücke dienen wie An einen Säugling Ruf vom Berge Abendlied unterm gestirnten Himmel
WoO 108 WoO 147
1783 1815
WoO 150
1820
Beginnen wir mit dem spätesten Beispiel zuerst Methodisch erscheint dieses Vorgehen berechtigt, weil es sich bei den zwei Takten seiner Einleitung um den denkbar knappsten, freilich auch den komprimiertesten Typus handelt. Wäre man im durchgehend instrumentalen Bereich, bestimmt würde man mit Riemann von einem „Vorhang" sprechen. Wie aber schon in ähnlich gelagerten Fällen zu bemerken erinnert sei an ein so eindrückliches Beispiel wie in WoO 133 In questa tomba oscura - lehrt die komprimierte semantische Funktion solcher vorausgeschickter Takte, wie wenig damit geleistet wäre, sie auch in Instrumentalsätzen nur formal zu klassieren. Durchgehend zeigen sie engste Versverbindung oder deren Korrelate an.
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Beim „Vorhang" des Abendliedes liegt noch eine zweite Mißdeutung gleichsam auf der Hand. Niemand wird über die ikonischen Zeichenwerte dieser langsam über die Stufen des zerlegten E-Dur-Dreiklangs aus der Höhe niedersinkenden Akkordfolge im Zweifel sein, wenn er alsbald die Gesangsstimme mit den Worten anheben hört: „Wenn die Sonne niedersinket..." So gesehen, wäre der Fall denkbar problemlos. Die Frage, die hier ansteht, ist aber wesentlich komplexer. Sie betrifft das innere Verhältnis zwischen Instrumentalgestalt und Gesangszeile. Ist dieses lediglich mimetisch bestimmt in dem Sinne, daß, was gesungen nur schwach angedeutet, gespielt in aller Deutlichkeit „an den Himmel gezeichnet" wird? Oder greift es tiefer, das deskriptive Moment im prosodischen aufhebend? Das würde bedeuten, daß dieselbe Eingangszeile auch in der abweichenden Instrumentalgestalt wiederzufinden sei. In Wahrheit bieten sich dafür nicht weniger als drei Lesarten an: ziemlich a
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Um sicherzustellen, welcher Zeile sie zugehört, wird man den Blick auf die korrespondierenden Parallelstellen beim Eintritt der drei übrigen Strophen zu richten haben.
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Zwei dieser Stellen (b und c) ist die neue Eingangszeile vollständig eingezeichnet, ein jeder mit ihrem eigenen konnotativen Zeichenwert. Einzig bei der ersten (a) wird man auf überbindende Rekapitulation zu schließen haben. Dafür spricht schon die replizierte dynamische Form (p - cresc.). Gleichzeitig ist damit auch die Begrenzung bei der entstehenden Überlappung angegeben; erst mit dem Piano-Wechsel T. 20 geht auch die Begleitung zu der neuen Strophe über. Unfehlbares Rennzeichen: das Colla voce. Unbeschadet dieser Abweichung, ja gerade dank ihrer Umkehrungsform ist damit auch bei dem ersten Stropheneingang die richtige Lesart für die instrumentale Antizipation ermittelt. Es ist die dritte. Zwei Feststellungen drängen sich auf. Die eine zeigt prosodische Antizipation bei vollkommener musikalischer Unabhängigkeit von der gesungenen Eingangszeile, die regelmäßig im chorischen Colla parte mit ihrer Begleitung verläuft Die deskriptive Dimension ist mitnichten das einzige verbindende Band. In echter m u s i k a l i s c h e r S y n o n y m i t ä t geht die gespielte Fassung der gesungenen jedesmal voraus. Selbst in der Nachstellung wie bei Strophe 2, erscheint sie nie von der prosodischen abgelöst. Die zweite Feststellung betrifft die formale Stellung der Eingangsgestalt. Nach der oben gegebenen Definition kehrt sie unverändert nicht mehr zurück. Auf der anderen Seite erweisen sich die Parallelstellen vor jeder neuen Strophe als unverkennbare Variantgebilde. Insofern ließe sich, in Übereinstimmung mit der deutlichen Anlage zum Strophenlied, von einem variierten Ritornell sprechen. Der Grenzfall wird gewiß nicht der Klassifizierung zuliebe festgehalten. Was in Wirklichkeit zustande kommt, ist jener Grenzbereich, in dem eine synonyme Gestalt bei Wahrung ihrer inneren Identität auf jede neue Eingangs- oder Ausgangszeile sowohl prosodisch als auch ikonisch eingeht.
71 Um eine eigentümliche Simulierung einer Antizipation handelt es sich bei dem zweiten Fall, dem Ruf vom Berge. Bei diesen vorangestellten vier Takten würde man zunächst auf ein Ritornell schließen. Hört man aber alle sechs Strophen durch, wird man vergeblich auf seine Wiederkehr warten. Die Stellung des Ritornells zwischen den Strophen sowie nach der letzten Strophe wird vielmehr von einer RefrainReplik über die jeweiligen beiden Ausgangszeilen eingenommen, wobei man sie am Schluß noch um drei Rodatakte verlängert findet. Für eine durchgehend veränderte Antizipation sind folglich bei den vier Eingangstakten alle Bestimmungsmerkmale vorhanden. Dennoch muß allein schon die Vortragsbezeichnung „Più dolce" gleich bei den ersten Takten stutzig machen. „Più dolce" als was? - muß sich mit Recht der Spieler fragen. Auch ohne den Blick auf die Skizzenlage 79 ist das Rätsel leicht zu lösen. Die vier vorangestellten Takte beziehen sich selbstverständlich auf das Ritornell in seiner Ausklangsfassung (Beethoven: „Das letzte Mal"): [Pas/etxkMal\
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