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German Pages [88] Year 1900
STOFF- UND MOTIVGESCHICHTE DER DEUTSCHEN LITERATUR
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STOFF- UND MOTIVGESCHICHTE DER DEUTSCHEN LITERATUR
HERAUSGEGEBEN VON
PAUL MERKER UND GERHARD LÜDTKE
10 KURT K. T. WAIS
DAS VATER — SOHN-MOTIV ERSTER TEIL: BIS 1880
1931 WALTER DE GRUYTER & CO. VORMALS G.J.GÖSCHENSCHE VERLAGSHANDLUNG- J.GUTTENTAG.VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J. TRÜBNER — VEIT & COMP.
BERLIN UND LEIPZIG
D A S
V A T E R - S 0 H N - M O T I V I N
D E R
D I C H T U N G
BIS 1880
VON
KURT K. T. WAIS
1931 WALTER DE GRUYTER & CO. VORMALS G. J. GÖSCHENSCHE VERLAGSHANDLUNG—J. GUTTENTAG,VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J. TRÜBNER — VEIT & COMP. BERLIN UND LEIPZIG
DHUCK VON J. J . AUGUSTIN IN GLUCKSTADT UND HAMBURG
MEINEM VATER
INHALT
Einleitung Literatur I. V a t e r und S o h n bis ca. 1700. 1. Bis zum 13. Jahrhundert 2. Revoltierende Söhne im 13. Jahrhundert 3. Bis Shakespeare 4. Von Shakespeare bis zur Aufklärung II. A u f k l ä r u n g : K a m p f g e g e n den t y r a n n i s c h e n V a t e r . . III. D i e „ W e r t h e r " Z e i t : V e r d a m m u n g des p i e t ä t l o s e n Sohns Exkurs: Das Motiv des unerkannten Vatermords IV. D i e G e n e r a t i o n der f r a n z ö s i s c h e n R e v o l u t i o n : K a m p f gegen den tyrannischen Vater V. R o m a n t i k : P i e t ä t v o l l e r E l t e r n k u l t VI. R e a l i s m u s . 1830—1880: Verdammung des Vaters. Triumph des Sohns
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EINLEITUNG Die Problematik des gegenseitigen Verhältnisses von Vater und Sohn ist eine im hohen Grade moderne, man könnte fast sagen, sie ist eine Entdeckung des 20. Jahrhunderts: die Literaturgeschichte der Vergangenheit weiß nichts von einer Darstellungeines Vater—Sohn-Problems in der Literatur, obwohl das Motiv selbst keineswegs selten dichterische Behandlung fand. Fragen wir uns nach den Ursachen, die das Vater—Sohn-Problem — vor allem in der Form des Vater—Sohn-Konfliktes — neuerdings in das Licht allgemeinsten Interesses rückten, so stoßen wir auf eine doppelte Quelle. Einmal waren es die Theorien von Prof. Sigmund Freud, der im Rahmen seiner psychoanalytischen Lehre die Stellung des Sohnes zum Vater analysierte und 1900 in seiner „Traumdeutung" (p. 180ff.) zum erstenmal vom „Ödipuskomplex" sprach; diesem Begriff galten später als dem revolutionärsten und exponiertesten Punkte nicht nur der Psychoanalyse, sondern der Psychologie überhaupt — mit Recht schrieb der Antipsychoanalytiker Rudolf Kaßner: „Als l e t z t e s Problem der Psychologie hat das Vater und Sohn-Motiv zu gelten" — die hitzigsten Angriffe der Gegner. Die andere Ursache für das Aufsehen, das unser Problem urplötzlich in der weitesten Öffentlichkeit erregte, war die programmatische Rolle, die es in der modernen Literatur seit Kriegsbeginn zu spielen begann. Von ihr wird in der zweiten Hälfte dieser Untersuchung („Seit 1880"), die als nächstfolgendes Heft dieser Schriftenreihe erscheinen wird, ausführlicher die Rede sein. Hier nur einige Worte über unsere grundsätzliche Einstellung zu der psychoanalytischen Auffassung des Problems (vgl. Otto Rank „Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage", Lpz. Wien 1926, 2. Aufl. 33ff., 162ff., 250ff.). Seit den ersten Zeiten galt — wie Freud in „Totem und T a b u " nachwies — die Tötung des Vaters durch den Sohn als erstes und größtes Verbrechen des Menschen, und dennoch sei gerade sie es gewesen, „mit welcher so vieles seinen Anfang nahm, die sozialen Organisationen, die sittlichen Einschränkungen und die Religion." Unsere ganze Kultur sei auf „verdrängtem" Vaterhaß aufgebaut, den festzustellen und aus seinen Verkleidungen herauszuschälen eine Aufgabe der Psychoanalyse sei: als Ursache dieses Vaterhasses erscheine dann durchweg inzestuöse Liebe des Sohnes zur Mutter und seine Sexualrivalität mit dem Vater. Wie stark dem Menschen der Vaterhaß eingeboren sei, trete besonders da
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EINLEITUNG
hervor, wo die Verdrängung der Haß- und Mordinstinkte noch nicht so weit fortgeschritten sei, bei primitiven Völkern, bei Kindern und Verbrechern. Tatsächlich hält es nicht schwer, zahlreiche Beispiele für Vatertötung aus der Ethnographie beizubringen; vgl. z. B . O. Rank „Der Mythus von der Geburt des Helden" 2. Aufl. Lpz. Wien 1922, p. 122: „Als eine Art Revanche gegen die unbeschränkten Vorrechte des Vaters erscheint die ,bei zahlreichen Völkern herrschende Sitte, sich der Greise zu entledigen, sei es durch deren Tötung, wie es bei den Eskimo und Grönländern geschieht, bei denen der Sohn seinen Vater, wenn dieser alt und unnütz wird, erhängt, sei es durch Aussetzung des Hausvaters wie bei den Chiappavären (Nordamerika).' Daß bei vielen Völkern für den Haussohn sogar eine Verpflichtung bestand, seinen gebrechlichen Vater umzubringen, kann nur als bewußter Nachklang der Totenopferung verstanden werden." Ähnliche Untersuchungen bei Kindern und Verbrechern — Rank „Inzestmotiv" p. 184 — 198 teilt z. B . die Tatbestände von 42 kriminellen Vatermorden mit und die Zahl ließe sich beliebig vermehren — führen ebenfalls zu reicher Ausbeute. Bis zu diesem Punkt wären diese psychoanalytischen Theorien eine innermedizinische Angelegenheit, über die dem Literarhistoriker ein Urteil nicht zusteht. Wohl aber steht ihm das Recht des Protestes zu, sobald die Psychoanalytiker beginnen, einen großen Teil der Weltliteratur auf das Streckbett ihrer „Deutungen" zu legen: sie kümmern sich nicht darum, daß ödipus seinen Vater nur erschlägt, weil er ihn nicht erkennt, daß Hamlet seinen Oheim, nicht seinen Vater ersticht — wo die literarischen F a k t a einem eigentlichen Vatermord widersprechen, werden kurzweg die F a k t a als zweifelhaft, als verschleiernde „Verdrängung" hingestellt und ein zugrundeliegender Vatermordkomplex konstatiert. Wenn wir nun auch Werke wie den „ H a m l e t " , in dem Shakespeares verdrängter Vaterhaß spuken soll, in unserer Untersuchung von vornherein beiseite lassen und uns allein auf tatsächliche Vater—Sohn-Konflikte beschränken, so stoßen wir hier auf einen weiteren psychoanalytischen Übergriff: der Freud-Schüler betrachtet nämlich jeden Vater—SohnKomplex als gesetzmäßig notwendiges Korrelat des Inzestmotivs, da der Vater j a immer nur als Rivale um den sexuellen Besitz der Mutter gehaßt werde. Der Sachverhalt, den die Fakten vorliegender Untersuchung offenbaren, widerspricht nun aber vollkommen der psychoanalytischen These, daß jeder Konflikt eines Sohnes mit dem Vater „von der Natur sinnlicher Begierden" sei (Freud im ,,Jahrbuch für psychoanal. u. psychopath. Forschgn." I, p. 376), also aus sexuellen Impulsen stamme: Wo uns in Geschichte (z. B . Philipp I I . und Don Carlos, Peter I . und Alexis,
EINLEITUNG
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Friedrich Wilhelm I . und Friedrich I I . ) und Literatur ein Vater—SohnK o n f l i k t begegnet, ist er fast durchweg nur Teilerscheinung eines viel größeren, eines weltanschaulichen, „politischen" Konflikts, wobei der Sohn den Vater keineswegs haßt, weil er Mann, sondern weil er alt ist; nur sehr selten finden wir in der Literatur den Vater—Sohn-Konflikt mit dem Inzestmotiv, also mit sexuellen Impulsen verbunden. Diese Frage nach dem sexuellen oder „politischen" Ursprung des Vater—Sohn-Konflikts in der Literatur ist in ihren Konsequenzen von größerer Bedeutsamkeit, als dies auf den ersten Blick erscheinen mag: erklärt man nämlich diesen Konflikt nicht aus sexuellen, also allgemein menschlichen, sondern aus geistesgeschichtlichen, also zeitlich bedingten Ursachen, so kann dieser Konflikt nicht in allen Zeitepochen mit gleicher Stärke möglich sein, sondern er wird in Epochen mit vorwiegend revolutionärem Zeitgeist (z. B. ca. 1789, 1830ff., 1917ff.) häufige, aktuelle Darstellung finden, während er in Epochen mit vorwiegend traditionalistisch-pietätvollem Zeitgeist (z. B. Wertherzeit, Romantik, Neuromantik) entweder nicht oder in moralisch-ablehnender Weise behandelt werden wird, was keineswegs als reuige Verdrängung ursprünglichen Vaterhasses, sondern als ebenso ursprüngliche und in sich berechtigte dichterische Stellung zum Vater—Sohn-Problem betrachtet werden muß (vgl. auch Paul Federn „Die Vaterlose Gesellschaft." Zur Psychologie der Revolution. Lpz. Wien 1919, p. 9: „ D a s K i n d kann auf zwei Arten reagieren, die wir als konservativ und oppositionell bezeichnen könnten"). Ließe sich nun eine solche Abhängigkeit des Vater—Sohn-Problems vom historisch relativen Zeitgeist nachweisen — und vorliegende Arbeit versucht es — , so wäre die sexualpsychologische Verallgemeinerung des Konflikts für die L i t e r a t u r g e s c h i c h t e (um diese allein geht es hier) widerlegt. W i r würden damit übrigens keineswegs auf unbetretenem Land stehen, denn die erwähnte Abhängigkeit bildete z. B. bereits den Grundstock der streng patriarchalischen Sohnschaftslehre des russischen Traditionalisten N . F . F j o d o r o f f , dessen Philosophie, nach W.Komarowitsch („Die Urgestalt der Brüder Karamasoff, Dostojewskis Quellen, Entwürfe und Fragmente". München 1928, p. 11), verkündet: „das Wesen des Fortschritts ist die Verleugnung der Kindschaft und kommt einer Aburteilung der Väter gleich: »Nieder mit den V ä t e r n ! « ist die Devise der Fortschrittstheorie, ganz im Gegensatz zu der archaistischen »Ehret die V ä t e r ! « . »Das K i n d der N a t u r « (Rousseau) ist, nach Fjodoroff, eine Antithese zu dem evangelischen Kinde, das den vollständigen Ausdruck der menschlichen Einheit durch die Kindschaft darstellt."
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Noch in einem dritten Punkt ist die Psychoanalyse den literarischen Tatsachen gegenüber unzulänglich: so wenig sie liebevolles Verhältnis des Sohnes zum Vater als natürlich anerkennt, so unfähig ist sie auch, den dichterisch oft genug behandelten Kampf des Sohnes gegen die Mutter, der Tochter gegen den Vater zu erklären, während sich diese Konflikte bei generationsgeschichtlicher Untersuchung als den gleichzeitigen Vater—Sohn-Konflikten korrespondierend erweisen: Solche Fälle, in denen die Tochter nicht als solche, sondern als „die Junge" gegen den Vater, oder der Sohn nicht gegen die Mutter als solche, sondern gegen „die Alte" revoltiert, sollen in dieser Arbeit gelegentlich gestreift werden, da dann die Geschlechtsunterschiede nur willkürliche Variationen des Vater—Sohn-Konfliktes bedeuten, was besonders deutlich in der russischen Sage von IIja von Murom hervortritt, wo Ilja in der einen Liedertradition mit dem Sohn, in der andern mit seiner trotzigen Tochter kämpft und beidesmal die heimtückische Mordabsicht des Kindes mit Totschlag bestraft.
LITERATUR Eine Gesamtdarstellung des Vater—Sohn-Problems in der Literatur existiert meines Wissens bis jetzt noch nicht. — Verhältnismäßig zahlreich sind die Arbeiten der psychoanalytischen Schule zu diesem Thema, von denen bereits genannt wurden die Bücher von K a r l F e d e r n und O t t o R a n k , dessen materialreiches Buch über das Inzestmotiv, auf das wir uns im folgenden (mit der Abkürzung: „Rank IM") mehrfach beziehen werden, auch ein Kapitel über den Vater—Sohn-Konflikt enthält. F r e u d selbst, der schon in seiner „Traumdeutung" (3. Aufl. 1911, bes. p. 185 ff., 283ff.) sich zu dem Thema äußerte, behandelte es im „Jahrbuch f. psychoanal. und psychopathol. Forschgn." 1909, I, 1, bes. p. 25f., p. 84. Ebd. p. 155ff. handelte auch C. G. J u n g über „Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des Einzelnen." 1922 folgte in der „Intern. Zeitschr. für Psychoanalyse" VIII (p. 71 ff.) ein Aufsatz „Vaterrettung und Vatermord" von K a r l A b r a h a m , und ebd. 1924 (X, p. 245ff.) ein Aufsatz von F r e u d „Der Untergang des Ödipuskomplexes". Freud nahestehend ist die Studie von P a u l H ä b e r l i n „Eltern und Kinder. Psychologische Bemerkungen zum Konflikt der Generationen" (Basel 1922). Auf rechtsgeschichtliches und völkerpsychologisches Gebiet stößt die Studie von A. J. S t o r f e r „Zur Sonderstellung des Vatermordes" (Lpz. Wien 1911) vor, auf literarisches die Arbeit von E r n e s t J o n e s "The OedipusComplex as an Explanation of Hamlet's Mystery: A study in motive" (im "American Journal of Psychology, Jan. 1910, vol. X X I , übersetzt in den „Schriften zur angew. Seelenkunde", als „Das Problem des Hamlet und der Ödipuskomplex" (Lpz. Wien 1911) sowie der Aufsatz von F r e u d „Dostojewski und die Vatertötung" (in „Die Urgestalt der Brüder Karamasoff" s. o.). Die wissenschaftliche Germanistik hat dem gegenüber sehr wenig zu unserm eigentlichen Thema beigesteuert. Wohl existiert, im Anschluß an das Hildebrandslied, ein zahlreiches Schrifttum über den Vater— Sohn-Zweikampf in früher Dichtung (zusammengestellt in B r a u n e s „Ahd. Lesebuch", sowie von K ö g e l in Pauls Grundriß I I a, p. 174ff. und in seiner Literaturgeschichte p. 210 ff.; zur Ergänzung vgl. B r u n o B u s s e „Sagengeschichtliches zumHildebrandsliede" in „ P a u l und Braunes Beiträgen" 1901, Bd. 26, p. 1—52 mit dem Nachtrag B. K a h l e ' s „Zum Kampf des Vaters und Sohnes" ebd. p. 319f.): doch handelt es sich in
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LITERATUR
fast all den dort behandelten Fassungen um einen Zweikampf von Vater und Sohn, die einander n i c h t k e n n e n , so daß von bewußtem Konflikt nicht die Rede sein kann; auf ihre vollständige Aufzählung muß wegen Raummangels verzichtet werden. Wichtig dagegen sind Beiträge zum „ M o t i v des Vatermords" am Ende des 18. Jhdts., die A u g u s t S a u e r in seinem Buch über „Joachim Wilhelm von B r a w e " (1875, p. 111—119, Quellen und Forschungen 30) gibt und die eine Ergänzung bilden zu der Studie H . W i n t e r h o l e r s „Eltern und Kinder in der deutschen Literatur des 18. Jhdts." (Gießen 1924 in Behaghels „Gießener Beiträgen"). Nichts tatsächlich Neues bringt der Aufsatz „ D i e Familie als dichterisches Problem" von F r i e d r i c h K a i n z (Frankfter. Ztg. 71. Jg. Nr. 242, 1. 4. 1927). Erst nach Abschluß der eigentlichen Arbeit stieß ich auf eine nicht gedruckte Rostocker Diss. von 1925: „ D e r Gegensatz von Vater und Sohn im deutschen D r a m a " von K a r l K o s s o w , der im folgenden noch einige Ergänzungen entnommen werden konnten, die nach der Paginierung des allein erreichbaren Maschinenschriftmanuskripts der Rostocker Univ. Bibl. zitiert werden. Die ohne Kenntnis der psychoanalytischen Deutungen und Vorarbeiten entstandene Abhandlung hat mit unserer Arbeit nur wenig und nur Äußerliches gemeinsam: innerhalb der Einschränkung des Verfassers auf das deutsche Drama erweitert er sein Thema zu einer Aufzählung zahlloser deutscher Dramen, wo ein Vater einem Sohn irgendwie gegenübergestellt ist, und muß dementsprechend auf Einzelbesprechung des Heeres der alttestamentlichen, historischen u. a. Vater—Sohn-Dramen verzichten. Auch er versucht Periodeneinteilung, aber unter dem unsrer Ansicht nach unfruchtbaren, oft gar nicht eindeutig zu entscheidenden Gesichtspunkt, ob rein äußerlich mehr der Vater und seine Welt, oder mehr der Sohn und die seine im dramatischen Vordergründe stehen; „formwahrende" Perioden dramatisieren die Vatertragik, „formlösende" die Sohnestragik, und zwar — hier verliert sich Kossow in die fatalen Netze stammesgeschichtlicher „Volkspsychologie" — sei ersteres die Haltung der norddeutschen, letzteres die der süddeutschen Dramatiker, wobei er allerdings gestehen muß, er müsse dem System zuliebe Hans Sachs, die Elsässer und Schweizer auf die „norddeutsche", Hebbels „Maria Magdalene", die Schlesier (Gerh. Hauptmann), Hasenclever (Aachen) u. a. auf die „süddeutsche" Seite schlagen.
I. VATER UND SOHN BIS CA. 1700 1. B i s zum 13. J a h r h u n d e r t . Die revolutionäre aktuelle Bedeutsamkeit des Vater—Sohn-Konfliktes, als Teil des großen Generationskampfs zwischen Jung und Alt, begann man erst im 18. Jahrhundert zu ahnen; was uns vorher an bewußten Konflikten zwischen Vater und Sohn entgegentritt, trägt mehr oder weniger den Stempel der Zufälligkeit. Die Betrachtung des Problems müßte eigentlich mit den frühesten mythischen Sagen aller Völker beginnen: hier fanden sich die ersten Fälle des Vatermords durch den „Helden", die Freud zur Prägung der gewagten Behauptung veranlaßten „Heros war, wer allein den Vater erschlagen hatte" (vgl. auch Itoheim „Nach dem Tode des Urvaters" in „Imago" IX, 1023). Die ausführlichen Zusammenstellungen von Rank u. a. haben für diese ältesten Sagenkreise zu dem Resultat geführt, das E. Jones („Problem des Hamlet" p. 50) so zusammenfaßt: „Ein allen Gliedern dieses Kreises von Mythen Gemeinsames ist der Erfolg eines jungen Helden in der Verdrängung seines nebenbuhlerischen Vaters. In der einfachsten Form dieser Sage wird der Held von einem tyrannischen Vater verfolgt, der vor seinem nahen Fall gewarnt wurde; nach vielen wunderbaren Rettungen aus den verschiedenartigsten Gefahren rächt sich jedoch der Held, indem er, oftmals ohne daß er es weiß, den Vater tötet." Dennoch hat die Psychoanalyse die Häufigkeit des Vater—Sohn-Konflikts in den Götter- und Heldensagen bei weitem übertrieben; meist ist es der Großvater, der den jungen Helden mit Tod bedroht, worin der in Literatur dilettierende Nervenarzt freilich nichts als die mildernde „Ersetzung" eines ursprünglichen „Vaters" sieht; von da aus ist es dann natürlich auch nicht mehr schwer, den Kampf gegen tyrannische Herrscher überhaupt (Abraham-Nimrod, Moses-Pharao u. a.) als „Verdrängung" ursprünglichen Vatermordwillens zu deuten. In vollem Ernst schreibt der Freudschüler Rank (JM, p. 05): „Wollte man als Psychologe konsequent sein, so müßte man eigentlich sämtliche Kaiser der Dichter (vorläufig noch[ ?] abgesehen von historisch überlieferten Stoffen) als Ersatz des Vaters auffassen."
Die k i r c h l i c h e Literatur des Mittelalters vermied, wie auch im allgemeinen die Antike (Aristophanes' „Wolken", ein Tendenzstück gegen die Pietätlosigkeitsmode), mit fast auffälligem Abscheu eine dichterische Behandlung des Vater—Sohn-Konflikts. Nur in einer einzigen Legende, der „ H i s t o r i a Albani martyris", von deren vielfachen Bearbeitungen die deutsche Übersetzung Albrecht von Eybs (1472) wohl die bekannteste ist, tötet der Sohn als moralischer Richter seinen sündigen Vater sowohl als seine Mutter, die gleichzeitig seine Schwester ist. Auch in der weltlichen Epik begegnet Sanktionierung des pietätlosen Sohnes, falls der Vater ein Heide ist: bereits eine Urform des weltanschaulich fundierten Vater—Sohn-Konflikts. So trifft im altfranzösischen 1 W.i. i.
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„Aliscanz" (vor 1200) der christlich erzogene Raynouart au tinel mit dem Heidenkönig Desramez, seinem Vater, in der Schlacht zusammen, der ihn erkennt und begrüßt; der Sohn schlägt dem Vater die Rippen ein, und wenn es ihm nachher auch leid tut, so scheiden sie doch als unversöhnliche Feinde. Ähnlich bekämpft in der viel späteren "Prise de Pampelune" (1325) Isories seinen heidnischen Vater Mao^ris, weil dieser nicht Christ werden will; doch entflieht der Vater noch rechtzeitig. — Ein anderer Grund ist es, der in dem italienischen Gedicht "Regina Anchroja" Guidon le Sauvage zum Kampf mit seinem ihn nicht kennenden Vater Renaud de Montauban veranlaßt: er will prüfen, ob sein Vater seiner würdig ist. Im übrigen verhinderte der strenge autoritäre Geist des christlichen Mittelalters vorläufig noch eine Darstellung des Vater-Sohn-Konflikts vom Standpunkt des freiheitlichen Sohnes aus: das Bedürfnis zu einer Revolte der Söhne schien jenen Zeiten noch fernzuliegen. So selten aber in mittelalterlicher Dichtung der bewußte Kampf zwischen Vater und Sohn uns begegnet, so überraschend häufig ist der Fall, daß Vater und Sohn miteinander zusammentreffen, ohne sich zu kennen; meist folgt die Erkennung erst nach Tötung eines der beiden Kämpfer. Es sei ein kurzer Blick über einige der dichterischen Fassungen des Motivs gestattet: Wir können deutlich eine erste Gruppe mit t r a g i s c h e m A u s g a n g unterscheiden, der durchweg die älteren Fassungen angehören. Mit wenigen Ausnahmen ist es der Vater, der den Sohn erschlägt, so in dem weitverbreiteten i r a n i s c h e n Sagenkomplex von Suhräb und seinem Vater Rustam und in der a l t k e l t i s c h e n Sage von Carthonn und seinem Vater Clessamor (inOssians Gedicht „Carthon"): diese beiden Sagen zeigen zwar überraschende Übereinstimmungen, doch haben sich alle Fassungen der ersten Gruppe nach den neueren Forschungen (Busse, a. a. O. p. 90) „überall, wo nachweisbar, unabhängig entwickelt, sowohl die Annahme einer gemeinschaftlichen Herkunft wie die gegenseitiger Beeinflussung sind abzulehnen." Tötung des Sohnes durch den Vater haben wir ferner in einer im 10. Jahrhundert bezeugten i r i s c h e n Sage, wo Cüchulain nach schwerem Kampf seinen ihn suchenden Sohn Conlaoch erschlägt, in der zweiten Fassung der a l t r u s s i s c h e n Lieder von Ilja von Murom, und schließlich im deutschen älteren H i l d e b r a n d s l i e d ; daß der verlorene Schluß des Hildebrandsliedes den Vatermord Hadubrands enthalten haben müsse, wie Rank (IM p. 166f., 172f.) noch 1926 seiner Theorie zuliebe behauptete, widerspricht so sehr den gesamten Forschungsergebnissen bisheriger Philologie, daß sich eine Widerlegung erübrigt. Bemerkenswert ist, daß im Hildebrandslied der Vater den Sohn kennt, dieser aber nicht glauben will, daß es sein Vater ist, der vor ihm steht. Wenn Hildebrand sich dennoch zum Kampf entschließt, so ist es nur aus Scheu vor dem Vorwurf der Feigheit, keineswegs also aus persönlichem Haß. Für die Versionen der zweiten, „abschwächenden" (Busse) Gruppe ist das Fehlen des tragischen Ausgangs bezeichnend: Nach einer kleinen Spannung erfolgt im rechten Moment die Erkennung mit anschließender Versöhnung (Beispiel: das deutsche j ü n g e r e Hildebrandslied). Dieser Gruppe gehören vor allem die zahlreichen französischen und die ihnen nahestehenden Versionen an, die zum Teil vermutlich auf keltische Quellen zurückgehen; hier besiegt meist der Sohn den Vater, falls der Kampf
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nicht unentschieden ausgeht. Als den französischen Dichtungen nahestehend sei genannt aus der d e u t s c h e n halbhöfischen Epik der unerkannte und unentschiedene Kampf Dietleips mit Biterolf im „ B i t e r o l f " (kurz nach 1200): erst durch Vermittlung Rüedegers erkennen sich die beiden. Dagegen erkennt im „Wigamür" (nach 1250) der Vater Paltriot den Helden, schon ehe der eigentliche Zweikampf beginnt (vgl. Vers 3850ff). Im Spielmannsepos vom „ K ü n e c O r t n i t " (ca. 1225) erschlüge Ortnit nach hartem Kampfe seinen ihm unbekannten Vater, den Zwergkönig Alberich, gäbe sich jener nicht im letzten Augenblick als Ortnits Vater zu erkennen. Mit rechtzeitiger Erkennung enden die Zweikämpfe zwischen Gander und seinem Sohn Gerant in Berthold von Holle's „ D e m a n t i n " (ca. 1251—1270) und zwischen König Göde und seinem Sohn Galder in dem ebenfalls von Frankreich beeinflußten dänischen Volksroman von Olger Danske. Und in den mittelenglischen Gedichten von „ S i r E g l a m o u r of A r t o y s " und „ S i r D e g o r 6 " (letzteres mit dem altfrz. „ R i c h a r d Ii b i a u s " sich deckend) käme es sogar fast zu einem regelrechten Oedipusdrama, verhinderte nicht beidesmal rechtzeitige Erkennung von Mutter und Vater Inzest und Vatermord des Sohnes. Aber auch die c h r i s t l i c h e L e g e n d e n d i c h t u n g des Mittelalters liefert uns einige Beiträge: sie hatte von der Antike das Oedipusmotiv übernommen und entnahm ihm äußerst häufig die unbewußte Mutterheirat des Sohnes. „Jedoch fehlt hier fast überall der Vatermord" (Roscher, zitiert bei Rank IM p. 313); dies ist auch der Fall bei der in drei französischen Redaktionen auftretenden, dann von Hartman von Aue deutsch bearbeiteten Legende von G r e g o r i u s a u f d e m S t e i n e , den man als den „mittelalterlichen Oedipus" par excellence bezeichnet hat (vgl. Alb. Heintze, „Gregorius, der mittelalterliche ödipus", Progr. Stolp. 1877): auch hier ist der Vatermord beseitigt. Der heimkehrende Sohn besiegt zwar einen Freier um die Hand seiner Mutter, sein Vater aber ist längst im heiligen Land umgekommen. Vielmehr käme der Titel eines „mittelalterlichen ödipus" einzig und allein dem Helden der christlichen J u d a s l e g e n d e mit vollem Recht zu, der nach Ermordung seines ihm unbekannten Vaters seine Mutter heiratet. Diese in allen Sprachen, besonders in Rußland, immer wieder behandelte Legende wurde zwischen 1270 und 1298 von Jacobus a Voragine für seine „Legenda aurea" zum erstenmal aufgezeichnet und im Spätmittelalter häufig dramatisiert. Vater- u n d Muttermord wider Willen begegnet uns in der später von Lope de Vega und Flaubert behandelten Legende von J u l i a n d e m G a s t freien.
2. R e v o l t i e r e n d e S ö h n e im 13. J a h r h u n d e r t . Seit dem Ende des 12. Jahrhunderts ist in der europäischen Geistesgeschichte eine außerordentlich starke Auflockerung der kirchlichen Autorität zu bemerken; eine betont weltliche Kultur trat anstelle der geistlichen, und die Zahl der Ketzer mehrte sich seit Abälard derart, daß man das 13. Jahrhundert als ein ausgesprochenes „Ketzerjahrhundert" bezeichnen konnte. Es wäre unbegreiflich, hätte diese Unterhöhlung der bisherigen Mächte geistiger Autorität nicht auch auf dem Gebiet der Familie ihre Spuren hinterlassen. Eine noch sehr schüchterne Emanzipation jugendlicher Individualität gegenüber der patriarchalischen elterlichen Autorität mußte sich ankündigen und kündigte sich an — auch in der Literatur (so schon ca. 1160—1170 in "Floire et Blancheflor", woFloire die Intriguen l*
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seines Vaters Felis durchkreuzt, und im gleichzeitigen Spielmannsgedicht vom Kampf des unschuldig verleumdeten „Herzog Ernst" gegen seinen Stiefvater). Unerhört für eine frühere Zeit ist die entschlossene Energie, mit der in H a r t m a n von Aue's „ArmemHeinrich" ein Kind es wagt, vor seine Eltern zu treten und laut die moralische Unabhängigkeit seines Ichs zu proklamieren (Vers 816—835): ez ist gewisse sîn gebot, daz ich iu sî undertân, wan ich den lîp von iu hân: daz leist ich âne riuwe. ouch soi ich mîne triuwe an mir selber niht brechen. ich hörte ie daz sprechen: swer den andern fröuwet so, daz er selbe wirt unfrö, und swer den andern krœnet und sich selben hœnet, der triuwen ist ein teil ze vil. gerne ich iu des volgen wil, daz ich iu triuwe leiste, und mir selber doch die meiste. weit ir mir wenden mîn heil, so lâz ich iuch vil lîhte ein teil ê nâch mir geweinen, ich enwelle mir erscheinen, wes ich mir selber schuldec bin. Wie problematisch plötzlich die Kindererziehung empfunden wurde, geht auch aus einer Stelle in G o t t f r i e d s „Tristan" hervor, wo von der Erziehung des jungen Helden durch seinen Pflegevater Rûal die Rede ist und wo sich der Dichter ausgesprochen darüber wundert, daß in diesem Falle Erzieher und Zögling miteinander harmonierten, als eine Ausnahme der Regel (Vers 4507—4510) "daz alter unde jugent / selten gehellent einer tugent, / und jugent daz guot unruochet, / dâ ez daz alter suochet" ; als Grund dieses guten Einvernehmens gibt er die Rousseauisch anmutende Erziehungsmethode Rûals an (4528/9), „der geloubete Tristande / und sach die jugende an im an." Da aber nicht jeder Vater der Zeit ein Rûal war, so kann man erwarten, daß Konflikte zwischen den sich emanzipierenden Söhnen und den auf Autorität beharrenden Vätern gerade in dieser Zeit nicht selten waren. Tatsächlich liefert uns die Literatur Zeugnisse genug dafür, leider aber nur negative, die gegen die einreißende Pietätlosigkeit polemisieren,
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während von der Partei der Söhne mit einer einzigen Ausnahme keine Stimme mehr zu uns dringt. So wettert z. B . ein Dichter der Väterpartei — man hat vermutet, es sei S p e r v o g e l : Der alten rät versmähet nu den kinden. unbetwungen sînt die jungen, âne reht wir leben, untriuwe hât gemachet daz wir vinden in dem lande menege schände, uns ist für fröide gegeben ungenâde, blôze huobe, wüeste lant. Und selbst W a l t h e r von der V o g e l w e i d e , der wiederholt über diese Zeit chaotischer Umwälzungen klagt, wo „der vater bî dem kinde untriuwe vindet" (8. Ausgabe Lachmann, rev. Kraus 1923, 21, 34), fällt gegen die pietätlose junge Generation ein vernichtendes Urteil, indem er den allenthalben ausbrechenden Konflikt zwischen Vätern und Söhnen mit äußerster Schärfe pointiert (ebd. 23, 26—24, 2) : Die veter habent ir kint erzogen, dar ane si bêde sint betrogen: si brechent dicke Salomônes 1ère. Der sprichet, swer den besmen spar, daz der den sun versûme gar: des sint die ungebâtten gar ân ère. Hie vor dô was diu weit sô schcene, nû ist si worden alsô hœne: des enwas niht wîlent ê: die jungen habent die alten sô verdrungen. nû spottent also dar der alten! ez wirt iu selben noch behalten: beit unz iuwer jugent zergê: swaz ir in tuot, daz rechent iuwer jungen. daz weiz ich wol, und weiz noch mê. Hier taucht wohl zum erstenmal, in Form einer Art von Fluch, jener Gedanke auf, der uns später öfters entgegentritt: die Wiedervergeltung der Pietätlosigkeit eines Sohns gegen seinen Vater durch den eigenen Sohn. Ein tendenziöses, fast karikiertes Bild des ungeratenen Sohnes, des Typs jener jungen frechen Generation, begegnet uns dann in dem moralisierenden Sittenepos „Meier H e l m b r e h t " mit prachtvoller Plastik: Der sittenlose Libertin, von einer schwachen Mutter verzogen, der seinen rechtschaffenen Vater in frecher Anmaßung schweigen heißt (Vers 259/60), der dem Vater durchbrennt und, als Wegelagerer zurückkehrend, den Alten höhnt (Vers 1013—18):
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der alten leben, geloubet mir, die da lebent alsam ir, der ist nü in dem banne und ist wibe unde manne ze genoze als mtere als ein hähsere. Als endlich das Strafgericht über Helmbreht hereinbricht und er als gefangener Raubritter mit dem Verlust von Augen, Fuß und Hand büßen muß, kommentiert dies der Dichter als wohlverdiente Strafe für seinen pietätlosen Ungehorsam (V. 1692—1699), und seine Schlußmoral wendet sich bewußt gegen die gesamte Generation jener Söhne, die die väterliche Autorität mißachten (V. 1913—8): Swä noch selpherrischiu kint bi vater und bi muoter sint, die sin gewarnet hie mite, begent si Helmbrehtes site, ich erteile in daz mit rehte, in geschehe als Helmbrehte. Gegenüber diesen zahlreichen Äußerungen der Väterpartei ist es nur ein einziger Sohn, der in dichterischer Form offen seine Pietätlosigkeit aussprach: in Italien schrieb damals der persönlichste Dichter der Zeit, C e c c o A n g i o l i e r i (geboren nach 1250, gestorben vor 1312) seine Sonette, die uns erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit in der Ausgabe Domenico Giuliotti's („Lc rime di C. A." Siena 1914) vorliegen. Ihre Themen sind nicht sehr zahlreich, eines der am häufigsten behandelten aber ist der glühende H a ß gegen seinen Vater. Noch 1885 konnte Adolf Gaspary in seiner „Geschichte der Italienischen L i t e r a t u r " (I, p. 222) mit vollem Rechte schreiben: „die Sonette auf seinen Vater sind wohl die stärkste Äußerung kindlicher Impietät, welche die Literatur aufzuweisen h a t . " Dennoch wäre es zu viel gesagt, wollten wir ihn als den Sprecher einer „Partei der Söhne" auffassen: seine Sache ist eine durchaus private und er denkt an keine Generalisation; auch sind die Gründe seines Vaterhasses meist keineswegs prinzipielle: der alte Geizhals weigerte sich, Ceccos Schulden zu bezahlen u. ä. Am furchtbarsten sind die Sonette, in denen er ganz offen den Tod des Vaters herbeisehnt und über die unverwüstliche Gesundheit des Alten j a m m e r t : „Ich habe einen Vater, der sehr alt und reich ist, und warte immerwährend, d a ß er sterbe; und er wird sterben, wenn das Meer ohne Wasser sein wird, so hat ihn Gott zu meiner Qual gesund gemacht." (Übers. Gaspary, a. a. O.). In einem andern Sonett belegt er die zähe H ä r t e seines Vaters mit einer Reihe von Vergleichen und endet mit dem ehrlichen Bedauern darüber, daß abermals der Vater vom Fieber verschont geblieben sei: „Denn der Tod h a t Angst davor, ihn umzubringen. U n d würd' er ihn auch packen, so bin ich sicher, der Tod selber käme um und ließe ihn a m Leben. Denn so eisenfest und hart ist seine H a u t , d a ß einer, der mit Hilfe eines Turms den Himmel ersteigen möchte, a m besten i h n zum F u n d a m e n t des Mauerwerks nehmen sollte." In dem frechen Sonett ,,S'i' fosse foco" setzt er u. a. auch den F a l l : „ W a r ich der Tod, k a m ' ich zu meinem Vater, wär ich das Leben, würde ich ihn fliehn. Und ebenso
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machte ich's mit meiner Mutter." Denn diese, deren Leichtfertigkeit ihn, wie man sagt, vermuten ließ, daß er nicht seines Vaters Sohn sei, haßte er nicht weniger. Als endlich der Tod den Verhaßten abberufen hat, bricht Cecco in ein wahres Freudengeheul aus: „Die Einwohner der Hölle mögen nicht verzweifeln, da einer aus ihr entkommen ist, der drinnen festgenagelt war, und da immer weilen zu müssen glaubte, und der ist Cecco, so wird er genannt. Nun aber hat das Blatt sich so gewendet, daß immer ich in Glorie leben werde; denn Messer Angiolieri ist krepiert, der Sommer sonst und Winter mich betrübte." (Übers. Gaspary).
3. B i s S h a k e s p e a r e . Die Dichtung der nächsten Jahrhunderte zeigte wenig Interesse für das Vater—Sohn-Motiv. Die durch Herders Übersetzung bei uns bekannte altschottische B a l l a d e v o n E d w a r d s Vatermord, zu dem die Mutter den Sohn — aus unbekannten Gründen, es braucht nicht gerade Inzest zu sein, wie Rank ( I M 316) möchte — angestiftet hat, entstand damals vollkommen isoliert. Die Haltung der Dichter zu dem Problem, das meist in Form des Erziehungsproblems auftritt, war eine moralisierende und blieb so noch während Renaissance und Humanismus, obwohl man von einer so umstürzenden und revolutionären Zeit einen deutlichen Widerhall im Leben der Familie erwarten möchte. Immerhin läßt die Heftigkeit, mit der im 16. Jahrhundert die Dichtung den ungehorsamen und pietätlosen Sohn verdammte, auf die Aktualität solcher Konflikte schließen. So klagt z. B. H a n s S a c h s im Epilog seiner Komödie „Der alte reich burger, der seinen sünen sein gut übergab" (1552) darüber, „ W i e wenig lieb und trew ist zu finden Bey unseren eigenen kinden. So uns das alter begreifen thut, Begeren sie nur unser gut."
Übrigens stellte sich derselbe Sachs doch einmal auf die Seite des Sohnes gegen die Eltern, und zwar in seiner Dramatisierung des Floire et Blancheflorstoffs nach Konrad Flecke (um 1220): sein „Florio, des Königs son auss Hispania" (1551), dem seine Eltern die Geliebte entführen ließen, wagt unter dem Zwang seiner Liebe seinen Vater zur Rede zu stellen: „Wie? ist Bianceffora todt? O du tyrann und nit mein vatter, O du mördisch gifftige atter! Was bossheit hat dich ietzt genöt, Das du umb unschuldt hast getödt, Welliche du auch hast erst hewer Feischlich verurtelt zu dem fewer, Die ich mit meiner handt erlößt ? . . . . Dieweil du mir nit hast vergonet, Das ich hie bey ir het gewonet In züchtiger lieb, drumb weich' ab! Für kein vatter ich dich mehr hab."
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Wenn sich nach Rettung der Geliebten die Mutter förmlich beim Sohn für ihr Verhalten entschuldigt und Sachs im Epilog die Eltern zu maßvollerer Bestrafung der Kinder auffordert, damit kein Ärger entstehe, — so ist das bereits in dieser Zeit ein revolutionärer Ausnahmefall, und es will wenig sagen, daß der Vater „sich nicht der individuellen seelischen Wucht des Sohnes, sondern dem Gesetze Gottes" (Kossow p. 17) beugt. Besonders häufig waren, wiewohl hier der plautinisch-terenzianische Einfluß nicht übersehen werden darf, im l a t e i n i s c h e n S c h u l d r a m a die Gestalten der verwegenen Libertins, die für Vater und Erzieher nichts als Hohn hatten. Hier kommt vor allem das Motiv vom verlorenen Sohn in Frage, auf dessen eingehende Schilderung wir verzichten, da ein H e f t dieser Sammlung den Stoff im einzelnen behandeln soll (vgl. auch Kossow p. lOff. p. 175ff.; Literaturangaben p. 188): W i l h e l m Gnaphaeus (1493—1568) dramatisierte die Legende zuerst im „Acolastus" (1525), ferner der Niederdeutsche B u r k a r d W a l d i s (,,de Parabel vam vorlorn Szohn") und G e o r g M a c r o p e d i u s (ca. 1475—1558) in seinem wohl frühesten Stück „ A s o t u s " (gedr. 1537); wenn auch Macropedius mit Gnaphaeus übereinstimmte, der in der Vorrede seines „Acolastus" erklärte, er wolle damit der Moral mehr dienen als der Kunst, so ist doch bei ihm das Bild des Libertin schon recht sympathisch in seiner Leichtfertigkeit geschildert, und selbst der Vater Eumenius zieht im geheimen Asotus dem älteren, pedantisch-fleißigen Sohn Philaetios vor. Aber in all diesen Dramen vom verlorenen Sohn, denen auch J ö r g W i c k r a m (1540) und eine Anzahl von Epigonen ihren Tribut entrichten, tritt das Vater—SohnProblem hinter der religiösen Allegorie (Vater und Sohn = Gott und Mensch) einerseits und der terenzianischen Sittenschilderung andererseits ganz zurück. Von Gnaphaeus und Macropedius beeinflußt, schrieb ferner W i c k r a m 1554 seinen streng moralischen „Knabenspiegel", wo der gehorsame und der zuchtlose Sohn in ihrem Lebenswandel einander gegenüber gestellt sind (1598 von J a c o b A y r e r dramatisiert, der um 1600 in seiner „Comoedia von Ramo, des Sultans Sohn" auch einen beim Vater unschuldig verleumdeten, verstoßenen und wieder rehabilitierten Sohn darstellt). Erwähnt sei ferner der 1. A k t des Schauspiels „Corneliusrelegatus" (1600) von A l b e r t W i c h g r e v i u s (ca. 1575—1619), wo der moralisierende Vater ausgezeichnet gegen den leichtfertigen Sohn kontrastiert ist; eigentlicher Vater—Sohn-Konflikt aber fehlt, wie überhaupt Kossows zusammenfassende Bemerkung über das Schuldrama zu Recht besteht (Auszug seiner Diss. p. 3): „Persönlich-seelische Beziehungen zwischen Vater und Sohn finden noch kaum dichterische Behandlung." 4. V o n S h a k e s p e a r e b i s z u r A u f k l ä r u n g . Gegen Ende des 16. Jahrhunderts, als in den meisten Ländern Europas über der tenden-
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ziösen und philosophischen Literatur des Humanismus eine neue, poetischere Dichtung sich erhob, tauchte das Vater—Sohn-Motiv in einer Reihe von Dichtungen auf, tiefer und dramatischer erfaßt als bisher und zwar — dies mochte mit den tiefgehenden Strömungen der Gegenreformation, des Puritanismus, Pietismus u. a. zusammenhängen— aus streng moralischem Gesichtswinkel und in gläubiger Überzeugtheit von der Endgültigkeit der väterlichen Autorität. Mit besonderem Eifer wird darum der Bankerott bzw. die Bekehrung des pietätlosen Sohnes geschildert, die Revolte gegen den Vater fast immer mit einer Erhebung gegen alle ethischen und religiösen Gefühle identifiziert. Typische Beispiele dieser Haltung treten uns zuerst im spanischen Barockdrama der Gegenreformation entgegen: In L o p e d e V e g a ' s (1562—1635) Drama „ L a fianza satisfecha" wird in der Gestalt des frechen Libertin Leonido der pietätlose Sohn gezeichnet, der seinem Vater eine Ohrfeige gibt, als dieser ihn vom Inzest mit seiner verheirateten Schwester zurückhält, ihn mit F u ß t r i t t e n bedenkt und ihm als Gefangenem die Augen aussticht; außerdem d r o h t er der Schwester mit E r m o r d u n g des Vaters, falls sie sich ihm nicht hingebe; da aber erscheint ihm Christus, Leonido bricht zusammen u n d läßt sich ans Kreuz schlagen; der Vater wird durch ein W u n d e r wieder sehend. Ebenso bedarf in C a l d e r o n s (1600—1681) Drama „ D a s Leben ein Traum' - der wilde, zügellose Segismundo der christlichen Erkenntnis von der Unsicherheit des Diesseitigen, ehe er seine gegen den königlichen Vater gerichteten Mordgelüste überwindet. Dagegen h a t Calderon in einem andern Schauspiel, der „And a c h t z u m K r e u z " , das unerklärliche liebevolle Zusammengehörigkeitsgefühl verherrlicht, das Vater und Sohn vereinige, selbst wenn sie, wie hier, sich unerkannt an der Spitze zweier feindlicher Heerhaufen begegnen; und er schildert ergreifend die Zärtlichkeit väterlicher Liebe, als der Vater den gegen seinen Willen erstochenen, sterbenden Sohn erkennt. Das e l i s a b e t h a n i s c h e E n g l a n d nimmt dem Vater-Sohn-Problem gegenüber ebenso energisch die Partei der väterlichen A u t o r i t ä t : der pietätlose Sohn wird auch hier als sittlich schlechter Mensch dargestellt. In den Werken S h a k e s p e a r e s herrscht London — wie schon der Vaterhasser Samuel Butler bemerkte ( , , T h e W a y of AllFlesh" 1924, p. 21/22) — im wesentlichen zwischen Eltern u n d Kindern ein harmonisches Verhältnis; so geht z. B. die elisabethanische Sitte, d a ß der Sohn allmorgendlich knieend den Segen des Vaters sich erbittet, auch durch Shakespeares Werke (als „ t h e d u t y of t h e d a y " in Cymbeline I I I , 5, 32; weitere Nachweise bei L e v i n L. S c h ü c k i n g „Die Familie bei Shakespeare" in „Engl. Studien" ed. Hoops. 62, p. lS7ff.). Wenn dagegen die Freudschule erklärt, mehrere Dramen Shakespeares behandeln den Vatermord, da jeder Tyrann (Cäsar, König Claudius, Duncan plus Banquo!) den Vater „bedeute" (Rank JM. p. 203f.), wenn R a n k ebd. sein Kapitel über „Shakespeares Vaterkomplex" mit einem aus „Troilus" I, 3 unorganisch herausgerissenen Vers einleitet: „Der rohe Sohn schlüg' seinen Vater t o t " , während doch diese Worte im Original von Ulysses im Ausdruck höchsten Abscheus gebraucht werden ( = so ginge es, wenn K r a f t vor Recht gehe), — wenn ferner, von einer Anregung Freuds („Traumdeutung" p. 183. Anm.) ausgehend, E r n e s t J o n e s in einer Schrift nachzuweisen versucht, im „ H a m l e t " spiegle sich, ohne Shakespeares Wissen, sein durch „Ersetzung" des Vaters durch den Oheim gemilderter Vatermordimpuls und das Rätsel der Mordunlust Hamlet-Shakespeares erkläre sich durch das Vorhandensein
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überstarker Verdrängungshemmungen: so erscheinen uns vom literarhistorischen Standpunkte derartige „Deutungen", die alles literarisch Vorhandene als „ersetzt", alles literarisch Nichtvorhandene als „verdrängt" erklären, als unsachlicher Unfug. Shakespeares tatsächliche Stellung zum Vater—Sohn-Problem spricht sich vielmehr, neben dem schwärmerischen Bericht Hamlets von seinem großen Vater, mit aller wünschenswerten Deutlichkeit in der Glosterhandlung seines „ K i n g L e a r " aus. Der echte Sohn Edgar, der nicht von der Liebe zu seinem Vater läßt, selbst als dieser ihm schreiendstes Unrecht zufügt, ist kontrastiert mit Edmund, dem Schurken und Schleicher, Ehebrecher und Mörder, der sich selbst als „Kind der Natur" fühlt; bezeichnend ist, daß Shakespeare — wie schon seine Quelle, Sidneys „Arcadia" — Edmund als u n e h e l i c h e n SohnGlosters schildert, da seine Verbrechen ihm für einen echten Sohn unmöglich erschienen. Der Schurke, wohlgemerkt, ist es bei Shakespeare, der ein vollständig entwickeltes und begründetes Programm der Revolte des Sohns gegen den Vater (in der gefälschten Handschrift Edgars) niederschreibt, wie es spätere Zeiten in vollem Ernst proklamierten: "This policy, and reverence of age, makes the world bitter to the best of our times; keeps our fortunes from us, till our oldness cannot relish them. I begin to find an idle and fond bondage in the oppression of aged tyranny, who sways, not as it hath power, but as it is suffered." Mit nicht geringerem Abscheu wie das lieblose Vorgehen der beiden Töchter Lears gegen ihren Vater betrachtet Shakespeare auch die Gemeinheit Edmunds seinem Vater gegenüber; vermutlich sah auch er, wie der alte Gloster nach Lektüre dieses Briefs, einen Umsturz aller Ordnung voraus, den im „Lear" böse Vorzeichen ankündigen. Das Entsetzen, mit dem Gloster (I, 2) ausruft: "the bond cracked between father and son. This villain of mine comes under the prediction; there's son against f a t h e r . . . " ist im Sinne Shakespeares wie Calderons, es ist im Sinne der Zeit. Noch in einem andern Drama hat Shakespeare das Vater—Sohn-Problem beschäftigt, hier aber ganz ohne jede persönliche Stellungnahme, rein als psychologische Studie. Es ist das Verhältnis Heinrichs IV. zu seinem Sohne, dem Prinzen Heinz, das Schücking (a. a. O. p. 199—202) ausführlich analysiert hat; als „das eminent Moderne an dieser Schilderung" findet er, „wie hier zum ersten Male das wirklich ewige Problem der Generationen darin aufgerollt wird", im Gegensatz nämlich zu einem ausgesprochenen, offenen Konflikt, der zwar äußerlich auch hier zwischen Vater und Sohn vorliegt, dennoch aber von keinem der beiden wirklich ernst genommen wird. Das Problem liegt für den Vater darin, in des Sohnes verschlossene und scheue Seele einzudringen. Während der Zuschauer, der gesehen hat, wie der Prinz dem Vater in der Schlacht das Leben rettete, wie er Falstaff wegen Verhöhnung des Königs ein Loch in den Schädel schlug, ahnt, wie tief des Prinzen scheue Liebe zu seinem Vater geht, bedrückt den Vater das Fehlen eines Beweises dafür; er hält schließlich den Sohn für seinen Feind, was sich zu bestätigen scheint, als der Prinz mit der Krone des scheintoten Vaters weggeht; eine der ergreifendsten Darstellungen der Vatertragik ist der Monolog des noch einmal zum Leben erwachenden Königs (Henry IV, B. IV, 4): See, sons, what things you are; How quickly nature falls into revolt, When gold becomes her object. For this the foolish over-careful fathers Have broke their sleeps with thoughts, Their brains with care, their bones with industry: For this they have engrossed and pil'd up
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The canker'd heaps of strange-achieved gold; For this they have been thoughtful to invest Their sons with arts, and martial exercises; When, like the bee, culling from every flower The virtuous sweets, Our thighs packed with wax, our mouths with honey, We bring it to the hive, and, like the bees, Are murder'd for our pains. This bitter taste Yield his engrossements to the ending father. Da lernt der König, kurz vor seinem Tode, endlich den plötzlich zum ersten Male liebevoll sich eröffnenden Sohn ganz kennen; die Mauer zwischen beiden ist durchstoßen, er scheidet in Frieden. Andere elisabethanische Dramatiker, die das Vater—Sohn-Motiv schon seiner Bühnenwirksamkeit halber gerne behandelten (empfahl doch aus demselben Grunde 1624 M a r t i n O p i t z im 5. Kapitel seiner „Poeterey" als Themen für Tragödien u. a. auch „Kinder- und Vätermörde"), stellen sich, wie Shakespeare, ebenfalls auf die Seite des Vaters und verdammen den ungeratenen Sohn. So G e o r g e C h a p m a n (1559—1634) in seiner Greueltragödie „Revenge for Honour" (gedruckt 1654), wo der von maßlosem Ehrgeiz besessene, brutale Abrahen seinen Vater mittels eines Taschentuchs umbringt, von seinem totgeglaubten Bruder schließlich entlarvt wird und als Selbstmörder endet. Dagegen schildert P h i l i p M a s s i n g e r (15S4—-1638), Verfasser mehrerer sehr frommer katholisierender Dramen, einen idealen Sohn in seinem Drama „The Fatall Dowry" (ca. 1610, gedr. 1632), wo die Pietät des unglücklichen Charolais so weit geht, daß er selbst die Stelle seines im Schuldgefängnis gestorbenen Vaters einnimmt, um dem Leichnam eine würdige Bestattung zu ermöglichen; wenn Rank (IM. 180) diese „Vaterrettung" — wie die Karl Moors in den „Räubern" (IM. p. 113f.) — als eine „ambivalent verdrängte Umkehrung" eines ursprünglichen Vatermordimpulses deutet, so ist dies eben eine „Umkehrung" der Tatsachen. In seinem vermutlich frühesten, recht uneinheitlichen Drama dagegen, „The Unnaturall Combat" (gedr. 1630), einer Paraphrasierung der Cenci-Geschichte, schilderte Massinger den Zweikampf des jungen Malefort mit seinem Vater, dem Admiral von Marseille, worin der Sohn fällt; der Dichter, den die entmenschte Gestalt des Admirals besonders anzieht (dieser liebt sündig seine Tochter und stellt sich als Giftmörder seiner ersten Gattin heraus), legt bei dem Kampf den Hauptnachdruck auf das „unnatural", was weniger den Sohn, der als Rächer seiner ermordeten Mutter auftritt, als den Vater trifft; ein furchtbares Strafgericht bricht schließlich über den Frevler herein, nach einer Geistererscheinung seines toten Sohns erschlägt ihn ein Blitzstrahl. Da der Sohn nur in der Szene des Zweikampfs kurz und unpersönlich auftritt, ist es unwahrscheinlich, daß der Dichter an Darstellung eines wirklichen Vater—SohnKonflikts dachte. Die Stellung der elisabethanischen Zeit zum Vater—Sohn-Problem blieb auch später bis zum Beginn der Aufklärung dieselbe. Dies gilt besonders für den englischen P u r i t a n i s m u s , i n dem das Motiv nur durch die allgemeine Abneigung gegen poetische Darstellung keine dichterische Behandlung fand. Desto häufiger begegnet es in den puritanischen Prosaschriften, worauf u. a. Paul Meißner hinwies („Das Generalionsproblem im modernen englischen Roman" im „Archiv für das Studium der Neueren Sprachen und Lit." 1929, 155, 29): „Das Eindringen des Puritanismus bedeutete ohne Zweifel für das Generationsproblem eine wichtige Entwicklung im Sinne eines immer stärker betonten Autoritäts-
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gefühls durch das ältere Geschlecht. Die Vorstellung von der Familie als einer gütlichen Institution wurde immer ausgeprägter. Die puritanischen „Family Conduct Books" aus dem 16. J a h r h u n d e r t sind ein deutlich wahrnehmbarer Ausdruck dieser neuen Gesinnung, die sich scharf von der Heiterkeit des ,Merry Old England' abhebt. E s wird jetzt religiöse Pflicht für die Eltern, ihre Kinder so streng wie möglich zu erziehen (vgl. William Gouge, ,Of Domesticai Duties' [1627]). Der Vater ist die Gott verantwortliche höchste Autorität, gegen dessen Machtwort es keinen Widerspruch gibt. Das ist die Entwicklung, die über J e r e m y T a i l o r (1613—1667) und R i c h a r d B a x t e r (1615—1691) zu dem .Family Instructor' (1715) von D a n i e l D e f o e f ü h r t . " Aus der Dichtung der Restauration sei das Drama „Aureng Zeb" von J o h n D r y d e n (1631—1700) erwähnt, das in Handlung und Auffassung an Shakespeares „ L e a r " erinnert; ein Kaiser verstößt seinen edlen Sohn Aureng Zeb und schenkt sein Vertrauen dem zweiten Sohn, Morat. Als dessen schlechter Charakter sich in Mißhandlungen des Vaters offenbart, versöhnt sich der Vater wieder mit Aureng Zeb und macht sein Unrecht wieder gut. Ein Blick auf die französische Literatur des 17. Jahrhunderts ergibt ein ähnliches Bild: die väterliche Autorität blieb vollkommen unangetastet, nirgends findet sich eine pietätlose Bemerkung, und selbst von dem Erzskeptiker des Jahrhunderts, dem alle Gefühle als egoistisch entlarvenden L a R o c h e f o u c a u l d , kann M. Braunschvig („NotreLittérature étudiée dans les textes" Paris 1925, / , 436) sagen: „l'amour paternel, maternel, f i l i a l , fraternel . . . il n'a pas osé ramener à l'égoisme". Was die Dramatiker der Zeit anbetrifft, so finden wir zwar in M o l i è r e s „ A v a r e " eine heftige Scheltszene zwischen Vater und Sohn, in die Goethe bekanntlich eine weltanschaulich tragische Deutung hineinlegte (zu Eckermann, 12. V. 1825): „Sein Geiziger, wo das Laster zwischen Sohn und Vater alle Pietät a u f h e b t , ist besonders groß und in hohem Sinn tragisch. Wenn man aber in einer deutschen Bearbeitung aus dem Sohn einen Verwandten macht, so wird es schwach und will nicht viel mehr heißen." Doch möchten wir uns hier eher der neueren Molicre-Forschung anschließen (vgl.Curt Sigmar Gutkind, „Molière und das komische Drama" Halle a. S. 1928, p. 24—26), die in dieser Szene nichts als die uralte plautinisch-terenzianische Komödicnmotivgnippe vom Zusammenstoß der Jungen mit den Alten sehen will, wobei immer die Alten schließlich geprellt werden (so z. B. auch in C h r i s t i a n W e i s e ' s Lustspiel „Die betrübten und wiederum vergnügten Nachbarskinder" Zittau 1699); übrigens übernahm Molière die ganze Szene aus der „Belle Plaideuse" des Boisrobert. Ähnliches gilt auch f ü r die Tragödien „Mithridate" und „ P h è d r e " des R a c i n e , wo die Rivalität von Vater und Sohn rein aus der Liebesintrigue heraus konstruiert ist; Xipharès (im „Mithridate" 1673) ist der typische liebevolle Sohn, der den eifersüchtigen Argwohn seines Vaters damit vergilt, daß er ihm in der Schlacht d a s Leben rettet, und an den der sterbende Vater die von beiden geliebte Monime a b t r i t t ; der gute Sohn ist durch den Kontrast mit seinem rohen, pietätlosen Bruder noch mehr ins Licht gerückt.
Im d e u t s c h e n B a r o c k waren inzwischen zwei Greueldramen entstanden, die frappante Ähnlichkeit mit den bereits besprochenen Tragödien von Lope und George Chapman in Handlung wie in weltanschaulicher Haltung aufweisen. Der Inhalt der von Blut und Moral triefenden Tragödie des Herzogs H e i n r i c h J u l i u s v o n B r a u n s c h w e i g „Von einem ungerathenen Sohn, welcher unmenschliche und
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unerhörte Mordthaten begangen, auch endlich neben seinen Mitgenossen ein erbärmlich und greulich Ende genommen hat" wird hinreichend durch den Titel resümiert; 1594 entstanden, trägt sie doch „schon ganz das Gepräge des 17. Jahrhunderts" (Kossow p. 18). Inhaltlich eng damit verwandt (Kossow p. 26) ist das Drama „Perseus" (1634) des Hamburger Pastors J. R i s t , wo ebenfalls der maßlos böse, grausame und machttolle Titelheld der Reihe nach Eltern, Bruder und die sündig begehrte Schwägerin umbringt, bis seine Opfer als Gespenster über ihn herfallen und ihn in die Hölle zerren. Die Sohnespietät, deren Fehlen hier zu so gräßlichen Resultaten führte (noch 1704 abgeschwächter in Weise's Drama „Kain und Abel"), wird in einem zwischen 1650 und 1673 in Krain entstandenen Drama „Der verirrte Soldat oder des Glückes Probirstein" von Martin H ö n d l e r und Melchior Harrer auf die härtesten Proben gestellt und zum überwindenden Siege geführt: Dem Tyrannen Selim, der seinen Sohn zu vergiften und dessen Braut Aribone zu verführen sucht, rettet der Sohn vor den feindlichen Kriegern und der eigenen, rachedürstenden Braut zweimal unerkannt das Leben; ja, der pietätvolle Sohn wagt nicht den Finger gegen den Vater zu erheben, ehe er nicht von diesem selbst durch eine List die Sanktion dazu erhalten hat. Unter falschem Namen und unerkannt frägt er ihn über die Grenzen der Sohnespietät um Rat: O r o m a c h u s : . . . ich gedenke mich in kurzer Zeit an meinem geilen und unrechtmäßigen Vater zu rächen. S e l i m : Oromachus, ihr habt gerechte Ursache dies zu tun! O r o m a c h u s : Wenn ich nur den Vater aller Väter nicht damit erzürnte! S e l i m : Derjenige ist kein Vater, der sein eigen Kind verfolgt. O r o m a c h u s : Ist aber der auch noch ein Sohn, der sich mit Recht wider seinen Vater lehnet ? S e l i m : Was mit Recht geschieht, kann niemand für strafbar halten. O r o m a c h u s : Wohl denn, so wil ich mich auch mit Lust an meinem Vater vergreifen, und die Schmach, so er mir und meiner Liebsten getan, gewaltig rächen.
Als schließlich der Vater, in des Sohnes Gewalt geraten, sein schlechtes Handeln bereut, verzeiht ihm der Sohn nicht nur, sondern erklärt ihm auch noch seine Sohnesliebe (die durch die Huldigung seinem Retter Ormon gegenüber nicht entkräftet werden kann, wie Kossow p. 32 möchte): S e l i m : . . . ich bitte um Gnade. S e l i m o r : Ach Vater, ich liebe euch. A r i b o n e : Ihr solt ihn billig hassen. S e l i m o r : Ach nein, mein Schatz, er ist mein Vater.
Wie sehr die Zeit der Darstellung einer Erhebung des Sohnes gegen den Vater abhold war, zeigt auch die Art, in der C h r i s t i a n H o f m a n
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II. AUFKLÄRUNG: KAMPF GEGEN DEN TYRANNISCHEN VATER
v o n H o f m a n s w a l d a u (1617—1679) den geschichtlichen Zwist der Bayernherzöge Ernst und Albrecht um Agnes Bernauer behandelte. In seinen „Heldenbriefen" schreibt u. a. die eingekerkerte „Agnes Bernin" an ihren Geliebten, den „Herzog Ungenand", und dieser antwortet mit einem Brief: bemerkenswert ist darin, daß der junge Herzog wie seine Geliebte nicht entfernt daran denken, sich gegen den Machtspruch des alten Herzogs irgendwie aufzulehnen; vielmehr betont im Gegenteil der Sohn, der Himmel selbst donnere ihm die Forderung unbedingten Sohnes-Gehorsams entgegen: „Du solt, so viel du kanst, den alten Vater ehren, Er hat dich neben Gott auff diese Welt gestellt."
Die streng patriarchalische Haltung der Zeit, die in Deutschland ein J o h . B a l t h a s a r S c h u p p (1610—1661) mit nicht geringerer Strenge verteidigte wie im Ausland ein R. Baxter oder ein Bossuet, spiegelt sich charakteristisch wider in Sätzen wie „Die Natur neiget zwar ein Väterliches Herz, einem Sohne nichts zu versagen: die Vernunfft aber zwinget es zuweilen, ihm etwas abzuschlagen. Diese will, daß ein Vater zwar dem Sohne etwas nachgebe, aber damit ihme selbst nichts vergebe." So spricht ein Vater in dem (von Kossow p. 30/31 analysierten) „Neuen Schauspiel betitelt A n d r o f i l o o d e r d i e W u n d e r L i e b e " (Wolfenbüttel 1656), wo aber durch die religiöse Allegorie (König AndropaterGottvater, Androfilo-Jesus) direkte Beziehung zum Vater—Sohn-Problem ausgeschaltet bleibt. Eine etwas unnatürliche Verherrlichung der Vaterliebe gab J. Chr. H a l l m a n n mit seinem Drama „Die Merkwürdige Vaterliebe oder der vor Liebe sterbende Antiochus und die vom Tode errettende Stratonika" (Breslau 1684): kaum erfährt hier ein König, sein Sohn sei seiner Stiefmutter wegen liebeskrank, als er ihm diese sofort abtritt, um nur jeden Zwist im Herrscherhause zu vermeiden, zumal da, wie er sagt, „Auch diese Heyrath uns nicht im geringsten quälet." Durch den Verzicht auf jeden inneren Konflikt hat Hallmann dem Opfer des Vaters die ethische Kraft genommen. II. AUFKLÄRUNG: KAMPF GEGEN D E N TYRANNISCHEN VATER Daß seit dem ersten Viertel des 18. Jahrhunderts in der gesamten bisherigen Ethik eine allgemeine Krise entstand, ist schon oft bemerkt und betont worden. Eine neue Generation erhob sich, die so pietätlos und kritisch gegen die Eltern eingestellt war wie gegen deren moralische und religiöse Glaubenstraditionen: Ein F o n t e n e l l e (1657—1757) er-
II. AUFKLÄRUNG: KAMPF GEGEN DEN TYRANNISCHEN VATER
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zählte, sein Vater sei ein Dummkopf gewesen, während seine Mutter ruhig vorausgesehen habe, d a ß ihr Sohn in die Hölle kommen werde, und ein V a u v e n a r g u e s erklärte: "On tire peu de Service des vieillards"; und auch schon in dem Lustspiel „Der J u n g e Gelehrte" (1747) des jungen L es s i n g , wo die Konflikte zwischen Vater u n d Sohn, die beide das Hauspersonal gegeneinander aufzuhetzen suchen, den Zickzackgang einer grotesken Intrige gehen, wird in der Sohnes- und der Vaterpflicht nichts als ein unverbindlicher Aushängeschild gesehen, auf den m a n pochen kann, sobald m a n davon persönlichen Vorteil h a t . Diese Reaktion m u ß t e u m so stärker da sein, wo puritanischer F a n a tismus väterliche Autorität überstark betont h a t t e . Als unhaltbarster Druck wurde es vor allem in England empfunden, daß immer noch die Väter ihre Kinder, ohne vorherige Übereinkunft mit diesen, verheiraten k o n n t e n ; Levin L. Schücking h a t im Kapitel „ E l t e r n u n d K i n d e r " seiner „Familie im P u r i t a n i s m u s " (Lpz. Bln. 1929, p. 84ff., bes. llOff.) eine ganze Reihe von Belegen d a f ü r gesammelt. I n diesem P u n k t erhob sich jetzt, vom Protest gegen väterliche A n m a ß u n g der Verheiratung der Kinder zum Protest gegen väterlicheAutorität ü b e r h a u p t fortschreitend, der Vater—Sohn-Konflikt, der jetzt zum erstenmal — darin sich von der gesamten bisherigen Entwicklung abhebend — f ü r einige Zeit zum Problem einer ganzen Generation wird. „Tauchen doch", schreibt Schücking (a. a. O. 174) „überall in den Biographien gerade des 18. J a h r h u n d e r t s — m a n denke an das Vaterhaus Fieldings, Smolletts, Goldsmiths, oder an H o g a r t h — irgendwo die Zerwürfnisse auf, die aus heimlichen oder ohne den Willen der Eltern geschlossenen E h e n herrühren. Zu zähes Festhalten an alten Vorrechten auf der einen, Lockerung der religiösen Bande, späteres Heiratsalter, wachsender Freiheitstrieb auf der anderen Seite sind, u m von wirtschaftlichen Ursachen zu schweigen, an dieser Krisis schuld." Schon 1746 entrollte in Deutschland J o h . E l i a s S c h l e g e l den Konflikt zweier Väter und ihrer Kinder u m des Verheiratungsproblems willen in schärfster Antithese in seinem Lustspiel „Der Geheimnisvolle", doch umging er eine Entscheidung, indem er durch plötzlichen banalen Glückszufall die Rechnung glatt aufgehen ließ. Dagegen wagte man es in zwei gleichzeitigen Komödien, die ideale E t i k e t t e vom „gehorsamen K i n d e " in ernsthafte Zweifel zu ziehen: G e l i e r t ü b t e in seiner „Betschwester" (1745) außerordentlich scharfe K r i t i k a n einer egoistischen, herzlosen u n d bigotten Mutter, die ihre Tochter durch launenhafte Erziehung lebensunfähig m a c h t u n d die leiseste Kritik mit dem Weisheitsspruch des 17. J a h r h u n d e r t s abschneidet, die Tochter habe nicht zu denken, nur zu gehorchen ( I I I 3). U n d H e n r y F i e l d i n g (1707—54)
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geht in seiner späten, ausgezeichneten Komödie „The Fathers: or, The Good-natured Man" (erst 1778 gedr.) so weit, daß die Kinder des habsüchtigen Mr. Valence, der ihren absoluten Gehorsam rühmen kann, beide als intrigante, unverbesserlich schlechte Charaktere gezeichnet sind; dagegen wird bei den beiden respektlosen Söhnen der Herren Boncour und Kennel, von denen der eine, statt dem Vater für eine 100-Pfundnote zu danken, noch mehr verlangt und der andere dem ihm mit Enterbung drohenden Vater lachend die juristische Information entgegenhält, der Alte könne ihn gesetzlich gar nicht enterben, ihr sympathischer guter Kern und ihre Besserung gezeigt. Den ersten nachhaltigsten Hieb gegen väterlichen Absolutismus führte dann — wie Schücking p. 174 ff. behauptet, Hans Winterholer dagegen („Eltern und Kinder in der dtsch. Lit. des 18. Jhdts." p. 10/11) bestreitet — S a m u e l R i c h a r d s o n mit seiner vielgelesenen „Clarissa" (1748); hier ist es noch die Tochter, die eher das Haus des tyrannischen Vaters verläßt als in die aufgezwungene Ehe mit einem ungeliebten Gatten einzuwilligen. Zwei weitere Vater—Tochter-Konflikte schließen sich hier an: L e s s i n g s „Miß Sara Sampson" (1755) und R o u s s e a u s „Nouvelle Héloïse" (1757/59). Während der Zusammenstoß des Helden von Abbé P r é v o s t s „Manon Lescaut" (1733) mit seinem Vater im Jardin du Luxembourg noch mehr momentanen Charakter trägt, während der Gewissenskonflikt Siegmunds mit seinem vaterlandsverräterischen Vater Segestes, den er nur politisch, nicht menschlich bekämpft, i n J o h . E l i a s S c h l e g e l s „Hermann" (1741) noch ganz in der Nebenhandlung bleibt, geschah der entscheidende Schritt eines Konflikts zwischen Vater und Sohn endlich im Jahre 1758, wo D i d e r o t seinen „Père de Familie" schrieb. „Le Père de Familie" (1760 von L e s s i n g ins Deutsche übersetzt und günstig rezensiert) muß nach unsrer Ansicht als die erste dichterische Behandlung eines eigentlichen Vater—Sohn-Konflikts betrachtet werden, im Gegensatz zu G o e t h e s verfrühtem Hinweis auf Molières „Avare" und R u d o l f K a ß n e r s verspätetem auf Goethe, in dessen Bemerkung über Molière Kaßner das erste europäische Auftauchen des Vater—SohnKonflikts zu sehen glaubte (in einem zuerst französisch im „Commerce", dann im Sommer 1927 in der Frankfurter Zeitung erschienenen Aufsatz über Kierkegaard). Bei Diderots Schauspiel haben wir auch zum erstenmal die Bestätigung von Seiten des Publikums und der Kritik, daß dies Stück tatsächlich als gefährlich revolutionär empfunden wurde, eine Bestätigung, deren Fehlen bei der Streitszene in Molières „Avare" (Publikum und Kritik nahmen sie ohne die geringste Entrüstung hin) von C. S. Gutkind (a. a. O.) mit vollem Recht zur Widerlegung der
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Goethischen Auffassung angeführt wurde: in Diderots unten wiedergegebener Entscheidungsszene zwischen Vater und Sohn mußte dagegen der größte Teil (von „ I i s n'ont que ce m o t " bis „Vous oubliez qui je suis") bei der ersten Aufführung 1761 unterdrückt werden. Der Konflikt des Dramas ergibt sich aus der Weigerung des „Père de famille" d'Orbesson, die Zustimmung zur Heirat seines Sohnes Saint-Albin mit einer armen, aber edlen Waise zu geben. In d'Orbesson, einem cholerisch aufbrausenden Egoisten, hat Diderot eingestandenermaßen seinen eigenen Vater dargestellt („Ce sujet tiendra mes yeux sans cesse attachés sur mon père"), der seinem Sohne ganz ebenso die Heirat mit der armen Annette Champion verbot, worauf Diderot sie gegen den Willen seines Vaters heiratete; vielleicht hat er dabei jene berüchtigte Szene selbst erlebt, die den Höhepunkt seines Dramas bildet, wo der Vater im Namen der väterlichen Autorität dem Sohne befiehlt: Quittez vos projets; je le veux, et je vous l'ordonne par toute l'autorité qu'un père a sur ses enfants. S a i n t - A l b i n (avec un emportement sourd): L'autorité! l'autorité! Ils n'ont que ce mot. L e P è r e de F a m i l l e : Respectez-le. S a i n t - A l b i n (allant et venant): Voilà comme ils sont tous. C'est ainsi qu' ils nous aiment. S'ils étaient nos ennemis, que feraient-ils de plus? Le Père de F . : Que dites-vous? que murmurez-vous? S a i n t - A l b i n (toujours de même): Ils se croient sages, parce qu'ils ont d'autres passions que les nôtres. L e P è r e de F . : Taisez vous. S a i n t - A l b i n : Ils ne nous ont donné la vie que pour en disposer. L e P è r e de F . : Taisez vous. S a i n t - A l b i n : Ils la remplissent d'amertume; et comment seraientils touchés de nos peines? ils y sont faits. L e P è r e de F . : Vous oubliez qui je suis, et à qui vous parlez. Taisez vous, ou craignez d'attirer sur vous la marque la plus terrible du courroux des pères. S a i n t - A l b i n : Des pères! des pères! il n' y en a point . . . Il n'y a que des tyrans. L e P è r e de F . : O ciel! S a i n t - A l b i n : Oui, des tyrans. L e P è r e de F . : Eloignez-vous de moi, enfant ingrat et dénaturé. Je vous donne ma malédiction. Allez loin de moi (Le fils s''en va...). Wir geben die Szene, die in dem berühmten gleichzeitigen VaterfluchGemälde des Malers G r e u z e (Paris, Louvre) beinahe eine Illustration 2 w.i. i.
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gefunden hat, in extenso wieder, um zu zeigen, wie fast jeder Satz in verallgemeinerndem Sinn (beachte den Plural: les pères) gebraucht wird: sein privater Kampf gegen den Vater wird Diderot — wie 1913 Walter Hasenclever (vgl. bei beiden die Typisierung „Le Père de Familie" = „Der Vater" „Der Sohn") — zum Kampf aller Söhne gegen alle Väter, ohne Ausnahme (il n' y a que des tyrans!). Leider— möchte man fast sagen — hat Diderot in seinem Drama die Radikalität dieser Szene nicht durchgehalten; er hat einmal den Konflikt durch die Gestalt eines an dem Zerwürfnis schuldigen intriganten Schwagers abgeschwächt, dann durch die Entdeckung von der Verwandtschaft des armen Mädchens mit einem Komtur ein happy end herbeigeführt, dessen Banalität durch die Schlußworte des Père de Familie: „O wie grausam — wie süß ist es, Vater zu sein!" nicht gemindert wird (Zur Wirkung des Schauspiels in Deutschland vgl. Cäsar Flaischlen „Otto Heinrich von Gemmingen. Mit einer Vorstudie Über Diderot als Dramatiker''''. Stuttgart 1890, p. 36ff.) Anderorts zeigt sich Diderot ungehemmter und radikaler: man glaubt bei ihm mitunter die Stimme Sigmund Freuds zu hören, und die Psychoanalytiker haben auch nicht versäumt, ihn seines strammen „Ödipuskomplexes" halber in Beschlag zu nehmen. So übernahm Rank als Motto für das erste Kapitel seiner Geschichte des Inzestmotivs eine Stelle aus Goethes Übersetzung von Diderots „Rameaus Neffe": „Wäre der kleine Wilde sich selbst überlassen, und.. . vereinigte mit der geringen Vernunft des Kindes in der Wiege die Gewalt der Leidenschaften des Mannes von dreißig Jahren, so bräch' er seinem Vater den Hals und entehrte seine Mutter." Und ganz ähnlich klingt eine Stelle aus einer Prosaschrift: „Auf uns verlassen, und wenn die Kräfte unseres Körpers denen unserer Phantasie gleichkämen, würden wir unsere Väter ermorden, um unsere Mütter geschlechtlich zu besitzen" (zit. Rank IM 96). Ein Jahr, nachdem Diderot sein Drama geschrieben hatte, erschien in England der Roman „Rasselas" (1759) von Samuel J o h n s o n (1709 —1784), der nicht minder revolutionäre Maximen enthielt. Nebst anderen Illusionen wurde dort auch die angebliche Familienzärtlichkeit entlarvt; die Familie habe, führt im 26. Kapitel eine kluge Prinzessin aus, mit dem Staat die häufigen Revolten gemeinsam. "An unpractised observer expects the love of parents and children to be constant and equal: but this kindness seldom continues beyond the years of infancy: in a short time the children become rivais to their parents." Als einen Hauptnährboden solcher Rivalität zwischen Vater und Sohn, Mutter und Tochter, erklärt der Titelheld die allzu frühen Heiraten der Eltern: "the son is eager to enjoy the world before the father is Willing
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to forsake it, and there is hardly room at once for two generations." (29. Kap.) Je weiter aber andrerseits Eltern und Kinder durch den Altersunterschied entfernt sind, desto unmöglicher wird für sie gegenseitiges Verstehen ; bei all dem stellt sich übrigens Johnson deutlich auf die Seite der Jungen, den Eltern weist er die größere Schuld bei Familienfehden u. ä. zu, da sie sich meist gegenseitig an die Kinder verraten, um diese für sich zu gewinnen. Der Altersunterschied sei unüberwindlich (26. K a p . ) : "how can children credit the assertions of parents, which their own eyes show them to be false? Few parents act in such a manner as much to enforce their maxims by the credit of their lives. The old man trusts wholly to slow contrivance and gradual progression ; the youth expects to force his way by genius, vigour, and precipitance. The old man pays regard to riches, and the youth reverences virtue. The old man deifies prudence: the youth commits himself to magnanimity and chance. The young man, who intends no ill, believes that none is intented, and therefore acts with openness and candour: but his father, having suffered the injuries of fraud, is impelled to suspect, and too often allured to practise it. Age looks with anger on the temerity of youth, and youth with contempt on the scrupuosity of age." 1762 erschien dann mit R o u s s e a u s „ É m i l e " das Kompendium der neuen, rein humanitären Erziehung, durch die väterliche Autorität unnötig und fast gegenstandslos wurde : der Vater wird durch den Erzieher vollständig ersetzt, und dieser kann sich mit gutem Recht den Vatertitel anmaßen; ebenso schlichtet V o l t a i r e s „ Z a d i g " 1767 den Streit zweier Väter um ihr uneheliches Kind : der sei Vater, der das Kind vernünftig zu erziehen wisse (derselbe Gedanke auch in L e s s i n g s „ N a t h a n " 1779, vgl. Winterholer, a. a. O. p. 41 ff.). Rousseau, der bekanntlich seine eigenen Kinder bei Fremden erziehen ließ, überträgt das ganze Wohl seines Émile, bis zur Beihilfe beim Suchen einer Gattin, dem Erzieher (éd. Flammarion, I I , 219). „Mon affaire, je dis la mienne et non celle du père; car en me confiant son fils il me cède sa place, il substitute mon droit au sien: c'est moi qui suis le vrai père d ' É m i l e " . . . In zwei Tragödien: „Crispus" (1760) und „Mustapha und Zeangir" (1761) stellte unterdessen in Deutschland C h r i s t i a n F e l i x Weiße die Gestalt des grausamen, gewalttätigen Vaters auf die Bühne, der seinen unschuldigen Sohn hinrichten läßt (dasselbe Motiv später in A c h i m v. A r n i m s Puppenspiel „ D i e Appelmänner"); beidemale verschmäht es der Sohn, sich vor dem blindwütenden Vater zu rechtfertigen, beidemale wirkt der Unschuldstod des Sohnes, an dessen Leiche der Vater die Wahrheit erfährt, „als Anklage gegen die starre Gesetzlichkeit" 2*
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(Kossow p. 52), also ganz im Geiste der Aufklärungstendenz. Der bis zu unmenschlicher Tyrannei gesteigerte Haß des alten Dionys gegen seinen Sohn, in dem er seinen Nachfolger und Mörder fürchtet, hat dagegen in der Darstellung bei W i e l a n d („Agathon" 1761—1767; I I . Teil, 10. Buch, 1. Kap.) kaum überzeugende Leibhaftigkeit gewonnen. Besser gelungen sind ihm in seinem großen Roman die Gestalten des herrschsüchtigen Dickkopfs Stratonikus und seines Sohnes, welch letzterer ungeachtet des väterlichen Einspruchs seine Musarion zu heiraten wagt; tragisch endet dagegen das gewaltsame Einschreiten des Vaters in Chr. F e l i x W e i ß e ' s spätem Drama „Die Flucht" oder „Sophie" oder „Die Brüder" (1770) gegen die Verbindung seines jüngeren Sohnes und seiner Pflegetochter, die beiden das Leben kostet; entlastet wird der Vater allerdings insofern er nur die vermeintliche Werbung für den Freund seines Sohnes bekämpft, nicht die ihm unbekannte Werbung des Sohnes selbst. Schließlich sei noch eine prachtvolle Satire auf die elterliche und vormundliche Unsitte, Kinder ungefragt zu verheiraten, genannt, die W i e l a n d in Form des bürgerlichen Rührstücks „Eugenia oder die vierfache Braut" von seinen „Abderiten" (1773—80; I.Teil, 3. Buch, 3. Kap.) aufführen läßt und wo ein Mädchen, das gleichzeitig von vier Familienautoritäten verschieden verlobt wird, doch schließlich nach eigenen» Geschmack wählt. Im gleichzeitigen England finden sich in den Briefen des L o r d C h e s t e r f i e l d (1694—1773) Ansichten, welche an die bereits erwähnten R o u s seaus erinnern. „Wenn er gelegentlich davon spricht, daß es kein Unglück für Söhne sei, ohne Väter aufzuwachsen, für Eltern, keine Kinder zu haben, so spiegelt er auch damit typische Anschauungen seines Lebenskreises wieder" (Schücking, a. a. O.). Und auch V o l t a i r e stimmte in diesem Punkte mit seinem Antagonisten Rousseau überein, nur daß er den Vater verspottet, den Rousseau ignoriert; in seiner geistreichen Verserzählung von 1775 „ L e Dimanche ou Les filles de Minée" eröffnet die kluge Aufklärerin Climêne ihren Schwestern: Un mot devrait suffire: on a trompé nos pères, Il ne faut pas leur ressembler. Und was bei Voltaire frech war, wird zynisch bei dem größten aller Anakreontiker, dem Schweden Carl M i c h a e l B e l l m a n n (1714—97), z. B. in jener 23. von „Fredmans Episteln": „Fredmans Monolog im Rinnstein", die, ähnlich wie L a w r e n c e S t e r n e ' s großer Roman „Tristram Shandy" (1759), in vorwurfsvoller Katerstimmung anhebt („Fredmans
Episteln"
übersetzt von Felix
Niedner,
Jena
„Ach, meine Mutter, sag, wer dich sandte Grad in des Vaters B e t t ? "
1909):
III. „WERTHER"-ZEIT: VERDAMMUNG DES PIETÄTLOSEN SOHNS
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III. DIE „WERTHER"-ZEIT: VERDAMMUNG DES PIETÄTLOSEN SOHNS Unterdessen hatte in Deutschland die aggressive Haltung der Dichter dem Problem gegenüber plötzlich allgemein umgeschlagen in eine Parteinahme für den Vater gegen den pietätlosen Sohn: die neue, sentimentalempfindsame Zeitrichtung, über die hier Näheres nicht mehr gesagt zu werden braucht, schwärmte für den ehrwürdigen Greis im Silberhaar und hatte für lieblos revoltierende Söhne keinerlei Verständnis. Diese Zeitstimmung, die in Schillers „Räubern" Gipfel und Ende erreichte, ist im deutschen Drama zwischen 1765 und 1780 vollkommen die herrschende. Noch außerhalb des Rahmens unserer Untersuchung liegt das Jugenddrama „Der Freigeist" (1757) des frühverstorbenen J o a c h i m W i l h e l m von B r a w e (1738—58), da hier die Lieblosigkeit des Sohnes gegen den Vater nicht dramatisch, sondern nur in berichteter Erzählung, und der entartete Sohn Clerdon nicht als Ungeheuer, sondern als schwaches, haltloses Werkzeug in den Händen eines geriebenen Schurken geschildert wird: Clerdon, der seinen gütigen Vater an den Bettelstab und ins Schuldgefängnis, schließlich in den Tod getrieben hat, wird schon von der ersten Szene an von schrecklichen Träumen verfolgt und stirbt, da er nicht die Kraft zur Umkehr hat, schließlich durch eigene Hand. Von weit größerer Wichtigkeit dagegen ist uns die „Miss Fanny" (Berlin 1766) des Dramatikers J. C. B r a n d e s , das erste für diese Gruppe von Vater— Sohn-Dramatikern bezeichnende Stück, das mit dem l e t z t e n Drama der Gruppe, Schillers „Räubern", frappante, oft wörtliche Ähnlichkeiten aufweist, auf die August Sauer in seinem (in der Einleitung erwähnten) „Brawe"-Buch hingewiesen hat. Dies gilt besonders für den pietätlosen Sohn William, dessen gemäßigter Doppelgänger Franz Moor das wenigstens nur in einem Monolog enthüllt, was William seinen Vater ins Gesicht sagt (III, 4): „Was für Dank bin ich Ihnen denn schuldig ? — Mein Dasein beförderte keine Absicht auf meine Person; nur Ihr Vergnügen war die sinnliche Ursache meines Daseins. Da die Natur mich Ihnen schenkte, so war es Ihre Schuldigkeit mich zu erziehen. — Das erste verdient keinen Dank, und das letzte war Ihre Pflicht." Als sein Vater Einspruch dagegen erhebt, daß William — ein Ungeheuer wie Lopes Leonido, Chapman's Abrahen und J. Rists Perseus —• seine Schwester entehren und ihren Bräutigam beseitigen will, beschließt William, auch den Vater zu ermorden, und zwar während des Gebets (vgl. Voltaires Mahomet). „Was liegt der Welt an dem Schicksale eines alten abgelebten Mannes ? Sein Leben ist ihr von geringem Nutzen; kaum, daß er bemerkt wird. —
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Aber, — einen Vater! — Fort verhaßter Einwurf! — Ist mir mein Leben, meine Sicherheit lieb ? — Wohl! so opfere ich einen alten Greis, der mir verhaßt ist und — der mir beides rauben kann" (III, 5). „Es ist wahr; ein hergebrachtes Vorurtheil setzt auf das Leben unserer Blutsfreunde einen größeren Werth, als auf das Leben anderer Menschen; es sei auch Wahrheit, — so ist doch die Notwendigkeit für mich ein Gesetz. — Sein Tod muß mir Bürge für mein Leben sein" (III, 6). Doch wird der Vater rechtzeitig vor Williams Mordanschlag gewarnt und dieser endet schließlich seine verruchte Existenz durch die rächende Hand seines Schwagers. In den drei nächstfolgenden Vater—Sohn-Dramen tritt uns dagegen statt der Verdammung pietätloser eine Verherrlichung liebevoller Söhne entgegen. 1768 veröffentlichte H e i n r i c h Wilhelm v. G e r s t e n b e r g (1737—1823) seinen gewaltigen „Ugolino", das Sterbedrama eines Vaters und seiner drei Söhne, Schilderung der liebreichsten und durch den bevorstehenden gewissen Tod noch verstärkten Zärtlichkeit der Söhne zum Vater: ein Hohes Lied der Sohnesliebe.1) Da ist Francesco, der vom Turm springt, den Vater zu retten, da Anselmo, der seinen Vater abgöttisch anbetet — man denke an die erste Szene: A n s e l m o : Mein Vater! (Seinen Arm um seinen Vater schlingend.) Großer Mann! schäme dich meiner nicht, daß ich erröte! Ah, Gherardesca, nenne mich noch einmal deinen Sohn Anselmo! Ugolino. Mein geliebter, mein edler Sohn Anselmo! Mein männlicher Sohn Anselmo! Anselmo. (Auf und ab gehend). Ich bin nur dreizehn Jahre alt: aber Ugolino Gherardesca hat mich seinen Sohn genannt. Männlicher Sohn ist zuviel; aber genug, Gherardesca hat mich seinen Sohn genannt! Und da ist endlich der rührende kleine Tod des sechsjährigen Gaddo, im letzten Aufzug: „Engel Gottes! der du mich hier abfordern wirst, laß ein Blümchen u n t e r m e i n e s V a t e r s F ü ß e n aufblühen! (mit schwächerer Stimme) ein geknicktes kleines Blümchen! (küßt seines Vaters Füße) so blühe mein Leichnam!" Etwa zwei Jahre später schrieb in Wien ein Baron v o n Gugler das Drama „Sidney und Silla", dessen Held nichts anderes weiß, als Liebe zu seinem Vater: er scheut selbst vor der tiefsten Erniedrigung, dem Bettel, nicht zurück, um den Vater aus dem Schuldgefängnis zu ') Wenn, nach Rank (IM. p. 462), durch das Lebendig-Eingesargtwerden des Ugolinosohnes Francesco „der störende Vater mit Umgehung des parricidiums beiseite geschafft" werden soll, so scheint uns das nicht nur vom literarhistorischen, sondern diesmal auch vom psychoanalytischen Blickpunkt ausgesprochener Unsinn.
III. „WERTHER"-ZEIT: VERDAMMUNG DES PIETÄTLOSEN SOHNS
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erlösen. Fährt mit dem Befreiten nach Indien („Ich war schwach, entkräftet, — er hob mich auf seine Schultern und trug mich an den Bord"), lebt in einer Höhle mit ihm zusammen, rettet ihn vor dem Hungertod. Rettet ihn vor Feinden und leidet Wunden und Gefangenschaft, bis er endlich den totgeglaubten Vater wiedertrifft und vor Glück fast ohnmächtig wird. Glühende Zärtlichkeit von Vater zu Sohn erfüllt ferner das Drama „Der verlorene Sohn" (1779) des Schweizer Jesuiten J. J. Z i m m e r m a n n , wo Vater und Sohn vier Akte lang klagend ihre Sehnsucht nach einander aussprechen, ehe sie sich im 5. Akt in maßloser Rührung in die Arme stürzen. Das Gefühl der Rührung, das die empfindsame, unter dem Zeichen von Goethes „Werther" stehende Epoche um jeden Preis hervorrufen wollte, mußte gerade in den Darstellungen treuer Söhne und ehrwürdiger Greise seinen Gipfelpunkt erreichen. Otto Brahm („Das deutsche Ritterdrama des 18. Jhdts." Straßburg 1880, p. 55) weist „den wunderlichen Enthusiasmus der Zeit für verehnmgswürdige Grauköpfe" an Hand einer gewaltigen Kollektion von Belegen (p. 198) nach, findet sogar (p. 200) „in der ganzen Alten-Männer-Verehrung... einen lästigen Beiklang von Weichlichem und Weibischem" und das ist durchaus berechtigt, wenn man etwa an die Art denkt, in der in Schillers Räubern der alte Moor beschrieben wird; einmal von Amalia, die gerührt vor dem Schlafenden steht (II, 2 ) . . . „Wie schön, wie ehrwürdig! — ehrwürdig, wie man die Heiligen malt. — Nein, ich kann dir nicht zürnen! Weißlockigtes Haupt, dir kann ich nicht zürnen! Schlummre sanft, wache froh auf, ich allein will hingehn und leiden." Dann von Karl Moor, der seinen Räubern regelrechten Vaterkult predigt (IV,5): „Kniet hin in den Staub, und stehet g e h e i l i g t a u f ! . . . Steh auf Schweizer! Und rühre diese heiligen Locken an (er giebt ihm eine Locke in die Hand)." Überhaupt war die „Silberlocke des Greisen" die hochgeschätzteste Reliquie, die fast kein Dichter der Zeit zu erwähnen vergaß. Und es kann als charakteristisches Detail dieser Periode des Vaterkults gelten, daß der große spanische Maler Goya nach dem Tod seines abgöttisch verehrten alten Vaters (1783) mehrere Tage lang sich weigerte, Speise und Trank zu sich zu nehmen. Lyrische Formung hat die Liebe zum toten Vater gefunden in M a t t h i a s Claudius' Elegie am Grabe seines Vaters. Aus dieser Stimmung der Zeit müssen wir es auch erklären, daß in den Werken des jungen G o e t h e , der immerhin Veranlassung dazu gehabt hätte, sich nirgends ein böses Wort gegen die Väter findet; denn die beiläufige Beteuerung des verliebten Franz im „Götz": „Ich wollte meinen Vater ermorden, wenn er mir diesen Platz streitig machte"
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in ihrer Bedeutung zu überschätzen oder gar, wie Rank (IM 476), aus ihr zu schließen, daß hier „der mächtige Vaterhaß und seine Motivierung in der sexuellen Rivalität zum Durchbruch" komme, — dazu liegt keine Veranlassung vor. Auch sein „Egmont" e n d e t unmittelbar bevor der Konflikt zwischen Herzog Alba und seinem Sohn Ferdinand zum Ausbruch kommen muß, eine Szene, die sich der Don Carlos-Schiller nicht hätte entgehen lassen. Aus der damaligen Vaterkultmode erklärt sich auch die Häufigkeit, mit der die Ausdrücke „Vatermord" und „Vatermörder" jedesmal angewendet werden, wenn es einem Dichter um die Kennzeichnung der gräßlichsten Verbrechen zu tun ist, wie es ja überhaupt ganz im Sinne derZeit ist, wenn in Schillers „Räubern" Pastor Moser als die beiden größten Sünden Vatermord und Brudermord nennt; und wenn auch im eigentlichen „Sturm und Drang" das Bruderzwistmotiv bekanntlich das Vater— Sohn-Motiv an Bedeutung noch übertraf, so spielte doch auch dieses eine auffallend starke Rolle; Otto Brahm (a. a. O. p. 77/78, Anm. 2) hat für das Ritterdrama der Zeit eine Sammlung von „Vatermord"-Ausdrücken angelegt. Von Wichtigkeit für die Vater—Sohn-Auffassung dieser Periode war ferner noch die starke Einwirkung S h a k e s p e a r e s , vor allem seines „Lear". So schildert Friedrich M a x i m i l i a n K l i n g e r in seinem Jugenddrama „Otto" (1775) einen zweiten Gloster: Herzog Friedrich hat seinen wackeren Sohn Karl für vogelfrei erklärt und ist von seinem jüngeren, charakterschwachen Sohn Konrad, dem er sich anvertraute, verraten und vertrieben worden. Wie Lear schweift der Alte mit einem Diener und einem Verrückten durch den Wald, beim Geheul der Wölfe, das er halb wahnwitzig nachäfft (III, 9): „Huh! huh! horch! horch! Vatermord! huh! euer Gebrüll ist Nachtigallengesang gegen das kleine Wort, Vatermord!" Und ebenso fühlt man den wörtlichen Anklang an die oben zitierten Worte Glosters, wenn Schillers Karl Moor, der die Einkerkerung seines Vaters durch Franz Moor als einen Vatermord auffaßt, ausruft: „Schaut her, schaut her! Die Gesetze der Welt sind Würfelspiel worden, das Band der Natur ist entzwey, die alte Zwietracht ist los, der Sohn hat seinen Vater erschlagen." Den Vater als letzte richtende Instanz dem sündigen Sohn gegenüber finden wir in zwei fast gleichzeitig entstandenen Konkurrenz-Dramen: im „Julius von Tarent" (1774) des J o h a n n A n t o n L e i s e w i t z , wo der brudermörderische Guido, dem väterlichen Gerichte mit keinem Worte widerstrebend, ehrerbietig von seinem Erzeuger denTod empfängt, eine Szene, in der wohl der furchtbarste und wortkargste Ernst herrscht,
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dessen die Genieperiode fähig war. Und ebenso nimmt in K l i n g e r s „Zwillingen" (1775) der Brudermörder Guelfo verhüllt den rächenden Todesstreich des Vaters hin; er hat seinen Bruder erschlagen, weil er glaubte, dieser habe ihm die Liebe seiner Eltern gestohlen (I, 2 „Herausgeben sollst du mir die Erstgeburt, herausgeben sollst du mir Vater und Mutter, herausgeben sollst du mir alles"); dennoch zweifelt er mit der Hartnäckigkeit eines Psychopathen an der Aufrichtigkeit der elterlichen Liebesbezeugungen (vgl. I, 4: Alter Guelfo, indem sie ihm beide um den Hals fallen: Du bist mein Sohn! mein lieber S o h n . . . Tausend väterlichen Segen für den zu raschen Fluch, mein Sohn! Sei deines Hauses Zierde!).Dagegen spielt in Klingers „Stilpo und seine Söhne" (1777) das Vater—Sohn-Problem eine auffallend geringe Rolle. Schwächlicher hat J. M. R . L e n z das Vater—Sohn-Motiv behandelt. Er dramatisierte unter dem Titel „ D i e beiden A l t e n " (1776) eine Fabel, die, wie er in einem „Vorbericht" sagt, „für unsere Zeiten und Sitten Wahrscheinliches genug hat, um aufs Theater gebracht zu werden." — Ein schwacher Sohn, von einem Schurken verführt, kerkert seinen Vater ein und gibt ihn für tot aus, bis dieser entkommt und dem reuigen Sohn verzeiht. Schiller hat, wie so vieles andere in seinen „Räubern", auch das Einkerkerungsmotiv von seinen Vorgängern übernommen. 1775 stellte S c h u b a r t in Haugs Schwäbischem Magazin eine Anekdote „Zur Geschichte des menschlichen Herzens" den jungen Dramatikern als Stoff zur Verfügung. L e n z machte sich im Winter 1775/76 als erster an die Arbeit und schrieb die erste Fassung seines „Tugendhaften Taugenichts", die er im Sommer 1776 energielos umzuarbeiten begann und schließlich liegen ließ: Ein korrekter Schleicher hat die Schuld am Zerwürfnis seines Bruders mit dem treuherzig derben Vater, der bald in seinem verlorenen Sohn einen Lehrer erkennt, „durch den mich Gott zur Erkenntnis bringt" ( I . Fassg.; I V , 1). S c h i l l e r s von 1777 bis 1780 ausgeführte Dramatisierung desselben Motivs unterscheidet sich von der Lenz'schen vor allem durch die ungleich größere Kraft, mit der er auf der einen Seite den Vaterhaß des schlechten, auf der anderen die Pietät des guten Sohnes ins Radikale steigerte. Wir sahen bereits, wie viel die Monologe Franz Moors dem Brandes'sehen William verdanken; und so ist auch Karl Moor, dem von Anfang an Schillers größeres Interesse galt (die „ R ä u b e r " hießen ursprünglich „Der verlorene Sohn"), der zärtliche und trotz väterlicher Ungerechtigkeit pietätvolle Sohn, wie ihn die Zeitgenossen wollten und liebten ( „ — Ich hab' ihn so unaussprechlich geliebt! so liebte kein Sohn; ich hätte tausend Leben für ihn — " I, 2). Der Schiller der „ R ä u b e r " dachte noch nicht entfernt daran, den gegen den Vater revoltierenden
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Sohn zu verherrlichen, und wenn Rank (IM 447) das poetische Totengespräch zwischen Cäsar und Brutus als einen für den jungen Schiller aufschlußreichen ,,Vatermord-Dialog" interpretiert, so dürfte er die inhaltliche Bedeutung doch wohl weit überschätzen. Schon daß Schiller diese Rhapsodie zur Laute gerade Karl Moor, dem idealen Sohne, ursprünglich in den Mund legte, würde eine angeblich geplante Idealisierung des Vatermords ausschließen; vielmehr scheint uns das Gedicht einzig und allein der heroischen Geste der Schlußverse wegen geschaffen worden zu sein. Auch wo tatsächlich ein wirklicher Vater—Sohn-Konflikt in den 70 er Jahren auftaucht, wie in dem Jugenddrama „Filippo" (1775) des großen Italieners V i t t o r i o Alfieri (1749—1803) wird fast auffällig eine pietätlose Haltung dem Vater gegenüber vermieden: Alfieris Philipp II. haßt zwar Don Carlos grimmig, dieser aber erklärt ausdrücklich, er hasse den Vater keineswegs und beharrt geradezu auf seiner Hinrichtung. Dasselbe Bedürfnis nach Dämpfung zeigt auch O t t o H e i n r i c h v o n Gernmingens „Pere de Famille"-Imitation „Der deutsche Hausvater oder die Familie" (1780), wo Diderots revolutionäre Tendenz vollständig beseitigt ist: der Vater, ohne alle Schwächen geschildert, drängt den Sohn sogar zur Ehe mit dem armen Mädchen, als er hört, dieser habe sie verführt. Dennoch will unerklärlicherweise Cäsar Flaischlen, der Biograph Gemmingens, in dem Stück ein für den „Sturm und Drang" angeblich besonders charakteristisches Motiv finden (a. a. O. 119): „der Streit der neuen, jungen Generation mit ihren Freiheitsbestrebungen, namentlich für höhere Anerkennung der Individualität, gegen die alte väterliche — trotz all dem Enthusiasmus der ganzen Periode für den Greis, der mit der überlegenen Weisheit und Besonnenheit Nathans dem Leben gegenübersteht, was namentlich bei Leisewitz, Klinger und Schiller hervortritt." Halten wir also demgegenüber fest, daß sich in der, gewöhnlich als „Sturm und Drang" bezeichneten Dichtergruppe der 70er Jahre nirgends Parteinahme für die Söhne gegen die Väter findet, obwohl die Dichtergruppe in hohem Grade revolutionär im Sinne von neuschöpferisch war, und daß man es im Gegenteil als einen charakteristischen Programmpunkt dieser Generation ansehen kann, wenn ihr theoretischer Wortführer Herder 1780 im 1. Kapitel („Vom Einfluß des väterlichen Regiments auf den Keim der Wissenschaften") seiner Berliner Preisschrift „Vom Einfluß der Regierung auf die Wissenschaften etc." eine begeisterte Apologie1) der patriarchalischen Autorität, der Vaterherrschaft gibt (Werke, ed. Suphan IX, 313/4): ') Über H e r d e r als Verfechter der „väterlichen Regierung" vgl. R u d o l f S t a d e l m a n n „Der historische Sinn bei Herder", Halle a. S. 1928, p. 48.
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„Da kein Ansehen über väterliches Ansehen, keine Weisheit über Vaterweisheit, keine Güte über Elterngüte gehet, mithin diese kleine Regierung die vollkommenste ist, die gefunden werden kann; so sind auch die Eindrücke davon sehr tief in den Herzen der Kinder und Kindeskinder, zumal in den Zeiten der Unschuld und frühen Einfalt. Sage der Väter war immer der Urquell aller Weisheit: ihr Urtheil, ihre Sprüche waren der höchste Beweis, über den nichts hinausging, wie das alte Buch Hiob in treflichen Exempeln weiset. Der Vater erbte seinen Schatz von Erfahrung, Naturkenntnissen, Unterricht, Lehre durch Tradition hinunter; dieser ward wie ein Heiligtum angenommen, vermehrt oder verfälschet." Exkurs: Das M o t i v des u n e r k a n n t e n V a t e r m o r d s . Indem wir das Motiv des vom Vater unerkannt ermordeten Sohnes übergehen, das von der d'Ailly-Episode in V o l t a i r e s „Henriade" (1723—28, VIII, 205ff.) über George Lillo's „Fatal Curiosity (1736) bis zu K l e i s t s „Familie Schroffenstein" (1803), Zacharias Werners „24. Februar" (1809), O t t o L u d w i g s „Erbförster" und— in indirekter Fassung — A n z e n g r u b e r s „Stahl und Stein" (1886) durchgeht1), wenden wir uns einem Motiv zu, das in dieser Zeit fast noch beliebter war als das Thema des eigentlichen Vater—Sohn-Problems: das Motiv vom „Vatermörder, ohnees zu wissen", dieeineHälfte desödipusmotivs 2 ). Den Grund dieser Beliebtheit sehen wir in dem bereits erwähnten Schauder der Zeit vor dem Worte „Vatermord", den eine Reihe von Dichtern ausnützten; wie sehr gerade bei unreifen Dichtern damaliger Zeit der inneren Leere ihrer Versuche eine um so stärkere Bevorzugung derartiger äußerer Handlungseffekte entsprach, zeigt z. B. eine Bemerkung von Karl P h i l i p p Moritz (1757—93) über seinen „Anton Reiser" (1785): „Dies war der Fall bei Reisern schon in Hannover auf der Schule, wo er Meineid, Blutschande und V a t e r m o r d in einem Trauerspiel zusammenzuhäufen suchte, das der „Meineid" heißen sollte." W i e l a n d hat in seinen „Abderiten" (I. Teil, 3. Buch, 3. Kap.) die Aufführung einer solchen Tragödie grotesk glossiert. Am Anfang dieser Epidemie von Vatermorddramen steht V o l t a i r e s Drama "Mahomet ou Le Fanatisme" (1741; 1748 und 1749 je ins Deutsche übersetzt), wo der Betrüger Mahomet den Fanatismus des jungen Zeide 1
) Entfernt verwandt mit diesem Motiv ist die Vater—Sohn-Handlung in J. v o n Auffenberg's Schauspielen „Der schwarze Fritz" (1818) und „Die Syrakuser"(1820). 2 ) Vgl. August Sauer („Joachim W. v. Brawe" p. 111): „Das Motiv des Vatermords zieht sich... in merkwürdiger Weise durch eine ganze Reihe von gleichzeitigen bürgerlichen Tragödien, ja es läßt sich die Beliebtheit der poetischen Darstellung desselben noch in weiteren Kreisen verfolgen."
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dazu mißbraucht, ihm die Ermordung des Zopire aufzutragen, von dem Zéide nicht weiß, daß es sein Vater ist; aber die Natur ringt lange mit dem Fanatismus in Zéides Brust, da er sofort Liebe zu seinem ihm unbekannten Vater fühlt und erst nach heftigen inneren Kämpfen den Betenden niederzustechen wagt. Der Sterbende erkennt zu spät seinen Sohn, dieser will ihn an Mahomet rächen, fällt aber ebenfalls dessen Hinterlist zum Opfer. — Mit Ausnahme der Behandlung des schon 1707 von Crébillon1) dramatisierten Atreus und Thyestes-Stoffs durch Chr. F e l i x W e i ß e (1766), wo Ägisth den Vater eben noch erkennt, als er schon im Begriff ist, ihn auf Geheiß seines Ziehvaters zu töten, ist der Ausgang der deutschen Vatermorddramen fast immer der tragische: In J o h a n n G e b h a r d P f e i l s bürgerlichem Trauerspiel „Lucie Woodvil" (1756) ist es die uneheliche Tochter, die den ihr unbekannten Vater ermordet, weil er ihren Inzest mit seinem ehelichen Sohn zu vertuschen suchte. Als sie erfährt, daß der Ermordete ihr Vater war, tötet sie die intrigante Anstifterin der Tat, dann sich selbst. In K a r l T h e o d o r B r e i t h a u p t s Trauerspiel „Der Renegat" (1757) brennt der Held seinem Vater durch, wird von dessen ihn moralisierend zur Rede stellenden Vertrauten so in Wut gebracht, daß er diesen ermorden will. Er tötet aber in der Dunkelheit seinen betenden (vgl. Voltaires „Mahomet") Vater, ohne ihn zu kennen, und begeht nach der Erkennung Selbstmord. 1757/58 schrieb dann der Protégé Lessings, J. W. v. B r a w e , seine Familientragödie „Brutus", die, wie Sauer nachwies, vollkommen von Voltaires Mahomet beeinflußt ist : die Handlung ist in den ersten 3 Akten genau gleich (Mahomet = Publius, Zopire=Brutus, Zéide = Marcius); nur widerstrebt Marcius noch energischer als Zéide der Tötung des ihm instinktiv sympathischen Brutus. Erst als Publius, den Marcius für seinen Vater hält, vorgibt, er, Publius, habe sein Leben für Brutus' Ermordung verbürgt und Marcius werde zum Vatermörder, falls er Brutus nicht töte, verrät er diesen. Als in der Entscheidungsschlacht Vater und Sohn sich begegnen, stürzt Brutus sich ins Schwert, um dem Sohn den Vatermord zu ersparen; dieser tötet sich selbst. Den Brutusstoff behandelte kurz darauf mit Hauptbetonung der väterlichen Tragik S. H i r z e l in seinem „Junius Brutus" (Zürich 1761). In Chr. F e l i x W e i s s e ' s Trauerspiel „Eduard III" (1759) befiehlt der Sohn die Hinrichtung seines ihm nicht bekannten Vaters. Auch L e s s i n g , der das Motiv in "Miss Sara Sampson" andeutete, versuchte es dramatisch darzustellen, jedoch, um die Zufälligkeit des unerkannten Vatermords zu vermeiden, in der veränderten Form einer Schicksalstragödie, wozu, wie zuerst Hettner (Litt. d. 18. Jhdt. III, In Crébillons „Idoménée" (1705) und „Rhadamiste et Zénobie" (1711) tötet ein Vater den Sohn, in „Électre" der Sohn die Mutter.
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2, 519) vermutete, seine Sophokles-Studien beigetragen haben mögen. In dem Fragment gebliebenen „Horoskop" verfällt der Sohn des Petrus Opalinsky, Palatins von Podolien, in Schwermut, weil ein Astrolog bei seiner Geburt voraussagte, er werde Vatermörder werden; als der Sohn dem Spruch durch Selbstmord zu entkommen sucht, tötet der losgehende Schuß den herbeieilenden Vater. — Was der Ausgang seines genialen Fragments „Kleonnis" sein sollte, ob der Vater Kleonnis seinen Sohn Euphaes (wie Hempel „Lessings Werke" X I , 2, 668 und Rank IM 243 vermuten) oder der Sohn den Vater (Sauer, a. a. O. 115) töten sollte, bleibt dagegen unsicher. — In O. N. B a u m g a r t e n s Trauerspiel „Carl von Drontheim" (1765) ist es der Großvater, den auf R a t eines falschen Freundes der Held beraubt und verwundet. Carl geht schließlich zugrunde; wie es mit der Wunde des Großvaters steht, vergaß der Dichter mitzuteilen. Wie beliebt allmählich das Motiv des „Vatermords wider Willen" wurde, beweist die fast komische Tatsache eines förmlichen Aufrufs zur Mitarbeit an einem solchen Drama, den der Rostocker J o h a n n C h r i s t i a n K o p p e 1779 in der Berliner Literatur- und Theaterzeitung erließ, indem er gleichzeitig „Szenen aus einem ungedruckten Trauerspiele: ,Der Vatermörder, ohn' es zu wissen' (Zur Anfrage, wie das Publikum davon urtheilt)" mitteilte; beigefügt war der Plan dieser Tragödie, wo ein Sohn statt seines Onkels aus Versehen seinen Vater erschießt, von dem Sterbenden gesegnet wird und sich selbst den Gerichten übergibt; gleichzeitig bat der Autor seine Leser für sein Drama um Details der „Solemnitäten", die man in katholischen Ländern bei der Hinrichtung von Vatermördern beobachte. Dies war zu stark; das Vater—Sohn-Problem wurde öffentliches Streitobjekt in dem Moment, als jetzt im gleichen Blatt (p. 721—726) ein Anonymus gegen den überhandnehmenden Unfug der Vatermorddramen protestierte und dem wißbegierigen Dichter antwortete: „Der weise griechische Gesetzgeber setzte auf den Vatermord keine Strafe, weil er glaubte, daß der Fall nie vorkommen würde. Und wir.. . bringen solche Stücke vor die Augen des Publikums, lassen unsere Helden die verruchte That so gut als möglich beschönigen, und erwecken ihr, wo nicht mittelbare, doch unmittelbare und subtilere Nachahmer". Koppe schrieb daraufhin eine derartig gepfefferte Entgegnung, daß die Zeitung ihren Abdruck ablehnte (Jg. 1780, p. 15f). Zwei J a h r e später aber erschien schon wieder ein neues Vatermorddrama, diesmal in Form eines „vaterländischen Schauspiels": L o r e n z H ü b n e r s „Hainz von Stain der Wilde" (1782), wo ein Siegfried den schuftigen Titelhelden, den Räuber seiner Braut, erschlägt, und zu spät entdeckt, daß es sein Vater war. Direkter Vatermord ist vermieden in F. W. Z i e g l e r s Drama „Rache
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IV. DIE GENERATION DER FRANZÖSISCHEN REVOLUTION
für Weiberraub" (1791). Hier kämpft der sündige Bösewicht Wildgan im Gottesgericht mit seinem Sohne, ohne daß beide sich kennen, bis plötzlich ein Knecht hereinstürzt und r u f t : „Haltet ein, er ist dein Sohn!" Worauf der Alte reuig Selbstmord begeht. 1 ) IV. DIE GENERATION DER FRANZÖSISCHEN REVOLUTION: KAMPF GEGEN DEN TYRANNISCHEN VATER Wenn wir das plötzliche Auftauchen des Vater—Sohn-Konflikts in der deutschen Literatur seit ca. 1780 mit der 9 Jahre später ausbrechenden französischen Revolution in Zusammenhang setzen, so mag das auf den ersten Blick etwas verwunderlich erscheinen. Bedenken wir aber, daß dem Ausbruch einer politischen Revolution immer eine längere Periode langsamer geistiger Revolutionierung vorausgeht, und erinnern wir uns, wie in solchen mit neuen Ideen und Umwälzungen schwangern Zeiten der Aufeinanderprall der Generationen immer zuerst im kleinsten Kreise der Familie stattfindet, so begreifen wir, daß das plötzliche Auftauchen dichterisch behandelter Vater—Sohn-Konflikte auf das Nahen eines Sturmes deutete, der sich sicher als geistige, möglicherweise auch als politische Umwälzung auswirken mußte, ebensowenig wie es Zufall war, daß einige Jahre nach den Vater—Sohn-Dramen von 1913 ff. eine politische Revolution ausbrach. Erinnern wir uns auch der Bedeutungsausweitung, die das Problem des Vatertums unter den Händen des konservativ-pietätbejahenden Geschichtsphilosophen Herder angenommen hatte, und wir werden uns nicht über die Reaktion wundern, die mit der französischen Revolution gegen die patriarchalische Idee, zu der ja auch die damals gestürzte Monarchie und Adelsherrschaft gehörte, sich erhob; wir bemerken, wie die neuen Programmworte — z. B. „Ehre und Schande der Väter darf nicht auf Kinder fortgepflanzt werden", wie 1796 zu Paris inmitten der schon abebbenden Revolutionsbegeisterung der junge H e i n r i c h Z s c h o k k e (1771—1848) in seinen „Metapolitischen Ideen" (Nr. 30; 1796 in der Züricher Zeitschrift „Humaniora" abgedruckt) forderte — wie solche Schlagworte unter dem Gesichtspunkt des Vater—Sohn-Konflikts plötzlich einen neuen Sinn annehmen. ') Das 19. Jahrhundert verzichtete auf die dichterische Darstellung des Motivs, mit wenigen Ausnahmen wie Grillparzers „Ahnfrau" (1816), wo Jaromir seinen Vater tötet, ohne es zu wissen, H e b b e l s Schauerdrama „Der Vatermord" u. ä. Jugenddramen. Der Grund liegt auf der Hand: es ist die Abneigung des intellektuellen Dichters gegen blindes und unmotiviertes Geschehen, einerlei, ob man es als Zufall oder Schicksal auffaßt. Vertieft ist das Problem in R u d o l f G. B i n d i n g s Novelle „Die Waffenbrüder" („Die Geige" 1911).
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Freilich erkannten nicht sofort die ersten dichterischen Darsteller des Konfliktes die weltanschaulich allgemeine Bedeutung des von ihnen behandelten revolutionären Einzelfalls. Es ist das Verdienst Schillers, in der endgültigen Fassung des „Don Carlos" (1787) deutlich Sohn und Vater zu Vertretern zweier miteinander kämpfenden Zeitalter und Generationen vertieft zu haben: in dem Augenblick, als Carlos von der harmlosen privaten Familienopposition den Schritt zur politisch-weltanschaulichen Opposition (Marquis Posa) endgültig tut, ereilt ihn die Rache des Vaters; spät genug, um den Helden bereits nicht mehr als das zufällige Opfer eines Familientyrannen, sondern schon als Märtyrer einer weltanschaulichen Sache erscheinen zu lassen. Wenn D i d e r o t einst als erster den Vater—Sohn-Konflikt verallgemeinerte, so hat Schiller als erster ihn in einen weltpolitischen Zusammenhang eingereiht. Werfen wir nun einen kurzen Blick auf die vor dieser Ausweitung des Problems liegende Vater—Sohn-Dichtung. Auf erwachendes Interesse für historische Konflikte zwischen Vätern und Söhnen ließe schon eine 1776 in Greifswald erschienene Schrift „Don Carlos und Alexei, Luines und Buckingham, ein Versuch in vergleichenden Lebensbeschreibungen" schließen, deren Autor (nach Büsching,
„Wöchentliche
Nachrichten''''
1776.
IV, p. 214) ein gewisser E. Toze war. Kurz darauf schrieb der Schauspieler Carl C z e c h t i t z k y ein bedeutungsloses Trauerspiel „Graf Treuburg", wo ein Sohn seinen Vater tötet, weil dieser zum feindlichen Heer übergetreten ist (vgl. dazu H. Z. von Collin's Drama „Regulus" 1802, wo ein Sohn den Vater mit Gewalt davon zurückhalten will, sich fürs Vaterland zu opfern). Dann aber folgt im Zeitraum von 6 Jahren eine Gruppe von vier Dramen, die ein und dasselbe Thema behandeln: Empörung des Sohnes gegen den Vater, als dieser die Geliebte des Sohnes angreift bzw. tötet, — mit Ausnahme des Vaters im ersten Drama, um eine Mesalliance unmöglich zu machen; der Ausgang der Dramen dagegen ist verschieden, von Drama zu Drama wird der Konflikt zwischen Vater und Sohn tiefer und unversöhnlicher. Zuerst erschien im Jahre 1778 „Der Sturm von Boxberg. Ein pfälzisches Nationalschauspiel von J a k o b Maier", ein jeder dichterischen Form ermangelndes Provinzmachwerk, wo im letzten (III.) Akt der junge Rosenberg mit dem Schwert in der Hand das ihm verlobte Mädchen Marie gegen seines Vaters Schergen verteidigt; schon zieht auch dieser das Schwert gegen den Sohn, als des Mädchens erster Verlobter ihn gefangennimmt; daß der Sohn aber trotzdem den Vater liebt, beweist er dadurch, daß er auf Marie verzichtet, um seinen Vater aus der Haft des Verlobten zu befreien.
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Ebenfalls noch gedämpft bleibt der Vater—Sohn-Konflikt im nächsten Drama, einer „Agnes Bernauerin" (1780), dem zweiten und letzten Drama J o s e p h A u g u s t v o n T ö r r i n g s . Das Stück, das die bekannte Episode aus der bayerischen Geschichte behandelt, ist in der Charakterzeichnung uneinheitlich: in den beiden ersten Akten ist der Sohn Albrecht strahlender Liebhaber und Herzog Ernst der tyrannisch grausame Vater. Seit der Mitte des 3. Akts beginnt aber der Sohn seinen Trotz zu bereuen und unterwirft sich am Schluß des Dramas dem ihn an seine Regierungspflichten mahnenden Vater; zu offener Opposition gegen den Vater läßt Törring seinen Helden nicht kommen, auch wenn dieser noch im 3. Akt den Vater als hochmütig, undankbar und gefühllos bezeichnet und ihm im 5. (Szene 8) an der Leiche der Bernauerin wütend mit der Hand am Schwert entgegenruft: „Zum Spotte kommst du, Tyrann?" Da aber Törring — im Gegensatz zu Hebbel — die ganze Schuld am Mord einem bösen Ratgeber in die Schuhe schiebt (wie nach ihm noch A. Böttger 1845, M. Meyer 1862 und Martin Greif 1893 in ihren Agnesdramen), steht der Vater vollkommen entlastet da. Zweifellos von der „Bernauerin" beeinflußt ist das Drama „Ignez de Castro" (1784) von J u l i u s F r e i h e r r n v o n S o d e n , obwohl der Dichter in der Vorrede zur 2. Auflage es bestreitet: Der König von Portugal, durch falsche Ratgeber überredet, hat die Mesalliance seines Sohnes Pedro durch Ermordung von dessen Frau zerrissen; gewaltsam, halbwahnsinnig (V, 6: „Ich suche Blut, B l u t ! . . . ich will Rache!"), stürzt Pedro in des Königs Zimmer, Rechenschaft fordernd (ebd. p. 111): „Ist das mein Vater, der ein unschuldiges Weib hinter ihrem Manne ermorden läßt? H a ! Warum griff man sie nicht an, als ich gegenwärtig war ? Warum ? Nicht mehr mein Vater! Ich will mir einen andern Vater suchen; sey er auch ein Bettler, wenn er nur ein Mensch ist." Für kurze Zeit scheint es, als habe die Mutter seinen Rachedurst besänftigt (V, 6 „Ich will kein Vatermörder werden"), als aber der Vater an den Sarg der schönen Ignez tritt, greift er, wie Törrings Albrecht, ans Schwert und ruft (V, 9, p. 116/7): „Ich will nicht ruhen! Ich will morden, aber Männer und als Mann, nicht als M e u c h e l m ö r d e r . — K ö n i g : Pedro! — D o n P e d r o : Ihr! Ihr! O der abscheulichen T h a t ! . . . Fluch Euch und eurem ganzen Reich! Heraus aus diesem Herzen Vater-Landslieb!... Rache! Rache! Rache, wild, wie die Woogen des wütlienden Meeres, rastlos wie die Zeit und verheerend wie ein Orkan!" Und unter Verwünschungen und Racherufen verläßt er mit seinen Kindern den Palast des reuigen Vaters, ohne daß man erfährt, ob und wann er diese Rache ausführt.
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Das vierte dieser verwandten Dramen endlich ist S c h i l l e r s „Kabale und Liebe" (1782/4), das mit den übrigen drei besonders das Motiv der Bedrohung des Vaters mit dem Schwert gemeinsam hat: im „Sturm von Boxberg" (III, 10, p. 71) ruft der Vater dem Sohn entgegen: „mit dem Schwerd in der Hand gegen deinen Vatter ? Alle Höllenflüche über den Tag, an dem ich dichs führen lehrte". Ähnlich bei Törring (V 8. Albrecht „fährt mit der Hand an den Platz des Schwertes"), Soden und Schiller (II, 6. Ferdinand „indem er den Degen nach dem Präsidenten zückt, den er aber schnell wieder sinken läßt"; vgl. „Don Carlos" V, 4, 415: „Das Schwert gezückt auf deinen Vater?"). Bei Schiller ist der Vater—Sohn-Konflikt nicht mehr ausschließlich auf der Liebeshandl u n g basiert, Sohn und Vater stoßen vielmehr vom ersten Akt an aus Charaktergegensätzlichkeit zusammen, da die intrigante Skrupellosigkeit des Vaters den geraden Sinn des Sohnes zum Protest herausfordert (I, 7): P r ä s i d e n t : Du empfängst dein Glück von der zweiten Hand — das Verbrechen klebt nicht am Erbe. F e r d i n a n d (streckt die rechte Hand zum Himmel): Feierlich entsag' ich hier einem Erbe, das mich nur an einen abscheulichen Vater erinnert. P r ä s i d e n t : Höre, junger Mensch, bringe mich nicht a u f ! . . . Würdest du zu dem S c h u r k e n V a t e r nicht S o h n sein wollen? F e r d i n a n d : Nein! So wahr Gott lebt! P r ä s i d e n t : Eine Frechheit, bei meiner Ehre! die ich ihrer Seltenheit wegen vergebe — F e r d i n a n d : Ich bitte Sie, Vater! Lassen Sie mich nicht länger in einer Vermutung, wo es mir unerträglich wird, mich Ihren Sohn zu nennen! . . . Meine E h r e , Vater! — wenn Sie mir diese nehmen, so war es ein leichtfertiges Schelmenstück, mir das Leben zu geben, und ich muß den V a t e r wie den K u p p l e r verfluchen. — So ist hier das Vorgehen des Präsidenten gegen des Sohnes Geliebte nur der letzte Anlaß zur vollkommenen Trennung vom Vater (II, 6): „Der Schuldbrief der kindlichen Pflicht liegt zerrissen da —" Wir stehen vor einem veränderten Schiller. Was in den „Räubern" noch als Gipfel der Schurkenhaftigkeit Franz Moors erschienen war, wird jetzt durch die idealisierten Personen eines Ferdinand und Don Carlos gedeckt. Was war geschehen? Am 22. 9. 1782 war Schiller aus Stuttgart geflohen, und es mag Wahres in der Behauptung Ranks (IM p. 51 Anm. 38) stecken, daß diese Flucht als eine „gewaltsame Lösung vom Elternkomplex", jedenfalls „mehr als eine Loslösung von Vater und Familie, 3
Waia I.
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als vom Zwang der herzoglichen Schule" (IM 99) aufzufassen ist. Wenn Rank (IM 97/9) aber auch Schillers Haß gegen den Herzog von Württemberg und die zahlreichen Tyrannen und Gewaltherrscher seiner Dramen bis zu Geßler als „Ersetzungen" auf seinen überstarken Vaterhaß zurückführen möchte und wenn er zusammenfassend erklärt (p. 97): „als tiefste Wurzel und treibende Kraft von Schillers dramatischem Schaffen erkennen w i r . . . die Auflehnung gegen den Vater und den eifersüchtigen, aus der Liebe zur Mutter stammenden Haß gegen i h n " . . . so stehen wir wieder denselben maßlosen Übertreibungen gegenüber, die nur in einer förmlichen Besessenheit durch den „Ödipuskomplex" ihre Erklärung finden. Wir möchten uns dagegen gerade im Falle Schillers vor der für den Psychologen unüberwindlichen Versuchung hüten, den Dichter an Stelle des Menschen zu vernachlässigen. Es interessiert uns hier wie anderorts das Vater—Sohn-Problem in der D i c h t u n g eines Schriftstellers mehr als in seinem Leben, und Schillers Vater hat unbewußt den richtigen Weg gezeigt, indem er den Thalia-„Carlos" und „Kabale und Liebe" in enthusiastischen Briefen an den Sohn pries, ohne sich über eventuelle Erlebnisgrundlagen seines Sohnes für diesen zweimaligen Vater—Sohn-Konflikt den Kopf zu zerbrechen. Etwa nach Vollendung von „Kabale und Liebe", jedenfalls nicht vor 1784, notierte sich Schiller mehrere recht verschiedene Entwürfe zu einem Drama „ D i e B r a u t in T r a u e r oder z w e i t e r T e i l der R ä u b e r " , das ihn bis an seinen Tod beschäftigte und aus dem vielleicht Einzelnes in die „Braut von Messina" übergegangen ist. Auch hier sollte ein Vater—Sohn-Konflikt im Mittelpunkt stehen: Karl Moor (Graf Julian) ist ein recht selbstzufriedener Vater geworden, der durch seine Härte gegen das sich liebende Geschwisterpaar (wobei, wie Rank IM 457 überzeugend nachwies, Schillers auffallend enge Bindung an seine Schwester Christophine mitspielen mochte) das Unheil heraufbeschwört; in den Entwürfen sagt Schiller von ihm „Der Vater ist streng und wird gefürchtet", wogegen sein 19jähriger Sohn so skizziert wird: „Xaver ist ein leidenschaftlicher und unregiersamer Jüngling, der von seinem Vater kurz gehalten und ihm deswegen aufsätzig wird. Er geht seinen Weg allein, ohne alle kindliche Neigung; nur Furcht fühlt er vor seinem Vater. Er liebt die Jagd und ist ein wilder, trotziger Weidmann. Niemand ist imstand, dies wilde Gemüt zu bändigen, als Mathilda, seine Schwester." Dies Gemälde ähnelt verlockend einem idealen Selbstporträt des jungen Schiller. Um Xaver gegen seinen Vater zu empören, sollte ihm dann noch aus unbekannten Gründen der Geist des alten Moor erscheinen: „der Geist hetzt ihn an, er hat eine Furcht und einen gewissen Widerwillen gegen den Vater, der ihm streng ist.
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Ein Parricida muß begangen werden; fragt sich, von welcher A r t . Vater tötet den Sohn oder die Tochter. Bruder liebt und tötet die Schwester, Vater tötet ihn. Vater liebt die Braut des Sohns. Bruder tötet den Bräutigam der Schwester. Sohn verrät oder tötet den V a t e r . " Welche Entscheidung Schiller auch schließlich getroffen hätte, — sicher bleibt, daß er einen Konflikt zwischen Vater und Sohn in den Mittelpunkt stellen wollte. Auf die Bedeutung des „ D o n C a r l o s " im allgemeinen, der 1785 als „ D o m K a r l o s " fragmentarisch im Märzheft der „Rheinischen T h a l i a " erschien und 1787 in der endgültigen Fassung vorlag, für unser Problem haben wir bereits hingewiesen. Bleibt noch das Verhältnis der beiden Fassungen von 1785 und 1787 in Bezug auf den Vater—Sohn-Konflikt zu untersuchen. I m Entwurf und in der Thalia-Fassung ist der Konflikt, noch ganz im Sinne von „ K a b a l e " , als reiner Familienzwist gedacht und noch nicht — wie in der endgültigen Fassung — als weltanschaulicher Ideenkonflikt motiviert, erweitert und dadurch verschärft. Es ist begreiflich, daß die Psychoanalyse den größten Akzent auf die erste Fassung legt, sie zum Mittelpunkt ihrer Beweisführung macht (vgl. Rank I M p. 77ff.); dennoch möchten wir lieber, statt „ v o m ersten Entwurf bis zur letzten Fassung eine allmähliche Abschwächung und Verhüllung gewisser primitiver Regungen" ( I M 79), also einen zensurierenden „Verdrängungsschub" des M e n s c h e n Schiller zu konstatieren, an ein allmähliches Sich-Entfernen und Abrücken des reifenden D i c h t e r s Schiller von seinem ihm ursprünglich vorliegenden Gewährsmann, dem ausschließlich am Familienskandal des spanischen Königshauses interessierten Chronisten Saint Real glauben. Die K l u f t zwischen Vater und Sohn war noch nie grandioser und furchtbarer in Worte gefaßt worden als hier, und zwar steht hier die ThaliaFassung der endgültigen keineswegs nach (Dom Karlos I, 2): K a r l o s : Meines Vaters? Unglücklicher, warum an den mich mahnen? Sprich mir von allen Schrecken des Gewissens, Von meinem Vater sprich mir nicht! Unheilbar Auf ewig sprangen zwischen mir und ihm Die demantstarken Bande der Natur. M a r q u i s : Sie hassen Ihren Vater? K a r l o s : Nein! O G o t t ! Ich hasse meinen Vater nicht, doch Schauder (Kann i c h dafür?) und Höllenangst ergreifen Bei den zwo fürchterlichen Silben mich, Als hört' ich alle Sünden meines Lebens 3*
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Am Tag des Weltgerichts herunterlesen. Kann ich dafür, wenn eine viehische Erziehung schon in meinem jungen Herzen Der Kindesliebe zarten Keim zertrat ? Mein V a t e r , sagst du ? Recht! mit diesem Namen Erschreckten meine Ammen mich, das war Von allen Künsten ihrer Kinderzucht Die wirksamste, wenn alle Rutenstreiche An mir verloren waren... Und der Aufschrei Carlos' in der entsprechenden Szene der endgültigen Fassung (I, 2): . . . —warum von tausend Vätern Just eben diesen Vater mir? Und ihm Just d i e s e n Sohn von tausend bessern Söhnen ? Zwei unerträglichere Gegenteile Fand die Natur in ihrem Umkreis nicht. Wie mochte sie die beiden letzten Enden Des menschlichen Geschlechtes — mich und ihn — Durch ein so heilig Band zusammenzwingen ? Furchtbares Los! Warum mußt'es geschehn? Warum zwei Menschen, die sich ewig meiden, In e i n e m Wunsche schrecklich sich begegnen? Hier, Roderich, siehst du zwei feindliche Gestirne, die im ganzen Lauf der Zeiten Ein einzig Mal in scheitelrechter Bahn Zerschmetternd sich berühren, dann auf immer Und ewig auseinander fliehn. Mit dem Abschluß des „Don Carlos" (1787), der bald darauf folgenden Verlobung Schiller's, seiner längeren Schaffenspause und seinem Vaterwerden (1793) hat nicht nur die Jugendperiode des Dichters ihren Abschluß erreicht, sondern auch seine Behandlung des Vater—Sohn-Problems. Rank (IM p. 106) möchte darin nur einen vorläufigen Abschluß sehen und sucht auch bei den späteren Dramen (p. 115ff.) Ödipuskomplexe heraus- bzw. hineinzuinterpretieren, bleibt aber im rein Psychoanalytischen stecken: literarhistorischen Wert haben diese Versuche kaum. Wenn in dem 1799 vollendeten „ W a l l e n s t e i n " Max Piccolomini nicht den Weg seines — übrigens nicht unsympathisch gezeichneten — Vaters geht (Wallensteins Tod II, 7; vgl. auch Kossows breite Analyse dieses Gegensatzes, p. 77—80), so liegen die Gründe dazu nicht in irgendwelchem persönlichen Haß, überhaupt nicht in ihnen selbst — als „Vater"
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und „ S o h n " — sondern einzig in ihrer verschiedenen Haltung Wallenstein gegenüber; und wenn im 1. (nur im ersten!) Entwurf eines Kriminaldramas „ D i e K i n d e r d e s H a u s e s " (ca. 1799/1800) ein hochgeachteter Bürger seinen Bruder hat vergiften lassen und den Mordverdacht mit teuflischem Geschick auf dessen Sohn lenkt („Alles muß zusammenkommen, den Vatermord evident zu machen"), so hat auch dies mit Vater—Sohn-Problem nicht das Geringste mehr zu tun. Was G o e t h e anbetrifft, so sahen wir ihn bereits bei Besprechung der Wertherzeit vollkommen uninteressiert in der Darstellung des Vater— Sohn-Problems (so auch im „Wilhelm Meister"; die dort vorkommenden, recht farblosen Vaterportraits hat Winterholer a. a. O. p. 25 f. p. 96 f. im einzelnen charakterisiert); dies ändert sich auch beim alten Goethe nicht, 1 ) denn der unreife Besitzneid Ferdinands in den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter" (1795) auf seinen Vater (von Rank IM p. 477 als fast einziger Beleg für „Goethes Vaterkomplex" angeführt) ist vom Erzähler Goethe so flüchtig und farblos gestreift, daß irgend eine persönliche Anteilnahme des Dichters vollkommen unwahrscheinlich ist. Und von den harmlosen gleichzeitigen Liebesabenteuern, die Vater und Sohn in der Novelle „Der Mann von fünfzig Jahren" (1807—26) zusammen erleben, gilt dasselbe; eher noch könnte man auf das zeitweilig gespannte Verhältnis des nörgelnden Vaters und des leicht beleidigten Sohnes in „Hermann und Dorothea" hinweisen. Dieselbe Wandlung, die Schiller durchmachte, sobald er unter den Einfluß der revolutionären Ideen seiner Zeit kam („Kabale" soll bekanntlich im Arrest auf der Stuttgarter Stadtwache konzipiert worden sein!) — machte, wenn auch weniger stark, der Dichter F r i e d r i c h M a x i m i l i a n K l i n g e r mit, dessen Vaterauffassung in den 70er Jahren wir bereits betrachteten. Schon in einem Lustspiel des Jahres 1783, dem „Schwur gegen die Ehe", behandelte er, nachdem er sein bisheriges Lieblingsthema, den Bruderzwist, 1780 in den „Falschen Spielern" verabschiedet hatte, dasselbe Thema der Rivalität von Vater und Sohn in Liebesangelegenheiten, das auch in G o e t h e s letztgenannter Novelle und K o t z e b u e s Lustspiel „Die beiden Klingsberg" (wo der Sohn den Vater aussticht) ') Eine seltsame Sonderstellung nimmt ein Gedicht des älteren Goethe ein, das — erst 1914 zusammen mit den bis dahin sekretierten Gedichten gedruckt — die rätselhafte Überschrift „Asla" trägt (Weimarer Ausgabe I . A b t . , 53. Bd. p. 29); hier bekennt eine Tochter (ein Sohn'?) der Mutter den befreienden, zugleich schrecklichen und heiligen Entschluß, die beengende, umstrickende „Kindesliebe von mir abzustreifen": denn ein neues, „ein drittes Wesen", sei in ihre (bezw. seine) Existenz eingetreten, „Um das ich euch — dich und den Vater — hassen, Euch fluchen könnt', und euch im Tod verlassen."
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seine Darstellung fand. Klinger macht seine Sache recht gut: der Vater macht eine unwürdige Schöne dem Sohne abspenstig und will sie heiraten, obwohl ihn der Sohn mit dem ausgesuchtesten Hohn davon zurückzuhalten versucht (IV, 1): „Sollen diese grauen Haare noch von demKummer zerbrochen werden ? Soll diese durch Falten derWeisheit würdige S t i r n e . . . " Und als der Vater erklärt, er bringe sich zum Opfer, auf daß nicht der Sohn der Verführerin anheimfalle, erwidert dieser: „Freilich kann nur ein recht zärtlicher Vater dem Sohne ein Weib wegschnappen, das der junge, feurige Mann mit aller Leidenschaft seines Alters liebt." Schließlich ist es der Sohn, der den Vater im letzten Moment noch vor den Krallen des gefährlichen Weibsteufels rettet, ebenso wie später in H e r m a n n S u d e r m a n n s Schauspiel „Die Raschhoffs" (1919) ein Vater vor einer auch ihm selbst gefährlichen Frau erst den Sohn, dann sich selbst rettet. Einen tragischen Vater—Sohn-Konflikt, bei dem aber noch alles Licht dem Vater gilt, stellte Klinger dann 1788 in seinem Trauerspiel „ D a m o k l e s " dar, wo der aus der Fremde nach Rhodos heimkehrende Damokles seinen Sohn Kallias als Söldner im Dienst eines neuerstandenen Stadtty rannen vorfindet; in einem (allzu) langen Dialog (I.Akt) sucht derVaterden Sohn für die Sache der Freiheit zu gewinnen, doch bleibt trotz schweren inneren Kampfes dieser demTyrannen treu, da er dessen Tochter liebt. Daraufhin kennt Damokles keinen Kompromiß: als ihn der Tyrann durch Hinweis auf seinen Sohn zu besänftigen sucht, erklärt er schroff „Ich habe keinen Sohn" (2. Akt). Das Stück endet tragisch (vgl. auch J. v o n A u f f e n b e r g s ähnliche Tragödie „Der Schwur des Richters"). Anders sind die Väter der beiden nun folgenden Tragödien „ R o d e r i c o " und „ O r i a n t e s " geschildert: beide verfolgen ihre rebellischen Söhne mit blindem Haß, in beiden Tragödien steht der Vater—Sohn-Konflikt im M i t t e l p u n k t (was in „Damokles" noch nicht der Fall gewesen war), für beide liegen auch Stoffe der russischen Geschichte vor, für den „Roderico", wo eigentlich ein Sohn—Mutter-Konflikt stehen müßte, die Geschichte der Kaiserin Katherina, für den Anfang 1789 geschriebenen, 1790 anonym veröffentlichten „Oriantes" der Konflikt zwischen Peter und Alexej, den er bis auf wörtliche Entleihungen (vgl. M. Rieger „Fried. M. Klinger. Sein Leben und seine Werke" Darmstadt 1896, II 154) Voltaires „Histoire de l'empire de Russie sous Pierre le Grand" entnahm. Dies letztere Drama ist deshalb besonders interessant, da es den Versuch darstellt, den Vater—Sohn-Konflikt in einen weltanschaulich-politischen Zusammenhang hineinzustellen, wie Schiller es im „Don Carlos" tat; doch krankt Klingers Drama an der Verbindung derTendenz (Freiheit gegen Gewaltherrschaft) mit dem historischen Stoff: in der Geschichte war tatsächlich die Sache der freiheitlichen Zukunft mit P e t e r , Alexej
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ein Schwächling, bestenfalls ein Reaktionär. Es ist der in der Geschichte des Generationskampfs so seltene Fall, daß der Vater s c h o n auf der Seite des Neuen steht, der Sohn noch auf der des Alten, der diesen Stoff für den Dichter eines Revolutionszeitalters unbrauchbar und verwirrend macht; Schiller hatte in der Wahl des „Carlos"-Stoffes einen besseren Griff bewiesen. — Der durch schlechte Ratgeber in seinen Handlungen moralisch etwas entlastete Vater läßt seinen edlen Sohn Oriantes „in dem ich von der ersten Entwicklung seines Geistes einen Feind aufwachsen sah" (I. Akt p. 27/8), als Verschwörer gefangennehmen. Und da er mehr König als Vater ist — die Worte Peters bei Voltaire! — so bedeutet für ihn die Auflehnung des Sohns gegen die Monarchie auch Auflehnung gegen die väterliche Autorität, n i c h t aber seltsamerweise für den S o h n , der, wie er sagt, seinen Vater nicht als V a t e r hasse; Louis Brun („UOriantes de F. M. Klinger" Paris 1914 „Germanica"; p.21) wies auf dies psychologisch etwas unwahrscheinliche Detail hin, "comment il est possible de concilier ses sentiments de solidarité familiale et sa révolte contre l'autorité du roi, son père. Oriantes met lui-même tous ses soins â bien établir la distinction fondamentale qui écarte toute hypothèse de contradiction : il ne s'insurge que contre le tyran et déplore cruellement l'inexistence du père ; ou, si l'on veut, sa révolte ne lui apparaît point contre nature, parce qu'il tient son père pour dénaturé." In Wirklichkeit gilt aber das trotzige Empörertum des Oriantes dem eifersüchtigen Greisentuni des V a t e r s nicht weniger als dem des K ö n i g s (II; p. 5G): „Richter! Vater! Deine Haare sind grau, die Bürde des Alters drückt Dich! Nah ist Dir der Tod, näher die Furcht. Ich bin jung, stark und voll kühnen L e b e n s . . . Meine Regierung würde der Aufgang der jungen Sonne seyn, wo alle Kräfte frisch aufblühten! Lösche diese Flamme aus, die Deinen Namen zu Asche brennen möchte —". Der aber bricht den Stab über ihn (II; p. 53/4): „Hier steh' ich, nicht mehr Dein Vater, Dir ein furchtbarer Richter, als wenn ich fremdes Blut verdammen müßte. Empörer gegen den Vater! Empörer gegen den Staat, Empörer gegen den König, an den Natur und Pflicht Dich binden sollten — ich laß Dich fallen — fallen! — " Vor der Hinrichtung tötet sich Oriantes selbst — im Gegensatz zu der ungewissen Todesart des historischen Alexej. In der Folgezeit spielt der Vater—Sohn-Konflikt in der deutschen Literatur keine bedeutende Rolle, auch nicht in T h e o d o r K ö r n e r s Leben und Werk so stark, wie Rank (IM 579f.) es behauptet. Daß Körner ohne vorherige Anfrage bei seinem so verständnisvollen Vater sich verlobte und sich dem Lützower Freikorps anschloß, hat dieser zwar
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bedauert, aber ihm keineswegs übelgenommen. Da Körner in seiner Dichtung nicht Romantiker, sondern Schillerepigone war, gleichzeitig auch revolutionäre Tendenzen gegen den sächsischen Landesfürsten manifestierte, so wäre immerhin der Vater—Sohn-Konflikt bei ihm verständlich. Tatsächlich findet sich aber nur in seinen beiden ersten Dramen „Die Braut" und „Rosamunde" Rivalität zwischen Vater und Sohn um dieselbe Frau. Doch wird dies Motiv keineswegs dramatisch herausgearbeitet (in der „Braut" kennen sich Vater und Sohn überhaupt nicht). Dem kalten und lieblosen Vater, der seiner Ministerstellung wegen einen unehelichen Sohn ignoriert und seinen ehelichen Sohn nach dem Prinzip „Ich bin ein Feind von überzärtlicher Sentimentalität zwischen Eltern und Kindern" (II, 4) erzieht, bereitet L u d w i g R o b e r t (1778—1832) in dem Trauerspiel „Die Macht der Verhältnisse" (1819) ein schreckliches Strafgericht; als der Vater indirekt den Tod des einen Sohnes, direkt den des andern verschuldet hat, ruft er verzweifelt aus (V, 4): „es ist kein kleines Verbrechen, die Gesetze der Natur zu verleugnen. Und ob Tausende u m uns her dasselbe thun, es ungestraft thun, die Sünde wird darum nicht kleiner — Einen wählt sich die rächende Gerechtigkeit endlich zum warnenden Beispiel für Alle! Und der Eine bin ich! — O, daß mich alle Väter jetzt seh'n, daß ich allen Vätern zurufen könnte: E s giebt kein unrechtmäßiges Kind! Verleugnet, verstoßt euer Blut nicht! — Ich that es, und der Bruder mordete den Bruder, der Vater den Sohn — "
Nicht weniger moralisierend hatte auch der englische Dramatiker T h o m a s H o l c r o f t (1745—1809) in „The Deserted Daughter" den lieblosen Mordent, der die Vaterschaft an seiner unehelichen Tochter verleugnete, bestraft: doch schmilzt das Vaterherz schließlich noch, die Tochter wird anerkannt, der Vater ein braver Mensch. Überhaupt zeigt uns ein kurzer Blick in das gleichzeitige England, daß auch dort gewisse Emanzipationsbestrebungen im Gang waren. Da zeichnete die junge J a n e A u s t e n (1775—1817) recht respektlose Karikaturen von Familienvätern, und der Bekämpfer des Elterntums, Samuel Butler, konnte in seiner extrem pointierten Art von dieser Zeit sagen („Way of All Flesh" 1924, p. 21): It must be remembered that at the beginning of the nineteenth century the relations between parents and children were still far from satisfactory. The violent t y p e of father, as described b y Fielding, Richardson, Smollett and Sheridan, is now h a r d l y . . likely to find a place in l i t e r a t u r e . . . but the type was much too persistent not t o have been drawn from nature closely. The parents in Miss Austen's novels are less like savage wild beast than those of her predecessors, but she evidently looks upon them with suspicion, and an uneasy feeling that le père de famille est capable de tout makes itself sufficiently apparent throughout t h e greater part of her writings. Von außerdeutschen Dichtern spielt der Vater—Sohn-Konflikt die größte Rolle bei P e r c y B y s s h e S h e l l e y (1792—1822), dem letzten und edelsten Sohn der französischen Revolution, dem Kämpfer gegen patriarchalische Autorität jeder Art. Mag sein, daß dieser Kampf seinen Anfang n i m m t im Familienzwist Shelleys m i t
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seinem Vater (vgl. Jones „Problem des Hamlet" p. 39), den der Dichter sein ganzes Leben haßte; schon als Knabe soll ihm ein Fluch auf König und Vater geläufig gewesen sein und mit 17 Jahren schrieb er einen Schauerroman „Zastrozzi" (1809), worin ein Sohn als Rächer seinen Vater ersticht; auch nahm Shelley die Partei der 16jährigen Harriet Westbrook gegen ihren Vater, der das Mädchen nicht aus der Schule nehmen wollte; der wegen einer atheistischen Streitschrift aus Oxford relegierte 19jährige entführte sie 1811 ihrem Vater, heiratete sie und überwarf sich dadurch endgültig mit seinem Vater, den er in einer Versepistel an Edward F. Graham als abschreckenden Tyrannen schildert. 1819 entlud sich dann dieser Vaterhaß Shelleys in dem Drama „The Cenci", der Dramatisierung eines historischen Vatermordes der Renaissance (1599), den auch S t e n d h a l in einer Novelle darstellte1): die edle Beatrice, die mit Beihilfe ihres Bruders Giacomo ihren Vater ermorden läßt, ist die Heldin; aber auch Giacomo, der mit der Schwester das Schaffott besteigt, bekennt sich offen als Feind seines Vaters, als dieser ihn um sein Vermögen betrogen hat (III, 1): "We Are now no more, as once, parent and child, But man to man; the oppressor to the oppressed; The slanderer to the slandered; foe to foe." Während er aber von Gewissensbissen ("That word parricide, Although I am resolved, haunts me like fear" I I I , 1) und von Furcht, sein eigener Sohn möchte ihm einst ein ähnliches Schicksal bereiten ( I I I , 2), heimgesucht wird, fühlt sich seine Schwester im Recht, von Anfang an, wo sie vor allen Gästen den Vater seiner Quälereien halber laut anklagt ("tyranny and impious hate Stand sheltered by a father's hoary hair" I, 3), bis zum Schluß, wo sie nicht als Angeklagte, sondern als Anklagende vor die Richter tritt: der Vater habe ihre Jugend vergiftet, darum habe Haß gegen ihn ihr einziges Gebet sein können. Dies Drama hat für unser Thema schwerwiegende Bedeutung, da sich in ihm zum erstenmal in nuce die Gleichsetzung und gemeinsame Ablehnung des Familienvaters, des „Heiligen Vaters" (Papst) und Gott Vaters findet, wie sie ähnlich später Franz Werfel in seinem Vater—Sohn-Roman deutlicher proklamierte; der Atheist und prinzipielle Autoritätsbekämpfer Shelley spricht aus dieser Ablehnung der patriarchalischen Idee, wiewohl er in der Vorrede ausdrücklich versichert, er verfolge mit diesem Drama keine Tendenz. In der prinzipiellen Identifizierung des Vaters mit dem „Heiligen Vater" tritt zuerst der Priesterhasser Shelley hervor: er läßt den Kardinal Camillo, der "in the great war between the old and young" ( I I , 2) sich neutral hält, die prinzipielle Stellungnahme des Papstes für den — wenn auch unmenschlichen — Vater so erklären: He holds it of most dangerous example In aught to weaken the paternal power, Being, as 'twere, the shadow of his own. Aus demselben Grunde lehnt dann auch nach Ermordung des Alten der Papst die Bitte um Begnadigung der Mörder ab mit den Worten (V, 4): 1 ) Gleichzeitig behandelte ein guter Bekannter Shelleys vom Sommer 1816 einen Vatennord in Form eines Romans: W i l l i a m P o l i d o r i , der Leibarzt Byrons, der mit dem „Cain"-Dichter die Villa Diodati am Genfer See bewohnte, schrieb kurz vor seinem Tode seinen „Ernestus Berchtold, or The Modern Oedipus" (London 1820).
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V. ROMANTIK: PIETÄTVOLLER ELTERNKULT Parricide grows so rife That soon, for some just cause no doubt, the young Will strangle us all, dozing in our chairs. Authority, and power, and hoary hair Are grown crimes capital.
Der Atheist Shelley dagegen erscheint in der Gleichsetzung von Vater und GottVater, die der alte Cenci selbst vollzieht, der sich mit Gottvater auf gutem Fuße stehen fühlt, da ja auch Gott zur „Vater"-Partei gehöre (IV, 1 ) . . . With what but with a father's curse doth God Panic-strike armèd victory, and make pale, Cities in their prosperity? the world's Father Must grant a parent's prayer against his child. . . Noch ein Jahr vor seinem Tode behandelte Shelley das Motiv abermals in der Ballade „The Fugitives" (1821), wo ein Vater dem zu Schiff im Sturm entfliehenden Liebespaare „curses as wild As e'er clung to child" nachsendet. On the topmost watch-turret, As a death-boding spirit, Stands the gray tyrant father, To his voice the mad weather Seems tame
V. ROMANTIK : PIETÄTVOLLER E L T E R N K U L T „Die Romantik kann nicht vergessen, sie kann keine Hand loslassen, keinen Abschied nehmen, sie kann ihr Herz nicht losreißen, sie hängt an allem, auch wenn es gegangen, sie hängt ihm nach mit Blickcn der Sehnsucht, sie lebt von seligen Erinnerungen, pflanzt Blumen auf Gräber, schlingt Efeu um die Ruinen, sie schaut das Ideal in der Vergangenheit, sie ist mit ganzer Seele rückwärts gewendet und Nietzsche vorwärts." Beziehen wir diese Charakterisierung der Romantik durch Karl Joël („Nietzsche lind die Romantik" p. 58/59) auf unser Thema, so werden wir schließen, daß — wie in der Wertherzeit — die Söhne der Romantik ihren Vätern gegenüber eine zärtliche Haltung einnahmen, daß sie die „Andacht" vor allem Alten, die eines der charakteristischen Merkmale der Romantik ist, auch auf sie ausdehnten. Dagegen verschlägt der Einwand nicht, die Romantik sei ja eine junge, also revolutionäre Bewegung gewesen (vgl. Carl Schmitt-Dorotic „Politische Romantik''1 München-Leipzig 1919, p. 153: „Die Romantik hatte als Jugendbewegung begonnen") und wo Revolution sei, sei auch Pietätlosigkeit. Wenn es nun auch nicht zu leugnen ist, daß die Romantiker sich gegen die vorausgehende aufklärerisch-glaubenslose Periode von 1789 wandten, so muß festgehalten werden, daß sie eben aus Reaktion gegen diese pietätlose Periode pietätvoll zu sein sich bemühten. Das „Revo-
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lutionäre" an ihnen war, daß sie im Gegensatz zur Revolution von 1789 konservativ waren, wie ja auch ein deutscher Romantiker von dem englischen Traditionalisten E d m u n d B u r k e sagen konnte, er habe ein revolutionäres Buch gegen die Revolution geschrieben (vgl. Hugo Bieber „Der Kampf um die Tradition" etc. Stuttgart 1928, p. 87). W i r werden, im zweiten Teil dieser Abhandlung bei Besprechung der Neuromantik noch einmal derselben scheinbar widernatürlichen Umkehrung aller Generationsgesetze begegnen, wo der Sohn Pietät und Elternkult predigt, während der noch aus einer pietätlos-revolutionären Zeit stammende Vater für Pietätlosigkeit eintreten müßte. Was die Romantik als eine „Jugendbewegung" anbetrifft, so lehrt ein Vergleich mit der Nachkriegs-Jugendbewegung unserer Gegenwart, daß diese vollkommen „umgekehrte Absichten" (Benno vonWiese „FriedrichSchlegel" Berlin 1927 in Jaspers' „Philos. Forschgn." VI, p. 90) verfolgt, vor allem betreffs des heutigen „Bruchs mit der Tradition, Tendenzen, die in das geschichtliche Bild der Frühromantik nicht hineingehören" (ebd.). Eine Sonderstellung nimmt allerdings N o v a l i s ein, der in seiner eigentlichen romantischen Periode unter dem Einfluß Burkes zum Vorkämpfer der Religion und des Autoritätsstaats sowie zum schroffen Bekämpfer der französischen Revolution wurde, der aber in seiner „frühen, sichtlich antihistorischen Z e i t " (Rieh. Samuel „Die poetische Staatsund Gesellschaftsauffassung Friedr. v. Hardenbergs. Stadien z. romant. Geschichtsphilosophie" Frankfurt a. M. 1925: „Deutsche Forschungen" 12. p. 36) genau das Gegenteil dieser Weltanschauung vertreten hatte; nur in dieser frühesten, noch unromantischen Periode hören wir von Gegensätzen zwischen ihm und seinem so ganz anders gearteten Vater. „ I n der französischen Revolution verkörperte sich für Novalis sein eigener Konflikt mit der Autorität des Vaters in der Weltgeschichte. Die Zustimmung zur Revolution läßt sich nur aus Analogien mit persönlichen Auseinandersetzungen des jungen Hardenbergischen Geschlechts mit der alten Generation ausführlich beweisen, wobei es, wie die „Nachlese" betont, auch auf politischem Gebiet zu schweren Meinungskämpfen k a m . " (Ebd. p. 66). Immerhin war die Auseinandersetzung Hardenbergs mit seinem Vater von einem edlen Ernst getragen, für den jener Brief des 19 jährigen an den Vater bezeichnend ist, wo es u. a. heißt: „ D u , lieber Vater, bist die größte und fast einzige Schwierigkeit, die ich zu überwinden h a b e . " . . . Ein charakteristischer Einzelfall soll uns die von der Romantik vollzogene Wandlung der Vaterauffassung klarmachen. 1792 veröffentlichte der bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts beliebte Lustspieldichter J o h a n n F r i e d r i c h J ü n g e r eine echt aufklärerischemanzipierte Komödie „ D i e Entführung": ein Vater will seine Tochter zu einer Heirat zwingen, worauf ihm seine schneidige Nichte erklärt ( I , 2):
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V. R O M A N T I K : P I E T Ä T V O L L E R
ELTERNKULT
„Mir sollte es mein Vater so m a c h e n , . . . ich lief ihm ohne viele Umstände davon . . . Wie Sie sich manchmal a u f f ü h r e n ! Weiß der liebe Gott, wer Sie in unsere Familie hinein geschwärzt h a t ! Mein verstorbener Vater war doch Ihr leiblicher Bruder, aber der war ein ganz anderer Mann, als Sie; in meinem Leben habe ich nicht den geringsten Wortwechsel mit ihm gehabt, und ich war doch schon beinahe fünf Wochen alt, als er starb. S a c h a u : (maß wider Willen lachen). Dummer Schnickschnack! W i l h e l m i n e (ihn parodierend) Onkel, ich sag's Ihnen — treiben Sie mich nicht a u f ' s Äußerste! — Sie haben bisher eine gute Nichte an mir gehabt, aber — " Und in vollem E r n s t verkündet sie die aufklärerische These von den Grenzen elterlicher Autorität (II,. 10): „Ich w e i ß . . , daß ein Kind seinem Vater u n u m schränkten Gehorsam schuldig ist; aber ich glaube auch, d a ß ein Vater seine Gewalt nicht mißbrauchen d a r f . " Und der Vater mag noch so entrüstet schnauben: „Das sind so die schönen neumodischen Grundsätze, die ihr aus Romanen u n d Komödien aufschnappt! Eure Eltern dürfen nur etwas wollen, so schreit ihr gleich über Tyrannei, Eigensinn, Caprice!" — die Sympathie von Dichter und Publikum gilt den Jungen, die den Alten ordentlich prellen.
Doch nicht die Sympathie aller! Als man 1792 das Stück in Halle gab, schrieb am 12. Juni ein blutjunger Zuschauer namens L u d w i g T i e c k (1773—1853) seinem ebenso jungen Freunde W a c k e n r o d e r (1773—98) einen entrüsteten Brief über diese Aufführung, die ihm auch das Spiel seiner Lieblingsschauspielerin in der weiblichen Hauptrolle nicht zu versüßen vermochte: „Die Naseweisheit... der Nichte gegen ihren alten Oheim, das elende Spötteln über die Väter, dies hat ihr Spiel doch nicht verschleiern können." Und nun holt er weit aus zu einer mächtigen Anklage gegen die Pietät losigkeit der älteren Generation: „Schon sind Empfindsamkeit und Liebe gebrandmarkt, diese Kinder des Himmels, welche er nur seinen Lieblingen schenkt, Kindesliebe und Ehrfurcht gegen das Alter gehören in unserm Zeitalter zu den plumpen Vorurteilen, Ehrfurcht für Religiosität ist nur für den Dummkopf — . . . O Schande unserm Zeitalter! Suche im Shakespeare nach, in seinen ausgelassensten Charakteren, allenthalben vergißt er nie, daß Eltern und jeder Alte uns ehrwürdig sein müssen, diese Ausgelassenheit war unserm a u f g e k l ä r t e n Zeitalter aufbehalten, denn uns regiert die Vernunft, wir bedürfen keiner andern Lenkung. — O Fluch der Vernunft, die uns das nimmt, worauf der Mensch allein stolz sein kann, die uns lehrt, daß Dankbarkeit und Liebe gegen Eltern nur Vorurteile sind. — Mag man mich lieber dumm nennen und einfältig, wenn ich nur ein M e n s c h bleibe. Kann man sich etwas Abgeschmackteres denken, als den Einfall: „ich habe mich mit meinem Vater nie gezankt, und doch war ich schon zwei Monate alt, als er starb!" — Wenn dies nicht f a l s c h e r Witz ist, so muß ich noch erst lernen, was w a h r e r sei."
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Daß gerade diese beiden jungen Menschen einen neuen pietätvollen Elternkult propagierten, war um so merkwürdiger, als ihre Väter vollkommen verständnislose Autokraten aufklärerischer Färbung waren, ein Zeichen dafür, wie leicht das private Biographische wiegt gegenüber den Tendenzen des Zeitgeistes. Gleich in seinen ersten Werken gab T i e c k seinen brieflich geäußerten Ansichten dichterische Formung: in seiner Novelle „Die Versöhnung" (1795) schildert er einen ganz von Liebe für seinen Vater erfüllten Sohn; der Vater hat einst unwissend die eigene Gattin getötet, und der Sohn verzeiht ihm nicht nur, sondern erlöst ihn sogar durch ein liebendes Gebet von seinen Gewissensqualen; daß Rank (IM 569) darin natürlich nichts als eine „sentimentale Abschwächung der Rache des Sohnes am Vater" findet, überrascht uns nicht mehr. — Dagegen schlägt in Tiecks erstem großen Roman „William Lovell" (1795/6), dem Roman eines von aufklärerischen Idealen Irregeleiteten, der pietätlose Sohn die Warnung des weisen Vaters vor einer verhängnisvollen Heirat in den Wind und wird durch seinen Ungehorsam nur noch mehr auf den Pfad des Unglücks gelenkt. In seinem nächsten Roman „Franz Sternbalds Wanderungen" (1798) gab er dann beiläufig noch einmal ein Bild idealen Elternkults, zurückverlegt ins 16. Jahrhundert (I. Teil, I, 3): „Die Kinder waren gegen die Alten sehr ehrfurchtsvoll, man fühlte es, wie der Geist einer schönen Eintracht sie alle beherrschte." Und wie er schilderte sein Freund W a c k e n r o d e r das Zusammengehörigkeitsgefühl, das die Kinder mit den Eltern vereinte, als eine der Eigenschaften jener „altdeutschen" Zeit, die die Freunde so verehrten und in die sie alles hineinlegten, was ihnen lieb und wert war: damals sei noch eine revolutionäre Trennung des Sohnes vom Vater undenkbar gewesen, damals — meint Wackenroder in den „Phantasien über die Kunst" (1,1) — „betrachtete man sich immer nur als ein Mitglied und Mitbruder des großen Menschengeschlechts, indem man sein ganzes Geschlechtsregister durchführte, und sich bescheiden seinen gehörigen Platz auf irgend einem Nebenzweige des alten ehrwürdigen Stammbaums anwies, nicht aber sich allein zum Hauptstamme der Welt machte. Die lieblich verschlungene Kette der Verwandtschaft war ein heiliges Band: mehrere Blutsfreunde machten gleichsam ein einziges, geteiltes Leben aus, und ein jeglicher fühlte sich desto reicher an Lebenskraft, in je mehr andern Herzen das gleiche urväterliche Blut schlug."
Wer seine Herkunft vergißt, vergißt seine Vergangenheit, und die Vergangenheit ist es, aus der heraus der Romantiker lebt. Die Kindheitserinnerungen an die Eltern werden mit kultischer Andacht gepflegt, wenn auch noch nicht so ausgeprägt wie in der Neuromantik. So sagt etwa Tieck von seinem Sternbald (I. Teil, I, 5): „Wie Vorhänge fiel es immer mehr von Franzens Seele zurück und er sah nur sich und die liebe Vergangenheit. Alle frommen Empfindungen gegen seine Eltern,
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ELTERNKULT
der Unterricht, den ihm seine ersten Bücher gaben, sein Spielzeug fiel ihm wieder bei u n d seine Zärtlichkeit gegen leblose Gestalten. „Wer bin i c h ? " sagte er zu sich selber und schaute langsam um sich her. „Was ist es, d a ß die Vergangenheit so lebendig in meinem Innern aufsteigt ? Wie konnte ich alles, wie konnte ich meine Eltern so lange fast, wenn ich wahr sein soll, vergessen ? " . . .
Bekanntlich wandelte sich 30 Jahre später, um die Zeit der Julirevolution, Tiecks romantisches Glaubensbekenntnis in ein realistisches, wie man ja überhaupt das Jahr 1830 als Beginn einer neuen Epoche in literarischer wie politischer Hinsicht ansprechen kann; typisch dafür ist z. B., daß Tieck 1840 in der Novelle „Waldeinsamkeit" eine realistische Parodie auf seinen „Blonden Ekbert" von 1796 schrieb. So darf es uns nicht wundernehmen, wenn wir jetzt in der Novelle „Weihnachtsabend" (1834) einem Sohn begegnen, der seinem Vater ein Buch an den Kopf wirft. Doch blieb dies immerhin der einzige derartige Fall. Die andern, späteren Romantiker hat das Problem vom Vater und Sohn nicht näher beschäftigt, ebenso die des Auslands, wenn man L a m a r t i n e ' s Preisgedichte des pietätvoll friedlichen Familienlebens a u s n i m m t ; die Auffassung des Vaterkults dagegen hat sich im Lauf der Romantik nicht nur erhalten, sondern eher verstärkt und in ihren Formulierungen selbst ad absurdum geführt, so d a ß die seit ca. 1830 einsetzende Reaktion nicht überraschend wirkt: so fragte sich z. B. der größte romantische Lyriker Englands, W i l l i a m W o r d s w o r t h , in vollem E r n s t ("Prose Works" vol. I, p. 347): "Can it, in a g e n e r a l view, be good, t h a t an infant should learn much which its parents do not know ?" Aus solchen Worten, wie sie sich in den Werken und Briefen der konservativen Tonangeber der Zeit wie d e B o n a l d , J o s e p h d e M a i s t r e , A d a m M ü l l e r und vieler anderer allenthalben finden, spricht der starr-autoritäre Geist der Spätromantik, deren patriarchalischer Tradiditionalismus eine revolutionäre Emanzipationsreaktion hervorrufen mußte. Anhangsweise sei noch ein Blick dem S c h i c k s a l s d r a m a gegönnt, von dem wir keine weltanschauliche Neufassung des Problems erwarten dürfen. In Z a c h a r i a s W e r n e r ' s ,,24. F e b r u a r " h a t Kunz K u r u t h einst nach seinem Vater ein Messer geworfen, weil dieser Kunzens Frau beschimpfte; nicht dadurch, aber durch die mittelbare Aufregung stirbt der Vater, der einst selbst den eigenen tyrannischen Vater auf der E r d e geschleift h a t t e ; mit dem Fluchmesser ersticht schließlich Kunz, ohne es zu wissen, den Sohn im eigenen H a u s (3. A u f t r i t t ) : ,,'s ist ein H a u s der Pein, Dies alte Fluchhaus, wo sich Sünd' an Sünden reih'n. Verfluchte Väter stets verfluchten Söhnen d r ä u ' n . " Doch dachte Werner so wenig an eine Verallgemeinerung seines unwahrscheinlichen Einzelfalls wie A c h i m v o n A r n i m in seinem Schicksalsdrama „Der A u e r h a h n " : Der Landgraf Heinrich der Eiserne h a t als Kind spielerisch die schicksalhafte Armbrust des Geschlechtsahnherrn Asprian auf seinen Vater angelegt, worauf ihn dieser verbannte und H a ß zwischen beiden a u f k a m . Dieser H a ß des Vaters wird später bei Heinrich zu einem H a ß auf den eigenen Sohn, den frommen Heinrich, den er tötet. Sein Sohn Otto gerät im nächtlichen Dunkel in ein Gefecht mit Heinrich, seinem Vater, wobei beide sich umbringen. N u n ist das Geschlecht gesühnt. Hierher gehören auch K l e i s t s Jugenddrama „Familie Schroffenstein" (1803) u n d C l e m e n s B r e n t a n o s „Aloys und Ymelde" (1812), wo beidemale die Eltern blindlings den Tod ihrer Kinder verursachen.
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VI. REALISMUS 1830—1880: VERDAMMUNG D E S VATERS. TRIUMPH DES SOHNES Der einsetzende Rückschlag war anfangs wohl nur ein literarischer: er galt den g e i s t i g e n Vätern mehr als den leiblichen; dieser Akt der Pietätlosigkeit ist f ü r jede Generation, die wirklich Neues zu bringen hat, notwendig und selbstverständlich. So etwa, wenn Heine in seiner „Romantischen Schule" (II. Buch I ; ed. Walzel VII, 64) über A. W. Schlegel herfällt: „Da ich einst zu den akademischen Schülern des altern Schlegel gehört habe, so dürfte man mich vielleicht in betreff desselben zu einiger Schonung verpflichtet glauben. Aber hat Herr A.W. Schlegel den alten Bürger geschont, seinen litterärischen Vater ? Nein, und er handelte nach Brauch und Herkommen: Denn in der Litteratur wie in den Wäldern der nordamerikanischen Wilden werden die Väter von den Söhnen totgeschlagen, sobald sie alt und schwach geworden."
Aber schon entstand auch eine Generation von Söhnen, die ihre leiblichen Väter grimmig haßte. L e o p a r d i haßte beide Eltern und S t e n d hal seinen Vater, gegen den, — man lese seine „Vie de Henry Brülard"—als gegen einen heuchlerischen Tyrannen er einen maßlosen, verzehrenden Haß empfand. G r i l l p a r z e r schreibt in seiner Autobiographie: „Ich habe meinen Vater eigentlich zärtlich nie geliebt. Er war zu schroff." Börne, Gutzkow, Hebbel, Dostojewski, Strindberg, Samuel B u t l e r haßten ihre Väter, und der „Windhund" F r i t z R e u t e r prallte mit dem Dickschädel seines Vaters zusammen. Die ganze erste Periode des Realismus war erfüllt von aufsässigen Söhnen, von den J u n g d e u t s c h e n an, über die H e r m a n n M a r g g r a f f („Deutschi, jüngste Lit.- u. Kulturepoche" p. 290) 1839 schrieb: „Daß ihnen die Pietät vor Autoritäten nicht angeboren ist, was Gutzkow von sich selbst zugibt, haben sie mit Tausenden unserer Jünglinge gemein" bis zu Carl S p i t t e i e r , der 1864 seinem verständnislosen Vater, dem Regierungsstatthalter, entfloh und monatelang verschollen blieb. In den Schulen brechen Revolten aus: G u t z k o w bringt in den „Säkularbildern" (I. Kap. Ges. W. IX, 30/1) eine Reihe Mitteilungen von solchen „Schulempörungen" in ermunterndem Sinne. Es wird modern, pietätlos zu seinen Eltern zu reden; ein H e i n e , der seine Mutter wirklich liebte, kann es sich nicht versagen, sie in seinen Briefen eine „alte, süße Katze", eine „alte Gluck", eine „alte Schachtel" anzureden. Für den Elternkult der Romantik hat man nur mehr den hellen Spott; in seiner „Einleitung zum Quixote" (ed. Walzel VIII, 143) höhnt H e i n e : „Wir drückten zum letzten Male unsere Lippen auf die alten Leichensteine. Mancher von uns freilich gebärdete sich dabei höchst närrisch. Ludwig Tieck, der kleine Junge der Schule, grub die toten Voreltern aus
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dem Grabe heraus, schaukelte ihren Sarg, als wär es eine Wiege, und mit aberwitzig kindischem Lallen sang er dabei: Schlaf, Großväterchen, schlafe!" und in den einst so gepriesenen Vätern sieht man nichts als verantwortungslose Stümper (Heine, ed. Walzel X, 321/2): „es gibt gewiß noch schlimmere Schulden als Geldschulden, welche uns die Vorfahren zur Tilgung hinterlassen. Jede Generation ist eine Fortsetzung der andern und ist verantwortlich für ihre Taten. Die Schrift sagt: die Väter haben Harlinge (unreife Trauben) gegessen, und die Enkel haben davon schmerzhafte taube Zähne bekommen." Ein konsequentes System der Pietätlosigkeit entwickelte 1834 L u d o l f W i e n b a r g (1802—72) in seinen „Ästhetischen Feldzügen", von denen 5 Jahre später Marggraff (a. a. O. p. 310) meinte: „Wir sehen hier von Wienbarg dieselbe Attaque auf das Alter zu Gunsten der Jugend ausgeführt, welche nach von B ö r n e so häufig ausgeführt worden. Von Börne freilich viel bestimmter und handfester", was nicht ganz richtig ist, denn Wienbargs einmaliger Angriff war konzentrierter als der des Plänkiers Börne. Ehe wir zum eigentlichen Jungdeutschland übergehen, werfen wir noch einen Blick zurück auf die 20 er Jahre, in denen zwei Übergangsmenschen, zwischen romantischer Pietät und jungdeutscher Pietätlosigkeit noch schwankend, den Vater—Sohn-Konflikt dramatisch behandelten: der junge G r a b b e und der junge I m m e r m a n n . In G r a b b e s frühestem Drama „Herzog Theodor von Gothland" (1818—1822), wo das Vater-Sohn-Problem nur als eine der — allzu — zahlreichen Nebenhandlungen zu gelten hat, tritt diese Zwiespältigkeit der Vaterauffassung besonders grell hervor: noch übernimmt Grabbe von der Romantik den Abscheu vor dem pietätlosen, durch seine brutale Jugendkraft dem greisen Vater sich überlegen zeigenden Sohne. Andrerseits aber — und dies ist das Neue — billigt Grabbe dem Vater keine Richtergewalt über den Sohn mehr zu; wenn der alte Gothland dem herausfordernden Sohn gegenüber riesig auffährt (III, 1): Wes ist die Zunge, die hier leugnet, daß Der Vater richten darf den Sohn ? . . . Ist denn Die Erde seit der vor'gen Nacht Aus ihrem tausendjähr'gen Gleis geworfen? Und nehmen unsre Kinder jetzt Die Rute in die Hand? Nein, ehe ich das dulde, Fall' ich im Kampfe für das älteste Der Rechte, für das Vaterrecht!
so läßt Grabbe deutlich fühlen, daß hier der letzte Vertreter einer aussterbenden, einer vergehenden Zeit spricht. Schon ist auch der bohrende Intellektualismus Grabbes und seines Helden bis zu jenem zynisch-
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relativistischen In-Zweifel-Setzen der Vaterschaft gekommen, das den jungen Gothland die desillusionierte Frage aufwerfen läßt, mit welchem Recht sein Vater einen Sohn gezeugt habe; jetzt sei es zu spät, den Fehler durch nachträgliche Tilgung der Frucht seiner Geilheit aus der Welt zu schaffen: den gezeugten Sohn am Leben zu erhalten, sei dann jedes Vaters „verdammte Schuldigkeit" (III, 1): Drum Fluch der Welt, wo jeder Bauernlümmel Mit Hilfe einer Viehmagd Etwas Unsterbliches verfert'gen kann. Drum Fluch den Vätern 1 Jammer und Unfruchtbarkeit den Müttern! Wehe den GebornenI...
Hier ächzt Grabbes eigene Verzweiflung, hier der erste Dichter der neuen Epoche. Und noch ein dritter Zug der neuen Vater—Sohn-Auffassung kündet sich in diesem an Geistesblitzen überreichen Drama an: das Motiv der generationsgeschichtlichen Nemesis, die hier — auf Anstiften eines Schurken — dem Helden in seines eigenen halbwüchsigen Sohnes Gehorsamsverweigerung entgegentritt; als Gotliland, der Rebell gegen seinen Vater, den eigenen Sohn, den er von der Mutter trennte, anfährt (IV, 1): „O Bube! Bube! Was macht dich gegen deinen Vater so verwegen ?" erwiderte der Sohn: „Machst du es etwa mit deinem Vater besser?" — Weniger interessant ist der Gang der H a n d l u n g : Als Gothland, durch eines Schurken Täuschung zum Brudermörder geworden, vernimmt, sein Vater, der lange vor einer Blutrache zurückschreckte (II, 2), ziehe mit Heeresgewalt gegen ihn, wirft er anfangs sein Schwert weg (III, 1): Scheu fliehe ich dem Vatermorde aus Dem Wege und entrinne übers Meer!
und rettet dem Vater schließlich unerkannt das Leben in der Schlacht; durch diese Rückgabe eines Lebens glaubt er mit ihm „wett" zu sein, schmerzvoll die neue Vaterlosigkeit empfindend. Bald aber verhärtet er sich, nach Vertreibung von Vater und König zur Herrschaft gelangt, zum brutalen Tyrannen, den in der großen Entscheidungsschlacht der alte Gothland zu Tode hetzen läßt; erst an der Leiche des gefällten Halbtitanen bricht dieses Vaters Reue in wütendem Krampf hervor (V, 5). Ich grauer Thor! ich grauer Thor! Zu wähnen, Der Tod des Sohnes sei mein Glück! Zu glauben, Daß sich die menschliche Natur, daQ sich Die Liebe, die ein Vater für sein Kind hegt, Auf ew'ge Zeit vertilgen ließen!
Dagegen nun steht I m m e r m a n n im letzten Teil seines Jugenddramas „König P e r i a n d e r und sein Haus" (1822) noch rückhaltlos auf 4
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Seite des Vaters und betrachtet die Ermordung des revolutionären Sohnes als gerechte Strafe seiner Pietätlosigkeit: Als nach 16 Jahren zwei Jünglinge zu Periander, ihrem Vater, zurückkehren, warnt sie ihr Pflegevater, von diesem allzuviel zu erwarten (Werke ed. Boxberger 16, p. 310: „Streng aber ist ein Vater, und er will / Nicht, was Ihr seid; er will Euch, wie er will"). Als Lykophron, im Gegensatz zu dem oberflächlichen Thrasyll, diesem Vater nicht vergibt, daß er seine und Thrasylls Mutter erschlug, und des Vaters Umarmung zurückweist, verstößt ihn sein Vater, indem er ihn durch furchtbare Strafen zur Unterwerfung bringen will (a. a. O. p. 330): Weil ich ein Vater, welcher fordern kann, Daß seine Söhne freundlich und gehorsam Sich ihm bezeigen, was auch sei geschehn. Es ziemt mir nicht, als wie ein sieches Mädchen U m seine Liebe buhlen. Thät ich das, Verlor' ich vor mir selbst und vor der Welt, Und meine Feinde würden's mir gedenken. Der Sohn muß zu dem Vater kommen, ganz Und unbedingt sich ihm ergeben, still Erwarten, was des Vaters Gnad ihm läßt. — Alles, Was groß und fest ist, ruht auf Unterwerfung; Verehrung — Ordnung hält ein Haus zusammen. Aber der Verlauf der Dinge zeigt es anders: das Haus zerfällt, der gehorsame Sohn ist ein Schwachkopf, den der Vater selbst verachtet, die Tochter wächst erst zur Individualität, als sie den Vater der Lieblosigkeit anklagt, des verbannten Lykophrons Geist aber wird zerrüttet und zügellos; in taumelnder Orgie ruft er seinen Gastgebern in vermessener Hybris zu, er wolle den Vater vom Throne stoßen. Vergeblich warnt ihn einer der Bürger (a. a. O. 365): Periander Hat sechzig Jahre; Du bist zwanzig worden. Es ist so unnatürlich, wenn die Jugend Sich gegen graues Alter auflehnt. Lykophron.
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Das leugn' ich Dir in Deinen Hals hinein. Fort mit dem alten Ballast, wenn es Zeit ist, Damit die Welt nicht in das Stocken komme! Das ganze Reich der Wesen giebt ein Beispiel.
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Im Walde keimen junge Stämme auf Und drängen bald die alternden hinweg. Die jungen Thiere beißen ihre alten Ab von dem Futter, daß sie sterben müssen. Wohin ich blicke, seh' ich ein Gesetz, Daß Nachgeborenes wegräumt Früheres: Welle verschlingt die Welle, Jahr das Jahr Und Periandern Lykophron. Und brutal fordert er den Vater auf, statt seiner das Exil anzutreten, ihm aber den Thron zu überlassen. Und der nach Sohnesliebe sich sehnende Vater übergäbe dem toll gewordenen Sohne das Zepter, würde dieser nicht vorher von seinen Gastgebern erstochen, die in ihm mit Recht den Tyrannen ahnen. Immermanns „ K a i s e r F r i e d r i c h der Z w e i t e " (1828) dagegen hat einen so unerklärlichen Haß gegen seinen Sohn Manfred gefaßt, daß Harry Maync („Immermann''1 München 1920, p. 214) diesen Zwist mit Recht „ein zu stark betontes und zu wenig begründetes Motiv" nennen konnte. Von dem ruhmestrunkenen Kaiser beleidigt, verläßt Manfred ihn nach einer heftigen Auseinandersetzung (III, 9), dem dramatischen Höhepunkt des Stücks (vgl. W. Dcetjen „Immermanns ,Friedrich //'" Berlin 1901, p. 81), doch kann er ihm seine Reue (IV, 6) nicht mehr mitteilen, da inzwischen die Katastrophe über den übermütigen Kaiser hereinbricht; erst auf dessen Sterbelager fallen die Mauern zwischen Vater und Sohn, wo der Vater des Sohnes freudloses Leben beklagt (V, 7): Wie wird die Welt Dich hassen, da der Vater So grausam seinen eignen Sohn gehaßt! M a n f r e d : Ach, Vater, ja, Du hast mich stets gehaßt, Und Manfred rang nach Deiner Liebe glühend Sein armes Leben durch, — und als er reuig Um Deine Gnade flehen wollte, da — Da hast Du ihm geflucht! Doch an dem Grabe Giebst Du ihm Alles ja, was er entbehrte. 1829 bis 1832 behandelte Immermann in seiner dramatischen Trilogie „ A l e x i s " , die zuerst „Peter und sein Sohn" heißen sollte, denselben Stoff, an dem schon Klinger sich versucht hatte; vor diesem hatte Immermann die grandiose Schilderung seiner Quelle, des Grafen von Segur („Histoire de Russie et de Pierre-le-Grand" Paris 1829), voraus, wo der Konflikt zwischen Peter und Alexej den dramatischen Höhepunkt bildet. Außerdem wirkte auch noch Schillers „Carlos" auf ihn ein (vgl. Aug. Lejjson „Immermanns Alexis" Gotha 1904, p. 47), doch hat er „den Gast4*
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hof zum Infanten von Spanien" (Brief an M. Beer, 7. 12. 1829) ziemlich selbständig passiert. Der Vater—Sohn-Konflikt tritt erst im II. Teil der Trilogie, dem „Gericht von St. Petersburg" hervor, und zwar als ausgesprochen politischer Konflikt: Alexis haßt nur den skrupellosen Machthaber, nicht den Vater, und dieser verfolgt, verhaftet, tötet ihn ebenfalls nur um seiner Staatsidee willen („Aus Furcht, Ihr schleudert in das Nichts sein Werk" Schepeleff zu Alexis, III, 5), keineswegs aus privater Furcht oder väterlicher Tyrannei; darum muß er in dem Augenblick, da er an seinem Staatswerk irre wird, das Opfer seines Sohnes bereuen, wie es auch im III. Teil geschieht (ed. Boxberger, 15. p. 375): Und solches hab' ich eingetauscht Für das, wornach in seinem Himmel selbst ein Gott Sich einst gesehnt: Gefühl des Vaters! Ich verließ Das Menschliche; nun leid' ich Übermenschliches. Also nicht aus Pietätlosigkeit, sondern aus politischen Gründen revoltiert dieser Sohn; es ist Verkennung und Verleumdung, wenn bei der Verurteilung der Bischof Theophanes, ein gewissenloser Schurke, Bibelsprüche aus dem V. Buch Mose (Kap. 21, 18—21 „ S o jemand einen eigenwilligen und ungehorsamen Sohn hat, so soll er ihn greifen" etc.) und aus dem Epheserbrief (6, 1—3 „Ihr Kinder seid gehorsam... Ehre Vater und M u t t e r . . . " etc.) auf Alexej anwendet. Immermanns Übergangsnatur zeigt sich in der Wahl wie in der Ausführung des Stoffes: der Junge verteidigt das Alte Rußland, der Vater sucht das Neue, die Aufklärung, einzuführen: ein Jungdeutscher hätte diese Kombination „über Kreuz" nicht mitgemacht, er hätte einen jungen Menschen als Sprecher einer neuen Zeit einem Alten als Sprecher der vergehenden gegenübergestellt, während der Spätromantiker Immermann noch Sympathien für das Alte, Abneigungen gegen das Aufklärerische unterworfen war. Von solchen Hemmungen war der J u n g d e u t s c h e frei; wo er Väter schilderte, spürt man das Gehässige. So im ersten Band von H e i n r i c h L a u b e s „Jungem Europa", wo der eine der „Poeten" (Frühjahr 1833), der Julirevolutionär Konstantin, von seinem Vater verstoßen wird, weil er sein Herz einer Soubrette schenkte. Und das Mädchen Klara, die Geliebte des Poeten Valerius, wird nur darum unglücklich, weil sie zu feig ist, sich gegen ihren Vater zu empören, der sie zur Ehe mit einem andern zwingt, — unglücklich, weil sie „diesen Vater wie einen Gott liebte. Sie wollte für mich sterben, aber nie mein Glück in feindlicher Opposition gegen diesen Vater durchsetzen."
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Da war auch Karl G u t z k o w , den sein Vater, strenger Pietist, zum Theologen bestimmt und der trotzig das Theater der Kirche vorzieht. In seiner Autobiographie „Aus der Knabenzeit" erzählt er, wie beim Nachhausekommen vom Theater sein Vater einmal gegen ihn losbrach: „An Dir wird der Satan seine Freude haben, Du gehst den geraden Weg zur Hölle." Solche Erinnerungen mögen auch in einem konfliktschwangern Drama Gutzkows, „Ottfried", ihren Niederschlag gefunden haben, dessen Schluß übrigens Versöhnung zwischen Sohn und Vater bringt. Unverhohlene Freude an frecher Pietätlosigkeit zeigt Gutzkow dagegen in seinem „Königsleutnant", in dessen erster Fassung der frühreife junge Goethe seine Mutter recht frivol kritisiert und seinem ihm ins Gewissen redenden Vater ein „Sieh! Sieh! Vater" entgegnet und — wie in der endgültigen Fassung (I, 5) erhalten blieb — hinzufügt: „Der Gedanke an Schulden macht dich ordentlich poetisch, Vater!" Ein ganz willkürlicher Zufall ist es, wenn G u s t a v K ü h n e in seiner „Quarantäne im Irrenhause. Novelle aus den Papieren eines Mondsteiners" (1885) statt eines Vaters einen Onkel setzt, der, Regierungspräsident, den Helden wegen seiner jungdeutschen Ideen für verrückt erklärt, ihn ins Irrenhaus sperrt und erst auf dem Sterbebett als Bekehrter Abbitte leistet (p. 332, wobei er ihn als „mein Sohn" anredet!): „Ich thue Abbitte bei Dir, Du wirst mir nicht gram sein. Wir leben in einer Zeit, wo sich Kind und Greis nicht mehr befreunden mögen. Es ist der Fluch ermatteter Zeitalter, die hüpfende und übersprudelnde Welle des jugendlichen Lebens Tollheit zu schelten. Dem getrübten Greise fehlt die Zuversicht zu einem Frühling, dessen Blüten zu genießen ihm nicht mehr vergönnt ist. So tobt er noch mit letzter Lebenskraft gegen die junge Saat, und die junge Saat wuchert, aus Erbitterung gegen die entzogene Gunst, jäh und heiß wie Unkraut auf." Auch der letzte der Jungdeutschen im engeren Sinn, E r n s t W i l l k o m m (1810—86), Freund Gutzkows und Kühnes, der in seinem Roman „Die Europamüden" (1838) das durch Autoritätszwang jeder Art zur Hölle gewordene Europa mit dem Freiheitsland Amerika kontrastiert, bekämpft den väterlichen Zwang. Als sein idealer Amerikaner sich in Europa einmal über einen Vater entrüstet, der seinen Sohn kalt und herrisch behandelt, eröffnet ihm der Held (12. Brief; II, p. 87): „Jetzt erschrecken Sie vor einer Wahrheit, die eines Europäer's Blut schon längst nicht mehr in Aufruhr bringen kann. Der Sohn wird den Vater, oder der Vater den Sohn hassen, weil es die Verhältnisse bedingen. Es ist der Wille der Weltgeschichte, gegen deren Walten niemand auch nur einen Finger erheben darf. Bedenken Sie, Burton, daß Sie in einer zweitausend Jahr alten Stadt Europa's wandern! Da liegt viel begraben
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u n d mancher Todte könnte mit seinen Seufzern selbst das feste Amerika in seinen Grundfesten erbeben m a c h e n . " An dieser Stelle sei die Behandlung eines Vater—Sohn-Konflikts erwähnt, die vollkommen einer tendenziösen Färbung entbehrt: L e n a u schildert in dem Abschnitt „Vater und Sohn" seiner Verserzählung „Savonarola" (1837), wie Cesare Borgia grausam seinem päpstlichen Vater mitteilt, er habe soeben seinen Bruder Giovanni ermordet... N u n schweigen beide; d e r , verloren I m Glück der Rache, d e r im Schmerz; U n d Sohn u n d Vater schweigend bohren Die Hassesblicke sich in's H e r z . . . . Der Pontifex zusammenschauernd I n Cäsars düstern Busen späht, U n d sieht entsetzt, wie dort schon lauernd Der Vatermord im Winkel steht. Von den deutschen Dichtern dieser Zeit hinterließ der Vater—SohnKonflikt die stärksten Spuren in F r i e d r i c h H e b b e l s Schaffen. Seine Jugend war heimgesucht von den „Anfeindungen meines Vaters, der (von seinem Gesichtspunkte aus mit Recht) in mir stets ein mißratenes, unbrauchbares, wohl gar böswilliges Geschöpf erblickte" (Tagebuch vom 18. 9. 1838). Vermutlich war es dieselbe aufgebrachte Gereiztheit, mit der in Hebbels „ M a r i a M a g d a l e n e " (1844) Meister Anton jede Bewegung seines Sohnes kritisiert, und die ihn bei einem Einbruchdiebstahl sofort von der Schuld des unschuldigen Sohnes überzeugt sein läßt: kein Wunder, daß Meister Anton im Traum seinen Sohn die Pistole auf ihn selbst anlegen sieht, kein Wunder, daß auch Hebbel seinen Vater haßte (Tagebuch vom 22. 11. 1838: „Mein Vater haßte mich eigentlich, auch ich konnte ihn nicht lieben"). Als der 19jährige, noch im Wesselburener Vaterhaus, sein erstes Drama schrieb, hieß es „ D e r V a t e r m o r d " . In zusammenhangloser, chaotischer Fetzenmanier wird beschrieben, wie der junge Fernando in halb wahnwitzigen Selbstmordphantasien seinen ihm unbekannten Vater, den Verführer seiner Mutter, für den Teufel hält und ihn erschießt, und schließlich sich selbst ebenfalls, als ihm seine Mutter offenbart, es sei sein Vater, und den Verführer trotz allem betrauert. Aber auch in späteren Schriften finden sich immer wieder Bemerkungen, die beweisen, wie Hebbels Geist mit dem Vater—Sohn-Problem ein ewiges Spiel trieb. So deutet er einmal in einer Notiz ein Problem an, das in einer Zeit, die sich noch nicht über Vererbungsprobleme den Kopf zerbrach, überrascht: „ E i n schwächlicher Sohn, der seinen Vater
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zum Duell fordert, weil er vor der Ehe zu viel von seinem, des Sohnes Eigentum vergeudet hat, d. h. weil er die Säfte, aus denen der Sohn werden sollte, verschwendet hat, ehe er ihn zeugte." Mächtige Probleme werden aufgerollt in zwei anderen beiläufigen Bemerkungen: Graf Bertram in der „Julia" (I, 6) sagt in einem Monolog: „Nie darfst du eins ( = ein Mädchen) zum Weibe machen, dein eigener Sohn würde Dich dereinst dafür auf Pistolen fordern!" und in Hebbels Tagebuch begegnet die Notiz: „Ein Sohn, der seinen Vater nur dadurch, daß er ihn tötet, von einem furchtbaren Verbrechen abhalten kann." Wichtiger als diese Einzelstellen, die ich dem Sammeleifer Ranks (IM 246) verdanke, ist die dichterische Darstellung, die Hebbel dem Vater—Sohn-Konflikt gegeben hat. Abgesehen von „Maria Magdalene", wo ein offener Zusammenstoß nicht vorliegt, geschah das nur zweimal, und beidemale fragmentarisch. Hebbel schrieb am 20. 5. 1843 nach der Lektüre von I m m e r m a n n s „Gericht von Petersburg", das damit endet, daß Peter dem eben aus schwerem Fieber erwachenden, nichtsahnenden Sohn den Giftbecher reicht und dieser im Glauben an eine — wenn auch jenseitige — Versöhnung stirbt: „Höchst verfehlt ist es, wenn er (Immermann) in der letzten Unterredung zwischen Alexis und Peter eine gewisse Versöhnung zwischen Beiden, eine Überzeugung des Ersteren, daß Letzterer mit Notwendigkeit handle, herbei führt: dadurch hat er derTragödie die Zähne ausgebrochen." Dieser letzte Satz, so außerordentlich charakteristisch nicht nur für Hebbel, sondern für jeden Gestalter extremen und unversöhnlichen Zusammenpralls, mag Hebbel dann zu jenem kleinen Versuch eines anderen, grandioseren Schlusses angeregt haben, wo er den weichen Alexis Immermanns als trotzigen Titanen Stirn gegen Stirn vor seinen Vater treten läßt (Werke, ed. R. M. Werner V, 108): „Ihr tödtetmich, weil Ihr fürchtet, daß ich den stolzen Bau, den die Nachwelt mit Eurem Standbild krönen wird, zertrümmern könnte. Ihr fürchtet es nur, Ihr wißt es noch nicht. Vernehmt zu Eurer ewigen Beruhigung, daß Ihr Euch nicht irrt! Ja, Ihr zerbrecht in mir die Axt, die das Piedestal Eures Ruhmes zertrümmern würde, also tödtet Ihr mich mit Recht! P e t e r : Ihr seid mein Sohn! A l e x i s : Ich bin's Peter " In den Jahren 1849 und 1850 arbeitete Hebbel an seiner Tragödie „Moloch", die unseligerweise Fragment blieb, und hier nun explodiert der Konflikt zwischen Sohn und Vater noch wilder, fanatischer als in der Alexisredaktion: der Königssohn Teut trifft auf den starren Widerstand seines Vaters, als er im Germanenland der Kultur Eingang bahnen
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will; als der König ausruft (II. Akt) „Giebt's etwas Ärgeres als diesen Sohn?" erwidert Teut „Ja, diesen Vater!" und fordert im Namen aller Väter, die einander beerbt haben, vom Vater die Übergabe des Königsschwerts, da der Alte den Ruf der Zeit nicht mehr verstehe. An dieser Stelle erreicht der Konflikt den menschenmöglichsten Gipfel der Steigerung. Es ruft der Sohn „Vater, Du bist Mein Feind, mein einz'ger Feind! Komm an!" und der Vater antwortet: Nun will ich Dich Zusammen drücken, daß das rothe Blut Dir aus dem Halse springt!... In furchtbarem Ringkampf wirft der Sohn den Vater und nimmt das Schwert an sich, verschont ihn aber. Der Vater zieht sich grollend in eine Höhle zurück, wo er warten wird, bis einst der Sohn seiner bedarf: Dann sprech' ich nicht: es ist nun Alles gut, Du hast bereut! und reiche Dir die Hand; Dann räch' ich mich für jeden Sonnenstral, Den ich entbehrt, für jeden Hauch der Luft; Dann straf' ich Dich, daß nie auf dieser Welt Der Vater mehr den Sohn zu strafen braucht! (zum Volk) Ihr aber schweigt, und harrt des großen Tags, Der zwischen Sohn und Vater richten wird! Kurz nach diesem dramatischen Höhepunkt erlahmte Hebbels Schaffenseifer. Dennoch können wir aus Notizen den geplanten Ausgang des Dramas entnehmen: der Sohn unterwirft sich nach längerer Regierung auf Gnade und Ungnade dem Vater — die Veranlassung dazu ist unklar— und gibt dem Vater das Schwert zurück, der ihn damit bestrafen will: als er aber „die neue Welt" (Fragment Nr. 8 zum IV. Akt) staunend betritt, gesteht er, „das habe ich nicht für möglich gehalten": worauf einer Versöhnung zwischen dem alten und dem jungen Herrscher, wie Hebbel sie bei Immermann noch tadelte, nichts mehr im Wege steht. Versöhnlich endet auch „Agnes Bernauer" (1855), doch kann man hier das Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn kaum mehr als eigentlichen Vater—Sohn-Konflikt im Sinne persönlichen Hasses ansehen. Hier stoßen Prinzipien aufeinander, deren Träger aber nie die private Achtung voreinander verlieren: „Agnes Bernauer ist der einzige Grund des Konflikts zwischen beiden; Hebbel hat ihn nicht aus der Charakteranlage der beiden heraus motiviert" (Kossow, p. 87). Von G u t z k o w s Sohn—Mutter-Tragödie „Richard Savage" (1839) und der 48er Stimmung angeregt, schrieb A l b e r t E m i l B r a c h v o g e l sein soziales Tendenzdrama „Ein weißer Paria" (Breslau 1851), dessen Motto er Goethes Xenien entnahm:
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Man könnt' erzogene Kinder gebären, Wenn die Eltern erzogener wären und wo der Held, ein edler Verbrecher, seiner von ihrem schuftigen Gatten, einem vornehmen Lord, verlassenen Mutter wieder zu ihren Rechten verhilft, indem er mit seinem verlotterten, adelsstolzen Vater abrechnet ; dieser erschießt sich, dem Helden wird seine Räuberlaufbahn verziehen. — Von drei verschiedenen Seiten hat S. H. M o s e n t h a l das Vater—SohnProblem dramatisch verwertet: während er in seiner „Parisina" die Liebe eines Sohnes zu seiner Stiefmutter und seine Hinrichtung durch des Vaters Schergen darstellt, läßt er in seinem Volksstück „Deborah" (Pest 1850) einen Vater seines Sohnes Ehe mit einer edeln Jüdin vereiteln und erst zu spät reuig erkennen, daß jener Rassenabscheu, der ihn zu der fanatischen Tat trieb, nichts als ein „verfluchtes Vorurteil" gewesen sei. Ein rettungslos verkalkter Reaktionär ist dagegen in Mosenthals „Deutschen Komödianten" (Leipzig 1863) der alte Pfarrer, den keine Fäden des Verständnisses mit seinem hart gegen das Leben ringenden Sohn, dem freiheitsdurstigen wandernden Schauspieler, verbinden, an dessen Sterbelager er schließlich einen großspurigen Verzeihungsbrief schickt. Auch in außerdeutschen Ländern rang man damals mit dem Vater—Sohn-Problem. S ö r e n K i e r k e g a a r d s Vater, der als Zwölfjähriger Gott geflucht hatte und von Gott dafür mit allen Glücksgütern gesegnet wurde (dies schien ihm Gottes grausame Ironie zu sein), verbrachte sein Alter in gepeinigten Bußübungen 1 ) und zwang seine Söhne, darunter den Jüngsten und Unbändigsten, Sören, mit so eisernem Pietismus in die Knie, daß Kierkegaard für immer alle Fröhlichkeit verlor und er, olme in seinen Tagebüchern je eine offene Auflehnung zu wagen, bis an seinen Tod am Raub seiner Jugend litt (vgl. auch Rud. Kassner „S. Kierkegaard: Der Vater und der Sohn" in „Essays" Leipzig 1923, p. 157ff.). In Frankreich war es zuerst V i c t o r H u g o , der sich in seiner Trilogie ,,Les Burgraves" (1843) bemüht ,,de crayonner le contraste des pères et des enfants" (Préface); doch ist dieser Kontrast zwischen Urahn und Großvater einerseits, Sohn und Enkel andrerseits nur sehr lässig angedeutet. Wohl aber spielt sich zwischen dem Urahnen und seinem verschollenen Sohn Otbert, den die Allegorie der „fatalité" zwingen will, seinen brudermörderischen Vater zu ermorden, ein kleines, glücklich ausgehendes Drama ab. Eine spätere, lapidar grausame Schilderung eines Vatermordes findet sich in Hugos Gedicht „Le Parricide" (im 10. Zyklus seiner „Légende des Siècles"), wo Knut aus Herrschsucht seinen königlichen Vater Sweno erschlägt. E n g l a n d hat vor Samuel Butler einen eigentlichen Vater—Sohn-Konflikt nirgends darzustellen gewagt. Wohl schildert T h a c k e r a y in „The Newcomes" (1853) das Ringen eines liebenden, aber verständnislosen Vaters um seinen Sohn Clive: etwas ') Vgl. hiezu das autobiographische Buch „Ragazzo" (Roma 1919) des großen italienischen Lyrikers P i e r o J a h i e r (geb. 1884), der genau die gleiche Kindheit verlebte wie Kierkegaard, nur daß sein Vater, ein Waldenser, seinem religiösen Wahnsinn schließlich durch Selbstmord ein Ende machte.
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Unüberwindliches b a u t sich zwischen den beiden ganz verschiedenen Menschen, dem Soldaten und dem Künstler auf, aber der Vater leidet mehr darunter. „So wird der R o m a n mehr zu einer Tragödie des Vaters" (Meißner, a. a. O. p. 30). Und der geniale Roman „ T h e Ordeal of Richard Feverel" (1859) von dem als einziges Kind mutterlos aufgewachsenen G e o r g e M e r e d i t h , der unter seinem Vater, „ a muddler and a fool," wie er ihn später charakterisierte, schwer zu leiden h a t t e (S. M. Ellis „G. Meredith" London 1920, p. 42), ist ausschließlich ein Erziehungsroman, oder genauer ein R o m a n gegen den erziehenden Vater, der als „ a man with a System" (Mickleham Edition, London 1926, p. 195) mit seinem Sohn experimentiert und "lost t h e tenderness he should have had for his experiment — t h e living, burning y o u t h a t his elbow, a n d his excessive love for him took a rigorous t o n e " (ebd.); als aber das Leben den „systematisch" erzogenen Jungen anpackt, wirft es ihn „in spite of fathers and friends a n d plotters" (p. 212) aus der rechten B a h n : „ H i s father, his father's love, his boyhood and ambition, were s h a d o w y . . . And yet t h e young man loved his father, loved his home". Dieser junge Mann scheitert tragisch a m Leben u n d die Schuld trägt der „pädagogische" Vater; alles wäre noch gut gegangen, h ä t t e der Sohn rechtzeitig dem Vater den Gehorsam zu verweigern gewagt, oder, wie nach Meredith der gesunde Menschenverstand fordert: „A father's w i l l . . . t h a t ' s a son's law; b u t he must not go against the laws of his nature to do it." Bei diesem noch etwas schüchtern hingeworfenen Kampfhandschuh gegen väterliche Erziehungsübergriffe ließ es Meredith bewenden, wiewohl er seine prinzipielle Abneigung gegen den typischen „ V a t e r " nie verbarg: „Nicht nur im „ R . Feverel", sondern auch in seinen anderen Romanen malt Meredith das Verhältnis zwischen Vater u n d Sohn, überhaupt zwischen junger und alter Generation, in sehr trüben Farben. Durchweg sind seine Väter alte Trottel, beschränkte Spießbürger, Illusionisten oder Tyrannen. Jedenfalls spielen sie keine rühmliche Rolle. Man denke etwa an den Vater Fleming, an Mr. Pole („Sandra Belloni"), an Richmond Roy, an den General von Rüdiger („The Tragic Comedians"). — Mit wenigen Ausnahmen nur wird die junge Generation von der erwachsenen unterdrückt oder zum mindesten doch in ihrer Eigenentwickelung gehemmt. K a u m je handeln die Alten im Sinne eines freien Wachstums der J u g e n d (Reinhard Becker „Die Erziehung bei G. Meredith", Diss. Marburg 1928, p. 26) ; dies gilt auch f ü r Merediths Versdichtung „Periander". In H o l l a n d war es natürlich der bestgehaßte Frondeur und Outsider E d u a r d D o u w e s D e k k e r , allgemein bekannt unter dem Pseudonym M u l t a t u l i , der prinzipielle Bekämpfer jeder patriarchalischen Autorität vom Kaffeepflanzungsaufseher bis zu Gottvater, der auch die Sache der Söhne gegen die Väter verfocht: in seiner „Urgeschichte der Autorität" (in „Minnebrieven" 1861) erklärt er u. a., das Kind, das schweigend irgend eine Behauptung seines Vaters annehme, werde nie ein Mann, bleibe ewig d u m m und stumpfsinnig („4. Geschichte von der Autorität"), das Gebot „ E h r e t euren Vater und eure Mutter usw." sei von den meisten Eltern nur deswegen erfunden worden, um ihre eigene Lieblosigkeit zu verdecken („6. Gesch. v. d. Autor."), u. ä. In R u ß l a n d , wo 1834 G o g o l in seinem historischen R o m a n „Taras B u l b a " die Hinrichtung eines verräterischen Sohnes durch den Vater geschildert h a t t e (dasselbe schon 1829 in Prosper M6rim6es Novelle „Matteo Falcone"), läßt der 1862 geschaffene Roman I w a n T u r g e n i e w ' s „Väter und Söhne" dem Titel nach mehr erwarten, als sein weicher, jedem pointierten Konflikt abholder Verfasser erfüllen wollte. Alex. Brückner („Gesch. der russ. Litt." Lpz. 1905, p. 328) schreibt darüber: „Der Titel war irreführend. E s handelte sich j a um keinen Gegen-
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satz zwischen Generationen, zwischen Vätern und Söhnen. Kirsanov Sohn gehört zu Kirsanov Vater; es trennt sich daher für immer von ihm B a s a r o v " . . . Basarov, der Nihilist mit den jungdeutschen Idealen, steht gegen die marklosen aristokratischen „Väter u n d Söhne" und er wendet sich vor allein gegen die letzteren, weil sie nicht die Energie haben, sich gegen ihre Väter zu erheben. Als den Nihilisten das Porträt Basarovs nicht ideal und sympathisch genug erschien, ließ sich Turgeniew schließlich herbei, klare Parteifarbe zu bekennen, indem er erklärte, „daß ich fast sämtliche Ansichten Basarows mit Ausnahme seiner Kunstanschauungen teile. Und dabei wollte man durchaus, daß ich auf Seite der „Väter" stünde, ich, der ich in der Figur Pawel Kirssanows geradezu gegen die dichterische Wahrheit verstoßen habe und in Übertreibungen verfallen bin, indem ich seine Fehler bis zur Karikatur steigerte und ihn lächerlich machte!" (Übers. Otto Buek). Die eigentliche Periode der Vater—Sohn-Konflikte in Rußland begann erst in den 60er Jahren. D. S. Mirsky ( „Contemporary Russian Literature" London 1926, p.5) sagt von den geistigen Führern des damaligen Rußland: „One feature is common to all these new intellectuals—complete apostasy from all parental tradition. If he was the son of a priest, he would of nccessity be an atheist; if the son of a squire, an agrarian socialist. Revolt against all tradition was the only watchword of the class." Und der Anarchist Fürst P. K r a p o t k i n schreibt in seinen „Memoiren eines Revolutionärs" (Stuttgart [o. J.J, übers. Max Pannwitz, I I , 110), nachdem er zu Turgeniews Roman Stellung genommen hat: „Während der Jahre 1860 bis 1865 fand fast in jeder reichen Familie ein erbitterter Kampf statt zwischen den Vätern, die die alten Traditionen aufrecht erhalten wollten, und den Söhnen und Töchtern, die für das Recht stritten, ihr Leben nach ihren eigenen Idealen einrichten zu dürfen." Wir k o m m e n zu D o s t o j e w s k i , einem der einstigen Revolutionäre der Petraschewskiverschwörung, dem erbittertsten F e i n d eines grausamen Vaters, welchen seine Leibeigenen unterwegs ermordeten: bei Dostojewski hat das Problem der V a t e r t ö t u n g eine so dämonische Tiefe a n g e n o m m e n , d a ß es unverantwortlich wäre, ihn hier zu übergehen. Dostojewski, der sein Leben lang an epileptischen Anfällen litt, soll den ersten dieser Anfälle g e h a b t haben, als man ihm die Ermordung seines Vaters mitteilte (nach Freud „ b e d e u t e t " dies eine u n t e r b e w u ß t e Identifizierung mit dem T o t g e w ü n s c h t e n in F o r m einer Selbstbestrafung des Mordwünschenden), und der Zentralpunkt seines letzten u n d größten R o m a n s , der „ B r ü d e r K a r a m a s o f f " (1876—1880) ist die Seele eines Menschen (Dmitrij Karamasoff), der seinen Vater zu ermorden w ü n s c h t e — obwohl er es wohl nie ausgeführt h ä t t e —, und dem, als er es a m meisten wünschte, v o n unbekannter H a n d der Vater ermordet wird. Auf das Urteil des P s y c h o a n a l y t i k e r s R a n k dürfen wir hier verzichten, da er in unverzeihlicher Nachlässigkeit in seiner I n h a l t s a n g a b e des R o m a n s erzählt (I.M. p. 180), es sei Dmitrij, der den V a t e r ermorde, also niemals zum Verständnis des Problems k o m m e n k o n n t e ; übrigens ermordet auch der wirkliche Mörder (Ssmerdjäkoff, der uneheliche Sohn) den V a t e r
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nicht „aus sexueller Eifersucht" (Rank I M 180), sondern aus reiner Geldgier. Nur die beiden wichtigsten auf unser Thema bezüglichen Punkte können wir hier kurz berühren. Erstens einen Gedanken, den Freud (in seinem Dostojewski-Aufsatz) schon im Fußfall des Staretz symbolisch angedeutet sehen wollte. Als Dmitrij des Vatermords angeklagt und verhaftet worden ist, als fast alle von seiner Schuld überzeugt sind (das Gericht verurteilt ihn auch schließlich), da ahnt als erste das stark hysterische Mädchen Lisa die Wahrheit über die allgemeine Entrüstung gegen den angeblichen Vatermörder; sie sagt zu seinem Bruder Aljoscha (11. Buch, III, Ubers. E. K. Rahsin, München 1921, p. 1188): „ „Wissen Sie, Ihren Bruder wird man deswegen verurteilen, weil er den Vater erschlagen hat, bei sich aber finden das alle sehr gut, und es gefällt ihnen sehr". „Es gefällt ihnen, daß er den Vater erschlagen h a t ? " „Ja, das gefällt ihnen, allen, allen! Alle sagen, daß das schrecklich sei, im geheimen aber gefällt es ihnen furchtbar. Ich bin die erste, der es gefällt." „In Ihren Worten liegt etwas Wahres", sagte Aljoscha halblaut vor sich hin." Wenn man hier noch zweifeln kann, ob der nach psychoanalytischer Lehre allen Menschen innewohnende Vatermordtrieb gemeint ist oder nur des Publikums Sensationslust, so wird im folgenden klar, daß das erste gemeint ist. Der wirkliche Mörder beweist nämlich dem zweiten Bruder, Iwan, daß jener in Gedanken, wenn auch unbewußt, den Vatermord gewollt habe, was soviel bedeute wie die schließliche reale Ausführung (11. Buch, V I I ; p. 1259): „Totschlagen — so hättet Ihr das selber auf keine Manier getan, und Ihr hättet es auch nicht gewollt. Aber Wollen, daß ihn ein anderer totschlage — so wolltet Ihr dies sogar sehr." Bald nach seinem Geständnis erhängt sich der Mörder und Iwan verkündet die neue Erkenntnis vor Gericht (12. V, p. 1414): „Er hat ihn erschlagen, ich aber habe ihn zu töten gelehrt... Wer wünscht denn nichl den Tod des Vaters?" Und er donnert dem entsetzten Publikum die Lehre vom Vatermordwunsch aller Söhne entgegen: „Man hat den Vater erschlagen, und plötzlich tun sie alle, als hätte es sie erschreckt!" rief er knirschend vor Wut und in jähzorniger Verachtung aus. „Der Freund verstellt sich vor dem Freunde! Die Lügner!! Alle wünschen den Tod des Vaters. Das eine Geschmeiß verschlingt das andere Geschmeiß..." Wir verlassen damit diesen ersten Punkt, den Dostojewski zur Entlastung des Vatermörders vorbrachte nach jenem von ihm selbst (auf p. 8 des Entwurfmanuskripts, vgl. „Urgestalt" p. 298) skizzierten Prinzip:
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„Es kann für den Verbrecher keinen Richter auf Erden geben, ehe dieser nicht erkennt, daß auch er selbst ein Verbrecher ist." Zum Sprecher des zweiten Grunds zur Entlastung des Vatermords macht Dostojewski den Verteidiger Fetjukowitsch, der, obwohl er von Dmitrijs Schuldlosigkeit überzeugt ist, in seiner Verteidigungsrede provisorisch den Fall setzt, dieser habe tatsächlich gemordet. Vatermord, sagt er, liege nur vor, falls wirklich ein „Vater" ermordet worden sei (12. X I I I . p. 1545/7) „Ein Vater, wie der erschlagene alte Karamasoff, kann nicht Vater genannt werden, er ist dieses Namens nicht wert! Die Liebe zum Vater ist, wenn sie vom Vater nicht gerechtfertigt wird, eine Albernheit, eine Unmöglichkeit. Liebe kann man nicht aus Nichts schaffen, nur Gott allein vermag aus Nichts etwas zu schaffen. ,Väter, betrübet nicht eure Kinder', schreibt der Apostel aus der Fülle seines liebeglühenden Herzens heraus. Nicht wegen meines Klienten führe ich hier dieses heilige Wort an, um aller Väter willen rufe ich sie uns wieder ins Gedächtnis. Wer hat mir die Macht und das Recht gegeben, den Vätern Liebe zu lehren ? Niemand. Aber als Mensch und als Staatsbürger rufe ich die Väter auf — vivos v o c o ! . . . Nicht nur zu den hier versammelten Vätern rede ich, sondern allen Vätern rufe ich zu: ,Väter, betrübet nicht eure Kinder!' J a , erfüllen wir zuerst selbst das Gebot Christi — dann erst können wir auch von unseren Kindern die Erfüllung der Gebote verlangen! Andernfalls sind wir nicht die Väter, sondern die Feinde unserer Kinder, und auch sie sind dann nicht unsere Kinder, sondern unsere Feinde, und wir selbst machen sie zu unseren Feinden!... Sagen wir gerade heraus: Der Erzeuger ist noch nicht Vater, Vater ist, wer nicht nur erzeugt, sondern den Namen Vater auch verdient hat." Für diese Rede findet sich auch im Entwurf (p. 103; ,,Urgestalt" -p.lil) schon die verworrene Notiz „Aber mochte ein Vater stehen, das ist das Übel. J a , ein Übel, mancher Vater ist wirklich ein Übel. Sehen wir uns dieses Übel einmal genauer an, meine Herrschaften"; mit großen Buchstaben quer über den Text der ganzen Seite hat Dostojewski das Wort „Übel" geschrieben. Wir haben keinen Grund zu bezweifeln, daß er es ist, in dessen Namen jetzt der Advokat die „mystische" Deutung, Vater bleibe Vater, auch wenn er Tyrann und Ungeheuer sei, energisch ablehnt (vgl. bes. p. 1549 und seinen Brief in „Urgestalt" p. 558). Dies aber bewiese, daß ihn der Pietäts-Philosoph N. F . F j o d o r o f f mehr negativ als positiv, welch letzteres W. Komarowitsch („Urgestalt" p. 3ff.) zu beweisen sucht, beeinflußt hat. Dem unter einem unwürdigen Vater leidenden Sohn, sagt Dostojewskis Sprecher, könne die „Bürokratenantwort" (p. 1548) nicht genügen:
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„ ,Er hat dich erzeugt, du bist Blut von seinem Blut, folglich mußt du ihn lieben.' Wie soll da der Jüngling nicht ernster darüber nachdenken und sich nicht unwillkürlich fragen: ,Ja, hat er mich denn geliebt, als er mich zeugte?' und er wundert sich selbst immer mehr darüber. ,Hat er mich denn um meinetwillen erzeugt ? Er kannte mich doch gar nicht, er hat ja nicht einmal gewußt, welch eines Geschlechtes ich sein würde, er hat vielleicht überhaupt nicht an mich gedacht, in jenem Augenblick der Leidenschaft, die vielleicht nur vom Weine herrührte, und in dem er mir vielleicht bloß die Neigung zum Trünke vererbte. Das sind seine ganzen Wohltaten an mir.. Nach diesen Ausführungen, die bei Brandes und dem „Räuber"Schiller noch höchste Verworfenheit charakterisierten, faßt der Advokat zusammen, Vater könne nur heißen, wer dem Sohne Liebe entgegenbringe, und schließt dann (p. 1552) mit den Worten: „Nein, den Todschlag eines solchen Vaters kann man nicht Vatermord nennen. Ein solcher Todschlag könnte nur aus Vorurteil Vatermord genannt werden!" Ursprünglich (Entwurf p. 105; „Urgestalt" p. 445) sollte Dmitrij auf diese Rede gerührt erwidern, was in der Endfassung bezeichnenderweise gestrichen wurde: „Ich danke auch dem Verteidiger, ich weinte, als ich ihm zuhörte, obwohl es nicht wahr ist, daß man die Väter ermorden darf. Das war nicht notwendig auch nur anzunehmen." Kehren wir uns an diesem P u n k t unseres Wegs f ü r einen Augenblick den deutschen Verhältnissen zu, so bemerken wir, daß etwa um dieselbe Zeit genau diese zuletzt geäußerten Ideen hier ebenfalls eine, wenn auch nicht so subtile, dichterische Formung gefunden hatten. Sie waren schon zum Teil in einer hitzigen Feuilletonfolge des Wieners S c h l ö g l „Gewisse E l t e r n " in polemischer Form aufgetaucht, wo in den 70er Jahren L u d w i g A n z e n g r u b e r (1839—89) die Anregung zu seinem Drama „Das Vierte Gebot" (1877/78) fand (vgl. Alfred Kleinberg ,,Anzengruber" Stuttgart-Bln. 1921, p. 410). Auch persönliche Erlebnisse sollen bei Anzengruber, der schon 1871 den Mordanschlag des „Meineidbauern" auf seinen Sohn um des Erbes wegen geschildert hatte, mitgewirkt haben. — An zwei jungen Menschen werden die Früchte der Elternerziehung aufgezeigt: das Fräulein, das durch die Autorität um ihr Lebensglück gebracht ward, und der Rekrut aus verrotteten Familienverhältnissen, der als Mörder zum Tode verurteilt, im Kerker dem ihm das 4. Gebot vorhaltenden Pfarrer entgegnet (IV, 5): „Mein lieber Eduard, du hast's leicht, du weißt nit, daß's für manche 's größte Unglück is, von ihre Eltern erzogn zu werdn. Wenn du in der Schul den Kindern lernst: „Ehret Vater und Mutter!" so sag's auch von der Kanzel den Eltern, daß s' darnach sein sollen."
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Schon vorher, in seinem Roman „Der Schandfleck" (1876) vertrat er übrigens die These, von Vater und Kind könne nur dann die Rede sein, wenn Liebe sie verbinde; andernfalls seien sie Fremde: das ist die Erkenntnis des alten Reindorfer, der sich Vorwürfe machte, daß er ein Adoptivkind mehr liebte als seine eigenen Kinder und der, von diesen verstoßen, entdeckt, daß nicht die leibliche, sondern die seelische Vaterschaft ausschlaggebend sei. Denn „was auch die Leute schwätzen von verwandtem Blut, das ordentlich aufsieden müßte, wenn sich Kind und Eltern, auch ungekannt, zusammenfinden, das ist doch nur gefabelt." 1 ) W i l d e n b r u c h s bald darauf verfaßtes Drama „Väter und Söhne" (1882) ist für uns wertlos, da es, wie F. M. K l i n g e r s „Sturm und Drang" (1776), die — recht banale — Idee behandelt (I. Fassung; IV, 4): „Kommt, wir sind jung, es ist das Recht der Söhne, Zu lieben, wo die Väter einst gehaßt." Wenden wir uns schließlich nochmals dem Ausland zu, wo in den Jahren 1875 —1880, die den Schlußpunkt dieser ersten, revolutionär zukunftgläubigen Etappe des Realismus bedeuten, der Vater—Sohn-Konflikt seine vorläufig radikalste und grausamste Form annahm. Etwa gleichzeitig mit Dostojewski beschäftigte den Franzosen Gus t a v e F l a u b e r t das Problem der Vatertötung, und auch er versuchte eine moralische Entlastung des Vatermörders, indem er seinerseits auf die Relativität seines Verbrechens hinwies (Zit. Rank I. M. 578): „Man sagt dir, du sollst deinen Vater lieben und in seinem Alter b e t r e u e n . . . während man jenseits des Berges, auf dem du geboren wurdest, diesen Vater lehrte, er müsse seinen Vater töten, wenn dieser nicht mehr zur Arbeit tauge, und er hat ihn getötet, denn es erschien ihm ganz natürlich, und es war gar nicht nötig, d a ß man ihn den Mord l e h r t e . . . Und die Sonne strahlt fremden Völkern, denen die Blutschande eine Tugend und der Vatermord eine Pflicht scheint." Für F l a u b e r t s Beschäftigung mit dem Problem der Vater-, bzw. Elterntötung zeugt vor allem die „Légende de Saint Julien L'Hospitalier" (1877), die zweite seiner „Trois Contes". Den schuldlosen Elternmord Julians des Gastfreien, wie wir ihn in der mittelalterlichen Legende antrafen, verwandelte Flaubert in einen geheimen, vergeblich zurückgedrängten Mordimpuls in der Seele Julians, der seit der Prophezeiung eines Hirsches sich mehr und mehr in ihn einfrißt. Auf Vater und Mutter entfährt ihm je ein zufälliges Attentat, das zwar beidesmal ungefährlich ausläuft, den reuigen Sohn aber seiner von fern geahnten *) Schon G u t z k o w erklärte im 7. Band (Leipzig 1860, p. 219) seines Romans „Der Zauberer von Rom", die vielbesungene „Stimme des Bluts" sei nichts als eine Täuschung.
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Gedankenschuld wegen zu den furchtbarsten, vergeblichen Bußqualen zwingt: „An allen Abenden goß die Sonne Blut in die Wolken und in jeder Nacht, im Traume, wiederholte sich sein Elternmord." Und erst als er unwissend die Eltern erstochen hat, zieht Ruhe in ihn ein; er geht seinen Weg zu den duldenden Brüdern: jetzt erst, nachdem er seine Sünde wirklich getan hat, kann er Heiliger werden. 1872 begann in England „the greatest English writer of the latter half of the 19th century" (Shaw in der Vorrede zu „Major Barbara"), Samuel B u t l e r (1835—1902), seinen Roman „The Way of All Flesh", dessen Schlußkapitel erst 1884 vollendet wurde und der erst 1903 ans Licht der Öffentlichkeit kam. Es war der stärkste Protest gegen die Einrichtung des „Vaterhauses", den die Welt bisher erlebt hatte, hervorgerufen durch die unerträglich puritanische Erziehung in Butlers elterlichem Pfarrhaus, dessen Atmosphäre er als Maler in einem höhnischen Gemälde „Family Prayers" festgehalten hat; als er seinem Vater entkommen war, schrieb der junge Butler aufatmend in sein Tagebuch („Note Books" hrsg. 1912, p. 32): „I have no wish to see my father again." Und schon 1872 entwickelte er in seinem utopischen Roman „Erewhon" seine Lehre von dem Fehlen jeder Verbindung, daher auch jeder Verpflichtung zwischen Kind und Eltern; die Familie sei etwas rein Biologisches, ein Vater, der daraus ethische Forderungen abstrahiere, bestenfalls ein fossiler Narr, schlimmstenfalls ein Verbrecher. "The family is a survival of the principle which is more logically embodied in the compound animal — and the compound animal is a form of life which has been found incompatible with high development. I would do with the family among mankind what nature has done with the compound animal, and confine it to the lower and less progressive races. Certainly there is no inherent love for the family system on the part of nature herself. Poll the forms of life and you will find it in a ridiculously small minority. The fishes know it not, and they get along quite nicely. The ants and the bees, who far outnumber man, sting their fathers to death as a matter of course" („Way of All Flesh" Cape, p. 103). Zwiefachen Vater—Sohn-Konflikt führt Butler in seinem großen autobiographischen Roman vor, in dem er Briefe und Gespräche seiner Eltern aktenmäßig einflocht; zuerst ist es die Erhebung Theobalds gegen seinen Vater, die aber bald mit der Unterwerfung des Sohnes endet: Theobald war zu schwach und pietätvoll, mit dem Erfolg, daß nun er seinem Sohne Ernest ein ebensolcher Vater wird wie ihm der seine (Kap.20. p. 88): "It might have been better if Theobald in his younger days had kicked more against his father: the fact that he had not done so encouraged him to expect the most implicit obedience from his own children."
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Das Resultat der Katechismuserziehung Theobalds (Butler, Enkel eines Bischofs, gibt im 7. Kapitel dem unkindlichen, patriarchalisch strengen Geist des Katechismus, den schon Rousseau im „Emile I V " erbittert angegriffen hatte, die Schuld an "the unhappy relations which commonly even now exist between parents and children" p. 31) ist, daß der Sohn Ernest vor dem Vater nicht Liebe, nur Furcht empfindet, was jener mit naiver Entrüstung feststellt (Kap. 29, p. 123: "he is ungrateful and selfish. I t is an unnatural thing for a boy not to be fond of his own father"). Des Sohnes Individualität bildet sich von dem Augenblick an, als ihm die Stimme seines Ichs den Gehorsam seinem Vater gegenüber widerrät (Kap. 31, p. 133): "only listen to that outward and visible old husk of yours which is called your father, and I will rend you in pieces even unto the third and fourth generation as one who has hated God; for I, Ernest, am the God who made you." Und endlich kommt die Zeit, wo der Sohn in Fällen, in denen offensichtlich das sittliche Recht auf seiner Seite ist, beginnt, "to rise against his father in a rebellion which he recognised as righteous" (Kap. 37, p. 160) und wo "he began to know that he had a cordial and active dislike for both his parents, which I suppose, means he was now beginning to be aware that he was reaching man's estate." Als man Ernest schließlich ins Gefängnis steckt, verfolgen ihn die Eltern auch in diesen Zufluchtsort mit großmütig-anmaßendem Mitleid und tyrannischen Liebesbezeugungen "There are orphanages", he exclaimed to himself," for children who have lost their parents—oh! why, why, why are there no harbours of refuge for grown men who have not yet lost t h e m ? " And he brooded over the bliss of Melchisedek who had been born an orphan, without father, without mother, and without descent (Kap. 67, p. 301). Und als er entlassen wird, erwarten sie ihn natürlich bereits in gerührter Strenge an der Türe, "the two people whom he regarded as the most dangerous enemies he had in all the world — his father and his mother" (p. 3 0 8 ) . . . Da aber weigert er sich energisch ihnen zu folgen und beginnt eigenmächtig sein eigenes Leben (Kap. 67, p. 298/9), "for he knew that if ever the day came in which it should appear that before him too there was a race set in which it might be an honour to have run among the foremost, his father and mother would be the first to let him and hinder him in running i t . . . Achievement of any kind would be impossible for him unless he was free from those who would be for ever dragging him back into the conventional." Und kaum ist er frei vom elterlichen Gängel, als er auch schon ein 5
w.i« i.
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glücklicher Mensch wird; er selbst aber verzichtet auf Gründung einer Familie und gibt — nach Rousseaus Muster — seine Kinder fremden Leuten zur Erziehung, um ihr Lebensglück vor einem „Vater" zu bewahren. Betrachten wir schließlich in diesem Abschnitt noch I b s e n und S t r i n d b e r g bis zum Jahre 1880. Daß I b s e n früh das heimatliche Skien verließ, mag man, wie Hebbels Flucht nach Hamburg und Wagners Flucht aus Dresden, mit Rank (I. M.) als Flucht vor dem Elternhaus auffassen (wenn auch Rank mit derselben Erklärung für Goethes, Kleists und Grillparzers Reisedrang, Shakespeares Wohnungswechsel nach London u. a. übers Ziel hinausschießt). Zwar findet sich bis 1880 nirgends in Ibsens Werken Konflikt eines Sohnes mit dem Vater, wohl aber ein außerordentlich starker mit der Mutter, den wir, da er sich in nichts von der Auffassung eines Butler unterscheidet, hier zu behandeln haben. Ibsen schrieb an Björnson (9. 12. 1867): „Weißt Du, daß ich mich fürs ganze Leben von meinen eigenen Eltern, von meiner ganzen Familie fortgemacht habe, weil ich nicht im Zustand des halben Verständnisses verharren wollte ?"obwohl er, wie seine Frau erzählte, wenn er von seiner Mutter sprach, „sie stets als unendlich liebevolle, sanfte und nachgiebige Natur hingestellt" habe (Ibsen „Nachgel. Sehr." II, 82). Vollkommen anders aber erscheint die Mutter in seinen Dramen; während Aase im „Peer Gynt" nur ein fehlerhaftes Weib ist 1 ), wird im Gedicht „Auf den Höhen" die Überwindung der Bindung an die Mutter gepredigt. Am ausführlichsten aber wird die innere Erhebung des Sohns gegen die Mutter im 1. Gesang der epischen Erstfassung des „Brand" (1864/5) geschildert. Dem reifenden Knaben erscheint die nächtliche Gestalt seiner Mutter wie eines jener Schreckensgespenster, die schon seine früheste Kindheit verdüstert hatten, „die schon vor Furcht ihn bleich gemacht, eh' Furcht er fassen könnt' in Worte". (Nachgel. II, 106). Und seinen ganzen Ekel vor ihr kleidet er in die Haßworte, die sie selbst einst, die Leiche seines Vaters züchtigend, diesem in den Tod nachgerufen hatte (über die Erlebnisgrundlagen dieser Szene vgl. Jos. Collin „H. Ibsen" Heidelberg 1910, p. 165). Im endgültigen, dem dramatischen „Brand" (1865), ist die Mutter noch gespenstischer und vampyrhafter gezeichnet als im Epos. „Diese geistige Fechterstellung — der Sohn, der die Mutter mit ihrer eignen Handlungsweise schlägt — hat Ibsen beibehalten wollen." (K. Larsen in „Nachgel." II. 60). Entsetzt sieht der in die Heimat zurückgekehrte Brand seine besitzgierig geizige Mutter ihm entgegenl
) "Mor Aase i nogen grad er tegnet efter Ibsens egen mor" (Chr. Collin "Det Geniale Menneske" Kristiania 1014, p. 50), jedoch, wie Ibsen selbst betonte, "med fornodne overdrivelser" (Halvdan Koht „H. Ibsen. Eit Diktarliv" Oslo 1929; 11,35).
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schreiten und in „plötzlichem Erbangen" ruft er aus (II. Akt; Ges. Werke IV, 48): „Ha! Welch frostiges Entsinnen! — Treibt ein Spuk hier seinen Spott? Grabkalt fühl' ich's von ihr rinnen, — Doppelt grabkalt stürmt's hier drinnen! — Meine Mutter! — Großer Gott!" Dreimal will sie ihn als ihren Erben in Anspruch nehmen, bis Brand endlich seine bewußt pietätlose Ansicht von Sohnespflicht und Elternerbe offenbart (Werke IV, 54). So klug Du warst, Du täuschtest Dich. Du sahst im Licht der Heimat mich. So rechnend gehn der Eltern mehr Hier hinter ihren Kindern her. Ihr meint, das Kind hab' nur der Alten Erbtrödel weiter zu verwalten. Der Ewigkeit ein blasser Schein Geht Eure Seelen aus und ein; — Ihr langt nach ihm, dem Wahn geneiget, Er sei schon Euer, wenn nur fein Ihr Sipp' und Erb' zusammenzweiget, — Daß Tod vor Leben dann verstumme — Und Ewigkeit Euch werd' als Summe Hochaufgehäufter Jahresreih'n. Wenige Jahre später äußerte der Schwede A u g u s t S t r i n d b e r g fast genau dieselben Gedanken. Seine „Kindheit ist düster wie die Ibsens. Aber während der Norweger sich kurzerhand von allem losreißen konnte, war Strindberg an die Eltern gebunden... Weder zum Vater, der dem Knaben mißtraut, noch zur Mutter, die den Geist des Kindes nicht versteht, gewinnt Strindberg ein nahes Verhältnis: Sehnsucht nach Elternliebe. Als er 1867 das Heim verläßt, um die Universität von Upsala zu beziehen, fühlt er sich befreit, befreit vom Qualm des Familienlebens und der Schule." (W. H. Kolas „Skandinav. Liter, der Gegenwart" Wiesbaden 1925, p. 143). Vermutlich galt Strindbergs größerer Haß seiner Mutter, einer ungebildeten Haushälterin, die sein Vater, armer Adel, geheiratet hatte, und der er zähneknirschend nie vergaß, daß er „Tjänstekvinnans son" („der Sohn einer Magd") war. In seinem Jugenddrama „Meister Olof" (Prosafassung 1871/2) sagt der Reformator Olof zu seiner Mutter, die ihn auf Schritt und Tritt zurückzuhalten sucht (III. Bild): „Als du jung warst, 5*
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Mutter, hattest du recht; wenn ich alt werde, ja, dann habe ich vielleicht unrecht! Man wächst nicht um die Wette mit der Zeit!" Und Olofs Frau sagt zu dieser Mutter, die nicht auf ihren Sohn verzichten, ihn — wie Brands Mutter — für sich in Anspruch nehmen will (V. Bild): „Ihr habt einen Sohn geboren, ihm Erziehung gegeben; das war Eure Pflicht, Eure Bestimmung! Ihr könnt Gott danken, daß Ihr sie so gut habt erfüllen können, denn so glücklich sind nicht alle! Jetzt steht Ihr am Rande des Grabes; tretet zurück, ehe es zu Ende geht! Oder habt Ihr Euren Sohn so schlecht erzogen, daß er noch ein Kind ist und Eurer Leitung bedarf? Wollt Ihr Dankbarkeit haben, so sucht sie, aber auf andere Art! Glaubt Ihr, es ist die Bestimmung des Kindes, sein Leben zu opfern, nur um Euch Dankbarkeit zu zeigen ? Sein Beruf sagt: „geh dahin"; Ihr sagt: „Undankbarer, komm hierher!" Soll er irre gehen, soll er seine Kräfte, die der Gesellschaft, der Menschheit gehören, opfern, nur um Eure kleine private Selbstsucht zu befriedigen?" Strindbergs Haß gegen die Mutter ist aber außerdem aus seinem prinzipiellen Haß gegen alles Weibliche zu erklären. Gerade diese Seite tritt hervor, wenn er in seiner Autobiographie („Die Entwicklung einer Seele" München 1920, p. 31) von sich selbst zu Anfang der 70er Jahre rückschauend berichtet: „Schon jetzt witterte Johan Tyrannei in der Herrschaft der Mutter und der Frauenherrschaft, und wo er Ungerechtigkeit oder Bedrückung sah, da schlug er zu, auch auf den empfindlichsten Punkt, den Kultus s e i n e r toten Mutter; dieser Kultus ist nichts anderes als die Verehrung, die der Wilde den Vorfahren zollt, und müßte mit der Ehrfurcht vor dem Alten abgeschafft werden, wenn man mit dem Fortschritt Ernst machen will. Als er älter wurde, sah er immer eine selbstsüchtige „zärtliche" Mama hinter der Tür stehen und den kühnen Jüngling am Rockschoß festhalten, wenn er hinauseilen wollte, um an dem Kampf des Lebens teilzunehmen, der nicht mit Gold oder Ehre belohnt wird. Durch langjährige Arbeit gelang es ihm schließlich, diesen alten Aberglauben, Mutter und Frau hätten eine Ausnahmeverehrung zu beanspruchen, auszutilgen." Ganz radikal traten diese Gedanken an den Tag in S t r i n d b e r g s erstem großen Roman „Das Rote Zimmer" (1879), der ihn berühmt machte. Dort liest man, in den hinterlassenen Aufzeichnungen eines Selbstmörders (Kap. 28): „Das vierte Gebot sollte so lauten: Du sollst dich durch dein angeborenes Ehrfurchtsgefühl deinen Eltern gegenüber nicht dazu bringen lassen, auch ihre Fehler zu bewundern; und du brauchst sie nicht mehr zu ehren, als sie verdienen. Du bist unter keiner Bedingung den Eltern Dankbarkeit
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schuldig; denn sie haben dir keinen Dienst damit geleistet, daß sie dich erzeugten; daß sie dich ernähren und kleiden, das gebietet ihnen sowohl ihr Egoismus wie das bürgerliche Gesetz. Die Eltern, die Dankbarkeit von ihren Kindern erwarten (es gibt sogar welche, die sie fordern), sind wie Wucherer: sie riskieren gern das Kapital, wenn sie nur die Zinsen bekommen.... Dieses Gebot hat die schrecklichste aller Regierungsformen, die Familientyrannei begründet, gegen die schwerlich eine Revolution helfen kann. Die Menschheit würde mehr Ehre mit Kinderschutzvereinen einlegen als mit Tierschutzvereinen." Und wir rufen uns noch einmal den Geist der ganzen soeben durchlaufenen Epoche zurück, wenn wir jenes absichtlich paradoxe Gespräch belauschen, das in demselben Roman (14. Kap.) der Schauspieler Falander mit dem grünen Jungen Gustav führt: . . .„So, Sie haben Eltern! Das ist dumm, Eltern zu haben!" „Wieso? Wie meinen Sie?" „Finden Sie's nicht unnatürlich, daß eine alte Generation eine neue mit ihren veralteten Dummheiten aufzieht? Ihre Eltern fordern Dankbarkeit von Ihnen? Nicht wahr?" „Soll man seinen Eltern denn nicht dankbar sein?" „Dankbar dafür, daß sie mit Hilfe des Gesetzes uns in dieses Elend gebracht, uns mit schlechtem Essen ernährt, uns geschlagen, uns unterdrückt, uns gedemütigt, sich unsern Wünschen widersetzt haben ? Wollen Sie mir glauben, daß eine Revolution nötig ist? Nein, zwei!" Damit schließen wir die Betrachtung dieser Generation ab, die den Vätern gegenüber eine durchaus ablehnende, revoltierende Haltung einnahm. Die mit dem Jahre 1880 einsetzende nächste Periode, so treu sie formal dem Prinzip des Realismus blieb, verlor den revolutionären Optimismus, der bisher die Auflehnung der Söhne gegen die Väter geheiligt und zum Siege geführt hatte. Von dieser und den nächstfolgenden Phasen der Auffassung des Vater-Sohn-Problems bis zur Gegenwart wird im nächsten Heft dieser Schriftenreihe die Rede sein.
STOFF- UND MOTIVGESCHICHTE DER D E U T S C H E N LITERATUR H e r a u s g e g e b e n von P A U L M E R K E R und G E R H A R D
LÜDTKE.
E s handelt sich um ein groß angelegtes Sammelwerk, bestehend aus Reihen von Einzelheften darstellender Art, die j e einen vielbehandelten Stoff oder ein häufiger wiederkehrendes Motiv auf ihrem Schicksalsgang innerhalb der deutschen Literaturgeschichte verfolgen. Die behandelten und ausgewerteten Dichtungsinhalte sollen als Exponenten der jeweiligen Kulturstimmung und Stilrichtung erscheinen und somit Bausteine zur Geschichte des geistigen Lebens und der seelischen Entwicklung des deutschen Volkes bilden. D a s Gesamtwerk wird in Einzelheften von j e etwa drei Rogen Lexikonformat ausgegebenJedes Heft, das im Rahmen des Gesamtunternehmens selbständig unter dem Namen des Verfassers erscheint, ist einzelkäuflich zu erwerben. Bisher sind erschienen : 1. Die Jungfrau von Orleans In der Dichtung. Von W I L H E L M Groß-Oktav. IX. 74 Seiten. 1929.
GRENZMANN. R M 4.—
2. Tristan und Isolde in der französischen und deutschen Dichtung des Mittelalters und der Neuzeit. V o n W O L F G A N G G O L T H E R . Groß-Oktav. V I , 72 Seiten. 1929RM 4 — 3.Jullanus Apostata In der deutschen Literatur. Von K Ä T E P H I L I P . GroßOktav. IV, 78 Seiten. 1929. R M 5.— 4. Parzlval in der deutschen Literatur. V o n W O L F G A N G G O L T H E R . V I , 64 Seiten. 1929.
Groß-Oktav. R M 5.—
5. Heldelberg als Stoff und Motiv der deutschen Dichtung. Von R U D O L F K. G O L D S C H M I T . Groß-Oktav. V I , 74 Seiten. 1930. RM 4 — 6. A h a s v e r u s , der e w i g e Jude- Von W E R N E R 1930.
Z I R U S . Groß-Oktav. IV, 73 Seiten. R M 5.—
7. Das Judith-Motiv in der deutschen Literatur. Von O T T O B A L T Z E R . IV, 62 Seiten. 1930.
Groß-Oktav. R M 5.—
8. Napoleon in der deutschen Literatur. Von M I L I A N S C H Ü M A N N . Groß-Oktav. V I I I , 87 Seiten. 1930. R M 7.— 9. Dldo In der deutschen Dichtung. V , 95 Seiten. 1930. 10, 11. Das Vater-Sohn-Motiv
Von E B E R H A R D S E M R A U .
In der Dichtung.
Groß-Oktav. RM 7.—
Von K U R T K . T . W A I S .
12. Die Gestalt des bildenden Künstlers In der Dichtung. S T E I N . 1930.
Von K Ä T E
1930.
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D i e Behandlung folgender Stoffgruppen ist vorgesehen: Antike, Mittelalter, Neuzeitliche Weltgeschichte, Kirchengeschichte, Bibel, Legenden, Neuzeitliche Volkssagen und MärchenstofTe, Fabelstoffe, Kulturträger in dichterischer Darstellung, Stände und Berufsgruppen in der dichterischen Darstellung, D a s menschliche Privatleben, Natur, D i e Zivilisation im dichterischen W e r k , D a s literarische Nachleben weltliterarischerWerke Einen
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V e r l a g W a l t e r de G r u y t e r & C o . , B e r l i n W 10 und L e i p z i g
ZUR DEUTSCHEN
LITERATURGESCHICHTE
Auswahl von Werken aus dem
Verlag Walter de G r u y t e r & C o . , Berlin W . 10 u. Leipzig R e a l l e x i k o n d e r d e u t s c h e n L i t e r a t u r g e s c h i c h t e . Unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter herausgegeben von Dr. P A U L M E R K E R , o. ö Professor ander Universität Breslau u. Dr. W O L F G A N G S T A M M L E R , o.ö. Professor an der Universität Greifswald. Erscheint in etwa 20 Lieferungen. Band I: Abenteuerroman — Hyperbel.
Groß-Oktav. 593 Seiten. 1926. RM 32.—, in Halbleder geb. 41.— Band II: Jambus-Quatrain. Groß-Oktav. IV, 754 Seiten. 1926/28. RM 40.—, in Halbleder geb. 49.— Band III: Rahmenerzählung — Zwischenakt. Groß-Oktav. IV, 525 Seiten, 1928/29. RM 26.40, in Halbleder geb. 34.50 Band IV: Nachträge und Register. Im Druck. Das Kennzeichnende für das Werk ist, daß es sich auf die formale und sachliche Seite der Literaturgeschichte, die Realien derselben beschränkt und die Dichtung als Leistung und Ausdruck eines schöpferischen Individuums nur insoweit berücksichtigt, als es unbedingt erforderlich ist.
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Geschichte der deutschen Literatur. I. Von der ältesten Zeit bis 1748. Von Dr. MAX KOCH, o. ö. Professor an der Universität Breslau. Neunte, neubearbeitete und erweiterte Auflage. 170 Seiten. 1920. (Samml. Göschen Bd. 31.) Geb. RM 1.80 II. Von Kloßstock bis zum Ausgang der Romantik. Von Dr. F R I E D R I C H KAINZ, Privatdozent an der Universität Wien. 146 Seiten. 1929. (Samml. Göschen Bd. 783.) Geb. RM 1.80 III. Von Goethes Tod bis zur Gegenwart. Von Dr. F R I E D R I C H KAINZ, Privatdozent an der Universität Wien. 136 Seiten. 1928. (Samml. Göschen Bd. 1004.) Geb. RM 1.80 Die Bände vermitteln einen faßlichen Überblick über die Hauptentwicklungslinien und das wichtigste historische Tatsachenmaterial der deutschen Literatur. Der Schilderung jeder Epoche ist eine kurze Wesensschau vorausgeschickt, die ihre konstitutiven Züge hervorhebt, ihre stilistischen Gemeinsamkeiten, ihr Lebensgeflihl und Kunstwollen charakterisiert.
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