Das äußere Wort und seine liturgische Gestalt: Überlegungen zu einer evangelischen Fundamentalliturgik 9783666624148, 9783525624142, 9783647624143


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Das äußere Wort und seine liturgische Gestalt: Überlegungen zu einer evangelischen Fundamentalliturgik
 9783666624148, 9783525624142, 9783647624143

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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624142 — ISBN E-Book: 9783647624143

Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie Herausgegeben von Lutz Friedrichs, Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne M. Steinmeier

Band 68

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624142 — ISBN E-Book: 9783647624143

Alexander Deeg

Das äußere Wort und seine liturgische Gestalt Überlegungen zu einer evangelischen Fundamentalliturgik

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624142 — ISBN E-Book: 9783647624143

Mit 5 Tabellen, 13 Graphiken und 5 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-62414-2 ISBN 978-3-647-62414-3 (E-Book) © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: ÑHubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort .................................................................................................

I.

1.

Problemfindung oder: Evangelische Fundamentalliturgik als Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes .................................

17

Evangelische Fundamentalliturgik – ihr Ausfall, ihre Notwendigkeit und ihre formale Bestimmung ................

19

1.1 1.2 1.3 1.4 1.4.1 1.4.2 1.5

„Gottesdienst feiern“ – ein Schlaglicht aus der gegenwärtigen Diskussion ............................................ Theologische Zurückhaltung – ein Streifzug durch ein halbes Jahrhundert evangelischer Liturgik ................... Fundamentalliturgik – ein Begriff und seine Bedeutung Liturgische Epistemologie – die formale Bestimmung der Fundamentalliturgik ................................................ Wege liturgischer Epistemologie – zugleich ein systematisierter Forschungsüberblick ........................... Zur Notwendigkeit der Frage nach liturgischer Epistemologie und fundamentalliturgischer Reflexion

19 23 27 34 34 57

Theologie als Abduktion – zur Frage des Theologiebegriffs in liturgischer Dimension ................ Die Unterscheidung von genetivus subiectivus und genetivus obiectivus ...................................................... Abduktive Theologie der Liturgie ................................

62 65

Evangelische Fundamentalliturgik – die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes als ihre materiale Bestimmung ...............................................................

72

1.5.1 1.5.2

2.

13

2.1

Luther, der Gottesdienst und das verbum externum – oder: Vom prekären Zusammenhang von Wort und Kult

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61

73

6

Inhalt

2.1.1 2.1.2 2.1.2.1 2.1.2.2 2.1.2.3 2.2 2.2.1 2.2.1.1 2.2.1.2 2.2.1.3

2.2.2 2.2.2.1 2.2.2.2 2.2.2.3 2.2.3 2.2.3.1 2.2.3.2 2.3

Luthers Anliegen: Die dynamische Spannung von äußerem Wort und dessen innerer Evidenz .................. Liturgische Konsequenzen und Probleme .................... Die Verinnerlichung der liturgischen Partizipation und die Tendenz zur Vernachlässigung des Äußeren .......... Schrift-Elimination durch das Wort der Predigt – Das Problem der Intellektualisierung ............................ Das übergreifende Problem der didaktischen Funktionalisierung des Gottesdienstes ..........................

74 77 77 83 91

Vom 16. ins 21. Jahrhundert – oder: Reformatorische Problemlagen und ihre Wirkungsgeschichte ................ 95 Außen und Innen – oder: Das problematische Subjekt der Neuzeit .................................................................... 97 Subjektivität und Objektivität als typisch neuzeitliches und als liturgisches Problem ......................................... 97 Schleiermacher: Das glaubende Subjekt und die Kommunikation des religiösen Gefühls .................. 101 Wilhelm Gräb und Michael Meyer-Blanck: Das glaubende Subjekt und die diskursivkommunikative religiöse Deutungsleistung .................. 112 Schriftlichkeit und Mündlichkeit – oder: vertikale Ewigkeit vs. horizontale Aktualität des Wortes ............ Luthers Betonung der Mündlichkeit oder: Kommunikation der viva vox evangelii ........................ Das Problem des liturgischen Logozentrismus – oder: Kommunikation des Evangeliums ................................ Die liturgische Frage: Vertikale Ewigkeit und horizontale Aktualität des Wortes .................................

120 120 126 137

Wort und Kult – oder: Das Spannungsfeld von göttlichem und menschlichem Handeln ........................ 142 Kerygmatische und humanorientierte Kultkritik – oder: Wort ohne Kult .................................................... 143 Wege und Probleme einer Wiederentdeckung des Kults – oder: Kult ohne Wort? ............................... 177 Das äußere Wort und seine liturgische Gestalt – zur materialen Durchführung evangelischer Fundamentalliturgik ...................................................... 222

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Inhalt

2.3.1 2.3.2

7

Die liturgische Pyramide und die leitende Fragestellung: Gemeinde – Liturg/in – Liturgie – Wort Gottes im Miteinander .............................................................. 222 Zur Methodik der weiteren Untersuchung .................... 227

II.

Problembearbeitung oder: Historisches, Komparatistisches und Kulturwissenschaftlich-Theologisches zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt ............................ 229

3.

Historisches: Evangelische Ansätze zur Verhältnisbestimmung von Wortgeschehen und Liturgie – vergleichend betrachtet .............................................................. 231 3.1

Zu Methode und Ziel der historischen Erkundung ....... 231

3.2

Vier ausgewählte Stationen im Wechselspiel von äußerem Wort und liturgischer Inszenierung ................ Die Liturgik der Aufklärung: Das Wort als Lernziel und der Kultus als Kulturvermittlung ........................... Liturgik der Aufklärungszeit – oder: Ineinander von Liturgietheorie und Liturgiegestaltung Das angeeignete Wort und der cultus interior ..............

3.2.1 3.2.1.1 3.2.1.2 3.2.2 3.2.2.1 3.2.2.2 3.2.3 3.2.3.1 3.2.3.2 3.2.4 3.2.4.1 3.2.4.2

233 233 233 236

Die liturgische Restauration: Wort und Sakrament im Wechselspiel ............................................................ 241 Die preußische Agende von 1822: Liturgie und Predigt, Wort und Sakrament ................... 242 Wilhelm Löhe: Gottesdienst mit Wort und Sakrament in der Dramaturgie der Bergwanderung ....................... 244 Die ältere liturgische Bewegung: Gott-menschlicher Wortwechsel als liturgische Inszenierungsaufgabe ...... 249 Kult und Kultur ............................................................. 250 Wort und Kult ............................................................... 253 Die neueren liturgischen Bewegungen: Sehnsucht nach dem Objektiven ................................... 260 Motive liturgischer Erneuerung .................................... 260 Friedrich Heiler oder: Objektives und Subjektives im Miteinander .............................................................. 262

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8

Inhalt

3.2.4.3 3.2.4.4 3.3

4.

Wege liturgischer Erneuerung: Das Beispiel der Berneuchener ..................................... 267 Kritik im Namen des Wortes ........................................ 271 Zwei Modelle zum liturgischen Umgang mit dem Wort und ein Ausblick auf die weitere Erarbeitung ............... 274

Komparatistisches: Einsichten in das Verhältnis von Wort und Kult ..................................................................... 277 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.2.1 4.1.2.2 4.1.2.3 4.1.2.4 4.1.3 4.1.3.1 4.1.3.2 4.1.3.3 4.2 4.2.1 4.2.2

Kult und Wort in neueren katholischen liturgischen Entwürfen .................................................. 278 Die Karriere des Wortes im Katholizismus und das Zweite Vatikanische Konzil ................................... 278 Drei Richtungen einer Kritik an der liturgischen Wortorientierung ........................................................... Die Kritik an Vaticanum II im Namen der Sinnlichkeit oder: Alfred Lorenzer und sein anti-intellektualistisches Plädoyer ......................................................................... Die Kritik an Vaticanum II im Namen der Objektivität der Liturgie oder: Die Priesterbruderschaft St. Pius X. und ihre fundamentalistische Argumentation ............... Die Kritik an Vaticanum II im Namen des Wechselspiels von Ästhetik und Religion oder: Martin Mosebach und sein Plädoyer eines Künstlers ... Das Problem der Kritik oder: Wo bleibt das Wort? ...... Die Kritik der Kritik: Wort und Ritual, Mysterium und Metapher im Wechselspiel ............................................ Reintegration als Aufgabe gegenwärtiger Liturgiewissenschaft ..................................................... Ritualisierungen des Wortes ......................................... Mysterium und Metapher ..............................................

291 291 297 300 304 306 306 308 310

Kult und Wort in neueren jüdischen liturgischen Entwürfen ...................................................................... 313 Der Umbruch der Wort-Gestalt im frühen 19. Jahrhundert oder: Die Entdeckung der Predigt ....... 314 Faszination der Tradition: Neuere Gegenbewegungen und ihre Folgen ............................................................. 319

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Inhalt

5.

9

4.2.3

Franz Rosenzweig: Gottesdienst, Gemeinschaft und liturgisches Schweigen .................................................. 323

4.3

Zusammenfassung: Vom Kult zum Wort und zurück? Liturgische Wellenbewegungen .................................... 325

Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Überlegungen zum Subjekt der Wahrnehmung und zur Inszenierung des Wortes 328 5.1 5.1.1 5.1.1.1 5.1.1.2 5.1.1.3 5.1.2 5.1.2.1 5.1.2.2 5.1.2.3 5.1.2.4 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.3.1 5.2.3.2 5.2.3.3

Das Subjekt, seine Wahrnehmung und seine Grenzen . Xenologische Relativierung starker Subjektivität – oder: Die pathische Haltung der „Andacht“ ................. Xenologie und ihr Interesse .......................................... Bernhard Waldenfels und die Haltung der „Andacht“ . Drei praktisch-theologische Folgerungen und eine Problemanzeige ..................................................... Ästhetische Relativierung starker Subjektivität – oder: Die „Einlassung ins Entgegenkommende“ .......... Sinn- und Präsenzkulturen – eine ästhetisch-hermeneutische Grundunterscheidung . Das Auratische und das Ereignis – eine Weiterführung im Zeichen der Performativität ..................................... Aktive Passivität – zur Praxis der Einübung einer anderen Wahrnehmung ................................................. Praktisch-theologische Aufnahme eines zugespielten philosophischen Balls ...................................................

329 329 329 332 339 348 348 357 371 376

Die Inszenierung, ihre Dramaturgie und ihre Wirkung 390 Äquivoke Präsenz. Zur Klärung eines häufig verwendeten Begriffs .................................................... 393 Präsente Absenz. Zur Darstellung des Nicht-Darstellbaren ....................................................... 403 Verfremdung und Verdichtung. Zur Praxis der Inszenierung zwischen Brecht und Brook .................... Verfremdung: Bertolt Brecht und ein Theater, das über sich hinausweist .............................................. Verdichtung: Peter Brook und ein Theater, das Unsichtbares im Sichtbaren zeigt ........................... Eine knappe liturgische Aufnahme ...............................

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414 414 421 427

10

Inhalt

5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3

Liturgische Verfremdungseffekte, ihre Notwendigkeit und ihre Folgen ............................................................. Kult, Wort und WORT. Eine zusammenfassende Aufnahme der kulturwissenschaftlichen Beobachtungen Die Verfremdung des Kultus durch das Wort und des Wortes durch den Kult. Eine liturgische Meta-Regel ... „Weiße Bilder“. Ein Ausblick auf Wege der Gestaltung

435 435 442 449

III. Perspektiven oder: Der evangelische Gottesdienst als liturgische Inszenierung des verbum externum ...................... 453 6.

Der evangelische Gottesdienst als WortKult ........................... 455 6.1 6.2 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.2.1 6.3.2.2 6.3.2.3 6.3.2.4 6.3.2.5 6.3.2.6

Phänomenologisch-empirischer Zwischenschritt: Wie das äußere Wort im evangelischen Gottesdienst der Gegenwart erlebt wird ............................................. 455 Der (evangelische) Gottesdienst als WortKult und seine Denkmöglichkeit oder: die Deutekategorie des Opfers 469 Der evangelische Gottesdienst als WortKult und seine Gestalt oder: Liturgiepraktische und liturgiedidaktische Konkretionen .................................. 490 Bibel und WortKult: Zur Rolle der Bibel im evangelischen Gottesdienst ........................................... 491 Das fünffache Wort: Zur Wortgestalt im evangelischen Gottesdienst ........................................... Das gelesene Wort: Zu Bedeutung und Inszenierung der Lesungen im evangelischen Gottesdienst ............... Das gepredigte Wort: Zum Verhältnis von Predigt und Liturgie im evangelischen Gottesdienst ........................ Das gesungene Wort: Zur Musik und ihrem Bezug auf die Worte im evangelischen Gottesdienst ............... Das gebetete Wort: Zur Sprachgestalt des gemeinsamen Gebets im evangelischen Gottesdienst .......................... Das gegessene und getrunkene WORT: Zum Abendmahl als Teil des WortKults ....................... Das Wort und das Schweigen: Zum Weißraum im WortKult ....................................................................

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496 496 505 507 514 530 532

Inhalt

6.3.3 6.4 6.4.1 6.4.2

7.

Der erlernte Wort-Wechsel: Zu einer evangelischen Liturgiedidaktik ............................................................. Ein kirchentheoretischer und praktisch-theologischer Ausblick ........................................................................ Der evangelische Gottesdienst als WortKult und die Kirchentheorie ......................................................... Der evangelische Gottesdienst als WortKult und die Praktische Theologie ...............................................

11 534 542 543 547

Literatur ....................................................................................... 551

Namensregister .................................................................................... 583

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Vorwort

„Die Gottesdienstfrage ist Zukunfts- und Lebensfrage des kirchlichen Protestantismus.“1

„Was ist Gottesdienst? Diese Frage ist in letzter Zeit immer stärker in das Zentrum der kirchlichen und theologischen Diskussion gerückt.“ – Dieser Satz stammt nicht aus dem Jahr 2011, sondern wurde fast 60 Jahre vorher, 1952, geschrieben. Er eröffnet die umfangreiche Studie zu Luthers Liturgik von Vilmos Vajta.2 Seit vielen Jahren gilt hingegen: Wesensfragen sind nicht populär, und die Frage „Was ist (evangelischer) Gottesdienst?“ gehört zweifellos in diese Kategorie von Fragestellungen.3 Problematisch ist die Frage nach dem „Wesen“ allemal. Wer soll sie beantworten? Wer hat dazu – zumal in einer Kirche des „Priestertums aller Getauften“ – Macht und Recht? Aufgrund welcher Kriterien soll die Frage entschieden werden? Kann eine Antwort anders denn deduktiv gefunden werden, mithin unter Ausblendung von Erfahrungen, Lebenswirklichkeiten und faktischer Pluralität?4 Muss bei der Suche nach einer Antwort nicht von den konkreten Phänomenen und empirischen Tatsachen abstrahiert werden? Muss nicht so getan werden, als könne man aus der jeweiligen Zeitgebundenheit theologischen Denkens und Erkennens herausspringen – mit der problematischen Konsequenz, das jeweils Zeitgebundene zum überzeitlichen ‚Wesen‘ zu glorifizieren und mystifizieren? Gilt diese Gefahr nicht gerade dort, wo ein lebendiges Phänomen wie der Gottesdienst zum Gegenstand der Betrachtung wird und die Gefahr besteht, dass sich eigener ‚Geschmack‘ des betrachtenden Theologen zum allgemeinen Wesen verobjektiviert und verklärt?5 Und folgt aus alledem nicht zwangsläufig die 1

Julius Smend, zitiert nach GRAFF: Geschichte der Auflösung, III. VAJTA: Die Theologie des Gottesdienstes bei Luther, XIII [Hervorhebungen im Original]. 3 In meinen Jahren als Assistent für Praktische Theologie in Erlangen gehörte die Signaturgruppe „L2, 201–300“ der Bibliothek für Praktische Theologie, die den Titel „Wesen des Evangelischen Gottesdienstes“ trägt, nicht zu denjenigen, die zahlreiche Neuzugänge zu verzeichnen hatten. 4 Vgl. EHRENSPERGER: Systematische Liturgik, Teil II 0 [Vorbemerkung: Die Aufgabe einer „Fundamentalliturgik“], 1. 5 Die Geschichte der Liturgieentwicklung zeigt immer wieder – ganz besonders etwa im Nacheinander von Aufklärung und Romantik – wie stark kulturelle ‚Großwetterlagen‘ Verständnisse 2

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14

Vorwort

Trennung von Inhalt und Form und damit die Rücknahme der Grunderkenntnis jeder ästhetisch orientierten (Praktischen) Theologie? Gleichzeitig aber bleibt die Frage „Was ist Gottesdienst?“ m.E. auch in evangelischem Zusammenhang (und in diesem verorten sich die Überlegungen dieser Arbeit) unumgänglich, da (evangelischer) Gottesdienst ständig an unterschiedlichen gottesdienstlichen Orten verantwortlich gestaltet und in entsprechenden Gremien (im deutschsprachigen protestantischen Kontext etwa in den Liturgischen Ausschüssen oder der „Liturgischen Konferenz“) im Blick auf die Zukunft „entwickelt“ werden muss. Die vorliegende Arbeit nimmt die Frage „Was ist evangelischer Gottesdienst?“ daher explizit auf und untersucht Aporien und Wege einer evangelischen Fundamentalliturgik. Der erste Abschnitt zeigt, warum sich evangelische Liturgik mit fundamentalliturgischen Überlegungen schwer tut und in welcher Richtung eine evangelische Fundamentalliturgik formal und inhaltlich zu profilieren wäre (I). Dabei kristallisiert sich die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes als die entscheidende Fragestellung heraus, die in historischer und komparitistischer Hinsicht vertieft und anschließend in kulturwissenschaftlich-theologischer Perspektive einer Lösung entgegengeführt wird (II). Abschließend entwickelt und profiliert die Arbeit die These von einem evangelischen Gottesdienst als WortKult und zeigt die Konsequenzen des Erarbeiteten für die theologisch-liturgische Theoriebildung und die praktische Gottesdienstgestaltung auf (III). Insgesamt unternimmt der vorgelegte Entwurf den Versuch, theologische und ästhetische Argumentationslinien in liturgicis zu verbinden. Er steht damit exemplarisch für eine Aufgabe, die der Praktischen Theologie gegenwärtig (auch jenseits der Liturgik) m.E. als eine ihrer vordringlichen Aufgaben gestellt ist. Die Methode eines abduktiven Arbeitens, die auf den folgenden Seiten entwickelt und durchgeführt wird, scheint mir dafür geeignet. Die vorliegende Untersuchung entstand zu weiten Teilen während meiner Tätigkeit als Assistent am Lehrstuhl für Praktische Theologie in Erlangen und dann auf dem Weg zur Leitung des „Zentrums für Evangelische Predigtkultur“ der EKD in Wittenberg. Dieser Schritt bestimmt die Arbeit auch inhaltlich: Fragestellungen einer ästhetischen Praktischen Theologie, wie ich sie in Erlangen in herausragender Weise im Gespräch und in der Zusammenarbeit mit Martin Nicol sowie im Dialog mit Peter Bubmann stellen und ansatzweise beantworten konnte, und Luthers Weichenstellungen, die mich schon in der Promotion, dann auch in meinem Buch „Aufund Gestaltungen beeinflussen; vgl. dazu z.B. REDTENBACHER: Zur Entwicklung des Liturgiebegriffs, bes. 26–31.

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Vorwort

15

bruch zur Reformation“ (2008) beschäftigten, verbinden sich in vorliegender Arbeit und führen zu der aesthetico-theologischen Mixtur und zur These vom evangelischen Gottesdienst als „WortKult in der Hoffnung auf das WORT“, die sich hoffentlich als anregend sowohl für das Nachdenken über den Gottesdienst als auch für dessen Feier erweist. Inzwischen hat mich mein Weg auf den Leipziger Lehrstuhl für Praktische Theologie geführt und damit auch in die Position des Leiters des Liturgiewissenschaftlichen Instituts der VELKD. Dieser Ort bietet die Chance, das in dieser Habilitationsschrift Erarbeitete im Wechselspiel von wissenschaftlichen und kirchlichen Herausforderungen zu bewähren, zu kritisieren bzw. zu modifizieren. Wenn diese Arbeit ein Beitrag dazu sein kann, die Schönheit des (evangelischen) Gottesdienstes zu erkunden und die Lust an seiner Gestaltung zu stärken, dann hätte sie ihr größtes Ziel erreicht. Im Sommersemester 2010 wurde diese Arbeit vom Fachbereich Theologie an der Philosophischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg als Habilitationsschrift angenommen; im Jahr 2011 mit dem Habilitationspreis der Universität ausgezeichnet. Ohne den intensiven und über die Jahre eminent anregenden Austausch mit Prof. Dr. Martin Nicol (Erlangen) wäre diese Arbeit – bei allen liturgischen Diskussionspunkten, die zwischen uns bleiben (oder gerade wegen dieser!) – nicht denkbar gewesen. Ihm zunächst gebührt mein Dank für eine fast zehnjährige außergewöhnliche Zusammenarbeit und die bleibende Verbundenheit seither. Frau Eleonore Kastl erwies sich als Sekretärin am Institut nicht nur als unverzichtbare Stütze der Arbeit, sondern auch als ermutigende Quelle neuer Motivation. Die Habilitation wurde begleitet von einem Mentorat, dem außer Martin Nicol noch Prof. Dr. Peter Bubmann (Erlangen) und Prof. Dr. Wolfgang Ratzmann (Leipzig) angehörten. Für die vielfältige persönliche Ermutigung und die zahlreichen fachlichen Klärungen danke ich beiden. Der Mühe weiterer Gutachten haben sich Prof. Dr. David Plüss (Bern) und Prof. Dr. Klaus Raschzok (Neuendettelsau) unterzogen. Dafür und für die reichen Hinweise und kritisch-kommentierenden Weiterführungen meiner Thesen bin ich sehr dankbar. Theologie habe ich in den Jahren der Arbeit an dem Projekt als nicht nur literarisches, sondern auch lebendiges Gespräch erlebt. Dafür danke ich stellvertretend für viele andere Prof. Dr. Heinrich Assel, Prof. Dr. Peter Cornehl, PD Dr. Stefan Heuser, Dr. Daniel Meier, Dr. Irene Mildenberger und vor allem Dr. Tanja Gojny, die an einem Wendepunkt der Arbeit die entscheidende Ermutigung zur Weiterarbeit gegeben hat. Auch Prof. Dr.

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16

Vorwort

Karl-Heinrich Bieritz hat mich durch seine Texte vielfältig angeregt und im persönlichen Austausch ermutigt. In den Tagen des letzten Korrekturgangs des Manuskripts, am 5. August 2011, ist er verstorben. Seiner gedenke ich in Dankbarkeit. Den Herausgebern Prof. Dr. Eberhard Hauschildt, Prof. Dr. Anne M. Steinmeier, PD Dr. Lutz Friedrichs und Prof. Dr. Franz K. Praßl danke ich für die Aufnahme dieses Bandes in die Reihe „Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgiewissenschaft und Hymnologie“, dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen), allen voran Herrn Jörg Persch und Herrn Christoph Spill, für die hervorragende verlegerische Betreuung, Frau Andrea Siebert für die entsagungsvolle Arbeit an der Formatierung des Manuskripts für die Druckfassung und Herrn stud. theol. Ferenc Herzig für Hilfen bei der Korrektur und die Erstellung des Registers. Die evangelisch-lutherische Kirche in Bayern, die VELKD und die Liturgische Konferenz haben die Publikation dieser Arbeit durch großzügige Druckkostenbeihilfen möglich gemacht, wofür ich sehr dankbar bin. Meine Frau Pfarrerin Friederike Deeg hat mich beflügelt, ermutigt, inhaltlich angeregt, viele Stunden und Tage auf mich verzichtet und mich immer wieder erinnert, dass das Leben auch noch jenseits des Schreibtisches stattfindet. Ihr danke ich von Herzen und widme ihr dieses Buch. ʲʡʬʹʥʺ Leipzig, im August 2011

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Alexander Deeg

I. Problemfindung oder: Evangelische Fundamentalliturgik als Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

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1. Evangelische Fundamentalliturgik – ihr Ausfall, ihre Notwendigkeit und ihre formale Bestimmung

1.1 „Gottesdienst feiern“ – ein Schlaglicht aus der gegenwärtigen Diskussion Die Verabschiedung einer evangelischen Agende müsse, so meinte Christhard Mahrenholz einmal, zugleich der Startschuss für das Nachdenken über deren Überarbeitung sein.1 In das durch diese pointierte Forderung insinuierte „perpetuum liturgicum“ fügt sich das Papier der „Liturgischen Konferenz“ mit dem Titel „Gottesdienst feiern“, das Ende 2007 verabschiedet und 2009, genau zehn Jahre nach dem Erscheinen des „Evangelischen Gottesdienstbuchs“, publiziert wurde. Sein Ziel ist es, die notwendige Fortsetzung agendarischer Arbeit im Bereich der deutschsprachigen evangelischen Kirchen perspektivisch anzuregen. Mit einer Wahrnehmung dieses Papiers und seiner Argumentation setze ich in diesem Kapitel ein und frage dabei vor allem, welche Rolle die Frage nach einer Theologie des Gottesdienstes für die Aussagen des Textes spielt. „Gottesdienst feiern“ verbindet die gegenwärtige fachwissenschaftliche liturgische Diskussion mit Beobachtungen zur Gottesdienstlandschaft und deren Entwicklung. Liturgietheorie einerseits und Liturgiephänomenologie im Sinne konkreter Wahrnehmung andererseits – diese beiden Perspektiven machen den methodischen Zweischritt des Papiers aus. Dabei nimmt der phänomenologische Zugang, bei dem etwa nach der Bedeutung von kasuellem Kirchgang, nach Gottesdienstzeiten, nach neuen und differenzierten Gottesdienstangeboten, nach Raumempfinden und musikalischen Stilen gefragt wird, einen breiten Raum ein.2 Im zweiten Hauptteil, der unter der Überschrift „Gottesdienst-Theorie“ steht,3 werden Fragen nach dem Zusammenhang von „Form und Inhalt“, „Beheimatung“ etc. geklärt, bevor dann der letzte der elf Unterpunkte die Überschrift trägt: „Von der Theologie zur theologischen Theorie des Gottesdienstes“. Die Kürze dieses lediglich 1

Vgl. MAHRENHOLZ, Grundsätze, 290. Vgl. Gottesdienst feiern, 31–47, dort unter der Überschrift „Gottesdienst-Landschaft“. 3 Vgl. Gottesdienst feiern, 47–58. 2

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20

I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

zweiseitigen Unterpunktes4 begründet der Ausschussvorsitzende Klaus Raschzok wie folgt: „Konsequent verzichtet wurde in der Ausschussarbeit darauf, eine einzige verbindliche (und auch bisher immer schon fiktive) Theologie des evangelischen Gottesdienstes zu erarbeiten, aus der dessen Gestalt normativ abgeleitet werden könnte. Stattdessen zeigte sich die Notwendigkeit, für die Überlegungen zu einer zukünftigen Agendenreform von einem Ensemble verschiedener theologischer Theorien zum Gottesdienst auszugehen, deren lebendige Wechselbeziehungen zur gottesdienstlichen Gestalt jeweils zu beschreiben sind und denen eine angemessene neu zu entwickelnde ‚Agende‘ entspricht.“5

Sieht man etwas genauer hin, wie Theologisches in dem Papier vorkommt, dann lassen sich eine explizite und eine implizite Ebene unterscheiden: (1) In dem bereits erwähnten Abschnitt 11 des zweiten Hauptteils wird zunächst „die Notwendigkeit einer integrativen theologischen Theorie des evangelischen Gottesdienstes“ als „zwingend erforderlich“ bezeichnet.6 Gleichzeitig wird entschieden betont, dass es keinesfalls darum gehen dürfe, eine vermeintlich richtige „Theologie“ des Gottesdienstes zu formulieren. Es gehe um „Aussagen darüber, was Gottesdienst ist, ohne diese jeweils exklusiv […] verbindlich zu machen“.7 Dennoch aber würden „Grenzen“ aufgezeigt.8 – Wie genau dies geschehen soll, bleibt dann allerdings offen. Das Papier verharrt auf einer Meta-Ebene – und benennt und charakterisiert auf einer Druckseite verschiedene Werke zum Gottesdienst, die in den letzten Jahren erschienen sind. Von Rainer Volp und Michael Meyer-Blanck, Geoffrey Wainwright und Oswald Bayer, Ralph Kunz und Alfred Rauhaus bis hin zu Manfred Josuttis ist ein breites Spektrum auf knappem Raum abgedeckt. Wie sich allerdings etwa der dezidiert reformierte Ansatz eines Alfred Rauhaus mit der Betonung eines Gottesdienstes, der nicht durch das Handeln von Funktionsträgern, sondern durch das Handeln der Gemeinde entsteht, mit der Konzeption eines Manfred Josuttis, in der Pfarrer in die verborgene und verbotene Zone des Heiligen führen, verträgt, wird nicht diskutiert. Die Aufgabe einer Zusammenführung dieser verschiedenen Ansätze wird dann zwar formuliert, gleichzeitig aber kapituliert das Papier an dieser Stelle und meint, diese Aufgabe sei „gegenwärtig

4

Vgl. Gottesdienst feiern, 56–58. RASCHZOK: Die Agende der Zukunft, 26; vgl. ders.: Dramaturgie und Theologie, 25f; ders.: Die notwendige Fortsetzung, 12.16f. 6 Gottesdienst feiern, 56. 7 Gottesdienst feiern, 56. 8 Gottesdienst feiern, 56. 5

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[…] noch nicht leistbar“.9 Die Vielfalt der theologischen Ansätze zum Gottesdienst wird aus der Vogelperspektive benannt und mit der Pluralität der liturgiephänomenologisch ermittelten evangelischen Gottesdienstlandschaft verknüpft. So entsteht ein durchaus harmonisches Bild, das Differenz nicht nur denken, sondern auch legitimieren möchte. Gleichzeitig aber bleibt es insofern defizitär, als nicht nur die kritische Reflexionsmöglichkeit, sondern vor allem auch die perspektivische Anregung fehlt. Auf die Frage, wozu und warum der Gottesdienst eigentlich weiterentwickelt werden solle, bleibt der Text der Liturgischen Konferenz eine theologische Antwort schuldig. Ein einziges Mal in dem Unterpunkt zur Theologie kommt dann doch eine materiale Aussage vor: „Zumindest in den Agendenwerken wie im Evangelischen Gottesdienstbuch, aber nicht mehr durchgängig in der kirchlichen Praxis kann von der theologischen Basisannahme ausgegangen werden, dass der Gottesdienst Begegnung mit dem dreieinigen Gott vermittelt […].“10 Was durchaus eine kritische und herausfordernde theologische Vorgabe für die kreative Arbeit an einer erneuerten Agende sein könnte (die liturgische ‚Inszenierung‘ der „Begegnung mit dem dreieinigen Gott“), wird durch den Verweis auf die „kirchliche Praxis“ sofort depotenziert und seines möglicherweise kritisch-konstruktiven Stachels entledigt. (2) Freilich aber bedeutet der faktische Ausfall einer orientierenden theologischen Theorie des Gottesdienstes und der Verzicht auf die Suche nach ihr (und den Streit um sie) nicht, dass keine (normativen) theologischen Sätze in dem Papier auftauchen würden. So wird die „Bindung der Verheißungen an Wort und Sakrament“11 als Grundlage des Gottesdienst erwähnt und gleichzeitig die durch diese Bindung mögliche „Freiheit“ der jeweiligen liturgischen Gestaltungen im Sinne einer „ecclesia semper reformanda“ betont.12 Mehrfach wird CA VII zitiert und daraus gefolgert, dass die „konkret anwesende Gottesdienstgemeinde als Kirche“ zu sehen sei.13 Als Ziel liturgischer Arbeit wird die Prägung „kirchliche[r] Identität“ genannt14 und dies in den Zusammenhang mit der Bedeutung des Sonntagsgottesdienstes für das „kulturelle[] Gedächtnis[] der Kirche“ gebracht.15 In diesem Sinne wird der Gottesdienst auch als „Ort genuiner christlicher Elementarbildung“16 gesehen und in diesem Zusammenhang – recht unvermittelt – von 9

Gottesdienst feiern, 58. Gottesdienst feiern, 57f. 11 Gottesdienst feiern, 29. 12 Vgl. Gottesdienst feiern, 29. 13 Gottesdienst feiern, 35; vgl. auch 38.49.62. 14 Gottesdienst feiern, 35. 15 Gottesdienst feiern, 37. 16 Gottesdienst feiern, 61. 10

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der „heilszueignende[n] Wirkung der Liturgie“ gesprochen sowie von dem „Leib Christi“, in den der einzelne einbezogen werde.17 Mehrfach spricht das Papier von gottesdienstlicher, liturgischer oder sprachlicher „Qualität“ – ohne aber zu fragen, woran diese erkannt und wodurch diese überprüft werden soll;18 einmal heißt es, der Gottesdienst solle „sachgerecht“ gefeiert werden – auch hier unterbleibt die nähere Bestimmung.19 Vom „traditionskontinuierlichen Gottesdienst“ wird gesagt, er sei „für die Existenz der Kirche“ unverzichtbar20 – ein hoch normativer Satz, der – wie auch die anderen zitierten Aussagen – erratisch und unbegründet im Duktus des Ganzen erscheint. Einmal findet sich die Aussage: „Zu fragen ist […], ob das geringe Differenzbewusstsein zwischen medialer (Unterhaltungs-)Kultur und gottesdienstlicher Inszenierungskultur eine Folge mangelnder theologischer Theorie des Gottesdienstes darstellt.“21 Umso erstaunlicher bleibt es, dass diese Theorie dann fast vollständig ausfällt. Am Ende steht ein Vorschlag zur Zukunft des agendarischen Prozesses, der den Gottesdienst am Sonntagmorgen in seiner klassischen, tradierten Form durch Modelltexte hoher Qualität prägen möchte – ein Ansatz, der – etwa in Auseinandersetzung mit der dezidiert anderen gottesdiensttheologischen Konzeption Ernst Langes22 – theologisch gut begründet werden müsste. „Theologie“ aber wird – in einem scharfen Bild formuliert – in dem Perspektivpapier der Liturgischen Konferenz wie eine ‚heiße Kartoffel‘ behandelt. Es hat den Anschein, als verbrenne man sich irgendwie die Finger, wenn man sie berührt. Etwas polemisch gesagt kommen in dem Papier der Liturgischen Konferenz mehr Aussagen zu dem vor, was Theologie des Gottesdienstes nicht sein soll, als zu dem, was sie sein könnte.23 Die Angst vor „monokausale[n] Theoriemodelle[n]“24 und damit vor einer einseitig 17

Gottesdienst feiern, 61. Gottesdienst feiern, 42.63.66.68. 19 Gottesdienst feiern, 65. 20 Gottesdienst feiern, 65. 21 Gottesdienst feiern, 43. 22 Vgl. LANGE: Was nützt uns der Gottesdienst (1973), 338: „Ist es nicht hohe Zeit, daß wir endgültig die Hoffnung begraben, wir könnten den neuen Gottesdienst, den wir suchen, finden auf den Wegen des liturgischen Traditionalismus, das heißt der Wiederherstellung der klassischen Formen und Bedeutungen des Gottesdienstes?“ 23 Vgl. auch die Kritik von Benedikt Kranemann an dem Papier „Gottesdienst feiern“: KRANEMANN: Perspektiven liturgischer Erneuerungsprozesse, bes. 107–112. Kranemann schreibt: „Im Diskussionspapier fehlt eine durchgearbeitete Theologie des Gottesdienstes, die sich vor allem dem stellen müsste, was zu Beginn als Charakteristikum heutiger Gottesdienst-Landschaft genannt worden ist.“ Es gehe um die „Suche nach einer Theologie des Gottesdienstes […], die sich angesichts von Szenarien wie Säkularisierung und Pluralisierung bewähren kann“ (aaO., 107). Ähnlich auch BRANDY: Perspektiven liturgischer Erneuerungsprozesse, 130f. 24 Gottesdienst feiern, 48. 18

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deduktiven Theologie ist groß. Keinesfalls möchte man mehr in die Engführungen einer „historisch oder dogmatisch fundierte[n] Anwendungswissenschaft der Theologie auf den Gottesdienst hin“ geraten.25 Keinesfalls sollen theologische Sätze mehr einseitig als „normativ“ verstanden werden.26 Verständlich wird diese Zurückhaltung wohl nur, wenn man sie in die Entwicklung liturgischer Diskussion im deutschsprachigen Bereich in den vergangenen Jahrzehnten einordnet.27

1.2 Theologische Zurückhaltung – ein Streifzug durch ein halbes Jahrhundert evangelischer Liturgik Das bedeutendste evangelische liturgische Werk in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg war zweifellos Peter Brunners „Lehre vom Gottesdienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde“ aus dem Jahr 1953. Ausgehend von einer dreifachen Ortsbestimmung des christlichen Gottesdienstes in heilsökonomischer, anthropologischer und kosmologischer Perspektive beschreibt Brunner das „Heilsgeschehen im Gottesdienst“ aufgrund der Christusanamnese in Wort und Sakrament. Auch wenn sich Brunners Liturgik als bedeutsam für die Schaffung eines neuen evangelischen Agendenwerks nach dem Zweiten Weltkrieg erwies, ließe sich doch polemisch fragen, ob man aus Brunners dogmatischer Darlegung nicht letztlich doch mehr über den Gottesdienst im Himmel als über den faktischen Gottesdienst auf Erden erfährt. Die Reflexion über den Gottesdienst setzt dogmatisch ‚steil‘ an und bleibt daher in vieler Hinsicht unvermittelt zum tatsächlich gefeierten, erlebten, erlittenen Gottesdienst (wobei Brunner

25

Gottesdienst feiern, 58. Vgl. zur Kritik am „Ausfall der liturgietheologischen Dimension“ in dem Papier auch BIERITZ: Zwischen Skript und Performance, 172. 27 Auffallend ist, dass das etwa zeitgleich entstandene Papier der EKD „Der Gottesdienst. Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis des Gottesdienstes in der evangelischen Kirche“ (2009) diese theologische Zurückhaltung nicht kennt. Im Gegenteil setzt das Papier nach einer Darstellung biblischer und geschichtlicher Grundlagen (16–30) mit einem Kapitel zu „Theologische[n] Orientierungen“ ein (31–51), bevor sich dann Gestaltungsfragen und praktische Überlegungen anschließen. Die Gefahr einer deduktiven Engführung wird nicht als Problem wahrgenommen. Umgekehrt fällt allerdings auf, dass das Papier (als Kommissionspapier einer von der EKD eingesetzten ad-hoc-Kommission) generell einen eher additiven Eindruck vermittelt. Es werden in den verschiedenen Kapiteln unterschiedliche jeweils beachtenswerte Aspekte vor Augen geführt, ohne dass eine theologische, kulturwissenschaftliche oder liturgische ‚Linie‘ erkennbar würde. 26

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eben auch als Systematiker und nicht als Praktischer Theologe über den Gottesdienst schreibt!). Es verwundert daher nicht, dass die evangelische Liturgik diesen Weg Brunners zunächst nicht weiterverfolgt hat. Im Gegenteil: Die Abgrenzung gegenüber Brunner, der im liturgischen Diskurs eine Zeit lang für eine dogmatisch normative und kerygmatisch einseitige, da die Wirklichkeit des Menschen und seine Erfahrungen vergessende, Gottesdienstkonzeption stand, war deutlich.28 Folglich kamen die Ansätze für ein neues liturgisches Nachdenken in den Folgejahren nicht aus der Theologie als Wissenschaft und erst recht nicht aus einer dogmatischen Bestimmung des evangelischen Gottesdienstes, sondern vielmehr aus der in der Praxis vollzogenen Abkehr von der „verordneten Einheit“ (Peter Cornehl) des lutherischen (und unierten) Agendenwerks nach dem Zweiten Weltkrieg und aus der Vielfalt der neuen liturgischen Versuche und Experimente ‚jenseits der Agende‘. Die späten 60er und 70er Jahre können in dieser Hinsicht geradezu als eine neuerliche liturgische Bewegung verstanden werden, deren Erfahrungen erst nach und nach in einen liturgischen Verstehenshorizont eingezeichnet wurden. Dazu wurden anthropologisch orientierte Ansätze zur Frage nach der Funktion und Wirkung des Gottesdienstes entscheidend.29 Aus der wissenschaftlichen Liturgik mehrten sich allerdings bald Gegenstimmen: Gerade die anthropologisch orientierte Forschung erkannte neu die Bedeutung von „Symbol und Ritual“ (Jetter) und konnte dies mit einer Kritik an der allzu eilfertigen „Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands“ verbinden. In Bezug auf die praktische Gestaltungsaufgabe des Gottesdienstes wurden integrative Begründungsmodelle immer wichtiger, wie sie seit der Denkschrift der Lutherischen Liturgischen Konferenz „Versammelte Gemeinde. Struktur und Elemente des Gottesdienstes“ (1974) vor allem in Aufnahme des Begriffs der „Struktur“ gesucht wurden. Die einheitliche Grundstruktur des Gottesdienstes sollte Wiedererkennbarkeit trotz einer Fülle unterschiedlicher Gestaltungsvarianten gewährleisten – ein Modell, das über den Zwischenschritt der „Erneuerten Agende“ (1990) das „Evangelische Gottesdienstbuch“ (1999) prägte. Zu gleicher Zeit profitierte die Liturgiewissenschaft von der Rezeption neuer Theoriemodelle zur Beschreibung des Gottesdienstes, wobei sich die Semiotik als besonders weiterführend erwies.30 Mit ihr war es möglich, die gottesdienstlichen „Zeichen“ neu wahrzunehmen – in ihrem Miteinander von konkreter Gestaltung, Deutekontext und 28

Vgl. CORNEHL: Der theologische Rahmen, 69f; ders.: Die Zukunft der Agende, 84–87. Vgl. exemplarisch Ernst Lange und Karl Ferdinand Müller. 30 Vgl. als Protagonisten einer semiotisch orientierten Liturgik vor allem Rainer Volp und Karl-Heinrich Bieritz. 29

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unterschiedlicher, je individueller Deutung (entsprechend dem dreistelligen Zeichenbegriff der Semiotik: Signifikant, Code und Signifikat). Manfred Josuttis brachte mit seinen Überlegungen zum Gottesdienst als „Weg in das Leben“ einen anderen, in einem sehr spezifischen Sinne „phänomenologischen“ Zugang zum Gottesdienst in die Diskussion, der vor allem die Dimension des inkommensurabel „Heiligen“ wieder in den Mittelpunkt der Überlegungen rückt.31 Im Anschluss an Rudolf Otto einerseits, an psychologische und philosophische Ansätze zur Heterotopie des „Heiligen“ andererseits, wird durch Josuttis die Frage nach der genuin theologischen Bestimmung des gottesdienstlichen Geschehens wieder wichtiger. Gleichzeitig zeigen Josuttis’ Überlegungen sowie die deutlichen Reaktionen, die sie an vielen Orten ausgelöst haben, dass die Frage danach, was der Gottesdienst denn eigentlich insgesamt sei und wozu er diene, gestellt werden muss. Die Tendenz der vergangenen Jahre, eine lediglich formale Antwort unter Verweis auf den Begriff der gemeinsamen Grundstruktur des Gottesdienstes zu geben und ansonsten mit einer großen Vielfalt von Ausformungsvarianten zu rechnen, genügt nicht, wenn ein Dialog mit Josuttis’ Gottesdiensttheologie gesucht werden soll. Ebenso wenig aber erscheinen dazu semiotisch profilierte Einzeluntersuchungen zu der Vielzahl gottesdienstlicher Zeichen weiterführend, wie sie etwa die Liturgik von KarlHeinrich Bieritz prägen (so unverzichtbar sie für Detailfragen sind). Dieses 2004 erschienene umfangreiche Werk setzt in der Liturgiegeschichtsschreibung und in der Liturgiedeskription Maßstäbe. Ein eigener Abschnitt zur Theologie des Gottesdienstes findet sich allerdings auch hier nicht, oder – anders formuliert: Aussagen zur Theologie lassen sich bestenfalls implizit erheben – am ehesten dort, wo unter den geographischen Überschriften „Der Osten“, „Der Westen“ und „Der Norden“ Liturgiefamilien in ihrer Entwicklung vorgestellt werden.32 Der Ausfall ist Bieritz durchaus bewusst und wird von ihm wie folgt begründet: „In den meisten Darstellungen der Liturgik werden systematisch-theologische und anthropologische Überlegungen dem geschichtlichen-praktischen Teil vorangestellt. Das nährt das Missverständnis, als ließe sich konkrete liturgische Praxis aus theologischen bzw. anthropologischen Maximen deduzieren. Der vorliegende Grundriss geht einen anderen Weg: Er setzt bei den konkreten Phänomenen ein und versucht, sie in ihrem historischen, aber auch anthropologischen Zusammenhang zu interpretieren. Liturgietheologische Überlegungen – zum Beispiel zur Rolle des ‚Wortes‘ im Gottesdienst – werden exemplarisch am gegebenen Ort eingearbeitet […].“33 31

Vgl. JOSUTTIS: Der Weg in das Leben. Vgl. BIERITZ: Liturgik, Kap. 11–13. 33 BIERITZ: Liturgik, 15. Vgl. ähnlich auch HAUSCHILDT: Die vier Typen liturgischer Erfahrung, 342f, der die Aufgabe der Liturgik gegenwärtig nicht mehr in dem Versuch der Normierung 32

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Auch hier ist es also die Zurückhaltung gegenüber einem problematisch deduktiven Modell von Theologie, wie es die liturgische Diskussion vor gut 60 Jahren prägte, die zum Verzicht auf grundlegende theologische Überlegungen zum Gottesdienst führt. Die eben vorgestellte knappe Skizze zur Entwicklung evangelischer Liturgik in den letzten Jahrzehnten34 suggeriert eine Linearität, die so nur aus der Vogelperspektive und idealiter ausgemacht werden kann. Faktisch wird auch gegenwärtig noch nach der „Funktion“ des Gottesdienstes gefragt,35 und es werden nebeneinander stärker anthropologische oder theologische Argumente gesucht und unterschiedliche methodische Anleihen (nicht nur bei Semiotik und Phänomenologie) gemacht. Dennoch scheinen mir im Nacheinander von (1) dogmatisch bestimmter, primär deduktiver, (2) empirisch geprägter, primär induktiver und (3) semiotisch arbeitender, primär integrativer Liturgik drei wesentliche Etappen der Diskussion der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts benannt. Eigentümlich gegenläufig zu der bis hierhin charakterisierten Entwicklung und vor allem zu den Absagen an eine liturgietheologische Verortung gegenwärtig praktisch-theologischen Nachdenkens in liturgicis verläuft eine Entwicklung im Bereich der systematischen Theologie der vergangenen Jahre. Bleibt die praktisch-theologische Liturgik zurückhaltend bis ablehnend gegenüber einer „Theologie des Gottesdienstes“, so wird eben diese von systematischen Theologen teilweise euphorisch als Basis gegenwärtigen Theologietreibens gepflegt. Allerdings ist es ein anderer Genitiv, der hier die Richtung angibt: „Theologie des Gottesdienstes“ wird in zahlreichen Darstellungen der vergangenen Jahre als genetivus subiectivus verstanden. Die leitende Frage lautet dann: Welche Theologie ergibt sich aus dem Gottesdienst? Wie kann er so gelesen werden, dass die lex orandi wirklich die lex credendi bestimmt?36 Seit Romano Guardini in seinem einflussreichen Aufsatz „Über die systematische Methode in der Liturgiewissenschaft“ aus dem Jahr 1921 eine primär historisch bzw. rubrizistisch des Gottesdienstes aufgrund von theologischen oder historischen Überlegungen sieht, sondern in der „Kartographierung“ der liturgischen Landschaft (Zitat: 342). Dieser Ansatz Bieritz’ deckt sich mit seiner bereits 1979 formulierten Ansicht, dass eine Pluralität unterschiedlicher Deutungen (Semantiken) des Gottesdienstes zu pflegen sei; er könne durchaus „einmal als ‚Verkündigungsgeschehen‘, […] ein andermal als ‚Lernprozeß‘, ein weiteres Mal als ‚Bestätigungssituation‘, ein viertes Mal als ‚Fest‘, ein fünftes Mal als ‚Aktion‘ strukturiert und gedeutet werden“ (Struktur, 80). 34 Vgl. auch den Überblick bei KLIE: Zeichen und Spiel, 28–47, der im 20. Jahrhundert ein Nacheinander von kultischer, befreiungstheologischer, ritualtheoretischer und phänomenologischer Liturgik unterscheidet. 35 Vgl. z.B. DINKEL: Was nützt der Gottesdienst. 36 Die Verbindung von lex orandi und lex credendi geht auf Prosper von Aquitanien (5. Jh.) zurück, der in antipelagianischer Zuspitzung das fürbittende Gebet als grundlegend für die Soteriologie betrachtete; vgl. dazu SANDER: Lex orandi, 34.

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1. Evangelische Fundamentalliturgik – ihre formale Bestimmung

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orientierte Liturgik an ihre systematisch-theologische Aufgabe erinnerte, ist diese Richtung des Nachdenkens im katholischen Bereich bleibend vorhanden. Als besonders einflussreich erwies sich dabei die vor einem halben Jahrhundert in deutscher Übersetzung erschienene „Theologie der Liturgie“ von Cyprian Vagaggini. Gegenwärtig kann auch auf Andrea Grillos „Einführung in die liturgische Theologie“ verwiesen werden.37 Evangelischerseits liegen etwa mit den Arbeiten von Bernd Wannenwetsch und Jochen Arnold in ethischer und systematisch-theologischer Perspektive umfangreiche Untersuchungen vor.38 Hinzu kommen im englischsprachigen Bereich Geoffrey Wainwright, Stanley Hauerwas, Gordon Lathrop, Don E. Saliers u.v.a.39 Die ‚andere Seite des Genitivs‘ aber bleibt damit offen. Als genetivus obiectivus verstanden würde „Theologie des Gottesdienstes“ die Frage stellen: Wie kann und soll der Gottesdienst theologisch beschrieben und wie aufgrund theologischer Überlegungen gestaltet werden (vgl. unten 1.5.1)? Ich nähere mich damit dem, was ich als Aufgabe einer (evangelischen) Fundamentalliturgik in praktisch-theologischer Perspektive bestimme.

1.3 Fundamentalliturgik – ein Begriff und seine Bedeutung Mit dem Begriff der „Fundamentalliturgik“ verhält es sich nicht grundlegend anders als mit dem Begriff der „Fundamentaltheologie“. Letzterer wurde vor allem in katholischem Kontext gebraucht,40 bis Gerhard Ebeling (1970)41 und dann auch Wilfried Joest (1974)42 versuchten, den Begriff, „der sich seiner Kürze wegen empfiehlt“43, auch im evangelischen Bereich zu etablieren. Freilich geschah dies mit einer nicht unwesentlichen Verschiebung der Bedeutung: So meinte „Fundamentaltheologie“ im Katholizismus vor allem die „Begründung des Rechtes der Theologie, die göttliche 37

2006 von Michael Meyer-Blanck aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzt. Vgl. WANNENWETSCH: Gottesdienst als Lebensform; ARNOLD: Theologie des Gottesdienstes; ders.: Was geschieht im Gottesdienst; ders.: Der Gottesdienst als Gegenstand und Quelle; vgl. ähnlich auch ASSEL: Zur evangelischen Lehre vom Gottesdienst, bes. 35.40, sowie BAYER: Theologie und Gottesdienst, 31–35. 39 Vgl. z.B. WAINWRIGHT: Art. Gottesdienst [dort Hinweise auf weitere Literatur des Autors]; HAUERWAS: Sanctify Them in Truth; LATHROP: Central Things; SALIERS: Worship as Theology; ders., Worship Come to its Senses. 40 „Bisher galt es als interkonfessionelle opinio communis, Fundamentaltheologie sei eine katholische Sache.“ (EBELING: Erwägungen zu einer evangelischen Fundamentaltheologie, 479). 41 Vgl. EBELING: Erwägungen zu einer evangelischen Fundamentaltheologie. 42 Vgl. JOEST: Fundamentaltheologie. 43 JOEST: Fundamentaltheologie, 10. 38

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Offenbarung als ihr Fundament vorauszusetzen, durch den philosophischen Aufweis, daß die Vernunft des Menschen in sich selbst auf den Empfang solcher Offenbarung hingeordnet und ihrer bedürftig ist.“44 Es ging (und geht) um einen apologetischen45 und zugleich in aller Regel „natürlich-theologischen“ bzw. ontologischen Zugang zur Begründung der Theologie. Bearbeitet wird „das Gewißheitsproblem, das die christliche Theologie in der Neuzeit überfallen hat.“46 Joest hingegen versteht den Begriff der „Fundamentaltheologie“ formaler als „die Besinnung auf Grund, Normen und Methode theologischer Aussagen“.47 Und für Gerhard Ebeling verbinden sich mit der Fundamentaltheologie zwei auch für die evangelische Theologie unverzichtbare Fragestellungen: einerseits die nach dem „Grund in Sachen der Theologie“, andererseits die nach dem „Begründen“ theologischer Aussagen.48 Freilich ist es ihm dann wichtig, den „Grund“ nicht in einem „Grundsatz“ statisch zu verankern, sondern in einem „Grundvorgang“ zu beschreiben,49 der letztlich mit dem Namen „Jesus Christus“ umgriffen und auf theologischer Ebene als In- und Miteinander von „Gesetz und Evangelium“ beschrieben werden kann.50 In dieser Hinsicht entwickelt Ebeling Anregungen, um die problematische Disziplinenzerklüftung der Theologie zu überwinden und sich mit neuer Energie der enzyklopädischen Frage zuzuwenden.51 Bis in die Gegenwart dauert die Diskussion an, ob „Fundamentaltheologie“ auch eine evangelische Aufgabe sei bzw. wie genau deren Aufgabenbereich zu bestimmen wäre. So bewegen sich die Beiträge in dem 2004 erschienenen Sammelband „Evangelische Fundamentaltheologie in der Diskussion“ zwischen Zustimmung und Ablehnung zum Projekt evangelischer Fundamentaltheologie und bestimmen deren Inhalt entweder stärker in apologetischer, methodischer oder enzyklopädischer Perspektive.52 Die 44

JOEST: Fundamentaltheologie, 10. Gelegentlich konnte der Begriff der „Apologetik als Wechselbegriff für Fundamentaltheologie“ erscheinen; EBELING: Erwägungen zu einer evangelischen Fundamentaltheologie, 483.489– 498. 46 EBELING: Erwägungen zu einer evangelischen Fundamentaltheologie, 507. 47 JOEST: Fundamentaltheologie, 10. 48 EBELING: Erwägungen zu einer evangelischen Fundamentaltheologie, 510. 49 Vgl. EBELING: Erwägungen zu einer evangelischen Fundamentaltheologie, 513. 50 Vgl. EBELING: Erwägungen zu einer evangelischen Fundamentaltheologie, 514–518. 51 Vgl. EBELING: Erwägungen zu einer evangelischen Fundamentaltheologie, 519–524. 52 Vgl. PETZOLDT: Evangelische Fundamentaltheologie; vgl. die Übersicht über neuere Literatur zum Thema aaO., 28–30. Zur Darstellung unterschiedlicher Arbeitsschwerpunkte einer möglichen evangelischen Fundamentaltheologie vgl. aaO., 33–37. Petzoldt benennt hier die apologetische Aufgabe, die theologische Prinzipienlehre, die theologische Enzyklopädie, die Wissenschaftstheorie der Theologie sowie die Thematisierung der Religionsthematik. Vgl. zum Stand der fundamentaltheologischen Diskussion in der Mitte der 1990er Jahre auch WAGNER: Einführung in die Fundamentaltheologie. 45

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zuletzt veröffentlichte „Evangelische Fundamentaltheologie“ entstammt der Feder des Exegeten Hans Hübner und erschien im Jahr 2005 als eine „Theologie der Bibel“ – und damit als Versuch, Grundlagen des theologischen Denkens als eines Denkens „von der heiligen Schrift her“ zu entfalten.53 Auch der Begriff der „Fundamentalliturgik“ wird zunächst im katholischen Kontext verwendet. So legte etwa Hermann Reifenberg 1978 eine zweibändige „Fundamentalliturgie“ vor, die – nach einer „Einleitung in die Liturgie und Liturgiewissenschaft“54 – in die „Systematische Liturgiewissenschaft“ einführt und diese wiederum zweifach untergliedert: in eine „Formalliturgik“ und eine – allerdings nicht mehr eigens ausgeführte – „Materialliturgik“. Die „Formalliturgik“ begreift Reifenberg als „Fundamentalliturgik“ im engeren Sinn.55 Hier geht es um die „Grundlagen“56 des Gottesdienstes, die zweifach entfaltet werden: in theologischer und anthropologischer Hinsicht entsprechend der doppelten Verstehensmöglichkeit des Wortes „Gottes-Dienst“ als „Dienst Gottes am Menschen, [sic!] und des Menschen Dienst im Sinne Gottes“57. Der epistemologische Ausgangspunkt für die Bestimmung des Gottesdienstes ist dabei für Reifenberg der „nach dem Lebenssinn“ fragende Mensch58 – ein Ausgangspunkt, der auch für einen Strang der katholischen Fundamentaltheologie mit ihrer apologetischen Tendenz typisch ist. Dieser Mensch werde zur Frage nach dem Religiösen, zur Frage nach Transzendenz geführt.59 Neben dieser Anlage des Menschen als Ausgangspunkt für die Bestimmung der Bedeutung der Liturgie ist es die Erfahrung der „Feier“, von der Reifenberg epistemologisch ausgeht.60 Auch dieses allgemein-menschliche Phänomen finde in der religiösen Feier „in gesteigertem, erhöhtem, potenziertem, zugleich auch differenziertem Maße“ statt.61 Auf dieser doppelten Grundlage kommt Reifenberg zu einer Bestimmung des Gottesdienstes als „Versammlung im Horizont des Heiligen, die, phänomenologisch betrachtet, ihre Prägung vom Charakter des Feierns erhält.“62 In diesen allgemeinen Rahmen zeichnet Reifenberg den Christusbezug als das Spezifische der Feier im Christentum

53

Vgl. HÜBNER: Evangelische Fundamentaltheologie, Zitat: 18. Vgl. REIFENBERG: Fundamentalliturgie, Bd. 1, 21–180. 55 Vgl. REIFENBERG: Fundamentalliturgie, Bd. 1, 17. 56 REIFENBERG: Fundamentalliturgie, Bd. 1, 19. 57 REIFENBERG: Fundamentalliturgie, Bd. 1, 17; ähnlich aaO., 19. 58 REIFENBERG: Fundamentalliturgie, Bd. 1, 22; vgl. insg. aaO., 22–25. Explizit schließt sich Reifenberg an die Fragestellung der „Fundamentaltheologie“ an (vgl. aaO., 25). 59 Vgl. REIFENBERG: Fundamentalliturgie, Bd. 1, 24f. 60 Vgl. REIFENBERG: Fundamentalliturgie, Bd. 1, 29. 61 REIFENBERG: Fundamentalliturgie, Bd. 1, 29. 62 REIFENBERG: Fundamentalliturgie, Bd. 1, 30. 54

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ein.63 Dabei fällt auf, dass Reifenberg im Kern deduktiv vorgeht: Er benennt etwa als die drei „Hauptkennzeichen“ des christlichen Gottesdienstes: „Auftrag – Leitung (Aufsicht) – Ordnung (‚Kosmos‘ – Schönheit)“64 und führt dazu und zu weiteren Aspekten in lockerer Folge immer wieder allgemein anthropologische, psychologische, historische, biblische und dogmatisch-theologische Argumente an. Ebenso werden als die vier Grundaspekte zur Frage nach dem „Wesen“ des christlichen Gottesdienstes ohne weitere Begründung benannt: „Mysterium“, „Christusmysterium“, „Paschamysterium“ und „Kultmysterium“,65 und der Gottesdienst wird beschrieben als „Koinonia zwischen Gott und Mensch im Bezugrahmen von ‚Feiern‘“66. Genauer bespricht Reifenberg dann die Träger der gottesdienstlichen Feier,67 Formen,68 Zeit69 und Raum der Liturgie70 sowie summarisch Typen des Gottesdienstes71. Insgesamt zeigt sich bei Reifenberg, dass Fundamentalliturgik im 20. Jahrhundert nicht einseitig dogmatisch-theologisch arbeiten kann, sondern ebenso anthropologische und damit human- und kulturwissenschaftliche Argumentationslinien mit berücksichtigen muss. Gleichzeitig bleibt Reifenbergs Arbeit in epistemologischer Hinsicht ungenügend. Ein deduktiver Stil kennzeichnet das Werk; die kritische Frage nach dem Woher der vorgetragenen Erkenntnisse ist nicht im Blick. Nicht zuletzt macht Reifenbergs „Fundamentalliturgik“ durch die Fülle der untersuchten Einzelthemen einen insgesamt eher additiven Eindruck. Dieser ergibt sich auch, wenn man einen der jüngsten katholischen Beiträge zum Thema betrachtet: den 1998 von Anscar J. Chupungco herausgegebenen Sammelband mit dem Titel „Fundamental Liturgy“.72 Als grundlegendes Kompendium behandeln die einzelnen Beiträge nacheinander Fragestellungen zur „liturgischen Epistemologie“, zur „liturgischen Feier“ sowie zum Verhältnis von „Liturgie und Humanwissenschaften“. Faktisch verzichtet dieser Sammelband daher auf die Erhebung eines eigenen systematisch begründeten Liturgiebegriffs sowie eines eigenen Ansatzes zur liturgischen Epistemologie. Zeitlich zwischen Reifenberg und Chupungco liegt die Dissertation von Werner Hahne mit dem Titel „De arte celebrandi“, die sich im Untertitel 63

Vgl. REIFENBERG: Fundamentalliturgie, Bd. 1, 30–49. REIFENBERG: Fundamentalliturgie, Bd. 1, 53. 65 Vgl. REIFENBERG: Fundamentalliturgie, Bd. 1, 182f. 66 Vgl. REIFENBERG: Fundamentalliturgie, Bd. 1, 186–229. 67 Vgl. REIFENBERG: Fundamentalliturgie, Bd. 1, 230–296. 68 Vgl. REIFENBERG: Fundamentalliturgie, Bd. 2, 21–235. 69 Vgl. REIFENBERG: Fundamentalliturgie, Bd. 2, 236–311. 70 Vgl. REIFENBERG: Fundamentalliturgie, Bd. 2, 312–385. 71 Vgl. REIFENBERG: Fundamentalliturgie, Bd. 2, 386f. 72 Vgl. CHUPUNGCO: Fundamental Liturgy. 64

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„Entwurf einer Fundamentalliturgik“ nennt und 1990 erschien. Hahnes Fundamentalliturgik verknüpft liturgietheologische Überlegungen im Anschluss an die Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils mit Wahrnehmungen zur Geschichte und Gegenwart des Kunstbegriffs zu einer „Kunst, Gottesdienst zu feiern“.73 Basis für die Überlegungen Hahnes ist die vielfache Kritik an den Mängeln der Liturgiereform, die mit Begriffen wie „Verbalisierung“, „Pädagogisierung“, „Rationalisierung“, „Entsakralisierung“ u.a. benannt werden können.74 Diese möchte der Autor dadurch überwinden, dass er eine „mitreißende und begeisternde ‚Gesamtschau‘“ auf den Gottesdienst und das Geschehen in ihm entwickelt und somit einen Beitrag dazu leistet, dass möglichst viele den Gottesdienst „verstehen“, ihn mittragen „und aus ihm Kraft, Befreiung und Wegweisung für ihr Leben empfangen“.75 Der mangelnden Liturgiebegeisterung (nicht nur unter den Vorstehern der Liturgie, sondern auch unter den übrigen Feiernden) soll durch eine neue Liturgiewahrnehmung aufgeholfen werden, die sich Hahne von der kreativen Verknüpfung der Liturgie mit der Kunst verspricht. Es geht darum, Liturgen zu einer neuen Selbsteinschätzung ihrer Rolle zu führen: von treuen, aber erwartungslosen Rubrizisten zu Künstlern. Und auch die feiernde Gemeinde soll sich im Kontext des pragmatischen Kunstbegriffs von Hahne (Kunst bedeutet „Können“76) als Künstler sehen lernen. Die so gewonnene neue „Feier-Kompetenz“77 werde zu einer veränderten Gestaltung und Erfahrung des Gottesdienstes führen, der dann als „Spiel der Befreiung“ bzw. als „Fest des Glaubens“ gesehen werden könne.78 Der epistemologische Ausgangspunkt ist für Hahne die Gottesdiensttheologie des Zweiten Vatikanischen Konzils, die er zusammenfassend interpretiert und durch die Verbindung mit der zunächst externen Theorie der „Kunst“ in ein neues Licht rückt, woraus sich wiederum Perspektiven für die Weiterarbeit ergeben. Das „Fundamentale“ an dem Entwurf liegt also nicht darin, eine ontologische oder anthropologische Grundlegung für die Notwendigkeit des Gottesdienstes zu entwerfen, sondern darin, den Gottesdienst insgesamt in theologischer Perspektive wahrzunehmen und neu zu betrachten. Mit diesem Verständnis erscheint mir Hahne auch für die fun73 Vgl. die Architektur des Buches, in dem ein erster, sehr ausführlicher Teil über „Etymologie, Entwicklung und gegenwärtige[n] Gebrauch des Wortes ‚Kunst‘“ handelt (39–181); in einem zweiten Teil geht Hahne dem „Gottesdienstverständnis des Zweiten Vatikanums und der nachkonziliaren Liturgiereform“ nach (184–362), bevor ein (leider nur sehr kurzer) dritter Teil die Ergebnisse zu einer „Ars celebrandi“ zusammenführt (363–392). 74 Vgl. HAHNE: De arte celebrandi, 21–24, und vgl. unten Kap. 4.1. 75 HAHNE: De arte celebrandi, 29. 76 Vgl. HAHNE: De arte celebrandi, 42–47. 77 Vgl. zu dem Begriff HAHNE: De arte celebrandi, 354 u.ö. 78 Vgl. zu den beiden letztgenannten Begriffen HAHNE: De arte celebrandi, 375 [dort hervorgehoben].

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damentalliturgischen Überlegungen dieser Arbeit wegweisend, auch wenn die Konsequenzen, die bei Hahne in einer mimetisch-identifizierenden Inszenierungstheorie gipfeln (Gottesdienst als Darstellung der Christus-Gestalt), nicht nachvollzogen werden können.79 Eine breite Spur hat der Begriff der „Fundamentalliturgie“ im katholischen Kontext nicht gezogen. Zahlreiche neuere Abhandlungen sprechen nicht von „Fundamentalliturgie“, sondern eher von der „Theologie der Liturgie“ (vgl. z.B. Vagaggini80) bzw. von „Liturgischer Theologie“ (ein Begriff, den Romano Guardini zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägte)81 oder „systematischer Liturgik“82. Die Begriffe machen deutlich, dass hier immer wieder nach einer Verhältnisbestimmung zwischen systematisch-theologischer, dogmatischer Argumentation einerseits und praktisch-theologischer, liturgischer Argumentation andererseits gesucht wird. Ist die Liturgie Quelle der Theologie oder umgekehrt die Theologie/Dogmatik Norm der Liturgie oder gehören beide Richtungen untrennbar zusammen (lex orandi – lex credendi, bzw. genauer „legem credendi lex statuat supplicandi“)?83 Welche Rolle spielt der tatsächlich gefeierte Gottesdienst für die theologische Theoriebildung84 und umgekehrt die theologische Theorie für die Gestaltung des Gottesdienstes? Soweit ich sehe, ist der Begriff der „Fundamentalliturgik“ bisher auf evangelischer Seite kaum rezipiert worden; es erscheint häufiger lediglich als Adjektiv „fundamentalliturgisch“ und meint dann Überlegungen, die sich mit grundlegenden und allgemeinen Fragen der Liturgie beschäftigen – etwa mit der Rolle der Predigt im evangelischen Gottesdienst oder dem Charakter des evangelischen Gottesdienstes insgesamt.85 Die Zurückhaltung gegenüber dem Begriff „Fundamentalliturgik“ mag ähnliche Gründe haben, 79 Vgl. dazu die Auseinandersetzung unten Kap. 5.2.1; vgl. zur Position Hahnes vorläufig nur dessen pointierte Schlussthese: „‚Die Kunst, Gottesdienst zu feiern‘[,] ist ein ‚Können‘: es ist erkenntnis-geleitetes Handeln, nachahmend-schöpferische Potenz und befreiend-verbindliche Darstellung der Christus-Gestalt“ (HAHNE: De arte celebrandi, 392 [im Original hervorgehoben]). 80 Vgl. VAGAGGINI: Theologie der Liturgie. 81 Vgl. nur GRILLO: Einführung in die liturgische Theologie; HOPING/JEGGLE-MERZ: Liturgische Theologie. Bereits im Untertitel wird der Begriff „Liturgische Theologie“ mit der Bezeichnung „systematische Liturgiewissenschaft“ verbunden. Vgl. die ausführliche, 161 Titel verzeichnende Bibliographie zum Thema aaO., 165–178. Vgl. zu GUARDINI besonders ders.: Über die systematische Methode in der Liturgiewissenschaft. – In seiner Einleitung zu Grillos „Einführung in die liturgische Theologie“ verwendet der Übersetzer des Buches Michael Meyer-Blanck den Begriff „Fundamentalliturgik“ zur Kennzeichnung dessen, was Grillo in seinem Buch unternimmt und versteht diesen Begriff so, dass „die Feiergestalt des Glaubens und die Feierpraxis zu einer unhintergehbaren Wirklichkeit für die Grundlagenreflexion dessen, was Glaube ist, erhoben“ werden (in: GRILLO: Einführung in die liturgische Theologie, 19–30, 26). 82 Vgl. KRANEMANN: Art. Liturgiewissenschaft, 989. 83 Vgl. dazu nur HOPING: Gottesrede im Raum der Liturgie, bes. 9–11. 84 Vgl. hierzu vor allem JEGGLE-MERZ: Im Feiern erst erschließt sich die Liturgie. 85 Vgl. GRETHLEIN: Die Predigt; WIGGERMANN: Liturgie im Fragment.

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wie sie für die nur vorsichtige Annäherung und vielfache Zurückweisung des Begriffs der „Fundamentaltheologie“ aufgeführt wurden. Auch hier scheint der ‚ontologische Generalverdacht‘ eine Aufnahme des Begriffs schwer zu machen – die Angst davor, mit der Suche nach dem „Fundamentalen“ zugleich eine tendenziell problematische, ontologisch-stabilisierte und vernünftig-theologische Basis in den Blick zu nehmen, von der dann alles Weitere deduziert werde. Im Blick auf die Praktische Theologie formuliert: die Angst, dass Praktische Theologie zu einer bloßen theologia applicata verkommt, die andernorts Erkanntes in die konkreten Handlungsfelder pastoralen Tuns umsetzt.86 Dieses Warnsignal gilt es aufzurichten; gleichzeitig aber bleiben die beiden von Ebeling im Blick auf die Theologie insgesamt genannten Fragestellungen auch im Blick auf den Gottesdienst bedeutsam: (1) Worin liegt der Grund evangelischen Gottesdienstes? Und damit zusammenhängend: wie „notwendig“ ist der Gottesdienst eigentlich für evangelische Christen? Könnten diese letztlich auch ganz gut ohne den regelmäßigen Sonntagsgottesdienst leben – wie es (keineswegs erst im 20. Jahrhundert!) faktisch die Mehrzahl tut, wie es sich aber auch aus einer Lektüre der Vorrede Luthers zu seiner „Deutschen Messe“ ergeben könnte, in der er dem deutschsprachigen Gottesdienst eine primär didaktische Funktion für diejenigen zuweist, die noch nicht „mit Ernst“ Christen sein wollen (vgl. unten Kap. 2.1)?87 (2) Wie vollzieht sich das Begründen liturgischer Aussagen? Welcher expliziten oder impliziten liturgischen Epistemologie bedienen sich Entwürfe zur Liturgik? Mit den beiden Fragen nach „Grund“ und „Begründen“ ist die Richtung vorgegeben, in der material und formal die Aufgabe einer Fundamental86

Vgl. z.B. KLIE: Zeichen und Spiel, 12. Vgl. demgegenüber die Begründung der Notwendigkeit der Messe in katholischen Entwürfen (z.B. bei Vagaggini oder Fürst; s. unten). Peter Cornehl grenzt sich explizit dagegen ab, durch eine liturgische Theorie „das Existenzrecht des Gottesdienstes abstrakt […] beweisen“ zu wollen. „Ziel ist vielmehr, den Gottesdienst in seinen geschichtlichen Erscheinungsformen, in seiner geschichtlichen Eigenart und in seinem Gewordensein zu verstehen und auf dieser Grundlage zu einer angemessenen Praxis anzuleiten“ (CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, 32, im Original hervorgehoben). Zu fragen bleibt m.E., ob es hier nicht doch einen Unterschied zwischen „beweisen“ und „begründen“ geben könnte, der die Frage nach der „Notwendigkeit“ des Gottesdienstes rechtfertigt. Auch Cornehl verzichtet nicht darauf, den „Sinn“ des Gottesdienst, sein „Wozu“ zu beschreiben (vgl. aaO., bes. 32–37). Er schreibt: „Gottesdienst ist aus inneren Gründen notwendig: weil die Botschaft vom Heil in Jesus Christus verkündigt, die Sakramente gefeiert und die Erfahrungen des Glaubens in der Gemeinschaft der Christen ausgetauscht werden müssen“ (aaO., 32). 87

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

liturgik gesucht werden muss. Ich widme mich zunächst dem Formalen und bestimme Fundamentalliturgik in dieser Hinsicht näher.

1.4 Liturgische Epistemologie – die formale Bestimmung der Fundamentalliturgik 1.4.1 Wege liturgischer Epistemologie – zugleich ein systematisierter Forschungsüberblick „Fundamentalliturgik“ hat den Überlegungen des vorausgehenden Abschnittes folgend die Aufgabe, als eine Art liturgischer Prolegomena die „Grund- und Anfangsfragen“ der Liturgik zu klären, in formaler Hinsicht heißt das: nach Wegen und Aporien liturgischer Epistemologie zu fragen – oder, mit Eberhard Jüngel formuliert, die Frage zu stellen: „Was kommt als Erkenntnisgrund einer Theologie des Gottesdienstes in Betracht?“88 Dies bedeutet eine zugleich kritische und konstruktive Fragerichtung: Kritisch beleuchtet sie Wege bisheriger liturgischer Epistemologie; konstruktiv fragt sie nach Perspektiven und Möglichkeiten eines liturgischen Denkens, das seiner Aufgabe gerecht wird. Der Begriff „Epistemologie“ leitet sich ab von dem griechischen evpisth,mh, das mit „Erkenntnis“ oder „Wissenschaft“ übersetzt werden kann und in der vorsokratischen Philosophie „das spekulative Denken des einzelnen Philosophen“ im Unterschied zu der Sinneswahrnehmung (ai;sqhsij) meinte.89 Die Auseinandersetzung darüber, welche Bedeutung den Sinnen für die Erkenntnis zukommt und ob und inwiefern überhaupt Erkenntnis möglich ist, prägte die griechische Philosophie von dieser Zeit bis hin zum Neuplatonismus – und damit auch die abendländische Philosophie über die Antike hinaus bis in die Gegenwart. Letztlich hatte sich alle Theologie und Philosophie mit der Frage nach der Möglichkeit wahrer Gottes-, Menschen- und Welterkenntnis abzuarbeiten. Die Philosophien des Rationalismus, Empirismus, Idealismus und Positivismus können als Variationen des immer gleichen Themas gelesen werden. Eine Verschärfung der Fragestellung ergab sich im frühen 20. Jahrhundert mit der sprachphilosophischen Wende (Wittgenstein), deren Auswirkungen sich bis hin zu Dekonstruktion und Poststrukturalismus aufweisen lassen. Der Begriff „Erkenntnistheorie“ bildete sich (im deutschsprachigen Bereich) erst im 19. Jahrhundert im Kontext der Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants und mit den sich rapide entwickelnden und zunehmend untheoretisch arbeitenden Naturwissenschaften. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreitete sich der Begriff „Epistemologie“ im englischen und französischen Sprachraum und wurde im deutschsprachigen Bereich zunächst nur in der Rezeption dieser Theorieschulen auf88 89

JÜNGEL: Der evangelisch verstandene Gottesdienst, 283. HAGER: Art.: Episteme, 588.

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1. Evangelische Fundamentalliturgik – ihre formale Bestimmung

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genommen (dabei zeigt sich besonders in der französischen Ausrichtung der „Épistémologie“ ein eigenständiger Weg). Grundlegend für die Epistemologie ist eine kritische Haltung: Epistemologie hinterfragt vermeintliche Selbstverständlichkeiten, zeigt auf, wie Aussagen über Wahrheiten und Gültiges getroffen werden und weist unter Umständen neue Wege der Erkenntnis. Inzwischen steht Epistemologie für die „Erkenntnistheorie“ im allgemeinen Sinn und bildet zusammen mit Ethik und Logik den grundlegenden philosophischen Fächerkanon.90 Es geht ihr um die Frage, „welche Erkenntnisse bei welchen Methoden und Beweisführungen inwiefern als ‚sicher‘, wahr oder gerechtfertigt gelten können“91. Matthias Steup schreibt: „Defined narrowly, epistemology is the study of knowledge and justified belief.“92 Gegenüber diesem engeren Verständnis führt Matthias Steup in seinem Lexikonartikel in der „Stanford Encyclopedia of Philosophy“ auch ein weiteres Verständnis von Epistemologie vor Augen: „[…] epistemology is about issues having to do with the creation and dissemination of knowledge in particular areas of inquiry.“93 In diesem weiteren Verständnis kann der Begriff dann auch mit unterschiedlichen Adjektiven verbunden werden, um den Bereich, auf den sie sich beziehen, zu charakterisieren. So wird der Begriff „theologische Epistemologie“ vor allem, aber keineswegs ausschließlich im katholischen Kontext zur Bezeichnung der Frage nach Wegen, Möglichkeiten und Grenzen der Gotteserkenntnis verwendet. Die evangelisch-theologische Fakultät der Universität Rostock etwa nennt in einem ihrer Forschungsberichte die „Theologische Epistemologie in der Moderne“94 als eines ihrer Schwerpunktgebiete. Im Deutschen ist der Begriff der „liturgischen Epistemologie“ kaum eingeführt. Dies allerdings sehe ich eher als Vor-, denn als Nachteil. In einigen englischsprachigen Dokumenten begegnet die „liturgical epistemology“ durchaus in dem von mir intendierten Sinn. Festzuhalten bleibt damit: x Der Begriff der Epistemologie beschreibt präzise die Fragestellungen nach der Begründung der Erkenntnis und der Methode auf dem Weg zur Erkenntnis. x Gleichzeitig impliziert der Begriff eine kritische Dimension. (Immer wieder ist die Geschichte der Epistemologie davon geprägt, dass scheinbar banale Fragestellungen ganze Systeme des Denkens erschüttern können. Epistemologie ist eine ‚gefährliche‘ Disziplin der Philosophie!) x Neben ihrer kritischen Pointe ist Epistemologie zugleich aber auch eine konstruktive Disziplin, die Grundlagen der und Wege zur Erkenntnis erarbeiten und zur Diskussion stellen will.

90 91

1).

Vgl. grundlegend z.B. STEUP: A Companion to Epistemology. So die m.E. treffende Formulierung unter http://de.wikipedia.org (Art.: Erkenntnistheorie,

92

MATTHIAS STEUP: Art. Epistemology, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy [Internetressource], 1. 93 STEUP: Art. Epistemology, 1. 94 http://www.uni-rostock.de/forschung/fileadmin/Forschung/Dateien/Forschungsbericht_0002.pdf.

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

In einer ersten groben Systematisierung führe ich sieben unterschiedliche Wege vor Augen, wie die Liturgik auf ihre Gedanken kommen könnte und verbinde sie im Sinne eines schematisierten Forschungsüberblicks mit einigen grundlegenden Werken aus der Vergangenheit und Gegenwart liturgischer Forschung. (1) Historische Dimension: Eine Liturgik, die sich einer historisch orientierten Epistemologie bedient, versucht, das historische Gewachsensein des Gottesdienstes ernst zu nehmen und auf diesem liturgiehistorischen Hintergrund Entscheidungen für die gegenwärtige Liturgiegestaltung und Liturgiekonzeption abzuleiten. Eine solche Epistemologie zeigt sich im evangelischen Bereich prominent im 19. Jahrhundert, als die – vielfach etwas zu einseitig – ‚liturgische Restauration‘ genannte Bewegung nach den Umbrüchen der Zeit der Aufklärung eine neuerliche Anknüpfung an die Grundentscheidungen der Reformation suchte (vgl. unten 3.2.2). Anders waren es in der jüngeren liturgischen Bewegung eher vorreformatorische Gottesdienstverständnisse, an die eine Anknüpfung versucht wurde – auch um dadurch eine ökumenische Weite des evangelischen Gottesdienstes zu erlangen (vgl. unten 3.2.4). Aktuell wird diese liturgiehistorische Epistemologie etwa im Zusammenhang mit der Diskussion des Verständnisses der „verba testamenti“ in den protestantischen Kirchen virulent. Die Kirchenhistorikerin Dorothea Wendebourg sieht die reformatorische Entscheidung, die „verba testamenti“ als Worte der Verkündigung und Anrede an die Gemeinde zu hören, auch für die gegenwärtige Gestaltung des Abendmahls als grundlegend an. Andere hingegen plädieren für die Integration der „verba testamenti“ in den Kontext des als Eucharistie verstandenen Abendmahlsgebets.95 Freilich: Es geht bei dieser Auseinandersetzung keineswegs nur um die Konsequenz aus einer historisch orientierten liturgischen Epistemologie. Zu den historischen Argumenten im Blick auf die Frage, ob die Reformation nur den falschen Weg Roms durch die Fortsetzung der Herauslösung der „verba testamenti“ aus dem Kontext der Eucharistie konsequent zu Ende gegangen sei oder eben nicht, treten weitere theologische und liturgische Argumentationslinien. Gleichzeitig wird in dieser Diskussion aber exemplarisch deutlich, wie notwendig einerseits, prekär andererseits der Rückgriff auf theologische Entscheidungen und praktische Ge95

Vgl. WENDEBOURG: Den falschen Weg Roms zu Ende gegangen; dies.: Noch einmal: Den falschen Weg Roms zu Ende gegangen. Vgl. dazu auch SCHMIDT-LAUBER/SCHULZ: Kerygmatisches oder eucharistisches Abendmahlsverständnis; KÜHN: Der eucharistische Charakter des Herrenmahls; RASCHZOK: Der Streit um das Eucharistiegebet in den Kirchen der Reformation; SLENCZKA: Herrenwort oder Gemeindegebet; SCHULZ: Eingrenzung oder Ausstrahlung; SCHMIDTLAUBER: Die Eucharistie, 243f; WALLRAFF: Eucharistie oder Herrenmahl; vgl. auch unten Kap. 6.3.2.5.

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1. Evangelische Fundamentalliturgik – ihre formale Bestimmung

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staltungen aus der Geschichte der Kirche ist. Zu fragen bleibt bei dieser historischen Epistemologie immer, mit welchem Recht man sich an der einen oder anderen Zeit und ihren spezifischen Umständen orientiert und inwiefern die immer nur relativen Erkenntnisse historischer Forschung zur normativen Grundlage gegenwärtiger Gottesdienstgestaltung werden können. In seinem 2009 veröffentlichten liturgischen Plädoyer „Weg im Geheimnis“ rückt Martin Nicol die Frage nach der Bedeutung der Tradition für den gegenwärtigen evangelischen Gottesdienst wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit. Nicol nimmt eine Tendenz ästhetischer Liturgiewahrnehmung auf, die sich – anders gelagert – etwa auch bei Stephan WeyerMenkhoff oder katholischerseits bei Alfred Lorenzer findet: eine Tendenz, die überkommene, tradierte Gestalt der Liturgie theologisch zu würdigen. Durchaus zustimmend kommt Joseph Ratzinger mit einer kritisch-epistemologischen Anfrage an die evangelische Liturgik bei Nicol zu Wort. Ratzinger schreibt: „Trotz aller Radikalität seines [Luthers, AD] Rückgriffs auf ‚die Schrift allein‘ hat Luther die Gültigkeit der altkirchlichen Bekenntnisse nicht bestritten und damit freilich eine innere Spannung stehen lassen, die zur Grundproblematik der Reformationsgeschichte geworden ist. Die Reformation wäre gewiß anders verlaufen, wenn er die analoge Verbindlichkeit der großen liturgischen Tradition, ihr Wissen um Opfergegenwart und Eingehen in die Stellvertretungstat des Logos hätte sehen können. In der Radikalisierung der historisch-kritischen Methode ist heute deutlich sichtbar geworden, daß ‚die Schrift allein‘ Kirche und Gemeinsamkeit des Glaubens nicht begründen kann.“96

Die Frage lautet für Ratzinger und Nicol: Warum übernahm Luther die altkirchlichen Bekenntnisse, erkannte aber nicht die Bedeutung der in liturgicis überlieferten Gestalt? Freilich kann die materiale Bestimmung dessen, was Luther in dem tradierten Gottesdienst Ratzinger zufolge hätte erkennen können („Wissen um Opfergegenwart und Eingehen in die Stellvertretungstat des Logos“) implizit bereits die Antwort auf die Frage Ratzingers geben: weil Luther zu viele theologische Probleme in der ihm überkommenen Gestalt der abendländischen Messe erkannte, die seiner zentralen Erkenntnis der Rechtfertigung „allein aus Glauben“ fundamental zuwiderliefen. Dennoch gilt für Nicol, dass „die Analogie von altkirchlichem Bekenntnis und liturgischer Tradition […] das Nachdenken“ lohne.97 Dieser Gedanke wird bei Nicol nicht weiter theoretisch verfolgt, hat aber praktische Konsequenzen für die Anlage seiner gesamten Liturgik. Faktisch lesen 96 97

RATZINGER: Der Geist der Liturgie, 144. NICOL: Weg im Geheimnis, 35.

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

sich die Überlegungen Nicols insgesamt als eine Entdeckungsreise auf den Spuren des tradierten Gottesdienstes, so dass das Argument des historischen Gewordenseins und der Vorgegebenheit liturgischer Worte, Abläufe und Gesten eine wesentliche Rolle für die liturgischen Überlegungen Nicols spielt und zur – nicht näher reflektierten bzw. begründeten – Grundlage seines „Plädoyers“ wird. Demgegenüber betont Peter Cornehl – nicht auf Nicols Ansatz bezogen, aber dennoch auch für diesen gültig – zu Recht das Spannungsfeld von „Ordnung und Freiheit“, in dem sich Gottesdienst bewegen müsse und warnt aus psychologischen sowie biblischen Gründen vor einem starren Festhalten an überlieferter Ordnung.98 Cornehl schreibt: „Liturgischer Fundamentalismus ist gefährlich, weil er durch die zwanghafte Fixierung geschichtlich gewachsener Ordnungen Verhaltensprägungen mit zwanghaftem Charakter erzeugt […]. Im Übrigen widerspricht morphologischer Fundamentalismus der biblischen Offenbarung. Denn zum Wesen des biblischen Gottes gehört auch seine Freiheit.“99 Damit sind die Probleme des Rekurses auf eine historisch gewachsene Gestalt deutlich benannt, und Cornehl folgert: „Entscheidend für die Gestalt des christlichen Gottesdienstes ist nicht eine bestimmte feste Ordnung, in der Ablauf und Wortlaut des Geschehens verbindlich festgelegt sind, sondern in sich stimmige Vollzüge, die aus liturgischen Handlungselementen bestehen, die einen überzeugenden, nachvollziehbaren Sinn haben.“100

(2) Biblische Dimension: Eine Liturgik, die die Bibel als Basis gegenwärtiger liturgischer Epistemologie begreifen will, kann auf das protestantische Leitwort der Bibel als „norma normans“ zurückgreifen. Entsprechend werden dann biblische Aussagen zum ‚Gottesdienst‘ für ein gegenwärtiges Liturgieverständnis und für gegenwärtige Liturgiegestaltung leitend – und dies nicht nur in einem historischen Sinne, der etwa das neutestamentliche Zeugnis als ersten Schritt auf dem Weg des christlichen Gottesdienstes durch die Zeiten verstehen möchte.101 Freilich stellt sich dann die schwie98 Es müsste zudem die Frage geklärt werden, welche Ordnung verbindlichen Charakter haben soll: der aus dem Neuen Testament (mit Mühe) rekonstruierbare Ablauf des Gottesdienstes im Urchristentum, die Feiergestalt der Alten Kirche oder der (lutherischen?) Reformation? 99 CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, 64. 100 CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, 263 [im Original hervorgehoben]. 101 Vgl. etwa Ralph Kunz, der den reformatorischen Impuls, Grundregeln für den Gottesdienst „aus der Lektüre der Schrift“ zu gewinnen, für die Konzeption gegenwärtiger reformierter Liturgik wiedergewinnen möchte (vgl. KUNZ: Der neue Gottesdienst, Zitat: 7; vgl. auch aaO., 27–36 [Das Motiv der Erneuerung im biblischen Zeugnis – Zurück zu den Wurzeln]). Vgl. auch GRETHLEIN: Ist die „Messe“ […], 484–488. Aus katholischer Perspektive beschreibt Kai Gallus Sander genau diese liturgische Epistemologie auf der Grundlage der Bibel als grundlegendes Kennzeichen der Reformation: „Vielmehr stand am Anfang [der Reformation, AD] die Intention

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rige Frage, welche Hermeneutik angewandt werden soll, um zu entscheiden, inwiefern „die“ Bibel dies leisten kann und auf welche biblischen Bezugstexte rekurriert werden soll. Zwischen der Opfertora im Buch Leviticus und der Kultkritik der Propheten, zwischen Tempelkult und „Tempelreinigung“ spannt sich biblisch ein weiter Bogen. So scheint bereits umstritten, ob und inwiefern das Alte Testament für eine gegenwärtige Liturgik noch Bedeutung haben kann. Interessanterweise zeigt sich hier eine sehr unterschiedliche Beurteilung, je nachdem, ob katholische oder evangelische Liturgiker zu Wort kommen. Verkürzt auf einen Nenner gebracht, rekurriert katholische Liturgik sehr viel bestimmter auf Texte des Alten Testaments, als evangelische Liturgik dies tut. So schreibt etwa Reinhard Meßner: „[…] Liturgiewissenschaft muss, wie die Theologie insgesamt, selbstverständlich mit dem Alten Testament beginnen.“102 Meßner bezieht sich exemplarisch auf Ex 18,10, jene Beracha des midianitischen Schwiegervaters Moses: „Und Jitro sprach: Gelobt sei der HERR, der euch errettet hat aus der Ägypter Hand.“ Aus diesem Satz entfaltet er Grundzüge zum Zusammenhang von lobpreisendem Gebet und Bekennen, wie er für weitere Texte des Alten Testaments und für die jüdische Liturgie bis in die Gegenwart charakteristisch sei. Auch Joseph Ratzingers Liturgik „Der Geist der Liturgie“ greift prominent auf biblische Texte zurück und entwickelt von der Opfertora des Buches Leviticus ausgehend Aspekte gegenwärtigen Liturgieverständnisses.103 Demgegenüber ist es wohl eine typisch protestantische Reserve gegenüber allem ‚Kultischen‘, die zu einer vorsichtigeren, bisweilen aber auch offen kritischen Einstellung zur Frage der gegenwärtigen liturgischen Relevanz alttestamentlicher Texte gelangen lässt. So sieht etwa Hans Hübner viele Teile des Alten Testaments als „theologisch überholt“ an und erwähnt dabei exemplarisch „große Teile der kultischen Theologie“.104 Ein Text aus dem Alten Testament allerdings wird vielfach in evangelischen Darstellungen zitiert: die pointierte Kultkritik aus Hos 6,6, wo es heißt: „Denn ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer, an der Erkenntnis Gottes und nicht am Brandopfer“ – ein Text,

einer aus der biblischen Grundorientierung neu zu denkenden Kirche, und daraus wurden dann Postulate für die entsprechend zu verwaltenden Sakramente und den zu feiernden Verkündigungsdienst abgeleitet“ (SANDER: Lex orandi, 40). 102 MESSNER: Liturgiewissenschaft zwischen historischer und systematischer Theologie, 37; vgl. auch MARSILI: Mistero di Cristo, bes. 21–27. 103 Vgl. RATZINGER: Der Geist der Liturgie, 30–43. Freilich übernimmt Ratzinger zwar den Begriff des Kults und des Opfers aus dem Alten Testament, spricht dann aber im Blick auf die christliche Liturgie von der „Liturgie der erfüllten Verheißung“ (43). In ihr gehe es um „das wahre Opfer, das Opfer des Neuen Bundes“ (41). Der tendenziell antijudaistische Unterton dieser Hermeneutik der Erfüllung ist sicherlich als problematisch zu werten. 104 HÜBNER: Fundamentaltheologie, 17.

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

der im Matthäusevangelium zweifach zitiert wird (Mt 9,13, 12,7; vgl. auch unten 2.2.3.1). Auf die protestantische Kult-Distanz wird noch näher einzugehen sein. Aber es wird allein aufgrund der beiden kurz skizzierten Ansätze von Ratzinger und Meßner deutlich, dass bei einem Zugang vom Alten Testament her angesichts der Fülle und Verschiedenheit der Texte keineswegs klar ist, wovon eine Begründung des Gottesdienstes ihren Ausgang nehmen soll. Welche Vorentscheidungen prägen den jeweiligen Zugriff auf diesen oder jenen Text, diese oder jene Textgruppe? In epistemologischer Perspektive schärfer formuliert: Bestimmt nicht ein leitendes Vorverständnis von dem, was Liturgie sein soll, den Zugriff auf diese oder jene Belegtexte aus der (Hebräischen) Bibel? Dieses Bedenken gilt freilich ebenso, wenn nur das Neue Testament zur Entscheidung der Frage herangezogen wird, wie christlicher Gottesdienst gegenwärtig verstanden und gefeiert werden soll. Auch hier ergeben sich sehr unterschiedliche Möglichkeiten: Einerseits könnte die communis opinio, wonach das Abendmahl die Keimzelle des christlichen Gottesdienstes ausmacht,105 dazu führen, christlichen Gottesdienst ganz von dieser Wurzel her zu bestimmen.106 Andererseits wäre es möglich, auf Jesus selbst zurückzugehen und anhand seines gottesdienstlichen Verhaltens (Tempelkritik, Mahlgemeinschaft mit den Vielen …) Maßstäbe für den christlichen Gottesdienst zu gewinnen.107 Ein anderer Zugang könnte über die formgeschichtliche Analyse neutestamentlicher Texte gesucht werden. Es würde dann die Frage gestellt, welche Rückschlüsse sich aus dem Vorhandensein von Homologien, Doxologien, Hymnen etc. innerhalb der neutestamentlichen Texte auf die Gestalt des Gottesdienstes des Urchristentums ableiten lassen und inwiefern diese für die Gegenwart bedeutsam sein können. Weiter wäre es möglich, aufgrund expliziter Aussagen zur gottesdienstlichen Feier der Gemeinde im Neuen Testament Folgerungen für die Gegen105

Vgl. dazu z.B. HAHN: Art. Gottesdienst, 30.33. Der Satz Jesu „Solches tut zu meinem Gedächtnis!“ (vgl. 1Kor 11,24; Lk 22,19) würde dann den entscheidenden Grund für die gemeinschaftliche Feier des Abendmahls liefern. 107 Einen solchen Ansatz verfolgt etwa der Katholik Karl Schlemmer. Schlemmer plädiert für eine Vielfalt der Gottesdienstformen auch in der katholischen Kirche und bezieht sich dabei auf die „Stiftung [des Gottesdienstes, AD] durch Jesus Christus“ (SCHLEMMER: Gottesdienst feiern, 534). Daher müsse die „Absicht des Stifters“ (534) immer gewahrt bleiben. Auf diesem Hintergrund zeichnet Schlemmer das Bild Jesu, wie es in den Evangelien geschildert wird, als das Bild eines dynamischen und zugewandten Lebens in der Orientierung an anderen und folgert: Die Gottesdienste sollten „dynamisch, beweglich und offen sein, damit jeder Mensch in ihnen Möglichkeiten erkennt, bei der Feier mit Gott und vom lebendigen Gott zu sprechen.“ (535) – Vgl. auf evangelischer Seite auch Christian Grethlein, der aufgrund der Betrachtung selektiv ausgewählter biblischer Texte zu normativen Grundentscheidungen im Blick auf den christlichen Gottesdienst gelangen möchte und diese im „Christusbezug“, in der „Gemeinschaftsdienlichkeit“ und im „Lebensbezug“ des Gottesdienstes fixiert (vgl. GRETHLEIN: Abriß der Liturgik, 25). 106

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wart zu ziehen.108 Schließlich könnte in einem eher systematisierenden Verfahren versucht werden, Kernelemente des urchristlichen Gottesdienstes, wie sie sich aufgrund exegetischer Untersuchung aus dem Neuen Testament heraus wahrscheinlich machen lassen, für die Gegenwart verbindlich fortzuschreiben (etwa die Christusbezogenheit, die Gemeindebezogenheit, die Weltbezogenheit und die eschatologische Bezogenheit des christlichen Gottesdienstes109). Es verhält sich so, wie es bereits Ernst Käsemann erkannt hatte: Der biblische Kanon begründet nicht zunächst die Einheit der Kirche (oder: des christlichen Gottesdienstverständnisses), sondern eher die Vielheit der Konfessionen (und liturgischen Grundlegungen). Es bleibt Spielraum für äußerst unterschiedliche liturgische Epistemologien, wenn jeweils die „Bibel“ als Ausgangspunkt benannt wird. Den gegenwärtig engagiertesten Versuch, den „Evangelischen Gottesdienst“ durch eine ausführliche Darstellung seiner „Biblische[n] Kontur“ zu beschreiben, unternimmt der erste Band der auf drei Bände angelegten Liturgik von Peter Cornehl.110 Dabei leitet die Überzeugung, wonach „der christliche Gottesdienst […] seine unverwechselbare Eigenart aus den biblischen Vorgaben“ beziehe.111 Dies entspreche nicht nur dem Schriftprinzip der Reformation,112 sondern ebenso der Tatsache, dass christlicher (wie auch jüdischer!) Gottesdienst ohne biblische Texte, die gesungen oder gesprochen werden, nicht vorstellbar sei. Cornehl denkt dabei besonders an den Bezug der Verkündigung auf Bibeltexte, an die biblische Sprachprägung gottesdienstlicher Gebete und nicht zuletzt an die Sakramente Taufe und Abendmahl, deren „Vollzugsgestalt […] eingestiftet [ist, AD] in die entsprechenden [biblischen, AD] Ursprungsszenen.“113 Demgegenüber stellt Cornehl fest, dass sowohl in systematisch-theologischen, noch mehr aber in praktisch-theologischen Arbeiten zum Gottesdienst der Bibelbezug auffällig zurücktritt.114 Freilich weiß Cornehl um die Schwierigkeit, angesichts der Fülle und Heterogenität des biblischen Zeugnisses eine Kontur zu ermitteln.115 Er unternimmt den Versuch, in einem ausführlichen Kapitel zum Gottesdienst im Alten und einem noch ausführlicheren Kapitel zum Gottesdienst im Neuen Testa108 Als Textgrundlage für dieses Verfahren käme wohl am ehesten ein Text wie 1Kor 14 in Frage; vgl. dazu z.B. MÖLLER: Einführung in die Praktische Theologie, 101f. 109 Diese vier Aspekte des „Wesen[s] des urchristlichen Gottesdienstes“ bestimmt Ferdinand Hahn (vgl. HAHN: Art. Gottesdienst, 37f). 110 Vgl. dazu auch CORNEHL: Der theologische Rahmen. 111 CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, 74. 112 Vgl. CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, 75. 113 CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, 74. 114 Vgl. CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, 76f. In praktisch-theologischer Hinsicht rekurriert Cornehl hier z.B. auf die geringe Berücksichtigung der biblischen Zeugnisse in Rainer Volps Liturgik (aaO., 77) sowie in Wolfgang Stecks Praktischer Theologie (aaO., 77). Auch den selektiv-normativen Bibelbezug Christian Grethleins bzw. (unter ganz anderen Voraussetzungen) Manfred Josuttis’ erachtet Cornehl – m.E. zurecht – als problematisch (vgl. aaO., 77). 115 Vgl. CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, bes. 75.78.

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ment Grundlagen zu ermitteln und sich dabei auf historisch-kritische exegetische Arbeit zu stützen.116 Das umfangreiche Material stellt Cornehl in einem vierfach strukturierten Raster zusammen, in dem zunächst theologisch Grundlegendes festgehalten wird, bevor die „kultische Topographie“, zu der Cornehl Lebensbereiche, Anlässe, Orte und Zeiten rechnet, sowie die „liturgische Morphologie“ (Sprache, Gebärden, Abläufe, Rollen …) untersucht werden. Abschließend führt Cornehl vier Aspekte zu „Wesen und Funktion“ des Gottesdienstes vor Augen: Orientierung (in der Welt in kognitiver und ethischer Perspektive, d.h. Weltdeutung und Handlungsorientierung), Expression (sprachliche und gestische Darstellung von Lebenserfahrungen vor Gott), Affirmation (als Vergewisserung, Versöhnung und Erneuerung) und Integration (in den Kontext einer als tragend erfahrenen Gemeinschaft).117 Dieses Raster entwickelt Cornehl in einem einleitenden Kapitel vor dem Durchgang durch die historisch-phänomenologische Betrachtung zum Gottesdienst im Alten und Neuen Testament. Der Gefahr, damit bereits die Wahrnehmungen in der Bibel materialiter zu stark einzuengen, möchte Cornehl dadurch entgehen, dass er seine Matrix „weit genug“ entwirft, „um den Horizont abzustecken“, keinesfalls aber bereits zu stark einzuengen.118 In einer tabellarischen Übersicht aufgeführt ergibt sich damit folgende Architektur des ersten Bandes dieser Liturgik: Der theologische Ansatz Gottesdienst als Ort der Begegnung mit Gott bzw. als Ort der Kommunikation des Evangeliums und des Glaubens

(1) Gottesbegegnung

(2) Topographie

(3) Morphologie

Gottesdienst im Alten Testament

Gottesdienst im Neuen Testament

Kultus (als Miteinander von Wort und Ritus) als Begegnung mit dem in der Geschichte handelnden Gott Miteinander und Nebeneinander von öffentlichem (Tempel; Synagoge) und privatem Kult (Familie) Bedeutung von Opfern (Tempel), Liedern, Wechselgesängen, Lesungen (im nachexili-

Gottesdienstliche Versammlung als Feier der Christus-Anamnese in Wort, Gebet, Mahlgemeinschaft Tempel, Synagoge, Haus als Orte des Gottesdienstes in frühchristlicher Zeit Leitperspektive für die kreative Vielfalt liturgischer Formen ist das Miteinander von Bekenntnis

116

Folgerungen

U.a. die eschatologische Orientierung sowie der pluralistische Kontext der frühchristlichen Gottesdienste werden als paradigmatisch für die gegenwärtige Liturgik bestimmt.119

Vgl. CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, 79–142 [Gottesdienst in Israel].143–287 [Der urchristliche Gottesdienst]. 117 Vgl. CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, 66–73; vgl. zu diesen Funktionsbereichen bereits ders.: Theorie des Gottesdienstes. 118 CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, 51.

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1. Evangelische Fundamentalliturgik – ihre formale Bestimmung

(4) Funktionen

schen Israel) – insgesamt unter der Perspektive von Klage und Lob Der Glaube an JHWH als Verwicklung in die „story“ des einen Gottes mit seinem Volk

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und Hymnus, Proklamation und Akklamation (Basis: Herrenmahl) Anamnetisches Erzählen, repräsentierendes Feiern und handlungsleitendes sowie theologisches Argumentieren wirken in den vier ermittelten Funktionsbereichen

Die epistemologisch spannende Frage lautet: Wie und wo gestaltet Cornehl den Überschritt von deskriptiven Aussagen zur Entwicklung des Gottesdienstes im alten Israel und im Judentum hin zu ‚normativen‘ Aussagen im Blick auf den gegenwärtigen Gottesdienst und sein „Wesen“? Obwohl sich Cornehl der Problematik bewusst ist,120 erweist sich genau dieser Überschritt als Problem (wenigstens des ersten Bandes) dieser Liturgik. Die Ergebnisse der kritischen Forschung zur Gottesdienstentwicklung in alt- und neutestamentlicher Zeit werden nämlich akribisch, präzise und übersichtlich aufgeführt, der Bezug auf gegenwärtige Gottesdienstgestaltung und eine aktuell zu verantwortende Gottesdiensttheologie bleibt fraglich – bzw. erfolgt immer wieder en passant, etwa dort, wo Cornehl die Gleichberechtigung von Frauen im gottesdienstlichen Handeln der frühen Christenheit (im Unterschied zu den bereits in den Pastoralbriefen erkennbaren Entwicklungen) beschreibt.121 Gleichzeitig werden die Ebenen nicht immer präzise unterschieden: Bei Cornehl finden sich im Rahmen der Darstellungen zu den biblischen Wurzeln des christlichen Gottesdienstes nicht wenige Aussagen zur möglichen Aufnahme bestimmter Texte oder Textcorpora in den Gottesdienst (Ebene der Liturgie/Liturgiegestaltung);122 die Ebene der Liturgik (Liturgietheorie) würde aber eher eine Leserichtung in epistemologischer Perspektive erwarten lassen, also Antworten auf die Frage, inwiefern biblische Texte zum gegen119

Vgl. dazu CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, 291–293. Vgl. die Darstellung der Forschungslage zum neutestamentlichen Gottesdienst (CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, 149–152) und die Bemerkung des Autors: „Da die Herausarbeitung der neutestamentlichen Befunde in hohem Maße normative Geltung beansprucht, haben die exegetischen Erkenntnisse oft unmittelbar dogmatische Relevanz“ (149); vgl. auch aaO., 288f: „Das Bild, das die Exegese vom Gottesdienst im Alten und Neuen Testament vermittelt, liefert nicht unmittelbar Maßstäbe und Normen für die Gegenwart […].“ 121 Vgl. CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, 266–273. 122 Vgl. nur z.B. die Überlegungen zur Prädikabilität der neutestamentlichen Ostertexte, CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, 205f, oder die Ausführungen zu den biblischen Texten als grundlegenden „Medien“ des christlichen Gottesdienstes aaO., 290f, sowie die Aussagen zur praktisch-theologischen Hermeneutik biblischer Texte aaO., 293–297. 120

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wärtigen Verständnis des Wesens, der Funktion, der Mitte christlichen Gottesdienstes Aussagen machen.

(3) Ökumenische Dimension: Liturgik gewinnt bei dieser epistemologischen Orientierung ihre Erkenntnisse aus der Umschau in andere Liturgien benachbarter Kirchen – entweder in Angleichung (so ein dominanter Strom evangelischer liturgischer Erneuerung im 20. Jahrhundert, der Impulse aus dem römischen Katholizismus gewinnt123) oder in bewusster Differenz.124 Das Problem, dass eigener Geschmack und individuelle Prägungen und Vorlieben des Liturgen die Anlehnung an oder bewusste Abwendung von anderen Liturgien motivieren und kaum Kriterien für eine eigene evangelische Liturgik gewonnen werden können, liegt bei diesem Zugang auf der Hand. So zeigt Hans-Christoph Schmidt-Lauber deutliche Sympathien für die Liturgik der christlichen Orthodoxie. Vor allem das eucharistische Abendmahlsverständnis und die pneumatologische Liturgiebegründung, wie sie sich in der Vorrangstellung der Epiklese zeigen, erscheinen ihm für eine evangelische Liturgiebegründung der Gegenwart theologisch unhintergehbar.125 Bei Martin Nicol ist es eher die Theologie und Gestalt der Römischen Messe, die zahlreiche Aussagen seines „Plädoyers für den Evangelischen Gottesdienst“ motiviert. Diesen nämlich sieht Nicol pointiert als unterwegs zu einer „Liturgie der Kirche“ und damit zu einer gemeinchristlichen liturgischen Spiritualität, die sich gegenwärtig am ehesten bei katholischen Autoren und in offiziellen katholischen Dokumenten finden lasse. So werden Romano Guardinis Fragen nach einer „Kultfähigkeit“ oder nach der „Kultunfähigkeit“ des modernen Menschen aufgenommen und in Richtung einer „zweiten Kultfähigkeit“ weiterentwickelt.126 Joseph Ratzinger wird zum Gewährsmann für eine Liturgie, die die traditionellen Vorgaben achtet und mit ihnen die Liturgie als ein Gebäude eigener Schönheit sehen kann, das heute bewundernd neu entdeckt werden sollte, bevor voreilig Umbaumaßnahmen das Gewachsene an gegenwärtige ästhetische Standards zu akkommodieren versuchen. Hier verbindet sich die Sympathie für ein katholi-

123 Vgl. hier vor allem die „Hochkirchliche Vereinigung“ mit ihrem seit 1918 erscheinenden Organ „Die Hochkirche“; vgl. aber auch die „Berneuchener Bewegung“ und dazu unten Kap. 3.2.4. 124 Peter Cornehl nimmt gegenwärtig eher eine Tendenz zu bewusst konfessioneller Prägung der Gottesdienstgestaltung gegenüber der Tendenz zu ökumenischer Angleichung wahr; vgl. CORNEHL: Die Zukunft der Agende, 93–95. 125 Vgl. nur SCHMIDT-LAUBER: Art. Liturgiewissenschaft/Liturgik, 399. 126 Vgl. NICOL: Weg im Geheimnis, 113–134.

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sches Liturgieverständnis mit der Prävalenz des in der Geschichte der Kirche historisch Gewachsenen.127 Auf einen besonderen und in den vergangenen Jahren zunehmen beschrittenen Weg eines liturgischen Lernens in ‚ökumenischer‘ Perspektive sei wenigstens noch hingewiesen: auf das Lernen vom Judentum und seiner synagogalen Liturgie. Sowohl fundamentalliturgische Erwägungen – etwa zur Bedeutung des Abendmahls – als auch konkrete Gestaltungsfragen werden im Aufblick zu Gegenwart und Vergangenheit jüdischer Gottesdienstgestaltung reflektiert.128

(4) Dogmatische Dimension: Dogmatische Grundentscheidungen werden zur normativen Basis einer gegenwärtigen Liturgiegestaltung erhoben – wie dies beeindruckend Peter Brunner mit seiner ‚Liturgie von oben‘ versucht.129 Die Skepsis gegenüber diesem deduktiven Ansatz habe ich oben bereits aufgeführt. Aber auch die Reformansätze der 1960er und 1970er Jahre mit ihrer ‚Liturgie von unten‘ verbinden sich letztlich ebenfalls mit einer dogmatischen Grundentscheidung: dem konsequenten Denken vom Menschen und seinen Bedürfnissen aus und der Richtungsangabe, wonach Kirche den Weg hin zum Menschen zu gehen habe.130 Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie Peter Brunner auf die neuen liturgischen Experimente in der Nachkriegszeit reagierte: „Dies ist ein Vorgang, angesichts dessen die Kirche Gottes erschrecken muß, denn das innere geistliche Wesen des Gottesdienstes ist durch das apostolische Urzeugnis […] ein für allemal festgelegt.“131 In eigentümlicher Weise vermischen sich in diesem Satz biblische, historische und dogmatische Begründungsmuster für den Gottesdienst – und es zeigt sich, wie problematisch die Argumentation wird, wenn die Epistemologie nicht geklärt ist. Inzwischen ist kein Ansatz mehr greifbar, der so ‚steil‘, wie es für Peter Brunner noch möglich schien, auf ein scheinbar dogmatisch erhebbares „apostolisches Urzeugnis“ als Grundlage gegenwärtiger Liturgik rekurriert. Vielmehr wird die Interdependenz von Theologie und Liturgie betont – im Sinne der vielfach als Motto gebrauchten und daher in aller Regel weit von 127

Vgl. dazu oben zur historischen Dimension liturgischer Epistemologie. Vgl. zur erstgenannten Perspektive z.B. ASSEL: Geheimnis und Sakrament; vgl. zu den konkreten Gestaltungsfragen z.B. DEEG: Der Gottesdienst im christlich-jüdischen Dialog [2003]. Vgl. insgesamt DEEG: Liturgik und christlich-jüdischer Dialog, sowie DEEG/MILDENBERGER: „… dass er euch auch erwählet hat“. 129 Vgl. BRUNNER: Zur Lehre vom Gottesdienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde. 130 Vgl. zum Versuch einer dogmatischen Bestimmung des Gottesdienstes auch JÜNGEL: Der evangelisch verstandene Gottesdienst. Für Jüngel wird das Evangelium selbst zur einzigen „ratio essendi und […] ratio cognoscendi des christlichen Gottesdienstes“ (285). Im Gottesdienst geht es dann darum, die befreiende Unterbrechung des Lebens durch das Handeln Gottes zu gestalten (passim). 131 Zit. nach MÖLLER: Einführung in die Praktische Theologie, 97. 128

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der eigentlichen Intention des Prosper von Aquitanien im semipelagianischen Streit verwendeten Formel132 „lex orandi – lex credendi“. Was aber, so bleibt zu fragen, bedeutet dies für die Rolle, die dogmatisches Denken im Blick auf liturgische Epistemologie spielen kann? Das eingangs (vgl. 1.1) kurz analysierte Papier der Liturgischen Konferenz sowie die Liturgik von Karl-Heinrich Bieritz vermitteln eher den Eindruck, dass um systematisch-theologische Aussagen zur Frage nach der Gestaltung der Liturgie gegenwärtig ein weiter Bogen gemacht wird – eine Leerstelle im gegenwärtigen liturgischen Diskurs, in die hinein diese Erarbeitung eine klärende und hoffentlich weiterführende Perspektive bringen möchte. (5) Empirische bzw. kulturhermeneutische Dimension: Liturgik versucht in dieser Zugangsweise das aufzunehmen, was in Gesellschaft und Kirche, bei den Kirchennahen und unterschiedlich „Distanzierten“ „da“ ist und sich empirisch ermitteln lässt. Der Gottesdienst soll dann – vereinfacht formuliert – auf das hin orientiert werden, was gegenwärtig „nachgefragt“ wird und in dieser Hinsicht „zukunftsfähig“ erscheint. Prekär bleibt die Frage, wie sich genuin theologische Argumentation zu den empirischen Befunden in Beziehung setzen lässt. Prominent unternimmt gegenwärtig vor allem Wilhelm Gräb den Versuch, in einer „kulturhermeneutischen“133 Vergewisserung zu Aussagen über das gegenwärtige Reden und Handeln – und damit auch: Gottesdienstfeiern – der Kirche zu gelangen. Dabei betont er die einsichtige Tatsache, dass sich Religion nie in einem vermeintlichen Jenseits der Kultur verorten könne und dürfe, sondern als Teil der Kultur verstanden werden müsse.134 Die Praktische Theologie versteht Gräb als „Modernisierungstheorie der kirchlichen Religionspraxis“. Gräb schreibt: „Sie [die Praktische Theologie, AD] beschreibt, wie die Kirche heute zu gestalten ist, wenn die Menschen mit ihren Gottesdiensten, in ihrer Seelsorge, ihrer Beratungs- und Bildungsarbeit, ihrer Diakonie sollen finden können, was sie unter den modernen Gesellschaftsverhältnissen von der explizit auf die Religion spezialisierten Institution erwarten: Ganzheitliche Sinnvermittlung und praktische Lebenshilfe, religiöse Lebensdeutung in den Krisen und Übergängen der Lebensgeschichte, Begleitung auf schwierigem Gelände und die Erfahrung von Gemeinschaft.“135

Damit werden bei Gräb „Erwartungen“ der Menschen in der kulturellen Situation der Gegenwart an das Funktionssystem „Religion“ zur epistemo132

Vgl. HOPING: Gottesrede im Raum der Liturgie, 10f. Vgl. zum Begriff GRÄB: Sinn fürs Unendliche, 16 u.ö. 134 Vgl. dazu auch GRÄB: Lebensgeschichten. 135 GRÄB: Sinn fürs Unendliche, 43 [Hervorhebungen im Original]. 133

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logischen Grundlage für Entscheidungen zur Gestalt kirchlichen Handelns. Wenn es den Kirchen gelinge, diesen Erwartungen zu genügen, so sei dies der entscheidende Beitrag zur „Zukunftsfähigkeit der Kirchen in den modernen Gesellschaften“136. Freilich bleibt es ein Problem in den zahlreichen Veröffentlichungen von Wilhelm Gräb, dass er die „Erwartungen“137 gegenwärtiger Menschen keineswegs nur phänomenologisch wahrnimmt oder gar empirisch einholt, sondern in eigentümlicher Weise auch präskriptiv setzt. In seinem Buch „Sinn fürs Unendliche“ findet sich ein in dieser Hinsicht aufschlussreicher Schlüsselsatz: „Theologie und Kirche müssen die Menschen tiefer über sich verständigen und darüber, wonach sie in der Religion eigentlich suchen.“138 Überspitzt gesagt: Der Theologe als kulturhermeneutischer Gegenwartsanalytiker ermittelt in einem eigentümlichen Zirkelschluss, wie die Erwartungen gegenwärtiger Menschen eigentlich und zutiefst beschaffen seien, um daraus dann Folgerungen für die gegenwärtige Gestalt der Kirche abzuleiten.139 Auf den Gottesdienst angewandt bedeutet dies, dass Gräb auch hier die „nachfrageorientierte ‚Kommunikation des Evangeliums‘“ als entscheidendes Ziel erkennt.140 Eine Umformulierung sei dazu unhintergehbar: „[…] weg von der autoritären Behauptung absoluter Vorgegebenheiten von Heilsgütern (Wort und Sakrament), die angeblich der kirchlich autoritativen ‚Verwaltung‘ und Vermittlung bedürfen, hin zur kommunikativen Mitbeteiligung aller an geistlicher Kommunikation Interessierten hinsichtlich dessen, wofür die Kirche da ist und unter den modernen gesellschaftlichen Lebensbedingungen auch gebraucht wird.“141 Die entscheidende Frage, die an Gottesdienst und Predigt zu stellen ist, lautet dann entsprechend: „Finden Gottesdienst und Predigt […] eine solche Gestalt, daß die Menschen spüren, wie gut es ihnen tut, daran teilzuhaben?“142 Allerdings kann Gräb 136

GRÄB: Sinn fürs Unendliche, 96. GRÄB: Sinn fürs Unendliche, 43. 138 GRÄB: Sinn fürs Unendliche, 20. 139 Vgl. dazu auch die stark vereinfachende und schematische Gegenwartsanalyse, wie sie sich in folgender Aussage findet: „Die Sinnfrage stellt sich den Menschen [man beachte die Absolutheit der Aussage!, AD] durchaus, aber sie können die Antworten, die die Religionen, Christentum und Kirche geben, in den praktischen Erfahrungsbezügen nicht plausibilisieren. Die emphatischen ‚Wahrheiten‘, die sich auf die Bibel oder das Dogma der Kirche berufen, sind nicht einsichtig. Deshalb lassen die Individuen die Sinnfrage auf sich beruhen. Oder sie verfahren nach der Devise: ‚Das Leben hat nur dann einen Sinn, wenn man ihm selber einen gibt.‘“ (GRÄB: Sinn fürs Unendliche, 75). So sehr Gräb hier zu Recht ein problematisch einseitiges propositional-präskriptives Wahrheitsverständnis traditioneller Theologie und Kirchlichkeit (genauer: eines Strangs traditioneller Theologie und Kirchlichkeit) kritisiert, so sehr entwirft er selbst nicht minder propositionalpräskriptive Aussagen über ‚die‘ (!) Menschen der Gegenwart. 140 GRÄB: Sinn fürs Unendliche, 256. 141 GRÄB: Sinn fürs Unendliche, 258. 142 GRÄB: Sinn fürs Unendliche, 273. 137

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auch die Bedeutung „alte[r] Formen“ durchaus anerkennen: „Die Liturgie bewegt sich in alten Formen, die in dynamischer Zeit bleibende Ordnungen gewärtigen lassen.“143 Gräbs anregende Aussagen zur kulturhermeneutischen Vergewisserung der Kirche und ihres Handelns bedürfen sicherlich einer genaueren Auseinandersetzung. Zu fragen bleibt aber in jedem Fall, wie bei einem kulturhermeneutisch-phänomenologischen Blick die epistemologische Problematik einer letztlich autoritären Gegenwartsdiagnostik, die für jede subjektive Eintragung des diese erhebenden Theologen offen bleibt und eine neue, nun freilich nicht mehr dogmatisch-traditionelle, Normativität entstehen lässt, vermieden werden kann. Gleichzeitig stellt sich die grundsätzliche Frage, ob es legitim und letztlich hilfreich ist, den Gottesdienst so eindeutig auf die ermittelten Bedürfnisse und Erwartungen derer, die ihn besuchen, auszurichten – oder ob nicht hier die von Wolfgang Huber vielfach mahnend ins Feld geführte Problematik der „Selbstsäkularisierung“ der Kirche droht, nach der sie dann eben nichts mehr zu bieten habe, was nicht andere Anbieter auf dem Sinnstiftungsmarkt besser bieten könnten. Die legitime und notwendige Untersuchung der Funktion(en) des Gottesdienstes würde sich in eine den Gottesdienst unter Umständen entwertende Funktionalsierung verkehren.144 Stärker empirisch orientiert argumentiert Klaus-Peter Jörns. Er will die durch empirische Befragungen gesicherten Erkenntnisse über den Glauben, besser: über die Religion der Menschen, aufnehmen und zur Basis notwendiger Abschiede sowie einer umgestalteten Liturgik machen.145 Im Kern ist es die traditionelle und einseitige Deutung des Todes Jesu als Sühnopfer und eine entsprechende Gestaltung des christlichen Abendmahls, die Jörns zu liturgischen Überlegungen und zur Vorlage eines eigenen liturgischen Entwurfs veranlassen.146 Es gehe um den notwendigen „Abschied vom Verständnis der Hinrichtung Jesu als Sühnopfer und von dessen sakramentaler Nutzung in einer Opfermahlfeier“.147 Zu Recht kritisiert Jörns eine Verengung des Opferverständnisses auf das Sühn- bzw. Schuldopfer.148 Gleichzeitig aber will er mit dieser Kritik jedes Verständnis von Gottesdienst bzw. Abendmahl als „Opfer“ ablehnen. Dies sei ein anachronistisches, ein vorchristliches Verständnis, so dass Jörns in scharfem, annähernd marcionitischem Dualismus formulieren kann: „Ich glaube, daß dieser Gott [des Op-

143

GRÄB: Sinn fürs Unendliche, 301. Vgl. zur Frage nach der Funktion vor allem DINKEL: Was nützt der Gottesdienst. 145 Vgl. JÖRNS: Notwendige Abschiede. 146 Vgl. JÖRNS: Lebensgaben Gottes feiern. 147 JÖRNS: Notwendige Abschiede, 286–341. 148 Vgl. dazu auch DEEG: Opfer als ‚Nahung‘; ders.: Opfer – Raum der Gottesbegegnung. 144

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1. Evangelische Fundamentalliturgik – ihre formale Bestimmung

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fers, AD] starb, als Jesus als neuer Gott auferstand.“149 Stattdessen müsse die Botschaft der Liebe neu artikuliert werden und auch die Feiergestalt des Gottesdienstes prägen. Es gehe darum, eine „opferfreie Mahlfeier“ zu entwickeln.150 Kritisch zu diesen und anderen Argumentationen, die sich auf die Frage stützen, was gegenwärtig vom Gottesdienst erwartet werden kann, hat sich immer wieder Manfred Josuttis geäußert: „Die einen locken mit dem neuen Persil, die anderen versprechen den neuen Gottesdienst. Zu alledem muss man im marktwirtschaftlichen Jargon auch sagen: Eine Firma, die ihre erstklassigen Waren andauernd verramscht, bringt sich auf Dauer um ihren guten Ruf.“151 Es dürfe, so Josuttis, nicht nach den Bedürfnissen gefragt werden, sondern nach dem Bedarf; nicht nach dem, was ankommt, sondern nach dem, was die Menschen unbedingt angeht.152 Und: nicht um neue Gottesdiensterlebnisse gehe es, sondern um Erfahrungen, die man nicht nur konsumiert, sondern die verändern.153 So berechtigt mir diese Einwände erscheinen und so sehr sie eine kritische Grenze gegen alle einlinigen Versuche aufrichten, die Gestalt des jeweils gefeierten Gottesdienstes allzu eilfertig nach dem (vermeintlichen oder realen) Publikumsgeschmack zu orientieren, so wenig kann liturgische Reflexion doch darauf verzichten, wahrzunehmen, wie der gefeierte Gottesdienst verstanden oder eben nicht verstanden, erlebt oder erlitten wird.154 Freilich bleibt die Frage nach dem Verhältnis von empirischem und geglaubtem Gottesdienst, von notwendiger Anpassung und ebenso notwendiger Fremdheit der gottesdienstlichen Feier bei allen empirischen Ansätzen bestehen. Und ebenso verweist gerade ein empirischer, religionsökonomischer Blick auf das scheinbare Paradox, dass in religiösem Kontext keineswegs jene „Produkte“ am ehesten gefragt sind, die möglichst vielen/allen entgegenkommen und dadurch bis zur Unkenntlichkeit ihr eigenes, markantes Profil verlieren. Im Gegenteil stellt etwa Friedrich Wilhelm Graf fest: „Aggressives God-selling wirkt im Moment weitaus erfolgreicher als die konventionelle kirchliche Vermarktung von Religionsprodukten, deren

149

JÖRNS: Notwendige Abschiede, 329. Vgl. JÖRNS: Notwendige Abschiede, 338–341; vgl. zur Entfaltung ders.: Lebensgaben Gottes feiern. 151 JOSUTTIS: Volkskirche auf dem Markt, 621. 152 Vgl. JOSUTTIS: Volkskirche auf dem Markt, 621. 153 Vgl. JOSUTTIS: Volkskirche auf dem Markt, 622. 154 Vgl. meine Überlegungen unten Kap. 5.1; vgl. ähnlich auch SABERSCHINSKY: Gottesdienst in guter Gesellschaft, bes. 70f.75. Saberschinsky betont, es könne gegenwärtig nicht darum gehen, „die Botschaft den Zielgruppen an[zu]passen“, sondern vielmehr darum, „die Botschaft von den Zielgruppen her [zu] denken“ (aaO., 70). 150

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hohe Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit keine starken Bindungskräfte mehr entstehen lässt.“155 (6) Religionsphänomenologische bzw. religionsphilosophische Dimension: Eine deutlich andere Art der phänomenologisch orientierten liturgischen Epistemologie begegnet bei Manfred Josuttis seit seiner 1991 zuerst erschienenen Liturgik „Der Weg in das Leben“. „Ethnologie und Ethologie“, „Sozialpsychologie und Religionsphänomenologie“ werden zu den primären Bezugswissenschaften, von denen Josuttis die „Tiefendimension kultischer Realität“ lernen möchte.156 Menschliche Verhaltensweisen (Gehen, Sitzen, Sehen, Singen, Hören, Essen) werden in dichten Beschreibungen wahrgenommen und mit Vollzügen der Liturgie so in Verbindung gebracht, dass „das rituelle Verhalten im Gottesdienst als ein methodisch reflektierter Versuch“ erscheint, „sich der Wirklichkeit des Göttlichen auf angemessene Weise zu nähern“.157 In der Tat ergeben sich dadurch herausfordernde Perspektiven auf liturgisch Gewohntes und neue Einsichten in liturgische Handlungssequenzen – etwa dort, wo die Bedeutung und Problematik des so selbstverständlich gewordenen gottesdienstlichen Sitzens sensibel und herausfordernd vor Augen geführt wird.158 Andererseits aber führt die Einzeichnung der christlichen Gottesdienstpraxis in die auf der Grundlage dieser allgemeinen Religionsphänomenologie ermittelten Verhaltensweisen dazu, dass christlicher Gottesdienst als kultisches Heilsdrama und Annäherung an die Realität des (bei Josuttis bewusst unbestimmten) „Heiligen“ erscheint.159 Peter Cornehl kritisiert zu Recht, dass dadurch versucht werde, „unabhängig von der geschichtlichen Besonderheit der konkreten Religion und ihrem Offenbarungsverständnis“ ein allgemeingültiges Koordinatensystem zu errichten, das der je individuellen Ausprägung nur bedingt angemessen ist.160 Ob es etwa angemessen ist, den christlichen (und spezifi155

GRAF: Religiöse Transformationsprozesse, 60. JOSUTTIS: Der Weg in das Leben, 9. 157 JOSUTTIS: Der Weg in das Leben, 34. 158 Vgl. JOSUTTIS: Der Weg in das Leben, 109–133; der Selbstverständlichkeit des Sitzens stellt Josuttis die kultische Normalform des Gehens gegenüber: „Die grundlegende Verhaltensform im Kult ist nicht das Sitzen, sondern die Bewegung. Einen Gottesdienst feiern heiß: ihn begehen“ (119). 159 Vgl. dazu auch JOSUTTIS: Die Einführung in das Leben, 85–101. 160 CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, 58. Manfred Josuttis ist sich in seiner Liturgik der Problematik der Ermittlung und Darstellung des unverwechselbar Eigenen des christlichen Gottesdienstes durchaus bewusst. Er schreibt: „Daß bei einer solchen Vorgehensweise, die das Verhalten im christlichen Gottesdienst im Rahmen der Entwicklungsgesetze menschlichen Verhaltens überhaupt zu betrachten versucht, die Frage nach dem Proprium aufbricht, liegt auf der Hand. Eine begründete Antwort auf diese Frage, die nicht auf der Unkenntnis des Verhaltensrepertoires in anderen Kulturen und Religionen beruht, ist im Augenblick kaum möglich. Allenfalls in den sprachlichen Elementen, etwa in dem Namen der Gottheit und des Erlösers, dürfte es faßbare 156

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scher: den evangelischen) Gottesdienst in die Dramaturgie eines Heilsdramas mit den Akten „purificatio, illuminatio und unio“161 einzuzeichnen, wie es sich aus der religionsphänomenologischen Analogie zu anderen Kulten ergibt, bleibt fraglich. So sehr damit das grundlegende methodische Problem des Ansatzes von Josuttis im Blick ist, so zeigt sich auf der anderen Seite doch an vielen Überlegungen im Buch, dass auch bei Josuttis ein bestimmter theologischer Blick auf den christlichen Gottesdienst als nicht expliziertes Vorverständnis eine Rolle spielt. So schreibt Josuttis zur Funktion von Religion und Kultus: „In der Begegnung [mit der spezifischen, im Kultus vorausgesetzten Macht, AD] soll es um Glück, Heil und Segen gehen, also um Ziele, die mit den Vitalinteressen von Lebewesen aufs engste verknüpft sind. Aber beim Verfolg dieser Ziele gerät man alsbald in einen Zustand der Selbstvergessenheit. Was als Unternehmen zur Sicherung des eigenen Lebens beginnt, endet in der zweckfreien Doxologie des lebendigen Gottes.“162

Von der Funktion der Lebenssicherung zur Zweckfreiheit der Doxologie – diese Perspektive lässt sich aufgrund einer theologischen Lektüre des christlichen (und jüdischen) Kultus gewiss einnehmen, kann aber wohl nicht als religionsphänomenologisch gewonnene Erkenntnis auf der Grundlage allgemeiner Religions- und Kultusbetrachtung ausgewiesen werden. So verbinden sich bei Josuttis bestimmte theologische Vorentscheidungen zum Verständnis des evangelischen Gottesdienstes mit verhaltenswissenschaftlichen Einsichten in grundlegende Handlungsvollzüge zu einer Liturgik, die evangelischen Gottesdienst in den Rahmen des kultischen Heilsdramas einzeichnet. Epistemologisch kritisch weitergefragt bedeutet dies: Bestätigen selektiv zusammengestellte verhaltenswissenschaftliche Interpretationsansätze letztlich eine auf bestimmten Vorentscheidungen beruhende liturgisch-theologische Gesamtkonzeption? Oder kommt es tatsächlich zu einem lebendigen und herausfordernden Wechselspiel beider Aspekte? Besonderheiten des christlichen Kultes geben“ (JOSUTTIS: Der Weg in das Leben, 37f). – Gefragt werden müsste aber eben doch, ob nicht umgekehrt der methodische Zugang von Josuttis die Wahrnehmung dieser Besonderheiten unmöglich macht, weil christlicher Gottesdienst mit seiner Prägung vom jüdischen Gottesdienst her und seiner Konturierung durch die Christusoffenbarung von vorneherein und ausschließlich in das Raster einer aus Theoriebausteinen verschiedener Wissenschaften zusammengefügten Verhaltenswissenschaft gesetzt wird. Die methodische Alternative bestünde ja darin, die spezifische theologische Prägung mit der Anthropologie so zu verbinden, dass im Wechselspiel der Ansätze neue Erkenntnisse sichtbar werden. 161 JOSUTTIS: Der Weg in das Leben, 162. 162 JOSUTTIS: Der Weg in das Leben, 41f.

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Eine ähnliche Frage lässt sich auch an die 2009 von Hans Martin Dober vorgelegte Liturgik „Die Zeit ins Gebet nehmen“ stellen. Bei Dober sind es ebenfalls religionsphänomenologische, präziser: religionsphilosophische Beobachtungen, die liturgische Folgerungen grundieren, allerdings ganz anders akzentuiert und ausgewertet werden als bei Josuttis. So finden sich in Dobers Buch anregende, weiterführende und ausführliche Beobachtungen zu Zeit, Ritual, Raum, Medien, Symbol, die erst dann mit der Frage nach dem „Wesen des evangelisch verstandenen Gottesdienstes“ ins Gespräch gebracht werden.163 Freilich aber prägen liturgietheologische Vorentscheidungen auch bei Dober bereits die Auswahl und Kommentierung der philosophischen Stimmen zu den phänomenologischen Konstituenten des christlichen Gottesdienstes. Grundlegend ist es eine liberale Gottesdiensttheologie in der Spur von Wilhelm Gräb, die den Gottesdienst als Anregung zu Lebensdeutung und individueller Selbstverständigung beschreibt,164 weswegen auch hier die epistemologische Frage in kritischer Zuspitzung gestellt werden könnte: Werden philosophische Stimmen primär herangezogen, um eine längst erkannte bestimmte gottesdienstliche Theorie zu legitimieren und verifizieren – oder entfalten die ‚fremdprophetischen‘ Stimmen der Anderen tatsächlich Potenzial zur Prägung der Gottesdiensttheologie? Freilich wird sich diese Frage nicht in der einen oder anderen Richtung dezidiert entscheiden lassen, sie bleibt aber als m.E. zu selten explizit gestellte Frage gerade deshalb im Raum. (7) Ästhetische Dimension: Seit der ästhetischen Wende in der Praktischen Theologie, also seit etwa Mitte der 1980er Jahre, ist diese Dimension wohl die dominierende.165 Gerade die Liturgik erwies sich als entscheidender Motor einer Praktischen Theologie in ästhetischer Theorieformatierung – sicher kein Zufall angesichts der Tatsache, dass die Reflexion des Gottesdienstes das In- und Miteinander von Form und Inhalt in besonderer Weise wahrnehmen muss, wenn sie nicht in eine problematische Schieflage geraten will. Freilich: die ästhetischen Zugänge ermöglichen ein weites Feld sehr unterschiedlicher Akzentuierungen. Übernimmt man ein klassisches Schema, so können eher rezeptionsästhetische, eher werkästhetische und eher produktionsästhetische Zugänge unterschieden werden, wobei sich die 163 Vgl. die Anlage des Buches, das nach einer Einleitung (DOBER: Die Zeit ins Gebet nehmen, 11–31) nacheinander „Die Zeit der Liturgie“ (32–79), „Liturgie als Ritual“ (80–101), den „Raum der Liturgie“ (102–127), die „Medien der Liturgie“ (128–151) sowie die „Symbole der Liturgie“ (152–232) bedenkt, bevor das sehr knappe Kapitel zum „Wesen“ folgt (233–257) und das Werk durch das Kapitel „Das Gebet als Matrix und Apex des Gottesdienstes“ (258–289 abgeschlossen wird. 164 Vgl. DOBER: Die Zeit ins Gebet nehmen, 29.134.178 u.ö. 165 Vgl. grundlegend GRÖZINGER: Praktische Theologie und Ästhetik.

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drei Aspekte in keiner neueren ästhetischen Betrachtung völlig gegenseitig ausschließen, sondern in aller Regel in ihrem Miteinander wahrgenommen werden.166 Das folgende Schema dient daher lediglich als heuristische Hilfestellung: (a) Rezeptionsästhetik: Der Blick richtet sich entweder sehr konkret darauf, wie einzelne gottesdienstliche Vollzüge durch die Rezipienten wahrgenommen werden, wobei dann in aller Regel auf die Vielfalt unterschiedlicher Rezeption abgehoben und der Gottesdienst programmatisch oder faktisch als „offenes Kunstwerk“167 beschrieben wird. Teilweise wird auch abstrakter liturgisch-religiöse Erfahrung mit ästhetischer Erfahrung ins Verhältnis gesetzt – und dabei z.B., wie bei Wilhelm Gräb, religiöse Erfahrung im Gottesdienst als spezifisch gedeutete ästhetische Erfahrung verstanden. Unabhängig davon, ob eher abstrakter oder sehr konkret gefragt wird, in beiden Fällen gilt es zu klären, wie sich die Art und Weise der Rezeption bzw. die Qualität der ästhetischen oder religiösen Erfahrung im Vollzug des Gottesdienstes ermitteln lässt und welche Bedeutung diese Ergebnisse für die Theologie der Liturgie einerseits, für die praktische Gestaltung des Gottesdienstes andererseits haben. Wilhelm Gräb versucht in einem kulturhermeneutischen Zugriff, die Bedürfnislagen in anthropologischer und kultureller Dimension zu ermitteln, gelangt dabei aber, wie oben bereits als Problem aufgewiesen wurde, teilweise zu autoritär-normativen Deutungen und Setzungen. In neueren Untersuchungen wird daher zu Recht der Versuch gemacht, der konkreten Gottesdiensterfahrung durch empirische Untersuchungen auf die Spur zu kommen. Als methodisch herausragend erscheint m.E. vor allem die Untersuchung, die das Gottesdienstinstitut der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern in Zusammenarbeit mit der Universität Bayreuth vorlegte. Evangelisch Getaufte wurden in narrativen Interviews nicht nach ihrem Gottesdiensterleben, sondern nach ihrem Umgang mit Ritualen und Sinngebungen im Alltag befragt und erzählten en passant auch von ihren Gottesdiensterfahrungen. Die Ergebnisse zeigen unter anderem eine weit weniger kognitive Rezeption der Sonntagsliturgie (und auch der Predigt!), als diese manchmal vermutet wird, und – bei einer relativ großen Gruppe, die keineswegs nur die regelmäßigen Gottesdienstbesucher umfasst, – eine weit positivere Haltung zum traditionellen ‚Ritual‘ des Sonntagsgottesdienstes als häufig angenommen. So ergibt sich aus den Erzählinterviews unter anderem die Schlussfolgerung: „Die [traditionelle, 166

Vgl. dazu z.B. FÜRST: Was veranlasst die Praktische Theologie; vgl. dazu auch unten Kap.

5.2.

167

Vgl. z.B. BIERITZ: Gottesdienst als ‚offenes Kunstwerk‘.

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AD] Liturgie gibt Freiraum bei gleichzeitig empfundener innerer Beteiligung. Dabei macht es nichts, wenn von ihr ‚nichts hängen bleibt.‘“168 Liturgietheologisch wurde die Untersuchung bislang nicht ausgewertet; im Blick auf die praktische Liturgiegestaltung lautet eine der Folgerungen aber, dem traditionellen bzw. traditionskontinuierlichen Sonntagsgottesdienst eine größere Aufmerksamkeit als bislang zu schenken.169 In genau diese Richtung weisen auch die Vorschläge der Liturgischen Konferenz zur Weiterarbeit am Evangelischen Gottesdienstbuch.170 Eine besondere Affinität zu rezeptionsästhetischen Ansätzen hat die semiotische Betrachtungsweise der Liturgik,171 die vor allem durch die Untersuchungen von Karl-Heinrich Bieritz172, Rainer Volp173 und Thomas Klie174 eminente Bedeutung in der evangelischen Liturgiewissenschaft erlangte. Mit dem dreistelligen Zeichenbegriff der Semiotik wird nicht einfach nur der „Signifikant“ und sein „Signifikat“ linear verbunden, so als könne von einer bestimmten Zeichengestalt einlinig auf deren ‚Bedeutung‘ rückgeschlossen werden, sondern von einer vielgestaltigen Interpretation des einen „Signifikanten“ je nach Deutungskontext („Code“) ausgegangen.175 Signifikat (die Deutung)

Code/Codierung (der Deutekontext)

Signifikant (die liturgischen „Zeichen“)

Damit ist ein methodisches Raster gegeben, das die Praxis des „ZeichenSetzens“ mit der Zeichen-Rezeption und somit Gestaltung und Wahrneh-

168

KERNER: Der Gottesdienst, 15. Vgl. ausführlicher unten Kap. 6.1. 170 Vgl. oben Kap. 1.1 und vgl. RASCHZOK: Die Agende der Zukunft. 171 Vgl. insgesamt ENGEMANN: Art. Semiotik, 137f. 172 Vgl. insgesamt die in BIERITZ: Zeichen setzen, gesammelten Beiträge. 173 Vgl. VOLP: Liturgik. 174 Vgl. KLIE: Zeichen und Spiel. 175 Vgl. BURKHARDT: Art. Semiotik, bes. 120–125. 169

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mung der liturgischen Zeichen verbindet. Unten komme ich darauf zur Beschreibung meines eigenen methodischen Ansatzes zurück.176 (b) Werkästhetik: Ein dezidiert werkästhetischer Zugang zum Gottesdienst ist in der gegenwärtigen (evangelischen) Praktischen Theologie eher selten.177 Wahrnehmen lässt er sich aber z.B. bei Stephan Weyer-Menckhoff, der die dominierende semiotische Betrachtungsweise mit ihrer (vermeintlichen!) Tendenz nach den Signifikaten als der „Bedeutung“ zu fragen zurückweist und stattdessen die „Oberfläche“178 der Liturgie betrachtet, durch die ein „Raum“ konstituiert werde, der sich nicht auf seine „Bedeutung“ hin analysieren lasse.179 Weder die Art und Weise, wie dieser durch die Gestaltung der Liturgie geschaffen wird, noch die Frage danach, wie sich einzelne Rezipienten unterschiedlich in diesem Raum bewegen, interessiert WeyerMenckhoff dann in besonderer Weise. Vielmehr bildet die Raumbeschreibung und die theologische Bestimmung dieses Raumes als „Kommunion“ (nicht „Kommunikation“) mit Gott die entscheidende Grundlage seiner ästhetischen Liturgik,180 womit sein Ansatz vor allem in Bezug auf die Frage nach der Gestaltung des Gottesdienstes eine markante Leerstelle hinterlässt. (c) Produktionsästhetik: Die Gestaltungsfrage wird am ehesten dort fundierend und kreativ aufgenommen, wo der Begriff der „Inszenierung“ liturgisch rezipiert und reflektiert wird. Michael Meyer-Blanck hat diesen 1997 mit seinem Buch „Inszenierung des Evangeliums“ wirkungsstark in die Diskussion gebracht. In den vergangenen Jahren nahmen vor allem zwei Arbeiten diesen Begriff auf und profilierten ihn weiter. So entwickelte David Plüss unter der Überschrift „Gottesdienst als Textinszenierung“ eine „performative Ästhetik des Gottesdienstes“,181 wobei er sich vor allem auf den Gottesdienst der reformierten Kirchen in der deutschsprachigen Schweiz bezieht, die er als „Inszenierungen biblischer Texte“ begreift.182 Mit dem Begriff der „Inszenierung“, den Plüss durch Rückgriff auf theaterwissenschaftliche (Erika Fischer-Lichte) und anthropologische Theorien profiliert, wird es möglich, Räumlichkeit und Körperlichkeit der Liturgie zu bedenken, liturgische Rollen zu profilieren sowie Text und Dramaturgie der 176

Vgl. unten Kap. 1.5. Anders verhält es sich im katholischen Diskurs, wo vor allem durch das viel gelesene Werk des Schriftstellers Martin Mosebach (Häresie der Formlosigkeit) ein dezidiert werkästhetischer Zugriff auf die vorkonziliare katholische Liturgie der Tridentinischen Messe einige Popularität erlangte (vgl. unten Kap. 4.1.2.3). 178 Vgl. WEYER-MENCKHOFF: Ästhetik der Liturgie, 256.258 u.ö. 179 WEYER-MENCKHOFF: Ästhetik der Liturgie, 259. 180 WEYER-MENCKHOFF: Ästhetik der Liturgie, 261; vgl. dazu unten 2.2.3.2 (2) d. 181 PLÜSS: Gottesdienst als Textinszenierung, 11 [im Original hervorgehoben]. 182 PLÜSS: Gottesdienst als Textinszenierung, 322. 177

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Inszenierung zu beleuchten, wobei werk- und produktionsästhetische Überlegungen beständig ineinandergreifen. Auch Ursula Roth findet in Erika Fischer-Lichte eine wesentliche Gesprächspartnerin für ihren Ansatz, Theatralitätstheorie und Gottesdiensttheorie aufeinander zu beziehen und dabei die Aspekte „Inszenierung“, „Leiblichkeit“, „Wahrnehmung“ und „Performativität“ in den Mittelpunkt zu rücken. David Plüss stellt die Bibel in formaler und materialer Hinsicht in den Mittelpunkt seines Modells der Inszenierung; bei Ursula Roth bleibt die theologische Mitte und mithin die Frage, welches Stück nun eigentlich gespielt werde, sehr viel offener, so dass zahlreiche Detailbeobachtungen anregend weitergegeben werden, aber keine orientierende Gesamtperspektive aus den Überlegungen erwächst. Die Liste von sieben Wegen liturgischer Argumentation (historisch, biblisch, ökumenisch, dogmatisch, empirisch/kulturhermeneutisch, religionsphänomenologisch/religionsphilosophisch, ästhetisch) und die Zuordnung von einzelnen Werken der liturgischen Fachdiskussion zu diesen Wegen könnte suggerieren, dass die jeweiligen inhaltlichen oder methodischen Akzentsetzungen als einander ausschließende Alternativen vorkommen. Selbstverständlich ist dies nicht der Fall. Faktisch begegnen in beinahe jedem liturgischen Ansatz Elemente verschiedener Wege, weswegen es (beinahe) immer zu Vernetzungen kommt. Diese erscheinen auch unbedingt notwendig: So wird keine liturgische Darstellung ohne Aufweis von historischen Verwurzelungen bzw. Entwicklungen, ohne Wahrnehmung der empirisch oder kulturhermeneutisch bestimmbaren Situation und ohne Wahrnehmung der anthropologischen und religiösen Grundierung auskommen. Ebenso ist es common sense des liturgischen Diskurses, dass die Gestaltseite des Gottesdienstes unbedingt zu berücksichtigen ist, wenn die eigene „Sprache“ der Liturgie, die durch Worte und Gesten, durch Stimme und Körper gekennzeichnet ist, nicht missachtet werden soll. Nicht zuletzt ist keine christliche Liturgik ohne Wahrnehmung der biblischen Fundierung und der ökumenischen Nachbarschaft zu anderen vergleichbaren Liturgietraditionen vorstellbar. Was aber im gegenwärtigen Diskurs doch auffällt, ist die problematische Rolle, die der hier als „dogmatisch“ klassifizierte Zugang spielt. Systematisch-theologische Überlegungen haben es im liturgischen Diskurs der Gegenwart – wie gezeigt – nicht leicht. Es scheint leichter, vielversprechender und methodisch wie inhaltlich unverfänglicher, liturgisch so zu argumentieren, dass die Frage danach, was eigentlich christlicher Gottesdienst in theologischer Perspektive sei, sein solle oder könne, ausgeklammert wird. Gleichzeitig fällt in nicht wenigen Darstellungen auf, dass sie sich über den Einsatz der jeweils leitenden Methodik nicht unbedingt ausführlich Rechenschaft geben. Die Frage der liturgischen Epistemologie bleibt häufig implizit, erscheint aber gerade deshalb als

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notwendig. Diese Notwendigkeit soll im Folgenden näher ausgeführt werden. 1.4.2 Zur Notwendigkeit der Frage nach liturgischer Epistemologie und fundamentalliturgischer Reflexion Die bisherigen Beobachtungen zusammenfassend und erweiternd ergeben sich drei Aspekte, die liturgische Epistemologie zu einer Notwendigkeit machen: (1) Die Notwendigkeit aufgrund der Insuffizienz individueller Geschmacksurteile als Basis liturgischer Argumentation Wenn nicht geklärt ist, wie man in liturgicis zu Erkenntnissen kommen kann oder will, besteht das Problem, dass der eigene liturgische Geschmack des Autors/der Autorin, geprägt durch subjektive Gottesdiensterfahrungen, die Argumentation allzu massiv bestimmt. Auch Rainer Volp erkennt und benennt dieses Problem zu Beginn seiner Liturgik. Er geht davon aus, dass „kaum ein Thema so sehr von Vorurteilen und Emotionen umlagert“ sei „wie die Frage nach Gottesdiensten in der heutigen Zeit“,183 und schreibt: „[…] selbst das so objektiv scheinende Fragen nach den historischen Anfängen ist davon [von Vorurteilen und Emotionen, AD] nicht unberührt: ob diese kultischen oder antikultischen Charakter hatten, ob man fröhliche Agapen feierte oder entschiedene Umkehr predigte, ob jüdische Traditionen oder hellenistische Innovationen die Regeln für unser weiteres Bedenken bereitstellen – immer spielt mit, welche negativen oder positiven Impulse den Fragesteller bewegen.“184

Geradezu ein Paradebeispiel für die – die scheinbar ‚objektive‘ Forschung prägende – Bedeutung von Vorurteilen ist die im Protestantismus hartnäckig verbreitete These, wonach es zwei Wurzeln des christlichen Gottesdienstes gegeben habe: den synagogalen Wortgottesdienst einerseits, die Feier des Herrenmahls andererseits, eine These, die sich inzwischen als historisch unhaltbar erwiesen hat.185 Das leitende Interesse, den als gut und stimmig empfundenen evangelischen Wortgottesdienst ohne Abendmahl liturgisch zu legitimieren, bestimmte die Forschung.

183

VOLP: Liturgik, Bd. 1, 22. VOLP: Liturgik, Bd. 1, 22. 185 Vgl. SCHMIDT-LAUBER: Die Eucharistie, 209–211. 184

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Gerade dort, wo historisch oder biblisch argumentiert wird, zeigt sich die Problematik der Prävalenz eigener (Geschmacks-)Urteile vor der Suche nach ‚passenden‘ Argumenten immer wieder. So ließe sich – um nur ein weiteres Beispiel anzuführen – unter Rekurs auf Luthers Wirken sowohl die Praxis des Festhaltens an der überkommenen, tradierten Gestalt des Gottesdienstes legitimieren (man könnte dann auf Luthers zögerliche Verdeutschung der Messe, auf seine in den Invokavitpredigten deutlich werdende Scheu vor allzu heftigen liturgischen Reformen, seine Beibehaltung der traditionellen Messstruktur in „Formula Missae et Communionis“ sowie in der „Deutschen Messe“ verweisen) oder die Tendenz, radikal neue Gottesdienstformen zu finden, die der Kommunikation des Evangeliums in der Gegenwart sehr viel besser entgegenkommen (hier wären dann die Streichungen und Umformulierungen in der „Deutschen Messe“ zu erwähnen oder die im Vorwort geäußerte notwendige Beweglichkeit der liturgischen Formen bis hin zur völligen Neugestaltung der ‚dritten Form‘ für die, „so mit Ernst wollen Christen sein“).186

Sollen nicht eigener Geschmack oder eigenes Stilempfinden die liturgische Argumentation bestimmen, ist eine Verständigung über Vorverständnis, Methode und Zugangsweise unverzichtbar. (2) Die Notwendigkeit angesichts der Angebotsorientierung auf dem gegenwärtigen Markt der Religion Die Kirchen nehmen sich – wenigstens in Mitteleuropa – seit einigen Jahren und Jahrzehnten in einer Situation wahr, in der nicht wenige ihrer Mitglieder ihnen den Rücken kehren und sie sich – trotz aller beschworenen ‚Wiederkehr der Religion‘ – als Institution nicht selten die Frage nach ihrer ‚Zukunftsfähigkeit‘ stellen müssen. Diese nimmt etwa Thomas Bornhauser am Ende seiner jüngst im Internet veröffentlichte Situationsanalyse zum Gottesdienst in der deutschsprachigen Schweiz mit den Sätzen auf: „Wir Reformierten sollten Mut zum Aufbruch in neue Dimensionen von Theologie und Liturgie haben. So leisten wir einen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit des Christentums.“187 Der Begriff der „Zukunftsfähigkeit des Christentums“ wird hier zum Kriterium für liturgische Vergewisserung – und ist dies keineswegs nur bei Bornhauser und keineswegs nur im evangelisch-reformierten Kontext. Letztlich freilich ergibt sich daraus eine liturgische Epistemologie, die vor allem aus der Angst vor tatsächlich oder vermeintlich sinkenden „Besucherzahlen“ der Gottesdienste heraus argumentiert. Theologisch erscheint ein solches Reden in vieler Hinsicht anti-reformatorisch; liturgisch-praktisch führt es im Kern dazu, von den (vermeintlichen oder tatsächlichen) Bedürfnislagen der „Besucherinnen“ und „Besucher“ ausge186 187

Vgl. DEEG/MEIER: Module der Theologie, 13f. BORNHAUSER: Der reformierte Gottesdienst, 27.

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hend zu argumentieren und daraufhin das „Angebot“ der Gottesdienste zu justieren. Diese marktökonomische Argumentationsstruktur hat gegenwärtig einige Plausibilität.188 Und in der Tat kann es keiner Kirche egal sein, wenn ihre „Mitglieder“ derjenigen „Veranstaltung“ fern bleiben, die seit der Zeit der Alten Kirche ein wesentliches Zentrum (das wesentliche Zentrum?) christlichen Lebens bildet. Noch im 1999 erschienenen Evangelischen Gottesdienstbuch heißt es: „In ihrem Gottesdienst erlebt die Gemeinde das Zentrum ihrer Identität.“189 Gegenwärtig ist dementsprechend viel von der „Qualität“ des Gottesdienstes die Rede; der Begriff begegnet im Impulspapier der EKD „Kirche der Freiheit“ aus dem Jahr 2006 (insgesamt ist es wohl nicht falsch, diesen Begriff und seine Komposita „Qualitätsstandard“, „Qualitätsmanagement“, „Qualitätskontrolle“) als das zentrale Leitwort des EKD-Papiers zu bezeichnen),190 er wird im Papier „Gottesdienst feiern“ der Liturgischen Konferenz aufgenommen,191 und im Jahr 2009 nahm ein „Zentrum Qualitätsentwicklung im Gottesdienst“ der EKD in Hildesheim seine Arbeit auf. Wenn „Qualität“ hier nicht kurzschlüssig mit (vermeintlichem oder tatsächlichem) ‚Publikumsgeschmack‘ identifiziert werden soll, scheint ein fundamentalliturgisches Fragen und vor allem auch eine theologisch geprägte Epistemologie unaufgebbar. In genau diese Richtung weist auch der Text des EKD-Impulspapiers, wenn hier dezidiert von der „geistliche[n] Qualität der einzelnen Angebote“, worunter spezifisch auch die Gottesdienste verstanden werden, gesprochen wird.192 Freilich bleiben die materialen Ausführungen zur Frage, wie genau diese „geistliche Qualität“ bestimmt werden soll, sehr weit und unbestimmt (vgl. ausführlicher unten 6.2 Exkurs).193

188

Vgl. auch „Kirche der Freiheit“ – das Perspektivpapier, das die EKD 2006 vorlegte. EGb, 13; vgl. auch CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, 21: „Gottesdienst und Predigt sind für den christlichen Glauben das unverzichtbare Zentrum des Lebens der Kirche“ [im Original hervorgehoben]. – Etwa Christian Möller vertritt entschieden die Position einer Oikodomik, in deren Zentrum der Gottesdienst (allerdings in einem weiten Sinne des Wortes) steht (vgl. z.B. MÖLLER: Lehre vom Gemeindeaufbau, Bd. 2, 235–388). Auch wenn die Bestimmung des Gottesdienstes anders akzentuiert ist, berührt sich Möllers theologische Grundentscheidung in dieser Hinsicht deutlich mit der der katholischen Kirche (vgl. nur JOHANNES PAUL II.: Die Kirche lebt von der Eucharistie [2003]). 190 Vgl. vor allem Kirche der Freiheit, 27f.44 (grundlegend); 51 (zur „geistlichen Qualität kirchlicher Angebote“); 52 (zum Gottesdienst). 191 Vgl. oben Kap. 1.1. 192 Kirche der Freiheit, 51. 193 Vgl. inzwischen auch FENDLER: Von der ‚Qualitas‘ zur Messung; BINDER: Zu schauen die schönen Gottesdienste des Herrn; KERL: Was ist ein guter Gottesdienst?; DEEG: Erkennbar besser. 189

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(3) Die Notwendigkeit angesichts der liturgischen Gestaltungsaufgabe Evangelische Gottesdienste sind, mehr noch und anders als etwa katholische, Gestaltungsaufgabe. Sie erwiesen sich so – trotz des Einflusses bindender Agenden – durch die Jahrhunderte, sie waren dies auch während der Zeit, in der Agende I in Gültigkeit war, und sie sind dies durch das Evangelische Gottesdienstbuch in nochmals verschärfter Form geworden.194 Dieses bietet die Möglichkeit, den jeweiligen Gottesdienst im Rahmen der gegebenen Grundstruktur sehr unterschiedlich und mit zahlreichen Varianten zu gestalten, und setzt den oder die liturgisch Verantwortliche/n damit auch in die Pflicht, diese Gestaltungsleistung Sonntag für Sonntag neu zu erbringen.195 Für diese Aufgabe aber ist die Frage nach den Kriterien der Entscheidung und mit ihnen auch die Frage danach, was Gottesdienst eigentlich ‚ist‘ und wie er verstanden werden kann, entscheidend. Es gilt, die theologischen Leitbilder immer neu kritisch zu reflektieren. Soll der Gottesdienst z.B. – mit Wilhelm Gräb gesprochen – „ganzheitliche Sinnvermittlung und praktische Lebenshilfe“ bieten, Menschen bei ihrer Suche nach „religiöser Lebensdeutung“ begleiten und die Erfahrung von Gemeinschaft vermitteln?196 Oder soll er mit Manfred Josuttis „das Heilige“ neu entdecken helfen und in seinen Verhaltenssequenzen dieser transempirischen Realität nahe kommen? Für Pfarrerinnen und Pfarrer, aber auch für die das ius liturgicum innehabenden Presbyterien und Kirchenvorstände, scheinen mir solche Überlegungen, mithin aber solche fundamentalliturgischen Klärungen, unerlässlich. Aus alledem ergibt sich eine zweifache Aufgabe evangelischer Fundamentalliturgik: (1) Fundamentalliturgik fragt zunächst danach, wie die Liturgik eigentlich auf ihre Gedanken kommt, und versteht sich so als kritische Epistemologie – dies die formale Seite der Fundamentalliturgik. Es geht dabei schlicht um die für jede Wissenschaft unaufgebbare – in der Liturgik aber eher selten explizit diskutierte – Frage: Wie soll und kann argumentiert werden, wenn liturgische Aussagen gemacht werden? (2) Die zweite Richtung fundamentalliturgischen Arbeitens ist nur auf dem Hintergrund und im beständigen Austausch mit der ersten möglich: 194 Thomas Klie schreibt grundlegend zum evangelischen Gottesdienst: „Die ‚Unentrinnbarkeit der Gestalt‘ [Peter Brunner, AD] impliziert in reformatorischer Hinsicht jedoch nicht die Unentrinnbarkeit einer bestimmten Gestalt“ (KLIE: Zeichen und Spiel, 257). 195 Das Evangelische Gottesdienstbuch „ist kein Buch mit einer festen Ordnung, in dem nur die dem jeweiligen Sonntag zugeordneten Texte zu berücksichtigen wären. Es ist vielmehr ein Buch, mit dessen Hilfe die liturgische Aufgabe der konkreten Gottesdienstgestaltung in der Gemeinde und gemeinsam mit ihr angemessen erfüllt werden kann“ (EGb, 17). 196 GRÄB: Sinn fürs Unendliche, 43 [Hervorhebungen im Original].

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Fundamentalliturgik versucht materialiter zu bestimmen, was Gottesdienst ist bzw. sein soll. Sie fragt nach dem „Wesen“ des Gottesdienstes. Damit ist aber die – gegenwärtig vielfach in ihrer Bedeutung für die Liturgik zurückgedrängte – Frage nach der Theologie des Gottesdienstes herausgefordert.

1.5 Theologie als Abduktion – zur Frage des Theologiebegriffs in liturgischer Dimension Auch Wolfgang Ratzmann plädiert in einer im Jahr 2006 erschienenen Positionsbestimmung zum evangelischen Gottesdienst für mehr Theologie in der liturgischen Reflexion. Nach einer Vorstellung von verschiedenen liturgischen „Typen“, wie sie sich seit dem Ende der 1960er Jahre entwickelt haben (der ludische, ästhetische, integrative, mystagogische, evangelistische und gedächtnistheoretische Typ), bemerkt Ratzmann: „Die relative Vielfalt der Positionen, die sich mühelos noch vermehren ließe, verdankt sich vor allem dem Gespräch mit den Kultur- und Sozialwissenschaften. Diese interdisziplinären Anstöße haben die Liturgiewissenschaft um wesentliche Einsichten bereichert, vor allem um Perspektiven anthropologischer Art. Wichtig wäre es, sie künftig noch stärker theologisch zu würdigen und zugleich die innertheologische Debatte über die Bedeutung des Gottesdienstes für den individuell gelebten und kollektiv gefeierten Glauben wieder neu aufzunehmen.“197

Für Ratzmann geht es gegenwärtig also darum, die Vielfalt der unterschiedlichen Modelle und Ansätze zum Gottesdienst theologisch aufeinander zu beziehen und gleichzeitig die Frage nach der „Bedeutung des Gottesdienstes“ theologisch zu diskutieren. Vehement forderte auch der reformierte Pfarrer und Theologe Okko Herlyn bereits vor rund 20 Jahren eine neue Besinnung auf die „Theologie der Gottesdienstgestaltung“. Er schreibt: Es scheine geradezu „Bestandteil der allgemeinen Gottesdienstmisere zu sein, wenn alles das, was es in diesem Zusammenhang zu tun, zu ‚gestalten‘ gilt, entweder dem Diktat fragwürdiger Traditionen oder gar bloßer Gewohnheiten oder aber dem elen197 RATZMANN: Evangelischer Gottesdienst, 239. Vgl. hierzu auch die Funktionsbestimmung der Liturgiewissenschaft, die Albert Gerhards und Benedikt Kranemann (2006) vorlegen: „Dialog und Offenheit bedürfen […] des Wissens um die eigene Mitte sowie die Bereitschaft, die eigene gottesdienstliche Praxis in gesellschaftlichem Umfeld zu befragen. Entsprechend muss die Liturgiewissenschaft Maßstäbe entwickeln, die bei der Beurteilung der Legitimität der unterschiedlichen Formen gottesdienstlichen Lebens und ihres Ortes in Kirche und Gesellschaft anzulegen sind. Diese Kriterien formuliert sie vor allem in Rückgriff auf Geschichte und Theologie der Liturgie.“ (GEHARDS/KRANEMANN: Einführung in die Liturgiewissenschaft, 23).

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

den Schielen nach ‚Erfolgsrezepten‘ und größeren ‚Zahlen‘ folgen zu müssen meint.“ Demgegenüber müsse „das gottesdienstliche Handeln, bis hinein in kleine und kleinste Schritte, der Autorität des Evangeliums nicht entzogen und verantwortlich […] von der Botschaft der Bibel bedacht und vollzogen werden.“198

Wenn „Theologie“ wieder in den Mittelpunkt der liturgischen Reflexion treten soll, so stellt sich sofort die Frage: Welche Art von „Theologie“? Was ist gemeint, wenn von „Theologie“ gesprochen oder der Genetiv „Theologie des Gottesdienstes“ verwendet wird? Ich bestimme dies im Folgenden so, dass ich zunächst auf die oben bereits eingeführte Unterscheidung von genetivus subiectivus und obiectivus zurückgreife und in einem zweiten Schritt die in der Perspektive eines genetivus obiectivus zu suchende Theologie methodisch als abduktive Theologie beschreibe. 1.5.1 Die Unterscheidung von genetivus subiectivus und genetivus obiectivus Die beiden Verständnisse des Genetivs „Theologie der Liturgie“, der genetivus subiectivus und obiectivus, wurden oben199 deutlich voneinander unterschieden – deutlicher, als dies in der Praxis je möglich ist.200 Dennoch scheint mir die Unterscheidung heuristisch hilfreich, denn die Leserichtung ist jeweils eine andere. Es ist möglich, vom gefeierten Gottesdienst aus zu versuchen, Theologie zu schreiben (genetivus subiectivus). Die Art und Weise, wie im Gottesdienst Sprache des Glaubens artikuliert wird, bestimmt dann die Theologie. Manchmal freilich bildet dabei nicht der tatsächlich gefeierte Gottesdienst die Basis der Argumentation, sondern ein recht ideales Bild von ‚dem‘ Gottesdienst oder ‚dem‘ Kultus der Kirche. Dieses Problem lässt sich etwa in der liturgischen Theologie Karl Rahners wahrnehmen. Mit seiner berühmten Unterscheidung von Ur- und Grundsakrament geschieht in dessen transzendentaler Theologie eine Abstraktion, durch die letztlich die konkreten liturgischen Zeichengestalten aus dem Blick geraten. Andrea Grillo schreibt: „In Rahners Verständnis tritt an die Stelle der Kategorialität und Historizität des Hier und Jetzt des Sakraments die Transzendentalität und Absolutheit eines Überall der geschenkten Gnade.“201 Interessanterweise ist aber auch die „Einführung in die litur198

HERLYN: Theologie der Gottesdienstgestaltung, 5. Vgl. oben Kap. 1.2. 200 Vgl. SANDER: Lex orandi, bes. 35. 201 GRILLO: Einführung in die liturgische Theologie, 87. Dabei bezieht sich Rahner auf einen Spitzensatz des Aquinaten, wonach Gott seine Gnade nicht an die Sakramente gebunden habe, sondern frei sei, deren Wirkung auch ohne sie hervorzubringen. Allerdings findet sich dieser Satz 199

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1. Evangelische Fundamentalliturgik – ihre formale Bestimmung

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gische Theologie“ Grillos selbst trotz der Kritik an Rahner nicht vor diesem Problem gefeit. Grillo spricht durchweg nur sehr allgemein von „Ritus“ bzw. „Kultus“ bzw. von der Liturgie als „rituelle[m] Kultus vor Gott durch Christus im Geist“202, so dass eine „Flucht der Theologie vor deren zeichenhaften Strukturen“203, die Grillo anderen vorwirft, auch seine eigenen fundamentalliturgischen Überlegungen trifft. Die Ebene der konkreten Signifikanten (und die Notwendigkeit ihrer jeweils neuen Gestaltung) kommt nur abstrakt in den Blick. Dieses Problem zeigt sich aber auch in jenen Ansätzen vor allem der nordamerikanischen liturgischen Reflexion, die eine liturgische Theologie entwickeln und dazu einen starken theologischen Deutungscode mit einer nur schwach ausgeprägten Phänomenologie (bzw. mit einem nur schwach ausgeprägten konkreten Blick auf das gottesdienstliche Geschehen) verbinden.204

Da der in seiner konkreten Zeichengestalt sehr unterschiedlich gefeierte Gottesdienst nicht die primäre Basis zahlreicher Entwürfe einer Theologie ‚aus dem‘/des Gottesdienst/es abgibt, ergibt sich daraus das epistemologische Problem einer sekundären Normativität der gewonnenen theologischen Aussagen im Blick auf den gefeierten und zu gestaltenden Gottesdienst. Die theologischen Erkenntnisse, Schlussfolgerungen und Sätze können als normative Sätze gelesen und deduktiv auf den Gottesdienst bezogen werden, wodurch sich der genetivus subiectivus faktisch in einen genetivus obiectivus verwandelt (ohne den notwendigen Überschritt explizit zu bedenken). Auf ein weiteres Problem dieser Art der „Theologie des Gottesdienstes“ verweist Eberhard Jüngel. Er kritisiert Versuche, die den gegebenen Gottesdienst als Ausgangspunkt theologischer Reflexion nehmen, insofern, als sie eine kritische Sicht auf den gefeierten Gottesdienst aufgrund theologischer Überlegungen faktisch ausschließen. Jüngel schreibt: „Das kultische Handeln der Kirche […] hätte dann als ‚keiner Revision fähig‘ [Zitat Werner Elert, AD] zu gelten. Theologie des Gottesdienstes wäre darauf beschränkt, den auf seine Weise von sich aus sprechenden kultischen Handlungsvollzug reflexiv zu wiederholen und so gleichsam katechetisch zum Verstehen dessen anzuleiten, was

ursprünglich in angelologischem Kontext und kann nicht so schnell, wie Rahner dies versucht, aus diesem Zusammenhang gelöst und in eine allgemeine Anthropologie integriert werden; vgl. ebd., 86.89–92. 202 GRILLO: Einführung in die liturgische Theologie, 17. 203 GRILLO: Einführung in die liturgische Theologie, 13. 204 Vgl. z.B. SALIERS: Worship as Theology (1994). Saliers will in diesem Buch zwar einerseits bewusst vom gefeierten Gottesdienst ausgehen, andererseits aber verzichtet er auf eine detaillierte Wahrnehmung gegenwärtiger Feierpraxis und ihrer möglichen Probleme. Auch die Gestaltungsseite bleibt bei Saliers außen vor. Grundlegend gilt für ihn, dass „der“ Gottesdienst auf die warte, die ihn heute entdecken wollen (vgl. 27.104.139 [„[…] the liturgy is itself a country we must learn to dwell in.]). – Vgl. im deutschsprachigen Bereich ähnlich auch WANNENWETSCH: Gottesdienst als Lebensform.

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sich eigentlich von selbst versteht. Die Theologie des Gottesdienstes wäre eine einzige Gottesdienstkatechese: sacra liturgia sui ipsius interpres …“205

Durch die Aufnahme und Abwandlung der methodisch-epistemologischen Leitformel der Reformation „sacra scriptura/sacra liturgia sui ipsius interpres“ macht Jüngel eindrucksvoll und nicht ohne Polemik deutlich, dass er diesen Weg für evangelischerseits ungangbar hält. Die Theologie würde ihrer kritisch-korrektiven Funktion beraubt. Wo systematisch-theologische Überlegungen aber als kritisches Korrektiv auf den gefeierten Gottesdienst bezogen werden, wo von der ‚Theologie‘ aus gegenwärtige Liturgiegestaltung sowie agendarische Reflexion bedacht, kritisch hinterfragt oder perspektivisch angeregt, wo also der Genetiv von vornherein als genetivus obiectivus gelesen wird, ergibt sich das Problem einseitiger Deduktion, von dem nun bereits mehrfach die Rede war. Nur ein Beispiel soll die Problematik dieses deduktiven Verfahrens vor Augen führen: Die Liturgik Peter Brunners entwickelt Gottesdienst als ein eindrucksvolles und in sich stimmiges dogmatisches Gebäude, das das Verhältnis von Mensch und Gott in kosmologischer Weite und heilsgeschichtlicher Erstreckung zugleich wahrnimmt. Von dieser Warte aus wird der gefeierte Gottesdienst bestimmt, normiert und hinterfragt. Dies geschieht etwa dort, wo Peter Brunner auf das Verhältnis von Predigtgottesdienst und Abendmahlsgottesdienst blickt und ersteren als grundlegend defizient bestimmt. Gottesdienste, in denen kein Abendmahl gefeiert wird, könnten nur „als Ausgliederung von gottesdienstlichen Elementen zu verstehen sein, die in dem Gottesdienst wurzeln, in dem das Abendmahl gefeiert wird.“206 Die Folgerung lautet: „So ist der Abendmahlsgottesdienst die verborgene lebendige Mitte aller Gottesdienste. Lösen sie sich von dieser Mitte, wird der Abendmahlsgottesdienst nicht mehr als die das ganze gottesdienstliche Leben tragende Mitte bewahrt, dann werden die so losgelösten Gottesdienste auch ihrerseits notwendig verkümmern und verderben.“207 So sehr sich Brunner dabei sowohl auf das biblische Gebot Jesu („Solches tut zu meinem Gedächtnis“; vgl. 1Kor 11,24f) als auch auf die historische Tatsache, dass die Feier des Herrenmahls die Keimzelle christlicher Gottesdienstentwicklung bildet, stützen kann, so sehr vernachlässigt er doch die lebendige Praxis gottesdienstlicher Feiern (nicht nur) im Protestantismus, in der Gottesdienste ohne Abendmahl von der Gemeinde völlig selbstverständlich und seit Jahrhunderten als vollgültige Gottesdienste erlebt und erfahren werden. Dem Versuch dogmatischer Normierung läuft eine von dieser unterschiedene Praxis der Gottesdienstgestaltung und des Gottesdiensterlebens entgegen – mit der Folge, dass sich (trotz aller auch liturgiepraktischen Versuche im Kontext der Agendenreform der Nachkriegszeit) der Predigtgottesdienst als eigenständige Form lebendig erhalten hat und in jüngsten Darstellungen auch als solche theologisch gewürdigt werden kann.208 205

JÜNGEL: Der evangelisch verstandene Gottesdienst, 284. BRUNNER: Zur Lehre vom Gottesdienst, 185. 207 BRUNNER: Zur Lehre vom Gottesdienst, 185. 208 Vgl. dazu vor allem PLÜSS: Gottesdienst als Textinszenierung, bes. 225–243.322. 206

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Das Anliegen, theologische Überlegungen als bedeutsam für die liturgische Praxis zu beschreiben, ist mit dieser Kritik an einseitiger Deduktion natürlich nicht erledigt. Gesucht werden muss allerdings ein anderes Verständnis von Theologie, das ich als abduktiv beschreibe.209 1.5.2 Abduktive Theologie der Liturgie Denkt man in der Alternative von Deduktion oder Induktion, so ergäbe sich – schematisierend – folgendes Bild zum Zusammenhang von systematischtheologischen Aussagen und konkret gefeiertem Gottesdienst:210 Systematischtheologische Aussage Induktion (genetivus subiectivus) Vom gefeierten Gottesdienst zu theologischen Aussagen

Deduktion (genetivus obiectivus) Vom (normativen) theologischen Aussagen zum gefeierten Gottesdienst

Gefeierter Gottesdienst In der semiotischen Theoriebildung hat sich Charles Sanders Peirce, der Begründer der modernen Semiotik, mit der problematischen Alternative von „Induktion vs. Deduktion“ auseinandergesetzt und erkannt, dass die beiden logischen Schlussverfahren (vom konkreten Fall zur abstrakten Aussage bzw. umgekehrt) unzureichend bleiben und nach einer dritten Weise logischen Argumentierens gesucht werden müsse.211 Diese fand er in der Abduktion, deren Bedeutung er zunächst im Kontext naturwissenschaftlichen Forschens erkannte. Dort führen Vorannahmen oder Beobachtungen aufgrund von Einzelfällen zu teilweise kühnen Schlussfolgerungen, die dann in weiteren Experimenten überprüft oder auf ihre Denkmöglichkeit im Kontext bestehender Modelle untersucht werden. Es gibt gewagte Sätze, die

209 Der Begriff der Abduktion hat seine Wurzeln bereits bei Aristoteles, der von „Apagoge“ sprechen konnte; prägend wurde er allerdings durch Charles Sanders Peirce, der ihn in seinen „Vorlesungen über Pragmatismus“ (1903) einführte. 210 Vgl. dazu auch die Überlegungen von Peter Cornehl zu einer Liturgik „von oben“ und einer Liturgik „von unten“, in: ders.: Der Evangelische Gottesdienst, 35f. 211 Vgl. hierzu und zum Folgenden APEL: Der Denkweg.

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nicht durch methodisch gesichertes Nachdenken,212 sondern eher durch „Raten“ oder „Spekulieren“ entstehen,213 gerade so aber neues Denken und neue Erkenntnisse möglich machen, gleichzeitig aber auch neues Experimentieren erfordern. Die Abduktion ersetzt folglich nicht die Deduktion bzw. die Induktion, sondern dynamisiert induktives bzw. deduktives Urteilen und macht so eigentlich erst die Entwicklung neuer Gedanken, die sich nicht einfach aus dem schon Gewussten oder bereits Erfahrenen ableiten lassen, möglich.214 Die „Stärke“ der Abduktion liege, so Wolfgang Beck, „in der erkenntnistheoretischen Integration von neu zu erlangendem Wissen, für das bestehende Einsichten und vorhandene Sprache nicht ausreichen können.“215 Auch Thomas Klie erkennt diese Wirkung und schreibt zur Abduktion bei Peirce: „In solchen kreativen Vermutungen wird Vorbewußtes, Ahnungsvolles, Noch-nicht-Diskursives diskursiv gemacht; der Diskurs erweitert sich um Neues.“216 In systematisch-theologischer Perspektive wurde die Abduktion vor allem von Wilfried Härle als methodisches Leitwort in seiner „Dogmatik“ aufgenommen.217 Sie kommt ihm als logisches Schlussverfahren insofern entgegen, als es möglich wird, den (durchaus unwahrscheinlichen!) ‚Einzelfall‘ der Person Jesu von Nazareth, seines Lebens, Sterbens und Auferstehens zum Ausgangspunkt zu nehmen und theologische Sätze als „(abduktive) Interpretationen“ dieses Geschehens zu verstehen.218 Es ergibt sich dann ein „hermeneutischer Zirkel“,219 „der konstituiert wird durch abduktive Hypothesenbildung, deduktive Ableitung, induktive Überprüfung und gegebenenfalls erneute Abduktion“.220 In diesen hermeneutischen Zirkel gehören dann neben der „Person Jesu Christi“ als Basis jedes abduktiven theologischen Urteils auch Erscheinungsformen des Glaubens unterschiedlicher 212 Aus dem Nachdenken würden sich „Hypothesen“ ergeben, die Peirce von den abduktiven Schlüssen unterscheidet. 213 Vgl. BECK: Die unerkannte Avantgarde, 390 Anm. 56. 214 Die Abduktion zeige, „wie die generellen Prämissen oder Axiome entstehen, aus denen mittels Deduktion zwingende Folgerungen abgeleitet werden, die sich mittels Induktion überprüfen lassen […]“ (HÄRLE: Dogmatik, 8). 215 BECK: Die unerkannte Avantgarde, 391. 216 KLIE: Zeichen und Spiel, 231. 217 Vgl. HÄRLE: Dogmatik, bes. 8.23.76f. – Eine durchaus lohnende weitere Rezeption des Begriffs der Abduktion findet sich bei BECK: Die unerkannte Avantgarde, der von einer Untersuchung zum Pfarrhaus und seiner Bewohner ausgehend neue theologische Einsichten für die katholische Kirche entdeckt – und dabei abduktives Lernen als „verunsichertes und verunsicherndes Lernen“ beschreibt (BECK: Die unerkannte Avantgarde, 397), oder in den religionspädagogischen Überlegungen von ANDREAS PROKOPF und HANS-GEORG ZIEBERTZ (Abduktive Korrelation); vgl. auch MEYER-BLANCK: Jugend – Theologie – Bekenntnis, der Bekenntnisse als abduktive Sprachformen versteht. 218 HÄRLE: Dogmatik, 23. 219 HÄRLE: Dogmatik, 76 [im Original hervorgehoben]. 220 HÄRLE: Dogmatik, 76.

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Art hinein, die für Härle dann in eine Doppelrolle kommen, in der sie zugleich „Quelle“ und „Objekt“ der Theologie seien.221 Bereits an dieser Stelle liegt die Möglichkeit der Übertragung des abduktiven Verfahrens auf die Liturgik auf der Hand: Wenn der gefeierte Gottesdienst als Erscheinungsform des Glaubens in den von Härle vorgestellten hermeneutischen Zirkel eingetragen wird, so kommt er in die Rolle, zugleich Quelle und Objekt der Theologie zu sein – eine Doppelrolle, die an die berühmte Formel der Liturgieerklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils erinnert, wonach der Gottesdienst (genauer: die „Liturgie“) „culmen et fons“ der gesamten Theologie und des gesamten Handelns der Kirche sei.222 In der bisherigen liturgischen Diskussion waren es vor allem Rainer Volp und Thomas Klie, die die Abduktion als Methode aufnahmen. Für Rainer Volp ist klar, dass „Gottesdienst nicht nur die Applikation eines vorgängigen Bedeutungssystems ist“, womit er sich gleich zu Beginn seiner materialreichen Liturgik von jedem einseitig deduktiven Ansatz abgrenzt.223 Es gelte, „das Zusammenspiel von Theorie und Praxis“ immer im Blick zu halten.224 Diesem Anliegen versucht Volp gerecht zu werden, indem er die methodische Grundlegung semiotischer Theoriebildung zur Basis seiner Liturgik macht und im beständigen Abschreiten der „Trias syntaktischer, semantischer und pragmatischer Fragestellungen“ arbeitet.225 Gleichzeitig bezieht sich Volp auf Schleiermacher, der mit seinem Begriff der „Divination“ einen Weg der Schlussfolgerung auf den Begriff gebracht habe, der „weder spekulativ […] noch bloß empirisch“ zu einem Ergebnis kommen wollte und damit genau jene Mittelstellung zwischen Theorie und Praxis eröffnet, die sich in semiotischer Sprache als „Abduktion“ bezeichnen lässt.226 In Volps Überlegungen wird die Abduktion u.a. dort explizit bedeutsam, wo es um praktische Entscheidungen der Gottesdienstgestaltung geht – etwa um die Auswahl aus einer Fülle unterschiedlicher Gestaltungsalternativen. Hier könne weder die „Deduktion von einem allgemeinen Prinzip“ noch die „bloße Induktion pragmatischer Erfahrungssätze“ hilfreich sein; es müssten vielmehr „treffende Regeln und Zeichen“ aus dem konkreten Umgang und den sich daraus ergebenden Erfahrungen „erschlossen werden“.227 Thomas Klie erkennt, dass Volp damit implizit die Wege zur Erneuerten Agende kritisiert: Auf dem Weg der Deduktion wurde aus der liturgischen Tradition die Grundstruktur des Gottesdienstes abgeleitet, aus der Vielfalt der konkreten Gestaltungsformen wurden die Ausformungsvarianten induziert: „Die gegebene Struktur des ‚Evangelischen Gottes221

HÄRLE: Dogmatik, 77 [im Original sind die beiden Begriffe hervorgehoben]. Vgl. SC 10: „Attamen Liturgia est culmen ad quod actio Ecclesiae tendit et simul fons unde omnis eius virtus emanat“; vgl. zu diesem Satz der Liturgiekonstitution ausführlicher unten Kap. 4.1.1. 223 VOLP: Liturgik, Bd. 1, 11. 224 VOLP: Liturgik, Bd. 1, 11. 225 VOLP: Liturgik, Bd. 1, 12. 226 VOLP: Liturgik, Bd. 2, 801. 227 VOLP: Liturgik, Bd. 1, 140. 222

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dienstbuchs‘ stellt sich demnach in zeichentheoretischer Hinsicht als das Ergebnis aus historisch-dogmatischer Deduktion und empirisch-pragmatischer Induktion dar. Unter den Bedingungen eines an der Rezeptionssituation orientierten Liturgieverständnisses können neue Formen nach Volp jedoch nur im Rahmen kreativer bzw. abduktiver Inventionen generiert werden […]“.228 – Eine intensivere theoretische Auseinandersetzung mit dem Modell der „Abduktion“ – wie Volp sie eigentlich ankündigt – unterbleibt dann aber.229 Auch Thomas Klie grenzt sich gleich zu Beginn seiner Arbeit zur semiotischen Rekonstruktion der Pastoraltheologie von einem einseitig deduktiven Theologiebegriff in praktisch-theologischem Kontext ab. Praktische Theologie könne, so die von Klie bekräftigte communis opinio, keinesfalls mehr als „Anwendung innertheologisch gewonnener Normen im Sinne einer theologia applicata“ bestimmt werden.230 Empirie und Theologie bildeten ein notwendiges und beständiges In- und Miteinander. Den epistemologisch heiklen Punkt des Schritts von der Deskription zur Präskription nimmt Klie in den Blick und erkennt, dass die Semiotik den geeigneten „Theoriehorizont“ bereitstelle, um die Übergänge zwischen Sätzen auf beschreibender und vorschreibender Ebene reflexiv einzuholen.231 Ausführlich setzt sich Klie dann mit Umberto Ecos Semiotik und deren Aufnahme des Peirceschen Abduktionsbegriffs auseinander.232 Eco differenziert drei Typen von Abduktion: (1) „die Hypothese oder übercodierte Abduktion, bei der sich der Schluß auf die allgemeine Regel ‚automatisch oder halbautomatisch ergibt […]‘“, (2) „die untercodierte Abduktion, bei der auf eine Regel aufgrund von mehreren gleichwahrscheinlichen Alternativen geschlossen wird […]“, (3) „die kreative Abduktion, bei der die Erfindung einer Ordnung als emergentes Geschehen bzw. durch ‚revolutionäre Entdeckungen‘ erfolgt.“233 Für Eco haben solche Abduktionen grundlegend dort Bedeutung, „wo Codierungen fraglich sind […]. Bei der Lektüre solcher Texte muß der Leser fortwährend Vermutungen über die Bedeutung des gerade Gelesenen innerhalb des Textganzen bzw. in Bezug auf die intentio auctoris anstellen, die durch den weiteren Textverlauf entweder korrigiert oder bestätigt werden.“234 Mit dieser Rezeption des Abduktionsmodells durch Eco – und im Kern mit seiner Differenzierung der drei Arten abduktiver Schlüsse – wird es möglich, das Modell des „offenen Kunstwerks“ im Blick auf die Lese- und Deutungsleistung der Rezipienten zu klären. Deutlich arbeitet Klie den Unterschied zwischen Peirce und Eco heraus, der vor allem darin besteht, dass Peirce Zeichenprozesse final so denken möchte, dass sie dem näherkommen, „was ist“235, und damit eine finale Ontologie einschließt, wogegen Eco das Kontingente und Chaotische unabschließbarer Zeichenprozesse beleuchtet und die Antwort auf die Frage nach der Wahrheit nur als Folge einer kommunikativen Übereinkunft sehen kann; Eco selbst 228

KLIE: Zeichen und Spiel, 245. Vgl. zu der Ankündigung VOLP: Liturgik, Bd. 2, 801. 230 KLIE: Zeichen und Spiel, 12. 231 KLIE: Zeichen und Spiel, 14 [unter Aufnahme von Michael Meyer-Blanck und Birgit Weyel]. 232 Vgl. insgesamt KLIE: Zeichen und Spiel, 178–233; zur Abduktion bes. 208–211. 233 KLIE: Zeichen und Spiel, 208 Anm. 179. 234 KLIE: Zeichen und Spiel, 211. 235 KLIE: Zeichen und Spiel, 217 [Hervorhebung im Original]. 229

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1. Evangelische Fundamentalliturgik – ihre formale Bestimmung

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spricht von „Vereinbarungsrealismus“.236 Thomas Klie rezipiert diese Einsichten dann primär so, dass er sie in sein semiotisch grundiertes spieltheoretisches Modell einträgt und mit konkreten Aufgaben der Praktischen Theologie verbindet.237 So kann er etwa das Reden vom „Predigteinfall“ bei Ernst Lange in der Nähe der „Verstehenstheorie des abduktiven Spiels“ verorten.238 Gleichzeitig bleibt das Abduktionsmodell in spieltheoretischer Reformulierung offen für theologische Interpretationen – dann nämlich, wenn das „qualifiziert Neue“, das durch sie entsteht, auch als „Prädikat göttlichen Handelns“ gedacht wird.239 – Insgesamt bedeutet Abduktion für Klie damit nicht eine epistemologisch-fundamentaltheologische Kategorie, sondern primär ein Moment zur Klärung und Differenzierung dessen, was in hermeneutischen Prozessen (der Lektüre, des Spiels, der Feier) geschieht.

In meinen Überlegungen bietet der Begriff der „Abduktion“ die Möglichkeit, den Ort zu bestimmen, an dem theologische Sätze zum „Wesen“, zu Charakter und Ziel des Gottesdienstes Sinn machen. Abduktion wird – methodisch – zur theologischen Topographie in liturgischer Dimension; anders formuliert: Theologische Sätze zu Charakter und Ziel des Gottesdienstes können als abduktive Sätze gelesen werden. Das bedeutet: Diese Sätze sind Material für die theologische Diskussion auf der liturgischen Theorieebene und zugleich Sätze, deren Bedeutung für die liturgiepraktische Konkretion befragt und anhand von gefeiertem und erlebtem Gottesdienst überprüft werden muss. Abduktive liturgische Sätze müssen auf ihre Denkmöglichkeit im Rahmen einer mehrperspektivischen Gottesdiensttheorie und auf ihre Konkretion im gefeierten Gottesdienst sowie auf ihre Bedeutung für die Prägung der Gottesdienstgestaltung hin befragt werden; sie verbinden so Deskription und Präskription.240 In einer Skizze dargestellt bedeutet dies: Gottesdiensttheorie (systematisch-)theologische Aussagen gefeierter Gottesdienst

im Miteinander historischer, biblischer, empirischer/kulturhermeneutischer, religionsphänomenologischer/ -philosophischer, ästhetischer Überlegungen

236

Zitiert bei KLIE: Zeichen und Spiel, 218. Die Kategorie des Gottesdienstes als Spiel – im Gefolge von Guardini – findet sich etwa auch bei HERTEN: Gottes und der Menschen Spiel. 238 KLIE: Zeichen und Spiel, 231; vgl. 231f. 239 KLIE: Zeichen und Spiel, 233; das letztgenannte Zitat geht auf Eberhard Jüngel zurück. 240 Nähen zu diesem abduktiven Verständnis einer „Theologie des Gottesdienstes“ lassen sich zu der von Reinhard Meßner geprägten Charakterisierung systematischer Liturgiewissenschaft als „Kommentarwissenschaft“ ausmachen; vgl. MESSNER: Liturgiewissenschaft zwischen historischer und systematischer Theologie, 48–52, Zitat: 49. – Die Bedeutung der „liturgische[n] Praxis“ für die systematische Liturgiewissenschaft unterstreicht Birgit Jeggle-Merz in demselben Band: dies.: Im Feiern erst erschließt sich die Liturgie. 237

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

Das Modell zeigt, dass systematisch-theologische Aussagen – etwa der Satz „Gottesdienst ist Begegnung mit Gott und Christus […]“, der die Liturgik Peter Cornehls prägt,241 – damit eine zentrale Stellung für die liturgische Erkenntnisgewinnung erhalten, ohne zugleich einseitig deduktiv normierend zu wirken. Im Gegenteil: Sie behalten (gerade mit ihrem ‚unwahrscheinlichen‘ Inhalt, wonach es etwa im Gottesdienst zu einer realen „Begegnung“ zwischen unendlichem Gott und endlichen Menschen komme!) als verunsichernde, herausfordernde, kreative Sätze dynamisches Potential und fordern so zum Nachdenken und zur Überprüfung der Gestaltung (und vielleicht zu neuen Feiergestalten) heraus. Gerade angesichts der in dem knappen Forschungsüberblick zur liturgischen Epistemologie skizzierten Problemstellungen liegt m.E. ein wesentlicher Vorteil des abduktiven Verfahrens darin, dass theologische Vorannahmen bewusst und explizit als kritisch zu überprüfende, weder von der Theorie noch von der wahrgenommenen Praxis vorgängig eingeholte Aussagen zugrundegelegt und in den liturgischen Arbeitsprozess eingebracht werden können. Etwa bei den oben dem religionsphänomenologischen bzw. religionsphilosophischen Paradigma zugeordneten Ansätzen von Josuttis oder Dober böte ein solches Verfahren die Möglichkeit, die impliziten Vorannahmen (Josuttis: Gottesdienst ist Kultdrama; Dober: Gottesdienst ist Anstiftung zu individueller Sinnvergewisserung coram Deo) in leitende und herausfordernde Sätze einer zu entwickelnden und im weiteren Diskurs zu überprüfenden theologischen Aussage zu verwandeln. Gleiches gilt selbstverständlich auch für alle anderen (häufig implizit!) leitenden Sätze liturgischer Entwürfe. Nur am Rande bemerke ich es hier – und komme darauf im abschließenden Kapitel nochmals zurück: Die Möglichkeit, theologische Sätze und Überlegungen als abduktive Sätze in den Prozess praktisch-theologischer Theoriebildung einzubringen, scheint mir keineswegs nur im Bereich der Liturgik fruchtbar. Im Gegenteil könnte damit eine Methodik praktisch-theologischen Arbeitens avisiert sein, die systematisch-theologischen Überlegungen einen zentralen Stellenwert einräumt – ohne in die Falle des Entweder-Oder von Induktion oder Deduktion zu geraten.

Das folgende Kapitel dient dazu, die theologische Grundlegung zu ermitteln und zu profilieren, die materialiter diese Untersuchung leitet. Dazu gehe ich auf jene Entscheidungen zurück, die historisch die Basis des (im

241

CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, 34.

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1. Evangelische Fundamentalliturgik – ihre formale Bestimmung

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konfessionellen Sinne) evangelischen Gottesdienstes bilden: auf Luthers liturgische Weichenstellungen.242

242 Ein solcher konkreter Ausgangspunkt scheint mir nötig, um das, was Liturgie meinen und bedeuten könnte, materialiter zu fassen – und sich nicht in der Weite letztlich unbestimmter anthropologischer oder religionsphänomenologischer Bestimmungen des „Kultus“ zu verlaufen. So wählt etwa auch Werner Hahne (vgl. HAHNE: De arte celebrandi) die Basis des Zweiten Vatikanischen Konzils, um auf dieser Grundlage fundamentalliturgisch zu reflektieren. Evangelischerseits scheint mir ein solcher Einsatz prägnant mit den liturgietheologischen Entscheidungen Martin Luthers gegeben. Freilich: eine solche Setzung vorzunehmen, ist auf evangelischem Boden erheblich willkürlicher, als es der Ausgangspunkt bei Sacrosanctum Concilium für Hahne ist. Für den katholischen Gottesdienst haben diese Entscheidungen prägende Bedeutung, wie sie Luthers theologische Grundlegung faktisch niemals entwickeln konnte. Damit kann diese Arbeit nicht behaupten, die Fundamentalliturgik des evangelischen Gottesdienstes zu entwickeln. Sie zeigt einen Weg fundamentalliturgischer Klärung und wählt dazu einen Aspekt, an dem sich evangelische Gottesdiensttheorie explizit oder implizit immer wieder abgearbeitet hat – wie die weiteren Ausführungen zeigen werden.

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2. Evangelische Fundamentalliturgik – die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes als ihre materiale Bestimmung

Als sich Eberhard Jüngel pointiert zum „evangelischen Gottesdienst“ äußerte, insistierte er darauf, dieses Adjektiv nicht konfessionell eingeengt zu interpretieren. Um diesem Missverständnis zu entgehen, verwendet er bereits im Titel seines Aufsatzes die Bezeichnung „der evangelisch verstandene Gottesdienst“1 und beschreibt unter dieser Überschrift einen vom Evangelium als von der mit dem Christusereignis inhaltlich konturierten „frohen Botschaft“ geprägten Gottesdienst. Mit diesem Verständnis müsse eine dogmatische Überlegung zum evangelischen Gottesdienst „deutlich machen, daß eine im ursprünglichen Sinne des Wortes evangelische Auffassung des christlichen Gottesdienstes die wahrhaft katholische Auffassung ist.“2 Freilich setzt Jüngel dann – trotz dieser bewusst und im weitest denkbaren Sinne ökumenischen Grundlegung – bei dem Gottesdienstverständnis der Reformatoren ein, das in seinem Beitrag zum materialen und inhaltlich normierenden Ausgangspunkt seiner Überlegungen wird. Genauer ist es Melanchthons Satz aus der Apologie der CA: „praecipuus cultus Dei est docere evangelium“3, der Jüngel inhaltlich leitet. Mit dieser Grundlegung gewinnt Jüngel die Möglichkeit, sich biblisch, ökumenisch und systematisch-theologisch zu verorten. Ein Reden über den Gottesdienst, das ohne einen solchen Ausgangspunkt nur unbestimmt über „Gottesdienst“ oder „Kultus“ reden würde, verlöre seine Konkretion. Daher setze auch ich zur Profilierung der materialen Grundlage dieser fundamentalliturgischen Überlegungen bewusst bei den Entscheidungen der Reformatoren, genauer bei Luther und seinen reformatorischen Weichenstellungen sowie deren Wirkungsgeschichte, ein, um auf diesem Hintergrund die Fragestellungen zu erarbeiten, die die weitere Untersuchung materialiter leiten. Ich gehe dabei in drei Schritten vor: In einem ersten Schritt (2.1) bleibe ich bei Luther und den Problemlagen des 16. Jahrhunderts, in einem 1

Vgl. JÜNGEL: Der evangelisch verstandene Gottesdienst; eine Zusammenfassung und Kommentierung findet sich bei ARNOLD: Theologie des Gottesdienstes, 177–186. 2 JÜNGEL: Der evangelisch verstandene Gottesdienst, 285f; vgl. ähnlich auch MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 13. 3 ApCA XV, BSLK 305,9f; vgl. dazu auch unten Kap. 2.1.2.3.

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2. Evangelische Fundamentalliturgik – ihre materiale Bestimmung

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zweiten Schritt springe ich vom 16. Jahrhundert in die Gegenwart und beschreibe die Wirkungsgeschichte der reformatorischen Grundentscheidungen in den drei Perspektiven Subjektverständnis, Wortcharakter und Wortgestalt (2.2). Ein abschließender dritter Schritt bestimmt auf diesem Hintergrund die materiale Basis der fundamentalliturgischen Überlegungen dieser Arbeit (2.3).

2.1 Luther, der Gottesdienst und das verbum externum – oder: Vom prekären Zusammenhang von Wort und Kult Luthers Anliegen war nicht die liturgische Reform. Sie ergab sich vielmehr als unumgängliche Konsequenz der reformatorischen Weichenstellungen.4 Entsprechend spät datieren diejenigen Schriften des Reformators, die die liturgischen Veränderungen explizit zum Gegenstand haben (1523/1526).5 Die leitende Perspektive ist dabei immer eine zweifache: Es geht Luther um die Reinigung des überkommenen Gottesdienstes von offensichtlichen Missständen (Opferdeutung des Abendmahls, Kelchentzug für die Laien, fehlende Wortverkündigung) einerseits, um die Konzentration des Gottesdienstes auf das Wortgeschehen andererseits. In dieser Hinsicht ist es konsequent, dass die späte Gelegenheitsäußerung Luthers bei der Einweihung der Schlosskirche zu Torgau am 17. Sonntag nach Trinitatis 1544 im evangelischen liturgischen Diskurs zu der fundamentalen Grundbestimmung des Gottesdienstes avancierte.6 Nichts anderes solle im Gottesdienst geschehen, „[…] dann das unser lieber Herr selbs mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir widerumb mit jm reden durch Gebet und Lobgesang.“7 4

Vgl. grundlegend SCHULZ: Luthers liturgische Reformen, und WIGGERMANN: Gottesdienst im lutherischen Kontext, 152; vgl. auch CORNEHL: Art. Gottesdienst VIII, 54–61; KALB: Art. Liturgie, 363–365, und Luthers einleitende Äußerung in „Von ordenung gottis diensts ynn der gemeyne“: „[…] so ist auch nicht unser meynung, den gottis dienst auff zuheben, sondern widder ynn rechten schwang tzu bringen.“ (WA 12, 35, 6–9) Vgl. ähnlich WA 12, 206, 15–17 [zur Intention der „Formula missae et communionis“]. 5 Von ordenung gottis diensts ynn der gemeine, 1523, WA 12,31–37; Formula missae et communionis, 1523, WA 12,197–220; Deutsche Messe und ordnung Gottesdiensts, 1526, WA 19,44–113. 6 Vgl. auch BAYER: Theologie und Gottesdienst, 24f; vgl. allerdings bereits Otto Weber, der von der „in ihrer Bedeutung […] leicht überschätzte[n] Torgauer Predigt“ sprach; ders.: Gottesdienst und evangelische Verkündigung, 52; vgl. auch AVERBECK: Der Opfercharakter des Abendmahls, 33. 7 WA 49, 588, 15–18. – Luthers eher beiläufig geäußerter Satz zur Torgauer Kirchweihe machte in der Geschichte evangelischer Liturgik erstaunliche Karriere. Seit dem 19. Jh. ist er als „Torgauer Formel“ bekannt und wird als solche immer wieder zitiert; in der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde der Satz fast wortgleich (und ohne dies explizit zu benennen) zur leitenden liturgischen Formel des Zweiten Vatikanischen Konzils, so dass er inzwischen als ökumenischer Basis-

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

Wenn der Gottesdienst so als katabatisch-anabatisches und pathischresponsives (in dieser Reihenfolge!) Wechselgeschehen von Wort und Antwort verstanden wird,8 gilt es, dem Charakter dieses theonom bestimmten Wortwechsels näher nachzugehen. Dies soll im Folgenden geschehen, indem erstens anhand einer einschlägigen Lutherschrift auf das Spannungsfeld von äußerem Wort und dessen innerer Evidenz im Glauben geblickt wird (2.1.1). Auf dieser Grundlage frage ich zweitens nach den liturgischen Konsequenzen und Problemen dieser theologischen Einsichten (2.1.2). 2.1.1 Luthers Anliegen: Die dynamische Spannung von äußerem Wort und dessen innerer Evidenz In der Auseinandersetzung mit den ‚Spiritualisten‘,9 die Luther erstmals ausführlich in seiner Schrift „Wider die himmlischen Propheten. Von den Bildern und Sakrament“ (Dezember 1524; Januar 1525) führt, ventiliert er die Frage nach dem Verhältnis von äußerem Wort, dessen innerer Evidenz und der pneumatologischen Vermittlung zwischen beidem.10 Anlass für die schroffen Worte Luthers in seinem Streit mit den „himmlischen Propheten“ ist das theologische Denken sowie kirchenpolitische Handeln von Andreas (Bodenstein aus) Karlstadt (1486–1541), zunächst ein Weggefährte Luthers in der Frühzeit der Reformation, seit den Auseinandersetzungen in Wittenberg 1521/1522 von Luther als Rigorist und „Schwärmer“ eingestuft und heftig verurteilt. Die Heilsbedeutung der Sakramente sowie des äußeren Wortes lehnte er ab; entscheidend war für ihn – einer Spur der deutschen Mystik folgend – die „innerliche Vergewisserung der Glaubenden“11, das „innerlich-subjektive Wort der Erleuchtung“12. satz gelten kann: In SC 33 (4. Dezember 1963) wird formuliert: „[…] in der Liturgie spricht Gott zu seinem Volk; in ihr verkündet Christus noch immer die frohe Botschaft. Das Volk aber antwortet in Gesang und Gebet“ (lateinisches Original: „[…] In Liturgia enim Deus ad populum suum loquitur; Christus adhuc Evangelium annuntiat. Populus vero Deo respondet tum cantibus tum oratione.“); vgl. dazu auch unten Kap. 4.1 sowie DEEG: „… das das wort ym schwang gehe“, bes. 87–92, und HARBSMEIER: Dass wir die Predigt, 127, der knapp begründet, warum mit dieser kurzen Formel das Ganze, für das Luthers Gottesdiensttheologie steht, zur Sprache gebracht werden kann. Vgl. zu einer ähnlichen Bestimmung des Grundgeschehens des evangelischen Gottesdienstes auch CORNEHL: Der theologische Rahmen, 74f, sowie EKD, Der Gottesdienst, 10f.31.41. 8 Vgl. ARNOLD: Was geschieht im Gottesdienst, 11–18. 9 Vgl. dazu PETERS: Luther und seine protestantischen Gegner, bes. 123–126. 10 Besonders interessant erscheint dieser Text auch deshalb, weil er zeitlich zwischen den ersten programmatischen liturgischen Äußerungen Luthers aus dem Jahr 1523 („Von ordenung gottis diensts ynn der gemeyne“; „Formula missae et communionis“) und der „Deutschen Messe“ aus dem Jahr 1526 steht. 11 HAUSCHILD: Lehrbuch, 82. 12 HAUSCHILD: Lehrbuch, 81.

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2. Evangelische Fundamentalliturgik – ihre materiale Bestimmung

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Luther hingegen lag alles daran, die Eindeutigkeit des Heils in Christus als einzigen Bezugspunkt christlicher Existenz festzuhalten. Diese Eindeutigkeit kann, Luther zufolge, nicht aus dem Inneren des Menschen kommen – dazu ging Luthers Anthropologie in Übereinstimmung mit Paulus (vgl. nur Röm 7,7–25) und Augustin sowie in Konkordanz mit seiner eigenen persönlichen Erfahrung zu deutlich von der incurvatio des sündigen Menschen in sich selbst aus. Sie darf aber auch nicht als äußere kirchliche Instanz einfach gesetzt werden, wie es die römische Kirche durch ihr ausdifferenziertes Modell der kirchlichen Heilsübereignung versuchte. Die Eindeutigkeit kann vielmehr allein in Jesus Christus selbst begründet sein. Dieser aber habe Taufe und Abendmahl eingesetzt sowie das äußere Wort gegeben, um durch diese Medien das Heil darzureichen. Luther sieht sich mit dieser Argumentationsfigur auf einem mittleren Weg – zwischen Karlstadt einerseits, der von der inneren Evidenz im Geist jenseits aller äußeren Vermittlung ausgeht, und der römischen Kirche andererseits, die die äußere Vermittlung in die Kirche hinein substanzialisiert hat. Gleichzeitig deckt Luther ein Problem in der Konzeption Karlstadts auf: Gerade der Rekurs auf die Unmittelbarkeit der Innerlichkeit führt bei Karlstadt dazu, dass das Äußerliche neuerlich entscheidend wird. Der nur im Herzen lebende Glaube sucht sich neue Evidenzen. Daher wird der Bildersturm zum ‚linksreformatorischen‘ Pendant der – nach Luther – überzogenen Bilderverehrung im Kontext der römischen Kirche. „Das, was Gott vom ynnerlichen glauben und geyst ordenet, da machen sie eyn menschlich werck aus. Widerumb, was Gott von eusserlichen wort und zeychen und wercken ordenet, da machen sie eynen ynnerlichen geyst aus.“13

Im Spannungsfeld von Außen und Innen versagen nach Luther beide, Karlstadt und der Papst. „Sie brechen beyde die Christliche freyheyt und sind beyde widderchristlich, Aber der Bapst thuts durch gepot, D. Carlstad durch verbot, Der Bapst heysst thun, D. Carlstadt heyst lassen […].“14

Der Mittelweg zwischen Karlstadt und Papst („Wyr aber gehen auff der mittel ban […]“15) führt Luther zu einer differenzierten Vermittlung von Innen und Außen, durch die die Referenzen neu bestimmt werden: Durch das äußere Wort des Evangeliums, welches im Geist dem einzelnen zugeeignet wird, entsteht der Glaube als neue Bestimmung des inneren Men13

WA 18, 139, 3–5. WA 18, 111, 14–16. 15 WA 18, 112, 33. 14

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

schen, aus der sich dann ein veränderter Weltbezug ergibt.16 Es ist dieses bestimmte und durch Gottes Wirken dynamische Externum, das das Innere erst eigentlich formt. Joachim Ringleben schreibt dazu: „[…] das Wort ist eben die Instanz, die als von außen an mich kommend mich zugleich in der ihr vernommenen Andersheit bei mir sein läßt. Hörend bin ich bei mir nicht nur bei mir.“17 Für die Glaubenden gilt das „constituamur in alienis“, von dem Luther 1539 spricht.18 Die am häufigsten zitierte Stelle aus den „himmlischen Propheten“ bringt diesen Zusammenhang auf den Punkt: „So nu Gott seyn heyliges Euangelion hat auslassen gehen, handelt er mit uns auff zweyerley weyse. Eyn mal eusserlich, das ander mal ynnerlich. Eusserlich handelt er mit uns durchs mündliche wort des Euangelij und durch leypliche Zeychen, alls do ist Tauffe und Sacrament. Ynnerlich handelt er mit uns durch den heyligen geyst und glauben sampt andern gaben. Aber das alles, der massen und der ordenung, das die eusserlichen stucke sollen und müssen vorgehen. Und die ynnerlichen hernach und durch die eusserlichen komen, also das ers beschlossen hat, keinem menschen die ynnerlichen stuck zu geben on durch die eusserlichen stucke. Denn er will niemant den geyst noch glauben geben on das eusserliche wort und zeychen, so er dazu eyngesetzt hat […].“19

Gott selbst bindet sich an das Äußere und wirkt gerade so die Eindeutigkeit des Heils im Inneren des Menschen.20 Diese Wirkung der äußeren Zeichen beschreibt Luther als pneumatisches Geschehen und nennt daher „geyst“ und „glauben“ unmittelbar miteinander.21 Der in dieser Hinsicht glaubende Mensch steht in Freiheit der Welt gegenüber. Einen Bildersturm hat er nicht mehr nötig. Denn wo das „Herz“ im Glauben lebt, können die Bilder ihm nichts mehr anhaben. Wo das Herz am Wort des Evangeliums und damit an dem einen lebendigen Gott hängt, 16

Vgl. zu dieser Spannung bei Luther zwischen Rom und den Spiritualisten auch HARBSDass wir die Predigt, 113f; Harbsmeier betont – im Anschluss an Vilmos Vajta –, dass Luthers Position nicht einfach „die Mitte zwischen diesen beiden Mißverständnissen, etwa in einer Synthese, wie Hegel sie versteht“, bedeute, sondern in einem Glauben ihren Weg finde, „der diesen fortwährenden Zweifrontenkrieg zwischen Rom und dem Spiritualismus besteht und selbst das nach beiden Richtungen hin zu sagende Gegensätzliche miteinander vereinbart“ (ebd., 114). 17 RINGLEBEN: Art. Wort Gottes, 321. Vgl. auch EBELING: Evangelische Evangelienauslegung, 382: „Der Glaube bringt nichts Neues zu dem Wort hinzu, sondern ist das Wirksamwerden des Wortes als das, was es zu sein beansprucht: als Gottes Wort.“ 18 WA 39/1, 492, 3. 19 WA 18, 136, 9–18. 20 In seiner Auseinandersetzung mit Erasmus, die er ebenfalls im Jahr 1525 in der Schrift „De servo arbitrio“ führt, spricht Luther von der „claritas interna“ und „claritas externa“ der Schrift. Die hier beschriebene Konstitution des Glaubens wäre auf der Ebene der inneren Klarheit zu verorten (vgl. dazu KAUFMANN: Luther und Erasmus). 21 Vgl. dazu auch die bei RINGLEBEN: Art. Wort Gottes, 322f, zitierten Texte. MEIER:

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2. Evangelische Fundamentalliturgik – ihre materiale Bestimmung

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verwandeln sich die Bilder nicht zu Götzen, denn „das hertze mehr gillt denn die augen“.22 Theologisch erscheint diese Linie klar; führt man sie aber in liturgischer Perspektive fort, so ergeben sich Problemstellungen, die im Folgenden knapp dargestellt werden sollen.23 2.1.2 Liturgische Konsequenzen und Probleme 2.1.2.1 Die Verinnerlichung der liturgischen Partizipation und die Tendenz zur Vernachlässigung des Äußeren Die Bilderfrage ist – wie gezeigt – eine der Kontroversen im theologischen Streit zwischen Luther und Karlstadt.24 Luthers zentrales Argument lautet: „[…] wo sie aus dem hertzen sind, thun sie fur den augen keynen schaden.“25 Insbesondere verstoßen sie nicht gegen das erste Gebot, weil es für den Glaubenden bei den Bildern nicht um andere Götter gehe, die angebetet würden, sondern bestenfalls um Gedächtnisbilder: „So werden myr auch meyne bildstürmer eyn crucifix odder Marien bilde lassen müssen, ia auch eyn abgotts bilde, auch nach dem aller gestrengsten gesetz Mosi, das ichs trage odder ansehe, so ferne ichs nicht anbete sondern eyn gedechtnis habe.“26

Wo die Bilder anamnetische Funktion haben, wo sie den Glaubenden ein Gedächtnis stiften, seien sie sogar „löblich und ehrlich“27. Die entscheidende Relativierung erfahren sie aufgrund der Einstellung des Herzens zu ihnen. Anders formuliert: der Glaube des Menschen, konstituiert durch das äußere Wort sowie die bestimmten und von Christus eingesetzten äußeren Zeichen des Abendmahls und der Taufe, macht die Bilder ungefährlich bzw. sogar nützlich. Die Problematik allerdings, die sich aufgrund dieser 22 WA 18, 83, 13f. Vgl. zum Begriff des Gewissens WA 18, 122, 26–29. Vgl. auch die bereits oben zitierte Stelle, wonach das Herz auch mehr gilt als die Ohren (vgl. WA 18, 125, 6–10) sowie WA 18, 107, 11–14. 23 Eine Nebenbemerkung: Die konkreten Problemstellungen einer lutherischen Lehre vom „Wort Gottes“ zeigen sich m.E. dort, wo der Umgang mit dem Wort Gottes in der Gestalt kirchlichen Handelns wahrgenommen wird. Erstaunlich erscheint es in dieser Hinsicht schon – und nicht untypisch –, dass der Artikel zum Lemma „Wort Gottes“ in der TRE mit den Überlegungen zu „Wort Gottes. Systematisch-theologisch“ endet und ein Abschnitt „Wort Gottes. Praktisch-theologisch“ fehlt (vgl. TRE 36 [2004]). – Vgl. zum Folgenden auch DEEG: Das äußere Wort und seine liturgische Gestalt, 129–145. 24 Vgl. insgesamt vor allem WA 18, 67–84. 25 WA 18, 67, 13f. 26 WA 18, 70, 33–36. 27 WA 18, 74, 18.

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

intensiven Betonung des Herzens respektive des glaubenden Inneren des Menschen ergibt, liegt darin, dass jede Sensibilität für die Bedeutung äußerer Gestaltung verloren zu gehen droht. Ein einziges Beispiel für die Geringschätzung des Äußerlichen sei aus der Schrift „Wider die himmlischen Propheten“ angeführt. Umstritten zwischen Karlstadt und Luther ist u.a. die liturgische Praxis der Elevation der Hostie.28 Für Karlstadt ist die in Wittenberg übliche Elevation ein Indiz für den Rückfall Luthers in eine überkommene Opferdeutung des Abendmahls, für Luther hingegen ist sie ein völlig unbedeutendes äußeres Zeichen. Er schreibt: „[…] wyr sind widder Bepstisch noch Carlstadtisch, sondern frey und Christlich, das wyr das sacrament auff heben und nicht auff heben, wie, wo, wenn, wie lange es uns gelüstet, wie uns Gott die freyheyt hat geben […] Denn ym kloster haben wyr Mess gehabt on kasel, on auff heben, schlecht auffs aller eynfeltigst, wie Carlstad Christus exempel rümet, Widderumb ynn der pfarr haben wyr noch kasel, alben, altar, heben auff, wie lange es uns gelüstet.“29

Und wenig später stellt er Karlstadt im selben Zusammenhang die Frage: „Ist das nicht eyn verdriesslicher geyst, der so mit dem eusserlichen scheyn gauckelt widder die wahrheyt ym geyst?“30 Die „Wahrheit im Geist“ kann mit dem Äußeren der liturgischen Gestaltung in großer Freiheit umgehen. Die Externität der Konstitution des Glaubens hängt für Luther eben nicht am „eusserlichen scheyn“, sondern am Wort, das den Menschen von außen trifft. In dieser Hinsicht verwundert es nicht, dass Luther liturgischen Reformen zunächst keine sonderliche Bedeutung beimaß. Der lutherische Gottesdienst in der Gestalt der „Formula missae et communionis“ (1523) war eine geringfügig modifizierte römische Messe. Die christliche Freiheit, welche sich aus dem Glauben ergibt, widersteht – so Luther in der Vorrede seiner „Deutschen Messe“ (1526) – der neuerlichen Bindung an äußere Ordnungen, ist allerdings zugleich als eine Freiheit gedacht, neue Ordnungen zu machen, wo dies „zu Gottis ehre und des nehisten besserung“31 und zur Beseitigung von Missständen und Missbräuchen nötig scheint. Aller28 Vgl. zur Geschichte der Elevationshandlung MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 69f: Die Elevationspraxis entwickelt sich im Hochmittelalter (spätes 12. Jh.) und beinhaltet die „Anbetung der gewandelten Elemente“ (70). 29 WA 18, 112,34–113,1; 113,5–8. Vgl. auch in der „Deutschen Messe“ WA 19, 99, 17–100,3. Michael Meyer-Blanck betont, dass Luther das Zeichen der Elevation neu deutete, weswegen es für ihn völlig unproblematisch gewesen sei: „Die Elevation ist […] Zeichen für die Erhebung Christi im Glauben durch die Predigt, Zeichen für die Aktivität Christi […]“ (MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 70). 30 WA 18, 119, 24–26. 31 WA 19, 72, 20.

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2. Evangelische Fundamentalliturgik – ihre materiale Bestimmung

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dings solle man durch solche Neuordnungen keinen Anstoß geben und folglich zurückhaltend bleiben.32 Praktisch sichtbar wird die nach außen prima vista geringe liturgische Gestaltungskraft des lutherischen Protestantismus, wenn man etwa die berühmte Schilderung eines Wittenberger Gottesdienstes durch Wolfgang Musculus aus dem Jahr 1536 (Sonntag Exaudi, 28. Mai) betrachtet: „Primum ludebatur Introitus in organis succinente choro latine, more sacrificorum atque interea a sacrario progrediebatur minister sacrificaliter indutus flexisque ante altare genubus cum adiuncto famulo aedituo confitebatur et post confessionem ad altare ascendebat, ad librum qui erat moro papistico ad dexteram locatus.“33

Das neue Vorzeichen des Wortes Gottes, das Luther vor den gesamten Gottesdienst setzt,34 macht die konkreten, äußeren Gestaltungsfragen sekundär. Entscheidend ist, dass der Glaubende in unmittelbare und dynamische Wechselbeziehung zu diesem Wort des Gesetzes und Evangeliums gerät und so „das Wort im Schwange geht“. Anders formuliert: Es kommt zur Verinnerlichung der liturgischen Partizipation. Gegenüber dem cultus exterior wird der cultus interior entscheidend. Die lutherische Reformation knüpft explizit an diese Unterscheidung scholastischer Theologie35 an und verbindet sie mit der rechtfertigungstheologischen Grundorientierung der 32 „Das Besondere der reformatorischen Konzeptionen auf liturgischem Gebiet bestand zunächst darin, daß sie sich zwar durchweg an die jeweils überlieferten Gottesdienstformen hielten, allerdings mit der grundsätzlichen Einschränkung, daß sie nur das übernahmen, was dem Evangelium von der rechtfertigenden Gnade nicht widersprach.“ (NIEBERGALL: Art. Agende, 777). Vgl. dazu auch MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 66. 33 Wolfgang Musculus, Itinerarium conventus Isnachii 1536, zit. nach HERBST: Evangelischer Gottesdienst, 103–109, 107. Deutsche Übersetzung: „Zuerst wurde der Introitus auf der Orgel gespielt, wobei der Chor auf lateinisch einstimmte wie beim Messopfer. Unterdessen zog der priesterlich gekleidete Liturg von der Sakristei her ein. Vor dem Altar knieend bekannte er zusammen mit dem Kirchendiener seine Sünden und schritt nach dem Sündenbekenntnis die Altarstufen hinauf zu dem Buch, welches nach papistischer Gewohnheit auf der rechten Seite lag.“ 34 Vgl. BIERITZ: Daß das Wort im Schwang gehe, bes. 84f; ders.: Art. Liturgie V, 985: „Die theologisch fundierte ‚neue Rolle des Wortes‘ hat z. Folge, daß bisherige Präsentationsweisen des Heils durch eine im strengen Sinn sprachlich vermittelte, strikt personale Wort-Glaube-Beziehung abgelöst werden, die ihrerseits auch die kultisch-sakr. Vollzüge umgreift u. diese als ‚Wortgeschehen‘ interpretiert.“ Vgl. auch WAINWRIGHT: Art. Gottesdienst, 90, der darauf hinweist, dass die Reformation als „eine dogmatische Revolte gegen liturgische und paraliturgische Praktiken angesehen werden [könne, AD], die eine irrige Auffassung von Gott, dem Menschen und der Erlösung zum Ausdruck brachten.“ Daraus ergibt sich die grundlegend kritische Haltung gegenüber dem Äußerlichen, dem Kultischen und Rituellen. 35 Vgl. LEHMKÜHLER: Art. Kult VI. Religionsphilosophisch, 1810; bei Thomas heißt es (s.th. I.II.101.2c): „Est autem duplex cultus Dei, interior et exterior. Cum enim homo sit compositus ex anima et corpore, utrumque dabet applicari ad colendum Deum.“ – Für die Zeit des Altprotestantismus schreibt Peter Cornehl entsprechend: „Es gab einen kulturellen Wandel vom Sehen zum Hören, von außen nach innen, von der sinnlichen Anschauung des Heiligen zur Kommunikation des Glaubens in Wort und Musik.“ (CORNEHL: Art. Gottesdienst, 59).

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

Gottesverehrung. So kann der Begriff „cultus“ in weitem Sinne (als Bezeichnung des Verhältnisses des Menschen Gott gegenüber; Deum colere) so verstanden werden, wie es sich in folgenden Worten Melanchthons zeigt: „Ita cultus et latreia evangelii est accipere bona a Deo; econtra cultus legis est bona nostra Deo offerre et exhibere. Nihil autem possumus Deo offerre, nisi antea reconciliati et renati. Plurimum autem consolationis affert his locus, quod cultus in evangelico praecipuus est a Deo velle accipere remissionem peccatorum, gratiam et iustitiam.“36

Wenn der rechte „cultus“ solchermaßen auf die Annahme des Evangeliums konzentriert wird,37 ist es verständlich, dass umgekehrt der „äußerliche Gottesdienst“ kritisiert werden muss, „der nicht fromb“ macht vor Gott und gehalten oder nicht gehalten werden kann. Von einem solchen äußerlichen „cultus“ grenzen sich die Reformatoren in aller Schärfe ab.38 Damit verbunden ist allerdings eine spezifische Form-Inhalt-Differenzierung, die „die (von Menschen geschaffene) Form […] dem (gottgewollten) Inhalt“ nachordnet39 und dazu „testamentum“ bzw. „verbum“ einerseits von „sacramentum“ bzw. „signum“ andererseits unterscheidet.40 Aus dieser Verschiebung folgt, dass nicht mehr die Materialität und Körperlichkeit des Sakraments, sondern das gehörte und verstandene, anredende und als Anruf vernommene Wort den Gottesdienst bestimmt. Luther formuliert in seiner frühen Abendmahlsschrift „Ein Sermon vom Neuen Testament“ (1520): „[…] die tzeychen muegen wol nit sein, das dennoch 36

BSLK 220, 10–13 (ApCA IV). Vgl. auch die Auslegung der Salbung Jesu durch die Sünderin (Lk 7,36–50) in ApCA IV; die Handlung der Frau, die mit dem Ziel der Vergebung ihrer Sünde und mit entsprechender Zuversicht Christus entgegentritt, wird als höchster Kultus gelobt: „Hic cultus est summus cultus Christi.“ (BSLK 190, 19). 38 Vgl. z.B. CA XXVI (Von Unterschied der Speis), hier: BSLK 106, 24–31, und die deutsche Übersetzung 106,24–107,2: „Auch werden dieses Teils viel Ceremonien und Tradition gehalten, als Ordnung der Messe und andere Gesäng, Feste etc., welche dazu dienen, daß in der Kirchen Ordnung gehalten werde. Daneben aber wird das Volk unterricht, daß solcher äußerlicher Gottesdienst [cultus; AD] nicht fromb mache vor Gott, und daß man ohn Beschwerung des Gewissens halten soll, also daß so man es nachläßt ohne Ärgernus, nicht daran gesundigt wird.“ – In der Apologie der Confessio Augustana findet sich dieselbe Begründungsfigur vor allem in der Auseinandersetzung mit „den menschlichen Satzungen in der Kirchen“ (ApCA XV; „De Traditionibus Humanis in Ecclesia“). Die Epitome der Konkordienformel führt in ihrem 10. Artikel „De Ceremoniis Ecclesiasticis“ den Begriff der Adiaphora ein, jener Mitteldinge, die als Zeremonien gehalten werden können oder nicht, da sie nicht explizit in der Schrift geboten oder verboten werden. Dann aber, wenn diese im Bekenntnisfall (casus confessionis) neuerlich als entscheidendes Kriterium eingeführt werden, gilt es, nach dem eigentlichen „cultus divinus“ zu fragen und diesen als kritischen Maßstab zu beachten (vgl. BSLK, 813–816; bes. 814, 26–35; vgl. auch FC SD X, in: BSLK, 1053–1063). 39 KALB: Art. Liturgie, 364. 40 Vgl. KALB: Art. Liturgie, 363. 37

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2. Evangelische Fundamentalliturgik – ihre materiale Bestimmung

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der mensch die wort habe, und also on sacrament, doch nit on testament selig werde […].“41 Entscheidend wird die Predigt des Evangeliums; die äußeren Zeichen erscheinen demgegenüber für Luther nachrangig. Es gehe darum, „das Euangelion [zu, AD] predigen und die leutt vom sacrament und allen eußerlichen stucken [zu, AD] wenden, biß sie sich Christen fuelen und beweyßen und von yhn selbs tzu erst tzum glawben, tzur liebe und darnach tzu eußerlichem sacrament unnd des gleychen dringen […]“.42

Pointiert formuliert heißt das: erst der Glaube – dann das Abendmahl! Genauso jedenfalls beschreibt es Luther in seiner Schrift gegen Karlstadt aus dem Jahr 1525. Er zeigt sich darin skeptisch, ob es sinnvoll sei, die Abendmahlsworte auf Deutsch statt auf Latein zu sprechen, und schreibt: „Denn wenn wyr nu gleich die deutsche Messe uberkomen, wirds doch nicht gnug seyn, das man die wort ym sacrament auff deutsch redet, Denn sie müssen doch ehe und zuvor geredet werden, ehe man das sacrament empfehet, das die, so hynzu gehen, mussens doch ym hertzen haben und nicht ynn den oren.“43

Faktisch bedeutet dies, dass das Abendmahl dem Wort nachgeordnet wird und als Glauben konstituierendes Externum ausfällt. In jedem Fall hat es dem Wort gegenüber keinen Mehrwert mehr. Luther sieht die Vergebung im Sakrament (womit er das Abendmahl meint) „durchs wort“ ausgeteilt – wie auch in der Predigt des Evangeliums: „Im Abentmal odder Sacrament hat er sie [die Vergebung, AD] nicht erworben, Er hat sie aber daselbst durchs wort ausgeteylet und gegeben, wie auch ym Euangelio, wo es predigt wird […].“44 In dieser Hinsicht verändert Luther ein Jahr später in seiner „Deutschen Messe“ die Abendmahlsliturgie signifikant. Nicht mehr nur die Beseitigung der problematischen Messopferdeutung ist nun sein Ziel (wie noch 1523 in 41

WA 6, 363, 7–9. WA 10/2, 39, 18–21. Vgl. dazu auch NIEBERGALL: Art. Agende, 780f. 43 WA 18, 125, 6–10. Vgl. auch aaO., 197, 26–30: „Das also Christus mit dem wort ‚Das thut zu meynem gedechtnis‘ eben so viel will alls Paulus mit dem ‚Ihr sollt des HERRN tod verkündigen‘, das Christus will haben, man soll von yhm predigen, wenn wyr das Sacrament geniessen und das Euangelium sagen, den glauben zu stercken […].“ – Vgl. auch Luthers Predigt vom 24. März 1529, in der er die Inhalte des zum rechten Abendmahlsvollzugs gehörenden Glaubens umschreibt; LUTHER: Predigten, Bd. 1, 303–310, bes. 303f. und 305f. 44 WA 18, 203, 31–34 [Hervorhebung AD]; vgl. auch ebd., 135, 15f, wo Luther den angesichts der Auseinandersetzungen um das Abendmahl verunsicherten Gewissen zuruft: „Du bist nicht verdampt, ob du on das Sacrament bleybst.“ – In einer Themenpredigt vom 22. März 1529 unterstreicht Luther die Bedeutung des Wortes für das Abendmahlsgeschehen und sagt u.a.: „Die Wort machen das Sakrament, wie ein Korn hat eine Hülse und einen Kern“ (LUTHER: Predigten, Bd. 1, 295; vgl. insgesamt 287–295). 42

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

„Formula missae et communionis“), sondern die Einordnung des Abendmahls in das Paradigma der Wortverkündigung. Die Austeilung von Brot und Wein soll sich jeweils unmittelbar an die entsprechenden verba testamenti anschließen. Eine Abendmahlsvermahnung schärft den Sinn des Mahles ein und ersetzt das Eucharistiegebet. Letztlich aber – und hier wird die Aporie einer verinnerlichenden Konzentration auf das Wort in der lutherischen Liturgik sichtbar – wird damit die Austeilung von Brot und Wein zum redundanten Zeichen. Das Entscheidende nämlich ist bereits ‚gesagt‘!45 In anderer Terminologie und zugespitzt formuliert: Das Verbale erledigt den äußeren Vollzug, das „Wort“ macht den äußeren „Kult“ überflüssig! Die Wittenberger Gemeinde scheint dies – wenigstens teilweise – genauso erlebt zu haben. Der bereits zitierte Bericht des Wolfgang Musculus bemerkt zur Abendmahlsfeier am Sonntag Exaudi 1536 in Wittenberg: „Post contionem maior pars populi abivit. Et ipse Lutherus vertigine tactus infra communionem exire coactus est sequente Philippo.“46 Die theologische und praktische Antinomie zwischen der wiederentdeckten und emphatisch hervorgehobenen Gemeindekommunion einerseits und der alleinigen Wirksamkeit von „gottis wort“ war es, die zu diesem Verhalten führen konnte (und dafür verantwortlich war, dass in einigen Agenden der Reformationszeit Hinweise abgedruckt waren, wie ein Gottesdienst zu Ende zu führen sei, wenn keine kommunizierende Gemeinde mehr vorhanden war).47 Die Gemeinde begnügte sich „mit der Wort-Handlung Predigt“ und nahm damit einen Widerspruch wahr,48 der in der theologischen Reflexion auf den Gottesdienst unbearbeitet liegen blieb. Es zeigt sich, dass mit der Verschiebung der Sakramentalität vom Gegenständlichen (Brot und Wein, Wasser der Taufe, Chrisam …) hin zum Verbalen eine Entleerung der Bedeutung des Sakraments einherging. Für die hier dargestellte Position Luthers trifft die Aussage des katholischen Liturgiewissenschaftlers

45 Vgl. BIERITZ: Daß das Wort im Schwang gehe, 93. Michael Meyer-Blanck führt in diesem Zusammenhang eine wichtige Unterscheidung ein und schreibt zur lutherischen Lehre vom Sakrament: „Im Sakrament redet Christus nichts anderes, aber anders mit uns“ (MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 40). Von daher sei für Luther keineswegs daran gedacht, die Zeichensprache des Abendmahls durch die Zeichensprache des gepredigten und gehörten Wortes zu ersetzen, sondern vielmehr beide auf dieselbe soteriologische Dignität hin auszurichten. 46 Wolfgang Musculus, zit. nach HERBST: Evangelischer Gottesdienst, 108f; deutsche Übersetzung: „Nach der Predigt ging der größere Teil der Gemeinde weg. Auch Luther selbst musste während des Abendmahls begleitet von Philippus hinausgehen, weil ihm schwindelig geworden war.“ 47 Gemeinden im Umkreis der Reformation setzten die Praxis, die Kirche vor Beginn des Abendmahls und folglich unmittelbar nach der Predigt zu verlassen, seit dem 16. Jahrhundert bis zur Aufklärung eher intensiver fort; vgl. dazu ALBRECHT: Schleiermachers Liturgik, 102. 48 MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 63; vgl. insgesamt 63f.

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Cyprian Vagaggini durchaus zu, wonach sich das Sakrament im Protestantismus faktisch in dem erschöpfe, was auch die Predigt sei.49 Es zeigt sich – dies die erste Problemanzeige zum lutherischen Gottesdienstverständnis –, dass die Betonung des Wortes und das Gewicht, das gegen alles Äußere auf das Innere fällt, das Abendmahl in seiner Bedeutung unterläuft. Die spätere Metapher Wilhelm Löhes vom lutherischen Gottesdienst als Bergwanderung mit zwei Gipfelpunkten, von denen der Abendmahlsgipfel höher sei als der Gipfel der Wortverkündigung,50 lässt sich aus Luthers Überlegungen kaum ableiten – und wird noch weniger der Praxis im Luthertum seither gerecht. Doch nicht nur verliert das Abendmahl seine Bedeutung. Gleichzeitig droht – entgegen Luthers Intention – durch die Zurückdrängung des Äußeren ein neuerliches Vertrauen auf die eigene Subjektivität jenseits der ständigen Bezogenheit auf das, was notwendig außerhalb des Menschen liegt, im Luthertum Fuß zu fassen. Die externe Konstitution des Glaubenden droht sich umzukehren in ein selbstbewusstes Pochen auf das gläubige Herz als entscheidender Verifikationsinstanz des Glaubens. Sekundäre Erweise dieser Gläubigkeit, wie Luther sie in Karlstadts Bildersturm zurecht als Problem entdeckt hatte, wurden in der Geschichte der evangelischen Kirche vor allem im ethischen Verhalten (Tugendhaftigkeit, moralische Persönlichkeit etc.) gesucht – und Max Webers prominente Verbindung von Kapitalismus und Protestantismus behält in dieser Hinsicht sicherlich ihr (begrenztes) Wahrheitsmoment.51 Freilich: Mit Luther lassen sich diese Entwicklungen nicht begründen. Denn für ihn stand das äußere Wort im Zentrum seiner Theologie und seines Gottesdienstverständnisses. Damit aber gilt es im Folgenden zu präzisieren, wie Luther dieses äußere Wort bestimmt. 2.1.2.2 Schrift-Elimination durch das Wort der Predigt – Das Problem der Intellektualisierung Luther war Schrifttheologe. Das biblische Wort war für ihn Motor der reformatorischen Entdeckungen und die alleinige Instanz, auf die sich Theologie argumentativ und Kirche lebendig gründen kann. Nicht nur durch die „Biblia Germanica“, Luthers Lebensprojekt der Übersetzung der Schrift ins 49 Vgl. VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 183; vgl. zu der genannten Problematik auch BYARS: Christian Worship, 41–44. 50 Vgl. zu Löhe die Wiedergabe des Vorworts seiner Agende 1844 bei HERBST: Evangelischer Gottesdienst, 204–208, hier: 205, und dazu CORNEHL: Art. Gottesdienst VIII, 66. – Vgl. dazu auch unten Kap. 3.2.2. 51 Vgl. WEBER: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus.

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Deutsche, wird diese Bedeutung der Heiligen Schrift für den Reformator sichtbar. Auch viele Einzelaussagen zeigen diese Hochschätzung. So die berühmte Schlusswendung der „Kirchenpostille“ aus dem Jahr 1522, in der jede Auslegung der Schrift dadurch relativiert wird, dass sie nur ein „gerust“ sein kann für den eigentlichen Bau der Heiligen Schrift: „Darumb hyneyn, hyneyn, lieben Christen, und last meyn und aller lerer außlegen nur eyn gerust seyn zum rechten baw, das wyr das blosse, lautter gottis wort selbs fassen, schmecken unnd da bleyben; denn da wonet gott alleyn ynn Zion. AMEN.“52

In einer Predigt am zweiten Advent 1530 (10.12., nachmittags) legt Luther Röm 15,4 aus: „Denn was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift [wörtlich: Trost der Schriften (paraklh,sewj tw/n grafw/n), AD] Hoffnung haben.“ Er blickt in seiner Predigt auf die Angriffe von päpstlicher und ‚schwärmerischer‘ Seite und sagt: „Was aber habe ich? Ich hab nicht mehr denn das Buch, Papier und Tinte! Damit soll ich mich wehren und habe keinen andern Trost als dies papierne Buch.“53

Freilich ist es nicht das „papierne Buch“ an sich, das diesen Trost verheißt, sondern dessen Kraft, die von „Gott im Himmel“ kommt, der das Buch zum „mündliche[n] Wort“ verwandelt.54 Damit gilt, dass das Wunder der Inkarnation dem Wunder der Inverbation an die Seite zu stellen ist: „Das sind die größten Wunder, daß sich Gott so tief herniederläßt und senkt sich in die Buchstaben und spricht: Da hat mich ein Mensch gemalt mit Tinte und Feder. Trotz dem Teufel! Diese Buchstaben sollen die Kraft geben, die Menschen zu erlösen.“55

Neun Jahre nach dieser Predigt formuliert Luther seine Vorrede zum ersten Band der Deutschen Schriften (1539) und relativiert darin seine eigene theologische Arbeit zugunsten der herausgehobenen Bedeutung der Schrift. Er erklärt, er hätte es gerne gesehen, wenn seine Bücher untergegangen wären, damit allein die Heilige Schrift übrig bleibe.56 Gleichzeitig ruft er in diesem Vorwort zur Meditation der Schrift auf – und d.h.: zur Wahrnehmung ihrer wörtlichen Materialität und verbalen Widerständigkeit.

52

WA 10,1,1, 728, 18–22. LUTHER: Predigten, 587 [im Original hervorgehoben]. 54 Vgl. LUTHER: Predigten, 587. 55 LUTHER: Predigten, 588 [die Hervorhebung im Original wurde entfernt]. 56 Vgl. WA 50, 657, 1–11. 53

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„Nicht allein im hertzen, sondern auch eusserlich die mündliche rede und buchstabische wort im Buch immer treiben und reiben, lesen und widerlesen, mit vleissigem auffmercken und nachdencken, was der heilige Geist damit meinet. […] Denn Gott will dir seinen Geist nicht geben on das eusserliche wort […].“57

Hier bindet Luther die Gabe des Geistes an „das eusserliche wort“ und versteht darunter die Worte des biblischen Kanons. Freilich hat er als Zielgruppe seiner Aussagen primär die Gebildeten in den Städten und vor allem die Theologen seiner Tage im Blick. Denn auffallend ist, wie anders Luther das verbum externum in liturgischem Kontext bestimmt. Im Gottesdienst müsse alles dafür getan werden, dass „gottis wort […] dasselb ym schwang gehe“, so schreibt Luther grundlegend bereits 1523 in seiner Schrift „Von ordenung gottis diensts ynn der gemeine“.58 Allerdings bindet er Gottes Wort hier nicht an die Bibel, sondern an die Predigt. Es ist – so erneut in der Schrift „Wider die himmlischen Propheten“ – das „mündliche wort des Euangelij“, das Luther neben Taufe und Abendmahl als äußerliches Wirken Gottes am Menschen bestimmt.59 In dieser Hinsicht hat Luther gegen die – von den ‚Spiritualisten‘ abgeschaffte – lateinische Lesung nichts einzuwenden. Er schreibt: „Do her ist die gewonheyt ynn allen landen blieben, das man das Euangelion hart vor der predigt zu latinisch lieset, wilchs heysst S. Paulus mit zungen reden ynn der gemeyne, Aber weyl die predigt drauff balde gehet, und die zunge verdeutscht und aus legt, das verwirfft noch verbeut S. Paulus nicht, warumb sollt ichs denn odder jemand verdamnen?“60

Luther bezieht sich hier auf die paulinischen Überlegungen zur Zungenrede in 1Kor 14. Ohne die Zungenrede zu verwerfen, schätzt Paulus doch die klare Rede (prophetische Rede [profhtei,a]; Rede „mit deutlichen Worten“ [eu;shmoj lo,goj; V. 9]) ungleich höher und fordert daher, dass jede Zungenrede im Gottesdienst eine Auslegung (e`rmhnei,a) finde (vgl. bes. V. 27f). Würde man diese Überlegungen konsequent weiter denken, so hieße das: Wenn keine Predigt erfolgt, so soll auch nicht aus der Schrift gelesen werden!61 Bereits 1523 hatte Luther in seiner kleinen Schrift „Von ordenung 57 WA 50, 659, 22–25.32f. Vgl. zur Bedeutung der Bibel bei Luther auch BEUTEL: Theologie als Schriftauslegung. 58 WA 12, 36, 24f; vgl. aaO., 37, 27. 59 Vgl. WA 18, 136, 11. Dabei beruft sich Luther u.a. auf Paulus, der in Röm 1,16 „das mündliche Euangelion eyne kraffft Gottes“ nennt (aaO., 187, 36f). 60 WA 18, 124, 22–26. Dieses Argument verwendet Luther bereits 1523 gegen Gottesdienste, die auf eine auslegende Predigt verzichten, vgl. WA 12, 35, 35–36, 2. 61 Und umgekehrt gilt – so in „Von ordenung gottis diensts ynn der gemeyne“: „[…] das die Christlich gemeyne nymer soll zu samen komen, es werde denn da selbs Gottis wort gepredigt und gebett, es sey auch auffs kurtzist.“ (WA 12, 35, 20f). – Hans Asmussen betont in seiner in der Zeit

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gottis diensts ynn der gemeine“ ganz ähnlich formuliert. „Darumb wo nicht gotts wort predigt wirt, ists besser, das man widder singe noch leße, noch zu samen kome.“62 Entsprechend bestimmt Luther in derselben Schrift auch den Missbrauch des Gottesdienstes in der Geschichte der Kirche. „Drey grosse mißbreuch sind ynn den gottis dienst gefallen. Der erst, das man gottis wort geschwygen hat, und alleyne geleßen und gesungen ynn den kirchen, das ist er ergiste mißbrauch. Der ander, da Gottis wort geschwygen gewesen ist, sind neben eyn komen so viel unchristlicher fabeln und lugen, beyde ynn legenden, gesange und predigen, das greulich ist tzu sehen. Der dritte, das man solchen gottis dienst als eyn werck than hatt, da mit gottis gnade vnd selickeyt zur werben, da ist der glaub untergangen, und hatt yderman zu kirchen geben, stifften, pfaff, munch und nonnen werden wollen.“63

Entscheidend ist hier der erste von Luther benannte und „ergiste mißbrauch“: Man habe Gottes Wort lediglich gelesen und gesungen, damit aber gleichzeitig „gottis wort geschwygen“. Freilich ergibt sich diese Sicht Luthers auch aus dem Problem der Sprache: Die lateinische Lesung – gesungen vorgetragen – konnte von den üblichen Gottesdienstbesuchern kaum verstanden werden. Doch an dieser Stelle (er schreibt 1523 und damit nach der Veröffentlichung seines Septembertestaments) hätte Luther ja umso emphatischer die Lesung der verdeutschten Bibel einfordern können. Der tiefere Grund, warum er dafür nicht plädiert, sondern für die Predigt als ‚Gestalt des Wortes Gottes‘, liegt darin, dass Luther von der Mehrdeutigkeit der Bibel und von der Notwendigkeit der Eindeutigkeit der Zusage des Wortes Gottes weiß.64 Auch hier scheint ein Blick auf die Auseinandersetzung mit Karlstadt erhellend: Über weite Strecken ist die Schrift „Wider die himmlischen Propheten“ eine exegetische Kampfschrift. Eine Schriftdeutung wird hier gegen eine andere gestellt; die „claritas externa“ erweist sich als eine prekäre Größe.65 Karlstadts Deutung der Abendmahlsworte, die die reale Präsenz Jesu Christi in Brot und Wein in Frage stellt, wird von Luther durch philologische, exegetische und systematisch-theologische Überlegungen zurückgewiesen (gleichzeitig bleibt sie aber im kommenden Abendmahlsstreit bedeutsam). Es zeigt sich: Aus den Unklarheiten der des Kirchenkampfes erschienenen Liturgik die Bindung an das materiale Wort der Bibel entscheidend und formuliert dann paradox (und letztlich gegen Luther): „So gewiß wir die Schrift auszulegen haben, so wenig bedarf die Schrift dieser Auslegung“ (ASMUSSEN: Die Lehre vom Gottesdienst, 33). Und weiter: „Ein Gottesdienst kann wohl ohne Schriftauslegung im engeren Sinn sein. Aber er kann nicht ohne die Schrift selbst sein“ (aaO., 34). 62 WA 12, 35, 24f. 63 WA 12, 35, 10–18. Vgl. dazu auch BIERITZ: Daß das Wort im Schwang gehe, 83. 64 Vgl. HOLL: Luthers Bedeutung, bes. 551–555. 65 Vgl. zu Luthers Diskussion der „claritas scripturae“ seine Auseinandersetzung mit Erasmus in „De servo arbitrio“ (1525) und dazu BEUTEL: In dem Anfang war das Wort, 246–250.

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Auslegung des biblischen Wortes lässt sich die Eindeutigkeit und Gewissheit nicht folgern. Genau um diese aber geht es – Luther zufolge – im Glauben: „Denn der glaube will […] Gottes wort haben, das da dürre heraus sage: So ists und nicht anders […].“66 Daher muss das äußere Wort an die Predigt gebunden werden, die die Vieldeutigkeit der Schrift in die Eindeutigkeit des Sünde aufdeckenden und Gnade zusprechenden Wortes verwandelt. Aus dieser soteriologischen Grundlegung ergibt sich die Bedeutung des Predigtamtes bei Luther. Wohlgemerkt: nicht der einzelne Prediger mit seinen Fehlern und Problemen und seiner ganz persönlichen, möglicherweise defizienten Theologie ist entscheidend (das wäre das donatistische Missverständnis in homiletischem Kontext), sondern das institutionalisierte Predigtamt, das genau dieses mündliche Wort als äußeres Wort verkündigt und so die potentielle Vieldeutigkeit der Bibel in die Eindeutigkeit der Offenbarung der Gnade Gottes verwandelt.67 Wichtig ist dabei zu bedenken, dass es Luther nicht darum geht, in jeder Predigt immer nur dasselbe zu sagen. Was von Predigt zu Predigt identisch bleiben soll, sind nicht die Worte der immer gleichen Lehre, sondern ist die Wirkung, die die Predigt entfaltet. Diese beschreibt Luther in seiner Schrift „Wider die himmlischen Propheten“ wie folgt: „Zu erst vor allen wercken und dingen höret man das wort Gottes, Darynn der geyst die wellt umb die sünde strafft, Joan. 16. Wenn die sünde erkennet ist, höret man von der gnade Christi; Im selben wort kompt der geyst und gibt den glauben, wo und wilchem er will, Darnach geht an die tödtung und das creutz und die werck der liebe.“68

Die Eindeutigkeit der Wirkung des Wortes liegt nicht in dem Wort selbst, sondern ereignet sich pneumatisch. Gottes Geist deckt die Sünde auf und gibt im „wort“ „von der gnade Christi“ den Glauben, „wo und wilchem er 66

WA 18, 210, 5–7. Vgl. dazu WA 10, 1, 1, 130, 2–7: „Der menschliche glawbe hafftet auff der person, glewbt, trawt und ehret das wortt umb dese willen, der es sagt. Aber der gottlich glawb widderumb hafftet auff dem wortt, das gott selber ist, glewbt, trawt und ehret das wortt nitt umb des willen, der es gesagt hatt, ßondern er fulet, das ßo gewiß war ist, das yhn niemant davon mehr reyssen kann, wenß gleych derselb prediger thett.“ Ähnlich auch WA 47, 229, 28–33: „Lieber, lass das ein schatz sein, das gott mit dir in dein leiblich ohr redet, und fheilet allein doran, das wir diese Gabe nicht erkennen. Dan ich hore wohl die predigt, aber wer redet? Der pfarrherr? Nicht also, du horest nicht den pfarrherr. Die stimme ist wohl sein, aber das wortt, das ehr fhuret oder redet, das redet mein Gott.“ Zum Zusammenhang vgl. auch BEUTEL: In dem Anfang war das Wort, bes. 470f. – Vgl. zur Bedeutung des Predigtamtes auch unten Kap. 6.3.1. 68 WA 18, 139, 20–25; vgl. auch WA 18, 65,9–66,11; hier benennt Luther fünf Schritte: das Gesetz (im theologischen Gebrauch), das Evangelium der „vergebung der sunden“ (65,17), das Gericht über die Werke, die guten Werke sowie schließlich das Gesetz in seinem politischen Gebrauch. 67

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will“.69 Nur durch den Geist erweist sich das Wort also in seiner Eindeutigkeit; der Geist wirkt die Evidenz der Offenbarung des eigenen Sünderseins und der Zusage der Gnade. Es geht Luther um diese Wirkung des äußeren Wortes – und es erscheint insofern korrekt von einem avant la lettre rezeptionsästhetischen Wortverständnis Luthers zu sprechen.70 Luthers Wortlehre gründet auf der soteriologischen Dynamik des Wortes: „Das wort, das wort, das wort, hörestu du lügen geyst auch, das wort thuts, Denn ob Christus tausentmal fur uns gegeben und greutzigt würde, were es alles umb sonst, wenn nicht das wort Gottes keme, und teylets aus und schencket myrs und spreche, das soll deyn seyn, nym hyn und habe dyrs.“71

Problematisch wird diese Konzeption Luthers allerdings dann, wenn die Dynamik dieses pneumatisch bestimmten Wortereignisses durch eine feststehende doctrina abgelöst wird72 und sich somit eine Bewegung weg von der Bibel hin zu deren Gehalt ergibt. Diese Tendenz lässt sich nicht erst in der Entwicklung des Luthertums beobachten, sondern zeigt sich schon bei Luther selbst. Wenn er „was Christum treibet“ als „generalis scopus“ der Schrift beschreibt,73 dann droht das inhaltliche Materialprinzip der Schrift (die Christusbotschaft) das unhintergehbare und beständige Formalprinzip der Konstitution des Glaubens durch das äußere Wort zu unterlaufen.74 Mit dieser Verschiebung weg von der materialen Gegebenheit des äußeren Wortes im gelesenen und gehörten Wort der Schrift droht der Gottesdienst aber freilich (von Luther nicht bemerkt!) neuerlich zum „werck“ zu werden: zum Werk des auslegenden Predigers und der hörend-verstehenden Gemeinde. Gleichzeitig droht sich der Ausleger in eine Vermittlungsrolle zu drängen, die der des Priesters in der Römischen Messe mindestens 69

Ganz ähnlich wird später Melanchthon in CA V formulieren. Vgl. GRÖZINGER: Homiletik, 97. 71 WA 18, 202, 32–203,2. 72 Wie sich analog die Dynamik des Wechselspiels von Gesetz und Evangelium im Luthertum in ein Schema des Nacheinanders von materialer Gesetzes- und Evangeliumspredigt verwandeln konnte; vgl. dazu DEEG: Predigt und Derascha, 425–430. – Vgl. zur Problematik der „doctrina“ auch JETTER: Symbol und Ritual, 161 Anm. 21: „Wenn die reformatorischen Dokumente das ‚Wort‘ in der Praxis der Kirchen gerne als ‚doctrina‘ bezeichnet haben, so wollten sie damit nicht die viva vox evangelii durch ein depositum von Doktrinen ersetzen und ablösen, sondern die Weise ihres theologisch kontrollierten Wirksamwerdens verdeutlichen. Doch war der Schritt von der nüchternen Rechenschaft über ‚das Wort‘, an der man gegenüber der Sakramentsmystik wie gegenüber enthusiastischen Ansprüchen festhalten wollte, in einen doktrinär anmutenden Gottesdienst klein.“ 73 Vgl. DEEG: Art. Skopus; vgl. auch EBELING: Evangelische Evangelienauslegung, 402– 405.410–424. 74 Vgl. in dieser Hinsicht die Überlegungen Luthers zu einer neuen Sprache des Redens der Theologie/des Glaubens im Unterschied zur Sprache der Philosophie in der Disputation über Joh 1,14 aus dem Jahre 1539 und dazu STREIFF: „Novis linguis loqui“. 70

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gleichkommt. Er gibt der Gemeinde das weiter, was das gelesene Wort allein anscheinend nicht ausrichten kann. Er wird in seiner Predigt zum Mittler zwischen dem Wort der Schrift und der hörenden Gemeinde.75 Faktisch ist es dann nicht das Wort der Schrift, dem „efficacia“ eignet und das entsprechend auch liturgisch inszeniert wird, sondern das Wort der Verkündigung des Predigers. Der Gemeinde fällt die Aufgabe zu, sich dieses Wort der Predigt verstehend anzueignen. Wollte man diese Problematik scharf auf den Punkt bringen, so ließe sich sagen: Die Predigt als Wort Gottes erledigt das Wort Gottes in der Bibel und macht dieses überflüssig! Oder: Das Prinzip solo verbo droht das Prinzip sola scriptura zu verdrängen! Es ist einerseits Luthers Weigerung, dem Äußerlichen Bedeutung beizumessen, die ihn auch die liturgische Gestaltungsaufgabe, die sich mit der Bindung an das äußere Wort im Gottesdienst ergibt, nicht wahrnehmen lässt. Andererseits ist es das Vertrauen, das Luther der Predigt des Evangeliums entgegenbringt. Damit aber ergibt sich die Spannung in Luthers Position zwischen emphatischem Bibelbezug im Ganzen seiner Theologie einerseits, faktischer Bibelverdunstung zugunsten der Predigt im Verständnis des Gottesdienstes andererseits. Exkurs: Cranachs Reformationstypologie und das Problem des Wort-Verlustes Albrecht Grözinger stellt in seiner 2008 erschienenen Homiletik die wesentlichen Weichenstellungen der Predigtlehre Luthers anhand der von Lucas Cranach d.Ä. (1472–1553) 1547 geschaffenen Predella des Wittenberger Altars in der Kirche St. Marien (Stadtkirche) dar.76

75 Vgl. BIERITZ: Daß das Wort im Schwang gehe, 104, der den Prediger als „Pontifex“, als „unentbehrlichen Heilsmittler“ bezeichnen kann [Hervorhebung im Original]. 76 Vgl. GRÖZINGER: Homiletik, 274; vgl. dazu auch HINTZENSTERN: Lucas Cranach d. Ä., 99– 105. – Die im folgenden abgebildete Darstellung der Predella ist im Internet vielfach greifbar.

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

Grözinger beschreibt diese Darstellung wie folgt: „Auf der linken Seite die Predigthörenden in aufmerksam geöffneter Körperhaltung […]. Auf der rechten Seite Luther als Prediger. Klar gezeichnet im Gestus […]. In der Mitte Christus am Kreuz mit der klaffenden Wunde, aus der Blut fließt […].“77

Diese Darstellung findet sich seither in vielen Facetten und kann zu Recht als „ikonographische Verdichtung“ der „protestantische[n] Urszene“ verstanden werden.78 Luther weist zwar mit dem Finger der linken Hand auf die geöffnete Bibel, hat seinen Blick aber zu Christus, dem „generalis scopus“ der ganzen Schrift, erhoben und weist die Gemeinde auf ihn hin. Getreu dem Satz: „Ubi verbum suum est, ibi ipse Christus est.“79 Predigt bedeutet, das lebendige Wort Gottes weiterzugeben. In dieser Hinsicht ist es interessant, dass Luther in einer Auslegung zu Gen 4 (Kains Brudermord) die erste „Predigt“ entdeckt. Er trägt nämlich Adam als Sprecher des an Kain gerichteten Wortes des HERRN in den Text ein: „Wo ist dein Bruder Abel?“ Luther: „‚Ubi est Abel, frater tuus?‘ Respondit: Deus hoc locutus est per Adam. Jsts doch gemein jn den propheten: ‚Haec dicit Dominus.‘ Item: ‚Non audiverunt Dominum.‘ Vnser Herr Gott redet nicht wie die menschen, hat kein maul, sed loquitur per homines.“80 Das prophetische und unmittelbar angehende und herausfordernde Gotteswort ergeht nicht anders denn als Menschenwort, wird aber vom rezipierenden Subjekt als Gottes Wort vernommen. In diese Struktur der Verbindung von Gotteswort und Menschenwort lässt sich unschwer die Theologie der Predigt eintragen, die Luther damit bereits in Gen 4 exegetisch verortet.

Interpretiert man Cranachs Darstellung polemisch, so ließe sich sagen: Der genaue Blick in die Schrift erübrigt sich für den, der das Christus-Prinzip der ganzen Schrift erkannt hat. Die Tendenz zur Dogmatisierung und Formalisierung der Christusbotschaft, wie sie sich in der Folgezeit immer deutlicher ergibt, ist (in dieser – zugegeben – einseitigen Deutung!) bereits in dieser Darstellung zu greifen. Und mit ihr letztlich auch die meta-skripturale Überwindung der konkreten Gestalt der „äußeren Schrift“ gegenüber der verstandenen und in diesem Sinne gepredigten Schrift.81 Trägt man hier 77

GRÖZINGER: Homiletik, 274. GRÖZINGER: Homiletik, 274; vgl. etwa auch den Altar der Weimarer Stadtkirche, der von Lucas Cranach d. Ä. begonnen und wahrscheinlich von seinem Sohn 1555 vollendet wurde. 79 WA 12, 663, 14f (in einer Predigt zu Lk 17,11–19, 1523). 80 WA 48, 688, 2–4. 81 Vgl. DEEG: Skripturalität und Meta-Skripturalität. Vgl. dazu auch Karl Holls Bemerkung zum „geistliche[n] Verstehen“ bei Luther: „[…] es dringt durch den Buchstaben hindurch zu der in ihm enthaltenen Sache, ja zuletzt zu dem Sprecher des Wortes, zu Gott selbst.“ (HOLL: Luthers Bedeutung, 557, Hervorhebung im Original). 78

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die Unterscheidung der dreifachen Gestalt des Wortes ein, für die vor allem Karl Barths Dogmatik steht,82 so ließe sich fragen, ob die Gestalt des schriftlichen Wortes nicht gegenüber dem mündlichen Wort der Predigt und dem personalen Wort Christi in den Hintergrund rückt – mit liturgischen Konsequenzen. 2.1.2.3 Das übergreifende Problem der didaktischen Funktionalisierung des Gottesdienstes Wenn Luther sich 1523 erstmals explizit und in einer eigenen kleinen Schrift zum Gottesdienst äußert („Von ordenung gottis diensts ynn der gemeyne“), so begründet er darin – wie gezeigt – vor allem die Notwendigkeit der Predigt als Auslegung des gelesenen Wortes Gottes. Diese Auslegung eines Beauftragten habe das Ziel, „das die andern alle verstehen, lernen und ermanet werden.“83 Mit dem Aspekt des Lernens ist ein Stichwort benannt, das in der weiteren Entwicklung des Protestantismus eine erhebliche Rolle spielen wird. Philipp Melanchthon formuliert in der Apologie der Confessio Augustana: „Atqui praecipuus cultus Dei est docere evangelium“.84 In der deutschen Übersetzung wird daraus: „Denn der allergrößte, heiligste, nötigste, höchste Gottesdienst, welchen Gott im ersten und andern Gebot als das Größte hat gefordert, ist Gottes Wort predigen; denn das Predigtamt ist das höchste Amt in der Kirchen.“85 Die Lehre des Evangeliums („docere evangelium“) wird hier mit der Predigt gleichgesetzt und zum „höchsten Gottesdienst“ erklärt.86 Auch wenn man bedenkt, dass der Begriff des „docere“ bei Melanchthon keineswegs nur im Sinne des „Belehrens“ oder „Unterweisens“ verstanden werden kann, sondern auch den Aspekt des „Zeigens“ und „Benachrichtigens“ enthält, so wird in dieser Bestimmung doch eine Tendenz deutlich, die sich vor allem mit Aussagen Luthers in seiner „Deutschen Messe“ (1526) deckt. Hier finden sich Beschreibungen des Gottesdienstes, die die82 Vgl. BARTH: KD I/1, §4, 89–128 [Das Wort Gottes in seiner dreifachen Gestalt aus verkündigtem, geschriebenem und offenbartem Wort Gottes]. 83 WA 12, 35, 33f. Vgl. auch die grundlegende Bemerkung in der „Deutschen Messe“: „Weyl alles Gottis diensts das groessist und furnempst stuck ist Gottis wort predigen und leren […].“ (WA 19, 78, 26f). 84 ApCA XV, BSLK 305, 9f. Vgl. auch die Auslegung des Dritten Gebots im GrKat (BSLK, 580–586, bes. 581). 85 BSLK 305, 41–43. 86 Vgl. auch CA VII – die berühmte Bestimmung der Kirche als „congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta“. Für die Einheit der Kirche sei es genug, „consentire de doctrina evangelii et de administratione sacramentorum.“

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sen – verkürzt gesagt – als bloßes Mittel zum Zweck erscheinen lassen. Der Zweck der öffentlichen und auf Deutsch einzurichtenden Gottesdienste ist der Unterricht für die „eynfeltigen leyen“87 mit dem Ziel einer „offentliche[n] reytzung zum glauben und zum Christenthum“88. Aus der Diagnose einer grundlegenden Unkenntnis und Unwissenheit des christlichen ‚Volkes‘ leitet Luther die richtunggebende Maxime ab, wonach diese Christen – und besonders die „eynfeltigen“ und das „junge volck“ – „ynn der schrifft und Gottis wort geubt und erzogen werden“ sollen.89 Dafür bietet sich der Ort des Gottesdienstes in besonderer Weise und aus rein pragmatischen Gründen an. Wenn die Christenmenschen schon einmal versammelt sind, dann kann diese Zusammenkunft auch zu didaktischen Zwecken genutzt werden. So schreibt Luther im Zusammenhang der Erörterungen zu Vaterunserparaphrase und Abendmahlsermahnung, vom Duktus der Ausführungen her aber durchaus übertragbar auf andere Teile des Gottesdienstes: „Denn es ist ja umd das volck zu leren und zu furen zuthun […].“90 Im Blick auf die Abendmahlsvermahnung, die nach Luther im Wortlaut immer gleich bleiben sollte, betont Karl-Heinrich Bieritz, dass „das glaubenspädagogische Moment auf eine Weise durchschlägt, die letzten Endes zu einer neuerlichen Ritualisierung des gottesdienstlichen Dialogs und damit zu einer Vergegenständlichung des Gottesdienstes im Ganzen führen muß.“91 In eine ähnliche Richtung geht die jüngst vorgebrachte Kritik von Ekkehard Guhr am lutherischen Gottesdienstverständnis und seinen Folgen. Guhr nimmt dabei einen Begriff von Hendrik Kraemer, dem ersten Direktor des ökumenischen Instituts von Bossey, auf und spricht scharf von der „Vergötzung der Predigt“ im Protestantismus. Er schreibt: „Mit der Behauptung, dass der Glaube aus der Predigt kommt, wurde der Gottesdienst zunehmend von der verbalen Ebene beherrscht, die Sprache in der Predigt zu 87

WA 19, 74, 23. WA 19, 75, 1f; vgl. hierzu auch MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 66, der allerdings durchaus positiv vom „pädagogische[n] Engagement“ bei Luthers Gottesdienstreform spricht. 89 WA 19, 73, 18f. 90 WA 19, 97, 8f. Diese Aussage ist im originalen Kontext darauf bezogen, dass diese Teile des Gottesdienstes am besten immer in derselben Weise ausgeführt werden sollten; gleichzeitig aber machen sie auf das leitende Interesse Luthers aufmerksam. – WIGGERMANN: Gottesdienst im lutherischen Kontext, 151, schreibt zum lutherischen Gottesdienstverständnis: „Der Gottesdienst braucht seinen Hang zur Lehre nicht zu verleugnen, hält er sie doch lebendig. Gottesdienst ohne Lehre wuchert allzu leicht ins Sprachlose, Lehre ohne Gottesdienst droht zu vertrocknen.“ 91 BIERITZ: Gottesdienst als „offenes Kunstwerk“, 117; vgl. auch MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 61, der die Veränderung der Abendmahlsliturgie in Luthers „Deutscher Messe“ wie folgt beschreibt: „Nicht mehr zwischen Priester und Gott, vermittelt über die heiligen Gaben im heiligen Geschehen, liegt das Zentrum der Messe – so dass die Gemeinde zuschauend daran Anteil hat. Das Zentrum liegt in der Kommunikation zwischen dem als Lehrer agierenden Pfarrer und der Gemeinde.“ – Diese Tendenz erkennt auch die Schrift der EKD „Der Gottesdienst“ aus dem Jahr 2009, problematisiert dies aber nicht (vgl. EKD: Der Gottesdienst, 13f.25). 88

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einem kommunikativen Torso in einem Gottesdienst, der die Struktur einer Feier der Gemeinschaft verlor.“92 In der Folge sei ganz konsequent die „Lehre“ in den Mittelpunkt getreten. „Eine Theologie, die das Evangelium vermittels der Lehre interpretierte und ein Schriftverständnis, das einem fixierten Schriftprinzip (‚was Christum treibet‘) folgte, führte dazu, dass mit ‚Schriftbeweisen‘ um die ‚richtige‘ Schriftauslegung gekämpft wurde.“93 Für Guhr geht es gegenüber dieser Entwicklung im Luthertum darum, im Gottesdienst die Dimension der „Feier“ wiederzugewinnen und Emotionalität sowie Erfahrung neu zu betonen. So richtig es mir erscheint, dass Guhr eine problematische Linie im lutherischen Verständnis des Gottesdienstes aufdeckt, so greift die Verschiebung von der inkriminierten kognitiven Dominanz auf die Ebene des Emotionalen doch zu kurz. Die entscheidende Frage, wie das katabatisch-anabatische Kommunikationsgeschehen zwischen Gott und Mensch erneut ins Zentrum des Gottesdienstverständnisses gerückt werden kann, wird damit nämlich noch nicht tangiert.

Es verwundert nicht, dass in der Reformationszeit (erstmals 1529) Kirchenbänke als fest eingerichtetes Gestühl die Architektur der Kirchen veränderten. Die Lehre nimmt man am besten konzentriert sitzend (keineswegs mehr umhergehend, stehend oder kniend) entgegen. Roland Herbert Bainton schreibt: „Die Kirche wurde so [in der Reformation, AD] nicht nur das Haus des Gebets und Lobpreises, sondern auch ein Klassenzimmer […]“.94 Wichtig erscheint mir, dass die didaktische (bzw. didaktisch-missionarische) Funktionalisierung des Gottesdienstes95 in der Reformation zu einem liturgischen Defizit führen musste, das im Kern als Ritual-Defizit bezeichnet werden könnte. Wenn es um das Wort – letztlich aber um das Verstehen des Wortes in einer primär kognitiven und auf das Individuum abzielenden Orientierung – geht, dann verlieren die äußeren Zeichen an Bedeutung und vor allem fehlt eine Begründung für die regelmäßige participatio actuosa an den Versammlungen der Gemeinde. Die Tendenz zur Einrichtung eines ‚idealen‘ Gottesdienstes für „die ienigen, so mit ernst Christen wollen

92 GUHR: Vergötzung der Predigt, 211; vgl. ähnlich bereits HERLYN: Theologie der Gottesdienstgestaltung, 17f. 93 GUHR: Vergötzung der Predigt, 212. – Vgl. auch ders.: Die Sprachlosigkeit des „Wortes Gottes“. 94 Bainton, Roland Herbert, Hier stehe ich. Das Leben Martin Luthers, Göttingen 61967, 293, zitiert nach NIEBERGALL: Art. Agende, 9. 95 Ich spreche bewusst nicht von „Pädagogisierung“ – und schließe mich damit an HOFMANN: Ist der christliche Gottesdienst eine Bildungsveranstaltugn, 31, an, die zu Recht dort einen verengten Begriff von „Pädagogik“ kritisiert, wo die „Operationalisierung“ bzw. „Instrumentalisierung“ des Gottesdienstes als „Pädagogisierung“ gebrandmarkt wird. – Ebenso gilt es, den Unterschied von „Funktion“ und „Funktionalisierung“ zu betonen: Der Gottesdienst hat immer auch eine pädagogische Funktion; das bedeutet aber nicht, dass diese so in die Verfügungs- und Steuerungsgewalt der liturgisch Verantwortlichen gezogen werden dürfte, dass es zur Funktionalisierung kommt.

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seyn“,96 wie Luther sie in der Vorrede seiner „Deutschen Messe“ in Aussicht nimmt, scheint auf der Linie dieses Ritual-Defizits zu liegen. Eine Konzentration auf „wort und gebet und die liebe“97 ist dann für diese – ansonsten nicht näher beschriebenen – Gottesdienste der „Kerngemeinde“98 ausreichend. Wo das ‚Lernziel‘ erreicht ist, braucht es die öffentlichen Gottesdienste in der bisherigen Gestalt nicht mehr. Die Entwertung der gottesdienstlichen Versammlung in der Zeit der lutherischen Reformation ergibt sich freilich nicht nur als eine Folge der didaktischen Funktionalisierung des Gottesdienstes, sondern gleichzeitig aufgrund der neuerlichen Rückbeziehung des „Gottesdienstes“ auf die Weite einer Lebensgestaltung im „Alltag der Welt“ im Sinne von Röm 12,1f. Es gibt einen „vernünftigen Gottesdienst“, der über die sonntägliche Versammlung hinaus das ganze Leben des Christenmenschen bestimmen kann und soll!99

Um es nochmals zu sagen: die Leitidee Luthers im Blick auf das äußere Wort war keineswegs dessen Intellektualisierung, sondern dessen Dynamisierung. Es ging ihm um das Wortgeschehen, in dessen Zentrum das „‚Evangelium‘ als Anrede Gottes“100 steht, und um den Gottesdienst als interaktiven Wortwechsel zwischen Gott und Mensch. Mit Dietrich Korsch formuliert: „Vor dem Hintergrund des in der Absolution ergehenden Freispruchs von der Sünde ist es [das Wort Gottes, AD] grundsätzlich und endgültig als ein anredendes Wort wahrzunehmen – und genau so ist es auch schon immer in der Bibel gemeint und gesprochen. Keineswegs also präsentiert das Wort Gottes in den biblischen Schriften geistliche Sachverhalte höherer Art, eine religiöse Weltanschauung etwa, die dann mit einer Aufforderung zur Zustimmung versehen von den Gläubigen rezipiert und auf das eigene Leben appliziert werden müßte. Vielmehr geschieht die Anrede des Wortes Gottes in unmittelbar ansprechenden, also distanzüberwindenden Sprechakten des Verpflichtens (‚du sollst …‘) und des Versprechens (‚du wirst …‘).“101

Die hier vorgestellten Überlegungen zeigen aber, wie es von dieser Grundlegung aus zu liturgischen Problemanzeigen kommen kann, wenn erstens das Innen gegenüber dem Außen einseitig betont wird, zweitens die Predigt gegenüber der Heiligen Schrift in den Vordergrund gerückt wird und drit96

WA 19, 75, 5. WA 19, 75, 14f. 98 ALAND: Luther Deutsch, Bd. 6, 91. 99 Vgl. zur Bedeutung des Alltags für Luthers Gottesdienstkonzeption auch WIGGERMANN: Gottesdienst im lutherischen Kontext, 151. – Vgl. zur exegetischen Begründung KÄSEMANN: Gottesdienst im Alltag der Welt. 100 KORSCH: Theologische Prinzipienfragen, 355. 101 KORSCH: Die religiöse Leitidee, 95. 97

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tens das Paradigma der Lehre und Unterweisung Oberhand gewinnt. Die Wirkungsgeschichte der ermittelten Problemlagen vom 16. ins 21. Jahrhundert zu verfolgen, ist Inhalt des folgenden Abschnitts.

2.2 Vom 16. ins 21. Jahrhundert – oder: Reformatorische Problemlagen und ihre Wirkungsgeschichte Es hieße, Luther mit anachronistischen Fragestellungen zu überfrachten, wenn Problemstellungen des frühen 21. Jahrhunderts ungebrochen ins 16. Jahrhundert zurückprojiziert und Luther auf diesem Hintergrund Defizite und mangelnder Weitblick bescheinigt würden. Nicht darum war es in den vergangenen Seiten also zu tun, sondern um den Aufweis von Problemlagen, die in der Reformationszeit aufbrachen und bis in die Gegenwart die liturgische Diskussion im Protestantismus (explizit und implizit!) bestimmen. Im Kern ist es das Problem des Verhältnisses zwischen einer in sich stringenten Dogmatik (2.1.1) und ihrer mangelnden Vermittlung mit den konkreten praktisch-liturgischen Fragestellungen (2.1.2). Luthers Beschreibung des Gottesdienstes als Gott-menschlicher Wortwechsel wird von ihm in ein überzeugendes dogmatisches Gebäude, konkret: in eine worttheologisch konzipierte Soteriologie, integriert, aber zu wenig auf die liturgiepraktischen Konsequenzen hin reflektiert. Vergleichbar erkannte dieses Problem auch Hans-Christoph SchmidtLauber, der zum 500. Geburtstag des Reformators 1983 entschieden feststellte, dass Luther kein ‚Liturgiker‘ gewesen sei – jedenfalls nicht in dem Sinne, wie es sich die Praktische Theologie der Gegenwart wünschen würde. „Die Frage, ob Luther ein Liturgiker war, scheint mir eine der wichtigsten zu sein, die sich dem Praktischen Theologen im Lutherjahr 1983 stellt. Meine Antwort lautet klipp und klar: Nein. Luther hat sich für keinen solchen gehalten, wollte keiner sein und war auch keiner. Dem evangelischen Gottesdienst wäre vieles erspart geblieben, wenn die lutherische Theologie und Gottesdienstpraxis dieses eher begriffen und den reformatorischen Auftrag aufgenommen und weitergeführt hätte ohne Fixierung auf zeitgebundene Formgebungen und Durchgangsstadien.“102

Schmidt-Lauber warnt davor, die konkreten Liturgiegestaltungen Luthers (seine „Formula Missae“ aus dem Jahr 1523 oder seine „Deutsche Messe“ aus dem Jahr 1526) als normative Vorgaben einer heute weiter zu entwickelnden Liturgie zu verwenden, wie dies etwa in der liturgischen „Restau102

SCHMIDT-LAUBER: War Luther Liturgiker?, 377f.

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ration“ des 19. Jahrhunderts geschah. Vielmehr könne es lediglich darum gehen, Luthers Theologie des Gottesdienstes, seine „Begründung des Gottesdienstes vom Evangelium her“103, neu zu würdigen und auf dieser Grundlage einerseits, mit dem ästhetisch und liturgiewissenschaftlich geschärften Blick der Gegenwart andererseits zur Aufgabe der Liturgiegestaltung voranzuschreiten. Bereits der Lutherforscher Karl Holl formulierte rund 60 Jahre vor Schmidt-Lauber: „[…] auch von der wissenschaftlichen Seite her“ sei „die Erkenntnis durchgedrungen, daß Luther in den von ihm eingeführten [Gottesdienst-; AD] Ordnungen nicht etwas Neues aus dem eigensten Geist seiner Reformation ans Licht gehoben, sondern einen zwitterhaften Notbau errichtet“ habe.104 „Zwitterhaft“ deshalb, weil er an den überkommenen Formen hing und nicht weiter voranschritt als bis zu einer vorsichtigen Korrektur dieser Vorgaben. Immerhin aber, so meint auch Holl, habe Luther „das Ganze auf einen neuen Ton gestimmt“,105 indem nun das Wort und mit ihm Predigt, Gebet und Gemeindelied eine herausragende Stellung im Gottesdienst erlangt hätten. Sowohl Schmidt-Lauber als auch Holl sehen damit das spezifisch liturgische Defizit bei gleichzeitiger Wertschätzung der theologischen Grundentscheidung Luthers im Blick auf die theologische Bedeutung des Gottesdienstes. Genau dieses Defizit aber lockt zur Weiterarbeit. Könnte es, so frage ich, gegenwärtig gelingen, „etwas Neues aus dem eigensten Geist“ der Reformation (Holl) zu entdecken, wenn Luthers theologische Überlegungen in einen genuin liturgischen Denkrahmen eingeordnet und als abduktive Sätze einer heutigen Liturgik gelesen würden? Dazu scheint es zunächst nötig, die oben (2.1) ermittelten Spannungsfelder von Außen und Innen, Objektivität und Subjektivität, Form und Inhalt, Schriftlichkeit und Mündlichkeit einzuordnen in die ästhetischen, philosophischen und theologischen Diskurse, die in den vergangenen Jahren geführt wurden und nach wie vor geführt werden. In drei Perspektiven, die sich nacheinander auf die Frage nach dem Subjekt (2.2.1), auf das Wortverständnis (2.2.2) und auf das Gottesdienstkonzept (2.2.3) beziehen, ziehe ich im Folgenden die Linien ausgehend von Luther in die gegenwärtige Diskussion weiter und konturiere damit die Fragestellungen für die folgenden Kapitel der Erarbeitung.

103

SCHMIDT-LAUBER: War Luther Liturgiker?, 378. HOLL: Was können wir …, 220. 105 HOLL: Was können wir …, 221. Vgl. ganz ähnlich auch BIERITZ: Daß das Wort im Schwang gehe; Bieritz spricht davon, dass durch die Akzentuierung auf das Wort „gleichsam das Vorzeichen vor jener Klammer verändert wird, die die überlieferten liturgisch-homiletischen Handlungsspiele einschließt“ (84). 104

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2.2.1 Außen und Innen – oder: Das problematische Subjekt der Neuzeit 2.2.1.1 Subjektivität und Objektivität als typisch neuzeitliches und als liturgisches Problem Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) hat die Problemstellung der Reformation und die spezifische Errungenschaft Luthers in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ klar erfasst und pointiert als die Spannung zwischen „Subjektivität und Gewißheit des Individuums“ einerseits und „Objektivität der Wahrheit“ andererseits beschrieben.106 Diese Spannung werde in Luthers Theologie, so Hegel, nicht aufgelöst, sondern bewusst aufrecht erhalten. „Die Wahrheit ist den Lutheranern nicht ein gemachter Gegenstand, sondern das Subjekt selbst soll ein wahrhaftes werden, indem es seinen partikulären Inhalt gegen die substantielle Wahrheit aufgibt und sich diese Wahrheit zu eigen macht. So wird der subjektive Geist in der Wahrheit frei, negiert seine Partikularität und kommt zu sich selbst in seiner Wahrheit.“107

Einseitige Lösungen lagen zu Luthers Zeit durchaus nahe. Die päpstliche Position könnte als Lösung zur Rechten, die ‚schwärmerische‘ als Lösung zur Linken beschrieben werden. Rekurriert die eine auf die objektive Wahrheit und sieht diese in der hierarchischen Sozialgestalt der Kirche garantiert und verwaltet, ohne die individuellen Subjekte wahrzunehmen und konstitutiv einzubeziehen, so bezieht sich die andere auf das ‚partikulare‘ Subjekt und bleibt bei diesem stehen, ohne sich die Wahrheit in ihrer Objektivität zu eigen zu machen. Damit kommt es bei beiden Positionen eben nicht zu jener ‚geschichtlichen‘ Verbindung von Subjekt und Wahrheit, die Hegel in den Gedanken der Reformation Luthers verwirklicht sieht. Walter Mostert schreibt: „Hegel hat genau erkannt, daß der Glaube bei Luther auf das Wort Gottes bezogen ist, und die Beziehung spiegelt sich bei ihm in der Relation des Subjekts auf die Wahrheit wider. Weiter hat Hegel Luther recht verstanden, wenn er die Wahrheit als die Wahrheit versteht, die das Subjekt wahrhaft macht. […] Die im Zusammenhang mit der Beurteilung Luthers immer wieder anzutreffenden Alternativen Personalismus gegen Ontologie, existentielle gegen sapientiale Theologie, individualistischer Subjektivismus gegen institutionellen Objektivismus usw. sind durch Hegel eigentlich schon philosophisch überholt.“108

106

HEGEL: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 496. HEGEL: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 496. 108 MOSTERT: Art. Luther, 574. 107

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Gleichzeitig hält Mostert aber auch die bleibende Differenz zwischen Hegel und Luther in wünschenswerter Deutlichkeit fest: „An die Grenze von Hegels Luther-Interpretation stößt man, wenn man seinen Begriff des Äußerlichen mit Luthers Begriff des verbum externum vergleicht. Durch die Identität von Geist als subjektivem und objektivem Geist entfernt sich Hegel fundamental von der bleibenden Externität des Wortes bei Luther.“109

Was bei Hegel letztlich verloren geht, ist die irreduzible Dynamik des Wechselspiels von Externität und Konstitution des glaubenden Subjekts, die die Selbstbezüglichkeit des Subjekts (immer wieder!) aufbricht und dieses von außen neu bestimmt. Genau diese Dynamik drohte aber auch in der Entwicklung des protestantischen Gottesdienstes sowie des protestantischen Selbstverständnisses immer wieder verlorenzugehen. Der Rekurs auf die statische Objektivität eines Externum ist dabei genauso zu beobachten wie der Rekurs auf die partikulare Selbstbestimmung des individuellen Subjekts. Sehr grob kann die altprotestantische Orthodoxie mit ihrer Betonung der „rechten Lehre“ ebenso als eine Zeit des Objektivismus gelten wie der Konfessionalismus im 19. Jahrhundert mit seiner Bindung an die Kirche als Institution und an das neuerlich betonte Amt. Pietismus und Aufklärung können paradigmatisch für jene Entwicklungen im Protestantismus stehen, die das Subjekt zum Ausgangspunkt theologischer Bestimmung machten.110 Klar ist, dass dies jeweils auch liturgische Konsequenzen hatte. Gelten Pietismus und Aufklärung weithin als die Zeiten einer „Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen“ (Paul Graff111), so kann die altprotestantische Orthodoxie als Hochzeit eines formal klar geprägten lutherischen Gottesdienstes gesehen werden und so versuchte der Konfessionalismus in Rückkehr zu Grundentscheidungen der Reformation die ‚Auflösungserscheinungen‘ der Aufklärungszeit zu überwinden. Vereinfacht ließe sich die Tendenz zum Objektivismus als die katholische Problematik beschreiben; die typisch evangelische Problematik liegt

109 MOSTERT: Art. Luther, 575. Vgl. dazu z.B. Hegels Einschätzung der Bedeutung der Bibelübersetzung Luthers. Hegel schreibt dazu: „Daß nun die Bibel selbst die Grundlage der christlichen Kirche geworden ist, ist von der größten Wichtigkeit: jeder soll sich nun selbst daraus belehren, jeder sein Gewissen selbst daraus bestimmen können“ (497). 110 Vgl. zu dieser Nähe von Pietismus und Aufklärung in liturgicis ALBRECHT: Schleiermachers Liturgik, 87. 111 Vgl. GRAFF: Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen; Graff nimmt dabei nur die Aufklärung, nicht aber den Pietismus wahr. Vgl. auch die pointierte Aussage von Christoph Albrecht: „Wo die Aufklärung erreicht ist, da braucht man eigentlich keine Gottesdienste mehr!“ (ALBRECHT: Schleiermachers Liturgik, 88).

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demgegenüber in der Tendenz zum Subjektivismus.112 Dieser führt dazu, dass das externe Wort vom Subjekt selbst gemeistert, nicht aber umgekehrt das glaubende Subjekt durch dieses allererst konstituiert gedacht wird. Freilich: Die Frage der Konstitution des neuzeitlichen Subjekts im Wechselspiel mit seiner Umwelt (dem „Externen“ in seiner Vielgestalt) ist weitaus komplexer, als dass sie in die einfache Alternative von Subjektivismus vs. Objektivismus eingefangen werden könnte – eine Alternative, die dennoch heuristisch hilfreich erscheint. Nicht nur zu allgemein und allzu polar wäre die Alternative dann, wenn suggeriert würde, dass der Einzelne die Möglichkeit hätte, sich so oder anders zu entscheiden, sich entweder extern konstituieren zu „lassen“ oder aus sich heraus selbst zu konstituieren. Für die Subjektkonstitution gilt, was auch für die menschliche Identität ausgesagt werden muss: sie ist „nur als offener Prozess zu verstehen“113, als ein Wechselspiel aus Vorgaben und Entscheidungen, aus gesellschaftlichen und psychologischen Bedingungen und individueller Gestaltung. Besonders die „cultural studies“ der vergangenen Jahrzehnte haben auch der Praktischen Theologie gezeigt, dass jede theologische Äußerung sowie jede liturgische Gestaltung ihren Ort in kulturellen Kontexten haben. So wurde bereits vor einiger Zeit beobachtet, dass die Verschiebung der Evidenz vom Äußeren zum Inneren, vom material Greifbaren zum innerlich Erfahrbaren, wie sie sich bei Luther findet, eine selbstverständliche Konsequenz einer gesamtgesellschaftlich-geistesgeschichtlichen Entwicklung ist, die mit den großen Begriffen Humanismus und Neuzeit umschrieben werden kann.114 Manfred Josuttis und Karl-Heinrich Bieritz erkennen, dass diese Verschiebung mit einer generellen Veränderung kultureller Codes in der Zeit der Renaissance und Reformation einhergeht – weg von den körperlichen und hin zu den sprachlichen Zeichen, weg von der Verhaltensebene und hin zur Einstellungsebene.115 David Plüss bringt dafür das Bild der „inneren Bühne“ ins Spiel, die sich nun entwickle und – gegenüber den Vollzügen auf der äußeren Bühne des gottesdienstlichen Handelns – verstärkt Beachtung finde.116 Und Peter Cornehl sieht – vor allem im Gottesdienst der Zeit der altprotestantischen Orthodoxie – „einen kulturellen Wandel vom Sehen zum Hören, von außen nach innen, von der sinnlichen 112 „[…] das Gift des Subjektivismus erweichte die überkommenen Formen [der Liturgie, AD] von innen her“, so stellt Wilhelm Averbeck die liturgische Entwicklung im Protestantismus zur Zeit des Pietismus in einiger Schärfe dar (AVERBECK: Der Opfercharakter des Abendmahls, 55). 113 KUNSTMANN: Was ich geworden bin, 214; vgl. auch insgesamt die Beiträge in dem Band DEEG/HEUSER/MANZESCHKE: Identität. 114 Es könnte – mit Karl Jaspers und Karen Armstrong, die diesen Begriff für die Mitte des 1. Jahrtausends vor Christus stark machen – m.E. durchaus von einer zweiten „Achsenzeit“ der religiösen Entwicklung gesprochen werden; vgl. ARMSTRONG: Die Achsenzeit. 115 Vgl. BIERITZ: Daß das Wort im Schwang gehe, 96.105. 116 Vgl. PLÜSS: Gottesdienst als Textinszenierung, 244–246.

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Anschauung des Heiligen zur Kommunikation des Glaubens in Wort und Musik.“117 Kurz: Die innere, individuelle Vergewisserung erfuhr im Übergang vom Spätmittelalter zur Neuzeit eine völlig neue Gewichtung; es kam zur „Entdeckung des modernen Subjekts“118. Das Problem, das sich daraus für die theologische Grundlegung Luthers ergibt, stellt sich allerdings gerade dann in neuer Deutlichkeit. Wie kann die Externität der Konstitution des glaubenden Ich festgehalten werden und (liturgisch) Gestalt finden, wenn die Innerlichkeit eine derart dominante Rolle spielt? Es ist bereits mit diesen knappen Überlegungen zur Komplexität der Subjektkonstitution in der Neuzeit klar, dass jedes Entweder-Oder von „Außen“ vs. „Innen“ das Problemniveau unterläuft. Liturgisch wurde das hier zu verhandelnde Problem des neuzeitlichen Subjekts als die Frage nach der „Liturgiefähigkeit“ oder „Kultfähigkeit“ diskutiert – vor allem von Romano Guardini. In seinem am 1. April 1964 datierten, also vier Monate nach der Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils geschriebenen Brief an Johannes Wagner mit dem Titel „Der Kultakt und die gegenwärtige Aufgabe der Liturgischen Bildung“ fragt er: „Sollte man sich nicht zu der Einsicht durchringen, der Mensch des industriellen Zeitalters, der Technik und der durch sie bedingten soziologischen Strukturen sei zum liturgischen Akt einfach nicht mehr fähig?“119 Dabei leitet ihn ein Verständnis von „liturgischem Akt“ oder „Kultakt“, in dem es um den Einzelnen in seiner Einheit aus „Geist und Körper“ und zugleich um den Einzelnen als Teil eines Ganzen (der Kirche) gehe, weswegen äußere, körperliche Vollzüge nicht verzierende Ausschmückung, sondern unverzichtbare „Elemente des Gesamtaktes“ sind.120 Demgegenüber bringt er den „Menschen des industriellen Zeitalters“ als einen Menschen ins Spiel, der seit dem 19. Jahrhundert auf das Individuell-Innerliche und zugleich auf das Rationale fixiert sei.121 Dieser Mensch suche nach ‚Bedeutungen‘ und verliere so den Sinn für das Symbol, bei dem nicht ein innerer Sinn herausgelesen, sondern „der innere Sinn im Äußeren angeschaut“ werde.122 Anders und nicht mit Guardinis Worten formuliert: Das semiotische Muster („lesen“) soll durch ein kontemplatives Muster („schauen“) abgelöst werden. 117

CORNEHL: Art. Gottesdienst VIII, 59. GEYER: Die Entdeckung des modernen Subjekts. 119 GUARDINI: Der Kultakt, 106. 120 GUARDINI: Der Kultakt, 102. Das Beispiel der Prozession dient Guardini zur Verdeutlichung. Es müsse wieder erkannt werden, wie „das Gehen selbst zum religiösen Akt“ werde, „nämlich zum Geleit für den Herrn, der sein Land durchzieht […]“ (aaO., 103). 121 GUARDINI: Der Kultakt, 101; vgl. 101f. 122 GUARDINI: Der Kultakt, 104; vgl. zu einer ähnlichen Kritik am ‚semiotischen‘ Paradigma WEYER-MENKHOFF: Die Ästhetik der Liturgie (und dazu oben Kap. 1.4.1). 118

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Die sich daraus ergebende Aufgabe will er durch eine Intensivierung der liturgischen Bildung lösen, um Menschen neuerlich an das heranzuführen, was „Kult“ bedeuten kann. Letztlich heißt dies, dass die Vorgegebenheit und Objektivität der Liturgie mit ihren äußeren Vollzügen die feste Konstante ausmachen, an die der Mensch neuerlich herangeführt, zu der er neuerlich erzogen werden muss. „Soll die Intention des Konzils verwirklicht werden, dann ist die richtige Unterweisung, aber auch echte Erziehung nötig; Übung, durch die der Akt gelernt wird …“123 Auf evangelischer Seite erscheint eine Lösung in dieser Einseitigkeit – schon von Luthers grundlegenden Einsichten in die Wandelbarkeit der liturgischen Gestaltung her – kaum denkbar. Aus der Geschichte des evangelischen Umgangs mit dem Problem führe ich im Kontext der Problembeschreibung dieses Kapitels nur zwei Stationen vor: den Denkweg Schleiermachers mit seinem Ausgangspunkt beim religiösen Gefühl einerseits, die gegenwärtigen Ansätze von Wilhelm Gräb und Michael Meyer-Blanck mit ihrer Betonung der typisch protestantischen Reflexivität und Deutungskompetenz des Subjekts andererseits. Ziel ist es dabei, die vereinfachte Gegenüberstellung von Subjektivität und Objektivität zu einem differenzierteren Bild zu weiten, das unten (besonders Kap. 5.1) weitergeführt werden wird. 2.2.1.2 Schleiermacher: Das glaubende Subjekt und die Kommunikation des religiösen Gefühls Die Verschiebung auf die „innere Bühne“, die sich mit dem kulturellen Umbruch vom Spätmittelalter in die Neuzeit vollzieht, die bereits für die Reformation und ihre Weichenstellungen prägenden Charakter hat und die sich in Pietismus und Aufklärung zuspitzt, wird für Schleiermacher zum kreativen Ausgangspunkt seines theologischen Denkens. Konsequent geht er in seiner Dogmatik und Ethik vom religiösen Gefühl des einzelnen aus und macht dieses als „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ zum Integral seiner gesamten Theologie – und so auch seiner Liturgik. Religion ist für Schleiermacher nichts, was in irgendeiner Weise „von außen“ auf den Menschen zukomme (schon gar nicht in den Formen einer tradierten Dogmatik oder einer bestimmten Moral124), sondern „ist in ihm; und wenn sie nicht gewaltsam unterdrückt wird, dann entwickelt sich das religiöse Bewußtsein des Menschen“.125 Bereits angesichts dieses Ausgangspunktes kann gefragt 123

GUARDINI: Der Kultakt, 104. Vgl. dazu SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 103f. 125 ALBRECHT: Schleiermachers Liturgik, 12f. In der „Praktischen Theologie“ schreibt Schleiermacher: „Das religiöse ist etwas gemeinsam menschliches; das Christenthum ist eine indivi124

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werden, inwiefern sich diese Bestimmung des Religiösen mit dem in Einklang bringen lässt, was für Luther und die Reformatoren (wie gezeigt) entscheidend war: die externe Konstitution des religiösen Subjekts im Glauben durch den Geist. Dennoch oder gerade deshalb aber scheint es lohnend, diesen konsequent subjektivitätstheologischen Umbruch und seine liturgischen Konsequenzen wahrzunehmen. Ich gehe dabei in zwei Schritten vor und setze zunächst mit dem jungen Schleiermacher der „Reden“ (1799) ein, bei dem sich der individuelle Subjektivismus mit einem romantischen Pathos der Gemeinschaft verbindet und so zu einer Liturgik führt, die sich jenseits aller vorgegebenen Ordnung als Spontaneität ‚begeisterter‘ Zusammenkunft beschreiben lässt (1). In einem zweiten Schritt wird deutlich, wie sich in Schleiermachers späterer „Praktischer Theologie“ eine vermittlungstheologische Linie zeigt, die die Subjektivität einerseits, die Kirche mit ihrer Tradition, Institutionalität und Öffentlichkeit andererseits zu verbinden versucht (2). (1) In den „Reden“ kombiniert der „Herrnhuter höherer Ordnung“ die subjektive Frömmigkeit seiner pietistischen und aufklärerischen Prägung mit dem romantischen Moment der idealen Geselligkeit. Dadurch gelingt es ihm, seinen Ausgangspunkt beim religiösen Empfinden des Subjekts konsequent aufrecht zu erhalten und gleichzeitig der Gefahr solipsistischer Religionskultur zu entgehen, die drohte, wenn dieser Ausgangspunkt verabsolutiert würde. Jenseits von Moral und jenseits von Metaphysik konstruiert Schleiermacher eine zugleich individuelle und universale Religion („Sinn und Geschmak fürs Unendliche“126), für die allerdings jeder klassische „Kultus“ bedeutungslos werden muss (der Begriff erscheint kein einziges Mal in den fünf Reden!). Nicht der gemeinsam geordnete Gottesdienst ist für den jungen Schleiermacher bedeutsam, sondern das sich von selbst und je individuell ergebende „Gesellige in der Religion“ (Vierte Rede),127 in dem Individuum und Gemeinde als harmonisches Miteinander gedacht werden. Die ideale ‚Bürgerversammlung‘ in der „Stadt Gottes“ (den ‚idealen Gottesdienst‘!) beschreibt Schleiermacher wie folgt: „Ich wollte ich könnte Euch ein Bild machen von dem reichen schwelgerischen Leben in dieser Stadt Gottes, wenn ihre Bürger zusammenkommen, jeder voll eigner Kraft, welche ausströmen will ins Freie, und voll heiliger Begierde alles aufzufaßen und sich anzueignen, was die Andern ihm darbieten mögen. Wenn einer hervortritt vor den Übrigen ist es nicht ein Amt oder eine Verabredung, die ihn berechtigt, nicht Stolz oder Dünkel, die ihm Anmaßung einflößt: es ist freie Regung des Geistes, Geduelle Form dieses gemeinsam menschlichen, zugleich aber ist es uns die höchste Vollkommenheit dieses allgemein menschlichen“ (SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 95). 126 SCHLEIERMACHER: Über die Religion, 80, 31. 127 Vgl. SCHLEIERMACHER: Über die Religion, 134–160.

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fühl der herzlichsten Einigkeit Jedes mit Allen und der vollkommensten Gleichheit, gemeinschaftliche Vernichtung jedes Zuerst und Zuletzt und aller irdischen Ordnung.“128

Bei dieser „schwelgerischen“ Zusammenkunft geschieht ein Austausch von Religiosität, der mehr ist als die individuelle Religiosität des einzelnen, aber zugleich nichts anderes als diese sein kann. Die charismatisch-spontane Zusammenkunft als „Vernichtung […] aller irdischen Ordnung“ und jenseits konfessioneller Grenzen ist gekennzeichnet durch ein ideales Priestertum aller: „Jeder ist Priester, indem er die Andern zu sich hinzieht auf das Feld, welches er sich besonders zugeeignet hat […].“129 Und sie ist grundlegend geschieden von jenen „Vereinigung[en]“, „wo viele Hunderte versammelt sind in großen Tempeln und ihr Gesang schon von fern Euer Ohr erschüttert“.130 Dort sei höchstens einer aktiv, die anderen aber bleiben „völlig paßiv“131 – eine wechselseitige Anregung sei nicht denkbar. Für die wahrhaft religiös empfindenden Menschen werde die Kirche in ihrer organisierten und institutionalisierten Form „um so gleichgültiger je mehr sie zunehmen in der Religion“132. Es zeigt sich: Für den jungen Schleiermacher bedeutet konsequente Religionspraxis das Ende des überkommenen Gottesdienstes und eine völlig neue Form des geistig-geistlichen Zusammenlebens. Freilich ist Schleiermacher genötigt, im Kontext seiner Berliner Lehrtätigkeit und im Kontext der Auseinandersetzungen um die preußische Reformagende, seine Haltung gegenüber dem Gottesdienst zu modifizieren. (2) Grundgedanken dieser frühen Konzeption bleiben aber auch in Schleiermachers späterer Gottesdiensttheorie erhalten: die Darstellung des religiösen Selbstbewusstseins nach außen als Grundlage und die Wechselseitigkeit der Anregung als Wesen der gottesdienstlichen Versammlung.133 Allerdings tritt der Begriff des „Cultus“ in den Mittelpunkt der Überlegungen des Berliner Professors für Praktische Theologie134 – und mit ihm die 128

SCHLEIERMACHER: Über die Religion, 137, 13–22. SCHLEIERMACHER: Über die Religion, 138, 17f. 130 SCHLEIERMACHER: Über die Religion, 141, 32–34. 131 SCHLEIERMACHER: Über die Religion, 142, 18. 132 SCHLEIERMACHER: Über die Religion, 143, 42f. 133 Christoph Albrecht schreibt (ALBRECHT: Schleiermachers Liturgik, 15): „Das darstellende Handeln ist der Typus für das, was wir christlichen Gottesdienst nennen. Der Gottesdienst gehört nicht zum wirksamen Handeln, weil der Gegensatz von produktiv und rezeptiv im Gottesdienst für den einzelnen aufgehoben ist. Jeder ist Gebender und Nehmender zugleich.“ 134 Vgl. zur Begriffsverschiebung zwischen dem jüngeren und dem älteren Schleiermacher von „Gottesdienst“ zu „Cultus“ ALBRECHT: Schleiermachers Liturgik, 16; STROH: Schleiermachers Gottesdiensttheorie, 38–40 (Stroh verweist hier auf die Unterscheidung der Begriffe „Kultus“ und „Sitte“ bei Schleiermacher, der damit die beiden Aspekte, die klassisch in dem dadurch missverständlichen Begriff des Gottesdienstes enthalten sind, auseinander nimmt). Schleiermacher selbst 129

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Gebundenheit der Form entsprechend der Analogien im „Fest“ und in der „Kunst“, die Einheit als ästhetisches Kriterium und die Überindividualität als Voraussetzung einer die je unterschiedliche Religiosität der einzelnen überwindende Verbundenheit der Verschiedenen.135 Gerade die konsequent ästhetische Reflexion des Cultus bedeutet für Schleiermacher das Ende der ungebundenen Spontaneität seiner romantisch-schwelgerischen Bürgerversammlung. Denn die Kunst als formale Grundbestimmung des Gottesdienstes136 (neben der Religion als inhaltlicher Grundbestimmung!137) bietet die Regeln, aufgrund derer es möglich wird, ‚wilde‘ Spontaneität in ein organisches Ganzes zu verwandeln.138 Schleiermacher schreibt: „[…] wo etwas gemeinschaftliches sein soll, muß ein Maaß und eine Ordnung sein, und das gehört der Kunst an.“139 Der „Organismus des Kultus“ – und hier im Kern: die „Einheit“ dieses Organismus – wird bei Schleiermacher zur ästhetischen Grundregel jeder Gestaltung.140 Schleiermacher verlässt damit die Vorstellung der (faktisch ohnehin kaum zu realisierenden) Spontaneität der Zusammenkunft und integriert die kunstgemäß vorgegebene und zugleich immer neu zu gestaltende Einheit des Cultus in seine liturgische Konzeption.141 Zu einem „vollständigen Cultus“ gehören nach Schleiermachers Darstellung in der „Praktischen Theologie“ vier Elemente: Rede, Gesang, Liturgie und Gebet.142 Interessant ist die Stellung des Begriffs „Liturgie“ in dieser Reihe: Christoph Albrecht weist darauf hin, dass Schleiermacher ursprünglich nicht vier, sondern nur drei Elemente nannte. „Sein Manuskript vom Jahre 1815 […] sieht eine Dreigliederung vor, die die Liturgie noch nicht enthält, also nur Rede, Gesang und Gebet zu den wesentlichen Bestandteisetzt die Wendung „öffentlicher Gottesdienst“ synonym mit „Cultus“, vgl. grundlegend SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 68. 135 Vgl. SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 68–201. 136 „Es ist offenbar[,] daß hier das religiöse gleichsam der Stoff und das künstlerische die Form ist“ (SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 77). 137 Vgl. SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 76f. 138 Vgl. ALBRECHT: Schleiermachers Liturgik, 18. 139 SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 73. – Ähnlich auch SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 78: „Wollen wir keine Kunst im Cultus: so wollen wir auch keine große Kirche; und wollen wir eine große Kirche: so müssen wir auch die Kunst im Cultus wollen. Die große Kirche nämlich kann nicht bestehn ohne eine allgemeine Aeußerung der religiösen Erregtheit.“ 140 Vgl. dazu SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 126–156; vgl. auch ALBRECHT: Schleiermachers Liturgik, 59–65. 141 Vgl. STROH: Schleiermachers Gottesdiensttheorie, 245: „Der öffentliche Kultus ist […] pflichtwidrig, wenn er nicht alle ihm zur Verfügung stehenden Darstellungsmittel berücksichtigt und auf der Höhe des ihm jeweils geistig wie materiell erschwinglichen künstlerischen Niveaus zur Anwendung bringt im Dienste des christlich-frommen Gefühls. […] Der kunstlose öffentliche Kultus ist eine Obszönität, eine Schamlosigkeit.“ 142 SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 133.

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len des Kultus rechnet.“143 Bei Schleiermacher findet sich, wie Friedrich Kalb bemerkt, „zum ersten Mal sehr konsequent das terminologische Gegenüber von Liturgie und Predigt […], so daß Liturgie nicht mehr den ganzen Gottesdienst, sondern nur alle die der Predigt vorausgehenden und die ihr nachfolgenden gottesdienstlichen Stücke bezeichnet.“144 Schleiermacher greift mit dieser begrifflichen Differenzierung auf seine Herrnhuter Herkunft zurück, wo teilweise reine Predigtversammlungen gehalten, teilweise reine Liturgien gefeiert wurden, die überhaupt keine Predigt enthielten.145 Für den Schleiermacher der „Praktischen Theologie“ wird sowohl in der „Liturgie“ als dem „allerallgemeinste[n]“ als auch in der „Predigt“ als dem „allerspeciellste[n]“146 die reine Subjektivität religiöser Darstellung des einzelnen Gottesdienstfeiernden durch eine jeweils spezifische „Externität“ herausgefordert und erweitert. – Liturgie: Die „Liturgie“147 mache es möglich, dass der Cultus „nicht nur Zirkulation des religiösen Bewußtseins seiner Teilnehmer, sondern auch Repräsentation der Einheit der Kirche“ sein kann.148 Sie stehe (neben dem Gesangbuch!149) für das Gemeinsame und damit für die Verbindung von „Einzelgemeinde und Gesamtkirche“.150 Nur, wo auch die Gesamtkirche im Blick ist, wird die Grundbestimmung des Cultus erfüllt, die Schleiermacher in der „Praktischen Theologie“ wie folgt formuliert: „[…] der Cultus ist darstellende Mittheilung und mittheilende Darstellung des gemeinsam [!, AD] christlichen Sinnes.“151 An der Liturgie als dem gesamtkirchlich Verbindenden und damit in gewisser Weise Objektiven und Vorgegebenen arbeitet sich Schleiermacher dann intensiv ab – und es zeigt sich, wie schwer sich sein Ansatz bei dem religiösen Gefühl des einzelnen mit dieser Vorgabe tut. Einerseits kann er die Andersartigkeit und Fremdheit der Liturgie bis in die Überlegungen zum Vortrag liturgischer Texte durch den Pfarrer hinein betonen: 143 ALBRECHT: Schleiermachers Liturgik, 65; vgl. auch SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 75. 144 KALB: Art. Liturgie, 367. 145 Vgl. ALBRECHT: Schleiermachers Liturgik, 75. 146 Vgl. zu den zitierten Begriffen SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 134. 147 Vgl. insgesamt SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 156–167 [Theorie der Liturgie im Cultus]. 148 ALBRECHT: Schleiermachers Liturgik, 52. Das Spannungsfeld von einzelner Gemeinde und gesamter Kirche reflektiert Schleiermacher auch in den Prolegomena seiner Praktischen Theologie, dort unter dem Begriffspaar „Kirchendienst“ und „Kirchenregiment“; vgl. SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 32–25. 149 Vgl. SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 132. 150 ALBRECHT: Schleiermachers Liturgik, 52. 151 SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 145.

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„Es ist ganz natürlich und leuchtet beim ersten Anblikk ein, daß die Liturgie einen anderen Vortrag haben muß als die Predigt, indem der Geistliche fremdes vorträgt und nicht sein eigenes. Weil im liturgischen Elemente die größere Kirchenbindung repräsentiert werden soll, die Liturgie zugleich einen symbolischen Charakter hat, entweder Gesinnungen oder Vorstellungen enthaltend die als der ganzen Kirchengemeinschaft mit jedem einzelnen gemeinsame angesehen werden sollen: so folgt daß hier eine große Würde des Vortrages ganz nothwendig ist.“152

Andererseits aber kann Schleiermacher eine wirkliche ‚Fremdheit‘ der Worte der Liturgie, ein Voraus, das durch das individuelle Glaubensempfinden (des Geistlichen und erst recht der übrigen Gottesdienstfeiernden) unter Umständen noch nicht eingeholt ist, schwerlich denken. In seinen Überlegungen zur Bindung des Geistlichen an die Stücke der Liturgie in ihrem Wortlaut schreibt Schleiermacher nur wenige Seiten vor der eben zitierten Aussage: „Das liturgische muß so eingerichtet sein, daß man nicht voraussetzen kann, es sei gegen die Überzeugung des Geistlichen.“153 Die „Überzeugung des Geistlichen“ wird zum Kriterium, das Schleiermacher pastoraltheologisch damit begründet, dass dieser als „lebendiges Organ“154, nicht aber als bloßes Vollzugsorgan der Kirche gedacht werden müsse. Mehrfach in seiner Vita änderte Schleiermacher seine Auffassung gegenüber der Verbindlichkeit festgelegter liturgischer Texte. So hatte Schleiermacher die Geistlichen im Blick auf das Abendmahl noch 1804 „von dem Zwang aller Formulare“ befreien wollen,155 in der „Praktischen Theologie“ aber forderte er, der Geistliche dürfe in der Abendmahlsliturgie am Wortlaut der Texte nichts ändern, sondern bestenfalls einzelne Elemente wegfallen lassen.156 Sogar ein Eingreifen des Kirchenregimentes hält der Berliner Professor für notwendig, wenn Geistliche eigenmächtig den Wortlaut der Abendmahlsliturgie verändern.157 Ebenso war der junge Schleiermacher noch der Meinung, das Vaterunser solle und müsse individuell immer wieder abgewandelt werden, um unerträgliche Monotonie zu vermeiden; später will er es unbedingt in der überlieferten Form erhalten.158 Insgesamt ist die Linie vom frühen zum späteren Schleiermacher klar: Die spontane Freiheit liturgischer Gestaltung wird zurückgedrängt und 152

SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 167 [Hervorhebung im Original]. SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 161. 154 SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 161. 155 Vgl. ALBRECHT: Schleiermachers Liturgik, 58. 156 Vgl. SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 161. 157 Vgl. ALBRECHT: Schleiermachers Liturgik, 57. 158 Vgl. ALBRECHT: Schleiermachers Liturgik, 39f; SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 163: „[…] im Gebet Christi herrscht das streng symbolische so vor, daß jede Aenderung dabei unzwekkmäßig ist und eine jede Paraphrase daran verwerflich“ [Hervorhebung im Original]. Vgl. auch aaO., 200. 153

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durch die – allerdings von der Instanz des Subjekts des Geistlichen und seiner „Überzeugung“ permanent kritisch zu hinterfragende – Bindung an die Tradition ersetzt, um die Gemeinschaft der Kirche über die Einzelgemeinde hinaus zu stärken und zu festigen (der Gedanke der überzeitlichen Gemeinschaft der Kirche durch die Jahrhunderte aufgrund der Bindung an die Tradition spielt demgegenüber bei Schleiermacher nur eine untergeordnete Rolle!159). – Predigt: Das religiöse Gefühl der einzelnen wird im Gottesdienst ferner durch die Predigt angeregt, deren Reflexion als „Theorie der religiösen Rede“ den größten Einzelabschnitt der Lehre vom Cultus in der „Praktischen Theologie“ ausmacht und somit wie bei Luther eine überaus zentrale Rolle spielt; sie ist der „Mittelpunkt“ des sonntäglichen Cultus.160 Ihr Hauptziel bestimmt Schleiermacher als „Erbauung“, nicht als Belehrung, wobei er konzedieren muss, dass es in jeder Predigt auch ein Moment der Belehrung und damit ein Moment des „Wirksamen“, nicht allein „Darstellenden“ geben müsse.161 Der Predigt habe es um die „Einheit des Gegenstandes“ im Sinne begrifflicher Klarheit zu gehen, wogegen etwa das Gemeindelied die „Einheit der religiösen Stimmung“ zum Ziel habe.162 Es ist das religiös empfindende Subjekt des Redners, das die anderen ‚anregt‘ (und selbst natürlich auch durch das biblische Wort angeregt ist!), das für Schleiermacher entscheidend wird. In der Predigt tritt der Liturg der Gemeinde geradezu exemplarisch gegenüber, weswegen die Predigt bei Schleiermacher von Gemeindegesängen als dem exemplarischen Moment des Miteinanders aller umgeben sein soll.163 Wie bereits bei Luther droht allerdings auch (und erst recht!) bei Schleiermacher eine Zurückdrängung des biblischen Wortes durch das dominierende Wort der Predigt. Schleiermacher beschreibt den Predigtprozess so, dass der Prediger das in dem biblischen Text zur Sprache kommende religiöse Bewusstsein des Urhebers des Textes nachkonstruieren, gleichermaßen in sich hinein assimilieren und als „Darstellung des religiösen Bewußtseins“ an die Gemeinde in Form einer thematisch stringenten Rede weitergeben müsse.164 159 Vgl. SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 124, wo er davon spricht, dass überlieferte Texte der Tradition u.a. der „lebendige[n] Erhaltung des Moments aus dem die Kirchengemeinschaften entstanden sind“, dienen. 160 Vgl. SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 131. 161 Vgl. ALBRECHT: Schleiermachers Liturgik, 36f. 162 Vgl. ALBRECHT: Schleiermachers Liturgik, 44; vgl. auch die Unterscheidung der Funktionen von Poesie und Prosa bei Schleiermacher und dazu ALBRECHT: Schleiermachers Liturgik, 41f. 163 Vgl. SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 139f. 164 SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 225; vgl. dazu auch DEEG: Predigt und Derascha, 489f; eine ganz ähnliche Weise des Wortverlustes im Kontext des Predigtprozesses findet sich gegenwärtig auch bei Wilfried Engemann (vgl. dazu DEEG: Predigt und Derascha, 254–257).

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

Wenn solchermaßen Predigt und Liturgie als Weisen bestimmt werden, in denen der Gemeinde – vermittelt durch den Geistlichen (!) – das entgegenkommt, was das jeweils individuelle religiöse Gefühl übersteigt und es deshalb anregt, dann ist es interessant zu beobachten, was fehlt und was bei Schleiermacher als mögliches „Externum“ nicht vorkommt: das biblische Wort einerseits, die konkrete Gestaltseite des liturgischen Vollzugs andererseits. – Das biblische Wort: Im Duktus der Überlegungen Schleiermachers wäre es denkbar und durchaus konsequent, wenn auch das biblische Wort in seiner liturgischen Formgestalt als Schriftlesung eine mit der „Liturgie“ vergleichbare Bedeutung erlangen und für das stehen würde, was die Einzelgemeinde aus ihrer Vereinzelung herausführt und gleichzeitig das religiöse Gefühl des Subjekts ‚von außen‘ anregt. Diese Rolle aber weist Schleiermacher den Schriftlesungen nicht zu. Im Gegenteil werden sie in der Liturgik Schleiermachers primär als Problem reflektiert, da sie die ästhetische Einheit des cultischen Organismus zu durchbrechen drohen.165 Auch in der Frage der Schriftlesungen änderte Schleiermacher seine Meinung im Laufe seines Lebens – auffallender Weise aber in entgegengesetzter Richtung als oben zur Bedeutung feststehender liturgischer Texte beobachtet. Im Agendenstreit des Jahres 1816 wollte Schleiermacher unkommentierte biblische Lesungen auf jeden Fall im Gottesdienst erhalten (gegen anderslautende Vorschläge der Liturgischen Kommission). In seinen späteren Ausführungen in der „Praktischen Theologie“ kann er sich vorstellen, dass ein vollständiger Cultus auch ohne Schriftlesungen auskommt.166 Drei Argumente verschränken sich dabei: (1) Die Lesungen im Gottesdienst seien faktisch nur zu einer Zeit nötig gewesen, als es noch keine Lesebibeln für jedermann gab; (2) die lediglich gelesenen Texte seien für die Gemeinde ohnehin nicht verständlich; (3) angesichts des überwältigenden Gesamteindrucks des Cultus hätten die einzelnen Texte kaum eine Chance zu wirken.167 Die vermittelnde Position, die Schleiermacher ab 1829 einnimmt, sieht dann so aus, dass es lediglich eine Lesung im Gottesdienst geben soll, besonders dann, wenn Evangelium und Epistel nicht in einem thematisch stringenten und für die Gemeinde nachvollziehbaren Zusammenhang stehen.168 Die Vorstellung von der „Einheit des Cultus“ lässt dem unter Umständen fremdartig-herausfordernden Wort der Bibel keine Chance.169 Im Gegenteil: die Schrift solle idealerweise „unvermerkt“ in den 165

Vgl. ähnlich ALBRECHT: Schleiermachers Liturgik, 53. Vgl. ALBRECHT: Schleiermachers Liturgik, 53f. 167 Vgl. ALBRECHT: Schleiermachers Liturgik, 53. 168 Vgl. ALBRECHT: Schleiermachers Liturgik, 54f. 169 Vgl. SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 136–139. 166

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Gottesdienst verwoben sein.170 Die Neuentdeckung und ästhetische Reflexion der Feiergestalt des Gottesdienstes bedeutet also – kurz formuliert – liturgischen Bibelverlust, wie vergleichbar die dominante Rolle der mündlichen Predigt bei Luther zu diesem Bibelverlust führen konnte. Dabei legt Schleiermacher aber allen Wert darauf, dass das „Wort“ im Mittelpunkt des evangelischen Gottesdienstes steht (es gilt, dass „das Wort das Centrum des Gottesdienstes geworden ist“171); dieses aber führt nun nicht dazu, die möglicherweise als fremdes Wort die Einheit des Cultus gefährdende Bibel in den Mittelpunkt zu rücken, sondern vielmehr die in der Gestalt der Predigt ihren Mittelpunkt findende Feiergestalt des Wortes im „lebendigen inneren Zusammenhang“ der Feier.172 – Die konkrete Feiergestalt: Wenn Schleiermacher intensiv auf das „Fest“ als Analogie zum Cultus rekurriert und die Kunst als formales Prinzip des Gottesdienstes betont, wäre es naheliegend, wenn er dabei auch auf die äußeren Vollzüge (Körperhaltung, Bewegung etc.) achten und auch diese als das religiöse Gefühl des einzelnen möglicherweise erweiternd und herausfordernd beschreiben würde. Dies allerdings geschieht nicht. Im Gegenteil sieht Schleiermacher den Cultus als „seinem Wesen nach geistiger Art. Die Feier der Gemeinde ist daher als innere Beteiligung zu denken.173 Deshalb kommen sinnliche Elemente als Darstellungsmittel für den Cultus nur sehr bedingt und sehr begrenzt in Frage.“174 Schleiermachers Cultus ist vor allem ein sprachliches Geschehen, ein Sprachkunstwerk.175 Gerade an diesem Punkt erkennt Schleiermacher den wesentlichen und notwendigen Gegensatz zum Cultus im Katholizismus, zum Judentum und Heidentum, die gegenüber der Geistigkeit des evangelischen Cultus auf einer niederen Stufe verharren würden.176 „Zu beiden [hier: zum jüdischen und heidnischen Gottesdienst, AD] bilden wir mit unserem Cultus den reinen Gegensaz, und er ruht darauf, daß im Christenthum das Wort das überwiegende ist, weil der christliche Gottesdienst ein geistiger ist und der

170

SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 136. SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 139. 172 SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 139. 173 „Je weniger unser Gottesdienst mechanisch ist, desto mehr muß man voraussezen, daß die Gemeinde selbst mit dem Gedanken die Liturgie begleitet“ (SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 159f). 174 ALBRECHT: Schleiermachers Liturgik, 17; Albrecht bemerkt: „Offenbar bezieht sich F. Schleiermacher hier auf die Stelle von der Anbetung im Geist und in der Wahrheit (Joh. 4,24)“ (ebd., Anm. 18). 175 Vgl. SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 75. 176 Vgl. ALBRECHT: Schleiermachers Liturgik, 18, und SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 75f.108 [hier erscheint das Katholische „als eine verringerte Christlichkeit“!]. 171

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

Geist sich unmittelbar nur durch das Wort verständlich macht. Wo symbolische Handlungen hervortreten, ist auch das sinnliche vorherrschend über das geistige.“177

Die Mimik etwa gehört für Schleiermacher nur als „die Rede begleitend“ zum christlichen (evangelischen) Gottesdienst. Keinesfalls dürfe sie – etwa als religiöser Tanz – eigenständige Bedeutung gegenüber der Rede erhalten.178 Zugespitzt kann Schleiermacher dann formulieren: „Aus dem Gebiet der religiösen Darstellung soll also alles leidenschaftliche ausgeschlossen sein […].“179 Im Kontext des Cultus wird es für Schleiermacher durch Predigt und Liturgie (nicht aber durch das biblische Wort und nicht durch die konkrete Körperlichkeit der Feier) möglich, dass sich das unbestimmte religiöse Gefühl des einzelnen in ein bestimmtes verwandelt, dass also ein allgemeines religiöses Gefühl spezifisch christlich gefüllt wird.180 Dieses Geschehen denkt Schleiermacher nicht (primär) kognitiv, sondern als „Erbauung“ (und folglich im Modus des Gefühls!). Letztlich erhält der Cultus, der im Kontext der Schleiermacherschen Ethik auf der Seite des darstellenden, nicht aber wirksamen Handelns zu stehen kommt,181 damit doch einen „Zweck“, indem es seine Aufgabe ist, den einzelnen mit einem bestärkten und modifizierten religiösen Gefühl zu entlassen.182 Wichtig für das Gelingen dieser Funktion des Cultus ist die Rolle, die der Geistliche dabei spielt. Ist er noch beim jungen Schleiermacher der „Reden“ als einer unter vielen gedacht und wird das Anliegen des „Priestertums aller“ idealiter in den Mittelpunkt gerückt, so verschiebt sich dies in der „Praktischen Theologie“, in der Schleiermacher den Cultus konstitutiv 177

SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 80. SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 109; vgl. insg. 109f. 179 SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 112. 180 Vgl. ALBRECHT: Schleiermachers Liturgik, 23. – Interessant ist in diesem Zusammenhang Schleiermachers Einsicht, jeder Cultus müsse „so viel als möglich casuell sein“ (SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 153). Er gehe hervor aus dem, was die Gemeinde religiös bewegt und erregt und was der Pfarrer als Teil der Gemeinde mitbekommt, und führe dies durch die Feier in einen verändernden Deuterahmen. 181 Vgl. MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 200–203. 182 Vgl. zu dieser Zweckbestimmung des Cultus SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 75: „Der Zwekk des Cultus ist die darstellende Mittheilung des stärker erregten religiösen Bewußtseins“ [im Original hervorgehoben]. Die Unterscheidung von „Zweck“ und Wirksamkeit entspricht etwa der von Wirkung und Funktionalisierung, die an neuere liturgische Entwürfe angelegt werden könnte (vgl. vor allem DINKEL: Was nützt der Gottesdienst). – Vgl. dazu ausführlicher STROH: Schleiermachers Gottesdiensttheorie; Stroh möchte – u.a. im Rückgriff auf Schleiermachers Überlegungen in der „Christlichen Sitte“ – aufweisen, dass „die landläufige Rezeption von Schleiermachers Kultusverständnis allein vom darstellenden Handeln her als problematisch“ anzusehen sei (65). Schleiermacher selbst ordne wesentliche Aspekt des Gottesdienstes auch dem wirksamen Handeln zu. 178

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vom „Gegensaz zwischen Liturg und Gemeinde“ aus denkt.183 Sowohl in der Predigt spielt der Pfarrer eine entscheidende Rolle als auch in der Liturgie. In letzterer hat er vor allem das höhere bzw. weiter entwickelte religiöse Gefühl den übrigen Feiernden voraus. So schreibt Schleiermacher in seinen Ausführungen zur Abendmahlspraxis: „[…] in dem Geistlichen soll ein höherer Grad der religiösen Stimmung erregbar sein und ein höherer Grad der religiösen Mitempfindung als in den einzelnen Gemeindegliedern. Sein Mitgefühl soll die Andacht der übrigen erhöhen […].“184

Scharf interpretiert formuliert Schleiermacher mit diesem Satz eine Art Donatismus des religiösen Gefühls: Der Geistliche gerät durch seine eigene religiöse Erregbarkeit und Erregung in eine emotional-religiöse Priesterrolle!185 Ebenfalls sehr einlinig gefolgert bedeutet dies das Problem, dass die herausfordernde Fremdheit bzw. die das eigene subjektive Glaubensempfinden übersteigende Externität bei Schleiermacher wesentlich durch den Geistlichen und seine Worte der Predigt einerseits, sein in der Feier der Liturgie sichtbar werdendes religiöses Gefühl andererseits bestimmt werden. Kritisch beleuchtet folgt daraus eine pastoraltheologische Überforderung einerseits, eine reichlich ‚unevangelische‘ Rollenzuweisung andererseits, die allerdings – wie noch zu zeigen sein wird – in evangelischer Praxis und in evangelischen Konzeptionen durchaus Widerhall findet – von Schleiermacher über die sogenannte ältere liturgische Bewegung eines Julius Smend oder Friedrich Spitta bis hin zur Metapher vom „Führer ins Heilige“, die Manfred Josuttis seit einigen Jahren profiliert.186 Bei Schleiermacher wird es möglich, die liturgische Problematik der neuzeitlichen Transformation der Religion auf die Ebene der empfindsamen und empfindenen Subjektivität zu studieren. Es zeigen sich Leerstellen (das zurückgedrängte biblische Wort, die vernachlässigte Feiergestalt) und Aporien (das Verhältnis von individuellem religiösem Gefühl und ‚objektiver‘ Liturgie, die Frage nach der Rolle des Geistlichen). Gleichzeitig aber ist ein schlichter Rückgang hinter Schleiermacher keinesfalls möglich. Die bloße 183 SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 135; auch als den „Gegensaz zwischen Klerus und Laien“ kann Schleiermacher diese Spannung bezeichnen, die in dem evangelischen Gottesdienst liege, zugleich „aber auch relativ aufgehoben werden muß“ (ebd.). 184 SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 143. 185 Es sei nochmals gesagt: Die faktische Dominanz der Rolle des Geistlichen im Kontext der Gemeinde im Entwurf Schleiermachers widerspricht vielen Überlegungen in seiner „Praktischen Theologie“ zur theoretischen Relativierung dieser Dominanz im Kontext des Priestertums aller. Vgl. nur die Fundamentalbestimmung: „Der eigentliche Zweck der religiösen Gemeinschaft ist also die Circulation des religiösen Interesses, und der Geistliche ist darin nur ein Organ im Zusammenleben“ (SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 65 [im Original hervorgehoben]). 186 Vgl. dazu vor allem unten Kap. 3.2.3 sowie 5.3.2.

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Behauptung der Objektivität und Externität der Feiergestalt der Liturgie etwa unterläuft die Komplexität des Problems, wenn sie die Frage einfach eliminiert, wie sich die einzelnen empfindenden und denkenden religiösen Subjekte gottesdienstlich verstehen und verhalten. Daher werden die aufgewiesenen Problemlagen auch in der gegenwärtigen Diskussion fortgeführt, wie ich durch eine knappe Wahrnehmung der Überlegungen von Wilhelm Gräb und Michael Meyer-Blanck im Folgenden zeige. 2.2.1.3 Wilhelm Gräb und Michael Meyer-Blanck: Das glaubende Subjekt und die diskursiv-kommunikative religiöse Deutungsleistung Die Schleiermacher-Rezeption in der Theologie verläuft in den vergangenen 200 Jahren – wenigstens bei gehöriger Abstraktion – in Wellenbewegungen. Phasen begeisterter Aufnahme des subjektivitätstheologischen Umbruchs des Kirchenvaters des 19. Jahrhunderts wechseln sich mit Phasen strikter Zurückweisung ab. Dies gilt generell für die Theologiegeschichte, aber auch speziell für die Liturgik. Die Mitte des 19. Jahrhunderts war zunächst durch Konfessionalismus und Restauration eine Zeit, in der Schleiermachers Anliegen eher zurückgewiesen wurden, bevor sie dann in der liberalen Theologie neu entdeckt und durch die beiden herausragenden Vertreter der älteren liturgischen Bewegung Julius Smend und Friedrich Spitta auch liturgisch und liturgiepraktisch rezipiert wurden.187 Nach einer Phase der Zurückdrängung kam es erst seit dem ‚anthropologischen‘ Umbruch der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder zu einer Schleiermacherbegeisterung, die sich zunächst auf dessen subjektivitätstheologischen Ansatz, dann – unter ästhetisch-theologischen Vorzeichen – auf seine Wahrnehmung des Gottesdienstes als „Feier“ und seine Einordnung des liturgischen Handelns in den Bereich des „darstellenden Handelns“ bezog.188 Ein kurzer Blick auf zwei bedeutende liturgietheologische Stimmen der Gegenwart soll zeigen, wie sich die subjektivitätstheologische Formatierung neuzeitlicher Liturgik gegenwärtig artikulieren kann. Es zeigt sich – sowohl bei Wilhelm Gräb (1) als auch bei Michael Meyer-Blanck (2) –, dass dabei nicht das religiöse Gefühl, sondern vor allem die kognitive Deutungsleistung des ‚frommen Subjekts‘ Bedeutung erlangt.

187

Vgl. dazu unten Kap. 3.2.2 sowie 3.3. Es wäre ein eigenes, spannendes Kapitel der Theologiegeschichte, Schleiermachers Rezeption in liturgicis näher zu untersuchen. 188

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(1) Wilhelm Gräb geht in seinem 2002 erschienenen Buch „Sinn fürs Unendliche“ von den Umwälzungen der Reformationszeit aus. Gräb beschreibt diese als den Weg vom Magisch-Mythischen zum Diskursiv-Rationalen: „Der Protestantismus verlegt die Praxis der Religion ins distanzierte Hören und Lesen. Im Hören und Lesen muß der Sinn der Wörter und Buchstaben allererst entwickelt und in komplexen Vermittlungsprozessen erschlossen werden.“189

Im Blick auf die Schrift erkennt Gräb, dass diese nun nicht mehr „magischmythisch“ gebraucht worden sei, „sondern als Medium der Mitteilung von Bedeutung und Sinn“.190 Es gehe damit bei der protestantischen Konzentration auf das Wort um die Hochschätzung der „rationalen Argumentation und der diskursiven Begründung“.191 Dies führe unweigerlich „zur Entritualisierung und Enttheatralisierung der Praxis der Religion“.192 Für Gräb folgt daraus die Praxis neuzeitlichen Christentums, in dem sich eine Verschiebung von der Objektivität einer Vorgabe hin zur Subjektivität der (kognitiven!) Deutung und Interpretation vollziehe. Auch der Gottesdienst gehört hinein in diese Interpretationskultur. Für deren Gestaltung fordert Gräb, dass der Weg gehen müsse „weg von der autoritären Behauptung absoluter Vorgegebenheiten von Heilsgütern (Wort und Sakrament), die angeblich der kirchlich autoritativen ‚Verwaltung‘ und Vermittlung bedürfen, hin zur kommunikativen Mitbeteiligung aller an geistlicher Kommunikation Interessierten hinsichtlich dessen, wofür die Kirche da ist und unter den modernen gesellschaftlichen Lebensbedingungen auch gebraucht wird.“193

Die Vermittlung von Außen (dem „distanzierten“ Wort) und Innen (dem verstehenden und Sinn erkennenden Subjekt) denkt Gräb folglich so, dass der Zusammenhang zwischen beiden vom rationalen Subjekt selbst vollzogen wird. Wird hier, so lässt sich fragen, der Schritt vollzogen von einem in der Tat problematischen Objektivismus der Liturgieauffassung hin zu einem radikal-subjektiven Konstruktivismus? Luther dagegen war, wie oben (Kap. 2.1.1) gezeigt, der Meinung, dass es der göttliche Geist ist, der die eigentliche Deutung liefert und gerade so einen nun eben nicht „kom189

GRÄB: Sinn fürs Unendliche, 194. GRÄB: Sinn fürs Unendliche, 161. 191 GRÄB: Sinn fürs Unendliche, 125; vgl. auch aaO., 194f. 192 GRÄB: Sinn fürs Unendliche, 161. Das Zitat in seinem Zusammenhang lautet: „Die Schrift führt, sobald sie nicht magisch-mythisch, sondern als Medium der Mitteilung von Bedeutung und Sinn gebraucht wird, zur Entritualisierung und Enttheatralisierung der Praxis der Religion – dann auch zu ihrer Verflüssigung ins Literarische.“ Vgl. auch Klies Beobachtung: „Das protestantische Selbstbewußtsein denkt die Praxis des Evangeliums tendenziell a-kultisch: als Darstellung einer frommen Gestimmtheit“ (KLIE: Zeichen und Spiel, 281). 193 GRÄB: Sinn fürs Unendliche, 258. 190

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plexen Vermittlungsprozess“, sondern einen zwar umwälzenden, aber letztlich doch sehr einfachen Aneignungsprozess bewirkt, der ein Prozess der Zueignung und damit zugleich ein Enteignungsprozess ist, weil er das Subjekt sich selbst entzieht und so neu konstituiert.194 Theologisch tut sich daher eine deutliche Differenz zwischen den Aussagen des Reformators zum Glauben als Wortereignis und den Ausführungen Gräbs zum selben Thema auf. Die liturgische Konsequenz aber scheint bei Luther und Gräb überraschend vergleichbar. Von „Entritualisierung und Enttheatralisierung“ hätte wohl auch Luther angesichts seiner Geringschätzung des Äußerlichen im Blick auf die Gestaltung des Gottesdienstes sprechen können. In jedem Fall zeigen sich in der Folge der Entwicklung des evangelischen Gottesdienstes genau diese Konsequenzen. Damit wird nochmals deutlich, dass die Art und Weise der theologischen Bestimmung des Gottesdienstes (allgemeiner: der Gott-Mensch-Relation, die im Gottesdienst ihre Gestalt findet) in unmittelbarem Zusammenhang mit der Art und Weise seiner konkreten Gestaltung zu sehen ist. Banaler und grundlegender: Inhalt und Form bedingen sich gegenseitig. Dieser nach mehr als 20 Jahren einer ästhetisch orientierten Praktischen Theologie selbstverständliche Grundsatz konnte für Luther noch nicht im Blick sein, weswegen er die äußeren Formen für vergleichsweise unwichtig hielt. Bei Wilhelm Gräb hingegen findet sich ein konsequent neuzeitlich formatiertes Christentum, das eine stimmige Form-Inhalt-Relation setzt, die sich theologisch aber von den Ansätzen Luthers entfernt. (2) Michael Meyer-Blanck wählt einen mit Gräbs Position durchaus vergleichbaren Ausgangspunkt, denkt diesen aber im Dialog mit Luthers liturgischen Überlegungen weiter. Auch Meyer-Blanck spricht bei der allgemeinen reformatorischen Akzentuierung des Gottesdienstes auf das Wort und bei der spezifischen Konzentration auf das Predigtwort von einer „Kulturrevolution“195 und führt dies so fort: „Die Kommunikation in Sachen Religion vollzieht sich nicht mehr rituell, sondern diskursiv.“196 Damit ist eine klare Alternative von ritueller versus diskursiver Kommunikation gesetzt, bei der allerdings gefragt werden kann, ob sie zwar phänomenologisch einer faktischen Entwicklung im evangelischen Gottesdienst und seinem Verständnis entspricht, aber liturgietheologisch dennoch in eine andere Richtung weist, als es Luthers Insistieren auf die Pro-voka-

194

Vgl. auch ASSEL: Zur evangelischen Lehre vom Gottesdienst, 42f. MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 37. 196 MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 37 [Hervorhebung AD]; vgl. ähnlich auch aaO., 41.177. Vgl. auch aaO., 62: „Das objektive heilige Geschehen [der römischen Messe, AD] wird subjektiviert.“ 195

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tion durch das ‚fremde‘ „Wort Gottes“ und auf die Gott-menschliche Kommunikation als Basis jedes gottesdienstlichen Geschehens vorgibt. Freilich weiß Meyer-Blanck, dass Luther mit dem „Wort“, auf das hin der Gottesdienst zentriert wird, nicht nur das Medium zwischenmenschlicher Kommunikation meint, sondern spezifisch das „Wort Christi“ und damit das Wort als „Medium der Beziehung zwischen Gemeinde und Gott“.197 Gleichzeitig aber, so betont Meyer-Blanck zu Recht, fokussiert Luther das Wortgeschehen auf das Geschehen der Predigt. Dieses wird bei MeyerBlanck nun als ein Geschehen der diskursiven Verständigung interpretiert.198 Wie aber kann diese Verständigung so erfolgen, dass nicht ein inhaltlicher Konsensus im Blick auf Aussagen des Predigers bereits den Erfolg der Kommunikationsbemühung ausmacht, sondern deutlich wird, dass es um eine spezifische Art der Verständigung geht, die das Wort als Wort Christi, als Gotteswort, versteht? An dieser Stelle ist für MeyerBlanck das individuell deutende religiöse Subjekt herausgefordert. Er schreibt: Die „aktuelle Kommunikation [des Wortes in liturgischem Kontext, AD] muss sich so vollziehen, dass die Hörenden das Wort als von Christus selbst gesprochen deuten, dass sie sich angesprochen fühlen, dass sie den Redenden als den Gott des Evangeliums (‚lieber Herr‘) identifizieren und dies dadurch bestätigen, dass sie ihrerseits antworten, was soviel heißt wie: als Personen in eigener religiöser Haltung (‚Ver-AntWortung‘) agieren und nicht als Adressaten von feststehenden, nur gehorsam zu erlernenden Ritengefügen.“199

Entscheidend ist – in Meyer-Blancks semiotischem Verständnis des Gottesdienstes200 – die religiöse Deutungsleistung des Subjekts, die dazu führt, „dass wir uns selbst explizieren können, Sprache finden, ausdrucksfähig und unserer Existenz gewiss werden“.201 Nur diese Deutungsleistung mache aus der menschlichen Kommunikation im Kontext der Predigt und des Gottesdienstes insgesamt (wozu auch die nicht-verbalen Zeichensprachen gehören!) ‚mehr‘ – nämlich: Gottes Wort. Damit sei, so Meyer-Blanck, dem evangelischen Gottesdienst das „Verständige, Nüchterne“ eingeschrieben, das seine „bleibende Stärke“ ausmache, „eine stets unterschwellige Reflexivität bei aller Begeisterung“.202 Im mathematischen Vergleich gesagt seien die Evangelischen als „reflektierte Gottesdienstbesucher […] ‚Ritualisten in 197

MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 36. „Religion ist nicht da, wo geheimnisvolle Rituale und Formeln ihren Platz haben, sondern da, wo man sich verständigt“ (MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 37). 199 MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 38 [Hervorhebung AD]. 200 Vgl. dazu besonders MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 70. 201 MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 39. 202 MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 38. 198

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1. Ableitung‘.“203 Mit diesem mathematischen Bild versucht Michael Meyer-Blanck am Ritual so festzuhalten, wie es von Luther herkommend seines Erachtens möglich erscheint: gebrochen durch die kognitive Deuteleistung des religiösen Subjekts. Er erkennt dabei zu Recht, dass „das von außen ergehende Wort […] nur durch Prediger und Gemeinde funktioniert“ (wenngleich vielleicht besser formuliert werden sollte: nur im Kontext der (zwischen-)menschlichen Kommunikation geschieht).204 Und er sieht in der Reformation den Versuch, weder ein heilsobjektivistisches Gottesdienstverständnis noch ein rein konstruktivistisches durchzuführen, sondern eines, das die objektive Christuswirklichkeit mit der subjektiven Interpretation des Glaubenden in ein angemessenes Verhältnis setzt.205 Ob aber die Verschiebung auf die reflexive Deutungsleistung des Subjekts unter Absehung von der pneumatologischen Bestimmung, wie sie Luthers Theologie des Wortes prägt (vgl. 2.1.1), und damit die Fortsetzung und Bestätigung des typisch neuzeitlichen Wegs von Außen nach Innen in eine angemessene Richtung weist, muss m.E. gefragt werden. Charakteristisch anders spricht Hans-Georg Gadamer in „Wahrheit und Methode“ von der Bedeutung des Spiels für den Spielenden. In einem Zitat, das Michael Meyer-Blanck seinem Buch „Inszenierung des Evangeliums“ als Motto voranstellt, heißt es: „Der Spielende weiß wohl, was Spiel ist, und daß, was er tut, ‚nur ein Spiel ist‘, aber er weiß nicht, was er da ‚weiß‘. […] Das Subjekt des Spieles sind nicht die Spieler, sondern das Spiel kommt durch die Spielenden lediglich zur Darstellung.“206

Im selben Zusammenhang (zum „Begriff des Spiels“) legt Gadamer allen Wert darauf, die Fiktion zu überwinden, als gebe es im Umgang mit einem Kunstwerk „das Gegenüber eines ästhetischen Bewußtseins und eines Gegenstandes“.207 Genau dieses Gegenüber möchte Gadamer epistemologisch dekonstruieren, indem er auf das „Spiel“ rekurriert. In diesem nämlich gehe der Spieler selbst im Spiel auf – und nur so erfülle das Spiel seinen Zweck. Es gelte sehr einfach: „Wer das Spiel nicht ernst nimmt, ist ein Spielverderber.“208 Und folglich: „Die Seinsweise des Spieles läßt nicht zu, daß sich der

203

47.

MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 38; vgl. auch ders.: Inszenierung des Evangeliums,

204

MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 40. Vgl. dazu MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 71–73. 206 GADAMER: Wahrheit und Methode, 97f; vgl. MEYER-BLANCK: Inszenierung des Evangeliums, 5. 207 GADAMER: Wahrheit und Methode, 97; vgl. insgesamt aaO., 84–96 [Kritik der Abstraktion des ästhetischen Bewußtseins]. 208 GADAMER: Wahrheit und Methode, 97. 205

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Spieler zu dem Spiel wie zu einem Gegenstande verhält.“209 Wäre aber nicht genau dies die Pointe des Ritualismus in ‚erster Ableitung‘? Dass hier ein Teilnehmer am Ritual das Ritual als Gegenstand betrachtet – und damit den eigentlichen Charakter des Rituals reflektierend und distanzierend unterläuft? Für Gadamer gilt: „Unsere Frage nach dem Wesen des Spieles selbst kann daher keine Antwort finden, wenn wir sie von der subjektiven Reflexion des Spielenden her erwarten. Wir fragen statt dessen nach der Seinsweise des Spieles als solcher.“210

Liturgisch gewandt würde das bedeuten: Auf die Frage nach dem ‚Wesen des Gottesdienstes‘ lässt sich von der subjektiven Reflexion des Feiernden ausgehend keine Antwort gewinnen, sondern nur von der „Seinsweise“ des Gottesdienstes selbst her. Gadamer springt in seinen Überlegungen zum Spiel an dieser Stelle zurück zur Frage nach der Ästhetik des Kunstwerkes und stellt für dieses fest: „Das Kunstwerk hat […] sein eigentliches Sein darin, daß es zur Erfahrung wird, die den Erfahrenden verwandelt.“211 Es ist selbst das Subjekt der Kunsterfahrung, wie auch das Spiel selbst das Subjekt der Erfahrung der Spielenden ist. Damit übernimmt das Spiel die Initiative und entlastet so das Subjekt des Spielers, da es ihm die „eigentliche Anstrengung des Daseins“ abnimmt, weil es eben nicht durch die eigene Subjektivität konstituiert wird.212 Dieser Charakter des Spiels gilt nach Gadamer auch und sogar gesteigert dort, wo das Spiel – etwa als kultisches oder profanes Schauspiel – für andere gespielt wird. Faktisch höbe sich die „Unterscheidung von Spieler und Zuschauer auf“; der Zuschauer trete „an die Stelle des Spielers“ und gehe so im Spiel auf.213 Damit aber werde die Identität des Subjekts eben nicht fixiert, sondern verwandelt; Gadamer spricht von einer „Verwandlung ins Gebilde“.214 Diese Verwandlung sei dort nicht mehr möglich, wo die ästhetische Unterscheidung einsetzt, wo also das Subjekt reflektierend auf die Darstellung oder das Spiel zugreift.215 In diesem Sinn unterscheidet Gadamer dann auch zwischen „Bild und Zeichen“; das eine habe „Verweisfunktion“, das andere gebe teil und habe teil „an dem, was es abbildet“.216 209

GADAMER: Wahrheit und Methode, 97. GADAMER: Wahrheit und Methode, 98. 211 GADAMER: Wahrheit und Methode, 98. 212 Vgl. zu dieser Phänomenologie des Spiels GADAMER: Wahrheit und Methode, 100 [dort auch das Zitat]. 213 GADAMER: Wahrheit und Methode, 105. 214 Vgl. GADAMER: Wahrheit und Methode, 105–115, bes. 106f. 215 Vgl. GADAMER: Wahrheit und Methode, 112. 216 GADAMER: Wahrheit und Methode, 146. 210

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Ob Gadamer hier nicht auf der anderen Seite ‚vom Pferd fällt‘ und eine Objektivität des Werkes (oder Spieles) behauptet, die das Werk in seiner Selbsttätigkeit behaupten kann, ohne auf den immer vorhandenen Mit- und Nachvollzug des Subjekts zu achten, kann gefragt werden (nota bene: Es geht Gadamer um die „Ontologie des Kunstwerks“!217). In jedem Fall aber stellt seine Sicht eine ernst zu nehmende Infragestellung der Wahrnehmung der Bedeutung der kognitiven Deuteleistung des Subjekts bei MeyerBlanck dar. So sehr dieser die Unhintergehbarkeit der – auch (!) – reflexiven Leistung des glaubenden Subjekts betont, stellt sich doch die Frage, ob dies die Praxis der Religion nicht auf problematische Weise auf die Leistung des fromm-nachdenkenden Subjekts fixiert und damit gerade die Provokation der Konzeption Luthers subjektivitätstheologisch unterläuft und sogleich die Entlastung des Subjekts, die sich im Gottesdienst ereignet, aus dem Blick verliert.218 Das Problem bleibt bestehen: Kann man in erster Ableitung spielen oder (Gottesdienst) feiern – oder bedeutet der starke Ausgangspunkt bei der kognitiven Verständigung nicht letztlich doch die Entwertung von Spiel und Feier? Wird der in Ableitung Spielende nicht automatisch zum „Spielverderber“, der das Spiel nicht mehr ernst nimmt, und der in Ableitung Feiernde zum Beobachter in Halbdistanz?219 Und müsste folglich nicht deutlicher gefragt werden, ob und inwiefern die „Ritualisten in 1. Ableitung“ durch einen neuen Rekurs auf die ‚Fremdheit‘ und Unverfügbarkeit des Evangeliums lernen müssten, sich in ihrem eigenen reflexiven Zugriff heilsam zu beschränken? Um gleichzeitig damit gegenüber einem alles in sich 217

Vgl. GADAMER: Wahrheit und Methode, 97–127 [Hervorhebung AD]. Vgl. hierzu auch Meyer-Blancks Aufnahme der Position Schleiermachers in den Kontext einer lutherischen Theologie und Liturgik; Meyer-Blanck schreibt: „Mit seiner pragmatistischen Lehre von der Konsubstantiation bereitet Luther das Verständnis von Religion in der Moderne vor: In der Religion ist der Mensch ganz bei sich, aber nun gerade so, dass dieses Bei-sich-sein als Nicht-bei-sich-sein erfahren wird, als ein von außerhalb seiner selbst des Selbstseins Innewerden, als eine Lebenssteigerung und Lebensvertiefung durch ein beglückendes Sich-selbst-Fremdwerden. Schleiermacher hat dies dann mit dem Begriff des Gefühls ‚schlechthinniger Abhängigkeit‘ zum Ausdruck gebracht; die Pointe dieses Begriffs ist es ja gerade, dass auch hier eine subjektive (‚Gefühl‘) und eine objektive (‚Abhängigkeit‘) Komponente gerade so untrennbar miteinander verwoben sind, dass der rechte usus ebenfalls darin liegt, dass ‚alles im Glauben begriffen‘ und nicht analytisch getrennt und damit zerstört wird, was nur als Gesamtphänomen seinen rechten usus hat“ (MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 72). – M.E. verbindet Meyer-Blanck damit die Position Schleiermachers und vor allem auch die weitere Entwicklung des modernen Subjekts auf interessante, aber wohl doch zu harmonische Weise mit dem Denken Luthers. 219 Von liturgischen Spielverderbern spricht auch Karl-Heinrich Bieritz – und meint damit Liturgen, die symbolische Handlungen verbal verdoppeln und jeweils vor der Handlung explizieren, was jetzt gleich geschehen wird. Bieritz formuliert scharf: „Lass es doch sein, möchte man der Spielverderberin zurufen. Sag doch einfach, was das Ganze soll, und damit hat sich’s. Wozu noch Wasser, Salböl, Brot, Wein und all das andere Zeug, wenn wir den Sinn auch jenseits der Handlung, jenseits des Zeichens haben können?“ (BIERITZ: Bildet Gottesdienst Gemeinde, 16). 218

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hineinziehenden starken Subjekt der Neuzeit befreiende Entfremdung zu erfahren? Um das Außen nicht in das Innen aufgehen zu lassen? – Diese Fragen beschreiben das bereits in der Reformationszeit aufbrechende Problem des prekären Verhältnisses von Innen und Außen in spezifisch neuzeitlicher Zuspitzung. Gleichzeitig ist es durch Meyer-Blancks Überlegungen möglich, die vereinfachenden Alternativen hinter sich zu lassen. Denn der schlichte Rekurs auf eine Objektivität der Liturgie trägt nicht, ebensowenig wie eine bewusst und selbst gewählte Naivität des einzelnen im Zugang zur Liturgie. „Einer vermeintlichen religiösen Unmittelbarkeit im protestantischen Gewande fehlt die Durchschlagskraft.“220 Es ist interessant, dass Michael Meyer-Blanck bei der Darstellung der Gottesdiensttheologie Luthers wenige Seiten nach dem mathematischen Bild der „Ritualisten in 1. Ableitung“ auch ein anderes, eher physikalisch-musikalisches Bild gebrauchen kann und von „Christusresonanz“ spricht.221 Damit sei „eine höchst aktive Passivität“ im Blick, die das eigentümliche Miteinander von Gottes und des Menschen Handeln im Gottesdienst zum Ausdruck bringen könne.222 „Das Hören des einzelnen Menschen auf den mit ihm redenden Christus und die Resonanz des Herzens sind die Phänomene, an denen erst klar wird, dass Gott ein gebender und kein nehmender, ein dem Menschen zugute handelnder Gott ist.“223

Allerdings ordnet Meyer-Blanck auch dieses Bild dann in sein Konzept der „Deutungsleistung des Menschen“ ein,224 ohne die Herausforderung, die durch die passive Aktivität im Bild der Resonanz entsteht und auf ein Geschehen verweist, das sich weder einlinig kognitiv als „Deutung“ noch einlinig aktiv als „Leistung“ ausdrücken kann, weiter zu bedenken.225 Die Frage bleibt damit bestehen: Wie kann die subjektivitätstheologische Verschiebung der Neuzeit so liturgietheologisch reflektiert werden, dass es 220

MEYER-BLANCK: Inszenierung des Evangeliums, 45. MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 42. 222 MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 42. 223 MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 42. 224 MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 42. 225 Vgl. auch MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 62f: „Verlangt sind von ihm [dem Menschen, AD] nicht heilige Handlungen, sondern eben Deutungsleistungen – denken, danken, im Herzen realisieren.“ – Vgl. dazu auch BIERITZ: Bildet Gottesdienst Gemeinde, 11, der in Aufnahme semiotischer Überlegungen drei Dimensionen der Rezeption des gottesdienstlichen Geschehens unterscheidet: die syntaktische oder ästhetische, die semantische oder kognitive und die performative. Auch in dem Dreischritt von „Wahrnehmen, Verstehen und Gestalten“ kann Bieritz die drei Dimensionen zur Sprache bringen. Damit ist die kognitive Dimension nur eine von drei ineinander verzahnten Weisen der Rezeption. 221

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

gelingt, die spezifische Externität des Wortes, die nach Luther für den Gottesdienst entscheidend ist, in ein Denkmodell einzufangen und im Blick auf die liturgische Gestaltung zu reflektieren? Dies führt weiter zur Reflexion der Bedeutung des „Wortes“, die ich als die Frage nach dem Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit untersuche. 2.2.2 Schriftlichkeit und Mündlichkeit – oder: vertikale Ewigkeit vs. horizontale Aktualität des Wortes Mit den Begriffen Schriftlichkeit und Mündlichkeit sind Themen evoziert, die in der philosophisch-hermeneutischen Diskussion der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem durch die Kritik Jacques Derridas am „Logozentrismus“ der abendländischen Philosophie (und Theologie) grundlegende Bedeutung erlangten. Sie sollen hier im Sinne der Problemkonturierung dieses Kapitels eingeordnet werden in die Frage nach dem Verständnis des Wortes in liturgischem Kontext. Vereinfachend unterscheide ich die Dimension der vertikalen Ewigkeit des Wortes von der Dimension seiner horizontalen Aktualität (vgl. dazu auch Kap. 5.3.1) und gehe in drei Schritten vor: Zunächst soll genauer wahrgenommen werden, wie Luther die Mündlichkeit des Wortes im Verhältnis zur Schriftlichkeit bestimmt (2.2.2.1), dann beschreibe ich ausgehend von Derrida das Problem eines spezifisch liturgischen Logozentrismus (2.2.2.2), bevor ich abschließend die liturgische Frage nach dem Verhältnis von Horizontalität und Vertikalität in den gegenwärtigen Diskurs angesichts einer neuen Sehnsucht nach Religion einordne und somit als Frage für die Weiterarbeit zusammenfassend bestimme (2.2.2.3). 2.2.2.1 Luthers Betonung der Mündlichkeit oder: Kommunikation der viva vox evangelii Für Luther spielt die Mündlichkeit des „Wortes“ im Blick auf den Glauben die entscheidende Rolle. Es entspreche der Natur des Wortes, gehört – und nicht etwa gesehen – zu werden, so Luther bereits in seiner ersten Psalmenvorlesung (1513–1516) in der Auslegung zu Ps 85,9 („Könnte ich doch hören, was Gott der HERR redet, dass er Frieden zusagte seinem Volk …“): „[…] verbum dei non nisi auditu percipitur. Natura enim verbi est audiri.“226 Die Mündlichkeit des Wortes steht für dessen Externität, gleichzeitig bewirkt sie die Eindeutigkeit der Anrede durch dieses Wort und entspricht 226

WA 4, 9, 18f.

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dessen Inhalt. Luther zeigt dies in der Vorrede zu seinem 1522 erschienenen verdeutschten Neuen Testament, indem er an die Erzählung vom unerwarteten Sieg Davids über Goliath erinnert und ausführt: „Denn Euangelion ist eyn kriechisch wortt, und heyst auff deutsch, gute botschafft, gute meher, gute newzeytung, gutt geschrey, davon man singet, saget und frolich ist, gleych also do Dauid den grossen Goliath uberwand, kam eyn | gutt geschrey, und trostlich newzeyttung unter das Judisch volck, das yhrer grewlicher feynd erschlagen, und sie erloset, zu freud und frid gestellet werden, dauon sie sungen und sprungen unnd frolich waren, Also ist dis Euangelion Gottis unnd new testament, eyn gutte meher und geschrey ynn alle wellt erschollen durch die Apostell, von eynem rechten Dauid […].“227

Form und Inhalt entsprechen einander: Das Evangelium als frohe Botschaft verkündigt die Befreiung durch Christus und zeigt unmittelbare Wirkung – anders als Luther dies in den Büchern Moses entdeckt, die „eyn gesetz oder lere buch“ seien und folglich anders, nämlich lesend, rezipiert würden.228 Schriftlichkeit und Mündlichkeit verhalten sich also, Luther zufolge, wie Gesetz und Evangelium, wodurch deren Unterscheidung, gleichzeitig aber auch deren unverzichtbare Zusammengehörigkeit unterstrichen wird.229 Diesen Gedanken führt Luther in seiner „Kirchenpostille“ (1522) weiter aus und unterscheidet zwischen der „Schrift“ und dem mündlichen Wort des Evangeliums, wobei er mit „Schrift“ die „schrifft der propheten und Mosi des allten testaments“ meint, mit Evangelium das mündliche Wort, das diese Schrift aufschließt und deutet.230 Das „Neue Testament“ wird in seinem materialen Verständnis als Euangelion zum Hermeneuten des Alten Testaments. Luther schreibt: „Und Euangeli eygentlich nitt schrifft, ßondern mundlich wort seyn solt, das die schrift erfur truge, wie Christus und die Apostel than haben; Darumb auch Christus selbs nichts geschrieben, ßondern nur geredt hatt, und seyn lere nit schrifft, sondern

227 WA.DB 6, 2,23–4,5. Vgl. aaO., 6, 23f: „Syntemal Euangelion nichts anders ist noch seyn kann, denn eyn predigt von Christo Gottis und Dauids son […].“ Vgl. dazu auch HOLL: Luthers Bedeutung, 562, sowie EBELING: Evangelische Evangelienauslegung, bes. 366f. 228 Vgl. WA.DB 6, 8, 3–11. Aufgrund der materialen Bestimmung der „frohen Botschaft“ kann Luther in der genannten Vorrede zum Neuen Testament auch innerhalb des Neuen Testaments unterscheiden und „die rechten und Edlisten bucher“ benennen – nämlich das Johannesevangelium, die Briefe an die Römer, Galater und Epheser sowie den Ersten Petrusbrief (vgl. WA.DB 6,10,29–35). Evangelium ist nicht eine Literaturgattung, kein schriftlich vorliegender Text, sondern mündliche Predigt von der Freiheit in Christus Jesus. 229 Vgl. BEUTEL: In dem Anfang war das Wort, 238–243. 230 WA 10,1,1, 15, 1–5, Zitat: 2f.

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Euangeli, das ist eyn gutt botschafft odder vorkundigung genennet hatt, das nitt mit der feddernn, ßondern mit dem mund soll getrieben werden.“231

Entscheidend kommt es nicht auf die „allte schrifft“, sondern auf „das lebendige wortt auß der allten schrift“ an, das durch „gutte, gelerte, geystliche, vleyssige prediger“ ausgehe.232 Prediger verhalten sich folglich wie Christus und bringen mit ihrer Verkündigung zugleich Christus selbst vor die Gemeinde, so dass sich die christologischen Dimensionen exemplum und sacramentum auch homiletisch verschränken. In seiner „Fastenpostille“ aus dem Jahr 1525 unterstreicht Luther die Wirkung des mündlichen Evangeliums als „gut gerucht, rede, geschrey von Christo“233; durch dieses wende sich der Mensch vertrauensvoll an Christus selbst; durch dieses entstehe Glaube als diese Hinwendung. Die zitierte Wendung findet sich in der Auslegung der Erzählung von der Heilung des Aussätzigen (Mt 8,1–4). Dieser habe sich voller Zuversicht an Jesus gewandt und ihn um Heilung gebeten. Solche Zuversicht aber sei der eigentliche Glaube und könne nie aus eigener Vernunft entstehen, sondern nur so, dass der Aussätzige bereits von Jesus und seinen Handlungen gehört habe. Genauer: Er habe „eyn gut geruchte von Christo“ bereits empfangen, nämlich „wie er so gütig, gnedig, barmhertzig sey“. „Soelch geschrey mus on zweyffel fur seyne oren komen seyn.“234 Luther deutet hier eine Leerstelle in Mt 8,1–4 (Woher weiß der Aussätzige von Jesus?) so, dass die Predigt des Christusereignisses in die Erzählung eingetragen wird. Gleichzeitig verbindet er dies mit Röm 10,17 („Der Glaube kommt aus der Predigt“) und überträgt die Erzählung von der Heilung des Aussätzigen so in die Gegenwart.

Es ist Luther also um die Macht, Wirksamkeit und – wie gezeigt – Eindeutigkeit der Sprache und ihrer Wirkung zu tun, weswegen er auf die Mündlichkeit rekurriert. Gleichzeitig verbindet sich dies mit der Grundlegung seiner theologischen Anthropologie und seiner Lehre von Gott. Gott und Mensch werden dynamisch im Geschehen des Wortwechsels bestimmt (was für den Gottesdienst entscheidend wird). So definiert Luther den Menschen in seiner „Disputatio de homine“ (1536)235 durch die Anrede Gottes und beschreibt ihn passivisch in der Wendung „hominem iustificari fide“ (These 32)236. Das Menschenbild und das Gottesbild Luthers entsprechen sich. Gott 231 WA 10,1,1, 17, 7–12; vgl. aaO., 625–627, wo Luther den Stern, den die Weisen aus dem Morgenland sehen, als mündliche und öffentliche Predigt, die die Schrift erschließt und auf Christus weist, deutet. 232 WA 10,1,1, 626, Zitate: 13.17f.16f. 233 WA 17, 2, 73, 35. 234 WA 17, 2, 73, 21.21f.23. 235 WA 39,1, 174–180. 236 WA 39,1, 176.

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wird als redender Gott, als worthafter Gott („verbatus Deus“) bezeichnet,237 der Mensch als hörender und angesprochener. Entscheidend für die Wirkung des mündlichen Wortes ist bei Luther der Geist.238 Das mündliche äußere Wort führt durch den Geist als gehörtes zur inneren Erfahrung. Horst Beintker fasst dieses lutherische Verständnis von äußerem und innerem Wort zusammen und schreibt: „Verbum externum: das bezeichnet im reformatorischen Schriftverständnis Gottes Handeln durch das mündliche Wort des Evangeliums und Gesetzes, also das Predigtwort, und durch das sakramental handelnde Wort der leiblichen Zeichen in Taufe und Abendmahl, also das Sakrament. Verbum internum: das heißt Gottes Wort in bezug auf das beim Hören und Empfangen des äußeren Wortes erfolgende innerliche Erfahren des Wortes Gottes durch mitgehendes Bewirken des Heiligen Geistes.“239

Das äußere Wort mit seiner materialen Bestimmung als „gute bottschaft“ gehört selbstverständlich hinein in die Sprache dieser Welt und fällt aufgrund seiner pneumatologisch vermittelten Wirkung doch kategorial aus dieser heraus. Es ist jenes Wort, das ‚ich‘ mir selbst nicht sagen kann und durch das ‚ich‘ „in alienis“ neu gebildet, neu konstituiert werde.240 Die Betonung des mündlichen, verkündigten Wortes mit seiner vom Geist bestimmten Wirkung führt dazu, dass das Wort sich dem üblichen, vernünftigen Verstehen entzieht. Es ist – paradox formuliert – eine antihermeneutische Hermeneutik, die sich aus dem Festhalten am verbum externum ergibt (bzw. vorsichtiger formuliert: eigentlich ergeben müsste!), wenigstens dann, wenn Hermeneutik mit einem Mainstream des 19. und 20. Jahrhunderts als „Überwindung der Fremdheit“ und „Aneignung des Fremden“ verstanden wird.241 Für Luther kann gerade nicht die „Überwindung der Fremdheit“ das Ziel des Verstehens sein; vielmehr bedeutet ‚Verstehen‘ umgekehrt die Verfremdung des Ich ins Wort hinein. In zweierlei Hinsicht allerdings wurde die Externität des Wortes in der Geschichte der Reformation nicht durchgehalten: (1) Hermeneutisch war es eine – sehr verkürzt formuliert – positivistische Philologie, die in dem Glauben stand, die Aussage der Schrift verstehen 237

Vgl. WA 31/1, 511, 29. „Verbatus enim deus seu praedicatus deus i.e. verbum dei vel iustificatur vel damnatur ab hominibus“ (aus der Auslegung zu Ps 51, 1530). 238 Wie auch umgekehrt die Gabe des Geistes ans Wort gebunden wird. In den Schmalkaldischen Artikeln schreibt Luther, „daß Gott niemand seinen Geist gibt ohne durch oder mit der vorhergehend äußerlichen Wort“ (BSLK 453,18f; vgl. dazu auch WA 17/2,459,35–460,6, und dazu RINGLEBEN: Art. Wort Gottes). 239 BEINTKER: Verbum Domini Manet in Aeternum, 168. 240 Vgl. hierzu WA 39/I, 492,3: „constituamur in alienis“. 241 Vgl. GADAMER: Gesammelte Werke, Bd. 2, 285.

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und die „Fremdheit“ im verstehenden Zugriff überwinden zu können. Greifbar wird diese Hermeneutik am deutlichsten in dem 1567 erschienenen Werk „Clavis Scripturae Sacrae“ des Matthias Flacius Illyricus. Hatte Luther noch von der „claritas“ der Schrift als einer „claritas interna“ gesprochen, die im verbum externum verborgen liege und sich als Gewissheit nur durch den Geist im Glauben erschließe, so verwandelt sich die „claritas“ nun in eine – wie sich sagen ließe – claritas externa sive obiectiva, die durch den philologisch geschulten Zugriff auf die Texte der Bibel ermöglicht wird. In der „Clavis Scripturae Sacrae“ des Flacius wird dazu der bereits seit der Antike in der (praktischen) Philosophie und Rhetorik bekannte Begriff des „Scopus“ in (bibel-)hermeneutischer Hinsicht aufgenommen. Wie der Faden der Ariadne im Labyrinth, so verhelfe der Skopus, sich im Text zurechtzufinden und seine Aussage ‚recht‘ zu erkennen.242 Aufbauend auf diese Hermeneutik war es für die altprotestantische Orthodoxie möglich, eine Glaubenslehre im Ausgang von der Schrift zu entwickeln und auszubauen. Dabei grenzte sich bereits Flacius scharf von der römisch-katholischen Art der Schriftauslegung ab. Hier habe man einzelne Textteile ohne Bezug auf den Scopus willkürlich gedeutet „ähnlich den spielenden Mädchen, die nach ihrem Gefallen Blumen auf der Wiese pflücken und daraus Kränze flechten.“243 Gegen eine solche Hermeneutik versucht Flacius durch Rekurs auf den Scopus, den „simplicem ac genuinem Sacrarum literarum sensum“ zu ermitteln.244

Diese humanistisch-philologische und zugleich theologische Argumentation ist selbstverständlich berechtigt, wenn es darum geht, die Worte der Bibel im Kontext theologischer Wissenschaft zu verorten. Wenn die Suche nach Stringenz und Klarheit aber zur dominanten Umgangsweise mit dem Wort wird, gerät die „claritas interna“, die bei Luther pneumatologisch konturiert war, in die Bemächtigung des Menschen – allen voran des Predigers, der diese „claritas“ in verständlicher Rede an die Gemeinde weitergibt. Die herausfordernde und unabschließbare Dynamik des „Wortes“ wird damit hermeneutisch still gestellt. (2) Damit verwandelt sich die bleibende Externität in der Geschichte der evangelischen Kirche (und tendenziell wohl schon bei Luther selbst) in die Greifbarkeit der letztlich bekannten Mitteilung der Rechtfertigung durch den gnädigen Gott. Diese Verschiebung geht (wie bereits oben gezeigt!) einher mit der Betonung der „Predigt“ als Werkzeug der Vermittlung der Gnade Gottes und damit als scheinbarer (!) Garant der Externität des Wortes. Das „Wort“ wird aus dem liturgischen Vollzug herausgenommen und 242

Vgl. ZOVKO: Die Bibelinterpretation bei Flacius, 1171f. ZOVKO: Die Bibelinterpretation bei Flacius, 1176. 244 FLACIUS ILLYRICUS: De ratione cognoscendi sacras literas, 88. 243

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exklusiv in die Predigt hinein verlagert, die dann zur „doctrina“ wird, zur Weitergabe der (reinen) Lehre durch den dazu beauftragten Verkündiger des Wortes (so bereits die Begrifflichkeit bei Melanchthon und in der CA).245 Wo sich das verbum externum in die doctrina der Kirche verwandelt, verschiebt sich freilich auch die Wertigkeit des Wortes in seiner konkretmaterialen Gestalt der Bibel. Letztlich ist sie als ausgelegte und damit erschlossene und verstandene bedeutsam. Heinrich Bornkamm schreibt: „Sobald aber im Luthertum seit Melanchthon die Schrift als Lehre statt als Rede Gottes verstanden wurde, löste sich Luthers Einheit von äußerem und innerem Wort mit Notwendigkeit Stück um Stück auf. Der unmittelbar überzeugenden Kraft des einwohnenden inneren Wortes beraubt, verlangte die göttliche Lehre in der Schrift nach stützenden und hinweisenden Argumenten.“246

Im Blick auf Orthodoxie und Aufklärung erkennt Bornkamm dann: „Insofern haben die orthodoxe Inspirationslehre und die aufklärerische Auflösung der Bibel in Einzelschriften bestimmter Persönlichkeiten systematisch den gleichen Ausgangspunkt, den Zerfall der lutherischen Einheit von Wort und Geist.“247

Kurz und scharf formuliert: Die Predigt als protestantisches Sakrament garantierte nun in Form der „Sichtbarkeit“ und äußeren Wahrnehmbarkeit die Wahrheit der Kirche. Gleichzeitig aber verlor das gerade erst entdeckte „verbum externum“ seinen Ort und wurde zur theologischen Chiffre. Freilich gilt es, den theologischen Hintergrund dieser Entwicklung zu würdigen. Es war die Angst Luthers und anderer Reformatoren, die Bibel als „Heilige Schrift“ in einer Ferne zu belassen, die das Entscheidende aus dem Blick verliert: die Begegnung zwischen Gott/Christus und Mensch in ihrem Wort. Diese (berechtigte!) protestantische Angst lässt sich bis in Zeugnisse des 20. Jahrhunderts hinein wahrnehmen. So schreibt etwa Helmut Tacke, die Bibel dürfe nicht „den Schriftgelehrten überlassen werden […], weil sie eine Neigung haben, die Texte heiligzusprechen und zu versakramentalisieren. Am Ende liegt dann das Buch mit dem Goldschnitt auf dem Altar und wird nur noch zitiert und rezitiert. Aber die Bibel ist die Partitur eines Chores von großer Mehrstimmigkeit. Es wird nicht nur gregorianisch gesungen, sondern sehr volksliedhaft – und auch sehr dissonant –, und diese Stimmen müssen und wollen zum Klingen gebracht werden.“248 An anderer Stelle schreibt er: „Denn die Bibel ist 245 Charakteristisch erscheint hier auch die Übersetzung von Röm 10,17 durch Luther. Die „avțȠȒ“ wird zur „Predigt“ – und somit beherrschbar und machbar gegenüber der Kontingenz eines gelingenden Wortereignisses. 246 BORNKAMM: Wort Gottes bei Luther, 184f. 247 BORNKAMM: Wort Gottes bei Luther, 184. 248 TACKE: Mit den Müden zur rechten Zeit zu reden, 36.

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längst zu einem ‚heiligen Buch‘ geworden. Im orthodoxen Gottesdienst wird sie feierlich durch die versammelte Gemeinde getragen. Der Sache nach wird in unseren Gemeinden die Bibel ähnlich eingeschätzt. Sie ist ‚Heilige Schrift‘ und gehört in die Hände der Theologen.“249

Es zeigt sich zusammenfassend: Wo die Mündlichkeit den ständigen Bezug zur Schriftlichkeit des Wortes verliert, wird auch das pneumatologisch bestimmte Wechselspiel zwischen verbum externum und verbum internum prekär. Es kommt in liturgischem Kontext zu einem Phänomen, das sich, in einer Terminologie des 20. Jahrhunderts gesprochen, als liturgischer Logozentrismus bezeichnen ließe. 2.2.2.2 Das Problem des liturgischen Logozentrismus – oder: Kommunikation des Evangeliums Jacques Derrida prägte den Begriff des „Logozentrismus“ und erkannte in ihm ein grundlegendes Problem der abendländischen Philosophie seit Platon. In Platons Dialog „Phaidros“ findet Derrida den locus classicus der logozentrisch-philosophischen Entwicklung des Abendlandes. Bereits dort wird die Eigentlichkeit der mündlichen Mitteilung gegen die Vermittlung durch die Schrift gestellt.250 Was sich von diesem Ausgangspunkt aus in der abendländischen Philosophiegeschichte entwickelt habe, sei, so Derrida, „die Metaphysik des Logos, der Präsenz und des Bewußtseins“.251 Damit sei es zur „Erniedrigung der Schrift […], Verdrängung der Schrift aus dem ‚erfüllten‘ gesprochenen Wort“ gekommen.252 Es habe sich der „Glaube an eine außersystemisch validierende Präsenz“ oder an ein „Zentrum, das eine sprachliche Bedeutung bestätigt und fixiert, dabei aber selbst nicht in Frage gestellt oder überprüft werden kann“, eingestellt.253 Mit der Zuschreibung einer solchermaßen fixierten Bedeutung aufgrund der Setzung eines transzendentalen Signifikats, das alle Signifikationsprozesse im Sinne der Vereindeutigung dominiert, habe sich die Philosophie der Widerständigkeit der „écriture“, der Schrift mit ihren unbegrenzt offenen Signifikationsprozessen, entzogen.254 Die Direktheit und Kontrollierbarkeit der Bedeutung habe sich an die Stelle der Verzögerung und Uneindeutigkeit gesetzt, die der Schrift inhärent ist. 249

TACKE: Mit den Müden zur rechten Zeit zu reden, 38. Vgl. PLATO: Phaidros, bes. Kap. 59–64 [=274b–279c]. 251 DERRIDA: Grammatologie, 129. 252 DERRIDA: Grammatologie, 12. 253 HAWTHORN: Grundbegriffe, 188. 254 Vgl. zum Begriff der „écriture“ HAWTHORN: Grundbegriffe, 73–75. 250

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Es ist evident, dass diese Kritik am Logozentrismus die theologischen Grundlagen Luthers im geistgewirkten Wechselspiel von schriftlichem und mündlichem Wort nicht trifft: Bei Luther ging es um die durch den Geist je aktual erschlossene Schrift, die zu dem Ereignis des Wortes führt. Die Eindeutigkeit der Kommunikation wird nicht im (vernünftigen) Subjekt des Sprechers fixiert, sondern bleibt der horizontalen Verständigungsbemühung dauerhaft extern. Es ist also gerade keine feststehende außersystemische Präsenz, die im Blick ist, sondern eine dynamische Interaktion. Wohl aber kann Derridas Kritik am Logozentrismus die Entwicklung beschreiben, wie sie schon bei Luther selbst, dann aber erst recht im Luthertum später einsetzte – eine Entwicklung, die – wie gezeigt – die Widerständigkeit des Geschriebenen durch die Klarheit der ermittelten, dogmatisch korrekten Botschaft überwand. Aus diesem, wie sich formulieren ließe, dogmatischen Logozentrismus, der etwa die Zeit der „altprotestantischen Orthodoxie“ prägte, entwickelte sich neuzeitlich, als das autonome Subjekt emphatisch in den Mittelpunkt gerückt wurde, ein subjektivistischer Logozentrismus. Interessant ist z.B. Lessings Kritik an Luther. Er erkennt positiv, dass Luther die Menschheit vom Joch der Tradition befreit habe, fragt dann aber: „[…] wer erlöset uns von dem unerträglichen Joche des Buchstabens? Wer bringt uns endlich ein Christentum, wie du es itzt lehren würdest, wie es Christus selbst lehren würde!“255 Lessing sieht sich in der Nachfolge des Reformators auf dem Weg zur Vollendung der Reformation. Er plädiert für die Befreiung von der als „Joch des Buchstabens“ empfundenen Bindung an die Schrift bzw. an ein vorformuliertes Dogma. Diese möchte er überwinden, indem er die Externität des Überkommenen durch die Unmittelbarkeit der aktuell in der Gegenwart reformulierten Lehre Christi ersetzt. Faktisch ist damit die Externität aufgegeben und dient die ins Spiel geführte Christusautorität letztlich nur der Legitimation der eigenen, subjektiven Entschlüsselung dessen, was an Jesu Botschaft gegenwärtig noch gültig sei. Bei Lessing lässt sich damit die problematisch-subjektivistische Konsequenz einer Betonung der „Mündlichkeit“ studieren. Sie droht, das Externe in das Subjektive hinein aufzulösen, das Überzeitliche ins je Aktuelle, das Vorgegebene ins Selbstgemachte.256

255 LESSING: Werke, Bd. 8, 161; hier zitiert bei ZUR MÜHLEN: Wirkung und Rezeption Luthers im Zeitalter von Pietismus und Aufklärung, 476. 256 Vgl. hierzu auch BARTH: KD I/1, 108. Barth fragt angesichts der sowohl bei Lessing als auch im Tridentinum sichtbaren Zurückweisung der Schriftlichkeit des Kanons polemisch: „Hat sich nun Lessing des Katholisierens oder hat sich das Trienter Konzil eines […] Modernisierens schuldig gemacht?“

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Verwandelte sich in der Zeit der altprotestantischen Orthodoxie das dynamisch-pneumatologische Wortereignis in einen dogmatischen Logozentrismus, so wird die dogmatische Vorgabe als bestimmender Signifikat nun ebenfalls abgestreift. Das Äußere, Vorgegebene soll überwunden werden. Die Folge ist freilich, dass sich der Immanentismus verschärft: Was als Befreiung des Subjekts vom „Joch des Buchstabens“ gedacht ist, wirft dieses Subjekt auf sich selbst und in seine „incurvatio“ zurück. Eine Glaubenskommunikation, die weitergibt, was „Christus selbst lehren würde“ bleibt – im geometrischen Bild – horizontal. Die befreiende Vertikale, die das Subjekt aus der Horizontalen herausführt und „in alienis“ neu konstituiert, verschwindet. Das Anliegen Lessings konnte dennoch in der Theologie Bedeutung erlangen. Exemplarisch greifbar wird die logozentrische Problematik etwa bei Schleiermacher. In seinen Aussagen zur Bedeutung der „Heiligen Schrift“ in der Glaubenslehre betont er, dass es bei der Bindung an die Bibel nicht um den „stetige[n] Rekurs […, der Kirche, AD] auf ein bestimmtes Buch, sondern [um, AD] die stetige Bezugnahme auf das in diesem Buch dargestellte Lebenszeugnis Christi“ gehe.257 Das Christentum sieht Schleiermacher daher nicht primär als „Religion des Buches“, sondern als „eine Gemeinschaft, in welcher durch Wort und Tat das heilsgeschichtliche Wirken Christi tradiert wird.“258 Auch hier wird die Mündlichkeit gegen die Schriftlichkeit gestellt. Freilich will Schleiermacher dadurch die ‚Vertikale‘ genuin religiöser Kommunikation nicht unterbinden, sondern gerade erst ermöglichen. Dennoch lässt sich bereits bei Schleiermacher selbst, erst recht aber in der kulturprotestantischen Entwicklung des 19. Jahrhunderts, eine Verstärkung der horizontalisierenden Tendenz beobachten. Paul Tillich stellte in seinem 1926 erschienenen Band „Die religiöse Lage der Gegenwart“ fest, dass die protestantische Religion in der Entwicklung des Kulturprotestantismus „diesseitig“ geworden und es zur „Verendlichung“ gekommen sei.259 Diese ‚Horizontalisierung‘260 sieht er als eines der größten Probleme der evangelischen Religion in der Gegenwart. Schon vor Tillich war das Problem in liturgischer Zuspitzung formuliert worden. So meinte Friedrich Spitta in seinen Briefen „Zur Reform des evangelischen Kultus“, man werde durch die „nüchternen Formen“ lediglich intellektuell bewegt, man fühle sich im evangelischen Gottesdienst „in einen Hörsaal versetzt, wo ein Vortrag gehalten werden soll“, es finde sich „wenig Gebetsstimmung in unseren Kirchen“.261 Eine vergleichbare Kritik 257

STROH: Schleiermachers Gottesdiensttheorie, 264. STROH: Schleiermachers Gottesdiensttheorie, 264. 259 Vgl. TILLICH: Die religiöse Lage der Gegenwart, bes. 132; Zitat: 141. 260 Der Begriff steht so nicht bei Tillich. 261 Vgl. SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, 10f; vgl. auch unten Kap. 3.2.3. 258

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war auch der Motor der im Detail ganz anderen liturgischen Reformbemühungen der verschiedenen Spielarten der jüngeren liturgischen Bewegungen. Und neuerlich kam die Kritik auf, als Gottesdienstexperimente der späten 1960er und frühen 1970er Jahre das ‚Leben‘ zurück in die Gottesdienste holen wollten. Eberhard Jüngel meint, der Gottesdienst sei durch diese Experimente „unter die Tyrannei der Ethik“ gebeugt worden.262 Und nicht zuletzt sind es zielgruppenorientierte, niederschwellige, milieusensible gottesdienstliche Angebote, die gegenwärtig eine vergleichbare Kritik auslösen und Kritiker unter ästhetischen oder phänomenologischen Vorzeichen auf das „Andere“, auf die „Vertikale“, auf das „Religiöse“ oder „Heilige“ verweisen lassen.263 Die Problematik der liturgischen Horizontalisierung scheint mir eng verbunden mit dem, was ich liturgischen Logozentrismus nenne. Der Ausstieg aus der dynamisch-pneumatologischen Ereignishaftigkeit des Wortgeschehens in die sichere Klarheit der Botschaft des Evangeliums, die formuliert und bewahrt, weitergegeben und gelehrt werden kann, lässt sich als typisch theologischer bzw. liturgischer Logozentrismus beschreiben. Die Folge dieser Hermeneutik ist die liturgische Horizontalisierung – die Einebnung der Kommunikation auf die Ebene zwischenmenschlicher Verständigung. Ich erläutere dies, indem ich auf einen Begriff verweise, der aus der liturgischen (wie generell praktisch-theologischen) Diskussion der vergangenen Jahrzehnte nicht mehr wegzudenken ist und weithin als akzeptierte Formel gebraucht wird: der Begriff der „Kommunikation des Evangeliums“. Seit den 1950er Jahren wird er verwendet, besondere Wirkung erlangte er allerdings erst durch die Theologie Ernst Langes.264 Es steht außer Frage: Der Begriff „Kommunikation des Evangeliums“ wirkte sich in vieler Hinsicht positiv aus. Nicht nur war mit ihm ein überzeugender Terminus gefunden, der die verschiedenen Aktivitäten einer christlichen Gemeinde und des pastoralen Dienstes überzeugend auf eine theologische Mitte hin fokussieren konnte; gleichzeitig gelang es auch, die Beteiligung der Gemeinde an liturgischen und homiletischen Vollzügen in den Mittelpunkt zu rücken: Nicht Pfarrerinnen und Pfarrer sind die Träger der „Kommunikation des Evangeliums“, vielmehr ist ihre Aufgabe die einer besonderen cura für diese Kommunikation, die die Aufgabe der gesamten Gemeinde ist und deren ‚Wesen‘ ausmacht. Daneben aber scheint der Begriff problematisch, da er eine Horizontalisierung der (nicht nur) liturgischen Kommunikation befördern kann. Im Wesentlichen sind es zwei Problemaspekte, die sich mit der Formel verbin262

Vgl. JÜNGEL: Der evangelisch verstandene Gottesdienst, 290. Vgl. WAHLE: Das Heilige feiern. 264 Vgl. DOBER: „Kommunikation des Evangeliums“, bes. 259–263. 263

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den und die einmal das Verständnis von „Evangelium“, zum anderen das Verständnis von „Kommunikation“ betreffen: (1) Das „Evangelium“, von dem in der Formel die Rede ist, kann zum Objekt werden, das eine Kirche oder Gemeinde, das Pfarrerinnen oder Pfarrer zu ‚kommunizieren‘ haben. Ich greife nur auf ein beliebiges Beispiel zurück und zitiere aus dem Bericht eines Landesbischofs vor einer Synode. Der Bischof sagt darin: „Weil Glaube auf Gemeinschaft hin angelegt ist, ist die Kommunikation des Evangeliums das Herzstück kirchlicher Arbeit. Für eine dem Evangelium gemäße Kommunikation haben wir […] formuliert: Wir wollen offen, ehrlich und glaubwürdig miteinander umgehen. […] Kirche muss darum bemüht sein, die Kommunikation des Evangeliums so zu organisieren, dass diese nach innen und außen gut gelingt.“265

Die Kirche wird hier zum handelnden Subjekt einer Kommunikation, deren Inhalt das Evangelium ist. Es kommt zum Aktivismus im Umgang mit dem – scheinbar vorhandenen – Evangelium, auf das Kirche oder Prediger beliebig zurückgreifen können. Eben dadurch wird das Evangelium materialiter fixiert – dies freilich eine Entwicklung, die sich bereits seit der Reformationszeit in dem Versuch findet, die grundlegende Botschaft des Evangeliums begrifflich klar auf den Punkt zu bringen. Dass dieser Versuch auf der Reflexionsebene der Theologie unumgänglich ist, aber für die Frage nach der konkreten Gestalt der Kommunikation des Evangeliums nochmals eigens reflektiert werden muss, wurde bereits ausgeführt. Es ginge ja bei einer evangelisch verstandenen „Kommunikation des Evangeliums“ darum, eine Kommunikation zu gestalten, die dem, was Menschen kommunizieren können, entzogen bleibt. Damit ist bereits das zweite Problem im Blick. (2) Wenn „Kommunikation des Evangeliums“ bedeutet – wie Gunter Kennel formuliert –, dass sich „die Wahrheit des Evangeliums“ durch die hermeneutische Leistung des „konkreten kommunikativen Geschehen[s]“ erschließt,266 so wird damit die ‚horizontale‘ Kommunikations- und Deutungsleistung gegenüber der vertikalen Dimension des „Wortes“, die Luther nicht anders als pneumatologisch vermittelt denken konnte, betont.267 Mit Karl Barth gesprochen wird die Ebene des „menschliche[n] Wollen[s] und 265

Bischof Ulrich Fischer, zit. bei DEEG: „… das das wort ym schwang gehe“, 94f. So die Aufnahme der Formel Langes in einem neueren Aufsatz von Gunter Kennel, der hier exemplarisch für zahlreiche Verwendungen der Formel in der gegenwärtigen Praktischen Theologie steht; vgl. KENNEL: Musik als „Kommunikation des Evangeliums“, 85.91, Zitate: 85. 267 Im Ausgang von Ernst Lange formuliert Dober: „Es geht [beim Gottesdienst nach Langes Verständnis, AD] nicht um eine Inszenierung des göttlich-menschlichen Dramas oder des Heiligen, sondern um Zuspruch, um Anrede, um die Aufgabe der Kommunikation“ (DOBER: „Kommunikation des Evangeliums“, 263). 266

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Vollbringen[s]“ auf eine Weise dominant, die droht, die Ebene des göttlichen Handelns an den Rand zu drängen – und damit das „Wunder“, das Gott selbst spricht und sein befreiendes Wort ergreift.268 Vielfach aufgegriffen wurde in den vergangenen Jahren die Unterscheidung von einseitigen und zweiseitigen liturgischen Handlungen durch Michael Ebertz.269 Als einseitig werden dabei all jene liturgischen Vollzüge bezeichnet, die alleine einer kirchlichen Binnenlogik folgen; zweiseitig werden diejenigen liturgischen Handlungsvollzüge genannt, in denen sich menschliche Erwartungen und kirchliches Handeln verbinden. So sehr diese Beschreibung für die Wahrnehmung der Bedeutung des Kasualhandelns der Kirchen unbestreitbar entscheidende Bedeutung hat, so sehr nivelliert sie doch eine andere Logik, die der hier vorgebrachten Kritik an der Interpretation der Formel „Kommunikation des Evangeliums“ entspricht und die sich in der Frage ausspricht: Sind liturgische Handlungen insofern zweiseitig, als die dynamische Struktur von göttlicher Rede und menschlicher Antwort, von Katabase und Anabase, als entscheidendes Moment im Blick ist, oder einseitig, insofern sie primär auf die Kommunikationsmöglichkeiten im zwischenmenschlichen Kontext setzen? Nicht dass es darum ginge, das eine gegen das andere auszuspielen! Aber doch darum, zu erkennen, dass die Einzelnen und die Kirche in ihrem gottesdienstlichen Handeln nicht auf zwei Seiten stehen (Anbieter und Nachfragende!), sondern auf einer Seite: der Seite derer, die durch das externe Wort immer neu konstituiert werden (als Kirche und als Glaubende!) und die insofern von diesem Wortereignis leben.

Das angesprochene Problem lässt kritisch fragen, ob es mit der Wendung „Kommunikation des Evangeliums“ tatsächlich gelungen ist, ein modernes Pendant zu Luthers Torgauer Formel zu finden, die die Wechselrede von Wort und Antwort zum Grundvollzug des Gottesdienstes erklärt, wie Christian Grethlein und Günter Ruddat das meinen.270 Um der Klarheit des Gemeinten scheint es mir sinnvoller, das Anliegen der „Kommunikation des Evangeliums“ so zu reformulieren, dass besser von der „Kommunikation der viva vox evangelii“ gesprochen wird. Damit würde der spezifische Charakter einer Kommunikation betont, die jeder Machbarkeit entzogen ist. An zwei knapp vorgestellten Beispielen – einmal aus der Liturgiegeschichte, einmal aus der Gegenwart – zeige ich – diesen Unterpunkt abschließend –, dass die Horizontalisierung der Kommunikation in liturgischer Perspektive Wirkung zeigt, indem sie eine Tendenz hat, den Gottesdienst von all dem zu befreien, was dem unmittelbar-vernünftigen Einverständnis prima facie widerstreitet.

268

BARTH: KD I/1, 95. Vgl. EBERTZ: Einseitige und zweiseitige liturgische Handlungen. 270 Vgl. GRETHLEIN/RUDDAT: Gottesdienst – ein Reformprojekt, 23. 269

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(1) Der „Apostolikumsstreit“: 1892/1893 erreichte die kurz als „Apostolikumsstreit“ bezeichnete Auseinandersetzung ihren Höhepunkt. In ihr waren Kirchenpolitik und Theologie im Einzelnen auf sehr komplexe Weise miteinander verwoben.271 Es ging um die Verwendung des Apostolikums im Gottesdienst (eine Frage, mit der sich bereits Schleiermacher auseinandersetzte272), immer wieder vor allem um die Frage der „Jungfrauengeburt“, es ging um die Berechtigung historischer Kritik und um Macht und Einfluss von Synoden, Kirchenpräsidenten sowie des Kaisers als summus episcopus. Konkreter Anlass war die Amtsenthebung des württembergischen Pfarrers Christoph Schrempf, weil dieser sich weigerte, das Apostolikum im Gottesdienst zu sprechen (eine Praxis, die erst seit den Unionsbestrebungen des frühen 19. Jahrhunderts verbreitet war).273 Schrempf war keineswegs der erste Fall einer Amtsenthebung wegen der Verweigerung des Apostolikums, seine causa aber erhielt größte Aufmerksamkeit, weil Adolf Harnack im selben Jahr 1892 seine Schrift „Das Apostolische Glaubensbekenntnis“ vorlegte. Harnack stellt die historische Entwicklung des Apostolikums dar (nicht ohne mit ironischem Unterton die Wandelbarkeit des scheinbar auf apostolischen Ursprung zurückgehenden Symbols zu bemerken), zeigt, dass es durchaus Textveränderungen aufgrund besserer Einsicht gab,274 und kritisiert u.a. das Fehlen von Aussagen zur irdischen Wirksamkeit Jesu275 sowie die Lehren von der Himmelfahrt276 und Jungfrauengeburt277. Gleichzeitig betont er die Notwendigkeit für eine Kirche, „das alte Evangelium in den neuen Formen unserer Erkenntnis“ auszusagen – wie dies auch die Kirche durch die Jahrhunderte getan habe.278 An die Theologen gewandt schreibt Harnack: „Es ist das Vorrecht und die heilige Pflicht evangelischer Theologen, unbekümmert um Gunst oder Ungunst, an der reinen Erkenntniß des Evangeliums zu arbeiten und offen zu erklären, was nach ihrer Ueberzeugung der Wahrheit entspricht und was 271

Vgl. insgesamt KASPARICK: Lehrgesetz oder Glaubenszeugnis. Vgl. SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 158–161. 273 Vgl. KASPARICK: Lehrgesetz und Glaubenszeugnis, 41–43. 274 „Doch fehlen Schwankungen nicht ganz zum Beweise, daß eine lebendige Kirche nicht am Buchstaben kleben kann, wenn sie ein besseres Wort weiß oder dem Buchstaben einen sicheren Sinn nicht abzugewinnen vermag“ (HARNACK: Das Apostolische Glaubensbekenntnis, 16). 275 Vgl. HARNACK: Das Apostolische Glaubensbekenntnis, 34: „In diesem Sinne ist es unvollkommen; denn kein Bekenntniß ist vollkommen, das nicht den Heiland vor die Augen malt und dem Herzen einprägt.“ 276 Vgl. HARNACK: Das Apostolische Glaubensbekenntnis, 25. 277 Diese sei nicht auf die ältesten Texte des Neuen Testaments selbst zurückzuführen, sondern eine Entwicklung, die bei Mt und Lk einsetzt und in der Mitte des 2. Jahrhunderts ihren vollendeten Niederschlag findet; vgl. HARNACK: Das Apostolische Glaubensbekenntnis, 24f; vgl. auch aaO., 39f. 278 HARNACK: Das Apostolische Glaubensbekenntnis, 38. 272

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nicht. Ihre Pflicht ist es auch, im Namen der zahlreichen Glieder der evangelischen Kirche zu sprechen, die aufrichtige Christen sind und sich durch manche Sätze des Apostolikums, wenn sie sie als ihren Glauben bekennen sollen, in ihrem Gewissen gedrückt fühlen.“279

Den liturgischen Kontext und die Funktion des Credos als Doxologie würdigt die einseitig inhaltsorientierte Schrift Harnacks mit keinem Wort. Erst der Oberkirchenrat der preußischen Kirche nahm die Frage nach dem liturgischen Kontext des Apostolikums explizit in die Überlegungen zur Bedeutung dieses Bekenntnisses auf. In einem Zirkular-Erlass vom 25.11.1892 heißt es u.a., die Weglassung des Apostolikums würde „dem Kultus ein hohes Kleinod, der Gemeinde einen Höhepunkt der Sammlung und Anbetung rauben.“280 Harnack allerdings weist diese Verschiebung der Argumentationsebene von einer inhaltlich-kognitiven Ebene hin zu einer liturgisch-emotionalen als ‚unevangelisch‘ entschieden zurück. Er schreibt, dass die Aufnahme der liturgischen Frage als höchst bedenklicher, „uns direct auf die Linie der griechischen Kirche bringender Versuch“ zu tadeln sei. Dieser widerspreche radikal der freien „Gewissenspflicht“ des Protestantismus.281 Diese Verengung der Wahrnehmung bei Harnack erscheint durchaus typisch für die Art und Weise ‚liturgischer Textwahrnehmung‘ im Protestantismus (nicht nur) jener Tage. Auch wenn es unmöglich ist, gegenwärtige Fragestellungen unreflektiert auf die Entwicklungen damals zu projizieren, so ist es doch erstaunlich, dass das Apostolikum in den Auseinandersetzungen nur von wenigen als liturgisches Symbol gesehen und entsprechend behandelt wurde, sondern vielfach als Dokument rezipiert wurde, das vor allem die fides quae zu bestimmen bzw. zu prägen sucht.282 Es zeigt sich: Wo das gottesdienstliche Reden derart unter der leitenden Kategorie des kognitiven Verstehens und inhaltlichen Nachvollziehens betrachtet und damit horizontalisiert wird, siegt die Verstehbarkeit über die Poesie, die kognitive Nachvollziehbarkeit über die literarische Verdichtung, die Information über die Doxologie. (2) „Notwendige Abschiede“: Diese Tendenz ist durchaus aktuell. Ich verweise nur auf Klaus-Peter Jörns’ 2004 erstmals (und inzwischen bereits in vierter Auflage) erschienenes Buch „Notwendige Abschiede“ und noch 279

HARNACK: Das Apostolische Glaubensbekenntnis, 41. Zitiert bei KASPARICK: Lehrgesetz und Glaubenszeugnis, 65. 281 Zitiert bei KASPARICK: Lehrgesetz und Glaubenszeugnis, 77. 282 Vgl. KASPARICK: Lehrgesetz und Glaubenszeugnis, 107–110; ein liturgisches Verständnis deutet sich etwa auch dort an, wo für das Singen des Glaubensliedes als Alternative zum gesprochenen Credo votiert wurde. 280

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deutlicher auf seine liturgische Konkretion, die unter dem Titel „Lebensgaben Gottes feiern“ 2007 publiziert wurde. Jörns’ liturgische Epistemologie erinnert an die liberale Theologie eines Adolf (von) Harnack: Jörns versucht, eine historisch rekonstruierte ‚eigentliche‘ Botschaft Jesu mit Vorgaben unserer gegenwärtigen Kultur unter dem Leitmotiv „Lebendiger Glaube ist sich wandelnder Glaube“283 zu vermitteln. Daher müssten Sätze und Überzeugungen (selbst wenn sie biblisch zu begründen seien!284), die gegenwärtig nicht mehr nachvollziehbar und vermittelbar seien und die folglich der Annäherung an Jesus Christus im Wege stehen, eliminiert werden.285 In diesem Zusammenhang findet sich bei Jörns ein Rückgriff auf Platon – und zwar auf genau jene Stelle aus dem „Phaidros“, die oben bereits als Basis der Kritik Derridas an der Hochschätzung der Mündlichkeit gegenüber der Schriftlichkeit im abendländischen Denken genannt wurde. Allerdings argumentiert Jörns genau umgekehrt als Derrida – und kritisiert auf der Basis der idealen Mündlichkeit der Kommunikation, die erst eigentlich in der Lage sei, das Eigentliche (das das Innerste und Allgemeinste zugleich sei) zu kommunizieren, die Wendung des Christentums hin zu einer „Schriftreligion“, die die Tendenz habe, Lebenserfahrung zu verlieren.286 „Der Weg des Christentums zu einer auf Bibel, Dogmen und Bekenntnisschriften fixierten ‚Schriftreligion‘ ist ein Irrweg gewesen.“287

Es gilt für Jörns: „Nur wenn der Glaube mit einer erfahrbaren Wirklichkeit korreliert, erweist er sich als glaubwürdig.“288 Auf der Grundlage reformatorischer Theologie ist dieser epistemologische Basissatz nicht mehr denn eine Tautologie. „Glaube“ als die geistgewirkte Verwandlung des in sich verkrümmten Menschen in die Freiheit der Kinder Gottes kann nicht anders 283

JÖRNS: Notwendige Abschiede, 60–67, Zitat: 60. Vgl. JÖRNS: Notwendige Abschiede, 13f. Jörns sieht die Vorstellung des Kanons Heiliger Schrift als insofern grundlegend problematisch, weil durch diese Setzung verhindert werde, dass historisch-exegetische Kritik sich in gegenwärtige theologische Sachkritik verwandle. In Jörns’ eigenen Worten: „Wegen der Kanonisierung der Bibel als Heiliger Schrift darf der historischen Kritik der Texte, die heute gang und gäbe ist, keine theologische Kritik der Glaubensvorstellungen folgen, in denen biblische Autoren (zu uns) reden“ (aaO., 24). 285 Vgl. hierzu JÖRNS: Die neuen Gesichter Gottes; in diesem Band dokumentiert Jörns die Ergebnisse einer Umfrage zu Glaube und Religion in der Gegenwart. Der Gottesdienst kommt dabei nur am Rande und unter der negativen Fragestellung, warum Menschen nicht mehr zum Gottesdienst gehen, vor. Die häufigste Antwort: „Die Art des Gottesdienstes sagt mir nichts“ (vgl. aaO., 191f, Zitat: 192). Im Zusammenhang der Folgerungen aus der Umfrage für die Gestaltung der Gottesdienste hebt Jörns vor allem die Notwendigkeit hervor, in den Gottesdiensten der Kirche verstärkt die „personalen Beziehungen“ (aaO., 223) zu betonen – etwa durch Amtshandlungen, die die Lebenssituation genau wahrnehmen, oder durch Formen der Auslegung, die sich nicht als Kanzelmonolog gestalten (vgl. aaO., 223f). 286 Vgl. JÖRNS: Notwendige Abschiede, 142–144. 287 JÖRNS: Notwendige Abschiede, 146. 288 JÖRNS: Notwendige Abschiede, 26. 284

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denn mit der Lebenswirklichkeit von Menschen korreliert sein. Anders formuliert: Jörns geht von einem problematisch einseitigen Verständnis der „fides quae“ aus, die er mit „Glauben“ identifiziert – und setzt auf der Basis der menschlichen Erfahrungswirklichkeit zur Attacke gegen einzelne Glaubenssätze und überlieferte Syntagmen des Glaubens (etwa im Gottesdienst289) an. Im Kern trifft es dann die „Sühnopfer- und Erwählungsvorstellungen“, die Jörns mit einem gegenwärtig überzeugenden Gottes- und Menschenbild nicht mehr für vermittelbar hält.290 So sehr er in dieser Hinsicht durchaus berechtigte Einzelaspekte vorbringt, wird auf der Basis dieser Epistemologie der Gottesdienst doch zurechtgestutzt auf eine Ansammlung von Worten, die der Verständigungsbemühung von Menschen in der Gegenwart noch einholbar und vermittelbar und insofern „kulturkohärent“291 seien und der Botschaft Jesu entsprechen292 – mit der Folge der Konstruktion einer ‚harmlos‘ einlinigen Theologie des „bedingungslos liebenden Gott[es]“293. Die im Gottesdienst gesprochenen Worte werden damit zum Medium einer (horizontalen) nachvollziehbaren294 Verständigungsbemühung zwischen dem Liturgen und der Gemeinde. Die Herausforderung, Offenheit, Unsicherheit und Erwartung der Kommunikation der viva vox evangelii ist damit nicht annähernd im Blick. Die Formel „Kommunikation des Evangeliums“ muss nicht in dem hier kritisierten Sinn verstanden werden. Durchaus wäre es möglich, das „Evangelium“ als den eigentlich aktiven Part der Kommunikation zu bestimmen und damit die Unverfügbarkeit dieser spezifischen Kommunikation zu betonen. So gelesen wäre die Formel durchaus kompatibel mit der Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes, wie Karl Barth sie schulprägend formuliert hat. Diese hat ihre Pointe in dem Zusammenhang der drei Gestalten. Das lebendige Wort Jesus Christus, das Wort der Heiligen Schrift und das Wort der mündlichen Verkündigung verweisen irreduzibel aufein289

Vgl. JÖRNS: Notwendige Abschiede, 138f. Vgl. JÖRNS: Lebensgaben Gottes feiern, 156–184; ders.: Notwendige Abschiede, 286–341, und dazu auch DEEG: Opfer – Raum der Gottesbegegnung. Jörns kritisiert zu Recht ein im Laufe der Kirchengeschichte einseitig auf die Sühnopferdeutung verengtes Opferverständnis; anstatt aber die Weite des biblischen Opferbegriffs kritisch gegen dieses ins Feld zu führen, rät er zum Verzicht auf die Opfervorstellung insgesamt – und verbindet dies mit Aussagen über Gott, die nicht anders als dualistisch bzw. marcionitisch gedeutet werden können (vgl. nur JÖRNS: Notwendige Abschiede, 295, wo Jörns davon spricht, die Sühnopfervorstellungen seien als „vorchristlich“ zu werten, bzw. aaO., 329, wo Jörns meint, dass „dieser Gott [des Opfers, AD] starb, als Jesus als neuer Gott auferstand.“). – Vgl. zum Opferverständnis auch unten Kap. 6.2. 291 JÖRNS: Lebensgaben Gottes feiern, 43. 292 Vgl. JÖRNS: Lebensgaben Gottes feiern, 39.55–83. 293 JÖRNS: Lebensgaben Gottes feiern, 13; vgl. die liturgische Konkretion aaO., 149–194. 294 Vgl. zur Bedeutung des Nachvollziehbaren JÖRNS: Lebensgaben Gottes feiern, 156 und 156 Anm. 3. 290

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ander. Damit liegt – exemplarisch formuliert – im gelesenen Wort der Schrift die Verheißung des Christus praesens und der aktuell anredenden und herausfordernden Verkündigung von Gesetz und Evangelium. „Die Verheißung dieses Wortes [des Kanons, AD] lautet also: Immanuel!“295 „Gerade an der Schriftlichkeit des Kanons, an seinem Charakter als scriptura sacra, hängt seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit und also seine freie Macht gegenüber der Kirche […].“ Wenn hingegen eine mündliche Überlieferung die Basis sein sollte, so wäre die Kirche „dann doch wieder mit sich selbst allein und auf sich selber, auf ihre eigene Lebendigkeit angewiesen.“296

Ebenso gilt für die mündliche Verkündigung, dass sie nicht einfach „Wort Gottes“ ist, sondern dazu wird, wo der lebendige Christus in, mit und unter dieser Verkündigung und nicht ohne Bezug auf die Heilige Schrift sein Wort ergreift.297 „Wort Gottes“ wird von Karl Barth im Blick auf die Verkündigung als „Auftrag“, „Gegenstand“, „Urteil“ und „Ereignis“ zugleich bestimmt (wogegen eine logozentrisch-horizontalisierende Konzeption allein die Gegenstandsdimension bedenkt!).298 „Ohne dem Menschlichen seine Freiheit, seine irdische Substanz, seine Menschlichkeit zu nehmen, ohne das menschliche Subjekt auszulöschen oder sein Handeln zu einem mechanischen Geschehen zu machen, ist dann Gott das Subjekt, von dem das menschliche Handeln seinen neuen, wahren Namen bekommen muß. Seinen wahren Namen!“299

Theologisch ist Barths Konzept in der Lage, die Gestalten des Wortes hinreichend zu differenzieren und doch deren wechselseitigen Bezug aufeinander festzuhalten. Die Gestaltungsaufgabe aber ist damit noch keineswegs im Blick. Und sicher ist es kein Zufall, dass Karl Barth die Frage nach der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes jenseits des Bezugs auf die Predigt (dritte Gestalt) nicht weitergehend liturgisch reflektierte.300 295

BARTH: KD I/1, 110. BARTH: KD I/1, 107. In der Entdeckung dieser anredenden und herausfordernden Schriftlichkeit des Wortes erkennt Barth das Pathos der „Anfangszeit der Reformation. Was sich in Wittenberg und Zürich in den zwanziger, in Genf in den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts abgespielt hat“, könne genau diese Bibelbegeisterung illustrieren. „[…] weil dieses Buch als Kanon da ist, muß jetzt in der uns heute so erstaunlichen Quantität und Intensität gepredigt werden, wie es in dieser Zeit geschehen ist; darum, mit der Bibel und in der Bibel und durch die Bibel wird jetzt, was kirchliche Verkündigung ist, von der Kirche ganz neu entdeckt“ (aaO., 111). 297 „Im Ereignis des Wortes Gottes sind Offenbarung und Bibel in der Tat eines […]“ (BARTH: KD I/1, 116). 298 Vgl. BARTH: KD I/1, 90–101. 299 BARTH: KD I/1, 96f. 300 Vgl. BARTH: KD I/1, 89–128 [§4 Das Wort Gottes in seiner dreifachen Gestalt]. Dieser Satz gilt, obwohl Karl Barth als Analogie zum Verkündigungsgeschehen immer wieder auf die 296

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2.2.2.3 Die liturgische Frage: Vertikale Ewigkeit und horizontale Aktualität des Wortes Es ist deutlich geworden: Die Einordnung der liturgischen Kommunikation in das Paradigma der „Kommunikation des Evangeliums“ konnte dazu führen, eine bereits bei Luther angelegte und sich in der Moderne verstärkende Tendenz zu unterstützen, die das Evangelium in die Verstehens- und Verständigungsbemühung des ‚starken‘ Subjekts der Moderne hineinzieht und damit die Externität verliert, die für Luther entscheidend war. Es droht die Horizontalisierung des Wortes, das nicht mehr (wie bei Luther) das aktive Subjekt ist, dem Liturg wie Gemeinde gegenüber stehen, sondern das zum Medium der Verständigung zwischen Liturg und Gemeinde wird. Vereinfacht gesagt: Die horizontale Aktualität wird entscheidend und macht das Wort zum Objekt und Medium. Damit stellt sich die Frage: Wie kann die ‚Vertikale‘ (neu) entdeckt werden, die liturgische Kommunikation erst zu dem macht, was sie ist? Catherine Pickstock fragte in diesem Zusammenhang danach, wie die „Erotik“ des Wortes wiederentdeckt werden kann – jene anziehende Erwartung also, die mit dem Unvorgesehenen und Anderen rechnet.301 Auch Michael Meyer-Blanck stellt die Frage nach der liturgischen Vertikalen bereits in der Einleitung zu seinem Studienbuch „Liturgie und Liturgik“: „Wie kann Gottesdienst zum Erlebnis der Nähe Gottes werden, damit Menschen in ihrem religiösen Empfinden angesprochen werden und nicht nur informiert, moralisiert, instruiert – oder noch viel schlimmer als alles das: damit Menschen nicht gelangweilt werden?“302

Zwei entscheidende Folgefragen ergeben sich für ihn daraus: „1. Wie ist das Verhältnis der Kommunikation von Menschen untereinander und der Kommunikation mit Gott vorgestellt? 2. Wie ist die eigentümliche Kommunikation mit Gott für die kommunizierenden Menschen nachvollziehbar dramatisiert, in Szene gesetzt? Was passiert mit den Menschen im Gottesdienst, wie wird ihr religiöses Erleben aufgenommen, verändert, weitergeführt?“303

Deutung des Abendmahls verweist (vgl. nur aaO., 89f.97). Auch hier ist die irdische Materialität von Brot und Wein die nicht zu eliminierende und durch keine Theorie der Transsubstantiation metaphysisch zu übersteigende Basis. Und dennoch wird aus dem Irdischen im „Ereignis des Sprechens Gottes“ mehr und anderes (aaO., 97). 301 Vgl. PICKSTOCK: After Writing, und dazu unten Kap. 6.2. 302 MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 9. 303 MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 11.

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Meyer-Blancks erste Frage bezieht sich auf die theologische Deutungsebene, die zweite Frage auf die Gestaltung und Rezeption des Gottesdienstes. Was oben (Kap. 1) als abduktiver Weg des Theologietreibens beschrieben wurde, wird hier implizit in den beiden Fragestellungen nachvollzogen. Dabei trifft sich die liturgische ‚Sehnsucht‘ nach der Vertikalen, d.h. die Frage nach der „Kommunikation mit Gott“ bzw. nach einem Gottesdienst, der insgesamt bewusst als „Begegnung mit Gott“ (Peter Cornehl)304 verstanden wird, mit einer gegenwärtigen religiös-spirituellen Stimmungslage, die hineingehört in die komplexe Diskussion um die „Wiederkehr der Religion“ und in die allgemeine Sehnsucht nach religiöser Erfahrung. Sucht man in dem weiten Feld gegenwärtiger Bewegungen auf der Spur religiöser Erfahrung nach einer orientierenden Unterscheidung, so scheint mir die zwischen einem mystisch-introvertierten und einem phänomenologisch-extrovertierten Weg hilfreich. Für den ersten kann exemplarisch das 2009 erschienene Buch von Jörg Zink mit dem Titel „Gotteswahrnehmung“ stehen (1), für den zweiten die verhaltenswissenschaftlich-phänomenologische Neuorientierung, die Manfred Josuttis der Praktischen Theologie seit annähernd 20 Jahren einschreibt (2). (1) Der 1922 geborene Jörg Zink versteht sein Buch „Gotteswahrnehmung“ als das Vermächtnis eines alten Mannes. In ihm möchte der prominente Theologe „das Eine, das noch wichtig ist“, benennen und weitergeben.305 Dieses „Eine“ bestimmt er mystisch: „Gott schauen mit den offenen Augen der Seele“.306 Dazu möchte Jörg Zink zurücklenken zur Frage nach der religiösen Erfahrung – eine Frage, die die evangelische Theologie zum letzten Mal in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ernst genommen habe.307 Aufgabe sei es, dass die Kirche „eine am Evangelium orientierte Spiritualität finden müsse[], die Phänomene wie die religiöse Erfahrung der Menschen einschließt.“308 Diese „religiöse Erfahrung“ verortet Zink denkbar weit: Er zeichnet sie historisch in einen Bogen ein, der mit der Steinzeit beginnt und zu der die lebendige Beziehung zur Natur und den Ordnungen des Lebens gehört.309 Er bezieht sie auf den Mythos, den es gelte, gegenwärtig wiederzuentdecken und mit den seelischen Bilderwelten des kollektiv Unterbewussten zu verbinden.310 Auf dieser Grundlage profiliert Zink die „Kräfte der Intuition“ (im Anschluss an C. G. Jung als 304

Vgl. CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, 52 u.ö. ZINK: Gotteswahrnehmung, 11. 306 ZINK: Gotteswahrnehmung, 11; vgl. zu dieser mystischen Verortung auch aaO., 242–249. 307 Vgl. ZINK: Gotteswahrnehmung, 29; dass Zink hier wesentliche Entwicklungen der Theologie in den vergangenen Jahrzehnten (etwa die neue Frage nach dem Verhältnis von ästhetischer und religiöser Erfahrung) übersieht, sei dahingestellt (vgl. z.B. auch aaO., 70). 308 ZINK: Gotteswahrnehmung, 31. 309 Vgl. ZINK: Gotteswahrnehmung, 34–40. 310 Vgl. ZINK: Gotteswahrnehmung, 41–44. 305

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prä-kognitive Ahnung einer Bedeutung im Ausgang von einer Empfindung verstanden) als Gegenmittel gegen die Dominanz der Verstandeskräfte im abendländischen Denken. Diese Intuition sei die Voraussetzung für die angestrebte religiöse Erfahrung;311 theologisch verbindet Zink sie mit dem – im Protestantismus und generell in der abendländischen Theologie zurückgedrängten – Wirken des Geistes.312 Die Bibel kommt bei Zink vor allem als Dokument von Gotteserfahrung vergangener Zeiten und damit als Beleg für die Perseveranz von Gotteserfahrung durch die Geschichte bis in die Gegenwart vor,313 nicht aber als in ihrer Schriftlichkeit immer neue und widerständige Quelle der Gotteserfahrung.314 Der Wortbegriff ist bei Zink denkbar weit gedehnt. Schöpfungstheologisch argumentierend kommt Zink zu der Einsicht: „Das schaffende Wort macht aus der Welt einen Klangraum, und wenn wir den Klang auch der Stille in ihr hören, so kann uns auch das Hören der Stille zu einer Erfahrung Gottes werden.“315 Mit Nikolaus von Kues will Zink dann lieber nicht vom „Wort Gottes“, sondern von der „große[n] Stimme“ sprechen, da die Mündlichkeit des Wortes hier besser bewahrt und gleichzeitig die Einschränkung auf einen schriftlichen Kanon überwunden sei.316 So scheint es Zink auch möglich, die Begrenzung auf die eine Religion zu überwinden und mystisch den Grundstein zu „einer religiösen Weltkultur“ zu legen.317 Konsequent geht sein Weg dahin, die Suche nach dem Heiligen als Suche nach einer Erfahrung zu konturieren, die sich phänomenologisch an heilige Orte, heilige Wege, heilige Zeiten oder heilige Handlungen binden kann.318 Die Wege der Gotteswahrnehmung, zu denen Zink dann in der zweiten Hälfte seines Buches anleitet,319 weisen vor allem auf die intensive und staunende Weltwahrnehmung mit allen Sinnen, auf die Bedeutung von Traum, Trance, Vision, Ekstase und auf die religiöse Erfahrung mitten in solchen Erfahrungen des Lebens.320 Letztlich ist es auch für Zink die Deuteleistung des Menschen, die mehr oder weniger alltägliche Erfahrungen des Lebens in religiöse Erfahrungen transformiert. Christen machen, so Zink, „keine an311

Vgl. ZINK: Gotteswahrnehmung, 61–74. Vgl. ZINK: Gotteswahrnehmung, 238–241 u.ö. 313 Vgl. ZINK: Gotteswahrnehmung, 76–87; vgl. die Metapher „Die Bibel ist eine Lichterkette weitergesagter Gotteserfahrung“ (aaO., 76). 314 Vgl. besonders ZINK: Gotteswahrnehmung, 83; hier kritisiert Zink die Idee der Reformation, sich allein auf die Schrift zu gründen – unter Umgehung der Tradition. Vgl. auch die Auseinandersetzung mit der Zurückdrängung des Geistes in der gegenwärtigen Theologie und im antispiritualistischen Kampf der Reformation aaO., 118–120. 315 ZINK: Gotteswahrnehmung, 288. 316 Vgl. ZINK: Gotteswahrnehmung, 288f [Zitat: 288]. 317 ZINK: Gotteswahrnehmung, 303. 318 Vgl. ZINK: Gotteswahrnehmung, 111–113. In diesem Zusammenhang kommt Zink en passant auch auf den Gottesdienst zu sprechen und schreibt: „Was wir […] wiederfinden müssen, das sind die Spielführer, die Tanzmeister. Die, die Spiele erfinden und inszenieren, und die die anderen in ihre Spiele einbeziehen. […] Wir müssen wieder lernen, was zwischen Gott und uns geschehen ist und geschieht, im Spiel zu feiern, wenn irgend etwas von der christlichen Festüberlieferung in unserer heutigen Zeit übrig bleiben soll“ (aaO., 116f). 319 Vgl. hier auch die sieben Schritte der Einübung, mit denen Zink sein Buch schließt (ZINK: Gotteswahrnehmung, 309–352). 320 Vgl. ZINK: Gotteswahrnehmung, 151–352 [Dritter bis Fünfter Teil]; aber auch Erfahrungen wie „Déjà-vu“, Nahtoderfahrungen etc. werden aufgenommen. 312

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deren Erfahrungen als Menschen sonst, sie geben ihnen aber einen anderen Namen, und ihnen begegnet in dem, was ihnen widerfährt, eine Wahrheit über die Wirklichkeit ihres Daseins.“321

Interessant ist, dass Jörg Zink – trotz seiner protestantischen Verortung – die Frage nach der „Gotteswahrnehmung“ nicht (wie Luther das zweifellos getan hätte) an die pneumatologisch vermittelte Erfahrung göttlicher Gegenwart in Wort und Sakrament bindet und auch nicht an den Gottesdienst (oder gar die Predigt) als hervorgehobenen Ort dieser Erfahrung, sondern an die mystische und von Zink konsequent pneumatologisch gedeutete religiöse Erfahrung im „Grund unserer Seele“.322 (2) Anders versucht Manfred Josuttis, die ‚Vertikale‘ zum Ausgangspunkt seiner Praktischen Theologie zu machen. Religionsphänomenologisch ‚setzt‘ er die Dimension des „Heiligen“ und weist verhaltenswissenschaftlich auf, wie der Umgang mit dieser Dimension Gestalt finden kann. Kommt der Gottesdienst bei Jörg Zink nur am Rand und wenig betont vor (wie es für eine individualisierend-mystische Perspektive nicht verwunderlich ist), so nimmt er bei Josuttis zentralen Raum ein. Ja, die 1991 in dem Buch „Der Weg in das Leben“ vorgelegte verhaltenswissenschaftliche Beschreibung des Gottesdienstes bereitete für Josuttis den Weg hin zu einer konsequent auf der Phänomenologie des Heiligen beruhenden Pastoraltheologie, wie er sie 1996 in seinem Buch „Die Einführung in das Leben“ vorlegte. Josuttis grenzt sich in seiner Liturgik von jenen Ansätzen zur Wahrnehmung gottesdienstlichen Verhaltens ab, die dieses lediglich signifikativ, deskriptiv oder präskriptiv in den Blick nehmen, also so, dass es zur Basis theologischer Bedeutungszuschreibung wird (wie in der allegorischen Liturgiedeutung des Mittelalters), dass es zur Grundlage ausführlicher Beschreibung wird (wie in Reifenbergs „Fundamentalliturgie“) oder dass es zum Ausgangspunkt für Verhaltensvorschriften oder -vorschläge für die liturgisch agierenden Pfarrer wird (wie etwa bei Wilhelm Stählin oder in neueren, von Josuttis 1991 noch nicht wahrgenommenen, Ansätzen zur Ausbildung in „Liturgischer Präsenz“).323 Josuttis profiliert demgegenüber eine epistemologisch bedeutsame Wahrnehmung des liturgischen Verhaltens: Auf der Grundlage der Wahrnehmung der Art und Weise, wie Menschen sich im Gottesdienst verhalten, wie sie gehen, sitzen, essen oder hören, werden Aussagen möglich über das, was im Gottesdienst selbst geschieht.324 Besondere Bedeutung gewinnt dabei der Kieler Philosoph Hermann Schmitz, der zum Begründer der Denkschule der „Neuen Phänomenologie“ wurde.325 Schmitz schreibt gegen die typisch neuzeitliche Introjektion der 321

ZINK: Gotteswahrnehmung, 168; vgl. auch aaO., 305. Vgl. besonders ZINK: Gotteswahrnehmung, 242–249 [Zitat: 242]. 323 Vgl. JOSUTTIS: Der Weg in das Leben, 13–17. 324 Vgl. JOSUTTIS: Der Weg in das Leben, 17. 325 Vgl. bes. SCHMITZ: Das Göttliche und der Raum. 322

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2. Evangelische Fundamentalliturgik – ihre materiale Bestimmung

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Welt durch das Subjekt an, das im Sinne der Beherrschung der Welt alles Äußere als Funktion seiner eigenen Innerlichkeit interpretieren will. Besonders gilt dies für Gefühle, die ihre Wurzel im eigenen Innen zu haben scheinen, anstatt wahrzunehmen, dass es transpersonale „Atmosphären“ gibt, Gefühlsräume, die der subjektiven Innerlichkeit vorausliegen.326 Mit Schmitz will Josuttis den „psychologischen und sozialpsychologischen Reduktionismus“ überwinden, „der das religiöse Verhalten von außerreligiösen Faktoren herleitet und in seiner Leistung für außerreligiöse Bereiche bewertet“.327 Schon Schmitz selbst greift dabei auf Rudolf Ottos Überlegungen zum „Heiligen“ aus seinem 1917 erschienenen Buch mit dem bezeichnenden Untertitel „Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen“ zurück. Das ‚äußere‘ Ritual des Gottesdienstes interpretiert Josuttis auf dieser Grundlage „als, gewiß paradoxes, methodisches Verfahren […], um die intendierte Begegnung [mit dem Heiligen, AD] zustande zu bringen.“328 In Anlehnung an Richard Schaeffler beschreibt Josuttis diese mit dezidiert ‚religiöser‘ Erwartung aufgeladene Form des menschlichen Handelns pointiert als kultisches Handeln: „Menschen versammeln sich zur Gottesverehrung und schreiben ihrem Verhalten besondere Wirksamkeit zu, weil und sofern es sie in eine besondere Wirklichkeit führt.“329 Konsequent bezeichnet Josuttis den Gottesdienst dann als Führung „in die verborgene und verbotene Zone des Heiligen“ und insofern als „heilige Handlung“.330 Es geht im Gottesdienst um mehr als nur um Information und um mehr als nur Gefühl, es geht um die energetische und insofern „segensreiche Gegenwart“ „des heiligen Gottes“.331 Kultisches Verhalten wird zu einem Wirklichkeit erschließenden Handeln! Wie aber geschieht das? Für Josuttis ist die Haltung derer, die Gottesdienst als Liturgen gestalten und als Gemeinde feiern, entscheidend: „In der Vorbereitung auf den Gottesdienst geht es um die Präparation jener Einstellung, die dem Heiligen gilt und Körper, Seele und Geist derer umfaßt, die den Gottesdienst feiern. […] Spirituelle Praxis in ihren verschiedensten Formen hat vor dem Beginn eines Gottesdienstes das eine Ziel: aus der Welt des Interessanten allmählich und schrittweise und sehr demütig in die Welt des Heiligen hinüberzuwechseln.“332 – Man kann kritisch fragen, ob Josuttis damit dem Subjekt des Feiernden viel (zu viel?) zutraut, indem seine Weise der Vorbereitung zur entscheidenden Voraussetzung für das Gelingen des spezifischen Begegnungsgeschehens im Gottesdienst gemacht wird. Wäre der Rekurs auf das „Wort“ in seiner Externität nicht doch der entscheidende Schlüssel, um diese – bei Josuttis spirituell reformulierte Subjektivität – zu relativieren?333

326

Vgl. bes. SCHMITZ: Der Gefühlsraum. JOSUTTIS: Der Weg in das Leben, 34. 328 JOSUTTIS: Der Weg in das Leben, 41. 329 JOSUTTIS: Der Weg in das Leben, 42; vgl. zur Einordnung in den Kontext „kultischer Praxis“ insgesamt aaO., 42–44. 330 JOSUTTIS: Die Einführung in das Leben, 85. 331 JOSUTTIS: Die Einführung in das leben, 91. 332 JOSUTTIS: Die Einführung in das Leben, 100f. 333 Vgl. hierzu auch Josuttis’ Überlegungen zum „heilvolle[n] Wort“, die primär auf die „Schrifterfülltheit einer Predigtperson“ im homiletischen Akt verweisen (JOSUTTIS: Die Einführung in das Leben, 102–118, Zitate: 102.107). 327

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

Zwischen diesen beiden extremen und hier plakativ etikettierten Wegen der mystischen Introversion und der phänomenologischen Expedition ordnen sich zahlreiche andere Weisen der Beschreibung religiöser Erfahrung in der Gegenwart an. Im systematischen und praktisch-theologischen Diskurs hat dabei die Linie, die sich exemplarisch mit den Namen Wilhelm Gräb bzw. Ulrich Barth verbindet und die religiöse Erfahrung als gedeutete ästhetische Erfahrung versteht, viele Befürworter.334 Freilich steht – wie bereits oben (Kap. 2.2.1) gezeigt – gerade die intensive Betonung der kognitiven Deuteleistung in der Gefahr, die liturgische Vertikale einzuebnen und zu dem Problem der Horizontalisierung zu führen. Im Rückgriff auf den Ausgangspunkt bei Luther gilt es hingegen für die weitere Untersuchung zu fragen: Böte der „Widerstand der Schrift“335 ein ‚Heilmittel‘ gegen die Horizontalisierung der liturgischen Kommunikation? Dies freilich nicht nur denkerisch, sondern konkret bis in die liturgische Gestaltung hinein? Oder – anders formuliert: Inwiefern bedeutet das Wort der Schrift in seiner liturgischen Inszenierung einen Weg, der die Kommunikation des Verstehbaren nicht ausschließt und die Deutungsleistung des Subjekts nicht negiert bzw. einseitig pejorativ konnotiert, aber zugleich weiterführt hin zur Kommunikation dessen, was „höher ist als alle Vernunft“? 2.2.3 Wort und Kult – oder: Das Spannungsfeld von göttlichem und menschlichem Handeln Das Problem eines Gottesdienstes, der von der theologischen Vorgabe des verbum externum ausgeht und nach dessen Gestaltseite fragt, wurde in diesem Kapitel auf der Basis von Luthers theologischen Einsichten und der sich daraus ergebenden liturgischen Aporien (2.1) so entfaltet, dass zunächst das Subjekt der Neuzeit (2.2.1; Wer inszeniert und wer nimmt wahr?), dann das Verständnis des Wortes zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit (2.2.2; Was wird eigentlich inszeniert?) im Blick war. Nun soll die Gestaltseite des Gottesdienstes in den Blick kommen (2.2.3; Wie geschieht die Inszenierung?). Diese drei Aspekte konturieren dieselbe Grundfrage von verschiedenen Seiten. In diesem Abschnitt untersuche ich die Gestaltfrage so, dass ich mich auf die ambivalente Weise, in der mit dem Begriff des „Kults“ in liturgischem Kontext umgegangen wurde, beziehe. In der Frage nach dem „Kult“, in der 334

Vgl. dazu oben 2.2.1.3 [zu Wilhelm Gräb]; vgl. BARTH: Religion in der Moderne, aber auch DOBER: Die Zeit ins Gebet nehmen. 335 Vgl. LÄMMLIN: Die Lust am Wort.

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2. Evangelische Fundamentalliturgik – ihre materiale Bestimmung

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Affirmation oder Zurückweisung des „kultischen“ Charakters des evangelischen Gottesdienstes lassen sich wesentliche Fragen und Probleme erkennen. Grundlage ist die Kultkritik im evangelischen Kontext (2.2.3.1), der unterschiedliche Wiederentdeckungen des Kults gegenüberstehen (2.2.3.2). 2.2.3.1 Kerygmatische und humanorientierte Kultkritik – oder: Wort ohne Kult Die Kritik am Kult ist alt. Sie setzt ein mit der Zurückweisung der Opferpraxis in der griechischen Religion durch die Orphiker und Pythagoräer336 sowie mit der annähernd zeitgleichen prophetischen Infragestellung einer einseitigen und folglich wesentliche Dimensionen von Religion vergessenden Kultpraxis im vorexilischen Israel und zieht sich von da an durch die Geschichte des Judentums wie des Christentums – freilich ohne den Kult jemals beseitigen zu können. Die Linie zunehmender Überwindung des Kults durch dessen Spiritualisierung337 lässt sich historisch nicht zeichnen (wie dies nicht selten in liberalen Kontexten versucht wurde); vielmehr kann die Geschichte der Religion – und auch die Geschichte des Christentums – als eine Geschichte bleibender Auseinandersetzung mit dem augenscheinlich unüberwindbaren Phänomen des „Kultischen“ gelesen werden. Im Folgenden beschreibe ich diesen Hintergrund in einem ersten Abschnitt so, dass ein grober Umriss sichtbar wird (1), bevor ich dann ausführlicher auf zwei für den Protestantismus (nicht nur) im 20. Jahrhundert wichtige Linien der Kultkritik näher eingehe, die ich als die kerygmatische Kultkritik und die humanorientierte Kultkritik etikettiere (2). Kurz zeige ich abschließend problematische Folgen kultkritischer evangelischer Gottesdienstpraxis in der Gegenwart auf (3). (1) Kultkritik als prophetisches und evangelisches Phänomen – eine Vogelperspektive Als locus classicus alttestamentlicher Kultkritik wird immer wieder Hos 6,6 zitiert, nicht zuletzt deshalb, weil dieser Vers im Matthäusevangelium zweimal im Munde Jesu wiederkehrt (Mt 9,13 im Kontext der Berufung des Matthäus; 12,7 im Kontext der Auseinandersetzung um das Ährenraufen

336

Vgl. GERLITZ: Art. Opfer, 257; vgl. zur Kultkritik im hellenistischen Kontext insgesamt NESTLE: Vom Kult zum Logos; ALBERT: Vom Kult zum Logos. 337 Vgl. z.B. JASPERS: Der philosophische Glaube, 88.

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

am Sabbat). Luther übersetzt: „Denn ich [JHWH] habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer, an der Erkenntnis Gottes und nicht am Brandopfer.“338 Die Alternative klingt klar: Liebe bzw. Gotteserkenntnis statt Opferpraxis. Was – auch bei den neutestamentlichen Aufnahmen dieses Verses – nicht beachtet wird, ist der Kontext, in dem dieses Zitat bei Hosea steht. Es geht dem Nordreichpropheten um die dramatische Liebesbeziehung JHWHs zu Israel, seinem Volk. Das Hoseabuch schildert – in den Worten Gerhard von Rads – „die flammende Empörung [JHWHs] über den Treubruch Israels, die bevorstehende Bestrafung; aber dann auch in einem schwer zu präzisierenden Jenseits von alledem: die Andeutung eines neuen Heilshandelns, ja eines völligen Neuanfanges mit Israel, von dem Gottes Liebe nicht lassen kann.“339 Auf diesem Hintergrund wendet sich Hosea nicht pauschal gegen den Kult, sondern gegen die Perversion der Gottesbeziehung, die die Verheißung eines neuen, gereinigten Kultes gerade nicht ausschließt, sondern als Hoffnungsperspektive impliziert. Genau dies ist auch Inhalt der Kultkritik bei Amos (vgl. Am 5,21–24) und Jesaja (Jes 1,10–17)340: Das Fehlen von „Recht“ und „Gerechtigkeit“ (Am 5,24; vgl. ähnlich Jes 1,17) zerstört nicht nur die Beziehung zum Nächsten, sondern auch die Gottesbeziehung und verhindert folglich, dass Gott irgendeinen Gefallen an den Opfern zeigen kann. „Und wenn ihr auch eure Hände ausbreitet, verberge ich doch meine Augen vor euch; und wenn ihr auch viel betet, höre ich euch doch nicht; denn eure Hände sind voll Blut“ (Jes 1,15). Ex negativo verweisen diese Stellen auf das, was eine gelingende Opferpraxis nach dem Verständnis des Alten Testaments ausmacht: die Lebendigkeit der Beziehung zu Gott, die die Beziehung zum Mitmenschen einschließt, anders – in der Terminologie des Heiligkeitsgesetzes – formuliert: die Dynamik der Heiligung in der Wechselseitigkeit von göttlichem und menschlichem Handeln: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der HERR, euer Gott“ (Lev 19,2). Auch die Tempelaktion Jesu (vgl. Mt 21,12f p.) mit ihrem Hinweis auf die eigentliche Bedeutung des Tempels im Rückgriff auf Jes 56,7 („Mein Haus soll ein Bethaus heißen“) kann auf diesem Hintergrund verstanden werden.341 Es könnte der Gegenstand einer ausführlicheren Einzeluntersuchung sein, die Frage zu stellen, welche Bedeutung die alttestamentliche Opferpraxis für die christliche Liturgik spielte und spielt. Sehr pauschal gespro338

Die Einheitsübersetzung bleibt in der Näherbestimmung des „Opfers“ im ersten Glied des Satzes näher an der hebräischen Vorgabe. Dort heißt es: „Liebe will ich statt Brandopfer [ʧʡʦ], Gotteserkenntnis statt Schlachtopfer.“ 339 RAD: Theologie des Alten Testaments, Bd. 2, 148. 340 Vgl. dazu auch SEEBASS: Art. Opfer, 261. 341 Vgl. dazu auch DEEG: Opfer als ‚Nahung‘, sowie ders.: Opfer – Raum der Gottesbegegnung.

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2. Evangelische Fundamentalliturgik – ihre materiale Bestimmung

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chen ließe sich wohl die These erhärten, wonach die Rezeption in katholischem Kontext im Zusammenhang allegorischer Liturgiedeutung und epistemologischer Gottesdienstbegründung durchaus intensiv ausfällt, alttestamentliche Opfervorstellungen und konkrete Opfergesetze in evangelischem Kontext hingegen faktisch keine Rolle spielen (vgl. oben Kap. 1.4). Exemplarisch verweise ich auf Joseph Ratzingers Liturgik als einen neueren katholischen Beitrag. Ratzinger setzt – nach knappen Überlegungen zum Gottesdienst als „Spiel“ im Anschluss an Guardini – mit einem Bezug auf das Alte Testament ein, weil sich nur „aus dem Konkreten biblischer Texte heraus“ eine inhaltliche Bestimmung dessen, was Gottesdienst nach christlichem Verständnis sei, ermitteln lasse.342 Ratzinger liest die Geschichte des Auszugs aus Ägypten unter der Leitfrage nach der Entwicklung und Bestimmung des Kultus neu – und entdeckt dabei drei entscheidende Aspekte:343 (1) Das eigentliche Ziel des Exodus kann als die Anbetung Gottes, als der rechte Kult verstanden werden (vgl. Ex 7,16.26; 9,1.13; 10,3), wobei Kult, Recht und Ethos sich im Kontext der Sinaierzählungen nicht trennen lassen und bleibend das beschreiben, was für das Leben des Gottesvolkes entscheidend ist.344 (2) Den rechten Kult, die rechte Art und Weise der Gottesverehrung, kann das Volk nicht selbst machen, er wird vielmehr von Gott gegeben (vgl. Ex 10,26: „Wir wissen noch nicht, womit wir dem HERRN dienen können.“). Ratzinger spricht von der „Einsetzung“ des Kults, woran sich dann auch die Grenze von rechtem Kult und Götzendienst erweise.345 (3) Weiter blickt Ratzinger auf das „Opfer“, das in allen Religionen den „Kern des Kultus“ ausmache, allerdings als Begriff „von einem wahren Schuttberg von Mißverständnissen überlagert“ sei.346 Ratzinger deutet das Opfer inhaltlich als die Möglichkeit zur Überwindung menschlicher Schuld coram Deo und engt damit die Weite des alttestamentlichen Opferverständnisses deutlich ein.347 Diese verengte Sichtweise aber ermöglicht ihm, eine lineare heilsgeschichtliche Linie zu zeichnen, die „vom Alten zum Neuen Testament“ reicht.348 Der Kult des Alten Testaments erscheint dabei als bloßer „Ersatz-Kult, dem irgendwo das Eigentliche fehlt“.349 Tieropfer nämlich könnten immer nur „Ersatz“, niemals wahrhaft „Vertretung“ sein (so die Aufnahme eines bereits bei Anselm von Canterbury eingeführten Gedankens). Der Tempelkult sei immer „von einem brennenden Wissen seines Ungenügens“ be342

RATZINGER: Der Geist der Liturgie, 12. Die Zusammenfassung und Nummerierung stammt nicht von Ratzinger, sondern entspringt meiner Systematisierung (AD). 344 Vgl. RATZINGER: Der Geist der Liturgie, 13–18. 345 Vgl. RATZINGER: Der Geist der Liturgie, 18f [Zitat: 18]. 346 RATZINGER: Der Geist der Liturgie, 23. 347 Vgl. RATZINGER: Der Geist der Liturgie, 30. 348 Vgl. die Überschrift des entsprechenden Kapitels: RATZINGER: Der Geist der Liturgie, 30. 349 RATZINGER: Der Geist der Liturgie, 31. Die Formulierungen des ansonsten so um begriffliche Präzision bemühten Ratzinger sind interessant; so verwendet er in dem vorgestellten Zitat die unbestimmte Wendung „irgendwo“; eine Seite später schreibt er: „Irgendwie mußte von dieser Geschichte [der Akeda, Gen 22, AD] her ein Stachel bleiben, eine Erwartung des wahren ‚Lammes‘, das von Gott kommt und gerade darum für uns nicht Ersatz, sondern wirkliche Vertretung ist […]“ (aaO., 32). 343

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

gleitet gewesen – eine These, für die Ratzinger auf kultkritische Stellen im Kontext des corpus propheticum und im Neuen Testament verweist.350 Mit dem Tod Jesu am Kreuz erlösche „die Funktion des alten Tempels“, wodurch die äußere Tempelzerstörung 70 n. Chr. theologisch bereits 40 Jahre zuvor vorweggenommen worden sei.351 Diese Linie der Argumentation verbindet sich mit einer das Judentum aus der Perspektive einer christlichen „Liturgie der erfüllten Verheißung“352 abwertenden Tendenz, auf die hier nicht weiter eingegangen werden muss. Interessant bleibt vielmehr, dass es Ratzinger gelingt, wesentliche Aspekte des liturgischen Geschehens durch eine Relektüre der alttestamentlichen Texte zu gewinnen: das Ziel der Gottesanbetung, die Vorgegebenheit durch die „Einsetzung“ von Gott her, die Ausrichtung auf das Opfer.

In evangelischem Kontext stand die Opferterminologie im Kontext der Kritik am Messopferverständnis von vornherein unter einem negativen Vorzeichen, womit sich die Notwendigkeit, das alttestamentliche Opferverständnis näher zu beleuchten oder gar im Blick auf das eigene Gottesdienstverständnis einer kritischen Relektüre zu unterziehen, nicht ergab. Es steht bis in die Gegenwart unter dem Verdikt, die Gottesbeziehung einseitig anabatisch zu beschreiben.353 Ich erinnere demgegenüber nur knapp an den ersten „Gottesdienst“, von dem die Bibel erzählt und auf den keine evangelische Liturgik rekurriert: Er findet sich in Lev 9 und steht in der Lutherbibel charakteristischerweise nicht unter der Überschrift „Der erste Gottesdienst Israels“, sondern unter dem – sicherlich nicht falschen – Titel „Das erste Opfer Aarons und seiner Söhne“; in die ‚Gefahr‘, dieses Wüstenopfer als „Gottesdienst“ zu bezeichnen, möchte die Lutherbibel von vornherein, so scheint es, nicht geraten.354 Interessant ist im Text von Lev 9, wie auch sonst in den Aussagen zum Opfer im Alten Testament, die Beschreibung des charakteristischen Ineinanders von göttlichem und menschlichem Tun: Die genaue Ausführung des von Gott gebotenen menschlichen Handelns einerseits, das göttliche Handeln andererseits („Und ein Feuer ging aus von dem HERRN und verzehrte das Brandopfer und das Fett auf dem Altar“, Lev 9,24a) gehören zusammen und führen zu der Festfreude des Volkes: „Da alles Volk das sah, frohlockten sie und fielen auf ihr Antlitz“ (Lev 9,24b). ‚Wort und Antwort‘ verschränken sich bereits beim allerersten Wüstengottesdienst, den die Bibel schildert, und verweisen auf eine „cooperatio“ von Gott und Mensch, die mir

350

Vgl. RATZINGER: Der Geist der Liturgie, 33–37. RATZINGER: Der Geist der Liturgie, 37. 352 RATZINGER: Der Geist der Liturgie, 43; freilich betont Ratzinger immerhin, dass auch diese „Liturgie der erfüllten Verheißung“ noch eine „Liturgie der Hoffnung“ bleibe. 353 So schreibt etwa Ralph Kunz im Jahr 2006: „Religionsgeschichtlich gesehen kommt es einer Revolution gleich, dass im christlichen Gottesdienst Gott ‚ohne Gegenleistung‘ empfangen wird. Das Opferritual wurde abgeschafft“ (KUNZ: Der neue Gottesdienst, 35). 354 Allerdings verwendet auch die Einheitsübersetzung das Wort „Gottesdienst“ in der Überschrift nicht, sondern spricht vom „Weiheopfer des Hohenpriesters“. 351

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nicht nur für das alttestamentliche Opfer, sondern auch für gegenwärtige Gottesdienstverständnisse grundlegend erscheint.355

An einer solchen kultischen Verortung des christlichen bzw. evangelischen Gottesdienstes zeigt evangelische Liturgik von vornherein und schon aus kontroverstheologischen Gründen kein Interesse. Im Gegenteil betonte man gerne, dass zur Bezeichnung des Gottesdienstes im Neuen Testament bewusst keine kultischen Termini verwendet würden.356 Daraus ergebe sich ein Verständnis des Gottesdienstes, bei dem alltägliches Leben und Gottesdienst eben nicht getrennt voneinander, sondern in unmittelbarer Verzahnung gesehen würden,357 und bei dem die Gemeinschaft der Feiernden ohne graduelle Unterschiede betont werde. Exemplarisch verweise ich auf Okko Herlyn und seine „Theologie der Gottesdienstgestaltung“. Er betont, dass das Neue Testament übliche Begriffe für „Gottesdienst“ (wie ȜĮIJȡİȓĮ, șȡȘıțİȓĮ oder ȜİȚIJȠȣȡȖȓĮ) „peinlichst“ vermeide. „Christlicher Gottesdienst ist eben etwas grundsätzlich anderes als ein so oder so wohl in allen Religionen geübter Kultus, bei dem in besonderen Handlungen und Räumen von dazu ausgesonderten Menschen die Verehrung irgendeiner Gottheit vollzogen werden soll. Und um dieses andere bereits begrifflich zum Ausdruck zu bringen, greift das Neue Testament […] zu einer anderen Sprache, und zwar bezeichnenderweise zu einer ganz und gar unkultischen. Wenn es um das geht, was wir ‚Gottesdienst‘ nennen, wird dort […] sehr profan von ‚Zusammenkommen‘ […] oder schlicht von ‚Versammlung‘ […] geredet.“358

Diese Sicht macht z.B. auch Paul Tillich stark, der die (vermeintliche oder tatsächliche) Ausblendung des kritischen, prophetischen Elementes der biblischen Botschaft dort vermutet, wo der Kult betont wird. Er schreibt in seinem 1926 erschienenen Essay „Die religiöse Lage der Gegenwart“: „Der Protestantismus ruht auf der Predigt, der Verkündigung des jenseitigen, aller menschlichen Verwirklichung überlegenen Gottes. Er hat kein von der prophetischen Botschaft abgelöstes Sakrament und darum kein Priestertum und keinen echten Kultus.“359

355

Vgl. ausführlicher DEEG: „… das das wort ym schwang gehe“, 102f; vgl. auch unten Kap.

6.2.

356

Vgl. z.B. BIERITZ: Liturgik, 2–4, bes. 3f. Vgl. GRETHLEIN/RUDDAT: Gottesdienst – ein Reformprojekt, 15–21. 358 HERLYN: Theologie der Gottesdienstgestaltung, 41; vgl. dazu kritisch auch JOSUTTIS: Der Weg in das Leben, 103f. 359 TILLICH: Die religiöse Lage der Gegenwart, 148. Die Wendung „echter Kultus“ ist natürlich interessant: Begegnet dann evangelisch ein „uneigentlicher“ Kultus, ein – wie Michael Meyer-Blanck wohl sagen würde – Kultus „in erster Ableitung“? Für Tillich ist der Kult ein Phänomen, das mit dem „Geist der in sich ruhenden Endlichkeit“ behaftet und auf Dauer, Beständig357

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

Noch grundlegender argumentiert Eberhard Jüngel: Er sieht den kultischen Charakter des „evangelisch verstandene[n] Gottesdienst[es]“ dadurch an ein Ende gekommen, dass mit dem Opfertod Jesu der Unterschied von sacrum und profanum aufgehoben sei.360 Damit entfalle jede Möglichkeit des Kultus, da dieser immer auf dem Unterschied eines heiligen und eines profanen Bereiches aufbaue und die Verbindung zwischen beiden zu realisieren suche. Jüngel lenkt folglich auf die eine Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit hin – mit der Konsequenz, Gottesdienst und Alltag nicht als zwei Bereiche zu separieren, sondern in ihrem Miteinander zu bedenken.361 Neben dem Alltagsbezug des Gottesdienstes betont die evangelische Liturgik im Zusammenhang mit der Hervorhebung der Lehre von der Rechtfertigung des Sünders den Gnaden- und Geschenkcharakter des Gottesdienstes. Damit ist dann nicht die Aufhebung der Unterscheidung von Alltag und Kultus im Blick, sondern die Aufrichtung und rechte Bewahrung der Unterscheidung von göttlichem und menschlichem Tun. So differenziert Vilmos Vajta in seiner Studie zum Gottesdienst bei Luther zwischen „beneficium Dei“ und „sacrificium hominis“ und will den Gottesdienst von Luther ausgehend alleine auf der Seite des göttlichen „beneficium“ stehen lassen.362 Immer wieder betonen evangelische Liturgiker die Wortorientierung des Gottesdienstes und stellen diese gegen ein kultisches Gottesdienstverständnis, wodurch Wort und Kult als Oppositionspaar erscheinen.363 Auf diesen kultkritischen Ton hatte Karl Barth die evangelische Theologie einflussreich gestimmt. Er warnte davor, „Endliches zum Unendlichen zu steigern“364, Gott als mitten in der Welt greifbar und habbar zu fassen und mit diesem „Triumphalismus des ‚Habens‘“ die „Grenzen zwischen Gott und Welt“ zu verwischen.365 „Die Alternative Jahwe oder Baal bestimmt das Verhältnis von Kult und Offenbarung“, so beschreibt Peter Cornehl markant die Kultkritik Karl Barths.366 keit und Kontinuität ausgerichtet ist. Genau darin könnten Chance und Problematik des Kultus gesehen werden. 360 Vgl. JÜNGEL: Der evangelisch verstandene Gottesdienst. 361 Vgl. auch KÄSEMANN: Gottesdienst im Alltag der Welt. 362 Vgl. VAJTA: Die Theologie des Gottesdienstes bei Luther; vgl. ähnlich auch LOHMEYER: Kultus und Evangelium. 363 Vgl. ausführlicher unten Kap. 2.2.3.4 sowie meine eigenen Überlegungen zu einem evangelischen Gottesdienst als „WortKult“ Kap. 5.3 sowie 6.2–6.3. – Aus kommunikationstheoretischer Perspektive vertritt etwa auch Christoph Dinkel eine Gottesdiensttheorie, die die Opposition von Kult und Kommunikation zur Grundlage hat, vgl. DINKEL: Das Profil des evangelischen Gottesdienstes, 157–160. 364 CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, 47; vgl. insg. 40–49. 365 CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, 48. Die Zitate beziehen sich auf Karl Barths Vortrag und Aufsatz aus dem Jahr 1924 „Das Wort Gottes und die Theologie“. 366 CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, 48; vgl. auch aaO., 132, wo Cornehl „Gottesdienst“ und „Götzendienst“ auf genau dieser Linie unterscheidet.

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2. Evangelische Fundamentalliturgik – ihre materiale Bestimmung

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Ganz ähnlich argumentiert auch Edmund Schlink anlässlich eines Konferenzvortrags (in primär katholischem Kontext im Jahr 1960): Mit dem Kreuzestod Christi sei „das Ende des Opferkultes, durch den der Mensch Gott zu versöhnen sucht“, gekommen.367 Damit sei der Gottesdienst „im Entscheidenden“ als „Dienst Gottes an den Menschen“ zu verstehen.368 Und natürlich denkt auch Schlink hier vor allem an das göttliche Wort, das den Menschen in Gesetz und Evangelium anspricht. Kultus wird hier einseitig in katabatischem, latreutischem Sinn verstanden wird. Im Kult bringe der Mensch etwas dar, was er Gott gegenüber schulde.369 Dieses Modell des cultus debitus, das in der mittelalterlichen Theologie in der Tat eine bedeutende Rolle spielte, scheint allerdings auch in der katholischen Theologie spätestens mit den liturgischen Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und mit den Neuformulierungen des Liturgieverständnisses im Zweiten Vatikanischen Konzil („Sacrosanctum Concilium“) abgelöst durch ein dynamisches, Katabase und Anabase unter dem Vorzeichen dessen, was Gott tut, verbindendes Kultverständnis.370 Gleichzeitig entspricht es nicht dem Verständnis des Opfers, wie es das Alte Testament vorgibt. Auf diesen Zusammenhang haben etwa Martin Buber und Franz Rosenzweig aufmerksam gemacht, die sich genau aus diesem Grund weigern, in ihrer Übersetzung des Alten Testaments den Terminus „Opfer“ als Wiedergabe für das hebräische Wort ʯʡʸʷ zu gebrauchen. Es dürfe nicht geschehen, dass ein biblisch-spezifischer Begriff in die „Allgemeinheit der Religionsgeschichte“ aufgelöst werde.371 Stattdessen prägen sie das Kunstwort „(Dar-)Nahung“, das sich auf die hebräische Wurzel ʡʸʷ (sich nähern, nahekommen) stützt. Auf diese Möglichkeit, einer neuen und kritisch-konstruktiven Lektüre der biblischen Opfersemantik wird unten näher einzugehen sein.372

Die beiden Linien evangelischer Kultkritik (die Linie des notwendigen Alltags- und Weltbezugs einerseits, der notwendigen Unterscheidung von göttlichem und menschlichem Handeln andererseits) verbinden sich bei Frieder Schulz in seinem Beitrag zum „Gottesdienst aus evangelischer Sicht“ im Kontext einer Tagung zum Thema „Kult in der säkularisierten Welt“ (1974). Man habe, so meint Schulz, auf evangelischer Seite Probleme, vom Gottesdienst als „Kult“ zu sprechen, „weil sich mit diesem Begriff Vorstellungen verbinden, die dem evangelischen Denken fremd sind, ja ihm geradewegs zuwiderlaufen.“373 Schulz denkt an den kritisch-prophe367

SCHLINK: Der Kult in der Sicht evangelischer Theologie, 174. SCHLINK: Der Kult in der Sicht evangelischer Theologie, 174. 369 Freilich ist ein solches einseitig katabatisches Kultverständnis keineswegs nur in evangelischen Veröffentlichungen zu greifen; vgl. nur HAHNE: De arte celebrandi, 193f. 370 Vgl. dazu unten Kap. 4.1. 371 BUBER: Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift, 19; vgl. dazu auch DEEG: Opfer als „Nahung“, 117. 372 Vgl. unten Kap. 6.2. 373 SCHULZ: Der Gottesdienst in evangelischer Sicht, 92. 368

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

tischen Einspruch des Wortes gegen die rituelle „‚Verkultung‘ des Gottesdienstes“374 sowie an die Bindung des herausgehobenen Sonntagsgottesdienstes an den Gottesdienst im Alltag der Welt.375 Der Auszug aus dem festen Bau des Kultus gehe einher mit einer – wie Schulz nur knapp andeutet – kreuzestheologischen Bestimmung evangelischen Gottesdienstes, weswegen dieser nicht einfach in die Begrifflichkeiten „Kult“ und „Ritus“ eingepasst werden dürfe.376 In der abschließenden Zusammenfassung seiner Thesen formuliert Schulz: „Das evangelische Zeugnis vom rechten Gottesdienst läßt sich nicht so leicht unter die wieder zeitgemäß gewordenen Begriffe Ritual und Kult einpassen; denn es kann nicht vergessen, daß ‚der Vorhang im Tempel zerriß‘ (Mk 15,38), als der Erlöser ‚vor dem Tor‘ (Hebr 13,12) der heiligen Stadt gekreuzigt wurde. ‚Hier ist Größeres als dem [sic!] Tempel‘ (Mt 12,6) – und als die Tempel (vgl. Offb 21,22). Das Gottesvolk auf der Wanderschaft hört die apostolische Stimme aus dem Hebräerbrief: Christus hat ‚draußen‘ gelitten … Laßt uns hinausgehen‘ (Hebr 13,12.13).“377

Damit setzt sich die Kultkritik der alttestamentlichen Propheten im evangelischen Kontext in ihren beiden Linien fort: Es geht um das rechte Gottesverhältnis und in diesem Zusammenhang um den rechten Umgang mit dem Nächsten.378 Evangelische Kultkritik lässt sich damit entweder als primär kerygmatisch oder primär humanorientiert klassifizieren – eine Unterscheidung, die ich im Folgenden (vgl. (2)) aufnehme und weiter ausführe. Freilich lässt sich dann fragen: Was geschieht, wenn die Dimension des Kultus so konsequent aus einer evangelischen Bestimmung des Gottesdienstes 374

SCHULZ: Der Gottesdienst in evangelischer Sicht, 95. Vgl. SCHULZ: Der Gottesdienst in evangelischer Sicht, 97–99. 376 Vgl. SCHULZ: Der Gottesdienst in evangelischer Sicht, 100. 377 SCHULZ: Der Gottesdienst in evangelischer Sicht, 100. 378 Interessant in diesem Zusammenhang erscheint mir, dass der Kultbegriff im katholischen Kontext seit etwa dem 16. Jahrhundert bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts eine Einengung erfuhr, die dem, was evangelischerseits jenseits des Kultes gesucht wurde, fast unmittelbar entspricht. Konkret: Kult wurde – in Aufnahme einer Linie, die von der Antike über die Scholastik reicht, als das verstanden, was der Mensch Gott gegenüber zu tun schuldig ist („cultus debitus“). Kult wird dann zur Tugend und gehört zum religiösen Pflichtenkreis (wobei die Liturgie dann freilich ebenfalls als „cultus“ verstanden und als menschliche Pflicht Gott gegenüber gesehen werden konnte); vgl. hierzu LENGELING: Liturgie als Grundvollzug christlichen Lebens, 74f. – Interessant ist auch der Hinweis Lengelings: „Wenn zum Beispiel Augustin von cultus ecclesiae spricht, meint er das, was die Raumpflegerinnen im Kirchengebäude tun“ (aaO., 75). – Vgl. dazu auch GERHARDS/KRANEMANN: Einführung in die Liturgiewissenschaft, 16–18, die den „cultus“ zu jenen Begriffen ordnen, die eher den anabatischen/latreutischen Aspekt der Liturgie betonen, wogegen etwa „mysterium“ oder „sacramentum“ für den katabatischen Aspekt stünden. – In der Denkschrift der EKD aus dem Jahr 2009 zum Gottesdienst spielt die kultkritische Dimension auffallenderweise kaum eine Rolle; lediglich in Abgrenzung zur Gottesdienstentwicklung im Mittelalter wird von der Umdeutung des Gottesdienstes in eine „Kulthandlung“ gesprochen und dies pejorativ konnotiert (vgl. EKD: Der Gottesdienst, 23). 375

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ausgeschieden wird? Der katholische Dogmatiker Cyprian Vagaggini sieht in evangelischen Gottesdienstverständnissen „die Gefahr eines unkontrollierten Subjektivismus, übersteigerter Introvertiertheit, eines blutleeren Ideologismus oder eines rein ethisch gerichteten Moralismus“.379 Vagaggini formuliert heftige Vorbehalte gegen ein evangelisches Liturgieverständnis, bringt damit aber tatsächliche Probleme, wie sie in diesem Kapitel vorgestellt wurden, scharf auf den Punkt. Der Protestantismus steht in der Gefahr, zu der „hérésie antiliturgique“ zu werden, als die Dom Prosper Guéranger ihn in der Mitte des 19. Jahrhunderts bezeichnete.380 (2) Zwei Linien der Kultkritik (a) Kerygmatische Kultkritik – oder: Die Notwendigkeit der Ent-Kultung des evangelischen Gottesdienstes im Namen der Freiheit des göttlichen Wortes Die dialektische Theologie kann als kultkritische und in diesem Zuge erneut Wort-betonte Bewegung gesehen werden. Vor allem der neuen liturgischen Bewegung warf man die unzulässige „Liturgisierung“ des Gottesdienstes vor und damit die Bindung an das äußerliche Menschenwerk des Ritus/ Kultus gegenüber der Freiheit des göttlichen Wortes.381 Die Probleme des Kults, wie sie in seiner Sakralisierung (und damit in seiner Tendenz zur Weltflucht), in seiner unevangelischen Hierarchisierung (Priester vs. Laien), in seinem Ritualismus und seiner Tendenz zum magischen Theurgismus liegen, wurden in jener Zeit deutlich erkannt – und bleiben für jedes neuerliche Interesse am „Kult“ unhintergehbar. Gleichzeitig sah man, wie die Sehnsucht nach einem neuen Kult einerseits, nach einem modernen und zeitgemäßen Gottesdienstverständnis andererseits in die Problematik des nationalen und deutschchristlichen Kultus führen konnte.382 Den schärfsten Einwurf gegen die kultische Deutung des Gottesdienstes formulierte der Göttinger Praktische Theologe Götz Harbsmeier kurz nach dem Zweiten Weltkrieg (1949) – und bezieht sich dabei u.a. auf Rudolf Bultmann. Dieser hatte in seinem Aufsatz „Neues Testament und Mythologie“ jedes kultische Reden vom Opfer als Relikt einer „primitive[n] My379

VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 56. Vgl. DOM PROSPER GUÉRANGER: Institutions liturgiques, 1840–1851, 105; hier zit. nach KALB: Art. Liturgie, 376. 381 Vgl. z.B. SCHÄDELIN: Der reformierte Gottesdienst. 382 Vgl. CORNEHL: Art. Gottesdienst, 73–76. Vgl. dazu besonders Karl Fezers Schrift „Das Wort Gottes und die Predigt“ (1926), in der er sowohl den pädagogischen als auch den kultischen Gottesdienst- und Predigtansatz destruiert und an seiner Stelle neu eine theo-, nicht mehr anthropozentrische Liturgieauffassung propagiert. 380

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thologie“ gedeutet, die für heutige Menschen nicht mehr nachvollziehbar sei.383 Entsprechend sei gegenwärtig „Entmythologisierung“ angesagt; die Befreiung des Kerygmas aus der Bindung an überkommene Sprachformen des Mythos.384 Ich stelle Harbsmeiers Position ausgehend von seinem grundlegenden Aufsatz aus dem Jahr 1949 dar, strukturiere die Argumentation Harbsmeiers in vier Aspekten neu und beziehe weitere, später erschienene Literatur des Göttinger Praktischen Theologen mit ein.385 (1) Die Epistemologie Harbsmeiers: Die Verve und Entschlossenheit des Praktischen Theologen Götz Harbsmeier in seinen liturgischen Überlegungen wird nur verständlich, wenn der Hintergrund seiner Thesen bedacht wird. Harbsmeier wendet sich gegen die neuen liturgischen Bewegungen, gegen diejenigen also, die er als die „liturgisch Interessierten“ bezeichnet386 und die versuchten, der Kirche durch eine Neuentdeckung traditioneller Formen und die Schaffung einer neuen, ‚restaurativen‘ Agende Lebendigkeit einzuhauchen.387 Kritisch sieht er, dass dabei durch ästhetisch-ornamentale Veränderungen lediglich an Symptomen gearbeitet werde, anstatt das eigentliche Problem des Protestantismus der Gegenwart anzugehen.388 Noch schwerwiegender aber erscheint es Harbsmeier, dass durch die liturgischen Bewegungen der Kern dessen, was protestantische Theologie ausmacht, verraten und vergessen werde. Die liturgischen Bewegungen ließen sich 383

BULTMANN: Neues Testament und Mythologie, 19; vgl. ausführlicher AVERBECK: Der Opfercharakter des Abendmahls, 279–282. 384 Vgl. zur Aufnahme der Entmythologisierung bei HARBSMEIER: Theologie des Gottesdienstes, 89, ders.: Die „nicht-religiöse Interpretation“, bes. 88. 385 Vgl. zum Folgenden auch AVERBECK: Der Opfercharakter des Abendmahls, 611–613. 386 Vgl. HARBSMEIER: Dass wir die Predigt, 95 u.ö. 387 Vgl. HARBSMEIER: Wort und Sakrament, 58–60. In seinem 1952 zuerst erschienenen Beitrag „Theologie und Liturgie“ setzt sich Harbsmeier kritisch mit dem Beitrag von Karl Ferdinand Müller „Die Neuordnung des Gottesdienstes in Theologie und Kirche“ auseinander – eine der ersten zusammenfassenden Arbeiten zu den neueren liturgischen Bewegungen, ihrer fundierenden Theologie sowie ihrer praktischen Reformvorschläge. Dieser Aufsatz Harbsmeiers zeigt daher die Aspekte seiner Kritik an der gegenwärtigen liturgischen Bewegung besonders deutlich. Vor allem beleuchtet Harbsmeier hier auch den zeitgeschichtlichen Kontext der liturgischen Bewegungen und ihre Wurzel im kulturellen Hintergrund eines verbreiteten Anti-Intellektualismus der Weimarer Zeit kritisch (vgl. HARBSMEIER: Theologie und Liturgie, 74f). 388 Es gebe, so Harbsmeier, gegenwärtig eine Art liturgischer Flucht vor den Problemen der Gegenwart; man schaffe sich eine „gottesdienstliche Zufluchtsstätte“ vor den eigentlichen Problemen der Zeit (vgl. HARBSMEIER: Wort und Sakrament, 64 [Hervorhebung im Original]). – Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch Harbsmeiers Erkenntnis, dass die schlichte Wiederholung überkommener Formen nicht einfach die Wiederherstellung der einstigen Integrität von Form und Inhalt bedeutet. Er schreibt: „Natürlich kann er [der Mensch der Gegenwart, AD] romanisch bauen oder gregorianisch singen. Als Verstehender wird er aber wissen, daß er dann durchaus nicht dasselbe tut wie die, denen er nachbaut[,] nachsingt.“ (ders.: Wort und Sakrament, 57; vgl. auch aaO., 61).

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beschreiben als die „Verweigerung der Reformation […] allein aus dem gepredigten Wort“389, als „innere Rekatholisierung“390 der evangelischen Kirche. Sie würden den verhängnisvollen Versuch unternehmen, den Gottesdienst in eine „kultische Mysterienfeier“ zu verwandeln, sich ins „Paradies kultischer Repristination“ zu flüchten391, die theologische Neubesinnung „von Gottes Wort weg auf die liturgische Neuordnung“ zu verlagern392 und bei alledem das Wesen des evangelischen Gottesdienstes grundlegend verraten.393 Damit ist das Reizwort des „Kultischen“ benannt, an dem für Harbsmeier das Grundproblem eines falschen Gottesdienstverständnisses deutlich wird und zu dem er sich in seinem Aufsatz zum „Problem des Kultischen“ (1949) äußert. Epistemologisch geht Harbsmeier dabei von einer, wie er es nennt, religionsgeschichtlichen Einordnung des Phänomens des Kultischen aus.394 Faktisch ist seine Argumentation allerdings weniger religionsgeschichtlich als vielmehr religionsphilosophisch ausgerichtet: Der Kult erscheint als die hervorgehobene Weise der Selbstbehauptung des Menschen Gott gegenüber, die ihre Ursache in der Angst des Menschen angesichts seines Daseins in der Welt und angesichts seines Gegenübers zu Gott habe. Der Mensch schaffe sich selbst Formen des Umgangs mit der Gottheit, durch die er diese zweifache Angst bewältigen möchte. Die religionsphilosophische Perspektive, die mit ihrem Bezug auf die „Angst“ deutlich an Heideggers phänomenologische Beschreibung des „In-der-Welt-Seins“ erinnert, wird von Harbsmeier sogleich theologisch gedeutet: Selbstbehauptung sei als „Sünde“ zu werten; „das Christliche“ demgegenüber als „Ende des sich selbst behauptenden Menschen“ und folglich als Ende des Kultus.395 Bei Harbsmeiers Argumentation ergibt sich ein Zirkelschluss, bei dem nicht klar ist, ob die theologische These (Kult als Selbstbehauptung ist „Sünde“) zu der religionsphilosophischen Kultbeobachtung führt – oder (wie behauptet) die Argumentation umgekehrt von einer vermeintlich neutralen religionsphilosophischen (oder gar: religionsgeschichtlichen) Wahrnehmung hin zu einer theologischen Deutung führt. (2) Das Problem des Kultischen nach Harbsmeier: Die Kernpunkte der Kritik am Kult sind damit bereits benannt. Harbsmeier sieht den Menschen 389

HARBSMEIER: Wort und Sakrament, 53. HARBSMEIER: Theologie und Liturgie, 74. 391 HARBSMEIER: Theologie und Liturgie, 90; vgl. ders.: Wort und Sakrament, 43. 392 HARBSMEIER: Theologie und Liturgie, 76. 393 HARBSMEIER: Wort und Sakrament, 48. 394 Vgl. HARBSMEIER: Das Problem des Kultischen, 11–25, bes. 11f.16f. 395 HARBSMEIER: Das Problem des Kultischen, 12. 390

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im Kult als aktiv Agierenden,396 der Selbstbehauptung aufgrund seiner Daseinsangst sucht.397 Wahrer Gottesdienst hingegen könne immer nur umgekehrt verlaufen – so nämlich, dass Gott zum Heil des Menschen aktiv und der Mensch nur antwortend tätig werde. Nur diese Schrittfolge führe zu einem gelingenden Gott-Mensch-Verhältnis. Geht die Aktivität hingegen vom Menschen aus, ergebe sich kein wahrer Gottesdienst, sondern ein eklatanter Verstoß gegen das erste Gebot:398 Es komme zur Vergötzung des lebendigen Gottes in ein beherrschbares Bild hinein.399 In einer heilsgeschichtlichen Metapher formuliert Harbsmeier: „Das Kultische ist die Ausübung der Schlüsselgewalt zum Paradies mit so etwas wie einem ‚Nach-Schlüssel‘.“400 Dass dies nur scheitern kann und sich der Mensch im Kult nicht zurück ins wahre Paradies begibt, sondern nur in die Illusion eines Paradieses, steht für Harbsmeier selbstverständlich außer Frage.

In späteren Beiträgen profiliert Harbsmeier die Problematik des Kults auch unter Rekurs auf die Kategorie der „Geschichtlichkeit“. Diese sei für das christliche Gottesverständnis grundlegend: Gott offenbare sich in der Geschichte und handle geschichtlich, d.h.: mitten in der Profanität.401 Der Kult versuche demgegenüber, das Wirken und die Präsenz Gottes auf einen separaten Bereich einzugrenzen und dort handhabbar zu gestalten. Er verlagere Gott auf ein Jenseits des Profanen, auf ein Jenseits des Alltags, in dem Gott zugänglich und beherrschbar erscheint. Es komme zur „Entgeschichtlichung durch Verkultung“.402 (3) Die christliche Überwindung des Kultischen: Der christliche Gottesdienst ist für Harbsmeier das „Ende des Kultischen“.403 In besonderer Weise sei dies in der Reformation erkannt worden, die die „Entkultung des Gottesdienstes“404 gebracht habe, denn: „Das Christliche ist das Ende des sich 396

Vgl. HARBSMEIER: Das Problem des Kultischen, bes. 27. Vgl. HARBSMEIER: Das Problem des Kultischen, bes. 17.31. 398 Vgl. HARBSMEIER: Das Problem des Kultischen, 20. 399 Vgl. HARBSMEIER: Das Problem des Kultischen, 20f.38. Eine vergleichbare Kritik am „Kultischen“ findet sich auch bei HERLYN: Theologie der Gottesdienstgestaltung, 94f. U.a. schreibt er: „Daß es im Gottesdienst […] zu einer Begegnung zwischen Gott und seiner Gemeinde kommt, liegt ja gerade nicht an irgendwelchen besonderen menschlichen Handlungen, Zeiten und Räumen, sondern einzig an Gott selbst; es bleibt sein Geheimnis. Indem der Kult mit seinen besonderen Handlungen, Zeiten und Räumen jene Begegnung in seine Verfügung zu bekomen [sic!] sucht, löst er dieses Geheimnis und damit den Gottesdienst selber auf“ (aaO., 95). 400 HARBSMEIER: Dass wir die Predigt, 154. 401 Vgl. HARBSMEIER: Das Problem des Kultischen, 29f. 402 HARBSMEIER: Dass wir das Wort, 123. 403 HARBSMEIER: Das Problem des Kultischen, 12. 404 HARBSMEIER: Das Problem des Kultischen, 22. 397

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selbst behauptenden Menschen und damit auch gerade des Menschen, der dies im Kult vor Gott tut.“405 An die Stelle der Bindung des Menschen an einen selbstgemachten Kult tritt die Aktivität Gottes, die zu einem – wie Harbsmeier erneut in Anlehnung an Heidegger formuliert – Durchbruch des Seins gegenüber der Darstellung führt.406 Gott selbst schaffe den Glauben und wirke so die Neuschaffung des Menschen durch das göttliche Wort.407 Freilich stehe diese Neuschaffung unter der Spannung des Eschatologischen: schon jetzt werde der Mensch neu, an seiner sichtbaren, irdischen Wirklichkeit ändere sich allerdings noch nichts. So sei auch die Sichtbarkeit nicht das Kriterium für den Gottesdienst; das Entscheidende ereigne sich durch das Wort, das als eschatologisch-neuschaffendes Wort einer unmittelbaren Verifikation entzogen bleibe. Kurz und plakativ formuliert: Die Befreiung des göttlichen Wortes aus seinen kultischen Fesseln ist die Grundlage der Wirksamkeit dieses Wortes;408 das Wort wird scharf gegen den Kult ins Spiel gebracht!409 Daher möchte Harbsmeier weg vom kultischen Erlebnis zu der eigentlichen Ereignisqualität des Gottesdienstes zurücklenken. In diesem Zusammenhang erscheint es ihm auch nötig, typisch protestantische Missverständnisse des Gottesdienstes zu korrigieren, wie sie dort vorliegen, wo die Predigt lediglich als „Vortrag über“ konzipiert wird und wo aus dem Sakrament nur ein Aspekt besonderer „Feierlichkeit“ gemacht wird.410 Die Predigt sei vielmehr das „eschatologische Ereignis, durch das die Gemeinde zum Leben kommt, lebt und bleibt“,411 sie sei das Wort, in dem Gott wirklich verkündigt würde; die Sakramente werden in ihrer eigentlichen Bedeutung nur durch die Predigt erkannt.412

405

HARBSMEIER: Das Problem des Kultischen, 12. Vgl. HARBSMEIER: Das Problem des Kultischen, 21.27.32. Auch von „Ereignis“ kann Harbsmeier hier sprechen, vgl. aaO., 23. 407 Vgl. HARBSMEIER: Das Problem des Kultischen, 25–31, bes. 26. 408 Vgl. zum ‚Pathos‘ der Freiheit des Wortes auch HARBSMEIER: Anstöße, 117: „[…] die Freiheit, die schlechthinnige Freiheit des Wortes Gottes“. 409 Vgl. auch HARBSMEIER: Dass wir das Wort, 140: Luther habe den „Wort-Charakter“ des Gottesdienstes gegen dessen „kultisch-sakramentale Konzeption“ gestellt. 410 HARBSMEIER: Das Problem des Kultischen, 23. 411 HARBSMEIER: Wort und Sakrament, 44. 412 Vgl. HARBSMEIER: Das Problem des Kultischen, 35. In seinem Aufsatz „Wort und Sakrament“ (1953) ringt Harbsmeier mit der Frage nach der Verhältnisbestimmung dieser beiden, den evangelischen Gottesdienst bestimmenden Größen. Dabei plädiert er für die Gleichgewichtigkeit von Wort und Sakrament; faktisch aber zeigt sich, dass seine eigene Position doch die einer Hochschätzung der Predigt (als dem eigentlichen Ort der Wortverkündigung) bleibt, von der aus das Sakrament kritisch relativiert wird (vgl. HARBSMEIER: Wort und Sakrament, bes. 54.56.58). 406

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(4) Folgerungen: Harbsmeier äußert sich insgesamt kaum zu konkreten Gestaltungsfragen des evangelischen Gottesdienstes. Entscheidend betont er aber, dass seine Schriften nicht als Aufruf zu einem „Kultus-Sturm“ gelesen werden dürften, der dem Bildersturm zur Zeit der Reformation vergleichbar wäre.413 Vielmehr geht es ihm einerseits um ein neues Selbstverständnis des Menschen vor Gott und andererseits um einen daraus resultierenden neuen Umgang mit kultischen Formen. (a) Das neue menschliche Selbstverständnis beschreibt Harbsmeier in Aufnahme der biblischen Erzählung vom „Pharisäer und Zöllner“ (Lk 18,9– 14): Beide befinden sich im Bereich des Tempels. Der Zöllner aber bekennt sich inmitten der kultischen Form zu seiner angstvollen Verlorenheit vor Gott („Gott, sei mir Sünder gnädig“), während der Pharisäer den Kult zur Selbstbehauptung instrumentalisiere.414 An dieser Stelle erinnert Harbsmeier auch an die Erzählung von der kanaanäischen Frau (Mt 15,21–28), die Jesus jenseits jedes kultischen Ortes und jenseits aller kultischen Form ungestüm und dringlich mit ihrer Bitte belangt: „Sie gibt sich Jesus in ihrer Not und mit ihrer Not nicht kultisch, sondern auf ganz unkultischem Wege des Bittens und Bettelns radikal preis.“415 Eine vergleichbare Haltung komme dem evangelischen Verständnis des Gottesdienstes nahe. (b) Aus alledem ergibt sich eine Relativierung des Kultus. Aus Gründen der notwendigen äußeren Ordnung des Gottesdienstes und dessen Öffentlichkeit bleibe die äußere Form und mit ihr das Kultische unhintergehbar bedeutsam.416 Wenn dieses aus der Gefahr menschlicher Selbstbehauptung befreit werde, sei ein Umgang damit in Freiheit möglich, der dem paulinischen „w`j mh.“ (vgl. 1Kor 7,29–31) und der Praxis Luthers entspricht.417 Gleichzeitig zeigt sich an dieser Stelle die Analogie zwischen dem „Kultus“ und dem „Gesetz“:418 Auch das Gesetz sei, wie Harbsmeier im Rekurs auf Paulus und Luther betont, nicht grundlegend schlecht oder problematisch. Es werde aber vom Menschen so genutzt, dass es zur stolzen Selbstbe-

413 Vgl. HARBSMEIER: Das Problem des Kultischen, 18; Harbsmeier wehrt sich dagegen, von Vilmos Vajta in die Gruppe der Antiliturgisten bzw. Spiritualisten eingeordnet und mit dem ‚linken Flügel‘ der Reformation verbunden zu werden; vgl. ders.: Dass wir das Wort, 113–117. 414 Vgl. HARBSMEIER: Das Problem des Kultischen, 17. 415 HARBSMEIER: Das Problem des Kultischen, 17–19 Anm. 1 [hier: 18]. 416 Vgl. HARBSMEIER: Das Problem des Kultischen, 38–40. 417 Vgl. HARBSMEIER: Das Problem des Kultischen, 13.15.21; vgl. ders.: Wort und Sakrament, 50.55.67. 418 Vgl. zu Bedeutung und Grenze dieser Analogie HARBSMEIER: Dass wir das Wort, 144.164; vgl. dazu auch HERLYN: Theologie der Gottesdienstgestaltung, 123f.

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hauptung Gott gegenüber verkehrt werde. Befreit aus dieser Verkehrung könne es seinen guten Sinn entfalten.419 Für die Gestaltung des Gottesdienstes bleibt damit dem verantwortlichen Liturgen bzw. der feiernden Gemeinde ein weiter Spielraum: „Keine noch so gute, noch so reine Gottesdienstordnung macht eine schlechte Gemeinde gut. Aber gute Gemeinden, d.i. Gemeinden, in denen das Wort Gottes lauter verkündigt wird und also die Sakramente auch recht verwaltet werden, machen gute Gottesdienstordnungen.“420

Diese an Mt 7,16–20 und 12,33–37 angelehnte Formulierung weist der ‚rechten‘, „lauter[en]“ Verkündigung die entscheidende Rolle zu – und lässt alles Weitere bewusst offen. In seiner Kritik an den liturgischen Erneuerungsbewegungen wird klar, in welche Richtung der neuerliche Zugang zum Kultus aber keinesfalls gehen dürfe. Harbsmeier wehrt sich gegen alle Versuche einer Sakralisierung des Gottesdienstes, die diesen vom Leben, von der Profanität weiter entfernt. So argumentiert er heftig gegen die „Sterilisierung des Abendmahls“, wie sie in der hochkirchlichen Bewegung Gestalt finde. Das Abendmahl werde „höher hinauf auf den Altar gerückt“ und entferne sich damit weiter von der Gemeinde und dem unmittelbaren Lebenskontext der Agape.421 Der Gottesdienst werde zur „Zufluchtsstätte“ gegen die Bedrängnisse der Zeit, anstatt mitten in der Zeit und in ihren Gegebenheiten die evangelische Freiheit zu entdecken und zu leben.422 Gelegentlich spricht Harbsmeier auch von dem „Humor im gottesdienstlichen Vollzug“, der dort möglich werde, wo das Kultische in seiner Begrenztheit erkannt sei,423 und vom „Humor“ bei der Aufnahme von Zeremonien, die immer nur uneigentlich und gebrochen erfolgen könne.424

419 In seiner Auseinandersetzung mit Karl Ferdinand Müller wehrt sich Harbsmeier dagegen, die christologische Formel des Chalcedonense „unvermischt und ungeschieden“ auf das Verhältnis von Christusbotschaft und liturgisch-zeremonieller Gestaltung zu übertragen. Vielmehr gelte hier die anthropologische Formel der Reformation „simul justus, simul peccator“. Nur so ergebe sich „die köstliche Freiheit des evangelischen Gottesdienstes von der Knechtschaft unter den angeblich objektiven heiligen Zeremonien, Riten und Traditionen, die auf alle Fälle doch Menschenwerk sind. Und es gründet sich hier die noch köstlichere Freiheit, gute Agenden, gute Gesangbücher zu machen und in guter Ordnung wie mit gutem Geschmack ohne dogmatische oder sonstige Metaphysik Gottesdienst zu halten, wie es uns am besten gefällt“ (ders.: Theologie des Gottesdienstes, 78; vgl. ähnlich auch 90f). 420 HARBSMEIER: Wort und Sakrament, 69. 421 Vgl. HARBSMEIER: Wort und Sakrament, 62f [Zitate: 62]. 422 Vgl. HARBSMEIER: Wort und Sakrament, 64–66 [Zitat: 64, im Original hervorgehoben]. 423 HARBSMEIER: Theologie des Gottesdienstes, 78; vgl. auch aaO., 92. 424 Vgl. HARBSMEIER: Dass wir das Wort, 112.

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Eine tabellarische Übersicht fasst Harbsmeiers Sicht des Kultischen und seiner Überwindung im ‚eigentlich Christlichen‘ zusammen und zeigt zugleich die grundlegende dialektische Spannung, die den Überlegungen Harbsmeiers inhärent und für das theologische Denken der Zeit um den Zweiten Weltkrieg im Ausgangspunkt von der Dialektischen Theologie charakteristisch ist. Es gibt ein klares Entweder-Oder, das freilich nicht bereits innerweltlich entschieden und aufgelöst wäre, sondern „hic et nunc“ in beständiger Spannung steht, die dem „iustus et peccator“ entspricht und erst eschatologisch auf Auflösung hoffen kann:

allgemein-menschlich

spezifisch christlich

Daseinsverständnis Angst des Menschen in der Welt Wissen um die Armut des Verlound Gott gegenüber renseins vor Gott (vgl. den Zöllner in Lk 18,9–14) Menschliches bzw. göttliches Handeln und die Folge für die Existenz des Einzelnen Der Mensch in seiner Aktivität Gott in seiner Aktivität Selbstbehauptung des Menschen Ereignis des eschatologischen Gott gegenüber als Sünde Neuwerdens des Menschen Folge für die Bedeutung und Bewertung des Kults Darstellung/Bild Präsenz Der Kult als Götzendienst

Sein Realität Der Kult als bloße äußerliche Form (notwendig zur Ordnung und Öffentlichkeit)

Folge für die Existenz in der Welt Trennung von sakral und profan Totalität der Bestimmung der Wirk(mit der Folge der Eingrenzung lichkeit durch Gott (mit der Folge Gottes auf einen Bereich) des Gottesdienstes im Alltag als Handeln gegenüber dem Nächsten)

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Harbsmeiers Position stellt den Versuch dar, angesichts der neuen liturgischen Frage in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Position der Reformation zeitgemäß (unter Rückgriff auf Bultmann und Heidegger sowie auf Einsichten der Dialektischen Theologie) und pointiert zu reformulieren. Sein Ziel ist dabei – gut lutherisch – die Befreiung des Menschen aus seiner Kreisbewegung permanenter Selbstbehauptung, aus seiner Sünde als „incurvatio in se ipsum“. Freilich muss m.E. die Frage gestellt werden, ob die Zurückhaltung gegenüber der Frage nach der Gestaltung des Gottesdienstes nicht dazu führt, dass die eigentliche Intention Harbsmeiers auf den Kopf gestellt wird. Entscheidend wird in seinem liturgischen Ansatz das individuelle, glaubende Subjekt, dem es aufgegeben ist, eine angemessene Haltung Gott gegenüber einzunehmen. Die Predigt, auf die Harbsmeier als einziges Element der „Liturgie“ bereits 1949 und auch in späteren Veröffentlichungen immer wieder konkret zu sprechen kommt, rückt in die zentrale Position. Ihr Ziel sei es, so Harbsmeier in seinem Aufsatz 1949, „alles das [zu] sagen, was ich in diesem Aufsatz gesagt habe“.425 Sie wird damit zu einem Mittel, um dem Menschen die Grenzen seiner Selbstbehauptung vor Augen zu führen und auf das befreiende Wort Gottes zu verweisen. Rückt damit, so lässt sich fragen, die kognitive Leistung des erkennenden Subjekts nicht doch in eine zentrale Stellung, die dem eigentlichen Anliegen zuwider läuft und die potentiell in die bereits oben im Ausgang von Luther aufgewiesene Sackgasse einer intellektualisierenden Dominanz des neuzeitlichen Subjekts führt?426 Und: Wird dem Prediger nicht zu viel aufgebürdet, wenn die Predigt als „hochempfindliches Unterfangen“ beschrieben wird, bei dem es faktisch immer um das Ganze des Glaubens geht?427 Und weiter: Postuliert Harbsmeier nicht ein ‚starkes‘ erkennendes Subjekt, das sich die Predigt aneignen und dann von sich aus zwischen „Bild“ und „Darstellung“ unterscheiden und den Weg wahrer Freiheit gehen kann? Harbsmeier schreibt: „[…] da ist Kirche, wo die Lauterkeit und Reinheit der Wortverkündigung eine Sache ist, die sich nur dadurch ereignen kann, daß einer verantwortlich das freie, eigene Wort wagt, das auch geeignet ist, für einen heutigen Hörer die Zueignung des Wortes so zu sein, daß er es sich aneignen kann.“428 425

HARBSMEIER: Das Problem des Kultischen, 34. Harbsmeier freilich wehrt sich gegen den Vorwurf der Intellektualisierung durch die Betonung der Predigt; vgl. ders.: Dass wir das Wort, 140f. 427 HARBSMEIER: Wort und Sakrament, 45; vgl. zur Beschreibung der Rolle des Predigers auch ders.: Anstöße, 89–91. 428 HARBSMEIER: Wort und Sakrament, 60 [Hervorhebungen im Original]; vgl. auch die Gottesdienstdefinition Harbsmeiers: „[…] rechte[r] Gottesdienst“ sei „das Sich-Ereignen des Wortes […], das durch die Schrift zur Sprache kommt, gehört wird und Gehorsam will und findet“ (HARBSMEIER: Dass wir das Wort, 124). 426

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

Die Position Harbsmeiers wurde deshalb ausführlich dargestellt, weil sie erstens exemplarisch erscheint für zahlreiche Stimmen im Protestantismus des 20. Jahrhunderts, die ausgehend von Grundlagen der Reformation nach einer gegenwärtig verantworteten Theologie des Gottesdienstes fragen.429 Zweitens aber bleibt die Kritik Harbsmeiers an den liturgischen Bewegungen seiner Tage m.E. vor allem in einer Hinsicht bedenkenswert: Harbsmeier kritisiert die Aufnahme und Weiterführung der Unterscheidung von „Subjektivität“ und „Objektivität“, wie sie das 19. Jahrhundert gelehrt habe und wie sie sich etwa bei Hegel findet.430 Er nennt diese Unterscheidung ein „vulgär abgegriffene[s] Denkschema“.431 Liturgisch habe es dazu geführt, die Predigt zu spiritualisieren und umgekehrt das Sakrament zu verzaubern.432 Theologisch gehe diese Unterscheidung aber grundlegend an der Intention der Reformation vorbei, da es den Reformatoren gerade darum ging, die vermeintliche Objektivität des Heils, wie sie sich in der römischen Lehre zeigte, durch die Dynamik des göttlichen Wortes zu überwinden. Dieses sei eben nicht als das ‚Objektive‘ zu bestimmen, dem die einzelnen Subjekte gegenüberstehen und zu dem sie sich so oder anders verhalten können. Vielmehr sei reformatorisch von einer „Einheit von Gott und Glauben“ auszugehen.433 Drittens aber stellt sich bei Harbsmeier das Problem in neuer Schärfe dar, wie es gelingen kann, die Externität des Wortes Gottes (das verbum externum als viva vox evangelii) auch und gerade (!) im liturgischen Vollzug festhalten, ohne sie mit dem Verweis auf die Predigt so zu beantworten, dass das Subjekt des Predigers bzw. des hörenden, verstehenden und sich entscheidenden Rezipienten in den Mittelpunkt rückt. Harbsmeier betont entschieden, dass das Wort den Kult kritisch begrenzt und so davor bewahrt, zum Götzendienst zu werden. Er schreibt: „Es ist allein das Wort der rechten Auslegung, das das Kultische im Dienste der Auslegung, ja auch der Selbstauslegung Jesu Christi (Abendmahlsworte) wirklich festzuhalten vermag und es davor bewahrt, die Herrschaft über das Wort auszuüben.“434

Diese Herrschaft über das Wort sieht Harbsmeier vor allem darin, dass der Kult das Wort in eine Rolle drängt, die zu dessen „Intellektualisierung“ füh429 Vgl. besonders die in den Anmerkungen zu diesem Abschnitt bereits mehrfach zitierte „Theologie der Gottesdienstgestaltung“ von Okko Herlyn. 430 Vgl. dazu oben Kap. 2.2.1. 431 HARBSMEIER: Wort und Sakrament, 48. 432 Vgl. HARBSMEIER: Wort und Sakrament, 49. 433 HARBSMEIER: Dass wir die Predigt, 102; vgl. auch aaO., 94.101f.110, sowie ders.: Theologie des Gottesdienstes, 88. 434 HARBSMEIER: Dass wir das Wort, 142.

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ren muss. Es erscheine dann nämlich nur noch als „Deutewort“ des Kultus, nicht mehr als „geschichtliches Wort des Lebens“.435 Meine Frage, die im Lauf der Erarbeitung wieder aufgenommen werden soll, lautet umgekehrt: Ist nicht gerade der Kult in der Lage, die Horizontalisierung des Wortes in die Subjektivität hinein aufzubrechen und so das Wort eigentlich als das verbum externum erscheinen zu lassen, das reformatorisch gemeint ist? Und wäre nicht gerade in dieser Hinsicht die Gestaltfrage erheblich stärker zu gewichten, als Harbsmeier dies tut, wenn er emphatisch die Freiheit gegenüber dem Kult betont? Der reformierte Theologe Okko Herlyn, der Harbsmeier in seiner Kult-Kritik ansonsten in zahlreichen Aussagen sehr nahe kommt, verweist zurecht auf die Bedeutung der Gestaltfrage und kritisiert deren Vernachlässigung in der reformatorischen Theologie der Vergangenheit und Gegenwart. Unter anderem argumentiert er mit der dritten These der Barmer Theologischen Erklärung, wonach die „falsche Lehre verworfen“ wird, „als dürfe die Kirche die Gestalt (!) ihrer Botschaft … ihrem Belieben … überlassen.“436 Und fährt fort: „Gerade wer sich einer Theologie des Wortes Gottes verpflichtet weiß, wird sich einer Theologie der Gottesdienstgestaltung nicht grundsätzlich verschließen können.“437 (b) Humanorientierte Kultkritik – oder: Die Notwendigkeit der Ent-Kultung des evangelischen Gottesdienstes im Namen der menschlichen Freiheit in der Kommunikation des Evangeliums In vieler Hinsicht lässt sich ein deutlicher Bruch zwischen den theologischleitenden Strömungen in der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und den Neuansätzen der 1960er und 1970er Jahre wahrnehmen. In einer Hinsicht aber gab es vor allem Kontinuität: in der Kultkritik. Lediglich war die leitende Argumentation eine andere: Protestierte die dogmatische Kultkritik dialektisch- und existential-theologischer Prägung gegen den Kult im Namen der Freiheit des göttlichen Wortes, so tat es die humanorientierte Kultkritik der 1960er und 1970er Jahre im Namen der Freiheit des Menschen. Vergleichbar mit der älteren liturgischen Bewegung erkannten viele die Starrheit, „verordnete Einheit“ (Peter Cornehl) und mangelnde Lebendigkeit der Gottesdienste nach Agende I als grundlegendes Problem. Ernst Lange schrieb: „Wir wollen mit unserem Gottesdienst weg von der ‚Kult-

435

HARBSMEIER: Dass wir das Wort, 143. Zitiert nach HERLYN: Theologie der Gottesdienstgestaltung, 18. 437 HERLYN: Theologie der Gottesdienstgestaltung, 18. 436

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

feier‘ und hin zur lebendigen Gemeindeversammlung.“438 Befreiung vom „Kult“ bedeutet für Lange Freiheit zur Kommunikation untereinander (indem die Barrieren zwischen der priesterlichen Rolle und den übrigen Feiernden niedergerissen werden) und zugleich zum Handeln in der Welt (indem die Barriere zwischen Sonntag und Alltag im Sinne eines dynamischen Wechselschritts überwunden wird). Ich stelle Langes Liturgik im Folgenden knapp unter diesen beiden Aspekten vor und diskutiere im Anschluss deren Auswirkungen auf Theologie und Gestaltung des Gottesdienstes. (i) Befreiung vom Kult als Freiheit zur Kommunikation untereinander: Ernst Langes Überlegungen zum Gottesdienst, gesammelt erstmals 1965 in seinem Buch „Chancen des Alltags“, gründen vor allem auf eigenen Erfahrungen in der „Evangelischen Gemeinde am Brunsbütteler Damm“ in Berlin-Spandau und hier besonders im Erproben der so genannten „Ladenkirche“. Schon durch die Wahl des Ortes für das Gemeindeleben (ein ehemaliger Bäckerladen) wurde jede ‚kultische‘ Topographie (ein abgegrenzter Altarraum, feste Bänke in gemeinsamer Ausrichtung etc.) und jede sakrale Aura (ein durch sein Alter, seine Höhe etc. ‚Ehrfurcht‘ gebietender Raum) ausgeschlossen.439 Man traf sich „in dem nüchternen, kleinen Verkaufsraum einer ehemaligen Bäckerei […] ohne jeden Schutz durch Talar, Kanzel und andere Mittel kultischer Verfremdung“.440 Auch Lange geht epistemologisch von der Bibel aus – und hier zunächst von der Beobachtung, wonach im Neuen Testament ‚profane‘ Begriffe für die spezifischen gottesdienstlichen Zusammenkünfte der Christen verwendet werden, die damit den Unterschied markieren „von allem, was in den Tempeln der Zeit geschah“.441 Bei den Zusammenkünften in den Häusern (und damit: in ganz und gar alltäglichem Kontext) haben „Christen die Gegenwart Christi“ erfahren, und umgekehrt: „Christus erweist seine Wirklichkeit im alltäglichen Zusammenkommen, Zusammensein und Zusammenspiel von Menschen.“442 „Koinonia“ könne so als Leitwort des frühen christlichen Gottesdienstes bezeichnet werden.443 Freilich sei diese grundlegende Haltung in der Geschichte des Christentums nicht durchgehalten worden. Vor allem durch die Theologie des „sühnenden Opfers“ habe sich der christliche Gottesdienst „den Kultveranstaltungen anderer Religionen“ gleichgestellt.444 Die Reformation habe hier 438

LANGE: Kirche für die Welt, 63 (aus: Bilanz 65). Vgl. dazu REIN: Das Fremde, 545; DEML-GROTH: Gesprächsgottesdienste, 75. 440 LANGE: Zur Aufgabe christlicher Rede, 54. 441 LANGE: Chancen des Alltags, 26. 442 LANGE: Chancen des Alltags, 27. 443 Vgl. LANGE: Chancen des Alltags, 28. 444 Vgl. LANGE: Chancen des Alltags, 29–35 [Zitat: 34]. 439

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einen Umbruch im Denken gebracht, zunächst aber die „überkommene Ordnung“ beibehalten.445 Problematisch sei diese erst geworden, als die „parochiale Symbiose“, d.h. die Verwurzelung der Kirche mitten im Alltag der Menschen, im Zuge der industriellen und gesellschaftlichen Entwicklung auseinanderbrach und die Kirche mit ihrem Gottesdienst mehr und mehr an den Rand des alltäglichen Lebens gedrängt wurde.446 Damit sei auch der Gottesdienst zu einem Sonderbereich im Jenseits des übrigen Lebens geworden – eine Entwicklung, die Lange aufgrund der unaufgebbaren Bindung Gottes an alle Bereiche des Lebens für in höchstem Maße problematisch hält. Es stellt sich daher für Lange die Frage, wie sich der Anspruch der Christusverheißung neuerlich auf das ganze Leben der verschiedenen Glieder der Gemeinde auswirken kann. Er fordert dazu vor allem ein neues Miteinander von Pfarrern und Laien, das die alte hierarchische Unterscheidung einer priesterlichen Rolle und einer Rolle der Unmündigen überwindet447 und beiden spezifische Aufgaben zuweist: „Das Verstehen der biblischen Tradition wäre das Geschäft des Theologen, das Verstehen der Situation der Gemeinde und ihrer Glieder in der Umwelt aber wäre die unvertretbare Aufgabe der Laien.“448

Aus diesem Impuls müsse es auch zu einem Neuverstehen dessen kommen, was Liturgie bedeutet. Eine „behutsame Modernisierung der klassischen Formen und Formeln“ könne nicht mehr genügen. „Verantwortliche heutige Liturgie erwüchse auf dem gleichen Boden wie die Verkündigung, auf die sie antwortet, im anhaltenden Gespräch der Gemeinde, in der gemeinsamen Meditation der Schrift von der Wirklichkeit her und der Wirklichkeit von der Schrift her.“449 Die Christusverheißung, die Lange als tragenden Grund des Gottesdienstes und der Kirche versteht, komme „zum Durchbruch in menschlicher Kommunikation“.450 Und weiter: „Menschen haben nicht anders an Christus teil als so, daß sie zugleich aneinander teilhaben.“451 Damit gilt: 445

Vgl. LANGE: Chancen des Alltags, 36f [Zitat: 37]. Vgl. LANGE: Chancen des Alltags, 39–50. 447 Vgl. LANGE: Zur Aufgabe der Predigt, 61f: „Wir sind nicht zusammen wie Priester und Laie, wie Lehrer und Schüler, wie Obrigkeit und Untertan, wie Produzent und Konsument, sondern wie die Mitglieder eines Teams bei der gemeinsamen Arbeit, unterschieden in der Funktion, gleichen Rechts und gleichen Ranges, was den Beitrag zum Gelingen der gemeinsamen Arbeit anlangt.“ 448 LANGE: Chancen des Alltags, 53 [hier im Blick auf die Predigt formuliert]; vgl. aaO., 63f.150. 449 LANGE: Chancen des Alltags, 54. 450 LANGE: Chancen des Alltags, 110. 451 LANGE: Chancen des Alltags, 111. 446

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

„Eine Kirche, die die Glaubenden nicht in Kommunikation bringt, eine Kirche, deren Sprache nicht der Verständigung dient, eine Kirche, deren Ämter das Wort als Monopol verwalten, eine Kirche, deren Ordnungen die Gruppen in ihrer ‚natürlichen‘ Isolierung voneinander und Abwehr gegeneinander belassen und deren Programme nicht der verantwortlichen Zusammenarbeit im Glauben dienen, sondern durch Versorgung entmündigen, bleibt ihren Gottesdienst schuldig, mögen ihre Liturgien noch so reich sein.“452

Form und Inhalt bleiben bei Lange verbunden. Das Beieinander-Bleiben, das Miteinander-Kommunizieren bedeutet, „bei der Verheißung“ und d.h. „bei der biblischen Überlieferung“ zu bleiben und diese immer wieder neu in die Kommunikation und damit auch in den Alltag zu tragen.453 Damit ist der genuin reformatorische Impuls des „Priestertums aller Gläubigen/Getauften“ bei Lange so aufgenommen, dass er nicht leere Formel bleibt, die faktisch durch eine Vorordnung des ordinierten Amtes im Sinne des „ministerium ecclesiasticum“ von CA XIV unterlaufen wird, sondern auf seine Gestaltseite hin bedacht wird. Lange überlegt konkrete Formen, in denen das „mutuum colloquium“ eingeübt werden kann – und schlägt hierzu u.a. ein erneuertes gemeindliches Katechumenat vor.454 Kritisch lässt sich allerdings fragen: Hebt Lange den problematischen Rollenunterschied, der Kommunikation zu behindern droht, wirklich auf? Wenn die herausgehobene Rolle des Predigers nach CA XIV rein funktional verstanden und vom göttlichen Wort her bestimmt wird (und nicht doch – wie teilweise in der Argumentation des 19. Jahrhunderts – ontologisch reformuliert wird),455 bleibt sie (theoretisch jedenfalls!) offen für die verschiedenen Glieder der Gemeinde, wogegen Langes Entgegensetzung von zwei Weisen des ‚Expertentums‘ eine je unterschiedliche personale ‚Kompetenz‘ (der Begriff findet sich so nicht bei Lange456) voraussetzt, die die Rollen klar zuweist. Wäre es möglich, anstatt Pfarrer und „Laien“ auf unterschiedliche inhaltliche Kompetenzbereiche (die biblische Überlieferung, den Alltag) zu verteilen, beide als unter dem ihnen gegenüber stehenden Wort zu verstehen, von dem her innergemeindliche (und liturgische) Kommunikation ihre Spezifität und ihr Gepräge erhalten würde?457

452

LANGE: Chancen des Alltags, 111. LANGE: Chancen des Alltags, 113 [vgl. insg. 113–116]; vgl. dazu auch DEML-GROTH: Gesprächsgottesdienste, 68. 454 Vgl. LANGE: Chancen des Alltags, 217–223. 455 Vgl. dazu auch HERMELINK: Kirchliche Organisation, 38–40. 456 Lange spricht eher von den „Sachverständigen“, vgl. LANGE: Chancen des Alltags, 64. 457 Diese Fragestellungen sollen unten (Kap. 6.3) wieder aufgenommen und genauer auf das liturgische Rollenverständnis befragt werden. 453

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(ii) Befreiung vom Kult als Freiheit zum Wechselspiel von Sonntag und Alltag: Es herrsche, so Ernst Lange, gegenwärtig das verbreitete Gefühl, wonach „die Kirche […] eine Zuflucht aus den alltäglichen Bedrängnissen“ sei, weswegen der Gottesdienst „dem Alltäglichen weit entrückt sein“ solle.458 Dieser verbreiteten Erwartung stellt Lange die christologisch begründete These entgegen, wonach von Gottes Gegenwart in der Bibel so die Rede sei, dass diese „nicht im Außergewöhnlich-Sakralen, sondern in der Menschlichkeit eines Menschen aus Fleisch und Blut, der den alltäglichen Belastungen menschlichen Daseins genauso unterworfen ist wie jeder andere Mensch“, gesprochen wird.459 Die Jesusgeschichte „spielt […] nicht im Tempel von Jerusalem, sondern auf den Straßen und Märkten Galiläas, nicht in der Sakralität, sondern in der Profanität.“460 Damit gelte auch für den Gottesdienst: „Sein einziger Grund, sein einziger Sinn und seine einzige Verheißung ist der Selbsterweis, die Selbstmitteilung und die Selbstdurchsetzung Gottes im Beziehungsfeld unseres wirklichen, alltäglichen Daseins: daß er durch Jesus Raum gewinne in unserem Alltag, wie er Raum hatte auf den Straßen, den Märkten und den Äckern, am See und im Bergland Galiläas; daß er durch Jesus Zeit bekomme in den Stunden unseres Lebens, den Stunden der Gemeinschaft und der Einsamkeit, der Arbeit und der Ruhe, wie er Zeit bekam in den Gezeiten der Mitmenschlichkeit, die das Leben Jesu bestimmten; daß er durch Jesus Herr werde über unser Verhalten, so, wie seine Herrschaft sichtbar geworden ist im Verhalten Jesu selbst […]; daß er durch Jesus zur Sprache komme in allen unseren Worten und Taten und Beziehungen […].“461

Von der Inkarnation her denkt Lange das Leben der Kirche – und gelangt damit unmittelbar zur Aufhebung der Unterscheidung von Profanität und Sakralität und zur Bestimmung der Profanität als von der Verheißung der Gegenwart Gottes erfüllter Profanität. Dieser theologischen Grundbestimmung widerspricht die „merkwürdige ‚Exzentrizität“ des Gottesdienstes; sowohl für die Distanzierten als auch für die Kirchentreuen stehe er nicht mehr im Kontext des Alltags, sondern in einem problematischen Abseits davon.462 Gegenüber der Verschiebung des Gottesdienstes auf einen Bereich jenseits des Alltags wagt Lange den kühnen Sprung und bestimmt den Alltag als den „Ernstfall des Glaubens“, in dem es darauf ankomme, „Verheißung und Wirklichkeit“ zusammenklingen zu lassen.463 Das berühmte Bild 458

LANGE: Chancen des Alltags, 13. LANGE: Chancen des Alltags, 14. 460 LANGE: Chancen des Alltags, 15f. 461 LANGE: Chancen des Alltags, 24f. 462 LANGE: Chancen des Alltags, 47; vgl. zu dem Begriff der „Distanzierten“ aaO., 46; zu den „Kirchentreuen“ aaO., 47. 463 LANGE: Chancen des Alltags, 53. 459

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

des Miteinanders von „Ekklesia und Diaspora“ hält bei Lange die beiden Seiten des Gottesdienstes zusammen: die Versammlung und die Zerstreuung als die „beiden Zustände“ des Gottesdienstes der Gemeinde,464 der damit insgesamt metaphorisch als Gottesdienst im „Tor, im ständigen Übergang von der Ekklesia in die Diaspora und von der Diaspora in die Ekklesia“ beschrieben wird.465 Für den Gottesdienst am Sonntag folgt daraus die Forderung einer „‚flüssige[n]‘ Liturgie“, die die gegenwärtige Situation und Sprache mit der überkommenen Sprache verbindet.466 Er müsse sich den Gefahren der „Uniformierung“, „Traditionalisierung“, „Sakramentalisierung“ und „Klerikalisierung“ widersetzen.467 Bei Lange wird der Gottesdienst von der „Verheißung“ her beschrieben, die als „Christusverheißung“ inhaltlich bestimmt wird.468 Im Gottesdienst komme es – für die Handelnden und Redenden ganz und gar unverfügbar – zum Glauben als dem „Wunder der Einwilligung“ des Menschen in die Gegenwart Gottes in der jetzt gegebenen Situation.469 Es ist dieser theologische Hintergrund, der die Forderung nach einer Verflüssigung der Grenze zwischen Alltag und Sonntag und nach einem kommunikativen Miteinander der Gemeindeglieder motiviert und zu Vorschlägen zu einer Neugestaltung der Liturgie und zur Flexibilisierung der Formen führt. In der Abwehr einer Liturgiegestaltung, die einseitig auf die Tradition setzt, schreibt Lange: „Traditionalistische Liturgie droht zur Aufführung zu werden. Kein Zweifel, man kann an dieser Aufführung, wenn man sie versteht, eine große und reine Freude haben, – wie an einem Museumsbesuch oder an der Lektüre der Märchen der Kinderzeit. Aber man kann nicht freiwerden zu jenem Ganzopfer der Existenz, in dem meine alltägliche Sprache, mein Sprechen verfügbar wird für das Zur-Sprache-Kommen der Verheißung in der Wirklichkeit dieser Welt.“470

Der als dramatisches Kunstwerk rezipierte Gottesdienst greift für Lange ethisch zu kurz. Er steht der intendierten und gebotenen Befreiung des Menschen in der Durchdringung des Alltäglichen mit der Gottesverheißung im Wege. Genau dies gilt auch für jene Wege der Liturgiegestaltung der Gegenwart, die Lange als „Sakramentalisierung“ bezeichnet: Natürlich gewönne der Gottesdienst dabei „an Zauber, an Glanz, an Schönheit“ und an 464

Vgl. LANGE: Chancen des Alltags, 141–151 [Zitat: 141]. LANGE: Chancen des Alltags, 147. 466 LANGE: Chancen des Alltags, 54. 467 Vgl. LANGE: Chancen des Alltags, 58–64. 468 Vgl. insgesamt LANGE: Chancen des Alltags, 66–177. 469 Vgl. LANGE: Chancen des Alltags, 23f. 470 LANGE: Chancen des Alltags, 60. 465

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faszinierender „Fremdheit“, wenn vor allem „der eucharistische Ritus“ und nicht mehr die Predigt im Mittelpunkt stehe; dies aber sei nicht die „Attraktion“ „der verheißungsvollen Gegenwart Gottes in der Mitte der Wirklichkeit“, sondern die Verlagerung und Verschiebung des gottesdienstlichen Geschehens auf ein Jenseits der Wirklichkeit.471 Stattdessen müsse der Gottesdienst dem „Bleiben bei der Verheißung“472 dienen. Umfassender formuliert: Der Gottesdienst der Gemeinde „ist die Sorge für das Medium, in dem Christus seinen Gottesdienst tut“.473 Damit ist die Möglichkeit des Gottesdienstes und gleichzeitig seine kritische Grenze beschrieben: Diese liegt im Handeln Gottes selbst, der den Glauben und damit den Durchbruch der Verheißung474 wirkt. Kultische Sakramentalisierung stehe der Unmittelbarkeit des Redens und Wirkens Christi im Weg; eine vermeintlich objektive Liturgie, „heilige Riten“ oder entsprechende „Repräsentationsvorgänge“ schaffen einen Bereich kirchlich verwalteter Sakralität, der gerade verhindern würde, dass die Wirklichkeit des Menschen mit der Gottesverheißung in Christus verwoben wird.475 Entscheidend für den gelingenden Gottesdienst sei vielmehr der Charakter des Gottesdienstes als Zeugnis durch die „Treue zur Situation“. Lange schreibt: „Zu einem Zeugnis, das den Menschen in seiner Anfechtung trifft, wird dieses Nachsprechen der Überlieferung nicht durch irgendeine geheimnisvolle Qualität der biblischen Texte […]; nicht durch eine besondere Vollmacht, die der Funktion der liturgischen Rede als solcher oder dem ‚Amt‘ der Kirche innewohnte; und auch nicht dadurch, daß die Redenden dem, was sie in der Überlieferung hören, ihre eigene Überzeugung, ihre eigene gute Erfahrung mit Gott beigäben, so daß also die Tröstung der Gemeinde vom Pegelstand der unangefochtenen Frömmigkeit abhinge, die in ihr verfügbar ist. Zum Zeugnis, das trifft, wird die Bezeugung der Liturgie durch die Treue zur Situation.“476

Die alte Geschichte Gottes mit seiner Welt, wie sie in der Bibel Zeugnis geworden ist, werde eine neue Geschichte und mache eine neue Geschichte, indem sie „situationsgerechte Sprache“ finde.477 Es müsse daher immer auch um neue Sprache und das neue Lied gehen (wobei Lange freilich weiß, dass dies ohne die Aufnahme alter Worte und überlieferter Lieder nicht geht478). 471

LANGE: Chancen des Alltags, 62. LANGE: Chancen des Alltags, 110. 473 LANGE: Chancen des Alltags, 135. 474 Vgl. zu dieser Formulierung LANGE: Chancen des Alltags, 138. 475 Vgl. LANGE: Chancen des Alltags, 164. 476 LANGE: Chancen des Alltags, 166f. 477 LANGE: Chancen des Alltags, 167. 478 Vgl. LANGE: Chancen des Alltags, 168f. 472

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

Wie bei Harbsmeier rückt damit auch bei Lange die Kommunikationsbemühung in der Predigt („als dem eigentlichen Kern der Bezeugungsbemühung in der Liturgie“479) in den Mittelpunkt. Hier geschehe herausgehoben und exemplarisch, was das Ziel des Gottesdienstes sei (wobei die Predigt freilich insgesamt in die Kommunikationsleistung der Gemeinde verwoben gedacht ist). Es gehe darum, die Relevanz des Glaubens für das alltägliche Leben zu erweisen,480 für die „Lebenswirklichkeit“ und „spezifische Situation“.481 Das Ziel des Gottesdienstes in der Ekklesia-Phase kann insgesamt als hermeneutisches beschrieben werden; in Langes eigenen Worten: „Die Funktion der Gemeindeversammlung, der Liturgie wäre es also, Menschen zu ermächtigen zur Wahrnehmung der alltäglichen Wirklichkeit im Licht der Christusverheißung.“482 Damit stellt sich die Frage, wie sich die spezifisch theologische Dimension des Gottesdienstes, von der Lange spricht und die er als das unverfügbare Ereignis des Durchbruchs der Verheißung bezeichnet, zu der menschlich-hermeneutischen Leistung des Gottesdienstes verhält. Wird – überspitzt gefragt – die Christusgegenwart im Alltag der Welt, die im Gottesdienst von Gott her zum Ereignis werden kann, hinein verlagert in die gelungene Kunst des Versprechens von Tradition und Situation in der Predigt und in die verstehende Rezeption durch die Gemeinde, aufgrund derer die Christusbotschaft als „relevant“ einsichtig wird? Wird der Gottesdienst insofern machbar und beherrschbar – und gleichzeitig der Druck auf den Prediger und die Erwartung an die Predigt immens? Bleibt das gelassene Vertrauen auf die Wirksamkeit des äußeren Wortes, die für Luther charakteristisch war, gewahrt? 1973, in seinem berühmten Referat auf dem Düsseldorfer Kirchentag mit dem Titel „Was nützt uns der Gottesdienst?“, korrigiert Ernst Lange einige seiner liturgischen Thesen der früheren Jahre, vor allem die radikale „Litur479 LANGE: Chancen des Alltags, 169. Vgl. auch ebd.: „Also hängt unter dem Gesichtspunkt der Bezeugung alles an der Predigt.“ – Das Abendmahl erscheint bei Lange nicht unter dem Funktionsaspekt der Bezeugung, sondern als „Homologie“, als bekennendes Einstimmen der versammelten Gemeinde in die Christuswirklichkeit inmitten der Weltwirklichkeit (vgl. aaO., 173– 177). 480 Vgl. LANGE: Zur Aufgabe christlicher Rede, 55; vgl. auch REIN: Das Fremde, 546. – Am Beispiel des Gesprächs mit einem Arbeiter führt Lange aus: „Genau das wäre doch die Aufgabe deiner Predigt, so vom Glauben zu reden, daß seine Relevanz für das Leben dieses Mannes unbestreitbar wird. Ob er dann glaubt oder nicht glaubt, sein Leben auf die biblische Verheißung gründet oder nicht, ist eine ganz andere Frage, die du nicht zu beantworten vermagst. Aber daß er versteht, wie die Verheißung mit seinem Leben zusammengehört, wie sie die Wirklichkeit seines alltäglichen Lebens verändert, wenn er ihr traut, dafür bist du als Prediger haftbar. Genau das ist deine Verantwortung als Prediger“ (LANGE: Zur Aufgabe christlicher Rede, 55). 481 LANGE: Zur Aufgabe christlicher Rede, 57; vgl. zu einer systematisierenden und kritischen Zusammenfassung der Homiletik Langes ZIMMERLING: „Dem Wunder den Weg bereiten“. 482 LANGE: Chancen des Alltags, 194.

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giekritik“.483 Er erkennt die Unhintergehbarkeit des Gottesdienstes für das Sein der Kirche: „Man mißversteht das Christentum und man leitet die Kirche in ihrer Reform auf eine falsche Fährte, wenn man meint, es gäbe eine auf Dauer wirksame Präsenz des Christlichen in der Welt an der Liturgie vorbei […].“484

Dabei wird für Lange die Grunderkenntnis entscheidend, dass (religiös bzw.) christlich verstandene Identität die Begründung „außerhalb unser selbst“ bedeutet485 – eine Begründung, die der Inhalt der Religion sei und die rein phänomenologisch auch bedeute, dass in religiösen Vollzügen Raum ist für all das, was sonst im Leben der Reglementierung durch Zwänge und Vorgegebenes unterliegt: „das Sinnliche […], das Asketische, […] das Nutzlose und Unnütze, das Festliche und das Spielerische“.486 Es gehe daher „im liturgischen Spiel, in der symbolischen Begehung“ auch um „Distanz, Kritik und Selbstkritik, Überholung des Alltäglichen“.487 Liturgie könne beschrieben werden als „Wiederaufführung“ des „Festes“, das Jesus selbst ist,488 und als spielerische Antizipation des Reiches Gottes als „Übungsfeld unserer Freiheit“.489 Das Abendmahl erscheint für Ernst Lange als dichteste Darstellung dieses Spiels – und es ist charakteristisch, wie sich der Fokus liturgischer Aufmerksamkeit bei Lange von der Predigt auf das Abendmahl verschiebt und wie gleichzeitig Grundbegriffe der Liturgik Schleiermachers (Darstellung, Feier490) sowie in der Liturgik jener Jahre aufgrund humanwissenschaftlicher Überlegungen neu entdeckte Begriffe wie Ritus und Symbol Bedeutung gewinnen. Trotz der Betonung des rituellen und spielerischen Feiercharakters des Gottesdienstes bleibt Lange allerdings dabei: Den Gottesdienst, den es heute zu suchen gilt, könne man nicht finden „auf den Wegen des liturgischen Traditionalismus“.491 Gleichzeitig aber scheitere auch der Weg, „den Gottesdienst um[zu]funktionieren in eine Aufklärungs- und Lernveranstaltung“;492 es müsse Schluss sein „mit der zerquälten Moralisierung und Ethisierung des Gottesdienstes“.493 483

LANGE: Was nützt uns der Gottesdienst, 84. LANGE: Was nützt uns der Gottesdienst, 84. 485 LANGE: Was nützt uns der Gottesdienst, 86. 486 LANGE: Was nützt uns der Gottesdienst, 86. 487 LANGE: Was nützt uns der Gottesdienst, 87. 488 LANGE: Was nützt uns der Gottesdienst, 89. 489 Vgl. LANGE: Was nützt uns der Gottesdienst?, 89f [Zitat: 89]. 490 Vgl. zum Begriff der „Darstellung“ bes. LANGE: Was nützt uns der Gottesdienst?, 93, zum Begriff der „Feier“ bes. aaO., 94f. 491 LANGE: Was nützt uns der Gottesdienst, 92. 492 LANGE: Was nützt uns der Gottesdienst, 92; vgl. insg. ebd., 92f. 493 LANGE: Was nützt uns der Gottesdienst, 93. 484

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

Wie genau der Gottesdienst konzipiert werden sollte, der jenseits liturgisch traditioneller Form und aufklärerisch-lehrhafter Formlosigkeit zu suchen wäre, lässt Lange weitgehend unbeantwortet. Nur einige Andeutungen finden sich in dem Text: Das Alte und Überkommene solle als „Anschauungs- und Schulungsmaterial“ dienen und damit als „Steinbruch für zukünftige Gestaltung“;494 die „liturgische Normalität“495 des Gemeindegottesdienstes am Sonntagmorgen solle neben aller notwendigen Zielgruppenarbeit neu gewürdigt und von der kritisch-visionären Vorgabe des „Fest[es] des Menschen im Namen Jesu“496 her gestaltet werden. Der neu zu suchende Gottesdienst war bei Lange christologisch und (das ist neu gegenüber den Ansätzen in „Chancen des Alltags“, entspricht aber zugleich der theologischen Entwicklung jener Jahre497) eschatologisch motiviert. Weit weniger theologisch reflektiert und fundiert als bei Lange gestalteten sich nicht wenige liturgische Aufbrüche in den 1960er- und 1970er-Jahren. Vielerorts wehte ein sanfter oder auch stürmischer „wind of change“, der die Nachkriegsagende vom Altar blies und zu unterschiedlichsten liturgischen Experimenten ermutigte, die einmal eher kognitiv angelegt waren (Stichwort: Kommentargottesdienste), einmal eher emotional orientiert waren (Stichwort: Frauenliturgien) oder bewusst versuchten, Kognitives und Emotionales zu verbinden (Stichwort: Feierabendmahl).498 Götz Harbsmeier und Ernst Lange stehen hier exemplarisch für zwei Linien der Kritik am Kult bzw. am „Liturgismus“, die für den Protestantismus der Gegenwart charakteristisch erscheinen. Es wäre möglich, sie als Auswirkungen eines „links-“ bzw. „rechtsprotestantischen Flügels“ zu beschreiben, wie Ralph Kunz und Felix Moser dies im reformierten Kontext tun.499 Drei Fragekomplexe gewinnen angesichts dieser Wahrnehmung der Liturgiken Götz Harbsmeiers und Ernst Langes Profil: (1) Zunächst stellt sich die Frage nach der Bedeutung der Tradition für eine gegenwärtige Gottesdienstgestaltung neu. Langes Abwehr gegen einen ‚leeren‘ „Liturgismus“ entspricht der Abwehr des Kultischen durch Harbsmeier 494

LANGE: Was nützt uns der Gottesdienst, 92. LANGE: Was nützt uns der Gottesdienst, 93. 496 LANGE: Was nützt uns der Gottesdienst, 93. 497 Vgl. hierzu vor allem Jürgen Moltmanns 1964 erstmals erschienene „Theologie der Hoffnung“ und hier bes. 299–304 [Die Christenheit im Erwartungshorizont des Reiches Gottes]. 498 In seinem 1985 zuerst erschienenen Aufsatz „Daß das Wort im Schwang gehe“ verweist Karl-Heinrich Bieritz auf die gegenwärtige Tendenz, die Gemeinschaft im Gottesdienst als neue „Meta-Regel“ zu favorisieren, die sich an der „Entwicklung eines ‚gruppengemeinschaftlichen‘ Frömmigkeitsstils“ erweise (aaO., 100). 499 Vgl. KUNZ/MOSER: Alles bleibt, 171 Anm. 48; als Vertreter eines „linken (liberalen) Flügel[s]“ der Kultkritik kommt Theophil Müller zu stehen, als Vertreter eines „rechten (kerygmatischen) Flügel[s]“ Okko Herlyn. 495

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und unterscheidet sich doch zugleich von ihr: Sowohl Lange als auch Harbsmeier betonen die Gefahr des Kultischen, die in der Flucht in einen vom Menschen selbst errichteten Sonderbereich jenseits des alltäglichen Lebens, jenseits der Profanität besteht. Bei Lange ist es dann allerdings eher das Problem der Leere und Bedeutungslosigkeit des traditionellen Rituals, das zu seiner Ablehnung führt, bei Harbsmeier gerade umgekehrt die immense Bedeutung, die es für den sich kultisch selbst behauptenden Menschen Gott gegenüber erhält. Harbsmeier weiß um die Unhintergehbarkeit der kultischen Form – und bemüht sich um deren Relativierung durch das erkennende Subjekt des Glaubenden; Lange geht weiter und lehnt die Übernahme traditioneller Formen ab und fordert deren Neugestaltung bzw. die Kreation gänzlich neuer Spielformen. Die Frage nach der möglichen theologischen Bedeutung der vorgegebenen liturgischen Tradition wird damit von beiden Theologen nicht gestellt – weder so, dass eine interpretierende Nachzeichnung der Bedeutung der traditionellen liturgischen Zeichen versucht wird,500 noch so, dass reflektiert würde, inwiefern das ‚Gegebensein‘ der Tradition einen Schritt zu jener heilsamen Selbstdistanzierung bedeuten könnte, die Lange 1973 als grundlegend für den evangelischen Gottesdienst betont. (2) In Ernst Langes „Chancen des Alltags“ wie auch in Harbsmeiers Schriften zum Gottesdienst steht die Predigt im Zentrum des Gottesdienstes und wird als entscheidender Ort des Wortgeschehens betont. Ernst Lange rückt acht Jahre später von dieser Position ab und unterstreicht nun umgekehrt die Bedeutung des Abendmahls als exemplarischem Ausdruck sinnlich-symbolischer und spielerisch-feiernder Ausdrucksformen der Liturgie. Das Problem der Instrumentalisierung und Intellektualisierung steht hinter dieser Verschiebung der Position; die Frage aber bleibt bestehen: Wie kann die theologische Dynamik des Wortgeschehens, die sowohl Harbsmeier als auch Lange hervorheben, so Gestalt finden, dass es nicht zu einem Entweder-Oder primär sinnlicher respektive primär kognitiver Rezeption kommt? (3) Bei aller Kritik am Kult kehrt dieser doch bei Lange und bei Harbsmeier wieder: bei Harbsmeier als die durch das dominante Wortgeschehen in Klammern gesetzte und inhaltlich neu bestimmte unhintergehbare „Form“, bei Lange unter dem Vorzeichen der eschatologischen Freiheit als Darstellung und spielerische Einübung der neuen und verwandelten Existenz des Glaubenden. Es zeigt sich: Trotz aller Kritik am Kult kommt auch evangelisches Christentum nicht am Kult vorbei. Oder – theologischer for500 Lange meint scharf, das liturgische „Erbe“ sei nur „für einen Geheimzirkel liturgischer Sachverständiger und geschulter Kerngemeindemitglieder“ verständlich – ohne aus dieser Beobachtung liturgiedidaktische Überlegungen abzuleiten (vgl. LANGE: Was nützt uns der Gottesdienst, 92).

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muliert: Der Kult bleibt unhintergehbar, sofern es im Gottesdienst immer um menschliches Handeln in der Erwartung und unter der Verheißung der Gottesgegenwart geht. Manfred Josuttis hat auf dieses Phänomen im Zusammenhang der Frage nach dem Wechselspiel von „Profanität“ und „Sakralität“ aufmerksam gemacht. Er erkennt, dass der Protestantismus „die fundamentale Unterscheidung von heilig und profan für durch den christlichen Glauben überholt erklärt“ habe.501 Faktisch aber sei der Protestantismus damit in einen „Widerspruch zwischen Verhalten und theologischer Reflexion“ geraten,502 insofern nämlich Weisen des Verhaltens („Hutabnahme“ im Gottesdienstraum, Schweigen, Ausgrenzung eines Altarbereichs, Prägung bestimmter sozialer Interaktionen etc.) die Heiligkeit gegenüber der „behaupteten Profanität“ aufweisen.503 Josuttis’ Schlussfolgerung: „Christlicher Gottesdienst heute kann nicht zurück in die archaische Sphäre heiliger Wirklichkeit, kann sich aber auch nicht auflösen in ein funktionierendes Institut zur politischen, pädagogischen oder therapeutischen Psychohygiene. Gottesdienst findet in der Gegenwart statt an der Grenze zwischen verlorener Sakralität und drohender Profanität, in den Trümmern des Tempels.“504

Die Frage bleibt: Welche Möglichkeit gibt es, theologisch mit dem Phänomen des Kults umzugehen, so dass er nicht als bloße Verlegenheit erscheint (Harbsmeier), sondern die „Trümmer des Tempels“ zu einem genuinen Ort einer evangelischen kultischen Topographie werden? Dieser Frage gehe ich weiter nach, zeige aber zunächst knapp auf, welche praktischen Konsequenzen sich aus den Tendenzen der Ent-Kultung ergeben haben und in der Gestalt des evangelischen Gottesdienstes der Gegenwart weithin als Probleme sichtbar werden. (3) Praktische Konsequenzen Die Befreiung vom Kult(ischen) geht bei Harbsmeier und Lange, wie gezeigt, mit einer neuerlichen Hochschätzung der Predigt einher – freilich bei beiden unterschiedlich akzentuiert. Damit steht der evangelische Gottesdienst – trotz aller liturgischen Bewegungen bzw. gerade im Widerstand zu diesen – noch immer vor jenen Problemstellungen, die oben bereits als die Probleme der Intellektualisierung und didaktischen Funktionalisierung be501

JOSUTTIS: Der Weg in das Leben, 106. JOSUTTIS: Der Weg in das Leben, 107. 503 Vgl. JOSUTTIS: Der Weg in das Leben, 107f [alle Zitate: 108]. 504 JOSUTTIS: Der Weg in das Leben, 108. 502

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schrieben wurden. Der Gottesdienst wird insgesamt in einen hermeneutischen Rahmen gefügt, der zudem die Tendenz hat, die „Vertikale“ einzuebnen und das Ideal „horizontaler“ zwischenmenschlicher Verständigung in den Mittelpunkt zu rücken. Es ist hier nicht der Ort, Gottesdienstpraxis ausführlicher zu analysieren. Ich deute nur knapp vier unmittelbare liturgische Konsequenzen an, die in der gegenwärtigen Gottesdienstpraxis vielfach beobachtet wurden: (a) Themenzentrierung der Gottesdienste Martin Nicol erkennt die zunehmende Tendenz zur Themenorientierung und Themenzentrierung der sonntäglichen Gottesdienste505 und setzt dem dezidiert die These entgegen: „Liturgie hat kein Thema.“506 Nicols Argumentation ist primär ästhetisch; eine thematische Strukturierung nämlich bedeute unausweichlich die Preisgabe der „liturgische[n] Feier“ zugunsten einer didaktisch arrangierten Sequenz. Der Sonntagsgottesdienst werde zu einer Morgenfeier mit einem durch Lieder und motivierende Texte gerahmten (Predigt-)Vortrag.507 Was dabei auf der Strecke bleibe, sei die „Eigensprachlichkeit von Liturgie“, die Nicol als Sprache im Miteinander von Symbol und Ritual beschreibt. Diese funktioniere im Kirchenjahr im Zweitakt von Ordinarium und Proprium, wobei die Stücke des Propriums nicht ein Thema bestimmen, sondern eine „Klangfarbe“ konturieren würden. – Nicol fragt nicht näher nach den Gründen für diese zunehmende Ausrichtung am Thema;508 die Überlegungen dieses Kapitels scheinen mir im Wechselspiel von Ent-Kultung und Homiletisierung den wesentlichen Grund für diese Tendenz deutlich zu benennen. (b) Verbale Verdoppelung der liturgischen Gesten Aus systematisch-theologischer Perspektive kann Henning Theißen sehr knapp und scheinbar allgemein konsensfähig sagen, dass „das, was in der Liturgie vorgeht“, keineswegs selbstverständlich sei. „Dennoch wird die

505 Inzwischen lässt sich diese Tendenz auch empirisch festmachen. Die 2008/2009 durchgeführte Rezeptionsstudie zum Evangelischen Gottesdienstbuch zeigte, dass 86,8 % der befragten Pfarrerinnen und Pfarrer der Aussage zustimmen „Es ist wichtig, dass ich als Pfarrerin/Pfarrer einen thematischen ‚roten Faden‘ für den Gottesdienst entwickle“ (MEYER-BLANCK: Zentrum und „roter Faden“, 122). 506 NICOL: Weg im Geheimnis, 55. 507 Vgl. zum Problem einer evangelischen Predigt-Zentrierung auf Kosten der ‚Liturgie‘ auch SEITZ: Gottesdienst und Predigt, 35–38. 508 Einen eher äußerlichen Grund deutet Nicol aber an: den Wunsch, Besucherinnen und Besucher durch einladende Themenformulierungen zu gewinnen.

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Liturgie in ihrem Verlauf nicht erklärt.“509 Die Realität freilich sieht nicht selten anders aus, wie Karl-Heinrich Bieritz beobachtet. Er stellt eine Osternachtsfeier in einer evangelischen Kirchengemeinde dar und schreibt: „Die Pastorin hat die Angewohnheit, jeden Schritt und jedes Wort der heiligen Handlung verbal vorwegzunehmen, mit Erklärungen zu unterlegen und so gleichsam zu verdoppeln, ja, zu verdreifachen. ‚Ich nehme jetzt‘, so sagt sie, und man sieht’s, ‚ich nehme jetzt Wasser‘ – und sie nimmt’s – ‚und übergieße damit dreimal den Kopf des Kindes und dazu sage ich …‘ Ja, und dazu sagt sie es. Noch einmal.“510

Kommentierend schreibt Bieritz dazu: „Die verbale Verdoppelung der Handlung, bis hin zur nochmaligen Verwortung der Worte selbst, soll dem besseren Verstehen dienen. Die Folge ist […] eine Sistierung, ja, eine Zerstörung des Spiels. Lass es doch sein, möchte man der Spielverderberin zurufen. Sag doch einfach, was das Ganze soll, und damit hat sich’s.“511

Dasselbe Phänomen beobachten auch Ralph Kunz und Felix Moser bei ihrer Darstellung des Reformierten Gottesdienstes in der Schweiz, und auch sie zeigen die Paradoxie des Vorgangs durch einen Vergleich mit dem Theater auf: „Dem Gottesdienst bekommt es […] nicht, wenn die einzelnen Stationen im Ablauf erst erklärt werden. In manchen reformierten Gottesdiensten erscheint der Liturg vergleichbar einem Schauspieler, der meint, er müsse erklären, wie die Kulisse befestigt ist und wo sich der Souffleur versteckt.“512

Es ist das Zutrauen zum gesprochenen Wort in ‚Tateinheit‘ mit dem Misstrauen gegenüber allen ‚nur‘ äußeren Zeichen, das das Phänomen verbaler Verdoppelung hervorruft.513 Es liegt damit auf einer Ebene mit dem Verlust der „Eigensprachlichkeit“ der Liturgie, von der Martin Nicol spricht, und hängt ebenso konsequent mit der homiletisierenden Konzeptualisierung evangelischen Gottesdienstes zusammen – und wohl nicht zuletzt auch mit

509

THEIßEN: Das kündlich große Geheimnis, 178. BIERITZ: Bildet Gottesdienst Gemeinde, 9. 511 BIERITZ: Bildet Gottesdienst Gemeinde, 16. 512 KUNZ/MOSER: Alles bleibt, 169. 513 Vgl. dazu auch BIERITZ: Spielraum Gottesdienst, 82f. – Einen anderen Ansatz beschreibt demgegenüber Harald Schroeter-Wittke in seinem Beitrag zur „Liturgische[n] Moderation“ aus dem Jahr 2009. Aus pädagogischen Gründen einerseits, aufgrund der faktischen und tendenziell durchaus konfliktuösen Vielfalt innerhalb der Gemeinden andererseits macht er sich für eine atmosphärisch stimmige und pädagogisch sensible Moderation innerhalb des Gottesdienstes stark (SCHROETER-WITTKE: Liturgische Moderation). 510

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einer Tendenz, das dauernde Reden als üblich und Pausen als störend zu empfinden. Diese Tendenz kritisierte Rudolf Otto bereits 1925: „Nach dem herkömmlichen Brauche muß immer jemand reden: entweder der ‚Liturg‘ oder die Gemeinde. Die große und wichtige Kunst des Mundhaltens haben wir ganz verlernt. Und sehr zum Nachteil unseres gesamten Gemütslebens überhaupt.“514

(c) Homiletisierung der Lesungen Seit einigen Jahren bereits werden den Lesungen in evangelischen Gottesdiensten vielfach „Präfamina“ vorgeschaltet – kurze, erläuternde Hinführungen. Diese haben das Ziel, die Aufmerksamkeit für die folgende Lesung zu erhöhen und so dem Leseteil höheres Gewicht im evangelischen Gottesdienst zu verschaffen. Das Problem freilich besteht nicht selten darin, dass Präfamina (1) die Vieldeutigkeit und Offenheit eines biblischen Wortes auf ein bestimmtes Verständnis einengen und (2) den Leseteil damit zu einer Art „Predigtteil“ umgestalten, der das Eigengewicht der Lesung nicht mehr zum Ausdruck kommen lässt. Formuliert man die Kritik ästhetisch, so ließe sich sagen, dass die durch ein Präfamen in einen Kontext des Verstehens eingeordnete Lesung kaum noch in der Lage ist, symbolsprachlich aufzuzeigen, dass sich evangelische Kirche als „creatura verbi“, als Kirche „unter“ dem Wort versteht. Das eigene, auslegende Wort setzt sich vielmehr über die Lesung, die damit nicht als Lesung aus der „heiligen Schrift“, sondern als Lesung aus einem alten, heute schwer verständlichen Text erscheint. Als einen der neueren Bände mit einer Sammlung von Präfamina erwähne ich das 2004 erschienene Buch „Hinführungen zu den biblischen Lesungen im Gottesdienst“. Der Umschlagtext dieses Bandes verweist auf die Intention, wonach es bei den gesammelten Präfamina darum gehen solle, den „tiefere[n] Sinn“ der gelesenen biblischen Texte zu entschlüsseln und so die „Brücke zwischen den Gottesdienstbesuchern und der Bibel“ zu schlagen. Damit werden Aufgaben formuliert, die ansonsten klassisch der Predigt zugeschrieben werden.515

Dass diese Alternative überpointiert beschrieben ist, ist mir bewusst. Ich verweise durch die extreme Zeichnung der beiden Alternativen plakativ auf das mögliche Problem der Nutzung von Präfamina, obgleich es selbstverständlich innerhalb des angedeuteten Spektrums zahlreiche Möglichkeiten einer Gestaltung von Hinführungen zur Lesung gibt, die der Lesung ihren

514 515

OTTO: Zur Erneuerung, 56; vgl. auch unten Kap. 6.3.2.6. Vgl. BALTRUWEIT/LINGEN/TERGAU-HARMS: Hinführungen.

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Eigencharakter lassen und die Erwartung der Hörerinnen und Hörer gegenüber der folgenden Lesung erhöhen. (d) Homiletisierung der Gebete Auf ein letztes Phänomen weise ich knapp hin: die Homiletisierung der Gebete. Ich setze zur Darstellung des Problems allerdings nicht mit einer Beobachtung aus der evangelischen Gottesdienstfeier ein, sondern mit Überlegungen von Joseph Ratzinger zu einer wesentlichen Konsequenz der Liturgiereformen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Fast flächendeckend wurden sogenannte „Volksaltäre“ in die Kirchen eingebaut bzw. wurden vorhandene Altäre so umgebaut, dass der Priester mit dem Gesicht zur Gemeinde stehen kann. Die Chance dieses Arrangements für die Kommunikation zwischen Priester und Gemeinde ist offenkundig. Auf das Problem weist Joseph Ratzinger hin: „In Wahrheit ist damit [mit der Rederichtung des Priesters ‚versus populum‘, AD] eine Klerikalisierung eingetreten, wie sie vorher nie existiert hat. Nun wird der Priester […] zum eigentlichen Bezugspunkt des Ganzen. Alles kommt auf ihn an. Ihn muß man sehen, an seiner Aktion teilnehmen, ihm antworten, seine Kreativität trägt das Ganze. […] Immer weniger steht Gott im Blickfeld, immer wichtiger wird das, was die Menschen tun […]. Die Wendung des Priesters zum Volk formt nun die Gemeinde zu einem in sich geschlossenen Kreis. Sie ist – von der Gestalt her – nicht mehr nach vorne und oben aufgebrochen, sondern schließt sich in sich selber.“516

Scharf formuliert: Das gemeinsame Gebet droht – Ratzinger zufolge – allein schon durch die veränderte Raumanordnung und die neuartige Anredesituation aus dem Gottesdienst verdrängt zu werden – das gemeinsame Gebet, in dem der Priester nur die wichtige, aber letztlich bescheidene Rolle hat, Sprachrohr der Gemeinde zu sein, und sich daher auch mit der Gemeinde gemeinsam nach Osten wendet. Dass ausgerechnet ein (nicht gerade liberaler!) Katholik vor der „Klerikalisierung“ durch diese neuartige ständige Bezogenheit auf den die Gemeinde anredenden Priester warnt, kann zu denken geben. Nochmals Ratzinger: „Denn wie man in der Synagoge gemeinsam nach Jerusalem blickte [Ratzinger formuliert in der Vergangenheit, weil er den Ursprung des christlichen Gebetes aus dem jüdischen betrachtet, AD], so hier [in der Kirche, AD] gemeinsam ‚zum Herrn hin‘. Es handelte sich […] um Gleichrichtung von Priester und Volk, die sich gemeinsam in der Prozession zum Herrn hin wußten. Sie schließen sich nicht zum Kreis, schauen

516

RATZINGER: Der Geist der Liturgie, 69f.

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sich nicht gegenseitig an, sondern sind als wanderndes Gottesvolk im Aufbruch zum Oriens, zum kommenden Christus, der uns entgegengeht.“517

Das von Ratzinger beobachtete und mit der liturgischen Topographie in Verbindung gebrachte Problem zeigt sich auch im evangelischen Kontext. Eine gestische und mimische Untersuchung zum Gebet, das Pfarrerinnen und Pfarrer (oder andere Gemeindeglieder) mit dem Gesicht zur Gemeinde sprechen, könnte m.E. zeigen, wie häufig die Anrede an die Gemeinde (vor allem durch die Aufnahme von Blickkontakt) gesucht wird. Aber bereits die Wahrnehmung der sprachlichen Gestaltung neuerer Gebete macht deutlich, dass diese nicht selten vor allem im Blick auf die hörende, rezipierende Gemeinde formuliert sind, nicht aber, um mit der Gemeinde in eine gänzlich andere Kommunikation einzutreten, die geographisch als „vertikale“ Kommunikation beschrieben werden müsste. Freilich: Liturgisch steht das gemeinsame Gebet immer vor dem Problem, beides sein zu müssen: Anrede an die Gemeinde in dem Versuch, die Gemeinde mitzunehmen in die Anrede an Gott. Die sensibel zu gestaltende Balance der Rede droht aber sowohl gestisch als auch sprachlich in eine Richtung vereindeutigt zu werden. Das Gebet wird dann theologisch bzw. ethisch funktionalisiert, um der Gemeinde eine stimmige Theologie nahezubringen (gerne in Aufnahme wesentlicher Predigtgedanken)518 oder in der Predigt unausgesprochene Konsequenzen für das Handeln (bevorzugt im Fürbittengebet) nahezulegen („… gib uns die Aufmerksamkeit für …“, „… steh uns bei, damit wir …“ etc.).519 Die Probleme der Ent-Kultung des Gottesdienstes liegen damit – auch liturgiepraktisch – auf der Hand. Sie bedeuten die Verschärfung der als Folge der reformatorischen Entwicklungen aufgezeigten Tendenzen. Der nächste Abschnitt wird deutlich machen, dass der konsequente Gegenentwurf, die radikale Einordnung des evangelischen Gottesdienstes in den Rahmen des „Kultus“, keine Lösung bieten kann. 2.2.3.2 Wege und Probleme einer Wiederentdeckung des Kults – oder: Kult ohne Wort? Nach der Darstellung der Ansätze zur Ent-Kultung des evangelischen Gottesdienstes, die insgesamt für einen Mainstream in der evangelischen Diskussion stehen können, soll nun der dünnere Strom der Überlegungen 517

RATZINGER: Der Geist der Liturgie, 70. Vgl. hierzu auch DEEG: Das neue Lied und die alten Worte. 519 Vgl. zur Problematik der Instrumentalisierung des Gebets auch SCHULZ: Das Gebet, 753f, und vgl. zur Sprache des Gebets unten Kap. 6.3.2.4. 518

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wahrgenommen werden, die sich in neuerer Zeit – mehr oder weniger emphatisch, mehr oder weniger explizit – für eine Wiederentdeckung des Kults aussprechen (im evangelischen Kontext und darüber hinaus). Ich setze allerdings mit der knappen Darstellung einer extremen Stimme im Chor derer, die den Kult auch im 20. Jahrhundert für bedeutsam halten, ein und zeige an Oskar Goldbergs Ansatz, wie eine repristinierende Transposition kultischer „Realität“ unter den Bedingungen der Neuzeit scheitern muss (1). Im Anschluss führe ich ausgehend von einer eigenen definitorischen Bestimmung des „Kults“ (2.1) vier Wege neuzeitlicher Kult-Entdeckung vor Augen und beschreibe nacheinander einen religionsgeschichtlichen bzw. religionsphänomenologischen, einen (religions-)philosophischen, einen systematisch-theologischen und einen ästhetischen Ansatz (2.2), wobei es in diesem Kapitel nicht um eine historisch vertiefte Einordnung geht, sondern um eine systematisierende Darstellung entscheidender Argumentationslinien. Eine kurze Zusammenfassung nimmt das Problem der „Präsenz“ als leitendes Problem einer auf die Wiederentdeckung des Kults gründenden Gottesdienstkonzeption wahr und benennt auch hier nur knapp eine liturgiepraktische Konsequenz (3). (1) Von der Unmöglichkeit der Transposition des ‚alten‘ Kults in ein ‚neues‘ Weltverständnis: Oskar Goldberg Das Scheitern einer Übertragung des „Kultischen“ aus biblischer Zeit ins 20. Jahrhundert kann exemplarisch an den Überlegungen von Oskar Goldberg (1885–1952) studiert werden. Goldberg, jüdischer Privatgelehrter aus dem frühen 20. Jahrhundert, versucht in seinem Buch „Die Wirklichkeit der Hebräer“ (1925) eine logisch-mythologische Rekonstruktion des Kults, die von dessen „objektiver“ Wirklichkeit („Realität“) ausgeht.520 Diese „Realität“ wird schlicht gesetzt und erscheint Goldberg keiner näheren Hinterfragung wert. Manfred Voigts charakterisiert dieses Denken Goldbergs als „Kreuzung, als ganz spezifische und höchst originelle Verbindung von Expressionismus und orthodoxem Judentum“.521 Methodisch ist es ein bewusst anti-empirischer ontologisch-hermeneutischer Zugang, den Goldberg unternimmt. Der gesetzte und in den Texten des Pentateuch vorgeschriebene Kultus ermögliche die reale Begegnung des Menschen mit Gott und eine Einwirkung auf das Geschehen auf dieser Erde; er sei in der Lage, die Stagnation in der technisierten Welt und gleichzeitig den Niedergang, der sich im Weg vom Kult zur Kultur manifestiere, zu durchbrechen und zu einem 520

Vgl. zu Goldbergs Biographie und zu einer Darstellung der Entstehung und des Inhalts dieses Buches VOIGTS: Oskar Goldberg, 15–126. 521 VOIGTS: Jacob Taubes und Oskar Goldberg, 452.

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schöpferischen Neuanfang jenseits der prekären Diastase von Wissenschaft und Glaube zu führen.522 Es wird bereits an dieser kurzen Zusammenfassung deutlich, dass Goldbergs vermeintlich ‚zeitloser‘ Rekurs auf den biblischen Kult in eine bestimmte Weise der Gegenwartsanalyse hineingehört und den Zeitgeist der nach-liberalen Wende nach den Erschütterungen des Ersten Weltkriegs atmet. Angesichts des endgültigen Scheiterns des Fortschrittsoptimismus (philosophisch längst durch Schopenhauer vorweggenommen und durch Nietzsche vollendet!) und angesichts des erfahrenen Zerfalls der alten Ordnung lag nicht nur für Goldberg die Suche nach dem „Objektiven“, dem beständig Gültigen, dem Wahrhaften nahe. Auf sehr unterschiedliche Weise war dies die Triebfeder so divergierender Ansätze wie der Phänomenologie Husserls, der Existenzphilosophie Heideggers, der Dialektischen Theologie Karl Barths, des Neuluthertums eines Althaus und Elert, der jüdischen Renaissance und der neueren liturgischen Bewegung.523 Goldbergs Zugang kann als typisch „fundamentalistisch“ etikettiert werden, wenn darunter der Rückgang zu vermeintlich überzeitlich gültigen Aussagen der Tradition unter gleichzeitiger Aufnahme moderner/neuzeitlicher Verstehens- und Argumentationsbedingungen verstanden wird. Goldberg kümmert sich nicht um epistemologische, methodische oder hermeneutische Klärungen. Bereits mit den allerersten Sätzen seines Buches beginnt er, Behauptungen aufzustellen und apriorisch Grundlagen zu fixieren: „Die Welt als der Inbegriff dessen, was es überhaupt gibt, besteht aus einem endlichen und einem unendlichen Teil. Unter Endlichkeit ist alles das zu verstehen, was sich in Raum und Zeit befindet, was wirklich ist, unter Unendlichkeit hingegen dasjenige, was sich nicht in Raum und Zeit befindet, was aber in den raumzeitlichen Teil der Welt gelangen wird oder gelangen kann. Die Unendlichkeit ist somit der Inbegriff alles dessen, was als möglich zu bezeichnen ist.“524 Mit der Fundamentalunterscheidung von Endlichkeit und Unendlichkeit, von Immanenz und Transzendenz ist Goldbergs Programm mitsamt seiner ‚anti-empirischen‘ Basis grundlegend beschrieben: Es geht ihm um die Transformation des Endlichen von der Unendlichkeit, d.h.: von der Möglichkeit des Endlichen, her. Es geht um „dynamische“, nicht etwa „kontemplative“ Prophetie, die das, was bislang nur als

522 Jacob Taubes bemerkt zu Goldberg: „Goldbergs Mythenphilosophie stellt den klassischen Fall einer Dialektik der Vernunft dar, die sich selber ‚vernünftig‘ zerstört und nach dem magischen Ritual des mythischen Zeitalters verlangt, um gegen die tyrannische Herrschaft der Technologie in unserer Kultur Widerstand zu leisten. Und doch war kein anderer neuzeitlicher Philosoph so sehr vom Geist der Technologie beeinflusst wie Oskar Goldberg“ (TAUBES: Vom Kult zur Kultur, 273). 523 Auf letztere wird unten noch näher einzugehen sein (Kap. 3.2.4). 524 GOLDBERG: Die Wirklichkeit der Hebräer, 1 [Hervorhebungen im Original].

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Möglichkeit wirklich ist, innerhalb der Endlichkeit wirklich machen soll.525 An dieser Stelle wird der offenbarte Kult zum Werkzeug, zur metaphysischen Methodik,526 es geht um die „immanente Herstellungsfähigkeit metaphysischer Vorkommnisse“.527 Konkret bedeutet das: Das Opfer solle „durch eine transzendentalpolitische Aktion die Anwesenheit Gottes“ herbeiführen;528 in einer starken Metapher beschreibt Goldberg etwa den Gebrauch des Gottesnamens als „transzendenten Sprengstoff“.529 Es kommt – wie Joseph Wohlgemuth in einer Rezension zu Goldbergs „Wirklichkeit der Hebräer“ schrieb, zu einer „Mechanisierung des gesamten Verhältnisses zwischen Gott und den Menschen“.530 Kultisch werde es daher möglich, das Problem der Aufklärung zu überwinden, das für Goldberg darin liegt, dass sich die „Realität“ Gottes zum „Begriff“ verwandelt habe531 und aus Gott eine Abstraktion geworden sei: „Aus dem anwesenden, wirkungskräftigen Gott der Nation, dem ‚Nationalgott‘, der die metaphysische Volkskraft repräsentiert, ist der blasse, abstrakte und allgemeinmenschliche ‚liebe Gott‘ geworden, der ‚alles‘ und deshalb gar nichts ist.“532 Goldberg springt also einerseits hinter die Aufklärung zurück in einer kühnen metaphysischen Rolle rückwärts, verbindet diese Volte allerdings mit einer auf höchst ‚modernen‘ Konstrukten aufbauenden Ideologie des Völkischen, Rassischen, Biologischen und Organischen und mit einem technologisch-experimentellen Wissenschaftsbegriff.533 Denn eingebettet ist diese den Kult in metaphysische Technik verwandelnde (und somit in Verstehensbedingungen der Neuzeit einordnende) Perspektive in eine völkisch-mythologische Ideologie mit faschistoiden Zügen. Goldberg geht davon aus, dass die verschiedenen Völker ein je anderes „biologisches Zentrum“534, einen je anderen Gott haben; Volkswirklichkeit wird so auch zu einer metaphysischen Wirklichkeit, und der Kampf der Götter entspricht dem Kampf der Völker und „Rassen“ um deren Vorherrschaft.535 Goldberg begründet folglich eine ganz andere Art des Zionismus, der die erfahrene Unterlegenheit des jüdischen Volkes diesem selbst und seiner Unfähigkeit, sich an 525

Vgl. zur Unterscheidung kontemplativer und dynamischer Prophetie GOLDBERG: Die Wirklichkeit der Hebräer, 5f. 526 Vgl. zum Begriff der „metaphysische[n] Methode“ GOLDBERG: Die Wirklichkeit der Hebräer, 6 u.ö. 527 GOLDBERG: Die Wirklichkeit der Hebräer, 95. 528 GOLDBERG: Die Wirklichkeit der Hebräer, 171; vgl. insgesamt aaO., 157–173. 529 GOLDBERG: Die Wirklichkeit der Hebräer, 26. 530 Zitiert bei VOIGTS: Oskar Goldberg, 111. 531 Vgl. GOLDBERG: Die Wirklichkeit der Hebräer, 49. 532 GOLDBERG: Die Wirklichkeit der Hebräer, 49. 533 Vgl. dazu auch VOIGTS: Oskar Goldberg und die „Wirklichkeit der Hebräer“, 137: „Das Älteste, der Mythos, wird mit dem Neuesten, der Experimentalwissenschaft, kurzgeschlossen. Aus den Funken dieses Kurzschlusses sollte die Energie für die Diskontinuität und einen ‚echten Anfang‘ innerhalb der bestehenden Kontinuität gewonnen werden.“ – Vgl. ähnlich bereits TAUBES: Vom Kult zur Kultur, 273. 534 Vgl. zu diesem Begriff GOLDBERG: Die Wirklichkeit der Hebräer, 15f u.ö. 535 Vgl. GOLDBERG: Die Wirklichkeit der Hebräer, 14–36; vgl. zu dem Mythos, den Goldberg konstruiert und sich auf der Basis des Pentateuch selbst schreibt, VOIGTS: Oskar Goldberg, 79–83; Nathan Birnbaum sprach von einer „geniale[n] Privatmythologie“ bei Goldberg (zit. bei VOIGTS: Oskar Goldberg, 116).

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die transzendenten Quellen seiner Kraft anzuschließen,536 zuschreibt und die eigentliche Überlegenheit begründet. Goldberg ‚packt‘ Gott bei seiner Offenbarung im Kultgesetz des Pentateuch und instrumentalisiert diese für seine eigenen Zwecke. Den auch im offenbarten Kult bleibenden Entzug Gottes, auf den etwa Martin Buber gegen Goldbergs Thesen mit Bezug auf Ex 3,14 (ʤʩʤʠ ʸʹʠ ʤʩʤʠ) verweist,537 hintergeht Goldberg und greift auf die Präsenz Gottes in seiner Offenbarung so zu, dass er Gottes und seiner Wirkung ‚habhaft‘ werden möchte – im Blick auf die Gotteserkenntnis,538 aber auch und vor allem im Blick auf den Umgang mit der Welt.

Goldberg wurde von seinen Zeitgenossen marginalisiert – und doch mit einiger Faszination beobachtet. So bemerkte Franz Rosenzweig zu dessen Buch „Wirklichkeit der Hebräer“: „Gute exegetische Kerne in einer Schale von Wahnsinn.“539 Die anti-liberale (und tendenziell faschistoide) Tendenz von Goldbergs objektiver Rekonstruktion des Kultus jenseits der Kultur und jenseits des Ethos, gleichzeitig aber im Kontext des „Völkischen“, wurde etwa auch von Thomas Mann erkannt und in der Figur des Dr. Chaim Breisacher im 28. Kapitel seines Romans „Doktor Faustus“ in schneidender Polemik dargestellt.540 Mann schreibt: „Er [Breisacher, AD] war ein Polyhistor, der über alles und jedes zu reden wußte, ein Kulturphilosoph, dessen Gesinnung aber insofern gegen die Kultur gerichtet war, als er in ihrer ganzen Geschichte nichts als einen Verfallsprozeß zu sehen vorgab. Die verächtlichste Vokabel in seinem Munde war das Wort ‚Fortschritt‘ […].“541

König Salomo etwa habe Breisacher gesehen als „typisch für die Rückbildung vom Kult des wirkend gegenwärtigen Nationalgottes, dieses Inbegriffs der metaphysischen Volkskraft, zur Predigt eines abstrakten und allgemeinmenschlichen Gottes im Himmel, von der Volksreligion zur Allerweltsreligion.“542 Weiter heißt es bei Thomas Mann:

536 Goldberg bezeichnet diesen Verlust des Kontakts zur Gottheit als „Fixation“ (vgl. insgesamt GOLDBERG: Die Wirklichkeit der Hebräer, 44–59); „[…] sobald die Leitung zwischen der biologischen Kraftquelle (dem Gott) und ihrem Kräftefeld (dem Volk) unterbrochen ist, kann keine Wechselwirkung mehr stattfinden“ (aaO., 57). 537 Vgl. VOIGTS: Oskar Goldberg, 169. 538 Elasar Benyoetz schreibt im Geleitwort zu Goldbergs „Wirklichkeit der Hebräer“: „Was keiner wissen kann, das wollte Goldberg genau gewusst haben“ (GOLDBERG: Die Wirklichkeit der Hebräer, VIIf, hier: VIII). 539 Zit. bei VOIGTS: Oskar Goldberg, 85. 540 Vgl. dazu VOIGTS: Oskar Goldberg, 235–270 [Thomas Mann und Oskar Goldberg]; TAUBES: Vom Kult zur Kultur, 269–282. 541 MANN: Doktor Faustus, 373. 542 MANN: Dokktor Faustus, 376; vgl. 376f. Vgl. dazu GOLDBERG: Die Wirklichkeit der Hebräer, 51.

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„Es war so amüsant wie widerwärtig. Er [Breisacher, AD] konnte sich nicht genug darin tun, den echten Ritus, den Kult des realen und keineswegs abstrakt universellen, darum auch nicht ‚allmächtigen‘ und ‚allgegenwärtigen‘ Volksgottes als eine magische Technik, eine körperlich nicht ungefährliche Manipulation des Dynamischen hinzustellen […].“543

Die Darstellung bei Thomas Mann macht anschaulich, mit welcher Reserve einerseits, welcher Faszination andererseits Zeitgenossen dem ‚Phänomen‘ Goldberg begegneten. Der anti-liberale Rekurs auf das Objektive wirkt befremdend und anziehend zugleich. Die Faszination eines neuen Zugangs zu einem Bereich des Transzendenten, den die Entwicklung neuzeitlich-liberaler Subjektivität so konsequent eliminiert hat, lässt sich greifen – und das Zurückschrecken vor den Konsequenzen. Diese liegen freilich darin, dass Goldberg keineswegs ein Rückgriff auf den Kult gelingt, wie er biblisch beschrieben wird: als von Gott eingeräumter Weg der Begegnung von Gott und seinem Volk Israel, sondern eine in seinem Technizismus magische, in seiner politischen Orientierung völkisch-rassistische Neukonstruktion. Der Kult wird in das Instrument einer Ideologie verwandelt.544 Wenngleich solch extreme Rückgriffe auf das Phänomen des Kults im weiteren Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts weder auf jüdischer noch auf christlicher Seite begegnen, kann in der Wahrnehmung der Position Goldbergs doch ein Warnsignal aufgerichtet werden für alle Wege einer Wiederaufnahme kultischer Gedanken unter den Bedingungen der Gegenwart. Die Sehnsucht nach Überwindung der Grenzen einer als eng empfundenen Endlichkeit, die Sehnsucht nach „Eigentlichkeit“ und unmittelbarer „Präsenz“ jenseits der „Fixation“ (wie Goldberg sagen würde) können nicht naiv ‚kultisch‘ erfüllt werden. Jan und Aleida Assmann und Wolf-Daniel Hartwich schreiben: „Hinter eine einmal überschrittene bewußtseinsgeschichtliche Grenze kann man nicht wieder zurück. Aber man kann durch ein Mehr an Reflexion und Erkenntnis die Grenze und das durch sie Ausgegrenzte bewußthalten und als Alternative zum Gegebenen in der theoretischen Rekonstruktion vergegenwärtigen.“545

Kein Zurück also hinter die Grenze der Aufklärung in die vermeintliche Unmittelbarkeit des Kultus und der ihm entsprechenden „Präsenz“ des 543

MANN: Doktor Faustus, 378. Vgl. auch TAUBES: Vom Kult zur Kultur, 281: „Der in Goldbergs Mythenphilosophie deutlich und in der nebulös konservativen Nostalgie latent vorhandene Archaismus schwächt die Grundlage der Kultur und droht jene tabula rasa der Zivilisation heraufzuführen, an der die Konservativen heute gerne der ‚Tyrannei des Fortschritts‘ die Schuld geben.“ Vgl. zum Verhältnis von Taubes und Goldberg: VOIGTS: Jacob Taubes und Oskar Goldberg. 545 ASSMANN/ASSMANN/HARTWICH: Einleitung, 9. 544

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Göttlichen inmitten der Immanenz! Bleibt dann aber, wie die drei Autoren dies andeuten, nur der Weg des reflexiven Bewusstseins – eine „Ent-Kultung“ also, die die vergangene Möglichkeit des Kults lediglich reflexiv gegenwärtig hält? (2) Wege und Probleme einer Wiederentdeckung des Kults (2.1) Zum Begriff „Kult“/„Kultus“ Der Begriff des „Kults“, der zwischen Harbsmeier, Lange und Goldberg zum Gegenstand der Darstellung wurde, droht zu einem „Plastikwort“ zu werden, extrem biegsam und damit fähig, zur Projektionsfläche für Faszination (wie bei Goldberg) oder heftigste Abneigung (wie etwa bei Götz Harbsmeier und abgeschwächt auch bei Ernst Lange) zu werden. Es erscheint daher unerlässlich, eine eigene Arbeitsdefinition zur Weiterarbeit zu finden. Diese suche ich, indem ich den Begriff „Kult“ formal bestimme und zwei Aspekte benenne, die sich in unterschiedlichen Verwendungen des Begriffs zeigen und somit als Basis einer Definition taugen können. Von Kult spreche ich, wenn (1) ein rituell gefügtes menschliches Handeln im Blick ist, das (2) für sich beansprucht, Relevanz für die GottMensch-Beziehung zu haben. Ritualität einerseits, Vertikalität andererseits scheinen mir damit die wesentlichen Aspekte zu sein, die dazu gehören, wenn ein bestimmtes Handeln als „Kult“ definiert werden soll.546 Gleichzeitig vermeidet diese formale Definition jede Präzisierung der Handlungsrichtung, wie sie sich etwa bei Götz Harbsmeier zeigt, wie sie aber auch in neueren Darstellungen aufgenommen wird: Kultus wird nicht auf die Anabase festgelegt, sondern bleibt offen für ein katabatisch-anabatisches Wechselgeschehen.547 546 Die beiden Aspekte einer Definition des Kults finden sich etwa auch bei Sigmund Mowinckel (s. unten) und in Wilhelm Hahns Buch „Gottesdienst und Opfer Christi“ aus dem Jahr 1951, dort allerdings bereits inhaltlich bestimmt. Hahn nennt zunächst den Aspekt der Vertikalität („Der Kultus will den Menschen mit Gott versöhnen und die zerbrochene Beziehung zu Gott herstellen. Er zielt also auf Herstellung der Beziehung zu Gott.“) und fügt dann den Aspekt des (hier nicht ausdrücklich als ‚rituell‘ bezeichneten) menschlichen Handelns an („Er bedient sich der gegebenen, wenn auch im Alten Testament durch Offenbarung bezeichneten, natürlichen und menschlichen Möglichkeiten, um mit ihrer Hilfe die Brücke zu Gott zu schlagen.“). Die Definition, in der der „Bruch“ der Gottesbeziehung und der Aspekt des versöhnenden Handelns betont und zugleich das Bild der „Brücke zu Gott“ verwendet wird, zeigt deutlich, dass alttestamentlicher Kult hier auf der Folie christlicher Kultdeutung erscheinen muss. Es ist nur ein kleiner Schritt, die Unvollkommenheit des Alten Testaments hervorzuheben und die Vollendung im Opfer Jesu Christi zu betonen. Vgl. zu dieser Kultdefinition HARBSMEIER: Dass wir die Predigt, 128. – Die umfangreiche Diskussion der sogenannten Ritual-Studies um einen gegenwärtig tragfähigen Ritualbegriff kann hier nicht wiedergegeben werden; vgl. dazu POST: Ritual Studies. 547 Karl-Heinrich Bieritz verwendet den Begriff in seiner „Liturgik“ unpolemisch, wenngleich eingeengt. So erscheint er einerseits historisch und religionswissenschaftlich zur Beschreibung der

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Blickt man auf die Geschichte des cultus-Begriffs, so zeigt sich, dass dieser in weiten Strecken der Christentumsgeschichte unpolemisch gebraucht werden konnte, dass es aber immer wieder auch Phasen der Verwendung des Begriffs gab, in denen der „Kult“ und das „Kultische“ geradezu zu einem Reizwort avancierten – im Kern in der Reformationszeit und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der lateinische Begriff „cultus“ konnte jahrhundertelang als allgemeiner Begriff verwendet werden, um mit ihm das Handeln und Verhalten des Menschen Gott gegenüber zu beschreiben.548 Eine spezifische Akzentuierung trat ein, als „cultus“ immer stärker als geschuldeter Kult, „cultus debitus“ verstanden und der Begriff moraltheologisch vereinnahmt wurde. „In der mittelalterlichen Tradition des Westens zielte der Terminus cultus […] darauf ab, die Aufwärtsbewegung des Menschen zu Gott zum Ausdruck zu bringen: Gottesdienstliche Verehrung war eine vom Menschen seinem Schöpfer zu leistende Schuld (cultus debitus). Religio wurde zu einem Teilbereich oder Anhang der Tugend der iustitia […] und ‚Liturgie‘ auf verhältnismäßig unzulängliche Weise in die Moraltheologie integriert.“549 Später findet sich – im Katholizismus vor allem seit dem Ende des 18. Jahrhunderts550 – vielfach ein engeres Verständnis, das „cultus“ und liturgisches Gottesdiensthandeln gleichsetzt. Gegenwärtig kann „cultus“ in katholischem Sprachgebrauch für diese beiden Dimensionen, die „Verehrung Gottes“ im Allgemeinen und den öffentlichen Gottesdienst in engerem Sinn, stehen.551 In der Reformationszeit wurde der „cultus“-Begriff erstmals zu einem zwar nicht grundsätzlich in Frage gestellten, aber nicht selten doch problematisierten Begriff. Wie oben gezeigt552 musste innerhalb des „cultus“-Begriffs differenziert werden: „cultus exterior“ und „cultus interior“ wurden einander gegenübergestellt; das eigentlich Entscheidende wurde in den „cultus interior“ hinein verlagert. Diese Tendenz, das „Äußerliche“ des Kults gegenüber dem Eigentlichen, Innerlichen abzuwerten, setzt sich in die Zeit der altprotestantischen Orthodoxie fort, wo der eigentliche „cul-

„Kulte“ z.B. im römischen Reich, andererseits steht der Begriff „kultisch“ bei ihm für den „anabatischen“ Aspekt des Gottesdienstes, für die Bewegung des Menschen zu Gott, der umgekehrt der „heilshaft-katabatische“ Aspekt entspricht; vgl. BIERITZ: Liturgik, 258. 548 Im römischen Kontext wurde der „cultus“-Begriff geprägt, um mit ihm vor allem den Staatskult („cultus publicus“) zu bezeichnen. In der Vulgata findet sich der Begriff insgesamt nur 7mal, davon 6mal als Ableitung von colo. Die Stellen beziehen sich meist auf den Opferdienst am Tempel (Ex 27,21; Num 4,4.28; 2Chr 29,35); in aller Regel steht hier im Hebräischen das Wort avoda (Num 4,4.28; 2Chr 29,35; anders Ex 27,21: chuqqa). Avoda findet sich ebenfalls in Jes 32,17 und wird in der Vulgata mit cultus übersetzt; allerdings ist der Bezug hier von der konkreten Opferpraxis im Tempel gelöst; es geht um den „Kultus der Gerechtigkeit“. Schließlich findet sich der Begriff in 2Chr 14,2 zur Bezeichnung fremder Kulte. In LXX stehen hier jeweils die Worte ergon/erga bzw. leitourgia. 549 WAINWRIGHT: Art. Gottesdienst, 86. 550 Vgl. LENGELING: Liturgie als Grundvollzug des christlichen Lebens, 74f. 551 Vgl. KRÄMER: Art. Kult/Kultus. 552 Vgl. oben Kap. 2.1.2.1.

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tus“ von der Vielzahl der weniger bedeutenden „ceremoniae“ abgegrenzt wurde.553 In der Aufklärung verstärkte sich diese Verlagerung ins Innere554 und lässt sich herausragend bei Kant greifen, der den religiösen Kult als „Afterdienst“ bzw. „Fetischdienst“ bezeichnete.555 Spätestens im 19. Jahrhundert – deutlich etwa bei Schleiermacher – kann der Begriff des „Cultus“ weitgehend wieder neutral als Bezeichnung für den Gottesdienst verwendet werden, was sich mit einer neuerlich positiven philosophischen Aufnahme des Kultus-Begriffs, exponiert bei Hegel, verbindet.556 Im ganzen 19. Jahrhundert wird der Kult-Begriff in Folge Schleiermachers auch in der evangelischen Liturgik faktisch austauschbar mit dem Begriff „Gottesdienst“ verwendet,557 wie etwa die Titel der Liturgiken von Friedrich Ehrenfeuchter („Theorie des christlichen Cultus“, 1840) und von Theodor Kliefoth („Theorie des Kultus der evangelischen Kirche“, 1844) zeigen. Die ältere liturgische Bewegung setzt diese Verwendung fort, artikuliert aber gleichzeitig erneutes Unbehagen gegenüber dem Begriff des Kultus – besonders wegen seiner Verwendung und Prägung im katholischen Kontext. Im Zuge der Dialektischen Theologie des 20. Jahrhunderts finden sich im evangelischen Christentum heftige und explizite Zurückweisungen des Kult(us)-Begriffs einerseits – und zeitgleich ebenso engagierte Aufnahmen in den liturgischen Bewegungen andererseits, die sich wechselseitig herausfordern und etwa zu der oben dargestellten scharfen Zurückweisung durch Götz Harbsmeier führen konnten. Gerade die im Kontext einer ästhetischen Reflexion praktisch-theologischer Vollzüge beliebte Verbindung von „Kult“ und „Kultur“ macht den Begriff seit einigen Jahrzehnten wieder attraktiv.558 Kult/us kann als neutraler oder positiv konnotierter Begriff verwendet werden,559 wenngleich er innerhalb evangelischer Theologie, vor allem aber auch im alltagssprachlichen 553

Vgl. NIEBERGALL: Art. Agende, 44. Bemerkenswert ist allerdings, dass seit der Mitte des 18. Jahrhunderts der Begriff „öffentlicher Religionskult“ vielfach für den Gottesdienst verwendet wurde. Die Ablehnung der bloßen Äußerlichkeit und – in den Augen der Aufklärer – wenig ‚erbaulichen‘ Gleichförmigkeit der Gottesdienste, bedeutete nicht automatisch, dass auch der Begriff „Kult“ negativ konnotiert wurde (vgl. dazu NIEBERGALL: Art. Agende, bes. 51). 555 Vgl. KANT: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 146f; 288f; 275f; zitiert nach LEHMKÜHLER: Art. Kult IV. Religionsphilosophisch, 1811. 556 Vgl. LEHMKÜHLER: Art. Kult IV. Religionsphilosophisch, 1811. Dabei hat die Philosophie bei Hegel die Rolle des Kults eingenommen; Philosophie kann als „‚Gottesdienst‘ und ‚fortwährende[r] Kultus‘“ verstanden werden (ALBERT: Vom Kult zum Logos, 85; vgl. insg. 84–97 [Hegel über Philosophie als Gottesdienst]). 557 Vgl. WINTZER: Die Homiletik seit Schleiermacher, 68 Anm. 78. 558 Etwa Hans-Christoph Schmidt-Lauber schreibt: „Die Bezeichnung des Gottesdienstes als Kultus, die den Reformatoren noch unproblematisch war […], ist keineswegs sicheres Indiz für die Bevorzugung des latreutischen Aspektes der Liturgie […], sondern Augustinischer Terminus, der durchaus den Bedeutungsgehalt des deutschen Begriffes Gottesdienst in sich bergen kann […]. Als notwendige religionssoziologische und -psychologische Kategorie leistet er die ‚Kommunikation mit den nichttheologischen Wissenschaften und mit artikulierter Alltagserfahrung‘ […]“ (SCHMIDT-LAUBER: Art. Liturgik/Liturgiewissenschaft, 394f). 559 Vgl. zu einer neutralen Begriffsverwendung nur z.B. das bereits zitierte Papier der Liturgischen Konferenz (vgl. oben Kap. 1.1): Der Terminus „Gottesdienst“, so heißt es dort, solle als Bezeichnung „für das gesamte kultische Feiergeschehen der Kirche“ dienen (Gottesdienst feiern, 52 [Hervorhebung AD]). 554

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Kontext noch immer vielerorts als „Anti-Mirandum“ gelten und primär pejorative Konnotationen hervorrufen dürfte.

(2.2) Vier Wege einer Kult-Entdeckung Im 20. Jahrhundert wurde der „Kult“ verschiedentlich begrifflich bewusst neu entdeckt und ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Im systematisierenden Blick zurück lassen sich vier Wege dieser Entdeckung erkennen, die ich im Folgenden kurz nach ihren leitenden Argumenten darstelle. (a) Religionsgeschichtliche bzw. religionsphänomenologische Kult-Entdeckung Die religionsgeschichtliche Schule hatte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert großen Einfluss auf verschiedene Bereiche der Theologie – unter anderem auch auf die Exegese. Sie war – neben religionspsychologischen Ansätzen – auch für Sigmund Mowinckels (1884–1965) Rekonstruktionen der Religionsgeschichte Israels methodisch leitend. Der norwegische Alttestamentler entwickelte in der ersten Hälfte der 1920er Jahre seine kultgeschichtliche Methode zur Deutung alttestamentlicher Texte (vor allem: der Psalmen); als Vorläufer im deutschsprachigen Bereich wäre etwa Paul Volz zu nennen.560 Gegenüber einer typisch protestantischen Geringschätzung des Phänomens des Kults geht es Mowinckel darum, dieses in seiner Bedeutung für das Verständnis des Alten Testaments,561 darüber hinaus aber auch für das Phänomen der Religion im Allgemeinen neu zu würdigen.562 Den letztgenannten Aspekt zeigt besonders sein 1953 in deutscher Übersetzung erschienenes Buch „Religion und Kultus“.563 In diesem setzt er mit einer grundlegenden Phänomenologie der Religion ein und geht dabei von der These aus, dass „Kultus“, „Mythus“ und „Ethos“ als „die drei Erscheinungsformen der [jeder!, AD] Religion“ zu bestimmen seien.564 Diese drei Begriffe umschreibt er mit „Gottesverehrung“, „Glaubensinhalt“ und „Lebensführung“,565 womit sich ein Bild von Religion ergibt, das die kognitiv560 Vgl. Volz’ Studie „Das Neujahrsfest Jahwes (Laubhüttenfest)“ aus dem Jahr 1912 und dazu KRAUS: Geschichte der historisch-kritischen Erforschung, 401. „Die Untersuchung von Volz ist ein Vorläufer. Den eigentlichen Durchstoß in die Bereiche des kultischen Lebens hat der Norweger Sigmund Mowinckel vollzogen“ (aaO., 402; vgl. insgesamt aaO., 400–406). 561 Hier ist besonders seine Rekonstruktion des Thronbesteigungsfestes JHWHs und die Verbindung mit dem Herbstfest zu nennen, von wo aus Mowinckel seine gesamte Theologie des Alten Testaments entfaltet. 562 Vgl. zum Folgenden auch AVERBECK: Der Opfercharakter des Abendmahls, 319f. 563 Norwegisches Original „Religion og kultus“ (1950). 564 Vgl. MOWINCKEL: Religion und Kultus, 7. 565 Vgl. MOWINCKEL: Religion und Kultus, 7.

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inhaltliche Dimension des Inhalts in horizontaler (Lebensführung) und vertikaler (Gottesverehrung) Richtung auszieht. Mowinckels Augenmerk ist primär auf den Kultus gerichtet, den er gegenüber seiner neuzeitlich-rationalistischen und typisch-protestantischen Zurückweisung neu in den Mittelpunkt rücken möchte.566 Er erkennt die Unhintergehbarkeit des Kults, argumentiert dabei religionsgeschichtlich und bemerkt – durchaus süffisant: „Es hat sich ständig aufs neue gezeigt, daß selbst die ‚kultfreiesten‘ Gemeinschaften und Gruppen im Laufe von sehr kurzer Zeit feste Formen für ihre gottesdienstlichen Zusammenkünfte ausbauen – und daß sie sehr schnell das finden, was man ein bestimmtes ‚Ritual‘ nennen kann.“567

Keineswegs dürfe solche kultische Prägung der Religion durch die Konstanz einer bestimmten Form der Gottesverehrung als Rückfall oder Erstarrung gewertet werden, vielmehr zeige sich hier ein „Grundgesetz der Religion“.568 Dies geht für Mowinckel über das bloße „Dass“ des Kultus hinaus; auch bestimmte Grundformen könnten als „‚Phänomenologie‘ des Kultus“ bestimmt werden, wozu Mowinckel vor allem Bittgebet, Lobpreis und Opfer zählt.569 Mowinckels Definition von Kult verbindet – wie mein obiger Versuch – Ritualität und Vertikalität. Mowinckel schreibt: „Ganz allgemein kann Kultus definiert werden als die sichtbaren, von der Gesellschaft aus festgesetzten und geordneten Formen, durch die das religiöse (‚fromme‘) Erleben und die Gemeinschaft zwischen ‚Gottheit‘ und ‚Gemeinde‘ – der Umgang mit dem Göttlichen und seine Verehrung – stattfinden, d.h. ihren Anfang nehmen, zum Ausdruck kommen und ihr Ziel erreichen. Und wir können auch gleich hinzufügen: Er umfaßt alle die wahrnehmbaren, zu bestimmten Zeiten und möglichst an bestimmten Orten wiederholten und von einer heiligen Tradition gefestigten heiligen Handlungen, die in Riten und Worten im Auftrage der Gemeinschaft und von deren dazu berufenen und ausgerüsteten Stellvertretern ausgeführt werden. Ihre Absicht ist es, auf diese Weise in Verbindung mit den heiligen Mächten zu kommen und damit die Lebenswerte zu schaffen, zu stärken und zu erneuern, von denen das Leben und Gedeihen der Gemeinschaft abhängt. Im Kultus kommt es dann auch zum Ausdruck, daß diese Verbindung erreicht ist und wirkt.“570

Methodisch bestimmt Mowinckel seinen Ansatz als Phänomenologie, die er als Beobachtung und Beschreibung wahrnehmbarer menschlicher Äuße566 „Der moderne rationalistische Gedankengang hat früher eine gewisse Neigung gehabt, den Kultus, den Gottesdienst und seine Ordnungen als etwas verhältnismäßig Unwesentliches in der Religion zu betrachten. Besonders der Protestantismus war geneigt, die ‚Lehre‘ so stark zu betonen, daß er den Sinn für den Kultus verlor“ (MOWINCKEL: Religion und Kultus, 8). 567 MOWINCKEL: Religion und Kultus, 8. 568 MOWINCKEL: Religion und Kultus, 8. 569 MOWINCKEL: Religion und Kultus, 9. 570 MOWINCKEL: Religion und Kultus, 13.

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rungen versteht. Aussagen über die Wahrheit des „Heiligen“, „Gottes“ oder über die prinzipielle Berechtigung kultischen Handelns möchte er daher nicht treffen.571 Aufgrund dieser Beschreibungen ergibt sich ein Bild von Religion, das ich in folgender Skizze im Überblick veranschauliche und das als weitgehend konsensfähig für verschiedene Weisen religionsphänomenologischer Beschreibung gelten kann: Basis Der Anruf des Heiligen

Folge Die Antwort der Angerufenen

Offenbarung

Ethos

Form Ritus als „Kultdrama“ im Wechselspiel von Wort und Handlung

Das Heilige

Der Heilige

Religiöse Erfahrung

Kultus

Institutionalisierung und Vergegenwärtigung

Inhalt Leben und Segen in Erinnerung, Vergegenwärtigung und Erwartung

Mythus

Grundlage sei die religiöse Erfahrung des Heiligen (Neutrum), das sich durch Offenbarung als die Erfahrung des Heiligen (Maskulinum) in seiner Personalität und damit in seinem Charakter als ein „Du“ erweise.572 Es gelte dann: „Im Kultus wird die Offenbarung institutionell.“573 D.h.: der Kultus macht die Punktualität der religiösen Erfahrung zur Kontinuität religiöser Praxis und ermöglicht durch „feste Ordnungen“574 den immer neuen Anschluss an die religiöse Erfahrung, wodurch er zur Mitte des religiösen Lebens wird. In ihm wird der Mythus erinnert, vergegenwärtigt und im Blick auf die Zukunft als eschatologische Erwartung eröffnet;575 gleichzeitig ergibt sich aus ihm das ethisch-moralische Handeln der Glaubenden.576 Inhalt571

Vgl. MOWINCKEL: Religion und Kultus, 30f. „Das Heilige und Der Heilige, die Gottheit, ist es also, womit die Menschen im Kultus zu tun haben“ (MOWINCKEL: Religion und Kultus, 47). Hier greift Mowinckel auf Nathan Söderblom und Rudolf Otto zurück, die das Erlebnis des Heiligen in den Mittelpunkt ihrer Überlegung gerückt haben; vgl. aaO., 31f.45. 573 MOWINCKEL: Religion und Kultus, 46. 574 Vgl. insgesamt MOWINCKEL: Religion und Kultus, 53–59. 575 Vgl. MOWINCKEL: Religion und Kultus, 94–98. 576 Vgl. MOWINCKEL: Religion und Kultus, 121–124. 572

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lich können „Leben“577 und „Segen“578 als begriffliche Verdichtungen dessen bestimmt werden, was im Kultus jeweils neu erfahren und erbeten wird; formal geschehe der Kultus in geprägten Formen, also rituell. Mowinckel bezeichnet sie als dramatische Formen. Mowinckel bestimmt den Kultus als „Kultdrama“579; es gehe in ihm immer um die Darstellung von „Wirkliche[m] und Lebensbegründende[m] […], das ‚geschieht‘.“580 Es gehe um „Wiederholung“, „Wiedererleben“ und somit um „die neue Verwirklichung der Heilstatsachen“581 – ein Geschehen, das sich gleichzeitig als offen für die Zukunft und damit als eschatologisch erweise.582

Die protestantische Kritik am Begriff des Kultus spielt implizit in Mowinckels Überlegungen eine Rolle. So wehrt er sich vielfach gegen die Vorstellung, als könne der Kultus allein als anabatisches menschliches Handeln verstanden werden. Er schreibt: „Sieht man es von außen, dann wirkt es so, als ginge der Kultus von den Menschen aus. Auf eine Weise tut er das auch: der Mensch ‚sucht Gott‘. Aber die Gemeinde weiß, daß es nicht ihr eigener Einfall ist, wenn sie Gott sucht. Gott hat sich ihr zu erkennen gegeben, sich ihr offenbart und sie dazu veranlaßt, ihn zu suchen.“583 Und weiter: „Kultus ist ein Verhältnis gegenseitiger Wechselwirkung zwischen Gott und Gemeinde, jedoch von der Art, daß die gewöhnlichen Worte ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘ nur eine relative Gültigkeit haben […].“584

Im zusammenfassenden „Rückblick“ zeigt Mowinckel in einer langen Aufzählung, inwiefern seine Rekonstruktion des Kultus auch für den evangelischen Gottesdienst bedeutsam sei. Auch dieser entgehe dem Kultus nicht und habe wesentliche formale und inhaltliche Kennzeichen, die ihn als Kultus erweisen. „Doch dürfte es nicht schwierig sein, die Wesenszüge in diesem Bilde von der Art des Kultus zu entdecken, die auch für den christlichen Gottesdienst grundlegend sind: Gemeinschaft; das religiöse Erleben der religiösen Heilstatsachen als Grundlage von allem; das von der Gemeinschaft aus als Regel Festgesetzte in Bezug auf Rituale, Stätte, Zeit, Kultperson usw.; der geistige Machtgehalt in den durch Alter geheiligten Riten und Worten; das ständig erneuerte Erlebnis der Heilsgrundlage durch sie, die 577

Vgl. MOWINCKEL: Religion und Kultus, 61–64. Vgl. MOWINCKEL: Religion und Kultus, 64–66. 579 MOWINCKEL: Religion und Kultus, 74 [Hervorhebung im Original]. 580 MOWINCKEL: Religion und Kultus, 77. 581 MOWINCKEL: Religion und Kultus, 77. 582 Vgl. MOWINCKEL: Religion und Kultus, 80. 583 MOWINCKEL: Religion und Kultus, 52. 584 MOWINCKEL: Religion und Kultus, 53. Vgl. auch aaO., 100f, wo Mowinckel dasselbe Ineinander durch das Wechselspiel der Begriffe sakrifiziell und sakramental zur Sprache bringt. 578

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Begegnung mit ‚dem Heiligen‘, mit Gott, durch Liturgie und Wort; Gott als der eigentlich Handelnde auch im Gottesdienst; seine Selbstoffenbarung und Selbstmitteilung durch dessen sakramentale Glieder; die Selbstübergabe der Gemeinde und des Menschen an Gott durch die sakrifiziellen Glieder des Gottesdienstes; das Lebenschaffende und Lebenerneuernde in der Begegnung mit Gott im Gottesdienste – das ‚Dramatische‘ in diesem Wechselspiel im Dienst und im Wiedererleben der Heilsgeschichte sowohl im einzelnen Gottesdienst als auch im Gange des Kirchenjahres mit dessen ‚zeitlichen‘ Höhepunkten; die Absicht des Ganzen: Leben und Segen für das tägliche und das ewige Leben zu gewinnen durch die Gemeinschaft mit Gott und in seiner sichtbaren Offenbarung (Christus) – usw.“585

Mowinckel bleibt auf einer religionsgeschichtlich und religionsphänomenologisch beschreibenden Ebene, die nur andeutungsweise auf die gegenwärtige theologische, religiöse und liturgische Situation ausgewertet wird.586 Mowinckels Schrift ist bestenfalls dort aktuell und vorsichtig polemisch, wo sie den evangelischen Theologen die Unhintergehbarkeit des Kultus auch für jeden protestantischen Gottesdienst einschärft und insofern (indirekt) gegen die Forderung nach „Ent-Kultung“ aufbegehrt. Der Kult wird gegenüber seinen protestantischen Kritikern als legitimer Ausdruck von Religion gewertet und davor in Schutz genommen, eine einseitig-bemächtigende, ausschließlich katabatische Orientierung zu bedeuten.587 Gefragt werden kann freilich, ob Mowinckels Beschreibung in ihrer religionsphänomenologischen Allgemeinheit die differentia specifica der jüdischen wie christlichen (oder: protestantischen!) Bestimmung des Kultus wirklich erfassen kann. Und gefragt werden kann, ob es möglich ist, die wahrnehmende Beschreibung auch für die konkrete Gestaltungsaufgabe des Gottesdienstes fruchtbar zu machen. An diesem Punkt denkt der Alttestamentler Mowinckel nicht weiter. Bei Rudolf Otto lässt sich der Überschritt von religionsphänomenologischer Betrachtung und liturgischer Arbeit hingegen deutlich wahrnehmen. Die religionsphänomenologische Analyse wird zur Basis für Ottos Vorschläge 585

MOWINCKEL: Religion und Kultus, 136. Vgl. etwa auch Mowinckels Kritik an der „Entmythologisierung“ der Religion, die er für eine unmögliche Möglichkeit hält: „Eine gewisse vorläufige ‚Entmythologisierung‘ und Rationalisierung darf als ein Stadium auf dem Wege vorgenommen werden. Das gehört aber in das Gebiet der Seelsorge und der seelsorgerischen ‚Apologetik‘ dem sogenannten ‚modernen Menschen‘ gegenüber, in die konkrete Situation, Mensch zu Mensch. Der weitere Weg führt aber zum ‚Mythus‘ zurück“ (MOWINCKEL: Religion und Kultus, 135). 587 Vgl. hier auch Mowinckels (äußerst knappe!) Auseinandersetzung mit dem Phänomen der prophetischen Kultkritik. Diese interpretiert er als Aufbegehren gegen eine Art und Weise der Institutionalisierung des religiösen Lebens, die das Unerwartete der Gottesbeziehung und damit auch die Notwendigkeit von „Gehorsam“ und „Moral“ neu einschärften – also an das notwendige gelingende Wechselspiel von Kultus, Mythus, Ethos einerseits und lebendiger Gottesbeziehung andererseits erinnerten (vgl. MOWINCKEL: Religion und Kultus, 92). 586

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zu liturgischer Neugestaltung des evangelischen Gottesdienstes.588 Dabei geht Otto von seiner 1917 erstmals publizierten materialen Wesensbestimmung von Religion als Beziehung des Menschen zum „Numinosen“, das als „fascinans“ und „tremendum“ erfahren wird, aus.589 Wie vor ihm bereits Schleiermacher bestimmt er den Bereich des Religiösen als einen eigenen Gefühlsbereich (Schleiermacher sprach von der eigenen „Provinz im Gemüthe“590); anders als Schleiermacher versucht er dessen Näherbestimmung durch religionsgeschichtliche und religionsphänomenologische Studien und gelangt dabei zu der genannten Charakterisierung der menschlichen Erfahrung im Umgang mit dem „Heiligen“. Genau diese Erfahrung solle nun auch der christliche Gottesdienst vermitteln. Peter Cornehl schreibt zu Ottos Ansatz: „Er wollte den Gottesdienst fundamentaltheologisch von der Begegnung mit dem ‚Heiligen‘ her neu verstehen, im Interesse der Frömmigkeit die Tradition der kultischen und der mystischen Erfahrung zusammenführen und einen religionswissenschaftlichen Dialog des Christentums mit den anderen, insbesondere den östlichen Religionen beginnen.“591

Die Ausrichtung auf die individuelle Frömmigkeit und religiöse Erfahrung, die Verbindung kultischer und mystischer Tradition und die Schaffung einer religionswissenschaftlich offenen Liturgik – dies bestimmt Cornehl als Ottos Intention. Was bedeutet dies für die „Erneuerung“ des Gottesdienstes, der sich Otto explizit in seiner 1925 erschienenen Schrift „Zur Erneuerung und Ausgestaltung des Gottesdienstes“ widmet?592 Otto möchte den Gottesdienst (und auch dies erinnert an Schleiermacher) von jeder kognitiv-pädagogisierenden Verengung befreien. Vielmehr solle er als „kultischer“ Begegnungsraum mit dem „Numinosen“ gestaltet werden.593 Genauer: Der Gottesdienst wird zum Weg, auf dem das religiöse Gefühl, das Otto in den Spuren Schleiermachers als allgemein menschliche Anlage versteht, zum religiösen Erleben überführt wird – ein Vorgang, den Otto „Divination“ nennt.594 Dieses Geschehen, bei dem Gefühl zum Erleben wird, kann Otto – hier ein 588 Vgl. dazu insgesamt SCHWARTZ: Begegnung mit Gott, und vor allem WIEFEL-JENNER: Rudolf Ottos Liturgik. 589 OTTO: Das Heilige (zuerst 1917). 590 SCHLEIERMACHER: Reden, 72, 35; vgl. zur Bedeutung des „Gefühls“ bei Otto WIEFEL-JENNER: Rudolf Ottos Liturgik, 47–49. 591 CORNEHL: Art. Gottesdienst, 72. 592 Vgl. OTTO: Zur Erneuerung und Ausgestaltung. 593 Vgl. die anders gelagerte, aber in vieler Hinsicht vergleichbare Aufnahme der Dimension des Geheimnisses durch Wilhelm Stählin (STÄHLIN: Mysterium [1970]). 594 Vgl. WIEFEL-JENNER: Rudolf Ottos Liturgik, 49–55.

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Schüler der Reformation – nicht anders denn durch den Geist vermittelt denken (Otto rekurriert auf die Figur des „testimonium spiritus sancti internum“).595 Gleichzeitig hindert ihn diese pneumatologische Fokussierung aber nicht daran, den Gottesdienst als methodischen Weg zur Gotteserfahrung zu konzipieren. Es geht im Gottesdienst um „Ausdruckshandlungen“596, die „heilige Situationen“ schaffen.597 Die Predigt – als Höhepunkt des Wortteils des Gottesdienstes – hat dabei zwar Bedeutung; im Blick auf den gesamten Gottesdienst, wie Otto ihn 1925 entwirft, allerdings nur eine untergeordnete. Der zweite, sakramentale Teil des Gottesdienstes hat deutlich höheres Gewicht. Im Hintergrund steht hier Ottos Unterscheidung von Rationalem und Irrationalem: In der Predigt geht es um das Rationale (freilich so, dass der Prediger dem Transzendenten ‚begegnet‘ sein und davon Zeugnis geben soll; genauer: einen divinatorischen Zugang zum Wort haben müsse).598 Im zweiten Teil, dem Anbetungsteil,599 steht das Irrationale im Zentrum, das für Otto das eigentlich Religiöse ausmacht. Der Höhepunkt des zweiten Teils des Gottesdienstes ist das bei Otto radikal entmaterialisierte „Sakrament“ des „Schweigenden Dienstes“ („sacramentum silentii“) mit dem Ziel des „tiefen Erfahren[s] des numen praesens im heiligen Schweigen“600. Nach Credo, Präfation, Sanctus, Bitt- und Fürbittgebet und Epiklese setzt mit dem Aufruf des Diakons „Der Herr ist in seinem heiligen Tempel/Es sei vor ihm stille alle Welt.“ der „Schweigende Dienst“ ein – die von der Gemeinde kniend vollzogene minutenlange schweigende Anbetung, die durch drei Töne der Gebetsglocke beendet werden soll, worauf die Gemeinde in das gemeinsam und laut gesprochene Vaterunser einstimmt.601 Auch wenn der „Schweigende Dienst“ bei Rudolf Otto auf die liturgischen Entwürfe des Schweden Emanuel Linderholm zurückgeht und historisch vor allem bei den Quäkern beheimatet ist, kann diese liturgische Sequenz doch als das Charakteristische in Rudolf Ottos liturgischem Gestaltungsvorschlag gesehen werden. Für Otto ersetzt der „Schweigende Dienst“ die ansonsten an dieser Stelle der Liturgie übliche Einsetzung des Abendmahls und Austeilung des Sakraments. Der kultische Weg, den Otto beschreibt, kulminiert in mystischer Versenkung, die von Otto aber dennoch sakra595

Vgl. WIEFEL-JENNER: Rudolf Ottos Liturgik, 55–60. Vgl. insg. WIEFEL-JENNER: Rudolf Ottos Liturgik, 138–140. 597 Vgl. zu diesem Begriff WIEFEL-JENNER: Rudolf Ottos Liturgik, 139. 598 Vgl. WIEFEL-JENNER: Rudolf Ottos Liturgik, 181. 599 Vgl. dazu auch SCHMIDT-LAUBER: Art. Liturgische Bewegungen, 403. 600 OTTO: Zur Erneuerung, 24. 601 Vgl. WIEFEL-JENNER: Rudolf Ottos Liturgik, 28.186f; das gemeinsam gesprochene Vaterunser wird von Otto emphatisch gefordert: „Das Vaterunser ist die Höhe und der Abschluß der Gebetsfeier selber. Und hier vor allem sollte die Gemeinde selber ihr priesterliches Recht ausüben, als Priesterin selber ihr ‚Opfer der Lippen‘ darbringen, und sich dabei nicht von einem Vorbeter vertreten lassen […]“ (OTTO: Zur Erneuerung, 30). 596

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mental gedacht wird. Katharina Wiefel-Jenner spricht treffend von einer „Spiritualisierung des Sakramentsbegriffs“.602 Im Kontext der Überlegungen dieses Kapitels lässt sich sagen: Die Externität des Sakraments als Gabe in Brot und Wein löst sich auf; die KultBegeisterung Rudolf Ottos gipfelt in einem völlig ‚ent-kulteten‘ Sakrament des gemeinsamen Schweigens. Otto radikalisiert damit trotz aller Einsicht in die Bedeutung des Kultus die Tendenz der Verschiebung vom „cultus exterior“ zum „cultus interior“ aus der Reformationszeit603 – und es zeigt sich die eigentümliche liturgische Rolle „zwischen den Zeiten“, die Rudolf Otto einnimmt und die ihn als Mischung aus einer älteren spätliberalen Theologie in der Spur Schleiermachers und aus einer jüngeren radikal antiliberalen Theologie ausweist, als nicht mehr zur älteren und noch nicht zur jüngeren liturgischen Bewegung gehörig.604 Die konsequente Betonung der schweigend erfahrenen Anbetung verbindet sich bei Otto mit einer kultischen Wegbeschreibung, die das „Wort“ als „externes Wort“ beinahe verloren zu haben scheint.605 So ist die Predigt zwar auf das biblische Wort gegründet, lebt aber davon, dass der Prediger Zeugnis gibt von der eigenen religiösen Erfahrung in der Divination auf der Grundlage des biblischen Textes.606 Auch die Lesungen erhalten bei Otto kaum eigenständiges Gewicht und werden als möglicherweise herausforderndes Element eines evangelischen Gottesdienstes eher marginalisiert. Vielmehr mahnt Otto zu einer kurzen und konzentrierten Durchführung des Wortteils und schreibt 1925: „Teil I des Gottesdienstes [der Wortteil, AD] soll ohne viel Umschweife zur Predigt leiten, soll darum kurz und gedrungen sein […], […] damit in ihm die Predigt den 602

WIEFEL-JENNER: Rudolf Ottos Liturgik, 197. Freilich will Otto das Abendmahl keineswegs grundsätzlich abschaffen. Er schlägt vor, es in eigene Abendmahlsgottesdienste auszulagern, die – hier zeigt sich der Ausgangspunkt bei menschlichen Erfahrungen – am ehesten in den Abendstunden gefeiert werden sollten; vgl. WIEFEL-JENNER: Rudolf Ottos Liturgik, 215–239. 604 Vgl. zu dieser Verortung Ottos auch WIEFEL-JENNER: Rudolf Ottos Liturgik, 129. 605 Freilich ergibt sich hier eine Antinomie bei Otto, der die Bedeutung des Wortes sehr grundlegend in den Mittelpunkt seiner kultischen Überlegungen stellen möchte: „Wahrlich, schwer sündigt am Protestantismus, wer auch nur einen Augenblick vergißt, daß der Protestantismus eine Kirche des Wortes ist, sein muß und bleiben muß“ (OTTO: Zur Erneuerung, 22). Mit dieser Warnung wendet sich Otto explizit gegen hochkirchliche, ritualisierende und ästhetisierende Strömungen in der Kirche. 606 Wiefel-Jenner spricht von der „Personalgemeinde des divinatorisch begabten Predigers“ als Ottos Leitbild, vgl. WIEFEL-JENNER: Rudolf Ottos Liturgik, 290. Vgl. zur Hochschätzung der Predigerpersönlichkeit auch OTTO: Zur Erneuerung, 1: „Wichtiger als alle kultischen Verbesserungen ist, daß wir lebendige, geistgetragene Verkünder haben und behalten, und zugleich solche, die, aus Glauben lebend, in freudiger Hingabe an ihren Beruf, durch Strenge in Dienstwilligkeit, durch ernste, herbe Lebensführung, durch Kraft der Entsagung und des Opfers den Beweis führen, daß, was sie sagen, echt ist und zugleich eine Kraft und ein Glück ist.“ 603

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deutlichen Höhepunkt bildet. Aus dem Grunde erscheinen zwei Lesungen besser als drei.“607 Rudolf Otto macht sich in seiner liturgischen Schrift aus dem Jahr 1925 auch Gedanken über die Gestaltung des Altarraums im Gottesdienst und entwickelt dazu folgende Skizze:608

Bereits diese Anordnung zeigt ex negativo, wie wenig Gewicht der Ort der Lesungen (vgl. das Lesepult „f“) bei den Überlegungen zur Gestaltung des Gottesdienstraums spielt.

Konzentrierte Luther den Gottesdienst auf das externe Wort und das unverfügbare Geschehen der Verwandlung des Menschen in dieses Wort hinein, so droht Otto mit seiner kultisch-mystischen Rekonstruktion genau dieses Wort als Gegenüber zu verlieren.609 Stattdessen erwartet Otto religiöse Erfahrung als Erfahrung der Präsenz des Numinosen so, dass die emotionale Disposition der Feiernden durch die Liturgie dergestalt geprägt wird, dass sie in der Anbetung zur direkten Gottesbegegnung in der Innerlichkeit des stillen Verharrens gelangen. Ottos Entwurf wurde heftig kritisiert und nur selten positiv rezipiert.610 Weniger trifft dabei der in jenen Jahren vielfach erhobene Vorwurf der „Theurgie“ auf Otto zu; Otto wusste durchaus um die Grenze der Machbarkeit der Gotteserfahrung. Viel eher scheint mir der Vorwurf der zu weit rei607

OTTO: Zur Erneuerung und Ausgestaltung, 36. OTTO: Zur Erneuerung, 58. 609 Vgl. auch Waldemar Macholz, der bei Otto ein „Begräbnis erster Klasse“ für das „Evangelium der Reformation“ erkennt, zit. bei WIEFEL-JENNER: Rudolf Ottos Liturgik, 261. 610 Vgl. WIEFEL-JENNER: Rudolf Ottos Liturgik, 244–267. 608

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chenden Bedeutung mystischer Erfahrung der Innerlichkeit zutreffend, den etwa Paul Althaus gegen Otto vorbrachte. Althaus schreibt: „Otto will dem Gottesdienste nach der Verkündigung des Wortes einen zweiten Höhepunkt geben in dem Herbeiführen der unio mystica. […] Der Heilige bleibt uns [aber, AD] in jedem Augenblicke der Herr und das Du; niemals wird dieses Verhältnis überhöht durch das mystische. Evangelisches Christentum lebt immerdar in der communio, nicht in der unio.“611

Es werde durch den Rekurs auf die „unio“ eine greifbare „Gegenwart des Heiligen“ behauptet, womit Althaus bei Otto dieselbe liturgische Problematik diagnostiziert, die in anderer Gestalt auch bei der römischen Messe begegne: die Lokalisierung und Fixierung göttlicher Gegenwart in einem Bereich menschlicher ‚Verfügbarkeit‘ – sei dies nun die kirchliche Heilszueignung durch das Sakrament oder das „seelische Erlebnis“ mystischer Innerlichkeit.612 Im Zuge der dialektisch-theologischen Kritik und der Dominanz der Wort-Gottes-Theologie nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es um die Religionsphänomenologie, um ihre Wahrnehmung des Heiligen und des Kultus still – bis Manfred Josuttis an diesen Faden der Theologiegeschichte in den 1990er Jahren wieder anknüpfte, charakteristischerweise allerdings so, dass er dabei auf Rudolf Otto als liturgischen Gewährsmann kaum zu sprechen kommt, sondern lediglich sein Grundlagenwerk „Das Heilige“ rezipiert.613 So beschreibt er Gottesdienst bereits in seiner 1991 zuerst erschienenen Studie „Der Weg in das Leben“ als „eine Form kultischer Praxis“ und bedient sich dabei einer durch Ottos Phänomenologie formatierten Sprache: „Menschen versammeln sich zur Gottesverehrung und schreiben ihrem Verhalten besondere Wirksamkeit zu, weil und sofern es sie in eine besondere Wirklichkeit führt“614, die „Wirklichkeit des Heiligen“615. Die Folge: Traditionelle Handlungsvollzüge und Texte werden – auch wenn sie nicht unmittelbar ‚verstanden‘ werden können – ebenso neu bedeutsam wie Bewegungen und Gesten, Gehen, Sitzen, Sehen, Singen, Hören und Essen.616 Sie alle nämlich haben das Ziel, hineinzuführen „in die verborgene

611

ALTHAUS: Das Wesen des evangelischen Gottesdienstes, 14f. Vgl. ALTHAUS: Das Wesen des evangelischen Gottesdienstes, 12. 613 Vgl. WIEFEL-JENNER: Rudolf Ottos Liturgik, 242. 614 JOSUTTIS: Der Weg in das Leben, 42. Vgl. auch das Vorwort, wo es u.a. heißt: „Die Tiefendimension kultischer Realität lernt man erst auszuloten, wenn man theologische Rationalisierungen hinter sich lässt und auf das Verhalten der den Gottesdienst Feiernden zu achten beginnt“ (aaO., 9 [Hervorhebung AD]). 615 JOSUTTIS: Die Einführung in das Leben, 91 u.ö. 616 Vgl. JOSUTTIS: Der Weg in das Leben, passim. 612

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und verbotene Zone des Heiligen“.617 Die Verbindung von verhaltenswissenschaftlichen Beobachtungen mit liturgischen Überlegungen macht Josuttis’ Distanz zu Ottos liturgiepraktischen Vorstellungen wohl verständlich. Kommt es bei Otto letztlich zu einem Verschwinden des Leibs in der mystisch-schweigenden Versenkung, so werden für Josuttis gerade leibliche Handlungsvollzüge entscheidend. Die 1996 erschienene Pastoraltheologie „Einführung in das Leben“ setzt die religionsphänomenologische und verhaltenswissenschaftliche Wahrnehmung und Beschreibung fort. Die Dimension des „Heiligen“ wird auch hier als „Realität“ so in den Blick genommen, dass der Praktischen Theologie insgesamt die Aufgabe zugeschrieben wird, das im Umkreis des Heiligen geforderte und ermöglichte Verhalten wahrzunehmen und anzuleiten. Der Gottesdienst sei „Weg in die verborgene und verbotene Zone des Heiligen“ – so die Grundbestimmung einer kultischen Gottesdiensttheologie, in der der gesamte Gottesdienst in der Struktur des Kultdramas mit seinen Stationen purgatio, illuminatio und unio beschrieben werden kann. Mit der Neuorientierung am „Heiligen“ geht zudem einher, dass Josuttis folgend weder Verständlichkeit noch (logische) Nachvollziehbarkeit zu leitenden Kriterien für den Gottesdienst werden dürfen. „Ein Gottesdienst soll und kann interessant sein, indem er zum Nachdenken anregt und das Mitgefühl anspricht. Aber er hat, indem das geschieht, die Ebene einer sozialen Veranstaltung noch nicht transzendiert. Erst wenn in, mit und unter dem Interessanten das Heilige Wirklichkeit wird, ist jene Traumzeit, jene Überwelt eingetreten, in der sich Menschen und Engel zum Lob Gottes vereinen.“618

Gottesdienst inszeniert die Gegenwart des heiligen – und damit auch fremden – Gottes mitten in der Welt.619 Interessant erscheint es, dass sich bei Josuttis zunehmend die Tendenz zeigt, das Wort in den Kultus dergestalt hineinzuziehen, dass es sich faktisch im Kult auflöst. Im Blick auf die Predigt plädiert Josuttis mehr und mehr für eine Reduktion der Predigt, die sich auf die Lesung des Wortes im Gottesdienst fokussieren soll.620 Die Predigt solle nicht mehr sein als ein „Nachwort zur Lesung“. Josuttis versucht mit dieser neuerlichen Konzentration den potenziellen Wortverlust in kultischen Gottesdienstkonzeptionen zu vermeiden und einen auf das Wort kon617

JOSUTTIS: Die Einführung in das Leben, 95. JOSUTTIS: Die Einführung in das Leben, 100. 619 Diese Dimension des Fremden hat gegenwärtig großen Zuspruch, dem sich auch der reformierte (!) Praktische Theologe Ralph Kunz anschließt. Er schreibt: „Wenn das Fremde ausgeblendet wird, wenn die Differenzerfahrungen eingeebnet werden, geht das Heilige vor die Hunde“ (KUNZ: Der neue Gottesdienst, 102). 620 Vgl. besonders JOSUTTIS: Die Textpredigt – ein Aufsatz, der zunächst unter dem Titel „Die Bibel als Basis der Predigt“ erschien; vgl. auch ders.: Gottes Wort im kultischen Ritual. 618

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zentrierten evangelischen Kult zu beschreiben. Gleichzeitig aber lässt sich fragen, ob die kultdramatische Wegbeschreibung mit ihrer mystischen Begrifflichkeit („unio“ als Ziel) und mit der in ihr ‚gesetzten‘ Präsenz des „Heiligen“ dem Anrede-, Dialog- und Ereignischarakter des „Wortes“ nicht ebenso entgegenläuft wie dies bei Ottos mystischem Fokus innerhalb des Kultdramas zu beobachten war. Entsteht nicht doch eine „Ontologie“ des Heiligen, die eine Objektivität festsetzt, die von Harbsmeier zurecht hinterfragt und kritisiert wurde? Ist diese Anfrage als die ‚werkästhetische‘ zu beschreiben, so wird bei den kultdramatisch-phänomenologischen Ansätzen eine weitere, nämlich ‚rezeptionsästhetische‘ Fragestellung gewichtig. Wie nämlich kann es gelingen, dass Menschen der Gegenwart den Gottesdienst so erleben, wie er in den kultdramatischen Ansätzen beschrieben wird? Ottos liturgischer Gestaltungsvorschlag kann als eine Art mystisch-kultisches Exerzitium für den modernen Menschen gelesen werden, der durch verschiedene Methoden hingeführt wird zu einem religiösen Erlebnis, das das Potenzial hat, zur religiösen Erfahrung zu werden.621 Manfred Josuttis stellt Überlegungen an, wie christlicher Unterricht neuerlich als „Initation“ in mystagogischer Tradition verstanden werden kann.622 Was beide allerdings wenig reflektieren, ist die Frage, wie das selbstbewusste Subjekt der Neuzeit so Gottesdienst feiern kann, dass es nicht zu einer Dichotomisierung von Rationalem und Irrationalem (so bei Otto), von Vernunft und all den Dingen, die „höher sind als alle Vernunft“ (so bei Josuttis), kommen muss. Die dritte Anfrage betrifft den ‚produktionsästhetischen‘ Aspekt der kultdramatisch-religionsphänomenologischen Ansätze. Das Problem ergibt sich dort, wo deskriptive in normative Aspekte übergehen: Auf der Ebene der – wie bei Josuttis – verhaltenswissenschaftlich fundierten Deskription und interpretierenden Deutung menschlichen Verhaltens erscheinen die Überlegungen eminent hilfreich. Es kann erkannt werden, dass zur Religion bestimmte Verhaltensweisen und Verhaltensmuster gehören, die als bedeutungsvoll erschlossen und nicht einfach als „cultus exterior“ der evangelischen Freiheit bzw. Beliebigkeit anheim gestellt werden können. Der kritische Punkt allerdings tritt dort ein, wo das beschreibende Reden in die Präskription übergeht. Die – auf der Beschreibungsebene hilfreiche und unumgehbare – ‚Setzung‘ des „Heiligen“, der Rollen und Verhaltensweisen 621

Vgl. WIEFEL-JENNER: Rudolf Ottos Liturgik, 140f: Es müsse „dem religiösen Gefühl durch positive (Musik, Gesten, gemeinsames Sprechen, Sinneseindrücke) wie negative (Stille, Dunkel, Schweigen) Ausdruckshandlungen und durch eine gezielte Abfolge der liturgischen Elemente der Weg geebnet werden, so daß es zur Begegnung mit dem Heiligen gelangen kann.“ Otto selbst spricht von einer „Methodik des religiösen Erlebens“, die gegenwärtig neu gesucht werden müsse (OTTO: Zur Erneuerung, 9 [Hervorhebung im Original]). 622 Vgl. JOSUTTIS: Die Einführung in das Leben, 135–151.

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im Umgang mit dem Heiligen droht dann, sich in Verhaltenszumutungen zu verwandeln, die als – vorsichtig formuliert – theologisch problematisch erscheinen müssen. Erinnert sei nur exemplarisch an die Rollenverteilung zwischen „Führer“ und Geführten bei Josuttis, die die evangelische Grundeinsicht vom „Priestertum aller“ so in ‚kultischen Nebel‘ hüllt, dass sie dahinter gänzlich unerkennbar zu werden droht; erinnert sei aber auch an die Neukonstruktion des entmaterialisierten Schweige-Sakraments bei Otto. (b) (Religions-)Philosophische Kult-Entdeckung Um die Mitte des 20. Jahrhunderts lässt sich ein neues Interesse vor allem katholischer (bzw. katholisch geprägter) Philosophen am Phänomen des „Kults“ feststellen, das teilweise in Verbindung mit den liturgischen Bewegungen in der katholischen Kirche steht, die im Zweiten Vatikanischen Konzil kumulierten. Bei diesen Zugängen zum Kult ist mit dem Begriff allerdings nicht primär und nicht ausschließlich der liturgisch geordnete Gottesdienst der (katholischen) Kirche gemeint, sondern die symbolisch und rituell strukturierte und auf diese Weise Sinn findende menschliche Existenz. Die Basis dieses fundamental-anthropologischen Verständnisses von „Kult“ formuliert Angelus A. Häußling wie folgt: „Im Unterschied zu Gottesdienst und Liturgie, die der Kirche eigene Handlungen sind, wird hier (auch abweichend vom kirchensprachlichen Rechtsbegriff „cultus“) mit Kult jene dem Menschen eigene Befähigung verstanden, mittels symbolischen Verstehens und mittels Symbolhandlungen den Sinn des eigenen Daseins und der Welt im ganzen zu lichten, ihren Bestand trotz Gefahr des Untergangs und der Vernichtung zu wahren und zu erneuern und mit dem Göttlichen in eine Gemeinschaft des Friedens zu gelangen und darin zu verbleiben. Kult ist deshalb ein ebenso menschliches Grundverhalten wie Philosophie, und tatsächlich ist keine kultlose Kultur bekannt.“623

Häußling benennt drei Bezugsgrößen des Kults: (1) das Individuum und seine Sinnsuche, (2) die umgebende Welt und deren Bestand, (3) das Göttliche und die Gemeinschaft mit ihm. Das Leben des Menschen in diesen drei Kontexten erscheint Häußling nur denkbar durch eine Neuentdeckung „symbolischen Verstehens“ in der Praxis von symbolischen Handlungen. Es zeigt sich, dass der Rekurs auf den Kultbegriff eine kritische Revision einer bestimmten Entwicklung aufklärerischen Denkens bedeutet. Der cartesianische Dualismus von „Geist“ und „Materie“, der in das Vertrauen auf die Begründung der Welt aus dem Denken des intelligiblen Subjekts 623 HÄUSSLING, Art. Kult V. Liturgisch-theologisch, 509 [die Abkürzungen wurden ausgeschrieben!].

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mündete und seine Steigerung im deutschen Idealismus fand, soll so überwunden werden, dass symbolische Gestaltungen und Handlungen an die Stelle des letztlich selbstbezüglichen Subjekts treten und auf diese Weise erst eigentlich den „Sinn“ menschlicher Existenz konstituieren. Diese Kritik an der Aufklärung und an der neuzeitlichen Denk- und Gesellschaftsentwicklung durch eine Wiederentdeckung des Kultus (in primär katholischem Kontext624) lässt sich bei dem katholischen Philosophen Joseph Pieper (1904–1997) studieren, besonders in seinem programmatischen Essay „Muße und Kult“ (1958). Gegen die Totalität der Arbeitswelt mit ihrem normativen Paradigma der Nützlichkeit, in der der Mensch nur als „Funktionär“ gesehen werden könne,625 gelte es, die „Muße“ neu zu entdecken. Dazu greift Pieper auf die biblische Tradition einerseits, die philosophische Tradition andererseits zurück. So beginnt das Buch mit einem Zitat aus Ps 46,11 (LXX), ein Wort, das Pieper mit „Habet Muße und erkennet, daß ich Gott bin“ übersetzt.626 Das griechische ıȤȠȜȐıĮIJİ als Übersetzung des hebräischen ʤʴʸ (hi.), das bei Luther mit „Seid stille“ übersetzt und in der Einheitsübersetzung mit „Lasst ab“ wiedergegeben wird, zeichnet Pieper durch seine Übersetzung in die philosophische Tradition ein, die mit dem Begriff ıȤȠȜȒ (lat.: schola; dt.: Muße) seit Platon und Aristoteles verbunden ist.627 Götz Harbsmeier kritisiert diese Verbindung des biblischen Wortes mit der philosophischen Tradition und schreibt: „Zwischen dem ‚Stillesein‘ des 46. Psalms und der Muße des Platon liegt ein unendlicher, qualitativer Unterschied, der Unterschied zwischen der Geschichtlichkeit des Wortes Gottes, das darein fährt, wann und wo es will, und der Metaphysik des Daseinsgrundes, der sich dem Menschen im kultischen Umgange erschließt.“628

Vor allem Thomas vertrat die auf den ersten Blick paradoxe Auffassung, wonach die Mußelosigkeit als unmittelbare Folge der „acedia“, der „Träg624 Vgl. z.B. auch die vorkonziliaren Überlegungen zur Bedeutung des Kults, die in dem Sammelband „Der Kult und der heutige Mensch“ (1961), herausgegeben von Michael Schmaus und Karl Forster, zusammengetragen wurden. Vielfach begegnet hier ein sehr weites Verständnis von Kult, der als „der erscheinende Leib des Glaubens“ (MATUSSEK: Gewissen und Kult, 154) bzw. als „Ausdrucksgestalt des Glaubens“ (SCHMAUS: Der Kult als Erfüllung echten Menschentums, 328) bestimmt werden kann. In zahlreichen Beiträgen zu dem genannten Band wird der Kult einerseits als anthropologisches Konstitutivum beschrieben (es gibt kein Menschsein ohne kultische Gestaltung; vgl. SCHMAUS: Der Kult als Erfüllung; PFISTER: Psychologie des Kultes); andererseits werden die Probleme des ‚gegenwärtigen‘ Menschen in seiner zunehmend technisierten Welt mit dem Kult benannt (vgl. SCHMIDT: Gefahren und Möglichkeiten; DOLCH: Förderung und Gefährdung des Kults; MONZEL: Gesellschaftliche Voraussetzungen des Kultes). 625 Vgl. PIEPER: Muße und Kult, bes. 13–16, Zitat: 40. 626 PIEPER: Muße und Kult, 11. 627 Vgl. PIEPER: Muße und Kult, 13–16. 628 HARBSMEIER: Dass wir das Wort, 157.

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heit“, zu verstehen und folglich dem Katalog der Todsünden zuzuordnen sei. Sie sei die Flucht vor der eigentlichen Bestimmung des Menschen – und wird von Thomas als Verstoß gegen das Sabbatgebot beschrieben.629 Ohne das hamartiologische Vokabular aufzunehmen, schließt sich Pieper dieser Argumentation an: „Trägheit im alten Sinn ist demnach so wenig gleichbedeutend mit Muße, daß sie vielmehr just als innere Voraussetzung der Un-Muße, der Mußelosigkeit gelten muß.“630

Positiv erscheint Muße bei Pieper als spezifische Gestalt des Schweigens, die hören lässt,631 als „Heiterkeit des Nichtbegreifenkönnens“632 und damit als „Anerkennung des Geheimnischarakters der Welt“633, als „Haltung feiernder Betrachtung“634. Die Erwähnung der „Feier“ führt Pieper hin zum „Kult“, von dem aus einzig die Feier ihre Kontur erhalte. Er schreibt: „Wenn aber Feiern der Kern der Muße ist, dann empfängt die Muße ihre innere Ermöglichung und Legitimierung von eben dort her, von woher das Fest und die Feier ihren Sinn und ihre innere Ermöglichung empfangen. Dies aber ist der Kult!“635

Nur im Kult könne ein Tätigwerden des Menschen gelernt werden, das „nicht Nutzung“ sei – das Opfer!636 Damit bedeute der Kult im Blick auf die Zeit das, was der Tempel für den Raum ist: die Ausgrenzung, den Entzug gegenüber dem Paradigma der Verwertung und des Nutzens,637 und der Kult wird zur Voraussetzung der Kultur.638 Über die Gestaltung dieses Kults äußert sich Pieper bewusst nicht; vielmehr geht er von dessen notwendiger Vorgegebenheit aus: „Der Kult selbst ist […] vorgegeben – oder es gibt ihn überhaupt nicht. Hier ist nichts erst noch zu stiften und zu gründen. – Und für den Christen ist auch dies selbstverständlich: daß es, post Christum, nur noch eine wahre und letztgültige Gestalt kultischer Feier gibt, die sakramentale Opferhandlung der christlichen Kirche.“639

629

Vgl. PIEPER: Muße und Kult, 47–51. PIEPER: Muße und Kult, 51. 631 Vgl. PIEPER: Muße und Kult, 52. 632 PIEPER: Muße und Kult, 52. 633 PIEPER: Muße und Kult, 52. 634 PIEPER: Muße und Kult, 54. 635 PIEPER: Muße und Kult, 77 [Hervorhebung im Original]. 636 PIEPER: Muße und Kult, 82. 637 Vgl. zur Beziehung zwischen Tempel und Kult in den genannten Relationen PIEPER: Muße und Kult, 80. 638 „Die Kultur lebt aus dem Kult“ (PIEPER: Muße und Kult, 86). 639 PIEPER: Muße und Kult, 89. 630

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Mit diesem Hinweis auf die einzige, wahre kultische Feiergestalt in der vorgegebenen katholischen Messe lesen sich Piepers Überlegungen rückwirkend apologetisch: Die in der Gegenwart vielleicht gelobte, von vielen aber auch kritisch hinterfragte traditionelle Feiergestalt der Messe erfährt eine anthropologisch-philosophisch weit ausgreifende Begründung. Götz Harbsmeier schreibt in seiner kritischen Besprechung zu Piepers Buch: „Fest und tief ist der katholische Gottesdienst als Kult eingewurzelt in dem allgemein-menschlichen Phänomen des Kultischen.“640 Und er erkennt zur Bewegung dieses Werkes mit ironischem Unterton: „Jetzt sind wir mit sicherer Hand von selbst an die Pforte des Heiligtums des katholischen Kultes geführt.“641 Rund 20 Jahre nach Pieper setzt Richard Schaeffler (geb. 1926), der (inzwischen emeritierte) Professor für „Philosophisch-Theologische Grenzfragen“ aus Bochum, die Überlegungen zur Frage nach Grund und Legitimation kultischen Handelns in charakteristisch anderer Weise fort. Geht Pieper von der radikalen Unterscheidung von Kult und Alltag in Entsprechung zur Unterscheidung von Muße und Arbeit aus, so konturiert Schaeffler im Gegenteil ein Kultverständnis, das den Bezug von Alltag und Feier in Entsprechung zum Bezug von Gott und Welt ins Zentrum rückt. Der philosophische und gesellschaftliche Umbruch der 1960er Jahre gewinnt somit auch Gestalt in der Wahrnehmung des Phänomens des Kults. Ist es bei Pieper ein primär kontemplatives (platonisches) Kultverständnis, das seine Überlegungen leitet (vgl. seine Begriffe „Haltung“, „Heiterkeit“ und „Anerkennung“), so beschreibt Schaeffler im Gegenzug ein handlungsorientiertes Kultverständnis, das kultisches und alltägliches menschliches Handeln verbindet.642 Dabei ist auch Schaeffler von einer grundlegenden Kategorie platonischen Denkens geprägt: dem Verhältnis von Urbild und Abbild, allerdings nun nicht so, dass „Abbildgestalt und Urbildgestalt“ Inhalt des Kultus seien, sondern „Abbildgeschehen und Urbildgeschehen“.643 Es gehe nicht – metaphysisch – um das „Sein“, sondern um das „Handeln“.644 Es gelte:

640

HARBSMEIER: Dass wir die Predigt, 147. HARBSMEIER: Dass wir die Predigt, 150; Harbsmeier stimmt in der Analyse der gegenwärtigen Situation weitgehend mit Pieper überein, lehnt aber dessen Begründung des Kultus radikal ab. An seine Stelle müsse das Wort treten, da der Kult letztlich doch nur im Vorletzten verbleibe und den Versuch des Menschen darstelle, von sich aus in die gelingende Gottesrelation des Paradieses zurückzukehren (vgl. aaO., 154f). 642 Vgl. bes. SCHAEFFLER: Der Kultus als Weltauslegung, 27.40; hier unterscheidet Schaeffler Metaphysik, die auf das „Sein“ rekurriere, von „Kult“, in dem es immer um das „Handeln“ gehe. 643 SCHAEFFLER: Der Kultus als Weltauslegung, 29. 644 Vgl. SCHAEFFLER: Der Kultus als Weltauslegung, 40. 641

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

„Die Kulthandlung ist Erneuerungszeichen. Sie wird gesetzt, um etwas, das einmal von der Gottheit gegründet war […] zu erneuern. Deshalb gehört zu Kulthandlungen stets Gedächtnis und Vergegenwärtigung zugleich.“645

Kultus bestehe im Wechselspiel von „erinnernde[m] Bericht“ und „epiphantische[m] Zeichen“,646 wobei die beiden Aspekte der Anamnesis und der Repraesentatio nicht auf Wort und Handlung zu verteilen seien, sondern in Wort und Handlung geschähen.647 Auch wenn Schaeffler den Begriff nicht explizit verwendet, holt er damit faktisch den Mythos zurück in eine Bestimmung dessen, was Kultus ausmacht:648 Der Kult wird zum Gedächtnis an Gottes Handeln und dient in seinen Handlungsvollzügen dazu, dieses Handeln so zu erneuern, dass es „in der Welt beständig Erneuerung“ stiftet.649 Das, „was im Anfang geschah“, gewinne im Kult „neue Gegenwart“.650 Genau an diesem Punkt verortet sich für Schaeffler der Konnex von alltäglichem und kultischem Handeln für den Menschen. „Das Spezialverhalten in der kultischen Feier und das Alltagsverhalten der Kultgenossen müssen sich gegenseitig auslegen und zur Einheit ergänzen, wenn zwei Gefahren vermieden werden sollen: ein autonomer Ritualismus, der nichts mehr davon deutlich macht, daß der Inhalt, auf den die Kultfeier sich bezieht, weltwirksam gegenwärtig gesetzt werden soll; andererseits aber ein bloß allegorisierender Moralismus, der in der Kultfeier nur feierlich überhöht, was wir im Alltag selbst leisten, statt sich dasjenige, was Gott schon geleistet hat, im gegenwärtig setzenden Bild schenken zu lassen.“651

Im Kult werde der ihn praktizierende Mensch selbst hineingenommen in das göttliche Handeln; Vertikale und Horizontale verbinden sich.652 Der Mensch werde „zur transparenten Gestalt für die Ankunft des göttlichen Handelns“ und so – in aller Vorläufigkeit – zu einem „Zeichen der Hoff645

SCHAEFFLER: Der Kultus als Weltauslegung, 19. SCHAEFFLER: Der Kultus als Weltauslegung, 20. 647 Vgl. SCHAEFFLER: Der Kultus als Weltauslegung, 21. 648 Vgl. hier besonders seine Darstellung der „bevorzugte[n] Inhalte kultischer Feiern“, die auf religionsgeschichtlicher Grundlage ermittelt und als Verhältnis von Tod und Leben, als Erneuerung und Ankunft [der Gottheit] beschrieben werden; vgl. SCHAEFFLER: Der Kultus als Weltauslegung, 16–19. 649 SCHAEFFLER: Der Kultus als Weltauslegung, 26. 650 SCHAEFFLER: Kultisches Handeln, 17. 651 SCHAEFFLER: Kultisches Handeln, 29. Konkret verweist Schaeffler etwa auf die Auseinandersetzung um die Mahlfeier in Korinth, wie sie von Paulus in 1Kor 11,17–34 dokumentiert wird. Paulus kritisiere eine Kultpraxis, die die „Weltwirksamkeit der Tat Gottes“ ausklammere und so zu einem unsozialen Miteinander in der Gemeinde führe (aaO., 33f [Zitat: 34]; vgl. ders.: Der Kultus als Weltauslegung, 51). 652 Vgl. SCHAEFFLER: Der Kultus als Weltauslegung, 28–30. 646

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2. Evangelische Fundamentalliturgik – ihre materiale Bestimmung

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nung“.653 Diese eschatologisch-konturierte Transformation des Menschen durch den Kult beschreibt Schaeffler im Rekurs auf den christlichen Kult, hält sie aber für durchaus allgemein gültig.654 Es gehe im Kult um die Einübung einer ethischen Haltung, die in Erwartung des verändernden Handelns Gottes und so als cooperatio von Gott und Mensch bestimmt werden kann: „Kultisches Tun ist Praxis der Hoffnung, die sich beschenken läßt, seine Effizienz ist Ausübung von Dienst, der sich darauf beschränkt, die Gestalt zu sein, in der und durch die hindurch eine andere Macht, die des Göttlichen, ihr Werk vollbringt.“655

Wollte man Schleiermachers fundamentalethische Kategorien verwenden, so ließe sich der Kult nach Schaeffler als eine Weise beschreiben, die wirksames und darstellendes Handeln als Gott-menschliche cooperatio vermittelt. Auch die Opfer werden bei Schaeffler in Folge dieser Überlegungen charakteristisch anders gedeutet als bei Pieper. Sind sie bei Pieper Handlungen, die in emphatischer Weise der Kategorie der Funktionalität und Nützlichkeit enthoben sind, so werden sie bei Schaeffler zu „Erneuerungsriten“; es gehe um „Lebenserneuerung durch wechselseitige Hingabe“.656 Der Kult erscheint bei Schaeffler als eine bestimmte Art der „Weltauslegung“, die auch in der Gegenwart in ihrer Bedeutung wahrgenommen werden müsse. Diese gehöre grundlegend zu jeder Religion: „Überall, wo wir in der Geschichte und Gegenwart Religionen antreffen, spielt für diese der Kultus eine ausgezeichnete Rolle.“657 Auf diesem Hintergrund fragt Schaeffler dann sogar kritisch, ob gewisse Formen des Protestantismus überhaupt noch als „Religion“ bezeichnet werden könnten.658 Schaefflers Überlegungen zum Kult haben eine doppelte Stoßrichtung: einerseits wenden sie sich gegen eine philosophische Kritik am Kult, andererseits und damit zusammenhängend gegen eine spezifisch christliche Kritik an dem Verständnis des Gottesdienstes als Kultus: (1) Schaeffler betreibt philosophische Kult-Apologie.659 In einer Zeit, in der die Frage nach der Legitimität eines kultischen Sonderhandelns jenseits des 653

SCHAEFFLER: Kultisches Handeln, 38. Vgl. SCHAEFFLER: Kultisches Handeln, 36–38. 655 SCHAEFFLER: Kultisches Handeln, 42. 656 SCHAEFFLER: Kultisches Handeln, 19. 657 SCHAEFFLER: Der Kultus als Weltauslegung, 10. 658 Vgl. SCHAEFFLER: Der Kultus als Weltauslegung, 10f – mit Hinweis auf bestimmte Formen des Calvinismus. 659 Freilich wehrt er sich selbst dagegen, den Kult gegenüber philosophischer Kritik so legitimieren zu wollen, dass er die Vorannahmen der Philosophie zur Basis nimmt und auf dieser Grundlage weiter argumentiert; vielmehr will er zeigen, dass sich der Kult „bewährt“ und zwar 654

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

Alltags der Welt zu einem wesentlichen Thema werde, zeigt Schaeffler, dass diese Kritik den Kultus im eigentlichen Sinn (und damit auch den christlichen Kultus) nicht treffe. Im Gegenteil sei dieser in der Lage, Aporien und Kurzschlüsse, die für die neuzeitliche philosophische Tradition charakteristisch seien, zu überwinden. Diese nämlich seien durch die Trennung von ‚sakral‘ und ‚profan‘ entstanden, die der Kult immer schon überwinde.660 Konkret sei der Kult in der Lage, die philosophische Verdrängung der Kategorie der Kontingenz zu kritisieren und so die Frage zu beantworten, „wie das Wirklichsein der Dinge als Gabe empfangen und deshalb als fremde Vor-Gabe in eigene Auf-Gabe verwandelt werden könne.“661 Implizit kann Schaefflers ethische Akzentuierung des Kultbegriffs auch als Reaktion auf eine Kritik gelesen werden, wie sie etwa Ernst Bloch hervorgebracht hatte. Er war der Überzeugung, beim Kult handle es sich um nichts anderes als um ein Instrument, um falsches Bewusstsein zu erzeugen.662 Angesichts des noch deutlich in der Erinnerung verankerten massenhaften Missbrauchs ‚kultischer‘ Formen und Vollzüge in den Manipulationsveranstaltungen der Nationalsozialisten (und anderer Faschisten in Europa) erscheinen solche Reserven gegenüber dem ‚Kultus‘ mit seiner eo ipso die ‚reine Vernunft‘ übersteigenden Anlage durchaus verständlich.663

(2) Schaeffler legitimiert durch seine Überlegungen nicht eine bestimmte Kultform, sondern setzt eher implizit und an verschiedenen Orten zu einer Kritik an einer bestimmten Weise, gottesdienstliches Handeln in der Gegenwart misszuverstehen, an. Er möchte zeigen, dass es auch gute philosophische Gründe gibt, den Gottesdienst als Kultus zu beschreiben, nicht etwa als „Veranstaltung zur Verdeutlichung von Verstehensinhalten“ oder zur „Intensivierung von Handlungsmotiven“.664 Diese Reduktion des Gottesdienstes sei das Ergebnis einer Linie, die sich bis in die antike Kultkritik zurückverfolgen lasse, die aber mit der Kultkritik auch die Funktion des Kultus für das Gott-Mensch- und Gott-Welt-Verhältnis zerstöre.665 Sie führe „dadurch, daß es [das kultische Handeln, AD] gewisse Aporien überwindbar macht, die innerhalb des philosophischen Selbst- und Weltverständnisses aufzutreten pflegen“ (SCHAEFFLER: Kultisches Handeln, 11). 660 Vgl. SCHAEFFLER: Der Kultus als Weltauslegung, 30. 661 SCHAEFFLER: Der Kultus als Weltauslegung, 46. 662 Vgl. dazu auch PFISTER: Psychologie des Kultes, bes. 276–282; VODOPIVEC: Der Kult im profanen Bereich, 259–262. 663 Vgl. VONDUNG: Magie und Manipulation. 664 SCHAEFFLER: Der Kultus als Weltauslegung, 9; vgl. ähnlich ders.: Kultisches Handeln, 41 Anm. 4. – Schaeffler kann an dieser Stelle auch von dem Problem des Ikonoklasmus sprechen: „Der Ikonoklast, der grundsätzlich über die Sphäre des Bildhaften hinausgelangt zu sein meint, vergötzt (ohne es zu wissen) nur eine andere Weise der bildhaften Gegenwartsgestalt – und sei es das ‚Gottesbild‘ im reinen Begriff oder in der Innerlichkeit eines ergriffenen Gemütes“ (SCHAEFFLER: Kultisches Handeln, 27). 665 Vgl. SCHAEFFLER: Der Kultus als Weltauslegung, 11–13.

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2. Evangelische Fundamentalliturgik – ihre materiale Bestimmung

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die Transformation der immer neu sich vollziehenden kultischen Erneuerung in die metaphysische Ideenbildung fort und erwarte vom Kultus „nur noch eine Sinnerhellung der menschlichen Existenz“.666 Mit Bemerkungen wie diesen zeigt sich bei Schaeffler – bei aller philosophischen Zurückhaltung – doch ein Plädoyer für eine bestimmte, nämlich die katholische Kultauffassung, die er gegen reformatorische Kritik in Schutz nimmt – vor allem gegen den Vorwurf der menschlichen Eigenmächtigkeit Gott gegenüber. Im Kult sei das Gegenteil der Fall; es gehe um jenes menschliche Handeln, das sich zur „Alleinwirksamkeit Gottes“ bekennt.667 Zwischen Pieper und Schaeffler tut sich das Spannungsfeld auf zwischen einem Kultverständnis, das auf die alltagstranszendierende Muße einerseits, auf die alltagsbestimmende Handlung andererseits setzt – und damit die Frage konturiert, wie der Kultus ethisch zu beschreiben ist. Ob Pieper und Schaeffler dabei als Alternativen zu lesen sind – oder nicht vielmehr doch als die beiden Seiten des Spannungsfeldes, das sich notwendig dort ergibt, wo die Vertikale und die Horizontale, Gottes und der Menschen Handeln miteinander ins Spiel gebracht werden –, scheint mir zu fragen. Bei Schaefflers Verortung des Kultus im Kontext des Handelns Gottes und der Menschen wurde bereits auf die Kategorie des Mythos verwiesen, die charakteristischerweise etwa zeitgleich zu diesen Überlegungen zur Wiedergewinnung des „Kultus“ in (religions-)philosophischer Perspektive neu bedacht wurde,668 wofür exemplarisch Hans Blumenbergs Werk „Arbeit am Mythos“ (1979) stehen kann. Darin möchte Blumenberg die künstliche Trennung von Mythos und Logos, wie sie sich immer wieder in den Versuchen zeigte, einen Weg vom alten Mythos hin zum vernünftigen Logos aufzuweisen, überwinden und den Mythos rehabilitieren. Blumenberg zeigt, wie beide – Mythos und Logos – ein Moment der Weltdistanzierung beinhalten und wie es auch dem Mythos um „Bedeutsamkeit“ geht. Mythen wurden immer neu erzählt, es gab und gibt Arbeit am „Mythos“ und damit jeweils neue Deutungen der Weltwirklichkeit.669 Jeder Naivität einer Entwicklungslinie zunehmender Mythosverdrängung durch die klärende Vernunft möchte Blumenberg den Weg abschneiden – ein Ansatz, der sich mit der grundlegenden Skepsis gegenüber dem klassischen Narrativ der Aufklä-

666

SCHAEFFLER: Der Kultus als Weltauslegung, 43. Vgl. SCHAEFFLER: Der Kultus als Weltauslegung, 61f [Zitat: 61]; vgl. etwa auch Schaefflers Rekurs auf „Gaudium et spes“ in: ders.: Kultisches Handeln, 24. 668 Vgl. dazu auch Émile Durkheims Betonung des Zusammenhangs von Ritus und Mythos und dazu HAHN: Kultische und säkulare Riten, 61–65. 669 Vgl. dazu HAILER: Glauben und Wissen, 32f. 667

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

rung verbindet, wie sie von Horkheimer und Adorno emphatisch zum Ausdruck gebracht wurde.670 Im Zusammenhang dieser Überlegungen wird es möglich, die vier Dimensionen Kultus, Mythos, Ethos und Logos, die religionsphänomenologisch als entscheidend für jede Religion verstanden wurden und werden, in ihrem Miteinander in den Blick zu nehmen. Gegenüber vereinfachenden Linienführungen, wonach es in der Entwicklung der Religionsgeschichte zu einem Weg vom Kultus zum Ethos (oder Logos) bzw. vom Mythos zum Logos gekommen sei, gilt es – darauf verweisen Pieper, Schaeffler bzw. Blumenberg auf je ihre Weise – das Miteinander dieser Dimensionen und deren Wechselverhältnis im Blick zu behalten, wobei die Begriffe auf der linken Seite eher die Handlungsebene, die Begriffe auf der rechten Seite eher die Ebene des Redens im Blick behalten. Kultus

Mythos

Ethos

Logos

Diesem grundlegenden religionsphänomenologischen Rechteck entspricht mit anderen Akzentuierungen auch die Analyse der „Dimensionen der Religiosität“ durch Charles Y. Glock. Glock unterscheidet eine „ritualistic dimension“, die etwa dem entspricht, was in obiger Skizze als Kultus bezeichnet wurde, eine „ideological dimension“, die dem Mythos entspricht, eine „intellectual dimension“, die sich mit dem Logos verbindet, und eine „consequential dimension“, die mit dem Ethos verbunden werden kann. Dem fügt Glock als fünfte Dimension noch die der religiösen Erfahrung hinzu, die er „experiental dimension“ nennt und die als Integral der vier Begriffe gelesen werden könnte.671 In dem skizzierten Rechteckt lässt sich Religiosität greifen, weswegen es naiv wäre zu meinen, es gäbe – wie gelegentlich suggeriert – einen geradlinigen Weg vom Mythos zum Logos oder umgekehrt eine einlinige Remythisisierung. Vielmehr ist – seit der Kritik der Vorsokratiker an den Mythen der ‚Alten‘ – ein Grundkonflikt erkennbar zwischen Mythos und Logos. Martin Hailer bemerkt dazu: „Er [dieser Grundkonflikt, AD] lässt weder einen einfachen Fortschrittsgedanken vom Mythos zum Logos zu, noch kann er zu Gunsten einer Wiedereinsetzung des Mythischen rückwärts gegangen werden. Beides hat es gegeben, freilich waren die Konsequenzen verräterisch: Das eine erzeugt zu einfache Fortschritts- und Aufklärungsmodelle, die 670 Vgl. HORKHEIMER/ADORNO: Dialektik der Aufklärung. Horkeimer und Adorno sprechen davon, dass die Aufklärung droht, „in Positivismus, den Mythos dessen, was der Fall ist“, umzuschlagen (aaO., X). Es ist ein dynamisches Wechselverhältnis von „Mythos“ und „Aufklärung“, das die Dialektik der Aufklärung bestimmt und von den beiden Autoren in luzider Schärfe herausgearbeitet wird: „Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt die Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie“ (18; vgl. bes. auch 50–87 [Exkurs 1: Odysseus oder Mythos und Aufklärung]). 671 Vgl. GLOCK: Über die Dimensionen der Religiosität.

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2. Evangelische Fundamentalliturgik – ihre materiale Bestimmung

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in sich selber undurchschaut mythisch waren. Das Gegenteil wurde entweder zur individuellen Regression oder lief Gefahr, als kollektiver Taumel verderbliche Konsequenzen nach sich zu ziehen.“672

(c) Systematisch-theologische Kult-Entdeckung Positive Zugänge zum Kult sind in der evangelischen systematischen Theologie des 20. Jahrhunderts aufgrund der oben referierten Reserven aus der Tradition der Reformation kaum zu erwarten. Auch der Praktische Theologe und Oldenburger Bischof Wilhelm Stählin (1883–1975) ist nicht primär an einer neuerlichen Entdeckung des Kults interessiert, kommt vielmehr en passant und sehr selbstverständlich auf den Kult als notwendiger Äußerungsform auch des evangelischen Christentums zu sprechen. Im Hintergrund stehen eigene Erfahrungen Stählins im Kontext der Berneuchener Bewegung und der Michaelsbruderschaft (vgl. zum liturgiegeschichtlichen Kontext unten673) einerseits, andererseits Stählins Versuch, das Spezifische und Eigentliche des christlichen Glaubens jenseits von mehr oder weniger bürgerlicher Moral und mehr oder weniger stimmiger Dogmatik neu in den Mittelpunkt der theologischen Aufmerksamkeit und kirchlichen Arbeit zu rücken. Dieses findet er – zuerst in einem 1936 erschienenen Buch, dann auch in einer bearbeiteten Fassung 1970 – im Rückgang auf den griechischen Begriff „Mysterium“.674 Diesen zentralen Begriff des Neuen Testaments (vgl. nur 1Kor 4,1; Kol 2,2 u.v.a.) bestimmt Stählin theonom und christologisch: Es gehe um Gottes Geheimnis, in dem Gott aber nicht für sich bleibe, sondern sich als ein in der Geschichte handelnder Gott offenbare. Die menschliche Reaktion auf diese Offenbarung beschreibt Stählin zweifach: Es komme zur Erschütterung und zum Trost (durchaus kann in diesen Formulierungen die zweifache Bestimmung der Wirkung der Erfahrung des Heiligen bei Rudolf Otto mitgehört werden). Für die Frage nach dem Gottesdienst ist es interessant, dass Stählin von einem „Raum“ ausgeht, in den Menschen eintreten können, um „Anteil zu gewinnen“ an dem göttlichen Geheimnis: „Das Geheimnis Gottes ist das Geheimnis Gottes, und es wahrt seine Verborgenheit, aber es öffnet sich immer wieder denen, die begierig und bereit sind, einzutreten in diesen Raum [Stählin verweist auf Eph 3,17f] und Anteil zu gewinnen an dem, was darin auf sie wartet.“675

672

HAILER: Glauben und Wissen, 30; vgl. aaO., 226–228.238–243. Vgl. unten Kapitel 3.2.4. 674 Vgl. STÄHLIN: Vom Geheimnis Gottes; ders.: Mysterium. 675 STÄHLIN: Mysterium, 43. 673

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

Die Frage, ob Stählin hier die reformatorische Erkenntnis des „sola gratia“ wirklich Ernst nimmt oder nicht zu stark von der menschlichen Prädisposition („denen, die begierig und bereit sind …“) aus denkt, kann an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden. Entscheidend ist im Kontext dieser Überlegungen vielmehr, wie Stählin den Gottesdienst mit dem „Raum“ verbindet, um den es beim Mysterium geht. Stählin erkennt, dass die Rationalität nicht der Weg sein kann, um sich in diesem Raum zu verorten und zu bewegen; „alle unsere Worte“ blieben „unzulänglich“, und nur „Zeichen und Symbol“ seien geeignet, „jenes Geheimnis zu bezeugen und zu vermitteln“.676 Von dieser Grundlegung aus ist es nur noch ein kleiner Schritt hin zu der Bestimmung, wonach der Gottesdienst „als […] entscheidende Form des Mysteriums in der Kirche“ bezeichnet wird.677 Hier findet sich ein durch „Zeichen und Symbol“ bestimmter Raum – oder sollte sich wenigstens theoretisch ein solcher finden. Denn faktisch erkennt Stählin einen „Verfall“ des Gottesdienstes in der Gegenwart, der aus der „Unklarheit über das, was im Gottesdienst eigentlich geschieht oder geschehen sollte“, resultiert.678 Dieser führe dazu, dass sich der „herkömmliche Gottesdienst in Diskussionsveranstaltungen oder Aktionsgruppen“ verwandelt habe.679 Auch wenn sich diese Verwandlung in den 1960er Jahren mit großer Intensität vollzogen habe, sieht Stählin sie doch eingebettet in eine längere Entwicklung des evangelischen Gottesdienstes. Er schreibt: „Die volkspädagogische Zweckhaftigkeit des Gottesdienstes, seine Auffassung als eines Mittels der religiösen Belehrung und der moralischen Erziehung hat sich in einer jahrhundertelangen Entwicklung in den Vordergrund geschoben, während gleichzeitig das Bedürfnis, sich einer solchen religiösen oder ethischen Belehrung auszusetzen, immer geringer wurde.“680

Die pädagogische Funktionalisierung und folglich Einebnung des Gottesdienstes in einen Zweck der Belehrung sieht Stählin als einen der Gründe dafür, dass der Gottesdienst sein Eigentliches verloren habe. Der zweite liegt darin, dass der Gottesdienst insofern banalisiert worden sei, als das Prae des göttlichen Handelns (Gott dient uns!) auf eine Weise in den Vordergrund trat, die die notwendige andere Seite (… und wir dienen ihm!) verdrängt habe, wodurch der Gottesdienst für den einzelnen zu einer beliebigen Veranstaltung wurde, zu der ‚ich‘ gehen kann oder der ‚ich‘ fernblei-

676

STÄHLIN: Mysterium, 26. STÄHLIN: Mysterium, 109. 678 STÄHLIN: Mysterium, 110. 679 STÄHLIN: Mysterium, 110. 680 STÄHLIN: Mysterium, 110f. 677

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ben kann, je nachdem, wie ‚mein‘ religiöses Bedürfnis dies gerade für nötig hält oder nicht. Stählin dagegen: „[…] zweifellos meint dieses Wort [Gottesdienst, AD] einen Dienst, den wir Gott leisten und erweisen; dieser Dienst darf gewiß nicht in dem Sinn verstanden werden, der in der Areopag-Rede (Apg. 17,25) ausdrücklich als ein Irrweg heidnischer Gottesverehrung gebrandmarkt wird, wohl aber als der Dienst der Huldigung, der liebenden Verehrung, die wir Gott schuldig sind, und die Er von uns begehrt: jenes ‚Gott die Ehre geben‘, das der Herr an den neun geheilten Aussätzigen vermißt hat, die nicht umkehrten, um ihm zu danken.“681

Beide Aspekte findet Stählin in dem Begriff des Kultus wieder: Mit diesem werde es möglich, den spezifischen Gottesdienst von dem „des täglichen Lebens“ zu unterscheiden, und gleichzeitig werde durch diesen Begriff „unsere eigene Haltung der Verehrung und Huldigung als die Gott geschuldete Ehre gegenüber aller bloß auf unseren geistlichen Nutzen gerichteten Selbstsucht betont“.682 Kultus markiert so den ausgegrenzten, besonderen Raum einer eigenen Zeichen- und Symbolsprache und gleichzeitig den primär anabatischen Aspekt der Gottesverehrung, für die Stählin auch auf die Figur des „Opfers“ rekurriert, das er als „christliche Grundhaltung, in der sich die Einverleibung in das Mysterium Christi und die configuratio cum Christo vollzieht“, versteht.683 Beides – ausgegrenzter Raum und gebotenes Handeln, auf dem die Verheißung der Gott-menschlichen Begegnung liegt, – ist Stählin zufolge für den evangelischen Gottesdienst wiederzugewinnen, um die Dimension des Geheimnisses Gottes nicht zu verlieren.684 In dieser Hinsicht nimmt Stählin auch die reformatorische Aussage zur grundlegenden Bedeutung des Wortes für den Glauben auf – und schränkt sie in charakteristischer Weise ein: Das „Wort in seinem kultischen Gebrauch“ sei „selbst eine Erscheinungsform des Mysteriums“.685 Es gehe dabei nicht um das Wort als „Instrument der Mitteilung“686, sondern um das Wort als lebendiges, mündliches Wort, das seinen Ort im „Raum der Andacht und des Gebets“687 habe. Der Gottesdienst wird damit für 681

STÄHLIN: Mysterium, 111. STÄHLIN: Mysterium, 112. 683 STÄHLIN: Mysterium, 113. 684 Vom Begriff des Mysteriums ausgehend unternimmt Stählin dann auch eine Neubestimmung des prekären Wortpaares „Wort und Sakrament“. Die Zusammenstellung dieser beiden Begriffe erkennt er als eine Fehlentwicklung reformatorischen Denkens, die ihre tiefere Wurzel in einer problematischen Übersetzung des Wortes „mysterium“ durch „sacramentum“ und sich so durch die abendländische Kirche gezogen habe. Für Stählin ist es entscheidend, Wort, Taufe und Abendmahl in ihrem „Mysterien-Charakter“ wahrzunehmen (vgl. STÄHLIN:, Mysterium, 115, sowie insgesamt 116–153); vgl. dazu auch unten Kap. 6.3.2.5. 685 STÄHLIN: Mysterium, 116 [Hervorhebung AD]. 686 STÄHLIN: Mysterium, 116. 687 STÄHLIN: Mysterium 125. 682

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

Stählin zum herausgehobenen Ort, an dem das Wort aus dem Bereich der zwischenmenschlichen Mitteilung heraus- und in den Raum der Gottesbegegnung eintritt.

Es zeigt sich: Wie auch – etwa zeitgleich – Ernst Lange (und andere) argumentiert Stählin christologisch von der Inkarnation her. Das Ereignis der Menschwerdung des unendlichen Gottes interpretiert Stählin so, dass sich Gott an die Menschenwelt und damit auch an bestimmte Formen und Gestalten gebunden habe, in denen seine Präsenz in besonderer Weise ‚greifbar‘ wird. Gerade umgekehrt wird Inkarnation bei Lange gesehen: Sie bedeutet dort Entgrenzung und grundlegende Aufhebung jeder Unterscheidung von Sakralität und Profanität, bei Stählin aber Gottes Bindung an einen bestimmten Menschen und von daher an jene Gestalten, in denen sich dieses einmalige und unüberbietbare inkarnatorische Geschehen je aktual neu ereignet, ‚repräsentiert‘688. Inkarnation wird – etwa zeitgleich – als Grundlage der Ent-Kultung verstanden und als Basis für ein erneuertes kultisches Gottesdienstverständnis. Von Stählin her ist die Aufgabe klar gestellt, an genau dieser Spannung weiterzudenken und dabei kritisch die problematische Linie in Stählins Ansatz im Blick zu behalten. Seine Argumentation nämlich kann durchaus dazu dienen, eine bestimmte Gestalt der gottesdienstlichen Feier als zeitübergreifend gültige Gestalt zu behaupten (weil Gott sich an diese Zeichen und Symbole gebunden habe) und von dieser Warte aus den „Verfall“ gottesdienstlicher Formen (so ein von Stählin häufig gebrauchtes Wort) zu beklagen. Liturgischer Konservativismus erführe so eine dogmatische Rechtfertigung von höchster Instanz. (d) Humanwissenschaftliche und ästhetische Entdeckung von Ritus und Inszenierung Versucht Stählin, den „Kult“ und mit ihm die aus der Alltagskommunikation herausgehobene liturgische Kommunikation in „Zeichen“ und „Symbol“ dogmatisch zu begründen (ein Ansatz, der in seiner Zeit kaum rezipiert wurde!689), so gelangen viele andere etwa zeitgleich auf humanwissenschaftlicher Grundlage zu einem neuen Verständnis von „Symbol und Ritual“ für den (evangelischen) Gottesdienst. Werner Jetter war nicht der erste, der die Unhintergehbarkeit symbolischer und ritueller Kommunikation in einem weiten anthropologischen Kontext entdeckte;690 sein 1978 in erster Auflage erschienenes Buch „Symbol und Ritual“ fasst aber grundlegende Diskussionen bündelnd zusammen 688

Vgl. zu dem ‚starken‘ Begriff von „repraesentatio“ bei STÄHLIN: Mysterium, 21. Vgl. nur die völlige Ausblendung seiner Überlegungen in der umfangreichen Studie von JETTER: Symbol und Ritual. 690 Vgl. nur z.B. VOLP: Liturgie als soziales Verhalten. 689

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und kann gleichzeitig als Wegbereiter weiterer Forschungen gesehen werden.691 Interessant ist es im Zusammenhang dieses Kapitels vor allem, weil Jetter seine Überlegungen auf dem Hintergrund der Spannung von Kult vs. Kultkritik entfaltet, die sein ganzes Werk als einer der grundierenden Aspekte durchzieht. Jetter spricht von dem prägenden „kultisch-akultische[n] Credo des Protestantismus“,692 das sich auf die prophetische Kultkritik gründe693 und in Abwehr von Götzendienst bzw. Idolatrie694 eine Haltung einnehme, die vor allem die Wortverkündigung betone und dies mit einer starken ethischen Ausrichtung verbinde („Liebe ist mehr als der Kult“695). Es komme so zu einer eigentümlichen Bewegung: Man zeige sich im Protestantismus „immerfort auf der Suche nach einer Institution, die kultische Aufgaben wahrnehmen könnte, ohne selbst zum Kultus zu werden.“696 Auf dem Hintergrund dieser protestantischen Eigentümlichkeit wagt Jetter eine umfassende Umschau in den Humanwissenschaften und kommt von daher zu der Einsicht (1) in die Unhintergehbarkeit von Ritual und Symbol für die zwischenmenschliche697 und vor allem für die religiöse Kommunikation698 und (2) in die Bedeutung dieser „kultische[n] Formgebung“699 als spezifische Weise menschlichen Ausdrucks. Dabei versteht Jetter Symbole als Weisen der Kommunikation, die – in einem sprachlichen Bild – einen Brückenschlag hin zu einem „Land“ leisten, „das sich offen und weit dahinter erstreckt“,700 und dabei nicht ausschließlich den Intellekt ansprechen, sondern eine starke affektive Komponente haben.701 Rituale werden als „wiederholbare Handlungsmuster von symbolischem Charakter“ verstanden.702 Die Kriterien der Symbolizität einerseits, der Stetigkeit ande691

Vgl. z.B. die umfassende Studie von Andreas ODENTHAL: Liturgie als Ritual. JETTER: Symbol und Ritual, 7. 693 Vgl. bes. JETTER: Symbol und Ritual, 84. 694 Vgl. JETTER: Symbol und Ritual, 124. 695 JETTER: Symbol und Ritual, 7. 696 JETTER: Symbol und Ritual, 123. – Einen Beleg für diese Haltung des Protestantismus hätte Jetter gut bei Götz Harbsmeier finden können, den er allerdings nur marginal rezipiert (vgl. 84 Anm. 32). 697 Vgl. Jetters Aufnahme humanwissenschaftlicher Symboldeutungen: JETTER: Symbol und Ritual, bes. 30–40; vgl. zusammenfassend auch aaO., 200. 698 Vgl. JETTER: Symbol und Ritual, 129: „Bei der Gestaltung des Gottesdienstes hat sich die Kirche anfänglich unbefangen und dann mit wachsender Kunstfertigkeit des Rituals und auch der Symbolik bedient. Es wäre ganz töricht, zu meinen, daß diese Gestaltungselemente kultischer Formgebung sich irgendwo völlig umgehen ließen.“ 699 Vgl. JETTER: Symbol und Ritual, 129. 700 JETTER: Symbol und Ritual, 66. 701 Vgl. JETTER: Symbol und Ritual, 75f. 702 JETTER: Symbol und Ritual, 22. Vgl. auch die Bestimmung, wonach als Ritual jene „veranstaltete Situation“, in der die „symbolische Kommunikation sich selber begeht“, verstanden werden könne (aaO., 145). – Vgl. zu einer ähnlichen Ritualbestimmung auch Michael MeyerBlanck, der Rituale als „Handlungsgewohnheiten einer Gemeinschaft, die wiederkehrende Situa692

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rerseits werden folglich für die Definition des Rituals entscheidend und ermöglichen Jetter „Kult“ und „Ritus“ annähernd austauschbar zu verwenden.703 Jetter gelangt somit zu einem weiten, keineswegs nur die jüdisch-christliche Tradition prägenden Verständnis von Symbol und Ritual – und ist genötigt, genauer nach dem Spezifischen von „Symbol und Ritual“ im (jüdischen bzw.) christlichen Kontext zu fragen. Dieses erkennt er einerseits im Namen Jesu Christi, der im christlichen Ritus emphatisch genannt werde und womit sich „Beten, Bezeugen und Bekennen“ materialiter verbinden;704 andererseits – und damit zusammenhängend – ist es die Geschichtlichkeit des (jüdischen wie) christlichen Glaubens, die diesen von anderen Kulten unterscheide und die sich als „Herkunftsgeschichte“ und „Hoffnungsgeschichte“ artikuliere.705 Mit dieser inhaltlichen Profilierung des Spezifischen des christlichen Rituals ist allerdings – Jetter zufolge – die Notwendigkeit gesetzt, im Kontext des Rituals dessen Deutung mit zu verankern. Jetter schreibt: „Nicht in der Abwertung des Rituellen oder in der aufgeklärten Perhorreszierung seiner Gefahren hat das evangelische Gottesdienstverständnis seine Spitze. […] Sein Lebensinteresse gilt dem Lebensvorgang der Interpretation, in dem allein die symbolische Kommunikation des Gottesdienstes ihre wahre Lebendigkeit gewinnt. Darum der leidenschaftliche Eifer um die viva vox evangelii: daß sich aus dem formellen hieros logos der liturgischen oder der biblischen ‚Texte‘ das informelle, ins Leben eindringende und zum Leben bringende, das Leben aus Gottes Verheißungen deutende Wort entbinde.“706

Die Deutung, für Jetter heißt das natürlich: die Predigt,707 wird so zum Vehikel, auf dem aus dem Formalen des Kultus (zu dem auch die Lesung der biblischen Texte gehört!) das Materiale des Leben und Verheißung verbindenden Wortes wird.708 Kürzer: Der „hieros logos“ verwandelt sich durch die Predigt zum „Wort“. Jetter reformuliert damit auf humanwissenschaftlitionen wiedererkennbar machen“, bestimmt (MEYER-BLANCK: Inszenierung des Evangeliums, 43). 703 Vgl. dazu nur JETTER: Symbol und Ritual, 101.136 Anm. 9; vgl. auch HAHN: Kultische und säkulare Riten. 704 JETTER: Symbol und Ritual, 155. 705 Vgl. bes. JETTER: Symbol und Ritual, 202. 706 JETTER: Symbol und Ritual, 159. 707 Vgl. JETTER: Symbol und Ritual, 160f. 708 Auch Manfred Josuttis formuliert in seinem Beitrag zum „Gottesdienst als Ritual“ den berühmten Satz: „Der Gottesdienst sagt explizit, was die Party soll“ – und legt folglich ein vergleichbares Gewicht auf das Deutegeschehen im christlichen Gottesdienst, das er allerdings bereits in diesem frühen Aufsatz nicht so eindeutig an die Predigt bindet; vgl. JOSUTTIS: Der Gottesdienst als Ritual, 54.

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cher Basis die Grundeinsicht Luthers aus seiner frühesten Schrift zum Gottesdienst (1523) und unternimmt gleichzeitig eine grundlegende Rechtfertigung des evangelischen Gottesdienstes mit seinem Ankergewicht auf der Predigt. Freilich weiß Jetter zugleich um die Gefahr dieser Hochschätzung der Deutung. Es könne geschehen, dass „die Predigt der Hypertrophie des Erklärens, Ausdeutens und Argumentierens“ verfalle und dann auch „den ganzen Gottesdienst dieser Hypertrophie anheimfallen läßt“.709 Dem sei so zu wehren, dass auch die Predigt „in der Dimension symbolischer Kommunikation“ bleibe – ohne dass Jetter allerdings genauer ausführt, was dies für die Predigtsprache und die Art und Weise der „Deutung“ in ihr bedeutet.710 Die Predigt sei Teil des Rituals und zugleich Überbietung desselben, mithin eine „rituell gewährleistete Überbietung des Rituals“.711 Interessant erscheint, dass Jetter durch den Rekurs auf die predigend geschehende Interpretation der Gefahr der Behauptung kultischer Präsenz entgehen und das „Wort“ jeder „Eindeutigkeit des ‚Habens‘“ entziehen möchte: „Nach dem reformatorischen Ansatz ist daran zu erinnern, daß die im ‚Wort‘ gegebene Wahrheit und das darin beschlossene Heil Gottes den Glaubenden nicht in der Eindeutigkeit des ‚Habens‘, sondern in den Wagnissen des Deutens zuteil wird, so daß sie Gott suchend, seinen Willen erfragend, seinen Verheißungen trauend zum Leben gelangen.“712

So sehr damit der notwendige Entzug des Wortes groß gemacht wird, stellt sich doch die Frage, inwiefern dieses in die „Deutung“ auswandernde Wort dem entspricht, was Luthers „verbum externum“ meint: Gerät es nicht – wie oben zu Wilhelm Gräb ausgeführt (2.2.1.3) – gerade dann in die Befähigung, schärfer: Bemächtigung des verstehenden Menschen, wenn es in die Deutungsleistung hinein verlagert wird? Die zweite Anfrage an Jetter ist die, ob seine Rekonstruktion von Symbol und Ritual angesichts der Bedeutung, die er der Predigtrede zuschreibt, wirklich konsistent bleibt. Wenn das Entscheidende in der predigenden Deutung geschieht, so lässt sich doch fragen, warum das Symbol und Ritual dann tatsächlich notwendig sind? Nur, weil es Menschen eben irgendwie brauchen? Welche theologische Bedeutung kommt dem Kult zu und dem, wie in ihm der „Name“, die Geschichte und das Wort laut werden?

709

JETTER: Symbol und Ritual, 160. JETTER: Symbol und Ritual, 160. 711 JETTER: Symbol und Ritual, 160. 712 JETTER: Symbol und Ritual, 159 Anm. 20. 710

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Freilich: Jetter möchte genau das Gegenteil von dem in diesen Fragen Insinuierten erreichen. Und faktisch nehmen die Seiten, die die Predigt betonen, auch nur relativ knappen Raum ein. Dennoch scheinen sie mir in der Lage, den weit ausgreifenden Versuch der Einholung von Symbol und Ritual in ein evangelisches Gottesdienstverständnis letztlich in Frage zu stellen. Spricht Jetter bewusst von „Kult“ – und muss sich daher mit der begriffsgeschichtlichen Problematik und den liturgietheologischen Fragen auseinandersetzen, die sich mit diesem Begriff verbinden, – so geht eine neuere Tendenz dahin, den „Kult“-Begriff zu vermeiden und eher von der Unhintergehbarkeit des Rituellen zu sprechen. Der Kultbegriff wird vom Ritual-Begriff verdrängt713 und von manchen gar als „begriffsgeschichtlicher Anachronismus“ gewertet.714 Die Bedeutung und Notwendigkeit ritueller Gestaltungen für das Leben von Menschen steht dann im Mittelpunkt, nicht mehr allerdings die Schwierigkeit und Herausforderung des „Kultus“ als spezifisch religiöser menschlicher Handlung. Weiterführend erscheinen diejenigen Ansätze, die sich seit den 1980er Jahren in das ästhetische Paradigma Praktischer Theologie einordnen lassen und die die Gestaltseite liturgischer Vollzüge jenseits ihrer pauschalen Einordnung in die Kategorie von „Ritus“ oder „Symbol“ genauer untersuchen und dabei gleichzeitig das Ineinander von Form und Inhalt als leitenden Gesichtspunkt beachten. Mit Begriffen wie „Inszenierung“, „Performance“ oder „Drama Gottesdienst“715 wird das liturgische Geschehen im kultur-, genauer: theaterwissenschaftlichen Kontext neu verortet; dabei rückt in jüngster Zeit auch der „Text“ deutlicher in den Fokus, und der Gottesdienst kann pointiert als „Textinszenierung“716 beschrieben werden. Versucht man eine Kartographie der ästhetischen Ansätze zum Gottesdienst, so scheint mir das Feld aufgespannt durch zwei Pole: Auf der einen Seite stehen jene Zugänge, die das „Gegebensein“ des Stücks in den Vordergrund rücken und dieses primär werkästhetisch beschreiben; auf der anderen Seite stehen jene Zugänge, die vor allem die Aufgabe der Neu-Inszenierung in den Blick nehmen und von daher primär produktionsästhetisch orientiert sind. Für den einen Pol verweise ich auf Stephan Weyer-Menk713

Vgl. BAUDY: Art. Kult II. Forschungsgeschichtlich, 1802. Vgl. Stausberg, zit. bei BAUDY: Art. Kult II. Forschungsgeschichtlich, 1805. Folgte man dieser Begriffssubstitution, so würde mit dem Begriff „Ritus“ im Zuge meines obigen Definitionsversuchs allerdings keineswegs ein „Synonym“ zu „Kult(us)“ verwendet, da „Kult(us)“ gegenüber „Ritus“ nicht nur die horizontale Ebene des Menschlichen, sondern auch die Vertikale der Gottesrelation zum Ausdruck bringt. 715 Vgl. MEYER-BLANCK: Inszenierung des Evangeliums; SCHILSON/HAKE (Hg.): Drama „Gottesdienst“. – In diesen Zusammenhängen werden auch Raum- und Zeiterfahrungen neu erschlossen; vgl. z.B. UMBACH: Heilige Räume – Pforten des Himmels. 716 Vgl. PLÜSS: Gottesdienst als Textinszenierung. 714

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hoff (vgl. auch oben Kap. 1.4), der andere sei durch den 2005 verstorbenen katholischen Theologen Arno Schilson repräsentiert. (1) Stephan Weyer-Menkhoff liest den Gottesdienst ‚radikal-ästhetisch‘ und versucht so der Problematik zu entgehen, die etwa bei Jetter erneut aufgewiesen wurde: die Gefahr der Entwertung des Vollzugs durch das „Wort“ (der Deutung). Weyer-Menkhoff geht davon aus, dass der predigtdominierte evangelische Gottesdienst mit seiner Hochschätzung des Paradigmas der „Kommunikation“ das eigentliche Ziel des Gottesdienstes verfehle. Er formuliert den Leitsatz: „Der Gottesdienst ist, was man sehen kann.“717 Beziehungsweise: „Die Liturgie besteht aus lauter Oberfläche.“718 Demgegenüber verabschiedet Weyer-Menkhoff den Zeichenbegriff, da dieser letztlich immer dazu führe, die Ebene des konkret Sichtbaren zu verlassen und auf die Bedeutung des Zeichens zu blicken.719 Weyer-Menckhoff möchte zurück zu einem Gottesdienstverständnis, das nicht auf Verstehen und Bedeutung ausgerichtet ist. Er schreibt: „Besteht der Gottesdienst aber nicht aus Zeichen, so hat er auch keine Bedeutung. […] Wer im Gottesdienst Bedeutung will, der zerstört die Oberfläche. Meist gibt sich das als Reform des Gottesdienstes aus und hinterläßt eine breite Spur der Ödnis. Denn wenn die Oberfläche auf die Lesbarkeit einer Bedeutung hin zerstört ist, geht es wie bei jedem Lesen: Ich überfliege die sinnlichen Zeichenträger und weiß deren Bedeutung. Darum muß der bedeutungsvolle Gottesdienst langweilig und öde werden.“720

Diese radikale Konzentration auf die sinnlich-wahrnehmbare Oberfläche führt Weyer-Menckhoff zu der (in ästhetischen Diskursen durchaus häufig gebrauchten) Metapher des Raumes zur Beschreibung des Gottesdienstes. „Der Gottesdienst schafft mit seiner sinnlichen Oberfläche aus Worten und aus Handlungen einen Raum.“721 Dabei würden – besonders eindrucksvoll im Gesang – Worte zu Dingen verdichtet und gleichzeitig zugeeignet (allerdings nicht so, dass eine Bedeutung dabei erkannt und abstrahiert werden könnte). Vielmehr sei es Gott selbst, der sich „zwischen den Worten und Handlungen“ Raum schaffe.722 Gott selbst „präsentiert sich im Raum, den die Dinge und Worte mit ihrer sinnlichen Präsenz schaffen.“723 In gewisser Weise sollen das „Werk“ ‚ohne Sinn und Verstand‘ ausge717

WEYER-MENKHOFF: Die Ästhetik der Liturgie, 255. WEYER-MENKHOFF: Die Ästhetik der Liturgie, 256. 719 Vgl. WEYER-MENKHOFF: Die Ästhetik der Liturgie, 256f. 720 WEYER-MENKHOFF: Die Ästhetik der Liturgie, 258. 721 WEYER-MENKHOFF: Die Ästhetik der Liturgie, 259; vgl. bereits Stählin. 722 WEYER-MENKHOFF: Die Ästhetik der Liturgie, 260. 723 WEYER-MENKHOFF: Die Ästhetik der Liturgie, 261. 718

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führt, der Kult vollzogen, Symbol und Ritual gefeiert werden. Mit der expliziten Ablehnung jeder „Deutung“ fixiert Weyer-Menckhoff den Gottesdienst als feststehendes Kunstwerk, dem gegenüber nur die Haltung der (verehrenden) Neuaufführung des immer Gleichen, keinesfalls der verändernden Neuinszenierung auf unter Umständen ungewohnte Weise möglich wäre. Gleichzeitig formuliert Weyer-Menckhoff eine letztlich unmögliche Möglichkeit: Es müsse so gefeiert werden, dass die Deutungsebene ausgeschalten sei – mit einem Wort der neueren Psychologie (das Weyer-Menckhoff nicht verwendet) in einem permanenten „flow“.724 Positiv aber verweist Weyer-Menckhoff darauf, dass der Wert des Gottesdienstes nicht jenseits seiner eigenen Sprache von Symbol und Ritual in einer davon abstrahierenden Deutung gesucht werden dürfe, sondern in, mit und unter dieser Sprache zu finden und zu beschreiben sei – ein Aspekt, der für die Frage nach dem „verbum externum“ entscheidend erscheint. Entgegen der üblichen – und etwa auch bei Werner Jetter anzutreffenden – typisch protestantischen Bindung des „äußeren Wortes“ an die Predigt müsste gefragt werden, wie dieses externe Wort in, mit und unter dem ‚kultischen‘ Vollzug verortet werden könnte. (2) Arno Schilson geht von einem weiten Kultbegriff aus, wie er sich ihm aus Beobachtungen im (alltags-)kulturellen Kontext der Gegenwart erschließt. „Kult bezeichnet […] ein Handeln oder Handlungen von Menschen, in denen sich ihre besondere Fähigkeit äußert, ‚mittels symbolischen Verstehens und mittels Symbolhandlungen den Sinn des eigenen Daseins und der Welt im ganzen zu lichten, und ihren Bestand trotz Gefahr des Untergangs und der Vernichtung zu wahren und zu erneuern.“725

Damit wird die Frage nach dem (Lebens-)Sinn zur Grundlage kultischer Inszenierungen, wie Schilson sie etwa im Konsumverhalten („Kult-Marketing“726) oder im Sport erkennt, und es ist die Anschlusssmöglichkeit für eine religiöse Deutung dieses Alltagskultes im Rahmen eines funktionalen Religionsverständnisses gegeben.727 Wesentliche Gesprächspartner für Schilson sind Gerhard Schulze mit seiner soziologischen Bestimmung gegenwärtiger Gesellschaft als „Erlebnisgesellschaft“ und immer wieder Wilhelm Gräb mit seinem Verständnis von Religion als Deutungsdimension 724

Vgl. zu dem Begriff CZIKSZENTMIHALYI: Das Flow-Erlebnis. SCHILSON: Die Inszenierung des Alltäglichen, 30 [das Zitat im Text stammt von Angelus A. Häußling]. 726 Vgl. dazu SCHILSON: Die Inszenierung des Alltäglichen, 31–37; vgl. ausführlicher auch BIERITZ: Kult-Marketing, sowie GRÄB: Neuer Raum für Gottesdienste. 727 Vgl. dazu vor allem SCHILSON: Die Inszenierung des Alltäglichen, 24–29. 725

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menschlicher (Kontingenz-)Erfahrung.728 In diese gesellschaftlich-religiöse Stimmungs- und Erwartungshaltung müsse sich christlicher Gottesdienst gegenwärtig „inkulturieren“ – und d.h. sich entsprechend den Herausforderungen verändern.729 Gottesdienst müsse sowohl „beglückende Zugehörigkeit zur Kultgemeinde“ als auch „das Erlebnis höchstpersönlichen subjektiven Gewinns“ bieten730 – und entsprechend neu gestaltet werden. Elementare sowie nachvollziehbare Riten und eine „Steigerung der Erlebnisqualität“731 seien dazu nötig, wobei freilich auch eine „Kontrasterfahrung“732 zur umgebenden Alltagskultur intendiert sei. Benannt, aber kaum reflektiert wird von Schilson die Spannung zwischen Ritualität und Kreativität; er geht davon aus, dass sich beide Dimensionen in der Inszenierung verbinden lassen. Gefragt werden müsste aber, ob beide sich nicht wechselseitig gefährden: Die Ritualität macht freie Kreativität und immer neue Inszenierung unmöglich; Kreativität umgekehrt zerstört jeden Ritus, der auf Wiederholbarkeit (so ein Aspekt der Ritus-Definition, der etwa bei Jetter oder in den religionsphänomenologischen und -philosophischen Kultwahrnehmungen entscheidend wird, bei Schilson aber nicht vorkommt) angewiesen ist. Das zweite, immer wieder bearbeitete Spannungsfeld nimmt Schilson deutlicher in den Blick: Wort und Kult. Entscheidend sei es hier, vom „Übergewicht des Wortes zugunsten einer reichen Symbolik“ umzukehren – und den Mehrwert symbolischer Inszenierung zu entdecken.733 Die Frage, inwiefern ein spezifisch theologisches Wortverständnis dabei eine Rolle spielt, wird von Schilson nicht näher beleuchtet. Insgesamt zeigt Schilson, wie ästhetische Überlegungen auch dergestalt einen Rückweg zum Kult bedeuten können, dass sie die produktionsästhetische Aufgabe der Neu-Inszenierung in den Mittelpunkt rücken. Im Miteinander der beiden vorgestellten extremen Positionen wird so das Spannungsfeld von ästhetischer Wahrnehmung des Werkes und ästhetischer Neuinszenierung deutlich, die sich beide im Rahmen einer ästhetisch reflektierenden Praktischen Theologie finden lassen. Einig sind sich beide am ehesten 728

Vgl. bes. GRÄB: Auf den Spuren der Religion. Vgl. zum Inkulturationsbegriff bei SCHILSON: Die Inszenierung des Alltäglichen, 53. Es sei evident, „daß Liturgie dann, wenn sich das kulturelle Umfeld so grundlegend ändert wie dies gezeigt wurde, nicht einfach bleiben kann und darf, wie sie nun einmal geworden ist und sich darstellt“ (aaO., 54). – Schilson, der Katholik, denkt dabei vor allem auch an vor-sakramentale Feierformen, die neu geschaffen, bewusst gestaltet und neben der Feier der Eucharistie gepflegt werden müssten (vgl. bes. aaO., 63). 730 SCHILSON: Die Inszenierung des Alltäglichen, 56. 731 So Schilson mit Gräb; vgl. hier: SCHILSON: Die Inszenierung des Alltäglichen, 57. 732 SCHILSON: Die Inszenierung des Alltäglichen, 58. 733 SCHILSON: Die Inszenierung des Alltäglichen, 60. 729

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dort, wo die einseitige Dominanz des propositionalen Wortes zugunsten symbolischer Gestaltungen und ritueller Inszenierungen zurückgedrängt werden soll. Theologisch laufen sie in unterschiedliche Richtungen: WeyerMenckhoff will durch die Feier jenseits des rationalen Paradigmas der Kommunikation und Zeichendeutung zu der spezifisch religiösen Kommunikationsebene vorstoßen, die für den Gottesdienst entscheidend sei; Schilson will den Gottesdienst so inszenieren, dass er zu neuer menschlicher Selbstdeutung und Identitätsfindung (bzw. Identitätsarbeit) beiträgt.734 Die ästhetische Entdeckung der Gestaltseite des Gottesdienstes gehört – wie bei Schilson bereits gezeigt – hinein in einen seit einigen Jahren festzustellenden gesamtgesellschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Trend. Arno Schilson und Joachim Hake stellen 1998 fest, es „kulte“ „heute im säkularen Alltag auf unerwartete Weise. Alltägliche Lebensvorgänge wie Einkaufen, Urlaub und Freiheit [sic; gemeint wohl: Freizeit] werden ästhetisch überhöht und stilisiert. Das eigene Leben muß inszeniert, dramatisiert und so ‚erlebt‘ werden, sonst droht es seinen Sinn und seine Einheit zu verlieren.“735 In den Kulturwissenschaften wurden bereits vor einigen Jahren der „iconic turn“ und der „performative turn“ ausgerufen, die von der grundlegenden Bedeutung bildlicher Darstellung und leiblicher Inszenierung für die gesellschaftliche Kommunikation in der Gegenwart ausgehen.736 Diese Wenden haben Konsequenzen für die Art und Weise der Darstellung und Rezeption von Religion. Folgt man den Überlegungen des Politologen und Medienkritikers Thomas Meyer, so habe in der gegenwärtigen Medienwelt das bildreiche „Religiotainment“ gegenüber einer ursprünglich protestantischen Abwendung von medialen Bildinszenierungen hin zum gehörten und gelesenen Wort den Sieg davon getragen.737 Meyer schreibt: „Die protestantischen Konkurrenten [des medial und ikonographisch äußerst erfolgreichen Katholizismus, aber auch der medial ebenfalls versierten US-amerikanischen Fernsehprediger, AD] werden sich dem Patentrezept des Religiotainments auch hierzulande sicher nicht auf unbegrenzte Zeit tatenlos verweigern, die luthersche Bilderfeindschaft hat in der Gutenberg-Galaxis ausgedient.“738 734

Vgl. SCHILSON: Die Inszenierung des Alltäglichen, 63–65. SCHILSON/HAKE: Vorwort, in: dies., Drama „Gottesdienst“, 9f, hier: 9; vgl. auch SCHILSON: Die Inszenierung des Alltäglichen, 28f. Vgl. dazu auch SCHULZE: Die Erlebnisgesellschaft, der allerdings inzwischen zu einer Neubewertung der gesellschaftlichen Realität gelangt ist und die Erlebnisgesellschaft an ein Ende gekommen sieht. 736 Vgl. BACHMANN-MEDICK: Cultural Turns, bes. 104–143 [Performative Turn]; 329–380 [Iconic Turn]. 737 Vgl. MEYER: Die Ironie Gottes. 738 MEYER: Die Ironie Gottes, 82. 735

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Auch wenn man Meyers Dichotomisierung von entweder vernünftig propositionalem Diskurs oder medialer Bildinszenierung nicht folgen will, so stellt sich doch die Frage, ob in Zeiten einer neuen Sehnsucht nach Visualität und Sichtbarkeit der Religion das „Wort“ gegenüber dem „Kult“ notwendig das Nachsehen hat. Phänomene wie die neuerliche Faszination, die nicht wenige Katholiken der vorkonziliaren (!) lateinischen Messe entgegenbringen (vgl. unten Kap. 4.1.2), die phänomenologische Neubeschreibung des Gottesdienstes als Kult-Drama bei Manfred Josuttis oder die zahlreichen ästhetischen Gottesdiensttheorien könnten auf solche Tendenzen hinweisen. Das Problem, das sich dann freilich ergibt, lautet: Kann es geschehen, dass – geblendet von glänzenden Kult-Phänomenen, sehnsüchtig nach anregenden und wirkungsvollen Bild-Inszenierungen, abgelenkt von der ‚bloßen‘ Oberfläche – die Widerständigkeit des Wortes verloren geht und sich seine Externität in die (möglichst effekt- und wirkungsvolle) Darstellung hinein verliert?739 (3) Zusammenfassung: Die vorgegebene Form und das Problem der „Präsenz“ Die verschiedenen Wege der Wiederentdeckung des Kults im 20. Jahrhundert weisen große Unterschiede auf, konvergieren aber in zwei entscheidenden Weichenstellungen: (1) Sie zeigen (mit Ausnahmen etwa bei Schilson und in anderen neueren ästhetischen Theorieansätzen) die anthropologische bzw. theologische Notwendigkeit, die Vorgegebenheit einer bestimmten Form rituellen Handelns zu respektieren. Nicht selten verbindet sich dies mit einer (apologetischen) Begründung einer bestimmten Feierform des Gottesdienstes – sei dies nun die katholische Messe (wie bei Pieper) oder der evangelische Gottesdienst nach traditioneller Agende (wie bei Stählin). (2) Zudem machen die Neuansätze deutlich, dass Symbol und Ritual einen – in religiöser Perspektive entscheidenden (!) – Mehrwert gegenüber der am Paradigma des Rationalen orientierten sprachlichen Kommunikation bieten (auch wenn sich etwa bei Jetter zeigt, wie sehr protestantische Theologen damit ihre Schwierigkeiten haben und gerne das Prae der ‚Deutung‘ gegenüber der ‚bloßen‘ Zeichensprache ins Spiel bringen). Wurde oben als das grundlegende Problem der Ent-Kultung des Gottesdienstes die Verwandlung des Gottesdienstes in einen menschlichen Wort739 Vgl. MATIASEK: Liturgie und Theaterspiel, 111: „Wir sollten nicht auf das achten, ‚was ankommt‘, sondern ‚worauf es ankommt‘.“

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

Wechsel mit dem Problem der Horizontalisierung in kognitiver bzw. emotionaler Hinsicht erkannt, so ergibt sich umgekehrt das Problem des „Kultischen“ im Kontext der in diesem Kapitel von Luther angestoßenen Überlegungen dahingehend, dass eine „Präsenz“ als ‚objektiv‘ behauptet bzw. emotional erlebbar gesetzt werden kann, die die notwendig (inter-)subjektive Vermittlung und die je individuelle Deutung ausklammert und so gerade an dem vorbeigeht, was bei Luther als das Wechselspiel von äußerem Wort und innerer Evidenz beschrieben wurde. Ästhetisch folgt daraus das Problem, dass die „Oberfläche“ gegenüber dem Gehalt zu siegen droht (am deutlichsten bei Weyer-Menckhoff) und so der Form-Inhalt-Dualismus auf umgekehrte Weise als bei der Ent-Kultung realisiert wird: nun als Sieg der Form gegenüber dem Inhalt! Theologisch droht die Unverfügbarkeit und Entzogenheit des immer neuen Wort-Wechsels in die Sicherheit und Objektivität kultischer Präsenz hinein aufgehoben zu werden. Blickt man auf die Ebene der Liturgiepraxis, so wird schnell deutlich, dass das Problem der einseitigen Betonung kultischer Präsenz nicht zu den primären Problemen evangelischen Gottesdienstes gehört. Es ist gegenwärtig viel stärker dort zu greifen, wo die Rückkehr zur vorkonziliaren (lateinischen) Römischen Messe im Katholizismus mit psychologischen, ästhetischen oder theologischen Argumenten gefordert und praktiziert wird (vgl. dazu unten Kap. 4.1.2). Dennoch aber begegnen auch im evangelischen Kontext Ansätze, die sich in der genannten Richtung als problematisch erweisen. Ich verweise exemplarisch auf eine Tendenz, die sich als Konsequenz aus den insgesamt in vieler Hinsicht weiterführenden und anregenden Arbeiten von Olaf Richter zum Gottesdienst und zur liturgischen Bildung ergibt.740 Vor allem im Gespräch mit Odo Casel entwickelt Richter seine Einsicht in den „kultdramatische[n] Charakter“ des (evangelischen) Gottesdienstes, in dem es um Repräsentation „bestimmte[r] Szenen der Heilsgeschichte“ gehe – eine Repräsentation, die im mimetischen Handeln die Aspekte der Anamnese (als vergegenwärtigende Erinnerung) sowie der Epiklese (als Bitte um die Verwirklichung des für die Zukunft Erhofften) verbinde.741 Richters Argumentation verläuft teilweise zirkulär: Der anamnetisch-mimetische Charakter des Gottesdienstes führt zu dessen dramatischer Gestalt, die wiederum umgekehrt eine anamnetisch-mimetische Partizipation aus sich heraussetzt. Die Art und Weise der Partizipation am Kultdrama wird als dramatisch-mimetische Rollenübernahme gedacht, die zu einer „Horizontverschmelzung“ zwischen dem ‚Einst‘ und ‚Jetzt‘ (etwa zwischen den mit Jesus feiernden Jüngern und der jetzt versammelten Ge740 741

Vgl. RICHTER: Anamnesis – Mimesis – Epiklesis; ders.: Dramaturgie und Mystagogie. RICHTER: Dramaturgie und Mystagogie, 99.

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2. Evangelische Fundamentalliturgik – ihre materiale Bestimmung

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meinde) führe.742 Es ist evident, dass sich aus dieser Beschreibung des Gottesdienstes zahlreiche Impulse für die Liturgiedidaktik ergeben, die als Einübung von Haltungen im Kontext der mimetischen Rollenübernahme beschrieben werden kann. Andererseits aber stellt sich die Frage, inwiefern Richters Einordnung des Gottesdienstes in das Paradigma des Kultdramas nicht lediglich für einzelne Sequenzen des Gottesdienstes wirklich hilfreich scheint – herausgehoben natürlich für das Abendmahl – und für andere eher problematisch sein muss.743 So beschreibt Richter – um nur ein Beispiel zu nennen – die seines Erachtens im Protestantismus wiederzugewinnende „Eingangsprozession“ als einen Weg der Begegnung mit Christus, bei dem die sich erhebende (und so auch körperlich aktiv partizipierende) Gemeinde die Rollen des Volks am Palmsonntag einerseits, der Emmaus-Jünger, die mit ihrem Herrn ein Stück unterwegs sind, andererseits einnehme – beides Rollen, die „mystagogisch erschlossen werden“ müssten.744 Richter versucht, die rezeptionsästhetische Offenheit der Deutung des Einzugs, der ja z.B. auch als Ausdruck kirchlicher Hierarchie (der den Gottesdienst leitende Pfarrer zieht mit den weiteren Funktionsträgern ein) oder ganz simpel als feierliche Eröffnungssequenz eines rituellen Vollzugs verstanden werden könnte, durch Liturgiedidaktik in Bahnen zu lenken, die eine spezifisch kultdramatische Ausrichtung haben: Christus inmitten seiner Gemeinde! Damit aber wird der vorgegebenen bzw. neu zu gestaltenden Liturgie der Charakter eines die Zeiten transzendierenden Kultdramas zugeschrieben, in dem sich die „Präsenz“ der Christuswirklichkeit im Wechselspiel von Anamnesis, Epiklesis und Mimesis ereignen kann und soll und in dem bestimmte Rollen und Haltungen vorgegeben sind. Das unter Umständen völlig neue Rollen und Identifikationen hervorbringende und übliche Deutungsmuster radikal hinterfragende „äußere Wort“ wird demgegenüber nicht ins Spiel gebracht. Im Gegenteil ordnet sich das Wort dem dominierenden Kultdrama unter. Zu jedem Drama gehören, Richter zufolge, Worte, und erst die Worte der Epiklese machen aus der „spirituellen Wirklichkeit“ ein „heilige[s] (heilsrelevante[s]) Spiel“.745 Das Wort wird folglich zum Mittel, um (lediglich) Spirituelles in (potentiell) Heiliges zu verwandeln und so das Kultdrama zu seinem Ziel zu führen – eine Beschreibung, die die Dynamik des Gott-menschlichen Wort-Wechsels, von der Luther überzeugt war, in die Dynamik der Re-Inszenierung eines in seinem Gefüge feststehenden Rollenspiels verwandelt. Kürzer: das Kultdrama gebraucht und dominiert das Wort. 742

Vgl. RICHTER: Dramaturgie und Mystagogie, 105. Vgl. nur SCHILSON/HAKE: Vorwort, in: dies. (Hg.), Drama „Gottesdienst“, 9f, hier: 9, die zu Recht betonen: „Der christliche Gottesdienst ist […] kein Kultdrama […].“ 744 Vgl. RICHTER: Dramaturgie und Mystagogie, 110f [Zitat: 111]. 745 RICHTER: Dramaturgie und Mystagogie, 98. 743

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

2.3 Das äußere Wort und seine liturgische Gestalt – zur materialen Durchführung evangelischer Fundamentalliturgik Mit den Überlegungen dieses Kapitels scheint es mir möglich, aus der Fülle der liturgisch gewichtigen Frage- und Problemstellungen diejenige zu bestimmen, die für die weitere Erarbeitung leitend sein soll. Es zeigt sich, dass sich die Fragen im Miteinander von Subjekt-, Wort- und Kult-Verständnis (2.2.1 bis 2.2.3) immer wieder in der prekären Verhältnisbestimmung von Wortgeschehen und kultischem Vollzug bündeln und damit die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes zu einer Zentralfrage evangelischer Liturgik avanciert.746 Ausgehend von einer graphischen Zusammenfassung der bisherigen Überlegungen im Bild der „liturgischen Pyramide“ spitze ich diese Fragestellung so zu, dass ich die in den folgenden Kapiteln zu überprüfende These dieses Ansatzes formuliere (2.3.1). Wie ich diese These methodisch weiter ausarbeite, zeige ich im Folgenden kurz auf (2.3.2). 2.3.1 Die liturgische Pyramide und die leitende Fragestellung: Gemeinde – Liturg/in – Liturgie – Wort Gottes im Miteinander In der homiletischen Reflexion hat es sich seit langem als hilfreich erwiesen, mit dem (schematisierenden) Modell des „homiletischen Dreiecks“ die spezifische Kommunikationsstruktur der Predigt zu beschreiben. Zwischen Prediger/in und Gemeinde läuft hier die Grundlinie des Dreiecks, das „Wort Gottes“ (bzw. auch: der Text der Predigt oder ihr Thema) erscheint am dritten, häufig an die Spitze des Dreiecks gezeichneten Punkt und deutet das an, was theologisch (Wort Gottes) bzw. inhaltlich in der Predigt geschehen bzw. gesagt werden soll.747 Die eben vorgenommene Unterscheidung von „Wort Gottes“ bzw. „Text/Thema“ macht deutlich, dass es auch in der Homiletik möglich (und 746 Ähnlich konnte dies bereits Hans Asmussen sehen. Seine Liturgik („Die Lehre vom Gottesdienst“) aus dem Jahr 1937 (also aus der Zeit des Kirchenkampfes!) geht von einem ersten Hauptteil aus, der die Überschrift „Die Lehre vom Worte Gottes“ trägt (ASMUSSEN: Die Lehre vom Gottesdienst, 20–99), an das sich ein zweiter Hauptteil anschließt, der den Titel „Die Lehre von der Gestaltung“ trägt (aaO., 100–186). Der sich anschließende dritte Abschnitt bedenkt einzelne Sequenzen des christlichen Gottesdienstes (vgl. aaO., 187–294). Dabei ist Asmussen davon überzeugt, dass in der „Gestalt“ Formales und Inhaltliches miteinander verbunden sind (vgl. 120– 123). So kann Asmussens Liturgik als eine ästhetische Liturgik avant la lettre gelesen werden und als ein Beispiel dafür, wie die in dieser Arbeit vorgenommene Aufgabenstellung vor gut 70 Jahren gelöst werden konnte. 747 Vgl. zur heuristischen Bedeutung des homiletischen Dreiecks nur DEEG/MEIER: Module der Theologie, 30–32.

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2. Evangelische Fundamentalliturgik – ihre materiale Bestimmung

223

wohl hilfreich!) wäre, dieses Dreieck um einen vierten Eckpunkt zu erweitern, wenn nämlich die ‚greifbare‘ und handhabbare textliche bzw. thematische Basis und die dem Zugriff entzogene Dimension des göttlichen Handelns in dem Wort, das Gott selbst spricht, unterschieden würden (vgl. unten Kap. 5.3.1). Auch in liturgischer Hinsicht erscheint mir diese Erweiterung hilfreich, da sich die Kommunikation zwischen Liturg/in und Gemeinde im Rahmen einer – wie auch immer rezipierten – traditionellen Vorgabe (der „Agende“) vollzieht.748 Damit ergibt sich als eine mögliche Illustration des liturgischen Kommunikationsprozesses das Bild einer Pyramide, deren horizontale Grundfläche durch die drei Eckpunkte „Gemeinde“, „Liturg/in“, „Agende“ aufgespannt wird. Der vierte Punkt, der die dritte Dimension, die „Vertikale“ einführt, sei durch den Begriff „Wort Gottes“ beschrieben. Wort Gottes

Liturg/in

Gemeinde „Agende“

Mit diesem vereinfachenden und in gewisser Weise ‚idealisierenden‘ Modell wird es möglich, die Problemlagen und Fragestellungen der bisherigen Überlegungen zu bündeln. x In Luthers Liturgik ist das Miteinander der vier Komponenten, aus denen die Pyramide in ihren Eckpunkten aufgebaut ist, konstitutiv, wenngleich die in obiger Skizze als Bezeichnungen an den jeweiligen Punkten stehenden Begriffe sich nur teilweise als tauglich zur Charakterisierung der Position Luthers erweisen. Das „Wort Gottes“ geschieht nicht unvermittelt, sondern bindet sich an äußere Gestalten, die mit dem Begriff „Agende“ sicherlich problematisch bezeichnet werden; es geht um Predigt und Abendmahl als die für den gottesdienstlichen Vollzug entschei748

Vgl. hier die einleitende Bestimmung des protestantischen Gottesdienstes auf phänomenologisch-verhaltenswissenschaftlicher Grundlage durch Manfred Josuttis: „Alles Leben verhält sich – einiges Leben verhält sich manchmal nach der Agende“ (JOSUTTIS: Der Weg in das Leben, 11).

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

denden Gestalten des Wortes, wobei sich beide rückbeziehen auf die Bibel als dem offenbarten Wort und die Christuswirklichkeit in ihm. Der/die „Liturg/in“ nimmt (vor allem als Prediger/in) die Aufgabe wahr, dieses Wort als anredendes und herausforderndes, zusprechendes und aufrüttelndes Wort zu verkündigen, das durch den Heiligen Geist als Gottes Wort von den einzelnen in der Gemeinde gehört wird und in ihnen den Glauben wirkt. – Die Konzentration auf die Predigt freilich kann in ihrer Konsequenz – wie gezeigt – zu einer Horizontalisierung bzw. Linearisierung der Pyramide führen, indem der verstandene und als „Lehre“ (doctrina) erschlossene Inhalt der Verkündigung predigend an die Gemeinde weitergegeben und von dieser (primär kognitiv) rezipiert wird. Sowohl das Gegenüber zu den Worten der Bibel als auch die ‚ungesicherte‘ und immer neu zu erbittende Wirkung des Heiligen Geistes drohen gegenüber dieser linearisierten Kommunikation zu verschwinden (vgl. 2.1). x Die Pyramide besteht, wenn die Eckpunkte aufgespannt bleiben. Das Unterkapitel zum Subjekt in der Spannung zwischen Innen und Außen (2.2.1) machte deutlich, dass in der Entwicklung neuzeitlicher Subjektivität genau dies zum Problem wird. Sehr vereinfacht und bildlich gesprochen: Das glaubende Subjekt zieht die anderen Eckpunkte der Pyramide tendenziell in sich hinein und landet letztlich dort, wo Luther den zum Scheitern verurteilten Weg der sogenannten „Spiritualisten“ wahrnimmt. Sowohl in das religiöse Gefühl (Schleiermacher) als auch in die deutende Leistung des Subjekts (Gräb) hinein kann sich die Externität verflüchtigen. Die „Enttheatralisierung“ (Gräb) des Gottesdienstes im Zuge der Reformation kann als logische Konsequenz dieser Entwicklung im Blick auf die Gestaltseite der Liturgie verstanden werden.749 x Das Unterkapitel zum Wort zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit (2.2.2) verfolgte dieselbe Problemstellung von der Seite des „Inhalts“ der religiösen Kommunikation her. Wo das „Evangelium“ als handhabbarer Inhalt einer von der Kirche zu verwaltenden Kommunikationsbemühung beschrieben wird, droht sich liturgische Kommunikation in die Horizontale hinein zu verflüchtigen. Die Versuche der Wiedergewinnung spezifisch religiöser Erfahrung, die zwischen mystischer Introversion und phänomenologischer Expedition aufgespannt wurden, basieren auf dieser Defiziterfahrung und lassen erneut nach dem „verbum externum“ und seiner Rolle im liturgischen Vollzug fragen.

749

Vgl. dazu auch KLIE: Zeichen und Spiel, 280f: „Der verbreitete liturgische Abusus liegt in der Logik einer frömmigkeitsgeschichtlichen Entwicklung, die mit der reformatorischen Entheiligung der äußerlichen Dinge einsetzte und in eine konsequente Personalisierung religiöser Vollzüge einmündete. Das protestantische Selbstbewußtsein denkt die Praxis des Evangeliums tendentiell a-kultisch: als Darstellung einer frommen Gestimmtheit.“

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2. Evangelische Fundamentalliturgik – ihre materiale Bestimmung

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x Das dritte Unterkapitel zu Wort und Kult (2.2.3) fragte nach der Bedeutung der vorgegebenen Gestalt für den gottesdienstlichen Vollzug. Zwischen Kultkritik und Kultaffirmation lassen sich unterschiedliche Wege im evangelischen Christentum und darüber hinaus feststellen. Bei kultkritischen Positionen ergibt sich das bereits oben beschriebene Problem der Konzeption Luthers und ihrer Folgeentwicklungen: Die Kommunikation im Gottesdienst wird tendenziell auf die Predigt fixiert, die symbolisch-rituelle Eigensprache der Liturgie droht verloren zu gehen (und mit ihr auch die Externität des Wortes). Umgekehrt kann Kultaffirmation dazu führen, dass die von Luther geforderte Dynamik eines den einzelnen (be-)treffenden Wortgeschehens in die Objektivität eines Kultvollzugs hinein verlagert wird, der das lebendige Wort aus dem Blick verliert. Die folgende Erarbeitung wird an den Eckpunkten des Grunddreiecks der Pyramide weiterdenken und dabei aufgrund der bisherigen Darstellung vor allem folgende Fragen klären: x „Agende“: Welche Rolle spielt die überlieferte liturgische Tradition mit ihrer symbolisch-rituellen Sprache für die Art und Weise der liturgischen Kommunikation? Wie ist das Verhältnis von Bibel und liturgischen Texten zu beschreiben – und welche Rolle nimmt die Bibel selbst im gottesdienstlichen Vollzug ein? Welche Möglichkeit bzw. Notwendigkeit besteht, gegenwärtig neue Rituale (Symbolhandlungen) zu schaffen? Und in welche Richtung gilt es folglich, den agendarischen Prozess in den evangelischen Kirchen zu entwickeln? – Diese Fragen umschreiben den werkästhetischen Aspekt der Untersuchung. x „Liturg/in“: Welche „Haltung“ ist im Sinne eines liturgischen Habitus für die im Gottesdienst Agierenden angemessen, wenn es im Gottesdienst nicht um deren Selbstdarstellung, sondern um die „Inszenierung des äußeren Wortes“ geht? Inwiefern übernimmt der Liturg/die Liturgin eine vorgegebene Rolle in einem letztlich festgelegten Stück, inwiefern ist er/sie Regisseur eines neuen Stücks, das Sonntag für Sonntag auf die ‚Bühne‘ gebracht wird? Wie kann die Rolle und Funktion der Predigt als Teil des liturgischen Gesamtgeschehens gedacht werden – und welche Rolle nimmt daher der Prediger/die Predigerin ein? – Mit diesen Fragestellungen ist die produktionsästhetische Seite der liturgischen Fragestellungen benannt. x „Gemeinde“: Wie ist die Erwartungshaltung der Gottesdienst Feiernden zu beschreiben? Welche Art der Partizipation setzt die Vorgabe einer „Inszenierung des äußeren Wortes“ aus sich heraus? Wie ist das Miteinander von ritueller Selbstverständlichkeit und dem Ereignis des Wortes

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

Gottes zu bestimmen, damit deutlich wird, dass beides zum Gottesdienst gehört, und damit der Gottesdienst nicht zur permanenten Enttäuschung angesichts zu hoch gespannter Erwartungen, aber auch nicht zu einer verpassten Chance angesichts allzu geringer Erwartungen wird? Wie kann – ohne die Probleme und Chancen neuzeitlicher Subjektivität einfach zu überspringen – der Gottesdienst in seiner Rezeption als heilsamer Entzug des Eigenen und Neukonstitution eigener Identität „im Äußeren“ gesehen werden? – Die Fragen zur Gemeinde umschreiben den rezeptionsästhetischen Aspekt der Untersuchung. Werk-, produktions- und rezeptionsästhetische Fragestellungen konturieren insgesamt eine von Luthers Überlegungen abgeleitete fundamentalliturgische These: Die Dynamik des Wortes Gottes im gottesdienstlichen Vollzug verlangt nach einer „Agende“, nach einer der feiernden Gemeinde und dem/ der gestaltenden Liturg/in vorausliegenden Feiergestalt, um nicht in die Vermittlung des/der Liturg/in bzw. in die Erwartungslosigkeit einer lediglich das fromme Selbstbewusstsein bestätigenden Feier hinein ‚horizontalisiert‘ zu werden. Götz Harbsmeier machte deutlich, dass der „Kult“ den Triumph des Habens und der Sicherheit gegenüber der Dynamik des göttlichen Handelns bedeute. Diese Argumentationslinie kehre ich im Folgenden genau um und interpretiere den Kult als den notwendigen Entzug, den unverzichtbaren Verfremdungseffekt des Wortes.750 (Evangelischer) Gottesdienst lässt sich dann als kultische Begehung des Wortes751 beschreiben. Wort und Kult werden nicht als Entweder-Oder betrachtet, sondern als die beiden unaufgebbaren Aspekte (im Bild: die Brennpunkte!), die das Span750

Der katholische Liturgiker Cyprian Vagaggini sprach von der Liturgie als demjenigen Geschehen, das das Subjekt von sich selbst ablenkt und auf Gott hinlenkt: „Statt den Menschen zur beständigen Selbstbespiegelung anzuhalten, lenkt deshalb die Liturgie den Blick vor allem auf Gott und die […] Heilswirklichkeiten. Sie kuriert das Subjekt mehr durch dessen Konzentrierung auf das Objekt als durch das Kreisen des Subjekts um sich selber“ (VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 138). In dieser Bestimmung freilich fehlt das „Wort“ und wird mithin eine Objektivität der Liturgie konstruiert, die evangelischerseits – bei aller Berechtigung des Anliegens – kritisiert werden muss. Vagaggini erwartet sich vom Kult, was Luther gegen den bloßen äußeren Kult vom Wort erwartet: das Ende des Kreisens des Subjekts um sich selbst, das Ende der Selbstbezüglichkeit durch das, was dem Menschen von außen begegnet. 751 Der Begriff der „kultischen Begehung“ scheint mir angemessener als der Begriff der „Inszenierung des Evangeliums“. Dieser nämlich hat – wie vergleichbar der Begriff der „Kommunikation des Evangeliums“ – bei bestimmter Interpretation das Problem, so gehört zu werden, dass die Botschaft, die inszeniert werden soll, letztlich fest stünde und nur neu auf die Bühne gebracht werden müsse. Die Entzogenheit des Evangeliums würde sich dann (wenn der Begriff so missverstanden (!) würde!) in die handhabbare Vorgabe der Inszenierung verwandeln. – Dass der Begriff freilich so nicht gemeint ist, sondern viel eher die Unhintergehbarkeit der Gestaltseite des Wortes des Evangeliums betont, ist evident; vgl. dazu auch THEIßEN: Das kündlich große Geheimnis, 179: „[…] auf der Bühne (in der Kirche) gibt es das Stück (die Botschaft) gar nicht anders als in Gestalt der jeweiligen Inszenierung (des Evangeliums).“

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2. Evangelische Fundamentalliturgik – ihre materiale Bestimmung

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nungsfeld (im Bild: die Ellipse) jedes evangelischen Gottesdienstes bestimmen und konturieren und für eine evangelische Fundamentalliturgik gerade dadurch heuristische Bedeutung gewinnen.752 Kurz: (Evangelischer) Gottesdienst ist WortKult (vgl. ausführlicher Kap. 5.3).753 2.3.2 Zur Methodik der weiteren Untersuchung Gottesdienst ist Gott-menschlicher Wort-Wechsel, Wort Gottes und menschliche Antwort – dieser an sich schlichte Torgauer Satz Luthers hat das Potential, grundlegende Problemstellungen (evangelischer) Liturgik aus sich heraus zu setzen, wie dieses Kapitel zeigte. Er bestimmt den Gottesdienst als liturgische Gestalt des äußeren Wortes (wollte man Lateinisch formulieren, so könnte man vom cultus exterior verbi externi sprechen) und gibt sowohl im Blick auf die Liturgiepraxis als auch im Blick auf die Gottesdiensttheorie zu denken. Der Satz (sowie seine formelhafte Verdichtung im Begriff WortKult754) soll – im Sinne des oben in Kapitel 1 Erarbeiteten – als abduktiver Satz gelesen und nach der Problemanzeige dieses zweiten Kapitels im Folgenden auf seine Denkmöglichkeit und Gestaltung hin gelesen werden. Ich gehe dazu in drei Schritten vor, ohne dabei alle möglichen

752 Andeutungen in diese Richtung finden sich bei CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, 46–49 [Verkündigung oder Kult? Eine falsche Alternative]. Vgl. dazu auch aaO., 51: „Die Begriffe ‚Kult‘ und ‚Gottesdienst‘ werden […] synonym verwandt. Sie sind zunächst offene Kategorien. Wer die Begriffe Kult und Gottesdienst von vornherein antithetisch definiert und mit positiven bzw. negativen Konnotationen versieht, verbaut sich den Zugang zur eigentlichen theologischen Spannung, die erst innerhalb der geschichtlichen Konkretion der kultischen Phänomene aufbricht und erst in der historisch kontingenten Entfaltung des Zusammenhangs von Gottesoffenbarung und Gottesdienst entschieden werden kann.“ 753 Eberhard Jüngel bezeichnete den evangelischen (d.h.: evangelisch verstandenen) Gottesdienst als „Dienst am Wort“ (JÜNGEL: Der evangelisch verstandene Gottesdienst, 286) und verstand darunter seine grundlegende Bestimmung als „Angesprochen-Werden im Namen Gottes auf das im Tode Christi vollbrachte Werk Gottes“ (aaO., 297). In der Predigt komme dies eher lehrhaft zur Sprache, im Abendmahl als Darstellung und Darbietung. – Mein Begriff des WortKults erscheint mir gegenüber Jüngels Bestimmung in seiner Anstößigkeit griffiger, da er die Frage nach dem In- und Miteinander von Form und Inhalt so in sich trägt, dass die konkrete Gestalt zum Gegenstand der Untersuchung werden muss. Vgl. dazu auch KLIE: Zeichen und Spiel, 246, der mit Verweis auf Volp von der „Unentrinnbarkeit der Gestalt“ spricht, die durch den KultBegriff gesetzt sei. 754 Solche Kurzformeln scheinen mir für abduktives Arbeiten besonders angemessen. Der Liturgiereflexion des Zweiten Vatikanischen Konzils gelang eine vergleichbare Verdichtung im Begriff des „Pascha-Mysteriums“; vgl. dazu unten Kap. 4.1; vgl. auch MILDENBERGER/RATZMANN: „Was für ein Stück wird hier gespielt?“, 10. Mildenberger und Ratzmann verweisen hier auf den Vorschlag von Karl-Heinrich Bieritz, die Kurzformel „Pascha-Mysterium“ auch evangelischerseits als Antwort auf die Frage nach der „Mitte des christlichen Gottesdienstes“ zu rezipieren.

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I. Die Frage nach der liturgischen Gestalt des äußeren Wortes

Wege einer liturgietheoretischen und liturgiepraktischen Reflexion berücksichtigen zu können.755 (1) In einem ersten Schritt (Kap. 3) zeige ich anhand von vier exemplarisch ausgewählten historischen Stationen, wie die Inszenierung des ‚äußeren Wortes‘ in unterschiedlichen liturgietheologischen Ansätzen gedacht wurde und welche liturgiepraktischen Konsequenzen sich daraus ergeben. Ich greife dazu auf die Aufklärung, die liturgische Restauration im 19. Jahrhundert, die ältere liturgische Bewegung sowie Beiträge aus der jüngeren liturgischen Bewegung zurück. Mit diesen vier Stationen wird zweimal auf unterschiedliche Weise der Wechsel von einem eher auf die Subjektivität bezogenen Paradigma (Aufklärung, ältere liturgische Bewegung) hin zu einem die ‚Objektivität‘ betonenden liturgischen Verständnis (Restauration, neuere liturgische Bewegung) in den Blick genommen. (2) Ein zweiter Schritt (Kap. 4) blickt über den evangelischen Gottesdienst hinaus und nimmt zunächst und ausführlicher Überlegungen im Katholizismus in der Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils wahr. Ein kürzerer Blick auf das neuzeitliche Judentum schließt sich an, wobei in beiden Liturgietraditionen das Wechselspiel von Wort und Kult Beachtung findet. (3) In einem dritten Schritt (Kap. 5) ordne ich die Beobachtungen in einen kulturwissenschaftlich-theologischen Denkrahmen ein. Dabei leitet einerseits die Philosophie und Phänomenologie des „Fremden“, wie Bernhard Waldenfels sie entwickelt hat, andererseits setze ich neuere und ältere theatertheoretische Inszenierungsüberlegungen zu den liturgietheologischen Fragestellungen in Beziehung. Auf diesem Hintergrund komme ich am Ende zu meiner Ausgangsthese zurück und setze diese in Beziehung zu gegenwärtigen liturgietheologischen Fragestellungen sowie anstehenden liturgiepraktischen Entscheidungen (Kap. 6).

755 So konnten eigene empirische Untersuchungen zur Rezeption des Gottesdienstes nicht angestellt werden, so sehr sie für die Frage nach der Bedeutung des „äußeren Wortes“ im Erleben des (evangelischen) Gottesdienstes aufschlussreich hätten sein können. Ich beziehe aber vorhandene empirische Überlegungen im Folgenden an mehreren Stellen in den Duktus meiner Überlegungen ein (vgl. bes. 6.1). – Auch bringt es der Versuch dieser Arbeit, eine Grundfrage evangelischer Liturgik exemplarisch zu bearbeiten und eine Grundthese zum evangelischen Gottesdienst durchzuführen, mit sich, dass (durchaus wesentliche) Stationen der Liturgiegeschichte außen vor bleiben müssen. In vielen Punkten werden so Forschungsdesiderate allererst sichtbar.

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II. Problembearbeitung oder: Historisches, Komparatistisches und Kulturwissenschaftlich-Theologisches zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

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3. Historisches: Evangelische Ansätze zur Verhältnisbestimmung von Wortgeschehen und Liturgie – vergleichend betrachtet

3.1 Zu Methode und Ziel der historischen Erkundung Reinhard Meßner beschreibt die Arbeit der Liturgiewissenschaft als Wechselschritt von liturgiehistorischen Forschungen und liturgiesystematischen Überlegungen.1 Historische Liturgiewissenschaft beschäftigt sich „mit der Geschichte, innerhalb derer in ständigem Wandel Gottesdienst gefeiert worden ist“.2 Sie ist dabei auf das Quellenstudium, die sorgfältige kontextuelle Einordnung der Quellen und die Arbeit am Detail angewiesen. Es versteht sich schon auf dieser Grundlage von selbst, dass im Rahmen dieser liturgiesystematisch ausgerichteten Erarbeitung keine eigenständige liturgiehistorische Forschungsleistung erbracht werden kann. Vielmehr soll dieses Kapitel einerseits die Notwendigkeit liturgiehistorischer Vergewisserung markieren, die zur Gewinnung gegenwärtiger liturgischer Aussagen unumgänglich bleibt.3 Andererseits geht es darum, anhand einiger ausgewählter Stationen dem im zweiten Kapitel erarbeiteten Problem der Gestaltung des Wortes im evangelischen Gottesdienst im Wechselspiel von Liturg/in, Gemeinde und Agende weiter nachzugehen. Im Rückgriff auf einige wenige Primärquellen und auf Sekundärliteratur profiliere ich dazu vier ausgewählte Stationen, die deshalb geeignet erscheinen, weil in ihnen das Miteinander von liturgischer Reflexion auf der Theorieebene und liturgischer Gestaltung deutlich und die Frage nach Wort und Kult in allen vier Epochen auf unterschiedliche Weise thematisch wird. In der Aufklärung lässt sich erstmals von Liturgik als wissenschaftlicher Reflexion über den Gottesdienst sprechen. Es wird damit möglich, ein eigenständiges theologisches ‚Programm‘ auf die Frage nach der gottesdienstlichen Gestaltung zu übertragen. In der Folge kam es zu weitgehen1

Vgl. MESSNER: Die vielen gottesdienstlichen Überlieferungen und die eine liturgische Tradi-

tion. 2

MESSNER: Die vielen gottesdienstlichen Überlieferungen und die eine liturgische Tradition,

34.

3 Vgl. auch die Art und Weise, wie oben (Kap. 2) Erkenntnisse aus der Geschichte der Liturgik für die Problemfindung dieser Erarbeitung fruchtbar gemacht wurden.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

den Transformationen des Gottesdienstes – und mit ihnen auch des Wortverständnisses im Kontext des „Cultus“. Kurz gesagt wurde der bereits in der Reformationszeit angelegte pädagogische Impuls verstärkt und subjektivitätstheologisch vertieft – und mit ihm die Horizontalisierung des Gottesdienstes und die Einordnung des Wortes in den Bereich des kognitiv Verstehbaren (3.2.1). Die Zeit der Restauration in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts versucht, hinter die Aufklärung zurück zu den Wurzeln des evangelischen Gottesdienstes zu gelangen. Es geht um eine Rekonstruktion, die das Spezifische des evangelischen Gottesdienstes im Blick hat und dabei erstmals in der Geschichte des Protestantismus das In- und Miteinander von Wort und Sakrament als das Wechselspiel von Predigt und Liturgie liturgiesystematisch und liturgiepraktsich reflektiert (3.2.2). Die sogenannte ältere liturgische Bewegung um Julius Smend und Friedrich Spitta geht von einem Ungenügen an den agendarischen Gottesdiensten aus, das sich primär als Erlebnis- und Erfahrungsdefizit beschreiben lässt. Die Besonderheit des gottesdienstlichen Geschehens – im Sinne Luthers als Wechselrede von Gott und Mensch bestimmt – soll für die einzelnen den Gottesdienst Feiernden durch produktionsästhetische Bemühungen erfahrbar gemacht werden (3.2.3). Die jüngere liturgische Bewegung kennt eine Vielfalt von Ansätzen, die aber allesamt von der Überzeugung getragen sind, dass Liturgie jenseits der Subjektivität des individuellen Erlebnisses auf eine objektive Grundlage zurückgeführt werden muss – und dass gerade diese Objektivität angesichts der Herausforderungen der Gegenwart geboten erscheint. Freilich erweist sich das damit gesetzte Gegenüber von Objektivität und Subjektivität im Blick auf den Gottesdienst als prekär, da es letztlich nicht zu einer Überwindung einer als problematisch empfundenen neuzeitlichen Subjektivität kommt. Zudem zeigt die Kritik an den Ansätzen der jüngeren liturgischen Bewegung, dass die Frage nach dem Wort und dem Wortgeschehen im liturgischen Kontext auch hier keine befriedigende Antwort findet (3.2.4). In der Abfolge der vier ausgewählten Stationen sind somit vier unterschiedliche Ansätze im Verhältnis von Subjektivität und Objektivität zu erwarten – jenen beiden Kategorien, die oben (2.2.1) als eine der grundlegenden Fragestellungen für eine (nicht nur) evangelische Liturgik in der Neuzeit bestimmt wurden. Kommt es in der Aufklärung zu einer konsequent subjektivitätstheologischen Wende, so versuchen die liturgischen Restaurationsbewegung im Rekurs auf die liturgische Tradition eine Liturgie zu schaffen, die sich der Auflösung der Form widersetzt und eine ‚objektive‘ liturgische Gestalt finden und den Gemeinden vorgeben kann. Die Kritik von Smend und Spitta an der Veräußerlichung der Gottesdienstfeiern führt zu einer neuerlichen Wende hin zu der Frage, wie der Gottesdienst für die feiernden Individuen/Subjekte zu einer Erfahrung bzw. zum „Erlebnis“

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3. Historisches: Das Wortgeschehen und die Liturgie

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werden kann.4 Der Umbruch in den neueren liturgischen Bewegungen wird von diesen selbst und von außen als neuerliche Wende zum Objektiven gesehen. Auf die vier genannten liturgischen Stationen gehe ich im Folgenden jeweils so ein, dass ich ausgehend von einer knappen Einordnung exemplarisch arbeite und einzelne Ansätze sowie liturgische Konkretionen analysiere. Die Verortung im Kontext der Fragestellung nach dem äußeren Wort und seiner liturgischen Gestalt streiche ich dabei im Sinne der Modellbildung thetisch und daher eher überdeutlich heraus.

3.2 Vier ausgewählte Stationen im Wechselspiel von äußerem Wort und liturgischer Inszenierung 3.2.1 Die Liturgik der Aufklärung: Das Wort als Lernziel und der Kultus als Kulturvermittlung 3.2.1.1 Liturgik der Aufklärungszeit – oder: Ineinander von Liturgietheorie und Liturgiegestaltung Es wäre zu einlinig, die Zeit der Aufklärung in liturgischer Hinsicht pejorativ als Zeit der „Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen“ (Paul Graff) zu verstehen,5 als einen „in der evangelischen Liturgiegeschichte […] vorher so noch nicht festgestellten Niedergang“ (Friedrich Kalb)6. Es ging vielmehr um eine Antwort auf die „Krise des gottesdienstlichen Lebens gegen Ende des 18. Jh.“. Peter Cornehl schreibt: „Die Liturgik der späten deutschen Aufklärung […] muß […] als der großangelegte Versuch gewürdigt werden, den Verfall aufzuhalten und die Gottesdienstpraxis durch Modernisierungen im kognitiven wie im kommunikativen Bereich mit neuem Leben zu füllen.“7 4

Vgl. KLEK: Erlebnis Gottesdienst. Im Vorwort zum zweiten Band seiner „Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands“, der sich mit der „Zeit der Aufklärung und des Rationalismus“ beschäftigt, schreibt Graff: „Indem wir uns in diese Zeit hineinversetzen, tun wir zugleich den ‚Schritt vom Barock zum Klassischen‘. Wir sind Zeugen einer Tragödie, nämlich des Untergangs des Barock und seiner Nachfahren, und in diesen Untergang wird das gerade so innig mit ihm verbundene gottesdienstliche und kirchenmusikalische Leben der evangelischen Kirche mit hineingerissen und zum gänzlichen Verfall und Auflösung gebracht“ (GRAFF: Geschichte der Auflösung, Bd. 2, 6*). Vgl. zu Graff auch AVERBECK: Der Opfercharakter des Abendmahls, 351– 354. 6 KALB: Art. Liturgie, 366; vgl. ähnlich AVERBECK: Der Opfercharakter des Abendmahls, 59. 7 CORNEHL: Art. Gottesdienst, 61; vgl. insg. zur Liturgik der Aufklärung aaO., 61–64; vgl. auch EHRENSPERGER: Die Theorie des Gottesdienstes, 9–12. 5

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

In dieser Hinsicht wurde die liturgische Forschung in historischer und praktischer Perspektive erstmals in breitem Umfang vorangetrieben.8 Nicht eine vermeintlich unhinterfragbare Gültigkeit des Überkommenen konnte für die liturgische Epistemologie ausreichend sein, vielmehr musste neu gefragt werden, wie der Gottesdienst zu seinem Ziel kommen könne.9 Dabei war die Herangehensweise in der Tat radikaler als noch in der lutherischen (!) Reformation: Luther war – wie exemplarisch die Invokavitpredigten zeigen – an der größtmöglichen Kontinuität der Gottesdienstfeier und -erfahrung gelegen, um nicht auf falsche Weise neue Gesetze und Bindungen einzuführen, wo die „christliche Freiheit“ gerade dies unnötig macht. Auf diesem Hintergrund einer lediglich kritisch-rekonstruktiven, keineswegs aber grundsätzlich neu gestaltenden Liturgik kam es im Luthertum – anders als in reformierten Kreisen – nicht zu einer tatsächlichen Neugestaltung der Gottesdienstfeier auf der Grundlage der eigenen theologischen Erkenntnisse.10 Dies bot einerseits die Chance, die Kontinuität zum überkommenen christlichen Gottesdienst seit der Zeit der Alten Kirche aufrecht zu erhalten, führte andererseits aber zu weit reichenden liturgischen Aporien, die oben (2.1) vor Augen geführt wurden. Die Liturgik der Aufklärungszeit war an diesem Punkt konsequenter und fragte grundlegender. Alfred Niebergall möchte die Liturgik der Aufklärung als jene Epoche sehen, in der „zum ersten Mal – und zwar noch radikaler als im Jahrhundert der Reformation – das Wagnis unternommen [wurde, AD], ‚zeitgemäße‘ Agenden zu schaffen, ein Versuch, der ohne Zweifel Beachtung verdient […].“11 8 Auch Graff erkennt, dass die Bezeichnung der Aufklärungszeit als Zeit einer ersten liturgischen Bewegung in der evangelischen Kirche durchaus angemessen sei, vgl. GRAFF: Geschichte der Auflösung, Bd. 2, 51; vgl. dazu vor allem REICHERT: Der Weg protestantischer Liturgik, der die Entwicklung von Orthodoxie und Pietismus hin zur Aufklärung nachzeichnet und dabei die Bedeutung der Entwicklung der Liturgik als Reflexion des Gottesdienstes betont (bes. aaO., 311– 346). 9 Vgl. insgesamt GRAFF: Geschichte der Auflösung, Bd. 2, 1–61 [Das Studium der Liturgik und die Geschichte der liturgischen Wissenschaft im Zeitalter der Aufklärung]; vgl. dazu auch JORDAHN: Georg Friedrich Seilers Bedeutung, bes. 175–181, der die Motive der liturgischen Reformen in der Zeit der Aufklärung betont und im Blick auf die liturgische Sprache des Erlanger Theologen Georg Friedrich Seiler u.a. erkennt: „[…] nicht nur vorsichtige Glättung, sondern überhaupt die Neugestaltung einer würdigen, verständlichen und zeitgemäßen Gottesdienstsprache, die dem an der ausdrucksstarken sentimentalistischen Dichtung geschulten Ohr Rechnung trägt und dabei doch biblisch-kraftvoll bleibt, ist ein Hauptanliegen Seilers“ (176 [Hervorhebungen im Original]). 10 Paul Graff schreibt: „Es boten sich [in der Reformationszeit, AD] zwei Möglichkeiten, entweder auf Grund neuer Gedanken eine von der vorhandenen völlig verschiedene Gottesdienstordnung aufzustellen, oder an die bestehende anzuknüpfen, sie reinigend, reformierend, umbildend. Wir wissen, daß sie [die Reformatoren, AD] den zuletzt genannten Weg beschritten haben“ (GRAFF: Geschichte der Auflösung, Bd. 1, 1). 11 NIEBERGALL: Art. Agende, 55.

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3. Historisches: Das Wortgeschehen und die Liturgie

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Liturgik konnte in der Aufklärung wie folgt bestimmt werden: „Die Liturgik gibt Anweisung, wie nach den Grundsätzen der Vernunft und des Christenthums die Handlungen bei dem öffentlichen Gottesdienste den jedesmaligen Orts- und Zeitbedürfnissen gemäß, einzurichten sind.“12

Dass die „Vernunft“ an erster Stelle genannt wird, ist bezeichnend; da aber das Vernünftige und das Christliche nicht als potenzieller Gegensatz gesehen wurden, erscheint die Vorordnung unspezifisch. So wurde es wichtig, das Ziel des Gottesdienstes zu bestimmen und von diesem ausgehend nach einer Gestaltung zu fragen, die die Erreichung dieses Ziels ermöglicht. „[…] die Aufklärungsliturgik antwortete auf diese Frage mit einem Katalog differenzierter kognitiver, affektiver und sozialer Lernziele (z.B. ‚Belehrung des Verstandes‘, ‚Erbauung und Ermunterung des Gemüths‘ und ‚das öffentliche Bekenntnis der Religiosität‘ […]).“13 Damit war die liturgische Gestaltungsaufgabe gestellt: Es musste eine Liturgie geschaffen werden, die Belehrung, Erbauung und öffentliches Bekenntnis möglich machte. „Auf diese Weise wurden ältere Formulare überarbeitet, gereinigt und gestrafft, aber auch ganz neue Gottesdienste entworfen.“14 Die Liturgik der Aufklärungszeit war von einer didaktischen liturgischen Epistemologie geprägt, wobei es – wie Peter Cornehl zurecht betont – keineswegs nur um kognitives, sondern auch um affektives und soziales Lernen ging. Interessant erscheint, dass der Begriff des „Cultus“ von den Liturgikern der Aufklärung dabei durchaus aufgenommen werden konnte. „Cultus Dei“ wurde als der eigentliche innere „Gottesdienst“ („cultus interior“) gedeutet, dem die bloß äußerlichen „Zeremonien“ gegenübergestellt werden konnten – ein Denken, das seit der Zeit der Reformation gebräuchlich war und eine aufgrund der Unterscheidung von Form und Inhalt nicht geringe Problematik nach sich zog. In der Aufklärungsliturgik zeigte sich eine weitere Verschiebung dergestalt, dass bei der Bestimmung dessen, was „Belehrung“, „Erbauung“ und „Bekenntnis“ konkret bedeuteten, die spezifisch theonome, katabatische Dimension bisweilen deutlich aus dem Blick geriet. Gott und sein Handeln wurden eher als Vorzeichen vor die Klammer des gesamten, zielorientierten „Cultus“ gesetzt, als mit seiner Co-operatio im Vollzug des Cultus so zu rechnen, dass es die Gestaltung des Gottesdienstes wesentlich beeinflusst hätte.

12 Rullmann, zitiert nach GRAFF: Geschichte der Auflösung, Bd. 2, 1 [Hervorhebung bei Graff]. 13 CORNEHL: Art. Gottesdienst, 62. 14 CORNEHL: Art. Gottesdienst, 62.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

3.2.1.2 Das angeeignete Wort und der cultus interior Das didaktische liturgische Paradigma führte dazu, dass eine Tendenz, die sich bereits in Luthers Schriften zum Gottesdienst zeigt, weitergeführt wurde: Das Wort wurde in pädagogischer Hinsicht enggeführt, der Gottesdienst pädagogisch funktionalisiert und instrumentalisiert. Als möglicherweise auch fremdes Gegenüber kann das „Wort“ kaum noch gesehen werden, wenn das Kriterium der Verstehbarkeit und Verständlichkeit derart breiten Spielraum einnimmt. Überspitzt lässt sich sagen: Das Wort wurde zum Lernziel und der Kultus zum Weg der christlichen Kulturvermittlung.15 In einem dominierenden Strom der Aufklärungsliturgik werden dem Gottesdienst zwar „durchaus nützliche volkspädagogische Funktionen“ zuerkannt; das Eigentliche aber lag in dem cultus interior, in der inneren Religion des jeweils einzelnen. Der äußere Gottesdienst erscheint dann, wie Peter Cornehl zu Recht erkennt, letztlich „als im Grunde (künftig) entbehrlich.“16 „Wo die Aufklärung erreicht ist, haben die Gottesdienste eigentlich keinen Zweck mehr.“17 Ich konkretisiere diese thetischen Aussagen, indem ich auf eine der einflussreichsten und zugleich spätesten Agenden der Aufklärungszeit blicke: die „Schleswig-Holsteinische Kirchenagende“ von Jacob Georg Christian Adler (1756–1834).18 Für den Gottesdienst am Sonntagmorgen ergibt sich aus der Agende folgender Ablauf, der gegenüber den vorangehenden Gottesdienstordnungen vor allem eine Reduktion bedeutet:19 Lied zum Eingang (vom Prediger ausgewählt) Altargebet (zur Gemeinde; Lob, Dank, Bitte und Fürbitte, ggf. gefolgt von Gloria oder Glaubenslied)

15 „Der Gottesdienst sollte nach der Auffassung der Aufklärungsliturgiker durchaus beitragen zur Versöhnung von Christentum und Kultur der betreffenden Zeit“ (EHRENSPERGER: Die Theorie des Gottesdienstes, 86). 16 CORNEHL: Art. Gottesdienst, 63; vgl. auch EHRENSPERGER: Die Theorie des Gottesdienstes, 40–46.51–61; Alfred Ehrensperger schreibt zur Liturgik der späten Aufklärung (1770–1815): „Öffentliche Gottesdienste […] müssen zweckmäßig und zweckdienlich sein […]. Als Endzweck werden die ‚Prinzipien der Moral‘ verstanden, welche durch Belehrung und Erbauung in Predigt und Liturgie geweckt, gefördert und befestigt werden“ (61). 17 GRAFF: Geschichte der Auflösung, Bd. 2, 36 [im Original hervorgehoben]. 18 Vgl. ADLER: Schleswig-Holsteinsche Kirchen-Agende; vgl. zur Einordnung der Adlerschen Agende in den Kontext weiterer Agendenwerke der Zeit GRAFF: Geschichte der Auflösung, Bd. 2, 23–26. 19 Vgl. dazu auch JORDAHN: Georg Friedrich Seilers Bedeutung, 180. Georg Friedrich Seilers Bestreben ging dahin, eine „klar überschaubare Struktur des Gottesdienstes“ zu entwickeln und dies durch eine einfache Form zu erreichen. Vgl. zur Struktur des von Seiler erarbeiteten Gottesdienstes aaO., 189–202.

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3. Historisches: Das Wortgeschehen und die Liturgie

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Hauptlied Predigt (mit Schlussgebet, [Fürbitten], Vaterunser, verkürzte Abkündigungen und Segenswunsch) Lied Communion oder Catechisation Liedstrophe20

Jeweils von Liedern bzw. Liedstrophen gerahmt enthält der Ablauf einen zusammenhängenden Gebetsteil (vom Altar), eine Predigt als Lehrvortrag (von der Kanzel) sowie das Abendmahl bzw. (falls dieses nicht gefeiert wird) eine Unterweisung der Schulkinder. Auf den ersten Blick ersichtlich und interessant ist, was in dem Ablauf vor allem wegfällt: die biblische Lesung. In dem Agendenentwurf finden sich dazu nur die dekretierenden, nicht aber erläuternden Worte: „Das Absingen der sogenannten Collecten, wie auch das Lesen oder Singen des Evangeliums und der Epistel vor dem Altar, fällt in Zukunft ganz weg.“21 Wenn die Bibel also überhaupt im Kontext des Gottesdienstes gelesen wird, dann im Rahmen der Predigthandlung von der Kanzel.22 Stattdessen ist der Gottesdienst deutlich auf die Predigt als Zentrum konzentriert.23 Diese wird von Adler „Lehrvortrag“24 bzw. „lehrende[r] oder ermahnende[r] Vortrag“ genannt; der Prediger kann auch als „Lehrer“25 bezeichnet werden.26 Dass die Fürbitten nicht nach der Predigt 20 Vgl. ADLER: Schleswig-Holsteinsche Kirchen-Agende, 3–10. – Vgl. GRAFF: Geschichte der Auflösung, Bd. 2, 109–113, der weitere Ordnungen zusammenstellt, die deutlich machen, dass die hier vorgeschlagene Ordnung sich mit zahlreichen weiteren Vorschlägen weitestgehend deckt. 21 ADLER: Schleswig-Holsteinsche Kirchen-Agende, 5. – Vgl. auch Johann August Ephraim Goezes Hinweis, er habe aufgehört, die Episteln und Evangelien ‚abzusingen‘, sondern habe diese „langsam, mit Anstand und Würde“ vorgelesen (zit. bei HERBST: Evangelischer Gottesdienst, 166). Goeze erkennt: „Es kommt aber sehr viel auf die Art des Vorlesens an, wenn man rühren und Erbauung stiften will“ (aaO., 168 [Hervorhebung im Original]). – Dass die Lesungen ganz wegfallen, geschieht – wie GRAFF: Geschichte der Auflösung, Bd. 2, 118, ausführt – nur selten. Häufiger wurde allerdings vom Perikopensystem abgewichen, und es wurden Schriftabschnitte nicht ohne kurze Erklärung und Auslegung vorgetragen. Graff kommentiert: „So hatte man denn also oft gleichsam zwei Predigten und auch die Ordnung des Gottesdienstes weiter zerstört […]“ (ebd.). 22 Vorher war das Evangelium, über das in lutherischen Kirchen in der Regel auch gepredigt wurde, nicht selten zweifach verlesen; vgl. hier nur die Ordnung für Hamburg (Stadt) aus den Jahren 1556/1699, zit. bei GRAFF: Geschichte der Auflösung, Bd. 1, 146f; vgl. dazu aaO., 172 und 172 Anm. 8. 23 Damit ist das Kennzeichen des Gottesdienstes zur Zeit der Aufklärung benannt; vgl. GRAFF: Geschichte der Auflösung, Bd. 2, 124: „Die Predigt selbst ist immer mehr das Hauptstück des ganzen Gottesdienstes und zwar so sehr, daß sie sowohl nach Inhalt und Form ein getreues Bild der gottesdienstlichen Anschauungen der Zeit gibt.“ 24 ADLER: Schleswig-Holsteinsche Kirchen-Agende, 5. 25 ADLER: Schleswig-Holsteinsche Kirchen-Agende, 6.7. – Paul Graff sieht die Tendenz, vom Pfarrer als „Lehrer“ zu sprechen, um 1700 einsetzen; vgl. GRAFF: Geschichte der Auflösung, Bd. 1, 16.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

(wie klassisch im Kirchengebet) erfolgen, sondern gleich zu Beginn begründet Adler wie folgt: „Die Gemeine ist alsdann noch mit den Betrachtungen beschäftigt, worauf der Prediger sie leitete, und dem Prediger selbst ist der Inhalt derselben noch so gegenwärtig, daß auf beide der ganz verschiedne Gegenstand des unmittelbar auf die Predigt folgenden Gebets den Eindruk nicht machen kann, den es machen sollte.“27

Die Verlagerung des Fürbittgebets an den Anfang sowie die Straffung und Verkürzung der Liturgie im Eingangsteil dienen dazu, die „Aufmerksamkeit der Zuhörer“, die bei Adler neben der „andächtigen“ Stimmung28 eine zentrale Rolle spielt, auf die Predigt hin zu fokussieren.29 Die Liturgie steht so im Dienst der Predigt.30 Besonders deutlich kommt dies zum Ausdruck, wenn Adler den Charakter des Schlussgebetes wie folgt bestimmt: „Dies Schlußgebet sollte billig immer mit dem Inhalte der Predigt genau übereinstimmen, und eine rührende, in Anrede an Gott verwandelte Wiederholung der vorgetragenen Lehren und Ermahnungen seyn.“31

Es ist wohl treffend, wenn Karl Eger zum gottesdienstlichen Gebet in der Zeit der Aufklärung bemerkt, dass dieses „immer entschiedener zur Beeinflussung der Hörer benutzt“ worden sei.32 Der die Predigthandlung von der Kanzel abschließende „Segenswunsch“ (nicht: Segen!) sollte nicht nach der „mosaischen Segensformel“ (gemeint ist der aaronitische Segen aus Num 6, der von Luther in den Gottesdienst eingeführt wurde) gesprochen werden,33 sondern in einer freieren Form, für die die Agende eine Reihe von Vor-

26 Vgl. auch Seilers Bestimmung der Aufgabe des Predigers: „Der Prediger soll die Zuhörer unterrichten, überzeugen und rühren, seine Absicht ist die Aufklärung, die Beruhigung und Besserung der Menschen“, zit. bei GRAFF: Geschichte der Auflösung, Bd. 2, 36; vgl. ebenso EHRENSPERGER: Die Theorie des Gottesdienstes, 133–141 [Der ‚Religionslehrer‘ oder ‚Kanzelredner‘ und sein ‚Publikum‘]. 27 ADLER: Schleswig-Holsteinsche Kirchen-Agende, 5. 28 Vgl. ADLER: Schleswig-Holsteinsche Kirchen-Agende, 3. 29 Vgl. zu dem Begriff „Aufmerksamkeit der Zuhörer“ ADLER: Schleswig-Holsteinsche Kirchen-Agende, 7. 30 Auch dies lässt sich aus den „Vorschläge[n] zur Verbesserung des öffentlichen Gottesdienstes“ von Johann August Ephraim Goeze ablesen. Er schreibt: „So pflege ich öftere das Vater Unser gerade in meinem Vortrag einzuweben; auch wohl nur die Bitten beyzubehalten, die sich unmittelbar auf meine Predigt beziehen […]“ (HERBST: Evangelischer Gottesdienst, 168). 31 ADLER: Schleswig-Holsteinsche Kirchen-Agende, 7. – Sollten die Fürbitten doch nach der Predigt erfolgen, so müssten „die Bitten und Wünsche gleichfals [sic!] aus dem Inhalte des Vortrags hergeleitet werden“ (ebd.). 32 EGER: Das gottesdienstliche Gebet, 398. 33 Vgl. ADLER: Schleswig-Holsteinsche Kirchen-Agende, 8; die Textvorschläge finden sich aaO., 146–149.

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3. Historisches: Das Wortgeschehen und die Liturgie

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schlägen bietet. Der Grund liegt darin, dass die überkommene biblische Formulierung den gegenwärtigen Zuhörern nicht mehr verständlich sei.34 Der Austausch des von Luther favorisierten aaronitischen Segens durch andere Segensformulierungen ist ein allgemeines Phänomen in zahlreichen Gottesdienstordnungen des 18. Jahrhunderts. Dabei verbindet sich das Bestreben, sich von den als unverständlich empfundenen ‚orientalischen‘ Ausdrucksformen zu verabschieden nicht selten mit einer antijudaistischen Motivation: Manche gingen daran, mit dem „aaronitische[n] Segen“ „auch alles ‚Israelitische‘“ im Gottesdienst zu entfernen35 – ein Versuch, der an die Arbeit des 1938 eingerichteten und 1939 gegründeten „Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ erinnert.

Zahlreiche der in der Agende weitergegebenen Segensformulierungen lehnen sich dennoch an die dreigliedrige Struktur des aaronitischen Segens an, arbeiten diesen aber in charakteristischer Weise um. So lautet etwa der erste in der Agende zitierte Segenswunsch: „Der Herr lasse euch (uns) alle täglich erfahren und dankbar fühlen, wie freundlich er ist! Der Herr segne euch (uns) reichlich mit Ruhe des Herzens, mit Kraft zur Tugend, mit Weisheit des Lebens, [sic!] und mit Geduld im Leiden! Der Herr beselige euch (uns) mit froher Hoffnung, und einst mit unaussprechlichem Genusse des ewigen Lebens!“36

Die drei Sätze dieses Segenswunsches (interessanterweise bietet die Agende keine Entscheidung in der Frage, ob die erste oder zweite Person Plural verwendet werden soll!) lassen sich implizit als trinitarische Appropriation lesen: die Freundlichkeit Gottes des Vaters, die Vorbildfunktion Jesu Christi (Ruhe, Kraft, Weisheit, Geduld), die eschatologisch und präsentisch bestimmte Hoffnung als Gabe des Geistes. Gleichzeitig aber atmet der Segenswunsch den Versuch, die Gemeinde in ethischer und religiöser Hinsicht zu formen. Die ‚Tugenden‘ der Dankbarkeit oder der Hoffnung, der Weisheit oder Geduld werden im Segenswunsch nicht nur zugesprochen, vielmehr kann der ‚Zuspruch‘ auch als Anspruch gehört werden. Es zeigt sich, dass sich das Ziel des Gottesdienstes bei Adler primär als religiöse Kulturvermittlung – vor allem durch den Lehrvortrag der Predigt, aber auch durch die von diesem her strukturierten weiteren Teile der Liturgie – bestimmen lässt. In dieses Ziel fügt sich dann auch die „Catechisa34 Vgl. ADLER: Schleswig-Holsteinsche Kirchen-Agende, 8; vgl. ähnlich auch Georg Friedrich Seiler (JORDAHN: Georg Friedrich Seilers Bedeutung, 200f). 35 GRAFF: Geschichte der Auflösung, Bd. 2, 46. 36 ADLER: Schleswig-Holsteinsche Kirchen-Agende, 146.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

tion“ der Schulkinder ein, die im „Kirchengange“ gehalten und „katechetisch die Hauptsätze seiner [des Predigers, AD] Predigt“ wiederholen soll.37 Adlers Agende zeigt, wie eine Transformation des Gottesdienstes im Geist der Aufklärung und in Fortsetzung des pädagogisch-didaktischen Ansatzes der Reformation Gestalt gewinnen kann, wie dabei die Predigt und das lehrhaft weitergegebene Wort in den Mittelpunkt rücken, die übrige Liturgie dominieren und das Leitmotiv für die Einheitlichkeit des Gottesdienstes abgeben.38 Für Paul Graff ist es in seiner „Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen“ evident, wie „verfänglich“ es angesichts der Geschichte des evangelischen Gottesdienstes gewesen sei, „daß solche Äußerungen über die pädagogische Art des Gottesdienstes aus der Reformationszeit überhaupt vorlagen.“39 Man habe sich dadurch bei der Umgestaltung des Gottesdienstes auf Vorgaben der Reformatoren berufen können und so auch die neue und ausschließliche Orientierung des Gottesdienstes auf dessen „Wirkung auf den einzelnen“ hin mit Aussagen der Reformatoren legitimiert.40 Genau dadurch seien aber „Individualismus und Subjektivismus“ zu den Konstituenten des Gottesdienstes geworden; „das eigentlich Kirchliche“ sei demgegenüber zurückgedrängt worden,41 der „Begriff der Gemeinde“ verloren gegangen.42 Dass der Gottesdienst dabei auch eine über die bloße Lehre und deren Vermittlung hinausgehende Dimension der ‚Sinnlichkeit‘ verlor,43 haben bereits Zeitgenossen erkannt und kritisiert, etwa Goethe in seinem Gedicht „Pfaffenspiel“. Dort heißt es unter anderem: „In einer Stadt, wo Parität Noch in der alten Ordnung steht, Da, wo sich nämlich Katholiken Und Protestanten ineinander schicken Und, wie’s von Vätern war erprobt, Jeder Gott auf seine Weise lobt, 37

ADLER: Schleswig-Holsteinsche Kirchen-Agende, 9. Vgl. auch EHRENSPERGER: Die Theorie des Gottesdienstes, 95–121 [Die pädagogische Grundtendenz des Gottesdienstentwurfs und seiner einzelnen liturgischen Stücke]. 39 GRAFF: Geschichte der Auflösung, Bd. 1, 4 [im Original hervorgehoben]. 40 GRAFF: Geschichte der Auflösung, Bd. 2, 34. – Vgl. auch die scharfe und knappe Äußerung von Julius Smend zum evangelischen Gottesdienst in der Zeit des Rationalismus: „Da ‚die Leute einmal bei einander sind‘, kann die Kirche als menschenfreundliche Einrichtung nicht umhin, die Stunde gemeinsamer Gottesverehrung für den allgemeinen Nutzen auszukaufen“ (SMEND: Der evangelische Gottesdienst, 6f). 41 GRAFF: Geschichte der Auflösung, Bd. 2, 35 [im Original hervorgehoben]. 42 GRAFF: Geschichte der Auflösung, Bd. 2, 37 [im Original hervorgehoben]. 43 Vgl. an dieser Stelle auch die Art und Weise, wie der Kirchbau in jenen Jahren umgestaltet wurde; illustrativ zusammengefasst und mit Skizzen unterstützt bei GRAFF: Geschichte der Auflösung, Bd. 2, 61–71. 38

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3. Historisches: Das Wortgeschehen und die Liturgie

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Da lebten wir Kinder Lutheraner Von etwas Predigt und Gesang, Waren aber dem Kling und Klang Der Katholiken nur zugetaner: Denn alles war doch gar zu schön, Bunter und lustiger anzuseh’n. […]“44

3.2.2 Die liturgische Restauration: Wort und Sakrament im Wechselspiel Bei Schleiermacher lässt sich die terminologische Unterscheidung von Predigt und Liturgie wahrnehmen, wonach „Liturgie nicht mehr den ganzen Gottesdienst, sondern nur alle die der Predigt vorausgehenden und ihr nachfolgenden gottesdienstlichen Stücke bezeichnet.“45 Mit dieser Unterscheidung war es möglich, die fundamentalliturgische Doppelformel Wort und Sakrament, die auf der Basis von CA V und CA VII46 bereits in der altprotestantischen Orthodoxie grundlegend geworden war,47 liturgiepraktisch weiterzuführen. Und es ergibt sich die Problematik einer Trennung von beidem, die Wilhelm Stählin als sinnwidrig und dem Verständnis des Wortes im evangelischen Kontext konträr entgegengesetzt beschreibt.48 Auf unterschiedliche Weise zeigt sich dies sowohl in der preußischen Agende von 1822 als auch bei den liturgischen Reformvorschlägen und -entwürfen von Wilhelm Löhe. Beide werden der liturgischen Restauration49 zugeord-

44

GOETHE: „Pfaffenspiel“, zitiert nach www.tetxtlog.de/18626.html [Zugriff vom 1.5.2009]. KALB: Art. Liturgie I, 367; vgl. oben Kap. 2.2.1.2. 46 „Ut hanc fidem consequamur, institutum est ministerium docendi evangelii et porrigendi sacramenta“ (CA V; BSLK, 58); „Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta“ (CA VII, BSLK, 61). 47 Vgl. KALB: Die Lehre vom Kultus, 69–73. – Kalb schreibt grundlegend zum evangelischen Gottesdienstverständnis (nicht nur) in der Zeit der Orthodoxie: „Der göttlich eingesetzte Inhalt allen Gottesdienstes ist das Angebot der Versöhnung in Wort und Sakrament.“ Dabei wird die Unterscheidung von Wort und Sakrament problematisch durchgeführt, indem das Wort als das Geistige, das Sakrament als das Äußerliche erscheint; vgl. bes. aaO., 73: „Ist das Predigen und das Hören der Predigt ein Akt, dessen Hauptgewicht auf dem geistigen Vorgang liegt und bei dem die Externität nur eine Begleiterscheinung darstellt, so wird bei der Reichung der Sakramente das Handeln Gottes mit den Menschen durch äußerlich sichtbare Formen gerade als Charakteristikum betont.“ 48 Vgl. STÄHLIN: Mysterium, 115; vgl. die Ausführungen aaO., 116–153. Vgl. ähnlich auch ASMUSSEN: Die Lehre vom Gottesdienst, 197–200. 49 Etwa Hans-Christoph Schmidt-Lauber wehrt sich gegen den Begriff der „Restauration“ zur Bezeichnung der liturgischen Entwicklungen im 19. Jahrhundert. Vielmehr gehe es im Neuluthertum um eine „umfassende theologische Neubesinnung, die auf eine beachtliche Erschließung der Liturgiegeschichte zurückgreifen kann und erste Tendenzen zum ökumenischen Austausch wie zur Einheit des gottesdienstlichen Lebens zeigt“ (SCHMIDT-LAUBER: Art. Liturgiewissenschaft/Liturgik, 389). 45

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

net. Im Blick auf das Wechselspiel von Wort und Sakrament aber gelangen beide zu einer sehr unterschiedlichen Praxis. 3.2.2.1 Die preußische Agende von 1822: Liturgie und Predigt, Wort und Sakrament Der preußische „Agendenstreit“ um die Reformagende Friedrich Wilhelms III. (1770–1840) bewegte viele Jahre die evangelischen Gemüter. In einer eigentümlichen Mischung begegnen hier ekklesiologische, politische und genuin liturgische Motive. Eines der Ziele war es, gegenüber dem von manchen (!) beklagten Verfall des gottesdienstlich-liturgischen Lebens in der Zeit der Aufklärung im restaurativen und tendenziell romantischen Rückgriff auf das Reformationszeitalter eine Erneuerung des Gottesdienstes zu erreichen und dabei das im Rationalismus vernachlässigte „Moment der Anbetung“ wieder zu stärken.50 Die liturgische Reform sollte aber zugleich der evangelischen Union dienen und das ius liturgicum des Landesherrn befestigen. Epistemologisch versteht sich die Reformagende als erneuerter Anschluss an die liturgische Tradition der evangelischen Kirche. In der Vergangenheit sei, so die „Vorrede“ der Agende „an die Stelle alter ehrwürdiger Gebräuche […] die Willkühr getreten“.51 Demgegenüber gehe es nun darum, sich neu „auf das Feststehende und Ewige des Christenthums“ zu gründen.52 Eine der Eigentümlichkeiten der Agende für den Hof und die Armee von Friedrich Wilhelm III. (1821/22) lag darin, „daß die gesamte Liturgie [mit den Lesungen von Epistel und Evangelium, AD] gleich zu Beginn des Gottesdienstes erfolgte, der die Predigt als Anhang beigefügt wurde“53. In den „Allgemeine[n] Bemerkungen“ zur Agende wird dies auch zeitlich genau aufgeteilt: „Der Hauptgottesdienst an Sonn- und Festtagen darf nie das Zeitmaaß Einer Stunde überschreiten; hiervon wird eine halbe Stunde auf die Dauer der Liturgie, mit den Gesängen der Gemeine vor und nach derselben, und eine halbe Stunde auf die Dauer der Predigt gerechnet.“54

50

Vgl. EGER: Das gottesdienstliche Gebet, 399. HERBST: Evangelischer Gottesdienst, 170. 52 HERBST: Evangelischer Gottesdienst, 170. 53 NIEBERGALL: Art. Agende, 57. 54 HERBST: Evangelischer Gottesdienst, 171. 51

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3. Historisches: Das Wortgeschehen und die Liturgie

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An die Predigt schlossen sich lediglich noch der – gegenüber manchen Reformagenden wiederentdeckte – aaronitische Segen sowie ein Gemeindelied an. Wenn Abendmahl gefeiert wurde, so geschah dies im Anschluss an diesen aus ‚Liturgie‘ und Predigt bestehenden Gottesdienst. Konkret ergab sich folgender Ablauf eines Gottesdienstes ohne Abendmahl:55 I Liturgie (am Altar) Gemeindegesang (währenddessen zieht der Geistliche ein und geht zu seinem Platz am Altar, den er bis zum Vaterunser nur dann verlässt, wenn in die ‚Liturgie‘ noch ein Gemeindelied eingefügt werden sollte) Votum Confiteor Gloria Salutation Gebet (um das rechte Hören des Wortes) Epistel und Halleluja Evangelium und „Gelobet seist du, o Christus“ Credo Präfation, Sanctus und Benedictus Fürbitte und Vaterunser Gemeindegesang II Predigt (auf der Kanzel) Eingangsgebet Verlesung des Predigttextes Predigt Aaronitischer Segen Gemeindegesang

Das Urteil Alfred Niebergalls über diese Agende fällt harsch aus, wenngleich er die Folgen des Agendenstreits in Preußen als durchaus positiv einstuft: „Aufs Ganze gesehen trat die Unzulänglichkeit dieser Agende deutlich zutage; sie bestand in der unkritischen und dilettantischen Verknüpfung liturgischer Elemente, die meist aus den Agenden der Reformationszeit entnommen waren. Auf diese Weise konnte schwerlich eine agendarische Einheit [zwischen Reformierten und Lutheranern, AD] erreicht werden. Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß diese so sehr umstrittene Agende den Anschluß an die liturgische Tradition innerhalb des Protestantismus wieder herstellte, daß sie das Interesse an den Fragen des gottesdienstlichen

55

Vgl. HERBST: Evangelischer Gottesdienst, 172–185.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Lebens weckte und belebte und daß sie die liturgischen Bestrebungen auch außerhalb Preußens beeinflußte.“56

Insgesamt wurde eine Agende geschaffen, die in der Terminologie der bisherigen Erarbeitung gesprochen Kult und Wort als Liturgie und Predigt deutlich voneinander trennt: durch die räumliche Verteilung (Altar bzw. Kanzel) und durch die genau abgegrenzte und jeweils dafür zur Verfügung stehende Zeit. Die Predigt erscheint – wie auch in den Liturgien der Aufklärungszeit – als Höhepunkt des Gottesdienstes. Die zahlreichen innerevangelischen Kritiker der Agende richteten ihre Angriffe nicht auf die problematische Trennung von ‚Liturgie‘ und Predigt, sondern im Gegenteil vor allem auf das „Übergewicht der ‚Liturgie‘ vor der Predigt“ und den „katholisierenden Charakter“, den diese Liturgie durch die geringe Beteiligung der Gemeinde, die sich auf das Mitsingen von drei Liedern beschränkte, und die Länge des feststehenden liturgischen Teils vermeintlich enthielt.57 Die Problematik, dass das Abendmahl lediglich als Anhang an den Gottesdienst erschien, wurde kaum beachtet. Kirchenpolitisch gelang es Friedrich Wilhelm III. erst durch die Einführung von mehreren, die regionalen Belange aufnehmenden Provinzialagenden zu einer Befriedung zu gelangen.58 3.2.2.2 Wilhelm Löhe: Gottesdienst mit Wort und Sakrament in der Dramaturgie der Bergwanderung Es war ein deutlich anderer Ansatz, von dem rund 20 Jahre nach Friedrich Wilhelm III. Wilhelm Löhe (1808–1872) in Neuendettelsau ausging.59 Für seine „Agende für die christlichen Gemeinden lutherischen Bekenntnisses“ (1844; 21853)60 lassen sich zwei Ausgangspunkte liturgischer Epistemologie greifen: (1) Explizit war seine liturgische Arbeit eingeordnet in den Kontext der konfessionellen Theologie, wie sie sich vor allem in Erlangen als neulutherische Theologie herausgebildet hatte. Theodor Kliefoth schreibt: „Das Alte neu zu machen, ist die Mission unserer Tage, auch was den Kultus be56

NIEBERGALL: Art. Agende, 58f. NIEBERGALL: Art. Agende, 57. 58 Vgl. NIEBERGALL: Art. Agende, 57f. 59 Vgl. zu den Agenden in der bayerischen Landeskirche zu Beginn des 19. Jahrhunderts KRESSEL: Die Liturgie der Ev.-Luth. Kirche in Bayern. Die Situation schildert Kressel als Chaos und als ein auf der Grundlage des Rationalismus umfangreiches Zerstörungswerk (vgl. bes. aaO., 2). – Vgl. zu Löhes Liturgik grundlegend auch SEITZ: Gottesdienst und liturgische Sprache. 60 Vgl. zu Löhes Agende auch KRESSEL, Wilhelm Löhe als Liturg, 37–39. 57

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3. Historisches: Das Wortgeschehen und die Liturgie

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trifft.“61 Es ging um die Wiedergewinnung eines lutherischen Messgottesdienstes im Anschluss an die gesamtkirchliche und in diesem Sinne ‚katholische‘ Tradition62 und im Gegenüber zu den rationalistischen Verkürzungen der Liturgie.63 Damit reichte die Neubesinnung auf Luther weiter, als es bei den preußischen Agendenbemühungen der Fall war, und Löhe erinnerte sich an die Bedeutung, die Luther dem Abendmahl und der Beibehaltung der Messform („Formula missae“; „Deutsche Messe“) zumaß. Im Rückgriff auf die Bekenntnisschriften (explizit auf CA VII) weist Löhe darauf hin, dass „Wort und Sakrament“ die Kirche tragen und bestimmen64 – beide zugleich, gleichzeitig aber auch nur diese beiden. Die Einheit des Messgottesdienstes sei damit ebenso gegeben wie die Warnung vor einer Liturgiewahrnehmung, die der äußeren Form zuviel zutraut. Wo nur Wort und Sakrament sind, ist wahre Kirche – ganz unabhängig davon, wie genau die Ordnung sich gestalte. Diese Einschränkung wird für Löhe zugleich zur Basis einer weitreichenden liturgischen Offenheit für die Wahrnehmung der Schätze in anderen Liturgietraditionen: „[…] mit dem Richtscheit der reinen Lehre, des reinen Sakramentes in der Hand dürfen wir wohl die untergeordneten Gebiete der Verfassung und Liturgie in andern kirchlichen Gemeinschaften durchwandern, alles prüfen und vorhandenes Gute behalten.“65

(2) Implizit zeigt sich ein zweites Leitmotiv von Löhes liturgischer Arbeit: Er „bedient sich (unbewußt) der liturgiepsychologischen und -didaktischen Erkenntnisse der Aufklärung“66 und konzipiert den Gottesdienst als dramaturgischen Weg „kultischer Theophanie“67 mit den zwei Gipfeln Predigt 61

KLIEFOTH: Theorie des Kultus in der evangelischen Kirche, 3. Löhe schreibt von sich im Vorwort der Agende, er habe im Kontext „derjenigen liturgischen Richtung“ gearbeitet, „die sich nicht in zweifelhaftem Neuem versucht, sondern den uralten liturgischen Typus des Abendlandes gegen Fälschung sicherstellt, von Unreinem befreit, ihn durch die Zeiten fortleitet – und auch dadurch die Spuren Einer heiligen, allgemeinen Kirche, Einer unsterblichen Gemeinde der Heiligen auf Erden aufzeigt und nachweist“ (LÖHE: Die Kirche in der Anbetung, 10). Von bloß subjektiven Entscheidungen grenzt sich Löhe daher explizit ab (vgl. ebd.; vgl. zur Ökumenizität der Agendenarbeit Löhes auch KRESSEL: Löhe als Liturg, bes. 56–59). 63 Hans Kressel schreibt (in dem ihm eigenen rühmend-pathetischen Stil): „So darf er [Löhe, AD] die reformatorische Linie vollenden und den Kanon Martin Luthers voll erfüllen, indem er in seinen liturgischen Prinzipien und ihrer Durchführung die gottesdienstlichen Zeremonien über alle erzieherische und zweckhafte Notwendigkeit hinaus als Feier, die ihre gottgeschenkte Herrlichkeit in sich selbst trägt, erleben läßt“ (KRESSEL: Wilhelm Löhe als Liturg, 52). 64 LÖHE: Die Kirche in der Anbetung, 11 [Hervorhebung im Original]. 65 LÖHE: Die Kirche in der Anbetung, 11. 66 CORNEHL: Art. Gottesdienst, 70. 67 CORNEHL: Art. Gottesdienst, 70; vgl. KRESSEL: Löhe als Liturg, 68: „Löhe ist wahrlich keinem billigen Psychologismus zum Opfer gefallen […], er wußte jedoch, daß der creator spiritus die gottgeschaffene Psyche zum Einfallstor, ja zur Wohnung wählt, wann und wo es ihm gefällt. 62

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

und Abendmahl. So findet Löhe zu einer neuen Gesamtschau des evangelischen Gottesdienstes, die die inzwischen eingeübte Trennung von einem ersten liturgischen und einem zweiten Predigtteil überwand, „Einheit und Harmonie“ als ästhetische Kategorien betont und die Liturgie insgesamt als eine „Ästhetik der Kirche Gottes nicht in abstracto, aber in concreto“ versteht.68 Im Mantel lutherischer Restauration zeigt sich ein neues und zeitgemäßes Gottesdienstverständnis, das von aufklärerischer Zielorientierung und Schleiermacherscher Konzeption darstellender Handlung profitiert und sich in die Nähe der neuen Ästhetik der Oper als Gesamtkunstwerk bewegt. Im Vorwort zur ersten Auflage der für die „Brüder in Nordamerika“ ausgearbeiteten Agende69 entwickelt Löhe das berühmte Bild vom evangelischen Gottesdienst als „zweigipfeligen Berge“, „dessen einer Gipfel, wie etwa bei Horeb und Sinai, niedriger ist als der andere.“70 „Der erste Gipfel ist die Predigt, der zweite das Sakrament des Altars, ohne welches ich mir einen vollendeten Gottesdienst auf Erde nicht vorstellen kann. Man ist bei dem Hauptgottesdienste immer im Steigen begriffen, bis man bei dem Tisch des Herrn angelangt ist, wo man nichts Höheres mehr über sich hat als den Himmel und deshalb nur noch im Nunc dimittis einen entsprechenden Ausdruck für das inwendige Sehnen findet.“71

Während Predigt und Abendmahl bei Löhe als die beiden Höhepunkte im liturgischen Geschehen erscheinen, werden Wort und Sakrament (beide!) zum Markierungspunkt für die liturgische Gestaltung insgesamt. Es ist interessant, dass Löhe das Begriffspaar in einem Bild als den (Singular!) „Fels im Meere“ im Leben und in den Gottesdiensten der Gemeinde bezeichnet.72

Aus diesem Grund darf und muß auch der Gang der Gottesdienste irgendwie den psychologischen Gesetzen der einheitlichen Zusammenfassung, der Steigerung und des zielstrebigen Fortschritts folgen.“ Vgl. zu Löhes Gottesdienst als „heilige[m] Drama“ aaO., 70; vgl. auch aaO., 73f. 68 LÖHE: Die Kirche in der Anbetung, 12. 69 Vgl. LÖHE: Die Kirche in der Anbetung, 9. – Der Anlass für die Entwicklung dieser Agende für Nordamerika ist auch ein kontroverstheologisch-ökumenischer. Löhe sieht die Liturgie als „Waffe der Römer“ für einen „systematischen Eroberungsplan“, mit dem die katholische Kirche neue Glieder gewinnen wolle. Dagegen meint Löhe, mit seiner evangelischen Agende eine „Waffe der Wahrheit“ liefern zu können: „Wahrheit und Einfalt überstrahlt doch jedenfalls die Lüge, auch wo sich diese mit allem Schmuck der Mannigfaltigkeit beladen hat“ (ebd.). 70 LÖHE: Die Kirche in der Anbetung, 13; vgl. KRESSEL: Löhe als Liturg, 73–80. 71 LÖHE: Die Kirche in der Anbetung, 13. – Im Vorwort zur zweiten Auflage 1852 erkennt Löhe rückblickend, dass er – sollte er das Vorwort zur ersten Auflage nochmals schreiben müssen – mit Sicherheit dem Gipfel des Abendmahls „noch eine höhere Stelle“ einräumen und dieses als „das Ziel“ schlechthin der gesamten Liturgie beschreiben würde (vgl. aaO., 18). 72 LÖHE: Die Kirche in der Anbetung, 12.

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Das Wasser fließe um diesen Felsen, wie auch die „heiligen Formen der Liturgie um den Mittelpunkt des Wortes oder Sakramentes“ fließen.73 In der genaueren Beschreibung des liturgischen Weges wird dann deutlich, wie Löhe das Wort versteht. Ich zeichne diesen Weg Löhes Darstellung folgend kurz nach, da er im Blick auf die Frage nach dem Verständnis des Wortes im Wechselspiel von Wort und Sakrament über das bisher Beschriebene deutlich hinausgeht: Nachdem die Gemeinde sich im Gottesdienst ihres Sünderseins bekannt hat und mit ihrer Sorge im Kyrie vor Gott getreten ist, nahe der Herr im Gloria der „engelischen Lobgesänge“ seiner Gemeinde.74 Das darauf folgende Gloria bedeute den preisenden Empfang des entgegenkommenden Herrn, der allerdings „noch schweigt“.75 Erst nach dem sich anschließenden Kollektengebet schweige nun ihrerseits die Gemeinde und der Herr „bricht […] das Schweigen und gönnt der Gemeinde die Gnade seines Wortes“ in der Epistellesung,76 die wie die Evangelienlesung am Altar vollzogen wird.77 Die Gemeinde antwortet darauf jubelnd mit ihrem Halleluja. „Aber er redet weiter. Man vernimmt ipsissima verba im Evangelium. Immer näher tut sich der Herr zu seinem Volke.“78 Die Evangelienlesung wird gegenüber der Epistellesung nochmals hervorgehoben – obwohl beide von Löhe als unmittelbares Reden Gottes bestimmt werden.79 Die Hervorhebung kann (gemäß den Empfehlungen in der Agende) durch das Anzünden der Lichter unterstrichen werden; auch soll vor der Evangelienlesung eine weitere Salutatio erfolgen.80 Die wiederum im Credo antwortende Gemeinde lasse sich nun „vor seinem Angesichte nieder“, worauf die Predigt folge, „das selige o`ȝȚȜİi/Ȟ, die Gemeinschaft der Heiligen, die sich vor dem Herrn des Herrn freuen.“81 Es ist bezeichnend, dass die Predigt trotz ihrer Rolle als liturgischer Vorgipfel damit nicht als herausgehobene Gestalt des Wortes erscheint, sondern mit dem griechischen Verb o`ȝȚȜİi/Ȟ als gemeinsamer Austausch in der Gegenwart des Herrn begriffen wird. Die nächste Etappe des Weges beginnt: „Nun wandelt die Gemeinde einmütig höher hinauf zum Sakrament […]“82 – dem eigentlichen Höhepunkt und Ort der Begegnung mit dem kommen-

73

LÖHE: Die Kirche in der Anbetung, 12. LÖHE: Die Kirche in der Anbetung, 14. 75 LÖHE: Die Kirche in der Anbetung, 14. 76 LÖHE: Die Kirche in der Anbetung, 14. 77 Vgl. LÖHE: Die Kirche in der Anbetung, 59. 78 LÖHE: Die Kirche in der Anbetung, 14. 79 Zur Evangelienlesung schreibt Löhe, dass die Worte hier „aus dem Munde des Herrn selbst“ genommen seien; vgl. LÖHE: Die Kirche in der Anbetung, 57 Anm. *. 80 Vgl. LÖHE: Die Kirche in der Anbetung, 57. 81 LÖHE: Die Kirche in der Anbetung, 14. 82 LÖHE: Die Kirche in der Anbetung, 14. 74

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

den Herrn,83 dem Ort der „seligsten Erfahrung“.84 Nur im Tod könne man noch höher steigen; für die Gemeinde hingegen sei nach dem Mahl Zeit für den Abstieg. Wie sich zeigt, entgeht Löhe zwar der Verengung des Wortes auf die Predigt, wie sie etwa in der Preußischen Agende sichtbar wird und wie sie tendenziell auch in den Ansätzen der Aufklärungszeit beobachtet wurde, tauscht diese allerdings durch eine neuerliche Verengung ein: der Verengung des Wortes auf die Lesungen, die allerdings nicht, wie dies angesichts der Beschreibung des Weges eigentlich erwartet werden könnte, ihrerseits als liturgischer Höhepunkt erscheinen. Der Lutheraner Löhe kann sicherlich nicht als Verächter der Predigt bezeichnet werden; dennoch erkennt er die Notwendigkeit einer Relativierung der im evangelischen Gottesdienst allzu dominanten Predigt zugunsten der Lesungen einerseits und vor allem zugunsten des Abendmahls (bei Löhe: der Communion) andererseits. Die unmittelbare Begegnung mit der ‚göttlichen Gegenwart‘ sucht Löhe damit nicht in den individuellen Worten des Predigers, sondern vielmehr in den biblisch oder in der Liturgiegestalt vorgegebenen Worten der Tradition. Exkurs: Liturgieverständnis und Liturgiedidaktik bei Löhe85 Löhes liturgische Einsicht, wonach die Reformation in liturgicis keineswegs etwas völlig Neues erfunden, sondern im Gegenteil einen Weg der Kirche fortgesetzt habe, der weit älter ist, führt ihn dazu, die Liturgie als reiche, überkommene Tradition zu sehen, nicht aber als eine Art Baukasten zu eigener neuer und kreativer Gestaltung.86 Zu den liturgischen Ansätzen vor ihm bemerkt er: „Man war der römischen Liturgie zu überdrüssig geworden, man kannte die uralten Liturgien zu wenig, man gab der Predigt einen allzugroßen Raum, und die Zeit drängte zu sehr auf das Lehrhafte, als daß man für die Liturgie den rechten, einfachen, vorurteilslosen Sinn und zur Herstellung der Kirche völlig würdiger Liturgien die nötige Fähigkeit hätte haben und bekommen können.“87 Löhes Weg ist demgegenüber der einer Wiederherstellung des Gewesenen, die sich allerdings keineswegs sklavisch an eine ermittelte Form der Vergangenheit bindet (etwa an Luthers „Deutsche Messe“), sondern kreativ mit dem Überkommenen 83

LÖHE: Die Kirche in der Anbetung, 15: „[…] beginnen die wunderbaren Verba Testamenti. Er kommt im Namen des Herrn. Gott ist gegenwärtig und das Lamm“ (Hervorhebungen im Original]. 84 LÖHE: Die Kirche in der Anbetung, 15. 85 Vgl. zum Folgenden KRESSEL: Löhe als Liturg, 82–84. 86 Vgl. LÖHE: Die Kirche in der Anbetung, 10f. 87 LÖHE: Die Kirche in der Anbetung, 17.

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umgeht.88 Grundsätzlich aber ist Löhes Haltung von einer Ehrfurcht gegenüber der wertvollen Tradition und den „uralten Liturgien“ geprägt. Entsprechend sieht er nicht – wie viele Liturgiker der Aufklärungszeit vor ihm und wie die im Anschluss darzustellende sogenannte ältere liturgische Bewegung nach ihm – die Notwendigkeit, für die Gestaltung einer gegenwärtigen Liturgie die Frage zu stellen, was der ‚heutige Mensch‘ wolle oder der ‚moderne Mensch‘ brauche bzw. im Gottesdienst suche. Vielmehr erkennt er eine primär liturgiedidaktische Aufgabe. Es gehe gegenwärtig darum, Menschen zu dem (mehr oder weniger) feststehenden und – wie Löhes Beschreibung des Weges der Liturgie zeigt – in seinen Augen großartigen ‚Werk‘ hinzuführen. Grundlegend bestehe diese Aufgabe darin, den Menschen das Beten in seiner eigentlichen Bedeutung als Gespräch zwischen Gott und Mensch wieder zu lehren. Es werde, so meinte Wilhelm Löhe, „keine rechte Liturgie ohne ein betendes, zum Gebete lustiges, durchs Gebet erfreutes Volk“ möglich sein, weswegen es heute darum gehe, „im Volke de[n] Geist des Gebets“ zu wecken.89 Entsprechend bittet er auch am Ende seines an die Brüder in den USA gerichteten Vorwortes darum, die vorliegende Liturgie keinesfalls nur lesend zu rezipieren, sondern zu erproben. „Versuche werden Lust zur Übung des Ganzen machen“ – davon ist Löhe überzeugt.90 – Ähnlich verstand später auch Romano Guardini – als einer der Protagonisten der katholischen liturgischen Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts – die Aufgabe liturgischer Bildung.91

3.2.3 Die ältere liturgische Bewegung: Gott-menschlicher Wortwechsel als liturgische Inszenierungsaufgabe Konrad Klek gibt seinem Buch zur sogenannten älteren liturgischen Bewegung um Julius Smend (1857–1930) und Friedrich Spitta (1852–1924) den treffenden Titel „Erlebnis Gottesdienst“. Der Straßburger Praktische Theologe Smend und der ebenfalls in Straßburg lehrende Neutestamentler (und Praktische Theologe) Spitta wollten eine Erneuerung des Gottesdienstes, bei der – sehr knapp formuliert – die Torgauer Formel zum Gestaltungsprinzip bzw. zur Inszenierungsaufgabe für den evangelischen Gottesdienst wird.92 Sie versuchten, den theologischen Ansatz Luthers mit einer von Schleiermacher herkommenden Betonung des religiösen Gefühls und dessen „Darstellung“ zu verbinden.93 Anders formuliert: Der Weg, den Smend 88

Vgl. LÖHE: Die Kirche in der Anbetung, 18. LÖHE: Die Kirche in der Anbetung, 21; vgl. ähnlich rund 100 Jahre später auch Peter Brunner (BRUNNER: Zur Lehre vom Gottesdienst, 256). Vgl. zur Bedeutung des Gebets für den Gottesdienst bei Löhe auch LUNK: Gottesdienst und Gebet, 22–24. 90 LÖHE: Die Kirche in der Anbetung, 16. 91 Vgl. GUARDINI: Liturgische Bildung. 92 Ein Ziel, das sich grundsätzlich mit der Richtungsangabe dieser Erarbeitung deckt, wobei sich freilich die Art und Weise der Durchführung unterscheidet. 93 Die Bezüge zu und Abgrenzungen von Schleiermacher analysiert Konrak Klek konzise; vgl. KLEK: Erlebnis Gottesdienst, 208–237. 89

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

und Spitta gehen, ist der, einen in seiner emotionalen und theologischen Bewegung stimmigen Gottesdienst zu konstruieren/inszenieren, der die Feiernden hinführt zur Erfahrung der Gott-menschlichen Wechselrede. Der Gottesdienst soll eine Erlebnisqualität gewinnen, die die Grenzen des (bloß) Horizontalen sprengt.94 Neben Schleiermacher werden Kunst und Psychologie zu weiteren Partnern der Liturgik – die Kunst als Ausdrucksmittel, um das gesteckte Ziel zu erreichen, die Psychologie, um Wege und Möglichkeiten einer Beeinflussung des Erlebnisses zu bestimmen.95 Der Gottesdienst solle schön, einheitlich, volkstümlich und feierlich zugleich sein, um sein Ziel zu erreichen.96 Ich nehme die liturgischen Ansätze der beiden im Folgenden so wahr, dass ich sie unter den Stichworten „Kult und Kultur“ einerseits (3.2.3.1), „Wort und Kult“ andererseits (3.2.3.2) betrachte. 3.2.3.1 Kult und Kultur Smend und Spitta wehren sich vor allem gegen zwei Pole des gegenwärtigen Gottesdiensterlebens bzw. der liturgischen Diskussion: einerseits gegen den überkommenen evangelischen Gottesdienst, den sie als wortlastig, langweilig und in übermäßiger Weise von der Predigt dominiert wahrnehmen; andererseits aber haben beide massive Vorbehalte gegen die vielerorts spürbare Begeisterung für die katholische Messe in ihrer Feierlichkeit und Erhabenheit (und damit gegen manche Versuche liturgischer Restauration, die die römische Messe implizit oder explizit zum Vorbild nehmen). Die Spannung, die sich aus dieser Abgrenzung vom Katholizismus und von evangelischer Wortlastigkeit der Liturgie ergibt, spiegelt sich in der Verwendung des Begriffs „Kultus“ bei Smend und Spitta. Konrad Klek geht in seiner Untersuchung auch auf die von Smend und Spitta verwendeten Begriffe ein und stellt fest: Die Worte Gottesdienst und Kultus kommen „[…] ohne erkennbaren Bedeutungsunterschied [vor, AD]. Der Begriff Kultus findet sich häufiger in mehr theoretischen Erörterungen, das Wort Gottesdienst gilt offenbar als das allgemein ansprechendere, steht darum (außer in Spittas früherer Reformschrift [Zur Reform des evangelischen

94 Der Katholik Wihlem Averbeck kritisiert und karikiert diesen Ansatz: „Durch eine sehr subjektive feierliche Gestaltung, die sich oft ganz abseits vom Wege der Tradition bewegte und in Geschmacklosigkeiten verirrte, sollte der Gottesdienst dem modernen Menschen wieder zu einem Erlebnis gemacht werden“ (AVERBECK: Der Opfercharakter des Abendmahls, 117). 95 Vgl. BIERITZ: Die Hochkirchliche Bewegung, 5. 96 Vgl. BIERITZ: Die Hochkirchliche Bewegung, 5.

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3. Historisches: Das Wortgeschehen und die Liturgie

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Kultus. Briefe und Abhandlungen, 1891; AD] stets in Titelangaben und Überschriften und verdrängt im Lauf der Jahre den Kultus mehr und mehr.“97

Allerdings zeigt ein näherer Blick auf die Texte, dass Spitta und Smend den Kultus-Begriff doch in spezifischer und durchaus ambivalenter Weise gebrauchen: Eine kritische Abgrenzung vom „Kult“ begegnet vor allem dort, wo der katholische Ritus als bloß äußerlicher Kult dargestellt wird (1); demgegenüber findet sich eine positive Aufnahme des Kultbegriffs vor allem, wenn die Nähe von „Kult“ und „Kultur“ in den Mittelpunkt rückt (2). (1) Die Abwertung des römisch-katholischen „Kultus“ wird exemplarisch an einem frühen Aufsatz von Julius Smend deutlich, der unter dem Titel „Die selbständige Bedeutung des öffentlichen Gottesdienstes“ als erstes Kapitel seines Sammelbandes „Der evangelische Gottesdienst. Eine Liturgik nach evangelischen Grundsätzen“ im Jahr 1904 veröffentlicht wurde. Der Begriff des „Kultus“ wird hier primär zur Beschreibung des Negativen und im eigentlichen evangelischen Gottesdienst Überwundenen gebraucht. So heißt es schon auf den ersten beiden Seiten: „Zunächst ist der Gegensatz gegen die katholische Auffassung vom Kultus in Betracht zu ziehen. Wir sehen in dieser ausgesprochen unterchristliche Ideen wirksam werden. An das Judentum erinnert die gesetzliche Vorschrift, an das Heidentum die mangelnde Einheit des kultischen Zieles und die Dinglichkeit der dargebotenen Heilsgüter, an beide die grundsätzliche Zerreißung des Lebens in eine gottesdienstliche, heilige und eine weltlich-profane Sphäre. Alle diese drei Momente aber […] lassen sich auf Eine Ursache zurückführen: auf die Annahme eines Gottes, der, täglich neuer Versöhnung bedürftig, dem Gott und Vater Jesu Christi durchaus unähnlich ist. […] Demgegenüber steht der evangelische Glaube […]. Er schreibt seinem Volke kein Ritual vor, nach dessen Bestimmungen sich der wechselseitige Verkehr zu vollziehen hätte; er bedarf auch keiner Medien, keiner Fürsprecher und Anwälte, um den Seinen gewogen zu sein oder seine Gunst zu beweisen; er ist ihnen endlich nahe, auch wenn sie nicht in Tempeln knien.“98

Katholischer „Kult“ konnte als starr und autoritär, rückwärtsgewandt, traditionsverhaftet und nicht zuletzt aufgrund seiner (vermeintlichen) Überbetonung des anabatischen Elements als theologisch fehlerhaft gesehen werden. Eine wirklich lebendige Beziehung zum gegenwärtigen Glauben der Men97

KLEK: Erlebnis Gottesdienst, 203 Anm. 77. SMEND: Der evangelische Gottesdienst, 1f; vgl. auch SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, bes. 3f und 74–90 [Welche Aufgaben erwachsen der evangelischen Kirche für ihren Kultus aus dem gegenwärtigen Kampfe mit dem Katholizismus?]. – Vgl. zur Abgrenzung vom Katholizismus in der älteren liturgischen Bewegung auch KLEK: Erlebnis Gottesdienst, 25. 98

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

schen und eine genuine Entsprechung mit Aussagen des Evangeliums wurden diesem Kult nicht zugetraut.99 Damit stand römisch-katholisches Gottesdienstverständnis auch als Exemplum für den von Smend und Spitta massiv kritisierten restaurativen Historismus, wie er sich im 19. Jahrhundert etwa in den unterschiedlichen Agendenbewegungen erkennen ließ. Für Spitta ist die Aufgabe liturgischer Gestaltung gegenüber römisch-katholischem Formbewusstsein und protestantischer Formlosigkeit klar: „Wir alle müssen uns zusammenthun, hier Besseres, Evangelischeres zu schaffen.“100 Im gleichen Text gebraucht Smend dann für den zu suchenden eigentlichen und wahren evangelischen Gottesdienst das Wort „Kultus“ nicht mehr, sondern verwendet „Gottesdienst“ oder „kirchliche Feier“.101 Diesen wahren Gottesdienst sieht er – im Sinne Schleiermachers – dadurch gekennzeichnet, dass er von der „Tyrannei der Ethik“ und damit von seiner Verzweckung befreit „selbständige Bedeutung […] für das Leben der Gemeinde“ habe.102 (2) Besonders häufig und positiv nehmen Smend und Spitta den KultusBegriff aber auf, wenn es darum geht, den Gottesdienst als Kultus in den Kontext der Kultur/der Künste zu verankern und gleichzeitig seine Besonderheit im weiten Raum der Kultur zu betonen. „Kultus und Kunst waren immer beisammen“, so stellt Julius Smend grundlegend fest.103 Die Verbindung von Kunst und Kultus sehen Smend und Spitta – auch hier treue Schüler Schleiermachers – darin gegeben, dass beide als „Selbstzweck“ und daher als „darstellendes Handeln“ zu bestimmen seien.104 Gleichzeitig aber kennen Smend und Spitta die Problematik einer sich vor allem seit dem 19. Jahrhundert dezidiert autonom verstehenden Kunst und wissen um den potenziellen Antagonismus von Kult und Kunst. Julius Smend schreibt: „Heute, wo die Trennung der beiden Geschwister [Kunst und Kult, AD], den Gebildeten zumal, die freie Wahl läßt, suchen Tausende im Theater, im Konzertsaal, in der Gemäldegalerie Ersatz für die Erhebung der Seele, die ihnen kein Kultus mehr zu versprechen scheint.“105

99

Vgl. auch AVERBECK: Der Opfercharakter des Abendmahls, 118f. SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, 87. 101 Vgl. SMEND: Der evangelische Gottesdienst, 1–18 [Die selbständige Bedeutung des öffentlichen Gottesdienstes]. 102 SMEND: Der evangelische Gottesdienst, 14. 103 SMEND: Der evangelische Gottesdienst, 153. 104 Vgl. KLEK: Erlebnis Gottesdienst, 108f, und SMEND: Über Kultus, Kunst und Künste, in: ders.: Der evangelische Gottesdienst, 150–167. 105 SMEND: Der evangelische Gottesdienst, 154. 100

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3. Historisches: Das Wortgeschehen und die Liturgie

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In dieser Hinsicht gelte es, den „Vorrang“ des Kultus „auf seinem Gebiete“ zu wahren „und darum der Kunst eine dienende Stellung zu[zu]muten.“106 Im Miteinander der beiden genannten Perspektiven ergibt sich ein herausforderndes Wechselspiel zwischen Kult und Kultur in der älteren liturgischen Bewegung: Zum einen stoßen sich starr veralteter Kult und moderne (Gottesdienst-)Kultur ab, zum anderen erscheint gottesdienstlicher Kult als kulturaffines Phänomen im Kontext der modernen Gesellschaft. Wichtig wird es demzufolge, dass der Gottesdienst als „Darstellung“ des Glaubens und Lebens der jeweiligen konkreten Gemeinde verstanden wird, sich auf dieses bezieht und insofern ‚volkstümlich‘ ist.107 Anders als in einem bloß äußerlichen „Kultus“ soll die Gemeinde mithineingenommen werden in eine Feier, in der durch die „Feierstimmung“ der „Schauer seliger Andacht“ bei den Feiernden ausgelöst werden solle.108 Die Raumgestaltung109 sowie das musikalische Arrangement spielen bei den produktionsästhetischen Überlegungen der beiden eine entscheidende Rolle. Welche Rolle aber kommt dem Wort in der älteren liturgischen Bewegung zu? 3.2.3.2 Wort und Kult Friedrich Spitta beschreibt neben der „Darbietung des Wortes Gottes“110 die „Erhebung der Seelen zu Gott im Gebete“111 als das Entscheidende im evangelischen Gottesdienst und unternimmt so eine Reformulierung der Torgauer Formel Luthers im sprachlichen Gewand des späten 19. Jahrhunderts.112 Für Spitta ist klar, dass es dabei um die „Erfahrung eines jeden Einzelnen“ 106

SMEND: Der evangelische Gottesdienst, 155. – Vgl. dazu auch KLEK: Erlebnis Gottesdienst, 108–122. 107 Vgl. SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, VI.2f.24–28 u.ö. 108 SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, 89; vgl. ebd., 12. 109 Vgl. SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, 16–21.91–102 [in dem zuletzt genannten Zusammenhang entwickelt Spitta das Modell einer evangelischen Kirche als Zentralbau mit Platz für Orgel und Chor vorne, um so die Musik unmittelbar in das gottesdienstliche Gesamtgeschehen zu integrieren; es zeigt sich – wie oben bereits bei Rudolf Otto (Kap. 2.2.3.2 (2)), dass sich liturgische Reformüberlegungen kaum entwickeln können, ohne auch die Frage nach äußerer und innerer Architektur des Kirchenraumes zu bedenken]. Vgl. auch SMEND: Der evangelische Gottesdienst, 121–133. 110 SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, 78. 111 SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, 9. – Vgl. zur Zentralstellung des Gebets KLEK: Erlebnis Gottesdienst, 63–70. 112 Vgl. auch die Definition des Gottesdienstes bei Smend: Es gehe im Gottesdienst darum, „in ungehinderter Klarheit und Unmittelbarkeit gemeinsam zu erleben, was Gott den Seinen bereitet hat, sich dies Heil vor Augen zu stellen und in gemeinsamer Hinnahme seine Wahrheit und Wirklichkeit neu zu erfahren“ (SMEND: Der evangelische Gottesdienst, 9).

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

gehen müsse, da dies das Wesen des evangelischen Gottesdienstes ausmache.113 Diese Erhebung könne nicht geschehen, wenn sich die Gottesdienstbesucher „in einen Hörsaal versetzt“ fühlten, „wo ein Vortrag gehalten werden soll“. Die „Gebetsstimmung“ bleibe dann notwendig aus.114 Interessant ist, dass Spitta erkennt, dass der evangelische Gottesdienst römisch werde, wo die Predigt als Lehrrede derart in den Mittelpunkt rücke. Der Grund: Der Pfarrer werde in eine faktisch priesterliche Rolle gedrängt, in der er „alles ist und alles wesentliche thut“.115

Die Wiedergewinnung von „Feierlichkeit“ ist für Spitta mit der Wiedergewinnung von „Gebetsart“ unmittelbar verkoppelt,116 weswegen die Arbeit an einem feierlicheren Gottesdienst in jedem Fall auch als theologische Aufgabe gesehen werden kann. Dies ist der Ansatzpunkt, um die klassische Vorrangstellung der Predigt und der Bibel zu relativieren. Es müsse erkannt werden, so Spitta, „daß es für den Christen, der Gott kennt durch seine Offenbarung in heiliger Schrift, viele Mittel zur Erhebung des Gemütes zu Gott im Gebet giebt“.117 Lieder, Musik oder Schweigen spielten eine mindestens ebenso große Rolle wie die Worte der Bibel oder die Worte der Predigt. Man habe dies im Protestantismus weithin vergessen und das Paradigma des Tempels durch das Paradigma der Synagoge ersetzt.118 Dennoch möchte Spitta die Lesungen sowie die Predigt nicht gering schätzen. Im Gegenteil hebt er gerade die Schriftlesungen besonders hervor. Sie seien gegenwärtig im Protestantismus zwar nicht überall hochgeschätzt, könnten aber als „das edelste Mittel […] für die gottesdienstliche Erhebung des Gemütes“ betrachtet werden119 – freilich nur dann, wenn sie so gelesen werden, dass die Worte „in die Seelen der Zuhörer eindringen“.120 Auch die Predigt sei „ein Mittel neben anderen, ein vornehmstes vielleicht, um den Menschen zu Gott zu erheben.“121 Keinesfalls dürfe sie sich aber bereits durch ihre Länge so aus dem Gottesdienst herausheben, dass die anderen 113

SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, 76. SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, 10; vgl. auch aaO., 82. 115 SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, 85. 116 SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, 12. 117 SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, 14. 118 Vgl. SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, 15. – Durchaus können sich Smend und Spitta auch evangelische Gottesdienste ohne Predigt (etwa als reine Abendmahlsgottesdienste) vorstellen, vgl. KLEK: Erlebnis Gottesdienst, 84–88; vgl. die Ausführungen zum sogenannten „Liturgische[n] Gottesdienst“ in SMEND: Kirchenbuch, Bd. 1, XXXVII–XLVIII, und vgl. zur selbständigen Abendmahlsfeier ders.: Kirchenbuch, Bd. 2, XVIII–XXIII. 119 SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, 29. 120 SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, 30. 121 SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, 31. 114

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3. Historisches: Das Wortgeschehen und die Liturgie

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Teile des Gottesdienstes in den Hintergrund gedrängt werden.122 Ähnlich beschreibt dies auch Smend, wenn er von der „Predigt als gottesdienstliche[r] Rede“123 fordert, dass diese sich in das Ganze des Gottesdienstes einfüge124 und damit auch sprachlich anders gestaltet sei als eine belehrende oder moralische Rede.125 Gleichzeitig aber gewinne sie als „persönliches Zeugnis“ ihr Eigengewicht im Gottesdienst.126 Da sie aber nur ein liturgisches Stück unter anderen sei, könne sie auch als „relativ entbehrlich gelten“.127 Ihr Ziel im Gottesdienst liege vornehmlich darin, „zum Gebet [zu] treiben“.128 Der Gottesdienst wird als eine Art ‚Gesamtkunstwerk‘ (der Begriff begegnet so bei Smend und Spitta freilich nicht) gesehen; seine verschiedenen Sequenzen wirken zusammen, um jenes Wortgeschehen zu erreichen, das den eigentlichen Kern und den Mittelpunkt des Gottesdienstes ausmacht: das Erlebnis der seelischen Erhebung zu Gott im Gebet. „Der Höhepunkt des gottesdienstlichen Gebetes ist es, wenn die Gemeinde zusammen ihre Stimme zu Gott erhebt […].“129 Auf diesen Höhepunkt möchte Spitta durch die liturgische Inszenierung hinarbeiten. „In der ganzen Komposition des Gottesdienstes, wie in allen seinen einzelnen Teilen, besonders auch in den Gebeten und Bibelverlesungen des Geistlichen spiegele sich jene heilige Feierstimmung, welche den ergreifen muß, der in die Welt des Glaubens eintritt.“130

In dieser Hinsicht hält er auch die – liturgiehistorisch eigentümliche – Struktur in der oben dargestellten preußischen Agende, in der vor dem Fürbittengebet Präfation und Sanctus eingeschaltet werden, für theologisch stimmig. Hier werde die Gemeinde zu der Gebetsstimmung geführt, aus der heraus sie dann ihr Gebet sprechen könne.131 Spitta selbst möchte in der Schlussliturgie Präfation und Sanctus, Vaterunser und Benedictus aufeinander folgen lassen und ist sich sicher: „Zu höherer Höhe kann der Gottesdienst nicht emporsteigen […].“132 Es ist eine Art emotionale Mystagogie, 122 Vgl. zur Bedeutung der Predigt in der älteren liturgischen Bewegung auch CORNEHL: Art. Gottesdienst, 65. 123 Vgl. SMEND: Der evangelische Gottesdienst, 19–39 [Die Predigt als gottesdienstliche Rede]. 124 Vgl. SMEND: Der evangelische Gottesdienst, 21. 125 Vgl. SMEND: Der evangelische Gottesdienst, 22. 126 SMEND: Der evangelische Gottesdienst, 23 [Hervorhebung im Original]. 127 SMEND: Der evangelische Gottesdienst, 25. 128 SMEND: Der evangelische Gottesdienst, 31. 129 SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, 35. 130 SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, 89 [Interpunktion sic!]. 131 Vgl. SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, 42–44. 132 SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, 46.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

die Spitta mit diesen Worten beschreibt: Durch das geschickte Arrangement liturgischer Sequenzen werden Menschen ‚ergriffen‘133 und hin zu jenem Erlebnis geführt, das dann theologisch als Erlebnis des Gebets und des Gott-menschlichen Wort-Wechsels gedeutet wird. Das Problem, das sich dabei ergibt, ist ein drohender Kurzschluss von jenem Erlebnis, das im Gottesdienst möglich und durch das Miteinander von Raumgestalt, Musik und Wort machbar ist, und jenem Ereignis, das theologisch als jenseits aller Machbarkeit und Methodik liegend begriffen werden muss. Gerade wenn mit Luther die Frage nach dem verbum externum, dem äußeren Wort, in den Mittelpunkt rückt, bedeutet der Rekurs auf das „Erlebnis“ die Gefahr, diese Externität in das Erlebnis des (frommen) Subjekts hinein aufzulösen.134 Der Gottesdienst kann dann zu einer Form der bürgerlich-behaglichen Kulturinszenierung neben anderen, zum „Extremfall bürgerlich-affirmativer Kultur der Innerlichkeit“135 werden. Tendenzen in diese Richtung zeigen sich in der älteren liturgischen Bewegung durchaus. So wird etwa die Forderung nach einem Gottesdienst, der mit dem Leben der Menschen „da draußen“ zu tun habe („Der Gottesdienst ist für das Leben da!“)136 zum Ausgangspunkt für die Erkenntnis, dass „Volkssitte und Kirche“ neu in ihrer Verbindung entdeckt werden müssten.137 Friedrich Spitta kann über Pfarrer, die sich darüber ereifern, dass ein „Geistlicher bei irgend einem vaterländischen Feste einen Kriegergottesdienst gehalten hatte“, nur den Kopf schütteln.138 Eine volkstümlich-liberale und gleichzeitig erlebnisorientierte theologisch-liturgische Position wie die von Smend und Spitta mündet – wie sich zeigt – unmittelbar in jene Kriegsbegeisterung und Kriegstheologie, die sich spätestens zu Beginn des Ersten Weltkriegs als prekär erweist.139 133

Vgl. zu dem Verb „ergreifen“, das für Spitta eine wichtige Rolle spielt, nur SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, 64. 134 Vgl. zum „Erlebnis“-Begriff bei Smend und Spitta und in der gleichzeitigen evangelischen Theologie (vor allem bei Wilhelm Herrmann) KLEK: Erlebnis Gottesdienst, 190–194. 135 KLEK: Erlebnis Gottesdienst, 147. 136 SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, 25. 137 SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, 27. – An dieser Stelle wirkt sich auch die von Smend und Spitta durchaus zu Recht als reformatorische Wurzel wiederentdeckte Gemeinschaft im Gottesdienst (vgl. nur SMEND: Der evangelische Gottesdienst, 11–14) problematisch aus. 138 SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, 27. 139 Vgl. KLEK: Erlebnis Gottesdienst, 129f. – Interessant erscheint daher, wie in der gegenwärtigen liturgischen Diskussion Karl-Heinrich Bieritz zwar einen ähnlich produktionsästhetischen Ansatz vertritt, die Richtung aber genau umgekehrt. Es dürfe, so Bieritz, nicht darum gehen, die Erlebnisqualität des Gottesdienstes zu steigern, da dies bedeuten würde, dass sich der Gottesdienst in die problematischen Mechanismen eines Erlebnismarktes mit seinen Steigerungsbedürfnissen einfügt. Vielmehr müsste durch eine bescheidene Zurücknahme zu einer gerade in der Verweigerung des „Erlebnisses“ befreiend anderen Erfahrung verholfen werden. Bieritz schreibt: „Dem Christenglauben kommt in der postmodernen Erlebnisgesellschaft der Rang eines GegenZeichens zu, das auf alternative Lebensmöglichkeiten verweist“ (BIERITZ: Erlebnis Gottesdienst, 500).

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Otto Weber kritisierte die ältere liturgische Bewegung daher wegen ihres „kulturprotestantischen Methodismus“140. Es gehe ihr um die „Anbahnung des religiösen Erlebnisses“ durch künstlerische Mittel und aufgrund von didaktischen Überlegungen.141 Trotz aller Betonung der Kirchlichkeit hält Weber die Bewegung daher für „unkirchlich“; sie wolle an den Menschen etwas erreichen, nicht aber Gottes Wort zu seinem Recht kommen lassen.142 Ob man, wie Weber es hier tut, eine so scharfe Diastase zwischen dem Ziel, das Wort Gottes zu seinem Recht kommen zu lassen, und dem Ziel, die Inszenierung des Gottesdienstes im Blick auf seine Wirkung zu bedenken, aufrichten muss, erscheint mir bedenklich (vgl. anders unten Kap. 5). Als Warnung vor einer Einseitigkeit in der älteren liturgischen Bewegung aber kann Webers Einspruch durchaus Gültigkeit beanspruchen. Bedenkenswert erscheint er vor allem dort, wo er vor der immer neuen und jeweils auf die Gemeinde und ihre momentanen Bedürfnisse bezogenen Gestaltung des Gottesdienstes warnt. Er schreibt: „Der ‚schlichte Sonntagsgottesdienst‘ ist ernstlich im Begriff, Ausnahme zu werden.“143 In praktischer Hinsicht wurde die ältere liturgische Bewegung vor allem durch das 1906/08 in erster Auflage von Julius Smend herausgegebene „Kirchenbuch für Evangelische Gemeinden“ bedeutsam – ein Werk, das sich bewusst nicht „Agende“ nannte, um die Bedeutung des Variablen, immer neu und für jede einzelne Gemeinde unterschiedlich zu Gestaltenden hervorzuheben.144 Das Kirchenbuch möchte – und hier ist eine Parallele zu den Tendenzen des fast hundert Jahre später vorgelegten „Evangelischen Gottesdienstbuches“ zu erkennen – „der Freiheit im Aufbau der Gottesdienste möglichst viel Spielraum […] lassen.“145 Der Liturg ist daher herausgefordert, „die geeigneten Stücke aus den verschiedenen Abschnitten des Buches [für jeden Gottesdienst neu, AD] zusammenzustellen.“146 Neben der Wahrung des elsässischen Lokalkolorits (das Kirchenbuch versteht sich als Weiterentwicklung der Agendenarbeit im Elsaß) sind für Smend zwei weitere epistemologisch leitende Gesichtspunkte wichtig: Er möchte die verschiedenen Liturgietraditionen der Kirche aus „alle[n] Zeitalter[n]“ berücksichtigen; und es geht ihm (noch mehr) darum, „die übernommenen Formen kirchlicher Frömmigkeit der Überarbeitung zu unter-

140

WEBER: Gottesdienst und evangelische Verkündigung, 40 [Hervorhebung im Original]. WEBER: Gottesdienst und evangelische Verkündigung, 38 [im Original hervorgehoben]. 142 Vgl. WEBER: Gottesdienst und evangelische Verkündigung, 40 [Zitat ebd.]. 143 WEBER: Gottesdienst und evangelische Verkündigung, 42. 144 Vgl. KLEK: Erlebnis Gottesdienst, 40f. 145 SMEND: Kirchenbuch, Bd. 1, VII. 146 SMEND: Kirchenbuch, Bd. 1, VII [im Original hervorgehoben]. 141

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

ziehen, deren sie zu bedürfen schienen, um für die evangelischen Christen unserer Tage verständlich und im vollsten Sinne annehmbar zu werden.“147 Lokalkolorit, diachrone Ökumenizität bzw. Katholizität und Lebensnähe – diese drei Aspekte leiten das agendarische Werk Smends. Für die Gebetssprache hatte Julius Smend in seinen liturgischen Überlegungen selbst folgende Forderung aufgestellt: „Das Gebet im öffentlichen Kultus muß persönlich und reich an Wechsel sein wie die Predigt, aber nicht homiletisch-rhetorisch; es soll biblischen Geistes sein wie die Schriftlektion, und doch nicht zusammengesetzt aus Bibelzitaten; hymnischer Schwung soll ihm eignen wie dem Liede, aber zugleich der Charakter edelster Prosa.“148

Das Gebet soll also bedingt homiletisch, bedingt biblisch und bedingt hymnisch sein – und steht damit vor einer nicht geringen Herausforderung. Faktisch ist das Kirchenbuch durch eine reiche Anzahl von Gebetsformulierungen geprägt, die teilweise aus der Tradition übernommen, teilweise von Smend selbst formuliert wurden.149 Es liest sich wie eine umfangreiche liturgische Anthologie, die von dem jeweiligen Pfarrer in der Tat ein hohes Maß an eigener Vorbereitungsarbeit erfordert. Insgesamt spiegeln die Gebete die Auffassung von liturgischer Dramaturgie, wie sie sich aus den vorgestellten Überlegungen ergibt: Der Gottesdienst soll hinführen zum Gebet, zur Anbetung. Ich zeige dies, indem ich Passagen aus einem der 112 vorgeschlagenen „Gebete vor der Schriftverlesung“ vorstelle und auf die 64 zitierten „Dankgebete“ nach der Predigt blicke: Als erstes der zur Trinitatiszeit vorgeschlagenen Gebete vor der Schriftverlesung findet sich folgender, hier gekürzt wiedergegebener Text, der das Gottesdienstverständnis Smends gut zum Ausdruck bringen kann: „Herr Gott, himmlischer Vater. Wir sind in deinem Namen versammelt, dich anzubeten, und das Wort deines lieben Sohnes zu hören. Dazu bitten wir dich um deinen göttlichen Beistand. Ermuntere unsere Seelen, und mache sie fröhlich in dir. Sammle unsre Gedanken aus der Zerstreuung, und richte sie ganz auf dich und dein Wort, damit wir dich immer besser erkennen und immer herzlicher lieben, dir immer völliger vertrauen und deinen Geboten immer williger gehorchen mögen. […]“150 Die Fokussierung auf das Gebet wird hier ebenso deutlich wie die Konzentration auf die „Seele“ des einzelnen und deren Erhebung. Interessant erscheinen auch die komparativen Formulierungen: Der Gottesdienst begründet keineswegs etwas Neues, 147

SMEND: Kirchenbuch, Bd. 1, VI. SMEND: Der evangelische Gottesdienst, 41. 149 In der Einführung zur dritten Auflage des ersten Bandes des „Kirchenbuches“ schreibt Smend: „Der Wortlaut der Gebete wurde mannigfach umgeprägt, meist im Sinne größerer Annäherung an die Ansprüche der Neuzeit“ (SMEND: Kirchenbuch, Bd. 1, LI). 150 SMEND: Kirchenbuch, Bd. 1, 57. 148

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die nachfolgende Lesung des biblischen Wortes bedeutet nicht ein Neu-Konstituiertwerden im externen Wort, sondern ein Mehr an Erkenntnis, Liebe, Vertrauen und Gehorsam. Renatus Hupfeld kritisiert in seiner 1929 entstandenen Schrift zum „kultischen Gebet“ die Formulierungen der Smendschen Agende als „Sentimentalisierung der Gebetssprache“ und so als „offenbare[n] Irrweg“.151 Sprachlich lässt sich dies m.E. nur bedingt nachvollziehen; inhaltlich aber weisen die Gebete in der Tat eine Tendenz zur Verinnerlichung und primär emotionalen Bestimmung des Geschehens im Gottesdienst auf. Nach der Predigt mündet der Gottesdienst in den Dank. Hier schlägt Smend – wie bereits erwähnt – für die meisten Kirchenjahreszeiten die Präfation mit Sanctus vor.152 Auch die weiteren an dieser Stelle angeführten Gebete nehmen mit hinein in das Lob und verwenden dazu in aller Regel biblische Worte, vor allem aus den Psalmen (teilweise als Kombination verschiedener Psalmverse). Im Dankgebet nach der Predigt tritt das persönliche Wort des Predigers/Liturgen zurück – und die geprägten Worte der überlieferten Tradition werden bedeutsam, bevor dann mit dem Schlussgebet (Fürbittgebet) nochmals ein eigener und persönlicher Ton angeschlagen wird. In umgekehrte Richtung als die Kritik von Hupfeld geht die Kritik von Alfred Zillessen an dem Kirchenbuch Smends aus dem Jahr 1909. Zillessen möchte den „konservative[n] Zug“ der Liturgie überwinden und dem Leben der Gegenwart wieder mehr Bedeutung zuweisen.153 Biblische Wendungen seien in dieser Hinsicht als problematisch zu werten; auch die „orientalische Hypertrophie“, die sich in die Gebete einschleiche, habe mit „unserer deutschen Religiosität“ wenig gemein.154 Zillessen fragt: „Wer gibt uns ein Liturgienbuch, das unter strenger Verbannung der bei dem trefflichen Smend noch so starken archäologisch-antiquarischen Liebhaberei und unter dankbarer Verwertung seiner grossen schönen Fortschritte dazu hilft, dass unsre Gemeinden unsre Gebete wieder mitbeten können und mitbeten?“155 Dass Smends sprachliche Versuche von zwei Seiten zugleich Kritik erfuhren (wegen zu großer Sentimentalität und Zeitgemäßheit und wegen zu geringer Lebensnähe) spricht letztlich für diese und macht das Kirchenbuch (gerade in seinem Miteinander von biblischer Sprache, Sprache der liturgischen Tradition und Sprache der Gegenwart) bis heute zu einem interessanten und gegenwärtig zu wenig beachteten Dokument.

151

HUPFELD: Das kultische Gebet, 30. Vgl. nur SMEND: Kirchenbuch, Bd. 1, 109 [hier für die Trinitatiszeit]. 153 ZILLESSEN: Ein Kapitel vom liturgischen Gebet, 395. 154 ZILLESSEN: Ein Kapitel vom liturgischen Gebet, 398. 155 ZILLESSEN: Ein Kapitel vom liturgischen Gebet, 401. – Zusammen mit Karl Arper veröffentlichte Zillessen ein „Evangelisches Kirchenbuch“, das diesen Forderungen Rechnung tragen sollte. 152

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

3.2.4 Die neueren liturgischen Bewegungen: Sehnsucht nach dem Objektiven 3.2.4.1 Motive liturgischer Erneuerung Nach dem Ersten Weltkrieg avancierte die Liturgik in eine Stellung, die sie so im evangelischen Kontext bislang höchstens in den Hochzeiten der Auseinandersetzungen um die Agendenreform im 19. Jahrhundert schon einmal hatte. Dabei verbanden sich liturgietheoretische Überlegungen mit praktischen Entwürfen zur Neugestaltung und mit neuen Erfahrungen, die einzelne oder Gruppen mit dem Feiern von Gottesdiensten gemacht hatten. Die verschiedenen Bewegungen, die zusammengefasst meist als „neuere bzw. jüngere liturgische Bewegung“156 bezeichnet werden, entspringen trotz ihrer Unterschiedlichkeit einem gemeinsamen Quellgrund bzw. einer vergleichbaren motivationalen Ausgangssituation. Als Zeitgenosse beschreibt Renatus Hupfeld im Jahr 1926 vier unterschiedliche Motive, die sich in den Erneuerungsbewegungen zeigten: (1) Die stagnierenden oder nachlassenden Zahlen der Gottesdienstbesucher/innen ließen die Frage laut werden, warum evangelische Gottesdienste als nicht mehr anziehend erlebt werden (wogegen zeitgleich in katholischen Gottesdiensten nach wie vor ein sehr viel höherer Prozentsatz der Gemeindeglieder anwesend war).157 (2) Zudem führten die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs zu einem „neuen Willen zur Gemeinschaft“, der im individualistischen und bürgerlichen 19. Jahrhundert vielfach verloren gegangen war.158 Diesem Bedürfnis aber kamen evangelische Gottesdienste (auch hier: im Unterschied zu katholischen und trotz der Ansätze der älteren liturgischen Bewegung!) kaum nach. (3) Dieses Bedürfnis verband sich – so Hupfeld – mit einer „neue[n] Sehnsucht nach dem Ewigen, Göttlichen“. Man habe etwas gesucht, „das weit über das ‚Rationale‘ hinausführte, man suchte nach dem ‚Mysterium‘.“159 Auch hier habe, so ebenfalls Hupfeld, die Römische Messe etwas bieten können, was in den vielfach als nüchtern empfundenen evangelischen Gottesdiensten nicht (mehr) wahrnehmbar gewesen sei.160 (4) Schließlich sei in jenen Jahren eine verstärkte Suche nach „Lebensstil“ und „Form“ festzustellen gewesen, nach einer „ernsthaften

156

Vgl. nur BIERITZ: Liturgik, 544f. Vgl. HUPFELD: Wie sollen wir unsere Gottesdienste gestalten, 3f. 158 Vgl. HUPFELD: Wie sollen wir unsere Gottesdienste gestalten, 4; Zitat: ebd. [im Original hervorgehoben]. 159 HUPFELD: Wie sollen wir unsere Gottesdienste gestalten, 5. 160 Vgl. HUPFELD: Wie sollen wir unsere Gottesdienste gestalten, 5. 157

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geheiligten Lebensgestaltung“ – eine Suche, die verstärkt auch den Gottesdienst auf seine Leistung zur Formung des persönlichen Lebens befragte.161 Karl Ferdinand Müller führt ein weiteres Motiv an und benennt eine akute liturgische Krise, die sich seit der Zeit der Aufklärung bis in die Gegenwart fortgesetzt habe. Er schreibt: „Der Gottesdienst der Evangelischen Kirche ist seit den Tagen der Aufklärung und des Rationalismus zunehmend in Unordnung geraten, verkümmert und zum Teil verfallen. Hieran hat auch die Liturgische Restauration im 19. Jahrhundert trotz ernsthafter Bemühungen nichts Wesentliches zu ändern vermocht.“162 – Das Bild von einer ‚Liturgie in Ruinen‘, der nun endlich aufgeholfen werden müsse, erinnert an die Skizze zur liturgischen Entwicklung von Paul Graff, wird aber der realen Gottesdienstsituation sowie der Erfahrung der Gemeinden mit dem Gottesdienst in toto kaum gerecht.

Insgesamt spricht vieles dafür, die Situation nach dem Ersten Weltkrieg als eine zu begreifen, in der das in der Entwicklung der Neuzeit befreite Subjekt seiner Freiheit müde geworden war und mit einiger Erschöpfung Wege der Erholung suchte. Nach dem Jahrhundert des Individualismus und Subjektivismus war folglich eine „Sehnsucht nach dem Objektiven, nach Gemeinschaft und Transzendenz“ zu greifen.163 Die Gefahr dieser Motivationslage bestand in der „Idealisierung der Vergangenheit“ sowie in der „Abneigung gegen die ungeistige Welt der Neuzeit“ – beides Folgen der Abwendung vom Liberalismus.164 Dass Vertreter der liturgischen Bewegung (sowohl auf evangelischer als auch auf katholischer Seite) antidemokratische Optionen vertraten und sich teilweise als besonders affin zu den Positionen des Nationalsozialismus erwiesen, ist ein Schatten, den einige ihrer Vertreter auf diese Bewegungen werfen.165 In der Krise der Neuzeit, des Subjektivismus und Individualismus konnte das gesuchte Objektive unter anderem in der neuerlichen Hinwendung zur katholischen Liturgie in ihrer geprägten Form gefunden werden, die etwa Romano Guardini als „Ausdruck des Objektiven und Gemeinsamen“ wie161

Vgl. HUPFELD: Wie sollen wir unsere Gottesdienste gestalten, 6f. MÜLLER: Die Neuordnung des Gottesdienstes, 202. 163 SCHMIDT-LAUBER: Art. Liturgiewissenschaft/Liturgik, 390. 164 SCHMIDT-LAUBER: Art. Liturgiewissenschaft/Liturgik, 389. 165 Vgl. z.B. Ildefons Herwegen (1874–1946), der den Nationalsozialismus zunächst engagiert begrüßte und 1933 eine Wesensverwandtschaft zwischen Faschismus und liturgischer Bewegung konstatierte, sich allerdings bald von dieser Position abwandte. – Dass sich keineswegs die gesamte liturgische Bewegung dem Nationalsozialismus öffnete, zeigt etwa die Biographie von Karl Bernhard Ritter (1890–1968), der sich 1934 der Bekennenden Kirche anschloss, oder Wilhelm Stählin (1883–1975), der diesen Schritt bereits 1933 tat. Allerdings unterstützte auch die von Stählin und Ritter mitgetragene Berneuchener Bewegung eine bestimmte Spielart des ‚völkischen‘ Denkens: Das „Volk“ konnte im „Berneuchener Buch“ (1926) als „Schöpfungsordnung“ (aaO., 156) gesehen werden, worin eine Überwindung der „atomistische[n] Denkweise“ des Liberalismus und Individualismus erkannt wurde (aaO., 158). 162

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derentdeckte166 und die auch auf evangelischer Seite zahlreiche Bewunderer und Sympathisanten fand. Eine andere Strömung der theologischen Entwicklung im Protestantismus suchte den als prekär empfundenen Liberalismus durch das „Wort Gottes“ zu überwinden. So wirkte Karl Barths „Römerbrief“ 1918 als Fanal einer Sehnsucht nach dem, was sich „durch das Historische hindurch“ als der „Geist der Bibel“, der „ewige Geist“ beschreiben lässt – so Barth im Vorwort zur ersten Auflage.167 Auch liturgisch konnte sich die Konzentration auf das „Wort Gottes“ in jenen Jahren Ausdruck verschaffen – so etwa in der Beschreibung des „Wesen[s] des evangelischen Gottesdienstes“ durch Paul Althaus168 oder (anders gelagert) in der liturgiepraktischen Arbeit der Alpirsbacher, die eine Erneuerung des Wort-Charakters des Gottesdienstes durch eine Wiederbelebung des gregorianischen Gesangs erwarteten.169 Die augenfällige Parallele zwischen der Situation nach dem Ersten Weltkrieg und dem, was gegenwärtig als „Wiederkehr der Religion“ oder „religious turn“ bezeichnet wird, kann ich an dieser Stelle nur andeuten.170 Die Erfahrung eines krisenhaften Scheiterns einer fortschrittsoptimistischen Epoche führte damals wie heute zu einer Neubesinnung auf das, was jenseits immanenter Vergewisserungsstrategien noch möglich erscheint.171 Der Vergleich zwischen den Wegen damals und heute würde m.E. vor allem lohnen, um die Sackgassen, in die eine romantische spirituelle Sehnsucht in theologischer, sozialer und politischer Perspektive führen konnte, sensibel wahrzunehmen (vgl. ausführlicher Kap. 5).

3.2.4.2 Friedrich Heiler oder: Objektives und Subjektives im Miteinander Wo das „Objektive“ gesucht wurde, bedeutete dies allerdings keineswegs automatisch eine Kritik am neuzeitlichen Prinzip der Subjektivität. Dies wird exemplarisch und charakteristisch bei dem Religionswissenschaftler 166 GUARDINI: Vom Geist der Liturgie, 12; vgl. zu Guardini: ALBERT: Vom Kult zum Logos, 108–114; GOERGEN: Glaubensästhetik, 41–61 [Die Wiederentdeckung des Kults. Der „Halt von unten“]. 167 BARTH: Der Römerbrief, XI. 168 Vgl. ALTHAUS: Das Wesen des evangelischen Gottesdienstes, bes. 22; dort heißt es: „Der ‚Gottesdienst‘ ist Versammlung der Gemeinde. Aber die Versammlung bedeutet ‚Gemeinde‘ und ist ‚Gottesdienst‘ erst, indem sie Versammlung durch das Wort, um das Wort ist. […] So müssen wir den Begriff des Wortes Gottes in den Mittelpunkt stellen, wenn wir nunmehr das Wesen des evangelischen Gottesdienstes grundlegend zu bestimmen suchen.“ 169 Vgl. MÜLLER: Die Neuordnung des Gottesdienstes, 265–269. 170 Vgl. dazu das oben zu Manfred Josuttis bzw. Stephan Weyer-Menkhoff Ausgeführte (Kap. 2.2.3.2 (2)); vgl. KÖRTNER: Wiederkehr der Religion. 171 Vgl. hierzu auch JOSUTTIS: Esoterik, der den gegenwärtigen Trend der Esoterik in pastoraltheologischer Perspektive untersucht und eine genuin kirchliche und christliche Esoterik mit dem, was jenseits der Kirche an Esoterik geboten wird, in einen Dialog führt.

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und Theologen Friedrich Heiler (1892–1967) deutlich, der als gebürtiger Katholik und (meist) praktizierender Protestant zu einem der Protagonisten der von ihm mit begründeten „Hochkirchlichen Bewegung“ wurde und von 1929 bis 1933 Vorsitzender der „Hochkirchlichen Vereinigung“ sowie von 1947 bis 1962 der aus ihr hervorgegangenen Evangelisch-Ökumenischen Vereinigung Augsburgischen Bekenntnisses war. Ich greife zur Darstellung dieser Position, die Objektives und Subjektives organisch verbindet, auf eine kleine Schrift Heilers aus dem Jahr 1921 zurück, in der er den katholischen und den evangelischen Gottesdienst als zwei liturgische Grundmodelle vorstellt. Zunächst zeigt sich Heiler fasziniert von der „organische[n] Größe“172 der katholischen Messe und beschreibt deren stimmige Ästhetik: „Die ganze Liturgie ist aus einem Guß. Jedes, auch das kleinste Stück, hat Sinn und Bedeutung im großen Ganzen; diese Liturgie ist vergleichbar einem gotischen Dom, in dem alles dem Ewigen zustrebt und alles uns ein lautes ‚sursum corda!‘ zuruft.“173

Gleichzeitig sei die katholische Liturgie durch „strengste Objektivität“ gekennzeichnet.174 „Die katholische Liturgie ist das objektivste religiöse Gebilde, das man sich denken kann. Alles ist bis ins Kleinste und Letzte festgelegt. Dem Liturgen wie der Gemeinde ist jede Freiheit in der Gestaltung des Gottesdienstes entzogen. Jede Körperbewegung, jede Geste, jedes Wort ist genau geregelt. Die peinlich sorgsame Ausführung des Rituals ist strengste Pflicht. […] Eine kirchliche Behörde zu Rom […] regelt alle liturgischen Fragen einheitlich für die ganze Welt […].“175

Die kirchlich gesetzte äußere Verbindlichkeit der Gestaltung und Ausführung macht den Gottesdienst zum objektiv Gegebenen. Gleichzeitig aber eröffne gerade diese Objektivität die größtmögliche Freiheit der Subjektivität: Die Messe sei zwar wörtlich festgelegt, in ihr aber existiere der „denkbar freieste Spielraum für die fromme Subjektivität“:176 „Die versammelte Gemeinde, die am heiligen Opfer teilnimmt, hat vollkommene Freiheit in ihrer subjektiven Andacht. Der Priester am Altar vollzieht den sakramentalen Opferakt und spricht die feierlichen Gebete der Kirche, von den anwesenden Gläubigen geht ein jeder seine eigenen Wege.“177

172

HEILER: Katholischer und evangelischer Gottesdienst, 10. HEILER: Katholischer und evangelischer Gottesdienst, 10. 174 HEILER: Katholischer und evangelischer Gottesdienst, 13. 175 HEILER: Katholischer und evangelischer Gottesdienst, 13. 176 Vgl. HEILER: Katholischer und evangelischer Gottesdienst, 13–16 [Zitat: 14]. 177 HEILER: Katholischer und evangelischer Gottesdienst, 14. 173

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Die werkästhetische Objektivität ermöglicht nach Heiler die rezeptionsästhetische Subjektivität – und der katholische Gottesdienst erscheint als „complexio oppositorum“178 von „starre[r] Objektivität“ und „beweglicher Subjektivität“179. Heiler formuliert es so: „Die äußere kirchliche Form bleibt völlig unangetastet, aber in dieser äußeren Form lebt die Herzensmystik, die alles wandelt und erfüllt. So wird die Messe zu einer mystischen Himmelsleiter für den Zelebranten wie für viele gottbegnadete Kirchenbesucher.“180

Die Subjektivität, wie sie gerade in der katholischen Messe ermöglicht werde, hat für Heiler hohen Wert. Dies zeigt sich an seiner Beschreibung des zweiten Gottesdienstmodells, des evangelischen Gottesdienstes, den er als „persönliche[n] Gottesdienst“ charakterisiert.181 Während der katholische Gottesdienst durch das „Gesetz der Form“ gekennzeichnet sei, walte im evangelischen Gottesdienst „das Recht des Geistes“.182 Mit dem „Geist“ ist nun aber nicht primär oder gar ausschließlich der Heilige Geist gemeint, sondern vor allem der die Persönlichkeit des Liturgen einerseits, die Persönlichkeiten der versammelten Gemeinde andererseits bestimmende „Geist“. Die Aufgabe des Gottesdienstes für Liturg bzw. Gemeinde beschreibt Heiler wie folgt: „Eine religiöse Persönlichkeit soll das persönliche Leben der Gemeinde zusammenfassen und zum Bewußtsein bringen, wecken und entzünden, steigern und vertiefen. Und die Gemeinde soll sich von einer frommen Persönlichkeit leiten und lenken lassen, ihr sich ganz anvertrauen und durch sie sich führen lassen in die tiefsten Geheimnisse des Göttlichen. Als persönlicher Gottesdienst stellt der evangelische Gottesdienst die denkbar höchsten Anforderungen an den Liturgen wie an die Glieder der Gemeinde.“183

Daraus folgt für Heiler: „Wo aber die Persönlichkeit fehlt, da werden die in den Herzen schlummernden Gotteskräfte nicht zum Leben erweckt […].“184 Die Krise des gegenwärtigen evangelischen Gottesdienstes kann Heiler auf dieser Grundlage auch und vor allem als eine Krise der verantwortlichen Liturgen begreifen. Wo Liturgen als entsprechende Persönlichkeiten fehl178

HEILER: Katholischer und evangelischer Gottesdienst, 18. HEILER: Katholischer und evangelischer Gottesdienst, 9. 180 HEILER: Katholischer und evangelischer Gottesdienst, 16; vgl. ähnlich auch HUPFELD: Das kultische Gebet, 22. 181 HEILER: Katholischer und evangelischer Gottesdienst, 31 [im Original hervorgehoben]. 182 HEILER: Katholischer und evangelischer Gottesdienst, 31. 183 HEILER: Katholischer und evangelischer Gottesdienst, 32. 184 HEILER: Katholischer und evangelischer Gottesdienst, 32; vgl. ähnlich EGER: Das gottesdienstliche Gebet, 439f. 179

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3. Historisches: Das Wortgeschehen und die Liturgie

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ten, werde es nicht zu der gesuchten gottesdienstlichen Erfahrung kommen. Aber auch die Gemeinde müsse entsprechend ‚reformiert‘ werden, wenn sie den Gottesdienst wieder als das erleben soll, was er eigentlich ist.185 Was Heiler hier beschreibt, ist eine auf extreme Weise ins Subjektive gewandte Schleiermachersche Liturgik. Sie hat auch Auswirkungen darauf, wie Heiler das Wort im Gottesdienst versteht. „Das lebendige Wort“ nämlich gilt ihm als „der unmittelbare Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit.“186 Für die Predigt im Gottesdienst, die Heiler als den konkretesten Ausdruck dieses lebendigen Wortes erkennt, gilt dann, dass sich in ihr „das Gottesleben von Persönlichkeit zu Persönlichkeit“ übertrage, „wenn Gottgeweihte [sic!] den Mund auftun, die in lebendigem Gottesumgang stehen und darum zeugen können von Gottes Macht und Liebe“.187 Der Wortcharakter des evangelischen Gottesdienstes konstituiert sich folglich in der Weitergabe persönlicher Gotteserfahrung und persönlicher Betroffenheit von Gott. In diese Linie fügt Heiler auch die Schrift in ihrer Bedeutung ein; sie sei Quelle evangelischer Frömmigkeit, da sie den Zugang zum „persönlichen Gottumgang der höchst-begnadeten religiösen Genien“ der Vergangenheit, von denen die Bibel erzählt bzw. die für deren Verfassung verantwortlich sind, bietet.188 Von einer „Gottespräsenz“ geht Heiler dennoch auch im evangelischen Gottesdienst aus; allerdings erscheint ihm diese – hier mystisches Gedankengut aufnehmend – als eine, die sich „tief innen, in den Herzen der Frommen“ lokalisieren lasse.189 Diese mystische Bestimmung von Religion und Frömmigkeit als das, was im Menschen ist, macht es Heiler möglich, den evangelischen Gottesdiensttyp wohlwollend zu betrachten und als einen Weg zu sehen, wie es zur Vertiefung der Gotteserfahrung aufgrund der Anregung durch andere religiöse Virtuosen kommen kann. Gleichzeitig aber ist es ihm ebenso möglich, den katholischen Gottesdiensttyp zu würdigen, da auch dieser dem Einzelnen die Freiheit zur Entfaltung seiner religiösen Subjektivität lasse, die als mystisch bestimmte Weise der Frömmigkeit geradezu zum obersten Ziel jedes Gottesdienstes wird. Heilers eigene liturgische Wege führten ihn in den Folgejahren dazu, eine Messform zu vertreten, die sich stark an das katholische Vorbild anlehnt, unter der Voraussetzung der Vorgegebenheit des Objektiven die in185

Vgl. HEILER: Katholischer und evangelischer Gottesdienst, 45; eine echte Reform des Gottesdienstes erwartet sich Heiler davon, „die Menschen [zu] reformieren“, nicht aber zunächst die Liturgie zu verändern. 186 HEILER: Katholischer und evangelischer Gottesdienst, 33. 187 HEILER: Katholischer und evangelischer Gottesdienst, 34. 188 HEILER: Katholischer und evangelischer Gottesdienst, 35. 189 HEILER: Katholischer und evangelischer Gottesdienst, 40.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

nere subjektive Freiheit der Gemeinde wie des Liturgen ermöglichen und so Kultisches und Mystisches verbinden sollte.190 Die Predigt sollte daher zurücktreten, das Altarsakrament sowie die liturgischen Gesänge hingegen wurden betont.191 So zeigt sich bei Heiler, dass die Suche nach ‚Objektivität‘ die prekäre Subjektivität der Neuzeit gerade nicht notwendig überwindet, sondern im Wechselspiel von objektiver Vorgabe und subjektiver Freiheit bestärken kann. Bereits der Terminus des Objektiven bedeutet, dass es umgekehrt ein Subjekt gibt, das sich dieses Objekt unterwirft und keineswegs umgekehrt von ihm her hinterfragt bzw. neu geformt wird. Das seiner selbst gewisse ‚liturgische‘ Subjekt feiert – rückgebunden an die Tradition oder die Kirche – ‚seine‘ aus der eigenen Perspektive stimmige Liturgie und grenzt sich dadurch unter Umständen deutlich von anderen ab. So jedenfalls der Vorwurf eines gewissen Elitarismus, der gegenüber den Reformbewegungen nicht selten erhoben wurde.192 Damit ist es nicht der das ‚Ich‘ möglicherweise verunsichernde Anspruch eines ‚Du‘, der im externen Wort entgegentritt und im Gottesdienst gesucht oder erwartet wird, sondern es geht eher um „eine ausgeprägte kultische Romantik“ (so Friedrich Niebergall193), die wie die Romantik des 19. Jahrhunderts das eigene Ich eher überhöht, anstatt es zu relativieren. Was dann primär befriedigt würde, wäre nicht mehr als der „‚Hunger der Sinne‘“, wie ebenfalls Niebergall meinte.194 Die Leistungen und treffenden Einsichten, die sich bei Heiler und anderen finden, sollen keineswegs geschmälert werden. Es sollte vielmehr gezeigt werden, dass der Rekurs auf das Objektive kein Heilmittel gegen das empfundene Problem des Subjektiven bedeutet – im Gegenteil. Mit dieser Einsicht im Hintergrund blicke ich nun auf die Berneuchener Bewegung, die als die theologisch umfassendste und kirchenpolitisch einflussreichste

190 Eine ähnliche Verbindung von Kultus und Mystik zeigt sich auch bei Rudolf Otto; vgl. dazu CORNEHL: Art. Gottesdienst, 72, sowie oben Kap. 2.2.3.2 (2) a. – Charakteristisch scheint es als zeitgleiches Parallelphänomen auch, wie die Lutherrenaissance Luthers Schriftprinzip und Schrifthermeneutik in ein Wechselspiel von Subjektivität und Objektivität eingetragen hat, bei dem es letztlich zu einem Sieg des Subjektivismus kam. So beschreibt Karl Holl das Ziel der Auslegung der Bibel nach Luther als ein Verstehen, bei dem „das eigene Innenleben […] in den Gegenstand“ hineingetragen werde (HOLL: Luthers Bedeutung, 567). Vgl. dazu ausführlicher ASSEL: Der andere Aufbruch, 59–163. 191 Vgl. Hochkirchliche Vereinigung des Augsburger Bekenntnisses: Die deutsche Messe [1939]. 192 Vgl. nur HUPFELD: Liturgische Irrwege und Wege, 4, sowie die Kritik von Smend an Rudolf Otto und Gustav Mensching aus dem Jahr 1925: „Es handelt sich um einen gewissen Feinschmecker-Kult und Ästheten-Ritus, aber nimmermehr um Gemeindegottesdienst!“ (zitiert bei KLEK: Erlebnis Gottesdienst, 244). 193 NIEBERGALL: Die gegenwärtigen kultischen Reformen, 18. 194 NIEBERGALL: Die gegenwärtigen kultischen Reformen, 20.

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der liturgischen Erneuerungsbewegungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten kann. 3.2.4.3 Wege liturgischer Erneuerung: Das Beispiel der Berneuchener Auch die „Berneuchener Bewegung“, zu der in den 1920er Jahren etwa Christian Geyer, Wilhelm Stählin oder Karl Bernhard Ritter gehörten, strebte die Erneuerung der Messform des Gottesdienstes für die evangelische Kirche an. Ihr Ansatz greift dabei aber weiter als der der „Hochkirchlichen Vereinigung“; intendiert ist eine Veränderung der gesamten Kirche auf der Grundlage eines neu verstandenen und vor allem erneuert gefeierten Gottesdienstes. Dieser grundlegende Anspruch wird bereits im „Berneuchener Buch“ aus dem Jahr 1926 formuliert. Das Buch setzt ein mit der Diagnose einer umfassenden „Not der Kirche“,195 die in der Gegenwart verlernt habe, was es heißt, dass sie allein als „Kirche des Evangeliums“ Berechtigung zu ihrem Dasein habe.196 Nur eine aus der „Grundzelle“ der „aus Wort und Sakrament gezeugte[n] lebendige[n], darstellende[n] und werbende[n] Gemeinde“ erneuerte Kirche könne die gegenwärtige Not überwinden und ausstrahlende Wirkung haben.197 In der 1955 erschienenen Schrift „Credo ecclesiam“ unterstreicht die aus den Berneuchenern 1931 hervorgegangene Michaelsbruderschaft diesen Anspruch nochmals. Evangelium, Schrift, Kirche, Gottesdienst und Ordnung sollen – so der Ansatz dieses Papiers – in ihrem Zusammenhang neu entdeckt werden.198 Renatus Hupfeld erkennt die Stoßrichtung des Textes treffend und schreibt zum Anliegen der Michaelsbruderschaft: „[…] nur durch eine Reinigung des Gottesdienstverständnisses kann die rechte Ordnung der Kirche wiedergewonnen werden.“199

Ich nehme die vielgestaltige Bewegung der Berneuchener und der Michaelsbruderschaft im Folgenden nur knapp in ihrem Verständnis von „Kultus“ und „Wort Gottes“ und in den Auswirkungen, die dieses Verständnis auf die Gottesdienstgestaltung hat, wahr. Dass „Gottes Wort“ die Grundlage der (evangelischen) Kirche ist, wird auch für die Berneuchener zur Basis ihres Nachdenkens. Allerdings sehen sie, dass „Gottes Wort“ in der Geschichte der evangelischen Kirche und in der Gegenwart auf dreifache Weise problematisch interpretiert worden sei: 195

Vgl. Das Berneuchener Buch: bes. 15–23. Das Berneuchener Buch: 16. 197 Das Berneuchener Buch: 54. 198 Vgl. Evangelische Michaelsbruderschaft: Credo ecclesiam. 199 HUPFELD: Erneuerung der evangelischen Kirche, 395. – Hupfelds Text ist eine kritische Auseinandersetzung mit den kirchenpolitischen und theologischen Forderungen der Schrift „Credo ecclesiam“. 196

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Einerseits habe man es dogmatisch instrumentalisiert und „zu einer Sammlung erklärender und beweisender Belegstellen für ein begrifflich theologisches Denken“ gemacht.200 Es sei zum „papierene[n] Papst“ der Evangelischen geworden.201 Andererseits sei es in der jüngeren Entwicklung zu einer Relativierung des Wortes im Zuge der historischen Kritik gekommen, die aus dem „Wort Gottes“ das mehr oder weniger interessante und bedeutsame Wort der Vergangenheit gemacht habe.202 Drittens schließlich sei es – bereits bei Luther selbst – zu einer Verengung des Wortverständnisses gekommen: Man habe „das gesprochene und geschriebene Wort“ zu weit in den Vordergrund gerückt – und dabei das lebendige Wort mehr und mehr verdrängt.203 Folglich sei auch die Verkündigung eingeengt worden auf die mündliche Rede der Predigt und das Anhören der Predigt204 – eine Entwicklung, die den Gottesdienst im evangelischen Bereich in ein „Torso aus der [alten, AD] Meßordnung“205 verwandelt habe. Auf diesem Hintergrund profilieren die Berneuchener ein dynamisches Wortverständnis, das auf das Wechselgeschehen von Ich und Du, von Wort und Antwort verweist.206 Es geht um das „lebendige Wort“, über das die Berneuchener Folgendes schreiben: „Nur das lebendige Wort, die gegenwärtige Gleichnisrede, im flutenden Leben geformt und gesprochen, nicht der Buchstabe der Schrift, ist die Waffe der Wahrheit.“207 Der zitierte Satz lohnt in zweifacher Hinsicht der genaueren Betrachtung: Zum einen fällt in ihm das für die Hermeneutik der Berneuchener fundamental bedeutsame Wort „Gleichnis[rede]“, zum anderen zeigt sich eine binäre Gegenüberstellung von lebendigem Wort und Buchstaben der Schrift, die zu problematischen Konsequenzen führt. (1) Der Begriff des Gleichnisses, der eng mit dem Begriff des Symbols verbunden ist, wird im Berneuchener Buch nicht eindeutig definiert. Allgemein steht „Gleichnis“ für alle Formen, in denen, mit denen und durch die ein Inhalt verbunden sei, der über die äußere Form hinausgeht.208 Er steht damit für das unauflösbare Ineinander von Form und Inhalt, das die Ber-

200

Das Berneuchener Buch: 25f. Das Berneuchener Buch: 27. 202 Vgl. Das Berneuchener Buch: 29f. 203 Das Berneuchener Buch: 50. 204 Vgl. Das Berneuchener Buch: 104. 205 Das Berneuchener Buch: 51. 206 Vgl. Das Berneuchener Buch: bes. 90f. 207 Das Berneuchener Buch: 93. 208 Vgl. Das Berneuchener Buch: 99; vgl. auch aaO., 46. 201

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neuchener betonen.209 Die Anklänge an die Sprachformen der Reflexionen zum Sakrament („in, mit und unter“) in der Bestimmung des Gleichnisses sind nicht zufällig. Denn es geht darum, dass das Gleichnis zum Symbol im theologischen Sinn wird, zum „Hinweis des Geschöpfes auf den Schöpfer, zum Hinweis des Irdischen und Vergehenden auf das Jenseitige und Kommende“.210 Damit gilt, dass jedes „Gebiet des Lebens“ zum Gleichnis bzw. Symbol in diesem Sinne werden könne.211 Darauf hinzuweisen, „wie die Wirklichkeit der Welt an konkreten Orten zum Gleichnis wird“, sei zentrale Aufgabe der Theologie:212 „Der Glaube redet im Gleichnis, in dem die Wirklichkeit ihre Transparenz wiedergewinnt.“213 (2) Die Konzentration auf den „Buchstaben der Schrift“ hat – nach Meinung der Berneuchener – zu problematischen Verengungen geführt und den Protestantismus in manchen Phasen seiner Entwicklung auf eine pädagogische Anstalt reduziert; in liturgischer Hinsicht sei die Verkümmerung des Gottesdienstes aufgrund der Predigtdominanz die unmittelbare Folge. Die Einzeichnung des Wortes in den Begriff des Gleichnisses bzw. Symbols dient im Berneuchener Buch dazu, das Wort weiter zu fassen und aus seiner Verengung auf das biblische Wort bzw. die Predigt zu befreien. Die binäre Formulierung in dem oben zitierten Satz weist nun allerdings auf eine Tendenz im Ansatz der Berneuchener hin, die angesichts der Probleme einer Bibel- und Predigtreduktion nun umgekehrt zu einseitigen Schlussfolgerungen kommt. So heißt es im Berneuchener Buch: „Für manche Menschen – für alle wenigstens zu manchen Zeiten – ist die liturgische Form viel symbolkräftiger als die freie Rede eines Predigers.“214 Es ist evident, dass sich der Fokus des Interesses damit weg von dem biblischen Wort und hin zu anderen liturgisch-symbolischen Formen verschiebt. Den Gottesdienst zeichnen die Berneuchener ein in das dynamische, gleichnishaft-symbolische Wortgeschehen – und können dabei implizit auf Luthers Torgauer Formel zurückgreifen und den Gottesdienst als Miteinander von Verkündigung des Wortes Gottes (in dem geschilderten weiten Sinn!) und Antwort der Gemeinde beschreiben.215 Dem entspricht dann 209 Vgl. Das Berneuchener Buch: bes. 97–104; vgl. aber auch aaO., 80: „Wesen und Form leben ineinander und miteinander, und eine Verbildung der Form kennzeichnet immer auch eine Verkennung des Wesens der Wahrheit.“ 210 Das Berneuchener Buch: 101. 211 Das Berneuchener Buch: 102. 212 Das Berneuchener Buch: 78; theologisch präziser gegenüber dem Gleichnis- und Symbolbegriff erscheint Stählins Begriff des „Mysteriums“; vgl. STÄHLIN: Mysterium, bes. 15–56. 213 Das Berneuchener Buch: 82f. 214 Das Berneuchener Buch: 108. 215 Vgl. Das Berneuchener Buch: 104.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

auch eine andere, weite Bestimmung der Liturgik als „Lehre vom Gleichnischarakter des menschlichen Lebens, wie er in dem Handeln der Kirche anschaulich wird.“216 Insgesamt gilt: „Es ist also der Sinn des evangelischen Gottesdienstes, in leiblicher Gestaltung und sinn-bildlicher Darstellung die Verkündigung des Wortes Gottes und die von dem Wort Gottes getroffene Gemeinde zu verwirklichen. Damit wird der Gleichnischarakter des gesamten Lebens offensichtlich und das gesamte menschliche Leben zur Offenbarungsstätte Gottes geweiht.“217

Der Gottesdienst wird damit aus seiner protestantischen Intellektualisierung befreit und neuerlich als leibliches Geschehen bedacht. „Wahrheit“ habe mit „Leiblichkeit“ zu tun. Es gehe daher um das Stehen, Sitzen, Schreiten, Knien, die Handhaltung, die Kleidung etc., die allesamt nicht einfach als Adiaphora betrachtet werden, sondern als gleichnishafte menschliche Ausdrucksweisen.218 Diese müssten gegenwärtig wiedergewonnen werden, womit eine Restitution des „Formwillen[s]“ der evangelischen Kirche insgesamt verbunden sein müsse.219 Aus der Berneuchener Bewegung gingen die liturgischen Entwürfe „Das Heilige Abendmahl“ (1926), „Die Ordnung der deutschen Messe“ (21937), „Die Ordnung der Messe“ (1950) und „Gebete für das Jahr der Kirche“ (1948) hervor.220 Im Vorwort zur zweiten Auflage der „Ordnung der deutschen Messe“ sprechen die in dem Text nicht namentlich genannten Herausgeber Karl Bernhard Ritter und Wilhelm Stählin von ihrer „Überzeugung, daß das Gebet und das Handeln der Kirche der festen Ordnung bedarf“.221 Dieser Satz ergibt sich aus dem theoretischen Programm des Berneuchener Buches an sich keineswegs zwingend. Wenn allein die Bedeutung der Form betont wird, so müsste dies noch keinesfalls bedeuten, dass es immer um eine feste Form gehen muss.222 Er wird aber so begründet, dass „eine wild wuchernde Liturgik, die kein anderes Gesetz in sich trägt als die ästhetische Freude an dem, was feierlich, oder die romantische Liebe zu dem, was altertümlich ist, oder die Hoffnung auf Eindruck und Wirkung“ „nicht dem gottesdienstlichen Leben der Kirche“ diene.223 – Was in den agendarischen Entwürfen der Berneuchener generell auffällt, ist die Bedeutung der Rubriken. Es wird klar geregelt, was der Liturg bzw. was die Gemeinde jeweils

216

Das Berneuchener Buch: 104. Das Berneuchener Buch: 110. 218 Vgl. Das Berneuchener Buch: 111f [Zitate: 111]. 219 Vgl. zu dem Begriff des „Formwillen[s]“: Das Berneuchener Buch: 49–56 [Der Formwille der Kirche verkümmert]; vgl. auch aaO., 58. 220 Kritisch zur Sprache der Berneuchener in diesen Entwürfen äußert sich HUPFELD: Das kultische Gebet, 31f. 221 RITTER/STÄHLIN: Die Ordnung der deutschen Messe, I. 222 Kritisch äußert sich an dieser Stelle auch HUPFELD: Liturgische Irrwege und Wege, 22f. 223 RITTER/STÄHLIN: Die Ordnung der deutschen Messe, I. 217

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zu tun haben. Das Ineinander von Form und Inhalt gewinnt so auch in dieser Hinsicht liturgiepraktische Bedeutung.224

Für die Berneuchener ist klar, dass das „Sakrament des Altars“ „der eigentliche und eigentümliche Kultus der christlichen Kirche“ sei, „das Hauptstück und Herz alles ihres gottesdienstlichen Handelns.“225 Dies wiederzugewinnen, sehen sie als Ziel ihrer Bemühungen. Damit geht zugleich eine Korrektur der protestantischen Entwicklung einher: „Die Deutsche Messe zerfiel in einen Predigtgottesdienst, der immer mehr und immer wichtigere Teile des Gesamtaufbaus an sich zog – in der preußischen Unionsagende sogar ein so wichtiges Stück der Sakramentsliturgie wie das Sanctus – und eine Sakramentsfeier, die nur ein liturgischer Torso blieb.“226

Deutlich wird insgesamt die Tendenz, die Dominanz eines intellektuell verengten und dogmatisch bzw. historisch erschlossenen Wortes sowie die Symbolarmut des evangelischen Gottesdienstes zu überwinden. Dies geschieht durch ein weites Verständnis des „Wortes Gottes“, das als jene Weise der Gleichnisrede erscheint, durch die menschliche Wirklichkeit zum Symbol für Gottes Wirklichkeit wird. Damit gelingt es, den gesamten Gottesdienst bis hin zu den (nur scheinbaren) ‚Kleinigkeiten‘ der Körperhaltung und körperlichen Beteiligung als Geschehen des Wortes Gottes zu verstehen.227 Problematisch offen erscheint dann aber die Frage, ob es bei dieser Betonung der gleichnishaften Weite des „Wortes Gottes“ nicht faktisch zu einer Überschätzung der (vorgegebenen) äußeren Form des Gottesdienstes einerseits, zu einer liturgischen Bibel-Verdunstung andererseits kommen kann. Der letztgenannte Punkt, die Frage nach dem Wort, wurde von zeitgenössischen Kritikern der Berneuchener Bewegung bereits ausgeführt, auf die ich im folgenden Punkt knapp zu sprechen komme. 3.2.4.4 Kritik im Namen des Wortes In seinem kritischen Artikel zu den liturgischen Erneuerungsbewegungen geht Renatus Hupfeld von dem kriteriologischen Grundsatz aus:

224 Vgl. dazu auch RITTER/STÄHLIN: Die Ordnung der deutschen Messe, X. – Eine gegenwärtige Wiederentdeckung dieses Ansatzes lässt sich etwa in dem Band „Ein Evangelisches Zeremoniale“, hg. v. Zeremoniale-Ausschuss der Liturgischen Konferenz (2004), wahrnehmen. 225 RITTER/STÄHLIN: Die Ordnung der deutschen Messe, I. 226 RITTER/STÄHLIN: Die Ordnung der deutschen Messe, II. 227 Vgl. dazu auch CORNEHL: Art. Gottesdienst, 72.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

„So müssen […] die Gottesdienste eine Gestalt finden, die bei allem formalen Anschluß an die Tradition doch dem heutigen Menschen das Wort Gottes so begegnen läßt, daß er es als Wort des gegenwärtig ihn rufenden Gottes vernehmen kann.“228

Es müsse, so Hupfeld an anderer Stelle, zunächst und vor allem die Frage nach dem „Wesen des evangelischen Gottesdienstes“ gestellt werden, damit die liturgischen Bewegungen der Gegenwart nicht ins Leere laufen. Mit Luthers Torgauer Formulierung gilt für Hupfeld, dass „das Wesentliche am Gottesdienst […] das Wort Gottes [sei, AD], das laut wird, der Anruf Gottes, um den sich die Gemeinde sammelt, […] also das Handeln Gottes.“229 Aufgrund dieser Vorgabe übt er Kritik an übersteigertem Traditionalismus verschiedener liturgischer Entwicklungen – auch und vor allem in der Bewegung der Berneuchener. Demgegenüber müsse „das Objektive“ des Wortes durch die Lesungen, aber auch durch die Predigt und durch eine erneuerte Abendmahlspraxis im Mittelpunkt stehen.230 Theologisch tiefer geht die Kritik, die Otto Weber 1933 auf einer vergleichbaren Grundlage an den liturgischen Erneuerungsbewegungen vorbringt. Bei den Berneuchenern kritisiert er vor allem den Begriff des Symbols, aufgrund dessen alles Vergängliche und Irdische zum Gleichnis werden könne.231 Dieser Begriff bringe eine Verschiebung des Wortverständnisses mit sich, durch die das verbum externum faktisch eliminiert werde. Weber schreibt: „Für die Berneuchener ist das ‚Wort Gottes‘ […] eigentlich doch nichts, was als völlig anderes, als verbum externum eben gesagt werden muß, sondern ein allem Seiendem zugrundeliegender und nur erst in Person und Werk Jesu sich enthüllender Sinn.“232

Auch wenn die Berneuchener es genau anders wollten, so verwandle sich das Wort Gottes bei ihnen unter der Hand doch von der Anrede eines Du in ein „Es“.233 Der Sinn nämlich sei nirgendwo als Grundlage und Basis einfach gegeben, sondern sei „absolut jenseits unserer Welt“.234 Es bestehe

228

HUPFELD: Liturgische Irrwege und Wege, 8. HUPFELD: Wie sollen wir unsere Gottesdienste gestalten, 12; vgl. ders.: Das kultische Gebet, 41. 230 Vgl. HUPFELD: Wie sollen wir unsere Gottesdienste gestalten, 14–22 [Zitat: 14]; vgl. ähnlich ders.: Liturgische Irrwege und Wege, 42–48. – Noch schärfer äußert sich DIETZ: Die liturgische Bewegung der Gegenwart, der meint, in den liturgischen Bewegungen werde das Wort Gottes an den Menschen verraten. 231 Vgl. WEBER: Gottesdienst und evangelische Verkündigung, 87–89. 232 WEBER: Gottesdienst und evangelische Verkündigung, 92f. 233 Vgl. WEBER: Gottesdienst und evangelische Verkündigung, 94. 234 WEBER: Gottesdienst und evangelische Verkündigung, 96. 229

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folglich die Tendenz, das, was theologisch ‚Offenbarung‘ meine, zu verflüchtigen und den Glauben in Mystik zu verwandeln. Für Weber zeigt sich das Grundproblem darin, dass – und hier kommt er erneut auf den Ansatz der Reformatoren zu sprechen – die Predigt zurückgedrängt werde. Freilich weiß Weber um die Probleme, die mit der Predigt auf dem Weg in die Neuzeit verbunden sind;235 genau deshalb aber dürfe die Frage nach der Predigt bei der Erneuerung des evangelischen Gottesdienstes nicht einfach ausgeblendet werden. Eine erneuerte Liturgie fragt, Weber zufolge, nach einer erneuerten Predigt – wie auch zu einer erneuerten Liturgik eine veränderte Homiletik gehöre.236 Die Richtung der homiletischen Erneuerung ist für Weber klar: Die Predigt müsse neu und entschieden zur „Schriftauslegung“ werden und dürfe den biblischen Text nicht länger als „Sprungbrett“ für eine aus ihm zu gewinnende Predigtaussage behandeln.237 So berechtigt Webers Einsicht in die notwendige Verschränkung von Homiletik und Liturgik erscheint, so gerät er doch hinein in die problematische Dualisierung von Predigt und Liturgie, die als ein Grundproblem evangelischen Gottesdienstverständnisses und evangelischer Gottesdienstpraxis nun schon mehrfach erkannt und benannt wurde.238 Eine – allerdings nur andeutungsweise umrissene – Weiterführung bietet Curt Horn in einem 1925 entstandenen Beitrag. Er meint: „Wir müssen es endlich erkennen, daß auch die Predigt nur ein Glied des liturgischen Gesamtkörpers ist“239 und fordert auf diesem Hintergrund eine kultische Predigt – ein Gedanke, auf den unten zurückzukommen sein wird.240

235 Vgl. WEBER: Gottesdienst und evangelische Verkündigung, 28–30: In der Art und Weise, wie im evangelischen Christentum gepredigt wurde, habe sich die Predigt zum subjektiven Geschehen verwandelt. Sie sei Rede einer religiösen Persönlichkeit und werde von einer Gemeinde als „Publikum“ rezipiert (Zitat aaO., 27.29). 236 Vgl. insgesamt WEBER: Gottesdienst und evangelische Verkündigung, 112f. 237 WEBER: Gottesdienst und evangelische Verkündigung, 113 [Hervorhebung im Original]. 238 Interessant erscheint, dass Weber die Alpirsbacher Bewegung um Friedrich Buchholz an dieser Stelle nicht erwähnt. Dabei versuchen die Alpirsbacher in Aufnahme der theologischen Erkenntnisse von Karl Barth eine Liturgie zu entwickeln, die das biblische Wort ins Zentrum rückt. Eine wiedergewonnene und neu entwickelte deutschsprachige Gregorianik soll dazu wegweisend werden. Für die Alpirsbacher ist klar, dass ein solchermaßen auf das biblische Wort fokussierter Gottesdienst nur eine „gehorsame Textpredigt“, keineswegs eine „enthusiastische Kultrede“ verträgt (Zitate: HUPFELD: Liturgische Irrwege und Wege, 30). 239 HORN: Das evangelische Kultusproblem, 33. 240 Vgl. HORN: Das evangelische Kultusproblem, 34; vgl. unten Kap. 6.3.2.2.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

3.3 Zwei Modelle zum liturgischen Umgang mit dem Wort und ein Ausblick auf die weitere Erarbeitung Es wurde bereits vielfach erkannt und gilt keineswegs nur in liturgicis, was biblisch vielleicht etwas resignativ als das Kohelet-Prinzip der theologischen Theoriebildung in der Neuzeit beschrieben werden könnte: „… es geschieht nichts Neues unter der Sonne …“ (Pred 1,9). Phasen intensiver anthropologischer Orientierung lösen Phasen einer primären Ausrichtung an der Theo-logie ab, Phasen der Betonung der Innovation folgen auf Phasen der Orientierung an der Tradition, Phasen eines engagierten Zugangs auf außertheologische Wissenschaften, auf Kunst und Kultur folgen auf Phasen einer vornehmlichen Binnenorientierung des theologischen Diskurses. Die Entwicklung liturgischer Diskussion sowie die mit ihr korrelierende Gottesdienstpraxis im evangelischen Bereich eignen sich m.E. besonders gut, um diese Phasenbewegungen zu beschreiben. Jedenfalls ergibt sich im Nacheinander der vier vorgestellten liturgischen Ansätze eine charakteristische Wellenbewegung.241 Innovation Inszenierung Wort als vermitteltes

Tradition Einfinden Wort als gegebenes

Liturgie der Aufklärungszeit

Liturgie der Restauration

Liturgie der älteren liturgischen Bewegung

Liturgie der neueren liturgischen Bewegung

Idealiter sind damit zwei Grundmodelle zum liturgischen Umgang mit dem Wort konturiert: (1) Das vermittelte Wort: Im ersten Modell, das sich in unterschiedlicher Akzentuierung sowohl in der Aufklärungszeit als auch in der älteren liturgischen Bewegung wahrnehmen lässt, ist der Zugang zur Gestalt der Liturgie 241 Ausgeklammert wurde dabei vor allem Schleiermachers Liturgik sowie die Liturgik seit der Mitte der 20. Jahrhunderts. Bei Schleiermacher lässt sich mindestens der Versuch einer Vermittlung zwischen den beiden hier sehr schematisch dargestellten Polen wahrnehmen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts folgt auf eine innovative und die Aufgabe der jeweils neuen Inszenierung und Aufführung des Gottesdienstes betonende Phase das neue Paradigma ästhetischer Praktischer Theologie, das – ähnlich wie Schleiermachers Theorie – am ehesten zu einer Vermittlung unterschiedlicher Ansätze beitragen könnte. Vgl. dazu ausführlicher Kap. 1 und 5. – Dass sich diese Erarbeitung als ein Versuch versteht, ästhetische und theologische Argumentationsfiguren miteinander ins Gespräch zu bringen, wurde oben (bes. Kap. 1.5) benannt und soll unten (Kap. 6.2–6.3) weiter ausgeführt werden.

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3. Historisches: Das Wortgeschehen und die Liturgie

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durch das Paradigma der Innovation charakterisiert. Das, was im Gottesdienst geschehen soll, muss sich – so die methodische Herangehensweise – in der konkreten Gottesdienstgestaltung niederschlagen, die immer neu zur Aufgabe wird. Es geht um die ständig herausgeforderte Inszenierung dessen, was im Gottesdienst zum Ausdruck kommen bzw. bewirkt werden soll. Entscheidend ist das Wort als das, was in dieser Inszenierung vermittelt werden soll. Hier freilich unterscheiden sich die liturgischen Ansätze der Aufklärungszeit und der älteren liturgischen Bewegung deutlich: Galt die Vermittlungsaufgabe in der Aufklärung primär als kognitive, so wird für die ältere liturgische Bewegung die Hinführung zum religiösen Erlebnis und zum Gebet entscheidend, wobei Kognitives und Emotionales unter dem Primat des letzteren zusammenkommen. (2) Das gegebene Wort: Im zweiten Modell lässt sich ein grundlegend anderer Zugang zur Liturgie feststellen. Die Liturgie wird zunächst als das gesehen, was vorliegt und der heutigen Kirche als zurecht einflussreiche Tradition weitergegeben wird. Diese Tradition wird zwar weder von den Liturgikern der Restaurationszeit noch von den Liturgikern der neueren liturgischen Bewegung als unantastbar gesehen, sie gilt es aber dennoch zu achten bzw. wiederzugewinnen. Liturgie ist damit der Raum, in den Liturg und Gemeinde eintreten. Konsequent ist es, dass sowohl in der liturgischen Restauration als auch (noch sehr viel stärker!) in der neueren liturgischen Bewegung nach Möglichkeiten der Liturgiedidaktik (oder einfacher: der Einführung der Gemeinde in den Gottesdienst) gesucht wurde.242 Das Wort erscheint dann nicht primär als das, was durch die Leistung der liturgisch Verantwortlichen jeweils neu zu vermitteln wäre, sondern eher als das, was – wie die Liturgie und in, mit und unter der Liturgie – gegeben ist. Zeichnet man die beiden Modelle in die klassische Dreiteilung der Ästhetik in eine Werk-, eine Produktions- und eine Rezeptionsästhetik ein, so sind im ersten Modell primär produktions- und rezeptionsästhetische Überlegungen verortet: Die Frage, was die Gottesdienstfeiernden im Gottesdienst erfahren bzw. aus dem Gottesdienst mitnehmen sollen, wird zur Aufgabe für die je neue ‚Produktion‘. Das zweite Modell lässt sich als vor allem werkästhetisches charakterisieren: Der vorgegebene Gottesdienst der Tradition kann in seiner Schönheit entdeckt und gegenwärtig neu gefeiert werden; Gottesdienstbesucher/innen in die Entdeckung des Werkes mit hineinzunehmen, wird zu einer wichtigen Aufgabe der Arbeit im gemeindlichen Kontext. Das grundlegende Problem des erstgenannten Modells liegt im Kontext der hier untersuchten Frage nach dem äußeren Wort und seiner liturgischen 242

Vgl. den obigen Exkurs unter 3.2.2.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Gestalt – wie gezeigt – darin, die Externität des Wortes zu verlieren und das Wort zu einer Größe der subjektiven Vermittlung durch die liturgisch (sowie homiletisch) Aktiven sowie der je individuellen Rezeption werden zu lassen. Im zweiten Modell verschiebt sich umgekehrt das externe Wort tendenziell in die Objektivität einer bestehenden Feiergestalt hinein – und wird so nicht mehr als dynamisches Wort unmittelbarer Anrede verstanden. Letztlich drohen beide Modelle an dem Gegenüber von Subjektivität und Objektivität zu scheitern, das sich liturgisch (und theologisch) als problematisch erweist und sich als Kind der Diskussionen des 19. Jahrhunderts entpuppt.243 Damit haben Überlegungen und Ansätze aus beiden Modellen ihre Berechtigung; gleichzeitig bietet keines der beiden einfach die Lösung der liturgischen Frage nach der Inszenierung des verbum externum. Nötig ist es – auch dies wird aufgrund des historischen Einblicks deutlich – die drei Dimensionen der Ästhetik in ihrem Miteinander zu bedenken. Nötig erscheint es weiterhin, die in den vier vorgestellten (evangelischen!) Ansätzen zur Liturgik kaum beachtete Frage nach der Gestalt des Wortes im evangelischen Gottesdienst weiterzuführen.244 Nicht zuletzt macht die knapp vorgestellte Kritik an der neueren liturgischen Bewegung deutlich, dass es in dieser Erarbeitung darum gehen muss, die im evangelischen Bereich eingeübte Diastase von Predigt und Liturgie, von Wort und Kult, von Wort und Ritus hinter sich zu lassen und denkerisch wie praktisch zu überwinden. Ansonsten lässt sich das theologisch-liturgische Ping-Pong-Spiel sehr lange fortsetzen, in dem die einen die Liturgie betonen, die anderen die Predigt und jede der beiden Seiten der anderen den ‚Schwarzen Peter‘ verkürzter Theologie, defizienter Verkündigung oder umgekehrt kultureller Abstinenz bzw. Leib- und Symbolfeindlichkeit vorwirft. Dies soll im Folgenden vor allem durch eine Wahrnehmung kulturwissenschaftlicher Erkenntnisse (Kap. 5) geschehen, allerdings nicht ohne zuvor auf verwandte Liturgietraditionen zu blicken und die Perspektive (bibel-)ökumenisch zu weiten (Kap. 4).

243

Vgl. dazu oben Kap. 2.2.2. An dieser Stelle erkenne ich auch ein Desiderat für die historische Liturgieforschung. Es ginge darum, den Umgang mit der Ritualität des Wortes näher zu untersuchen, wie er sich zu unterschiedlichen Zeiten und aufgrund unterschiedlicher Agenden ergibt. Die Frage nach der Einführung und Benutzung einer Altarbibel gehört ebenso dazu wie etwa die Frage nach dem Ort der Lesung(en) und ihrer kantillierenden oder gesprochenen Ausführung. 244

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4. Komparatistisches: Einsichten in das Verhältnis von Wort und Kult

Seit vielen Jahren bereits arbeitet die Liturgiewissenschaft ökumenisch – sowohl im Blick auf die Frage nach der Theologie der Liturgie als auch und verständlicherweise noch intensiver in liturgiehistorischer Dimension.1 Etabliert ist dabei vor allem der Austausch mit der katholischen Liturgik; sehr viel weniger kommt es noch zu interreligiösen liturgischen Überlegungen. In diesem Kapitel soll die mögliche ökumenische und interreligiöse Perspektive eher konturiert, denn im Detail durchgeführt werden. Dazu blicke ich auf zwei Liturgietraditionen, in denen für die Frage nach dem Verhältnis von „Wort“ und „Kult“ interessante Überlegungen zu erwarten sind: den jüngeren Katholizismus angesichts der liturgischen Reformen durch das Zweite Vatikanische Konzil einerseits (4.1), das neuzeitliche Judentum angesichts der Wandlungen im frühen 19. und frühen 20. Jahrhundert sowie der gegenwärtigen Neuorientierungen andererseits (4.2). In beiden Liturgietraditionen ergaben sich – zu unterschiedlichen Zeiten – liturgische Umbrüche, die den Fokus der folgenden kurzen Untersuchung markieren und mit der liturgischen Veränderung in der Zeit der Reformation parallelisiert werden können: Im frühen 19. Jahrhundert war die jüdische Reformbewegung zunächst vor allem auch eine liturgische und eine Predigtbewegung. Das Verständnis von Tora und Gotteswort wandelte sich in Reformkreisen radikal und führte zu neuen liturgischen Gestaltungen – und vice versa. Der liturgische Umbruch, der sich auf katholischer Seite am deutlichsten wahrnehmen lässt, ist der des Zweiten Vatikanischen Konzils mit seinen liturgischen Folgeentwicklungen. Nicht wenige Kritiker des Konzils bezeichnen die Beschlüsse und liturgischen Konsequenzen als ‚protestantisierenden‘ Umsturz der Liturgie hin zur Dominanz des Wortes gegenüber einem kultischen Gesamtverständnis des Gottesdienstes.

1

Vgl. nur z.B. SCHULZ: Das Eucharistiegebet in den Kirchen der Reformation. Schulz spricht von „ökumenischer Konvergenz“, die sich in den vergangenen Jahren ergeben habe und die sich konkret am Beispiel der evangelischen Wiedergewinnung des Eucharistigebets zeige.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

4.1 Kult und Wort in neueren katholischen liturgischen Entwürfen Michael Meyer-Blanck schreibt: „Die Katholiken sind seit dem 2. Vatikanischen Konzil worthafter geworden – man denke nur an die 35 Minuten dauernde Antrittspredigt von Benedikt XVI. im April letzten Jahres [2006; …] – und die Protestanten sind spätestens mit der Abendmahlsbewegung seit dem Nürnberger Kirchentag 1979 sakramentaler geworden.“2 Nach Hans-Christoph Schmidt-Lauber kann für die Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils insgesamt die Aussage formuliert werden: „Liturgie ist Wortgeschehen.“3 Und seit Vaticanum II drängt sich bisweilen der Eindruck auf, als beschäftige sich die katholische Liturgik und Theologie intensiver mit dem „Wort (Gottes)“, als dies die evangelische Seite tut.4 Hat damit die katholische Liturgie das evangelische Proprium der Wortorientierung des Gottesdienstes in „Sacrosanctum Concilium“ (04.12.1963) aufgenommen und in die Messe hinein absorbiert?5 Oder bedeutet die Wortorientierung seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine grundlegende Neuorientierung des gesamten Messverständnisses, eine Art neues Vorzeichen vor dem Ganzen der katholischen Messe? Dieser Frage gehe ich zunächst nach, indem ich die Karriere des Wortes im Katholizismus auf dem Weg zum und im Zweiten Vatikanischen Konzil beleuchte (4.1.1). Im Anschluss nehme ich die Kritik an den liturgischen Folgen des Konzils in den Blick, die ich in drei Hauptlinien aufschließe (4.1.2). Die Ansätze zur Überwindung dieser Kritik durch eine neue Beachtung des Wechselspiels von Wort und Ritual bzw. Mysterium und Metapher kommen abschließend zur Sprache (4.1.3). 4.1.1 Die Karriere des Wortes im Katholizismus und das Zweite Vatikanische Konzil 1970 erschien das neue Missale Romanum („Missale Romanum ex decreto SS Oecumenici Concilii Vaticani II instauratum auctoritate Pauli PP. VI. promulgatum“), dem 1976 seine offizielle deutsche Übersetzung folgte („Die Feier der Heiligen Messe. Messbuch“). Damit gewann die erste Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils „Sacrosanctum Concilium“ 2

MEYER-BLANCK: Die Dramaturgie von Wort und Sakrament, 1. SCHMIDT-LAUBER: Art. Liturgik/Liturgiewissenschaft, 391. 4 Vgl. hierzu nur die ausführliche dogmatische Würdigung bei Paul-Werner Scheele, der 2007 eine „Theologie des Wortes“ vorlegte; vgl. auch die Generalversammlung der römischen Bischofssynode, die im Oktober 2008 unter dem Motto „Das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche“ („Verbum Domini in vita et missione ecclesiae“) stattfand. 5 Vgl. zur Bedeutung des „Wortes“ vor allem SC 51. 3

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4. Komparatistisches: Das Verhältnis von Wort und Kult

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vom 4. Dezember 1963 ihre liturgiepraktische Konkretion und wurde zugleich eine liturgische Entwicklung zu einem vorläufigen Abschluss geführt, die sich seit den Liturgischen Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts aufweisen lässt.6 – Ich folge diesem Weg im Folgenden äußerst knapp und gehe dabei in drei Schritten vor: Zunächst blicke ich auf die liturgische Bewegung im Katholizismus, die zugleich eine Bibelbewegung war (1), nehme dann exemplarisch die vorkonziliare Liturgik von Cyprian Vagaggini wahr (2) und stelle auf diesem Hintergrund die wesentlichen Aussagen von „Sacrosanctum Concilium“ (SC) in einer kritischen und auf die Frage nach dem „Wort“ fokussierenden Würdigung vor (3). (1) Die liturgische Bewegung im katholischen Bereich, die nach Anfängen im 19. Jahrhundert besonders mit dem Jahr 1909, dem sogenannten „Mechelner Ereignis“, ihren Ausgang nahm und sich dann vor allem bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs hinein an mehreren Orten entwickelte,7 war auch eine Bibelbewegung. Darauf hat die Zeitschrift „Bibel und Liturgie“ im Jahr ihres 80. Jubiläums 2007 neu aufmerksam gemacht. Der Gründer dieser Zeitschrift, Pius Parsch (1884–1954), war von Klosterneuburg aus ein Motor der Liturgischen Bewegung. Für Parsch gehörte die Wiedergewinnung der Bibel für das ‚Volk‘ mit der Aufgabe der Wiedergewinnung einer aktiven und bewussten Teilnahme des ‚Kirchenvolks‘ an der Liturgie unmittelbar zusammen. Bibel und Liturgie wurden – bei Parsch und anderen – zu wechselseitig aufeinander bezogenen Größen. Deutlich wird dies in einem Wort von Ildefons Herwegen, dem Abt von Maria Laach (einem weiteren Zentrum der Liturgischen Bewegung). Herwegen schreibt: Die Liturgie ist „die einzig wirksame Veranstaltung, die Heilige Schrift zu erleben, ihren Lebensgehalt flüssig und fruchtbar zu machen. Sie zeigt und gibt uns die Heilige Schrift unmittelbar von innen, setzt uns gleichsam in den Mittelpunkt ihres Entstehens, taucht uns ein in die Quelle der Inspiration, so daß wir nicht mehr von außen her an die Heilige Schrift mit unserer persönlichen Disposition herantreten, wie jeder, schließlich auch der ungläubige Leser, sondern in unmittelbarer Lebensverbindung mit dem göttlichen Inspirator.“8

Der Konnex von biblischem Wort und kultischer Feierpraxis wird deutlich hervorgehoben, und es wird erkennbar, wie die liturgische Verankerung der Bibel diese allererst zu einer spezifisch rezipierten „Heiligen Schrift“ 6

Vgl. zur Geschichte der Entwicklung katholischer Liturgik REDTENBACHER: Zur Entwicklung des Liturgiebegriffs, bes. 18f. 7 Vgl. BERGER: Art. Liturgische Bewegung, hier: 323; vgl. insgesamt auch KOLBE: Die liturgische Bewegung, sowie KACZYNSKI: Theologischer Kommentar, 11–44. 8 HERWEGEN: Die Heilige Schrift in der Liturgie der Kirche, 17.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

macht. Herwegen unterscheidet dazu einen Zugang zur Schrift „von innen“ und „von außen“; die Tatsache, dass Liturgie „Lebensverbindung“ mit Gott bedeute, mache gegenwärtige Menschen gleichzeitig mit dem eigentlichen Autor der „Heiligen Schrift“. Benedikt Kranemann macht darauf aufmerksam, dass diese Verbindung von Bibel und Liturgie auch in der liturgischen Bewegung auf evangelischer Seite erkannt wurde. Er zitiert aus einem Beitrag in der Zeitschrift der evangelischen hochkirchlichen Bewegung aus dem Jahr 1934, in dem Paula Schäfer über die „Bibelbewegung im römischen Katholizismus“ schreibt: Der Katholik hat „gegen alle Mißdeutungen [der Bibel, AD] die starke Stütze der Tradition, und der notwendige Gegenpol zur Bibellesung ist ihm die Liturgie. Man kann diese beiden Größen nicht voneinander trennen. Die eine belebt und weiht die andere; die eine entzündet sich an der anderen. So ist der katholische Bibelleser davor geschützt, die Bibel sektenmäßig auszulegen; er steht immer in der großen Gemeinschaft der Kirche.“9

Schäfers Aussagen über die kirchliche Verortung der Bibel durch den liturgischen Kontext bedeuten auch eine Polemik gegen eine demgegenüber ‚autonom‘, einseitig wissenschaftlich oder individualistisch rezipierte Bibel, die sich von der kirchlichen Gemeinschaft entferne und als „Mißdeutung“ gewertet wird. Diese liturgische Kontextualisierung der Bibel kann als eine der wesentlichen Erkenntnisse der liturgischen Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts gelten. Sie wird gerade gegenwärtig als ein auch für die exegetische Beschäftigung mit der Bibel unverzichtbarer Zugang erkannt. So konturiert der Osnabrücker Alttestamentler Georg Steins, der vor allem mit Überlegungen zu einer Bibelauslegung im Kontext der Literaturwissenschaften aufgetreten ist, in einem 2007 erschienenen Beitrag Umrisse einer anamnetisch grundierten Schriftauslegung, die ihren genuinen Ort nicht in der historischen Forschung, sondern in der Liturgie habe.10 Nur durch die Beachtung der liturgischen Verankerung der Bibel lasse sich die anamnetische Dimension wiedergewinnen. Steins schreibt: „Die Bibel bezeugt nicht nur eine Geschichte der Gottesbegegnung Israels und der entstehenden Kirche als vergangenes Geschehen, sondern setzt sie gegenwärtig, eröffnet diese Geschichte als Raum der Gottesbegegnung der Späteren.“11 9

SCHÄFER: Die Bibelbewegung im römischen Katholizismus, 369, hier zitiert nach KRANEBibel und Liturgie in Wechselbeziehung, 205f. – Was Schäfer hier andeutet, entspricht grundlegend dem, was ich unten als Verfremdungseffekt des Wortes durch den Kult bezeichnen werde (vgl. unten 5.3.2). 10 Vgl. STEINS: „Hört dies zu meinem Gedächtnis!“, bes. 241. 11 STEINS: „Hört dies zu meinem Gedächtnis!“, 237 [im Original hervorgehoben]; vgl. ähnlich BALLHORN: Die Bibel – das performative Buch, bes. 244: „Die Bibel in allen ihre Texten ist nicht MANN:

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4. Komparatistisches: Das Verhältnis von Wort und Kult

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Nachdem sich die offizielle katholische Kirche zunächst distanziert zu der liturgischen Bewegung und ihren Reformideen, zu denen – wie gezeigt – die verstärkte Betonung der Bibel im Gottesdienst und u.a. auch die Stärkung des Landessprachlichen gehörte, verhalten hatte, bedeutete die Enzyklika „Mediator Dei“ von Papst Pius XII. vom 20. November 1947 einen ersten Umbruch.12 Der Papst lobt darin das „fruchtbringende Bemühen“ der liturgischen Bewegung ausdrücklich,13 warnt aber zugleich vor Übereifer und allzu weitgehender Neuerungssucht.14 Wenngleich die Enzyklika sich dann primär auf das in der Liturgie durch die Jahrhunderte gegenwärtige Opfer Christi im Sakrament des Altars bezieht,15 wird auch die Bedeutung der „Heiligen Schrift“ für die Liturgie hervorgehoben: „In der heiligen Liturgie bekennen wir den katholischen Glauben ausdrücklich und offen nicht nur durch die Feier der Geheimnisse, die Darbringung des heiligen Opfers und die Spendung der Sakramente, sondern ebenso durch das Beten oder Singen des Glaubensbekenntnisses, welches das Kennzeichen oder sozusagen der Ausweis der Gläubigen ist, sowie durch die Lesung anderer Texte und besonders der unter Eingebung des Heiligen Geistes aufgezeichneten Heiligen Schrift. Die Liturgie als Ganzes enthält daher den katholischen Glauben, insofern sie den Glauben der Kirche öffentlich bezeugt.“16

Die Lesung wird nach den Sakramenten und dem göttlichen Lobpreis und im Zusammenhang mit Predigt und Homilie als Teil der „Riten“ genannt, durch die die Menschen Gott die ihm gebührende Ehre erweisen.17 Auch wenn die Bedeutung nur eine nachrangige sein kann, so werden doch auch Schrifterklärung und Predigten von Papst Pius XII. ausdrücklich hervorgehoben.18 Das theologische Nachdenken über die Bedeutung der Liturgie und allein ein Geschichtsbuch, sondern sie will die Menschen ergreifen, sich durch die Zeiten hin [sic!] der Bewegung Gottes auf die Menschen hin zu öffnen.“ 12 Vgl. zur evangelischen Rezeption nur exemplarisch die positive Aufnahme in: ASMUSSEN: Abendmahl und Messe; vgl. zur Einordnung der Enzyklika KACZYNSKI: Theologischer Kommentar, 37f. 13 Pius XII., Mediator Dei, in: ROHRBASSER: Heilslehre der Kirche, Nr. 215. 14 Vgl. Pius XII., Mediator Dei, in: ROHRBASSER: Heilslehre der Kirche, Nr. 219. – Interessant ist auch die liturgisch-epistemologische Abgrenzung des Papstes gegen das Argument der Wiederherstellung der Ursprünglichkeit bestimmter liturgischer Vollzüge (vgl. aaO., Nr. 263f). Pius XII. spricht von „ungesunde[r] Altertumssucht“ (aaO., Nr. 263). 15 Vgl. nur Pius XII. Mediator Dei, in: ROHRBASSER: Heilslehre der Kirche, Nr. 213f; vgl. auch aaO., Nr. 265, sowie den gesamten Zusammenhang Nr. 265–320 [Der eucharistische Kult]. 16 Pius XII., Mediator Dei, in: ROHRBASSER: Heilslehre der Kirche, Nr. 248. 17 Vgl. Pius XII., Mediator Dei, in: ROHRBASSER: Heilslehre der Kirche, Nr. 229. 18 Vgl. Pius XII., Mediator Dei, in: ROHRBASSER: Heilslehre der Kirche, Nr. 292. – Freilich ist das Verständnis der Bedeutung der Predigt deutlich eingeschränkt, wenn es heißt, in ihr rufe „der Vorsteher der Gemeinde die Vorschriften des göttlichen Meisters in Erinnerung“, erkläre sie „nutzbringend“ und lege „geeignete Mahnungen und Beispiele“ vor (aaO., Nr. 229).

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

die Rolle, die das Wort in ihr spielt, ging indessen in jenen Jahren schon deutlich weiter, als es der Papst in seiner Enzyklika darlegte. Als herausragendes Beispiel verweise ich auf das 1959 in deutscher Übersetzung (1957 auf Italienisch) erschienene Buch des römischen Dogmatikers Cyprian Vagaggini (1909–1999) mit dem Titel „Theologie der Liturgie“.19 (2) Vagaggini unternimmt eine umfassende Gesamtschau, indem er von der Liturgie ausgehend nach der Bedeutung von Theologie und Kirche fragt und umgekehrt theologische Überlegungen zur Basis seines Verständnisses von Liturgie macht. In dieser Hinsicht verschränken sich deduktives und induktives Arbeiten beständig in Vagagginis Überlegungen. Der Bibel widmet Vagaggini einen wenngleich knappen, so doch eigenen Hauptteil seiner Liturgik.20 Aber auch jenseits dieses Abschnitts räumt Vagaggini der Bibel epistemologisch und theologisch einen entscheidenden Raum ein. Er schreibt im einleitenden Teil seines Buches: „Wer in die Liturgie eindringen will, muss sie im Licht der Offenbarung, insbesondere der Heiligen Schrift sehen. Die Liturige bildet ja nur eine gewisse Phase und einen bestimmten Weg, auf dem der Sinn der Offenbarung an uns herantritt. Also gilt es, die Liturgie immer auf dem allgemeinen Hintergrund der Heilsgeschichte zu betrachten […].“21

Aufgrund des Bezugs beider, der Liturgie und der Bibel, auf die Heilsgeschichte wird die Bibel folglich für Vagaggini als Quelle der Offenbarung und Basis der Liturgie bedeutsam – bis hinein in die sprachliche Gestaltung der Liturgie, die Vagaggini als „ganz schriftverbunden“ bezeichnet.22 Umgekehrt wird die Liturgie zu einer Art ‚Mitte der Schrift‘: „Die Liturgie liest die Schrift im Licht des höchsten Prinzips der Einheit des Mysteriums Christi, der beiden Testamente und der ganzen Heilsgeschichte, einer organisch fortschreitenden Einheit […].“23 Es gebe folglich ein genuin „liturgische[s] Schriftverständnis“, das Vagaggini als eigentliches Verständnis der Schrift (gegenüber dem – in seinen relativen Grenzen ebenfalls bedeutsamen – historischen Schriftverständnis) suchen und wiedergewinnen will. Für ein dogmatisch argumentierendes Werk ist der folgende emphatische Ausruf ungewöhnlich, er zeigt aber gerade so die Bedeutung, die Vagaggini einer liturgischen Bibelhermeneutik beimisst: 19

Vgl. dazu auch GRILLO: Einführung in die liturgische Theologie, 170–183. Vgl. VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 265–294 [Dritter Teil: Liturgie und Bibel]. 21 VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 15. 22 VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 267. 23 VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 267. 20

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4. Komparatistisches: Das Verhältnis von Wort und Kult

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„Wie lebendig und aktuell wird also die Bibel, wenn wir sie in die Liturgie hineinstellen! Sie ist dann keine bloße Geschichte mehr, die mich persönlich nichts anginge, sondern sie wird zu meiner Geschichte, wie ich sie innerhalb und außerhalb der Liturgie lebe und in der künftigen Welt einst leben werde.“24

Vagagginis konfessorisch formulierte Hermeneutik zeigt, wie er die Bibel als immer schon liturgisch ‚applizierte‘ begreift, die den Einzelnen im Kontext der Liturgie in die Heilsgeschichte, zu der auch die Kirche in der Geschichte gehört, hineinzieht.25 Die folgende Skizze verdeutlicht diesen Zusammenhang.

Heilsgeschichte Liturgie Bibel

Kirche

Die Bibel erschließt in ihrer liturgischen ‚Gestalt‘ dem einzelnen die Heilsgeschichte insofern, als er sich als Glied der Kirche inmitten der dort erzählten und in Christus kulminierenden Geschichte wiederfindet. In dieser Hinsicht sind die vier in der Skizze genannten Größen jeweils wechselseitig aufeinander bezogen und bilden einen Kreislauf lebendigen Glaubenslebens. Die Funktion der Liturgie, besser müsste mit Vagaggini wohl von deren Wirkung gesprochen werden, liegt in ihrer Fähigkeit, das Geschehen der Heilsgeschichte anzueignen. Aus diesem Grund lehnt es Vagaggini entschieden ab, wenn in der Liturgie andere Funktionen plötzlich an die Stelle dieser Aufgabe der Liturgie treten. Natürlich weiß er, dass in der Liturgie z.B. auch „unterweisende oder ermahnende Partien“26 eine Rolle spielen; diese müssten aber so gestaltet werden, dass der „kultische Charakter“ der Liturgie „nie dem Blick entschwindet“.27 Genau dies ist sein grundlegender Vorwurf an den Protestantismus: Dort sei es zu einer Emanzipation des Belehrenden bzw. Unterweisenden, des Kognitiven und Funktionalen gekommen, die den kultischen Gesamthori24

VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 284. Statt „Heilsgeschichte“ kann Vagaggini auch von „Heilsökonomie“ sprechen und sie begrifflich auf die „Passahmysterien Jesu“ konzentrieren – womit ein Begriff erscheint, der dann im Zweiten Vatikanischen Konzil eine wesentliche Rolle zur Beschreibung des Kerns der Liturgie spielt; vgl. VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 12.21. 26 VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 103f. 27 VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 104. 25

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

zont empfindlich störe. Die in den liturgischen Zeichen (objektiv!) geschehende Heiligung28 werde durch die protestantische Verschiebung undenkbar. Sie zerstöre die „Objektivität“ der Liturgie.29 Mit dem für Vagaggini bedeutsamen Begriff der „Objektivität“ ist einerseits die Gegebenheit der liturgischen Gestalt,30 andererseits die Wirksamkeit der liturgischen Handlungen (als opera operata bzw. „ex opere operantis ecclesiae“31) im Blick.32 Wo diese „Objektivität“ zerstört werde, herrsche „unkontrollierte[r] Subjektivismus, übersteigerte Introvertiertheit, […] blutleere[r] Ideologismus oder […] rein ethisch gerichtete[r] Moralismus“33, „blutleere[r] Spiritualismus“ bzw. „überspitzte[r] Individualismus“34 – womit Vagaggini das neuzeitliche und protestantische Problem auf scharfe Begriffe bringt und gleichzeitig einen Gegensatz von Subjektivität und Objektivität aufmacht, der für die Wahrnehmung der Liturgie (wie oben Kap. 2.2.2 gezeigt) in jedem Fall die problematische und von Vagaggini keineswegs intendierte Konsequenz beinhaltet, dass sich mit der Verwendung des Begriffs der Objektivität die Liturgie zu einem ‚Gegenstand‘ verwandelt, dem das Subjekt gegenübertreten kann. Eine tatsächliche Überwindung der SubjektObjekt-Spaltung ist mit der Perpetuierung der Begrifflichkeit und der Akzentsetzung auf das Objektive gerade nicht zu erreichen.35 Für Vagaggini geht es darum, das „introvertierte, individualistische Umsich-selber-Kreisen“ des Menschen in liturgicis und durch die Liturgie aufzubrechen: „Die Liturgie kann nur da voll zur Geltung kommen, wo die transzendente Erhabenheit des Objekts die Psyche des Subjekts tief ergreift und das Subjekt in vitaler Antwort auf die objektive Norm das Objekt innerlich erfaßt.“36

28 Vgl. die grundlegende Definition des Geschehens der Liturgie: „Die Liturgie ist Inbegriff jener wirkkräftigen, von Christus oder der Kirche eingesetzten, sinnenfälligen Zeichen heiliger, unsichtbarer Wirklichkeiten, durch welche Gott […] durch Christus im Heiligen Geiste die Kirche heiligt, während durch sie die Kirche im Heiligen Geist durch Christus, ihr Haupt, Gott […] ihren Kult darbringt“ (VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 31 [im Original hervorgehoben]). 29 Vgl. VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 53. 30 Vgl. VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 53: „Der Weg, auf dem wir zu Gott gehen können und müssen, bleibt nicht unserem Belieben überlassen und erst recht nicht unserer jeweiligen Laune, sondern er ist uns von Gott selbst gewiesen.“ 31 Vgl. zur Unterscheidung dieser beiden Kategorien liturgischer Handlungen, die auf „Mediator Dei“ zurückggeht VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 78–91. 32 Vgl. VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 79. 33 VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 56. 34 VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 58. 35 Vgl. dazu ausführlicher unten Kap. 5.1.1. 36 VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 137.

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Genauso – durch die Begegnung mit dem ‚Objektiven‘ und die Verwandlung durch dieses – kuriere die Liturgie das Subjekt, anstatt es weiter dem Kreisen um sich selbst auszuliefern.37 Demgegenüber begnüge sich der Protestantismus mit der Annahme eines „psychologischen Einfluss[es] auf das Individuum“ durch die Religion:38 „Für den Protestanten sind die Sakramente nicht wahre und eigentliche Ursachen der Gnade, sondern bloße Symbole, um im Gläubigen das Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit zu erwecken. Das Sakrament läuft im Grunde genommen auf eine besondere Art der Predigt hinaus.“39

Für Vagaggini kann die Predigt, die er in seiner Liturgik ebenfalls reflektiert,40 nicht einfach nur „theoretische oder praktische Belehrung“ sein,41 sie müsse vielmehr um das „Christusmysterium“ kreisen und sich so mit in den oben skizzierten Kreislauf der Liturgie einbeziehen lassen.42 Letztlich sei die Predigt selbst als „Mysterium“ zu begreifen, da es darum gehen muss, dass „dieses verkündigte Wort in den Händen Gottes […] zum Werkzeug wird, das im Zuhörer irgendwie bewirkt, was es besagt.“43 Vagaggini fordert in dieser Hinsicht eine „liturgische Predigt“, am ehesten in der Form einer Homilie nach der Lesung.44 Insgesamt zeigt sich bei Vagaggini eine Liturgik, die den „Dienst des Sakraments“ und den „Dienst des Wortes“ unmittelbar aneinander bindet45 – und so vorwegnimmt, was auch das Zweite Vatikanische Konzil in der Metapher der beiden „Tische“ der Liturgie, des Tisches des Wortes und des Tisches des Mahles, zum Ausdruck bringen wird. Dabei legt er Wert darauf, dass das Wortgeschehen sowie die Art und Weise der Verwendung der Bibel auf das ‚objektive‘ Kultgeschehen bezogen bleiben. Keinesfalls dürfe es – nach Vagaggini – zu einer subjektivistischen, belehrenden oder intellektualisierenden Art und Weise des Umgangs mit dem Wort kommen. Auch mit dieser Forderung kann Vagaggini als Wegbereiter der liturgischen Entscheidungen des Zweiten Vatikanischen Konzils gelten,46 wenngleich 37

Vgl. VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 138. VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 182. 39 VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 183. 40 Vgl. VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 422–429. 41 VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 422; „Der Prediger ist nicht ein Religionsprofessor“ (ebd.). 42 Vgl. VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 422. 43 VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 422; erstaunlich erscheint mir die äußerst vage Bestimmung („irgendwie“!). 44 Vgl. VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 427–429 [Zitat: 429]. 45 VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 427. 46 Vagaggini war auch bei der Verfassung der Liturgiekonstitution mitbeteiligt; vgl. KACZYNSKI: Theologischer Kommentar, 46. 38

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diese (wenigstens in den Augen ihrer Kritiker) liturgische Folgen zeitigten, die Vagagginis Intentionen diametral entgegenlaufen. (3) SC 24 kann als kurze Zusammenfassung des In- und Miteinanders der Intentionen von Bibelbewegung und Liturgiebewegung gelesen werden, wie es sich in den Jahren vor dem Konzil ergeben hatte.47 Die „Heilige Schrift“ wird sowohl (materialiter) als Quelle und Gegenstand der gefeierten Liturgie betrachtet als auch (hermeneutisch) als Medium der Deutung der Liturgie (interessanterweise nicht aber umgekehrt: als durch die Liturgie gedeutete): „Von größtem Gewicht in der Feier der Liturgie ist die Heilige Schrift. Aus ihr werden nämlich Lesungen gelesen und in der Homilie ausgedeutet, Psalmen gesungen, aus ihrem Anhauch und Antrieb sind liturgische Bitten, Gebete und Gesänge ausgeschüttet worden, und aus ihr empfangen Handlungen und Zeichen ihre Bedeutung. Um daher für Erneuerung, Fortschritt und Anpassung der heiligen Liturgie zu sorgen, muss jenes innige und lebendige Gefühl für die Heilige Schrift gefördert werden, die die ehrwürdige Überlieferung sowohl der östlichen als auch der westlichen Riten bezeugt.“48

Die Konsequenzen aus dieser Bestimmung werden vor allem in SC 35 ausgeführt. Unter der Maßgabe der Verbindung von Wort und Ritus49 werden hier vier Aspekte zur Steigerung der Bedeutung des Wortes genannt: die Auswahl einer „reichere[n], vielfältigere[n] und passendere[n] Lesung der Heiligen Schrift“,50 die Suche nach einem passenden Ort für die Predigt („sermo“) innerhalb der Liturgie und als integraler Bestandteil der Liturgie – einer Predigt, die aus der Schrift und der Liturgie schöpfen soll,51 – die Wahrnehmung der Aufgabe der liturgischen Katechese (auch durch unmittelbare Hinweise des Priesters innerhalb des Ritus – allerdings nur, falls dies nötig erscheint und nur in „geeigneteren Augenblicken“) sowie die Förderung von Wortgottesdiensten an „Vorabenden der höheren Feste, an bestimmten Wochentagen im Advent und in der Fastenzeit“, ggf. auch dort, 47

Vgl. auch KACZYNSKI: Theologischer Kommentar, 90. SC 24, Zitat und Übersetzung (wie alle folgenden Zitate aus „Sacrosanctum Concilium“) aus HÜNERMANN/HILBERATH: Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. 49 „Damit klar sichtbar wird, dass in der Liturgie Ritus und Wort aufs engste verbunden sind […]“/„Ut clare appareat in Liturgia ritum et verbum intime coniungi […]“ (SC 35); vgl. hierzu auch KACZYNSKI: Theologischer Kommentar, 102: Mit „Riten“ sind die „sichtbaren Zeichen“ gemeint, zu denen die „Worte“ hinzutreten. 50 Vgl. auch SC 92a [Hinweise zur Lesepraxis beim Stundengebet]. 51 Angesichts der bisherigen Praxis in der Römischen Messe bezeichnet Kaczynski SC 35,2 als „revolutionär“ (KACZYNSKI: Theologischer Kommentar, 103). „Damit bekannte sich das Konzil dazu, daß das vorgelesene Schriftwort durch das lebendig bezeugte Wort der Verkündigung zu ergänzen ist.“ 48

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wo kein Priester vorhanden ist.52 Die Ausführungen zur Stärkung der biblischen Lesungen werden dann in SC 51 weitergeführt, wo sich auch die viel zitierten Metaphern vom „Tisch des Wortes Gottes“ sowie von den „Schätzen“ der Bibel finden: „Damit den Gläubigen der Tisch des Wortes Gottes [mensa verbi Dei] reicher bereitet werde, sollen die biblischen Schätze [thesauri biblici] weiter geöffnet werden, so dass innerhalb eines vorher festgelegten Zeitraums von Jahren der wichtigere Teil der Heiligen Schriften dem Volk vorgelesen wird.“

Die Metapher parallelisiert den Tisch des Wortes mit dem Tisch des Leibes des Herrn (vgl. SC 4853) und kann dafür theologisch geltend machen, dass Christus selbst „in seinem Wort“ gegenwärtig sei, „da er ja selbst spricht, während die heiligen Schriften in der Kirche gelesen werden“ (SC 7). Eine weitere Erläuterung zur Predigt (nun allerdings nicht mehr „sermo“, sondern „homilia“ genannt) findet sich in SC 52; diese wird „als Teil der Liturgie […] sehr empfohlen“ – ein Hinweis, der bereits im folgenden Satz zu der Anweisung verstärkt wird, die Homilie solle „in den Messen, die an Sonntagen und gebotenen Feiertagen im Beisein des Volkes gefeiert werden, nicht ausgelassen werden, es sei denn aus einem schwerwiegenden Grund.“ Inhaltlich solle es in ihr um „die Geheimnisse des Glaubens“ und um „die Richtlinien für das christliche Leben“ gehen.54 Eingebettet sind diese Aussagen zur stärkeren Betonung des Wortes in eine Darstellung der Liturgie, die theologisch auf das Pascha-Mysterium (vgl. insgesamt SC 5f55), d.h. auf das eucharistische Opfer (vgl. SC 2), auf Leiden, Auferstehung und Himmelfahrt Jesu Christi (vgl. SC 5) hin zentriert wird. Keineswegs kann es also als Ziel von SC bezeichnet werden, die Liturgie in ihrer theologischen Bedeutung zu relativieren; im Gegenteil wird diese „Gipfelpunkt“ und „Quelle“ alles kirchlichen Seins und Handelns genannt. Allerdings zeigt sich genau an diesem Punkt eine Merkwür52

Vgl. hierzu auch SCHULZ: Elementare Liturgie. Vgl. auch SC 56, wo die Verbindung der „Liturgie des Wortes“ mit der „eucharistische[n] Liturgie“ thematisiert wird; vgl. dazu auch die „Pastorale Einführung in das Messlektionar“, in der es heißt: „An beiden Tischen wird die Kirche geistlich genährt – an dem einen mehr, indem sie unterwiesen wird, an dem anderen vor allem, indem sie geheiligt wird. In der Feier des Wortes Gottes wird der göttliche Bund verkündet, in der Feier der Eucharistie der neue und ewige Bund erneuert. Hier wird die Heilsgeschichte in vernehmbaren Worten ausgerufen, dort wird dieselbe Heilsgeschichte unter den sakramentalen Zeichen der Liturgie vollzogen“ (PEM 10). 54 Vgl. zu SC 24, 35 und 51 auch SCHÖTTLER: „Eingeladen zum Hochzeitsmahl des Wortes“, 217f. 55 Vgl. dazu KACZYNSKI: Theologischer Kommentar, 62–65, sowie HOPING: Gottesrede im Raum der Liturgie, und GERHARDS/KRANEMANN: Einführung in die Liturgiewissenschaft, 126– 128; vgl. mit kritischer Ausrichtung an der alleinigen Konzentration auf das Pascha-Mysterium auch VORGRIMLER: Die Liturgie. 53

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digkeit der Formulierung und in der scheinbaren ‚Kleinigkeit‘ einer Konjunktion eine durchaus bedeutsame Verschiebung des Liturgieverständnisses. Der entscheidende Satz lautet: „Attamen Liturgia est culmen ad quod actio Ecclesiae tendit et simul fons unde omnis eius virtus emanat.“ – „Dennoch ist die Liturgie der Gipfelpunkt, zu dem das Tun der Kirche strebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt.“ (SC 10).56

Das einschränkende „attamen“/„dennoch“ weist auf SC 9 zurück, wo betont wird, dass die Liturgie nicht alles sein kann, worin sich kirchliches Handeln in der Gegenwart erschöpft. Denn es gelte: „[…] bevor die Menschen zur Liturgie hintreten können, ist es nötig, dass sie zu Glauben und Bekehrung gerufen werden […]“ (SC 9). Die Konstitution leitet daraus die Notwendigkeit zur Mission nach außen und immer neuen Verkündigung von „Glaube und Buße“, von ethischem Handeln und Frömmigkeit nach innen ab. In der missionarischen Richtung nach außen versteht sich diese Argumentation von selbst, und auch der Verweis auf Röm 10,14f in SC 9 („Wie sollen sie anrufen, an den sie nicht geglaubt haben? […] Wie sollen sie aber hören ohne Prediger? [….]“) erscheint durchaus naheliegend und überzeugend.57 In der Wendung nach innen freilich ergibt sich faktisch ein prae der Verkündigung vor dem gefeierten Gottesdienst, das dann durch die Konjunktion „attamen“ (vermeintlich) relativiert, gleich danach aber in SC 11 nochmals verstärkt wird. Dort nämlich heißt es: „Damit jedoch diese volle Wirksamkeit [der Liturgie als Quelle der Gnade, vgl. SC 10, AD] erreicht wird, ist es notwendig, dass die Gläubigen in der Einstellung aufrichtiger Gesinnung [cum recti animi dispositionibus] zur heiligen Liturgie hinzutreten, ihren Geist mit der Stimme in Einklang bringen und mit der himmlischen Gnade zusammenwirken, um sie nicht ins Leere zu empfangen. Darum sollen die heiligen Hirten wachen, dass bei der liturgischen Handlung nicht nur die Gesetze für die gültige und erlaubte Feier beachtet werden, sondern dass die Gläubigen bewusst, tätig und mit Gewinn [scienter, actuose et fructuose] an ihr teilnehmen.“

Faktisch wird damit die rechte ‚innere‘ Einstellung zur Voraussetzung für die Möglichkeit, die Liturgie angemessen zu feiern und von ihr im Sinne der Stärkung des Glaubens und als Quelle der Gnade zu profitieren.58 Der 56

Hervorhebung AD. Gleichzeitig ist freilich zu bedenken, dass dieser Vers einer der Kronzeugen für Luthers Hochschätzung der Predigt war. Dass er in der ersten Konzilskonstitution erscheint und dass das lateinische „praedicare“ aus der Vulgata in der lateinisch-deutschen Studienausgabe nicht wie in der Einheitsübersetzung mit „verkündigen“, sondern wie bei Luther mit „predigen“ übersetzt wird, erscheint doch beachtenswert. 58 Vgl. dazu auch SC 14, wo über die liturgische Ausbildung im Zusammenhang mit der tätigen Teilnahme näher gehandelt wird (vgl. insgesamt SC 14–20). – Während der Diskussionen des 57

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„Glaube“ wird zur Voraussetzung für die Liturgie.59 Die in dieser Hinsicht bestimmte „bewusst[e]“ und „tätig[e]“ Teilnahme bedeutet einerseits die Motivation zu liturgischer Bildung und einem entsprechenden Hirtendienst, andererseits setzt sie aber ein Verständnis von Liturgie aus sich heraus, das als typisch für den neuzeitlichen Umbruch, wie er oben (Kap. 2.2) beschrieben wurde, gelten kann. Die eigene ‚fromme‘ Innerlichkeit bzw. Subjektivität wird zur Voraussetzung für eine angemessen gefeierte Liturgie. Noch Vagaggini, der Mitautor von „Sacrosanctum Concilium“, hatte hier anders formuliert, sich gegen die Dominanz neuzeitlicher Subjektivität gewandt und die Konzentration auf das „Objekt“, das „Objektive“ und Vorgegebene als Kern der Liturgie betont. Die am „attamen“ ablesbare Verschiebung des Liturgieverständnisses wirkt sich innerhalb der Liturgiekonstitution keineswegs dominierend aus. An „Sacrosanctum Concilium“ kann insgesamt nicht die Dominanz des Wortes gegenüber dem Ritus abgelesen werden, die Dominanz der primär verbal und katechetisch geprägten Vorbereitung gegenüber der eigentlichen Durchführung der Liturgie. Dennoch aber liegt genau diese Tendenz, die in den Folgejahren vielfach kritisiert wurde, bereits in dem Konzilsdokument. Sie zeigt sich etwa auch in den konkreten Überlegungen zum „lehrhaften und pastoralen Charakter der Liturgie“ (SC 33–36), einem Abschnitt der Konstitution, der mit den Worten eingeleitet wird: „Auch wenn [etsi] die heilige Liturgie vor allem Verehrung der göttlichen Majestät ist, enthält sie auch viel Erziehung für das gläubige Volk“ (SC 33). Damit steht auch hier eine einschränkende Konjunktion „etsi“/„auch wenn“ am Beginn der Überlegungen, die auf die Verschiebungen im Liturgieverständnis hinweist. Die liturgiepraktische Folge zeigt etwa SC 34, ein Artikel, der die Kürze und Durchschaubarkeit der liturgischen Vollzüge fordert und daher „unnütze Wiederholungen“ („repetitiones inutiles“) streichen möchte. Natürlich lässt sich die Frage stellen, welcher Begriff von ‚Nützlichkeit‘ in den Formulierungen des Konzils zum Tragen kommt – und es lässt sich an Romano Guardinis Einsicht in den Charakter der Liturgie als (heiliges) Spiel erinnern, das insgesamt einen Charakter des ‚UnnütKonzils waren manche der Meinung, SC 14–20 sollten ganz gestrichen werden. „Dagegen wandte die Liturgiekommission ein, die in diesem Abschnitt dargelegten Grundsätze seien so bedeutsam, daß sie den Vätern in einer eigenen Relatio dargelegt werden sollten, ‚handelt es sich doch um die Grundlage der ganzen Liturgiereform, nämlich um die seelsorgerliche Arbeit und die Voraussetzungen für ihre Wirksamkeit‘“ (KACZYNSKI: Theologischer Kommentar, 78). 59 So KACZYNSKI: Theologischer Kommentar, 72 – in Aufnahme von SC 9; in eine vergleichbare Richtung weist die interessante Formulierung von Emil J. Lengeling in seiner Auseinandersetzung mit dem Gottesdienstverständnis von Vaticanum II; er spricht von „einem essentiellen oder axiologischen Primat der Liturgie“, gleichzeitig aber von „einer existentiellen oder genetischen Priorität der Verkündigung“ (LENGELING: Liturgie als Grundvollzug christlichen Lebens, 65).

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zen‘ bzw. Zweckfreien hat.60 Reiner Kaczynski kommentiert: „Die Feiern müssen […] dem ästhetischen Empfinden heute lebender Menschen entsprechen und nicht durch Verfeierlichung Prunk und höfischen Stil früherer Zeiten nachahmen wollen.“61 Es geht aber nicht nur um ein ästhetisches „aggiornamento“: „Sacrosanctum Concilium“ kennt – vielleicht erstmals in der Geschichte der lateinischen Messe – das Kriterium der (intellektuellen) Verstehbarkeit der Liturgie, das als Voraussetzung für die ‚aktive Teilnahme‘ interpretiert und zur Basis für eine zunehmend stärkere Betonung des ‚lehrhaften‘ Wortes in der Liturgie wird.62 Selbst spätere entschiedene Kritiker der Beschlüsse des Zweiten Vatikanums und der Liturgiereformen haben SC noch zustimmen können (etwa Erzbischof Lefebvre, auf den unten [Kap. 4.1.2.2] noch zurückzukommen sein wird). Die analysierten Tendenzen werden noch kaum beachtet, und die entscheidenden Veränderungen in der Gestalt des Gottesdienstes ergeben sich dann auch erst in den folgenden Jahren auf der Grundlage und in Weiterführung von SC. Hier werden unter anderem Anweisungen zur Übertragung der Gottesdienste in die Landessprache gegeben (vgl. SC 36.54 als Basis), Überlegungen zur Orientierung des Priesters im liturgischen Raum angestellt (mit der Einführung sogenannter Volksaltäre als sichtbarster Konsequenz)63, hier wird ein neues Perikopensystem eingeführt, das sich in der Darstellung des Kirchenjahres radikal von dem Modell der bisherigen ‚altkirchlichen‘ Perikopen unterscheidet,64 und hier wird das, was „participatio actuosa“ (vgl. SC 30f) bedeutet, näher bestimmt und im Blick auf die Gestaltung der Liturgie weitergeführt.65 Die durch das Zweite Vatikanische Konzil eröffnete Perspektive einer „Liturgia semper reformanda“ in einer „Ecclesia semper reformanda“ findet vielfache konkrete

60 Vgl. GUARDINI: Vom Geist der Liturgie, 87–105 [Liturgie als Spiel]; vgl. im Duktus des Konzilsdokuments auch SC 50 und der darin gegebene Hinweis auf die Notwendigkeit der Überarbeitung der Messordnung, damit „der eigentliche Sinn der einzelnen Teile sowie ihr wechselseitiger Zusammenhang klarer hervortreten und die fromme und tätige Teilnahme der Gläubigen leichter gemacht wird.“ 61 KACZYNSKI: Theologischer Kommentar, 101. 62 Vgl. auch SC 59,2: „Es ist darum sehr wichtig, dass die Gläubigen die Zeichen der Sakramente leicht verstehen […] [facile intellegant]“. – Kaczynski schreibt zu SC 21: „Die äußere Gestalt der liturgischen Feiern muß ihren inneren Gehalt erfahrbar machen, damit die Gemeinde diesen möglichst leicht erfassen und den Gottesdienst unter voller, tätiger und gemeinschaftlicher Teilnahme feiern kann“ (KACZYNSKI: Theologischer Kommentar, 87). 63 Vgl. MUCK: Die Gestaltung des Kirchenraumes, bes. 58–64. 64 Vgl. zur Veränderung der Lesungspraxis KACZYNSKI: Theologischer Kommentar, 126–128. 65 Vgl. zur Revision der liturgischen Bücher in der Folge des Konzils KACZYNSKI: Theologischer Kommentar, 90–92.

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Ausgestaltung,66 die in den nächsten Jahren einer umfassenden Kritik unterzogen wurden.67 Diese Kritik erscheint mir für die Fragestellung nach dem Verhältnis von ‚Wort‘ und ‚Kult‘ besonders aufschlussreich, weswegen ich sie im systematisierenden Überblick kurz darstelle. 4.1.2 Drei Richtungen einer Kritik an der liturgischen Wortorientierung Ich unterscheide drei Linien der Kritik – und gehe dabei von ihren jeweiligen Begründungen aus.68 Alfred Lorenzer sieht das Problem der Verbalisierung und Intellektualisierung des Gottesdienstes, die Piusbruderschaft argumentiert mit einer Verbindung von Traditions- und theologischen Argumenten, und der Schriftsteller Martin Mosebach verbindet ästhetische und theologisch-religiöse Argumentationslinien. Damit sind keineswegs alle kritischen Positionen im Blick und keineswegs alle einzelnen Kritikpunkte, die in den vergangenen Jahren geäußert wurden, aufgeführt.69 Mir scheinen aber die wesentlichen Linien der Kritik durch die drei aufgeführten Positionen berücksichtigt. 4.1.2.1 Die Kritik an Vaticanum II im Namen der Sinnlichkeit oder: Alfred Lorenzer und sein anti-intellektualistisches Plädoyer Die Kritik am „Verbalismus“ der Liturgie als einer Auswirkung der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils bzw. an einer „Sermonitis“, an

66

Vgl. zur Aufnahme der ursprünglichen evangelischen ‚Kampfbegriffe‘ „Ecclesia [bzw. Liturgia] semper reformanda“ KACZYNSKI: Theologischer Kommentar, 89. 67 Vgl. zur Rezeption und Entwicklung der Ansätze des Konzils KACZYNSKI: Zur Rezeption der Liturgiekonstitution; Kaczynski unterscheidet drei Etappen der Aufnahme: die Etappe des hoffnungsvollen Neubeginns (vgl. aaO., 342–347), die Etappe einer gewissen Stagnation (vgl. aaO., 347–351) und die Etappe der Missachtung des Konzils (vgl. aaO., 352–357). Diese Abfolge ergibt sich durch die Wahrnehmung der vatikanischen Instruktionen zur Umsetzung des Konzilsbeschlusses. Die erste Etappe umfasst die ersten beiden Instruktionen, die sich unmittelbar bis 1967 anschließen; die zweite wird durch die dritte Instruktion 1970 eingeleitet; die dritte Etappe beginnt mit der erst 24 Jahre später verfassten Instruktion 1994 (30 Jahre nach dem Konzilsbeschluss). 68 Vgl. auch SABERSCHINSKY: Der gefeierte Glaube, 149f. 69 Vgl. dazu z.B. HAHNE: De arte celebrandi, 20–29, der auf diesen Seiten zahlreiche Kritikpunkte sowie in der Diskussion vorgeschlagene Wege der Therapie benennt, u.a. die „Verbalisierung“, „Pädagogisierung“, „Rationalisierung“, „Entsakralisierung“, „Aktualitätshascherei“, „Latein-Allergie“, „Verarmung der Formen“, „Eintönigkeit der Gestaltung“ etc. Damit nimmt Hahne nicht nur die Erklärung selbst, sondern viel stärker deren Folgen in der liturgischen Praxis in den Blick.

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der die Liturgie leide,70 lässt sich oft vernehmen. Kaum jemand aber hat sie so umfassend und methodisch anregend vorgetragen wie der Psychoanalytiker und Soziologe Alfred Lorenzer (1922–2002).71 Methodisch argumentiert Lorenzer auf ritual- und symboltheoretischer Basis und unter Einbeziehung von soziologischen Modellen zur Vergesellschaftung. Dazu greift er auf die Symboltheorien von Ernst Cassirer und Susanne K. Langer zurück, besonders auf Langers Unterscheidung von „diskursiver“ und „präsentativer Symbolik“.72 Zur diskursiven Symbolik rechnet Langer vor allem die Sprache, präsentative Symbolik sei etwa durch das Bild bestimmt. Das besondere Augenmerk Lorenzers richtet sich auf die präsentative Symbolik, durch die es möglich sei, „Ganzheit in ihrer sinnlichen Fülle“ zu artikulieren – erkauft freilich mit dem „Nachteil, das Erfahrene nicht ‚auf der Wäscheleine sprachlicher Diskursivität aufhängen‘ zu können […].“73 Bereits durch dieses Zitat wird deutlich, dass Lorenzers Ansatz von einer Unschärfe durchzogen ist, die sich mit der vorgetragenen Polemik verbindet und durch sie begründen lässt. Lorenzer fragt nach dem Raum, den die präsentative Symbolik gegenwärtig, in einer ‚entsinnlichten‘74 Welt, noch einnehmen könne. Dass Sprache dabei nicht auf Diskursivität zu reduzieren ist, sondern selbstverständlich auch präsentatives Symbol sein kann (etwa als „Sprachkunstwerk“), weiß Lorenzer theoretisch;75 faktisch aber wird sein Buch immer wieder auch zum Plädoyer gegen den ‚Verbalismus‘ im Sinne des diskursiven sprachlichen Begreifens und für nicht-sprachliche Symbolwelten und -erfahrungen. Ebenfalls von Langer gewinnt Lorenzer die beiden zentralen Begriffe Mythos und Ritual, die Lorenzer wie folgt bestimmt: „Der Mythos ist der Versuch, die Grundlagen der Identität in Bilder zu fassen, also über die Grenzen der rational-diskursiven Erkenntnismöglichkeit hinauszugehen […]. Im Ritual wird Identität in ‚Lebenssymbolen‘ dargestellt, und zwar nicht vage intellektuell, sondern sinnlich, unmittelbar, leiblich.“76 70

Vgl. FISCHER: Zehn Jahre danach, 122 [hier der Begriff „Sermonitis“; vgl. insg. aaO., 122–

125].

71

Vgl. dazu insgesamt auch ODENTHAL: Liturgie als Ritual, 150–155. Vgl. bes. LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, 23–48 [Kultur als Symbolsystem]; auch Albert Gerhards und Benedikt Kranemann nehmen die Unterscheidung von „diskursiver“ und „präsentativer Symbolik“ in ihre liturgietheologischen Überlegungen auf (vgl. GERHARDS/KRANEMANN: Einführung in die Liturgiewissenschaft, 123). 73 LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, 31. 74 Vgl. zu dem Begriff der „Entsinnlichung“ LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, 108 u.ö. 75 Vgl. LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, 32. 76 LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, 34. – Dabei ist für Lorenzer die Entwicklung von Riten als kollektiven Symbolen im Lauf der Geschichte wichtig; sie entstünden eben nicht ad hoc, sondern als Ausdruck einer Gemeinschaft in einer langen und im einzelnen niemals genau zu erschließenden Genese (vgl. aaO., 213). 72

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Mit diesen Begriffen ist es Lorenzer dann auch möglich, das, was Liturgie für ihn (im Eigentlichen) ausmacht, zu bestimmen. Er schreibt: Liturgie ist die „Einheit von Ritual und Mythos innerhalb einer ‚religiösen‘ Organisation des Lebens“.77 Genau diese Einheit habe die Liturgiereform zerstört, indem sich die ‚aktive Beteiligung‘ der Gläubigen an der Liturgie primär in das Bestreben verwandelte, die Liturgie verständlich zu machen. In Aufnahme von SC 50 formuliert Lorenzer scharf: „Das Ritual soll […] Informationsimperativen gehorchen, es soll nur noch der Rezeption des Informationsgehalts einer durchrationalisierten Liturgie dienen.“78 Wie sich das Ritual verwandle, so auch der Mythos, der sich hin zur Welterklärung verschiebe, womit die Diskursivität den Sieg davon trage.79 Kurz und scharf formuliert: „Das Ritual tritt nun als Disziplinierungsübung in den Dienst der ideologischen Textvermittlung.“80 Das Bestreben nach einer Demokratisierung der Liturgie im Kontext eines demokratischen Aufbruchs der Kirche sieht Lorenzer als gründlich gescheitert an.81 Im Gegenteil habe die Veränderung und Erneuerung der Liturgie zu einer massiven Einschränkung von Freiheit der Rezeption geführt. Vor dem Konzil nämlich habe es, so Lorenzer, „einen Freiraum für die ‚Selbstbeschäftigung‘ der Laien und einen Spielraum für die Phantasie“ innerhalb der Liturgie gegeben. Dieser aber sei nun zerstört. Lorenzer schreibt: „Die Zentrierung des Kults auf das Wort löscht diese Freiheit aus. Sie erweist sich als Moment der Beherrschung. Das Ritual wird zur Gleitschiene der Bevormundung. Die Unterordnung des Rituals unter die Wortverkündigung konstituiert einen ideologisierend-disziplinierenden Zwang, eine gradlinige Zufuhr zentralistisch gesteuerter Maximen für Weltdeutungen, eine Reglementierung der Lebenspraxis durch ein pausenlos ablaufendes, didaktisch geschickt eingerichtetes Erziehungsprogramm.“82

77

LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, 35. LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, 185. 79 Vgl. LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, 187. 80 LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, 190. – Der Systematiker Helmut Hoping verweist in einem 2004 entstandenen Beitrag auf ein Wort von Jürgen Habermas, der die Theologen daran erinnerte, dass „eine als kommunikatives Handeln verstandene Liturgie in der Konsequenz auf eine Suspendierung des religiösen Sprachspiels, das dem liturgischen Ritual eingeschrieben ist, hinausläuft […]. Das Mysterium der Liturgie besitzt eine unaufhebbare Widerständigkeit gegenüber den Sprachspielen säkularer Diskurse“ (HOPING: Gottesrede im Raum der Liturgie, 27; mit Verweis auf HABERMAS: Exkurs). 81 Immer wieder geißelt Lorenzer auch die Art und Weise, wie die Liturgie verändert werden sollte – durch ein „Konzil der Buchhalter“. Er schreibt: „Die Ambition, in ein kulturell gewachsenes Kunstwerk einzugreifen durch Beschlußfassung einer Versammlung von Funktionären, ist entweder naiv oder größenwahnsinnig, vergleich nur jener Kulturverachtung, die sich im Erfinden von Kunstsprachen austobt“ (LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, 192). 82 LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, 82. 78

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Der Gottesdienst habe sich gewandelt – von einem Raum des spielerischen Sich-Einordnens in präsentative Symbole, in Mythen und Rituale83 hin zu einem „Instrument einer systematischen Pädagogisierung und Indoktrinierung“84, von einem „Theater“ in eine „Vorlesungsveranstaltung“85. Lorenzer unterstellt nun, dass genau dies das eigentliche Motiv der liturgischen Reform gewesen sei: Es sei einer Institution, die ihren Weltdeutungsanspruch in der modernen Welt und angesichts der Vielfalt konkurrierender Weltdeutungen zerbröckeln sah, darum gegangen, die „‚pädagogische‘ Einwirkung“86 auf ihre Mitglieder zu stärken und damit die Manipulation zu fördern.87 Lorenzer bedauert diesen Schritt der Kirche nicht nur, weil er ihn als „kontraemanzipatorisch“ versteht, sondern weil mit der Liturgie ein Ort der genuinen Widerständigkeit gegen die Vormacht der Diskursivität in der gegenwärtigen Welt verschwinde.88 Damit könne die Liturgie auch nicht mehr zum Ort spezifischer Identitätsarbeit im Kontext vorgegebener Mythen und Symbolgefüge werden.89 Die Folgen, die dieses neue Verständnis des Gottesdienstes zeitigte, macht Lorenzer u.a. auch an dem neuen Verständnis der Kirchenmusik fest, die nun nur noch „Umrahmung“ einer Lehrveranstaltung sein konnte, oder auch am Sakralbau, der auf ikonoklastische Weise umgestaltet worden sei.90 Die Liturgiereform wertet Lorenzer insgesamt „als Element einer kontraemanzipatorischen Bewegung, die durch Vernichtung des ‚sinnlichen Spiels‘ die Gläubigen den herrschenden Verhältnissen einfunktionalisiert.“91 Die Kirche habe sich – auch aus Angst vor Bedeutungsverlust in der Gesellschaft – gewandelt, dabei aber vor allem versucht, Macht und Einfluss auf ihre (Mit-)Glieder zu erhalten und auszubauen. In dieser Hinsicht sei der Gottesdienst didaktisch funktionalisiert worden.92 Das vermeintliche Motiv der Demokratisierung verwandle sich so in die „Absicherung der Parteiarbeit mittels Intensivierung der Schulung der Parteimitglieder“.93 83 Vgl. LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, 81f; vgl. auch aaO., 189, wo Lorenzer von einer „eigentümliche[n] Verfügungsfreiheit für den Einzelnen“ in der lateinischen Messe spricht; vgl. ähnlich Friedrich Heiler, oben 3.2.4.2. 84 LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, 81; vgl. ähnlich aaO., 184f. 85 LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, 175; vgl. auch aaO., 191, wo Lorenzer den neuen Gottesdienst als „Lehrveranstaltung“ bezeichnet. 86 LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, 76. 87 Vgl. LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, 177. 88 Vgl. LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, bes. 175–177. 89 Vgl. LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, bes. 214–217. 90 Vgl. LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, 193–209; Zitat: 195. 91 LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, 48; vgl. ähnlich auch aaO., 72. 92 Vgl. LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, bes. 76–78. 93 LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, 231.

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Für Lorenzer ist – „450 Jahre nach Wittenberg“ – klar, dass die katholische Kirche einen Weg eingeschlagen habe, der auch der Weg der Reformation war. Dabei habe sie (wie vorher schon die Kirchen der Reformation) die Liturgie in ihrem Wechselspiel von Ritus und Mythos zerstört. Lorenzer schreibt: „Daß die Reformation selbst (eigene) ‚präsentative Symbole‘ hervortrieb, ändert nichts an der Tatsache, daß mit der Auflösung der Einheit von Mythos und Ritual (in der alten Sakramentalität) ein sozialhistorisch folgenschwerer Eingriff in der Verschiebung vom ‚poetisch-präsentativen‘ zum diskursiv-ideologischen Wesen der Religion geschah.“94

Die reformatorische Wortorientierung bedeutet für Lorenzer – hier in der Linie Max Webers argumentierend – eine „Zuwendung zur Rationalität“ und damit einhergehend eine Entsinnlichung und Formalisierung der Sprache,95 eine „Verschiebung der religiösen Erfahrungen weg vom SinnlichPräsentativen des alten Kults hin zur Intellektualität des Worts“96. Dass dies in der Tat zu den Konsequenzen der Grundentscheidungen der Reformation gehörte, habe ich oben gezeigt (Kap. 2.1); dass es freilich nicht den Intentionen der Reformatoren mit ihrem dynamischen Verständnis des äußeren Wortes entspricht, sieht Lorenzer nicht. Ich meine, der Analyse Lorenzers sei in vieler Hinsicht zuzustimmen – auch wenn sie Tendenzen des Zweiten Vatikanischen Konzils, die auch ich in meiner obigen Wahrnehmung von „Sacrosanctum Concilium“ entdeckt habe, zu einseitig auszieht. Der Punkt meines Widerspruchs entzündet sich an der bei Lorenzer dominierenden Einordnung des „Wortes“ in den Bereich der Intellektualität und Kognition. Die Eigenschaft von Worten, jenseits der einseitig intellektuellen Rezeption und in unterschiedlichen Weisen der Inszenierung Wirkung zu entfalten, berücksichtigt Lorenzer zu wenig. Vielleicht wäre aber genau dies die Basis, um die Aussichten für die Zukunft der Liturgie nicht ganz so düster beurteilen zu müssen, wie Lorenzer dies tut. Gleich zu Beginn seines Buches konstatiert der erklärte Atheist Lorenzer: „Rituale, die einmal zerstört wurden, lassen sich so wenig res-

94

LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, 138. Vgl. insg. LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, 97–135 [450 Jahre nach Wittenberg], Zitat: 101. 96 LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, 137. In der damaligen Zeit habe die Aufrichtung der diskursiven Kraft des freien Wortes freilich einen Aufstand gegen die alte Autorität bedeutet und ein Erkämpfen neuer bürgerlicher Freiheiten; inzwischen aber – so Lorenzer – bedeute der neuerliche Versuch der Abwendung von der Sinnlichkeit umgekehrt einen autoritären Rückfall in eine letztlich totalitäre Vorstellung von Vergesellschaftung; vgl. aaO., bes. 109. 95

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

taurieren, wie Getötete durch Zuspruch wieder zum Leben erweckt werden können.“97 Nicht unähnlich liest sich die Kritik, die die (evangelische) Theologin und Philosophin Catherine Pickstock in jüngerer Zeit gegen die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils vorbringt. Für Pickstock liegt das Grundproblem darin, dass das Konzil auf der Suche nach sprachlicher Klarheit und intellektueller Nachvollziehbarkeit das zerstört habe, was liturgische Sprache eigentlich kennzeichnet: die genuine Mündlichkeit. Zu dieser aber gehöre immer auch die Redundanz, die Wiederholung, die ständige und immer neue Suche nach Begriffen. Das Konzil habe sich liturgiewissenschaftlicher Überlegungen bedient, mit dem Paradigma der Liturgiewissenschaft aber die eigene Sprache der Liturgie in ein Reden über Liturgie verwandelt. Pickstock schreibt: „In being too eager to find secularization in any forms of repetition or apophatic rebeginnings which it associated with a decadent epoch, the liturgical revisers of Vatican II chose as a liturgical paradigm a text which, as being more of a treatise on liturgy than a liturgy as such, would in the end prove misleading for the programme of liturgical recovery.“98

Liturgische Erneuerung sei mit einem solchen Ansatz faktisch ausgeschlossen. Damit – und hier begibt sich Pickstock nun auf die von Lorenzer bereits eröffnete Ebene der Psychologie – könne die Liturgie ihre die eigene Identität herausfordernde Rolle nicht mehr spielen. Identität werde vielmehr zu einer Funktion der Kognition und des Intellekts, wenn die Herausforderung durch das, was Liturgie(sprache) eigentlich leisten könne, wegfällt. „[…] they [die Reformer im Zweiten Vatikanischen Konzil, AD] ironed-out the liturgical stammer and constant re-beginning; they simplified the narrative and generic strategy of the liturgy in conformity with recognisably secular structures, and rendered simple, constant and self-present the identity of the worshipper.“99

Mit den Beobachtungen von Lorenzer und Pickstock steht die Frage im Raum: Ist die Zeit der Liturgie tatsächlich unwiederbringlich verloren, da sich zerstörte Rituale nun einmal nicht mehr wiederherstellen lassen? Lebt Liturgie, die die Verbindung von Mythos und Ritual kennt, nur noch in jenen Kreisen, die eine vorkonziliare lateinische Liturgie pflegen, nachdem bereits vor etwa 500 Jahren die Reformation die Liturgie zerstörte und vor

97

LORENZER: Das Konzil der Buchhalter, 12. PICKSTOCK: After Writing, 175. 99 PICKSTOCK: After Writing, 176. 98

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gut vierzig Jahren das Zweite Vatikanische Konzil eine vergleichbar destruktive Wirkung entfaltete? Meine eigene Antwort wird in eine andere Richtung weisen und dazu vor allem auf kulturwissenschaftliche Einsichten zurückgreifen (Kap. 5). Gleichzeitig aber muss Lorenzers (und Pickstocks) Kritik als Weiterführung und Verschärfung des bereits oben (Kap. 2) analysierten protestantischen Problems der Intellektualisierung und Pädagogisierung der Liturgie als Merkpfosten aufgerichtet werden. Zunächst aber nehme ich die Kritik an der Liturgie wahr, die sich bei jenen äußert, die gegenwärtig am entschiedensten für die Beibehaltung der vorvatikanischen, tridentinischen Messe eintreten. 4.1.2.2 Die Kritik an Vaticanum II im Namen der Objektivität der Liturgie oder: Die Priesterbruderschaft St. Pius X. und ihre fundamentalistische Argumentation Keine Bewegung innerhalb der katholischen Kirche war im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts medial präsenter als die „Priesterbruderschaft St. Pius X.“ („Fraternitas Sacerdotalis Sancti Pii X.“, FSSPX). Die Rücknahme der Exkommunikation von vier 1988 aus der Kirche ausgeschlossenen Bischöfen durch Papst Benedikt XVI. am 21. Januar 2009 führte zu einem Sturm der Entrüstung innerhalb wie außerhalb der Kirche.100 Entstanden als anti-modernistische, traditionalistische Sammelbewegung um Erzbischof Marcel Lefebvre (1905–1991) in Frontstellung gegen das Zweite Vatikanische Konzil galt ihr besonderes Interesse seit der offiziellen Gründung 1970 der Erhaltung der „Heiligen Messe“ in ihrer traditionellen, d.h. tridentinischen Gestalt (1570) und damit dem Kampf gegen die Liturgiereform des Konzils.101 Ohne auf die antidemokratische, antiliberale und in vieler Hinsicht antijüdische Haltung der ‚Piusbrüder‘ auch nur am Rande eingehen zu können, blicke ich im Folgenden ausschließlich auf die Argumente der Gemeinschaft für die traditionelle, tridentinische Form der Heiligen Messe – und stützte mich dabei auf im Internet greifbare Selbstaussagen.102 Dabei 100

Vgl. bereits das Motu proprio Benedikts XVI. vom 7.7.2007 zur Erleichterung der Feier der Messe in Form des Missale von 1962 und dazu KRANEMANN: Bibel und Liturgie, 210; SCHÖTTLER: „Eingeladen zum Hochzeitsmahl des Wortes“, 218f. 101 Interessant ist, dass sich Lefebvre zunächst nicht gegen die Liturgiekonstitution „Sacrosanctum Concilium“ wehrte, sondern den Widerstand gegen die neugestaltete Messe erst dann aufnahm, als erstens andere Dekrete des Konzils beschlossen und zweitens konkrete Veränderungen der Messgestalt erkennbar wurden. 102 Vgl. www.piusbruderschaft.de/die-hl-messe/3-die-hl-messe-ist-ein-opfer [Zugriff vom 11.8.2009]. Alle Zitate im Folgenden entstammen diesem Text.

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erkenne ich vier Argumentationsstränge, die bei dem Plädoyer der Piusbrüder für die ‚alte Messe‘ ineinander verwoben sind: (1) Theologie: Konzentration/Reduktion auf das sühnende Messopfer: Das Geschehen der Messe wird von den Piusbrüdern radikal konzentriert und inhaltlich normiert. Im ersten Satz der Darlegung zum Messritus heißt es: „Die Heilige Messe ist die unsichtbare und unblutige Erneuerung des Kreuzesopfers Unseres Herrn Jesus Christus.“ Es sei „dasselbe Opfer wie das von Kalvaria“, da es von dem „‚in persona‘ Christi“ handelnden Priester dargebracht werde; unterschieden seien nur die Art der Darbringung sowie der Zweck: Gehe es im einen Fall um das Verdienst der „Gnade der Erlösung“, so im anderen Fall um deren gegenwärtige Zueignung. (2) Geschichte: Linearität der Entwicklung von Jesus über die Zeit der Apostel bis in die Gegenwart: Die Piusbrüder zeichnen das Geschehen der Messe in die Linie einer beeindruckenden Kontinuität ein, die sowohl ‚historisch‘ hergeleitet als auch theologisch begründet wird. Sie gehe zurück auf die „übereinstimmend“ [sic!] in den drei Evangelien sowie bei Paulus berichtete Einsetzung der Messe durch Jesus am Gründonnerstag, habe sich über die Apostel und die in Kontinuität zu den Aposteln handelnde Kirche fortgesetzt in die römische Messe hinein, die wiederum durch das nachtridentinische Messformular Pius’ V. (1570) gegenüber mancher gegen Ende des Mittelalters erkennbarer Verschiedenheit in einzelnen Liturgiegebieten (durchsetzt mit ‚abergläubischen‘ Elementen) wiederhergestellt wurde. Dabei sehen die Piusbrüder diese historische Linie theologisch durch das Wirken des Heiligen Geistes begleitet: „Es ging also [bei der Messform 1570, AD] wirklich um eine Wiederherstellung des ursprünglichen römischen Ritus, wie er ausgehend von Jesus Christus um den von den Zeiten der Apostel unverfälscht überlieferten Kern im Laufe des ersten Jahrtausends unter Führung des Heiligen Geistes und Aufsicht der Kirche langsam zu seiner endgültigen Gestalt gewachsen war.“

Dieser in ihrer Sicht organisch gewachsenen Messform stellen die Piusbrüder dann die „neue Messe“ des Zweiten Vatikanischen Konzils gegenüber. (3) Polemik: Abgrenzung gegenüber der protestantisierenden Eucharistie: Die 1970 eingeführte nachvatikanische Messe fungiert als klares Feindbild. Das Konzil habe eine „protestantisierende Messform der Mahlfeier“ hervorgebracht, die die Piusbrüder als lutherisch, ökumenisch und demokratisch bezeichnen – alles drei in höchster Weise pejorative Ausdrücke für die Bewegung. Sie sei „illegitimer Ritus“, da sie nicht mehr das Opfer der Messe feiere, sondern das Abendmahl der Gemeinschaft, nicht mehr auf

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den Karfreitag fokussiere, sondern auf den Gründonnerstag, den Priester nicht mehr als „in persona Christi“ agierend sehe, sondern als „‚Vorsteher‘ der Versammlung“, die Gemeinde nicht mehr als innerlich beteiligte, sondern als dialogisch mitwirkende. Bei alledem werde Christi Gegenwart nicht mehr „real“ gedacht, sondern nur noch geistig. An die Stelle der Stille bei der Wandlung in der Alten Messe sei in der neuen Form der „ständige ‚Dialog‘“ getreten. (4) Ästhetik: Plädoyer für die Kultsprache: Für die Piusbrüder ist klar, dass die Messe in der „Kultsprache“ Latein gefeiert werden sollte. Allerdings können sie hierfür selbstverständlich kein historisches und auch kein im strengen Sinne theologisches Argument erbringen. Ihre Argumentation an diesem Punkt muss am ehesten als ästhetisch bezeichnet werden: „Das Opfer der Alten Messe wird sinnvollerweise in der Sakralsprache des Latein vollzogen, die dem Mysterium besser angemessen ist und zum Ausdruck bringt, daß hier eine Kulthandlung stattfindet, die der Priester im Namen Christi Gott darbringt.“

Daneben kämpfen die Piusbrüder für eine ‚Reinheit der Form‘ und einen Anspruch der Gestaltung – und weisen dazu auf ihrer Homepage in kurzen Videoausschnitten auf ‚Missbräuche‘ der Messe im gegenwärtigen Katholizismus und weitere problematische Entwicklungen hin. Insgesamt laufen die vier genannten Stränge der Argumentation verschiedentlich ineinander, dienen aber allesamt dazu, die Objektivität einer gegebenen und unveränderbaren Form103 theologisch, historisch, ästhetisch sowie in der Abgrenzung gegenüber dem klaren Feindbild der ‚protestantisierenden‘ Eucharistie des Zweiten Vatikanischen Konzils zu untermauern. Dabei werden faktische Veränderungen und Neugestaltungen, denen die Messe in ihrer Entwicklung unterworfen war, zwar am Rande erwähnt, aber sogleich marginalisiert. So heißt es u.a.: „Die römische Liturgie setzte sich im Abendland mehr und mehr durch, besonders als sie unter Karl dem Großen für das Frankenreich übernommen wurde. Hier erfuhr die Messe einige Umgestaltungen und Erweiterungen, die allerdings nichts Wesentliches und vor allem nicht den Kanon betrafen. So wurde beispielsweise das ‚Credo‘ eingefügt.“ 103

Ähnlich konnte dies auch noch Romano Guardini sehen und beschreiben: „Die Liturgie der katholischen Kirche […] bildet einen Teil des von Gott gegebenen und damit als wahr, gut, recht, heilig verbürgten übernatürlichen Lebens. Sie ist von der zuständigen, durch den Heiligen Geist geleiteten Gewalt festgelegt, und wird von einer eigenen Behörde überwacht. So nimmt sie, und zwar in ihrer besonderen Eigenschaft als Kult, in irgendeiner Weise an jener übernatürlichen Offenbarungsgeltung teil, welche der noëtischen Seite nach als Unfehlbarkeit bezeichnet wird“ (GUARDINI: Über die systematische Methode in der Liturgiewissenschaft, 99).

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Die Tatsache, dass es gerade im Hochmittelalter zu bedeutsamen Liturgieveränderungen kam (u.a. dadurch, dass der Messkanon vom Priester still gebetet wurde104), wird von den Piusbrüdern nicht erwähnt – und kann es auch nicht, da sich sonst die These von der von Jesu Einsetzung an faktisch unveränderten Messe kaum halten ließe. Die Argumentationsweise der Gemeinschaft kann – aufgrund dieser Charakteristika – als typisch ‚fundamentalistisch‘ eingestuft werden. Die überzeitliche und objektive Gültigkeit105 wird mit einem pseudohistorischen Begründungsmuster hergeleitet und theologisch überhöht; gleichzeitig steht ein klares Feindbild im Raum, das als dunkle Folie die Abgrenzung des eigenen Modells umso leichter macht.106 Ein Nebeneinander der alten und der erneuerten Liturgie erscheint den Piusbrüdern nicht möglich – umgekehrt aber auch den Vertretern der Neuerungen durch das Zweite Vatikanische Konzil nicht. So schreibt Reiner Kacyznski: „Man kann nicht einen Ritus erneuern und danach die zu erneuernde und die erneuerte Form als gleich gültig in derselben Kirche nebeneinander feiern.“107 4.1.2.3 Die Kritik an Vaticanum II im Namen des Wechselspiels von Ästhetik und Religion oder: Martin Mosebach und sein Plädoyer eines Künstlers Der Journalist Alexander Kissler erkennt in einem Beitrag aus dem Jahr 2009: „Nicht die Alte, sondern die reformierte Messe sieht sich derzeitig einem erhöhten Rechtfertigungsdruck ausgesetzt.“108 So berichtet er von einem Gespräch zwischen dem Schriftsteller und Büchner-Preisträger Martin Mosebach und dem Münchner Erzbischof Reinhard Marx, in dem Marx gegenüber dem Verfechter der „Alten Messe“ Mosebach bekannte, dass ihm „sämtliche Versuche, Messen attraktiv zu gestalten“, „ein ‚Horror‘ seien“, und dann weiter ausführte: 104

Vgl. nur BERGER: Art. Kanon. Vgl. dazu auch die letzten Sätze der zitierten Erklärung zur Heiligen Messe: „Erzbischof Lefebvre nannte die Neue Messe einen ‚illegitimen Ritus‘; denn sie ist eine Mischung aus katholischen und protestantischen Elemente, sie ist keine wirklich katholische Messe mehr. Langfristig wird einer der beiden Riten verschwinden müssen. Der katholische wird es nach den Worten Unseres Herrn sicher nicht sein.“ 106 Ein Lehrvideo der Piusbrüder zur Gestaltung der Alten Messe, das auf Anfrage an amtierende Priester versandt wird, macht die – wie ich formulieren würde – rubrizistische Zwanghaftigkeit dieser Gruppierung mehr als deutlich. – Das Agieren gegen Rom und gegen den Papst bei gleichzeitigem Wunsch, ‚katholisch‘ zu sein, wird mit der gegenwärtigen „Kirchenkrise“ und damit mit dem herrschenden Notstand begründet. 107 KACZYNSKI: Theologischer Kommentar, 125. 108 KISSLER: Rafft euch zusammen. 105

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„Das sakramentale Bewusstsein sei schwächer geworden, man könne aber nicht katholischer Christ sein und zugleich dem zentralen Glauben abschwören, dass ‚die ganze Welt von dem lebt, was wir in der Messe feiern.‘“109

Vor allem in seinem 2007 in dritter Auflage erschienenen Buch „Häresie der Formlosigkeit“, einer Sammlung von Vorträgen und Essays, legt Mosebach ein engagiertes Plädoyer für die tridentinische Messe vor – und kommt folglich zu Ergebnissen, die denen der Piusbrüder durchaus entsprechen. Allerdings unterscheidet sich seine Argumentation grundlegend von der der Priestergemeinschaft und besticht durch ein In- und Miteinander von ästhetischen und theologischen Perspektiven, die sich in Mosebachs essayistischer Darstellung permanent verschränken und hier nur zur darstellerischen Klarheit analytisch getrennt werden.110 (1) Ästhetische Argumentation: „Wir glauben mit den Knien oder wir glauben überhaupt nicht.“111 Dieser Satz des Schriftstellers kann die Art und Weise, wie ästhetische Beobachtungen und Überlegungen für die Theologie der Liturgie bedeutsam werden, am dichtesten zum Ausdruck bringen. Das Äußere, die Oberfläche ist für Mosebach kein ‚bloß‘ Äußeres, sondern „enthüllt die innere Wahrheit des Angeschauten“.112 Daraus folgt umgekehrt, dass die Art und Weise der äußeren Gestaltung konsequent mit der ‚inneren‘ Einstellung zur Sache zu verbinden sei. Mosebach wehrt sich mit dieser Argumentation gegen die neuzeitliche Form-Inhalt-Dualisierung, die im Blick auf die Religion zu deren „Abstrahierung, Philosophierung, Historisierung und Soziologisierung“ geführt habe.113 Diese Überlegungen, die auch in der praktisch-theologischen Ästhetik seit vielen Jahren zum Gemeingut geworden sind, verbindet Mosebach mit Wahrnehmungen zur Praxis der Messe seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Kritisch fällt Mosebach dabei vor allem immer wieder der sogenannte Volksaltar auf, hinter dem der Priester wie „hinter einer Theke“ mit dem Gesicht zu der „zum Publikum gewordene[n] Gemeinde“ stehe.114 Das, was einst der Altar war, erinnere nun an den „Vorstandstisch bei einer Par109

Alle Zitate aus KISSLER: Rafft euch zusammen. Darüber hinaus zeigen die Essays immer wieder, inwiefern persönliche Erfahrungen und Erlebnisse (bis in die Kindheit zurück) für Mosebachs Plädoyer entscheidend werden. Gleich zu Beginn bezeichnet er sich als jemanden, der überhaupt nur durch die „alte katholische Liturgie“ eine Heimat im Glauben gefunden habe und nach und nach eingewurzelt worden sei (vgl. MOSEBACH: Häresie der Formlosigkeit, 7 [Zitat ebd.]). – Eine kurze Auseinandersetzung mit Mosebach findet sich auch bei STOCK: Liturgie und Poesie, 105–109. 111 MOSEBACH: Häresie der Formlosigkeit, 25; vgl. auch aaO., 234, wo Mosebach den Ritus als „körperliches Gebet“ beschreibt. 112 MOSEBACH: Häresie der Formlosigkeit, 24; vgl. ähnlich aaO., 9. 113 MOSEBACH: Häresie der Formlosigkeit, 102f. 114 MOSEBACH: Häresie der Formlosigkeit, 8. 110

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tei- oder Vereinsversammlung mit Mikrophon und Papieren […]“.115 Aus alledem folge, dass der Altar nicht mehr als Ort der „Anbetung Gottes“ wahrgenommen werde, sondern dass nun das „Miteinander der Gemeinde ins Zentrum des Kultes“ getreten sei.116 Die „Ehrfurcht“, die die tridentinische Messe von selbst als Haltung bei dem Besucher aus sich herausgesetzt habe, verschwinde.117 Ähnlich kritisch nimmt Mosebach die – keineswegs erst mit dem Zweiten Vaticanum einsetzende – zunehmende Bedeutung des Kirchenliedes (als Gemeindelied) im Kontext der Liturgie wahr. Wenn für ihn die gesamte Liturgie als „ein einziger großer Gesang“ erscheint, dann müssen solche Lieder selbstverständlich die ästhetische Einheit und Ganzheit empfindlich stören.118 Noch kritischer sieht er die Predigt als Störung im Kultus: „Mir geht es heute, wenn die Predigt beginnt, als verblasse die überzeitliche Welt, in die ich gerade erst eingetreten bin. Ich finde mich ernüchtert in meiner Gegenwart wieder, mit all ihren geistfernen Schwächen und Halbheiten.“119

Aber auch an dem Ersatz des alten Messbuchs durch neue Ringbücher120 bzw. am unbekümmerten Umgang mit der Hostie121 kann Mosebach eine veränderte Haltung gegenüber der Messe wahrnehmen, die unter dem „Ikonoklasmus“ der vergangenen Jahre und Jahrzehnte schwer gelitten habe. An die Stelle des stimmigen Ineinanders von Form und Inhalt sei nun vielfach der Kitsch getreten.122 Durch die Veränderung des formalen Ablaufs und der Gestalt habe sich so notwendig auch die Haltung und Einstellung der Messbesucher verändert: „Ich betrete die Kirche, um Gott zu sehen, und ich verlasse sie wie ein Theaterkritiker.“123 (2) Theologische Argumentation: Bereits die Darstellung der ästhetischen Argumente Mosebachs macht deutlich, wie diese immer auch zu theologischen Argumenten werden. Durch die Vielfalt der Umgestaltungen der Messe sei nicht nur Kitsch zum hervorstechenden Gestaltungsprinzip geworden, sondern sei vor allem die Einsicht in die „Notwendigkeit“ der Messe verloren gegangen, die mit der überlieferten Form gegeben gewesen

115

MOSEBACH: Häresie der Formlosigkeit, 85; vgl. auch STOCK: Liturgie und Poesie, 108. MOSEBACH: Häresie der Formlosigkeit, 216. 117 Vgl. MOSEBACH: Häresie der Formlosigkeit, 112. 118 MOSEBACH: Häresie der Formlosigkeit, 35; vgl. insgesamt aaO., 35–41. 119 MOSEBACH: Häresie der Formlosigkeit, 46. 120 Vgl. MOSEBACH: Häresie der Formlosigkeit, 151–170. 121 Vgl. MOSEBACH: Häresie der Formlosigkeit, 182. 122 Vgl. MOSEBACH: Häresie der Formlosigkeit, 116.216. 123 MOSEBACH: Häresie der Formlosigkeit, 20. 116

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sei.124 Liturgie sei dort eben nicht „Andacht, Meditation“ oder ähnliches gewesen, sondern „Vergegenwärtigung des persönlichen und leibhaftigen Handelns Jesu Christi“.125 Aus dieser Perspektive kann Mosebach die Liturgie „als etwas Vorgegebenes, Offenbartes“ begreifen, als etwas „nicht von Menschen Gemachtes“.126 Natürlich weiß der Schriftsteller um das historische Gewordensein der Liturgie. Für dieses findet er aber ein organisches Bild des Wachstums: „Der Faden war von dem göttlichen Meister ‚in der Fülle der Zeiten‘ in eine gesättigte Lösung gehängt worden, die nun zu Kristall schoß.“127 Das Bewusstsein für das Geschehen in der Liturgie, die Vergegenwärtigung Christi, hat in der Darstellung Mosebachs Konsequenzen für deren Rezeption. So bedeute etwa die Evangelienlesung in der Messe nicht „das Mitteilen eines Textes, mit dem die Zuhörer sich auseinandersetzen sollen, sondern die sündenvergebende Gegenwart des lehrenden und heilenden Christus […].“128 Tätige Teilnahme, wie sie im Zweiten Vaticanum gefordert werde, könne nicht als ein nachdenkendes Dabeisein und kritisch-diskursives Wahrnehmen verstanden werden, sondern bedeute, „hinter Christus her und auf ihn zuzugehen“.129 In der Messe müsse das Denken zurücktreten können,130 damit der „homo religiosus“ wieder eine Chance erhalte gegenüber dem „modernen, irrelegiösen, rationalistischen, metaphysisch blinden“ Menschen der Aufklärung.131 Die Stärke der Argumentation Mosebachs liegt m.E. in der Konsequenz, mit der er Ästhetisches und Theologisches beieinander hält und damit aufzeigt, wie scheinbare ästhetische Kleinigkeiten (Ringbuch statt Messbuch!) eminente Auswirkungen auf die Art und Weise der Rezeption und folglich insgesamt auf den Charakter der Liturgie haben. Weiter scheint mir sein Hinweis auf die Tendenz zu einer – für das ‚Wesen‘ der Liturgie – problematischen Verschiebung des Verständnisses des Gottesdienstes durch die liturgischen Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils berechtigt: Die Tendenz zu einer Entleerung der Besonderheit der Feier, zu einer Horizon-

124 Vgl. MOSEBACH: Häresie der Formlosigkeit, 17; Mosebach spricht hier von dem Gefühl beim Messopfer, „daß ich die wichtigste Pflicht des menschlichen Daseins erfüllte.“ – Vgl. auch RATZINGER: Der Geist der Liturgie, 143: „Die Größe der Liturgie beruht gerade […] auf ihrer Unbeliebigkeit.“ 125 MOSEBACH: Häresie der Formlosigkeit, 37.36f. 126 MOSEBACH: Häresie der Formlosigkeit, 67. 127 MOSEBACH: Häresie der Formlosigkeit, 109. 128 MOSEBACH: Häresie der Formlosigkeit, 86; vgl. ähnlich aaO., 135. 129 MOSEBACH: Häresie der Formlosigkeit, 136. 130 Vgl. MOSEBACH: Häresie der Formlosigkeit, 29f. 131 Vgl. MOSEBACH: Häresie der Formlosigkeit, 50.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

talisierung, ist genau jene, die oben (Kap. 2) als Problem des evangelischen Gottesdienstes mit seiner Wortkonzentration aufgewiesen wurde. Problematisch erscheint mir Mosebachs Zugang dann aber in zweifacher Hinsicht: Einerseits ist seine Dualisierung von ‚guter‘ alter Messe und ‚schlechter‘, da zu Kitsch und Entleerung tendierender neuer Messe m.E. kaum hilfreich und wird der faktischen Pluralität, in der auch die tridentinische Messe schon immer gefeiert wurde und in der die erneuerte Messe gegenwärtig gefeiert wird, nicht gerecht. Mosebachs Entschiedenheit in dieser Frage atmet eher den Geist romantischer Verklärung einerseits,132 fundamentalistischer Fixierung andererseits, als dass sie seinem eigenen ästhetischen Ansatz wirklich gerecht werden würde. Denn dann müsste – und dies ist das zweite Problem, das ich bei Mosebach wahrnehme, – sehr viel stärker die rezeptionsästhetische Vielheit der Wahrnehmung der Messe in den Blick kommen. Mosebachs Ästhetik ist faktisch die einer werkästhetischen Totalität: Das eine überkommene Werk wird von ihm (und anderen) in vermeintlich ‚rechter‘ Weise gedeutet, weswegen auch klar ist, was die einzig wahre Form der Inszenierung dieses Werkes bedeutet. Dass es, gerade wenn ästhetisch argumentiert wird, immer die Frage der neuen Inszenierung unter neuen Gegebenheiten in neuen Räumen gibt und dass jede Inszenierung von den unterschiedlichen Anwesenden jeweils verschieden wahrgenommen wird – dies sind Aspekte, die bei Mosebach zu kurz kommen, die ihn aber zu einer differenzierteren Sicht der Entwicklungen der katholischen Liturgie in den vergangenen gut vierzig Jahren hätten führen können. 4.1.2.4 Das Problem der Kritik oder: Wo bleibt das Wort? Es ist evident und war bei Mosebach und Lorenzer und erst recht bei den Piusbrüdern ablesbar, dass die Kritik an den Entwicklungen im Zweiten Vatikanischen Konzil einseitig bleibt und mit klaren Dichotomien arbeitet. Das Feindbild steht fest und hat jeweils mit der zunehmenden Wortorientierung des katholischen Gottesdienstes zu tun, die als ‚protestantisierend‘, als intellektualisierend, das Ritual, die Sinnlichkeit und die Symbole zerstörend und die überzeitliche liturgische Welt vernichtend beschrieben wird. Dass damit ein Problemaspekt zurecht benannt ist, wurde mehrfach betont. Das umgekehrte Problem aber besteht in der Zurückdrängung und Verachtung des Wortes. Ich zeige nur an einem konkreten Beispiel, wie diese neuerliche ‚Wortvergessenheit‘ sich artikulieren kann und nehme dazu den 2006 erschiene132 Bereits in der Zeit der Romantik lässt sich eine ästhetische Hochschätzung der lateinischen Messe feststellen; vgl. REDTENBACHER: Zur Entwicklung des Liturgiebegriffs, 30.

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nen Beitrag des katholischen Theologen Michael Kunzler mit dem Titel „Bleibt die Liturgie?“ in den Blick. Kunzler sucht nach einem gegenwärtig tragfähigen Kultbegriff und findet diesen, indem er – einem Mainstream der Begriffsentwicklung im 20. Jahrhundert folgend – einen problematisch einseitigen anabatischen Kultbegriff ablehnt und Kult stattdessen in der Relation von Katabasis und Anabasis beschreibt.133 Mit Heribert Mühlen erkennt er, dass der Kult seine Wurzel in der Ursünde des Menschen habe. Der Mensch nämlich könne die Profanität der Welt nicht unschuldig nutzen; d.h. anders gewendet, dass er diese Profanität im Selbstabschluss gegenüber Gott zur eigenen Selbststeigerung missbrauche. Der Kultus mit seinen festen Zeiten und Orten der „Danksagung für die Profanität“ bilde ein notwendiges Gegengewicht. Die Eucharistie wird so paradigmatisch für den Kult.134 Demgegenüber wehrt er sich gegen alle – nicht mehr nur protestantischen (!) – Auffassungen, wonach das Wort gegenüber den letztlich unbedeutenden Zeichenhandlungen von allein entscheidender Bedeutung sei. Ein solches Verständnis würde zu der Position Zwinglis führen, wonach all diese Handlungen lediglich dazu dienten, dass „die sach nit gar dürr und rouw verhandlet unnd der menschlichen blödikeit ouch etwas zugegebenn wurde.“135 Diese sicher berechtigte Warnung vor einer ‚Kultelimination‘ durch das Wort führt bei Kunzler faktisch dazu, dass das Wort aus seinen Überlegungen verschwindet. Dies zeigt exemplarisch seine abschließende metaphorische Charakterisierung des Kults im Paradigma der Erzählung von der Verklärung Jesu.136 Diese deutet er so, dass in Jesus Christus der eigentliche „Kultort“137 anschaulich werde; der Ort, an dem die Menschlichkeit (Kleider, Gesicht) nicht aufgelöst, sondern verwandelt werde. Genau dies sei das Grundgeschehen des Kults, die Verbindung von „Irdische[m] und Himmlische[m] […] durch Christus“138. Kunzler schreibt: „Im menschlichen Tun gottesdienstlichen Feierns, das sich von allem unterscheidet, was Menschen ansonsten noch zur Lebensbewältigung tun und das allein auf Gott hin ausgerichtet ist, bricht die göttliche Herrlichkeit auf faszinierende Weise in diese öde, dem Tod zulaufende Welt ein.“139

133

Vgl. KUNZLER: Bleibt die Liturgie, 61–67. Vgl. KUNZLER: Bleibt die Liturgie, 65–67; Zitat: 66. 135 Vgl. KUNZLER: Bleibt die Liturgie, 58; Zitat nach NIEBERGALL: Art. Agende, 29 (vgl. Zwingli, Action oder bruch des nachtmals [1525], 14,8–11). 136 Vgl. KUNZLER: Bleibt die Liturgie, 68–70. 137 KUNZLER: Bleibt die Liturgie, 68. 138 KUNZLER: Bleibt die Liturgie, 69. 139 KUNZLER: Bleibt die Liturgie, 69f. 134

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Dass in der Verklärungsszene auch das Wort eine entscheidende Rolle spielt („Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe, den sollt ihr hören!“; Mt 17,1–9p, hier: V. 5), blendet Kunzler aus seinen Überlegungen völlig aus. Dabei könnte die Verklärungsgeschichte zu einer paradigmatischen Geschichte für das In- und Miteinander von Symbol und Wort werden – einem Symbol, das mehr zeigt, als unsere übliche irdische Weltwahrnehmung je zeigen könnte, und einem Wort, das keineswegs einfach ‚verstanden‘ und als solches abgehakt werden könnte, sondern als gehörtes hineinführt in eine fortgesetzte Bewegung. Genau diese Verbindung von Wort und Kult war das Anliegen der Konzilserklärung „Sacrosanctum Concilium“, wenn es in ihr heißt: „[…] in Liturgia ritum et verbum intime coniungi […]“ (SC 35). 4.1.3 Die Kritik der Kritik: Wort und Ritual, Mysterium und Metapher im Wechselspiel Auf der von der Formulierung in Sacrosanctum Concilium 35 eröffneten Linie denken neuere liturgiepraktische und -theologische Ansätze weiter. Auch diejenigen, die die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils und die Veränderungen, die sich seither in liturgicis vollzogen haben, gut heißen, nehmen einige der problematischen Folgen des Konzils, auf die dessen Kritiker in psychologisch-philosophischer oder ästhetischer Perspektive hinweisen, wahr und suchen nach Wegen der Gestaltung bzw. des Denkens, die die Engführungen, zu denen das Konzil führen konnte, vermeiden. Es geht damit um eine „Reintegration“ von Wort und Ritus. Den Begriff der „Reintegration“ verwendet etwa der italienische Liturgiker Andrea Grillo, dessen „Einführung in die liturgische Theologie“ 2006 in deutscher Übersetzung erschien; auf seine Wahrnehmung der Entwicklung der liturgischen Diskussion im 20. Jahrhundert gehe ich daher zunächst kurz ein (4.1.3.1), bevor ich anschließend praktische Versuche zur Ritualisierung des Wortes (4.1.3.2) wahrnehme und abschließend einen denkerischen Versuch dieser Reintegration kurz vorstelle (4.1.3.3). 4.1.3.1 Reintegration als Aufgabe gegenwärtiger Liturgiewissenschaft Der in Rom und Padua lehrende Liturgiewissenschaftler Andrea Grillo entwirft ein vereinfachtes und idealtypisches Modell der Entwicklung des Verhältnisses von Ritus (bzw. Liturgie/Kultus)140 und Theologie in den ver140 Die Begriffe werden bei Grillo nicht immer trennscharf, sondern häufiger auch synonym verwendet; vgl. dazu MEYER-BLANCK: Einleitung, 29f; vgl. auch die Definition von Liturgie bei

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gangenen Jahrhunderten. Nach einer langen Zeit der Entwicklung der Kirche, in der die Liturgie selbstverständliche Voraussetzung und Quelle der Theologie gewesen sei, sei ein „Bruch mit dem Ritus“ eingetreten, der „mit der Entstehung der modernen Welt“ koinzidiert und eine „Verdrängung des Ritus“ für die theologische Begriffsbildung und Reflexion bedeutete. Gegenwärtig sei eine „Phase der Reintegration des Ritus in Glauben und Theologie“ wahrzunehmen.141 Dabei ist für Grillo klar, dass diese drei Phasen nicht als strenge historische Abfolge gewertet werden dürfen, sondern es immer auch ein Miteinander und Nebeneinander der unterschiedlichen Ansätze gibt.142 In der liturgischen Bewegung, in der angesichts des Umbruchs der Moderne der Versuch der Wiederentdeckung des Ritus unternommen wurde, werde das Problem erkennbar. Es könne zu einer „Schwäche und Naivität“ kommen, wenn ein schlichter Weg zurück gesucht und der Versuch einer Repristination überkommener Feierformen und Begrifflichkeiten versucht werde. Die simple Rückkehr zu vormodernem Denken müsse notwendig scheitern.143 Selbstverständlich aber sei auch das Perpetuieren des modernen Weges, der in einer anthropologischen Wende den Ritus an den Rand drängt und so von den konkreten Gestalten des Glaubens in die Abstraktion einer transzendentalen Anthropologie (Grillo zeigt dies am Beispiel von Karl Rahner) flieht, kein denkbarer Weg.144 Was gegenwärtig anstehe, sei die Notwendigkeit zur Reintegration in einer zweiten anthropologischen Wende, die weder ein Primat der Theologie gegenüber der Anthropologie noch umgekehrt ein Primat des Anthropologischen über das Theologische behaupte, sondern beides miteinander bedenke.145 Die allgemeinen Beobachtungen Grillos zur Wiedergewinnung einer liturgischen Theologie lassen sich auch auf die Frage nach dem Verhältnis von Wort und Ritus anwenden und entsprechend umformulieren. Auch hier

GRILLO: Einführung in die liturgische Theologie, 44: „Das Spezifikum der Liturgie ist […], dass es sich um die rituelle Feiergestalt des Heilsgeschehens, des Paschamysteriums handelt […]“ [Hervorhebungen im Original]. 141 GRILLO: Einführung in die liturgische Theologie, 47 [Hervorhebungen im Original]; im Vorwort zur deutschen Ausgabe bemerkt Grillo, dass er inzwischen nicht mehr nur einseitig von „Verdrängung“, sondern von „Verdrängung und Überdeterminierung“ sprechen wolle. Mit der Zurückdrängung des Ritus sei es gleichzeitig zu einer Überdeterminierung in anthropologischer Perspektive gekommen und damit zu einer „Flucht der Anthropologie vor jeder relevanten Transzendenzbeziehung“ (aaO., 13). – Vgl. ähnlich auch ODENTHAL: Liturgie als Ritual, 47–100. 142 Vgl. GRILLO: Einführung in die liturgische Theologie, 52f. 143 Vgl. GRILLO: Einführung in die liturgische Theologie, 51 [Zitate ebd.]. 144 Vgl. GRILLO: Einführung in die liturgische Theologie, 82–100. 145 Vgl. GRILLO: Einführung in die liturgische Theologie, 234–236; vgl. ders.: La nascita; vgl. auch meine Beschreibung eines abduktiven Modells theologischen Arbeitens (Kap. 1.5).

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

lässt sich eine Zeit des modernen Umbruchs konstatieren, die den Ritus prekär macht und das Wort in den Mittelpunkt rückt. Gegenwärtig scheint die Rolle rückwärts hin zu einem vormodern verstandenen Ritus zwar vielleicht ästhetisch faszinierend, gleichwohl problematisch und faktisch nur um den Preis eines Verzichts auf kulturelle Anschlussfähigkeit (vgl. die Piusbruderschaft) möglich. Daher gilt es, Wege der Reintegration zu suchen, die Grillos Beschreibung der zweiten anthropologischen Wende entsprechen. 4.1.3.2 Ritualisierungen des Wortes Besonders in der deutschsprachigen katholischen Liturgiewissenschaft wird seit einigen Jahren die Frage intensiv ventiliert, welche Gestaltseite dem Wort in der Liturgie zukomme. Die ästhetische Grundeinsicht in das Ineinander von Form und Inhalt steht im Hintergrund, wenn etwa Benedikt Kranemann zur Notwendigkeit der Beachtung der „ritualisierten Formen und Zeichenhandlungen“ im Umgang mit dem Wort in der Liturgie auffordert.146 Zu vermeiden sei ein einseitig katechetisierender Umgang mit dem Wort. Kranemann schreibt: „Viel zu häufig scheint noch das Modell einer Belehrung und Unterweisung im Vordergrund zu stehen. […] Die performative, also auf die Veränderung von Wirklichkeit angelegte Kraft der Liturgie tritt dahinter zurück […]. So wird das, was Bibel, zumal als Heilige Schrift, für die Liturgie sein soll, auf den Kopf gestellt.“147

Kranemann fordert dazu auf, unterschiedliche „Feierformen mit der Bibel“ zu entwickeln148 und die „Wortverkündigung als [liturgische, AD] Gestaltungsaufgabe“ zu verstehen.149 „Wortverkündigung meint nicht nur das Verlesen von Texten, sondern ist, wie die Liturgie insgesamt, ein komplexes Geschehen mit Zeichen, Handlungen, prozessionalen Elementen, mit unterschiedlichem liturgischen Personal etc.“150

146

KRANEMANN: Bibel und Liturgie, 212; vgl. auch ODENTHAL: Liturgie als Ritual, 216. KRANEMANN: Bibel und Liturgie, 210; vgl. auch STEINS: „Hört dies zu meinem Gedächtnis!“, der den anamnetischen Charakter der Schrift hervorhebt, der diese jeder einseitig ‚historischen‘ Rezeption in liturgischem Kontext enthebe. – Vgl. meine Überlegungen zum Verfremdungseffekt des Wortes durch den Kult, die in eine ähnliche Richtung laufen; unten Kap. 5.3. 148 Vgl. KRANEMANN: Bibel und Liturgie, 212. 149 KRANEMANN: Wort – Buch – Verkündigungsort, 57. 150 KRANEMANN: Wort – Buch – Verkündigungsort, 62. 147

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Die Kreativität, die sich an dieser Stelle im gegenwärtigen Katholizismus wahrnehmen lässt, halte ich (auch für eine mögliche evangelische Rezeption) für anregend. So wird u.a. vorgeschlagen, durch die Einführung einer Proskynese vor der Heiligen Schrift in Anlehnung an Neh 8 eine Haltung der Ehrfrucht wiederzugewinnen (Josef Wohlmuth)151, ebenso durch das „Hereintragen und die Verehrung des Evangeliars“152 (bzw. einer vollständigen Lese-Bibel153) oder durch dessen Gestaltung154 bzw. seinen Aufbewahrungsort im Gottesdienstraum.155 Es wird die verstärkte Wiederentdeckung von Weihrauch, Licht und Kerzen im Kontext der Lesungen angeregt (Egbert Ballhorn),156 die Mitführung einer Lese-Bibel bei der Fronleichnamsprozession gleichwertig neben der Monstranz gefordert (Heinz-Günther Schöttler)157 oder über Wege nachgedacht, wie Lektoren für ihren Dienst nicht nur praktisch und rhetorisch, sondern auch theologisch geschult werden können.158 Damit wird eine Linie der praktisch-liturgischen Kreativität wieder aufgenommen, wie sie unmittelbar nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil vorhanden war und bereits damals das Ziel hatte, die theologischen Leitlinien des Konzils in die praktische Gestaltung umzusetzen. Als Beispiel erwähnt Benedikt Kranemann die 1965/66 erbaute HeiligGeist-Kirche in Emmerich, die das zentrale Bild der ‚beiden Tische‘ in die architektonische Gestaltung umsetzt.159 Im Blick auf solche praktischen Ansätze zur rituell-symbolischen Betonung des Wortes erweisen sich die protestantischen Kirchen (trotz des seit nunmehr etwa zwanzig Jahren anhaltenden ästhetischen Paradigmas in der Praktischen Theologie) als erstaunlich zurückhaltend.160

151

Vgl. SCHÖTTLER: „Eingeladen zum Hochzeitsmahl des Wortes“, 225. KRANEMANN: Wort – Buch – Verkündigungsort, 58. 153 Vgl. dazu z.B. SCHÖTTLER: „Eingeladen zum Hochzeitsmahl des Wortes“, 226f – die Gleichwertigkeit der Bücher des Alten Testaments als „Heiliger Schrift“ würde so betont werden. 154 Vgl. KRANEMANN: Wort – Buch – Verkündigungsort, 66–68. 155 Vgl. KRANEMANN: Wort – Buch – Verkündigungsort, 68–70. 156 Vgl. BALLHORN: Die Bibel, 250. 157 Vgl. SCHÖTTLER: „Eingeladen zum Hochzeitsmahl des Wortes“, 227. 158 Vgl. BLASBERG-KUHNKE: „Geeignet und gut vorbereitet …“. 159 Vgl. KRANEMANN: Wort – Buch – Verkündigungsort, 60f; vgl. die Skizze unter http://www. kirchenrundgang.heilig-geist-emmerich.de. 160 Vgl. GAGNEBIN: Y a-t-il un rite réformé; Laurent Gagnebin verweist u.a. auch auf die Forschungslücke in dieser Frage im evangelischen Kontext: Historische Gestaltungen im Umgang mit dem Wort in den Kirchen der Reformation seien kaum ein Thema der Forschung, vgl. aaO., 135. – Erst in jüngster Zeit gibt es hier Veränderungen, wofür u.a. Martin Nicols Liturgik stehen kann (vgl. NICOL: Weg im Geheimnis); vgl. auch meine eigenen Überlegungen unten Kap. 6. 152

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Das Ziel aller Ansätze zur Ritualisierung des Wortes kann mit Birgit Jeggle-Merz wie folgt beschrieben werden: „Nicht jedes Wort, das im Gottesdienst als ‚Wort des lebendigen Gottes‘ verkündet wird, muss intellektuell erfasst werden, sondern es geht im Verkündigen um die Eröffnung eines Heilsraumes, in dem sich das Verkündete an den Verkündenden vollziehen kann.“161

4.1.3.3 Mysterium und Metapher Der Frage nach der Verbindung von „Ritus“ und „Wort“, wie sie sich von SC 35 her stellt, nähern sich die im vorangehenden Abschnitt vorgestellten Ansätze von der Seite der liturgischen Gestaltung. Von der – im Wechselspiel abduktiven Theologietreibens – ‚anderen‘ Seite, von der Seite der Denkmöglichkeit in theologischem Horizont her, müsste die Fragestellung nochmals anders aufgegriffen werden. Dies hat der Laacher Benediktiner Cyprian Krause in seiner Dissertation „Mysterium und Metapher“ aus dem Jahr 2007 getan.162 Darin konfrontiert er die Mysterientheologie Odo Casels (1886–1948)163 mit der Metapherntheologie des evangelischen Systematikers Günter Bader und inszeniert einen Dialog der beiden Ansätze, der zeigt, wie eine dezidiert worttheologisch und hermeneutisch argumentierende Liturgik helfen kann, den Ansatz einer vom Mysterium herkommenden Liturgik so weiterzudenken, dass sich die Hermetik der Mysterientheologie hin zur Hermeneutik der Worttheologie öffnet.164 Casels Theologie (in seiner eigenen Zeit und Situation ambivalent rezipiert) könnte angesichts der gegenwärtigen Problematik auf den ersten Blick eine faszinierende Perspektive bedeuten: Casel verabschiedet das neuzeitliche, in die Krise geratene Subjekt und wendet sich „einem am Phänomen orientierten, ‚ganzheitlichen‘ und symbolischen Denken“ zu – ein Ansatz, der evangelischerseits an den (von Krause nicht rezipierten) Manfred Josuttis in seiner neueren, phänomenologisch orientierten Phase erinnert. Dazu blickt Casel „weit in die Vergangenheit“ und greift auf Denkmuster aus patristischer Zeit, aus platonischer und neuplatonischer

161

JEGGLE-MERZ: „… er soll darin lesen sein Leben lang“, 254. Vgl. aber z.B. auch SCHILSON: Symbol und Mysterium. 163 Vgl. vor allem CASEL: Das christliche Kultmysterium. 164 Vgl. die Architektur des Buches, in dem auf eine Einführung (KRAUSE: Mysterium und Metapher, XIII–XXX.1–83) ein ausführliches Kapitel zu Casel folgt (aaO., 85–276), dann ein Kapitel zu Bader (aaO., 277–473), gefolgt von einem dritten und abschließenden Kapitel, das „Metamorphosen zwischen Mysterium und Metapher“ untersucht (aaO., 475–581). 162

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Philosophie sowie auf die heidnischen Kultmysterien zurück.165 Für Casel gilt: „Das Mysterium ist eine heilige kultische Handlung, in der eine Heilstatsache unter dem Ritus Gegenwart wird; indem die Kultgemeinde diesen Ritus vollzieht, nimmt sie an der Heilstat teil und erwirbt sich dadurch das Heil.“166

Damit fange sich Casel das Problem ein, die Frage klären zu müssen, wie der Mensch der Gegenwart zu dieser Art von Mysterienerfahrung und Mysterienfeier zurückfinden könne. Diese Frage aber kläre Casel nicht, sondern ‚löse‘ sie mit der Volte, dem Sprung von einer archaischen Symbolik, die dem Uneingeweihten verschlossen bleibe, zu einer pneumatisch vermittelten zweiten Symbolik, die dem Eingeweihten alles eröffne. Wie von der einen zu der anderen zu gelangen sei, reflektiert Casel nicht näher. In Krauses Worten: „Die Symbolik 1 hat das Niveau menschlicher Sprache noch gar nicht erreicht, da schließt sie sich bereits an eine Symbolik 2 an, die vorgibt, in reiner Geistigkeit über das Niveau menschlicher Sprache bereits erhoben zu sein.“167

Damit bleibt sein Rückgriff auf das Mysterium sowohl denkerisch als auch praktisch unbefriedigend. Es sei der Versuch einer Rolle rückwärts in ein Denkmuster, das gegenwärtig nicht mehr erschwinglich sei.168 An diesem Punkt greift Krause auf Baders Metaphorologie zurück, da diese in der Lage sei, die Hermetik von Casels tendenzieller Gnosis und Mysterienschau in die Hermeneutik verstehbarer Symbolprozesse zu verwandeln. Bader umschreibt den Kern des liturgischen Geschehens mit dem Begriff „Wortopfer“, das zwischen seinem Inhalt als Kreuzesopfer und seiner liturgischen Form als Lobopfer als Oxymoron beschrieben werden muss („Als ‚Fluch‘ ist das Kreuz das genaue Gegenteil von Lob!“169), in metaphorischer Perspektive aber als Geschehen der Wortentstehung und Wortgabe erscheint.170 Die Unmöglichkeit, eine angemessene Sprache bzw. überhaupt Sprache in der Gott-Mensch-Relation zu finden, verwandelt sich im Geschehen des Gottesdienstes zur Gabe, zur geschenkten Möglichkeit. Im Blick auf die Eulogie bedeutet dies z.B., dass es in ihr, in der „metaphorische[n] Übertra165

KRAUSE: Mysterium und Metapher, 129. GRILLO: Einführung in die liturgische Theologie, 140. 167 KRAUSE: Mysterium und Metapher, XXIV; vgl. aaO., 227.258. 168 Es scheint mir, dass damit auch das Problem des Versuchs von Manfred Josuttis benannt ist, möglichst direkt an Erfahrungen des „Heiligen“ anzuknüpfen, wie er sie in der Theologiegeschichte und Frömmigkeitstradition (christlich wie außerchristlich) beobachtet. 169 GREGUR: Mysterium und Metapher, 248. 170 Vgl. KRAUSE: Mysterium und Metapher, bes. 283.427–453. 166

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

gung der Welt in einen lesbaren Namen Gottes“, zu einer Gabe des Wortes kommt.171 Am Ende des Durchgangs ergibt sich die Perspektive einer „Mysterienmetaphorik“ bzw. umgekehrt einer „Metaphernmystik“,172 die verhindert, dass das Mysterium zum „sakrale[n] Kultspiel“ und die Metapher zum „allegorische[n] Wortspiel“ wird.173 Gleichzeitig gelingt es so, das Ikonische des Mysteriums und das Ikonoklastische der Metapher zusammenzuhalten174 und die Frage nach der Beschreibung der eigentümlichen „participatio actuosa“ im liturgischen Prozess einer Antwort zuzuführen, indem mimesis (Verwandlung ins Bild auf der Seite des Mysteriums) und poiesis (je neues Vermittelt-Werden im metaphorischen Prozess) in ihrer wechselseitigen Bezogenheit aufeinander bedacht werden.175 Der Leser der Dissertation erhält mit dem Werk Krauses eine Denkmöglichkeit für den Grenzgang von (Kult-)Mysterium und Wortgeschehen; allerdings entfernen sich die (teilweise sehr spekulativen) Überlegungen Krauses so weit von der konkreten liturgischen Phänomenalität, dass ihre Rückbindung auf diese Ebene fast unmöglich wird und mit ihr die Frage nach den Gestaltungsperspektiven, die sich aus dem denkerischen Ansatz ergeben, allzu offen bleibt. Ein zweites Problem scheint mir mit der Erarbeitung Krauses gegeben: Der Rekurs auf die Metaphoralität setzt die Mysteriengegenwart dem linguistischen Prozess der Hermeneutik aus; Krauses Arbeit gehört so mittenhinein in die Überlegungen, die kulturwissenschaftlich mit dem linguistic turn verbunden sind. Demgegenüber kommt die im Kontext des performative turn unerlässliche Frage nach den Inszenierungen und Gestalten in Krauses Arbeit (notwendig) zu kurz. Ge171

KRAUSE: Mysterium und Metapher, 321. KRAUSE: Mysterium und Metapher, 6 [Hervorhebungen im Original]. 173 KRAUSE: Mysterium und Metapher, 28 [Hervorhebungen im Original]. 174 Vgl. KRAUSE: Mysterium und Metapher, XV. 175 Versucht man, Mysterium und Metapher im Anschluss an Krause in einer Tabelle zusammenzustellen, so ergibt sich folgendes Bild, und es zeigt sich, wie beide Aspekte notwendig zusammengeführt werden müssen, um Einseitigkeiten und Kurzschlüsse zu vermeiden: 172

Mysterium Teilhabe repraesentatio symbolisch antik platonisch gewordene Symbolik Zusammenhang Hermetik Unmittelbarkeit Mimesis silentium mysticum

Metapher Teilnahme participatio actuosa (im starken Sinn!) sprachlich neuzeitlich aristotelisch werdende Symbolik Bruch Hermeneutik Vermittlung Poiesis Wort-Opfer

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nau an diesen aber scheint es mir gegenwärtig nötig in liturgicis weiter zu denken, was im Folgenden fünften Kapitel der Erarbeitung unter Aufnahme kulturwissenschaftlicher Einsichten geschehen soll.176 Zunächst aber soll ein (sehr viel kürzerer) Blick auf das neuzeitliche Judentum aufzeigen, dass sich auch dort ein zugleich problematisches und anregendes Wechselspiel von Ritus und Wort beobachten lässt.

4.2 Kult und Wort in neueren jüdischen liturgischen Entwürfen Seit einigen Jahren gibt es einen liturgiewissenschaftlichen Austausch zwischen Christen und Juden, christlicher und jüdischer Liturgie.177 Ein wesentlicher Antrieb für diese Kooperation lag in der Suche nach gemeinsamen Wurzeln liturgischer Gegebenheiten und Sequenzen in Christentum bzw. Judentum – eine Forschungsrichtung, die die klassische Annahme, wonach die jüdische Liturgie in aller Regel die ältere sei, aus der die christliche geschöpft habe, teilweise falsifizierte und auf eine wechselseitige Anregung christlicher und jüdischer Liturgie hinwies.178 Seltener wurden christliche und jüdische Liturgie in liturgiesystematischer oder liturgiepraktischer Perspektive miteinander ins Gespräch gebracht.179 Angesichts der in vieler Hinsicht parallelen historischen Entwicklungen, der materialter gemeinsamen Tradition (Psalmen, die weiteren Texte der Hebräischen Bibel etc.) sowie der gegenwärtig vergleichbaren Aufgaben lohnt m.E. aber gerade diese Dimension des gegenseitigen Austauschs. Der Abschnitt in diesem Kapitel zum Judentum kann nun allerdings nicht mehr leisten, als diese Perspektive als eine Art Platzhalter zu markieren und sie im Blick auf die Frage nach dem Verhältnis und Wechselspiel von Wort und Ritus für künftige Forschungen zu konturieren. Ich gehe dazu 176 Vgl. auch GRILLO: Einführung in die liturgische Theologie, 76, der (im Ausgang von Augustin und Thomas und im Kontext seiner zeichen- und symboltheoretischen Überlegungen) zu der für die liturgische Theologie notwendigen Richtungsangabe kommt: „An die Stelle des Sakramentes in genere signi tritt das Sakrament in genere ritus.“ Vgl. auch aaO., 233f. – Generell versucht die vor allem in Padua beheimatete Schule liturgischer Theologie zu einer am Ritus orientierten und solchermaßen handlungsorientierten Sicht des Gottesdienstes zu finden; vgl. dazu auch MEYER-BLANCK: Rez. zu Bonaccorso; vgl. zur Wiederentdeckung der rituellen Dimension der Liturgie in der Liturgiewissenschaft der Gegenwart auch GERHARDS/KRANEMANN: Einführung in die Liturgiewissenschaft, 19–22. 177 Vgl. zur Übersicht DEEG: Liturgik und christlich-jüdischer Dialog. 178 Vgl. MILDENBERGER: Die Geschichte zweier Zwillingsbrüder. 179 Vgl. aber z.B. ASSEL: Geheimnis und Sakrament (ein Buch, das über die Theologie des Namens zu einer philosophischen und theologischen Annäherung an das Verständnis des Abendmahls gelangt und dazu intensiv auf Hermann Cohen und Franz Rosenzweig rekurriert); EICKER: Einsäen der Ewigkeit ins Lebendige (ein Werk, in dem der Autor Franz Rosenzweigs Ästhetik für die theologische Wahrnehmung der Kirchenmusik fruchtbar macht).

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

in drei Schritten vor und nehme zunächst den Umbruch der Wort-Gestalt im jüdischen ‚Gottesdienst‘180 im frühen 19. Jahrhundert und seine Konsequenzen wahr, blicke dann auf einige gegenwärtige Ansätze, die auf eine Erneuerung der Ritualität des Wortes hinauslaufen, und stelle in einer knappen Relektüre vor, welche Impulse sich aus der Liturgik Rosenzweigs für die Fragestellung nach Wort und Kult ergeben könnten. 4.2.1 Der Umbruch der Wort-Gestalt im frühen 19. Jahrhundert oder: Die Entdeckung der Predigt Mit einer Zeitverschiebung von etwa 150 Jahren lassen sich im (zunächst: deutschsprachigen) Judentum liturgische Entwicklungen und Diskussionen wahrnehmen, die bis in die Fragestellungen und Argumentationslinien hinein denen vergleichbar sind, die zur Entwicklung im Katholizismus um die Mitte des 20. Jahrhunderts vorgestellt wurden.181 Es ging um liturgisches ‚aggiornamento‘ im Kontext einer generellen Bewegung hin zur Gesellschaft der Gegenwart und einer Aufnahme der Herausforderungen der modernen Lebenswelt, um die Verkürzung und Verschlankung der Liturgie im Sinne ihrer Verständlichkeit und Konzisität, um die Einführung der Landessprache für die Liturgie, um die Aufnahme von (landessprachlichen) Chorälen sowie um die Stärkung der Predigt. Für die jüdische Seite war klar, dass der protestantische Gottesdienst zum Vorbild diente;182 auf katholischer Seite wurde dies den Reformkräften von ihren Kritikern vorgeworfen. In beiden liturgischen Traditionen kam es so zu Umbrüchen im Liturgieverständnis, die sich für die weitere Entwicklung als einschneidend erweisen sollten und die vor allem auch das Wechselspiel von Wort und Ritus betreffen.

180 Die Bezeichnung „Gottesdienst“ kann auf das Judentum nur mit Einschränkungen angewandt werden (und wird innerhalb des Judentums selbst erst seit dem frühen 19. Jahrhundert und nur in reformorientierten Kreisen verwendet). Der Grund liegt darin, dass der ‚Gottesdienst‘ am Schabbat nichts anderes ist als das spezifisch gestaltete (in mancher Hinsicht erweiterte, in anderer verkürzte) alltägliche Gebet. Konsequent heißen jüdische ‚Agenden‘ bzw. Gottesdienstordnungen bis heute z.B. ʺʥʬʴʺʤ ʸʣʱ („Ordnung der Gebete“). Vgl. dazu BÖCKLER: Jüdischer Gottesdienst, 17f. 181 Vgl. zum Folgenden insgesamt DEEG: Predigt und Derascha, 121–161 [Zwischen Derascha und Predigt. Jüdische Predigt und jüdische Homiletik im 19. Jahrhundert]. 182 Vgl. nur ELBOGEN: Der jüdische Gottesdienst, 399.

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4. Komparatistisches: Das Verhältnis von Wort und Kult

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Die jüdische Entwicklung lässt sich knapp und schematisch wie folgt beschreiben: Eine Liturgietradition, die das ‚Wort‘ in Gestalt der Hebräischen Bibel (und hier allen voran: in Gestalt der Tora) in ritueller Gestalt über Jahrhunderte als Mittelpunkt ihres Gebetslebens und Zentrum der Gemeinschaft gefeiert hatte, verwandelte sich im reformierten Bereich in eine Liturgietradition, die das ‚Wort‘ als verstandenes, gedeutetes, aktualisiertes und so ethisch anleitendes und innerlich erbauliches in eine Opposition zum lediglich ‚äußerlichen‘ Ritus setzte. – Diese thetische und schematisierenddichotome Skizze der Entwicklung führe ich im Folgenden mit einigen weiteren Strichen fort. Die jüdische Reform, wie sie sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zunächst vor allem im deutschsprachigen Bereich wahrnehmen lässt und wie sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte, war auch und vor allem eine liturgische Reform.183 Was in meiner obigen These als funktionierender Gebetsgottesdienst, in dem das Wort der Tora im Ritus der alltäglichen und vor allem der Sabbat-Feier seine Gestalt findet, beschrieben wurde, wurde von vielen Jüdinnen und Juden keineswegs mehr so erlebt. Im Gegenteil empfand man den Gebetsgottesdienst als wenig erbaulich und ästhetisch abstoßend. In seiner umfassenden Darstellung zum jüdischen Gottesdienst schreibt der Reformrabbiner Ismar Elbogen im Rückblick aus den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts über den jüdischen Gottesdienst zu Beginn des 19. Jahrhunderts: „Seine Formen entsprachen nicht mehr den Anforderungen der neuen Zeit, Auge und Ohr fühlten sich in gleicher Weise abgestoßen, Verstand und Gemüt blieben unbefriedigt und kalt.“184 „Der alte Gottesdienst hatte sich überlebt, er war zu einer leeren Form geworden, das Hersagen von unverständlichen Gebeten, der abstoßende Gesang der Vorbeter, das lärmende Treiben in den Synagogen waren nicht mehr zeitgemäß, sie brachten keine Erbauung, befriedigten das Andachtsbedürfnis nicht.“185

Ein inhaltliches und formales Ungenügen der Reformer führte zu liturgischen Veränderungen. Hinzu kam der Beginn der Wissenschaft des Judentums und mit diesem die Möglichkeit, die Tradition in ihrem Gewordensein zu erkennen und – ganz im Duktus einer Renaissance-Hermeneutik – das

183

Vgl. nur exemplarisch die preußische Kabinettsorder vom 9.12.1823, die von staatlicher Seite jegliche liturgische Neuordnung verbietet, und damit unterstreicht, wie die jüdische Reform (mit ihren für die Gesellschaft insgesamt potenziell ‚beunruhigenden‘, ja destabilisierenden Konsequenzen!) vor allem auch als liturgische Reform wahrgenommen wird; vgl. dazu NOWAK: Judenpolitik in Preussen. 184 ELBOGEN: Der jüdische Gottesdienst, 395. 185 ELBOGEN: Der jüdische Gottesdienst, 408.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Ursprüngliche und Eigentliche gegenüber dem inzwischen Gewordenen wiederzugewinnen.186 Die konkreten Veränderungen bestanden einerseits in Kürzungen und Streichungen – vor allem vieler sogenannter Pijutim, gottesdienstlicher Poesie, die seit mehreren hundert Jahren zu einem stetigen Anwachsen des Gottesdienstes geführt hatten. Vielfach wollten die Reformer darüber hinaus mehr Ordnung und Einheitlichkeit in den als chaotisch und deshalb unschön empfundenen jüdischen Gottesdienst bringen.187 Weiter war die Einführung der Landessprache eine der wesentlichen Forderungen der Reformer – zunächst nur für einzelne Sequenzen der Liturgie und oft als Übersetzung neben dem hebräischen bzw. aramäischen Original, teilweise dann auch für die Liturgie insgesamt. Interessant ist, dass sich die Kritik der Reformgegner vor allem an dem partiellen oder vollständigen Verzicht auf das Hebräische entzündete (sowie besonders heftig auch an der Frage nach der Möglichkeit einer Orgelbegleitung des jüdischen synagogalen Gebetes). Ein für die Reformer wesentliches Element des Gottesdienstes sollte hinzukommen: die landessprachliche Predigt, die die Reformer als alten, im Mittelalter allerdings zurückgedrängten Teil des jüdischen Gottesdienstes sahen.188 Die Einführung der landessprachlichen Predigt wurde als entscheidendes Moment zur Belebung des Gottesdienstes insgesamt verstanden. So schreibt Siegmund Maybaum, der Verfasser der ersten umfassenden jüdischen Homiletik aus dem späten 19. Jahrhundert: „Die Opferhandlung der Alten wurde durch das freie Gebet beseelt, unser GebetCultus, der das Gebet in eine feste Form gegossen, muß wiederum durch die Predigt belebt werden. Wie die Opferhandlung der alten Zeit, so bedarf nämlich auch der Gebet-Cultus, der durch die abstumpfende Gewohnheit an Kraft verliert, anregend und erbauend auf das Gemüt zu wirken, eine[r] Belebung der religiösen Gesinnung. Diese Belebung ist seit jeher die Aufgabe der Predigt, durch welche das Gebet erst zum natürlichen Erguß der Seele wird; sie ist das bewegliche Element in dem festen Gefüge der Liturgie, der fließende Strom, der das starre Erdreich durchdringt und fruchtbar macht. Sie darf mit Recht die Seele des Gottesdienstes genannt werden.“189

186 Auch hier zeigt sich ein Zusammenhang, der sich im katholischen Bereich ganz ähnlich beobachten lässt. Das Aufkommen einer historisch-kritisch arbeitenden Liturgiewissenschaft ermöglicht die Forderung nach liturgischer Reform, da sich eine Gestalt ermitteln lässt, von der die liturgische Entwicklung ihren Ausgang nahm und die als ideale Liturgieform betrachtet werden kann. Das Vertrauen auf die objektive Verlässlichkeit der historischen Methode war bei vielen Vertretern der Wissenschaft des Judentums in ihrer Anfangszeit freilich noch ungebrochener, als dies mehr als 100 Jahre später im Katholizismus der Fall war. 187 Vgl. ELBOGEN: Der jüdische Gottesdienst, 398f.403 u.ö. 188 Vgl. ZUNZ: Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden. 189 MAYBAUM: Jüdische Homiletik 23; vgl. dazu auch DEEG: Predigt und Derascha, 151–156.

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Maybaums Formulierung ist charakteristisch für zahlreiche Äußerungen aus der Reformbewegung des 19. Jahrhunderts: Der Ritus in seiner tradierten und festgelegten Form erschien starr und so – in der Gewöhnung an ihn – wenig erbaulich. Demgegenüber leuchtete die (deutschsprachige) Predigt als Möglichkeit auf, im Gottesdienst ein aktuelles, den einzelnen unmittelbar ansprechendes Wort der Erbauung zu sagen. Das lebendige, beseelende Wort der Predigt trat in den Gegensatz zu dem im Ritus fixierten Wort. Entscheidend wurde die Verbindung von Wort, Erbauung und Verständlichkeit, die als Motor der liturgischen Reformen gelten konnte. So lag es auf der Hand, die geprägte Ritualisierung der Toraverlesung im Gottesdienst partiell zurückzufahren: Weithin schafft die reformierte Bewegung die kantillierende Lesung der Tora ab (wie vorher bereits in der Zeit der Aufklärung viele evangelische Geistliche die Lesung nicht mehr sangen, sondern sprachen). Zum ersten Mal im Jahr 1818 kam es zur Formierung der Gegenseite. In Hamburg erschien ein international verfertigtes Gutachten zum neuen Hamburger Gebetbuch. In dem Gutachten wurde erklärt, „[…] daß es verboten ist, die in Israel übliche Gebetordnung vom ersten bis zum letzten Worte zu ändern und erst recht etwas davon zu streichen; daß es verboten ist, in einer anderen als der hebräischen Sprache zu beten; und daß jedes Gebetbuch, das nicht den Vorschriften oder dem Brauche entsprechend gedruckt ist, ungültig […] ist […].“190

Die Formulierungen dieses rabbinischen Gutachtens bleiben ohne Begründungen. Es werden Verbote aufgestellt, die zeigen, dass sich das, was gegenwärtig als „Orthodoxie“ bekannt ist, erst im Gegenüber zu dem entwickelte, was inzwischen als „Reformbewegung“ fungiert. Vorher nämlich war die jüdische Liturgie über Jahrhunderte in den verschiedenen Liturgiegebieten ständigen Umarbeitungen, Erweiterungen und Kürzungen unterworfen. Die Einführung des Buchdrucks bedeutete eine gewisse, aber immer noch nur relative Normierung. Erst im Gegenüber zu den Veränderungen der Reformbewegung wurde die Unabänderlichkeit der Liturgie ‚dogmatisiert‘191 – ein Vorgang, der an die oben dargestellte Argumentation der Piusbruderschaft erinnert. In der Entwicklung des 19. Jahrhunderts wurden – vor allem um die Mitte des Jahrhunderts – nochmals Versuche zu einer Einigung innerhalb

190 191

Zitiert bei ELBOGEN: Der jüdische Gottesdienst, 406; vgl. aaO., 414. Vgl. dazu auch HOFFMAN: Re-imagining Jewish Worship, bes. 70–75.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

der deutschsprachigen Judenheit unternommen. In drei Rabbinerversammlungen (Braunschweig, 1844; Frankfurt, 1845; Breslau, 1846) kam es allerdings nicht zu einem Konsens. Vor allem die Sprachfrage (Hebräisch/Aramäisch oder Deutsch) verhinderte eine Annäherung der beiden Flügel im deutschsprachigen Judentum – und führte umgekehrt zur Herausbildung eines dritten Flügels zwischen der (radikalen) Reformbewegung und der (sich entwickelnden) Orthodoxie: dem sogenannten konservativen Judentum. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die Begeisterung des Aufbruchs der Reformbewegung allerorten gelegt, und es kaum zu ernüchterten Eingeständnissen des partiellen Scheiterns der Reformversuche sowohl auf politischem und sozialem als auch auf religiösem Gebiet. Man erkannte, dass die Reform der Vernunft zu viel, der Tradition und der Poesie zu wenig zugetraut hatte. Ismar Elbogen schreibt: „Es wurde mit kühl abwägendem Verstande reformiert, dem nüchternen Rationalismus viel von der Poesie und dem stimmungsvollen Gehalt des Gottesdienstes geopfert.“192 Am Ende seiner historischen Darstellung erkennt Elbogen die mangelnde Effektivität vieler Ansätze der Reform: „[…] die Vertrautheit mit dem Gottesdienste hat trotz seiner Vereinfachung nicht zugenommen, die Gleichgültigkeit gegen seine Einrichtungen ist gewachsen, sie ist gerade dort am größten, wo den Forderungen nach zeitgemäßen Umgestaltungen am meisten Rechnung getragen wurde. Darin aber liegt die wichtigste Aufgabe für die Zukunft, die alte Begeisterung für den Gottesdienst, die Innigkeit der Gebetsstimmung wieder zu erwecken. Der Gottesdienst muß wieder werden, was er den Vätern gewesen: der Mittelpunkt des religiösen Lebens, eine Stätte religiöser Sammlung und Weihe.“193

Das wesentliche Defizit, das Elbogen konstatiert, lässt sich – in meiner Terminologie – als Verlust der Vertikalen bezeichnen. Dem Gottesdienst fehlte die „Innigkeit der Gebetsstimmung“, so konstatiert Elbogen und macht damit eine Beobachtung, die sich etwa auch in der Entwicklung jüdischer Predigten in der Zeit des 19. Jahrhunderts zeigt. Sie bieten vor allem allgemein ethische Überlegungen bzw. Reflexionen zu Fragen des Glaubens auf einem hohen Abstraktionsniveau. So zeigt sich in den zahlreichen Predigten Siegmund Maybaums (teilweise im Selbstverlag herausgegebenen) eine gewisse Monotonie der Wiederholung immer gleicher und letzt-

192 193

ELBOGEN: Der jüdische Gottesdienst, 442. ELBOGEN: Der jüdische Gottesdienst, 443.

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lich erwartbarer Aussagen. Die Predigt, die als dynamisches Element gesehen wurde und den Gottesdienst beleben und beseelen sollte, hatte sich selbst zu einem ‚Ritus‘ im pejorativen Sinn des Begriffs entwickelt – und damit den (reformierten) Gottesdienst insgesamt in eine Krise geführt: Das durch das Ritual gebundene Wort der Gebete war ausgedünnt worden, das neue Wort der Predigt war selbst zum Ritual geworden. – Eine neue Bewegung der so genannten „Jüdischen Renaissance“ bemüht sich daher in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts um eine Wiederbelebung der Tradition und eine Wiederentdeckung des spezifisch Jüdischen. Namen wie Martin Buber und Franz Rosenzweig stehen herausgehoben für diese Wende.194 Ich komme auf Rosenzweigs liturgische Überlegungen unten (Kap. 4.2.3) zu sprechen, nehme aber zunächst die jüngste Entwicklung der reformorientierten jüdischen Liturgie im englischsprachigen Bereich in den Blick. 4.2.2 Faszination der Tradition: Neuere Gegenbewegungen und ihre Folgen Die Weichenstellungen der deutschsprachigen jüdischen Reform erreichten im 19. Jahrhundert zeitversetzt auch das europäische Ausland. Vor allem in den USA wurden sie weitergeführt, nachdem die Reformbewegung in Deutschland durch die Nazidiktatur und die Schoa faktisch ausgelöscht wurde und erst seit wenigen Jahren wieder einen Neuanfang gemacht hat. In den USA wurde 1892/1895 ein Reform-Gebetbuch unter dem Titel „Union Prayer Book. T’fillot Jisrael“ herausgegeben – auf dem Höhepunkt der „Classical Reform“-Bewegung, wie sie sich kurz vorher in der Pittsburgh Platform eine Basis gegeben hatte (1885).195 1922 und 1941 erschien dieses Gebetbuch nochmals leicht umgearbeitet. Vor allem aufgrund der neuen thematischen Herausforderungen und inhaltlichen Entwicklungen (allen voran durch die Schoa) wurde dieses Gebetbuch zunehmend als nicht mehr ausreichend empfunden. Die Rolle des Volkes und Staates Israel, die Frage nach dem Verbindenden innerhalb der jüdischen Gemeinschaft und nach dem Eigenen des Judentums wurde seit der Schoa neu gestellt. Das 1975 veröffentlichte neue Gebetbuch „Gates of Prayer. The New Union Prayerbook. Sha’are T’fillah“ nahm auf diese Aspekte Rücksicht – und beinhaltete unter anderem wieder mehr hebräische Gebete. Dieses Gebetbuch

194

Vgl. DEEG: Predigt und Derascha, 163–190. Vgl. zur Entwicklung der Reformgebetbücher in den USA BRONSTEIN: Platforms and Prayer Books. 195

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

besteht aus zehn unterschiedlichen und jeweils thematisch orientierten Gottesdienstformularen, so dass es von manchen eher als Anthologie denn als „Siddur“ wahrgenommen wurde. Bereits in den 1980er Jahren wurde die Notwendigkeit einer weiteren Reform des Gebetbuchs empfunden. Einer der Gründe war, dass die thematischen Gottesdienste oft als „preachy and limited“ erfahren worden seien, so die Central Conference of American Rabbis 1998;196 ein anderer, dass man sich in feministischen Kreisen an der dominant männlichen Gottesbezeichnung störte. In den 1990er Jahren wurden umfangreiche empirische Untersuchungen zu Gottesdienstverständnis und zu dem konkreten Umgang unterschiedlich mit der Gemeinde verbundener Jüdinnen und Juden in Auftrag gegeben („Lay Involvement and Liturgical Change“).197 Aufgrund der Erkenntnisse dieser Untersuchung und in mehreren Jahren einer intensiven Redaktionstätigkeit (mit Erprobungsdurchgängen und einer Vorab-Veröffentlichung im Internet) erschien 2007 das erste US-amerikanische Reformgebetbuch, das an erster Stelle einen hebräischen Namen trägt: Mishkan T’filah. Der Name ist die Aufnahme des transportablen Wüstenheiligtums (ʯʫʹʮ), das in der Darstellung des Pentateuch zum Prototyp des später zu errichtenden Tempels in Jerusalem wird. Damit zeigt sich bereits in der Veränderung der Namen der US-amerikanischen Reformgebetbücher im Laufe von etwas mehr als 100 Jahren eine interessante Tendenz. Vom allgemeinen „Union Prayer Book“ nähert man sich 1975 an die „Tore“ des Gebets („Gates of Prayer“) und betritt nun 2007 den mishkan, das Heiligtum.198 Kommentatoren sprechen daher auch von einer „Rückkehr zur Tradition“199 in der Reformbewegung bzw. von einer „re-ritualization“200 des reformierten Gottesdienstes. Die leitende Herausgeberin Elyse D. Frishman gibt der Theologie des Gebets in ihrem Vorwort eine deutliche Richtung: „Prayer must move us beyond ourselves.“201

196

Central Conference of American Rabbis, Recommendations, 10B. Methodisch erscheinen mir diese Untersuchungen interessant. Verschiedene Mitglieder von Gemeinden wurden über eine gewisse Zeit aufgefordert, ein ‚Gottesdiensttagebuch‘ zu führen und darin zu notieren, wann und wo sie in den Gottesdienst gehen und wie sie diesen wahrnehmen. – Vgl. zu der Studie und zu ihren Ergebnissen KNOBEL/SCHECHTER: What Congregants Want in Worship; vgl. auch KNOBEL: The Challenge. 198 Charakteristisch erscheint auch der auf der inneren Titelseite dem neuesten Buch vorangestellte Toravers: „Und sie sollen mir ein Heiligtum machen, dass ich unter ihnen wohne“ (Ex 25,8). 199 HARRIS: Rückkehr zur Tradition. 200 Rabbi Eric Yoffie, zit. bei LANDO: Reforming Reform. 201 FRISHMAN, in: Mishkan T’filah, ix; vgl. dies.: Entering Mishkan T’filah, 58. 197

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Der anthologische Charakter des Vorgängerwerks ist in Mishkan T’filah aufgehoben. Es erscheint wieder ein kohärent zu lesender Text – allerdings ein Text, der im einzelnen Variationsmöglichkeiten zu lässt. Das Buch bietet jeweils auf der rechten Seite den hebräischen Text der Gebete, eine englische Umschrift (um das Hebräische auch für die lesbar zu machen, die es nicht beherrschen) und eine nahe am Text bleibende englische Übersetzung. Auf der linken Seite findet sich eine neuere Übertragung sowie eine größere oder kleinere Anzahl von weiteren Texten bzw. Kommentaren. Damit ist Gemeinden die Möglichkeit gegeben, einerseits dem vorgegebenen Gottesdienst so zu folgen, wie er im Siddur aufgeführt ist, andererseits an unterschiedlichen Stellen auch zu variieren. Aber auch dem einzelnen Gottesdienstbesucher wird damit der Raum eröffnet, um entweder beim traditionellen Gebet mitzubeten oder selbstständig auf der linken Seite in neueren Texten zu lesen. Inhaltlich wird bei der Diskussion um das neue Gebetbuch vor allem auf die Bitte um die Auferstehung der Toten verwiesen (ʭʩʺʮʤ ʺʩʩʧʺ), die in der Reformbewegung immer umstritten war, da eine individuelle Totenauferweckung (meist) abgelehnt und stattdessen eine neue, messianische Zeit erwartet wurde. Mishkan T’filah aber nimmt diese Bitte – zumindest als Option – wieder auf.202 Interessanter als diese inhaltlichen Verschiebungen scheinen mir im Kontext der hier behandelten Fragestellungen die formalen Veränderungen, die ebenfalls auf inhaltliche Neuakzente verweisen. So wird dem Hebräischen im neuen Gebetbuch wieder ein weiterer Raum gegeben. Die empirischen Untersuchungen hatten nämlich gezeigt, dass auch viele derjenigen, die das Hebräische kaum beherrschen, sich Hebräisch im Gottesdienst wünschen.203 Die bislang in der Argumentation der Reformbewegung häufig betonte Verständlichkeit als Kritierium des Gottesdienstes sei für viele nicht so bedeutend; ein gewisses Maß an Unverständlichkeit mache offenbar nicht nur vielen nichts aus, sondern erhöhe im Gegenteil die Attraktivität des Gottesdienstes. Auch betont bereits der Executive Board der „Central Conference of American Rabbis“ im Jahr 1998 (auf dem Weg zum neuen Gebetbuch),

202

Vgl. HARRIS: Rückkehr zur Tradition. – Generell lässt sich in der US-amerikanischen Reformbewegung eine Tendenz hin zu mehr Tradition und zu einer positiveren Würdigung der Tradition seit einigen Jahren feststellen; charakteristisch dafür ist die neue „Pittsburgh Platform“ aus dem Jahr 1999 – eine Reformulierung dessen, was reformiertes Judentum in der Gegenwart bedeutet, mehr als 100 Jahre nach der ersten Pittsburgh Platform aus dem Jahr 1885. Vgl. dazu KAPLAN: American Reform Judaism, bes. 233–253; ders.: The Reform Theological Enterprise, 6– 8. Vgl. zur gegenwärtigen Situation der Reformbewegung auch JACOB: Renewing Reform Judaism. 203 Vgl. KNOBEL/SCHECHTER: What Congregants Want in Worship, 45f.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

dass ein Gebetbuch „should look and feel like a sacred text“.204 Schon von der Buchästhetik her sollte damit klar werden, dass es im Gottesdienst um mehr als zwischenmenschliche Kommunikation gehe. In diesem Zusammenhang wurde auch die Suche nach einer poetischeren Sprache wichtig – sowohl für die Übersetzungen als auch für die zahlreichen beigegebenen Texte. Insgesamt wird mit dem neuen Gebetbuch ein jüdischer Gottesdienst geschaffen, der Stabilität und Ritualität wieder als Werte definiert und sich kritisch gegen die Versuche abgrenzt, durch ständige Innovation besonders nahe an den Bedürfnissen der Gottesdienstbesucher sein zu wollen. Die Herausgeberin von Mishkan T’filah Elyse D. Frishman schreibt: „We thought ongoing innovation would refresh our worship. Not only was this exhausting for the worship leaders, it was impossible to sustain.“205 Damit nimmt das Gebetbuch einen Trend auf, der die neue Sehnsucht nach dem Ritual befriedigen kann, der aber damit gleichzeitig auch einem Neo-Romantizismus („neo-romanticism“) entgegenkommt, wie er einer Tendenz in der gegenwärtigen amerikanischen (und nicht nur amerikanischen!) Gesellschaft entspricht.206 Der Übergang von einer Sehnsucht nach Religion zu einer Sehnsucht nach romantischer Geborgenheit in einer unübersichtlicher werdenden Welt in überkommenen Formen ist leicht möglich. Nicht nur im US-amerikanischen, auch im englischen Reformjudentum erschien 2008 ein neues Gebetbuch. Es trägt wie das alte aus dem Jahr 1977 den Titel: „Forms of Prayer. Seder ha-tefillot“. Gleich im Vorwort betonen die Herausgeber unter der Leitung von Jonathan Magonet, dass die Worte eines Gebetbuchs „something eternal, reliable and secure“ seien, auch wenn dies dem Einzelnen nicht immer bewusst sei und auch dann, wenn die Worte für den Einzelnen situativ wenig bedeuteten.207 Dieser Tatsache eingedenk sehen sich die Herausgeber dennoch der Aufgabe zum Wandel („change“) verpflichtet.208 Auch in dem neuen englischen Gebetbuch fällt auf, dass das Hebräische wieder verstärkt betont werden soll. Auch besticht das Werk durch intensive ‚liturgiedidaktische‘ Hinführungen und Erläuterungen, die teilweise in Form von kurzen Erläuterungen, teilweise in Form von kleineren poetischen Texten auf die Bedeutung einzelner

204

Central Conference of American Rabbis, Recommendations, 5. FRISHMAN: Entering Mishkan T’filah, 60. 206 Die Bezeichnung verwendet u.a. Richard S. Sarason (HUC), dem ich für die Bereitstellung von Studienmaterial zum neuen Siddur herzlich danke. – Vgl. auch MARGOLIS: Postmodern American Judaism, bes. 35, der von einer (zahlenmäßig allerdings eher kleinen) Bewegung der Jüdischen Erneuerung („Jewish Renewal“) spricht. 207 Forms of Prayer, 1. 208 Vgl. Forms of Prayer, 1. 205

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4. Komparatistisches: Das Verhältnis von Wort und Kult

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liturgischer Sequenzen oder des gesamten Gottesdienstes hinweisen.209 Nicht zuletzt werden die Rubriken, die konkreten Hinweise zur körperlichen Beteiligung beim Gebet, intensiviert. Teilweise bietet „Forms of Prayer“ zwei Alternativen zur Auswahl – etwa zur Tora-Lesung. Hier wird ein „Torah-Service I“ geboten, der den Bezug der Lesung der Tora auf die Sinai-Offenbarung unterstreicht, und ein „Torah-Service II“, der das Ritual eher reduziert und damit mehr Zeit für die Lesung und Auslegung lässt.210

4.2.3 Franz Rosenzweig: Gottesdienst, Gemeinschaft und liturgisches Schweigen Franz Rosenzweig (1886–1929) bemühte sich um eine nach-idealistische Erneuerung der Philosophie und wollte damit gleichzeitig das Judentum aus der Engführung der Alternative zwischen einer idealistisch-rationalistischen Reformbewegung und einer kulturabgewandten Orthodoxie herausführen. Anders als Oskar Goldberg (Kap. 2.2.3.2 (1)) versuchte er nicht, den Kult in quasi wissenschaftlichem Gewande zur repristinieren, sondern fragte neu nach dem Spezifischen des jüdischen Gottesdienstes (wie er etwa auch nach dem Spezifischen des jüdischen Lernens fragte und auf dieser Grundlage sein „Freies Jüdisches Lehrhaus“ in Frankfurt am Main gründete). Sein philosophisch-theologisches Grundlagenwerk „Der Stern der Erlösung“, entstanden während des Ersten Weltkriegs und kurz nach diesem, bietet im dritten Teil „Die Gestalt oder die ewige Überwelt“ eine in Umrissen ausgeführte Liturgik, die sich zugleich als die erste Liturgik in christlich-jüdischem Kontext lesen lässt.211 Gegen einen Gottesdienst, der sich im Kontext der Reformbewegung mehr und mehr zu einer Veranstaltung zur Weitergabe diskursiver Erkenntnisse und zur Anregung des individuellen Nachdenkens verwandelt habe, setzt Rosenzweig den jüdischen Gottesdienst als einen, der durch die Koordinaten Gemeinschaft und Gottesbeziehung gekennzeichnet ist. Charakteristisch ist es daher, dass Rosenzweig das Ziel des Gottesdienstes nicht in den Worten sieht, die gemacht und gehört werden, sondern im Schweigen. 209 Vgl. nur die Erinnerung an eine rabbinische Aussage zum wöchentlichen Tora-Gottesdienst am Montag und Donnerstag, Forms of Prayer, 87. Diese Praxis wird in einer rabbinischen Aussage mit der Zeit der Wüstenwanderung verbunden. Wie das Volk dort nicht länger als drei Tage ohne Wasser auskommen konnte, so sei es nun mit der Tora. – Vgl. insgesamt den ausführlichen Studienteil aaO., 489–608. 210 Vgl. Forms of Prayer, 257–272; vgl. zur Entstehung der Tora-Leseordnung auch LANGER: From Study to Scripture, und BÖCKLER: Jüdischer Gottesdienst, 106–135 (zu Entstehung und vor allem zur Gestaltung der Tora-Lesung). 211 Vgl. insgesamt ROSENZWEIG: Der Stern, 295–472; vgl. zur Rolle der „Liturgik“ für den dritten Teil des „Stern“ aaO., 327.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Hier verbinde sich die Transzendenz des Gottesdienstes mit der im Gottesdienst antizipierten und erfahrenen Gemeinschaft: „Weil in der Ewigkeit das Wort erlischt im Schweigen des einträchtigen Beisammenseins – denn nur im Schweigen ist man vereint, das Wort vereinigt, aber die Vereinigten schweigen – darum muß der Brennspiegel, der die Sonnenstrahlen der Ewigkeit im kleinen Kreis des Jahres sammelt, die Liturgie, den Menschen in dieses Schweigen einführen.“212

Solches Schweigen als Antizipation der Vollendung werde durch das Hören erreicht; allerdings nicht durch ein diskursives Hören (Rosenzweig spricht von einem Hören „in der Wechselrede“213), sondern durch „ein Hören ohne Widerrede“.214 Dies ist der Grund, warum Rosenzweig die freien Worte des Redners, wie sie etwa in der Predigt zum Ausdruck kommen und wie sie emphatisch in der Reformbewegung betont wurden, so weit als möglich zurückdrängen möchte. Die freie Rede bedeute beinahe zwangsläufig, dass sich Meinungen zu dem Gesagten und damit „Parteien unter den Hörern“ bilden.215 Stattdessen müsse der im Gottesdienst Redende zurücktreten „hinter den bloßen Vorleser, ja noch nicht einmal hinter den vorlesenden Menschen, sondern hinter das verlesene Wort.“216 Rosenzweig warnt davor, das Geschehen des Gottesdienstes zu überfrachten: Die Gemeinschaft müsse nicht erst durch das Wort (oder die vielen Worte!) hergestellt werden, sie sei vielmehr schon immer gegeben, weswegen das gemeinsam gehörte Wort (Rosenzweig denkt hier primär an die Lesung aus der Tora) „Symbol der schon gegründeten Gemeinschaft“ sei.217 Wo sich diese Gemeinschaft im Gebet vereinige, rechnet Rosenzweig mit dem, was den (jüdischen) Gottesdienst spezifisch macht: der Gottesgegenwart. Hier kann Rosenzweig kühn formulieren (und dabei teilweise an Goldberg erinnern!). Er spricht davon, dass das „kultische Gebet“ jene Situation schaffe, in der die „Zeit aufnahmebereit für die Ewigkeit“ werde.218 Und er fährt fort:

212

ROSENZWEIG: Der Stern, 342. ROSENZWEIG: Der Stern, 343. 214 ROSENZWEIG: Der Stern, 343. 215 ROSENZWEIG: Der Stern, 343. 216 ROSENZWEIG: Der Stern, 343; aus diesem Grund fordert Rosenzweig unbedingt die Textpredigt gegen jede thematische Orientierung der Predigt (vgl. aaO., 343f). 217 ROSENZWEIG: Der Stern, 398. Anders sei dies im Christentum, wo das Wort erst die einzelnen zu der Gemeinschaft führe, die vorher nicht gegeben sei. 218 ROSENZWEIG: Der Stern, 324. 213

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4. Komparatistisches: Das Verhältnis von Wort und Kult

325

„Auch der Kult scheint nur ein Haus zu bauen, worin Gott Wohnung nehmen mag, aber kann er den hohen Gast wirklich nötigen, einzuziehen? Ja, er kanns. Denn die Zeit, die er bereitet zum Besuch der Ewigkeit, ist nicht die Zeit des Einzelnen, nicht meine, deine, seine geheime Zeit; sie die die Zeit Aller.“219

Die Gemeinschaft im Gebet, die etwas anderes ist als das Zusammensein zum Austausch von Meinungen, schafft damit – Rosenzweig zufolge – die ‚Gottessituation‘ der Liturgie, die wiederum die Einführung in das gemeinsame Schweigen vor Gott bedeutet. Rosenzweig selbst ist kein Liturgiker im Sinne eines praktisch-theologischen Verständnisses. Er führt seine Andeutungen nicht in liturgiepraktischer Perspektive weiter.220 Dennoch deutet sich hier eine Liturgik an, die in der kultischen Praxis eine Möglichkeit sieht, die Vereinzelung unter den vielen Worten zu überwinden und zum gemeinsamen Schweigen zu führen. Ob es dann freilich sachgemäß ist, das gemeinsame Schweigen als Zielpunkt der Liturgie zu beschreiben und nicht z.B. das gemeinsame Gotteslob, könnte gefragt werden (vgl. auch oben zu Rudolf Otto, Kap. 2.2.3.2 (2) a). Insgesamt aber bietet Rosenzweig eine Perspektive, wie das Wort und der Ritus (etwa in der Toralesung) so zusammenkommen, dass der Gottesdienst die Gemeinschaft darstellt, von der er ausgeht, und theologisch zu dem Ziel führt, zu dem er bestimmt ist: der Öffnung unserer Zeit für Gottes Zeit.

4.3 Zusammenfassung: Vom Kult zum Wort und zurück? Liturgische Wellenbewegungen Die Beobachtungen im neuzeitlichen Judentum sowie im Katholizismus weisen auf Parallelen der liturgischen Entwicklung hin. In beiden Fällen ist der Ausgangspunkt eine Liturgiegestalt, die gemäß meiner obigen Definition als kultisch bezeichnet werden könnte, womit die Aspekte der Ritualität sowie der Verortung in einem dezidiert religiösen Koordinatensystem im Blick sind. In beiden Fällen ist die ‚alte‘ kultische Liturgie durch einen Jahrhunderte langen Wachstumsprozess gekennzeichnet, in dem sie Veränderungen unterworfen war, die aber nicht als einschneidend, sondern im allgemeinen als organisch erlebt wurden. In beiden Fällen wird der Kult in einer Sprache vollzogen, die nicht mehr der Alltagssprache entspricht.

219

ROSENZWEIG: Der Stern, 325. Vgl. aber die liturgiesystematische Relektüre Rosenzweigs in namenstheologischer Perspektive bei ASSEL: Geheimnis und Sakrament, 193–360. 220

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Irgendwann – in beiden Liturgietraditionen stark zeitversetzt – erfasst dann ein neuzeitlich-aufklärerischer „wind of change“ die beiden Liturgiefamilien, die sich fortan der „Reform“ bzw. dem „Aggiornamento“ verschreiben und auf Veränderungen setzen. In beiden Fällen geht es dabei primär um die Wiedergewinnung von Verständlichkeit, Beteiligungsmöglichkeit und Alltagsbezug der Liturgie. Besonders deshalb verändert sich (wenigstens weitestgehend) die Liturgiesprache: Gottesdienst wird fortan (in den für die Reform offenen Kreisen) zu größten Teilen in der Landessprache vollzogen (dass in beiden Liturgietraditionen wichtige Kerntexte weiterhin in der Kultsprache unübersetzt bleiben, gehört demgegenüber ebenfalls zu den Gemeinsamkeiten). In beiden Liturgietraditionen gewinnt zudem die Predigt eine neue Rolle bzw. wird zum ersten Mal als solche entdeckt und eingeführt. Die Möglichkeit, im gottesdienstlichen Vollzug ein aktuelles, an die konkrete Gemeinde gerichtetes Wort zu sagen, wird von vielen als überaus positive Neuerung begrüßt. Schon von Beginn der Reformen an sind in beiden Liturgietraditionen kritische Stimmen gegenüber den Neuansätzen und Veränderungen zu hören. Im Judentum des 19. Jahrhunderts führen diese faktisch zur Spaltung des Judentums in die beiden bis heute existierenden Lager der Orthodoxie einerseits, des Reformjudentums andererseits. Ob die sich primär an der Liturgiegestalt entzündenden Auseinandersetzungen auch im Katholizismus letztlich die Tendenz zum Schisma haben oder ob – worum sich Benedikt XVI. intensiv bemüht – sich die Unterstützer einer ‚alten‘ Liturgie letztlich doch zurück in die vollgültige Gemeinschaft mit der römischen Kirche begeben, bleibt abzuwarten. In jedem Fall argumentiert die Kritik – sowohl im Katholizismus als auch im Judentum – in einer Mischung aus eher ‚fundamentalistisch‘ zu nennenden Argumentationen sowie eher ästhetischtheologischen Erwägungen. Auf dem Spiel steht für die Kritiker in jedem Fall das Wesen des Gottesdienstes bzw. des gemeinsamen Gebets. Geht es – in der karikierenden Ausdrucksweise von Martin Mosebach – um eine Vereinsversammlung mit Ansprache und musikalischer Umrahmung, die ich als Mitglied des entsprechenden Vereins besuchen kann oder nicht, oder um den von Gott selbst gebotenen Kult, den cultus debitus, der jenseits aller persönlichen Empfindungen und Vorlieben notwendig ist? Die Kritik führt – und auch hier berühren sich die Wege in den beiden Liturgiefamilien – einerseits dazu, dass eine ‚orthodoxe‘ Gruppierung an dem Althergebrachten festhält, sich aber andererseits innerhalb der reformorientierten Bewegung ein neues Verständnis für die Bedeutung von Tradition und Ritualität abzeichnet. Im Katholizismus ist dies sowohl in liturgiepraktischer als auch liturgiesystematischer Perspektive gegenwärtig vielfältig zu greifen; im Reformjudentum finden sich ebenfalls Stimmen, die sich kritisch gegenüber der klassischen Reform positionieren und Veränderun-

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4. Komparatistisches: Das Verhältnis von Wort und Kult

327

gen in der Gestalt des gemeinsamen Gebets einfordern; allerdings fehlen dort weithin liturgiesystematische Reflexionen, die sich wohl am ehesten dort entdecken lassen, wo bereits Franz Rosenzweig vor knapp hundert Jahren eine jüdische Liturgie (in ökumenischer Weite) beschrieben hat. Im schematischen Überblick sei der beschriebene Weg nochmals als Skizze vor Augen geführt:

Kultisch geprägte Liturgie

Kultkritik: Reform/ Aggiornamento

Orthodoxie als ‚Gegenreform‘ Neuzeitlichwortorientierte Reformliturgie

Ansätze zur Reritualisierung/ Rekultisierung der Liturgie

Für die Fragestellung dieser Untersuchung hat damit sowohl das historische als auch das komparatistisch orientierte Kapitel verdeutlicht: Wo immer gegenwärtig (d.h.: nach der Zeit der Aufklärung) Gottesdienste gefeiert werden, ergeben sich vergleichbare Probleme und stellt sich vor allem die Frage nach der Gestaltseite des Wortes als liturgietheoretische und liturgiepraktische Aufgabe. Es muss daher darum gehen, nach Wegen einer Wortgestalt zu suchen, die den Verengungen der aufgeklärten Moderne entgehen. Dieser Richtung gehe ich im Folgenden in kulturwissenschaftlicher Perspektive weiter nach (Kap. 5).

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Überlegungen zum Subjekt der Wahrnehmung und zur Inszenierung des Wortes

Oben (Kap. 2.3.1) wurde die „liturgische Pyramide“ eingeführt, um die Frage nach der Inszenierung des äußeren Wortes als Grundfrage evangelischer Liturgik zu systematisieren. Dieses Kapitel greift auf kulturwissenschaftliche und ästhetisch-philosophische Theorieansätze zurück, um die erarbeiteten Fragestellungen weiter zu verfolgen, sie in einen größeren Rahmen zu stellen und Antwortmöglichkeiten anzudeuten.1 Dabei stellt das Kapitel zwei Richtungen der Annäherung an denselben Fragekomplex vor: Der erste Zugang nimmt das Subjekt und seine Wahrnehmung in den Blick und beleuchtet die Relativierung einer ‚starken‘, neuzeitlichen Subjektivität, wie sie oben (2.2.1) als Problem beschrieben wurde, auf xenologische (5.1.1) und ästhetische (5.1.2) Weise. Der zweite Zugang nimmt das Inszenierungsgeschehen insgesamt wahr und geht von der in diesem Zusammenhang häufig verwendeten Kategorie der „Präsenz“ aus (5.2). Diese wird zunächst begrifflich präzisiert, wobei ein auf professionelle Kompetenz fokussierender Präsenzbegriff von einem das Ereignis der Rezeption in den Mittelpunkt rückenden Präsenzbegriff unterschieden wird. Für die Weiterarbeit erscheint vor allem letzterer interessant, da sich mit ihm die unauflösbare und jeder Inszenierung inhärente Spannung von Präsenz und Absenz beschreiben lässt. In neueren Erarbeitungen zur performativen/theatralen Ästhetik wird besonders die Absenz neu entdeckt, die allerdings auch in älteren Überlegungen zur Inszenierungspraxis bereits begegnet. Dies soll anhand der beiden Dramatiker und Theatertheoretiker Bertolt Brecht und Peter Brook dargestellt und diskutiert werden. Ein dritter und 1 Die Erarbeitung stellt sich damit in eine Linie mit den Werken von Anne M. Steinmeier (STEINMEIER: Schöpfungsräume), Ursula Roth (ROTH: Die Theatralität des Gottesdienstes; dies.: Der Gottesdienst und das Modell des Theaters) sowie David Plüss (PLÜSS: Gottesdienst als Textinszenierung), die theatertheoretische bzw. schauspieltheoretische Überlegungen mit liturgischen Fragestellungen in Beziehung setzen und greift immer wieder auch auf das in diesen Arbeiten Vorgelegte zurück (vgl. dazu auch RASCHZOK: Gottesdienst und Dramaturgie). Allerdings ist der kulturhermeneutische Horizont der folgenden Überlegungen weiter – und es wird folglich auf Referenzautoren zurückgegriffen, die in den genannten Werken keine Beachtung finden, besonders auf Bernhard Waldenfels, Dieter Mersch, Hans Ulrich Gumbrecht, Gerald Siegmund und Martin Seel.

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 329

letzter Abschnitt bringt die Ausführungen des Kapitels explizit mit der liturgischen Grundfrage ins Gespräch und stellt einen doppelten Verfremdungseffekt als liturgische Meta-Regel des Gottesdienstes als Inszenierung des äußeren Wortes vor (5.3). Damit legt dieses Kapitel den Grund für die abschließende Durchführung der These vom evangelischen Gottesdienst als WortKult, wie sie im folgenden Kapitel entfaltet werden soll (Kap. 6).

5.1 Das Subjekt, seine Wahrnehmung und seine Grenzen 5.1.1 Xenologische Relativierung starker Subjektivität – oder: Die pathische Haltung der „Andacht“ Wo vom „äußeren Wort“ die Rede ist, legt es sich nahe, auf jenen Zweig der Kulturwissenschaft zu blicken, der sich mit dem „Äußeren“ respektive „Fremden“ am intensivsten beschäftigt. Dies geschieht, indem ich im Folgenden zunächst einige Grunderkenntnisse der Xenologie vorstelle (5.1.1.1), diese durch die Ansätze des Bochumer Philosophen Bernhard Waldenfels, der u.a. eine vierbändige „Phänomenologie des Fremden“ vorlegte, konkretisiere (5.1.1.2) und – diesen Unterpunkt abschließend – einige erste Folgerungen in praktisch-theologischer Perspektive ableite (5.1.1.3). 5.1.1.1 Xenologie und ihr Interesse „Fremdheit“ ist ‚in‘. In kulturwissenschaftlichen und philosophischen Diskursen wird Fremdheit gegenwärtig häufig ventiliert, und das Stichwort der „Xenologie“ erfreut sich seit etwa dreißig Jahren wachsender Beliebtheit. Als wegweisend erwiesen sich die Arbeiten von Munasu Duala-M’bedy, der Ende der 1970er Jahre den Begriff der „Xenologie“ prägte und damit zugleich eine wissenschaftliche Reflexionsperspektive begründete, die ihre Wirkungen vor allem in der Ethnologie, der Soziologie sowie der Philosophie entfaltete.2 Sein Ziel war es, eine universale Ethik der Gleichwertigkeit aller Menschen zu begründen, weswegen nicht die konkrete Ich-Du-Relation und das individuell begegnende Fremde seine Überlegungen bestimmen, sondern die Suche nach einer globalen ethischen Perspektive.3 Im Ausgang von Duala-M’bedy hat sich die xenologische Forschung weiter entwickelt. Eine ihrer Aufgaben ist die Analyse und Kategorisierung unterschiedlicher Weisen des Umgangs mit dem Fremden. Ein grober vo2 3

Vgl. DUALA-M’BEDY: Xenologie. Vgl. SCHRÖTER: Xenologie, bes. 22f; SCHMIED-KOWARZIK: Xenologie und Ethnologie.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

gelperspektivischer Blick bietet wenigstens drei Paradigmen für diesen Umgang: (1) Die vollständige Abgrenzung gegenüber dem „Fremden“ – in der Ethnologie würde man hier von „Alienität“ sprechen, im Unterschied zur „Alterität“, die die beiden folgenden Zugänge kennzeichnet und die nicht die radikale, sondern die übersetzbare Andersheit meint. „Alienität“ kann sich unterschiedlich artikulieren, etwa in den Extremen der mystifizierenden und begeisterten Verklärung der Exotik des Fremden, wie sie in Reiseberichten des 19. Jahrhunderts unter ‚kolonialer‘ Perspektive nicht selten aufscheint,4 oder in der Distanz der Abscheu, wie sie sich besonders in jener Zeit ebenfalls zeigt und eine ihrer furchtbarsten Fratzen in der anschwellenden antisemitischen Literatur findet. (2) Die Nostrifikation des „Fremden“ – das Fremde wird dabei so in das eigene Wahrnehmen, Denken und Verstehen hineingezogen, dass es seine „Fremdheit“ und seine Eigenheit verliert. Ein Höhepunkt dieses nostrifizierenden Umgangs mit dem Fremden lässt sich in der Geschichte der Hermeneutik bei Wilhelm Dilthey ausmachen, der es als Ziel der Hermeneutik sehen konnte, sein (primär literarisches!) Gegenüber besser zu verstehen, als dieses sich selbst. Eine solche Hermeneutik wird insofern ‚imperial‘, als sie die unangefochten-grenzenlose Deutungshoheit des verstehenden Subjekts zum Ausgangspunkt der Interpretationsleistung macht. (3) Der Dialog mit dem „Fremden“ – ein Dialog, aufgrund dessen ein Feld der Begegnung entsteht, in dem Fremdes nicht mehr fremd, gleichzeitig aber vermeintlich Eigenes nicht mehr „eigen“ ist. Homi K. Bhabha etwa sucht nach einem Ort der Begegnung, den er als „Dritte[n] Raum“5, als Ort an der Grenze, als Zwischenort bestimmt. Entscheidend ist, dass es – herausgefordert durch das Fremde – zu einem Aufbruch aus dem Eigenen kommt, so dass das Zusammentreffen im „Dritten Raum“ die beiden Partner der Begegnung verändert. Selbstverständlich erweisen sich die ersten beiden Modelle als problematisch, erlauben sie doch keine Herausforderung, keine Veränderung und verhindern so jede „Begegnung“. Aufgrund dieser Problematik betrachten nicht wenige ‚Xenologen‘ bereits die Kategorie des „Fremden“ mit grundlegendem Misstrauen und möchten zu deren genereller De(kon)struktion beitragen. Sie machen aufmerksam auf den Mythos des Fremden, durch den sich eine Gesellschaft so stabilisieren kann, dass sie ein – mit der realen Herausforderung unterschiedlicher Fremder keineswegs übereinstimmendes 4 5

Vgl. nur z.B. HEMME: Streifzüge durch eine fremde Welt. BHABHA: Die Verortung der Kultur, 38f; vgl. ebd., 55.

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 331

– Bild des Fremden zeichnet, auf das sie zugreifen und von dem sie sich abheben kann. In seinem 1995 erschienenen Werk „Moderne und Ambivalenz“ notiert Zygmunt Bauman: „Die typisch moderne Praxis, die Substanz moderner Politik, des modernen Intellekts, des modernen Lebens ist die Anstrengung, Ambivalenz auszulöschen: eine Anstrengung, genau zu definieren – und alles zu unterdrücken oder zu eliminieren, was nicht genau definiert werden konnte oder wollte.“6

Diese Praxis der „Moderne“, die Bauman durch Grenzziehungen (Definitionen) und durch den permanenten Versuch, zu Klarheit zu gelangen, gekennzeichnet sieht, wird vor allem im Umgang mit dem Fremden zum Problem. Dessen Ambivalenzen und Herausforderungen werden eliminiert – politisch und soziologisch: Gesellschaften stabilisieren sich, indem sie die Dichotomien von „Eigenem und Fremdem“, von „Ordnung und Chaos“ bzw. von „System und Umwelt“ aufbauen und begrifflich beschreiben; gleichzeitig aber entziehen sie sich genau dadurch der Herausforderung durch das Fremde, das Chaos bzw. die Umwelt.7 Was bei Bauman und Anderen soziologisch beschrieben wird, lässt sich auch in psychologischer Beschreibung greifen. Sigmund Freud hatte mit seinen Theorien des Narzissmus und des „Unheimlichen“ auf den möglichen Abschluss des Menschen von seiner Umwelt hingewiesen, hinter dem letztlich die Furcht vor dem Unheimlichen in ihm selbst gesehen werden kann. Jacques Lacan vertiefte diese Überlegungen durch seine berühmten Untersuchungen zum „Spiegelstadium“, jenem Moment also, in dem das Kind zwischen dem sechsten und 18. Lebensmonat zum ersten Mal sich selbst wahrnimmt und sein „Ich“ konstituiert. Lacan beschreibt die Gefahr, dass diese Ich-Bildung zum psychischen Abschluss gegenüber Andersheit führt. In ihrem Werk „Fremde sind wir uns selbst“ geht Julia Kristeva von diesen Ansätzen aus, zeichnet einen weiten Bogen zur Geschichte des Umgangs mit dem Fremden und gelangt zu der These, derzufolge erst durch die Anerkenntnis der tiefenpsychologischen Einsicht, wonach das Fremde letztlich das eigene Unbewusste ist, den Riss, der durch Gemeinschaften und Gesellschaften aufgrund der Dichotomisierung von „Eigenem“ und „Fremdem“ geht, geheilt werden kann.8

Die xenologische Alternative zu einem Denken des Fremden, das dieses verobjektivierend zum Gegenstand macht, liegt – wie oben bereits durch Bhabhas Metapher des „Dritten Raumes“ angedeutet – darin, dass das „Fremde“ zu einem Interaktionspartner wird, nicht zu einem Objekt des bestimmenden und definierenden Zugriffs. Voraussetzung ist die Destruk6

BAUMAN: Moderne und Ambivalenz, 20. Vgl. dazu ORTU: Vom sozialen System zum xenischen System, bes. 14. 8 Vgl. KRISTEVA: Fremde sind wir uns selbst. 7

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

tion einer unanfechtbaren, starken Subjektivität. Wo der Fremde bzw. das Fremde nicht aus der Perspektive eines starken Subjekts zum Objekt der freundlichen, amüsierten, verwunderten oder feindlichen Betrachtung werden soll, gilt es, mit dem – vermeintlich (!) – Fremden so in Interaktion zu treten, dass die Kategorien verschwimmen (und vielleicht das bislang ‚Ureigene‘ plötzlich fremd wird und umgekehrt Aspekte des Fremden als Teil des Eigenen erkannt werden). Die Praxis einer Begegnung tritt so an die Stelle einer Einordnung und Definition; sie führt dazu, dass die hierarchische Differenzierung von definierendem Subjekt und hilflos der Definition unterliegendem Objekt aufgelöst wird. 5.1.1.2 Bernhard Waldenfels und die Haltung der „Andacht“ Im deutschsprachigen philosophischen Kontext der vergangenen Jahre hat sich besonders Bernhard Waldenfels (geb. 1934) mit dem „Stachel des Fremden“ auseinandergesetzt.9 Eine Wahrnehmung seiner Überlegungen dient dazu, das bislang durch einen schematisierenden Blick auf Grundlagen xenologischer Forschung Aufgeführte zu präzisieren und weiterzuführen. Die leitende Frage des Bochumer Philosophen deckt sich mit der auch bislang als Leitfrage der Xenologie ermittelten; sie lautet: „Wie können wir auf Fremdes eingehen, ohne schon durch die Art des Umgangs seine Wirkungen, seine Herausforderungen und seine Ansprüche zu neutralisieren oder zu verleugnen?“10 Vorausgesetzt ist dabei, dass es ein Fremdes gibt, das nicht nur ein Noch-Nicht-Verstandenes meint,11 sondern ein – wie Waldenfels formuliert – „radikal Fremdes […], das keinem bloßen Defizit an Verständnis und Verständigung entspringt, sondern in seiner Unzugänglichkeit zur Sache und somit auch zur Rede selbst gehört.“12 Waldenfels unterscheidet drei Weisen, wie vom „Fremden“ gesprochen werden kann, und führt zu deren Differenzierung lateinische Begriffe ein, die im Deutschen allesamt mit „fremd“ übersetzt werden können, aber für Unterschiedliches stehen: Das Fremde kann als „externum“ begriffen werden, „als Äußeres, das einem Inneren entgegensteht“.13 Ein zweites Verständnis sieht Fremdes als „alienum“, als das, was an9

Vgl. WALDENFELS: Der Stachel des Fremden. WALDENFELS: Grundmotive, 9. 11 Würde das „Fremde“ lediglich als vorläufig Fremdes, da noch nicht Verstandenes gesehen, so läge die Perspektive künftiger Bemächtigung in jedem Umgang mit ihm. Gleichzeitig wäre die „Xenologie“ als eine Wissenschaft zu beschreiben, die asymptotisch auf ihr eigenes Ende hinarbeitet: Wenn das Fremde verstanden und eingeordnet ist, hätte diese Wissenschaft ihren Gegenstand ‚erledigt‘ (vgl. ähnlich WALDENFELS: Grundmotive, 129). 12 WALDENFELS: Vielstimmigkeit der Rede, 9. 13 WALDENFELS: Grundmotive, 111 [Hervorhebung im Original]. 10

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 333 deren gehört. Eine dritte Möglichkeit, Fremdes zu verstehen, ergibt sich durch den Begriff „insolitum“, der das bezeichnet, „was von anderer Art, was fremdartig, unheimlich, seltsam ist“.14 Das radikal Fremde verbindet Waldenfels in dieser Klassifizierung mit dem externum. Dieses sei nicht nur verschieden, sondern bleibend fremd.15 „Radikalität des Fremden besagt nicht, daß Fremdes ganz anders ist als das Eigene und Vertraute, es besagt aber sehr wohl, daß es weder aus Eigenem hergeleitet noch ins Allgemeine aufgehoben werden kann.“16 Bei Waldenfels ist es primär topographisch bestimmt und bezeichnet eine spezifische Heterotopie, die nicht a-topisch, sondern u-topisch genannt werden könnte. „Fremd“, so schreibt Waldenfels, „ist ein Ort, wo ich nicht bin und sein kann und wo ich dennoch in Form dieser Unmöglichkeit bin.“17 Das Fremde führt in ein „Jenseits dieser Welt“:18 „Fremdes, das als Außer-ordentliches den Möglichkeitsspielraum einer Ordnung überschreitet, kann man insofern als Un-mögliches bezeichnen, und dies nicht etwa im Sinne einer ontologischen, einer epistemischen, einer praktischen oder einer logischen, sondern im Sinne einer gelebten Unmöglichkeit. Der Bindestrich deutet in beiden Fällen darauf hin, daß das, was die Ordnungen überschreitet, nicht in eine jenseitige Welt führt, sondern in ein Jenseits dieser Welt.“19

Das radikal Fremde bei Waldenfels entspricht auf der Grundlage dieser Differenzierung dem, was oben als „Alienität“ bezeichnet und von der „Alterität“ unterschieden wurde. Allerdings geht es Waldenfels um einen Umgang mit der „Alienität“, die sich von der oben beschriebenen Verklärung bzw. dem Abscheu ebenso unterscheidet wie von der nostrifizierenden Vereinnahmung. Als problematische Wege im Umgang mit dem Fremden führt Waldenfels zwei Extreme vor Augen: das Extrem „einer funktionalistischen Verkennung“ einerseits, das Extrem einer „fundamentalistischen Verklärung“ andererseits.20 In der oben aufgestellten Liste der drei Umgangsweisen mit 14

WALDENFELS: Grundmotive, 111. Vgl. WALDENFELS: Grundmotive, 112; vgl. auch aaO., 20f: Hier unterscheidet Waldenfels vom Griechischen herkommend die Begriffe e[IJİȡȠȞ und ȟȑȞȠȞ, wobei der erste für die Verschiedenheit, der zweite für das steht, was nach Waldenfels Fremdheit im eigentlichen Sinne ausmacht. 16 WALDENFELS: Grundmotive, 57. Vgl. auch die Bestimmung der radikalen Fremdheit aaO., 116: „Als radikal bezeichne ich eine Fremdheit, die weder auf Eigenes zurückgeführt, noch einem Ganzen eingeordnet werden kann, die also in diesem Sinne irreduzibel ist. Eine solche radikale Fremdheit setzt voraus, daß das sogenannte Subjekt nicht Herr seiner selbst ist und daß jede Ordnung, die ‚es gibt‘ und die immer auch anders sein könnte, sich in Grenzen hält. Fremdheit in ihrer radikalen Form besagt, daß das Selbst auf gewisse Weise außer sich selbst ist und daß jede Ordnung von Schatten des Außer-ordentlichen umgeben ist. Solange man sich dieser Einsicht verschließt, bleibt man einer relativen Fremdheit verhaftet, einer bloßen Fremdheit für uns, die einem vorläufigen Stand der Aneignung entspricht“ (116). 17 WALDENFELS: Grundmotive, 114. 18 WALDENFELS: Grundmotive, 31 [Hervorhebung AD]. 19 WALDENFELS: Grundmotive, 31. 20 WALDENFELS: Grundmotive, 33. 15

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

dem Fremden wäre die funktionalistische Verkennung am ehesten in der nostrifizierenden Alterität zu suchen – jenem Umgang also, in dem das Fremde – hier auf spezifisch pragmatische Weise – in das Eigene eingeordnet und so gebändigt wird.21 Die fundamentalistische Verklärung entspräche eher den problematischen Weisen, mit Alienität umzugehen – und könnte etwa dort verortet werden, wo das Fremde aufgrund seiner Erlebnisqualität gesucht wird und sich so eine regelrechte „Sucht nach der Fremdheit als Fremdheit“ einstellen kann, ein „Exotismus“, der nichts anderes als „eine besonders wirkungsvolle Form der Aneignung darstellt“.22 Waldenfels ist auf der Suche nach der Beschreibung eines anderen, dialogischen Umgangs mit dem Phänomen des Fremden. Besonders interessant im Kontext der liturgischen Grundfragen dieser Untersuchung erscheint Waldenfels dabei in zweifacher Hinsicht: (1) Einerseits ventiliert er intensiv die Frage, wie sich das „Subjekt“ (ein im Kontext des Umgangs mit dem Fremden – wie bereits angedeutet – problematischer Begriff) dem Fremden gegenüber so verhalten kann, dass dieses nicht als Objekt einverleibt, angeeignet wird. (2) Andererseits macht sich Waldenfels – besonders intensiv im vierten Band seiner „Phänomenologie des Fremden“, die unter dem Titel „Vielstimmigkeit der Rede“ steht, – Gedanken zu einer Sprache, die das Fremde achtet und die so Hinweise geben kann für eine auch im gottesdienstlichen Reden zu suchende Sprache im Kontext des verbum externum. (zu 1) Die Restriktion des Subjekts und die „Andacht“: Waldenfels reflektiert die Problematik neuzeitlicher Subjektivität und Rationalität – und damit das viel beachtete Problem der neuzeitlichen Subjekt-Objekt-Spaltung. Zur unaufgebbaren Bestimmung des Subjekts gehört die Markierung der Grenze zum Objekt. Waldenfels schreibt: „‚Subjekt‘ ist wie jeder Begriff ein Markierungszeichen, das abgrenzt und ausgrenzt. Daß hier jemand sich selber abgrenzt, ändert daran nichts. […] Zunächst lebt das ‚Subjekt‘ von dem Gegengewicht dessen, was sich ihm als ‚Objekt‘ entgegenstellt oder was es sich selber als ‚Objekt‘ vorstellt […].“23

21 Vgl. WALDENFELS: Der Stachel des Fremden, 60–62 [„Aneignung als Bändigung der Fremdheit]. Dies beschreibt Waldenfels als den typischen Weg der „abendländische[n] Rationalität“ (aaO., 60). 22 WALDENFELS: Vielstimmigkeit der Rede, 14. – Immer wieder verweist Waldenfels auf die ethische Problematik dieser Art des Umgangs mit dem Fremden. Auf diese Weise nämlich kann etwa auch der Holocaust als faszinierend-exotisches Fremdes wahrgenommen werden (vgl. aaO., 15). 23 WALDENFELS: Der Stachel des Fremden, 72.

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 335

Subjektivität ist (wie sich sagen ließe) transitiv24 bestimmt: Das Subjekt braucht ein (direktes) Objekt, um Subjekt sein zu können. Freilich ist der Traum von einem starken Subjekt, wie er im Gefolge Descartes’ neuzeitlich geträumt werden konnte, eine – allerdings gefährliche – Fiktion. Denn immer ergibt sich das, was „Subjekt“ bedeutet, durch die je neue Interaktion, durch den physischen und sozialen Kontext, in dem ein „Jemand“ sich befindet.25 Subjektivität ist damit immer schon und bleibend Teil der „InterSubjektivität“ – ein Begriff, den Waldenfels einerseits in Anführungszeichen setzt, andererseits partiell durchstreicht: „Inter(subjektivität)“.26 Immer geht es um ein „Wechselspiel von Anspruch und Antwort“, das die Subjektivität nicht einfach auslöscht, aber verändert.27 Jeder Mensch lebt in unterschiedlichen Beziehungen – und allein daraus folgt eine Vervielfältigung des Subjekts und die prekäre neuzeitliche Frage nach der „Identität“.28 Gefährlich ist die neuzeitliche Fiktion des großen und starken Subjekts, da das Leiden unter der ständig neuen Herausforderung durch die Anderen zu einem letztlich „pathologischen Allmachtstraum“ führen kann, der dazu tendiert, das Fremde zu eliminieren, sich dabei aber paradoxerweise letztlich auch selbst verliert.29 Wie sich zeigt, dekonstruiert Waldenfels das Subjekt nicht, sondern relativiert es. Der „Stachel des Fremden“ „dringt auch ins eigene Fleisch“.30 Das Subjekt konstituiert sich in der Begegnung mit dem Fremden, wird dadurch aber zugleich in seiner Eigenmächtigkeit und Definitionsvollmacht eingeschränkt. Was in der Begegnung vom „Subjektiven übrig bleibt, entzieht sich jedem Subjektprinzip.“31 Es geht daher bei Waldenfels nicht um das seit langem getriebene philosophische Wechselspiel von „Rettung und Abdankung“ des Subjekts,32 sondern um die Einsicht in die Begrenzung, die zur Bestimmung des Subjekts unweigerlich gehört. Es gilt: „Der Andere und das Andere, das mir selber anhaftet, sind zugleich das, was ein Ichsagen ermöglicht und beschränkt.“33 Die Art und Weise der Begegnung mit dem Fremden zu ermitteln ist 24

Diese grammatikalische Beschreibung findet sich so nicht bei Waldenfels. WALDENFELS: Der Stachel des Fremden, 78. 26 WALDENFELS: Der Stachel des Fremden, 75. An anderer Stelle nimmt Waldenfels den begrifflichen Vorschlag von Merleau-Ponty auf, Intersubjektivität durch „Interkorporeität“ zu ersetzen, um damit auf die Bedeutung der Leiblichkeit für die Begegnung hinzuweisen; vgl. WALDENFELS: Grundmotive, 85 [im Original hervorgehoben]. 27 WALDENFELS: Der Stachel des Fremden, 75. 28 Vgl. WALDENFELS: Der Stachel des Fremden, bes. 73. 29 WALDENFELS: Der Stachel des Fremden, 78. 30 WALDENFELS: Der Stachel des Fremden, 8; vgl. ders.: Grundmotive, 7, wo Waldenfels von der Gefährlichkeit des Fremden spricht. 31 WALDENFELS: Der Stachel des Fremden, 9. 32 Vgl. WALDENFELS: Der Stachel des Fremden, 45. 33 WALDENFELS: Der Stachel des Fremden, 78. 25

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

zentraler Gegenstand der Phänomenologie des Fremden bei Waldenfels. Mit dem Begriff des „Wechselspiel[s] von Anspruch und Antwort“ ist diese Phänomenologie grundlegend beschrieben: Sie ist „pathisch grundiert und responsiv ausgerichtet“34. Es gibt „Erfahrungsansprüche“, die „Antworten hervorrufen, provozieren“.35 Die Subjekt-Objekt-Relation wird durch eine „Patient“-„Respondent“-Relation ersetzt, d.h.: im Umgang mit dem Fremden bin ich zunächst Erleidender und erst dann und erst als dieser Antwortender.36 Dabei ist freilich auch die Antwort nicht eine Folge der Intentionalität des ‚Subjekts‘: „Pathos und Response folgen nicht aufeinander wie zwei Ereignisse, es handelt sich überhaupt nicht um zwei Ereignisse, sondern um eine einzige gegenüber sich selbst verschobene Erfahrung […].“37 Es geschehe etwas in der Begegnung, das – wenn überhaupt – erst nachträglich auch begrifflich zu fassen ist. Die „Antwortlogik“ entziehe sich der „Logik intentionaler Akte“, der „Logik des Verstehens“ und der „Logik des kommunikativen Handelns“.38 Da Waldenfels das radikal Fremde topographisch bestimmt, beschreibt er auch das Geschehen in der Patient-Respondent-Relation mit Metaphern des Ortes: Die Herausforderung durch das Fremde führe in einen „Zwischenbereich“39, eine „Zwischensphäre“40, in „Grenzzonen“41. Das Ergebnis dieser ‚Deterritorialisierung‘42 des Subjekts bestehe darin, den „Indikativ des Längstvertrauten“, die vorher gültige „eigene Ordnung“ fraglich werden zu lassen. Sie trete in den „Conjunctivus potentialis“: „[…] es könnte auch anders sein“.43 Damit aber kommt es zu einer „Wandlung“ des Subjekts:44 „Der klassische Weg vom ego zum alter ego kehrt sich um, da das ego […] Züge eines alter tu annimmt.“45 Dieses pathisch-responsive Wechselspiel ist für Waldenfels einerseits grundlegend gegeben: ‚Ich‘ befinde mich immer in Kontexten, in denen ‚ich‘ nicht „Initiator“ bin – auch nicht Initiator einer offenen und lernbereiten Begegnung –, sondern „jemand, der buchstäblich bestimmten Erfahrun34 WALDENFELS: Grundmotive, 34; vgl. aaO., 34–55; vgl. zur Herkunft der Begriffe aus der Medizin und Verhaltenspsychologie aaO., 57 Anm. 1. 35 WALDENFELS: Der Stachel des Fremden, 7. 36 Vgl. WALDENFELS: Grundmotive, 45; vgl. insgesamt aaO., 34–55 [Zwischen Pathos und Response]. 37 WALDENFELS: Grundmotive, 50. 38 WALDENFELS: Grundmotive, 62. 39 WALDENFELS: Der Stachel des Fremden, 7. 40 WALDENFELS: Der Stachel des Fremden, 64 [im Original hervorgehoben]. 41 WALDENFELS: Grundmotive, 15; vgl. insgesamt aaO., 15–33. 42 Vgl. zu diesem Begriff WALDENFELS: Grundmotive, 125. 43 Alle Zitate aus WALDENFELS: Der Stachel des Fremden, 8. Die Beobachtung des „Conjunctivus potentialis“ lehnt sich an Musil an; vgl. zu dessen „Möglichkeitssinn“ auch aaO., 17. 44 Vgl. zu dem Begriff der „Wandlung“ WALDENFELS: Der Stachel des Fremden, 45. 45 WALDENFELS: Der Stachel des Fremden, 53.

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gen unterworfen ist“46 – und somit nicht transitiv als starkes Subjekt lebt, sondern selber zum „Sujet“, zum Unterworfenen, wird. Andererseits aber kann Waldenfels auch eine Haltung beschreiben, die genau diesem Wechselspiel entgegenarbeitet, anstatt sich in der Fiktion des Allmachtstraumes der verletzend-herausfordernden Begegnung mit dem Fremden (und dessen „Stachel“!) zu widersetzen. Interessanterweise bezeichnet Waldenfels diese Haltung u.a. als eine Haltung der „Andacht“ – und verwendet damit einen religiös-konnotierten Begriff.47 Ihr hervorragendes Kennzeichen sei die „Aufmerksamkeit“.48 Allerdings erkennt er auch deren Wurzel nicht in einer intentionalen Entscheidung des ‚Subjekts‘ („Jetzt will ich aufmerksam sein für das/den Andere/n!“) – obgleich in der Neuzeit versucht worden sei, sie als „Willensakt“ zu verstehen49 –, sondern sieht sie grundlegend als „Antwort auf das, was uns entgegenkommt“, womit er sie in die pathischresponsive Struktur einzeichnet.50 Wäre es anders, dann wäre die „Aufmerksamkeit“ von vornherein befangen von der Intention des Subjekts, sich das ‚Objekt‘ der Aufmerksamkeit zu wählen; sie verließe damit die pathischresponsive Grundstruktur der Begegnung mit dem Fremden. Vielmehr gilt: wenn Menschen aufmerksam werden, aufmerken, dann deshalb, weil etwas in ihr Wahrnehmungsfeld tritt, was vorher nicht da war oder ihnen – aus welchen Gründen auch immer – eben jetzt ‚auffällt‘; die „Aufmerksamkeit“ im Kontext pathisch-responsiver Begegnung ist kein „Scheinwerfer […], der ins Licht rückt, was im Dunkeln schon auf unseren Blick wartet.“51 Insgesamt beschreibt Waldenfels so nicht ein destruiertes, sondern ein zweifach restringiertes ‚Subjekt‘: Einerseits wird es zu dem, was es ist, im pathisch-responsiven Wechselspiel mit Anderen/m; andererseits ist die Voraussetzung dafür eine Weise der Aufmerksamkeit und Andacht, die durchaus als Haltung des ‚Subjekts‘ beschrieben werden kann, aber nicht aus ihm selbst kommt, sondern sich erneut und in unhintergehbarer Zirkularität pathisch-responsiv ergibt. (zu 2) Das Fremde und das Zitat: Waldenfels stellt in seinem Buch „Vielstimmigkeit der Rede“ die Frage, „wie man über Fremdes reden kann, ohne 46

WALDENFELS: Grundmotive, 45. Vgl. WALDENFELS: Grundmotive, 103. 48 WALDENFELS: Grundmotive, 103. 49 Vgl. WALDENFELS: Grundmotive, 93. 50 WALDENFELS: Grundmotive, 103. „Die Aufmerksamkeit wird geweckt, oder sie schläft ein.“ (aaO., 99) Vgl. auch aaO., 100: „Das Phänomen der Aufmerksamkeit zwingt uns zu der Annahme, daß sich etwas zwischen mir und den Dingen, zwischen mir und den Anderen abspielt, das seinen Ursprung nicht einseitig in mir hat, obwohl ich daran beteiligt bin, sei es in der starken Form angespannter Aufmerksamkeit, sei es in der abgeschwächten Form einer diffusen Aufmerksamkeit, die wir als Dösen oder als Tagtraum bezeichnen.“ 51 WALDENFELS: Grundmotive, 42. 47

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ihm auf Dauer seine Fremdheit zu nehmen, und wie man mit Fremden sprechen kann, ohne daß sich deren Fremdheit mehr und mehr abschwächt.“52 Er überträgt seine Phänomenologie des Fremden damit explizit auf den Bereich der Hermeneutik und der Sprache.53 Angesichts der pathisch-responsiven Struktur der Begegnung mit dem Fremden, wie Waldenfels sie beschreibt, könnte ein Reden über das Fremde und mit dem Fremden in der Tat problematisch werden, da es das starke Subjekt restituieren und das Fremde in seine Deutungsmacht einzuordnen droht. Dieses Problem mindert sich – nach Waldenfels – nicht automatisch dadurch, dass der Fremde sprachlich als nicht anzueignender Fremder bewusst gehalten werden soll. Waldenfels fragt: „Spielt jemand, der einem nicht anzueignenden Fremden das Wort redet, sich nicht selbst als ein ‚Routinier des Fremden‘ aus, der sich ‚auf das Unverständliche versteht‘? Täte er nicht besser daran, ‚schweigend zu verehren, was er nicht versteht‘?“54

Mit einem schlichten „Ja“ auf diese Frage wären Waldenfels’ Überlegungen zur Sprache im Angesicht des Fremden beendet gewesen; mystisches Schweigen wäre die einzige mögliche Antwort. Allerdings würde auch dies tendenziell zu einer neuerlich problematischen Bemächtigung des Fremden führen, da das Fremde so in seiner Wirkung „von unserem Wohlwollen, unserer demütigen Verehrung oder einfach von unserer Neugier abhängig“ gemacht würde.55 Stattdessen wendet Waldenfels den Blick auf Wege ‚indirekter‘ Rede,56 die das Fremde nicht im sprachlichen Zugriff ‚erledigen‘, sondern in der eigenen Rede wachhalten. Mit Michail Bachtin stößt er auf Heterophonien – und vor allem auf das Zitat als Sprachform dieser Indirektheit.57 „Wer eine Rede zitiert, wiederholt nicht etwas, was gesagt wurde, er wiederholt das fremde Sagen […]. Die Verdoppelung und Vervielfältigung des Sagens schließt ein, daß in der eigenen Stimme fremde Stimmen mitanklingen […]. Wer zitiert, ist nicht schlechthin Herr oder Herrin des Redens und Schreibens. Die Rede in der Rede bedeutet zugleich ein Reden von einer anderen Rede her.“58 52

WALDENFELS: Vielstimmigkeit der Rede, 9. In diesem Kontext findet sich dann auch eine intensive Kritik an den Paradigmen üblicher Hermeneutik (besonders exemplifiziert an Gadamer), die hier nicht ausgeführt wird, da sie bei dem unten ausführlicher dargestellten Hans Ulrich Gumbrecht in vergleichbarer Weise begegnet; vgl. WALDENFELS: Vielstimmigkeit der Rede, 67–87. 54 WALDENFELS: Vielstimmigkeit der Rede, 10. 55 WALDENFELS: Vielstimmigkeit der Rede, 10. 56 Vgl. hierzu auch Kierkegaards Begriff der „indirekten Mitteilung“ und dazu WALDENFELS: Vielstimmigkeit der Rede, 11, sowie DEEG: Predigt oder „Sonntags-Geklapper“. 57 Vgl. WALDENFELS: Vielstimmigkeit der Rede, 159 – dort der Verweis auf Bachtin. 58 WALDENFELS: Vielstimmigkeit der Rede, 161 [Hervorhebungen im Original]. 53

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Damit durchbreche das Zitat „die Zentrierung auf das Normale und das Heimischwerden im Eigenen“59 und verursache genau jene Deterritorialisierung, die Waldenfels für die pathisch-responsive Begegnung mit dem Fremden für grundlegend hält: Es setze „an die Schwelle von Eigenem und Fremdem“.60 5.1.1.3 Drei praktisch-theologische Folgerungen und eine Problemanzeige (1) Wider die Nostrifikation und wider die Verklärung des Fremden: Der knapp dargestellte kulturwissenschaftlich-philosophische Diskurs zum „Fremden“ ist in der Lage, die liturgische Diskussion zu erhellen. Dazu gehe ich zunächst von einem sehr vereinfachten Verständnis des „Fremden“ im liturgischen Kontext aus, wie es etwa in dem Statement „Mir ist die Liturgie fremd!“ begegnet. Diese simple Aussage kann als der Motor zweier, im Kontext der Überlegungen dieses Abschnitts als problematisch einzustufender Verfahren im Umgang mit der ‚fremden‘ Liturgie begegnen: die „Nostrifikation“ dieser ‚fremden‘ Liturgie einerseits, deren „Verklärung“ andererseits. In vielen (nicht nur: evangelischen) Gottesdienstgestaltungen der Gegenwart erscheint vor allem das erste Problem virulent: Unter dem Leitbegriff der Verständlichkeit bzw. der gesuchten Lebensnähe des evangelischen Gottesdienstes droht dessen Fremdheit zu verschwinden.61 Es kann im Extremfall – im Bild der liturgischen Pyramide gesprochen – zu einer freundlich gemeinten Umarmung und radikalen Veränderung der vorgegebenen Liturgiegestalt (‚Agende‘) kommen, die allerdings faktisch dazu führt, dass der widerständige Pol des Gegenübers eliminiert wird. Wo die Liturgik der Reformation nur unter dem Aspekt wahrgenommen wird, dass alles Äußere „Adiaphoron“ sei,62 und wo solchermaßen das Ringen der Reformatoren mit der überlieferten Gottesdienstgestalt und etwa die liturgische Beharrlichkeit Martin Luthers vergessen und stattdessen ‚Zeitgemäßheit‘ gesucht wird, kann sich eine nostrifizierende Übernahme des Überkommenen einstellen – 59

WALDENFELS: Vielstimmigkeit der Rede, 166. WALDENFELS: Vielstimmigkeit der Rede, 167. 61 Vgl. die drei von Christian Grethlein 1989 bestimmten „grundsätzliche[n], biblische[n] Perspektiven für eine rechte [!; AD] Gottesdienstgestaltung“: „Christusbezug“, „Verständlichkeit (auch für Außenstehende) und damit […] Gemeinschaftsdienlichkeit“, „Lebensbezug“ (GRETHLEIN: Abriß der Liturgik, 25). 62 Vgl. die durchaus differenzierte Aufnahme des Begriffs der Adiaphora bzw. „res mediae“ in FC Epitome X, BSLK 813–816; die normativ-epistemologische Weichenstellung ist der Schriftbezug; es geht um „Ceremonien oder Kirchengebräuch, welche in Gottes Wort weder geboten noch verboten, sondern allein umb Wohlstandes und guter Ordnung willen angestellet“ (BSLK 814, 28–32). 60

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und mit ihr (wenigstens längerfristig) die Verlusterfahrung desjenigen, der im Gottesdienst nurmehr immer neu sich selbst begegnet. Eine Art narzisstisch-liturgische Endlosschleife wäre die Folge nostrifizierender Aneignung des Fremden, ein Verharren auf einem ‚liturgischen Spiegelstadium‘ im Sinne Lacans. Die gut gemeinte Angleichung an die Erfordernisse der ‚Gegenwart‘ unter gleichzeitiger Abschleifung aller möglicherweise anstößigen Spuren des Fremden hätte eine – in Aufnahme des Mythos von Narziss – tödliche Konsequenz. Tödlich aber wäre diese Nostrifizierung auch in theologischer Perspektive zu nennen: Wo starke Subjekte liturgisch nur noch um sich selbst kreisen und selbstverliebt in die spiegelnde Wasseroberfläche blicken würden, wären sie – in Luthers Vokabular – als in sich selbst verkrümmte Sünder zu bezeichnen. Die umgekehrte Gefahr, die Gefahr der Verklärung des Fremden, bildet den anderen Pol. Sie wurde oben (Kap. 2.2.3.2 und 4) als Problem gegenwärtiger „Kultus“-Verklärung aus ästhetischer oder fundamentalistischer Perspektive vor Augen geführt und durch das Liturgieverständnis der Piusbrüder einerseits, von Martin Mosebach u.a. andererseits exemplifiziert. Es geht um eine hochkulturelle (Mosebach) bzw. zwanghafte (Piusbrüder) Hochschätzung der Tradition, die das Fremde in der Geschlossenheit seiner unantastbaren oder vollkommenen Gestalt so verehrt, dass es seine herausfordernde Wirkung verliert. Freilich: Diese erste Aufnahme xenologischer Begrifflichkeit operiert, wie eingangs erwähnt, mit einem sehr einfachen Begriff des Fremden, der zunächst von der (primär historischen bzw. ästhetischen!) Abständigkeit zum Alltäglichen ausgeht: Im Blick ist die alte ‚Zeichensprache‘ des Rituals, die überkommene Sprachgestalt biblischer bzw. liturgischer Texte, im Kontext der katholischen Diskussion um die lateinische Messe auch die Fremdsprachlichkeit der Liturgie. Demgegenüber wird das Fremde in den kurz dargestellten kulturwissenschaftlichen Diskussionen weitergehend bestimmt – und so greife ich im Folgenden auf die Charakterisierung des „radikal Fremden“ durch Waldenfels zurück. (2) Das verbum externum als „radikal Fremdes“: Bernhard Waldenfels hat bei seinen Überlegungen zum Fremden den religiösen Bereich zunächst nicht im Blick.63 Er untersucht vielmehr das „alltäglich Fremde“, „das historisch Zurückliegende“, das „geographisch Fernliegende“, aber auch die „menschenferne Natur“.64 Das in religiösem Kontext „Fremde“ leuchtet aber gelegentlich in seinem Diskurs auf, etwa dort, wo Waldenfels „fascinosum und tremendum“ als Erfahrungsweisen ins Spiel bringt, die ebenfalls 63 64

Vgl. WALDENFELS: Grundmotive, 9f. WALDENFELS: Der Stachel des Fremden, 27.

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im Kontext der Begegnung mit dem Fremden gedeutet werden können.65 M.E. legt sich eine theologisch-kulturwissenschaftliche Begegnung von Waldenfels’ Phänomenologie des Fremden und lutherischer Theologie des Wortes unmittelbar nahe. Wenn Waldenfels das „Fremde“ nicht nur als das Verschiedene, sondern im Sinne des radikal Fremden – wie oben gezeigt – als das Externe versteht, so wählt er denselben Begriff, den die Reformation auch für das Wort des Glaubens verwendet: Es ist eben nicht nur das andere Wort (verbum alienum), das verschieden von den üblichen und alltäglichen Worten wäre, sondern das externe Wort. Waldenfels’ Begrifflichkeit ermöglicht es, den Charakter und die Wirkung des verbum externum klarer zu fassen und genauer zu beschreiben (vgl. auch unten 5.3.1): (a) Die Folge der Begegnung mit dem radikal Fremden beschreibt Waldenfels mit topographischen Metaphern. Das Individuum wird deterritorialisiert und an einen anderen Ort versetzt, den Waldenfels als Ort der Grenze, als Zwischenbereich oder Zwischensphäre bestimmt. Die Wirkung des verbum externum nach Luther wäre bei weitem zu vorsichtig beschrieben, wenn dieses nur so verstanden würde, dass Menschen ‚angeregt‘ zu einer erweiterten Sicht ihrer herkömmlichen Existenz etwas ‚Interessantes‘ aus dem Gottesdienst mit nach Hause nehmen würden. Dass alles dies möglich und keineswegs zu verurteilen ist, ist evident. Dass es im Gottesdienst aber um mehr und anderes geht, wenn dieser als Gott-menschlicher Wortwechsel beschrieben wird, kann durch Waldenfels’ Translokationsmetaphorik verdeutlicht werden: Das Individuum wird herausgerissen aus seinem Ort und in der Begegnung und durch die Begegnung an einen neuen und anderen Ort versetzt; phänomenologisch gesprochen: aus seiner gewohnten Welt in eine Zwischensphäre; theologisch gesprochen: aus der Welt der Sünde in die Welt des Glaubens – ohne freilich in einer schlichten binären Opposition entweder das eine oder das andere eindeutig ‚sein‘ zu können (Luthers berühmte „simul“-Formel wehrt einer Ontologisierung des glaubenden Subjekts!).66 Die Deterritorialisierung bleibt insofern unverfügbar, als kein 65

WALDENFELS: Grundmotive, 125. Michael Meyer-Blanck versucht einen Ausgleich zwischen Luther und Schleiermacher, zwischen der Betonung der Fremdheit und der Innerlichkeit des Gefühls. Ob damit die Liminalität der Zwischensphäre, wie sie eben im Anschluss an Waldenfels bestimmt wurde, nicht zu stark in die Richtung eines harmonischen Ausgleichs vereindeutigt wird, kann m.E. gefragt werden; prinzipiell aber erscheint mir die Füllung des Begriffs der „schlechthinnigen Abhängigkeit“ durch Luthers Konzeption der externen Konstitution des glaubenden Ich stimmig. Meyer-Blanck rekurriert auf die Denkfigur der Konsubstantiation aus dem Abendmahlsstreit und schreibt: „Mit seiner pragmatischen Lehre von der Konsubstantiation bereitet Luther das Verständnis von Religion in der Moderne vor: In der Religion ist der Mensch ganz bei sich, aber nun gerade so, dass dieses Bei-sich-sein als Nicht-bei-sich-sein erfahren wird, als ein von außerhalb seiner selbst des Selbst66

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‚Wunsch‘ des Subjekts es an den neuen Ort bringen und auch keine ‚Intention‘ des Subjekts es dort halten kann. Die biblische Erzählung von der Verklärung Jesu (Mt 17,1–9; vgl. Mk 2,9–13; Lk 9,28–36), die eine Begegnung mit dem ‚radikal Fremden‘ beschreibt, zeigt genau dies anschaulich: Es ist nicht der Wunsch und Wille der drei Jünger, eine außergewöhnliche Gottesbegegnung zu haben, die sie auf den Berg führt. Es ist allein das Handeln Jesu, das sie aus der ‚üblichen‘ Nachfolge herausreißt und mit zwei sehr deutlichen Verben beschrieben wird: Jesus „nahm mit sich“, Jesus „führte sie“ (Mt 17,1; vgl. Mk 9,2; Lk 9,28). Die Vision und Audition (der verklärt-strahlende Jesus, Mose und Elia neben ihm, die Stimme aus dem Himmel) führen nach dem Bericht der Evangelien zu unterschiedlichen Reaktionen der Jünger: Erschrecken (Mt 17,6 [interessanterweise erst auf das himmlische Wort hin, das Jesus als „lieben Sohn“ prädiziert]67), Verstörung (Mk 9,6), Schläfrigkeit (Lk 9,32). Einhellig aber überliefern alle den Plan des Petrus, jetzt drei Hütten zu bauen: für Jesus, Mose und Elia, um dort zu bleiben, denn „hier ist gut sein“ (Mt 17,4; vgl. Mk 9,5; Lk 9,33). Dieser Wunsch des glaubend Sehenden wird in der narrativen Dramaturgie der Evangelien entweder übergangen (so bei Matthäus) oder negativ kommentiert (vgl. Mk 9,6: „Er wusste aber nicht, was er redete; denn sie waren ganz verstört“; Lk 9,33: „Er wusste aber nicht, was er redete.“). Es wäre der unmögliche Wunsch, durch eigene Aktivität an dem Ort zu bleiben, an den es nur möglich ist, in der Begegnung und aufgrund der Begegnung zu gelangen. Der Abstieg vom Berg erfolgt als selbstverständliche Konsequenz.

Die Deterritorialisierung bedeutet auch, dass utopisches Potential wach wird; das „Ich“ wird zum „alter tu“, wird – theologisch gesagt – selbst schon ‚wortförmig‘, „Christus-förmig“; das Leben erscheint in einer neuen Perspektive, die sich – mit Musil und Waldenfels – als „Conjunctivus potentialis“ beschreiben lässt. Freilich wird dadurch das Subjekt nicht einfach ausgelöscht; Ich-Konstitution im Glauben bedeutet, dass Subjektivität in der Begegnung durchgestrichen, aber nicht einfach eliminiert wird. (b) Allerdings: das Fremde ist bedroht – auch das radikal Fremde. Es ist bedroht von dem Versuch des starken Subjekts, es seiner eigenen Deutungshoheit zu unterwerfen. Theologisch wurde dies bereits als die Bedrohung durch die Sphäre der Selbstbezüglichkeit, vulgo der Sünde, beschrieben. Ein Konzept der Fremdheit würde dann eine wirksame Absicherung seins Innewerdens, als eine Lebenssteigerung und Lebensvertiefung durch ein beglückendes Sichselbst-Fremdwerden. Schleiermacher hat dies dann mit dem Begriff des Gefühls ‚schlechthinniger Abhängigkeit‘ zum Ausdruck gebracht; die Pointe dieses Begriffs ist es ja gerade, dass auch hier eine subjektive (‚Gefühl‘) und eine objektive (‚Abhängigkeit‘) Komponente gerade so untrennbar miteinander verwoben sind, dass der rechte usus ebenfalls darin liegt, dass ‚alles im Glauben begriffen‘ und nicht analytisch getrennt und damit zerstört wird, was nur als Gesamtphänomen seinen rechten usus hat“ (MEYER-BLANCK: Liturgie und Liturgik, 72). 67 Vgl. anders die Aufnahme bei Kunzler oben 4.1.2.4.

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gegen die immer neue und befremdliche Erfahrung des Fremden errichten. Das pathisch-responsive Wechselspiel wäre mindestens gefährdet. Demgegenüber verweist Waldenfels darauf, dass die Begegnung nicht zu steuern ist. Zu erinnern ist an den oben (Kap. 3.2.3) dargestellten Versuch der älteren liturgischen Bewegung, die „Wort-Erfahrung“ durch eine entsprechende, auf die Emotionen und ihre Bewegung zielende Inszenierung des Gottesdienstes zu ermöglichen und zu vertiefen. Dieser Versuch bleibt in der beständigen Gefahr, durch den Willen, das zu erreichen, worum es im Glauben geht, genau dieses zu verfehlen. Die Begegnung mit dem Fremden ist nicht zu steuern; sie ist aber ebensowenig auf den Begriff zu bringen. Das korrekte Vokabular des Glaubens immer wieder auszusprechen, die alten Formeln schlicht zu wiederholen – alles dies bietet noch keine Gewähr dafür, dass das Entscheidende des Gott-menschlichen Wortwechsels neu geschieht. Genau hier ergibt sich das Problem für alle Versuche, materialiter zu bestimmen, was als das verbum externum zu gelten hat. Ich verweise nur exemplarisch auf einen Artikel von Reinhard Schmidt-Rost mit der Überschrift „Das fremde Wort“, in dem er eine Orientierung zur Predigtgestaltung in der Gegenwart geben möchte. Dazu erinnert er die Verkündiger des Wortes neu an dessen Fremdheit – gegenüber allzu vielen und allzu platten Versuchen, Anknüpfungspunkte für das Wort zu suchen und so das Evangelium zu billig und (vermeintlich) passförmig zu verschleudern. Das fremde Evangelium dürfe nicht zum attraktiven Wort gemacht werden, sondern müsse als die Botschaft verkündigt werden, die „alle Gedanken und Pläne der Menschen prüft, klärt und läutert“ und so „durchkreuzt“.68 Diese relationale Bestimmung der Fremdheit (relational im Gegenüber zu den anderen Worten dieser Welt) wird bei Schmidt-Rost dann auch materialiter bestimmbar: Das fremde Wort erweise sich „fremd in jeder Gesellschaft, in Zeiten überschäumender Zuversicht zum Realismus ratend, in Zeiten der Depression Lebensmöglichkeiten entdeckend, Hoffnung bewahrend und verbreitend.“69 Die Tendenz, dass die Fremdheit des Evangeliums bei Schmidt-Rost nicht (nur) theologisch bestimmt wird, sondern (auch) inhaltlich als Negation der vorherrschenden emotionalen Gestimmtheit, bedeutet die Gefahr, die (radikale) Fremdheit der Externität durch die Verschiedenheit des Alienum zu ersetzen. Damit freilich stellt sich die Frage nach einer Sprachform, die Fremdes im Eigenen hörbar werden lässt – eine Frage, die Waldenfels ebenfalls ventiliert und auf die unten weiter einzugehen sein wird.

Exkurs: Petrus und die pathisch-responsive Ich-Konstitution im Glauben Die spezifische Art und Weise der Ich-Konstitution im Glauben durch das verbum externum, die spezifische Art und Weise der pathisch-responsiven Struktur stelle ich 68 69

SCHMIDT-ROST: Das fremde Wort, 109. SCHMIDT-ROST: Das fremde Wort, 112.

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im Folgenden dar, indem ich den bereits angedeuteten Dialog zwischen reformatorischer Theologie und Bernhard Waldenfels insofern konkretisiere, als ich die Petrusfigur in der Überlieferung der Evangelien und der Apostelgeschichte als exemplarische Verdichtung wähle (und damit die oben bereits durch die Verklärungsszene eröffnete Perspektive fortführe). Es kann hier nicht darum gehen, diese insgesamt nachzuzeichnen und ein Porträt des biblischen Petrus im Kontext gegenwärtiger kulturwissenschaftlicher Ansätze zu entwerfen.70 Ich blicke vielmehr auf drei herausgehobene Aspekte, genauer: auf drei Wortwechsel (Berufung, Bekenntnis, Verleugnung und Neu-Berufung), die das, was Gott-menschlichen Wortwechsel ausmacht und daher auch in liturgicis bedeutsam wird, konturieren: (a) Pathisch-responsives und spontanes Wechselspiel: Die „Aufmerksamkeit“ des Petrus wird in der eindrucksvoll ausgestalteten Berufungserzählung nach Lukas geweckt und herausgefordert durch das Ereignis des außergewöhnlichen Fischfangs: Zur falschen Zeit mitten am Tage und nach erfolglosem nächtlichem Fang ziehen die Fischer so viele Fische aus dem See, dass zwei Boote fast sinken. Pathisch-responsiv ist das Geschehen: Der erlittene Fang führt zunächst zu einer Gefühlsbewegung („Schrecken“, V.9), dann zu einer gestischen und erst danach zu einer verbalen Antwort: Petrus fiel Jesus „zu Füßen und sprach: Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch“ (V. 8). Eine erste und durchaus überraschende Selbstaussage des Petrus im Kontext des Lukasevangeliums, dessen „Ich“ durch die wundersame Begegnung seiner selbst entrissen und in neuer Erkenntnis zu sich selbst zurückgeworfen wird. Gleichzeitig versucht Petrus durch eine deutliche Grenzziehung („Herr, geh weg von mir!“) dem „Stachel des Fremden“ zu entgehen und eine weitere Begegnung, eine neuerliche Deterritorialisierung möglichst zu vermeiden. In der Berufungsszene nach Lk 5 steht kein ‚Subjekt‘ Petrus einem ‚Objekt‘ der Begegnung (Jesus) gegenüber. Es ereignet sich Neues im Zwischenraum der Begegnung, das dann von Jesus her noch näher und erneut überraschend präzisiert wird: „Von nun an wirst du Menschen fangen“ (V.10). Wieder ist das Geschehen pathischresponsiv; die Antwort des Petrus und seiner Gefährten erfolgt wortlos: „[…] und verließen alles und folgten ihm nach.“ Die pathisch-responsive Struktur der Begegnung von Jesus und Petrus ist dadurch gekennzeichnet, dass die Initiative von außen kommt und Petrus so das inkommensurabel Fremde und Neue begegnet. Hier ist keine Bereitschaft des Petrus vorausgesetzt, das ‚Wunder an sich geschehen zu lassen‘ – wie man in typischem Kanzeldeutsch sagen könnte. Das Wunder geschieht und überwältigt den Fischer. Gleichzeitig zeigt sich: Die Antwort des ‚Glaubens‘, die sich nonverbal und verbal ereignet, geschieht nicht reflexiv. Petrus muss nicht überlegen, ob es nun angemessen wäre, auf die Knie zu fallen oder nicht: Es geschieht! Pathisch und responsiv ist das Miteinander – und die Antwort des Petrus erfolgt ‚sponte‘ (ob auch hilariter sei dahingestellt und bleibt für die Erzählung unbedeutend). (b) „Credo“ als „tu es“: Ein Sprung ins Matthäusevangelium, in dem die Erzählung vom sogenannten Petrusbekenntnis wortreicher als bei Lukas oder Markus ausgestal70

Vgl. zu einer ausführlicheren Wahrnehmung BÖTTRICH: Petrus.

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 345 tet wird (Mt 16,13–20; vgl. Lk 9,18–21; Mk 8,27–30). Erneut ist Petrus – nun mit den anderen Jüngern und wie die anderen Jünger – herausgefordert durch eine Anfrage Jesu: „Wer sagt denn ihr, dass ich sei?“ (Mt 16, 15). Der biblische Text markiert an dieser Stelle nicht, wie viel Zeit zwischen dieser Frage und der unmittelbar danach geschilderten Antwort des Petrus verging. Wie reflektiert oder spontan Petrus diesmal reagiert, ist nicht überliefert (die erneute Antwort Jesu in V. 17 könnte eine eher spontane Reaktion des Petrus nahelegen). Interessant ist, wie er die Antwort formuliert: Sein Bekenntnis ist unmittelbare Anrede: „Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn!“ (V. 16) „Tu es Christus …“71 Zwei Aspekte sind an dieser Antwort entscheidend: (a) Petrus zitiert. Mit dem Christusprädikat wählt er ein Wort, das religiös so aufgeladen ist, wie es ein Wort in der damaligen Zeit nur sein konnte. Von dem Gesalbten David bis zur Erwartung des (oder der) Erlöser(s) spannt sich ein Bogen, den der Fischer mit seiner kurzen Antwort evoziert. Das Fremde, das Jesus ist und bleibt, spiegelt sich auch darin, dass Petrus ihn nicht als frommen Menschen (so die Prädikation des Hauptmanns unter dem Kreuz in der Lukasfassung; Lk 23,47), sondern als den Christus bekennt. (b) Das Bekenntnis geschieht in der unmittelbaren Anrede, auf die kurz darauf das spiegelbildliche ‚Bekenntnis‘ Jesu erfolgt: „Tu es Petrus …“ (V. 18). Im Zwischenraum der Begegnung, im Wortwechsel zwischen Jesus und Petrus, in der gegenseitigen Anrede des Zuspruchs geschieht eine wechselseitige Neukonstitution von Identität: Christus und Petrus werden in der Wechselrede zu dem, was sie sind: endzeitlich erwarteter Gesalbter und Fels der Kirche. – Dass derselbe Petrus, der in diesem Wortwechsel gerade als „Fels“ prädiziert wurde, nur fünf Verse später von demselben Jesus als „Satan“ angeredet wird, zeigt, wie ‚volatil‘ die Konstitution des glaubenden ‚Ich‘ im Gott-menschlichen Wortwechsel bleibt. Dies unterstreicht auch der dritte und letzte Wortwechsel im inszenierten Dialog zwischen Waldenfels und dem Petrus der Evangelien. (c) „Ich bin es nicht! – Non sum!“: Herausgefordert ist Petrus vielfach; nicht nur durch zwei Boote voller Fische und durch Anfragen des Herrn, sondern etwa auch durch die Magd im Hof des Hohenpriesters in der Nacht der Gefangennahme, die ihn zweifelsfrei als einen der Jünger identifiziert. Petrus, der Bekenner von Caesarea Philippi, leugnet. Hatte er bei seiner Berufung gesagt „Ich bin ein sündiger Mensch“, so streitet er nun sein Jüngersein ab und antwortet der Magd: „Ich bin es nicht!“, sehr kurz im Griechischen: ouvk eivmi, und Lateinischen: „non sum“ (Lk 22,58; vgl. auch Joh 18,17.25). Auch hier begegnet eine pathisch-responsive Struktur, die augenfällig die Dynamik des Glaubenslebens unterstreicht. Petrus, der in Apg 10,26 sehr zurecht von sich sagt: „[…] ich bin auch nur ein Mensch“, zeigt eindrucksvoll, dass Glaube keine stabile Ich-Identität bedeutet und kein neuerlich ‚starkes‘ Subjekt konstituiert, das nun unterschiedlichen ‚Objekten‘ gegenüber jeweils standhaft und fest seinen ‚erworbenen‘ Glauben bekennen könnte. Glaube bleibt (ungeachtet der ein für allemal gültigen Zusage und Berufung Gottes!) angewiesen auf die Dynamik der Gott-menschlichen Wechselrede und herausgefordert durch je neue zwischenmenschliche Begegnungen. Im Johannesevangelium wiederholt sich vielleicht auch deshalb ein Wortwechsel 71

Vgl. auch Lk 9,20: „Du bist der Christus Gottes“ und Mk 8,29: „Du bist der Christus“.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

zwischen dem Auferstandenen und Petrus dreimal – eine Wiederholung, die Exegeten beschäftigt und zu Erklärungen nötigt (Joh 21,15–17).72 Jesu Frage: „Hast du mich lieber, als mich diese haben?“ Petri Antwort: „Ja, Herr, du weißt, dass ich dich liebhabe.“ Jesu Antwort: „Weide meine Lämmer!“ Und so ähnlich noch zwei weitere Male. Glaube bleibt angewiesen auf die Wechselrede, die von Gott ihren Ausgang nimmt. Im Kontext dieser Untersuchung reformuliert: Glaube bleibt angewiesen auf den „Gottesdienst“, in dem es – nach Luther – genau um diese Wechselrede geht. Eine Wechselrede, die, in der Begrifflichkeit von Bernhard Waldenfels, pathischresponsiven Charakter hat, das ‚Subjekt‘ eingrenzt, entgrenzt und neu konstituiert, ohne dass das ‚Subjekt‘ nun als glaubendes Subjekt bereits gefestigt wäre. Die Spannung zwischen „tu es Christus“ und „non sum“ bleibt bestehen. – Wenn die bleibende Notwendigkeit des Gottesdienstes für den Glaubenden eine evangelische Begründung erfahren soll, dann müsste sie am ehesten in dieser Richtung gesucht werden.

(3) Das Fremde in eigener Sprache: Im Anschluss an Michail Bachtin überlegt Bernhard Waldenfels, wie Fremdes in eigener Sprache so auszusagen sei, dass die Fremdheit nicht im verstehend-einordnenden Zugriff erledigt wird. Eine Antwort, die Waldenfels gibt, verweist auf das Zitat als Sprachform der Heterophonie – eine Antwort, die für liturgische Sprachfindung (auf die ich im folgenden Kapitel [Kap. 6.3.2] ausführlicher zu sprechen komme) weiterführend erscheint. Liturgische Sprachfindung wäre dann weit weniger als Spielwiese eigener Kreativität der liturgisch Verantwortlichen zu beschreiben, sondern viel mehr als Kunst sprachlicher Collage, die eigene Worte und Worte biblischer und liturgischer Tradition so verbindet, dass das „radikal Fremde“ auch sprachlich eine Chance erhält. Freilich: Es bleibt auch hier die Warnung aufzurichten, dass die eigene Sprache (auch wenn sie Traditionelles geschickt mit Aktuellem, Überliefertes mit Persönlichem collagiert) noch keineswegs eine Begegnung mit dem Fremden garantiert. Das Fremde würde so, mit Waldenfels, zu einem „Resultat, das unseren eigenen Maßstäben entstammt und unseren eigenen Maßstäben unterliegt. Fremdes, das uns außer uns selbst geraten und die Grenzen der jeweiligen Ordnung überschreiten läßt, kann nichts sein, was wir selbsttätig herbeiführen.“73 – Sprachlich wäre in der Liturgie eine zurückhaltende, sich selbst beschränkende, scheue Ausdrucksweise zu suchen, die dem Fremden Raum lässt. Das Zitat, das ich zur Forderung sprachlicher Scheu weitergeführt habe, ist eine Antwort von Waldenfels auf die Grundfrage nach einer in der Begegnung mit dem Fremden angemessenen Sprache. An anderer Stelle deutet sich eine weitere Antwort an – dort nämlich, wo er das gelingende Gespräch diskutiert. Dieses könne, so Waldenfels, nur durch die „Pause im 72

Vgl. nur Bultmann: „Die feierliche Dreimaligkeit erinnert an kultischen oder magisch-juristischen Brauch […]“ (BULTMANN: Das Evangelium des Johannes, 551 Anm. 5). 73 WALDENFELS: Grundmotive, 131.

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Gespräch“ reüssieren, „ohne die all unser Reden in einem dialogisch inszenierten Monolog befangen bliebe.“74 Ist es gerade die „Pause“, die „Stille“, die das eigene Reden im Gegenüber zum radikal Fremden ausmachen müsste? In einer künstlerischen Metapher: Ist es das nicht übermalte „Weiße“ im Bild, das die entscheidenden Leerstellen setzt – und dazu führt, dass aus einem dialogisch inszenierten Monolog ein Dialog werden kann? Diesen Fragen gehe ich unten (Kap. 5.3.3; vgl. auch 6.3.2.4 und 6.3.2.6) weiter nach. (4) „Sei andächtig!“ – oder: Die Schwierigkeit, eine Haltung der „Andacht“ einzuüben: Paul Watzlawick hat die „‚Sei spontan!‘-Paradoxie“ als „wirkliche, stubenreine, allen formallogischen Anforderungen entsprechende Paradoxie“ entlarvt.75 „Auf Befehl etwas spontan zu tun, ist ebenso unmöglich, wie etwas vorsätzlich zu vergessen oder absichtlich tiefer zu schlafen.“76 Wie verhält es sich mit der Aufforderung zur „Andacht“ als angemessener Haltung im Umgang mit dem Fremden, die Waldenfels erwähnt? Hat sie teil an dem Spontaneitäts-Paradox Watzlawicks, da sie, wie auch Waldenfels erkennt, nur im Kontext einer präreflexiven Selbstverständlichkeit möglich ist, die das eigene Subjekt nicht von vornherein in eine bestimmte „Haltung“ einem Objekt gegenüber bringt? Was durch willentliche Steuerung der Aufmerksamkeit bestenfalls erreicht werden kann, ist deren Fokussierung. Aber entspräche diese bereits der Haltung der „Andacht“ bzw. „Aufmerksamkeit“, die für eine gelingende Begegnung mit dem Fremden vorausgesetzt wäre? – Liturgisch übertragen: Die vielfach zu hörende Forderung, sich im Gottesdienst ‚zu öffnen‘ für das, was von Gott entgegenkommt, bzw. Gottes Gabe als Geschenk anzunehmen o.ä., entspräche genau dem Watzlawick-Paradox – und würde zudem die Begegnung mit dem Fremden in die Figur der subjektiven Intentionalität einzeichnen und somit von vornherein verzerren. Waldenfels selbst verweist darauf, dass diejenige Form der Aufmerksamkeit, die am ehesten dazu führt, dem radikal Fremden zu begegnen, nicht die „gesteuerte“, sondern die „frei schwebende“ Aufmerksamkeit sei; also eine Art der „Epoché“ der Wahrnehmung.77 Diese allerdings lässt sich wohl in der Tat weniger willentlich herbeiführen, als bestenfalls im Rückblick als Haltung erkennen: „[…] Und nichts zu suchen, das war mein Sinn“ (wie es in Goethes berühmtem Lied „Gefunden“ heißt). Was es bestenfalls zu ler74

WALDENFELS: Grundmotive, 116. WATZLAWICK: Anleitung zum Unglücklichsein, 87–95, Zitate: 87f. 76 WATZLAWICK: Anleitung zum Unglücklichsein, 88. 77 Alle Zitate bei WALDENFELS: Grundmotive, 106; der Begriff der „Epoché“ weist auf Husserls Phänomenologie zurück. 75

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

nen und gerade im Blick auf den Gottesdienst einzuüben gäbe, wäre eine Gelassenheit, die den Erlebnisanspruch zurücknimmt und in dieser Hinsicht dem entspricht, was der zitierten Zeile bei Goethe vorausgeht: „Ich ging im Walde so für mich hin […]“. Aber ist diese „Haltung“ möglich? Und nimmt sie die Erwartung, die Menschen (zurecht!) mit dem Gott-menschlichen Wortwechsel verbinden und wegen derer sie (wenn es gut geht!) in die Kirche kommen, nicht zu weit zurück? Welches Gottesdienstverständnis wäre in (oder nach?) der Erlebnisgesellschaft nötig, um zu einer Gelassenheit des Selbstverständlichen zurückzukehren? Die ästhetischen Ansätze zur Relativierung starker Subjektivität, die im Folgenden dargestellt werden, sollen auch daraufhin befragt werden. 5.1.2 Ästhetische Relativierung starker Subjektivität – oder: Die „Einlassung ins Entgegenkommende“ 5.1.2.1 Sinn- und Präsenzkulturen – eine ästhetisch-hermeneutische Grundunterscheidung Das intensivste anti-cartesianische Pathos, das in der philosophisch-kulturwissenschaftlich-hermeneutischen Diskussion der vergangenen Jahre begegnet, hat wohl der gebürtige deutsche und jetzige Stanforder Philosoph Hans Ulrich Gumbrecht mit seiner Schrift „Diesseits der Hermeneutik“ entfaltet. Der (deutsche) Titel78 spielt u.a. auf Gianni Vattimos Werk „Jenseits der Interpretation“ an,79 verwendet mit „diesseits“ aber bewusst eine andere Präposition und verweist so auf die Stoßrichtung seiner Überlegungen: Es geht Gumbrecht darum, jenen ‚Raum‘ neu zu konturieren, der „diesseits“ der Hermeneutik ‚existiert‘, der aber in der europäischen geisteswissenschaftlichen Tradition nach und nach ausgeschlossen worden sei, als man sich auf die binäre Unterscheidung Descartes’ einließ und das Eindeutige (und Beherrschbare) der „res cogitans“ der problematischen Vielfalt der „res extensa“ gegenüberstellte. Die Welt der ‚Dinge‘ sowie der unmittelbaren sinnlichen Erfahrungen sei hinter die Welt der Gedanken zurückgetreten, entscheidend sei die Meta-Physik (im Sinne dessen, was das Physische übersteigt!) geworden – und mehr und mehr habe sich letztere derart als Regentin aufgespielt, dass die Ontologie menschlicher Existenz zu einer Funktion von Vollzügen des menschlichen Geistes wurde.80 Idealismus und Konstruktivismus könnten insofern als spiegelbildliche Erscheinungen 78

Im Englischen heißt das Werk „Production of Presence. What Meaning Cannot Convey“. Vgl. GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 73–75. 80 Vgl. GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 34. 79

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eines „Jenseits“ des Körperlich-Materiellen beschrieben werden. Es geht Gumbrecht demgegenüber um die Wiedergewinnung dessen, was diesseits der meta-physischen Verschiebungen der neuzeitlichen Tradition existiert und in dieser bewusst ausgeblendet wurde – vor allem um die Körperlichkeit und Räumlichkeit des Erfahrens. Gumbrechts Gedanken sind nicht neu und nicht singulär. Was er aufführt, hat in der deutschsprachigen Philosophie etwa auch Jochen Hörisch dargelegt – und kann dabei auf eine weite Tradition der Hermeneutikkritik verweisen, die sich etwa mit den Namen Nietzsche, Heidegger oder Derrida verbindet.81 Im spezifischer ästhetischen Diskurs sind etwa George Steiner82 oder Susan Sontag zu nennen, die sich massiv „Gegen Interpretation“83 im Umgang mit Kunstwerken wandten. Was Gumbrecht für die Aufnahme in diese Untersuchung besonders auszeichnet, ist erstens die Klarheit seiner Distinktionen, zweitens die Dichte, mit der er auf religiöses Vokabular (Epiphanie, Verklärung, Offenbarung, Ereignis etc.) zurückgreift,84 und drittens die ansatzweise Einzeichnung seines Denkens in Kontexte des Performativen. Ich stelle Gumbrechts Überlegungen in drei Punkten dar. Der erste betrifft die Abgrenzungen Gumbrechts: zunächst im Blick auf die Methode, dann im Blick auf das leitende ästhetische Paradigma. Im zweiten Punkt stelle ich seine Folgerungen systematisierend vor Augen und bediene mich dazu der plakativen Unterscheidung von Sinn- und Präsenzkultur, die Gumbrecht selbst einführt. Der abschließende dritte Unterpunkt stellt einerseits kritische Rückfragen, nimmt andererseits bedeutsame Aspekte aus Gumbrechts kritischem Einwurf für die Weiterarbeit in liturgischem Kontext auf.

81 Vgl. HÖRISCH: Die Wut des Verstehens; vgl. auch den Sammelband ALBRECHT: Kultur Nicht Verstehen, der aus der Perspektive unterschiedlicher Fächer Aspekte des Nicht-Verstehens groß macht und diese als die „‚Befindlichkeit‘ initialer Störung, die produktiv werden kann […]“, begreift (STOELLGER: Wo Verstehen zum Problem wird, 8). – Vgl. auch HAUG: Geheimnis und dunkler Stil – eine Darstellung des obscuritas-Begriffs und seiner hermeneutischen Bedeutung. 82 Vgl. STEINER: Von realer Gegenwart; vgl. zu Steiner: GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 78f. 83 Vgl. SONTAG: Gegen Interpretation; vgl. zu Sontag: GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 26. 84 Freilich grenzt sich Gumbrecht gegen die Vorstellung ab, die von ihm verwendeten theologisch-religiösen Begriffe würden eine Bedeutung haben, die auf Transzendenz bzw. Religion hinweist (vgl. GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 11). Dies wäre unter Umständen nichts weiter als der erneute Versuch, in ein „Jenseits“ der Präsenz, in eine Ebene der Geistigkeit zu gelangen – und das ‚Eigentliche‘ der Bedeutung zu ermitteln. – Dennoch aber erscheint es aus theologischer Sicht auffällig, dass das, was die Präsenzphänomene kennzeichnet, anscheinend nicht anders als in theologischer Sprache ausgesagt werden kann. Ohne Gumbrecht also vereinnahmen zu wollen, liefern seine Beobachtungen dem Theologen eben doch Hinweise auf die spezifische „Präsenz“, um die es dort geht, wo die Transzendenz als ‚Partner im Spiel‘ explizit mitgedacht wird.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

(1) Wider die Dominanz von Hermeneutik und Semiotik, wider die ästhetische Kategorie des ‚Werks‘ In historischer Perspektive erkennt Gumbrecht einen wesentlichen Umbruch der Weltwahrnehmung und der philosophischen Weltbetrachtung im Übergang von mittelalterlicher zu frühneuzeitlicher Kultur – ein Umbruch, der grundlegend bereits in der Reformation erkannt werden könne, der sich dann spätestens im 17. Jahrhundert manifestiert habe, der Gegenbewegungen hervorgebracht habe, trotz aller Kritik aber bis heute beherrschend geblieben sei.85 Es ist, Gumbrecht zufolge, jener Umbruch, der die Geistigkeit und Innerlichkeit des Menschen gegenüber der Körperlichkeit betont und in dieser Kategorie den Weltbezug des Menschen bestimmt: Er sehe sich als Subjekt von Objekten umgeben, die seinem Zugriff unterliegen.86 Interessant ist etwa, dass erst jetzt – in der Neuzeit – das „Paradigma des Ausdrucks“ entwickelt werden konnte, also ein Verständnis, wonach es etwas Geistiges ‚in mir‘ gebe, das durch den Körper als Medium ausgedrückt werden kann.87 Die Verschiebung beobachtet Gumbrecht auf mehreren Ebenen; ich führe nur die Kunst sowie die Religion als exemplarische Bereiche auf: – Im Theater der frühen Neuzeit werde – gegenüber der Art und Weise, wie vorher in unterschiedlichen religiösen oder säkularen Kontexten Theater gespielt wurde, – eine Vergeistigung und Verinnerlichung, eine kognitive Verschiebung und damit eine Verschiebung weg von dem Bühnengeschehen hin zu den auf der Bühne gesprochenen Texten wahrnehmbar – am ehesten und deutlichsten im klassischen französischen Theater eines Corneille, Molière oder Racine: Schwer verständliche, lange Texte wurden deklamiert, der Körper des Schauspielers trat in seiner Bedeutung zurück.88 Die Entwicklung der Oper gegen Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts sieht Gumbrecht als ein erstes Signal des Widerstands gegen ein Theater, das seine ‚Körperlichkeit‘ zugunsten einer gesuchten Geistigkeit mehr und mehr verlor.89 – Im religiösen Kontext nimmt Gumbrecht die Reformation als entscheidenden Einschnitt wahr. Am deutlichsten ablesbar werde die Verschiebung beim Verständnis des Abendmahls. In einer mittelalterlichen bzw. katholischen Auffassung sei dieses im Kontext eines aristotelischen Zeichenbegriffs gedeutet worden, der – nach Gumbrecht – forma und materia eben nicht trennt, sondern in wechselseitigem Aufeinanderverwiesensein zueinander in Beziehung hält.90 Eine Trennung von „materiellem Signifi-

85

Vgl. zur zeitlichen Bestimmung des Umbruchs GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 99; vgl. zur historisch-genetischen Betrachtung der Entwicklung insgesamt aaO., 38–69. 86 Vgl. GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 41f. 87 GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 43. 88 Vgl. GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 50. 89 Vgl. GUMBRECHT: Produktion von Präsenz, 70f. 90 Vgl. GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 46–50.

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 351 kanten und immateriellem Sinn“ liege nicht im mittelalterlichen Verständnis.91 Die Reformation habe aber genau diese Trennung hervorgebracht; denn letztlich habe sich das reformierte „significat“-Verständnis der Schweizer Reformatoren durchgesetzt und sei für die weitere Geschichte des Protestantismus bedeutsam geworden. Damit auch habe sich allererst die Dimension des historischen Abstands zwischen die gegenwärtige Feier des Abendmahls und das Geschehen der Stiftung durch Jesus im Jüngerkreis ergeben.92 – Der Theologe und vor allem der Religionshistoriker wird diese Linien für zu undifferenziert halten. Bedauerlich ist es vor allem, dass Gumbrecht den innerreformatorischen Abendmahlsstreit, den Streit zwischen Luthers „est“ und Zwinglis „significat“, nicht rezipiert und als Auseinandersetzung in der Zeit des Verlusts der Selbstverständlichkeit einer ‚substantialistischen‘ mittelalterlichen Abendmahlsauffassung wahrgenommen hat. In Luthers „est“, das sich als „est“ im glaubenden Vollzug erweist, könnte ja genau jene kritische Grenze liegen, die weder ein substantialistisches noch ein rein signifikatives Abendmahlsverständnis für eine ausreichende Denkmöglichkeit hält. – Andererseits: Die Wirkungsgeschichte gibt Gumbrecht cum grano salis wohl doch recht: Das „significat“ aus der Schweiz erwies sich als das bei weitem modernere und zukunftsfähigere Modell der Deutung des Abendmahls!

Was sich durch die neuzeitliche Verschiebung ergab, war methodisch der Siegeszug von Hermeneutik und Semiotik, die Gumbrecht in ihrem Zugang als unmittelbar verwandt ansieht.93 Sie nehmen die Welt der Dinge (und etwa auch die Kunst!) in signifikativem Verständnis wahr: Dinge werden zu Zeichen, die dominante Figur der Repräsentation bedeutet, dass sie als Signifikanten gesehen werden, die für etwas anderes stehen und die entschlüsselt werden können. Entscheidend sei dann keinesfalls die unmittelbare Erfahrung im Umgang mit den Dingen oder den ‚Werken‘ der Kunst, sondern die sich aus dieser Erfahrung auf einer anderen Ebene ergebende Deutung. Etwa auch Inszenierungen auf der Bühne würden in diesem Paradigma nicht anders verstanden als Bücher – als Zeichen nämlich für ein anderes.94 Diesem Begriff der Repräsentation setzt Gumbrecht den Begriff der „Repräsentation“ entgegen und meint damit „nicht Stellvertretung für etwas abwesend Bleibendes, sondern die Produktion der erneuten Präsenz von etwas zuvor temporär abwesend Gewesenem.“95

91

GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 46. Vgl. GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 47f; vgl. ders.: Produktion von Präsenz, 67. 93 Vgl. besonders GUMBRECHT: Produktion von Präsenz, 67–69. 94 Vgl. GUMBRECHT: Produktion von Präsenz, bes. 64. 95 GUMBRECHT: Produktion von Präsenz, 65. 92

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

(2) Präsenz- und Sinnkultur Mit den bisherigen Überlegungen ist das heuristische Differential vorbereitet, das Gumbrecht zur Unterscheidung zweier Kulturtypen führt: der Präsenz- und der Sinnkultur. Gumbrecht schreibt: „In der Sinnkultur versteht sich der Mensch vornehmlich als Bewußtsein (cartesianisch: als res cogitans, als Subjekt), in der Präsenzkultur als Körper (res extensa). […] Das Subjekt ‚interpretiert‘ die Welt der Dinge, indem es ihre materiellen Oberflächen durchdringt und unter diesen Oberflächen Nichtmaterielles, nämlich Bedeutungen identifiziert. Dem Körper als Selbstreferenz der Präsenzkulturen hingegen kommt es zu, sich in die Rhythmen der Gesetzmäßigkeiten der Welt als kosmologischer Ordnung einzuschreiben.“96

Ich stelle Sinnkultur und Präsenzkultur in einer Tabelle gegenüber:97 Bevorzugter Gegenstand des menschlichen Selbstbezugs Verhältnis zur Welt Wissen

Charakter des Wissens Bedeutung der Kunst Zeichen

Handlung gegenüber der Welt Grunddimension

Sinnkultur Geist

Präsenzkultur Körper98

exzentrisch von einem Subjekt durch Weltinterpretation hervorgebracht begrifflich

in-der-Welt-Sein99 offenbartes Wissen (Entbergung!)

Repräsentation Signifikant, der auf ein Signifikat verweist und dadurch seine materielle Bedeutung verliert Veränderung als Ziel; Technik als Weg Zeit

Substanz, die in Erscheinung tritt Re-präsentation100 Zeichen als Ineinander von Substanz und Form (Aristoteles) Einfügung als Ziel; Magie als Weg101 Raum102

96

GUMBRECHT: Produktion von Präsenz, 66. Vgl. zu der Tabelle GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 100–106. 98 Dieses Begriffspaar nimmt das grundlegende cartesianische Problem auf. 99 Hier spricht Gumbrecht den Heideggerschen Begriff des „in-der-Welt-Seins“ in seine Unterscheidungen hinein. 100 Vgl. zu diesem Begriffspaar besonders GUMBRECHT: Produktion von Präsenz, 66f. 101 Gumbrecht nennt den dominanten Weltbezug in der Präsenzkultur ein „Gefühl, daß man im gleichen Rhythmus schwingt wie die Dinge dieser Welt“ (GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 138). 102 Auch für diese Unterscheidung kann auf Heidegger verwiesen werden; vgl. GUMBRECHT: Produktion von Präsenz, 67; ders.: Diesseits der Hermeneutik, 11. 97

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 353 Ereignis

Innovation und Überraschung

Unterbrechung

Spiel bzw. Fiktion (als bewusste Elimination der zielgerichteten Motivation) Parlamentsdebatte

Paradigma

Abweichung von den Regelmäßigkeiten der Kosmologie („Wunder“)103 Karneval & Fest

Abendmahl

Historisch erkennt Gumbrecht, dass die Präsenzkultur im Kontext des neuzeitlichen Umbruchs des Selbst- und Weltverständnisses als unpassend bzw. gar als peinlich empfunden und nach und nach zurückgedrängt wurde.104 Gegen diese Zurückdrängung habe es Einspruch und Versuche der Wiedergewinnung einer Begrifflichkeit gegeben, die die Präsenzkultur nicht eliminiert. Den wichtigsten Vorstoß zur Schaffung einer solchen nach-metaphysischen Begrifflichkeit und als Heilmittel gegen den „theoretischen Verlust der Welt außerhalb des menschlichen Bewußtseins“ erkennt Gumbrecht bei Heidegger.105 Das „in-der-Welt-Sein“ habe dieser neu beschreiben und denken wollen; seine Kategorie des Seins sieht Gumbrecht als verwandt mit der von ihm verwendeten Kategorie der Präsenz.106 Wie Heidegger ist auch Gumbrecht auf der Suche nach Begriffen, die tragen und die nötig wären, um „die theoretische Welt der postmetaphysischen Epistemologie zu betreten“, die wissenschaftstheoretisch der entscheidende Fluchtpunkt der Überlegungen Gumbrechts ist.107 Auffallend ist – wie bereits angedeutet –, dass Gumbrecht diese Begrifflichkeit in religiöser Sprache findet, sich zugleich aber gegen die Einordnung wehrt, er sei zu einem religiösen Denker geworden.108 Er spricht von Epiphanie – und meint damit die Erfahrung eines „Moment[s] der Intensität“109, der ephemer ist:

103 Vgl. GUMBRECHT: Produktion von Präsenz, 68: „Das Ereignis ist sinnkulturell schnell als das Überraschende schlechthin identifiziert, als das, was nicht den Vorgriffen und den je impliziten Erwartungen menschlicher Intentionen entspricht. Präsenzkulturell kann der Ereignisbegriff aber nicht durch einen Kontrast gegenüber Intentionen und Erwartungen definiert werden (sie spielen auf dieser Seite der Typologie keine Rolle), sondern muß aus Kontrasten des ‚Ereignisses‘ gegenüber den immer gleichen kosmischen Regelmäßigkeiten gewonnen werden.“ 104 Vgl. GUMBRECHT: Produktion von Präsenz, 70. 105 Vgl. GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 85–98, Zitat: 86; vgl. auch aaO., 65. 106 Vgl. GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 97f. 107 GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 111. – Es sei an der „Zeit, bestimmte diskursive Tabus zu brechen (sich die Hände schmutzig zu machen) und Begriffe zu entwickeln, mit denen man zumindest ansatzweise Präsenzphänomene erfassen […] kann, statt daß man diesen Bereich schlicht umgehen muß“ (aaO., 98f). – Gumbrechts Buch gipfelt in dem Versuch, für die Ästhetik, die Geschichte und die Pädagogik Grundbegriffe zur Verfügung zu stellen – und so „Zukünfte für die Geisteswissenschaften“ anzudeuten (vgl. aaO., 111–154). 108 Vgl. GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 168–173. 109 GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 118 [im Original hervorgehoben].

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

vergänglich, nicht festzuhalten.110 Vergleichbar spricht er von „Ereignis“, um damit die Unverfügbarkeit der Präsenzerfahrung zu charakterisieren.111 Den Charakter des Wissens beschreibt Gumbrecht in der Präsenzkultur als „Offenbarung“, die durch „Entbergung“ hervorgebracht werde und so in ‚Erscheinung‘ trete. Das Ereignis lasse sich damit in die Kategorie des „Wunders“ einordnen.112 Gumbrecht ist sich bewusst, dass nach dem Umbruch der Neuzeit kein Weg zurück in die Geschlossenheit einer Präsenzkultur beschritten werden kann.113 Beide, Sinn- und Präsenzkultur, werden ineinander greifen und miteinander agieren – freilich so, dass – Gumbrecht zufolge – gegenwärtig die lange zurückgedrängte Präsenzkultur (vor allem auch gegenüber der den Alltag dominierenden Sinnkultur) neu betont und eingeübt werden müsse. Dies bedeutet zugleich eine ‚präsenzkulturelle Bändigung‘ starker neuzeitlicher Subjektivität. Konkret verweist Gumbrecht auf die Notwendigkeit, einen „Rahmen“ zu schaffen, in dem Präsenz erfahren werden kann. „Es mag zwar grundsätzlich richtig sein, daß alle unsere (menschlichen) Beziehungen zu den Dingen dieser Welt sowohl auf Sinn als auch auf Präsenz beruhen müssen, aber dennoch behaupte ich, daß wir unter den heutigen Kulturverhältnissen einen bestimmten Rahmen benötigen (nämlich die Situation der ‚Insularität‘ und die Einstellung der ‚fokussierten Intensität‘), um die produktive Spannung, das Oszillieren zwischen Sinn und Präsenz, wirklich zu erleben, anstatt die Präsenzseite einfach einzuklammern, wie wir es in unserem überaus cartesianischen Alltagsleben offenbar ganz automatisch tun.“114

Mit dem Begriff der „Insularität“ greift Gumbrecht auf Michail Bachtin zurück, der etwa im Blick auf den Karneval von „Insularität“ spricht – von einem „Ort“ also, der dem Alltag bewusst enthoben ist.115 Als solche Orte kämen auch Theater oder Museen in Frage oder andere Orte, an denen Menschen der Kunst begegnen – freilich aber nur dann, wenn diese Orte nicht sinnkulturell vereinnahmt werden. In diesem Zusammenhang warnt Gumbrecht etwa davor, bei Operninszenierungen das Libretto zu stark zu betonen und rät von der Praxis ab, es auf einem großen Laufband über der Opernbühne im Original oder/und in Übersetzung einzublenden.116 Eine 110

Vgl. GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 131. Vgl. GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 133f. 112 Vgl. die obige Tabelle. 113 Freilich könnte kritisch gefragt werden, ob die Linearität der Darstellung der historischen Entwicklung bei Gumbrecht so wirklich haltbar ist oder ob nicht das spannungsvolle Ineinander von präsenz- und sinnkulturellen Aspekten seit jeher menschliche Gesellschaften prägt. 114 GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 127. 115 Vgl. GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 122f. 116 GUMBRECHT: Produktion von Präsenz, 73f. 111

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 355

solche Praxis würde zu der sinnhermeneutischen Repräsentationsauffassung von Kunst führen und die „Produktion von Präsenz“117 im Sinne der „Repräsentation“ – und damit die Gestaltung einer „Gegenwärtigkeit als Berührbarkeit“118 – nicht unmöglich machen, aber mindestens problematisch werden lassen. (3) Kritische Würdigung Gumbrecht will seine Unterscheidung von Sinn- und Präsenzkultur nicht so verstanden wissen, dass nun „Sinn“ abgewertet und „Präsenz“ einzig gewürdigt würde; im Gegenteil spricht er von einer „Konvergenz von Sinnproduktion und Präsenzproduktion“.119 Dennoch aber eröffnet Gumbrecht durch die beiden Begriffe ein binäres Feld, ein Entweder-Oder. Freilich: Solche binären Unterscheidungen erweisen sich nicht selten als heuristisch hilfreich. Sie ordnen und strukturieren die Wahrnehmung und eröffnen so Einsichten. Dies gilt für Gumbrechts Unterscheidung von Sinn- und Präsenzkultur; dies gilt etwa auch für die durchaus vergleichbare Unterscheidung von gerichtetem und assoziativem Denken (C. G. Jung) oder von analoger und digitaler Sprache (Paul Watzlawick u.a.).120

Bei aller Bedeutung der binären Unterscheidung in heuristischer Perspektive muss dann m.E. aber doch gefragt werden, wie diese „Konvergenz“, auf die Gumbrecht nicht näher eingeht, genau vorzustellen ist.121 Denn faktisch sind Präsenzereignisse für Gumbrecht an bestimmte Orte und herausgehobene Zeiten gebunden (vgl. den Begriff der „Insularität“) – etwa an eine Kunstaufführung oder eine Sportveranstaltung (einen Gottesdienst erwähnt Gumbrecht nur indirekt durch den Verweis auf die „Eucharistie“ als Paradigma der Präsenzkultur!). Dies könnte auf eine Bestimmung hinweisen, die manchen Orten „Sinn“ zuordnet (dem Hörsaal, dem Parlament), anderen Orten „Präsenz“ – womit die Frage nach der „Konvergenz“ erneut offen bliebe.

117

Vgl. GUMBRECHT: Produktion von Präsenz, passim. GUMBRECHT: Produktion von Präsenz, 65. 119 GUMBRECHT: Produktion von Präsenz, 63; vgl. ders.: Diesseits der Hermeneutik, 71. 120 Vgl. dazu z.B. BRANDSTÄTTER: Grundfragen der Ästhetik, 20.151–158. – Mit einem Augenzwinkern bekennt sich auch der Autor dieser Studie zur Vorliebe für binäre Figuren zur heuristisch-analytischen Erschließung (keineswegs zur abschließenden Beschreibung bzw. Klassifizierung von Wahrnehmung). Vgl. nur DEEG: Skripturalität und Meta-Skripturalität. 121 Interessant ist, dass Gumbrecht an anderer Stelle nicht von „Konvergenz“ spricht, sondern von einem Oszillieren zwischen Präsenz und Sinn – eine Bestimmung, die m.E. der binären Grundunterscheidung deutlicher entspricht (vgl. GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 12.18). 118

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Ist „Sinn“ das, was sich nachträglich aus der Erfahrung des Ereignisses im präsenzkulturellen Verständnis ergibt? Wäre diese „Sinnproduktion“ dann aber tatsächlich davor gefeit, die Präsenzerfahrung zu verschlingen und gegenüber dem ‚Eigentlichen‘ des Sinns abzuwerten? Oder laufen die Konvergenzen anders? Etwa so, dass sich Sinn – um neuerlich theologisch zu sprechen – in, mit und unter der Präsenzerfahrung ergäbe? Müsste dann nicht aber die Beschreibung dessen, was „Sinn“ bedeutet, dahingehend modifiziert werden, dass sein begrifflicher Charakter eingeschränkt würde? Gibt es nicht auch Sinn-Ereignisse, Sinn-Epiphanien oder Sinn-Wunder, die nur im Wechselspiel von Körper und Geist, Exzentrität und In-der-WeltSein existieren und die so in der Lage wären, das Entweder-Oder, das sich bei Gumbrecht faktisch ergibt, zu vermeiden – ohne einfach in einer hegelianisch vermittelnden Synthese aus dem Wechselspiel von Präsenz und Sinn auszusteigen? Ursula Brandstätter möchte in ihrem Arbeitsbuch „Grundfragen der Ästhetik“ die Verengung aufbrechen, wonach „Denken“ einseitig mit Sprache und Kausalität verknüpft sei; gegenüber dem „kausale[n] Denken“ etabliert sie die Kategorie des „analoge[n] Denken[s]“ und spricht von der Möglichkeit eines „Denken[s] in Bildern“ oder „in Musik“.122 Brandstätter deutet damit die Richtung an, in die die notwendige Konvergenz m.E. gesucht werden müsste. Interessant erscheint mir hier erneut die Erzählung von der Verklärung Jesu (Mt 17,1–9; Mk 9,2–13; Lk 9,28–36).123 Die Tatsache, dass das „Ereignis“ der Verklärung (Mt 17,2: „Und er wurde verklärt vor ihnen […]“) in der Erinnerung der Gemeinde weitergetragen wird und keinesfalls nur der deutende Satz der himmlischen Stimme (Mt 17,5: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!“) macht den Zusammenhang von beidem im glaubenden Vollzug deutlich. Augenscheinlich war es für die Überlieferung des Ereignisses wichtig, nicht nur den ‚sinnkulturellen‘ Satz weiterzugeben, wonach Jesus vom Himmel her als „Sohn Gottes“ prädiziert wurde, sondern das konkrete, körperliche, herausfordernde Geschehen mit dem deutenden Wort zusammenzuhalten.124

Wenn solche Sinn-Epiphanien gesucht werden, müsste der Fokus m.E. noch stärker als bei Gumbrecht auf die Performanz gelegt werden und damit auf jene prozesshaften Vollzüge, in denen sich „Sinn“ bzw. „Präsenz“ 122

BRANDSTÄTTER: Grundfragen der Ästhetik, 21. Gumbrecht selbst kommt auf die Verklärungsperikope zu sprechen und vergleicht die körperliche Bühnenpräsenz mit dem, was im Neuen Testament „Verklärung“ genannt wird: „Vielleicht ist das, was das Neue Testament ‚Verklärung‘ nennt, genau die Entrückung eines Körpers, die seine Gegenwärtigkeit steigert […]“ (GUMBRECHT: Produktion von Präsenz, 75). 124 Wenn man so will, kann in diesem Miteinander von sinn- und präsenzkulturellen Aspekten auch die eigentümliche Form des Apophthegmas zur Überlieferung von Jesuslogien in der Evangelien- und Vätertradition gesehen werden. 123

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 357

ereignet. Dies soll im folgenden Abschnitt geschehen, in dem vor allem der Ansatz von Dieter Mersch zur Sprache kommt, der sich in zahlreichen Überlegungen mit Gumbrechts Thesen, aber auch mit Erika Fischer-Lichtes grundlegenden Studien zum Performativen berührt,125 sie zugleich aber weiterführt. 5.1.2.2 Das Auratische und das Ereignis – eine Weiterführung im Zeichen der Performativität Auch Mersch kann als ein ‚Anti-Descartes‘ gelesen werden. Noch deutlicher allerdings stellt er sich in Opposition zu Derridas Dekonstruktion126 und führt stattdessen eine Linie weiter, die bei Walter Benjamins berühmtem Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ ihren Ausgang nimmt. Von Benjamin übernimmt Mersch den Begriff der „Aura“ bzw. des „Auratischen“, dem in seinen Überlegungen kategoriale Bedeutung zukommt. Ich blicke daher zunächst auf Walter Benjamins kulturpessimistische und kulturkritische Studie, stelle auf dieser Grundlage die ästhetische Differenzierung Merschs vor, der eine Werk- und eine Ereignisästhetik unterscheidet und die Kategorie des Performativen zum Ausgangspunkt nimmt, und blicke in Folge auf die mit der Performativität gesetzte Körperlichkeit, die bei Mersch und bei vielen anderen Autoren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eminente Bedeutung erlangt und für die Frage nach der Bedeutung und dem „Ereignis“ des Gottesdienstes von Gewicht ist. (1) Der Verlust der Aura – Walter Benjamins Kulturkritik 1936 erschien der im Pariser Exil Benjamins127 auf dem Hintergrund der Realität der faschistischen Bedrohung verfasste Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ zuerst in französischer Übersetzung; erst 1955 wurde eine deutsche Fassung publiziert. Benjamins „Kunstwerk“-Aufsatz hat im Zusammenhang seiner ästhetischen Argumentation auch eine aktuelle politische Stoßrichtung: Er wendet sich gegen jede Form der „Vergewaltigung der Massen“128, wie sie sowohl im Faschismus als auch im Kommunismus mit unterschiedlichen Vorzeichen begegne. 125 Vgl. besonders FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, und die Hinweise auf weitere Literatur der Autorin aaO., 367; vgl. ausführlicher zu Fischer-Lichte unten (3) sowie Kap. 5.2. 126 Vgl. zur Kritik an Derrida MERSCH: Die Frage der Alterität, bes. 14; ders.: Gibt es Verstehen?, 115. 127 Walter Benjamin (1892–1940) lebte seit 1933 im Exil in Paris. 128 BENJAMIN: Das Kunstwerk, 42; vgl. zur antifaschistischen Stoßrichtung auch aaO., 9.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Die Beobachtungen zur Entwicklung der Kunst in der Gegenwart, die vor allem kritische Beobachtungen zur Fotografie und zum Film129 sind, analysieren diese massenhaft technisch reproduzierbaren Kunstformen so, dass deutlich wird, wie diese zur Auflösung der individuellen Wahrnehmung und zum Aufgehen in der Masse beitragen130 und wie dadurch das verloren gehe, was Kunst eigentlich auszeichne. Benjamin bestimmt dieses Eigentliche des Kunstwerks als dessen „Aura“.131 Zu dieser Aura gehören das „Hier und Jetzt des Kunstwerks“132, seine Einmaligkeit133 und damit seine „Echtheit“, „Autorität“ und „Tradition“.134 So kann Benjamin etwa die Malerei von der Fotografie oder dem Film unterscheiden oder – um nur ein weiteres Beispiel zu nennen – den Bühnenschauspieler vom Filmschauspieler. Nur der Bühnenschauspieler wirke „in eigener Person“135, nur er könne wirklich im Wechselspiel mit dem Publikum agieren.136 Durch den Film komme der Mensch zum ersten Mal „in die Lage, zwar mit seiner gesamten lebendigen Person[,] aber unter Verzicht auf deren Aura wirken zu müssen. Denn die Aura ist an sein Hier und Jetzt gebunden. Es gibt kein Abbild von ihr.“137

„Aura“ bedeutet bei Benjamin die Erfahrung einer bleibenden Ferne bei aller gesuchten Nähe, eines Entzugs bei jedem Bezug.138 Die Zerstörung bzw. „Zertrümmerung der Aura“ sei die „Überwindung des Einmaligen“ und werde unter anderem durch die „Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle“ erreicht.139 Damit aber werde auch die „freischwebende Kontemplation“140, die die Wahrnehmung der Kunst kennzeichne, zurückgedrängt bzw. zerstört. Massenhaft technisch reproduzierbare und reproduzierte ‚Kunst‘ setze nicht in eine Freiheit der Wahrnehmung, sondern könne eingesetzt werden, um dem seiner „Hülle“ entkleideten „Gegenstand“ zu dienen und so Zwecke zu erreichen, anstatt durch ihre Aura zu wirken.141

129 Vgl. zu Photographie und Film als Grundformen massenhaft reproduzierbarer Kunst BENJAMIN: Das Kunstwerk, 10f. 130 Vgl. BENJAMIN: Das Kunstwerk, bes. 32.38–40. 131 Vgl. zur Einführung des Begriffs BENJAMIN: Das Kunstwerk, 13. 132 BENJAMIN: Das Kunstwerk, 11. 133 Vgl. BENJAMIN: Das Kunstwerk, 15f. 134 Die drei Begriffe finden sich bei BENJAMIN: Das Kunstwerk, 13. 135 BENJAMIN: Das Kunstwerk, 23. 136 Vgl. BENJAMIN: Das Kunstwerk, 24. 137 Vgl. BENJAMIN: Das Kunstwerk, 25. 138 Vgl. BENJAMIN: Das Kunstwerk, 15. 139 Alle Zitate aus BENJAMIN: Das Kunstwerk, 15. 140 BENJAMIN: Das Kunstwerk, 21; vgl. auch aaO., 38. 141 Dies wirft Benjamin auch der dadaistischen Kunst vor, die nur auf eine simple Schockwirkung und Oppositionshaltung aus sei – und schon an ihr Ziel gekommen zu sein meint, wenn sie

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 359

Interessant ist, dass Benjamin die auratische Dimension der Kunst mit ihrer traditionellen Verankerung im Kult und Ritual verknüpft. Er schreibt: „Die ursprüngliche Art der Einbettung des Kunstwerks in den Traditionszusammenhang fand ihren Ausdruck im Kult. Die ältesten Kunstwerke sind […] im Dienst eines Rituals entstanden […].“142 Bei allen Umbrüchen gilt dies für Benjamin bis heute: „Der einzigartige Wert des ‚echten‘ Kunstwerks hat seine Fundierung im Ritual, in dem es seinen originären und ersten Gebrauchswert hatte.“143 Zum ersten Mal in der Geschichte habe das Kunstwerk in der Zeit seiner technischen Reproduzierbarkeit sein „parasitäre[s] Dasein am Ritual“ verloren.144 Politik statt Ritual sei der neue, gefährliche Begründungszusammenhang geworden.145 So sehr bei Benjamin sicher auch eine (beim Aufkommen jedes neuen Mediums typische!) kulturpessimistische Skepsis gegenüber den neuen Medien der Fotografie und des Films zu beobachten ist und sein Aufsatz auf diesem Hintergrund relativiert werden muss, so überrascht doch im Rückblick seine Hellsichtigkeit der Wahrnehmung des Problems der politischen Funktionalisierung dieser neuen, anti-auratischen und damit anti-individuellen, anti-emanzipatorischen Kunstform der Fotografie und vor allem des Films. In der Ästhetik der „Wochenschau“ im Dritten Reich ließen sich ebenso Belege für Benjamins These finden wie in Leni Riefenstahls – bezeichnenderweise zeitgleich zu Benjamins Aufsatz entstandenen – Reichsparteitagsfilmen. Umgekehrt ist es durch Benjamins Begriff des Auratischen möglich, Aspekte der Kunstwahrnehmung zu erarbeiten, die die weitere Diskussion lohnen (und die freilich – anders als Benjamin dies sehen konnte – auch für die Filmkunst gelten können!): – Kunst hat Ort und Zeit; – Kunst lebt von einer spezifischen Rezeptionsweise, die Benjamin als „freischwebende Kontemplation“ charakterisiert (Kunst in diesem Sinne ist damit zur Massensuggestion denkbar ungeeignet!); – Kunst gehört in einen Traditionszusammenhang des Kultus bzw. Rituals, der es verbietet, Inhalt und Form, Hülle und Gegenstand auseinanderzureißen; – bei aller Annäherung an Kunst bleibt doch eine unüberbrückbare (und reizvoll-herausfordernde) Ferne. dies erreicht habe; vgl. zu einer Wahrnehmung des Dadaismus im Ausgang von Benjamin auch MERSCH: Ereignis und Aura, 251–260. 142 BENJAMIN: Das Kunstwerk, 16. 143 BENJAMIN: Das Kunstwerk, 16 [im Original hervorgehoben]. 144 BENJAMIN: Das Kunstwerk, 17. 145 Vgl. BENJAMIN: Das Kunstwerk, 18.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Diese Aspekte machen Benjamin zu einem bedeutsamen Gesprächspartner für den Potsdamer Medienwissenschaftler (und Medienkritiker) Dieter Mersch und legen die Wiederaufnahme des Begriffs der „Aura“ rund 70 Jahre nach Benjamins Kunstwerk-Aufsatz nahe. (2) Werk- und Ereignisästhetik – Dieter Merschs ästhetische Fundamentalunterscheidung Merschs „Ästhetik des Performativen“ kann als eine ästhetische und unter Einbeziehung der Kategorie des Performativen vollzogene Weiterführung der bereits oben (5.1.1) vorgestellten Gedanken von Bernhard Waldenfels gelesen werden.146 Auch Mersch betont grundlegend die „Alterität“, die sich dort ergebe, wo nicht ein Subjekt intentional etwas ‚Anderes‘ wahrnimmt, sondern dort, wo ein Subjekt sich selbst entrissen, in eine Ek-stasis, in ein Außer-sich-selbst-Sein versetzt wird durch das Widerfahrnis des Anderen. Es gehe dann nicht um einen wie auch immer gearteten Umgang mit Anderen, sondern um eine „Bemächtigung durch Anderes“.147 Wie Waldenfels sieht auch Mersch die Antwort als die entscheidende Kategorie der Reaktion auf dieses entgegenkommende, sich ereignende Andere; die Ethik, die Mersch konstruiert, entspricht dem, was in Aufnahme von Waldenfels als pathisch-responsives Wechselverhältnis dargestellt wurde.148 Nicht diese Phänomenologie des Fremden soll nun nochmals im Vokabular von Dieter Mersch dargestellt werden, sondern die Konsequenzen, die Mersch für die Wahrnehmung der Kunst daraus gewinnt und die ihn zur Wiederaufnahme der Benjaminschen Vokabel der „Aura“ drängen. Die Verbindung der Alterität mit dem ästhetischen Diskurs verdichtet sich in der Forderung nach einer „‚Reauratisierung‘“ der Kunst, die diese „zurückschließt an die entgrenzenden Momente der Entsetzung […], der Entrückung, die im ‚Gegen‘ der Gegenwart und im ‚Ex-‘ oder ‚Ek-‘ der Exsistenz und der Ekstasis die Wurzel des Seins aus dem Außen, dem Anderen einer Begegnung erfahren lassen.“149 Ich stelle Grundzüge der „Ästhetik des Performativen“ so dar, dass ich von der Fundamentalunterscheidung einer Werk- und einer Ereignisästhetik150 ausgehe und – wie bei der Darstellung von Gumbrechts Hermeneutikkritik – eine Tabelle als zusammenfassenden Überblick vorlege. 146 Vgl. zum Bezug zu Waldenfels auch MERSCH: Ereignis und Aura, 29 Anm. 4; vgl. besonders auch Merschs Aufsatz „Die Frage der Alterität“. 147 MERSCH: Ereignis und Aura, 29. 148 Vgl. zu einer Ethik, die „Ereignis und Responsivität“ verbindet MERSCH: Ereignis und Aura, 289–298. 149 MERSCH: Ereignis und Aura, 230f. 150 Vgl. zur Grundunterscheidung dieser beiden Ästhetiken MERSCH: Ereignis und Aura, 157– 244.

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 361

Phänomenologische Grundlage

Werkästhetik Zeichen

Ereignisästhetik Aura

Kunstwerke lassen sich (werkästhetisch) als „Zeichen“ sehen, die für Anderes stehen und so auch verstanden und interpretiert werden wollen. Sie stehen dem betrachtenden Subjekt als „Etwas“ gegenüber – und werden entsprechend als „etwas“ gedeutet.151 Dies gilt selbst noch für eine ‚moderne‘ Kunst, die klassische Signifikationsprozesse der Deutung kritisieren und hinter sich lassen will, deren Hervorbringungen damit aber erneut als Zeichen zu stehen kommen – nun sozusagen als ‚negatives Zeichen‘, als Zeichen für das Durchstreichen des klassischen Deutungsvollzugs. Sie markieren damit aber nicht einen kategorial anderen Zugang zur Kunst. Auch negative Zeichen wirken erst, wenn das verstehende Subjekt sie interpretiert.

Kunst kann aber auch anders als als „Zeichen“, nämlich in ihrem auratischen Charakter, wahrgenommen werden. Dann geht es um „Intensitäten“ (Lyotard)152 und damit um Erfahrungen, die „entgrenzen oder […] verwirren oder […] um[…]stürzen“.153 Mit der Kunst ist in diesem Verständnis die „Alterität“154 aufgerufen, „die Erfahrung eines Fremden oder vielmehr: das Fremdwerden der Erfahrung selbst“.155 Aura meint das „Phänomen einer Bemächtigung durch Anderes, dem ebenso ein Entmächtigtwerden des Subjekts entspricht, dem wiederum die […] Gefühle des Verwunderns (thaumaton) und des Schrecklichen (tremendum) korrespondieren.“156

151

Vgl. MERSCH: Ereignis und Aura, 27. Vgl. zu dem Begriff MERSCH: Ereignis und Aura, 13. 153 MERSCH: Ereignis und Aura, 27. 154 Vgl. zu dem Begriff MERSCH: Ereignis und Aura, 28. 155 MERSCH: Ereignis und Aura, 28. 156 MERSCH: Ereignis und Aura, 29. – Mersch kann nicht nur auf Heidegger als philosophischen Gewährsmann verweisen (vgl. aaO., 27; eine anregende, äußerst knappe Darstellung der Ästhetik des Kunstwerks bei Heidegger bietet SEEL: Ästhetik des Erscheinens, 31–33), sondern z.B. auch auf Rudolf Otto und seine Betonung von tremendum und fascinans (vgl. MERSCH: Ereignis und Aura, 27). 152

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Epistemologische Basis

Hermeneutik

Aisthesis

Die Hermeneutik sieht Mersch (wie etwa auch Gumbrecht) von einer Wahrnehmung geprägt, für die die „Etwas-alsetwas“-Relation grundlegend ist und die daher einen deutenden Zugang zur Welt unternimmt.157 Es gehe um „Sinn“ und „Verstehen“.158 Das leitende Bild sei das des „Symbolischen“.159 Die cartesische Subjekt-Objekt-Differenz stehe im Hintergrund.160

Demgegenüber geht es Mersch darum, die „Ästhetik aus der Aisthesis“ neu zu begründen, d.h. sie zurückzuführen auf das grundlegende „Sich-Zeigen“ in seiner „Materialität“ und Konkretheit,161 in dem Augenblick des Geschehens.162 Der Blick richtet sich dann auf das situative und vergängliche „Ereignen“,163 das nicht schon „Erkenntnis“ bedeute, sondern zunächst nur die „Konstatierung einer ‚Gabe‘“.164 Durch die Vergänglichkeit und letztlich Nicht-Machbarkeit (Mersch spricht von der „Flüchtigkeit des kairos“165) ist zugleich die bleibende Entzogenheit des Auratischen gesetzt, die Abwesenheit in aller Präsenz.166 Es gehe um „Geschehnisse“ und deren Widerfahrnis.167

157

Vgl. MERSCH: Ereignis und Aura, 27.33. MERSCH: Ereignis und Aura, 9. 159 MERSCH: Ereignis und Aura, 159. 160 Vgl. MERSCH: Ereignis und Aura, 177. 161 Vgl. MERSCH: Ereignis und Aura, 9 [der Begriff „Sich-Zeigen“ ist im Original hervorgehoben]. Mersch unterscheidet Aisthetik und Ästhetik; die erste bestimmt er als „Theorie der Wahrnehmung“ im weiteren Sinn (aaO., 10; zu denken wäre etwa an die Baumgartens Ästhetik aus der Mitte des 18. Jahrhunderts; vgl. dazu SEEL: Ästhetik des Erscheinens, 16f), die zweite als „Theorie der Künste“ im engeren Sinn (MERSCH: Ereignis und Aura, 10). 162 Vgl. MERSCH: Ereignis und Aura, 30. 163 Vgl. MERSCH: Ereignis und Aura, 9 (und passim). 164 MERSCH: Ereignis und Aura, 33. 165 MERSCH: Ereignis und Aura, 46. 166 Vgl. dazu MERSCH: Ereignis und Aura, 30 [an dieser Stelle kann Mersch den Aspekt des Auratischen auch mit dem Bilderverbot verbinden]. 167 Vgl. MERSCH: Ereignis und Aura, 9 (und passim). 158

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 363

Kunstgeschichtliche Einordnung

Von der Renaissance bis zur performativen Wende

Nach der performativen Wende

Zwei einschneidende Umbrüche stellt Mersch in der Geschichte der Kunst dar: In der Renaissance sei ein Verständnis von „Kunst“ als eigenständiger Bereich menschlicher Daseinsäußerung (losgelöst von dem Funktionsbereich der Religion!) allererst aufgekommen.168 Jetzt erst seien Kunstwerke als solche gestaltet und wahrgenommen worden, jetzt erst sei eine Ästhetik des Kunstschönen und mit ihr ein Kategoriensystem zur Wahrnehmung der Kunstobjekte nach und nach etabliert worden.169 Den zweiten Umbruch datiert Mersch auf die Zeit um die 1960er Jahre. Freilich habe es auch vorher schon kritische Stimmen gegen eine Werkästhetik

Den entscheidenden Umbruch zu einer neuen Kunst bildet somit, Mersch zufolge, nicht die Avantgarde, vielmehr geschieht er durch das, was auch Mersch als „performative Wende“172 bezeichnet. Mersch verwendet für den Umbruch – auch religiöse Begrifflichkeit – als „‚Umkehr‘ [der Kunst, AD] in ihr Eigenstes: den Prozeß als die Grundlage ästhetischer Praxis“173 kann Mersch das Geschehen bezeichnen. Auch von einer „wiedergefundenen Spiritualität“174 kann er sprechen. Im performativen Vollzug werde nicht das Ergebnis (im Sinne des Werks!) als (einzig) bedeutsam betrachtet, sondern vielmehr der Prozess der Entstehung und Hervorbringung. Entschei-

168

Vgl. MERSCH: Ereignis und Aura, 166. Diesen Prozess beschreibt – in kritischer Wahrnehmung – auch John Dewey (ders.: Kunst als Erfahrung). Auf problematische Weise sei die Kunst vom Leben und seinen üblichen Vollzügen (zu denen Dewey vor allem auch „Riten und Zeremonien“, aaO., 14 u.ö., zählt) getrennt und in einen Sonderbereich („in Museum und Galerie“, aaO., 12) verbannt worden; was dabei verloren gehe, sei die elementare ästhetische Erfahrung, die Dewey in seinen 1931 gehaltenen und 1934 erstmals unter dem Titel „Art as Experience“ publizierten Harvard-Vorlesungen zurückgewinnen möchte; vgl. dazu auch BRANDSTÄTTER: Grundfragen der Ästhetik, 107. 170 Vgl. MERSCH: Ereignis und Aura, 202. 171 Vgl. MERSCH: Ereignis und Aura, 195. Mersch betrachtet es als typisch für die Avantgarde, die „Kunst als ausgelöschte, als vernichtende, als durchgestrichene Kunst“ zu sehen (aaO., 208). 172 MERSCH: Ereignis und Aura, 163; vgl. zu dem Begriff auch FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, bes. 22–30, und zu dem Begriff des „Performativen“ aaO., 31–42. 173 MERSCH: Ereignis und Aura, 210. 174 MERSCH: Ereignis und Aura, 211. 169

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt mit ihrer Betonung der dend werden „Ereignis“ ‚Darstellung‘ gegeben. und „Handlung“175 – etwa Diese Kritik der Avant- beim „Action Painting“.176 garde-Kunst aber wollte primär aufrütteln, destruieren, nicht aber etwas Neues hervorbringen, was an die Stelle der überkommenen Werkkunst treten könnte. René Magrittes Bild einer Pfeife aus dem Jahr 1926, dem er die Unterschrift „Ceci n’est pas une pipe“ unterlegte,170 kann als Symbol dieser Destruktion gelten, mache aber zugleich deutlich, dass eine neuerliche Restitution der Kunst in der Avantgarde noch nicht erreicht wurde.171

Artistik (Charakter der Kunst)

Medial vermittelte Darstellung

Praktik des Unterschieds

Die Kunst im Kontext der Werkästhetik betrachtet Mersch als eine Weise medialer Darstellung. Sie ist die Schaffung von Objekten, die etwas sagen oder zeigen, inszenieren oder darstellen wollen. Als „Werk“ hat die Kunst eine „Existenz im Raum“ – und ist von der kairologischen Zeitlichkeit der auratischen Kunst unterschieden.177

Eine ‚auratische‘ Kunst steht in produktionsästhetischer (Mersch spricht von ‚artistischer‘) Perspektive vor der Schwierigkeit einer annähernden Paradoxie: Das „Ereignen“ als Kern des Auratischen bleibt der Machbarkeit und Produktion entzogen. Es geht um ein Geschehen im Prozess der Wahrnehmung durch andere. Was für Mersch trotzdem machbar bleibt, sind Aspekte, die die übliche Wahrnehmung stören, Einbrüche „des Nichts, der

175

MERSCH: Ereignis und Aura, 218. Vgl. dazu MERSCH: Ereignis und Aura, 216. 177 Vgl. MERSCH: Ereignis und Aura, 224–227. 176

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 365 Stille, des Nichtmachbaren und Unkontrollierten, der Negativität des Schocks oder des Störenden und Widerständigen, der Frakturen und Paradoxa […].“178

Der Künstler

Werkmeister

Die Gemeinschaft der Akteure

Der Begriff des „Werkmeister[s]“ für den Künstler stammt von Hegel – und hat seine Nähe zum etwa zeitgleich und vor allem in der Romantik viel verwendeten GenieBegriff.179 Er ist geprägt von der Vorstellung eines Subjekts, das das, was in ihm ist, durch die Kunst nach außen bringt. Damit spielt dann auch der Begriff der „Authentizität“ als Qualitätskriterium für den Künstler eine gewichtige Rolle.

Wo Kunst als Performance vorgestellt wird, die im Ereignis ihr eigentliches Ziel erreicht, fällt die Differenzierung zwischen dem hervorbringenden ‚Werkmeister‘ und den Rezipienten dahin (eine Differenzierung, die der Subjekt-Objekt-Differenzierung entspricht). Mersch schreibt: „Eingebunden in ein gemeinsames Geschehen gibt es nicht Zuhörer oder Zuschauer, sondern nur mehr Akteure. Das Ereignis verwandelt sie in Mitwisser oder Verschworene […].“180 Wohlgemerkt: Dies sind sie nicht, weil sie sich intentional vornehmen würden, nun zu Mitagierenden zu werden. Dies werden sie (selbstverständlich), weil das „Ereignis“ sie zur Antwort rufe und sich so die Re-

178

MERSCH: Ereignis und Aura, 114; vgl. auch aaO., 146, wo Mersch das Schweigen der Sprache und die Bedeutung der Stille hervorhebt. – Freilich müsste hier kritisch gefragt werden, ob diese Art der ‚negativen‘ „Artistik“ tatsächlich weiterführt als die von Mersch als ungenügend charakterisierte Ästhetik der Avantgarde, die primär ‚vernichte‘ bzw. durchstreiche. 179 Vgl. MERSCH: Ereignis und Aura, 168; vgl. zu Hegel auch MERSCH: Die Frage der Alterität, 1. 180 MERSCH: Ereignis und Aura, 237.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt zeption in Responsivität verwandle.181

Ethik

Intentionalität

Responsivität

Die Art und Weise menschlichen Handelns ist im werkästhetischen Paradigma von Intentionalität geprägt: Intentional werden Kunstwerke hervorgebracht; intentional werden sie rezipiert.

Ereignisästhetik relativiert die subjektive Intentionalität und setzt ihr die Responsivität entgegen.182 Entscheidend werden Momente des Erscheinens, die „sich der wahrnehmenden Intentionalität nicht“ fügen.183 Wahrnehmen sei „Antworten“ auf die irreduzible Präsenz184 – ein „Antworten“, für das die „Umwendung des Willens zum Lassen“ entscheidend sei.185 Die Responsivität wird für Mersch zur ethischen Kategorie gegen die „Egologie“ (Lévinas), die Selbstbezüglichkeit des modernen Subjekts, das selbst entscheidet (oder entscheiden will), wovon es sich betreffen lässt und wovon nicht.186 Wichtig ist für Mersch – wie bereits angedeutet – zudem, dass das ‚Subjekt‘ nun eben nicht wählen kann, ob es responsiv oder intentional reagiert, denn dies würde erneut die Souveränität des Subjekts betonen und stärken.

181

Vgl. MERSCH: Ereignis und Aura, 238f. Vgl. bereits MERSCH: Ereignis und Aura, 9. 183 MERSCH: Ereignis und Aura, 45. 184 Vgl. MERSCH: Ereignis und Aura, 46f. 185 MERSCH: Ereignis und Aura, 48. 186 Vgl. MERSCH: Die Frage der Alterität, 16f [Zitat: 16]. 182

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 367

Teilweise lesen sich die ästhetischen Überlegungen von Dieter Mersch wie ein theologischer Versuch über die Grenzen der Darstellung/Inszenierung und den kairos des Ereignisses. Die Nähe zwischen Theologie und „Ereignisästhetik“ überrascht nicht, wurzelt sie doch in der von Mersch geteilten Anschauung Benjamins, wonach das Auratische seine genuine Verankerung im Kultus respektive Ritual habe.187 An wenigen Punkten seiner Arbeit macht Mersch diese Verbindung zur Theologie auch explizit, etwa dort, wo er über die Entzogenheit des Ereignisses und die Grenzen der Darstellung nachdenkt:188 Auratisches geschehe „nur in solcher Kunst, die ihre Szenen und Gestalten zugleich zurücknimmt in ein Ungestaltetes und Nichtinszenierbares, kurz: die sich aussetzt in Augen-Blicke jenes unverfügbaren Ereignens, die sie mit Theologie verbindet. Sie weist heute nicht aufs Werk, sondern aufs ‚Performative‘.“189

Was Mersch – mit Benjamin – als das „Auratische“ in der Dimension seiner Ereignishaftigkeit, seiner Alterität respektive Externität, seiner Nichtmachbarkeit beschreibt, hat unmittelbare Nähen zu dem, was bislang als Charakter des Gottesdienstes im Kontext des verbum externum beschrieben wurde. Der Gottesdienst kann als eine spezifische (!) Performance im Sinne von Dieter Mersch beschrieben werden. Er ist eine Weise, die Subjekt-Objekt-Spaltung (mit ihrem theologischen Problem, das Subjekt bei sich selbst zu behaften) zu überwinden – wie auch Mersch dies für die Kunst im Zeichen der Ereignisästhetik sieht: Die „Einlassung ins Auratische“ setze „die Sprengung des neuzeitlichen Subjekt-Objekt-Gefüges voraus, das die Ästhetik von Aufklärung und Romantik beherrschte: Nicht wir sehen oder hören und textuieren das Gehörte oder Erblickte, vielmehr werden wir durch das Ge-Gebene allererst angeschaut oder angesprochen.“190 Mersch spielt der (Praktischen) Theologie Bälle zu. Damit gilt aber – als Kehrseite der Medaille – auch, dass die annähernd aporetischen Fragestel-

187

Vgl. dazu MERSCH: Ereignis und Aura, 140. Eine Nebenbemerkung, die an vielen Stellen dieses fünften Kapitels der Erarbeitung erscheinen könnte. Es verwundert im gegenwärtigen Diskurs m.E. durchaus, dass die Theologie sich seit einigen Jahren zunehmen den Kulturwissenschaften zuwendet und nicht wenige Beiträge aus kulturwissenschaftlicher Perspektive intensiv rezipiert. Dass demgegenüber ein Werk wie „Ereignis und Aura“ von Dieter Mersch erscheinen kann, ohne dass sich darin (bis auf wenige Spuren) Auseinandersetzungen mit theologischem Denken finden, überrascht m.E. durchaus. Und es bleibt zu hoffen, dass die gewünschte Interdisziplinarität nicht nur Einbahnstraßen der Rezeption auftut, sondern auch neue Wechselseitigkeiten ermöglicht. 189 MERSCH: Ereignis und Aura, 114. 190 MERSCH: Ereignis und Aura, 143. 188

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

lungen, die bei Mersch beobachtet werden können (aber auch schon bei Gumbrecht und Waldenfels aufleuchteten), letztlich auch in liturgicis gelten. Ich erwähne die beiden entscheidenden: (1) Wie gelangt man zu der anderen, nicht-hermeneutischen Art der Wahrnehmung der Kunst in ihrem auratischen Charakter, wenn der intentionale Vorsatz, Kunst anders betrachten zu wollen, nicht möglich ist? Braucht es eine Einübung in eine Art ‚aktiver Zurückhaltung‘, in eine Epoché (im umgekehrten Sinn als bei Husserl), um der hermeneutischen „Semantisierung der Wahrnehmung“191 zu entgehen und sich betreffen zu ‚lassen‘ von der Alterität des Kunstwerks? – Die Nähe dieser Fragestellungen zur Frage nach der im Angesicht des verbum externum angemessenen liturgischen ‚Haltung‘ liegen auf der Hand. (2) Theologisch kann gefragt werden: Was bedeutet die Externität des göttlichen Wortes für die liturgische Gestaltung? Mersch musste die Frage ventilieren, welche „Artistik“ einer auratischen Kunst entspricht. Ist der Verweis auf „Stille“ oder „Schock“ als mögliche Wege, um übliche Rezeptionsmuster aufzubrechen, geeignet (oder gar ausreichend)? Kann diese Antwort auch auf den Gottesdienst übertragen werden? Die zugespielten philosophisch-kulturwissenschaftlichen Bälle werde ich unten nochmals aufnehmen (5.1.2.4); auch auf die beiden Fragen werde ich ausführlicher zurückkommen (5.1.2.3 und 5.1.2.4). Zunächst aber blicke ich knapp auf einen Aspekt, der sich bei Mersch und zahlreichen anderen Autoren zeigt und ebenfalls für die Liturgik von zentraler Bedeutung ist (dort allerdings auch schon in vielen anderen Publikationen entdeckt und betont wurde). (3) Der Körper und die Performance – eine von vielen geteilte Entdeckung Wo Kunst in ihrer auratischen Dimension betont wird, ist gleichzeitig die Korporalität als entscheidende Kategorie im Blick – und dies in doppelter Hinsicht: einerseits die Körperlichkeit des Rezipienten, andererseits die Körperlichkeit der Gestaltung (in den ‚performing arts‘) bzw. die Materialität des Kunst‚werks‘ in ihrem phänomenalen ‚Sosein‘. Diejenigen, die für die Wiederentdeckung des ‚Körpers‘ plädieren, sehen sich in einem Abwehrkampf gegen eine logische Konsequenz der Entwicklung neuzeitlicher Subjektivität. Der Körper, der wir sind, wurde zurückgedrängt; der Körper,

191

MERSCH: Ereignis und Aura, 41.

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 369

den wir nutzen, wurde primär bedeutsam.192 Anders formuliert: Die SubjektObjekt-Spaltung manifestierte sich auch im Kontext des Umgangs mit dem eigenen (und mit fremden) Körper(n). Eine Potenzierung dieser neuzeitlichen Entwicklung kann in den Tendenzen zur „Semiotisierung der Welt“ gesehen werden, die mit den Begriffen „linguistic“ bzw. „iconic turn“ die Welt in ihrer phänomenalen Materialität auf ein System von Textbzw. Bildzeichen zurückführen und entsprechend interpretieren.193 Die Gegenbewegungen lassen sich im gesamten 20. Jahrhundert (also auch in der Zeit vor den genannten beiden kulturwissenschaftlichen ‚turns‘) greifen – von Heideggers Begriff des „In-der-Welt-Seins“194 über Maurice Merleau-Pontys Versuch, die Subjekt-Objekt-Dichotomie, den Dualismus von Innen und Außen durch die Einführung der Größe des Leibs bzw. des Fleisches zu überwinden,195 über Judith Butlers Ansatz, den „Körper“ aus feministischer Perspektive wieder zu gewinnen,196 bis hin zu dem 2001 verstorbenen Berliner Kultursoziologen Dietmar Kamper, der gegen die „Entfernung der Körper“ in der kulturellen Praxis des 20. Jahrhunderts und vor allem gegen die „Bildabstraktion“ ein „KörperDenken“ entwickelte,197 und zu Erika Fischer-Lichte, die der „Körperlichkeit“ ein eigenes und ausführliches Kapitel ihrer „Ästhetik des Performativen“ widmet.198 Erika Fischer-Lichte zeichnet die Wiederentdeckung der Körperlichkeit in ihrer „Ästhetik des Performativen“ ein in die Entwicklung der Theaterästhetik seit dem 18. Jahrhundert. Grob gesagt setzte – Fischer-Lichte zufolge – im 18. Jahrhundert eine Bewegung hin zur Entkörperlichung ein, die mit dem Aufkommen des Begriffs der „Verkörperung“ zusammenfällt (vgl. unten Kap. 5.2.2). Dies erscheint nur auf den ersten Blick paradox, denn mit dem Begriff „Verkörperung“ sollte ein Ideal der Schauspielkunst zum Ausdruck gebracht werden, wonach es darauf ankommt, „dass [der Schauspieler, AD] sein leibliches In-der-Welt-Sein, seinen phänomenalen Leib 192

Vgl. zu dieser Unterscheidung BRANDSTÄTTER: Grundfragen der Ästhetik, 145. Vgl. BRANDSTÄTTER: Grundfragen, 113 [Zitat ebd.]. 194 Vgl. HEIDEGGER: Sein und Zeit, bes. 52–62; vgl. auch die instruktive Freiburger Antrittsvorlesung Heideggers 1929 (ders.: Was ist Metaphysik). 195 Vgl. MERLEAU-PONTY: Das Sichtbare und das Unsichtbare, bes. 182.257f. Fleisch steht für Merleau-Ponty zwischen der ‚Objektivität der Welt‘ und dem Intellektualismus einer konstruktivistischen Weltkonstitution aus dem eigenen Subjekt und meint die unmittelbare, ‚materielle‘ Erfahrung. 196 Vgl. BUTLER: Körper von Gewicht; Butler greift auf Merleau-Ponty zurück und versteht Erzeugung von Identität als Verkörperung. 197 Vgl. KAMPER: Die Ästhetik der Abwesenheit, Zitate: 23.8; vergleichbar ist Kampers Argumentation mit der Beschreibung des zivilisatorischen Prozesses bei Norbert Elias, der diesen als zunehmenden Abstraktionsprozess beschreibt – und dabei vor allem den Abstand des Menschen von seinem eigenen Körper und dem Körper anderer im Blick hat. Vgl. dazu besonders KAMPER: Die Ästhetik der Abwesenheit, 48: „Die Grundrichtungen der Zivilisation heißen Vergeistigung und Entkörperlichung.“ 198 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 129–186. 193

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

auf der Bühne zum Verschwinden […; bringt, AD], indem er ihn möglichst vollständig in einen ‚Text‘ aus Zeichen für die Gefühle, seelischen Zustände etc. einer Figur“ umformt.199 Der phänomenale solle in einen „semiotischen Körper“ verwandelt werden.200 Diese realistisch-psychologische Wende in der Schauspielkunst habe nicht nur ein Verschwinden des phänomenalen Schauspielerleibs zur Folge gehabt, sondern auch eine neue Auffassung vom Zuschauer: Für diesen konnte die Wirkung des Schauspiels nicht mehr auf „einem somatischen Ansteckungsvorgang“ beruhen, vielmehr wurde das verinnerlichte „Konzept der Einfühlung“ (greifbar im 19. Jahrhundert!) geboren.201 Damit habe sich das Subjekt-Objekt-Schema verfestigt: Der Zuschauer steht als betrachtendes Subjekt dem Kunstwerk des Schauspiels gegenüber und fühlt sich – soweit das möglich ist – in die dargestellten Figuren ein. Die Schauspieler in ihrer Leiblichkeit spielen dabei nur als ‚Zeichen‘ eine Rolle – und haben ihre Aufgabe dann besonders gut erledigt, wenn sie hinter den dargestellten Figuren soweit als irgend möglich zurücktreten. Die Theaterarchitektur und die Praxis theatraler Aufführungen im 19. Jahrhundert gebe beredtes Zeugnis für dieses Verständnis der Relation von Schauspielern und Zuschauern. So war Richard Wagner bei seinen Bayreuther Inszenierungen der erste, der das Publikum in völliges Dunkel hüllte. Die Betrachter-Perspektive auf das auf der Bühne unabhängig vom Betrachter ablaufende Kunstwerk sollte durch keine (störend-lästige) „feedback-Schleife“ zwischen den auf der Bühne Agierenden und dem Publikum gestört werden.202 Der weitestgehenden ‚Elimination‘ der Leiblichkeit der Schauspieler jenseits ihrer Rollenverkörperung habe vice versa die Elimination der Leiblichkeit des Publikums entsprochen. Einen Bruch mit dieser Konzeption erkennt Fischer-Lichte in den unterschiedlichen Ansätzen der Avantgarde, die den Versuch machten, nun radikal die Materialität des Schauspielerleibs in den Mittelpunkt zu rücken.203 Seit dem performative turn in den 1960er Jahren gebe es demgegenüber die Bemühung, mit der „Doppelung […] von phänomenalem Leib und semiotischem Körper“ Ernst zu machen.204 Seither könne neu und anders von „Verkörperung“ gesprochen werden, insofern der semiotische Körper vom konkreten, realen, materialen, phänomenalen Leib beeinflusst werde. Es gehe darum, so Fischer-Lichte, „am bzw. durch den Körper etwas zur Erscheinung zu bringen, das nur durch den Körper Existenz hat“.205 Die neue Betonung der „Verkörperung“ habe Konsequenzen für die Art und Weise der Wahrnehmung des Verhältnisses von ‚Publikum‘ und ‚Schauspieler‘, denn auch die Zuschauer werden neu in ihrer Leiblichkeit und leiblichen Präsenz gewürdigt – bis dahin, dass Fischer-Lichte von einer „Transformation der Zuschauer in Akteure“ spricht.206 Es 199

FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 131. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 132. 201 FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 336. 202 Vgl. zum Begriff der „feedback-Schleife“ FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 59–126; vgl. zu Richard Wagners Aufführungspraxis aaO., 59. 203 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 137. 204 FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 139. – Vgl. zu den neuen auf Performance bezogenen Kunstformen auch KUTZNER: Liturgie als Performance, 81–126. 205 FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 142; vgl. auch aaO., 19–21. 206 FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 15. 200

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 371 kommt zum „Rollenwechsel“207: Die ‚Zuschauer‘ stünden nicht mehr einem Werk gegenüber, das sie aus der Distanz eines sicheren Interpretationsabstandes wahrnehmen, um es zu ‚verstehen‘, sondern seien in performativen Vollzügen selbst mit beteiligt; sie würden zu „Mit-Erzeuger[n]“.208 Es gehe daher nicht um (einfühlendes oder kognitives) Verstehen, sondern um Erfahren.209 In der „leibliche[n] Ko-Präsenz“210 der auf unterschiedliche Weise Agierenden entstehe „Gemeinschaft“, in der es zur wechselseitigen Reaktion der ‚primären‘ Akteure (auf der Bühne) und der ‚sekundären‘ Akteure (im Zuschauerraum) komme211 – aber auch innerhalb der jeweiligen ‚Gruppen‘ untereinander. Aus der Bedeutung leiblicher Ko-Präsenz ergibt sich für Fischer-Lichte auch die Unmöglichkeit, Aufführungen medial zu reproduzieren. Sie bleiben ephemer, sind „nach ihrem Ende unwiderbringlich verloren“212 und nie mehr als dieselben zu wiederholen.

Fischer-Lichte zitiert zwar Benjamins Kunstwerk-Aufsatz, vermeidet aber für ihre eigene Darstellung den Begriff der „Aura“. Sie kann aber durchaus von dem „Ereignis“ reden als dem, was sich im Kontext einer Performance ergibt, und materialiter den Begriff der „Wiederverzauberung der Welt“ durch die „Verknüpfung von Kunst und Leben“ verwenden.213 5.1.2.3 Aktive Passivität – zur Praxis der Einübung einer anderen Wahrnehmung Wie kann eine neue und andere – nicht (nur) cartesianische oder dekonstruktivistische oder hermeneutische oder semiotische, sondern (auch) körperliche, auratische, ereignishafte – Wahrnehmung gelingen? Diese Frage wurde bereits oben zur Haltung der „Andacht“, wie Bernhard Waldenfels sie für die Begegnung mit dem Fremden fordert, gestellt, sie leuch207 Vgl. zu diesem Begriff und der Praxis des Rollenwechsels FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 63–82. 208 FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 81. 209 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 19. Dies ist auch der Grund, warum Fischer-Lichte die Unterscheidung von Werk-, Produktions- und Rezeptionsästhetik für Kunstwerke, die sich als „Performance“ klassifizieren lassen, für nicht einmal heuristisch hilfreich erachtet (vgl. aaO., 21). 210 Dieser Begriff ist für Fischer-Lichte grundlegende Voraussetzung für jede Art von Inszenierung, vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 82–100; vgl. auch aaO., 47. 211 Die Bezeichnungen ‚primäre‘ und ‚sekundäre‘ Akteure stammen nicht von Fischer-Lichte, sondern werden von mir [AD] eingeführt, um damit dem Umstand Rechnung zu tragen, dass es auch bei Aufführungen, die sich im Deutungsrahmen der „Performance“ verstehen lassen, zwei Typen von ko-präsenten Teilnehmern/Teilnehmerinnen gibt: diejenigen, die die Arbeit der Inszenierung geleistet haben, und diejenigen, die sich (mehr oder weniger) unvorbereitet auf das Geschehen einlassen. 212 FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 127. 213 FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 360; vgl. insgesamt aaO., 315–362.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

tete en passant auch bei Gumbrecht und sehr deutlich bei Mersch auf und soll nun wieder aufgenommen werden. Ich unterscheide zunächst in heuristischer Absicht zwei extreme Wege: (1) Eine via activa könnte davon ausgehen, dass es begehbare und in ihrer Begehung erlernbare Wege zur Gewinnung einer Haltung des Individuums gibt, die eine andere als die dominant hermeneutische Wahrnehmung eröffnen. (2) Eine via passiva würde demgegenüber annehmen, dass die via activa nur neuerlich das Subjekt in eine starke Position gerichteter Intentionalität bringen würde, weswegen alleine das fremde Gegenüber mit seinem Anspruch, seiner auratischen Präsenz, seinem Erscheinen als Ereignen in der Lage wäre, ein ‚Ich‘ so anzusprechen, dass dieses leidend-antwortend auf das Gegenüber eingehen wird und muss. Dieter Mersch macht sich für die zweite Richtung stark. Jeden Versuch, intentional eine neue Einstellung zu dem, was Menschen begegnet, zu gewinnen, zeichnet er ein in die von Lévinas gewonnene Figur der „Egologie“, der problematischen Selbstbezüglichkeit des modernen Subjekts. Mersch meint, es könne den Anschein haben, als gebe es eine freie menschliche Wahl zwischen unterschiedlichen Weisen des Umgangs mit dem Anderen, aber: „Der Anschein trügt. Denn Wahl, Entscheidung und Freiheit berufen sich stets wieder auf die Figur der intentio, der Souveränität des Willens, so daß schon die Fragestellung selber auf die Struktur der Intentionalität oder Egologie zurückliefe […].“214

Nur das Andere selbst setze den Menschen in eine neue Relation, setze unter „Zugzwang“, wie Mersch ebenfalls im Anschluss an Lévinas schreibt: „Der maßgebliche Einsatz für eine ‚Wendung des Bezugs‘ ist, daß das Sichentziehende gleichzeitig das Drängende ist. Es zwingt zur Reaktion. Der Zwang ist eine Notwendigkeit: Wir können nicht umhin zu antworten.“215 Bei dieser radikalen (und letztlich aporetischen!) Einsicht bleibt freilich auch Mersch nicht stehen. In neuerlichem Rekurs auf Walter Benjamins Kunstwerk-Aufsatz spricht Mersch von der Haltung der contemplatio als (gangbaren!) Weg hin zu einer neuen Wahrnehmung. Benjamin hatte die Möglichkeit der Wiedergewinnung des Auratischen im Blick auf die Naturbetrachtung wie folgt beschrieben: „An einem Sommernachmittag ruhend 214 215

MERSCH: Die Frage der Alterität, 18; vgl. ders.: Ereignis und Aura, 45. MERSCH: Die Frage der Alterität, 19 [Hervorhebungen im Original].

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einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.“216 Mersch nimmt diesen Satz auf – und ist sich bewusst, dass hier ein „romantische[s] Motiv der contemplatio“217 aufleuchtet, dessen Faszination er sich aber dennoch nicht entziehen kann. Er beschreibt im Anschluss daran die mögliche und nötige Sensibilität für Augenblicke der Präsenz, erinnert an Schillers Unterscheidung von Betrachtung (die der contemplatio entgegenkommt) und Beobachtung (die eine analytisch-distanzierte Wahrnehmung meint) und an Schopenhauers Differenzierung von contemplatio und diskursiver Erkenntnis218 und bringt dies mit den (vor allem religiös konnotierten) Begriffen der „Meditation“ und „Hingabe“ in Verbindung.219 Vergleichbare Richtungsangaben hin zu einer neuen und anderen Wahrnehmung finden sich etwa auch bei Martin Seel und Hans Ulrich Gumbrecht: Seel erinnert an Baumgartens Wendung einer „‚konfuse[n]‘ Erkenntnis“, die nicht auf Bestimmtes und leichthin Bestimmbares fixiert ist,220 sowie an Kants Begriff der „interesselose[n]“ Wahrnehmung im Kontext der ästhetischen Wahrnehmung und im Unterschied zu theoretischen bzw. praktischen Interessen.221 Eine solche Wahrnehmung bedeute ein Absehen von einer begrifflich bestimmten und fixierten Wahrnehmung, wodurch die „phänomenale Präsenz des Objekts“ allererst in Erscheinung trete.222 Sie bedeute einen anderen Umgang mit der Zeitlichkeit unserer Erfahrung: „Ästhetische Anschauung ist eine radikale Form des Aufenthalts im Hier und Jetzt.“223 Seel beschreibt als Voraussetzung eine Willensentscheidung des Betrachtenden: „Das ästhetische Verhalten verfolgt ein anderes Telos als das theoretische. Es will nicht eine Verfassung der Welt eruieren, es will sich ihrer Gegenwart aussetzen.“224 Auch von „ästhetische[r] Wachheit“ kann Seel sprechen – eine Wachheit, die „zwar eine jederzeit naheliegende Möglichkeit, aber kein permanenter Zustand des bewußten Daseins des Menschen ist. Dafür fehlt ihnen die Zeit, und mit ihr die Energie, und mit dieser die permanente Irritierbarkeit durch Ereignisse des Erscheinens.“225 Hans Ulrich Gumbrecht benennt knapp und ohne dies näher auszuführen die „Einstellung der ‚fokussierten Intensität‘“ als eine der wesentlichen Herausforderungen

216

BENJAMIN: Das Kunstwerk, 18. MERSCH: Ereignis und Aura, 49. 218 Vgl. MERSCH: Ereignis und Aura, 47f. 219 Vgl. MERSCH: Ereignis und Aura, 45. 220 Vgl. SEEL: Ästhetik des Erscheinens, 58 [Zitat: ebd.]. 221 Vgl. SEEL: Ästhetik des Erscheinens, 60f [Zitat: 61]. 222 Vgl. SEEL: Ästhetik des Erscheinens, 50–52 [Zitat: 52]. 223 SEEL: Ästhetik des Erscheinens, 62. 224 SEEL: Ästhetik des Erscheinens, 97 [Hervorhebungen AD]. Bezeichnenderweise verwendet Seel hier das ‚Personalpronomen‘ im Neutrum: „es“! 225 SEEL: Ästhetik des Erscheinens, 170f. 217

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

für eine neue Wahrnehmung von Präsenz in unseren „heutigen Kulturverhältnissen“226 und führt damit eine der Kontemplation vergleichbare Figur an.

Die damit gegebene Spannung zwischen der via passiva und der via activa findet bei Mersch eine sprachlich interessante Lösung – interessant, weil sie an eine in theologischem Kontext häufig verwendete, dennoch aber eminent problematische Sprachform erinnert: Mersch gebraucht Wendungen, die mit dem Verb „lassen“ gebildet werden. So spricht er vom „Begegnenlassen“ als Weise des Umgangs227 und von einer „Einlassung ins jeweils Entgegenkommende“.228 Es gehe, so Mersch an anderer Stelle, darum, dass sich der ‚Empfangende‘ „das Selbst, die eigene Identität oder Souveränität entwenden läßt“.229 Der neuen Art von Wahrnehmung sei „die Umwendung des Willens zum Lassen immanent“.230 Knapp, aber eindrucksvoll hat Wilfried Engemann in seiner „Einführung in die Homiletik“ diese Sprachform, die er den „homiletischen Lassiv“ nennt, dargestellt, karikiert und kritisiert. Er bezeichnet sie als kaschierende und verschleiernde Redeweise, die den faktischen Appell, der in ihr steckt, sprachlich versteckt.231 – Nicht anders verhält es sich bei Mersch: Die gesuchte Passivität wird durch die Lassens-Formulierung in eine versteckte Aktivität verwandelt – mithin der Versuch der Flucht aus einem Paradox, das als solches zunächst benannt und m.E. genauer diagnostiziert werden müsste. Dietmar Kamper hat es immerhin beim Namen genannt, ohne zugleich in eine Sprachform der Verschleierung zu flüchten. Er spricht von der Notwendigkeit, einen neuen Umgang mit der Welt zu lernen, der sich radikal von den Strukturen der Weltbemächtigung durch starke neuzeitliche Subjekte unterscheidet. In Aufnahme und Umkehrung der ersten Feuerbachthese von Karl Marx schreibt Kamper: „Die Philosophen, d.h. die Sinnkonstrukteure und Weltbildagenten haben die Welt nur verschieden verändert. Es kommt darauf an, sie zu schonen.“232 Das Paradox, das sich angesichts der Notwendigkeit der ‚Schonung‘ der Welt für die handelnden Menschen ergibt, ist die Einübung in eine Form des Nicht-Handelns. Kamper fragt rhetorisch: „Wenn wir leidenschaftlich

226

GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 127. MERSCH: Ereignis und Aura, 213 [hier bezogen auf den Umgang mit Bildern]. 228 MERSCH: Ereignis und Aura, 213. 229 MERSCH: Die Frage der Alterität, 17. 230 MERSCH: Ereignis und Aura, 48. 231 Vgl. ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 67–69 [Der homiletische Lassiv]. 232 KAMPER: Die Ästhetik der Abwesenheit, 29. 227

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das Nicht-Wissen und das Nicht-Handeln lernen müßten? Seit einiger Zeit schon bemühe ich mich um dieses Paradox: ein gelassenes Lassen.“233 Das „gelassene Lassen“ wird – zu Recht – als Paradox beschrieben, anstatt sich durch die verschleiernd-kaschierende Sprachform des „Lassivs“ sogleich beruhigen ‚zu lassen‘. Anstelle der Beruhigung wäre die Frage nach dem Wie des Ereignenlassens m.E. die Nötigung, weiter zu denken. Tatsächlich finden sich in den in diesem Kapitel zitierten kulturwissenschaftlichen Überlegungen Ansätze für ein solches Weiterdenken, die es nicht bei der problematischen und letztlich nur immer neu die Figur der „Egologie“ bestätigenden Denkweise bewenden lassen. Die entscheidenden Hinweise entdecke ich dort, wo Aspekte benannt werden, die über die ‚Einstellung‘ bzw. ‚Haltung‘ des sich intentional verhaltenden oder bewusst die Intentionalität zurückfahrenden Individuums hinausgehen. Konkret erwähnen sowohl Gumbrecht als auch Seel und Fischer-Lichte en passant immer wieder herausgehobene Zeiten und Orte, die von sich aus in eine andere Form der Wahrnehmung führen. So nimmt Hans Ulrich Gumbrecht die von Michail Bachtin „Insularität“ genannte besondere Zeitlichkeit von Wahrnehmungssituationen in den Blick.234 Bachtin erwähnt (wie oben bereits angeführt) den Karneval als eine dieser Zeiten, die einen deutlichen Unterschied zum Alltag markieren und deshalb – überindividuell und jenseits der eigenen willentlichen Entscheidung – eine andere Art der Wahrnehmung ermöglichen. Martin Seel verweist insbesondere auf Orte, die in eine andere Art der Wahrnehmung versetzen und „an denen es schwerfällt, sich nicht ästhetisch zu verhalten (je nach Neigung eher im Wald oder im Garten, im Autosalon oder im Museum, in der Konzerthalle oder in der Sportarena) […].“235 Demgegenüber erwähnt er Orte, „an denen [umgekehrt, AD] das [ästhetische Verhalten, AD] eher schwerfällt (beim Behördengang, in Parkhäusern, während einer Prüfung, beim Zahnarzt oder bei Aldi).“236 – Den (evangelischen) Gottesdienst führt Seel weder in der einen noch in der anderen Kategorie an! Die Kategorie des Ortes führt Erika Fischer-Lichte weiter, indem sie von der „Räumlichkeit“ der ästhetischen Erfahrung und in diesem Zusammenhang von „Atmosphären“ spricht.237 Gemeint ist damit das – durch das Zusammenwirken von topologischen, akustischen, aber auch olfaktorischen Faktoren entstehende – Ensemble, von dem Individuen ‚betroffen‘ werden und auf die sie in bestimmter Weise reagieren. – Auch Fischer-Lichte bleibt bei ihrer Beschreibung bei Phänomenen des Theaters. Eine Ausweitung auf andere Räume wäre aber leicht vorstellbar. Die Wirkung, 233 KAMPER: Die Ästhetik der Abwesenheit, 54. Im selben Zusammenhang spricht er von der „Kunst, an entscheidender Stelle sein zu lassen“. 234 Vgl. zum Folgenden GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 122f. 235 SEEL: Ästhetik des Erscheinens, 64. 236 SEEL: Ästhetik des Erscheinens, 64. 237 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 187–209, bes. 200–209.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

die beim Betreten einer gotischen Kathedrale, in der noch Reste von Weihrauchduft hängen und vielleicht dezente Orgelmusik ertönt, ausgelöst wird, lässt sich durchaus wahrnehmen und entsprechend als „Atmosphäre“ beschreiben.

Das hier ausgeführte Problem kehrt theologisch in immer neuen Anläufen nicht erst seit der Reformation wieder. Bereits die pelagianischen und semipelagianischen Streitigkeiten verlaufen in ähnlichen Bahnen, die dann das 16. Jahrhundert (bis hin zum so genannten „majoristischen Streit“, in dem Amsdorf gegen Major behauptete, gute Werke seien ‚schädlich zur Seligkeit‘) erneut prägen. Die Kernfrage lautet: Wie lässt sich die vollständige Alleinwirksamkeit Gottes zum Heil und die Unmöglichkeit des Menschen, dazu auch nur irgendetwas beizutragen, mit der schlichten Wahrnehmung in Einklang bringen, dass sich der Mensch – auch in Glaubensdingen – als aktiv Handelnder und Entscheidender erlebt? In liturgicis ist die Frage nicht weniger dringlich: Ist eine bestimmte ‚Haltung‘ bzw. ‚Einstellung‘ notwendig und erreichbar, in der der Gottesdienst so erfahren werden kann, dass er zum Gott-menschlichen Wortwechsel (und nicht nur zu einer interessanten oder eher langweiligen Veranstaltung am Sonntagmorgen) wird? Oder ist es allein das Wort Gottes selbst, das den Menschen so angeht, herausruft und herausfordert, dass er sich vom externen Wort neu konstituiert erfährt – ohne dazu auch nur das Geringste tun zu können? – Oder ist bereits die Frage falsch gestellt, weil sie Kategorien vermischt, die (wenigstens in der analytischen Wahrnehmung) nicht vermischt werden dürfen? Geht es im einen Fall um die Alleinwirksamkeit Gottes zum Heil des Menschen, im anderen um die Angemessenheit menschlichen Verhaltens auf Erden (Gott und dem Nächsten gegenüber)? Damit aber bin ich bereits dabei, die kulturwissenschaftlichen Ansätze dieses Kapitels in einen Dialog mit praktisch-theologischen Fragen zu bringen. 5.1.2.4 Praktisch-theologische Aufnahme eines zugespielten philosophischen Balls Die kulturwissenschaftlichen Spuren einer philosophischen Ästhetik lesen sich wie das ständige Zuspiel eines Balls an die (Praktische) Theologie, und eigentlich ist es verwunderlich, dass die Kulturwissenschaft nicht ihrerseits stärker auf das blickt, was in der Theologie diskutiert wurde und wird.238 Drei Zuspiele nehme ich auf und führe damit die in diesem Abschnitt dis-

238

Eine Ausnahme ist etwa bei Gumbrecht wahrzunehmen, der sich – wenn auch knapp – mit den Ansätzen von Catherine Pickstock auseinandersetzt; vgl. GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 155–176.

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kutierte Frage nach dem ‚Subjekt‘ und seiner Wahrnehmung in praktischtheologischer Perspektive fort. (1) Wider die Einseitigkeit der Sinnkultur und wider die Hypertrophie der Präsenz Oben wurde Wilhelm Gräb als Exponent einer Weise gelesen, den liturgischen Umbruch der Reformation und den evangelischen Gottesdienst der Gegenwart zu deuten (2.2.1.3). Mit den Paradigmen von Rationalität, Diskursivität, Mitteilung, Sinn, Subjektivität und den praktischen Konsequenzen einer „Enttheatralisierung“ und „Entritualisierung“ des Gottesdienstes kann Gräb auf der Grundlage der kulturwissenschaftlichen Erkundungen dieses Kapitels, konkret: in Aufnahme der Typologie von Hans Ulrich Gumbrecht, als geradezu klassisch für ein sinnkulturelles Verständnis des Gottesdienstes im Gegensatz zu einem möglichen präsenzkulturellen Verständnis gelesen werden. Es ist ein Verständnis, das sich als typisch neuzeitlich, hermeneutisch, cartesianisch bezeichnen lässt und das von einem starken Subjekt und einem deutlichen Subjekt-Objekt-Gegenüber geprägt ist. Demgegenüber pulsiert in neueren kulturwissenschaftlichen Überlegungen eine Sehnsucht nach Präsenz, nach einem Ende des Gefangenseins in ‚Texten‘ (wider den semiotic oder linguistic turn), nach einem Ausstieg aus dem Kreislauf der Interpretation, nach Erfahrung und Ereignis. Jean-Luc Nancy etwa meinte, es gebe in der Gegenwart nichts öderes als die Hinzufügung einer weiteren Bedeutungsnuance im unendlichen Spiel der Sinnproduktionen.239 Gumbrecht nimmt diesen Gedanken auf und sieht unsere neuzeitliche Gesellschaft davon bedroht, „die Präsenzseite einfach einzuklammern“ und damit eine entscheidende Dimension zu verlieren.240 Der französische Philosoph Michel Serres markiert eine entscheidende Voraussetzung dafür, die Dominanz der Sinn- und Interpretationskultur zu durchbrechen: Die Sprache müsse in ihre Grenzen gewiesen werden. Es müsse erkannt werden, dass nicht alles gesagt werden kann. Auf sprachlich (!) eindrucksvolle Weise schreibt Serres: „Diese so verbreitete Idee, daß alles gesagt werden muß und alles sich in der Sprache löst, daß jedes wahre Problem Stoff für Debatten gibt, daß die Philosophie sich auf Fragen und Antworten reduziert, deren man sich nur sprechend annehmen kann, daß Lehre allein über den Diskurs erfolgt, dieser geschwätzige, theatralische, marktschreierische, schamlose Gedanke verkennt, daß es Wein und Brot, ihren sanften Geschmack und ihren Geruch wirklich gibt, er übersieht, daß kaum merkliche Gesten 239 240

Vgl. NANCY: The birth to presence. GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 127.

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gleichfalls lehren können, er vergißt das stillschweigende Einverständnis und die Komplizenschaft, er vergißt, was sich von selbst versteht, ganz ohne Worte, das stille Bitten um Liebe, die Eingebung, die einschlägt wie ein Blitz, die Anmut einer Bewegung […]; ich kenne so viele Dinge ohne Text und Menschen ohne Grammatik, Kinder ohne Wortschatz und Greise ohne Vokabular […]. Das Kostbarste unter allem, was ich weiß, bleibt umfangen von Stille.“241

Gegen das erdrückende „Tonnengewicht der Sprache“ sehnt sich Serres danach, sich der Welt jenseits der Sprache auszusetzen.242 Er sehnt sich nach einer „Realität“ der Dinge – jenseits der Einebnung durch die benennende, ordnende, relativierende Sprache, nach der „Sache“ jenseits des „Zeichen[s]“, nach der „Energie“ jenseits der „Information“.243 Er möchte dem besänftigenden, weltflüchtigen Kreislauf einer Sprachphilosophie entkommen, die in ihrer konstruktivistischen oder dekonstruktivistischen Attitüde letztlich doch immer nur recht behält und nur immer wieder bei sich selbst landet, nicht aber bei der „Unmittelbarkeit der Sinne“.244 Nicht ohne Ironie schreibt Serres: „Die Sprachphilosophie hat recht, ja, sie hat immer recht, sie hat uns bekehrt, sie hat gewonnen. Sie hat über jegliche Phänomenologie gesiegt […]. […] In der Hoffnung, zu den Dingen zurückzukehren, hatten wir den naiven Wunsch gehabt, zu hören, zu sehen und bei den Dingen zu sein, zu schmecken, zu streicheln, zu spüren, uns dem Gegebenen zu öffnen. Wie sollen wir das tun, ohne zu sprechen?“245 Und kurz darauf: „Der Sprachphilosoph möchte, daß alles sanft bleibt. Soll er doch einmal bauen, zur See fahren, Steine zertrümmern, ein wenig ablassen von der strengen Mattigkeit, dem Filz, der Logik, vom ständigen Moll.“246

Bei Serres wird deutlich: Wer sich einlässt auf die Absolutheit der sprachphilosophischen (mit Gumbrecht ließe sich hinzufügen: sinnkulturellen) Weltwahrnehmung, der wird alles in den in sich korrekten (!) Bahnen dieser Vorgabe rezipieren – und vielleicht nicht einmal merken, dass ihm dabei der sanfte Geschmack und der Geruch von Brot und Wein ebenso entgehen wie die Erfahrung der Stille oder von wildem, stürmischem Meer. Es gibt im gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Diskurs eine Sehnsucht nach Präsenz, nach Körperlichkeit, nach phänomenaler Materialität, ja auch nach Ungezügeltheit, Ekstase, Besessenheit. So möchte sich Gumbrecht den Schauspieler im Theater im Kontext der Präsenzkultur als einen 241

SERRES: Die fünf Sinne, 137; in etwas anderer Abgrenzung auch zitiert bei MERSCH: Ereignis und Aura, 25. 242 SERRES: Die fünf Sinne, 122. 243 SERRES: Die fünf Sinne, 147. 244 SERRES: Die fünf Sinne, 228. 245 SERRES: Die fünf Sinne, 148. 246 SERRES: Die fünf Sinne, 154.

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‚Besessenen‘ vorstellen, der dem, wovon er besessen ist, zu „erneuter Gegenwärtigkeit verhilft“.247 Es ist die Sehnsucht danach, die Subjekt-ObjektUnterscheidung aufzuheben, die Distanz des deutenden oder sich einfühlenden Zuschauers zu überwinden und selbst als Akteur Erfahrungen zu machen und ‚Ereignisse‘ zu erleben. Dieter Mersch ist begrifflich vorsichtiger, benennt dafür aber deutlicher, worum es bei diesen Erfahrungen geht. Er spricht – wie vor ihm vergleichbar auch schon Bernhard Waldenfels – von einer Deterritorialisierung durch die Erfahrung der Kunst; Kunst mache „in gewisser Weise verrückt. Sie versetzt uns an einen anderen Ort […].“248 Der Grund: sie verändere das, was klassisch als die intentionale Art der Wahrnehmung durch ein starkes Subjekt erscheint; sie sei ephemer und vergänglich – gleichzeitig aber zwingend. Ihr eigne die „Flüchtigkeit des kairos, dem das ‚Daß‘ (quod) der Ex-sistenz selbst zufällt.“249 Sie fordere so eine Antwort in der Unmittelbarkeit der Begegnung. Auch Erika FischerLichte betont diese Dimension der Verwandlung des mit-agierenden Zuschauers und spricht von einer „Transformation“, die zu einem neuen Inder-Welt-Sein des Menschen führt. Ihre poetische Metapher für diese Verwandlung lautet: „Wiederverzauberung der Welt“.250 Die Sehnsucht des Philosophen Serres und vieler anderer lässt sich liturgisch wenden und wird auch hier von vielen geteilt:251 Es ist in liturgicis die Sehnsucht nach einem Ende ständiger verbaler Vervielfachung, nach einer Schlichtheit und ‚Derbheit‘ der Gestik, nach einer Unmittelbarkeit der Körperlichkeit, nach dem, was es zu schmecken und zu sehen, zu tasten und zu riechen gibt – und auch zu hören jenseits der deutend-informierend-einordnenden Worte, die Energie in Information verwandeln. In den Worten dieses Kapitels: Es ist eine Sehnsucht nach Präsenz, nach dem Auratischen, nach dem Kultischen – und vielleicht wäre damit die gegenwärtig viel diskutierte Sehnsucht nach Religion am besten beschrieben. Freilich: die zitierten Kulturwissenschaftler wissen, dass sich die neuzeitliche Sinnkultur nicht einfach abstreifen lässt wie ein Hemd, das einst gut kleidete, nun aber altmodisch daherkommt. Sie sind sich der Tatsache bewusst, dass unser Alltag ohne sinnkulturelle Orientierungen nicht auskommt.252 Ihr polemisches Anschreiben gegen die Sinnkultur ist eher der 247

GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 69. MERSCH: Ereignis und Aura, 46. 249 MERSCH: Ereignis und Aura, 46. 250 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 315–362; von „Transformation“ ist besonders aaO., 332, die Rede. 251 Ich verweise nur auf die Beobachtungen von Karl-Heinrich Bieritz u.a., oben Kap. 2.2.3.1 (3). 252 So weiß Erika Fischer-Lichte, dass ihre „Ästhetik des Performativen“ nicht der Schlüssel für jede ästhetische Erfahrung ist, sondern nur für jene, zu denen die „Aufführung“ als zentrales Element gehört. Für andere Weisen der Kunstrezeption (etwa die Wahrnehmung eines Bildes oder 248

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Versuch, deren Totalität zu überwinden und einen Raum zu eröffnen, in dem Präsenzkultur wieder gedacht und präsenzkulturelle Phänomene wieder beschrieben werden können. So kann etwa Hans Ulrich Gumbrecht von einer Gleichzeitigkeit von Präsenz- und Sinneffekten sprechen. Das Gedicht sieht er als das herausragende Beispiel dafür, wie es selbst einer sinnkulturell orientierten Hermeneutik nie gelungen sei, „die Präsenzeffekte von Reim und Alliteration, von Vers und Strophe völlig zu unterdrücken.“253 Es würde bedeuten, einen merkwürdigen anthropologischen Dualismus nun neuerlich zu befestigen, wenn man meinen würde, die Sinnkultur durch die Präsenzkultur ‚austreiben‘ zu wollen. Für Fischer-Lichte liegen daher zwei Wahrnehmungsweisen ineinander: die „Wahrnehmungsordnung der Präsenz“ einerseits, die der „Repräsentation“ andererseits.254 In der erstgenannten geschehe Wahrnehmung als „emergenter Prozeß“: „Es ist die Ordnung der Präsenz, es ist die Selbstreferentialität, die Bedeutungen nur noch als Emergenzen erzeugt, über die der Wahrnehmende keine Verfügungsgewalt besitzt.“255 Die Wahrnehmungsordnung der Repräsentation hingegen laufe nicht emergent, sondern entstehe durch bewusste und zielgerichtete Interpretationsleistung, die Wahrgenommenes deutend weiterführt. Für FischerLichte liegt der besondere Reiz in einem Geschehen, in dem die beiden Wahrnehmungsordnungen oszillieren – und es somit dazu komme, dass „sich die Aufmerksamkeit des Wahrnehmenden auf den Prozeß der Wahrnehmung selbst“ lenkt.256 Diese nämlich werde dadurch herausgefordert, womit das wahrnehmende ‚Subjekt‘ in einen Zustand des Übergangs, der Liminalität, der Transformation geführt werde. Es scheint evident, dass der Versuch, eine binäre Struktur der Wahrnehmung zu konstruieren, an der Realität des wahrnehmenden Subjekts scheitern muss. Menschen sind – etwas zu hoch gegriffen ließe sich sagen – unvermischt und ungetrennt beides: präsenzkulturell Betroffene und Erlebende und sinnkulturell Deutende. Wichtig wäre es aber – auch für den Gottesdienst – das ‚Entscheidende‘ nun nicht im gedeuteten „Sinn“ zu suchen, sondern davon auszugehen, dass sich Sinn und Bedeutung einerseits emergent ereignen, andererseits durch zielgerichtete Interpretation ergeben können. Es gibt – wie ich oben im Anschluss an Gumbrecht formulierte – Sinn-Epiphanien, die jenseits des interpretierenden Zugriffs entstehen – und eines literarischen Textes) hält sie die Unterscheidung von Werk-, Rezeptions- und Produktionsästhetik nach wie vor für heuristisch hilfreich; vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 315. 253 GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 34. 254 FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 260. 255 FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 260. 256 FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 261; vgl. auch aaO., 269.

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es gibt Sinn-Deutungen, die die Aktivität des interpretierenden Subjekts voraussetzen. Beides zugleich! Martin Seel unterscheidet sogar drei „Dimensionen des Erscheinens“: Das bloße Erscheinen ist in seiner Terminologie mit der Kontemplation verbunden; es bedeutet das „Gebanntsein“ in der „Momentaneität“.257 Atmosphärisches Erscheinen ist im Blick auf seine Wahrnehmung durch die Figur der Korrespondenz gekennzeichnet. Es kommt dazu, dass die „existentielle Bedeutsamkeit“ des Angeschauten deutlich wird – etwa dort, wo ein alter Ball an die Kinder erinnert, die jetzt aus dem Haus sind.258 Beim artistischen Erscheinen schließlich ist die Interpretation gefragt; es geht darum, dass ‚Objekte‘ „in ihrem performativen Kalkül verstanden sein“, Kunstwerke in einer Intention erschlossen werden wollen.259 – Selbstverständlich kann alles drei in derselben Wahrnehmungssituation aufgerufen werden. Während sich die erste und zweite Art des Erscheinens nicht intentional vollzieht, ist bei der dritten Art beides denkbar: Die Interpretation kann sich unvermittelt (emergent) einstellen; sie kann aber auch durch Prozesse der Deutung gewonnen werden.

Zwei liturgische Folgerungen seien an dieser Stelle abgeleitet, die eine zur Sprache im Gottesdienst, die andere zu dessen „Funktion“ bzw. Wirkung: (1) Folgt man Michel Serres, wird das Sprechen prekär – und die Stille wird zur Signatur eines neuen nicht-bemächtigenden Umgangs mit der Welt. Der Gottesdienst käme damit in eine zumindest schwierige Rolle, da in ihm immer auch gesprochen wird. Die kulturwissenschaftlichen Ansätze freilich zeigen, dass es unterschiedliche Weisen des Sprechens und der Wahrnehmung von Sprache geben kann. Dieter Mersch unterscheidet einen Zugang über die „Semantizität von Sprache“ von einem Zugang über deren Performativität.260 Im ersten Zugang werden Intentionen und Grundgedanken zu Triebfedern der Sprache.261 Im zweiten Zugang ist die „Macht der Rede, ihre Kraft, die über den Sinn hinausschießt“, entscheidend.262 Zur Sprachwahrnehmung eignet sich dann ein „theatrales Modell“ und ein Denken in Szenen.263 Zu den Szenen gehören „Handelnde, Schweigende und Zuhörer“, aber auch „Gesten, Stimmen, Körper und die ‚Leere‘ zwischen ihnen.“ Szenen erweisen sich „als Ereignis der spezifischen Konfiguration ihrer 257

Vgl. SEEL: Ästhetik des Erscheinens, 150f; Zitate: 151.150. Vgl. SEEL: Ästhetik des Erscheinens, 152–156; Zitat: 152. 259 Vgl. SEEL: Ästhetik des Erscheinens, 156–160, Zitat: 158. 260 Vgl. MERSCH: Performativität und Ereignis, 2 [Zitat ebd.; im Original hervorgehoben]. 261 Dies gilt letztlich auch für Austins Sprechakttheorie, die zwar performative Aspekte der Sprache erkennt, diese aber letztlich einem intentional darüber verfügenden Subjekt und einem ebenso intentional verstehenden Gegenüber zuordnet; vgl. MERSCH: Performativität und Ereignis, 10–16; vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 31–42. 262 MERSCH: Performativität und Ereignis, 3. 263 MERSCH: Performativität und Ereignis, 6. 258

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Momente“.264 – Für die Wahrnehmung und Gestaltung gottesdienstlicher Sprache erscheint diese Zuordnung entscheidend und wird unten weiter ausgeführt (vgl. 6.3.2.4). (2) Nicht selten wird der Wunsch formuliert, aus dem Gottesdienst ‚etwas mit nach Hause zu nehmen‘. Im Kontext der Überlegungen dieses Kapitels ist es evident, dass dies zu einem problematisch engen sinnkulturellen Verständnis des Gottesdienstes führen könnte. Dann nämlich, wenn das „etwas“, das mitgenommen werden soll, nur eine bestimmte sinnkulturelle Deutungsperspektive wäre, die das ‚Subjekt‘ als erkanntes ‚Objekt‘ mit nach Hause trägt, ein neuer interpretativer Aspekt, ein mehr oder weniger wesentlicher Gedanke. Freilich: dies ist auch möglich – aber doch nur ein Aspekt und sicher nicht der entscheidende. Was vielmehr mitgenommen werden könnte, wären Erinnerungen an ephemere Sinn-Epiphanien, genauer: an die Erfahrung der Deterritorialisierung durch das externe Wort, und unterschiedliche Deutungen dieser Ereignisse. (2) Aktive Passivität im Gottesdienst Wenn der Gottesdienst mehr und anderes ist als sinnkulturelle Deutung, wenn es in ihm im Sinne Luthers um die Gegenwart Gottes und die Gottmenschliche Wechselrede geht, dann ist die Frage der Kulturwissenschaftler nach einem gelassenen Lassen – wie bereits mit Hinweis auf diverse Streitigkeiten der Kirchengeschichte vom Pelagianismus bis zum Majorismus gezeigt – auch eine theologische und liturgische Frage. Und sie wird gerade dort gegenwärtig virulent, wo – wie in den zitierten kulturwissenschaftlichen Stimmen – „Präsenz“ bzw. Aura eine wesentliche Rolle spielen. So entwickelt Martin Nicol in seiner 2009 erschienenen Liturgik „Weg im Geheimnis“ – bezeichnenderweise ohne Rückgriff auf die einschlägige kulturwissenschaftliche Debatte – die Unterscheidung von „Präsenz und Bedeutung“265 als heuristisches Raster zur Einordnung zweier extremer Weisen, den Gottesdienst zu verstehen. Auf der einen Seite stehe die „unkritisch erlebte Gottespräsenz“, auf der anderen die „kritisch vermittelte Bedeutung der kultischen Zeichen“.266 Im ersten Fall vergegenwärtigten Zeichen unmittelbar die Wirklichkeit267, im zweiten Fall seien Zeichen austauschbar und stünden für die „auf anderem Weg erhobene Gotteswirklich264 265

MERSCH: Performativität und Ereignis, 6. NICOL: Weg im Geheimnis, 113–134 [Präsenz und Bedeutung. Für eine zweite Kultfähig-

keit].

266

NICOL: Weg im Geheimnis, 113. Vgl. NICOL: Weg im Geheimnis 131 – mit Bezug auf die klassische katholische Abendmahlsauffassung. 267

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keit“268. Dabei konstatiert Nicol eine „moderne Verschiebung von der Präsenz zur Bedeutung“ als Signatur der Entwicklung des (evangelischen) Gottesdienstes in der Neuzeit.269 Der Gottesdienst drohe „katholisch zur religiösen Folklore, protestantisch zum Glaubensseminar mit Musik“ zu werden.270 Der Ausweg liegt für Nicol in der Wiedergewinnung einer „zweite[n] Kultfähigkeit“ – eine Begrifflichkeit, die er im Anschluss an die Rede von der „zweiten Naivität“ bei Paul Ricoeur gewinnt.271 Kultunfähigkeit entstehe dort, wo – so ließe sich in den Worten dieses Kapitels sagen – die sinnkulturelle Perspektive die Oberhand gewinnt, wo – in Nicols Worten – „Kult nur Verpackung fürs Kerygma“272, bloßer Hinweis auf die Notwendigkeit äußerer Ordnung273 oder ‚ästhetische‘ Ornamentierung bedeute274. Umgekehrt entscheidet sich Kultfähigkeit für Nicol daran, „wie Glaube und Welt zusammen gelebt und gedacht werden“.275 Sie ergebe sich dort, wo der Kult in seinem Wechselspiel von Wort und Zeichen wieder ernstgenommen und praktiziert werde – etwa wenn das „Votum“ zu Beginn des Gottesdienstes („Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ – „Amen.“) von der Geste der Selbstbekreuzigung begleitet werde.276 Dieser kurze Dialog zwischen Liturg und Gemeinde zu Beginn des Gottesdienstes wird für Nicol aufschlussreich für kultfähiges und kultunfähiges Liturgiebegehen. Kultunfähigkeit erweise sich dort, wo dieser Dialog nicht mehr als Proklamation der Gottespräsenz vollzogen, sondern zur Information verwandelt werde, indem der Liturg etwa hinzufüge: „Wir feiern diesen Gottesdienst im Namen …“.277 Umgekehrt zeige die Geste der Bekreuzigung und zeige das „Amen“ der Gemeinde Wege eines kultfähigen Mitvollzugs der Liturgie.278 Die „Weltwirklichkeit“ werde durch das

268 NICOL: Weg im Geheimnis, 131 – im Kontext des Abendmahls wäre dies die reformierte Position des significat. 269 NICOL: Weg im Geheimnis, 113. 270 NICOL: Weg im Geheimnis, 113. 271 Vgl. NICOL: Weg im Geheimnis, 131. 272 NICOL: Weg im Geheimnis, 119. 273 Vgl. NICOL: Weg im Geheimnis, 117 [mit Verweis auf Götz Harbsmeier]. 274 Vgl. NICOL: Weg im Geheimnis, 114. – Vgl. zum Begriff der Kultunfähigkeit vor allem GUARDINI: Der Kultakt. Guardini sieht in diesem Text aus dem Jahr 1964 die eigentliche Aufgabe der Kirche der Gegenwart mit dem Liturgiebeschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils noch keineswegs gelöst, sondern allererst neu in Bedeutung gesetzt. Es müsse um liturgische Bildung für den Menschen der Gegenwart gehen, darum, ein vor allem im 19. Jahrhundert verlerntes ‚kultisches‘ Verhalten wieder neu zu erlernen. 275 NICOL: Weg im Geheimnis, 116. 276 Vgl. NICOL: Weg im Geheimnis, 119f. 277 NICOL: Weg im Geheimnis, 120; vgl. auch aaO., 119. 278 Vgl. bes. NICOL: Weg im Geheimnis, 130f.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

„Amen“„doxologisch als Gotteswirklichkeit“ anerkannt.279 Damit gelte: „Wer den kurzen Wortwechsel zu Beginn in der angedeuteten Weise mitvollziehen kann, ist potenziell kultfähig für das, was folgt.“280 „Zweite Kultfähigkeit“ verwandelt sich, wenn dieser im Kontext der Überlegungen Nicols nicht näher interpretierte Satz weitergeführt wird, in eine Art Habitus. Es geht um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Subjekts, liturgische Vollzüge in einer bestimmten Weise mitzuvollziehen. Die theologische und anthropologische Paradoxie, die damit gegeben ist, wird von Nicol nicht näher beleuchtet. Interessant ist aber, dass sich im Umkreis der zitierten Aussage auch Andeutungen finden, die von der subjektiven Habitualität weg in eine andere Richtung weisen. So betont Nicol einerseits, dass sich die zweite Kultfähigkeit nicht von innen nach außen, sondern umgekehrt von außen nach innen entwickle, „von der rituellen Praxis zur individuellen Aneignung“.281 Entscheidend sei die Übung und Einübung. Ob diese dann freilich zu einer Art ‚Zustand‘ führt, in dem gewisse religiöse Subjekte den Gottesdienst ‚recht‘ begehen können – diese Frage lässt Nicol offen; letztlich legen seine Ausführungen dies aber nahe. Andererseits betont Nicol – und dies erscheint mir weiterführender – eine bestimmte „gottesdienstliche Gesamtsituation“282 bzw. sogar eine „Gottessituation“283 der Liturgie. „Man macht sich aus dem häuslichen Kontext auf, begibt sich in den Kirchenraum und lässt sich ein auf alltagsfremde Liturgie. Damit verortet man sich in einem Kontext eigener Art, einem Kontext, der vielgestaltig mit Gotteswirklichkeit konnotiert ist. Eine durchaus auch emotionale Gestimmtheit geht mit dem prinzipiellen Gottesbezug von Liturgie einher.“284

In ihr komme es – augenscheinlich ohne die vorausgesetzte ‚Haltung‘ des Individuums – zu einer „Emotionsgewissheit“285 bzw. zu „emotionale[r] Evidenz“,286 wobei die Betonung der Emotionalität an dieser Stelle den Gegensatz zu sinnkultureller Bedeutungsleistung unterstreichen soll. Die Frage nach der eigentümlichen aktiven Passivität in der ‚Aneignung‘ zweiter Kultfähigkeit wird von Nicol zwar mehrfach berührt, aber nicht weiter vorangetrieben und theologisch kaum vertieft. Es bleibt die Feststellung, wo279

NICOL: Weg im Geheimnis, 131. NICOL: Weg im Geheimnis, 131. 281 NICOL: Weg im Geheimnis, 132. 282 NICOL: Weg im Geheimnis, 126. 283 NICOL: Weg im Geheimnis, 127. 284 NICOL: Weg im Geheimnis, 126. 285 NICOL: Weg im Geheimnis, 124. 286 NICOL: Weg im Geheimnis, 126. 280

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nach eine regelmäßige Übung des „Wegs im Geheimnis“ dazu führen wird, dass dieser ‚recht‘ begangen und die Liturgie stimmig ‚mitvollzogen‘ werden kann einerseits und unvermittelt dazu die interessante Andeutung einer „Gottessituation“ in liturgischem Kontext andererseits. Nicols Figur der Unterscheidung von „Präsenz“ und „Bedeutung“, die er in Anlehnung an das „est“ und „significat“ der Abendmahlsstreitigkeiten gewinnt sowie seine Andeutung einer eigentümlichen „Gottessituation“ der Liturgie nehme ich im Folgenden auf und führe sie so weiter, dass ich die Denkbarkeit der aktiven Passivität in liturgicis einerseits, die Praxis andererseits in den Blick nehme: (a) Das Luthersche „est“ als Denkmöglichkeit aktiver Passivität Die Auseinandersetzungen um das Abendmahl in der Zeit der Reformation scheinen paradigmatisch für die theologischen und hermeneutischen Streitigkeiten, die seit der Neuzeit nicht mehr wegzudenken sind. Es ging um die Frage, wie materiale Weltlichkeit mit Gottes Gegenwart zusammengedacht werden kann und welche Rolle dabei das ‚glaubende Individuum‘ (ich spreche bewusst nicht von „Subjekt“!) einnehmen kann. Einig waren sich die Kirchen der Reformation in ihrer Position gegen die römische Auffassung der Transsubstantiation: Hier wurde ein ontologischer Substanzialismus behauptet, der jede Rolle des Glaubenden methodisch eliminiert. Die bloße Setzung des „est“ in substanzontologischer Perspektive konnte nicht länger überzeugen. Die Frage aber, wie die Rolle des Glaubenden im Wechselspiel mit den Elementen des Abendmahls Brot und Wein anders gedacht und beschrieben werden könnte, führte zu erbittertem Streit innerhalb der Kirchen der Reformation, die im wesentlichen in den Jahren 1524 bis 1529 ausgetragen wurden.287 Dabei stand die reformierte Position für ein „significat“, die lutherische Seite für ein – gegenüber Rom entscheidend modifiziertes – „est“. Reformiert wurden – zunächst bei Zwingli – Brot und Wein als „Zeichen“ gesehen, die für Anderes stehen („significat“) und vom glaubenden Individuum entsprechend gedeutet werden; das Abendmahl wird wesentlich zu einem Akt des Gedächtnisses und Bekenntnisses. Für Luther war – bereits seit den ersten Sermonen zum Abendmahl in den Jahren 1518/19 – die Dimension des Glaubens entscheidend. Dieser ist es, der Brot und Wein für die Glaubenden (und im Kontext der glaubenden Gemeinde!) zu Leib und Blut Christi verwandelt, so dass das „est“ nicht im Sinne eines ontologischen Substanzialismus gilt, sondern im Sinne einer Realpräsenz im glaubenden Vollzug – wobei (wohlgemerkt) der Glaube immer als Gabe des 287

Vgl. als knappen Überblick LOHSE: Martin Luther, 86–93.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Heiligen Geistes und damit als vom Menschen her uneinholbares Geschehen verstanden wurde. Versucht man, die Begriffe „Sinnkultur“ und „Präsenzkultur“ in diese Streitigkeiten einzutragen, so könnte die reformierte Position als „sinnkulturell“ etikettiert werden. In der römischen Position des Spätmittelalters lässt sich eine spezifische Form substanz-ontologischer Präsenzkultur greifen. Eine eigene, andere Art der Präsenzkultur bietet Luthers Lehre – eine Präsenzkultur nämlich, die das glaubende Individuum konstitutiv mit einbezieht und somit zwischen Präsenz- und Sinnkultur vermittelt. Ich bezeichne sie als präsenzkulturelle Sinnkultur des pathisch-responsiv Glaubenden. Luthers präsenzkulturelle Sinnkultur des pathisch-responsiv Glaubenden („est“) Die (spät-)mittelalterliche Präsenzkultur des ontologischen Substanzialismus

Die reformierte Sinnkultur des significat als Deutungsleistung des frommen Subjekts

Damit scheint das Modell der lutherischen Reformation ein „Grenzmodell“ zu sein, das eine Denkmöglichkeit vorstellt288 – aber in der Tat prekär bleibt, weil es auf beiden Seiten abzurutschen droht. Am leichtesten kann es sich neuzeitlich sicherlich in die Richtung der reformierten Position bewegen: aus dem ‚erlittenen‘ „est“ im Vollzug des gottesdienstlichen Geschehens unter der ‚Hoheit‘ des allein aktiven Heiligen Geistes wird ein vom Individuum (und hier wäre es in der Folge nicht falsch vom „Subjekt“ zu sprechen) gestaltetes ‚significat‘ eigener Deutung. Damit scheint mir eine Einordnung der eigentümlichen passiven Aktivität bzw. aktiven Passivität denkbar, die die Frage nach deren ‚Praxis‘ allerdings noch offen lässt. (b) Zur Praxis aktiver Passivität Die vorgestellten kulturwissenschaftlichen Überlegungen verdeutlichen das Problem ‚aktiver Passivität‘ und zeigen, wie schwierig und in sich selbst paradox die ‚Lösung‘ ausfällt, eine bestimmte Art ästhetischer Wahrnehmung von der Willensentscheidung des wahrnehmenden ‚Subjekts‘ abhängig zu machen. Zugleich verweisen sie auf Denkmöglichkeiten in eine andere Richtung: Wenn herausgehobene Zeiten und Orte („Insularität“) bedacht werden sowie die damit verbundenen Atmosphären, so ließe sich der 288

Vgl. auch ASSEL: Zur evangelischen Lehre vom Gottesdienst, 56.

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Aporie entgehen, dass entweder die Alleinigkeit der Externität ohne jede Möglichkeit eigener Aktivität betont wird oder die Aktivität in die Figur des Willens/der Intention hinein verkehrt und somit einem starken Subjekt angelastet wird. Menschen schaffen Räume und inszenieren Arrangements, die sie selbst und andere in eine andere Art der Aufmerksamkeit versetzen, als dies im Kontext der üblichen alltäglichen Wahrnehmung geschieht. Erika Fischer-Lichte schreibt über die Aktivität von Künstlern im Kontext von Aufführungen (Performances): „Sie [die Künstler, AD] schaffen nicht mehr gottähnlich ein Werk, sondern stellen als Versuchsleiter eine spezifische Situation her, der sie sich selbst und andere aussetzen.“289 Entscheidend dafür sei, so Fischer-Lichte, bereits der Raum. FischerLichte unterscheidet dazu zwischen geometrischen und performativen Räumen.290 Erstere seien schlicht als in irgendeiner Form umgrenzte Räume gegeben; letztere entstünden durch die Aktivität einer ‚Aufführung‘, die ihre eigenen räumlichen Muster realisiert. Damit gilt: „Der performative Raum ist immer zugleich ein atmosphärischer Raum.“291 Wenn sich liturgisch Aktive als „Versuchsleiter“ sehen lernten, die verantwortlich dafür sind, eine „Situation“ zu schaffen und einen performativen und damit in spezifischer Weise atmosphärischen Raum292 zu eröffnen, in dem sich etwas ereignen kann, so wäre dies m.E. ein Verständnis, das der Struktur aktiver Passivität weithin entgegen käme – und das daher im folgenden Unterkapitel (Kap. 5.2) weiter bedacht werden soll. Im Kontext dieser spezifischen „Situation“ könnte sich dann sogar die oben kritisierte Sprachform des Lassens neuerlich als sinnvoll erweisen. Ich erinnere an ein berühmtes Beispiel für die Verwendung einer Lassens-Formulierung in theologisch-liturgischem Kontext: Gerhard Tersteegen beschließt die sechste Strophe seines Liedes „Gott ist gegenwärtig“ mit der Wendung: „… und dich wirken lassen“. Die Strophe entfaltet das Bild der Blumen, die „willig sich entfalten / und der Sonne stille halten“.293 Entsprechend bittet er Gott um eine dem gemäße Weise der Rezeption, die nun gerade nicht intentional vom Subjekt aus verwirklicht, sondern im Gespräch mit Gott von diesem erbeten wird. Kurz: Das Bittgebet wird zum „Sitz im Leben“ des Lassivs. Die grundlegende „Gottessituation“, die in der ersten Strophe vorausgesetzt wird („Gott ist gegenwärtig …“), führt (pathisch-responsiv) in ebendiese Sprachform.

289

FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 285. Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 187. 291 FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 200 [vgl. insg. 200–209]. 292 Vgl. hierzu auch JOSUTTIS: Die Einführung in das Leben, 123f, der in Aufnahme von Hermann Schmitz das Reden von „Atmosphäre“ für die Seelsorge fruchtbar gemacht hat; vgl. auch Nicols oben zitierte Wendung der „Gottessituation“ der Liturgie (NICOL: Weg im Geheimnis, 127), die in eine vergleichbare Richtung weist. 293 EG 165, 6. 290

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

(3) Die Bedeutung der Korporalität Leibliche Ko-Präsenz ist für Erika Fischer-Lichte zwingend, wenn von einer „Aufführung“ gesprochen werden soll.294 Nur in leiblicher Interaktion – in einem bestimmten Raum und in einer bestimmten Zeit – stelle sich das „Ereignis“ ein, das für die Mitwirkenden (aufgrund des Rollenwechsels meint das: für die ‚Zuschauer‘ und ‚Akteure‘ gleichermaßen!) transformativen Charakter hat. Auch Hans Ulrich Gumbrecht betont, dass es bei Präsenzphänomenen um „die Möglichkeit der Emergenz einer Form aus dem Zusammenspiel der gegenwärtigen Körper“ gehe.295 Der Gottesdienst ist „Aufführung“ im Sinne der Definition von FischerLichte. Es versammeln sich „zwei Gruppen von Personen, die als ‚Handelnde‘ und ‚Zuschauende‘ agieren, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort“ und teilen „dort eine Spanne Lebenszeit miteinander“.296 Diese elementare Körperlichkeit des Gottesdienstes lässt sich gerade in der gegenwärtigen ‚Mediengesellschaft‘ als besondere Chance der liturgischen Versammlung neu würdigen. Mit dem Begriff der ‚Mediengesellschaft‘ wird der Versuch unternommen, die quantitative Intensivierung der Medienvielfalt und Mediennutzung zu beschreiben, die zu einer zunehmenden Bedeutung der massenmedial vermittelten Kommunikation führt (Hörfunk, Fernsehen, Tonträger, Film, Internet297 …). Kirchliches Handeln setzt demgegenüber weithin – in Gottesdienst, Unterricht und Seelsorge – auf die direkte Kommunikation faceto-face, die „gegenüber allen medial vermittelten Kommunikationsformen eine uneinholbare Informationsfülle“ bietet.298 Sie bietet Wahrnehmungsmöglichkeiten, die die jeder massenmedial vermittelten Kommunikation weit übersteigen: Gestik, Mimik, Körperhaltung, Kleidung, Geruch, Tonfall der Stimme übermitteln oftmals weit mehr ‚Bedeutung‘ als das gesprochene Wort allein.299 Diese Einsicht macht massenmediale Kommunikation nicht überflüssig und erklärt sie auch nicht für zweitrangig, sondern hilft dazu,

294

Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 47. GUMBRECHT: Produktion von Präsenz, 72; vgl. auch BRANDSTÄTTER: Grundfragen, 36f. 296 FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 58. 297 Auf die Besonderheit des Internets kann hier nicht näher eingegangen werden. Diese liegt einerseits in seiner Multimedialität, vor allem aber in seinem (unter dem Schlagwort Web 2.0 besonders hervorgehobenen) Potenzial zur Interaktivität. – Die Frage, inwiefern Gottesdienste im Medium des Internet zu einer neuen Gestalt geführt werden können, ist bislang nur in Anfängen diskutiert und praktiziert (vgl. dazu z.B. den Versuch, einen auf das Medium des Internet zugeschnittenen online-Gottesdienst ins Netz zu stellen unter www.glaubeaktuell.net; vgl. auch die verschiedenen Internetaktivitäten der EKD unter www.evangelisch.de). 298 DINKEL: Die „congregatio sanctorum“ in der Mediengesellschaft, 206. 299 Vgl. DINKEL: Die „congregatio sanctorum“ in der Mediengesellschaft, 206f. 295

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das Besondere der face-to-face-Kommunikation und der Begegnung im Zeichen unmittelbarer Leiblichkeit zu würdigen. Gleichzeitig stellt sich damit die Frage, ob sich in der Entwicklung des evangelischen Gottesdienstes seit dem 16. Jahrhundert nicht genau jene Zurückdrängung der Körperlichkeit diagnostizieren lässt, die etwa Dietmar Kamper als Tendenz zur „Entfernung der Körper“ in der Neuzeit beschrieb.300 Die Einführung des festen Gestühls im Kirchenraum (seit dem Jahr 1529 im Protestantismus belegt) und die damit einhergehende Fixierung einer Rollenverteilung von still sitzenden und primär hörenden Rezipienten einerseits, aktiv Vortragenden andererseits kann als ein erstes Indiz für diese Tendenz gewertet werden. Ursula Brandstätter unterscheidet in ihren „Grundfragen der Ästhetik“ eine ästhetische von einer wissenschaftlichen Rezeption – und sieht die Körperlichkeit als grundlegende Voraussetzung ästhetischer Erfahrung.301 Es wäre damit ein sich wechselseitig verstärkender Zirkel zwischen einer Zurückdrängung der Körperlichkeit und einer primär sinnkulturellen Deutungshermeneutik des Gottesdienstes festzustellen. Das Problem, das sich dabei aber ergibt, ist – scharf formuliert – dies, dass der Gottesdienst letztlich unnötig wird, wenn es in ihm wesentlich nur darum geht, der ‚öden‘ Fülle der Interpretationen (so Nancy!) eine weitere hinzuzufügen. Das, was im Gottesdienst zu erfahren wäre, ließe sich – extrem gesagt – auch irgendwo nachlesen (wenn man denn daran interessiert wäre!). Es verwundert auf diesem Hintergrund nicht, dass spätestens seit den 1960er Jahren Versuche unternommen wurden, die Körperlichkeit des Gottesdienstes in verschiedener Perspektive wiederzugewinnen. Im Vordergrund standen dabei freilich – der theologischen Strömung der Zeit folgend – Erfahrungen von Gemeinschaft, die durch neue Sitzordnungen, neue Abendmahlsformen und neue Interaktionsformen im Gottesdienst (Gespräch, gegenseitige Berührungen etc.) gewonnen werden sollten (und bis heute auf den Widerstand nicht weniger Gottesdienst Feiernder stoßen302). Damit sollte das hic et nunc des gemeinsamen gottesdienstlichen Vollzugs betont werden – allerdings auf eine Weise, die fragen lässt, ob damit bereits die entscheidende ästhetische und religiöse Dimension des evangelischen Gottesdienstes ausreichend zur Geltung kam: die Dimension der ‚Deterritorialisierung‘ durch das externe Wort, wie sie oben theologisch erarbeitet (Kap. 2.1) und in diesem Abschnitt kulturwissenschaftlich vertieft wurde. Entscheidend müsste in dieser Hinsicht gefragt werden, wie der Raum gestaltet ist und wie die gottesdienstliche Aufführung in der Inszenierung so 300

Vgl. KAMPER: Die Ästhetik der Abwesenheit. Vgl. BRANDSTÄTTER: Grundfragen, 36f. 302 Vgl. KERNER: Der Gottesdienst. 301

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vorbereitet werden kann, dass dieses grundlegende Geschehen evangelischen Gottesdienstes in den Mittelpunkt rückt – und die Erfahrung von Gemeinschaft der Feiernden sich als eine Folge dieser gemeinsamen Orientierung auf das deterritorialisierende Wort ergibt. Interessant und nicht wenig problematisch erscheint es mir, dass sich nicht wenige der in diesem Abschnitt zitierten philosophisch-kulturwissenschaftlichen Ansätze gut und eminent anregend lesen – bis dann die Frage auftaucht: Und was eigentlich heißt das konkret? Was bedeutet es für die Praxis der Gestaltung? Dieter Mersch spricht bei dieser Frage von der „Artistik“, die neben der Aisthetik als Wahrnehmungslehre und der Ästhetik als Kunsttheorie bedacht werden müsse.303 Seine eigenen Ausführungen dazu bleiben dann aber abstrakt und erschöpfen sich primär in Negationen: Es gehe um das Schweigen der Sprache,304 um den „Einbruch des Nichts, der Stille, des Nichtmachbaren und Unkontrollierten, der Negativität des Schocks oder des Störenden und Widerständigen, der Frakturen und Paradoxa, die Unbestimmtes anzeigen, woraus das Andere, Heteronome hervorbricht.“305 Was aber bedeutet dies positiv? Wie lässt sich eine Artistik so konfigurieren, dass – im Sinne des abduktiven Verfahrens dieser Arbeit – die Gestaltseite im Zusammenhang mit der theoretischen Überlegung vorangetrieben wird? Diesem Aspekt gehe ich im nächten Unterabschnitt unter der Fragestellung der Inszenierung (Kap. 5.2) zunächst kultur- (und vor allem: theater-)wissenschaftlich weiter nach, um dann im anschließenden Kapitel (Kap. 6) nach liturgischen Konkretionen zu fragen.

5.2 Die Inszenierung, ihre Dramaturgie und ihre Wirkung „Soviel Inszenierung war nie […].“306 Der Begriff wird in vielen verschiedenen Kontexten verwendet und ist in den vergangenen Jahren zu einem Modewort zahlreicher Diskurse geworden.307 Auf den Gottesdienst angewandt stößt er immer noch auf Widerstände. Im Kern sind es zwei Anfragen, an denen sich der Widerspruch entzündet: (1) Führt die Bezeichnung 303

Vgl. MERSCH: Ereignis und Aura, 10. Vgl. MERSCH: Ereignis und Aura, 146. 305 MERSCH: Ereignis und Aura, 114. 306 FRÜCHTL/ZIMMERMANN: Ästhetik der Inszenierung, 9; die Autoren grenzen sich im Text eher kritisch von dieser Aussage ab. 307 Josef Früchtl und Jörg Zimmermann unterscheiden in ihrer Übersicht eher (kultur-)soziologische (FRÜCHTL/ZIMMERMANN: Ästhetik der Inszenierung, 10–18), philosophisch-anthropologische (aaO., 19–26) und kulturelle (aaO., 26–47) Aspekte der Verwendung des Inszenierungsbegriffs. Vgl. auch PLÜSS: Gottesdienst als Textinszenierung, 86–110, der unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte der Inszenierungsdiskussion markiert (u.a. Inszenierung als Produktion, Performance, Verkörperlichung, Wahrnehmung …). 304

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„Inszenierung“ nicht dazu, dass der Gottesdienst als „Vorspiegelung falscher Tatsachen“ (‚… es ist ja alles nur inszeniert!‘) gewertet werden könnte?308 (2) Und: Steht nicht die ‚theurgische‘ Problematik im Raum? Würde „Inszenierung“ „nicht bedeuten, daß die Kirche Verfügungsgewalt über die Nähe Gottes beansprucht?“309 Die beiden Argumente gegen den Inszenierungsbegriff würdigt auch Michael Meyer-Blanck in ihrer begrenzten Bedeutung und widerspricht ihnen sogleich: (zu 1): Die Problematik der Unterscheidung von „Wirklichkeit und [nur, AD] dargestellter Wirklichkeit“310 lässt sich als eine in der Mediengesellschaft, im Kontext der Diskussion um den „iconic turn“, um Virtualität und „Second Life“ zunehmend relevante Diskussion bezeichnen. Sie berührt sich mit der seit Platons Phaidron virulenten Frage nach der Echtheit und Eigentlichkeit angesichts der Möglichkeit medialer Vermittlung, kehrt in Benjamins Suche nach dem Auratischen im Kontext reproduzierbarer Kunst und in den dargestellten kulturwissenschaftlichen Versuchen der Überwindung einer die Materialität und Korporalität verlassenden Sinnkultur wieder. Michael Meyer-Blanck erkennt in dem Inszenierungsbegriff gerade deshalb eine besondere Chance zur Beschreibung des Gottesdienstes, weil es auch in ihm immer um mehr geht, als in der verfügbaren und darstellbaren Wirklichkeit ohnehin vorhanden und zuhanden ist: „Der Begriff der ‚Inszenierung‘ weist auf die Grundspannung evangelisch verstandenen Gottesdienstes, auf das Verhältnis von unverfügbarer Wirklichkeit und menschlich verantworteter dargestellter Wirklichkeit des Evangeliums, oder sehr viel einfacher: Der Begriff der ‚Inszenierung‘ beinhaltet eine gesteigerte Aufmerksamkeit für das Verhältnis von Inhalt und Form.“311

‚Inszeniert‘ wird etwas, was über das, was ohnehin vorhanden ist, hinausweist. Inszenierung hat immer auch mit einer bestimmten Absenz zu tun – und fragt danach, wie es gelingen kann, formale Arrangements und inhaltliche Bestimmung so ineinander zu halten, dass beide, Form und Inhalt, zu ihrem Recht kommen. 308

MEYER-BLANCK: Inszenierung des Evangeliums, 17. MEYER-BLANCK: Inszenierung und Präsenz, 9. – Ein wenig anders gelagert sind die Aspekte, die Ralph Kunz als immer wieder auftretende Anfragen angesichts des Versuchs, Gottesdienst und Theater miteinander in Beziehung zu setzen, benennt. Kunz erwähnt die Gefahr der Abdrängung der ‚Zuschauer‘ in eine rein passive Rezeptionshaltung und die Gefahr der Selbstgenügsamkeit der gelungenen Inszenierung, die das Eigentliche des Gottesdienstes, das NichtMachbare an den Rand zu drängen drohe (vgl. KUNZ: Gottesdienst evangelisch reformiert, 349f). 310 MEYER-BLANCK: Inszenierung des Evangeliums, 17. 311 MEYER-BLANCK: Inszenierung des Evangeliums, 18. 309

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

(zu 2): Damit ist das Entscheidende im Blick auf die zweite Infragestellung ebenfalls bereits gesagt: Der theurgische Einwand wäre selbstverständlich berechtigt, wenn denn tatsächlich versucht werden sollte, gottesdienstlich das Heilsgeschehen zu „reinszenieren und Gott herbei[zu]zwingen“.312 Entkräftet werden könne der Einwand aber dadurch, dass materialiter bestimmt wird, um welche Art der Inszenierung es gehe: die „Inszenierung des Evangeliums“; damit aber wird ein unverfügbares Kommunikationsgeschehen zum Inhalt der Inszenierung313 – und lässt in spezifischer Weise nach der Relation von Form und Inhalt fragen. Diese theologisch fokussierte Klärung des Inszenierungsbegriffs berührt sich mit dessen Verwendung in theaterwissenschaftlichem Kontext. „Inszenierung“ meint dort alles das, was eine „Aufführung“ (als gestaltete Form leiblicher Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern314) möglich macht, weswegen die beiden Begriffe Inszenierung und Aufführung deutlich voneinander unterschieden werden müssen. So schreibt Erika Fischer-Lichte: „Der Begriff ‚Inszenierung‘ umfaßt einen Plan, eine Konzeption, die ein Künstler oder mehrere gemeinsam erarbeiten und im Probenprozeß in der Regel ständig verändern […]. […] Auch wenn dieser Plan in jeder einzelnen Aufführung genau befolgt wird, so ist doch keine mit einer anderen identisch.“315 Bestenfalls lasse sich Inszenierung also „als der Prozeß beschreiben, in dem allmählich Strategien entwickelt und erprobt werden, nach denen was, wann, wo und wie vor den Zuschauern in Erscheinung treten soll.“316

Damit eignet jeder „Aufführung“ die Unverfügbarkeit, die sich aus der spezifischen Situation, dem Raum und der Wechselwirkung von Akteuren und Zuschauern (die im Laufe der Aufführung zu Mit-Akteuren werden!) ergibt. Inszenierung ist die Voraussetzung für das einmalige und unwiederholbare Ereignis der immer neuen Aufführung, das sich im Wechselspiel der Handelnden ergibt (im Blick auf den Gottesdienst wäre hier freilich noch Gott als der entscheidende ‚Mitspieler‘ in diesem Wechselspiel einzutragen).317 312

MEYER-BLANCK: Inszenierung und Präsenz, 9. Vgl. MEYER-BLANCK: Inszenierung und Präsenz, 9f. 314 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 47.58 u.ö. Vgl. auch die Minimaldefinition von Inszenierung bei Peter Brook: „Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen. Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles, was zur Theaterhandlung [act of theatre, AD] notwendig ist“ (BROOK: Der leere Raum, 9). 315 FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 82. 316 FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 325; vgl. insg. aaO., 318–332. 317 Gerade diese Unverfügbarkeit des Ereignisses des Gottesdienstes erscheint David Plüss als entscheidende Brücke, um den Begriff der „Inszenierung“ neuerlich liturgisch zu rezipieren; das „Kunstwerk Gottesdienst“ erweise sich „nicht als stabil strukturierte und als solche abbildbare 313

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In diesem Sinne also führt dieser Abschnitt des Kapitels den kulturwissenschaftlich-liturgischen Dialog fort: Es geht um die Frage nach Möglichkeiten der Inszenierung, die der Sehnsucht nach „Präsenz“, wie sie im ersten Teil des Kapitels erarbeitet wurden, entsprechen. Dazu scheint es mir nötig, den Präsenzbegriff, der auch liturgisch inzwischen weithin verwendet wird, zunächst genauer zu betrachten und zu klären (5.2.1). Im folgenden Unterpunkt spreche ich – in Aufnahme neuerer theaterwissenschaftlicher Stimmen – den Präsenzbegriff mit dem Begriff der Absenz zusammen (5.2.2) und befrage abschließend Brecht und Brook als zwei Praktiker und Theoretiker der Inszenierung daraufhin, wie in ihrer Inszenierungspraxis Aspekte von Präsenz und Absenz begegnen (5.2.3). Die liturgischen Folgerungen daraus werden im Anschluss abgeleitet (5.3). 5.2.1 Äquivoke Präsenz. Zur Klärung eines häufig verwendeten Begriffs Kaum ein Begriff hat in der liturgischen Diskussion der vergangenen Jahre eine derartige Karriere gemacht wie der Begriff der „Präsenz“. Vor allem Thomas Kabels „Liturgische Präsenz“ wurde zum Anziehungspunkt vieler Fortbildungen und gehört zum festen Programm zahlreicher liturgischer Ausbildungsgänge. Freilich fallen in der Konfrontation mit einem Präsenzbegriff, wie er in der philosophischen und kulturwissenschaftlichen Ästhetik entwickelt und im vergangenen Abschnitt vor Augen geführt wurde, nicht nur Nähen, sondern vor allem auch die Unterschiede auf, die zwischen der „Liturgischen Präsenz“ einerseits und dem kulturwissenschaftlich verankerten Präsenzbegriff andererseits bestehen. M.E. legt es sich nahe, in dem weiten Feld der Verwendung des Präsenzbegriffs zwei verschiedene Spielarten zu unterscheiden: Präsenz als professionelle Kompetenz einerseits, Präsenz als Ereignis der Rezeption. (1) Präsenz als professionelle Kompetenz: Der Begriff der Präsenz, mit dem Thomas Kabel operiert, lässt sich m.E. am besten als professionelle Kompetenz beschreiben. Es geht um eine bestimmte Art und Weise, wie der Liturg/die Liturgin ihre Rolle versteht und wahrnimmt. Es geht um ein Verhalten, das ‚stimmig‘ ist – in der doppelten Weise, dass es zu dem Ensemble der vorgegebenen liturgischen Codes und zugleich zu der ausfühGrösse, sondern immer nur als dynamische und flüchtige, empirisch-methodisch schwer zugängliche performative Vollzugseinheit“ (PLÜSS: Gottesdienst als Textinszenierung, 28). Vgl. auch aaO., 49–110, wo Plüss unterschiedliche theologische sowie kultur- und theaterwissenschaftliche Inszenierungsverständnisse vorstellt und kritisch untersucht. – Ein knapper und erhellender Überblick über die Verwendung des (erst seit dem 19. Jahrhundert gebräuchlichen) Inszenierungsbegriffs findet sich bei ROTH: Die Theatralität des Gottesdienstes, 24–30.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

renden Person ‚passt‘. So schreibt Helmut Wöllenstein im Vorwort zu Thomas Kabels „Handbuch Liturgische Präsenz“: „Es soll eine harmonische Stimmigkeit oder die größtmögliche Kongruenz zwischen der eigenen Intention und der Außenwirkung im Liturgischen Handeln erreicht werden.“318 Der Begriff der Präsenz wird mit dem liturgisch handelnden Subjekt, seiner Intention und Haltung sowie seinem konkreten Verhalten verbunden – freilich nicht so, als wäre der liturgisch Handelnde alleine relevant, sondern so, dass Intention, Haltung und Verhalten von anderen wahrgenommen und als störend oder stimmig empfunden werden („Außenwirkung im Liturgischen Handeln“). Versucht man, die verschiedenen Aspekte, die zu dem Präsenz-Begriff in Thomas Kabels „Liturgischer Präsenz“ gehören, analytisch zu differenzieren (was bei Kabel so nicht geschieht), so legt sich eine dreifache Unterscheidung nahe: (1) Präsenz als eigenes Gegenwärtigsein in der Situation: Es ist ein wahrnehmbares Phänomen in Gottesdiensten, gegen das Thomas Kabel arbeitet: Die liturgisch Handelnden wirken auf bestimmte Art und Weise ‚abwesend‘; sie grüßen beispielsweise die Gemeinde in der Salutation, denken dabei aber bereits an die Hinweise, die sie in der anschließenden freien Begrüßung zum Ablauf des Gottesdienstes weitergeben wollen – und stehen so der Sprechhandlung „Gruß“ mit ihrer inneren Abwesenheit im Weg. Sie lesen ein Gebet am Altar aus ihrem Ringbuch ab, ohne dabei aber selbst innerlich mitzubeten; sie segnen, überlegen dabei aber nicht ohne Verkrampfungen, wie ihre eigene Gestik jetzt wohl wirken könnte und ob sie nicht vielleicht die Arme noch etwas höher hätten heben oder die Hände anders anwinkeln sollen. Gegenüber solchen Momenten der inneren Abwesenheit und fehlenden Kongruenz zwischen Handeln, Denken und Empfinden will Kabel zu einer „Präsenz“ anleiten, die es ermöglicht, „‚im Moment da [zu] sein‘, ganz bei der Sache [zu] sein“.319 So fordert Kabel etwa für die Gestaltung des Eingangsteils, dass der Pastor selbst angekommen und bereit – und insofern: präsent – sein muss.320 Helmut Wöllenstein stellt heraus, dass in dieser Hinsicht nicht primär der eigene Wille, präsent zu sein, entscheidend werde, sondern es vor allem um die Gelassenheit eines „Sich-Hingeben[s] an den Fluss des Geschehens“ gehe.321 Dem erstgenannten Aspekt von Präsenz eignet dementsprechend ein hohes Maß an Nicht-Intentionalität, an Fähigkeit, sich einem Geschehen zu überlassen und so ‚drin‘ zu sein. (2) Präsenz als liturgische Haltung und Bewusstheit im Blick auf die eigene Absicht: Bei diesem Aspekt von Präsenz hat die Intentionalität ihren entscheidenden Ort – und vor allem hier geht es um das, was erlernbar und durch Arbeit an der eigenen Person

318

WÖLLENSTEIN: Vorwort, 12. KABEL: Handbuch Liturgische Präsenz, 17. 320 Vgl. KABEL: Handbuch Liturgische Präsenz, 37. 321 WÖLLENSTEIN: Vorwort, 13. 319

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 395 trainierbar ist.322 Auch von einer „optimale[n] Präsenz“ kann Kabel in diesem Zusammenhang sprechen.323 Entscheidend, so erneut Wöllenstein, sei die „Bewusstheit im Blick auf die eigenen Absichten“324; Kabel spricht bei Präsenz von einem „Oberbegriff für die Haltung im gesamten Gottesdienst als einem öffentlichen Auftritt“.325 Ausdruck findet dieser Aspekt der Präsenz in einem ausgeglichenen Verhältnis von Anspannung und Entspannung,326 in einem organischen Ineinander von „Stimme, Atem und Körper“.327 Voraussetzung seien Achtsamkeit, Konzentration und bewusster Umgang mit dem eigenen Körper.328 (3) Präsenz als Natürlichkeit bzw. Authentizität: Bei diesem letzten Aspekt des Präsenzbegriffs bei Kabel ist das Wechselspiel von eigener Person und liturgischer Rolle im Blick. Kabels ‚Feindbild‘, gegen das er arbeitet, ist die Unnatürlichkeit des ‚Pastoralen‘,329 der er „Lebendigkeit“, „Natürlichkeit und Wahrhaftigkeit“ entgegensetzt.330 Wenn mit dem Gegenbegriff des Pastoralen die eine Seite problematischer Abweichung bestimmt ist, so wehrt sich Kabel andererseits gegen die Dominanz des Persönlichen und Intimen – und möchte zur Entwicklung eines professionellen Rollenverständnisses verhelfen, das zwischen den Extremen der Intimität einerseits, der pastoralen Distanz andererseits liegt.331 Zu dieser Professionalität gehöre es, so Kabel im Blick auf die Predigt, ganz „bei sich selbst“ und ganz „im Thema“ zu sein – beides zugleich.332 Die Professionalität verbindet Kabel mit der Forderung nach Authentizität und spricht vom Schauspieler als Paradigma für den Pfarrer. Er schreibt: „Für Prediger und Schauspieler gilt es […] gleichermaßen zu unterscheiden, ob er authentisch in seiner Rolle handelt oder ob er nur etwas vorspielt.“333 Diese – in der Theaterwissenschaft heftig diskutierte und vielfach umstrittene – Forderung nach vollständiger (!) Identifikation mit der Rolle334 unterscheidet bei Kabel den guten vom schlechten Schauspieler (und Pfarrer): „Das entlarvt den schlechten Schauspieler, wenn man merkt, er macht etwas und er beobachtet sich selbst beim Spielen, er gefällt sich oder er hadert mit sich.“335 Die notwendige ‚Echtheit‘336 bleibe dabei auf problematische 322

Vgl. KABEL: Handbuch Liturgische Präsenz, 50. KABEL: Handbuch Liturgische Präsenz, 50. 324 WÖLLENSTEIN: Vorwort, 13. 325 KABEL: Handbuch Liturgische Präsenz, 18. 326 Vgl. KABEL: Handbuch Liturgische Präsenz, 50; ähnlich auch aaO., 163 [im Blick auf den Segen]. 327 KABEL: Handbuch Liturgische Präsenz, 50. 328 Vgl. KABEL: Handbuch Liturgische Präsenz, 163.185.268 u.ö. 329 Vgl. KABEL: Handbuch Liturgische Präsenz, 28. 330 KABEL: Handbuch Liturgische Präsenz, 18. 331 Vgl. KABEL: Handbuch Liturgische Präsenz, 104. 332 KABEL: Handbuch Liturgische Präsenz, 98. 333 KABEL: Handbuch Liturgische Präsenz, 108. 334 Vgl. KABEL: Handbuch Liturgische Präsenz, 108f; vgl. die Forderung, sich „ganz mit seiner Rolle zu identifizieren“ (aaO., 109). 335 KABEL: Handbuch Liturgische Präsenz, 108f. – Die Ausführungen von Kabel erinnern an Überlegungen zur Schauspieltheorie von Konstantin Stanislawski (1863–1938); vgl. dazu ROTH: Die Theatralität des Gottesdienstes, 187. 323

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Weise zurück. – Kabel fordert als Voraussetzung liturgischer Präsenz in diesem dritten Verständnis letztlich also eine mimetische Annäherung, ja Angleichung von Person und liturgischer Rolle im Sinne authentischer Echtheit. Die Frage, inwiefern Person und Rolle notwendig unterschieden werden müssen, reflektiert Kabel nicht näher.337

Bringt man Kabels Begriff von Präsenz ins Gespräch mit theater- und kulturwissenschaftlichen Verständnissen des Begriffs, so zeigen sich sowohl Nähen als auch Anfragen. Zunächst wird auch theaterwissenschaftlich der Begriff der Präsenz primär so diskutiert, dass damit die Frage nach der professionellen Kompetenz des Schauspielers/Darstellers im Kontext einer Aufführung und der dem336

Vgl. zu dem Begriff KABEL: Handbuch Liturgische Präsenz, 109. Spannend erscheint es mir an dieser Stelle, einen Blick auf Kabels Überlegungen zur Gestaltung des Abendmahls zu werfen. Dies kann hier nur in Form einer Anmerkung geschehen – und wird u.a. auch bei ROTH: Die Theatralität des Gottesdienstes, 187f, diskutiert. – Die Abendmahlsworte sollen – nach Kabel – „frei und auswendig gesprochen werden, ‚von ganzem Herzen‘ und wirklich aus der Seele kommend“ (KABEL: Handbuch Liturgische Präsenz, 126), womit sich theologisch schon an dieser Stelle die kritische und rhetorische Frage anschließen muss: Aber kommen sie denn wirklich von dort? Als Worte, die in der biblischen Tradition verankert sind und die verkündigend an die Gemeinde weitergegeben bzw. lobend Gott gegenüber neu laut werden (vgl. RASCHZOK: Der Streit um das Eucharistiegebet), haben die Worte sicher eine andere Provenienz als ausgerechnet das Herz des Liturgen. Genau dies aber zeigt die mimetisch-identifizierende Deutung, die Kabel hier vornimmt – an dieser Stelle nun als Identifikation des Liturgen mit der Christusrolle (eine Ansicht, die zudem deutlich an das katholische Verständnis des in der Messe agierenden Priesters erinnert). – Konsequent ist es, wenn Kabel im Weiteren vor allem für eine Durchführung der Abendmahlsliturgie plädiert, die auf die Handlungsebene konzentriert ist und so auch die Handlungen mitvollzieht, die dort genannt werden: Brot nehmen, brechen etc. Im Duktus der Abendmahlsworte nehme die Nähe zu dem Geschehen dann weiter zu: „[…] wir werden langsam darauf vorbereitet, unmittelbar an der Abendmahlsszene teilzunehmen“ (aaO., 135). Mit den Worten „gab’s seinen Jüngern und sprach“ sei der Rollenwechsel endgültig vollzogen: „Der Erzähler hat die Rolle gewechselt; es ist jetzt ein Charakter, der zu uns spricht“ (aaO., 136). Der Liturg wird zum Jesus-Mimen, der sich im Abendmahl mit der Jesus-Figur identifiziert. Damit fällt die Differenz, die durch die liturgische Rolle gesetzt ist, Kabel zufolge wenigstens idealiter weg. Sie löst sich nun aber nicht in die Richtung der authentisch-natürlichen Person des Liturgen/der Liturgin auf, sondern in die Richtung der Jesus-Rolle – eine Problematik, die im Folgenden näher diskutiert werden soll. – An dieser Stelle verweise ich nur kurz auf das katholische Konzept von Werner Hahne, der ebenfalls von einer Jesus-mimesis sprechen kann – bezeichnenderweise allerdings nicht so, dass der agierende Priester zum Jesus-Mimen für die Gemeinde wird, sondern dass die Gemeinde insgesamt in eine nachahmende Jesus-Darstellung, ja mehr: GottesDarstellung (!) hineingeführt wird (vgl. HAHNE: De arte celebrandi, bes. 375f). Das Ziel des „mimetisch darstellende[n] Tun[s]“ liegt für Hahne darin, „zu einer intimen Kenntnis Gottes durch Christus im Heiligen Geist und damit zur liebend-leidenden Vereinigung mit dem dreifaltigen Gott [zu gelangen], aus der von Gott her das neue Leben als die neue Schöpfung gezeugt werden kann und wird“ (aaO., 379). Diese letztlich mystische Konzeption, die die unio mit Gott zum Ziel der Liturgie erklärt, die Ein-bildung des Gottesbildes in die Gläubigen, entspricht der Lutherschen Konzeption gerade nicht. Hier geht es, wie oben gezeigt, im Gegenteil um die bleibende Distanz von Gott und Mensch, die im Wort nur so überwunden wird, dass sie zugleich aufrechterhalten bleibt. 337

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entsprechenden Wirkung auf die Rezipierenden im Blick ist. Erika FischerLichte untersucht „Präsenz“ im Kontext ihrer Überlegungen zur Körperlichkeit in Aufführungen und unterscheidet dabei drei Präsenzkonzepte: – Das schwache Präsenz-Konzept versteht Präsenz als „bloße Anwesenheit des phänomenalen Leibes des Akteurs“338; – das starke Präsenz-Konzept sieht Präsenz demgegenüber als „intensive Erfahrung von Gegenwart“ durch die „Beherrschung des Raumes durch den Akteur und die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf ihn“.339 ‚Stark‘ ist es also in dem Sinne zu nennen, dass es über die phänomenal wahrnehmbare bloße Gegenwart eines körperlich Anwesenden hinausgeht und in der Lage ist, Aufmerksamkeit zu ‚bannen‘. – Schließlich stellt Fischer-Lichte ein radikales Konzept von Präsenz vor, das nochmals über die starke Präsenz hinausweist, da hier nicht nur Aufmerksamkeit des Zuschauers fokussiert wird, sondern der Zuschauer in einer Art und Weise in die Präsenz hineingezogen wird, dass er selbst ‚präsent‘ wird – und d.h. für Fischer-Lichte: dass er sich momenthaft in seiner körperlich-geistigen Ganzheit wahrnimmt. In ihren eigenen Worten: „In der Präsenz des Darstellers erfährt und erlebt der Zuschauer den Darsteller und zugleich sich selbst als embodied mind, als dauernd Werdenden, die zirkulierende Energie wird von ihm als transformatorische Kraft […] wahrgenommen.“340 Die eingeübte und problematische Körper-Geist-Dichotomie breche bei diesem Verständnis von Präsenz zusammen.341

Letztlich ist für Fischer-Lichte das dritte, radikale Konzept das eigentlich spannende. In dieser Art von Präsenz realisiere sich die Kraft der Transformation, die die problematische Dichotomisierung der Welt (Körper vs. Geist) durchbricht und der „Wiederverzauberung der Welt“ entgegenkommt. Gleichzeitig ist es dieses radikale Präsenz-Konzept, das über den Aspekt der professionellen Kompetenz deutlich hinausweist. Es zielt auf eine transformative Erfahrung in der Rezeption des durch den Darsteller Gezeigten, die die Unterscheidung von betrachtendem Subjekt und dargestelltem und wahrgenommenem Objekt hinter sich lässt. Es lässt sich fragen, ob Thomas Kabels Ansatz einer „Liturgischen Präsenz“ in Fischer-Lichtes Terminologie nicht primär den Versuch unternimmt, liturgisch Agierende von der ‚schwachen‘ hin zur ‚starken‘ Präsenz zu führen, von einem wenig Aufmerksamkeit bindenden, sondern schlicht anwesenden ‚Körper‘ hin zu einem die Wahrnehmung fokussierenden Körper. In Thomas Kabels Liturgischer Präsenz Geschulte können als großes Lob an einen liturgisch Agierenden im Gottesdienstnachgespräch z.B. formulieren: „Du warst unglaublich präsent!“ Gemeint wäre mit diesem Satz 338

FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 163. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 166. 340 FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 171. 341 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, 171. 339

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am ehesten das, was Fischer-Lichte als ‚starke‘ Präsenz beschreibt. Nicht selten kann sie sich mit der Feststellung verbinden, der Liturg sei „sehr authentisch“ oder „ganz natürlich“ gewesen. Was bei dieser Art von Rezeption noch zu wenig Beachtung findet, ist: – die von Fischer-Lichte unter dem Stichwort der radikalen Präsenz verhandelte Rezeptionsweise ‚sich ereignender‘ Präsenz im Wechselspiel von Zuschauer und Akteur, – die von Wöllenstein betonte Gelassenheit eines Sich-Hingebens an die liturgische Situation sowie – die Frage nach Rolle vs. Authentizität, die im Präsenzbegriff Thomas Kabels schillernd bleibt. Mit dem Begriff der „Authentizität“ verhält es sich – cum grano salis – umgekehrt, als dies bei dem Begriff der „Inszenierung“ der Fall ist. Letzterer hat es – wie kurz gezeigt – schwer, sich in liturgischem Kontext zu etablieren, ist hingegen in kultur- und theaterwissenschaftlichem Kontext völlig unumstritten – so unumstritten jedenfalls wie ein handwerklicher Begriff eben sein kann. Authentizität hingegen erfreut sich in theologisch-kirchlichen Zusammenhängen meist hoher Popularität. Es gilt als pastorale Tugend, authentisch zu sein – sicher eine Folge der durch die Seelsorgebewegung intensiv betonten „Echtheit“ als professioneller Tugend im seelsorgerlichen Kontakt in Anlehnung an die „Kongruenz“ in der Gesprächspsychotherapie von Carl R. Rogers. In kulturwissenschaftlicher Perspektive hingegen wird „Authentizität“ nicht selten kritisch hinterfragt. Berühmt und viel zitiert wird Richard Sennetts Begriff der „Tyrannei der Intimität“, den dieser bereits in seinem 1977 erstmals im amerikanischen Original und 1986 in deutscher Übersetzung erschienenen Buch „The fall of public man“ einführte. Der Soziologe Sennett untersucht darin das Verhältnis von Privatem und Öffentlichem seit dem 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Sein Ergebnis: Das Private überlagert mehr und mehr das Öffentliche und verändert das Verhalten von Menschen im öffentlichen Raum, genauer: Sie werden dazu gedrängt, ein spezifisches öffentliches Rollenverhalten, das etwa im 18. Jh. im öffentlichen Raum noch völlig üblich war, aufzugeben und auch auf der Straße ‚ganz sie selbst‘ zu sein. Es komme zur „Tyrannei der Intimität“ als eine logische Konsequenz des Verlusts der Möglichkeit eingeübten Rollenverhaltens.342

342

Vgl. SENNETT: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, 424 und passim.

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Auch Josef Früchtl und Jörg Zimmermann nehmen – ähnlich wie Sennett – eine wesentliche Verschiebung in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts wahr. Die beiden Autoren erkennen, dass zu dieser Zeit auch der im 17. Jahrhundert erstmals belegte Begriff der „Authentizität“ intensiver verwendet wurde – zu einer Zeit also, als man die Differenz zwischen öffentlichem Auftreten und wirklichem Fühlen als Problem empfand.343 Früchtl und Zimmermann werten den Begriff der „Authentizität“ als problematisch. Beide erkennen, dass es eine Unausweichlichkeit der Inszenierung gibt; in Abwandlung eines bekannten Diktums von Paul Watzlawick ließe sich sagen: Man kann nicht nicht inszenieren. Die Folge: Wer jenseits der Permanenz der Inszenierung nach Authentizität suche, der greife nach einem „verblassende[n], metaphysikbehaftete[n] Gegenbegriff von ‚Inszenierung‘“,344 einem Begriff, der sich sozusagen auf der Suche nach dem ‚Wesen‘ bzw. dem ‚Eigentlichen‘ einer Person befinde, dabei aber deren ständige Kontextualität ausblenden müsse. Folgt man dieser Linie der Argumentation, so wäre die Forderung nach Authentizität in ihrer Unmöglichkeit noch einmal potenziert, und die „Tyrannei der Intimität“ verwandelte sich in eine „Tyrannei der geforderten, aber niemals erreichbaren Authentizität“. Von diesen Überlegungen zurück zur liturgischen Ausgangsfrage: Führt die durch Kabel angestoßene intensive Rezeption des Präsenz-Begriffs im Blick auf die pastorale Professionalität tendenziell zu einer „Tyrannei der Intimität“ oder (aussichtslos erstrebten) Authentizität im (evangelischen) Gottesdienst? Verschwindet auch hier der ‚öffentliche Raum‘, den der Gottesdienst eigentlich bietet, zugunsten einer Veranstaltung, in der sich das ‚Private‘ und vermeintlich ‚Authentische‘ mehr und mehr als dominierend erweist? Der vielfach empfundene Druck auf liturgisch Agierende, sich im Gottesdienst als besonders authentisch, natürlich, persönlich zu zeigen, und das auf manchen lastende und in vielen Studien als Phänomen bestätigte Gefühl, es hänge vor allem von ihrer Person ab,345 ob die Menschen zum Gottesdienst kommen oder nicht, könnte Symptom eines in seiner Konsequenz negativen, sich aber positiv aufschaukelnden Regelkreises sein, in dem der Wunsch des Liturgen nach Authentizität eine bestimmte Erwartungshaltung der Gemeinde provoziert und steigert. In dieser Hinsicht scheint es mir wichtig, die – wie gezeigt – etwas unklaren Äußerungen Kabels zu Natürlichkeit und Authentizität im Kontext liturgischer Präsenz zu präzisieren. Knapp hat dies Michael Meyer-Blanck getan, der Präsenz als „die durch das Bewußtsein des Inszenatorischen ge343

Vgl. FRÜCHTL/ZIMMERMANN: Ästhetik der Inszenierung, 23f. FRÜCHTL/ZIMMERMANN: Ästhetik der Inszenierung, 19. 345 Vgl. DREHSEN: Vom Amt zur Person; vgl. dazu auch ROTH: Die Theatralität des Gottesdienstes, 185–187. 344

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

brochene Authentizität“346 definiert und damit das Rollen- und Inszenierungsbewusstsein betont. „Immer […] meint Präsenz, daß die Person ganz da ist, aber nicht als Privatperson, sondern in ihrer Funktion, in der didaktischen, liturgischen oder poimenischen Inszenierung.“347 Dieses Rollenbewusstsein schützt beide: die agierenden Liturginnen und Liturgen ebenso wie die Gemeinde. Sie entlastet vor Originalitätsdruck und Intimitätstyrannei und sollte davor bewahren, dass sich das ‚starke Subjekt‘ des Liturgen in der Liturgie so in den Vordergrund schiebt, dass es durch ‚starke Präsenz‘ im Sinne Fischer-Lichtes vor allem seinem eigenen Narzissmus zuarbeitet, nicht aber dem Gott-menschlichen Wortwechsel, um den es im Gottesdienst nach lutherischem Verständnis gehen sollte.348 Im Sinne dieses Rollenbewusstseins wäre von liturgischer Kompetenz m.E. primär als von der Kompetenz zur Selbstzurücknahme zu sprechen.349 Um der mit dem Begriff der Liturgischen Präsenz wohlgemerkt nicht intendierten (!), aber möglichen und naheliegenden Gefahr einer zu starken Zentrierung der Feier auf das handelnde Subjekt des Liturgen zu entgehen, schiene es mir hilfreich, von Liturgischer Medialität zu sprechen und so die pastoralliturgische Herausforderung zu benennen (Kap. 5.3.2). Theologisch interessant erscheint es mir, dass sich bei Kabel teilweise ein anderes Verständnis von Präsenz andeutet, das allerdings nicht näher mit dem ansonsten primär verfolgten Präsenzbegriff vermittelt wird. So betont Kabel die „reale Gegenwart Jesu Christi“ im Abendmahl – und bemerkt darauf hin: „Hier geschieht eine Präsenz, aus der sich unsere liturgische Präsenz ableitet und aufbaut.“350 Wäre dies tatsächlich der Fall, so müsste m.E. die Gebrochenheit der liturgischen Präsenz, wie sie eben im Ausgang von Meyer-Blanck betont wurde, in dem Ansatz noch stärker unterstrichen und mit den weiteren Verständnissen von Präsenz vermittelt werden – vor allem mit der Figur der Gelassenheit des Sich-dem-Geschehen-Überlassens, die Wöllenstein in seinem Vorwort betont, die auch Kabel erwähnt und die oben als erste Dimension der Präsenz vorgestellt wurde.

346

MEYER-BLANCK: Inszenierung und Präsenz, 12. MEYER-BLANCK: Inszenierung und Präsenz, 12. 348 Wollte man den oben zitierten Satz eines möglichen Gottesdienstnachgesprächs, in dem jemand sagt „Du bist präsent gewesen“ in dieser Hinsicht theologisch stimmiger verwenden, so wäre er als ein doxologisch preisender Satz zu lesen, dessen Adressat niemand anders als Gott selbst sein müsste. 349 Götz Harbsmeier spricht in seinem Aufsatz „Predigen unter dem Leistungsdruck der Zeit“ von dem „Loskommen von sich selbst“ als von einer heilsamen Entlastung (hier: für den Prediger). Es bedeute nämlich auch, dass dieser von dem Druck der Leistung entlastet und zu einem neuerlichen Vertrauen in das ihn tragende Wort geführt werde (HARBSMEIER: Predigen unter dem Leistungsdruck der Zeit, 343). 350 KABEL: Handbuch Liturgische Präsenz, 146. 347

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(2) Präsenz als Ereignis der Rezeption: Das Verständnis von Präsenz als professioneller Kompetenz musste ausführlicher zu Wort kommen und diskutiert werden, da es in dieser Erarbeitung bislang nicht thematisch war. Anders verhält es sich mit dem Verständnis von Präsenz als Ereignis der Rezeption. Damit nämlich ist der Präsenzbegriff aufgerufen, der in den kulturwissenschaftlichen Erkundungen bereits bei Gumbrecht und Seel, Mersch und Fischer-Lichte greifbar war. Gumbrecht versteht Präsenz als besonderes, nicht primär zeitliches, sondern „räumliches Verhältnis zur Welt und zu deren Gegenständen“351. Ihn interessiert besonders die Hervorbringung solcher Präsenz, die er mit dem Stichwort der „Produktion von Präsenz“ beschreibt; diese stehe für „alle möglichen Ereignisse und Prozesse, bei denen die Wirkung ‚präsenter‘ Gegenstände auf menschliche Körper ausgelöst oder intensiviert wird.“352 Es geht Gumbrecht also um (räumliche) Gegenwart und deren Wirkung im Kontext ihrer Wahrnehmung. Die beiden Aspekte der Gegenwart einerseits, ihrer Rezeption andererseits, die miteinander verschränkt und untrennbar verbunden sind, gehören in dem hier zu beschreibenden zweiten Verständnis von „Präsenz“ zusammen. Gemeint ist ‚etwas‘, das „in Erscheinung tritt“, sich ‚offenbart‘.353 Dieter Mersch würde auch diese Beschreibung insofern noch als problematisch empfinden, da sie ein Subjekt-Objekt-Gegenüber noch denken lässt (ein Subjekt, das sich zu einem ‚etwas‘ verhält). Demgegenüber betont er, es gehe überhaupt nicht um ein „Etwas“, sondern um ein „Ereignen“,354 um die „Aura“, die „geschieht“355. Vor allem auf Kunstwerke bezogen spricht Martin Seel von „genuine[n] Ereignisse[n] des Erscheinens“.356 Und bei Erika Fischer-Lichte deutet sich – wie gezeigt – in der Begrifflichkeit der radikalen Präsenz eine (hier auf die Theateraufführung bezogene) Erscheinungsweise an, in der die Rezeption als transformierendes Ereignis beschrieben wird. Kurz gesagt: Es geht bei Präsenz um die Gegenwart von Personen oder Dingen, die im Blick auf den Vorgang der Rezeption als Geschehen oder Ereignis wahrgenommen wird, auf das Rezipienten reagieren. Die Doppelbegrifflichkeit des Pathisch-Responsiven nach Bernhard Waldenfels beschreibt diese Präsenzphänomene zutreffend. Gleichzeitig ist damit klar, dass mit dieser Präsenz eine spezifische Absenz verbunden ist: das Ereignis ist flüchtig, vergänglich, nicht einfach wiederholbar.

351

GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 11. GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 11. 353 GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik, 101. 354 MERSCH: Ereignis und Aura, 28. 355 MERSCH: Ereignis und Aura, 143. 356 SEEL: Ästhetik des Erscheinens, 48. 352

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Auf die liturgische Diskussion übertragen ist mit diesem Präsenzbegriff erheblich mehr im Blick als die Frage, wie die liturgisch Agierenden sich im Kontext des Gottesdienstes so verhalten, dass es möglichst ‚stimmig‘ zu ihnen selbst und zum Inhalt des Gottesdienstes passt. Es ist vielmehr die Frage aufgerufen, wie sich im Gottesdienst etwas ereignen kann, was als diese „Präsenz“ erfahren wird, die theologisch als die Gegenwart des dreieinigen Gottes in, mit und unter den Worten und Handlungen der Liturgie beschrieben werden muss. Mit der Unterscheidung von zwei Richtungen, in denen Präsenz gegenwärtig verstanden werden kann, ist nicht gesagt, dass beide Aspekte trennscharf zu differenzieren wären. Im Gegenteil macht gerade das Ineinanderverflochtensein eines Präsenzverständnisses im Sinne der personalen Kompetenz einerseits und eines Präsenzverständnisses im Sinne des Rezeptionsereignisses andererseits die liturgische (und auch theatrale) Kommunikation aus. Nur in, mit und unter den leiblich ko-präsenten Akteuren ereignet sich die liturgische Kommunikation. In diesem Zusammenhang können sich dann unterschiedliche Wechselwirkungen zwischen den beiden genannten Präsenzkonzepten ergeben. So ist durchaus ein negativer Regelkreis denkbar: Je ‚präsenter‘ ein Liturg im Sinne der starken Präsenz Fischer-Lichtes ist, desto eher droht er der Präsenz im zweiten genannten Sinn entgegenzuarbeiten. Je deutlicher das die Intimität und persönliche (!) Authentizität brechende Rollenbewusstsein des Liturgen ausgeprägt ist, umso eher steht er der Präsenz im zweiten genannten Verständnis nicht im Weg. Um die Näherbestimmung dieser Präsenz durch den Begriff der Absenz geht es im folgenden Abschnitt. Wenigstens kurz sei aber noch erwähnt, dass im (evangelischen) Gottesdienst sehr unterschiedliche Weisen von liturgischer Präsenz im Spannungsfeld von persönlicher Authentizität und Rollenbewusstsein gefragt sind. Sie changieren bereits in kleinen liturgischen Sequenzen: So gehört das Votum zu Beginn des Gottesdienstes mit anschließender Salutation zum liturgischen Rollenhandeln und kann nur so in seinem Charakter als deklaratorische ‚Herbeirufung‘ („Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes …“) und liturgischer Gruß verstanden werden. Die persönliche Begrüßung, die sich dem häufig anschließt, setzt hingegen eine andere liturgische Rolle voraus, die sehr viel näher an dem Pol der persönlichen Authentizität liegt (ohne auch hier intim zu werden!). Problematisch wäre es, die beiden zu vermischen – wie es nicht selten geschieht, wenn das Votum nicht mehr die ersten Worte des Gottesdienstes bildet, sondern eher informierend an die persönliche Begrüßung angehängt wird, die dann z.B. wie folgt endet: „Und so grüße ich Sie alle nochmals herzlich zu diesem Gottesdienst, den wir feiern im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Thomas Kabel hat zu Recht auf die Möglichkeit unterschiedlicher Handhaltungen für Votum und Salutation einerseits (Hände und Arme in liturgischer Grundhaltung), freie Begrüßung (Hände und Arme im mittleren Raum) an-

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 403 dererseits hingewiesen, um die notwendige Differenz auch gestisch zu unterstreichen. Was bereits für die Eingangssequenz gilt, wiederholt sich im Lauf der Liturgie noch öfter – und wird besonders im Kontext der Predigt neuerlich entscheidend. Die Forderung nach einem radikalen Zurücktreten der Person hinter die Rolle des das Kerygma verkündigenden Predigers, wie sie in Folge der Wort-Gottes-Theologie gefordert werden konnte, hat sich als illusorische Ausklammerung der Person aus dem kommunikativen Redekontext erwiesen. Die umgekehrte Tendenz zu einer (ungefiltert) „persönlichen Predigt“ erwies sich als notwendige Umkehrbewegung, konnte aber neuerlich zu Einseitigkeiten führen. Sicher befindet sich die homiletische Rolle sehr viel näher an dem Pol der persönlichen Authentizität, als dies für die liturgische Rolle etwa im Kontext von Votum und Salutation gilt.357 Aber wenn sie vergisst, dass auch sie eine homiletische Rolle ist, in der das ‚Subjekt‘ des Predigers eine dienende Funktion hat gegenüber dem eigentlichen ‚Subjekt‘ der Rede, die dogmatisch als „Gottes Wort“ bestimmt werden kann, wird die Predigtkommunikation auf wesentliche Weise beeinträchtigt.

5.2.2 Präsente Absenz. Zur Darstellung des Nicht-Darstellbaren „Gott ist gegenwärtig“ (EG 165,1) – dieser Satz verweist auf eine Erfahrungsdimension im Geschehen des Gottesdienstes (und selbstverständlich auch über den Gottesdienst in der liturgisch engeren Bedeutung des Wortes hinaus), die nicht selbst gemacht, nicht theurgisch erzwungen werden kann, sondern sich vielmehr einstellt – kairologisch, kontingent, ephemer. Sie entspricht damit strukturell – wie gezeigt – dem kulturwissenschaftlich gefüllten Reden von Präsenz im gegenwärtigen Diskurs. Bemerkenswert erscheint, dass sowohl kirchlich-theologische als auch kulturwissenschaftliche Reflexionen gegenwärtig nicht selten von Präsenz reden – ja, sogar von einer regelrechten Sehnsucht nach Präsenz lässt sich m.E. nicht ohne Übertreibung sprechen. In theologischen Kontexten ist demgegenüber das ‚negative‘ Pendant zur Präsenz, die Absenz, weit weniger Gegenstand der Überlegungen, als dies in kulturwissenschaftlichem Kontext der Fall ist. In Andeutungen habe ich bereits mehrfach darauf verwiesen, dass die Erfahrung von Abwesenheit notwendig und bleibend jede Präsenzerfahrung begleitet. So beschreibt Dieter Mersch die Erfahrung des Auratischen so, dass sie in eine Differenz zum Gewohnten setzt und so ein „Abwesen im Anwesen“ bedeutet: 357

Vgl. dazu auch BARTH: Internet oder authentisches Zeugnis, bes. 266. Barth fordert vom Prediger „ein hilfreiches persönliches Zeugnis“ (ebd.), spricht in diesem Kontext auch von Authentizität – und grenzt sich damit von der seiner Wahrnehmung nach zunehmenden Tendenz von Pfarrerinnen und Pfarrern ab, auf das Internet als Quelle von Predigtideen und ganzen Predigten zurückzugreifen.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

„[…] wie im Zeichen die Anwesenheit einer Abwesenheit liegt, so ereignet sich im Auratischen ein Abwesen im Anwesen, die Entfremdung in ein Anderes, Fremdes, das heißt: Fremdwerden als Abständigkeit, als Heraufkunft von Differenz.“358

Und Josef Früchtl und Jörg Zimmermann betonen, dass jede Inszenierung ganz selbstverständlich und „erkenntnisntheoretisch konstitutiv“ durch „das bipolare, ‚dialektische‘ Verhältnis von Anwesendem und Abwesendem, von Gegenwart und Nichtgegenwart“ bestimmt ist.359 Jede Inszenierung weist über sich hinaus. Der an sich ‚banale‘ Sachverhalt, dass in der gestalteten Zeit der Inszenierung immer etwas ‚wirklich‘, präsent wird, was so nicht einfach ‚da‘ ist, sondern als fremdes und anderes Geschehen absent bleibt, sei an einem Beispiel erläutert: Im Theater der Klein- oder Großstadt XY an einem Samstagabend im 21. Jahrhundert werden Schillers „Räuber“ geboten, wodurch das Geschehen um das Brüderpaar Karl und Franz Moor aus dem späten 18. Jahrhundert für die Zeit der Aufführung Präsenz gewinnt – und doch absent bleibt. Die Frage, inwiefern das Moment der Präsenz betont oder die Absenz fokussiert wird, wird sowohl in der Theaterwissenschaft theoretisch diskutiert als auch bei jeder einzelnen Theaterinszenierung praktisch gestaltet. Dabei spielt die Frage nach den Schauspielern und ihrem Agieren, nach dem Bühnenbild und seiner Bedeutung, nach der Aufnahme von Musik oder Effekten, nach der Rolle der Zuschauerinnen und Zuschauer bzw. nach dem Umgang mit der Textvorgabe eine Rolle.

Eine Definition von Inszenierung, wie sie sich etwa bei Martin Seel findet, wonach Inszenierung „öffentliches Erscheinenlassen von Gegenwart“ bedeutet,360 betont somit nur die eine Seite dessen, was bei jeder Inszenierung unweigerlich auch geschieht: Sie verweist auf Absenz, sei es im schlicht zeichentheoretischen Sinn, dass Anderes als das Dargestellte aufgerufen wird, sei es im umfassender anthropologischen Sinn, wie er sich bei Dieter Mersch zeigt, wonach sich durch das „Abwesen im Anwesen“ ein Anderes und Fremdes ‚meiner selbst‘ ereignet. „Gott ist gegenwärtig“ (EG 165,1) – die Möglichkeit dieser Erfahrung ist die Verheißung, die über dem Leben des Menschen in einer von Gott durchdrungenen Welt („Luft, die alles füllet, drin wir immer schweben, aller Dinge Grund und Leben …“; V. 5) und insbesondere über dem Gottesdienst steht. Sie ist aber – dies macht Tersteegens Lied deutlich – nicht einfach substanzialistisch-ontologisch gültig (etwa im Sinne eines spätmittelalterlichen „est“ in der transsubstantialistischen Abendmahlsauffassung). 358 MERSCH: Ereignis und Aura, 147 [Hervorhebung AD]; vgl. ähnlich KOLESCH: Ästhetik der Präsenz, 262, die Präsenzerfahrungen „an Erfahrungen der Fremdheit, des Entzugs und des Mangels“ bindet, und vgl. Gumbrecht, der von „Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absenz“ spricht (GUMBRECHT: Produktion von Präsenz, 63 [Titel]). 359 FRÜCHTL/ZIMMERMANN: Ästhetik der Präsenz, 22. 360 SEEL: Inszenieren als Erscheinenlassen, 56 [im Original hervorgehoben].

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 405

Sie wird vielmehr dort zur Erfahrung, wo Gottes Geist selbst sie wirkt. Tersteegens „Gott ist gegenwärtig“ gipfelt daher in der Bitte: „Herr, komm in mir wohnen […]; komm, du nahes Wesen […]. Wo ich geh, sitz und steh, lass mich dich erblicken […]“ (V. 8). Damit aber steht die Erfahrung der „Präsenz“ Gottes in der Signatur bleibender Absenz.361 Sie entzieht sich jeder Verfügbarkeit, sie bleibt kontingent. Im Gottesdienst der Gemeinde geht es um mehr als um das, was sich sichtbar ereignet, um mehr als das horizontale Miteinander von Menschen, um mehr als sinnkulturell gewichtige Deutungen – es geht um die Vertikale des Gott-menschlichen Miteinanders in, mit und unter der Gemeinschaft der Feiernden. Es geht um mehr als um die Verlesung von Worten aus einem alten Buch – es geht um das Hören des Wortes Gottes in, mit und unter den Buchstaben des Bibelwortes. Es geht um mehr als Brot und Wein – es geht um Leib und Blut Christi in, mit und unter den Gaben des Abendmahls. Und damit gilt: Die ‚horizontale‘ Inszenierung von Gemeinschaft, kulturellen Werten und religiösen Zeichen steht unter der Verheißung der Gottespräsenz, die sich aber eben dieser Inszenierung entzieht. Es gilt für den Gottesdienst, was Dieter Mersch für das Ereignis in Performances schreibt: „Das Ereignis, wiewohl ein Gemachtes, ist doch kein Machbares. Geplant, ist es gleichwohl nichts Planbares; konstruiert, ist es dennoch nichts Konstruierbares. Es schafft sich, vollbringt sich.“362 Auf diesem Hintergrund sollte die Theologie und vor allem die Liturgik ihr besonderes Interesse an der Präsenz mindestens erweitern und die Figur der Absenz in ihre Überlegungen einbeziehen. Kulturwissenschaftlich und vor allem theaterwissenschaftlich lässt sich gegenwärtig die Tendenz wahrnehmen, Abwesenheit neu in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Ich zeige dies, indem ich auf die beiden Theaterwissenschaftler Gerald Siegmund und Günther Heeg zu sprechen komme. (1) Im Jahr 2006 legte Siegmund seine Habilitationsschrift mit dem schlichten Haupttitel „Abwesenheit“ vor. In ihrem Zentrum steht eine Analyse neuerer Formen des Tanztheaters, wie Siegmund sie bei William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy und Meg Stuart wahrnimmt. Dazu entwickelt 361

In der Feier- bzw. Gestaltungsseite des christlichen Glaubens spiegelt sich damit, was in der dogmatischen Denktradition als Figur der negativen Theologie bekannt ist. Die Grenze des Verstehens und die Grenze jeder Anschauung wird zur Basis eines neuen und anderen Verstehens. Vgl. SCHWARTZ: Über den (missverstandenen) göttlichen Namen; vgl. auch MAUZ: Ceci n’est pas un Messie, 163: „Anders als andere Disziplinen kann die Theologie das Nichtverstehen nicht nur besser integrieren, sie ist auf es angewiesen, um sich selbst als Theologie nicht auszulöschen. In theologischen Zusammenhängen wird Nichtverstehen nicht nur nicht vermieden, sondern gesucht.“ 362 MERSCH: Ereignis und Aura, 234.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Siegmund ein ästhetisches Wahrnehmungsraster, das ihn auch zu einer kritischen Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Theorien der Performance und Präsenz führt. Ich stelle im Folgenden (a) seinen Ausgangspunkt in phänomenologischer und theoretischer Hinsicht vor und konturiere dann (b) die neue Ästhetik der Abwesenheit, für die Siegmund plädiert: (a) Gerald Siegmund geht einerseits von der – auf den ersten Blick durchaus bemerkenswerten – Beobachtung aus, dass in immer mehr neueren Inszenierungen des Tanztheaters kaum noch getanzt werde. Vielmehr werden Körper in unterschiedlichen Konstellationen ‚ausgestellt‘.363 Es komme zu einem Tanztheater ohne Tanz, damit aber zu dem Phänomen, dass gerade dadurch der Körper der Tänzer einerseits neues Gewicht erhalte und die Aufmerksamkeit auf sich ziehe, andererseits die gesamte Aufführung über sich hinausweise auf ein Jenseits des Dargestellten.364 Es ereigne sich eine Verfremdung365 – allerdings nicht als epische Verfremdung im Sinne Brechts (5.2.3.1), sondern als Ausfall des Tanzes im Tanztheater zugunsten einer anderen ‚Gegenwart‘, die sich nur als präsente Absenz beschreiben lasse. Neben diese Beobachtungen im gegenwärtigen Tanztheater tritt bei Siegmund eine Analyse der aktuellen theaterwissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Literatur. In dieser erkennt er ein problematisches Übergewicht der Figur der Präsenz: „Präsenz […] hat Konjunktur […].“366 Und zwar ein Präsenzkonzept, das mit einer „oft uneingestandene[n]“ „Vorstellung einer religiös grundierten Realpräsenz“ koinzidiere367 und alles Gewicht auf den „erfüllten Gegenwartsmoment“ lege.368 Das Theater werde so zu einem Weg, die verdinglichte Art und Weise des Zugangs zur Welt in der – nach Siegmund – kapitalistisch überformten Subjekt-Objekt-Spaltung (der Konsument als vermeintlich freies Subjekt steht den Produkten als Objekt gegenüber!), zu überwinden, indem es Erfahrungen der Präsenz ermöglicht, die sonst unerschwinglich, aber in der Mediengesellschaft begehrt sind. Das Problem liegt nach Siegmund (und hier schließt er sich an die Analysen zur „Gesellschaft des Spektakels“ von Guy Debord aus den

363

Vgl. SIEGMUND: Abwesenheit, 9f. Vgl. hierzu vor allem SIEGMUND: Abwesenheit, 115–170, wo Siegmund anhand von Selbstbeschreibungen von Tänzern und Tänzerinnen die Frage nach der Bedeutung des Körpers in den Mittelpunkt rückt. 365 Der Begriff der „Verfremdung“ erscheint mir an dieser Stelle hilfreich; er wird von Siegmund nicht explizit in inszenierungstheoretischer Perspektive verwendet und spielt in seinen Überlegungen keine Rolle. 366 SIEGMUND: Abwesenheit, 22. 367 SIEGMUND: Abwesenheit, 22. 368 SIEGMUND: Abwesenheit, 26 [in der Darstellung des Ansatzes von Gumbrecht]. 364

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1960er Jahren an369) darin, dass das Präsenz bietende Theater in der Mediengesellschaft von dem Konsumparadigma so umfangen zu werden droht, dass es selbst nur ein weiteres Objekt in der Angebotspalette der Konsumwelt wird, zu der Präsenz-hungrige Subjekte greifen können, wenn sie dazu das Bedürfnis verspüren.370 Das, was „als Heilmittel und Gegengift gegen die Entfremdung der Gesellschaft des Spektakels“371 gesucht werde, verwandle sich selbst in ein Rädchen ebendieser Maschinerie der Spektakelproduktion. – Der Widerspruch zwischen dem, was Siegmund in der gegenwärtigen Landschaft des Tanztheaters vielfach beobachtet, und dem, was sich in der theoretischen Literatur mit ihrem Fokus auf „Präsenz“ greifen lasse, führt ihn dazu, eine Ästhetik der Abwesenheit zu konzipieren, die das, was das Tanztheater der Gegenwart bietet, besser beschreiben kann als die herkömmlichen Präsenz-versessenen Darstellungen. (b) Dabei ist es für Siegmund entscheidend, keine neuerliche Dichotomie zwischen Präsenz und Absenz aufzubauen, sondern „Abwesenheit und Präsenz in ein funktionales Konfigurationsverhältnis zu bringen“372 – freilich mit einem Prae der bislang eher vernachlässigten Absenz: „Was wir in einem Theaterstück begegnen, ist in erster Linie die Abwesenheit, nicht die Präsenz der Bewegung und der Körper. […] Statt die Flüchtigkeit mit der Vorstellung einer gesteigerten Präsenz festhalten zu wollen, und sei es auch nur für einen Augenblick, möchte ich ihr Verschwinden […] ernst nehmen.“373

Die Absenz wird damit zum entscheidenden Aspekt der Wahrnehmung des (Tanz-)Theaters der Gegenwart; die Präsenz sei nur als „ein Effekt der in der Kunst inszenierten Absenz“ zu beschreiben,374 als das, was auch geschieht und geschehen kann, wenn Abwesendes inszeniert wird. Absenz ist nach Siegmund nicht einfach gleichzusetzen mit der Abwesenheit von Sinn – wie es eine Beschreibung im Kontext der Dekonstruktion Derridas nahelegen könnte.375 Auch Derrida verweist auf den ständigen Entzug und den metaphysischen Versuch, die Welt der unabschließbaren Signifikationsprozesse durch den Bezug auf das eine Signifikat zu unterbrechen und zu arretieren. Absenz im Sinne von Siegmund ist davon zwar nicht völlig unterschieden, hat aber eine andere Qualität: sie gehört hinein in eine Ästhetik des Körperlichen, die nicht einfach auf unendliche Signifi369

Vgl. DEBORD: Die Gesellschaft des Spektakels [zuerst 1967]; vgl. unten Kap. 5.3. Vgl. SIEGMUND: Abwesenheit, 10. 371 SIEGMUND: Abwesenheit, 22. 372 SIEGMUND: Abwesenheit, 77; Siegmund spricht an anderer Stelle von einem „Feld unendlicher Schattierungen und Abstufungen“ von Präsenz und Absenz (aaO., 115). 373 SIEGMUND: Abwesenheit, 58. 374 SIEGMUND: Abwesenheit, 29. 375 Vgl. SIEGMUND: Abwesenheit, 59–63. 370

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

kationsprozesse von Zeichen (Buchstaben) rekurriert, sondern die die „Fähigkeit des Körpers, imaginäre andere Körper aufzurufen“376, bedenkt und so das Feld der Produktion und Rezeption wahrnimmt, das sich zwischen den tanzenden Körpern, den Zuschauern und dem Anderen (als der „andere[n] Qualität des Sichtbaren“377) eröffnet: „Er [der Tänzer, AD] tanzt vor und für ein Publikum, dem sein Tanz Freude bereitet und das ihn mit seinen Projektionen und Wünschen belegt. Im Gegenzug führt er das Publikum mit seinem tanzenden Körper, der imaginäre Körper produziert, mit hin zu jenem Anderen, den er mit seinem verführerischen Tanz beschwört.“378

In Anlehnung an Jacques Lacan ist hier ein dreifaches Differential aus Realem (der Körper des Tänzers), Imaginärem (die Projektionen und Wahrnehmungen des Publikums) und Symbolischem (dem Anderen) eröffnet, das in Siegmunds Arbeit als Modell für die ästhetische Wahrnehmung der Tanzperformances fungiert.379 Damit geht es bei der Abwesenheit auch nicht nur um die Flüchtigkeit oder Ephemerität der Performance, sondern um eine andere ‚Dimension‘ der Erfahrung, nämlich: um „das Unverfügbare und Heterogene“ in ihr.380 Fragt man danach, wie sich „Abwesenheit“ im Sinne Siegmunds konkret im Kontext von Inszenierungen zeigt, so verweist er vor allem auf die „Leerstellen“381, die die übliche Wahrnehmung unterbrechen und so dazu herausfordern, mehr und anderes zu rezipieren als das, was sich momentan auf der Bühne ereignet. Mehr noch: Sie seien es, die das wahrnehmende Subjekt so herausfordern, dass es sich nicht einfach ‚spiegelt‘, sondern sich selbst als anderes wahrnimmt.382 Gerade in den Absenzerfahrungen also erkennt Siegmund die entscheidende Relativierung des ‚starken‘ (und letztlich narzisstischen) Subjekts. Siegmunds Insistieren auf die „Abwesenheit“/„Absenz“ fasziniert – wenngleich sie methodisch m.E. nicht in jeder Hinsicht überzeugend hergeleitet und nicht völlig konsistent durchgeführt erscheint. Drei Aspekte sind es, die im Folgenden zu bedenken und im Blick auf die Liturgik m.E. weiter auszuführen sind: (a) Es gilt, die ‚Präsenzseligkeit‘, die bisweilen im liturgischen Diskurs begegnet und die zu einer gewissen Selbstgenügsamkeit der liturgisch Agie376

SIEGMUND: Abwesenheit, 114. SIEGMUND: Abwesenheit, 47. 378 SIEGMUND: Abwesenheit, 171. 379 Vgl. insgesamt SIEGMUND: Abwesenheit, 171–231. 380 SIEGMUND: Abwesenheit, 451; vgl. zur Flüchtigkeit aaO., 58.68. 381 SIEGMUND: Abwesenheit, 10.80 u.ö. 382 SIEGMUND: Abwesenheit, 11.22 u.ö. 377

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renden führen kann, aufzubrechen. Das Entscheidende ist nicht die ‚Präsenz‘ allein (schon gar nicht die ‚Präsenz‘ im Sinne der oben dargestellten ‚starken‘ personalen Präsenz der Liturgen/Liturginnen!), entscheidend sind vielmehr jene Momente der theologisch qualifizierten Präsenz, die in ihrer Entzogenheit zugleich Momente der Absenz sind. Gott als gegenwärtig zu erfahren in seinem Wort bedeutet hier auf Erden zugleich, ihn als bleibend verborgenen wahrzunehmen – alles andere wäre Enthusiasmus. Liturgisch wachzuhalten und liturgisch zu inszenieren wäre damit jenes Geschehen zwischen Liturg, Gemeinde und dem ‚Anderen‘, das – in Siegmunds analytischem Raster – Reales (das, was im Gottesdienst zu sehen, hören, schmecken, riechen, fühlen ist), Imaginäres (das, was sich durch meine Projektionen und Deutungen ergibt) und Symbolisches (das, was über das bereits Genannte hinausweist) verbinden kann und dabei vor allem die Dimension des Symbolischen nicht außer acht lässt – eine Dimension, die in meiner Begrifflichkeit (Kap. 2; bes. 2.2.2) als die Dimension des Vertikalen bestimmt werden könnte und die sich in einer sich entziehenden Präsenz ereignet „ubi et quando visum est Deo“. Es wäre wohl nicht verkehrt, von einem Eros der Absenz zu reden – sowohl bei Siegmund als auch in liturgicis – und dabei zu bedenken, dass Erotik genau dort lebt, wo sich nicht die Nacktheit, sondern die reizvolle Verhüllung zeigt. (b) Siegmund versucht, Präsenz und Absenz oszillierend beieinander zu halten. M.E. böte sich dafür die Beschreibung der Absenz als negativer Präsenz an. Diese Wendung würde verdeutlichen, dass es nicht um die Negation der Präsenz geht, sondern um das, was ohne Präsenz nicht denkbar wäre; wie „negative Theologie“ nicht ein Durchstreichen der Theologie zugunsten reiner Negativität bedeutet, sondern eine andere Art, zu theologischer Erkenntnis zu gelangen. Wenn Absenz als negative Präsenz verstanden würde, so hieße das – auf die theologische Begrifflichkeit übertragen –, dass Gottes Gegenwart und Gottverlangen (auf dieser Erde) niemals voneinander zu trennen sind (wie die Feststellung „Gott ist gegenwärtig“ aus Tersteegens erster Strophe [EG 165,1] nicht ohne die Bitte „Komm“ in der letzten Strophe [V. 7] auskommt!). (c) Wie soll dieses Oszillieren von Präsenz und Absenz konkret gestaltet werden? Primär verweist Siegmund auf die „Leerstellen“, die dem Durchgestylten der „Gesellschaft des Spektakels“ (Debord) etwas entgegenzusetzen haben. Gottesdienste wären, so die Abgrenzung, die von Siegmund her zu lernen wäre, nicht dann besonders gelungen, wenn sie ein packendes, emotional von Anfang bis zum Ende verwickelndes „Gesamtkunstwerk“ böten,383 sondern gerade dann, wenn sie durch ihre Leerstellen Raum ließen, 383 Vgl. dazu den oben (Kap. 3.2.3) kritisch dargestellten Versuch der älteren liturgischen Bewegung.

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um über das horizontal Erlebbare hinauszuweisen: als Begrenzung der eigenen Subjektivität und als Sehnsucht nach dem Anderen (vgl. unten 5.3.3). (2) Der Leipziger Theaterwissenschaftler Günther Heeg kontrastiert eine seit dem bürgerlichen Theater des ausgehenden 18. Jahrhunderts begegnende Ästhetik der „Vergegenwärtigung“ und eine Ästhetik bewusst inszenierter „Medialität“.384 Er legt damit eine Theatertheorie vor, die das, was Hans Ulrich Gumbrecht in der Unterscheidung von Präsenz- und Sinnkultur hermeneutisch und Dieter Mersch mit seiner Differenzierung zwischen Werkästhetik und Ereignisästhetik fundamentalästhetisch beleuchten, nun auf die Theaterästhetik im engeren Sinn anwendet. Dabei tauchen bei Heeg zahlreiche Aspekte wieder auf, die etwa auch bei Fischer-Lichtes Beobachtungen zur Performativität begegnen. Anders als diese betont Heeg – wie auch Siegmund – allerdings nicht die Präsenz-, sondern die Absenzphänomene und kritisiert das letztlich idealistische Menschenbild FischerLichtes. Im Kontext dieser Erarbeitung erscheint mir vor allem der von Heeg aufgenommene Begriff der Medialität wichtig, den er im Gegenüber zur Vergegenwärtigung herleitet. Heeg entwickelt seine Überlegungen historisch und erkennt einen entscheidenden Einschnitt in der Genese des Theaters im 18. Jahrhundert. Die – von vielen, gerade innerhalb der Kirche, kritisch beäugte – „Theatromanie“, die heftige Theaterbegeisterung (vor allem protestantischer junger Männer!) in jenen Jahren, deutet Heeg als Teil einer ‚tektonischen‘ Verschiebung in der abendländischen Kultur. Die „Herrschaft des Priesters“ gehe „auf den Schauspieler“ über;385 das Theater wird zum „säkulare[n] Religionsersatz“,386 weswegen sich eine Koinzidenz zwischen der „Krise der Religion in Deutschland“ und „dem Aufstieg des Sprechtheaters“ ergebe.387 Heeg nennt das Phänomen eine „Literarisierung des Theaters“388 und versteht darunter „die Vorherrschaft des sprachlichen Sinns über alle anderen Elemente des Theaters“.389 Die Dominanz des Sinns habe weitreichende Auswirkungen, die Heeg zunächst im Blick auf den Schauspieler beschreibt. Seine Aufgabe wird die „Verkörperung“: „‚Der Schauspieler spielte nicht den Hamlet, er war Hamlet.‘ Das ist das höchste Lob, das ein Theaterkritiker, der im Bann des Theaters der Verkörperung steht, ausspre384

Vgl. grundlegend zum Umbruch im Theater im 18. Jahrhundert HEEG: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. 385 HEEG: Theater und Gottesdienst, 51. 386 HEEG: Theater und Gottesdienst, 53. 387 HEEG: Theater und Gottesdienst, 53. 388 HEEG: Theater und Gottesdienst, 53. 389 HEEG: Theater und Gottesdienst, 54.

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 411 chen kann. Es impliziert, dass sich der Körper des Schauspielers bruch- und nathlos dem Geist des Autors anverwandelt, so dass der Körper nichts anderes mehr zu sein beansprucht als die sinnliche Erscheinung des sprachlichen Sinns.“390

Dazu solle – dies eine weitere gravierende Auswirkung – die Wahrnehmung der Medialität des Theaters so weit als möglich zurückgefahren werden. Es müssten, so Heeg, in diesem Theater der Verkörperung „alle Spuren, die das Theater als Medium eines Abwesenden zeigen, getilgt werden.“391 „Nichts darf unsichtbar bleiben. Alles muss sich zeigen. Die Differenz zwischen dem Abwesenden und dem Präsenten auslöschen, heißt, die Mitte und Vermittlung, heißt den Vorgang der Darstellung selbst auslöschen, seine Medialität unsichtbar machen.“392

Das Theater sei damit nicht mehr – wie vorher seit der Antike – das (bewusst als solches wahrgenommene) Medium, nicht mehr der „Schauplatz der Vermittlung eines prinzipiell Abwesenden und Nichtdarstellbaren“393, sondern der Ort, an dem selbst Sinn verkörpert werde. Eben dies mache das Theater intentional zum Ersatz für Religion und Theologie: Der – durch Erschütterungen wie das Erdbeben von Lissabon – immer wieder als prekär erfahrene „Sinn“ wird in der Darstellung des Theaters zum präsenten Sinn. Allerdings sei dies eben nur möglich, wenn sich die Körper der Schauspieler der Totalität der Sinnvorgabe des Autors unterordnen394 und so faktisch zum austauschbaren Signifikanten für ein feststehendes (und durch den „Sinn“ näher bestimmtes!) Signifikat werden. Für die Zuschauer gilt das Ideal, sich selbst durch Einfühlung und Identifikation so in das im Theater Dargestellte hineinzubegeben, dass ihre kritisch-wahrnehmende Distanz und ihr Bewusstsein, an einem Spiel zwischen Anwesendem und Abwesendem teilzunehmen, zurückgedrängt werden.395 Das religiöse Heilsversprechen dieses Theaters gelinge nur, wenn es zu einer Form der „Totalität“ in der Rezeption komme; eine Totalität, die gleichzeitig die „Lebensimmanz des Sinnes“ behauptet und dabei das eliminiert, was über die Immanenz hinausgeht.396 390

HEEG: Theater und Gottesdienst, 54. HEEG: Theater und Gottesdienst, 54. 392 HEEG: Theater und Gottesdienst, 54. 393 HEEG: Theater und Gottesdienst, 54. 394 Heeg verweist in diesem Zusammenhang auf Antonin Artaud und seine Kritik an einem Theater, das letztlich zur „Enteignung“ des Schauspielers (und seines Körpers) führe, der sich einem „Gott des Sinns“ unterwerfen müsse (vgl. HEEG: Theater und Gottesdienst, 56). 395 Heeg zeigt dies unter anderem durch die Wahrnehmung von Sterbeszenen im Theater des 18. Jahrhunderts, vgl. HEEG: Theater und Gottesdienst, 57–59. 396 HEEG: Theater und Gottesdienst, 60. 391

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

An dieser Stelle wagt der Theaterwissenschaftler Heeg auch eine – wenngleich knappe – Warnung an die Theologie, genauer an die Liturgik auszusprechen und eine Empfehlung weiterzugeben; die Empfehlung nämlich, „sich von den Praktiken des Theaters der Sinn-Verkörperung“ im liturgischen Handeln „eher fernzuhalten“: „Es sei denn, das Ziel ist die Etablierung eines Christentums der reinen Immanenz, das seine ganze spirituelle Kraft nur im Hier und Jetzt des Miteinanderhandelns erhält. Darin sähe ich allerdings die Gefahr einer anthropologischen Überforderung und eine Verleugnung der eigenen Endlichkeit. Der theatralen wie der gottesdienstlichen Darstellung ist aus meiner Sicht am ehesten dann gedient, wenn sie sich die Grenzen der Aufklärung, die Grenze des Undarstellbaren und Nichtvergegenwärtigbaren bewusst macht und sich als Medium begreift, das die Abwesenheit des göttlichen oder des menschlichen Sinns gegenwärtig mit-teilt.“397

Heeg verweist beide, Theater und Religion, auf ihre Grenzen – und fordert so die Einsicht in die Dialektik und potentielle Totalität der ‚Aufklärung‘ und ihrer Entwicklung hin zur alles beherrschenden Immanenz. Der Freiheit, die dort entsteht, wo die Abwesenheit des Sinns bewusst als solche erkannt und in der Inszenierung offen gehalten wird, gilt umgekehrt sein Plädoyer. Mit den Stimmen von Siegmund und Heeg ist die „Abwesenheit“ bzw. die „Medialität“ ins Zentrum der Überlegungen gerückt. Wie aber soll diese konkrete Gestalt in der Art und Weise der Inszenierung finden? Siegmund verweist auf „Leerstellen“ und auf Tanztheater, in dem nicht mehr getanzt wird. Heeg deutet die Rollendifferenz in der Darstellung an, die erkennbar bleibende Medialität. Der Theaterkritiker Christopher Schmidt wirft in einem im Mai 2009 erschienenen kritischen Feuilleton-Artikel einen Blick auf die gegenwärtige Theaterlandschaft.398 Er erkennt in den vergangenen Jahren eine zunehmende Tendenz zum Epischen – und lässt damit den großen Begriff der Theatertheorie Bertolt Brechts anklingen. „Immer häufiger wird ja auf der Bühne erzählt statt gespielt, werden Stücke nicht vergegenwärtigt, sondern in das fahle Licht der Retrospektion getaucht. Die Abenddämmerung des Erinnerns umfängt die dramatische Kunst. Freiwillig hat das Theater damit sein künstlerisches Alleinstellungsmerkmal preisgegeben: die Echtzeit. Der Schauspieler, der einst mit dem Körper dafür bürgte, dass sich alles jetzt, genau in diesem Augenblick ereignet, mag es auch vor fünfhundert Jahren geschehen und vor

397 398

HEEG: Theater und Gottesdienst, 60. Vgl. SCHMIDT: Hallo, in diesen Trümmern lebt noch einer [alle Zitate im Folgenden ebd.].

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 413 dreihundert Jahren aufgeschrieben worden sein – er macht sich heute zunehmend zum raunenden Beschwörer des Imperfekts.“399

Hier macht sich ein ausgewiesener Kritiker zum Verfechter einer ‚alten‘ Ästhetik, die gegen die Zerstörung des Theaters durch das Epische aufbegehrt und sich – ungeschminkt – nach Vergegenwärtigung und Echtzeit sehnt. Zu einer Inszenierung von Hans Falladas „Kleiner Mann – was nun?“ durch Luk Perceval schreibt Schmidt, dass die Spieler „immer wieder aus ihren Rollen heraustreten und die Perspektive des allwissenden Erzählers übernehmen.“ Das Dramatische werde also durch das Epische gebrochen und verfremdet.400 Anders als bei Brecht sei damit aber nicht die Veränderbarkeit der Welt im Blick, sondern im Gegenteil die Auslieferung des Einzelnen an eine Welt, die er nicht mehr durchschaue und auf die er sich daher nur in gebrochener Weise einlassen könne. Demgegenüber sieht Schmidt ermutigende Zeichen eines neuen und anderen Theaters, eines Theaters der personalen Echtheit, der „Sinnlichkeit und Konkretion“ – und man muss wohl ergänzen: eines Theaters, in dem auch wieder verkörpert und eingefühlt werden soll und darf. Die Erkrankungen von Christoph Schlingensief und Jürgen Gosch und die neue, er-

399 In eine ähnliche Richtung geht auch die Kritik am deutschsprachigen Regietheater, die Daniel Kehlmann in seiner Rede zum Auftakt der Salzburger Festspiele 2009 äußerte (vgl. KEHLMANN: Die Lichtprobe). Der Autor Kehlmann plädiert für ein Theater, in dem sich der Regisseur als „Diener des Autors“ versteht, und widersetzt sich folglich einem Regietheater, in dem der Regisseur zur entscheidenden Instanz der Inszenierung wird. An der Frage nach der Relation von Autor und Regisseur hängt für Kehlmann (in der Argumentation nicht ganz schlüssig!) auch die Wahrhaftigkeit des Theaters, seine existenzielle Bedeutung. Ein Theater, das sich als Regietheater bei aller vermeintlichen Avantgarde letztlich dem Kitsch des Immergleichen verschrieben habe (Kehlmann spricht von einem „Bündnis zwischen Kitsch und Avantgarde“), habe mit dem Leben nichts mehr zu tun und sei „zur letzten verbliebenen Schrumpfform linker Ideologie degeneriert“. Mit Recht frage man sich, „was das denn solle […], warum das denn auf den Bühnen alles immer so ähnlich aussehe, ständig Videowände und Spaghettiessen, warum sei immer irgendwer mit irgendwas beschmiert, wozu all das Gezucke und routiniert hysterische Geschrei?“ – Zu Recht erkennt Kehlmann, dass das, was einst Avantgarde bedeutete, zum Klassischen und dann in Folge zum Kitsch werden kann. Zu wenig aber sieht er, dass Theater immer „Regietheater“ ist und von der – je unterschiedlichen – Inszenierung der Stücke lebt. 400 Vgl. zu Perceval dessen eigene theatertheoretischen Überlegungen, die dieser bezeichnenderweise unter dem Titel „Theater und Ritual“ vorstellt. Perceval beschreibt sich darin als auf der Suche nach einem neuen Theater, das weder „Museum“ sein möchte (und daher möglichst klassisch inszenieren will) noch einfach Unterhaltung, aber auch nicht die Instanz, die eine Botschaft vermittelt. Theater sei vielmehr „Schreiben im Sand“ (so Perceval – ohne expliziten Bezug auf Joh 8) – und damit durch eine bestimmte Zwecklosigkeit gekennzeichnet, durch den Verzicht auf jede einseitige Logik der Effektivität. Eben dies bringe das Theater in die Nähe zum Ritual. Theater sei nicht die Inszenierung des Gefundenhabens, sondern das Ritual des Suchens. – Dass Percevals Stücke daher u.a. auch das Dramatische durch das Epische brechen, ist eine Folge dieser theaterästhetischen Konzeption (vgl. insgesamt PERCEVAL: Theater und Ritual).

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

greifende persönliche Dichte, die durch diese entstehe, würden diese Trendwende (auf freilich tragische Weise) begünstigen.401 Die gesuchte Medialität scheint sich – schließt man sich den Beobachtungen von Schmidt an – als Trend in der Inszenierungspraxis zur Verwandlung des Dramatischen ins Epische beschreiben zu lassen. Sie würde dann einen Schritt zurück zur Theatertheorie Brechts bedeuten und die Frage stellen, ob tatsächlich in diese Richtung ein Theater gesucht werden muss, das die Abwesenheit als wesentliches Ziel der Inszenierung betont. Anders formuliert: Gibt es entweder das Theater der persönlichen Echtheit, Verkörperung und Authentizität oder das Theater, das sich ins Epische auflöst? Eine Wahrnehmung der Inszenierungstheorie von Bertolt Brecht und Peter Brook unter den Leitworten „Verfremdung“ und „Verdichtung“ soll zur Klärung dieser Frage beitragen. 5.2.3 Verfremdung und Verdichtung. Zur Praxis der Inszenierung zwischen Brecht und Brook 5.2.3.1 Verfremdung. Bertolt Brecht und ein Theater, das über sich hinausweist Wenn Günther Heeg gegen die Ästhetik der Vergegenwärtigung anschreibt und stattdessen für Medialität plädiert und wenn Gerald Siegmund nach der Absenz in und jenseits der Präsenz fragt, liegt es nahe, den Begriff der Verfremdung zu betrachten, der in der Geschichte der Inszenierungstheorie bleibend mit dem Namen Bertolt Brecht verbunden ist. Es ist hier nicht der Ort, Brechts Theatertheorie auch nur annähernd vollständig oder gar in ihrer Entwicklung darzustellen.402 Ich blicke vielmehr auf das Moment, das Brecht mit Siegmund und Heeg verbindet und das negativ und positiv beschrieben werden kann: – Theater darf nicht bei sich selbst stehen bleiben, den Betrachter in eine Welt der Illusion führen, einen Abend lang gut unterhalten und ihn dann wieder entlassen, ohne dass sich bei ihm selbst etwas verändert, er selbst 401

Vgl. nur Schlingensiefs Stück „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ (2008). In einer online-Rezension schreibt Dorothea Marcus dazu: „Er, dessen Familiengeschichte, Lieblingskünstler, Schwächen und Krankheiten man doch bereits zu kennen glaubte, eröffnet in ‚Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir‘ eine neue Dimension des Authentischen auf der Bühne – und verhandelt den eigenen Tod. So radikal, dass sich eine Kritik des Abends eigentlich von selbst verbietet“ (in: www.nachtkritik.de [Zugriff vom 25.7.2009; Hervorhebung AD]). – Vgl. zu Jürgen Gosch (1943–2009) vor allem seine letzte Inszenierung des „Idomeneus“ von Roland Schimmelpfennig. 402 Vgl. dazu HECHT: Der Weg zum epischen Theater.

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 415

etwas Neues oder Anderes entdeckt habe. Brechts Kritik galt dem „lebensfremden Illusionstheater“403, dem Theater des Naturalismus, das sich mit romantischen oder klassizistischen Ansätzen verbinden kann,404 dem bürgerlichen Theater, das (nicht nur im Berlin der 1920er Jahre) zu einem Teil des „Kunst-Betrieb[s]“405 geworden war. Auch als „kulinarische[s] Theater“ konnte Brecht dieses bezeichnen.406 Er selbst schreibt: „Alles, worauf es den Zuschauern in diesen Häusern [den Illusionstheatern, AD] ankommt, ist, daß sie eine widerspruchsvolle Welt mit einer harmonischen vertauschen können, eine nicht besonders gekannte mit einer träumbaren.“407 An anderer Stelle spricht Brecht von der Notwendigkeit einer „Säkularisierung der alten kultischen Institution“ des Theaters,408 womit er das Illusionstheater meint, das den Menschen aus seiner Realität entfernt und – wie Brecht in durchaus marxistisch-religionskritischer Attitüde bemerken kann – die Realität verschleiert.409 – Damit gilt umgekehrt und positiv: Theater muss über sich hinausweisen. Hans Mayer schreibt: „Die Funktion des Dramas begrenzt sich bei Aristoteles wie bei Lessing auf die Dauer des Theaterabends, die Geschlossenheit des Bühnenraums. Die Funktion der Brechtdramatik strebt über den Theaterabend und Zuschauerraum hinaus, will den Menschen belehren, auf Widersprüche des gesellschaftlichen Seins hinweisen, Erkenntnisprozesse auslösen, klares und einsichtsvolle Handeln im Leben provozieren.“410 Lediglich zwei Aspekte der Theatertheorie Brechts stelle ich auf diesem Hintergrund knapp dar: (1) die Funktion des Theaters nach Brecht und (2) das Wie der Inszenierung.

403

HECHT: Der Weg zum epischen Theater, 46. Vgl. BRECHT: Schriften zum Theater, 118. 405 HECHT: Der Weg zum epischen Theater, 47: „Diese Theater [der 1920er Jahre, AD] sahen sowohl in musealen als auch in gewaltsam aktualisierten Klassikeraufführungen ein einträgliches Geschäft. Inwieweit die auf der Bühne dargestellten Probleme tatsächlich Probleme der Zuschauer waren, interessierte nur wenig.“ – Bereits um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde die Kritik am bürgerlichen Theater vielfach artikuliert, u.a. von Georg Fuchs (1868–1949), der 1909 eine Programmschrift mit dem Titel „Die Revolution des Theaters“ veröffentlichte und sich darin „gegen die verbürgerlichte Kultur des 19. Jh.“ wandte, durch die die Zuschauer zu passiven Konsumenten geworden seien. Entscheidend sei demgegenüber das „dramatische Erlebnis“, das sich „nicht auf der Bühne, sondern in der Seele des Zuschauers“ ereigne (BARTH: Art. Theater, 186). 406 HECHT: Der Weg zum epischen Theater, 85; vgl. auch Brechts Begriff der „kulinarische[n] Oper“ (BRECHT: Schriften zum Theater, 16). 407 BRECHT: Schriften zum Theater, 144. 408 BRECHT: GW 16, 657. 409 Vgl. dazu MÜLLER: Der Philosoph auf dem Theater, 156. 410 MAYER: Anti-Aristoteles, 37. 404

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

(1) Zur Funktion des Theaters oder: Theater als Werkzeug zur Veränderung der Gesellschaft Bereits die zitierte Abgrenzung gegen eine ‚kulinarische‘ Theaterauffassung zeigt, dass Brecht ein funktionales Verständnis des Theaters voraussetzt. Theater sei alles andere als l’art pour l’art und weit mehr als Teil einer Unterhaltungsindustrie;411 Theater sei Mittel zur Veränderung der Gesellschaft. Der Grundgedanke, der dem Theater diese Funktion zuschreiben kann, ist einfach. Klaus-Detlef Müller schreibt: „Die Welt als veränderlich zu zeigen, bedeutet […] bereits, sie zu verändern.“412 Im Theater soll es möglich werden, das In- und Miteinander von Prozessen und Personen zu erkennen und so jeden Determinismus zu überwinden. Die Realität soll als eine von Individuen gestaltete und jederzeit von einzelnen veränderbare ansichtig werden.413 Am deutlichsten spricht wohl das Ende des Stücks „Der gute Mensch von Sezuan“ für diese Konzeption: Die Zuschauer werden nach draußen geschickt, um den (guten) Schluss in der gesellschaftlichen Realität selbst zu suchen. Im Epilog heißt es u.a.: „Verehrtes Publikum, jetzt kein Verdruß: Wir wissen wohl, das ist kein rechter Schluß. […] Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen Den Vorhang zu und alle Fragen offen. […] Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach: Sie selber dächten auf der Stelle nach Auf welche Weis dem guten Menschen man Zu einem guten Ende helfen kann. Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß! Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!“414 411 Dass Theater aber dennoch auch bei Brecht als Unterhaltung gewertet wird, zeigt besonders sein 1948 entstandenes „Kleines Organon für das Theater“ (BRECHT: Schriften zum Theater, 128–173); vgl. hierzu besonders aaO., 130f; vgl. auch die auf problematische Weise Lust-feindliche und Unterhaltungs-kritische Haltung der Deutschen, die Brecht süffisant kommentiert: „Aus dem Geschlechtsgenuß werden bei uns eheliche Pflichten, der Kunstgenuß dient der Bildung, und unter dem Lernen verstehen wir nicht ein fröhliches Kennenlernen, sondern daß uns die Nase auf etwas gestoßen wird“ (aaO., 172). – Am Ende vermerkt Brecht: „Alle Künste tragen bei zur größten aller Künste, der Lebenskunst“ (aaO., 173) – und kann durch diese Wendung ein allzu einseitig-ernstes oder gar verbissenes Verständnis vom Leben in der Gesellschaft und von der Arbeit an der gesellschaftlichen Veränderung mindestens relativieren. 412 MÜLLER: Der Philosoph auf dem Theater, 167. 413 Vgl. IRRLITZ: Philosophiegeschichtliche Quellen Brechts, bes. 13f.20; MAYER: Anti-Aristoteles, 33.37. 414 BRECHT: Der gute Mensch von Sezuan, 144.

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 417

(2) Zu Fragen der Inszenierung oder: Der Verfremdungseffekt bei Brecht Die angestrebte Wirkung des Theaters zur Veränderung der Gesellschaft soll vor allem so erreicht werden, dass es in der Theaterinszenierung zur „Verfremdung“ kommt – und so eine einseitig ‚kulinarische‘ Art der Theaterrezeption verhindert wird. Brecht verwendet den Begriff der „Verfremdung“ (und in Folge die Kurzform „V-Effekt“) erst relativ spät ab Mitte der 1930er Jahre;415 dennoch wird dieser zum Zentralbegriff seiner Inszenierungstheorie und kann auch die Theaterpraxis Brechts vor dem Aufkommen dieser Begrifflichkeit beschreiben. Brecht selbst definiert „Verfremdung“ wie folgt: „Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen. […] Verfremden heißt also Historisieren, heißt Vorgänge und Personen als historisch, also als vergänglich darstellen.“416

Mit der „Historisierung“ ist eine Einordnung gemeint, die Vorgänge und Personen als Teil bestimmter Konstellationen zeigt – und damit jedem Eindruck des Determinismus entgegen wirkt.417 Dieses Generalziel der „Verfremdung“, nämlich „die Welt so zu zeigen, daß sie behandelbar wird“,418 will Brecht durch „V-Effekte“ erreichen.419 Ich nehme diese wahr, indem ich zeige, was sie für das Stück, die Schauspieler und ihre Aktivität und die Zuschauer bedeuten: (1) Das Stück soll beim „epischen Theater“420 einen Vorgang erzählen – und nicht auf der Bühne verkörpern (wie im dramatischen Theater).421 Damit soll nicht ein großer Spannungsbogen gezeichnet werden, der die Aufmerksamkeit des Zuschauers einzig auf den Ausgang des Geschehens richtet, sondern jede Szene für sich soll so erzählt werden, dass sich die Spannung auf den Gang des Geschehens fokussiert.422 Dem 415 Vgl. KNOPF: Verfremdung, 93–97; Knopf weist darauf hin, dass Brecht vorher eher von „Entfremdung“ spricht und damit einen Terminus verwendet, der bereits bei Hegel gebraucht wird und dann bei Marx eine vorherrschende Stellung einnimmt; vgl. zum Begriff der „Entfremdung“ z.B. BRECHT: Schriften zum Theater, 63. 416 BRECHT: GW 15, 301f. 417 Vgl. dazu auch MAYER: Anti-Aristotels, 33. 418 BRECHT: Schriften zum Theater, 114; vgl. auch ders.: GW 15, 302: „So wie die Einfühlung das besondere Ereignis alltäglich macht, so macht die Verfremdung das alltägliche besonders.“ 419 Vgl. KNOPF: Verfremdung, 112. 420 Vgl. zu diesem Begriff BRECHT: Schriften zum Theater, 174; Brecht selbst empfindet den Begriff als unzureichend, da er die „Produktivität und Änderbarkeit der Gesellschaft“ nicht anzeige, ohne aber selbst einen besseren Begriff bieten zu können. 421 Vgl. HECHT: Der Weg zum epischen Theater, 71. 422 Vgl. HECHT: Der Weg zum epischen Theater, 71f.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

dienen Brechungen des Dargestellten, wie sie sich etwa durch eingeschobene Lieder423 oder durch direkte Wendungen an das Publikum424 ergeben. Sie reißen aus dem zur Identifikation neigenden Mitverfolgen der sich entwickelnden Handlung heraus und versetzen Zuschauerinnen und Zuschauer in eine Distanz, die das Nachdenken über das Dargestellte, die Einordnung des Gesehenen und Erlebten ermöglicht. Stücke im Theater sollen bei Brecht alles andere sein als rauschhafte „Gesamtkunstwerke“ im Sinne Wagners.425 Nicht Suggestion solle im Theater geschehen, sondern – auf spezifische Weise – Argumentation.426 Gleichzeitig tritt das Kriterium möglicher ‚Einfühlung‘ in die dargestellten Handlungen zurück. Für die epische Form gilt: „Sie muß berichten. Sie muß nicht glauben, daß man sich einfühlen kann in unsere Welt, sie muß es auch nicht wollen. Die Stoffe sind ungeheuerlich, unsere Dramatik muß das berücksichtigen.“427 (2) Die Schauspielästhetik Brechts wird am ehesten verständlich, wenn sie auf dem Hintergrund der Überlegungen von Konstantin Stanislawski betrachtet wird, der als derjenige Regisseur und Theatertheoretiker gelten kann, der als erster eine Schauspieltheorie formulierte.428 Ursula Roth bezeichnet Stanislawskis Schauspieltheorie als „den Höhepunkt und zugleich den Abschluss der auf perfekte Illusion abzielenden Bühnenkunst“.429 Es geht ihm um „restlose Einfühlung und authentische[n] Ausdruck“ des Schauspielers – ganz im Sinne des Naturalismus seiner Tage.430 Das Ziel besteht in der Möglichkeit, dass die Zuschauer aufgrund der emotionalen Beteiligung am Bühnengeschehen miterleben und nachfühlen können. Ganz anders das Ideal der Schauspielkunst bei Brecht:431 Der Schauspieler wird von ihm radikal in seiner Mittlerrolle gesehen: Er steht „zwischen Beschauer und Vorgang“ und muss sich dem Zuschauer gegenüber auch in dieser Mittelstellung „bemerkbar […] machen“.432 Das bedeutet: Weder der dargestellten Figur darf der

423

Vgl. KNOPF: Verfremdung, 115–117. Vgl. KNOPF: Verfremdung, 118f, und vgl. die Passagen aus dem oben zitierten Epilog aus „Der gute Mensch von Sezuan“. 425 Dieser Aspekt ist sicher auch auf dem Hintergrund des eigenen Erlebens nationalsozialistischer Inszenierung und Ästhetik zu hören; vgl. dazu auch HECHT: Der Weg zum epischen Theater, 58; KNOPF: Verfremdung, 103, und vgl. zu dieser und ihrem menschenverachtenden Charakter auch GRÖZINGER: Der Gottesdienst als Kunstwerk, bes. 449f. 426 Vgl. HECHT: Der Weg zum epischen Theater, 56.70. 427 Brecht, zitiert bei HECHT: Der Weg zum epischen Theater, 53. 428 Vgl. zu Stanislawski FRIEDRICH: Liturgische Körper, 35–117; ROTH: Die Theatralität des Gottesdienstes, 177–180; STEINMEIER: Schöpfungsräume, 82–88; die Schauspieltheorie Brechts beleuchtet FRIEDRICH: Liturgische Körper, 118–185. 429 ROTH: Die Theatralität des Gottesdienstes, 177. 430 ROTH: Die Theatralität des Gottesdienstes, 177. 431 Vgl. zur Abgrenzung gegen Stanislawski z.B. BRECHT: Schriften zum Theater, 79; vgl. dazu auch MITTENZWEI: Brecht oder Stanislawski, und RÜLICKE-WEILER: Die Dialektik von Darstellen und Erleben. Rülicke-Weiler stellt mit den Begriffen „Darstellen und Erleben“ „zwei Möglichkeiten der Schauspielkunst“ (aaO., 219) vor, wobei das „Erleben“ mit Stanislawski verbunden wird. Gegen eine zu einseitige Sicht der Schauspieltheorie Brechts ist sie der Meinung, dass bei ihm am ehesten von einem Miteinander der beiden Aspekte gesprochen werden kann. 432 HECHT: Der Weg zum epischen Theater, 76. 424

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 419 Schauspieler zu nahe kommen433 noch den Zuschauern434. Nur so könne es gelingen, dass sich die Aufmerksamkeit nicht auf den Schauspieler selbst hefte und auch der Fortgang des Stücks nicht mit emotionaler Erregung betrachtet werde, sondern die dargestellten Vorgänge in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Der Schauspieler müsse daher „be-wußt“435 spielen: im Bewusstsein der bleibenden Mittlerrolle und im Bewusstsein der Aufgabe, nicht identifikatorisch zu einem alter ego der Bühnenfigur zu werden, sondern den Fokus auf die Vorgänge und Entwicklungen zu richten. Es ist der „Gestus des Zeigens“, den Brecht für den Schauspieler fordert.436 Niemals dürfe der Schauspieler vergessen, dass keine vierte Wand ihn von dem Publikum trennt,437 sondern er für das Publikum eine bestimmte Situation vor Augen führt (die dieses Publikum als wandelbar verstehen lernen soll!). Der Schauspieler muss sich selbst noch verwundern können über das dargestellte Geschehen.438 Brecht schreibt: „In keinem Augenblick läßt er [der Schauspieler, AD] es zur restlosen Verwandlung in die Figur kommen. Ein Urteil: ‚er spielte den Lear nicht, er war Lear‘, wäre für ihn vernichtend. Er hat seine Figur lediglich zu zeigen […].“439 Für den Umgang mit seinem Text hat dies ebenfalls gewichtige Konsequenzen: Keinesfalls solle der Schauspieler suggerieren, dass es sich um seinen eigenen Text handle; vielmehr steht er einem fremden Text gegenüber, wofür Brecht den Begriff des Zitats verwendet.440 Als Übung dazu empfiehlt Brecht u.a. ausführliche Proben am Tisch (bevor die Schauspieler bereits die Rollen spielen),441 Umwandlung des Textes, den eine Figur zu sprechen hat, in die dritte Person, Überführung des Textes in die Vergangenheit, Mitlesen von Spielanweisungen und Kommentaren.442 (3) Durch die Art und Weise der Gestaltung des Stücks und durch die ‚epische‘ Schauspielkunst sollen die Zuschauer zu einer anderen Art der Theaterwahrnehmung gegenüber dem Illusionstheater geführt werden. An die Stelle einer Identifikation und eines schlichten Miterlebens, von denen sich Brecht (anders als Aristoteles) keine wirkliche Veränderung des Zuschauers verspricht,443 soll die Aktivierung des Zuschauers treten – dergestalt, dass dieser zu einer „untersuchende[n], kritische[n] Hal433 Brecht bezeichnet den Versuch der möglichst „vollkommene Verwandlung“ des Schauspielers in die dargestellte Figur sogar als „barbarisch“ (KNOPF: Verfremdung, 103). 434 Vgl. HECHT: Der Weg zum epischen Theater, 59; Brecht spricht von der notwendigen Entfernung zwischen Zuschauer und Schauspieler, damit die Zuschauer zu eigenen Erkenntnissen kommen könnten. 435 HECHT: Der Weg zum epischen Theater, 59. 436 BRECHT: Schriften zum Theater, 106. 437 Vgl. BRECHT: Schriften zum Theater, 106f. 438 Vgl. BRECHT: Schriften zum Theater, 159. 439 BRECHT: Schriften zum Theater, 153. 440 Vgl. KNOPF: Verfremdung, 112f; vgl. BRECHT: Schriften zum Theater, 109: „Ist die restlose Verwandlung aufgegeben, bringt der Schauspieler seinen Text nicht wie eine Improvisation, sondern wie ein Zitat.“ 441 Vgl. BRECHT: Schriften zum Theater, 108. 442 Vgl. KNOPF: Verfremdung, 113f; vgl. BRECHT: Schriften zum Theater, 110. 443 Vgl. BRECHT: Schriften zum Theater, 63, wo er von einem Zuschauer spricht, der sich „kritiklos (und praktisch folgenlos) Erlebnissen“ hingibt; Aristoteles hingegen war von der aus der mimesis des Zuschauers folgenden katharsis als Leitmotiv seiner Theorie der Tragödie ausgegangen; vgl. dazu nur MAYER: Anti-Aristoteles.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

tung“ geführt wird.444 Freilich bedeutet dies für Brecht nicht, dass die Aspekte der Unterhaltung oder gar die Emotion ausgeschaltet würden. Im Gegenteil wirft er dem Illusionstheater vor, umgekehrt das Nachdenken eliminiert und alles auf die emotionale Beteiligung gesetzt zu haben. Hier möchte Brecht ein Gegengewicht einbauen, um Emotion und Nachdenken miteinander im Spiel zu halten.445 Brecht weiß, dass zu dieser veränderten Haltung des Zuschauers auch eine Veränderung der äußeren Bedingung gehört: So möchte er die Zuschauer in bequeme Sessel setzen und das Rauchen im Theater erlauben!446 Brechts Theatertheorie bedeutet eine Veränderung von Rezeptionsgewohnheiten. Klaus-Detlef Müller ist der Meinung, dass Brechts theoretischer Ansatz faktisch daran scheiterte. Müller spricht bei Brechts Theater von einem Theater, das „sein Publikum nicht erreichte“.447 Es seien „Sehgewohnheiten“ vorausgesetzt worden, „wie sie dieses Theater erst schaffen“ wollte448 – ein Problem, das Brechts Theater sicherlich bis in die Gegenwart hinein anhaftet. Nicht zuletzt wird die ‚Renitenz‘ des Publikums ja daran sichtbar, dass Brechts Stücke heute ebenfalls wie Klassiker aufgeführt und kulinarisch genossen werden können. Die Art und Weise des Theatergenusses im Sinne der Identifikation und Einfühlung erwies sich auch gegenüber Brecht in vielfacher Hinsicht als dominant.

Verfremdung bei Brecht hat das Ziel, ein Theater zu schaffen, das über die Bühnenaufführung hinausweist, zur Veränderung der Zuschauer und so zur Veränderung der Gesellschaft beiträgt. In Opposition zu einem überkommenen Theater der bloßen Identifikation und Einfühlung ist es verständlich, dass Brecht dazu die Bedeutung der Distanz zum Geschehen und damit auch die Rolle des Kognitiven betont.449 Freilich kann gefragt werden, ob eine allzu konsequente Verfolgung der V-Effekte nicht zu einem einseitigen Katapultiertwerden ins Denken führen könnte, zu einer Art Theaterbesuch „in erster Ableitung“ (wie sich in Anlehnung an Michael Meyer-Blancks nicht unproblematische liturgische Formulierung sagen ließe450), die das Spezifische des Theaters verliert – in den Begrifflichkeiten dieses Kapitels: Es könnte ein Theater entstehen, dem Präsenz bzw. Aura verloren gehen; ein Theater, das sich in eine kognitiv-distanzierte Versuchsanordnung verwandelt (auch wenn, dies sei nochmals betont, dies nicht die Absicht Brechts war!). Auf ganz andere Art imaginiert Peter Brook ein Theater, das ‚über sich hinausweist‘.

444

BRECHT: Schriften zum Theater, 106. Vgl. HECHT: Der Weg zum epischen Theater, 56; KNOPF: Verfremdung, 105. 446 Vgl. KNOPF: Verfremdung, 105. 447 MÜLLER: Der Philosoph auf dem Theater, 173; vgl. insgesamt aaO., 172–175. 448 MÜLLER: Der Philosoph auf dem Theater, 159. 449 Vgl. ähnlich die Konzeptkunst – und dazu BURGIN: The End of Art Theory. 450 Vgl. dazu oben Kap. 2.2.1.3. 445

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 421

5.2.3.2 Verdichtung. Peter Brook und ein Theater, das Unsichtbares im Sichtbaren zeigt Der 1925 in London geborene Peter Brook kann als derjenige Theaterregisseur und Theatertheoretiker gelten, der die steilste Karriere in der praktischtheologischen (und speziell: liturgischen) Diskussion gemacht hat.451 Kein Wunder, verortet Brook das Theater doch in der Nähe des Kults und spricht unter anderem vom „Heiligen Theater“ als einer von vier Kategorien des Theaters (neben dem tödlichen, dem derben und dem unmittelbaren Theater).452 Praktisch-theologische Rezeptionen finden sich (in chronologischer Reihenfolge) u.a. bei Ulrike Suhr,453 Karl-Heinrich Bieritz,454 Gerhard Marcel Martin,455 Anne M. Steinmeier,456 Ursula Roth457 und David Plüss458. Auch Brook geht – wie Brecht – von einem transformativen Potential des Theaters aus. Er schreibt von glückenden Momenten im Theater, die nicht konservierbar seien,459 und formuliert im Anschluss seine hohe Erwartung an das mögliche ‚Ereignis‘ im Theater, das – in religiöser Terminologie – als eine Art ‚Bekehrungserlebnis‘ mit all seiner Kontingenz beschrieben werden könnte: „Ein paar Stunden können mein Denken für den Rest meines Lebens umgestalten. Dies zu erreichen ist fast, aber nicht gänzlich unmöglich.“460 Die Umgestaltung des Lebens und die Möglichkeit zu dieser Veränderung sucht Brook – anders als Brecht – nicht in dem Weg der Verfremdung, sondern entdeckt sie als eine Folge der Verdichtung, die für ihn das Spezifikum der Theaterkunst ausmacht. Auch bei der Darstellung von Brook ist es nicht möglich – und angesichts der Vielfalt der bisherigen Brook-Rezeption in der Theologie auch nicht nötig –, Vollständigkeit anzustreben. Ich 451

Vgl. auch PLÜSS: Gottesdienst als Textinszenierung, 97f Anm. 40 [hier: 97], der davon spricht, dass Brook „zu einem Liebling der Liturgiker“ geworden sei. – Ulrike Suhr, die den ersten Beitrag zur liturgischen Rezeption von Brook 1996 vorlegte, begründete die Auswahl von Brook als Dialogpartner wie folgt: „Er gehört zu den wichtigsten zeitgenössischen Regisseuren, und in seinen Schriften geht es immer wieder um die Frage nach einer religiösen Dimension von Theater. […] sein Kulturverständnis weiß etwas vom Kult“ (SUHR: Das Handwerk des Theaters, 39). 452 Vgl. BROOK: Der leere Raum; Roths Hinweis aus dem Jahr 2006 (ROTH: Die Theatralität des Gottesdienstes, 273 Anm. 730), wonach Peter Brook fast ausschließlich unter dem Aspekt des „Heiligen Theaters“ verhandelt werde, wird allerdings bereits den Darstellungen von Roth nicht völlig gerecht. 453 Vgl. SUHR: Das Handwerk des Theaters. 454 Vgl. BIERITZ: Spielraum Gottesdienst, bes. 74–79. 455 Vgl. MARTIN: Sachbuch Bibliodrama, 13–20. 456 Vgl. STEINMEIER: Schöpfungsräume, 62–70. 457 Vgl. ROTH: Die Theatralität des Gottesdienstes, bes. 272f. 458 Vgl. PLÜSS: Gottesdienst als Textinszenierung, bes. 97–99.156–158. 459 Vgl. BROOK: Der leere Raum, 179f. 460 BROOK: Der leere Raum, 181.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

konzentriere mich daher auf die zentrale Kategorie der Verdichtung und bestimmte diese in fünf Aspekten näher, wobei ich zunächst eine grundlegende Beschreibung der Verdichtung als Ereignis des gegenwärtigen Augenblicks nach Peter Brook versuche und sodann vier Aspekte kurz durchbuchstabiere: den Raum, das Stück, die Schauspieler und die Zuschauer.461 (1) Verdichtung als Ereignis des gegenwärtigen Augenblicks: Peter Brook formulierte in einem 1991 gehaltenen Vortrag: „Die Essenz des Theater[s, AD] liegt in einem Mysterium namens ‚der gegenwärtige Augenblick‘.“462 Sowohl die religiöse Begrifflichkeit („Mysterium“) als auch die Formulierung „der gegenwärtige Augenblick“ erinnern an die oben dargestellten kulturwissenschaftlichen Überlegungen zur „Präsenz“. In Brooks Darstellungen wird konkreter als in den fundamentalhermeneutischen bzw. -ästhetischen Überlegungen, wie er sich das Geschehen dieser ‚Gegenwart‘ vorstellt. Die Grundlage besteht in dem schlichten Satz: „Theater ist Leben“463, wobei das Leben, das im Theater zur Darstellung komme, nicht einfach das alltägliche Leben sei, sondern „ein Konzentrat und verdichtete Zeit“.464 Aufgrund der Begrenzung des Theaters auf einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit werde hier „Leben“ in einer Dichte anschaulich, wie sie sonst nicht ‚greifbar‘, nicht erlebbar sei. Die „Verdichtung der Zeit“ bewirke eine „Verstärkung der Energie“.465 Nur so sei es möglich, „[…] die Zuschauer im Innern [zu] berühren und mit ihrer Hilfe eine neue Welt [zu] erschließen […], die mit ihrer eigenen verbunden und reicher, größer, geheimnisvoller ist als die Welt des Alltags.“466 Theater vermittle auf diesem Hintergrund eine Erkenntnis, die dem nahe kommt, was Theologen (und nicht Peter Brook) mit dem Begriff der „Offenbarung“ umschreiben würden. Brook spricht von „einem Augenblick tiefer Einsicht in die Beschaffenheit der Wirklichkeit“, einem Augenblick, der nicht andauern könne.467 An dieser Stelle ist an die Unterscheidung von vier Weisen des Theaters zu erinnern, die Brook in seiner 1968 zuerst auf englisch erschienenen Schrift „Der leere Raum“ vorstellt. Zunächst erwähnt er das „tödliche 461 Methodisch versuche ich so eine Synopse aus drei primären Quellen Peter Brooks, die in deutscher Übersetzung zugänglich sind: BROOK: Der leere Raum; ders.: Das offene Geheimnis; ders.: Vergessen Sie Shakespeare. „Der leere Raum“ wurde auch im englischen Original hinzugezogen. 462 BROOK: Das offene Geheimnis, 117. 463 BROOK: Das offene Geheimnis, 118. 464 BROOK: Das offene Geheimnis, 20. 465 BROOK: Das offene Geheimnis, 47. 466 BROOK: Das offene Geheimnis, 68. 467 BROOK: Das offene Geheimnis, 125. AaO., 137, spricht Brook von der „Wahrheit des gegenwärtigen Augenblicks“.

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Theater“, das schlecht und „sterbenslangweilig“, aber leider das häufigste sei und nur in der Wiederholung des Überkommenen lebe.468 Dem stellt er das „heilige Theater“ entgegen, bei dem die Wurzel des Theaters im Kultus am deutlichsten werde und das dadurch gekennzeichnet sei, dass die „Bühne“ zu einem Ort wird, „wo das Unsichtbare erscheinen kann“.469 Das „derbe Theater“ habe seine Wurzel demgegenüber im volkstümlichen Theater, es befasst sich „mit menschlichen Handlungen“, ist „erdhaft und unmittelbar“, gekennzeichnet von „Bosheit und Gelächter“ – und gerade so grundlegend ehrlich.470 Das „unmittelbare Theater“ schließlich steht bei Brook für die (ideale) Verbindung des heiligen und des derben Theaters; es ist das Theater des „lebendigen Ereingis[ses]“.471 Zu Recht erkennt Ursula Roth in der Beschreibung dieses „unmittelbaren Theaters“ die Verbindung von Performativem und Transformativem:472 Das erlebte Ereignis hat das Potential zur Veränderung des Lebens, da es selbst eine verdichtete Darstellung des Lebens ist, die in unvergleichlicher Intensität die „Beschaffenheit der Wirklichkeit“ zur Anschauung bringt.473 Für den dichten Augenblick, der bei Brook den Kern des Theaters ausmacht und die Leidenschaft für das Theater begründet, gilt damit dasselbe, was für die Momente der Präsenz in der obigen Darstellung kulturwissenschaftlicher Ästhetik erkannt wurde: Es sind vergängliche, nicht konservierbare und auf das Ereignis der Rezeption bezogene Momente, die gleichzeitig aber das Potential zur Veränderung bereithalten. Nach diesen sehr grundsätzlichen Überlegungen nun vier stärker auf die konkrete Aufführungssituation und das Handwerk bezogene Aspekte. (2) Verdichtung und der Raum: Für Peter Brook wird der leere Raum zur Basis einer gelingenden Theaterarbeit. Dies gilt im metaphorischen Sinn der Notwendigkeit einer Unvoreingenommenheit und Offenheit für das Geschehen als Voraussetzung der Inszenierungsarbeit, die etwa im Verzicht 468 Vgl. BROOK: Der leere Raum, 9–52; Zitat: 10f (im englischen Original: „The deadly theatre“). 469 Vgl. BROOK: Der leere Raum, 53–83; Zitat: 53 (im englischen Original: „The holy theatre“). 470 Vgl. BROOK: Der leere Raum, 84–128; Zitat: 93 (im englischen Original: „The rough theatre“). 471 Vgl. BROOK: Der leere Raum, 129–187, Zitat: 131 (im englischen Original: „The immediate theatre“). – Vgl. zum „unmittelbaren Theater“ als Verbindung des heiligen und derben Theaters BROOK: Das offene Geheimnis, 85; vgl. dazu auch MARTIN: Sachbuch Bibliodrama, 20. 472 Vgl. ROTH: Die Theatralität des Gottesdienstes, 273; vgl. auch aaO., 283f [hier in liturgischer Adaption]. 473 Vgl. auch STEINMEIER: Schöpfungsräume, 62–70, die Brook insgesamt unter der Überschrift „Die Wahrheit ist immer auf Wanderschaft“ rezipiert – und erkennt, dass das Theater bei Brook den Menschen auf der Suche nach Wahrheit helfen kann, indem es Momente des verdichteten Lebens anschaulich werden lasse.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

auf vorgängige Zuschreibungen von Sinn oder Bedeutung besteht. Dies gilt aber auch im sehr konkreten Sinn der nackten, leeren Bühne: „Damit ein Ereignis von einer bestimmten Qualität stattfinden kann, muß ein leerer Raum geschaffen werden. Ein leerer Raum erlaubt das Entstehen von etwas Neuem, denn alles, was mit Inhalt, Bedeutung, Ausdruck, Sprache und Musik zusammenhängt, erwacht erst zum Leben, wenn es als unverbrauchte und neue Erfahrung geschieht. Und eine solche ist nicht möglich ohne einen reinen, unberührten Raum, der offen ist, sie zu empfangen.“474

Freilich weiß Brook um die „Angst […] vor der Leere“,475 die Schauspieler befällt – von Beginn der Probenarbeit bis hin zur Aufführung –, die Angst vor der Stille, vor der körperlichen Ruhe. Dabei ist es genau diese Leere, die Wege hin zu der von Brook gesuchten Intensität der Aufführung weist. In Inszenierungsprozessen ist es für Brook entscheidend, mit möglichst wenig Vorgaben an die Probenarbeit heranzugehen. Die Form nämlich müsse sich, so Brook, allererst im Kontext des Spiels ergeben.476 Eine (vorgegebene) „Form an sich“ sei „tödlich“,477 so Brook, der sich damit deutlich davon abgrenzt, nach historischen Vorgaben für die Inszenierung oder gar nach einer vermeintlichen Ursprungsgestalt zu fragen. „Tradition“ in dieser Hinsicht setzt Brook mit „Erstarrung“ gleich.478 Er schreibt: „Ich glaube nicht daran, daß es einen Sinn hat, heilige Rituale der Vergangenheit, die uns wohl kaum dem Unsichtbaren näherbringen werden, ständig zu wiederholen. Das einzige, was uns dabei helfen kann, ist eine Bewußtheit der Gegenwart gegenüber.“479

(3) Verdichtung und das Stück: Die Metapher des leeren Raums entspricht auch der Herangehensweise an das vorgegebene Stück, für die Brook plädiert. Er stellt das – in der Praxis wohl nicht einfach zu realisierende – Ideal auf, alle vorgefertigten Ideen und Vorstellungen über ein Stück auf dem Weg der Aneignung durch die Schauspieler hinter sich zu lassen: „Wir dürfen nicht länger mit einer Idee, einem Begriff oder einer Theorie von der Figur beginnen. Es gibt keine Abkürzungen. Das gesamte Stück wird zu einem einzigen großen Mosaik, und wir nähern uns der Musik, den Rhythmen, der Fremdheit der Bilder, den Alliterationen, sogar den Reinem mit dem überraschten Staunen einer neu gemachten Entdeckung […].“480 474

BROOK: Das offene Geheimnis, 12. BROOK: Das offene Geheimnis, 35. 476 Vgl. BROOK: Das offene Geheimnis, 38f.79f 477 BROOK: Das offene Geheimnis, 74. 478 Vgl. BROOK: Das offene Geheimnis, 74 [Zitate ebd.]. 479 BROOK: Das offene Geheimnis, 87. 480 BROOK: Vergessen Sie Shakespeare, 57. 475

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 425

Brook konturiert hier eine Annäherung an den fremden Text des Stücks, die von Langsamkeit und Vorsicht geprägt ist. Er plädiert für das langsame und wiederholte Lesen, aus dem sich dann nach und nach Konturen der Figuren im Kontext der Rezeption der Lesenden einstellen und sich so etwas wie „Bedeutung“ ergibt: „Auch die Bedeutung erwächst langsam aus dem Text […]. Ein Text erwacht erst in seinen Details zum Leben.“481 An dieser Stelle ist es keine Frage, dass Brook den Texten der Tradition Respekt entgegen bringt und vor „plumpe[r] Modernisierung“ nur warnen kann. Vielmehr gelte es, die „überwältigenden ungenutzten Möglichkeiten“ zu entdecken, „die in ihm [dem Text, AD] stecken“.482 Aus dieser Art der Annäherung an die Textvorgabe ergibt sich bei Brook auch der Respekt vor den Figuren, die dargestellt werden. Selbstverständlich hätten diese mit dem menschlichen Leben zu tun und damit auch Nähen zu Menschen der Gegenwart; sie dürften aber keineswegs „gewöhnlich“ gemacht oder „auf Normalmaß“ gestutzt werden.483 Eine voreilige Identifikation nehme der Figur jeden Reiz: „Hamlet ist nur deshalb interessant, weil er nicht wie irgendein anderer ist, weil er einzigartig ist.“484 (4) Verdichtung und die Schauspieler: Für die Schauspieler geht es – soviel wurde aus den bisherigen Darstellungen bereits deutlich – darum, sich langsam und ohne Angst vor der Leere dem Stück und seinen Figuren zu nähern. Bei Brook geschieht diese Annäherung – anders als bei Brecht – sowenig wie möglich am Tisch, sondern auf der Bühne, die bei dieser Art des Lesens und ersten Agierens nach und nach ihre Gestalt gewinnt.485 Schon während der Probenarbeit, erst recht aber im Kontext der Aufführung hält es Brook für die entscheidende Leistung des Schauspielers, „zur selben Zeit in zwei Welten zu sein“ – innen bei dem Stück und der Figur und außen in dem Kontext des Spiels.486 Ursula Roth erkennt hier eine Verbindung der beiden Schauspieltechniken von Stanislawski und Brecht, ein 481

BROOK: Das offene Geheimnis, 158; vgl. ders.: Vergessen Sie Shakespeare, 62f.68f. BROOK: Vergessen Sie Shakespeare, 31. 483 BROOK: Vergessen Sie Shakespeare, 49. 484 BROOK: Vergessen Sie Shakespeare, 51. 485 Vgl. BROOK: Das offene Geheimnis, 106f: „Die mitteleuropäische Vorgehensweise ist mir allerdings ein Graus, wo man wochenlang an einem großen Tisch sitzt, um die Bedeutungsebenen eines Textes zu ermitteln, bevor man ihn in seinem Körper spüren darf. […] Theater ist dann doch etwas anderes …“ 486 BROOK: Das offene Geheimnis, 49. – Brook operiert mit einem Schauspielverständnis, auf das ich hier nicht näher eingehen kann. Er sieht die „besondere Fähigkeit des professionellen Schauspielers […] darin, ohne irgendeine sichtbare Verstellung oder Künstlichkeit in seinem Innern Gefühlszustände herzustellen, die nicht zu ihm, sondern zu seiner Figur gehören“ (aaO, 104). Vergleichbar spricht Brook auch von Präsenz des Schauspielers, die dieser aus einem Inneren entwickle, vgl. aaO., 106f. 482

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Ineinander von Involviertsein und gleichzeitiger Distanz.487 An dieser Stelle wird der Unterschied zum bürgerlichen Illusionstheater besonders deutlich: Das Spiel lebt davon, dass es im Wechselspiel zwischen den Schauspielern und den Zuschauern allererst und immer neu entsteht. Alles andere wäre das, was er unter den Begriff des tödlichen Theaters fasst. Brook illustriert diesen Aspekt in einem einleuchtenden Beispiel. Er habe ein islamisches Mysterienspiel im Iran erlebt, in dessen Kontext sich wahre Wunder ereignen konnten, als es auf dem Dorf weit weg von der Hauptstadt aufgeführt wurde. Dieses Stück wurde im Rahmen eines Festivals auf die große Bühne einer Stadt gezerrt und so vom ‚heiligen Theater‘ zu einem Stück „Kultur“ verwandelt, bei dem die Zuschauer interessiert, aber distanziert dabei waren – und d.h. faktisch: Es wurde in ein totes Theater transformiert.488

(5) Verdichtung und die Zuschauer: Damit ist das Entscheidende über die Rolle der Zuschauer im Kontext der Erfahrung der Verdichtung bei Brook bereits gesagt. Sie sind für ihn – wenn das Theater nicht ‚tödlich‘ wird – nicht Zuschauer, sondern „Komplize[n] der Handlung“ und in dieser Weise bei der Entstehung des Theaters beteiligt.489 Das Ereignis der Verdichtung, das Zuschauer im Theater erleben können (nicht automatisch werden), bestimmt Brook als ein Ineinander von Emotionalem und Kognitivem – wobei sich auch hier wieder eine interessante Parallele zur Darstellung von Offenbarungsereignissen in theologischem Kontext ergibt, auf die Brook freilich nicht zu sprechen kommt. Brook räumt dem Emotionalen ein gewisses Prae ein, isoliert es aber nicht vom „Intellekt“: „Das Theater betätigt durch die Energie von Klang, Wort, Farbe und Bewegung einen emotionalen Schalter im Menschen, wodurch wiederum Erschütterungen durch den Intellekt geschickt werden.“490 Brooks Ansätze, die Verdichtung als wesentliche Bestimmung eines Theaters, das sich vom tödlichen Theater abgrenzt, zu beschreiben, weisen auf eine Form des Theaters, die auf andere Weise zur Veränderung der Zuschauer führt und zu einer anders gearteten Form der Veränderung. Bei beiden – Brecht und Brook – ist Theater aber mehr als nur ‚kulinarisch‘, mehr als nur eine Auszeit zur Regeneration bürgerlich-neuzeitlicher Subjektivität.

487

ROTH: Die Theatralität des Gottesdienstes, 197. Vgl. BROOK: Das offene Geheimnis, 64–67. 489 BROOK: Das offene Geheimnis, 43. 490 BROOK: Das offene Geheimnis, 123. 488

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5.2.3.3 Eine knappe liturgische Aufnahme In sieben Aspekten nehme ich die Erkenntnisse aus der Wahrnehmung der Inszenierungstheorie von Bertolt Brecht als knappe liturgische Bestätigungen bisheriger Einsichten und Anfragen auf dem weiteren Weg der Erarbeitung auf, in vier Aspekten führe ich die Überlegungen von Peter Brook liturgisch weiter: (1) Brechts Einsicht in die ‚Banalität‘ eines lediglich zur ‚Unterhaltung‘ (im engen Sinn!) genutzten, eines ‚kulinarischen‘ Theaters, das nicht über sich hinausweist und vor allem: die Betrachter nicht verändert (und dies auch in keiner Weise intendiert, da es primär mit dem eigenen Selbsterhalt im Kontext konkurrierender Produkte auf dem Markt kultureller Angebote beschäftigt ist), kann auch liturgisch gelesen werden. Es wäre die ‚Banalität‘ eines Gottesdienstes, bei dem das Subjekt fröhlich (oder gelangweilt) bei sich selbst verharrt und sich selbst bestätigt bzw. durch die Art und Weise der Gestaltung bestätigt wird – ein Gottesdienst als Pflege neuzeitlich-bürgerlicher Innigkeit und Innerlichkeit. Und gleichzeitig ein Gottesdienst, bei dem das Entscheidende (nach Luther), dass der Mensch im Gott-menschlichen Wortwechsel ‚extern‘ neu konstituiert wird, aus dem Blick gerät. Auf diese Gefahr kann Brechts Skepsis gegenüber einer bestimmten Art und Weise des bürgerlichen Theaters bis heute hinweisen. Gleichzeitig war es für Brecht die neuartige kulturelle Marktsituation, die die Theater zu Anbietern machte, um ihre Kunden werben ließ und so zur ‚kulinarischen Banalisierung‘ des Theaters beitrug – das Illusionstheater wurde als emotional mitreißende, aber in ihrer Wirkung bedeutungslose Veranstaltung gestaltet und gerade so vom Publikum begehrt und geschätzt. Es bedürfte einer intensiveren Analyse, als sie hier möglich ist, um diese Beobachtung auf die Situation des Gottesdienstes im frühen 21. Jahrhundert zu übertragen. Aber dass auch er sich in einer Marktsituation befindet und mit anderen kulturell-gesellschaftlichen und individuell-familiären Angeboten und Möglichkeiten am Sonntagvormittag konkurrieren muss, ist evident. Ebenso evident erscheint es, dass manche ‚Formate‘, die gegenwärtig entwickelt oder gar noch als „best practice“ für andere modellhaft vorgeführt werden,491 das Brechtsche Etikett ‚kulinarischer Banalisierung‘ durchaus zurecht tragen könnten.

491

Der legendäre „Erdbeerkuchen-Sonntag“, zu dem die EKD im Rahmen ihrer Werbeaktion für den 12.5.2003 einlud, sei hier nur exemplarisch erwähnt; vgl. dazu NÜRNBERGER: Warum McKinsey für die Kirche keine Lösung ist, 4.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Brecht schreibt: „Die Stoffe sind ungeheuerlich, unsere Dramatik muß das berücksichtigen.“492 – Dieser kurze Satz könnte auch die Frage nach der Inszenierung des Gottesdienstes bewegen: Der Stoff (der Gott-menschliche Dialog!) ist ungeheuerlich; die Dramatik muss das berücksichtigen! (2) Brecht wollte – wie gezeigt – der einseitigen emotionalen Ausrichtung im gegenwärtigen Illusionstheater eine Art und Weise des Theaters entgegensetzen, die zugleich Emotion und Intellekt anspricht. Dass es im Zuge dieser Gegenbewegung vor allem zu einer Betonung des Kognitiven und mithin zu einer kognitiven Engführung durch die verschiedenen V-Effekte kam bzw. kommen konnte, ist die beinahe notwendige Folge der Kurskorrektur. – Auch an diesem Punkt lassen sich Nähen zu einem bestimmten Gottesdienstverständnis ausmachen, vor allem zu der neuen Form der politischen Gottesdienste in den 1960er Jahren – etwa zu dem „Politischen Nachtgebet“.493 Es genügt nicht, so ließe sich die Grundidee dieser Form der Liturgie beschreiben, die Welt aus dem Gottesdienst weitgehend herauszuhalten und nur in der Fürbitte knapp und pauschal zu erwähnen, es ist Zeit, sie genau wahrzunehmen (Information) und sie durch konkrete Schritte aktiv zu verändern (Aktion). Das Problem, das wohl auch wesentlich dafür verantwortlich ist, dass diese Form des Gottesdienstes in der Gegenwart nur noch eine eher marginale Rolle spielt, liegt in der Tendenz zur Auflösung dessen, was den Gottesdienst eigentlich zum Gottesdienst macht (wie sich bei Brecht eine Tendenz zur Auflösung des Spezifischen des Dramatischen ins Epische hinein als Gefahr ergeben konnte!): Die Horizontale siegt; die Vertikale wird ausgeblendet. – Bleibend wichtig aber scheint mir, dass bei Brecht wie auch in den politischen Gottesdiensten der 1960er Jahre die Welt in ihrer Konkretion und nicht in einer dogmatischblassen Abstraktion zum Gegenstand wurde – und entsprechend auch das konkrete Handeln betont wurde. So grenzte sich Brecht gegen die Abstraktion einer „Moral“ ab, die letztlich doch nur eine bestimmte Weise bürgerlicher Selbstzufriedenheit beruhigend bestätigt. Theater sei – anders als Schiller dies wollte – eben keine moralische Anstalt. Brecht schreibt: „Wir sprachen nämlich nicht im Namen der Moral, sondern im Namen der Geschädigten.“494 Wo die „Geschädigten“ vorkommen, verwandelt sich die abstrakte Moral in die Herausforderung zur Veränderung. Ebenso war dies auch bei den politischen Gottesdiensten der 1960er Jahre intendiert. Für die gegenwärtige liturgische Gestaltung scheint mir damit vor allem die Frage nach einer 492

Zitiert bei HECHT: Der Weg zum epischen Theater, 53. Vgl. SÖLLE/STEFFENSKY: Politisches Nachtgebet in Köln. 494 BRECHT: Schriften zum Theater, 71f. 493

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Sprache gestellt, die sich (gerade im Fürbittgebet) nicht mit Abstraktionen begnügt, sondern so konkret wie möglich Weltwirklichkeit auf Gottes (vermisste, ersehnte) Gegenwart hin zur Sprache bringt.495 Damit sich das ereignet, was Karl-Heinrich Bieritz als den „Spielraum“ des Gottesdienstes in politischer Perspektive beschreibt: „Gottesdienst zeigt sich darin als ‚Spielraum‘, daß er den destruktiven, tödlichen Gesellschafts-Spielen, wie sie fortwährend – unter immer wieder neuen Namen – auf der Bühne des Lebens inszeniert werden, ein Gegen-Spiel entgegensetzt. Daß er GegenErfahrungen ermöglicht, in denen sich die Welt-Erfahrung bricht.“496

(3) Brecht beschreibt den Schauspieler in einer herausfordernden Mittelstellung: zwischen seiner Rolle und der entsprechenden Figur einerseits und den Zuschauern andererseits. Dass Brecht – wie gezeigt – auch die notwendige Distanz zwischen Zuschauern und Schauspielern betont, erscheint mir weiterführend. Für Brecht war sie eine Voraussetzung dafür, dass es zu Erkenntnissen bei Zuschauern kommen kann. – Wie verhält es sich damit im Gottesdienst? Ist die Familiarität, ist der Versuch des persönlichen Näherkommens von Liturg und Gemeinde, wie er unter dem Stichwort der Authentizität vielfach gesucht wird, vielleicht gerade ein Problem? Ich meine: ja – und habe diese Problematik oben bereits als Spannung zwischen der ‚starken‘ und der ‚radikalen‘ Präsenz des Liturgen erwähnt. Sie führt mich unten (5.3.2) weiter zum Begriff der liturgischen Medialität. (4) Vergleichbar erscheint es mir bedeutsam, dass Brecht eine Distanz zu der Textvorgabe fordert. Es gehe um das Zitieren und Referieren, nicht aber um die Identifikation. Diese Bestimmung erinnert an die Hochschätzung des Zitats im Umgang mit dem Fremden bei Bernhard Waldenfels, der schreibt: „Wer eine Rede zitiert, wiederholt nicht etwas, was gesagt wurde, er wiederholt das fremde Sagen […].“497 Auch Peter Brook zeigte auf seine Weise die Notwendigkeit, die Fremdheit des Textes und damit auch die Nichtalltäglichkeit dessen, was im Theater dargestellt wird, aufrecht zu erhalten. Ich meine, dies könnte auch eine Perspektive für den Umgang mit liturgischen Texten werden: Sowohl Brecht als auch Brook weisen auf die Fremdheit und das bleibende Gegenüber der Texte der Vorgabe hin. Es müssen nicht die Texte des Schauspielers werden, die er im Theater vorträgt. Die professionelle Rollendistanz ermöglicht, auch fremde Texte gut und ‚stimmig‘ (wenngleich nicht in 495 Vgl. MILDENBERGER: Fürbitte als solidarische Weltwahrnehmung; und vgl. unten Kap. 6.3.2.4. 496 BIERITZ: Spielraum Gottesdienst, 95. 497 WALDENFELS: Vielstimmigkeit der Rede, 161.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

einem bestimmten und engen Sinn der ‚starken‘ Präsenz authentisch) vorzutragen. Einfacher gesagt: Ich muss als Liturg oder Liturgin nicht unbedingt jeden Satz, der in der liturgischen Vorgabe gebraucht wird, heute und jetzt ‚gut‘ und ‚absolut stimmig‘ finden, um mich dennoch auf diese Texte einlassen zu können – und vielleicht im „Zitat“ ein Mehr zu erfahren, als es jeder eigene Text an dieser Stelle vermocht hätte. Diese Haltung kann davor bewahren, allzu schnell Eingriffe in traditionelle Textgestalten (etwa des Confiteor oder der Kollektengebete) vorzunehmen und umgekehrt mit einem ‚Grundvertrauen‘ auf diese Texte zuzugehen, das damit rechnet, dass nicht nur „etwas, was gesagt wurde“, in den Texten wiederholt wird, sondern „das fremde Sagen“ sich neu ereignet.498 (5) Brechts episches Theater unterscheidet sich vom überkommenen dramatischen unter anderem dadurch, dass der eine Spannungsbogen, den bereits Aristoteles in seiner Theatertheorie beschrieb, durchbrochen und relativiert wird. Die Spannung sei, so Brecht, im epischen Theater nicht auf den Ausgang gerichtet, sondern auf den Gang. In jeder einzelnen Szene könne etwas Neues anschaulich werden, das bisher so noch nicht erkannt wurde. – Wann immer der Gottesdienst auf den einen großen Spannungsbogen ausgerichtet wurde, ergaben sich Probleme. Wie oben gezeigt wurden diese etwa bei Wilhelm Löhe greifbar, der sich gegen eine bestimmte Weise wehrte, den Spannungsbogen im evangelischen Gottesdienst so zu konzipieren, dass der eine Höhepunkt der Predigt betont wurde und der gesamte Gottesdienst auf diesen Gipfel zulief. Stattdessen wollte Löhe das Abendmahl nicht verlieren, was ihn dazu führte, den Gottesdienst als zweigipfeligen Weg zu beschreiben, bei dem der Gipfel des Abendmahls den Gipfel der Predigt noch überrage. Dass er sich damit in eine dramaturgische Aporie manövrierte, war Löhe so nicht klar, scheint aber evident. Auch gegenwärtig begegnen Beschreibungen des Gottesdienstes, die den einen Höhepunkt fokussieren – etwa dort, wo Manfred Josuttis von dem „Weg ins Leben“ spricht. Martin Nicol versucht auf diesem Hintergrund bereits durch den Titel seiner 2009 erschienenen Liturgik eine Korrektur. Bewusst beschreibt er den Gottesdienst als „Weg im Geheimnis“ – und möchte mit dieser Beschreibung zu einer Entdramatisierung des liturgischen Vollzugs beitragen. Nicol schreibt: „Liturgisch signalisiert der Weg ‚im‘ Geheimnis, dass der Gottesdienst nicht einer Dramaturgie der Spannungssteigerung und der Höhepunkte folgen muss. Man muss […] nicht erst ‚ins‘ Geheimnis kommen. Anfang und Schluss, Salutatio und Segen

498 Vgl. die weiterführenden Überlegungen zur liturgischen Sprache unten Kap. 6.3; bes. 6.3.2.4.

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 431 sind in gleicher Weise Schritte auf dem Weg im Geheimnis wie die großen Sequenzen von Kyrie und Gloria bis zum Agnus Dei oder auch Predigt, Fürbitten und Abkündigungen.“499

Die „ruhigere Gangart“500, die sich Nicol für den Gottesdienst jenseits der einen dramaturgischen Steigerung vornimmt, hat Entsprechungen zu der Spannung auf den „Gang“, nicht „Ausgang“, die Brechts episches Theater fokussiert und scheint mir im Blick auf die liturgische Inszenierung weiterführend. (6) Brecht beschreibt das Ideal, dass Emotion und Nachdenken bei den Zuschauern zugleich aktiviert werden, wobei freilich letztlich nicht die Empfindungen, sondern die Erkenntnisse entscheidend werden.501 Damit liegt in der Theatertheorie Brechts ein ‚sinnkulturelles‘ Gefälle, das aus der Perspektive heutiger Theaterwissenschaft sicher kritisiert werden kann – letztlich aber genau die Art und Weise spiegelt, wie Gottesdienste vielfach konzipiert werden. Dass aus ihnen ‚Erkenntnisse‘ mit nach Hause genommen werden sollen und weniger Erfahrungen, erscheint als eine durchaus leitende Idee nicht weniger evangelischer Gottesdienstgestaltungen. Zu suchen und zu finden wäre eine Gottesdienstgestaltung, die die Dichotomien überwindet und weder das Nachdenken gegenüber dem Fühlen überbetont noch umgekehrt eine neue Kultur der Emotionalität errichtet, die das Denken ausklammern muss. Das bereits oben (Kap. 2.2.3) angedeutete Wechselspiel von Wort und Kult nimmt diese Doppelheit unten wieder auf (Kap. 5.3.1; Kap. 6.2 und 6.3). (7) Klaus-Detlef Müller stellt fest, dass die „Sehgewohnheiten des Publikums“ bei Brecht zu wenig in ihrer widerständigen Kraft gegen ein neues und anderes Theater bedacht wurden.502 Ans ‚Kulinarische‘ gewöhnte bürgerliche Subjekte hatten ihre Schwierigkeit mit der anderen Art der Theaterästhetik – was entweder zu Ablehnung führen konnte oder dazu, dass die neuen Ansätze schlicht vom dominierenden Paradigma des Illusionstheaters ‚geschluckt‘ wurden. – Wie verhält es sich, so die Frage, mit den Gottesdienstbesucherinnen und -besuchern? Wenn evangelische Christinnen und Christen Gottesdienst als eine primär sinnkulturell dominierte Veranstaltung mit einem idealiter kognitiv orientierten Erkenntnisgewinn verstehen – wie könnte dann eine veränderte Ästhetik reüssieren, die nicht einfach diese Bedürfnisse bedient, sondern unter Umständen Neues wagt, auf Brüche 499

NICOL: Weg im Geheimnis, 30f. NICOL: Weg im Geheimnis, 31. 501 Vgl. HECHT: Der Weg zum epischen Theater, 69f. 502 MÜLLER: Der Philosoph auf dem Theater, 159. 500

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setzt und Leerstellen inszeniert? Es wird nötig sein, auf die Art und Weise, wie Evangelische den Gottesdienst wahrnehmen und üblicherweise rezipieren, ein eigenes Augenmerk zu lenken (Kap. 6.1). Vor allem vier Aspekte scheinen mir aus den Überlegungen von Peter Brook für das liturgische Weiterdenken bedeutsam: (1) Der Schauspieler müsse „zur selben Zeit in zwei Welten sein“ – so formuliert Peter Brook.503 Ulrike Suhr nimmt diese Bestimmung auf und führt sie so weiter, dass sie die beiden Kategorien der Glaubwürdigkeit und der Verständlichkeit als grundlegend für die liturgisch Agierenden beschreibt: Glaubwürdigkeit steht dabei bei Suhr für den Pol der ‚Welt‘ der biblischen Botschaft und der liturgischen Tradition – eine fremde Welt, zu der die in liturgischen Rollen Handelnden aber Zugang haben müssten. Verständlichkeit markiert demgegenüber die notwendige Aufmerksamkeit für die Gegenwart und die Lebenswirklichkeit der Gottesdienst feiernden Gemeinde.504 David Plüss hat diese Bipolarität noch weiter ausdifferenziert und vier Ebenen benannt: Auf der Seite dessen, was Suhr der Glaubwürdigkeit zurechnet, steht bei Plüss die „Rolle“ sowie das „Skript“ (als die Vorgabe liturgischer Texte); auf der Seite der Verständlichkeit kommen die eigene Person sowie die „Situation“ zu stehen.505 – Damit wird das, was ich oben durch die Figur der liturgischen Pyramide (2.3.1) als grundlegende Wechselbeziehung des Gottesdienstes beschrieben habe, nochmals durch die theatertheoretische Überlegung zugespitzt: Wie gelingt es den liturgisch Handelnden, sich auf dem Grat zu bewegen, der zwischen Lebenswirklichkeit und Tradition, biblischer Welt und gegenwärtiger Welt beschritten werden muss? – Diese Anfrage an die Gestaltung liturgischer Sprache und für die verwendeten liturgischen Zeichen soll unten (Kap. 6.3) weiter diskutiert werden. (2) Schon in Aufnahme von Brechts Überlegungen wurde die Bedeutung des Gegenübers der Figur und damit des Stückes betont und in Verbindung mit Waldenfels in schauspieltheoretischer Hinsicht als Kunst des Zitats weitergeführt. Dieser Respekt vor dem Fremden findet bei Brook besondere Beachtung. Er fordert eine langsame Annäherung an die Texte – und warnt vor jeder vorschnellen Vereinnahmung oder gar Modernisierung und Aktualisierung. – Anne M. Steinmeier nimmt eine der wesentlichen Metaphern 503

BROOK: Das offene Geheimnis, 49. Vgl. SUHR: Das Handwerk des Theaters, 43; vgl. auch PLÜSS: Gottesdienst als Textinszenierung, 157. 505 Vgl. PLÜSS: Gottesdienst als Textinszenierung, 320. 504

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Peter Brooks auf und verbindet sie mit dieser behütend-bewahrenden Weise des Umgangs mit dem fremden Text. Sie spricht von der „‚nackte[n] Bühne‘ der fremden Texte“.506 Auch Ulrike Suhr rezipiert Brooks Anregungen entsprechend und schreibt: „Das heißt: Lesen lernen. Sprechen lernen. Die Sprache der Bibel zum Sprechen kommen lassen. Die oft fremde, manchmal gewaltige, manchmal poetische Sprache zu ihrem Recht kommen lassen. Die Texte wie Literatur entdecken. Texte oft und laut lesen und mit ihnen spielen.“507

Liturgisches Lernen als eine besondere Form der Mystagogie könnte aus diesen Impulsen seine Bestimmung erhalten (Kap. 6.3.3). (3) Mit dem Begriff des leeren Raumes beschreibt Peter Brook das, was für ihn zur Basis jedes kreativen Prozesses im Theater wird. Gleichzeitig ist er realistisch genug, die im Schauspieler tief verwurzelte „Angst […] vor der Leere“ mit ins Kalkül zu nehmen.508 – Es erscheint mir leicht möglich, diese Angst auch als eine grundlegende Angst des Liturgen zu benennen. Brook bestimmt sie näher als Angst vor der Stille und der körperlichen Ruhe. Nicht selten geschieht es auch in Gottesdiensten, dass sich diese Angst so Ausdruck verschafft, dass es kaum noch Phasen der Stille gibt und weniges übrigbleibt, was ohne einordnende Erläuterung des Liturgen einfach so stehen bleiben darf (Kap. 2.2.3.1 (3)). Da wird das Credo mehr oder weniger apologetisch begründet, zum Singen der Lieder motiviert oder z.B. auch zum Vaterunser mehr oder weniger weitschweifig übergeleitet, wo es sich doch – so wenigstens Martin Nicol – eigentlich von selbst verstehen würde: „Durch eine Art Regieanweisung wird versucht, von den Fürbitten in die Vaterunserbitten überzuleiten. Das unterbricht den Duktus des Gebets; das eigene Gebet mündet nicht mehr mit liturgischer Selbstverständlichkeit in das vorgegebene Beten. Das parataktische ‚Münden‘ weicht einem latent hypotaktischen Zuordnen […].“509

Mit den Begriffen parataktisch und hypotaktisch benennt Nicol ein liturgisches Phänomen, das er als grundlegendes Problem wahrnimmt und das sich m.E. mit der Angst des Liturgen vor der Leere gut verbinden und ansatzweise erklären lässt. Liturgie sei, so Nicol, ihrem Wesen nach parataktisch; in ihr folgen einzelne Sequenzen (wie etwa Kyrie und Gloria oder Fürbitten und Vaterunser) unverbunden und d.h. ohne logische Überleitung (nicht hypotaktisch also!) aufeinander. Die (in meiner Begrifflichkeit) do506

Vgl. STEINMEIER: Schöpfungsräume, 73–76. SUHR: Das Handwerk des Theaters, 46. 508 BROOK: Das offene Geheimnis, 35; vgl. zum leeren Raum besonders aaO., 12. 509 NICOL: Weg im Geheimnis, 54f. 507

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minierend sinnkulturelle Orientierung des Gottesdienstes im evangelischen Bereich aber führe dazu, dass solche Schnitte und abrupten Übergänge mehr und mehr durch den Versuch, sanfte, logische Überleitungen zu schaffen, durch die liturgisch Handelnden überbrückt würden. Die weiten Raum der Rezeption eröffnende Parataxe weiche der dominierenden Hypotaxe, die den Gottesdienst unter eine bestimmte Deutungsperspektive einordne und so Rezeptionsmöglichkeiten verenge.510 – Mit David Plüss ließe sich diese hier rezeptionsästhetisch beschriebene Problematik auch theologisch wenden; Plüss nämlich hält den leeren Raum für notwendig, weil der Liturg Gott selbst Raum gewähren müsse.511 (4) Wo es um das Ineinander von Form und Inhalt geht, wird man sich – daran erinnert Brook nachhaltig – niemals mit der einmal gefundenen formalen Realisierung und bestimmten Inszenierung einfach zufrieden geben können. Die Form müsse wandelbar bleiben, ansonsten werde sie „tödlich“512 – und partizipiere insgesamt an dem, was Brook das tödliche Theater nennt. – Was bedeutet diese Unumgehbarkeit formaler Wandelbarkeit in liturgicis? Auch hier erscheint klar, dass die Aussage, wonach eine bestimmte liturgische Geste ‚richtig‘ ausgeführt werde, prekär ist – obgleich sie besonders von liturgisch ‚sensiblen‘ und wissenden Menschen immer wieder so verwendet werden kann. Liturgik würde so aber zu einer starren Rubrizistik – und die Form würde „tödlich“! Demgegenüber gilt: Auch liturgisch werden die Inhalte immer neue liturgische Gestogramme erzwingen, wie sich umgekehrt aus liturgischen Gesten eine Neuentdeckung von Inhalten ergeben kann. Das Wechselspiel von Form und Inhalt, von Gesten und Worten, von Tönen und Texten etc. ist immer neu der Gestaltung und Reflexion aufgegeben, insofern kann Brooks Imperativ zur Beachtung der Veränderlichkeit der Form auch liturgisch rezipiert werden. Gleichzeitig aber gehört zum gefeierten Gottesdienst auch die Verlässlichkeit gleich bleibender Formen. Die Entdeckung der befreienden und anthropologisch wie soziologisch unerlässlichen Ritualität des Gottesdienstes gehört zu den bleibenden Verdiensten einer humanwissenschaftlich orientierten Wahrnehmung des Gottesdienstes. Damit gilt es, das durch die beiden Aspekte Veränderbarkeit und Verlässlichkeit gegebene Spannungsfeld immer neu auszutarieren. Wie die Überlegungen von Peter Brook zeigen, erscheint dazu der Respekt vor dem Fremden als entscheidende Herausforderung. Niemand meine, zu schnell eine bestimmte Art und Weise der Gestaltung abschaffen zu kön510

Vgl. NICOL: Weg im Geheimnis, 43–64. PLÜSS: Gottesdienst als Textinszenierung, 242. 512 BROOK: Das offene Geheimnis, 74. 511

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 435

nen, nur, weil sie ihm selbst vielleicht momentan nicht wirklich einleuchtet. Andererseits ist m.E. dem evangelischen Gottesdienst der Gegenwart eine durchaus gewichtige Gestaltungsfrage aufgegeben: Wenn die im zweiten Kapitel aufgestellte These ihre Berechtigung hat, wonach die theologische Grundeinsicht der lutherischen Reformation aufgrund der problematischen Verschiebung des äußeren Wortes in die Predigt hinein noch immer nach der ihr entsprechenden Form sucht, dann besteht an dieser Stelle gewichtiger liturgischer Handlungsbedarf (Kap. 6.3).513

5.3 Liturgische Verfremdungseffekte, ihre Notwendigkeit und ihre Folgen 5.3.1 Kult, Wort und WORT. Eine zusammenfassende Aufnahme der kulturwissenschaftlichen Beobachtungen Die kultur- und theaterwissenschaftliche Umschau zu den Fragekreisen des Subjekts in der Neuzeit und seiner Relativierung durch das Fremde und zu einer Inszenierung zwischen Präsenz und Absenz zeigte immer wieder Anschlussmöglichkeiten an die im zweiten Kapitel dieser Erarbeitung eingeführten theologischen Grundfragen zum evangelischen Gottesdienst in Aufnahme von Luthers Bestimmung des Gottesdienstes als Gott-menschlichen Wort-Wechsel und damit als Geschehen des äußeren Wortes (verbum externum). Wagt man eine Reformulierung dieser theologischen Grundlegung in gegenwärtiger kulturwissenschaftlich-ästhetischer Begrifflichkeit,514 so könnte diese wie folgt erfolgen: Evangelischer Gottesdienst bedeutet das Sich-Ereignen des radikal Fremden (im Sinne von Bernhard Waldenfels) als Ereignis einer – sich der Erfahrung zugleich entziehenden – Gegenwart 513 Vgl. auch NICOL: Weg im Geheimnis, 135–161, der unter der Überschrift „Kultbuch Bibel“ der Frage nachgeht, wie das Bibelbuch und mit ihm die Lesungen im evangelischen Gottesdienst der Gegenwart eine neue Würdigung und Gewichtung erfahren könnten. – Bislang wurde die Theologie des Wortes Gottes eher nicht als (liturgische) Gestaltungsaufgabe verstanden. Darauf habe ich oben (Kap. 2) aufmerksam gemacht; dies zeigt sich aber etwa auch an der simplen Tatsache, dass der TRE-Artikel zum „Wort Gottes“ mit einem systematisch-theologischen Beitrag endet und nicht mit einem praktisch-theologischen Abschnitt weitergeführt wird. 514 Das ‚Wagnis‘ der folgenden Bestimmung liegt darin, dass sie (1) verschiedene kulturwissenschaftliche Stimmen (und damit: Konzepte und Ansätze) zusammenführt und (2) eine Reaktion von kulturwissenschaftlicher Seite auf eine Bestimmung des Gottesdienstes in deren Begrifflichkeit aussteht. Es wurde bereits oben bemerkt, dass die Theologie zwar inzwischen vielerorts und auf unterschiedliche Weise ins Gespräch mit gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Ansätzen eintritt, es aber umgekehrt kaum eine Wahrnehmung theologisch-ästhetischer Bestimmungen (etwa des Gottesdienstes) durch Kulturwissenschaftler gibt.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Gottes (mithin als einer präsenten Absenz!) in seinem bleibend externen Wort; er geschieht im leiblich ko-präsenten Miteinander verschiedener Menschen, die in unterschiedlichen Rollen interagieren und in denen das göttliche Wort konkrete Leibgestalt gewinnt als Leib Christi.515 Das Ereignis der präsenten Absenz als Ereignis des Wortes relativiert die Subjektivität des glaubenden Individuums, indem es dieses aus seiner (sündhaften!) Selbstbezüglichkeit der Egologie neuzeitlicher Subjektivität herausreißt, so die Subjekt-Objekt-Unterscheidung aufhebt, und das Individuum dergestalt deterritorialisiert, dass es (im Glauben!) zu einem Anderen seiner selbst wird, ohne dieses Andere seiner selbst nun neuerlich fixieren oder greifen und so zu einem Teil seiner selbst machen zu können. Für die Gestaltung des Gottesdienstes bedeutet dies die Notwendigkeit einer Relativierung einseitig sinnkultureller Paradigmen (thematische Ausrichtung; Dominanz des Verbalen …) und damit das In- und Miteinander von Wort und Kult sowie die Relativierung der Rolle der Liturginnen und Liturgen durch die Verschiebung von einer starken zu einer radikalen Präsenz (im Sinne FischerLichtes). Diese Beschreibung des Geschehens im (evangelischen) Gottesdienst in kulturwissenschaftlicher Terminologie macht es auch möglich, nochmals auf einen Unterschied meines Ansatzes zum Verständnis der Dimension der Erfahrung im Gottesdienst zu verweisen, wie sie bei Wilhelm Gräb begegnet. Für Gräb ist die religiöse Erfahrung im Gottesdienst (und darüber hinaus) als eine durch das Individuum auf spezifische, nämlich: religiöse, Weise gedeutete ästhetische Erfahrung zu bestimmen. Die Präsenzerfahrung, die mit anderen ästhetischen Erfahrungen vergleichbar sei, werde erst durch den expliziten Eintrag in den entsprechenden sinnkulturellen Horizont zu einer religiösen Präsenzerfahrung, also: zu einer Erfahrung von Gottes Gegenwart. – Demgegenüber müsste im Kontext der obigen Beschreibung eher davon gesprochen werden, dass allein schon der Kontext des Gottesdienstes bzw. die Konstellation, in der Menschen im Gottesdienst versammelt sind, dazu führt, dass die Präsenzerfahrung von vornherein als religiöse erlebt wird. Das Sich-Ereignen selbst ist (im Sinne eines Lutherschen „est“, nicht eines „significat“!) aufgrund des bestimmten kommunikativen Kontextes ein Sich-Ereignen Gottes, aus dem sich ein entsprechend responsives Verhalten des Betroffenen ergibt – ein Verhalten, über das dann freilich nachträglich noch weitergehend reflektiert und das dann auch mit anderen ästhetischen Erfahrungen verglichen werden kann. Nur so kann es geschehen, dass das ‚Subjekt‘ nicht neuerlich durch die Erfahrung des Gottesdienstes in seiner starken Subjektivität bestärkt wird, indem es sich selbst die Hoheit über die Art und Weise der Deutung zuschreibt, sondern aus seiner Egologie herausgeführt wird.

Das wesentliche Geschehen des Gottesdienstes wurde in den eben formulierten Sätzen kulturwissenschaftlich als Ereignis präsenter Absenz, theolo515

Vgl. dazu JÜNGEL: Einheit und Vielheit der Kirche, 149f.

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 437

gisch als Wortereignis gefasst. Gleichzeitig wurde für die Gestaltung das Wechselspiel von Wort und Kult angeführt, das sich auch oben (Kap. 2.2.3) bereits für die Heuristik der Problemfindung als hilfreich erwies. Zweifach erscheint damit der „Wort“-Begriff (als Wortereignis und in der Verbindung mit dem Kult). Um Äquivokationen im Verständnis des Wortes zu vermeiden, scheint es mir nötig und für den Fortgang der Überlegungen unerlässlich, diesen Begriff näher zu bestimmen.516 Folgende Skizze legt sich dazu nahe: WORT Kult

Wort

Das unbegreifbare, niemals vollständig verstehbare, aber dennoch wirksame, das „heilige“ göttliche Wort, das Menschen trifft und verändert, herausholt aus ihrem Kreislauf des Um-Sich-Selbst-Kreisens, aus der Sünde (mit Lévinas: aus der „Egologie“), bezeichnet das grundlegende Geschehen, das – entsprechend Luthers fundamentaler Bestimmung – im Gottesdienst erwartet werden kann. Es soll als WORT auch durch die Schreibweise herausgehoben werden.517 Dieses WORT ist eine grundlegende Geschehenskategorie im Gottesdienst, die phänomenologisch dem entspricht, was kulturwissenschaftlich mit dem Begriff der „Präsenz“ umschrieben werden kann, aber durch den Gottesdienst von vornherein in einem anderen Deutungskontext (dem der Gottesgegenwart) steht. Was das WORT im Unterschied zum Wort (und den Worten) und doch in wechselseitiger Bezogenheit aufeinander bedeutet, sei an einer kurzen Betrachtung einer exemplarisch und einigermaßen willkürlich herausgegriffenen biblischen Geschichte exemplifiziert. Die Worte Jesu in das Grab des vor vier Tagen verstorbenen Lazarus sind einerseits schlicht und völlig unspektakulär, andererseits angesichts der vorausgehenden Geschichte und der Situation völlig unwahrscheinlich: „Lazarus, komm

516 Eine solche Äquivokation erkenne ich z.B. in einem Beitrag von Christoph Dinkel aus dem Jahr 2007. Dinkel schreibt: „Der evangelische Kultus bleibt ein Kult ums Wort, weil vor allem Worte die Welt verändern können. Gott ist in seinem Wort gegenwärtig. Gerade durch das Wort macht er die Menschen frei und selig.“ (DINKEL: Der evangelische Kult ums Wort, 393) – Der erste, dritte und vierte Gebrauch des Wort-Begriffs in dem Zitat verweist auf das „Wort“ in seiner theologischen Bedeutung; wenn dann allerdings von den „Worte[n]“ geredet wird, die „die Welt verändern können“, so sind damit (primär) andere, zwischenmenschliche Worte im Blick. 517 Martin Nicol spricht von dem „Wort, das im Anfang war“, und grenzt dieses von dem biblischen Wort bzw. von den übrigen im Gottesdienst gebrauchten Worten ab; vgl. NICOL: Weg im Geheimnis, 68.78.86.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

heraus!“ (Joh 11,43). Das WORT bedeutet angesichts der Definitivität des Todes, die Menschen in dieser Welt erleben, eine Neuschöpfung. Sie geschieht durch die völlig alltäglichen Worte „Lazarus, komm heraus!“, wie vergleichbar das „Licht“ am ersten Tag durch die äußerst einfachen Worte „Es werde Licht“ ins Leben gerufen wurde. Das WORT, das Neues schafft, bindet sich an schlichte Worte. Es geht bei dem WORTgeschehen also niemals um die Extravaganz der menschlichen Worte, sondern um die in ihrer Wirkung gegebene Außergewöhnlichkeit: „Ruf uns aus den Toten, lass uns auferstehn!“ (EG 97, Refrain) – dies ist die Sprachform der Bitte um ebendieses WORT!

Dem Hebräerbrief zufolge ereignet sich dieses WORT „vielfach und auf vielerlei Weise“ (die Vulgata übersetzt treffend: „multifariam et multis modis“, Hebr 1,1) – letztlich und unüberbietbar aber in Jesus Christus selbst. Das WORT ist nicht an ein Medium, nicht an einen bestimmten Vollzug gebunden; nach reformatorischem Verständnis aber ist es immer medial vermittelt und ereignet sich niemals aus dem Inneren des Menschen heraus. Für die Reformatoren war die Bindung dieses WORTES an das biblische Wort sowie an das Sakrament entscheidend. Mit Karl Barth kann an die dreifache Gestalt dieses WORTES als offenbartem, offenbarem und verkündigtem Wort erinnert werden.518 Blickt man auf den Gottesdienst, so sind es dort Kult und Wort, die in ihrem Wechselspiel die liturgische Kommunikation charakterisieren – beide zugleich! Dabei geht es nicht um einzelne Bestandteile des Gottesdienstes, sondern um die beiden Dimensionen, die jeden Gottesdienst prägen. Mit Hans Ulrich Gumbrecht ließe sich das Wechselspiel auch als das Wechselspiel von Sinn- und Präsenzkultur markieren, wobei der sinnkulturelle Aspekt mit dem Begriff des Wortes verbunden werden kann, der präsenzkulturelle durch den Kult markiert ist. Auch für Gumbrecht ist klar, dass das eine nie vollständig ohne das andere zu haben ist, sondern beide immer interagieren. Bei Gumbrecht gilt das Gedicht – wie gezeigt – als Paradebeispiel dafür, wie es auch einer noch so sinnkulturell orientierten Hermeneutik nie gelungen sei, die besondere Poetizität, die die lyrische Sprache unhintergehbar kennzeichnet, zu erfassen. In liturgischem Kontext wäre exemplarisch an die biblischen Lesungen, die gesungenen Choräle oder im Wechsel gesprochenen oder gesungenen Psalmen zu erinnern. 518 Trotz der Bindung an das Wort der Schrift und an das Geschehen im Sakrament ist damit aber keine Identifikation gemeint. Diese legt sich etwa – um nur ein Beispiel zu nennen – dort nahe, wo Martin Schuck in einem Beitrag mit dem Titel „Die Kirche des Wortes“ schreibt: „Die Mitwirkung des Verkündigers besteht eigentlich nur darin, das Wort des biblischen Textes (als verbum externum) unverkürzt und deutlich zur Sprache zu bringen; zum verbum internum […] zum Wort Gottes also, wird es durch Gottes eigenes Wirken im Akt der Verkündigung“ (SCHUCK: Die Kirche des Wortes). Was genau die Adjektive „unverkürzt“ und „deutlich“ bedeuten, bleibt im Kontext des Artikels von Schuck unbestimmt.

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5. Kulturwissenschaftlich-Theologisches: Das Subjekt und die Inszenierung 439 Eine biblische Lesung ist nicht dann bereits ‚verstanden‘, wenn ihr Sinn vermeintlich eindeutig geklärt wurde. Genau dies macht Präfamina zu einer so prekären Sprachform, da sie bei entsprechender Formulierung suggerieren könnten, die folgende Lesung sei in einer primär sinnkulturell orientierten Weise zu hören und auf ein bestimmtes Aussageziel hin zu verstehen. Evident ist das Miteinander von Sinn- und Präsenzkultur für gemeinsam gesungene Lieder/Choräle. Im Wechselspiel von Worten und Tönen kann es selbstverständlich einmal geschehen, dass einzelne allein bei den Worten hängen bleiben und sich z.B. wundern über „die hochbegabte Nachtigall“ (EG 503,3) aus Paul Gerhardts Frühlingslied oder nachdenken über das Bild des „auf Adelers Fittichen sicher“ geführten Menschen (EG 316,2) oder sich fragen, ob Johannes Hermanns Wendung „Gott wird gefangen“ im Passionslied (EG 81,5) theologisch noch stimmig ist oder in der Vermischung von menschlicher und göttlicher Natur Jesu Christi schon zu weit geht. Umgekehrt können Gottesdienstbesucherinnen und -besucher Lieder mitsingen und am Ende verwundert feststellen, dass sie gar nicht mehr wissen, was sie eigentlich textlich gesungen haben (obwohl das Singen dennoch emotional in Bewegung setzte und so Wirkung zeigte!). In aller Regel aber wird die Art und Weise der Beteiligung dazwischen liegen: Text und Wort interagieren in dem erwähnten Spannungsfeld, was ähnlich wohl auch für die Beteiligung bei gemeinsam gesprochenen bzw. gesungenen Psalmen gelten dürfte (wobei das gemeinsame Sprechen die Art und Weise der Beteiligung hin zur ‚sinnkulturellen‘ Partizipation verschiebt).

Wenngleich sich alle liturgischen Handlungssequenzen zwischen den Dimensionen Wort und Kult verorten, so gibt es selbstverständlich unterschiedliche Nähen und Fernen: So verorten sich die traditionellen und rituellen Vollzüge im Gottesdienst (etwa: Salutation, Abendmahl oder Segen) eher in der Nähe des Kults, wohingegen freie Begrüßung oder Predigt dem Wort sehr viel näher kommen. Es wäre naive Sehnsucht, zu meinen, man könne – wie etwa Mosebach oder Lorenzer dies auf ihre Weise nahelegen, die Piusbrüder auf eine andere – zu einer reinen, im obigen Sinne ‚Wort-losen‘ Kultform zurückkehren, um so den Gottesdienst als Geschehen der Präsenzkultur zu fixieren. Der Versuch, das WORT dann mit dem Kult zu identifizieren, würde zu einer Problematik führen, die sich m.E. als Problem der Ikonolatrie treffend etikettieren ließe. Aber auch der umgekehrte Weg, der Weg des Ikonoklasmus als der Versuch, das WORT ganz auf die Seite des Wortes zu ziehen, ist zum Scheitern verurteilt: Der Gottesdienst kommt nicht vom Kult weg – so sehr dies spätestens seit der Aufklärungszeit im Protestantismus immer wieder versucht wurde. Die Bemühung, aus ihm eine Veranstaltung des diskursiv-sinnorientierten Wortgeschehens zu machen, bedeutet zugleich, seinen Charakter aufzugeben – so dass sofort eine neue Sehnsucht nach „Kultischem“ (gerne unter dem Gewand einer neuen Sehnsucht nach Spiritualität) einzieht und zu neuen, den Aspekt des Kults betonenden Feierformen führt.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Darauf machen etwa die oben kurz dargestellten Entwicklungen im liberalen Judentum (Kap. 4.2.2) aufmerksam, in denen sich eine neue Annäherung an dezidiert kultische Feierformen (etwa in Gestalt der hebräischen Lesungen) zeigt. Es gilt vielmehr: Wort und Kult im hier bestimmten Verständnis verhalten sich wie die zwei Brennpunkte, die gemeinsam die Ellipse aufspannen, die Gottesdienst genannt werden kann. Wort steht für den sinnkulturellen, Kult für den präsenzkulturellen Pol.

Wort

Kult

Der Gottesdienst ist erwartetes und erhofftes WORT-Geschehen im Wechselspiel von Kult und Wort – und kann in diesem Sinne als WortKult bezeichnet werden. Damit keine der beiden Aspekte des liturgischen Feiergeschehens sich so verselbständigt, dass der Gottesdienst zum Wort-lastigen kultkritischen Ikonoklasmus bzw. zur Wort-vergessenen kultbejahenden Ikonolatrie wird, erscheint mir ein doppelter Verfremdungseffekt für die Art und Weise gottesdienstlicher Gestaltung als Meta-Regel hilfreich: Es geht um den V-Effekt des Wortes durch den Kult und umgekehrt um den V-Effekt des Kultes durch das Wort – beides mit dem Ziel, den Wort- oder Kult-haften Selbstabschluss der Feiergestalt gegenüber dem WORT zu vermeiden und die Feier zu öffnen für das WORT, das bleibend jenseits der Möglichkeiten ihrer eigenen Verwirklichung liegt. Diese Meta-Regel konturiere ich im folgenden Abschnitt näher. Zuvor allerdings scheint es mir nötig, aufgrund der vorgelegten Bestimmung eine im evangelischen Kontext seit dem 19. Jahrhundert eingeführte (vgl. Kap. 3.2.2) Formel ihrer Problematik zu überführen: die Formel von „Wort und Sakrament“ als den beiden Konstituenten des evangelischen Gottesdienstes.519 Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als füge sich diese Formel nahtlos in meine Bestimmung, indem der Begriff „Kult“ einfach durch den Begriff „Sakrament“ ausgetauscht würde. Andererseits aber würde dann aus den Dimensionen Wort und Kult ein selbständiges „Wort“ einem ebenso selbstständigen „Sakrament“ gegenübergestellt – mit problematischen Konsequenzen für beide. Darauf hat bereits Wilhelm Stählin hin519 Die Formel wird bis in die Gegenwart unkritisch zur Beschreibung des evangelischen Gottesdienstes verwendet, vgl. nur: EKD: Der Gottesdienst, 38–41.

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gewiesen. Er problematisiert zunächst alle Versuche, das Wort auf das Sakrament zurückzuführen,520 oder umgekehrt, das Sakrament vom Wort her zu verstehen (was protestantischerseits im Sinne eines „verbum visibile“ sehr viel häufiger unternommen worden sei521). Diese Versuche seien letztlich gescheitert.522 Stählin schreibt dazu: „Diese Schwierigkeit [des wechselseitigen Verständnisses des Wortes vom Sakrament her oder umgekehrt, AD] hat ihre tiefste Wurzel darin, daß dieses so selbstverständlich gebrauchte Wortpaar ‚Wort und Sakrament‘ mehr einer fragwürdigen kirchlichen Tradition als der Heiligen Schrift entstammt.“523

Stählin argumentiert weiter, indem er „Wort und Sakrament“ ins Griechische zurück überträgt und so zu der Wendung „Ho logos kai ta mysteria“ kommt – „offenbar eine unsinnige und unmögliche Verbindung, weil der logos die Erscheinungsform des Mysteriums, und das mysterion der eigentliche Inhalt des logos ist.“524 Grundlegend stellt Stählin dann fest: „Beide, Wort und Sakrament, haben teil an dem Mysterien-Charakter alles kirchlichen Handelns und sind Formen der Vergegenwärtigung des Geheimnisses, von dem die Kirche lebt.“525 Im Kontext der bisherigen Untersuchung erscheint mir das Hauptproblem der protestantischen Doppelformel in der problematischen Vereinseitigung zu liegen, die sowohl dem „Wort“ als auch dem „Sakrament“ in der Doppelformel widerfährt: Das Wort kann dann primär als das Element des Kognitiven, Diskursiven, Verstehbaren (also: Sinnkulturellen) erscheinen; es kann auf das Hören als Weise der Rezeption bezogen und von seinem Charakter her als Text (nicht etwa als szenisches Geschehen) verstanden werden. Das Sakrament steht dann umgekehrt für jene Handlungsfolgen, die – um mit einem Modewort der vergangenen Jahrzehnte zu sprechen – ‚ganzheitlich‘ rezipiert werden und damit vor allem auch emotionale Wirkungen entfalten.526 Der Gottesdienst aber ist insgesamt WortKult und steht so in den primär verbalen Wort-Teilen (wie in der Predigt) und im Abendmahlsteil in der Erwartung jenes WORTES, das allen unterschiedlichen Wortgestalten voraus liegt.527 520 So auf evangelischer Seite wohl am deutlichsten bei Peter Brunner, vgl. BRUNNER: Zur Lehre vom Gottesdienst, bes. 185. 521 Vgl. bereits ApCA XIII, BSLK, 292f – eine Stelle der Apologie der CA, in der Augustin zitiert wird, der trefflich vom Sakrament als „verbum visibile“ gesprochen habe. 522 Vgl. AVERBECK: Der Opfercharakter des Abendmahls, 188–197. 523 STÄHLIN: Mysterium, 115. 524 STÄHLIN: Mysterium, 115. 525 STÄHLIN: Mysterium, 115. 526 Vgl. EKD: Der Gottesdienst, 39f. 527 Vgl. unten 6.3.2.5.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

5.3.2 Die Verfremdung des Kultus durch das Wort und des Wortes durch den Kult. Eine liturgische Meta-Regel Wort und Kult sollen als notwendiger wechselseitiger V-Effekt in diesem Abschnitt vorgestellt und in ihrer Notwendigkeit sowie ihren Folgen knapp bedacht werden. Um diesen V-Effekt zu erläutern, komme ich auf zwei beachtenswerte und (wenigstens teilweise auch) viel beachtete Autoren aus dem 20. Jahrhundert zu sprechen: Guy Debord (1931–1994) und Dietmar Kamper (1936–2001), die auf soziologisch-kulturwissenschaftlichem Terrain Theorien vorgelegt haben, deren notwendiges Wechselspiel m.E. als Analogon zum Wechselspiel von Wort und Kult betrachtet werden kann (1). Im folgenden Schritt stelle ich den wechselseitigen V-Effekt des Wortes durch den Kult und des Kultus durch das Wort als liturgische Meta-Regel thetisch vor (2). Im abschließenden dritten Schritt zeige ich, welche Folgen diese Unterscheidung für die Person des liturgisch Agierenden zeitigt, und profiliere damit die bereits erwähnte Begrifflichkeit liturgischer Medialität näher (3). (1) 1967 erschien Guy Debords „La Société du Spectacle“, ein Buch, das als umfassende Gesellschaftskritik wesentlichen Einfluss auf die 68erBewegung haben sollte. Debord kritisiert darin eine Gesellschaft, die sich dem „Spektakel“ hingegeben und so der Welt, dem konkreten Leben, der Wahrheit entfernt habe.528 In der Entwicklung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts habe sich eine neue illusionäre Grundlage des Lebens vieler Zeitgenossen ergeben: „Das Spektakel ist der materielle Wiederaufbau der religiösen Illusion.“529 In der Art und Weise, wie sich Menschen unterschiedlichen Formaten der Unterhaltung hingeben, würden abgetrennte Bereiche, mit ihnen aber Orte „des getäuschten Blicks und des falschen Bewußtseins“ geschaffen.530 Es seien dies Orte, die in einem Jenseits von der Welt verankert sind, die „im Sehen den bevorzugten menschlichen Sinn“ erkennen und so zum „Gegenteil des Dialogs“531 werden. Dadurch gehe das zwischenmenschliche Miteinander ebenso verloren wie das Bewusstsein für die Geschichte. Das Spektakel fixiere das Leben der Gesellschaft auf der Oberfläche einer Inszenierung, die ein Handeln in der Welt mit dem Ziel einer realen Veränderung faktisch unmöglich mache.

528

Vgl. DEBORD: Die Gesellschaft des Spektakels. DEBORD: Die Gesellschaft des Spektakels, 20. 530 DEBORD: Die Gesellschaft des Spektakels, 14. 531 DEBORD: Die Gesellschaft des Spektakels, 19. 529

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Natürlich: Debords Analysen und Thesen atmen den Geist einer bestimmten Zeit und einer dezidiert marxistischen Tradition: Was bei Marx als religiöser Überbau gewertet wurde, der gesellschaftliche Verhältnisse stabilisiere und durch die Illusion konkretes Handeln in der Welt verhindere, wird bei Debord die illusionäre Kulisse des medialen Spektakels. Im Versuch der Abkehr vom Spektakel und der Hinwendung zum „Dialog“ berührt sich Debords Plädoyer durchaus mit der kritischen Volte von Max Horkheimer und Theodor Adorno gegen die „Kulturindustrie“, die sie als „Massenbetrug“ entlarven und aufgrund derer sie eine Ausklammerung des kritischen Denkens aus den Diskursen der Gegenwart vermuten.532 Rund dreißig Jahre nach Debord erschien Dietmar Kampers „Ästhetik der Abwesenheit“ – ein Buch als flammendes Plädoyer für die Wiederentdeckung der Körper und der Körperlichkeit gegen die überwältigende Dominanz des Denkens in einer Zeit, in der sich der Cartesianismus spätestens durch die europäische Aufklärung durchgesetzt habe.533 Die Klage über die „Entfernung der menschlichen Körper als Mittel der Orientierung in der Welt“534 wird für Kamper zu dem Versuch, ein „KörperDenken“ neu zu entwickeln, das die Einseitigkeiten der vernünftigen Neuzeit überwinden kann.535 Es müsse gelingen, die Dominanz des Verstehenwollens zu überwinden: „Man müßte das Geheimnis hüten nach Art der negativen Theologie, der negativen Anthropologie, die im Äußersten auf die Umfassung verzichtet und sich umfassen läßt – ein maximales Behälterdenken, das den größten Behälter verweigert.“536

Gegen die vermeintliche Ewigkeit des Gedankens und gegen den Geist der Abstraktion gelte es in dieser ‚negativen‘ Weise des Denkens das Jetzt des Geschehens zu suchen und mit ihm den Geist der Konkretion und Vielfalt.537 Debord oder Kamper? – Beide Denker sind auf ihre Weise extrem; beide wenden sich gegen problematische Entwicklungen, weisen auf Missstände und Probleme und haben auf ihre Weise recht. Ist es bei Debord das Prob532 Vgl. HORKHEIMER/ADORNO: Dialektik der Aufklärung, 127–176 [Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug]. 533 Vgl. KAMPER: Ästhetik der Abwesenheit. 534 KAMPER: Ästhetik der Abwesenheit, 7. 535 Vgl. zu dem Begriff „KörperDenken“ KAMPER: Ästhetik der Abwesenheit, 8 [und passim]. 536 KAMPER: Ästhetik der Abwesenheit, 26. 537 Vgl. KAMPER: Ästhetik der Abwesenheit, 36f.38. In dieser Hinsicht fordert Kamper eine Rückkehr zur Pluralität der Buchstaben gegen das paulinische Diktum vom Geist, der vermeintlich lebendig mache. Kamper kehrt Paulus um und formuliert: „Der Geist tötet, aber der Buchstabe macht lebendig“ (aaO., 35). Und setzt dann hinzu: „Während die Geschichte des Geistes von der Verschärfung eines ‚Noli me tangere!‘ geradezu gelebt hat und schließlich daran gestorben ist, stammt der Buchstabe aus dem Spüren der Spur.“ (ebd.).

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

lem einer Gesellschaft, die sich in den schönen Schein des medialen Spektakels flüchtet und dabei die irdische Konkretion der Welt vergisst und gegenüber aller Emotion das Diskursive ausklammert, so ist es bei Kamper eher umgekehrt das Problem einer denkerischen Abstraktion, die die sich entziehende und niemals greifbare Körperlichkeit und materiale Phänomenalität ausklammert, die immer nur im Jetzt, im Moment erfahrbar ist. Debord oder Kamper? – Beide Denker beziehen sich (selbstverständlich) nicht unmittelbar aufeinander. Für den Leser der beiden Texte ist die Alternative zwischen beiden aber problematisch formuliert: Debord und Kamper, so müsste es wohl heißen: das kritische Denken und die körperlichen Phänomene, die geschichtliche Weite und das momentane Erleben. – Als Analogie scheint mir die Debord-Kamper-Spannung so geeignet für das, was ich als Miteinander, Spannungsfeld und gegenseitigen Verfremdungseffekt von Wort und Kult begreife. (2) Das Lernpotential einer Ästhetik der Inszenierung präsenter Absenz lässt sich – wie gezeigt – fruchtbar ins Gespräch mit der erarbeiteten theologischen Grundfrage nach dem verbum externum und seiner „Vermittlung“ bringen. Anders gewendet: Die „Abwesenheit“ kann theologisch als die eigentümlich entzogene Präsenz des dreieinigen Gottes in seinem WORT im Kontext der gottesdienstlichen Feier aus Wort und Kult bestimmt werden. Im WORT setzt Gott selbst das Wechselspiel von Präsenz und Absenz in Gang – allerdings nur, wenn dieses WORT nicht voreilig in die Subjektivität des/der Liturgen/in (oder der Feiernden) hinein vereinnahmt wird – oder umgekehrt: wenn die Präsenz des Kultus dieses WORT nicht (womöglich wohlmeinend und eindrucksvoll) „verschlingt“. Damit ergibt sich aus den bisherigen Durchgängen die These, die gleichzeitig als Grundthese der gesamten Erarbeitung gelten kann: Evangelischer Gottesdienst, der – mit Luther – auf die Gott-menschliche Kommunikation in Gottes WORT bezogen ist, steht im Blick auf seine Gestaltseite notwendig im spannungsvollen Wechselspiel von Wort und Kult und kann als WortKult präzise beschrieben werden. Konkret bedeutet dies: – Die Externität des WORTES steht in der Gefahr, sich sinnkulturell in ein positivistisch-versachlichtes oder subjektivistisch-vereinnahmendes Wort zu verflüchtigen. Das „constituamur in alienis“538 würde so verhindert; das Subjekt bliebe in seinem in-sich-selbst-verschlossenen Kreisen um sich be538

WA 49/1, 492, 3.

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fangen. An dieser Stelle kann der Kult mit seinen Vorgaben, die das Subjekt und das, was dieses leistet und hervorbringt, übersteigen, zum notwendigen Verfremdungseffekt des Wortes werden. Im Kult nämlich ist der Dominanz der Sinnkultur ein präsenzkultureller Riegel vorgeschoben. In kultischem Kontext wird auch das Bibelwort nicht auf das Verstehen hin vereindeutigt, sondern behält seine herausfordernde Fremdheit, ja, wird allererst zu dem, was „Heilige Schrift“ meint.539 Das Entscheidende am Kult ist in dieser Perspektive die Alternative, die er zu jedem wirksamen Handeln des Menschen bietet. Kultische Aktivität bedeutet – wenn sie jenseits einer problematischen „Do ut des“-Deutung gesehen wird540 – den Verzicht auf jedes Bewirkenwollen, jede Effektivität des menschlichen Handelns. Kult bedeutet, einzugehen auf jenes vorgegebene Muster des Handelns, das der Frage nach Wirkung entzogen ist und dennoch sinnvoll bleibt. – Die totalisierende Präsenz und enthusiastische Tendenz des Kultus wird umgekehrt durchbrochen durch das Wort. Der Kult kann zum „Spektakel“ im Sinne Debords werden, zu einer Scheinwelt jenseits dieser Welt. Er kann jede Eschatologie eliminieren, weil er eine Präsenz vortäuscht, die nichts mehr erwarten lässt. Er kann zur Einseitigkeit einer emotionalen Partizipation führen, die jedes Denken verabschiedet. Er kann einen Exotismus hervorbringen und die Verherrlichung einer bloßen äußeren Form – beides Figuren, die dem Fremden eben keine Chance geben, sondern das Subjekt bei sich selbst verharren lassen.541 Der Kult kann so zu einem Selbstabschluss gegenüber dem führen, was von außen kommt. An dieser Stelle mag der Hinweis auf identifizierende Kulte genügen, die die eigene Gemeinschaft zum Gegenstand haben und diese derart stabilisieren, dass sie geradezu immunisiert gegenüber möglichen Einflüssen von außen wird (man denke nur an nationale Kulte und deren Wirkung!). Der Kult, der in evangelischer Perspektive zu beschreiben wäre, ist ein exzentrischer Kult, der offen bleibt für das Andere. Der sein Ziel nicht in sich selbst trägt, ja, der überhaupt kein machbares Ziel verfolgt, sondern den lebendigen Gott feiert, der den ziellosen Kult sinnvoll macht. Der Kult ist noch nicht die letztgültige Vergegenwärtigung, noch nicht der vollendete Gottesdienst, der einst im neuen Jerusalem gefeiert werden wird, wenn Gottes Gegenwart alles erfüllt (vgl. Offb 21, bes. V. 22). Er bleibt in der 539 Vgl. hierzu SCHUCK: Die Kirche des Wortes: „‚Schrift‘ ist eine theologische Kategorie und an den Gebrauch im Gottesdienst gebunden. Zu unterscheiden davon ist die ‚Bibel‘, mit deren Entstehung als selbständigem Medium ein Akt der Emanzipation aus dem gottesdienstlichen Geschehen einhergeht“ (ohne Seitenangabe). Vgl. auch NICOL: Weg im Geheimnis, 140 [mit Bezug auf Friedrich Mildenberger], sowie unten Kap. 6.3.1. 540 Vgl. dazu auch unten Kap. 6.2. 541 Dieser Aspekt des Kults ist sicherlich zu bedenken, wenn gegenwärtig das Lateinische als Liturgiesprache im Katholizismus wieder mehr Beachtung findet.

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eschatologisch und soteriologisch zu bestimmenden Spannung von SchonJetzt und Noch-Nicht. Er ist noch nicht die Präsenz, sondern wartet und hofft auf momenthafte Ereignisse der Präsenz im WORT.542 Gerade deshalb aber ist der Kult angewiesen auf das Wort und den Verfremdungseffekt, der durch das Wort bewirkt wird. Der doppelte Verfremdungseffekt – des Kultus durch das Wort und des Wortes durch den Kult – kann als die liturgische Meta-Regel benannt werden, die jeder evangelischen Gottesdienstgestaltung eingeschrieben ist und m.E. für jede liturgische Inszenierung beachtet werden will. Mit ihr ist es möglich, den evangelischen Gottesdienst als WortKult zu beschreiben – und dies in zweifachem Sinn: einerseits als jene Weise gottesdienstlicher Gestaltung, in der Wort und Kult miteinander und ineinander wirken; andererseits als jene spezifische Form des „Kultus“ (im allgemeinen Sinne gottesdienstlicher Begehung), in dem es um das Ereignis des WORTES geht. Der Gottesdienst wird sich dann ereignen als ein Oszillieren, in dem sinnkulturelles Verstehen und präsenzkulturelles Erfahren ineinander greifen – und das Ganze ausgerichtet bleibt auf jenes WORT, das als Schöpferwort entgegen kommt. Es ist evident, dass dem biblischen Wort für den evangelischen WortKult besondere Bedeutung zukommt.543 So sah es Luther (wenngleich sich bei ihm das verbum externum in die Predigt hinein verlagerte), so ist es common sense (beinahe) aller gottesdienstheoretischer Überlegungen im Protestantismus seither. In besonderer Weise lässt sich am Beispiel des biblischen Wortes zeigen, wie das Oszillieren zwischen Wort und Kult in liturgicis gemeint ist: Das biblische Wort im Gottesdienst trägt die Verheißung, dass in, mit und unter diesem Wort das WORT hörbar wird. Soweit, so evident. Gleichzeitig aber steht das biblische Wort unter einer zweifachen Gefahr: Es droht – und dies scheint mir die primäre Gefahr im evangelischen Gottesdienst unserer Tage – seine sinnkulturelle Vereinseitigung. Aus dem biblischen Wort, mit seinem Potenzial, zum WORT zu werden, wann und wie es Gott gefällt, wird dann das Wort, das über einen Aspekt der Frömmigkeit oder der Religionsgeschichte Israels bzw. des frühen Christentums 542 Vgl. auch Otto Weber, der in seiner Auseinandersetzung mit der hochkirchlichen Bewegung einen Zusammenhang zwischen dem dort wahrgenommenen Enthusiasmus und der Zurückdrängung der „Schrift“ im Gottesdienst erkennt und so ex negativo einen vergleichbaren, eschatologisch orientierten Einspruch gegen die Dominanz des Kults (Weber spricht von der „Überordnung des Zeichens über das Wort“, WEBER: Gottesdienst und evangelische Verkündigung, 62) gegenüber dem Wort formuliert: „Je mehr die eschatologische Spannung nachläßt, desto weniger will man die Schrift in den Mittelpunkt gestellt sein lassen“ (aaO., 66 [im Original hervorgehoben]). 543 Vgl. SCHRÖER: Der Kult mit der Kultur, der von der Notwendigkeit einer „Bibelkultur“ im evangelischen Gottesdienst spricht.

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informiert. Der kultische V-Effekt würde an dieser Stelle bedeuten, die Ritualität der Lesungen und die Materialität des Bibelbuches neu zu betonen – Aspekte, auf die unten zurückzukommen ist (Kap. 6.3.2.1). Aber auch von der anderen Seite droht dem biblischen Wort Gefahr – von Seiten des Kults. Wenn die gottesdienstliche Lesung so deutlich dem Verstehen entzogen wird, wie dies etwa in jüdischen Gottesdiensten in der Diaspora geschieht, in denen die Verlesung der hebräischen Verse der Tora zu einem bloßen ‚Ritual‘ im pejorativen Sinn wird, weil sie (rein semantisch!) nicht verstanden werden können und auch nicht in der Landessprache zusätzlich gelesen werden, dann hat der Kult das biblische Wort so vereinnahmt, dass es nicht mehr als Wort gehört werden kann. Ein V-Effekt des Wortes würde hier bedeuten, das Wort im Vollzug seiner hebräisch kantillierenden Lesung auch in der Übersetzung zu Gehör zu bringen – oder dies vor oder nach der gesungenen Verlesung zu tun. In beiden Fällen zeigt sich: Der WortKult als liturgische Meta-Regel bewahrt vor der Gefahr der Totalität des Kultus ebenso wie vor der Gefahr der Totalität des Wortes.544 (3) Die Art und Weise, wie die Rolle der liturgisch Handelnden im WortKult zu beschreiben wäre, habe ich bereits oben als Liturgische Medialität bestimmt. Das oben Gesagte soll hier nochmals so gebündelt werden, dass es auf die Aspekte WORT, Wort und Kult bezogen wird: – Liturgische Medialität bedeutet ein Agieren, das selbst erwartungsvoll mit dem WORT rechnet – also mit dem, was jeder Machbarkeit und Inszenierbarkeit entzogen ist. – Liturgische Medialität steht dem Kult – und d.h. hier primär: den rituell geprägten Vorgaben der Tradition – so gegenüber, dass sich liturgisch Handelnde als vorsichtige, langsame Leserinnen und Leser erweisen, die den fremden Texten und Handlungsvollzügen mit dem Respekt derer begegnen, die in ihnen etwas erwarten, was über die eigene Einsicht und das momentane Glauben und Verstehen hinausweist. – Liturgische Medialität weiß darum, dass die im kultischen Kontext zu sprechenden, zu suchenden und neu zu formulierenden Worte (der Gebete, der Begrüßung, der Predigt …) einerseits mitten in der Lebenswirklichkeit stehen, sich andererseits suchend und verlangend auf die Gotteswirklichkeit inmitten dieser Lebenswirklichkeit beziehen. Gleichzeitig ist sie sich bewusst, dass es ein Jenseits des Verstehens gibt, das dennoch nicht in der

544 Vgl. ausführlicher zur liturgischen Lesung und zum Bibelgebrauch im Gottesdienst unten Kap. 6.3.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Negativität bleibt, sondern über das ‚bloße‘ Verstehen hinausgeht in die Begegnung mit jenem Anderen, die theologisch als WORTereignis zu bestimmen ist.545 Liturgische Medialität wäre damit insgesamt zu beschreiben als jene Weise der ‚Präsenz‘, die durch die Einsicht in die Relativierung starker Subjektivität (in kulturwissenschaftlicher und theologischer Hinsicht) gebrochen ist.546 Sie wäre alles in allem nicht ohne Humor im Sinne einer heilsamen Selbstdistanz, wie ihn Karl Barth beschrieben hat, der das eigene ‚Ich‘ im Gegenüber zu dem, was es von Gott empfängt, nicht allzu wichtig nimmt. Barth erinnert an den von Gott durch die Erfahrung seiner Verheißung, durch sein Wunder, durch sein Handeln geehrten Menschen – und erwähnt exemplarisch Sara, die sich „als Objekt dieser Ehrung“ „reichlich wunderlich finden muß“.547 Dass Sara in Folge lacht, sei keineswegs als ein „ungeistliches Lachen“ zu werten. Barth fragt: „Ist der Kontrast zwischen dem Menschen selbst und der ihm von Gott angetanen Ehre nicht wirklich zu groß, als daß der Mensch sich selbst in seiner Eigenschaft als Träger und Inhaber feierlich nehmen könnte, als daß er da nicht über sich selbst lachen müßte?“548 Und er fasst zusammen: „Humor ist das Gegenteil von aller Selbstbestaunung und Selbstbelobigung. Die Ehre des Menschen kommt von dem allein zu bewundernden und zu lobenden Gott.“549

Barths Gedanken aufnehmend frage ich: Wo hätte diese gebrochene Ehre des Menschen aufgrund des Handelns des allein zu lobenden Gottes anders ihren genuinen Ort als im Gottesdienst? Und wo wäre damit das „Gegenteil von aller Selbstbestaunung und Selbstbelobigung“ eher anzutreffen als unter den in liturgicis Agierenden? Die geforderte ‚humorvolle‘ Sebstzurücknahme erinnert an ein Phänomen in der Kunst, das als auffällige Weise der Selbstzurücknahme von Künstlerinnen und Künstlern gewertet werden kann: die „weißen Bilder“.

545 Vgl. dazu auch STOELLGER: Was sich nicht von selbst versteht, 185–187 [mit Verweis auf Augustin]. 546 Vgl. auch BIERITZ: Spielraum Gottesdienst, 75: „‚Präsent‘ […] ist ein Prediger, ist ein Liturg, der sich mit seiner Person in das hineinbegibt, was er homiletisch und liturgisch zur Darstellung bringt – ohne doch selbst als Person zu predigen und zu feiern.“ 547 BARTH: KD III/4, 765. 548 BARTH: KD III/4, 765. 549 BARTH: KD III/4, 765.

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5.3.3 „Weiße Bilder“. Ein Ausblick auf Wege der Gestaltung Den Verfremdungseffekt des Kultus durch das Wort beherrschen evangelische Liturginnen und Liturgen einigermaßen gut; was demgegenüber vor allem neu gelernt werden müsste, wäre der Verfremdungseffekt des Wortes durch den Kult. Ich verweise nur exemplarisch auf Hans Martin Dober, der die Frage stellt, wie es gegenwärtig zu einer situationsbezogenen Neuinszenierung des Gottesdienstes kommen könne. In Aufnahme der Formel der „Kommunikation des Evangeliums“ schreibt Dober: „Nur wenn der Gottesdienst als ganzer aber zur Darstellung bringt, was die Aufgabe der Predigt im besonderen ist: die wahrgenommene Wirklichkeit der Lebenswelten mit den hermeneutisch erschlossenen Gehalten der Tradition (des Textes, der Gebete, der Lieder) verheißungsvoll zu ‚versprechen‘, wird er in dem doppelten Sinn situationsgemäß sein können, dass er eine gegenweltliche Situation schafft, die zugleich dem Alltag zukommt.“550 Die Wahrnehmung des gesamten Gottesdienstes unter dem leitenden Paradigma der Predigt ist sicher nicht untypisch für viele evangelische Bestimmungen des Gottesdienstes. Unzweifelhaft hat sie den Vorteil, das In- und Miteinander von Lebenswirklichkeit und Gottes Verheißung als Fokus eines evangelischen Gottesdienstverständnisses im Blick zu behalten. Ihr Problem aber liegt darin, das dominante „Wort“ dergestalt in den Mittelpunkt zu rücken, dass es gerade nicht zu einer „gegenweltliche[n] Situation“ kommt, sondern letztlich zu einer Verdoppelung der Welt in den Gottesdienst hinein.

In verschiedenen kulturwissenschaftlichen Beobachtungen wird immer wieder auf ein Phänomen verwiesen, das metaphorisch für das steht, was ein Jenseits der Dominanz des Wortes markieren könnte: das „Weiße“ im Bild bzw. das Phänomen der „weißen Bilder“. In seiner „Ästhetik des Erscheinens“ schreibt Martin Seel: „Im Kontext der Kunst kann selbst das Verschwinden eine Quelle des Erscheinens sein.“551 Das Verschwindende ebenso wie das Ausgesparte spielt damit eine entscheidende Rolle im ästhetischen Diskurs. So verweist auch Mersch u.a. auf die so genannten „White Paintings“ von Robert Rauschenberg (1925–2008). Im Jahre 1951 stellte er in New York (in seiner ersten Einzelausstellung) sieben monochrom weiße Tafeln aus.

550 551

DOBER: Kommunikation des Evangeliums, 268. SEEL: Ästhetik des Erscheinens, 10.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

Robert Rauschenberg, White Paintings, 1951

Mersch sieht diese Ausstellung als eine Weise der Entmächtigung der Subjektivität der Wahrnehmung. Durch den Entzug werde das Subjekt betroffen, angeredet, herausgefordert. Die Wahrnehmung wird auf das Andere gelenkt, so dass es unmöglich sei, nicht zu reagieren.552 Ursula Brandstätter verweist auf die „Achrome“ von Piero Manzoni (1933–1963), die „bewusst nichts darstellen und nichts bedeuten wollen“553.

Piero Manzoni, Achrome

Auch diese Bilder versetzen die ästhetische Wahrnehmung in eine Nullpunktsituation, erschüttern, schaffen einen Riss im Gewohnten – und können so das Subjekt in seinem üblichen ‚Zugriff‘ befremden und relativieren. Interessanter als diese Wege der Inszenierung des vollständigen ‚Entzugs‘, der Negation, erscheinen m.E. allerdings jene Kunstwerke, die nicht weiße Bilder sind, sondern durch das Weiße im Bild geprägt werden. So nimmt Gerald Siegmund – angeregt durch Georges Didi-Huberman – Fra Angelicos Verkündigungsbild in seine Überlegungen zu einer Ästhetik der „Abwesenheit“ auf.

552 553

Vgl. MERSCH: Ereignis und Aura, 51f. BRANDSTÄTTER: Grundfragen der Ästhetik, 134.

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Fra Angelico, Verkündigung, Kloster San Marco, Florenz

Siegmund bemerkt dazu: „Auf dem Fresko Verkündigung von Fra Angelico im Kloster San Marco in Florenz nimmt eine aus weißen Kalkpartikeln bestehende Fläche, die zwischen dem Engel auf der linken Hälfte des Bildes und der knienden Maria auf der rechten Hälfte sich gleichsam aus dem Bildhintergrund nach vorne schiebt, das Blickzentrum ein. Dieser weiße Fleck ist weder sichtbar im klassischen Sinne, dass er etwas darstellt oder repräsentiert, wie es etwa die beiden Figuren tun, die man ikonographisch lesen kann. Noch ist er unsichtbar, denn er ist ja sinnlich wahrnehmbar und daher nicht auf eine abstrakte Idee zu reduzieren. Das Weiß fungiert auf dem Bild Verkündigung als Ankündigung einer Gestalt, ohne sie selbst zu sein, als ‚Vorhof ‚ eines Sinns, ‚[d]as heißt, etwas das erscheint, sich darbietet [se présente] – aber ohne zu beschreiben oder wiederzugeben [représenter].‘ [Didi-Huberman, 33] Huberman dreht damit die kunstgeschichtlich festgeschriebene Deutungshierarchie des Bildes um, indem er die identifizierbaren Gestalten in den Hintergrund und den Raum zwischen ihnen in den Vordergrund seiner Überlegungen rückt.“554 Siegmund folgert: „Das Fresko gestaltet das Geheimnis der Fleischwerdung von Gottes Wort, ohne den Inhalt der Verkündigung, also den Körper, der kommen wird, erscheinen zu lassen oder nachzuahmen.“555 Das Weiße im Bild verweise so auf das „Geheimnis“, auf das, was sich der Darstellung entzieht, aber als Ausgespartes eben doch inszeniert wird. Gegenwärtig lässt sich demgegenüber die These vernehmen, dass der Druck der ‚Ökonomisierung‘ dazu geführt habe und weiter dazu führe, dass der „Weißraum“ verschwinde. Der Begriff „Weißraum“ bezeichnet in der Ty554 555

SIEGMUND: Abwesenheit, 101f. SIEGMUND: Abwesenheit, 102.

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II. Zum Verhältnis von äußerem Wort und liturgischer Gestalt

pographie den unbedruckten Teil einer Seite bzw. den Zwischenraum zwischen den Buchstaben. Gerhard Matzig beobachtet in einem FeuilletonBeitrag im Mai 2009 nicht nur das Verschwinden dieses typographischen Weißraums, sondern leitet daraus die Diagnose des „horror vacui“ als Problem der Gegenwart ab: „Wir halten die Leere scheinbar nicht aus. Alles muss Fülle sein. Der Freiraum als zivilisatorischer Überschuss und geistige Freiheit ist schon längst in Bedrängnis geraten.“556 Auch in der Praktischen Theologie wurde das Weiße im Bild bereits gewürdigt. 1995 hatte Albrecht Grözinger in seinem Buch „Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung“ auf dieses Phänomen in den Bildern des späten Cézanne hingewiesen.557 Grözingers Deutung verläuft primär rezeptionsästhetisch: „Die weißen Stellen fordern den Betrachter, die Betrachterin zum Eingreifen auf. Sie müssen selbst das Bild vollenden.“558 Es handle sich um eine „Leer-Stelle, die […] gerade nicht eine bedeutungslose Leere darstellt, sondern eine Leere, die hin zur ‚Besetzung‘ dieser Leere drängt und doch nie definitiv ‚besetzt‘ werden kann.“559 Interessant ist, dass Grözinger diesen Aspekt der Kunstwahrnehmung mit Luthers Theologie der viva vox evangelii verbindet – einer Theologie, die mit dem rechnet, was sich jenseits aller Machbarkeit neu ereignet.560 Diesen Gedanken führt Grözinger dann im Blick auf die Aufgabe der Theologie und vor allem der Praktischen Theologie weiter, der es darum gehen müsse, solche Nullpunkte der Wahrnehmung methodisch zu behüten.561 Auch eine Weiterführung in liturgicis schiene mir denkbar: Der evangelische Gottesdienst hätte sich dann darum zu bemühen, das ‚Weiße‘ im Bild, das auf das Geheimnis jenseits des Darstellbaren verweist und es doch nicht füllen kann, zu inszenieren.562 Ohne die Metapher aus der Kunst formuliert: Es ginge um die Zurücknahme der liturgisch Handelnden, um die Zurücknahme der vielen Worte, sinnkulturell orientierten Erklärungen und hypotaktischen Verbindungen und um den Verzicht darauf, die Gemeinde durch die Dichte der Emotionalität der eigenen Inszenierung zu ‚packen‘, um so nicht etwa in die Langeweile zu führen, sondern im Gegenteil: in die gespannte Erwartung, im Gottesdienst den lebendigen Gott zu erfahren, dessen Präsenz als präsente Absenz beschrieben werden muss, und das WORT zu hören, das ich mir selbst nicht sagen kann. 556

MATZIG: Weißraum. GRÖZINGER: Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung, 153–159 [Das ‚Weiße‘ im Bild oder Am Nullpunkt der Praktischen Theologie]. 558 GRÖZINGER: Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung, 154. 559 GRÖZINGER: Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung, 154. 560 Vgl. GRÖZINGER: Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung, 156f. 561 Vgl. GRÖZINGER: Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung, 158. 562 Vgl. DEEG: „Erkennbar besser“!?, 443–447. 557

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III. Perspektiven oder: Der evangelische Gottesdienst als liturgische Inszenierung des verbum externum

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„Das Christentum ist die einzige Religion, die sich selbst nicht mehr ganz ernst nimmt. […] Das Christentum ist durch die Reformation und den Skeptizismus der Aufklärung so weit verdünnt, dass seine Feinde sich nicht mehr vor ihm fürchten müssen. Es hat nichts Fanatisches, das ist beruhigend, gewiss, aber weil es für alles auf der Welt einen Preis gibt, musste auch das Christentum für seine Verharmlosung einen Preis zahlen. Es wirkt jetzt eher wie das Zitat einer Religion, die es früher einmal gegeben hat. Oder wie Folklore. Eine Tradition, ein Brauch, den man respektvoll, aber lauwarm ausführt, bei dem es nicht mehr wirklich um etwas geht, weil sich weder große Hoffnungen noch große Ängste damit verbinden. Man ahnt als Christ, dass Gott einen nicht strafen wird, da kommt kein Blitzstrahl von oben, egal, was man tut […]. Christentum ist ein Serviceangebot an diejenigen, die noch ein paar spirituelle Restbedürfnisse haben, die Yoga allein nicht stillen kann. Warum, zum Teufel, dann nicht gleich vernünftig werden?“1

6.1 Phänomenologisch-empirischer Zwischenschritt: Wie das äußere Wort im evangelischen Gottesdienst der Gegenwart erlebt wird Evangelischer Gottesdienst ‚ist‘ Gott-menschlicher Wortwechsel – so wurde im Anschluss an Luther formuliert, und diese Grundbestimmung wurde dogmatisch und praktisch-theologisch reflektiert, historisch und komparatistisch beleuchtet, kulturwissenschaftlich eingeordnet und weitergeführt. Bislang allerdings wurde die empirisch-phänomenologische Frage nach der Validität dieses ‚ist‘ nicht gestellt: ‚Ist‘ der evangelische Gottesdienst dies wirklich in der Erfahrung und im Erleben der Menschen, die ihn besuchen? Oder ‚ist‘ er nicht etwas völlig Anderes, weil er anders erlebt und erfahren wird? Die Frage zu stellen bedeutet zugleich, auf die Schwierigkeit ihrer Beantwortung hinzuweisen. Bisherige empirische Untersuchungen zum Gottesdienst geben zwar Auskunft über die Frage, welche Rolle der Gottesdienst im Leben evangelischer Christen einnimmt und teilweise auch darüber, was 1

HARALD MARTENSTEIN, in: Die Zeit, Nr. 7, 08.02.2007, 20.

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III. Liturgische Inszenierung des verbum externum

sie sich von einem gelungenen Gottesdienst erwarten – kaum aber darüber, wie sie gefeierte Gottesdienste erleben, geschweige denn, ob oder inwiefern sie im Wechselspiel von Kult und Wort das WORT vernehmen (können/ wollen). Ich stelle im Folgenden einige Ergebnisse empirischer Gottesdienstwahrnehmung im Blick auf die hier interessierende Fragestellung zusammen und beginne dabei (1) mit Studien, die den Gottesdienst nicht eigens zum Thema haben, sondern eher en passant behandeln. In einem zweiten Schritt stelle ich Ergebnisse einiger Untersuchungen vor, die explizit auf den Gottesdienst fokussieren (2). Abschließend leite ich einige Folgerungen aus den empirischen Befunden ab (3). (1) 1972 erschien der von dem Soziologen Gerhard Schmidtchen besorgte Band „Zwischen Kirche und Gesellschaft“ in erster Auflage und bündelt die Ergebnisse einer großangelegten Umfrage unter Katholiken in Deutschland. Darin finden sich auch Einzeluntersuchungen zum Gottesdienst, die u.a. zeigen, dass – je nach Anlage der Untersuchung (schriftlich/mündlich etc.) – zwischen 30 und 60 % (!) der Katholiken vor rund 40 Jahren behaupteten, jeden Sonntag in die Kirche zu gehen. Besonders beachtet wurde die Untersuchung in den 1970er Jahren deshalb, weil sie den Typus des unwahrscheinlichen Kirchgängers entdeckte – eine Gruppe von Menschen (signifikant häufig Jugendliche und junge Erwachsene), deren (kritisch-distanzierte) Haltung zur Kirche nicht darauf schließen lässt, dass die zu dieser Gruppe Gehörigen besonders regelmäßig in den Gottesdienst gehen dürften. Sie tun es aber dennoch – und werden in der Untersuchung als „Ritualisten“ bezeichnet,2 wobei dieser Begriff eine eher pejorative Färbung trägt: „Als die eigentlichen Ritualisten könnten wir diejenigen bezeichnen, die regelmäßig, aber ohne Glaubensfestigkeit die Kirche besuchen. Darunter wird es wiederum zwei Typen geben […]: Erstens diejenigen, die gedankenlos noch zur Kirche gehen, und zweitens diejenigen, die es bewußt verantworten, trotz ihrer Glaubensprobleme am kirchlichen Leben teilzunehmen. Unter jungen Menschen ist die Gesamtgruppe der so oder so motivierten Ritualisten sehr stark: 24 Prozent […].“3

Obwohl die innere Einstellung eigentlich nicht für den Gottesdienstbesuch spricht, gehen sie dennoch; ihr Partizipationsmuster ist nicht individuell, sondern eher ‚ritualistisch‘ gesteuert. Werner Jetter stellt die Frage, ob der Untersuchungsansatz hier nicht eher eine zu enge Gruppe in den Blick nimmt und wahrscheinlich sehr viel mehr Menschen zu dieser Gruppe der 2 3

Vgl. zur Einführung des Begriffs SCHMIDTCHEN: Zwischen Kirche und Gesellschaft, 108. SCHMIDTCHEN: Zwischen Kirche und Gesellschaft, 110.

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Ritualisten gehören; nur würden ältere Menschen ihre eigenen kognitiven Dissonanzen zur Kirche weniger freimütig als die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in einer Umfrage bekennen. Grundlegend wehrt sich Jetter dagegen, diesen „Ritualismus“ sogleich pejorativ zu konnotieren; die praktisch-theologische (Wieder-)Entdeckung von Symbol und Ritual in ihrer Bedeutung für das Menschsein und für kirchliche Vollzüge war eine Folge der Wahrnehmung dieser Untersuchung.4 In den 1970er Jahren beginnt auch die Reihe der EKD-Untersuchungen zur Kirchenmitgliedschaft, die von den Anfängen bis zur vierten und bislang jüngsten Untersuchung auch Fragen nach dem Gottesdienst beinhalten. Ich blicke im Folgenden nur knapp auf die Ergebnisse der jüngsten Studie, die für die hier interessierende Fragestellung von Bedeutung sind.5 Zunächst bestätigt sich in dieser wie auch in den vorangehenden Untersuchungen die hohe Bedeutung, die die Predigt für die Evangelischen hat – im Osten Deutschlands noch stärker als im Westen. Dort nämlich halten 77 % eine „gute Predigt“ für sehr wichtig im Gottesdienst, im Westen sind es 63 %.6 Im Osten ist die „gute Predigt“ damit nach wie vor die wichtigste Erwartung an den Gottesdienst; im Westen ist sie inzwischen gegenüber dem Item „Der Gottesdienst soll von einer zeitgemäßen Sprache geprägt sein“ (Zustimmung: 65 %) an den zweiten Platz gedrängt. Neu aufgenommen wurde in der vierten Untersuchung das Item „Der Gottesdienst soll mich etwas vom Heiligen erfahren lassen“ – das nur von 28 % der Evan4

Vgl. JETTER: Symbol und Ritual, 13–17; vgl. auch MÜLLER-SCHWEFE: Pastorale Perspekti-

ven.

5

Vgl. insgesamt HUBER/FRIEDRICH/STEINACKER: Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge; vgl. auch HERMELINK/LUKATIS/WOHLRAB-SAHR: Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge, sowie HERMELINK/LATZEL: Kirche empirisch. 6 Der quantitative Teil der Umfrage zum Gottesdienst durch das Gottesdienstinstitut der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (s. dazu unten) erlaubt es, diesen Zustimmungswert für die Predigt noch genauer in den Blick zu nehmen. Der Aussage „Das wichtigste am Gottesdienst ist für mich eine gute Predigt“ stimmten insgesamt 47,8 % „voll und ganz zu“, 29,6 % „etwas zu“, was insgesamt 77,4 % Zustimmung ergibt – ein Wert, der sich etwa mit den Angaben aus der EKD-Mitgliedschaftsuntersuchung deckt. Interessant ist die Aufschlüsselung, die sich ergibt, wenn die Zustimmung nach der Häufigkeit des Gottesdienstbesuchs differenziert wird. Dann nämlich zeigt sich, dass die Zustimmung zur Zentralstellung der Predigt mit 74,4 % in der Gruppe derjenigen am höchsten ist, die angibt, „jeden oder fast jeden Sonntag“ zum Gottesdienst zu gehen. Sie nimmt rapide ab – und erreicht bei der Gruppe derer, die „einmal im Jahr oder seltener“ in die Kirche gehen, einen Wert von 37,7 %, bei denen, die von sich sagen, sie gingen „nie“ in die Kirche beträgt der Wert nur 19,1 %. – An und für sich verwundert auch dieser Wert nicht: Angesichts der Tatsache, dass im evangelischen Gottesdienst vor allem auf die Predigt gestalterischer Wert gelegt wird und diese den Gottesdienst in vielfacher Hinsicht dominiert, gehen konsequenterweise primär diejenigen hin, die sich selbst von der Predigt viel erwarten. Umgekehrt wäre aber zu fragen, ob ein Gottesdienst, der nicht derartig predigtzentriert wäre, eine Chance böte, um andere, die momentan eher selten oder nie in den Gottesdienst gehen, anzuziehen. – Ich danke Prof. Hanns Kerner, dem Leiter des Gottesdienstinstituts der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, dafür, dass er mir das bislang nicht publizierte Datenmaterial zur Verfügung gestellt hat.

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III. Liturgische Inszenierung des verbum externum

gelischen West und 34 % der Evangelischen Ost als sehr wichtig eingestuft wird.7 Ob dies primär an der ungewöhnlichen Formulierung liegt oder auch daran, dass die ‚Kontaktmöglichkeit‘ mit Transzendentem kaum zu den primären Erwartungen im Gottesdienst gehört, kann aus der Untersuchung nicht erschlossen werden (hätte aber freilich für die Frage nach dem Gottesdienst als Gott-menschlichem Wortwechsel durchaus entscheidende Bedeutung!). Bei den Gründen gegen den Gottesdienstbesuch rangiert bei den Evangelischen Ost wie West das Item „Für meinen Glauben ist der Besuch des Gottesdienstes unwichtig“ an erster Stelle (63 % bzw. 74 %). Das Selbstbewusstsein religiöser Individualität und Subjektivität spiegelt sich in diesen Werten. Nur eine relativ kleine Gruppe versieht das Item „Der Stil, in dem Gottesdienste gefeiert werden, gefällt mir nicht“ mit hohen Zustimmungswerten: 31 % im Westen, 18 % im Osten. Damit zeigt sich, dass eine Veränderung des Stils des Gottesdienstes aufgrund der empirischen Ergebnisse kaum zu einer Steigerung der Besuchszahlen führen dürfte. Interessant für die Art und Weise, wie mit empirischen Befunden umgegangen werden kann, erscheint mir hingegen die Auswertung, die Hans-Hermann Pompe vorlegte.8 Für ihn ist – jenseits aller möglichen Erschütterung durch konkrete Ergebnisse der Befragung – klar, dass die „leeren Kirchenbänke“ Folge einer „Verweigerungsgeschichte einer veränderungsunwilligen Kirche“ seien9 und dass es im Gottesdienst zu einem „kulturelle[n] Graben“ und zu „Milieu-Verengungen“ gekommen sei.10 Natürlich kann man dies behaupten; die empirischen Ergebnisse aber geben diesem Befund keineswegs recht – und etwa die unten (2b) angeführte Untersuchung des bayerischen Gottesdienstinstituts weist empirisch in eine entgegengesetzte Richtung.

Was bei der EKD-Befragung zum Gottesdienst generell auffällt, ist, dass die Frage nach der Bedeutung des biblischen Wortes nicht vorkommt (und auch bei den Fragen nach der privaten Frömmigkeit nicht erscheint!).11 7 Vgl. zu diesen Ergebnissen HUBER/FRIEDRICH/STEINACKER: Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge, 454. 8 Vgl. POMPE: Gottesdienst. 9 POMPE: Gottesdienst, 154. 10 POMPE: Gottesdienst, 154: „Wir laden zum Gottesdienst ein mit den Medien des Frühmittelalters (Glocken) und feiern ihn mit Instrumenten des Mittelalters (Orgel). Die Predigttradition basiert im 16. Jahrhundert, prägende Lieder entstammen dem 17. Jahrhundert […].“ 11 Für eine evangelische Kirche ist hier m.E. ein Defizit markiert, das in künftigen Untersuchungen überwunden werden sollte. – Bislang kommt die Bibel in den Befragungen explizit nur im Blick auf die Frage „Es gehört für mich unbedingt dazu [zum Evangelisch-Sein, AD], dass man […] die Bibel liest“; hier stimmen 22 % der Evangelischen West und 41 % der Evangelischen Ost zu (ob die geringe Zustimmung auch an dem direkten Objekt liegen könnte, muss m.E. immerhin gefragt werden; vielleicht würden mehr zustimmen, wenn es in der Frage heißen würde „in der Bibel liest“!).

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6. Der evangelische Gottesdienst als WortKult

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(2) Empirische Erhebungen zum Gottesdienst hatten einen Höhepunkt Anfang der 1970er Jahre und stehen damit im Kontext der empirischen Wende in der Praktischen Theologie und der zahlreichen mit ihr verbundenen Neuaufbrüche. Gegenwärtig ist ein neues Interesse an diesen Untersuchungen festzustellen. Ich nehme zunächst die Untersuchung aus den frühen 1970er Jahren wahr (a), blicke dann auf die Umfrage des Gottesdienstinstituts der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (b), auf die Untersuchung zum Gottesdienst bei jungen Erwachsenen durch Benjamin Roßner (c) sowie die Untersuchung zu Zweitgottesdiensten aus der evangelischen Kirche in Baden (d), auf die neuere Studie zur Predigtrezeption durch Helmut Schwier und Sieghard Gall (e) und auf die beiden empirischen Studien, die im Jahr 2011 erschienen und bezeichnenderweise den Begriff des „Erlebnisses“ für den Gottesdienst aufnehmen: Achim Knechts Studie „Erlebnis Gottesdienst“ (f) und Uta Pohl-Patalongs Buch mit dem Titel „Gottesdienst erleben“ (g).12 (a) Wie für die oben bereits genannte katholische Untersuchung war Gerhard Schmidtchen auch für die Publikation der Ergebnisse einer VELKDBefragung zum Gottesdienst verantwortlich, die 1973 unter dem Titel „Gottesdienst in einer rationalen Welt“ erschien. Auch diese Untersuchung stieß auf „den Unterschied zwischen einer gläubigen und einer bloß ritualistischen Beziehung zur Kirche“13 und versuchte, das Phänomen der „unwahrscheinliche[n] Kirchenbesucher“ als relevante Gruppe näher zu beleuchten. Die Untersuchung erkannte, dass die Mitglieder dieser Gruppe durch religiöse Sozialisation in einem kirchlichen Elternhaus, durch Gemeindebindung und religiöses Interesse, gleichzeitig aber auch durch eine Inkongruenz zwischen dem eigenen Wertebewusstsein und dem, wofür die

12 Nicht eigens thematisiere ich das Ergebnis der empirischen Bestandsaufnahme zum evangelisch-reformierten Gottesdienst in der Deutschschweiz; vgl. dazu BORNHAUSER: Der reformierte Gottesdienst in der Deutschschweiz. Es handelt sich hier um einen Überblick über die Gottesdienstlandschaft in den reformierten Kirchen der Deutschschweiz auf dem Hintergrund neuerer Untersuchungen. Die Frage nach den Erwartungen der Gottesdienstbesucherinnen und -besucher wird dabei nur summarisch, aber in ihrer Ambivalenz doch sehr interessant erwähnt. Bornhauser nämlich schildert eine verwirrende Situation: „In den Gottesdiensten soll Verkündigung geschehen, und zwar so, dass sie relevant ist für das Alltagsleben. Aber was ist Gegenstand dieser Verkündigung? Das ist offen. Denn eine Ineinssetzung von Bibel mit Gottes Wort, wie sie zu Zwinglis Zeiten noch selbstverständlich war, würde heute von den meisten Kirchengliedern als Biblizismus verworfen. Was soll dann verkündigt werden? Die Bibel als Gegenstand historischkritischer Forschung? Wird das lebensrelevant? Oder gar nicht die Bibel? Ist das dann noch reformiert?“ (aaO., 24). Auch im Blick auf Musik, neue Gebetsformulierungen etc. im Spannungsfeld von Tradition und Innovation sieht Bornhauser viele Fragen und bislang wenig weiterführende Antworten. 13 JETTER: Symbol und Ritual, 17.

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Kirche mit ihrem Wertesystem stehe, gekennzeichnet sei.14 Eine wesentliche Rolle spielt für diejenigen, die zu dieser Gruppe gehören, zudem die „Suche nach Transzendenz“: „Sie wollen nicht nur für heute leben, das heißt, das Leben aus anderen als den vordergründigen Daseinszusammenhängen begreifen.“15 Grundlegend erkennt die Untersuchung, dass „Liturgie-Reformen“ im Blick auf die Steigerung der Anzahl der Gottesdienstbesucher nur eine sehr geringe Bedeutung haben könnten. Viel entscheidender sei es, die Frage nach der Sozialisation sowie der Anschauungssysteme von Menschen im Verhältnis zu denen der Kirche zu betrachten. Innerhalb der damit gesetzten Grenzen aber sei eine Arbeit daran, den Gottesdienst „interessanter, akzeptabler“ zu machen, durchaus denkbar.16 Als wesentliches Element des Gottesdienstes bezeichnen die befragten Protestanten – was kaum überrascht – auch in der 1973 erschienenen Untersuchung die Predigt.17 Auf einer Rangliste der Dinge, die für die Befragten unbedingt zum Gottesdienst gehören, rangiert die „Vorlesung von Bibeltexten“ an sechster Stelle – nach Predigt, Orgelmusik, Läuten der Glocken, stillem Gebet und gemeinsamem Credo. Etwa ein Viertel der Befragten könnte sich vorstellen, die Verlesung auch wegzulassen; bei der Predigt sind dies weniger als 10 %.18 Interessant ist, dass sich das Ergebnis bei Kirchenmitgliedern, die nie zum Gottesdienst gehen, nochmals erheblich verstärkt. Hier erwarten 64% eine Predigt (der höchste Zustimmungswert), nur 29% erwarten biblische Lesungen.19 Bei der Frage nach den Gründen zum Gottesdienstbesuch wurden die folgenden vier Items in der genannten Reihenfolge vor allem benannt: (1) Wegen der Predigt, weil ich die Predigt hören möchte (31 %) (2) Mir gefällt das Feierliche, Andachtsvolle des Gottesdienstes (26 %) (3) Der Gottesdienst soll mich in meinem Glauben stärken (24 %) (4) Ich besuche den Gottesdienst, um zu beten (22 %).20

14 Vgl. SCHMIDTCHEN: Gottesdienst in einer rationalen Welt, 153f; vgl. zu den „jugendliche[n] Ritualisten“ aaO., 76–80. 15 SCHMIDTCHEN: Gottesdienst in einer rationalen Welt, 45; vgl. auch aaO., 47 [Schaubild 24]. 16 Vgl. SCHMIDTCHEN: Gottesdienst in einer rationalen Welt, 85 [Zitat: ebd.]; vgl. auch aaO., 147f. Vgl. dazu besonders auch die Beiträge von Herbert Lindner und Lutz Mohaupt in dem zu der Studie erschienenen Begleitband SEITZ/MOHAUPT: Gottesdienst und öffentliche Meinung. 17 Vgl. SCHMIDTCHEN: Gottesdienst in einer rationalen Welt, 91. 18 Vgl. SCHMIDTCHEN: Gottesdienst in einer rationalen Welt, 92 [Schaubild 38]. 19 Vgl. SCHMIDTCHEN: Zwischen Kirche und Gesellschaft, 93 [Schaubild 39]. 20 Vgl. SCHMIDTCHEN: Zwischen Kirche und Gesellschaft, 95 [Tabelle 26].

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Die unangefochtene Spitzenstellung der Predigt zeigt sich auch in dieser Übersicht. Die drei weiteren genannten Aspekte haben mit dem Glauben bzw. mit dem Gebet zu tun.21 Werden die Kirchenmitglieder befragt, was in der Predigt zur Sprache kommen soll, antworten die meisten (75 %) mit der – nach Schmidtchen – „allgemeinste[n] Antwort“: „Wort Gottes“.22 Ob diese Antwort aber tatsächlich nur gewählt wurde, weil sie so allgemein und daher in jedem Fall stimmig ist, oder nicht doch auch, weil sich damit eine ‚religiöse‘ Sehnsucht an die Predigtrede und ihren Charakter verbindet, ist aufgrund der Untersuchung nicht zu entscheiden.23 (b) Das Problem, Menschen direkt zu ihrer Gottesdiensterfahrung zu befragen, ist bekannt.24 Wenn klar ist, dass es um „Gottesdienst“ (oder allgemeiner: „Kirche“) geht und sogar ein kirchlicher Auftraggeber hinter der Befragung vermutet wird, reagieren Befragte auf bestimmte Weise – nämlich so, dass das, was sie sagen, nicht unbedingt und schon gar nicht ungefiltert dem entspricht, was sie denken. (Nur so lässt sich auch die Selbstauskunft in der jüngsten EKD-Studie erklären, wonach 10 % der Evangelischen West und 16 % der Evangelischen Ost behaupten, jeden oder fast jeden Sonntag in die Kirche zu gehen – bei einem Gottesdienstbesuch, der EKDweit bei maximal etwa 4 % liegen dürfte.25) Diejenige Untersuchung, die dieses Problem am deutlichsten methodisch berücksichtigt und auch deshalb zu höchst interessanten Ergebnissen gelangt, ist die Befragung, die das Gottesdienstinstitut der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern in Kooperation mit der Universität Bayreuth unter dem Titel „Rituale, Sinngebung und Lebensgestaltung in der modernen Lebenswelt“ durchführte und als liturgisches Teilergebnis 2007 unter dem Titel „Der Gottesdienst. Wahrnehmungen aus einer neuen empirischen Untersuchung unter evangelisch Getauften in Bayern“ veröffentlichte.26 21 An dieser Stelle könnte sich gegenwärtig eine Verschiebung ergeben haben, wenn man die Ergebnisse der jüngsten EKD-Studie betrachtet; allerdings wurden die hier genannten Items dort auch nicht mehr in dieser Form abgefragt. 22 SCHMIDTCHEN: Zwischen Kirche und Gesellschaft, 96; vgl. aaO., 97 [Schaubild 41]. 23 Auch an dieser Stelle ist die quantitative Nachfrage im Kontext der Untersuchung des Gottesdienstinstituts der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern aufschlussreich. Der Aussage „Eine Predigt soll Gottes Wort verkündigen und kein politischer oder sozialer Vortrag sein“ stimmen insgesamt 39,3% der befragten Evangelischen „voll und ganz zu“, 18,0 % stimmen „etwas zu“, was eine Zustimmung von etwa 57,4 % ergibt. Umgekehrt aber bedeutet dies, dass 42,6 % der befragten Evangelischen durchaus der Meinung sind, Predigten dürften auch soziale oder politische Vorträge sein. 24 Vgl. dazu etwa SCHMIDTCHEN: Zwischen Kirche und Gesellschaft, 94f. 25 Vgl. HUBER/FRIEDRICH/STEINACKER: Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge, 453. 26 Vgl. dazu auch MARTIN: Mensch – Alltag – Gottesdienst.

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Diese Untersuchung bestätigt zunächst das, was auch durch andere Analysen bereits bekannt war: Am ehesten erwarten sich evangelisch Getaufte vom Gottesdienst eine „gute Predigt“;27 man könnte also durchaus davon sprechen, dass sich die Verschiebung der liturgischen Schwerpunktsetzung von der Eucharistie auf das Wort der Predigt bis in die Erwartungen der mehr oder weniger regelmäßigen Besucherinnen und Besucher hinein durchgesetzt hat. Ob dies freilich auch daran liegt, dass man im evangelischen Gottesdienst eben vor allem dies auch erleben kann und somit die Faktizität die Erwartung diktiert, kann durch die empirische Nachfrage nicht geklärt werden. Neben der Predigt ist es vor allem die „Gemeinschaft“, die Evangelische im Gottesdienst suchen.28 Nur bei einer zitierten Aussage (von einem Befragten aus dem evangelikalen Kontext) verbindet sich diese Sehnsucht nach Gemeinschaft unmittelbar mit der Sehnsucht nach Gotteserfahrung. Der Befragte sagt: „Für uns gehört beides dazu: Mit Gott zu kommunizieren und gleichzeitig auch Kontakt zu Leuten zu haben, die da in der Gemeinde sind.“29 Im Kontext der Untersuchung ergab sich eine interessante Differenzierung: Es gibt eine – zahlenmäßig ist sie die größte (!) – Gruppe von Menschen, die den traditionellen Sonntagsgottesdienst schätzt. Dem steht eine etwas kleinere Gruppe gegenüber, die alternative Gottesdienste positiv bewertet. Dass Menschen beides zugleich gut finden oder sich eine Mischung von Elementen aus beidem gut vorstellen können, kommt demgegenüber nur äußerst selten vor.30 Genau dies aber prägt die Haltung vieler Pfarrerinnen und Pfarrer zum Gottesdienst – ein Problem, auf das die bayerische Untersuchung deutlich hinweist.31 Bei denjenigen, die den traditionellen Gottesdienst gut heißen, kommt selbstverständlich auch die Liturgie gut weg und wird als „wohnlich“ beschrieben, bzw. als ein Raum, in dem ein „Zurück-zu-sich-selbst-finden“ möglich wird.32 Kritischer wird der traditionelle Gottesdienst von denjenigen bewertet, die üblicherweise nicht hingehen und alternative Gottesdienste besuchen; vor allem sind es die mangelnden Angebote zur Mitgestaltung sowie die fehlenden Interaktionsformen, die von diesen kritisiert werden.33 27

Vgl. KERNER: Der Gottesdienst, 7. Vgl. KERNER: Der Gottesdienst, 7. 29 KERNER: Der Gottesdienst, 7. 30 Letztlich ist auch diese Einsicht nicht überraschend, sondern deckt sich mit den bereits in der VELKD-Befragung von 1973 festgestellten Ergebnissen; vgl. SCHMIDTCHEN: Gottesdienst in einer rationalen Welt, 91. 31 Vgl. KERNER: Der Gottesdienst, 38f.57–59. 32 KERNER: Der Gottesdienst, 14f. 33 Vgl. KERNER: Der Gottesdienst, 26–28. 28

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Interessant ist, dass sich bei den Befragten explizite Äußerungen zum biblischen Wort im liturgischen Kontext nicht finden; die Lesungen werden an keiner Stelle besonders erwähnt (da es sich um erzählende Interviews handelte, wurde nach diesen auch nicht eigens gefragt). Auch berichten die Gottesdienstbesucherinnen und -besucher – bis auf sehr wenige Ausnahmen – nicht von in theologischem Sinne als herausragend zu bewertenden ‚Erfahrungen‘ im Kontext des Gottesdienstes. Auch der oben zitierte eher evangelikal geprägte Gottesdienstbesucher spricht von der Kommunikation mit Gott so alltäglich, wie er auch von der horizontalen Gemeinschaft innerhalb der Gottesdienstgemeinde spricht. (c) In einer 2005 vorgelegten Untersuchung beleuchtet Benjamin Roßner den evangelischen Gottesdienst in zweifacher Perspektive empirisch näher: Er fragt nach dem Verhältnis junger Erwachsener (im Alter von 18 bis 29 Jahren) zum Gottesdienst und konzentriert sich dabei auf die Situation in Ostdeutschland. Auf der Grundlage von 18 Leitfadeninterviews ermittelt Roßner fünf Idealtypen des Verhältnisses von ostdeutschen jungen Erwachsenen zum Gottesdienst und spricht von den „Weihnachtskirchlichen“, den „Aussteigern“ (die zwar kirchlich sozialisiert waren, aber sich bewusst lossagten), den „Einsteigern“ (die ohne kirchliche Sozialisation von sich aus den Weg in den Gottesdienst fanden), den „bedürfnisorientierten Gottesdienstbesuchern“ (die in den Gottesdiensten das suchen, was sie für sich gebrauchen können) sowie den „Hochintegrierten“ (die auch bereit sind, gestalterisch aktiv zu werden).34 Damit liegt eine Typologie vor, die allerdings für die hier interessierende Fragestellung nicht zu neuen Ergebnissen führt. (d) 2007 publizierte Martin Reppenhagen eine im Auftrag der Evangelischen Landeskirche Baden erstellte Untersuchung zu Zweitgottesdiensten (dem ‚zweiten Programm‘) und ihrer Bedeutung. Dabei wurde vor allem deutlich, dass diese ein hohes Engagement unter den Mitarbeitenden aufweisen (die zudem primär aus der Gruppe der 30- bis 49-Jährigen kommen; mithin nicht aus einer üblicherweise stark den Gottesdienst frequentierenden Gruppe!), allerdings eher von denen besucht werden, die bereits sehr oder ziemlich mit der Kirche verbunden sind (insgesamt fast 80 %). Die häufig eigentlich intendierten Zweifler oder Suchenden werden durch diese Gottesdienste folglich kaum erreicht (nur ca. 5 % bezeichnen sich als kaum oder gar nicht verbunden).35

34 35

Vgl. ROßNER: Das Verhältnis junger Erwachsener zum Gottesdienst, 318–328. Vgl. REPPENHAGEN: „Zweitgottesdienste“, und dazu auch POMPE: Gottesdienst, 166–169.

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III. Liturgische Inszenierung des verbum externum

(e) Helmut Schwier und Sieghard Gall legten im Jahr 2008 erste Ergebnisse einer Studie zur Predigtrezeption vor. Darin versuchen sie, im Blick auf die Predigt dem nahe zu kommen, was in Bezug auf den Gottesdienst als Desiderat der Forschung bezeichnet werden muss und nur durch die bayerische Untersuchung und die noch vorzustellende Studie von Uta Pohl-Patalong (f) konturiert wurde. Was erleben Menschen tatsächlich beim Gottesdienst? Wie wird dieser rezipiert? Wo gibt es eher kognitive, wo eher emotionale Rezeptionsmuster? Schwier und Gall führten eine Untersuchung durch, die „ablaufsimultane Rückmeldungen“ mit Interviews und Gesprächen in Vorbereitung und im Nachklang zur Predigt verbindet.36 Das heißt: Während des Hörens der Predigt konnten die Befragten ihre Beteiligung durch die Einstellung eines sogenannten REACTOSCOPES® angeben – eines Gerätes also, das durch die Verschiebung eines Zeigers die Intensität der Beteiligung aufzeichnet und dies hernach wiedergeben kann. Das Predigthören erfolgte dabei in unterschiedlichen Gemeinden jeweils in einer Laborsituation, d.h.: die Beteiligten wurden in aller Regel in einem Gemeindehaus versammelt; ihnen wurde dann nur die in einem Studio zuvor aufgezeichnete Predigt vorgespielt. Damit blendet die Untersuchung all jene Aspekte, die sich durch den liturgischen und räumlichen Kontext sowie durch die Gestik und Mimik der Person des/der Predigers/in ergeben, aus, ermöglicht aber – so die Autoren der Studie – gerade so die Vergleichbarkeit der an unterschiedlichen Orten und im Kontext unterschiedlicher Gemeinden ermittelten Ergebnisse.37 Erreicht wurden durch die Studie vor allem „hochverbundene Kirchenmitglieder“38. Die Erwartungen an die Predigt wurden in vier Rubriken abgefragt: „religiöse Erbauung“, „theologische Bildung“, „geistige Anregung“ und „lebenspraktische Orientierung“, wobei die ermittelten Werte im Kontext der vier Aspekte für „religiöse Erbauung“ am geringsten ausfielen.39 Auch wenn die Autoren einräumen, dass dies am altertümlichen Begriff der „Erbauung“ liegen könnte, fällt doch der hohe Anteil kognitiver Erwartung an die Predigt auf, der m.E. allerdings auch mit der Vorlage der vier Antwortmöglichkeiten zusammenhängen könnte. Die Möglichkeit, dass Menschen in der Predigt eine dezidiert in theologischen Kategorien zu beschreibende Erfahrung mit dem herausfordernden WORT Gottes machen, wurde in der Untersuchung nicht nachgefragt – sie wäre freilich auch nicht ganz einfach als Antwortmöglichkeit darstellbar. In der Wahrnehmung von acht Predigten auf dem Hintergrund des Untersuchungsansatzes zeigt sich dann, dass sowohl kognitiv eher herausfordernde 36

Vgl. SCHWIER/GALL: Predigt hören, 9–13, Zitat: 9. Vgl. SCHWIER/GALL: Predigt hören, 12f. 38 SCHWIER/GALL: Predigt hören, 15. 39 Vgl. SCHWIER/GALL: Predigt hören, 21f. 37

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als auch rein narrative sowie politische Predigten am deutlichsten polarisieren. Erwartet wird insgesamt am ehesten eine Verknüpfung von „Bibelauslegung und Lebensbezug“ in der Predigt.40 Die methodisch anregende Untersuchung ruft geradezu nach einer Fortsetzung, bei der dann weitere Aspekte der Predigerperson (Gestik, Mimik) sowie des liturgischen Kontextes mit in den Blick genommen werden müssten. Eine Ausweitung auf den gesamten Gottesdienst wäre reizvoll, methodisch allerdings schwer zu vollziehen. Genau in dieser Richtung aber ließe sich das Ziel dieser Erarbeitung – eine theologische Theorie des evangelischen Gottesdienstes vorzulegen, die die Frage nach dessen Gestaltung konstitutiv mit einbezieht – auch empirisch validieren bzw. korrigieren. (f) Achim Knecht möchte „jenseits von positiven oder negativen Vor-Urteilen“ „eine Wahrnehmung der Wirklichkeit von Gottesdiensten“ ermöglichen und dazu den – gesellschaftlich sowie kulturanthropologisch und -soziologisch vielfach verwendeten, theologisch aber immer noch mehrheitlich kritisch betrachteten – Begriff des Erlebnisses aufnehmen.41 Dabei werden Erlebnis und theologische Deutung jenseits in der theologischen Tradition konstruierter Dichotomien m.E. treffend miteinander in Verbindung gebracht, indem Knecht auf die Formel aus der Abendmahlstheologie verweist und davon spricht, dass „in, mit und unter“ dem Erlebnis der Glaube Wirklichkeit werde.42 Im spezifisch liturgischen Kontext beschreibt Knecht ein Erlebnis als „eine angestrebte unterhaltsame Motivierung zum Glauben, in der eine den Menschen verwandelnde Wahr-Nehmung des Evangeliums im Kontext seiner gesellschaftlich bestimmten Identität geschehen kann.“43 Die Arbeit, die sich im Umkreis der Frankfurter phänomenologischen Schule verortet, bedient sich der Methoden der „Teilnehmenden Beobachtung“44 und „Dichten Beschreibung“45 – und geht von 28 vom Autor besuchten, ‚erlebten‘ und dokumentierten Gottesdiensten aus.46 Methodisch bleibt dabei die Frage, wie eigene Vorurteile und individuelle Vorlieben sich in die liturgische Rezeption eintragen (trotz gelegentlicher Reflexionen auf diese Problematik), das große Problem der vorgelegten Studie. Die Gefahr eines sich selbst bestätigenden Kreislaufs von eigenen Präferenzen, entsprechendem gottesdienstlichem Erleben und neuerlichen Schlussfolgerungen liegt auf der Hand – gerade dann, wenn man die Er40

Vgl. SCHWIER/GALL: Predigt hören, 237–239. KNECHT: Erlebnis Gottesdienst, 11. 42 KNECHT: Erlebnis Gottesdienst, 407. 43 KNECHT: Erlebnis Gottesdienst, 12. 44 Vgl. KNECHT: Erlebnis Gottesdienst, 65–91. 45 Vgl. KNECHT: Erlebnis Gottesdienst, 91–111. 46 Vgl. KNECHT: Erlebnis Gottesdienst, 112. 41

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gebnisse Knechts mit den methodisch sehr differenziert erhobenen Erkenntnissen der Nürnberger Untersuchung vergleicht. So plädiert Knecht für unterhaltsame Gottesdienste und betont dazu auch die Notwendigkeit spielerisch-partizipativer Elemente47 – Aspekte, bei denen die Nürnberger Untersuchung extrem unterschiedliche Logiken verschiedener Besuchergruppen aufgezeigt hatte. Der Autor selbst nimmt (unhintergehbar!) Gottesdienste nur in einer bestimmten Logik wahr. Diese Perspektive dann aber zur Basis weitreichender liturgischer Folgerungen zu machen, impliziert die Gefahr des individuellen Kurzschlusses. Darüber hinaus bedürfte auch das Miteinander von produktionsästhetischer und rezeptionsästhetischer Sicht genauerer Nachfrage: „Nur wenn Menschen im Gottesdienst auch etwas davon erleben, wovon der Pfarrer in Liturgie und Predigt redet, wird die Botschaft des Evangeliums bei ihnen ankommen und ihnen einen Zugang zum Glauben und zur Gemeinde eröffnen. Dieses Erleben ist offensichtlich von bestimmten Bedingungen der Gestaltung des Gottesdienstes abhängig.“48 (g) Das Verdienst, unterschiedliche liturgische Rezeptionslogiken durch eine qualitativ empirische Studie herausgearbeitet zu haben, gebührt Uta Pohl-Patalong in ihrer 2011 vorgelegten Untersuchung „Gottesdienst erleben“.49 Aufgrund von 22 qualitativen Interviews wird es möglich, differenzierte Logiken für die Wahrnehmung einzelner liturgischer Sequenzen (von der „Begrüßung an der Kirchentür“ bis zum Segen) und äußerer Faktoren (Pfarrerinnen und Pfarrer, Raum, soziale Kontakte, Gemeinschaft, Subjekt) zu ermitteln.50 Dabei zeigt sich, dass vor allem die liturgischen Elemente Predigt51 und Segen52 mit hohen Erwartungen verbunden werden. Dies gilt – wie Pohl-Patalong bemerkt – allerdings nicht etwa für die biblischen Lesungen: „Auffallend ist bei der Thematisierung [der Bibeltexte, AD] insgesamt, dass ihnen eher wenig Raum und wenig Emotionalität gewidmet wird. Gerade den protestantischen Kirchen mit ihrer inhaltlichen Hochschätzung des Wortes sollte es zu denken geben, dass hier offensichtlich theologisches Verständnis und subjektives Erleben recht weit voneinander entfernt sind.“53

47

Vgl. KNECHT: Erlebnis Gottesdienst, 405. KNECHT: Erlebnis Gottesdienst, 32. 49 Vgl. zum Begriff der „Erlebnislogiken“ POHL-PATALONG, Gottesdienst erleben, 93f. 50 Vgl. POHL-PATALONG, Gottesdienst erleben, 95–167 [Die gottesdienstlichen Elemente], 167–192 [Äußere Faktoren gottesdienstlichen Erlebens]. 51 Vgl. POHL-PATALONG: Gottesdienst erleben, 136–145. 52 Vgl. POHL-PATALONG: Gottesdienst erleben, 161–167. 53 POHL-PATALONG: Gottesdienst erleben, 215. 48

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Die im Rahmen dieser Untersuchung besonders spannende Frage, wo und wie Gottesdienstfeiernde das liturgische Geschehen im Kontext eines Gottmenschlichen Wort-Wechsels interpretieren, lässt sich aus den vorgestellten Ergebnissen nur schwer erheben. Zunächst ist festzuhalten, dass die Interviewpartner sich sämtlich und milieuübergreifend gerne über den Gottesdienst unterhalten und ein hohes „Reflexionsvermögen“ zeigen.54 Dennoch aber sind explizit theologische Deutungen der ‚ästhetischen‘ Erfahrungen bzw. Erlebnisdimensionen eher selten anzutreffen. Die von Wilhelm Gräb betonte individuelle und subjektive religiöse Deutungsleistung scheint empirisch kaum greifbar. Stattdessen finden sich unterschiedliche Erlebnisbeschreibungen, die vor allem beim (insgesamt wenig betonten!) Abendmahl und beim (als emotional besonders wichtig erlebten) Segen eine Deutung als Erfahrung von Transzendenz nahelegen. So bemerkt eine 80-jährige Gesprächspartnerin zum Abendmahl: „Da ist Gott dabei.“55 Und eine 65Jährige sagt unbestimmter: „Und – ich überleg’ jetzt gerade – wann mal, wann mal so im Gottesdienst eigentlich auch so ein Gefühl, das ist beim Abendmahl. Das ist da, wo es dann manchmal wirklich auch, wo du dann das Gefühl hast, ja, da schwingt was, da ist was.“56 Der Segen wird als „Kraft“-Quelle57 verstanden oder auch explizit als „Zuspruch der Gegenwart Gottes“ erfahren.58 Auf den ersten Blick erstaunlicherweise werden solche Erfahrungen weit weniger mit den Gebeten59 oder mit der sonstigen Liturgie60 verbunden. Mit Pohl-Patalongs Studie ist eine Grundlage zur Ermittlung des Erlebens im Gottesdienst gelegt, die weitere Nachfragen möglich macht. Für die Theologie und Gestaltung des Gottesdienstes ergibt sich die Beobachtung, wie intensiv im Gottesdienst Aspekte wie Stille und Gemeinschaft, emotionales Angesprochenwerden durch die Musik und den Raum oder die Bedeutung der Inhalte der Predigt für den Alltag der Gottesdienstbesucherinnen und -besucher benannt werden und wie wenig (bzw. wie implizit!) die Dimension erwähnt wird, die nach Luther als die grundlegende liturgische Dimension angesprochen werden kann: Gottesdienst als Einlass in den Wortwechsel zwischen Mensch und Gott. (3) Was ergibt sich insgesamt aus den bisherigen Untersuchungen zum evangelischen Gottesdienst und seiner Rezeption? Ich nähere mich dieser 54

Vgl. POHL-PATALONG: Gottesdienst erleben, 211f [Zitat. 211]. Zitiert bei POHL-PATALONG: Gottesdienst erleben, 157. 56 POHL-PATALONG: Gottesdienst erleben, 157. 57 Vgl. POHL-PATALONG: Gottesdienst erleben, 164. 58 POHL-PATALONG: Gottesdienst erleben, 165. 59 Vgl. POHL-PATALONG: Gottesdienst erleben, 145–149. 60 Vgl. POHL-PATALONG: Gottesdienst erleben, 101–116. 55

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III. Liturgische Inszenierung des verbum externum

Frage, indem ich kurz auf das 2002 erschienene Buch von Ronald B. Byars mit dem Titel „The Future of Protestant Worship“ blicke. Byars vermutet darin (ohne dies empirisch zu belegen), dass sehr viele Besucherinnen und Besucher von Gottesdiensten diesen mit einer Art ritualisierten Gelangweiltseins begegnen („ritual boredom“).61 Dieses Gelangweiltsein habe seine Quelle entweder darin, dass die Besucher das Gefühl hätten, im Gottesdienst werde zwar über Gott geredet, aber über einen, der weit entfernt und vielleicht nur in der Erinnerung gegenwärtig ist; in jedem Fall aber als einen, der mit dem eigenen Leben nicht viel zu tun habe. Eine andere Quelle dieser Langeweile erkennt Byars darin, dass Menschen das Gefühl haben könnten, im Gottesdienst werde über Wege eines moralisch-disziplinierten Lebens geredet, die dem einzelnen letztlich bekannt seien. – Ob es auf diesem Hintergrund als Ziel beschrieben werden könnte, die Erwartung gegenüber dem (evangelischen) Gottesdienst wieder größer werden zu lassen? Im selben Zusammenhang warnt Byars davor, einen Gottesdienst zu konstruieren, der sich den Erwartungen derer, die ihn besuchen oder nicht mehr besuchen, möglichst stromlinienförmig anpasst. Byars zitiert dazu Stanley Hauerwas, der davon ausgeht, dass Menschen außerhalb der Kirche nicht die leisteste Ahnung davon hätten, was sie eigentlich ‚suchen‘ würden: „That’s why you need us to reshape you and your desires.“62 Diese Aussage kann autoritär und elitär gehört und könnte dementsprechend missbraucht werden; sie muss es aber nicht. Denn in der Tat lebt Kirche davon, dass Menschen immer wieder transformierende, deterritorialisiernde Erfahrungen machen, indem sie im WORT verwandelt und ins WORT hinein verwandelt werden. Diese Erwartung könnten Menschen, die diese Erfahrung nicht gemacht haben, unmöglich als ihre Erwartung an einen möglichst einladenden, lebendigen Gottesdienst formulieren. Diese knappe Aufnahme der Argumente von Byars und Hauerwas soll in dem hier beschriebenen Kontext zur Einordnung und Relativierung empirischer Erkenntnisse dienen. Was gegenwärtig m.E. besonders nötig wäre, ist nicht die Frage, unter welchen Bedingungen Menschen bereit wären, vielleicht doch einmal wieder einen Gottesdienst zu besuchen bzw. wie sie sich einen idealen Gottesdienst vorstellen könnten (so sehr auch solche Fragen von Bedeutungen sein könnten); viel interessanter wäre (1) die Weiterführung der von Uta Pohl-Patalong initiierten Untersuchung, was Menschen, die den Gottesdienst gerne und immer wieder besuchen, in ihm erleben, ob, wo und wie es zu Erfahrungen des Fremden und Anderen kommt und wel61

Vgl. zu dem Begriff, den Byars von Richard F. Ward übernimmt, BYARS: The Future of Protestant Worship, 22. 62 Stanley Hauerwas, zit. bei BYARS: The Future of Protestant Worship, 23.

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che Rolle dabei unterschiedliche Sequenzen der Liturgie, unterschiedliche Worte der Gebete und vor allem die liturgischen Lesungen spielen, und (2) die Frage, wie Menschen auf neuere und fremde Arten und Weisen der gottesdienstlichen Inszenierung reagieren, die etwa das Bibelwort neu und anders in den Mittelpunkt rücken, die Verbalisierung des evangelischen Gottesdienstes reduzieren bzw. neue Formen im Wechselspiel von Wort und Musik wagen.

6.2 Der (evangelische) Gottesdienst als WortKult und seine Denkmöglichkeit oder: die Deutekategorie des Opfers Oben wurde ein abduktives Verfahren des Theologietreibens konturiert (Kap. 1.5). Sein besonderer Reiz kann darin gesehen werden, die Ebene der Reflexion und die Ebene der konkreten Gestaltung beieinander zu halten – im Kontext praktisch-theologischen Fragens sehr knapp formuliert: Ästhetisches und Theologisches werden in ihrem In- und Miteinander bedacht. An dieser Stelle blicke ich nun zunächst auf die Denkmöglichkeit eines evangelischen Gottesdienstes als WortKult, bevor der nächste Abschnitt Fragen der praktischen Gestaltung weiterführen wird (Kap. 6.3). Konkreter frage ich in diesem Abschnitt danach, wie ein theologisches Modell zur Beschreibung des WortKultes gefunden werden kann, das den beiden in der bisherigen Erarbeitung erkundeten Grundbedingungen des WortKults entspricht: einerseits der auch im gottesdienstlichen Vollzug bleibenden Externität des WORTES als einer (wie im Anschluss an kulturwissenschaftliche Beschreibungen formuliert wurde) präsenten Absenz, andererseits und damit zusammenhängend der notwendigen Relativierung, Begrenzung und Beschränkung ‚starker‘ neuzeitlicher Subjektivität. Diese beiden zusammengehörigen Aspekte wurden auch dort greifbar, wo der notwendige doppelte Verfremdungseffekt des evangelischen Gottesdienstes hergeleitet wurde. Nur so wird der evangelische Gottesdienst zu einem Wort-Wechsel, in dem Katabase und Anabase dergestalt ineinandergreifen, dass sich eine dynamische Diabase ergibt, in der das „Ich“ seine Neukonstitution im anredenden „Du“ erfährt.63 Mit dieser Beschreibung ist zugleich eine kurze Antwort auf die Frage gegeben, was eigentlich den Gottesdienst zu einem spezifisch evangelischen Gottesdienst macht.

63 Diese Wendung rekurriert auf die nach-idealistische Formierung der Beschreibung menschlicher Identität bei Franz Rosenzweig. In einem Brief an Eugen Rosenstock am 19.10.1917 formuliert Rosenzweig knapp: „Mein ich entsteht im Du“ (ROSENZWEIG: Briefe und Tagebücher I/1, 417; vgl. dazu DOBER: Die Zeit ins Gebet nehmen, 32–79).

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III. Liturgische Inszenierung des verbum externum

Wobei mit dem Begriff „evangelisch“ – ganz im Sinne Eberhard Jüngels64 – zunächst nicht eine konfessionelle Ausprägung gemeint ist, sondern der Gottesdienst, wie er sich auf der Grundlage des Evangeliums versteht. Dass damit dann aber auch eine Aussage über den konfessionell evangelischen Gottesdienst gemacht wird, erscheint mir evident. Der Versuch dieser Erarbeitung, den in dieser Hinsicht evangelischen Gottesdienst materialiter so zu bestimmen, dass die Zentralität des Externum und damit die Zurücknahme der eigenen Subjektivität im Blick auf die Neugestaltung der eigenen Existenz coram Deo als entscheidendes Ereignis benannt wird, erscheint spezifisch anders als der Versuch, das entscheidend bzw. unterscheidend Evangelische im „Evangelischen Gottesdienstbuch“ zu fixieren. Im Vorwort zur Altarausgabe des Evangelischen Gottesdienstbuches wird die Anknüpfung an die Grundentscheidungen der Reformation gesucht, indem auch hier Luthers berühmte Aussage bei der Einweihung der Torgauer Schlosskirche am 5. Oktober 1544 zitiert wird.65 Gleichzeitig werden die „Versuche zu lebendigeren Gottesdiensten zu kommen“, die in den vergangenen Jahren zu vielfältigen Neugestaltungen geführt haben, positiv erwähnt.66 Insgesamt ergibt sich damit das doppelte Ziel von Traditionsanschluss und Öffnung für Neues, von Beheimatung und niederschwelliger Offenheit: „Es braucht das alltäglich Vertraute und das Archaische [sic!], das sich erst mit der Zeit erschließt. So wird die Gemeinde in ihrem Gottesdienst heimisch sein und auch die zufällig Hereinkommenden können sich darin zurechtfinden.“67 Immer wieder sind es dann Spannungsfelder, die formuliert werden und in denen sich das „Evangelische Gottesdienstbuch“ bewegen will – anstatt die Spannungsfelder in die eine oder andere Richtung einseitig aufzulösen: „[…] neue Formen der Kommunikation“ sollen ebenso beachtet werden, wie die „Sensibilität für Symbole und Riten“ eine wesentliche Rolle spielt;68 reformatorisch Spezifisches soll ebenso Grundlage des Gottesdienstbuches sein wie ökumenisch Anschlussfähiges.69 In den beiden Grundformen – der Messform (Grundform I) und des Predigtgottesdienstes (Grundform II) – werden Linien aus der Alten Kirche bzw. dem Mittelalter weitergeführt.70 Für die liturgische Gestaltung sollen die Bindung an die grundlegende Struktur sowie die Freiheit der je individuellen Ausgestaltung leitend werden.71 Letztlich wird das Spezifische des evangelischen Gottesdienstes im Vorwort zum Evangelischen Gottesdienstbuch eher negativ bestimmt: als Verzicht auf übergroße Normierung angesichts der evangelischen Freiheit im Umgang mit äußeren Ordnungen. – In diesem Kontext gehe ich einen deutlich davon unterschiedenen Weg, indem ich das, was evangelischen Gottesdienst ausmacht, materialiter konkretisiere.

64

Vgl. JÜNGEL: Der evangelisch verstandene Gottesdienst. Zitiert nach Evangelisches Gottesdienstbuch, 6. 66 Evangelisches Gottesdienstbuch, 6. 67 Evangelisches Gottesdienstbuch, 6. 68 Evangelisches Gottesdienstbuch, 13; vgl. auch aaO., 14, wo das Spannungsfeld von „Tradition“ und „Gegenwart“ nochmals explizit betont wird [im Original jeweils hervorgehoben!], sowie aaO., 17f. 69 Vgl. Evangelisches Gottesdienstbuch, 13. 70 Vgl. Evangelisches Gottesdienstbuch, 14.24. 71 Vgl. Evangelisches Gottesdienstbuch, 14; vgl. auch das zweite Leitkriterium aaO., 15. 65

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6. Der evangelische Gottesdienst als WortKult

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Ein theologisches Denkmodell für den evangelischen Gottesdienst erkenne ich dort, wo evangelischerseits bislang nicht nach einem solchen gesucht wurde: im Opfer des Tempels, von dem das Erste Testament berichtet.72 Im Gegenteil wurde, wie oben (Kap. 2.2.3) gezeigt, die Opposition von Wort und Kult zu einer tragenden Säule evangelischer Liturgik. Zu denken ist z.B. an Götz Harbsmeier. Im Blick auf den evangelischen Gottesdienst formulierte er die Grundfrage, ob dieser „kultische Feier oder geschichtliches Wortzeugnis in Predigt und Sakrament [sei, AD], ob Symboldrama oder Kerygma des Christus praesens.“73

Um die Wiedergewinnung eines Verständnisses des Opferbegriffs, der den Aussagen der biblischen Texte nahe kommt, habe ich mich – in Aufnahme jüdischer Diskussionen zum Opfer – bereits in einem 2003 erschienenen Aufsatz gekümmert.74 Diesen setze ich im Folgenden voraus und stelle seine wesentlichen Einsichten nur knapp dar.75 Mein Ausgangspunkt ist ein weiter biblischer Opferbegriff, der das Opfer nicht auf den Aspekt des Schuld- bzw. Sühnopfers einengt (wie dies häufig in der christlichen Wahrnehmung des alttestamentlichen Opfers,76 aber auch in neueren kulturwissenschaftlichen Theorien zum Opfer, vor allem in René Girards Ansätzen und ihrer Aufnahme, geschieht). Zur Wiedergewinnung eines solchen weiten Opferverständnisses halte ich es (1) einerseits für hilfreich, auf die Terminologie für das „Opfer“ im Ersten Testament zu blicken, (2) andererseits wahrzunehmen, wie das rabbinische Judentum auch nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n. Chr. weiterhin von „Opfer“ sprechen konnte. (1) Im biblischen Hebräisch fehlt zunächst ein Sammelbegriff für das, was im Deutschen unter Aufnahme einer Begrifflichkeit aus der allgemeinen Religionsgeschichte als „Opfer“ bezeichnet wird. Vielmehr werden einzelne Opferarten mit jeweils spezifischen Begriffen bezeichnet. Erst in der Priesterschrift begegnet der Terminus ʯʡʸʷ, den die meisten deutschen Übersetzungen mit „Opfer“ wiedergeben. 72 Damit mache ich auch epistemologisch die Bibel zur Basis der Begründung eines evangelischen Gottesdienstverständnisses – ein Aspekt, auf den noch zurückzukommen sein wird. 73 HARBSMEIER: Dass wir die Predigt, 165f. Ausführlich hat sich Wilhelm Averbeck mit dem evangelischen Ringen um den Opferbegriff für das Abendmahl auseinandergesetzt (vgl. AVERBECK: Der Opfercharakter des Abendmahls). Er verweist u.a. darauf, dass Luther diesen in der theologischen Kontroverse so strittigen Begriff ab der Mitte der 1520er Jahre zunehmend vermieden hat (vgl. aaO., 25 und 25 Anm. 121). 74 Vgl. zum Folgenden vor allem meinen Aufsatz „Opfer als ‚Nahung‘“. 75 Inzwischen hat auch Martin Nicol auf das Modell des Opfers und auf meinen diesbezüglichen Aufsatz zurückgegriffen; vgl. NICOL: Weg im Geheimnis, bes. 245–271 [Herzenswunsch und Sonntagspflicht. Für eine Spiritualität der Nahung]. 76 Vgl. z.B. DIEBNER: Art. Gottesdienst, 12–15.

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III. Liturgische Inszenierung des verbum externum

Franz Rosenzweig und Martin Buber machen hier eine Ausnahme: In ihrer Übersetzung des Tanach geben sie das hebräische Wort ʯʡʸʷ mit „Nahung“ bzw. „Darnahung“ wieder. Buber und Rosenzweig machen damit auf die Wurzel ʡʸʷ aufmerksam ([dar-]nahen, sich nähern), aus der ʯʡʸʷ abgeleitet ist; gleichzeitig aber entheben sie das „Opfer“ im alttestamentlichen (genauer: priesterschriftlichen) Kontext der Einebnung in die Allgemeinheit eines religionswissenschaftlich, religionshistorisch oder alltagssprachlich geprägten Begriffs mit all seinen problematischen Konnotationen. Stattdessen wird Opfer in die Dynamik der „Nahung“ von Gott und Mensch eingezeichnet, in die Dynamik der Heiligung. Die profane Welt und der heilige Gott begegnen sich im Geschehen des Opfers – ein Aspekt, den bereits Augustin erkannte und daher das Geschehen des Opfers mit „sancta societate inhaerere Deo“ umschrieb.77 (2) Das Judentum nach 70 n. Chr. ist mit dem Problem konfrontiert, wie in einer Zeit, als der Tempel nicht mehr stand, vom „Opfer“ gesprochen werden konnte und sollte. Die theoretische Möglichkeit, dass das Judentum die Opfer im Tempel für theologisch erledigt betrachtet oder sie sich lediglich zukünftig oder eschatologisch von einem in Jerusalem wiedererrichteten Tempel erwartet, wäre vorstellbar. Das rabbinische Judentum aber geht, wie in Texten seit dem zweiten Jahrhundert wahrnehmbar wird, einen deutlich anderen Weg. Das „Opfer“ wird nicht verabschiedet, sondern vielmehr als metaphorischer Deuteraum aufrecht erhalten, in den andere Vollzüge eingetragen werden. Im Tempel kann (momentan) nicht mehr geopfert werden; aber es gibt nach wie vor „Opfer“. Im Kern sind es drei Vollzüge, die an die Stelle des Opfers treten: das Gebet, das Studium der Tora und das Tun der Mizwot. Es handelt sich jeweils um konkrete, menschliche Vollzüge, die mit dem Opfer in Beziehung gesetzt und dadurch besonders qualifiziert werden. Sie erscheinen dann als von Gott gebotenes menschliches Handeln, auf dem die Verheißung liegt, dass Gott in, mit und unter diesem Handeln begegnet. Am Beispiel der Tora-Lesung sei dieses Geschehen exemplarisch näher beleuchtet: Wenn das Lesen und Lernen der Tora in den Kontext des Opfers gesetzt und in diesen Deuterahmen eingeordnet wird, dann erscheint es als gebotenes Handeln, das in der Erwartung praktiziert werden kann, im Lesen und Lernen der Worte und Buchstaben der Tora Gott selbst zu begegnen. Die rabbinische Hermeneutik mit ihrer Erwartung an den Text und infolgedessen mit ihrer akribischen Genauigkeit und spielerischen 77 AUGUSTIN: De civitate Dei, X,6, hier zit. nach WAINWRIGHT: Art. Gottesdienst, 86. Besonders Karl-Heinrich Bieritz hat darauf aufmerksam gemacht, dass ‚heilig‘ und ‚profan‘ nicht als „Wirklichkeitsbereiche“, sondern als „Beziehungsbegriffe“ zu verstehen seien (vgl. SCHMIDTLAUBER: Art. Liturgik/Liturgiewissenschaft, 397).

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6. Der evangelische Gottesdienst als WortKult

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Freiheit (beides zugleich!) der Textwahrnehmung folgt aus einer Konzeptualisierung der Tora als eine Art „Heiligtum“, in dem Gott seine Nähe verheißt.78 Gleichzeitig folgt daraus aber auch die liturgische Inszenierung der Tora-Verlesung im Gottesdienst, die die Gabe der Tora am Sinai kultisch in Erinnerung ruft und diejenigen, die heute die Tora lesen und hören, anamnetisch an den Gottesberg versetzt. Es geht dann auch um intellektuelles Verstehen der Worte und Buchstaben der Tora, noch mehr aber um die Erwartung, dass das gehörte Wort den Hörenden gegenwärtig zum Gotteswort wird.79

Das Opfer wird daher im rabbinischen Judentum nicht „spiritualisiert“, sondern in seiner spezifischen Spiritualität weitergeführt. Nicht primär der Aspekt der „Sühne“ ist dabei im Blick (wenngleich dieser von den Rabbinen keineswegs ausgeblendet wird!), sondern die Eröffnung eines Raumes der Begegnung von Gott und Mensch im „Opfer“. Anders gewendet wird das „Opfer“ zu einer metaphorischen Topographie für den Ort der Begegnung von Gott und Mensch, für das Geschehen der Nahung. Historisch scheint es interessant, dass die neutestamentlichen Autoren für den christlichen ‚Gottesdienst‘, für die Zusammenkünfte also, die auf der Mahlfeier gründen und zu der auch Elemente des (Lob-)Gesangs sowie der Lesung und Auslegung gehören konnten, zunächst keine dezidiert kultische Begrifflichkeit verwendeten.80 Im Gegenteil wird im Blick auf das Abendmahl vom „Brotbrechen“ (vgl. Apg 2,46 u.ö.) oder vom „Herrenmahl“ (vgl. 1Kor 11,20) gesprochen; aber auch der schlichte Begriff des „Zusammenseins“ kann für die gottesdienstliche Versammlung stehen (vgl. 1Kor 11,17f u.ö.). Umgekehrt werden kultische Begrifflichkeiten in dezidiert anderer Bedeutung verwendet; am berühmtesten und am häufigsten zitiert ist hier mit Sicherheit Röm 12,1 (der „vernünftige Gottesdienst“ als Hingabe des Leibes als „Opfer“); zu denken ist aber auch an die Übernahme von Kultterminologie in christologischer Perspektive, wie sie sich vor allem im Hebräerbrief findet. Dennoch aber wurde kultische Terminologie sehr bald, bereits zu Beginn des zweiten Jahrhunderts, erneut für den Gottesdienst verwendet, wofür etwa Did 14,1–3 und 1Clem 40f Zeugnis geben.81 In Did 14,1–3 wird das Brotbrechen als „Opfer“ (șȣıȓĮ) bezeichnet und in Anschluss an Mal 1,11.14 an die notwendige Reinheit des Opfers erinnert. „Keiner aber, der Streit mit seinem Nächsten hatte, soll mit euch zusammenkommen, bis sie sich versöhnt haben, damit euer Opfer nicht entweiht werde“ (Did 14,2). In 1Clem 40f wird 78

Vgl. zu dieser Torahermeneutik auch DEEG: Predigt und Derascha, bes. 63–103. Vgl. LANGER: From Study of Scripture to an Reenactment of Sinai. 80 Vgl. ROLOFF: Der Gottesdienst im Urchristentum, bes. 50–54; KALB: Art. Liturgie I, 358f. 81 Vgl. HAHN: Art. Gottesdienst, 37; AVERBECK: Der Opfercharakter des Abendmahls, 102– 104. 79

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III. Liturgische Inszenierung des verbum externum

ebenfalls explizit an das Opfergeschen im Ersten Testament erinnert – und dabei betont, dass Orte und Zeiten für das Opferhandeln präzise festgeschrieben waren; dies als Ermahnung für die Gemeinde, dieselbe Sorgfalt bei der Beachtung der Ordnungen des Gottesdienstes walten zu lassen.

Paul Frederick Bradshaw formuliert auf dieser Grundlage noch allgemeiner und erkennt, dass der Gottesdienst in frühchristlicher Zeit „als Opfer begriffen“ werden konnte. Er schreibt: „Diese Vorstellung bezog sich naturgemäß zunächst und vor allem auf die Eucharistie, war aber nicht auf sie beschränkt: Das unaufhörliche Beten und Danken der Kirche wurde als die Erfüllung des ‚fortwährenden‘ (tamid) Opfers aufgefaßt, das jeden Morgen und Abend im jüdischen Tempel dargebracht wurde.“82

Bradshaw zeichnet die neuerliche Übernahme der Opferterminologie ein in die jüdisch gängige Vorstellung des Opfers. In der weiteren Entwicklung dieser Verbindung ergab sich dann freilich eine charakteristische Verengung, die den Sühnecharakter des Opfers einseitig in den Vordergrund kehrte und gleichzeitig das „Opfer“ immer ausschließlicher auf den Vollzug der Eucharistie bezog. Auf diese Entwicklung kann ich an dieser Stelle nicht näher eingehen. In zwei Aspekten will ich aber deutlich machen, was die Eintragung des (evangelischen) Gottesdienstes in die metaphorische Topographie des Opfers leisten kann. (1) Der Gottesdienst als von Gott bereiteter Raum des Gott-menschlichen Miteinanders Üblicherweise wird der Begriff des Opfers als menschliche Darbringung gefasst, die im Verzicht gründet. Dieser Opferbegriff bestimmt auch die theologische und speziell liturgische Diskussion. Ich greife nur exemplarisch auf den Katholiken Cyprian Vagaggini und seine 1959 in deutscher Übersetzung erschienene „Theologie der Liturgie“ zurück (vgl. oben Kap. 4.1.1). Vagaggini schreibt: „Das Opfer im weitesten Sinn besteht in der inneren Absicht, einer Person oder einer Sache etwas völlig zur Verfügung zu stellen, wenn es sein muß selbst zur Vernichtung, um damit zu bezeugen, daß sie mehr wert ist als das zur Verfügung gestellte Ding.“83 Diese allgemeine Bestimmung führt Vagaggini in spezifisch religiösem Kontext wie folgt fort: „Im religiösen Opfer stellt der Mensch sich oder etwas anderes Gott anheim, wenn es sein muß selbst zur Vernichtung, um die

82 83

BRADSHAW: Art. Gottesdienst, 39. VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 108.

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Oberherrschaft Gottes über die Dinge oder sich selber anzuerkennen.“84 Es gehe um die „Hingabe der ganzen Person“ in formaler (Gesinnung) und materieller Hinsicht.85 Diese Bestimmung wird dann auf Christus und weiterführend auf das Messopfer der Kirche bezogen: „Das Meßopfer steht […] in Verbindung mit dem Opfer auf Golgotha und vergegenwärtigt es sakramental auf unblutige Weise.“86 In der Linie dieses Denkens liegt es dann, dass das hierarchische Priestertum als Vertretung Christi erscheint, im Kontext der Messe als ein Handeln „in persona Christi“.87

Selbstverständlich grenzt sich die evangelische Diskussion von diesem Opferverständnis ab, ohne aber aufgrund der Relektüre der biblischen Texte ein neues und anderes Opferverständnis zu entwickeln. Sie übernimmt damit die – letztlich unbiblische (!) – Deutung des Opfers als einseitig latreutisch-anabatischen Vollzug, ohne die Einsetzung und Stiftung des Opfers von Gott als Ermöglichung des Gott-menschlichen Miteinanders in den Blick zu nehmen.88 Ohne die komplexen und differenzierten Aussagen zum „Opfer“ im Ersten Testament über einen Kamm scheren zu wollen, so lässt sich doch sagen, dass es im Opfer weder um Katabasis noch um Anabasis allein geht, sondern immer um die Dynamik der Heiligung im Sinne der Begegnung von Gott und Mensch. Ich erinnere an dieser Stelle nur an zwei Kapitel aus dem Buch Leviticus, die das eben zum „Opfer“ Gesagte unterstreichen. Lev 9 berichtet vom ersten Opfer Aarons und seiner Söhne (vgl. oben Kap. 2.2.3.1 (1)). Die Struktur des anabatisch-katabatischen und mithin diabatischen Wechselspiels wird dabei etwa in V. 6 deutlich erkennbar: „Da sprach Mose: Das ist’s, was der HERR geboten hat, dass ihr es tun sollt, auf dass euch die Herrlichkeit des HERRN erscheine.“ Das Gebot des HERRN geht der darauf folgenden Aktivität der menschlich Handelnden voraus; ihr Ziel wiederum liegt in der Erscheinung von Gottes Herrlichkeit. Das folgende Kapitel, Lev 10, das viel diskutiert ist und dennoch geheimnisvoll bleibt, erzählt vom Tod der beiden Aaron-Söhne Nadab und Abihu. Sie brachten ein „fremdes Feuer vor dem HERRN“ dar, „das er ihnen nicht geboten hatte“ (Lev 10,1). Im darauf folgenden V. 2 heißt es: „Da fuhr ein Feuer aus von dem HERRN und verzehrte sie, dass sie starben vor dem HERRN.“ Auch hier ein Wechselspiel von Himmel und Erde, allerdings eines, das für die Beteiligten dramatisch endet. Der Grund: Hier geht nicht ein dezidiertes Gebot des HERRN der darauf folgenden menschlichen Praxis voraus, sondern eine menschliche Eigenaktivität, auf die der HERR denkbar scharf reagiert. Verheißung und gefährliche Brisanz des Gott-menschlichen Miteinanders,

84

VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 108. VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 108. 86 VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 109. 87 VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 111. 88 Anders auch HOPING: Theologische Hermeneutik und christlicher Gottesdienst, 21: „Der christliche Kultbegriff umfasst an erster Stelle den soterischen Aspekt der Liturgie, ihre katabatische Dimension, sekundär ihren latreutischen Aspekt, die anabatische Dimension der Liturgie.“ 85

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III. Liturgische Inszenierung des verbum externum

wie es im Opfergeschehen Gestalt findet, werden in den beiden Kapiteln somit anschaulich.

Liest man Luthers Aussagen zum Gottesdienst und zur Bedeutung des WORTES, so erscheint dieses nicht weniger brisant. Es geht um Leben und Tod, weil es im WORT um die Frage geht, ob der Mensch als unter der Sünde Verkrümmter im traurigen Solipsismus der Immanenz lebt, oder ob er von Gott selbst durch das zum Leben rufende Wort daraus befreit zu einem neuen und anderen Menschen werde. Entgegen jedem Enthusiasmus aber ist der Mensch zwar der neue, bleibt aber doch der alte: simul iustus et peccator. In dieser Situation ist und bleibt der Gottesdienst als das katabatisch-anabatische Geschehen des Gott-menschlichen Wortwechsels nicht weniger brisant als es das Opfer des Ersten Testaments für die Gottesbeziehung des Volkes Israel war. In diesem theologischen Sinn ist die Frage nach der Funktion des Gottesdienstes zunächst zu beantworten. Natürlich hat der Gottesdienst daneben eine Vielzahl von Wirkungen, die Gemeinschaft stabilisierend, missionarisch, oikodomisch, pädagogisch etc. ausfallen können,89 wenn er aber diese seine Bedeutung verliert, so wird er – mit Paulus formuliert – „tönendes Erz und klingende Schelle“ (1Kor 13,1). An dieser Stelle sei die bereits mehrfach in dieser Arbeit formulierte kritische Linie gegen die zunehmende Tendenz thematischer Ausrichtung und Event-bezogener Akzentuierung evangelischer Gottesdienste nochmals wiederholt. Der Gottesdienst hat seinen Anlass – und dies ist kein anderer als die Tatsache, dass Gott selbst einen Raum der Begegnung eröffnet, einen Wortwechsel beginnt. Und damit hat der evangelische Gottesdienst auch sein grundlegendes Thema: die Gott-menschliche Beziehung und die absente Präsenz des dreieinigen Gottes selbst. Diese zu inszenieren, bleibt die Gestaltungsaufgabe Sonntag für Sonntag (wobei es aufgrund des Kirchenjahres und aufgrund des Charakters der Sonn- und Feiertage selbstverständlich Akzentsetzungen gibt). Es wäre – in der Terminologie des Opfers und in einem allzu schematischen und vereinfachenden Anachronismus gesprochen – widersinnig, wenn die im Tempel amtierenden Priester das ‚Thema‘ der heutigen Opferveranstaltung jeweils neu angegeben hätten.

Gottesdienst ist mehr als kirchliches Angebot und etwas anderes als menschliche Veranstaltung. Zu Recht betonen die reformierten Theologen Ralph Kunz und Felix Moser, dass der evangelische Gottesdienst „kein 89

In dieser Hinsicht ist m.E. die Untersuchung von Christoph Dinkel und seine Frage nach der Funktion des Gottesdienstes theologisch stimmig zu lesen (vgl. auch DINKEL: Das Profil des evangelischen Gottesdienstes, bes. 147–150). Wenn die Frage „Was nützt der Gottesdienst?“ anders verstanden und der Gottesdienst primär auf unterschiedliche Nutzaspekte hin konzipiert würde, so hätte er seine eigentliche Funktion und seinen primären Nutzen bereits verloren.

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Event im modernen Sinn“ sein könne, „kein Evasion-Event, der Gefühlsschauer verursacht und den Menschen an die Grenzen seiner Empfindungsfähigkeit und darüber hinaus führen soll“.90 Und der Katholik Josef Andreas Jungmann schreibt zutreffend: „[…] Kult ist sacrum commercium zwischen Himmel und Erde, bestehend aus Wort und Antwort. Kult umfaßt die Doppelbewegung von Gott und zu Gott.“91 (2) Der Gottesdienst als Ort der Begrenzung menschlicher Subjektivität und der Würdigung menschlichen Handelns Seit etwa zehn Jahren ist von einer Wiederkehr der Religion in der vermeintlich säkularen Welt der Gegenwart die Rede; ja sogar von einem „Megatrend Religion“ (Ulrich H. J. Körtner)92 wird gesprochen, und selbst der bleibend religionskritische Philosoph Jürgen Habermas nennt die Gesellschaft der Gegenwart inzwischen eine postsäkulare.93 Es erscheint dies als eine Situation, die in vieler Hinsicht der religiös-gesellschaftlichen Lage vor rund 80 Jahren entspricht. Wie in der Liturgischen Bewegung (und in der gesellschaftlichen ‚Großwetterlage‘) damals, ist auch gegenwärtig eine „Sehnsucht nach dem Objektiven, nach Gemeinschaft und [vor allem, AD] nach Transzendenz“94 zu beobachten. Eine Praktische Theologie wie die von Manfred Josuttis, die solche Phänomene in den Blick nimmt und das „Heilige“ in den Mittelpunkt rückt, kommt einer solchen Tendenz sicherlich entgegen. Auch Wolfgang Huber sprach im Jahr 2006 als damaliger Ratsvorsitzender der EKD von der „Anziehungskraft ‚großer Riten‘“ in der gegenwärtigen Gesellschaft.95 Für Huber folgt daraus die Notwendigkeit, die traditionellen Riten auch im evangelischen Christentum neu zu entdecken und bewusst zu inszenieren. Bei aller Fraglichkeit, die mit dem Verweis auf die ‚Wiederkehr der Religion‘ gegenwärtig verbunden ist,96 liegt in der Diagnose in jedem Fall 90

KUNZ/MOSER: Alles bleibt, wie es nie war, 170. JUNGMANN: Sinn und Problem des Kults, 4. – Diese wechselseitige Dynamik hatten etwa auch die konfessionellen Theologen der Erlanger Schule im 19. Jahrhundert neu entdeckt und in der Formel vom Wechselspiel der sakramentalen und sakrifiziellen Dimension des Gottesdienstes betont (besonders Theodosius Harnack; vgl. AVERBECK: Der Opfercharakter des Abendmahls, 64– 68. 92 Vgl. KÖRTNER: Wiederkehr der Religion. 93 Vgl. HABERMAS: Glauben und Wissen; vgl. auch BERGER: The Desecularization of the World. 94 Hans-Christoph Schmidt-Lauber zur Liturgik Guardinis; ders.: Art. Liturgiewissenschaft/Liturgik, 390. 95 Wolfgang Huber, in: SZ Nr. 20, 25.01.2006, 13; zitiert nach VuF 51, 2006, H. 2, 2; vgl. dazu auch NICOL: Weg im Geheimnis, 115. 96 Vgl. dazu auch meinen Beitrag zum Stichwort „Religion“ in DEEG/MEIER: Praktische Theologie. 91

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III. Liturgische Inszenierung des verbum externum

zugleich eine Chance, aber auch ein Problem für den Gottesdienst: die Chance einer Wiederentdeckung dessen, was Gottesdienst als Kult und damit als über die Inszenierung von Immanenz hinausgehende Feierform bedeuten kann; die Gefahr aber, dass damit die problematische starke neuzeitliche Subjektivität eher noch gesteigert wird. Letzteres erscheint in zweifacher Hinsicht möglich: zum einen für diejenigen, die Gottesdienste besuchen, wenn sie das gesuchte „Religiöse“ als Steigerung des eigenen Lebens und Erlebens, als Vervollkommnung der eigenen individuellen Lebenskunst in die Inszenierung ihres gelingenden Lebens und so in das subjektive Projekt der Lebenssteigerung integrieren; zum anderen für die für den Gottesdienst Verantwortlichen, wenn sie sich bei der Inszenierung der „großen Riten“ primär an dem orientieren würden, was gegenwärtig gewünscht und nachgefragt wird. Die Einordnung des (evangelischen) Gottesdienstes in die Deutekategorie des Opfers verhindert beides, da sie den Gottesdienst – wie das Opfer im Ersten Testament – als jenen von Gott gegebenen Raum versteht, in dem sich der Mensch nur als cooperator, nicht aber als selbst Gestaltender sehen kann. Was diese allgemeine Bestimmung konkret bedeuten kann, führe ich aus, indem ich mich auf drei Einsichten Martin Nicols in den Gottesdienst als „Weg im Geheimnis“ stütze und diese kritisch diskutiere. (a) Die Entlastung für diejenigen, die Gottesdienst gestalten: Die für die Gottesdienste Verantwortlichen werden – Nicol zufolge – entlastet vom „Zwang zum religiösen Event“,97 von der Bürde, die Gottesdienste immer neu zu etwas ganz Besonderem machen und ihre Gestaltung entsprechend planen zu müssen. Es müsse nicht jeweils neu ein „Anlass“ für den Gottesdienst gesucht und gefunden werden, da dieser schlicht vorliegt in der Besonderheit und zugleich Selbstverständlichkeit, dass Gott den Raum zum Gott-menschlichen Miteinander eröffnet.98 Damit ist zugleich gesagt, dass nicht die immer neue liturgische Kreativität der Akteure den Gottesdienst trägt, sondern im Gegenteil die Verlässlichkeit des bereits gespurten „Wegs im Geheimnis“, den Nicol in der Analogie zu einem alten Pilgerweg beschreibt, auf dem Menschen bereits seit Jahrhunderten ihre Erfahrungen gemacht haben. Nicol schreibt: „Wenn Inhalt und Form einander bedingen, dann wird die formale Anpassung an die jeweilige Zielgruppe zum inhaltlichen Problem. Warum verbirgt die Kirche verschämt ihren Gottesdienst in der gewachsenen Gestalt? Warum das Unmögliche ver-

97 98

NICOL: Weg im Geheimnis, 271. Vgl. NICOL: Weg im Geheimnis, 271.

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6. Der evangelische Gottesdienst als WortKult

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suchen und neue Pilgerwege schaffen, statt […] den Reichtum alter Pilgerwege zu preisen […]?“99

Das dadurch zum Ausdruck gebrachte Vertrauen in die vorgegebene Gestaltung wird gegenwärtig nicht nur von Nicol wieder in den Fokus liturgischer Aufmerksamkeit gerückt, sondern etwa auch von dem amerikanischen Liturgiker Don E. Saliers hervorgehoben. Saliers beschreibt die Liturgie als das, was auf den Einzelnen wartet: „The words, the texts, the songs, the actions, and the symbols of the liturgy, wait for us, just like the Holy Scriptures wait in each context for a fresh rereading.“100 Er sieht die Liturgie als „Land, in dem wir lernen müssen zu leben“.101 Es ist klar, dass aus einem solchen Ansatz ein eher konservativer Umgang mit der überkommenen liturgischen Tradition folgt – bei Saliers wie bei Nicol. Nicol verwendet den Terminus des „liturgisch geordnete[n] Gottesdienst[es]“102 oder der „Liturgie [Singular; AD] der Kirche“103, um diesen Gottesdienst zu beschreiben. In einer durchaus provokanten Argumentation (vgl. auch oben Kap. 1.4.1) stellt er die Frage, inwiefern die Protestanten zwar gelernt hätten, im Blick auf die Bekenntnistradition den Anschluss an die Alte Kirche und die bisherige Entwicklung zu suchen, dies aber für die Liturgie deutlich ablehnten. Im Rückblick auf die Theologie der Reformation scheint die Antwort auf Nicols Anfrage klar: Die Geschichte der Gottesdienstentwicklung in den Jahrhunderten vor der Reformation wurde von den Reformatoren zu Recht als Gestaltungsform einer falschen, einseitig anabatischen und so auf das „Messopfer“ konzentrierten Liturgiegestalt empfunden, die die Gemeinde in vieler Hinsicht ausgrenzte, das biblische Wort in den Hintergrund drängte und so eine Theologie inszenierte, der man sich mit guten Gründen widersetzte. Auch Nicol ist sich der Notwendigkeit einer kritischen Aufmerksamkeit gegenüber den Gestaltungen der Liturgie bewusst. In einer zusammenfassenden thetischen Formulierung beschreibt er das Ineinander von menschlicher Gestaltung und Gottes Gabe im Blick auf die Liturgie wie folgt:

99

NICOL: Weg im Geheimnis, 21. SALIERS: Worship as Theology, 27; vgl. ähnlich auch aaO., 104: „So the liturgy in its whole range […] waits patiently for our humanity to be opened to it. The liturgy waits patiently, like Scripture, like Jesus, like the whole life of God […].“ 101 SALIERS: Worship as Theology, 139 [Übersetzung AD]. 102 NICOL: Weg im Geheimnis, 27 u.ö. 103 NICOL: Weg im Geheimnis, 30 u.ö. 100

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III. Liturgische Inszenierung des verbum externum

„Der geprägte Weg der Liturgie ist eine in geschichtlichen Abläufen und menschlichen Entscheidungen von Gott her der Kirche zuwachsende und dem Menschen eingeräumte Möglichkeit, ihm zu nahen.“104

Es liegt im Duktus von Nicols Plädoyer für eine Wiederentdeckung „der [!] Liturgie der Kirche“, dass er bei dieser Bestimmung den Aspekt des „von Gott her“ Eingeräumten der liturgischen Vorgabe in besonderer Weise betont. Bei aller Sympathie für diesen Weg bleiben m.E. zwei Probleme bestehen: Zum einen wurde oben (Kap. 2.1) festgestellt, dass die liturgische Grundentscheidung der Reformation von den Reformatoren selbst nicht liturgisch so weitergedacht wurde, dass das In- und Miteinander von Inhalt und Form bleibend bedacht wurde. Anders formuliert: Es könnte sein, dass die Aufgabe einer Liturgiegestaltung, die den Einsichten der Reformation entspricht, gegenwärtig noch immer gegeben ist. Nicols Plädoyer für die Tradition würde der Radikalität dieser Anfrage den Stachel ziehen und möglicherweise perpetuieren, was sich eben entwickelt hat, ohne der Möglichkeit, gegebenenfalls (radikal) Neues zu denken, zu entwickeln und zu erproben, einen Raum zu geben. Zum andern könnte die Betonung der Tradition paradoxerweise zu einer neuen und anderen Art gesteigerter neuzeitlicher Subjektivität führen – dort nämlich, wo Nicols Intention ‚hochkirchlich‘ verkehrt und die überkommene Tradition als von dem jeweiligen Subjekt erkannte einzig mögliche und einzig ‚richtige‘ Form bestimmt und anderen gegenüber verteidigt würde. Es wäre dies das Problem, das sich auch in den Fundamentalismen verschiedenster Couleur zeigt, deren Anhänger eine eigene, ‚starke‘ Subjektivität durch Rekurs auf das von ihnen Gewusste und einzig Richtige absichern. (b) Die Entlastung für diejenigen, die Gottesdienste besuchen: Auch die Feiernden sieht Nicol durch die Einordnung des Gottesdienstes in den Deuterahmen der „Nahung“ entlastet. Nicol schreibt: „Eine Spiritualität der Nahung kann entlasten vom Zwang zu religiöser Erfahrung. Der Gottesdienst findet statt, ob das einzelne Gemeindeglied oder die verantwortlichen Personen dabei religiöse Erfahrungen machen oder nicht. Liturgisch kann ich, pointiert gesagt, auf dem Weg im Geheimnis gehen, ohne dass mir Gott dabei spürbar begegnet.“105

Zu Recht betont Nicol die Befreiung, die dort auch für die Feiernden entsteht, wo der Zwang zum „Event“ genommen ist. Es ist nicht nötig, ständig 104 105

NICOL: Weg im Geheimnis, 36. NICOL: Weg im Geheimnis, 271.

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das Ereignis, die entscheidende neue Lebensperspektive zu erwarten; es ist umgekehrt möglich, sich selbstverständlich und gelassen dem rituellen Weg anzuvertrauen – wie eben auch die Darbringung der Opfer im Tempel zu Jerusalem eine in höchster Weise besondere, aber doch auch ganz alltägliche Verrichtung war. Freilich – und hier meine kritische Anfrage: Minimiert diese Perspektive die Erwartung an den Gottesdienst als Gottmenschlichen Wortwechsel nicht zu sehr? Die Verheißung, die über dem in Lev 9 paradigmatisch für die späteren Tempelgottesdienste geschilderten ersten Opferdienst in der Wüste liegt, ist die, „dass euch die Herrlichkeit des HERRN erscheine“ (V. 6) – und genau dies geschieht, nachdem das Opfer dargebracht und der Segen gesprochen wurde (vgl. V. 23). Die Reaktion des Volkes wiederum ist von höchster Emotionalität: „Da alles Volk das sah, frohlockten sie und fielen auf ihr Antlitz“ (V. 24). – Anders formuliert: Die Befreiung vom Zwang zur Erfahrung darf nicht zum Verzicht auf die Erwartung führen – die Erwartung einer Erfahrung der sich offenbarenden und zugleich entziehenden Präsenz Gottes. (c) Die Entlastung für beide durch den Verzicht auf den einen gottesdienstlichen Spannungsbogen: Martin Nicol wendet sich gegen eine „Dramaturgie der Spannungssteigerung und der Höhepunkte“106 – und grenzt sich in dieser Hinsicht unter anderem von Manfred Josuttis ab. Wenn sich der Gottesdienst als „Weg im Geheimnis“ einer „ruhigere[n] Gangart“ verschreiben würde,107 so wäre es möglich, diesen ohne den Druck zu begehen, in einer bestimmten Sequenz den Höhepunkt erwarten zu müssen – sei dieser nun gut protestantisch die Predigt oder gut katholisch die Eucharistie.108 Im Kontext dieser Erarbeitung wäre an Brecht zu erinnern, der gegenüber einer Inszenierung des einen Spannungsbogens eine Inszenierung forderte, die Szene für Szene bedenkt (vgl. oben Kap. 5.2.3.3). Das Eigengewicht der einzelnen liturgischen Sequenzen würde dadurch betont – und die Unterwerfung unter das eine vorgegebene (und durch die Vorentscheidung der Akteure geprägte) Modell der Spannungssteigerung vermieden. Protestantisch betrifft dies vor allem die Predigtzentrierung evangelischen Gottesdienstes. An dieser Stelle ist Nicol radikal und kann sich einen evangelischen (!) Gottesdienst ohne Predigt gut vorstellen. Nicol spricht – 106

NICOL: Weg im Geheimnis, 31. NICOL: Weg im Geheimnis, 31. 108 Ganz ähnlich argumentierte bereits Renatus Hupfeld in Abgrenzung von Modellen der jüngeren liturgischen Bewegung, die eine gottesdienstliche Steigerung bis zum Höhepunkt des „numen praesens“ in der Erfahrung des Abendmahls oder der gemeinsamen Stille suchen (vgl. HUPFELD: Das kultische Gebet, 15). Hupfeld schreibt (ebd.): „Die Sache steht also so, daß wir im Gottesdienst nicht etwa am Anfang die nur von Gott Singenden und über Gott Redenden sind, bis wir dann etwa am Schluß so weit geführt sind, daß nun auch Gott zu uns redet. Wir haben es vielmehr von Anfang an mit dem uns anredenden Gott zu tun, der gegenwärtig ist.“ 107

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III. Liturgische Inszenierung des verbum externum

im Kontext seiner Aufnahme der alltestamentlichen Opfer-Metapher für den christlichen Gottesdienst – von einer Entlastung „vom protestantischen Zwang zur religiösen Rede“.109 Mit dieser Perspektive der Entlastung könnte es – so meine Weiterführung der Nicolschen Andeutung – gelingen, ein einerseits protestantisches, andererseits typisch neuzeitliches Missverständnis zu beseitigen: das Missverständnis der Zurückdrängung der Körperlichkeit in der Dominanz des Wortgeschehens, das Missverständnis der Zurückstufung von Symbolen und Ritualen in eine rein signifikative Dimension; das Missverständnis, sie seien ‚nur‘ Zeichen für Inhalte, die sich auch worthaft ausdrücken lassen. So etwa bestimmte – um nur ein berühmtes Beispiel aus der Theologiegeschichte zu erwähnen – Schleiermacher die Bedeutung des Wortes gegenüber dem Symbolischen. Es gebe eine Ästhetik der Körperlichkeit, die Schleiermacher im Heidentum, Judentum und Katholizismus findet; demgegenüber setzt er eine Ästhetik der Sprache, wie sie sich im evangelischen Gottesdienst Ausdruck verschaffe. Schleiermachers Argumentation zur Zentralität der „Rede“ für den evangelischen „Cultus“ überrascht durch ihre Kürze und vermeintliche apodiktische Klarheit: „In der negativen Behauptung, die Rede sei nicht das Centrum, liegt doch immer das positive, daß die symbolischen Handlungen das Centrum bilden; und das ist eine katholische Ansicht. Die Rede ist also das Centrum des Cultus […].“110

Das oben zur notwendigen Verfremdung des Wortes durch den Kult Gesagte gilt für Schleiermacher auf herausragende Weise: Die Problematik der neuzeitlichen Subjektivität spiegelt sich in seiner Argumentation zur Hochschätzung der Rede, wogegen gerade in den symbolisch-rituellen Vollzügen eine Externität verankert ist, die der Rede und dem eigenen religiösen Bewusstsein voraus liegt. Freilich – um nochmals auf den ersten Gottesdienst in der Wüste zu blicken – braucht es keinen Verzicht auf verbale Elemente: Interessanterweise wird in Lev 9 nach einer kaum ein Detail auslassenden Schilderung des konkreten Opfervollzugs in der Wüste erzählt, dass Aaron und Mose das Volk segnen (vgl. V. 22f) und erst danach die „Herrlichkeit des HERRN allem Volk“ erscheint. Inzwischen steht der Versuch, den evangelischen Gottesdienst bewusst in die Deutekategorie des Opfers einzuzeichnen, nicht mehr singulär in der theologischen Landschaft. Neben Martin Nicol, der – wie gezeigt – meine Ansätze zur Wiedergewinnung des alttestamentlichen Opferbegriffs auf109 110

NICOL: Weg im Geheimnis, 271. SCHLEIERMACHER: Praktische Theologie, 116.

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nimmt und fortführt, ist es vor allem Catherine Pickstock, die im Kontext eines philosophisch-hermeneutisch-theologischen Dialogs zu einer Wiederentdeckung des Redens vom Opfer findet.111 Ich stelle den Ausgangspunkt und die Folgerungen, die Pickstock zieht, knapp dar: (1) Ausgangspunkt bei Catherine Pickstock ist eine weit ausgreifende Auseinandersetzung mit der Philosophiegeschichte und der Versuch, die Philosophie so zu überwinden, dass nicht der Nihilismus die Folge ist, sondern die Doxologie.112 Pickstocks Weg über die Philosophie hinaus ist der Weg in die Sprache der Liturgie. Unmittelbar angeregt und herausgefordert wird Pickstock vor allem durch Derridas Zurückweisung der Mündlichkeit und Neuentdeckung der Schriftlichkeit und seine bis auf Platons „Phaidros“ zurückreichenden philosophiegeschichtlichen Schlüsse. Jacques Derrida (1930–2004) erkennt als das Problem der abendländischen Philosophie und Hermeneutik deren Versuch, die Vieldeutigkeit der Buchstaben durch die Eindeutigkeit des „Logos“ zu überwinden (vgl. oben Kap. 2.2.2.2). Auf eine Problemlinie im Luthertum würde Derrida damit berechtigt hinweisen können. Inwiefern aber die Dualisierung von Schrift und gesprochenem Wort, wie sie Derrida vor Augen führt und wie sie auf den ersten Blick Suggestivität besitzt, wirklich treffend ist, muss spätestens dann gefragt werden, wenn die Vieldeutigkeit der Rezeption mündlicher Rede, wie sie in den kommunikationswissenschaftlichen Untersuchungen seit den 1960er Jahren immer wieder erforscht und seit Umberto Eco in das wissenschaftliche Paradigma der Rezeptionsästhetik eingefangen wurde, beachtet wird. In der Tat gibt es – und hier ist Derrida recht zu geben – den Versuch der Vereindeutigung, der aus dem Wechselspiel der Signifikanten in die Eindeutigkeit der einen wahren Aussage springen möchte. Aber auch diese – dann z.B. als dogmatischer Satz formulierte – Aussage entgeht dem Spiel der wechselseitigen Verweise der Signifikanten aufeinander nicht. Jede Aussage (sei sie schriftlich oder mündlich) bleibt vieldeutig.

111 Andeutungsweise findet sich eine kulttheologische Verortung des Gottesdienstes auch bei Manfred Josuttis. Er spricht davon, dass der Gottesdienst der Gegenwart stattfinde „in den Trümmern des Tempels“ (JOSUTTIS: Der Weg in das Leben, 108). Er meint damit jenen Ort zwischen Sakralität und Profanität, der für den Gottesdienst in der Gegenwart charakteristisch sei. Gegen alle Versuche, den Gottesdienst entweder durch eine Restauration seiner ‚alten‘ oder ursprünglichen Form zurückzuführen in die reine Sphäre der Sakralität oder durch einen entschiedenen Anschluss an die Kultur der Gegenwart die Sphäre des Profanen konsequent anzustreben, gilt für Josuttis: „Christlicher Gottesdienst heute kann nicht zurück in die archaische Sphäre heiliger Wirklichkeit, kann sich aber auch nicht auflösen in ein funktionierendes Institut zur politischen, pädagogischen oder therapeutischen Psychohygiene“ (ebd.). 112 So Pickstock im ersten Satz ihres Vorworts: „This essay completes and surpasses philosophy in the direction, not of nihilism, but of doxology“ (PICKSTOCK: After Writing, xii).

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III. Liturgische Inszenierung des verbum externum

In diesem Zusammenhang hat Catherine Pickstock mit ihrem 1998 erschienenen Buch „After Writing“ eine Kritik an Derrida vorgenommen, die in der Lage ist, ausgehend von der Frage nach Schriftlichkeit und Mündlichkeit zu Erkenntnissen zu kommen, die auch in liturgischer Perspektive weiterführen. Pickstocks Buch ist eine knappe, dichte und herausfordernde Problemgeschichte der Philosophie seit Platon. Es gipfelt in der Kritik an dem Immanentismus der Moderne, den Pickstock mit dem Nominalismus eines Duns Scotus beginnen sieht, und wagt in diesem Zusammenhang nicht nur eine Relektüre Platons (gegen die einseitig verzerrende Wahrnehmung Derridas!), sondern auch eine linguistische, theologische und philosophische Interpretation der (vorkonziliaren) Römischen Messe. In dieser erkennt Pickstock – im Gegenüber zu Derridas immanent bleibender différance der Buchstaben – eine doxologische Distanz, die den Unterschied von Wahrnehmendem und Wahrgenommenen aufrecht erhält und mit dem rechnen kann, was jenseits des Immanenten aufleuchtet. Denn genau dieses Andere des Immanenten gehe im „Gemeinwesen des Todes“ („Polity of Death“), wie Pickstock die Moderne und Postmoderne scharf kennzeichnen kann, verloren. Sowohl die moderne Behauptung der Konstitution des Eigentlichen in der Deutungsleistung des interpretierenden Subjekts als auch der postmoderne Weg des Rückzugs in die Immanenz der Wechselspiele von Buchstaben schaffe es nicht, über die letztliche Bedeutungslosigkeit und Todverfallenheit dieser Bestimmungen von Wirklichkeit hinauszugelangen. Die doxologische Sprache aber konstituiere in ihrer permanenten Bezogenheit des Textes auf seine Lautwerdung, der Schriftlichkeit auf neue Mündlichkeit das Andere der Immanenz, das Pickstock als „Sacred Polis“ umschreibt.113 – Im Rückblick auf die kulturwissenschaftlichen Ansätze des vorangehenden Kapitels (Kap. 5) sucht Pickstock damit in der Liturgie das, was sich andere (mit oder ohne Aufnahme von ‚theologischem‘ Vokabular und unter Absehung von dezidiert theologischen Inhalten!) von dem Versuch der Wiedergewinnung von „Aura“ oder „Präsenz“ versprechen.114 113 Vgl. hier auch generell die Architektur von Pickstocks Buch, das selbst einer ‚liturgischen‘ Bewegung vom Tod zum Leben folgt: In einem ersten Teil führt sie aus, was sie als die „Polity of Death“ in der Moderne und Postmoderne beschreibt (PICKSTOCK: After Writing, 1–118); es folgt ein „Transition“/Übergang benannter Teil, der vor allem anhand von Duns Scotus zeigt, wie der Wechsel zur Moderne geschah (119–166), bevor sie im zweiten Teil auf die „Sacred Polis“ zu sprechen kommt (167–26). – Pickstocks Ansatz, sowohl die Moderne als auch die Postmoderne hinter sich zu lassen und beide weiterzudenken, verbindet sie mit den zahlreichen weiteren Theologen und Theologinnen der sogenannten „Racidal Orthodoxy“, die in den USA seit einigen Jahren wesentlichen Einfluss auf den theologischen Diskurs nehmen; vgl. dazu MILBANK/PICKSTOCK/ WARD (Hg.): Radical Orthodoxy. 114 Vgl. hier den Bezug, den Pickstock zwischen Präsenz und Doxologie herstellt; PICKSTOCK: After Writing, 4 u.ö.

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(2) Damit gelangt Pickstock zu einer – und nur dies ist in dem praktischtheologischen Diskurszusammenhang dieses Kapitels entscheidend – Relektüre der Sprache der Liturgie. In einem kurzen Abschnitt zur Liturgie als Text und Stimme („Liturgy as both Text and Voice“)115 relativiert sie die Spannung zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit116 und führt stattdessen die Grundunterscheidung zwischen liturgischer und nicht-liturgischer Sprache ein: „One can conclude that the significant distinction is not that which obtains between orality and writing, but rather, between liturgical and non-liturgical language, that is to say, erotic and anerotic expression. For that which is not ‚worthily‘ enunciated is language which has become monotonous, divorced from right desire. Such language is either taken to arrive purely from without, as if it reflected a set of given objects or (in the postmodern variant) as if it impersonally controlled the subject, or else it is taken to manifest merely the arbitrary whim of an essentially empty, interior subjective space.“117

Die liturgische Sprache wird von Pickstock als erotische Sprache der Erwartung, des Verlangens bezeichnet – eine Beschreibung, die zu einer Beziehung zwischen Subjekt und Externität führt, die sich von den Wegen der Moderne wie der Postmoderne signifikant unterscheidet. Ausgehend vom Vorbereitungsgebet des Diakons vor der Lesung des Evangeliums („Reinige mein Herz und meine Lippen, allmächtiger Gott, wie du die Lippen des Propheten Jesaja mit glühender Kohle gereinigt hast …“; „Munda cor meum ac labia mea, omnipotens Deus, qui labia Isaiae Prophetae calculo mundasti ignito …“) trägt Pickstock das Geschehen der liturgischen Lesung in den Kontext des Opfers ein und schreibt: „This combination of salvific narration and purificatory reading makes of the book a sacrificial altar, which is censed in preparation for the sacrifice, so that its words appear to ascend as an offering to God. But the text thus burns upwards to join the eternal divine text of the Logos which is nonetheless a book perpetually uttered by the Father, uttered as writing, only to re-expire in the out-breathing of the Spirit.“118

Die Metaphorik in dem zitierten Abschnitt ist dicht und durchaus verwirrend: Pickstock beschreibt ein Opfergeschehen, das auf die Metapher des Buches konzentriert wird – eines Buches, das im Umgang des Priesters mit ihm zum Opferaltar und das im Verlesen seiner Worte in liturgischem 115

PICKSTOCK: After Writing, 216–219. Vgl. dazu auch PICKSTOCK: Liturgy and Language, 129: „[…] the liturgy reconciles text and orality […].“ 117 PICKSTOCK: After Writing, 217. 118 PICKSTOCK: After Writing, 219. 116

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III. Liturgische Inszenierung des verbum externum

Kontext zugleich ‚verbrannt‘ wird, wobei seine Buchstaben zu Gott aufsteigen, und eines Buches, das schließlich schon immer bei Gott ist und von dort als Schrift und Text des Logos und im Geist zugleich als göttliches Wort ausgeht. Evident ist die Verschränkung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit in der Metapher des Buches; evident ist der Fokus auf dem anabatisch-katabatischen Wechselgeschehen des Buches und des Wortes. Liturgie sei gleichursprünglich „a gift from God and a sacrifice to God“.119 Das Opfergeschehen im Medium des Buches und des Wortes (mithin: der von Pickstock durchaus eigentümlich geschilderte WortKult) wird zur Metapher für ein Geschehen, das die ‚tödliche‘ Immanenz übersteigt. Der liturgisch inszenierte Text überwindet die Abwesenheit des Autors/Sprechers,120 lebt – in meiner Terminologie – von der Erwartung, dass sich in, mit und unter diesem Text das Geschehen des Gott-menschlichen Wortwechsels ereignet. Nicht Mündlichkeit versus Schriftlichkeit wird dann zur entscheidenden Alternative, sondern Immanenz der „Polity of Death“ versus Transzendenz der „Sacred Polis“. Ob Pickstocks ambitionierter Versuch einer ‚radikal-orthodoxen‘, theologischen Überwindung der philosophischen Engführungen in ihren modernen oder postmodernen Spielarten durch einen Rekurs auf die Sprache der Liturgie und Doxologie in philosophischer und systematisch-theologischer Perspektive gelingen kann, muss an dieser Stelle nicht beurteilt werden.121 Im Kontext dieser Erarbeitung scheint mir vor allem interessant, wie durch Pickstocks Hinweise eine Vernetzung zu den kulturwissenschaftlichen Beobachtungen des vorangehenden Kapitels (Kap. 5) möglich wird. Was dort als die „Sehnsucht“ beschrieben wurde, die dominante Sinnkultur präsenzkulturell zu überwinden, entspricht – ins Theologisch-Liturgische transformiert – dem Verlangen („desire“), das Pickstock mit der ‚erotischen‘ Spra119

PICKSTOCK: After Wriring, 176. Vgl. dazu auch PICKSTOCK: Liturgy and Language, bes. 120f. 121 Ich bleibe an dieser Stelle skeptisch – vor allem aus zwei Gründen: (1) Die Linienführung Pickstocks erscheint anregend und mutig, aber doch zu grob, um stimmig zu sein. (2) Der Übergang von philosophischer zu theologischer Argumentation und der Versuch, eine dezidiert theologisch-liturgische Antwort auf Fragestellungen und Probleme der philosophiegeschichtlichen Entwicklung zu geben, erscheint ambitioniert und mutig. Ich frage aber, ob an dieser Stelle nicht doch die Ansätze aus dem Bereich der Kulturwissenschaft, wie sie in dieser Arbeit im fünften Kapitel vor Augen geführt wurden, als primärer Versuch einer Überwindung von Problemen im Binnenraum philosophischer Argumentation gelesen werden und erst dann ggf. auch theologisch interpretiert werden müssten. Die Argumentation mutet demgegenüber teilweise doch eher als ‚fundamentalistische‘ Setzung denn als spezifisches Sprachspiel an; vgl. nur exemplarisch Pickstocks Grundsatz: „[…] throughout the essay, I suggest that liturgical language is the only language that really makes sense“ (PICKSTOCK: After Writing, xv), oder ihre Überzeugung, wonach Ontologie, um zu wahrhaften Aussagen zu kommen, nicht von der Theologie geschieden werden dürfe (vgl. aaO., 3 u.ö.). 120

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che der Liturgie (und speziell: Doxologie) im Gegenüber zu der ‚unerotischen‘ Sprache des permanenten Rekurses auf Immanentes verbindet. Was dort als die Notwendigkeit der Überwindung starker neuzeitlicher Subjektivität im Konfrontiertwerden mit dem Fremden/Externen beschrieben wurde, entspricht bei Pickstock das Neuwerden im Kontext liturgischer Sprachformen. Und was dort als letztlich unmögliche Möglichkeit beschrieben wurde (jeder Wunsch des Subjekts, die Aura zu erfahren oder zu erfassen, Präsenz zu erleben …, würde bereits wieder die Gefahr einer Bemächtigung des Anderen durch das Subjekt bedeuten), wird in Pickstocks Überlegungen als liturgische Möglichkeit vorgestellt (wobei auch Pickstock von der „Impossibility of Liturgy“, der „Unmöglichkeit der Liturgie“ spricht – damit allerdings das meint, was in der Liturgie letztlich möglich ist, im üblichen Sprachgeschehen aber unmöglich bleibt!).122 – Damit kann sich auch die in diesem Kapitel vorgenommene Einordnung des (evangelischen) Gottesdienstes in die Deutekategorie des Opfers als kulturwissenschaftlich anschlussfähig erweisen und in ein Gespräch mit den kulturwissenschaftlichen Bemühungen treten. Ich deute nur drei der Richtungen an, in denen dieses Gespräch weitergeführt werden könnte: (1) Wie bei Pickstocks Versuch ist es möglich, das Geschehen des Opfers und damit auch die Feier des Gottesdienstes als eine Art des menschlichen Handelns zu verstehen, in dem der Mensch in höchster Weise aktiv ist – und doch seine Subjektivität völlig zurücktritt. Gott selbst schafft den Raum, in dem der Mensch als ‚Mitarbeiter‘, cooperator tätig werden kann (und muss). Die Ethik des Opfers kommt so in den Blick. (2) Das Geschehen des Opfers – und damit auch die Feier des Gottesdienstes – ist eine Weise des menschlichen Handelns, die in der Erwartung geschieht, dass sich in ihr mehr ereignet als nur das machbare und menschlich Erreichbare. Sie ist eine Handlung, die in Erwartung des Gegenübers, des Angeredetwerdens von anderer Seite, der Aura bzw. Präsenz geschieht. Hier erscheint Pickstocks Bild hilfreich: Das verlesene Buch der Liturgie verwandelt sich – wo und wie es Gott gefällt – in die Anrede durch Gott selbst! (3) Das Geschehen des Opfers bedeutet einen spezifischen ‚Grenzverkehr‘, ein „sacrum commercium“ zwischen Himmel und Erde. Bei Pickstock ist dies mit dem Wechsel von dem „Gemeinwesen des Todes“ („Polity of Death“) in die „Heilige Stadt“ („Sacred Polis“) zum Ausdruck gebracht. Für die kulturwissenschaftlichen Stimmen, die im vorangehenden Kapitel 122

Vgl. zur „Impossibility of Liturgy“ PICKSTOCK: After Writing, 176–192.

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III. Liturgische Inszenierung des verbum externum

laut wurden, geht es bei der Erfahrung des Auratischen bzw. der Präsenz immer wieder um vergleichbare Erfahrungen der „Liminalität“ (Victor Turner). Im oben (Kap. 4.2) kurz beleuchteten Synagogengottesdienst wird die territoriale Verschiebung im Geschehen der Liturgie deutlich greifbar: Das Geschehen der Verlesung aus der Tora erinnert in seiner Gestaltung symbolisch an die Gabe der Tora am Berg Sinai: Die Stufen, die auf das Lesepult (Bima) führen, die Bezeichnung der Aufrufe zur Lesung als „Aufstiege“ (ʺʥʩʬʲ) und die entsprechenden Gebete erinnern daran. Gleichzeitig versetzt der gesamte Synagogengottesdienst, (aber auch die Lesung) zurück in den Tempel bzw. voraus in den wiederaufgebauten Tempel im neuen Jerusalem: Die Torarolle ist (vor allem in aschkenasischen Gemeinden) so gewandet, dass sie dem Priesterumhang im Tempel entspricht; auch der Brustpanzer des Priesters fehlt nicht! Es kommt in der Feier der Synagogengemeinde zu einem neuen In- und Miteinander der Orte und der Zeiten: Das Jerusalem von einst und das neue Jerusalem, der Sinai und der Ort, an dem die Feier jetzt stattfindet, werden in der symbolischen Inszenierung ‚präsent‘, Anamnese und Eschatologie verbinden sich. Exkurs: Zur Problematik des Begriffs der „Beheimatung“ An dieser Stelle bietet es sich an, eine Begrifflichkeit näher zu beleuchten und zu kritisieren, die in dem EKD-Text „Kirche der Freiheit“ als Beschreibung für das, was Aufgabe der Kirche ist und auch im Gottesdienst geschehen soll, immer wieder an prominenter Stelle erscheint: „Beheimatung“.123 Spätestens seit der Publikation der dritten EKD-Erhebung zur Kirchenmitgliedschaft 1997 unter dem Titel „Fremde Heimat Kirche“ hat der – vorher teilweise als Hort eines überalterten Traditionalismus verunglimpfte – Begriff der „Heimat“ neue Karriere im Protestantismus gemacht.124 Im 2006 erschienenen EKD-Papier begegnet der Begriff „Beheimatung“ in unterschiedlicher, durchweg positiver Bedeutung. Als entscheidendes Ziel kirchlicher Arbeit wird die „Beheimatung“ der Menschen in der Kirche beschrieben. Genauer sind es mindestens vier semantische Bereiche, für die der Begriff in Anspruch genommen wird: Es geht darum, „Menschen im christlichen Glauben zu beheimaten“125, in der christlichen Tradition und Überlieferung126 sowie in der Kirche mit ihren unterschiedlichen Angeboten, vor allem aber in den Kernbereichen ihrer Arbeit.127 So habe

123

Vgl. nur Kirche der Freiheit, 17.49–51.79.98. – Ähnlich kritisch betrachtet auch Thomas Klie den Begriff der „Beheimatung“, vgl. KLIE: Fremde Heimat Liturgie, 19. 124 Vgl. ENGELHARDT/VON LÖWENICH/STEINACKER (Hg.): Fremde Heimat Kirche. 125 Kirche der Freiheit, 50. 126 Vgl. Kirche der Freiheit, bes. 79. 127 Vgl. besonders Kirche der Freiheit, 49–51; aaO., 51, ist von der „Beheimatungskraft evangelischer Kernangebote“ die Rede.

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die Kirche, um nur das liturgische Beispiel zu zitieren, „beheimatende Rituale“128 zu bieten – immer mit dem Ziel, Menschen „Heimat und Identität“129 zu ermöglichen. Der Grundgedanke ist einfach: Menschen würden gegenwärtig vor allem nach „Heimat“ suchen;130 genau diese Suche könne die Kirche befriedigen. Angebot und Nachfrage greifen damit – der Logik der Studie folgend – unmittelbar ineinander. Die „Beheimatungskraft“ bindet die Studie an die theologische, liturgische und poimenische Qualität kirchlicher Arbeit sowie an „Wiedererkennbarkeit, Verlässlichkeit, Zugewandtheit und Stilbewusstsein“.131 Im Blick auf die kirchliche Arbeit in unterschiedlichen Zusammenhängen ist damit sicherlich ein wesentlicher Zusammenhang erfasst; in theologischer Perspektive aber ist mit dem Begriff der „Heimat“ bzw. „Beheimatung“ zugleich ein ‚gefährliches‘, da eminent ambivalentes Wort gewählt. Mit Pickstocks Worten gesprochen wäre „Beheimatung“ in Verbindung mit der Bewahrung von Identität daraufhin zu befragen, wo diese Beheimatung gesucht werden soll: in der „Policy of Death“ oder in der „Sacred Polis“.132 Im Kontext des in diesem Abschnitt unternommenen Versuchs, das „Opfer“ als Paradigma für den Gottesdienst zu verwenden, müsste ganz ähnlich gefragt werden: Sollen Menschen in der Alltäglichkeit ‚beheimatet‘ und soll diese so gottesdienstlich faktisch verdoppelt werden? Oder geht es um eine am ehesten paradox zu beschreibende „Beheimatung“, die den Menschen aus der Heimat herausführt und ihn de-territorialisiert, ihn in einen Grenzbereich setzt, in dem der Alltag unterbrochen wird, die übliche Kommunikation zwar auch noch möglich ist, aber nun eine andere Kommunikation im Vordergrund steht: die an und für sich völlig unmögliche, völlig inkommensurable Kommunikation von Gott und Mensch, die nur dort möglich wird, wo Gott selbst den Raum dafür eröffnet?

Es wurde bereits oben in der Diskussion von Nicols Aufnahme der Traditionsorientierung des evangelischen Gottesdienstes betont: Die kultische Verortung des Gottesdienstes bedeutet keineswegs, dass der Gottesdienst nun nicht mehr als Gestaltungsaufgabe zu beschreiben oder in einer vermeintlichen sakrosankten Form ein- für allemal festgeschrieben werden könnte. Dies widerspräche jeder Einsicht in die faktisch immer gegebene Wandelbarkeit sowohl des jüdischen Gottesdienstes von alttestamentlicher Zeit bis in die Gegenwart als auch des christlichen Gottesdienstes von den Mahlversammlungen der Jerusalemer Urgemeinde bis hin zu den vielerlei Formen gegenwärtigen Gottesdienstfeierns in unterschiedlichen Konfessionen, Kontexten und Kulturen. Dies widerspräche gleichzeitig der Unhintergehbarkeit kultureller Prägung des kultischen Geschehens. Und nicht zuletzt widerspräche es dem berechtigten Grundprinzip evangelischen Kir128

Kirche der Freiheit, 51. Kirche der Freiheit, 49. 130 Vgl. Kirche der Freiheit, 98, wo vom „Heimatbedürfnis“ gesprochen wird. 131 Kirche der Freiheit, 50. 132 Vgl. ganz ähnlich auch Henning Luthers Metapher der „Fassadenwelt“ und seine Einsicht in die Notwendigkeit, aus dieser auszubrechen; LUTHER: Die Lügen der Tröster. 129

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III. Liturgische Inszenierung des verbum externum

cheseins, das jede kirchliche Gestalt als „semper reformanda“ versteht. Diese Gestaltfrage ist Gegenstand des folgenden Abschnitts, nachdem die Frage nach der theologischen Denkmöglichkeit des WortKultes im Rekurs auf die Terminologie des Opfers einer ersten Klärung zugeführt wurde. Bereits oben (Kap. 2) wurde die Frage gestellt, ob es nicht bereits seit dem 16. Jahrhundert eine liturgische Leerstelle in der reformatorischen Reflexion gibt. Die Kritik der (lutherischen) Reformation am katholischen Messopfer und die normative Konzentration des Gottesdienstes auf das Wort Gottes führte in den Reformationsjahren nicht weiter zur Klärung der Frage, wie evangelischer Gottesdienst verstanden werden kann und gestaltet werden soll. Anders formuliert: Zu einem eigenständigen evangelischen Gottesdienst schritt man nicht voran, sondern begnügte sich – wie oben gezeigt – primär mit der Abschaffung offenkundiger Missstände. Im späten 19. Jahrhundert bemerkte Julius Wellhausen in einem Brief an Friedrich Spitta: „Der evangelische Gottesdienst ist ein verstümmelter katholischer, dem man das Herz – die Messe – herausgeschnitten hat“.133 Es spricht einiges dafür, dass Wellhausen (bei aller notwendigen Differenzierung, die noch anzubringen wäre) Recht hat.134

6.3 Der evangelische Gottesdienst als WortKult und seine Gestalt oder: Liturgiepraktische und liturgiedidaktische Konkretionen Es kann nicht die Aufgabe einer fundamentalliturgisch orientierten praktisch-theologischen Erarbeitung sein, liturgische Konkretionen zu entwickeln. Im Kontext eines abduktiven theologischen Zugangs kann die Frage nach der Gestaltseite der theologisch avisierten Gottesdienstkonzeption aber auch nicht ausgespart werden. Ich gehe daher in dieser Erarbeitung einen Weg mittlerer Konkretion und komme im Folgenden zunächst grundlegend auf das Verhältnis von Bibel und WortKult zu sprechen, das mir für den evangelischen Gottesdienst zentral zu sein scheint (6.3.1). Auf diesem Hintergrund betrachte ich dann fünf Gestalten des Wortes sowie das Schweigen der Worte (6.3.2). Abschließend nehme ich in Form einer Aufgabenbeschreibung, nicht einer Durchführung, liturgiedidaktische Konkretionen aus dem Gesagten in den Blick (6.3.3). Immer wieder greife ich in den folgenden Überlegungen auf Martin Nicols 2009 erschienene Liturgik „Weg im Geheimnis“ zurück. In ihr begegnet (leider) keine eigen133

Zitiert in: SPITTA: Zur Reform des evangelischen Kultus, 39. „Der evangelische Kultus ist aus den ihm eigentümlichen Ideen heraus zu gestalten, nicht in Nachahmung der römischen Messe“ (BURGHART/BORNHÄUSER: Vorwort, 7 [1925]). 134

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6. Der evangelische Gottesdienst als WortKult

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ständige fundamentalliturgische Reflexion; die Frage, wie liturgische Erkenntnisse hervorgebracht werden und welcher Epistemologie die Erarbeitung daher folgt, klärt Nicol nicht. Implizit aber lässt sich auch Nicols Ansatz als abduktiv beschreiben. Er befragt seine leitende Metapher vom (evangelischen) Gottesdienst als „Weg im Geheimnis“ auf ihre Denkmöglichkeit und auf ihre konkreten Gestalten im gefeierten Gottesdienst. Daher auch enthält diese Liturgik auf dem Hintergrund einer zugleich ästhetischen und theologischen Reflexion eine große Fülle an Überlegungen zur Liturgiepraxis, auf die ich vor allem in 6.3.2 in kritischer Auseinandersetzung zu sprechen komme.

6.3.1 Bibel und WortKult: Zur Rolle der Bibel im evangelischen Gottesdienst Wenn es um das WORT geht, das im WortKult im Mittelpunkt steht, dann ist damit das lebendige Gotteswort gemeint, das in Evangelium und Gesetz begegnet, aus der Sünde ins Leben ruft und den Menschen in eine neue Kreatur verwandelt. Keineswegs ist damit allein und ausschließlich das biblische Wort im Blick. Dennoch aber ist das WORT nach Überzeugung der Reformatoren nicht ohne das biblische Wort und seine Zueignung in der Predigt zu ‚haben‘ – oder mit CA V formuliert: „ohn das leiblich Wort des Evangelii“ („sine verbo externo“).135 Die problematische Verschiebung des äußeren Wortes in das Predigtwort hinein, die bereits Luthers Aussagen zum Wort kennzeichnet, wurde oben (Kap. 2.1) als Problem angesprochen und im Kontext dieser Erarbeitung weiter ausgeführt (vgl. besonders Kap. 3.2.1; 4.1; 4.2). Dies bedeutet aber umgekehrt, dass es zur vordringlichsten Aufgabe eines evangelischen Gottesdienstes als WortKult gehören müsste, das biblische Wort in der Liturgie zu inszenieren. Dass dies nicht die Aufgabe der Predigt und der Lesungen ausschließlich sein kann, ist evident. Vielmehr gilt es – mit den katholischen Liturgikern Albert Gerhards und Benedikt Kranemann – das Wort in der Liturgie als „komplexes rituelles Geschehen“ zu inszenieren.136 Ähnlich wendet sich der evangelische Litur135 BSLK 58, 12f.16. Auch das „Sakrament“ ist in dieser Hinsicht vom Wort abhängig und soll „lauts des Evangelii“ bzw. „dem gottlichen Wort gemäß gereicht werden“ (BSLK 61, 7.11f). – Die beiden hier nur nochmals knapp erwähnten problematischen Aspekte der Wahrnehmung der Bedeutung bzw. Nichtbedeutung der Bibel für den Gottesdienst ließen sich als das institutionelle Problem (Gleichsetzung des „Wortes“ mit der Bibel) bzw. als das spiritualisierende Problem (Darstellung des Wortgeschehens unter Absehung vom biblischen Wort) bezeichnen. 136 GERHARDS/KRANEMANN: Einführung, 129; vgl. 158.206; vgl. dazu oben Kap. 4.1.3.2; generell ist die Wahrnehmung des gottesdienstlichen Ortes für die Verwandlung der Bibel in die „Heilige Schrift“ im Katholizismus der vergangenen Jahre intensiv präsent; vgl. dazu nur z.B. auch Giorgio Bonaccorso und seine Überzeugung, dass sich „das Wort Gottes […] im Glauben mittels jener liturgischen Feier, in der die glaubende Gemeinschaft die Schrift liest und auf sie hört“, bilde (zitiert bei GRILLO: Einführung in die liturgische Theologie, 219).

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giker Don E. Saliers gegen die diskursive Verengung des Umgangs mit dem Wort im Gottesdienst und schreibt: „Even the word – read, spoken, sung, contemplated – therefore becomes symbol; unless, of course, we confine the word to its discursive or merely propositional level – reducing our preaching or hearing to listening for moral maxims and/or dogmatic truths, literally dispensed. This is the great flaw of all fundamentalisms – biblical or ecclesial.“137

Damit ist der ganze Gottesdienst als biblisches Wortgeschehen im Blick, und es lässt sich mit Götz Harbsmeier vom evangelischen Gottesdienst als „Wortgeschehen im Mittel des biblischen Textes“ sprechen.138 Ähnlich formuliert auch Peter Cornehl: „Der Gottesdienst als Ort der öffentlichen Begegnung mit Gott ist auch der Ort der Begegnung mit der Bibel. […] Der Gottesdienst dient den Menschen dadurch, dass er sie einführt in den Lebensraum der Bibel und hilft, darin zu wohnen.“139

In dieser Hinsicht wäre die Frage nach der Einheit des evangelischen Gottesdienstes zu beantworten, die etwa der Schweizer reformierte Liturgiker Alfred Ehrensperger als entscheidende gegenwärtige Fragestellung bezeichnet. Ehrensperger erkennt ein grundlegendes Problem der evangelischen Liturgien darin, dass „die einzelnen Elemente einer Liturgie gewissermaßen auseinanderbrechen: Predigt, Lesungen, Abkündigungen, Mitteilungen oder Fürbitten z.B. werden eher einer Verstandesorientierung zugeordnet; Gebete, Musik, einzelne Lieder, Segen und rituelle Handlungen eher einer Gefühlsorientierung.“140 Demgegenüber gelte es nach der „Einheit der Liturgie“ zu fragen.141 – Diese mit Harbsmeier, Cornehl und vielen anderen als die Einheit zu suchen, die sich über das biblische Wort ergibt, schiene mir naheliegend. Oder – mit der Formulierung von David Plüss: Es geht im evangelischen Gottesdienst um die „Textinszenierung“, genauer: um den „Bibeltext als Skript liturgischer Inszenierung“.142

137 SALIERS: Worship as Theology, 144. – Mit dieser Einsicht erscheinen das „Kultische“ und der „Wortgottesdienstcharakter“ des evangelischen Gottesdienstes nicht als Widerspruch, wie etwa Frieder Schulz meinte (vgl. SCHULZ: Der Gottesdienst in evangelischer Sicht, 96), und der Begriff WortKult ist rhetorisch nicht als Oxymoron einzustufen. 138 HARBSMEIER: Dass wir das Wort, 125. 139 CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, 298 [im Original hervorgehoben]. 140 EHRENSPERGER: Systematische Liturgik, Teil A 07 [Der Gebetscharakter des Gottesdienstes], 5. 141 Ebd. 142 Vgl. PLÜSS: Gottesdienst als Textinszenierung, 225–228.

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Wie der Gottesdienst somit ohne die „Bibel“ nicht sein kann, so diese umgekehrt nicht ohne den Gottesdienst. Genauer: Erst im Gottesdienst wird die Bibel zu dem, was sie in den Augen der Glaubenden ist: Heilige Schrift. Martin Schuck formuliert: „‚Schrift‘ ist eine theologische Kategorie und an den Gebrauch im Gottesdienst gebunden. Zu unterscheiden davon ist die ‚Bibel‘, mit deren Entstehung als selbständigem Medium ein Akt der Emanzipation aus dem gottesdienstlichen Geschehen einhergeht.“143

In der Entwicklung des Protestantismus aber ging diese selbstverständliche Verbindung von „Schrift“ und „Gottesdienst“ mehr und mehr verloren. Die Bibel emanzipierte sich aus der gottesdienstlichen Rezeption und wurde zu etwas eigenem: in der Aufklärung als historisches Dokument, dem mit einiger Ehrfurcht, aber auch mit dem kritisch-unterscheidenden Blick des neuzeitlichen Subjekts zu begegnen sei, im Pietismus als Buch zur persönlichen, subjektiven Erbauung. Martin Schuck sieht die Bibelrezeption des Pietismus als eine Form des Zugriffs des neuzeitlichen Subjekts auf die Bibel: „In gewisser Weise war dies [der Pietismus, AD] der Versuch zur erneuten Hinwendung zum Schriftverständnis der Reformation, nur eben unter den Bedingungen der frühen Neuzeit; und zu den Insignien dieser frühen Neuzeit gehörte die Entdeckung der Subjektivität. […] Unter den Bedingungen neu entstandener Subjektivität, vermittelt als ‚Frömmigkeit‘, religiöse Innerlichkeit oder wie auch immer, war es aber nicht, wie von den Reformatoren vorgestellt, das verkündigte Wort im Gottesdienst, also nicht die Schriftauslegung in ihrer kerygmatischen Gestalt, sondern eben das Wort der Bibel, die individuelle Lesefrucht des Einzelnen, was den Glauben wirken sollte.“144

Der unaufgebbare Konnex von Schrift und Gottesdienst war damit neuzeitlich zerbrochen. Die Herauslösung der Bibel aus dem gottesdienstlichen Kontext bedeutete die Möglichkeit für das starke Subjekt, sich der Bibel auf unterschiedliche Weise als Objekt zu nähern – ein für die Bibelhermeneutik folgenschwerer Umbruch. Es ist möglich, diesen Umbruch auch auf anderem Gebiet wahrzunehmen – etwa in der (protestantischen) kirchengeschichtlichen Forschung. Auch hier wurde die gottesdienstliche Schriftlesung kaum zum Gegenstand der Untersuchung, worauf Christoph Markschies aufmerksam gemacht hat. Markschies begründet dieses Defizit der Forschung einerseits mit der Schwierigkeit der Quellenlage, andererseits aber vor allem 143 144

SCHUCK: Die Kirche des Wortes, 2. SCHUCK: Die Kirche des Wortes, 8 [Hervorhebung im Original].

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mit dem Desinteresse der (vor allem: protestantischen) Patristiker am Gottesdienst. Er wurde ausgegrenzt, weil er „auch im protestantischen Christentum der Neuzeit eine äußerst begrenzte Rolle spielt“.145 Protestantische Forscher rechnen seit dem Pietismus damit, „daß jeder halbwegs fromme Christ auch fleißig in seiner Bibel liest“146 – eine für weite Teile der Kirchengeschichte anachronistische Vorstellung. Der übliche Punkt, an dem Christinnen und Christen der Bibel begegneten, war der Gottesdienst. Markschies betont: „[…] man kann hoffen, daß der zunehmende Einfluß der cultural studies auf die Erforschung der Geschichte des Christentums auch ein zunehmendes Interesse an den gottesdienstlichen Lesungen als einem Teil der Schrifthermeneutik mit sich bringt.“147

Die Schrift wandert in der Entwicklung des Protestantismus aus dem Gottesdienst aus und – seit dem Pietismus und der Aufklärung – in die individuell rezipierte oder wissenschaftlich exegesierte Bibel ein. Diese solchermaßen wahrgenommene Bibel ist es, die ihren Rückweg in den Gottesdienst antritt, wenn sie gegenwärtig in liturgischem Kontext gelesen wird. Ich übertreibe und beschreibe – entsprechend der Tendenzen in Aufklärung und Pietismus – zwei extreme Weisen des liturgischen Umgangs mit ihr: Entweder sie wird als alter, aber für die Gegenwart noch bedeutsamer Text in den Gottesdienst hineingeholt oder als ein Text, der für die individuelle Erbauung wichtige Aspekte bereitstellen kann. Die Versuche, die biblischen Lesungen durch Präfamina ‚verständlicher‘ zu machen, können einen Ausweis für die erstgenannte Tendenz geben. Die Art und Weise der Bestimmung der Frage nach der „Lektionabilität“ biblischer Texte, die sich einerseits in den Perikopenentscheidungen der Kirchen widerspiegelt, andererseits in der Praxis der Gottesdienstvorbereitung, in der teilweise die Frage dominiert: „Wie viel Bibel und welche biblischen Worte kann ich der Gemeinde zumuten?“ und „Was hilft den einzelnen Hörerinnen und Hörern weiter?“, kann einen Hinweis auf die zweitgenannte Tendenz geben. Was dabei verloren ging, war jene Externität, die durch den Rekurs auf das verbum externum eigentlich gegeben sein sollte.148 Interessant ist es, 145

MARKSCHIES: Liturgisches Lesen, 79. MARKSCHIES: Liturgisches Lesen, 80; mit Verweis auf Harnacks 1912 entstandenes Buch „Über den privaten Gebrauch der Heiligen Schriften in der Alten Kirche“. 147 MARKSCHIES: Liturgisches Lesen, 88. 148 Nur anmerken kann ich hier: Nicht nur die Externität des Wortes ging verloren, auch seine Überindividualität drohte zu verschwinden. Paul Althaus griff Luthers Torgauer Formel so auf, dass er die erste Person Plural betonte, die Luther dort verwendet, um den Gott-menschlichen Wortwechsel im Gottesdienst zu charakterisieren. Althaus schreibt: „Er [Luther, AD] sieht nicht Einzelne, sondern die Gemeinde Gott gegenüber […]“ (ALTHAUS: Das Wesen des evangelischen Gottesdienstes, 22). Dass der Gottesdienst – und mit ihm auch das Verständnis des Wortes – zu einer „persönlichen Andacht des Einzelnen“ wurde (RÖSSLER: Grundriß der Praktischen Theologie, 444), ist eine der Verschiebungen, die den Weg des evangelischen Gottesdienstes in die Neuzeit charakterisieren; vgl. dazu auch DEEG: „… das das wort ym schwang gehe“, 91f. 146

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dass das Luthertum im 19. Jahrhundert demgegenüber den Weg ging, die prekär gewordene (und durchaus vermisste!) Externität auf anderem Wege zu sichern: durch die Betonung des institutionellen Gegenübers von Predigtamt und Gemeinde. In Aufnahme von CA V („institutum est ministerium docendi evangelii et porrigendi sacramenta“149) und CA XIV (‚ordo ecclesiasticus‘150) wurde im 19. Jahrhundert heftig über die Frage diskutiert, ob das öffentliche Predigtamt auf eine Stiftung Christi zurückzuführen sei oder nicht. Dieser Weg der Sicherung der Externität durch den Rekurs auf das – wie auch immer ‚eingesetzte‘ – Predigtamt wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts, verstärkt dann aber in den 1960er- und 1970er-Jahren hinterfragt. Manfred Josuttis schreibt: „Aus der theologischen Einsicht, daß in der Predigt die Anrede Gottes erfolgt und daß der Glaube aus dem Hören kommt, [sollten] nicht unbedingt direkte institutionelle Konsequenzen gezogen werden, als ob das extra nos des Wortes gegenüber dem Glauben das Gegenüber von Amt und Gemeinde, monologischer Kanzelrede und schweigender Zuhörerschaft unbedingt erforderlich macht.“151

Diesem Widerspruch im Blick auf das Verhältnis von Amt und Gemeinde ist ein weiteres Gegenargument hinzuzufügen: Der Versuch der Sicherung der Externität durch die Betonung der Rolle des Predigtamtes führte letztlich wohl eher zur Steigerung der Bedeutung der Subjektivität des Predigers, nicht aber zur Institutionalisierung jener Externität des Wortes, die theologisch gesucht werden müsste. Ein Reflex dieses Weges kann in den erbitterten – und aus heutiger Sicht kaum mehr verständlichen – Diskussionen gesehen werden, die in der Zeit um die Mitte des 20. Jahrhunderts um die Frage geführt wurden, ob das „Ich-Sagen“ in der Predigt möglich sei oder nicht. Gegenüber diesem gescheiterten Weg wäre nach Formen der Gestaltung zu suchen, die das biblische Wort und mit ihm auch das Bibelbuch wieder in das Zentrum des evangelischen Gottesdienstes rücken. Martin Nicol geht diesen Weg der Wiedergewinnung des „Kultbuch[s] Bibel“152 und unterscheidet dabei „eine passive und eine aktive Ritualität des Bibelbuchs“.153 Im einen Fall (passive Ritualität) ist die Bibel als das Buch im Blick, mit dem man im Gottesdienst umgeht, im zweiten Fall (aktive Ritualität) wird die Bibel zu dem Buch, das durch seine Texte die Liturgie prägt. Diesen beiden Aspekten gehe ich im folgenden zweiten Unterpunkt näher nach. 149

BSLK 58, 2f. Vgl. BSLK 69. 151 JOSUTTIS: Gottesdienst, 285. 152 Vgl. NICOL: Weg im Geheimnis, 135–161. 153 NICOL: Weg im Geheimnis, 144. 150

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III. Liturgische Inszenierung des verbum externum

6.3.2 Das fünffache Wort: Zur Wortgestalt im evangelischen Gottesdienst Ich unterscheide im Folgenden fünf Gestalten des Wortes im Gottesdienst: das gelesene, gepredigte, gesungene, gebetete und gegessene Wort/WORT – und füge als sechsten Punkt das Schweigen hinzu (das, da es nur im Kontext des ‚Redens‘ überhaupt als Schweigen erscheint, als die sechste WortGestalt bezeichnet werden kann!). Es geht dabei in keinem der sechs Punkte darum, erschöpfend Hinweise auf die Gestaltungsweisen zu geben; vielmehr sollen im Durchgang durch die sechs Punkte Grundregeln benannt werden, die sich aus der bisherigen Erarbeitung ergeben und dem weiteren Nachdenken und konkreten Gestalten Kontur verleihen können. 6.3.2.1 Das gelesene Wort: Zu Bedeutung und Inszenierung der Lesungen im evangelischen Gottesdienst Martin Nicol zeigt sich in seiner liturgischen Programmschrift verwundert über eine gewisse Lieblosigkeit im Umgang mit den Lesungen ausgerechnet in der „Kirche des Wortes“. Er schreibt: „Der Protestantismus hat Bedeutendes für die Verbreitung der Bibel und ihre Verwurzelung im Bewusstsein der einzelnen Gläubigen geleistet. Aber er hat selbst in seiner lutherischen Spielart keine Formen des liturgischen Umgangs mit der Bibel entwickelt, die denen anderer Konfessionen vergleichbar wären. Wir Protestanten können bislang nur davon reden, dass in der Heiligen Schrift Gottes Wort zur Geltung komme. Aller Welt zeigen können wir es nicht. Es fehlt an Ritualen.“154

Im Gegenteil spricht Nicol von „Unprofessionalität“ und „Respektlosigkeit“, die sich vielfach bei der Durchführung der Lesungen beobachten ließen.155 Diesem protestantischen Defizit stellt Nicol Beobachtungen zur Lesepraxis in anderen liturgischen Traditionen gegenüber: die Gestaltung der Lesungen (und vor allem der Evangelienlesung) im Katholizismus, in der Orthodoxie sowie der Toraverlesung im jüdischen Synagogengottes154 NICOL: Weg im Geheimnis, 146. Ähnlich kritisch konnte sich vor mehr als 70 Jahren auch schon Hans Asmussen in seiner Liturgik äußern: „Es kann nicht bezweifelt werden, daß die Verlesung des Wortes der Schrift in der christlichen Gemeinde früher mehr geübt worden ist, als heute. Besonders die evangelischen Kirchen sind arm geworden in der Verlesung. Sie werden danach trachten müssen, daß die Schrift in ihren Gottesdiensten wieder mehr zu Wort kommt“ (ASMUSSEN: Die Lehre vom Gottesdienst, 27). Im selben Zusammenhang fragt Asmussen kritisch: „Die evangelischen Kirchen nennen sich Kirchen des Wortes. Haben sie dazu noch ein Recht, wenn man den Raum vergleicht, welchen in ihren Gottesdiensten die Schrift einnimmt, mit dem Raum, den sie in den römischen Gottesdiensten einnimmt?“ (aaO., 27f Anm. 10). – Vgl. als eine gegenwärtige katholische Stimme auch STOCK: Liturgie und Poesie, 113–115. 155 NICOL: Weg im Geheimnis, 152.

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dienst.156 In diesen Traditionen gibt es außeralltägliche Gestaltungen des Buches, aus dem gelesen wird: die auf Pergament mit Hand geschriebene, nie mit dem Finger berührte und während der Aufbewahrung bekleidete Torarolle im Judentum,157 das geschmückte Evangeliar in der Orthodoxie und im Katholizismus. Und in diesen Traditionen entwickelten sich Rituale und wurden bis in die Gegenwart bewahrt, die einen Umgang mit dem ‚Buch‘ (bzw. dem Evangeliar oder der Torarolle) zeigen, der dieses als ‚heiliges‘ Buch heraushebt aus den üblichen Büchern – oder umgekehrt formuliert: Die ‚Heiligkeit‘ konstituiert sich allererst in der Art und Weise des Umgangs mit dem Buch. Die beiden Sätze zeigen den rekursiven Zusammenhang von Heiligkeit und Art und Weise des Umgangs, von Heiligkeit und Materialität. An dieser Stelle ist auf protestantischer Seite schlicht ein Ausfall zu verzeichnen. Er hängt zusammen mit der in der Reformation aus Angst vor der ontologisierenden Fetischierung von ‚Gegenständen‘ eingespurten und neuzeitlich vertieften Geringschätzung des Äußeren gegenüber dem ‚Eigentlichen‘ und ‚Geistigen‘. Das gehörte Wort konnte als erheblich wichtiger erscheinen als sein materialer Träger – bis dahin, dass das üblicherweise gegenwärtig genutzte Lektionar optisch und ästhetisch sehr viel schlichter gestaltet ist, als dies die Altarbibeln der vergangenen Jahrhunderte waren, und dass es viele Protestanten nicht ernsthaft stört, wenn die Lesung gar nicht aus einem Buch, sondern aus einem zur Vorbereitung auf die Lesung kopierten Zettel erfolgt. Was eben als eine Art negativer Regelkreis der lektoralen Produktionsästhetik beschrieben wurde, sei in einer Skizze nochmals veranschaulicht und auf die Frage der Rezeption übertragen: (1) Eine produktionsästhetische Perspektive Theologische Kritik an materialontologisch fixierter, fetischistischer Heiligkeit

Veralltäglichung der Lesungsbibel, des Lektionars, die nur noch materialer Träger der eigentlichen Botschaft sind

156 157

Neuzeitlicher Leib-GeistDualismus (Cartesianismus)

Vgl. NICOL: Weg im Geheimnis, 144–146. Vgl. dazu ausführlich auch WACHOWSKI: Die Leviten lesen, 48–77.

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III. Liturgische Inszenierung des verbum externum

(2) Eine rezeptionsästhetische Perspektive Theologische Kritik an materialontologisch fixierter, fetischistischer Heiligkeit

Einseitige Konzentration auf den ‚Sinn‘ der Worte als deren Bedeutung und Aussage für die Gegenwart

Neuzeitlicher LeibGeist-Dualismus (Cartesianismus)

Aus der Art und Weise, wie Lesungen vorgetragen und ggf. noch eingeleitet werden, folgt eine bestimmte Art und Weise der Rezeption, die im Protestantismus der Gegenwart eher sinn- als präsenzkulturell orientiert sein dürfte.158 Jörg Neijenhuis unterscheidet Lesungen, die „mehr in homiletischer oder mehr in liturgischer Deutung gehört werden“ – also entweder eher als „Lehre und Unterweisung“ oder als ein Weg der Doxologie durch das Verlesen und Hören des Wortes.159 Charakteristisch für die erste, die homiletische Art der Rezeption wäre dabei das Sitzen als „kinetischer Code“, für die zweite, liturgische Art der Rezeption wäre das Stehen angemessener.160 – Wenn gegenwärtig in einem evangelischen Gottesdienst eine Lesung von einem zuvor kopierten Blatt vorgetragen wird, die Gemeinde aber dazu aufsteht, so ergibt sich eine andere und eigentümliche Mischung aus eher homiletischen, eher liturgischen Kontexten (wobei freilich die Frage, ob der Begriff des „Homiletischen“ so einseitig auf „Lehre und Unterweisung“ fixiert werden sollte, nochmals diskutiert werden müsste). Das Problem der sinnkulturellen Integration der Lesungen in ein neuzeitliches Paradigma des Verstehens liegt darin, dass die über das Verstehen hinausgehende „Präsenz“ faktisch aus der Erwartungshaltung der Gemeinde ausgeklammert wird. Die Lesung geschähe dann kaum noch in der (sakramentalen) Erwartung, in, mit und unter den Worten dieses Textes immer neu und immer wieder verschieden dem WORT zu begegnen, sondern würde eingeordnet in die Frage, was diese Lesung ‚mir‘ heute Neues, Interessantes, emotional oder kognitiv Bewegendes mitgeben könne. Die „Heiligkeit“ der Schrift würde zugunsten ihrer Funktionalität als ‚interessantes‘ bzw. 158

Vgl. zu dem Zusammenhang auch BRÜSKE: Lesen als Wiederkäuen. NEIJENHUIS: Gottesdienst als Text, 281. 160 Vgl. NEIJENHUIS: Gottesdienst als Text, 281. 159

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‚lebensdienliches‘ Buch zurückgedrängt (wobei die Adjektive ‚interessant‘ und ‚lebensdienlich‘ keineswegs pejorativ gehört werden dürfen!). In meiner Terminologie wäre an dieser Stelle eine kultische Verfremdung des Wortes in den Lesungen anzustreben, damit diese der Einlinigkeit und Eintönigkeit einer einseitig kognitiv verstehenden Rezeption entzogen und auf andere Weisen ihrer Rezeption hin geöffnet werden (ohne dabei das kognitive Verstehen und ggf. emotionale Miterleben auszuschließen). Nachzudenken wäre in dieser Hinsicht (1) über die Theologie der Lesungen, (2) über die Auswahl der Lesungstexte, (3) über den Ort der Lesungen und (4) über die Materialität der Lesungsbibel. Ich stelle einige Andeutungen zu den vier Aspekten kurz vor:161 (1) Zur Theologie der Lesungen: Wie oben gezeigt ist der Inszenierung der Lesungen im jüdischen Gottesdienst eine theologische Signatur eingeschrieben, die die Lesungen mit dem Geschehen auf dem Berg Sinai einerseits, mit dem Geschehen im Tempel andererseits vernetzt und so die Zeiten in anamnetischer und eschatologischer Perspektive verbindet. Gleichzeitig werden die Lesungen aus der Tora – wo immer dies möglich ist – kantillierend und (selbst in liberalen Gemeinden fast immer) auf Hebräisch vorgetragen. Die Art und Weise der Gestaltung setzt so Akzente einer kultischen Verfremdung, die deutlich machen: Hier geschieht etwas anderes als das üblicherweise zwischen Menschen gewechselte Wort! In dieser Hinsicht stehen die Lesenden auch mit dem Rücken zur Gemeinde und machen damit deutlich: Lesung ist nicht einfach Kommunikation unter Gleichen; wo immer es um das WORT geht und damit um Gottes ‚Präsenz‘, wird das menschliche Gegenüber prekär; schließlich war es – nach den Worten der Tora – nur Mose vergönnt „von Angesicht zu Angesicht“ (Ex 33,11; vgl. Dtn 34,10) mit dem HERRN zu reden. Die Hinweise auf die jüdische Lesepraxis bedeuten selbstverständlich nicht, dass damit ein Paradigma praktischer Gestaltung vorliegen würde, das nun eins zu eins auch im protestantischen Gottesdienst übernommen werden könnte und sollte. Man würde kaum auf die Idee kommen, die Lesungen mit dem Rücken zur Gemeinde zu vollziehen oder eine Bima als erhöhten Ort der Lesung in christlichen Kirchen zu installieren.162 Dies würde nicht nur eine problematische Vereinnahmung des Judentums und seiner Praxis bedeuten, sondern zudem der Theologie der Lesungen im christlichen Gottesdienst kaum entsprechen können. Lesungen verweisen 161 Vgl. dazu auch WACHOWSKI: Die Leviten lesen, 234–240 [Die gottesdienstliche Lesung als Gestaltungsaufgabe].251–259. 162 Vgl. allerdings die so genannte syrische Bima als architektonische Variante und dazu VERSTEGEN: Gemeinschaftserlebnis in Ritual und Raum.

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III. Liturgische Inszenierung des verbum externum

hier nicht zurück auf den Sinai, sondern sind christologisch als die Verbindung der hörenden Gemeinde mit dem inkarnierten Gotteswort zu verstehen. Das Wort der Lesung hat in dieser Hinsicht sakramentalen Charakter. In, mit und unter den alten und menschlichen Worten der Schrift gibt sich Gott selbst zu hören.163 Hans Asmussen schreibt: „Die christliche Gemeinde bleibt einfältig bei der Erwartung und dem Glauben, daß überall dort, wo die Heilige Schrift laut wird, etwas geschehen will. Gott will zu Wort kommen. Darum ist Schöpfungszeit, wo die Schrift verlesen wird. Gott will neue Kreaturen schaffen. Es soll alles neu werden.“ Und weiter: „Der christliche Gottesdienst ist eine Versammlung der Gemeinde, in der die Schrift verlesen und gehört wird.“164

Dieser theologischen Akzentuierung ist auch durch die Art und Weise der Gestaltung Rechnung zu tragen165 – womit (dies sei vorweggenommen) auch eine Lesung vom Altar, wie sie lange im evangelischen Gottesdienst üblich war, – theologisch durchaus gute Gründe für sich geltend machen kann. (2) Zur Auswahl der Lesungstexte: Nachdem die katholische Kirche in der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil durch die Herausgabe einer neuen Leseordnung (Ordo Lectionum Missae, 1969, 21981) den Anschluss an die altkirchliche Perikopenordnung weithin aufgegeben hat und das Kirchenjahr neu strukturierte und nachdem einige andere Kirchen diesem Modell folgten bzw. in Anlehnung an dieses Modell eigene und neue Perikopenordnungen schufen,166 können EKU und VELKD mit ihrer (bislang nur geringfügig modifizierten) Ordnung aus dem Jahr 1978 im wesentlichen als die Kirchen gelten, die beinahe als einzige den Anschluss an die altkirchlichen Perikopenreihen noch aufrecht erhalten (wobei freilich auch hier die historische Frage nach dem, was tatsächlich ursprünglich auf die „Alte Kirche“ zurückgeht und was nicht, nicht immer leicht zu beantworten ist). Nicht zuletzt deshalb nehmen in jüngster Zeit die Versuche zu, zu einer Revision der vorliegenden Ordnung der Lesungstexte zu gelangen.167 Das Kri163 Johannes Wachowski spricht davon, dass bei der Lesung „das äußere Wort Gottes so inszeniert wird, dass es sich neu in das Herz der Gläubigen einschreibt“ (WACHOWSKI: Die Leviten lesen, 273). 164 ASMUSSEN: Die Lehre vom Gottesdienst, 31 [Hervorhebung im Original]. 165 Vgl. dazu auch BURKE: The Lector Sounds the Word of God, der die Bedeutung der Aufgabe des Lektors unterstreicht und daraus Überlegungen zur Verbesserung der Ausbildung von Lektoren ableitet; vgl. auch BÄUMER: Mitteilung statt Wiedergabe. 166 Vgl. HOLETON: Reading the Word of God together. 167 Vgl. die Dokumentation eines Symposiums im Frühjahr 2010: Auf dem Weg zur Perikopenrevision – Vgl. zum Stand der Dinge in der Mitte der 1990er-Jahre RATZMANN: Kirchenjahr.

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terium der ökumenischen Anschlussfähigkeit ist dabei nur eines, das diskutiert wird. Daneben begegnen im wesentlichen zwei, einander eher widerstreitende Ansätze: (a) Die einen möchten eine Revision, die sich stärker als bisher auf Kerntexte der Bibel stützt. Damit soll das geprägte Kirchenjahr modifiziert werden und man möchte zu deutlicher thematisch strukturierten Gottesdiensten gelangen. Im Hintergrund stehen Überlegungen zum sonntäglichen Gottesdienstbesuch, genauer: die Einsicht, dass nur noch ein verschwindend geringer Teil der evangelischen Kirchenmitglieder so häufig zum Gottesdienst geht, dass die komplexe Struktur des Kirchenjahres einleuchtet und mit ihr auch der Versuch, in drei Lese- und sechs Predigtzyklen eine Gesamtheit der Schrift abzubilden. (b) Andere Ansätze, die sich primär im christlich-jüdischen Kontext verorten, plädieren demgegenüber für eine Wiederentdeckung der ganzen Bibel und damit für einen Verzicht auf die kurzschlüssige Verbindung von Lektionabilität mit den Kriterien der Verstehbarkeit oder der unmittelbaren Lebensrelevanz. So argumentiert etwa Johannes Wachowski für die Wiedergewinnung der Toralesung (in Form einer Bahnlesung!),168 Hansjakob Becker tritt für ein zweigeteiltes Kirchenjahr ein, in dem in den geprägten Zeiten nach wie vor das Neue Testament den Ton angibt, in den ungeprägten Zeiten aber von einer alltestamentlichen Bahnlesung ausgehend nach weiteren Texten gesucht wird,169 und Georg Braulik geht von einer zweifachen Bahnlesung – aus Tora und Evangelien – aus und einer dritten Lesung, die entweder aus dem alttestamentlichen Bereich der Propheten/Schriften entnommen ist oder aus dem neutestamentlichen Bereich der Epistel.170 2009 legte eine Arbeitsgruppe der „Konferenz Landeskirchlicher Arbeitskreise Christen und Juden“ (KLAK) ein Reformmodell vor, das eine Beibehaltung des geprägten Kirchenjahres, aber eine neue, fünffache Struktur der Lesungen vorsieht; es empfiehlt Lesungen aus Tora, Propheten, Schriften, Evangelium und Epistel. Diese kurze Auflistung verschiedener Modelle und Ansätze zeigt, dass es im Rahmen dieser Erarbeitung nicht möglich ist, auch nur annähernd zu einer Diskussion der einzelnen Modelle zu gelangen. Im Sinne der kultischen Verfremdung des Lesungsteils des Gottesdienstes scheint es mir aber unerlässlich, neben den Kriterien der unmittelbaren Lebensdienlichkeit oder Verstehbarkeit der Lesungen auch andere Kriterien zum Zuge kommen zu lassen: die Einheit der Schrift aus Altem und Neuem Testament oder die Möglichkeit der Herausforderung durch beim ersten Hören nicht-verstandene Texte – ganz im Sinne von Philipp Stoellger, der generell (und nicht 168

Vgl. WACHOWSKI: „Die Leviten lesen“. Vgl. dazu FRANZ: Das Alte Testament und die gottesdienstlichen Lesungen, 249–253. 170 Vgl. dazu FRANZ: Das Alte Testament und die gottesdienstlichen Lesungen, 253–255. 169

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auf die Lesungstexte im Gottesdienst bezogen) bemerkt: „‚Nichtverstehen‘ […] ist eine ‚Befindlichkeit‘ initialer Störung, die produktiv werden kann […].“171 (3) Zum Ort der Lesungen: Wie oben dargestellt (Kap. 2) mündeten Rudolf Ottos liturgische Überlegungen ganz selbstverständlich auch in die Frage nach der Gestaltung des Gottesdienstraums. Seine Liturgik erwies sich in dieser Hinsicht als grundlegend ästhetisch, insofern sie Inhaltsfragen immer auch als Formfragen wahrnahm und umgekehrt. Interessant ist, dass sich Otto auch Gedanken zum Ort der liturgischen Lesung machte. In der von Rudolf Otto u.a. besorgten deutschen Ausgabe des schwedischen Buches zur Perikopenreform von Johannes Emanuel Linderholm finden sich nicht nur Überlegungen zu den Inhalten der Lesungen, sondern auch zu deren Verortung. „Die drei Schriftlesungen werden von verschiedenen Orten gelesen: die Prophetenlesung vom Altar, die Epistellesung vom Lesepult, während das Evangelium von der Kanzel verlesen wird. Über letzteres wird auch gepredigt.“172

Die Logik, der die Zuordnung von Prophetenlesung und Altar, von Epistellesung und Pult, von Evangelienlesung und Kanzel folgt, kann eigentlich nur für die Evangelienlesung erschlossen werden. Da über den Text dann auch gepredigt werden soll, legt es sich nahe, ihn auch am Ort der Predigt zu lesen. Ansonsten ist mit dem Altar der klassische Ort der Lesung im Protestantismus benannt („Altarlesung“), das Lesepult war damals in evangelischen Kirchen noch keineswegs flächendeckend eingeführt. Auch Martin Nicol macht sich Gedanken zum Ort der Lesung – und verbindet diese Frage mit der Frage nach der Verortung der Predigt (Kap. 6.3.2.2). Grundsätzlich plädiert er für die Wahrnehmung des Lesepultes (Ambos) und möchte dieses für den Wortteil des Gottesdienstes (auch für die Predigt!) in den Mittelpunkt rücken.173 Neben Altar, Ambo (Lesepult) und Kanzel wäre noch ein vierter Ort für die liturgischen Lesungen zu erwägen, auf den Jörg Neijenhuis verweist: die Mitte der Gemeinde: „Eine weitere Möglichkeit wäre, die Lesung inmitten der Gemeinde vorzutragen und damit den Altarraum ganz zu verlassen – dieses liturgische Denotat könnte z.B. für

171

STOELLGER: Wo Verstehen zum Problem wird, 8. SCHWARTZ: Begegnung mit Gott, 116. 173 Vgl. NICOL: Weg im Geheimnis, bes. 153. 172

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die Evangelienlesung, denotiert als Stimme Christi, sinnenfällig machen, dass Christus den Menschen nahe gekommen ist und immer wieder nahe kommen will.“174

Die mit Neijenhuis’ Rekurs auf die Besonderheit der Evangelienlesung gegebene theologische Problematik (die ganze Schrift steht unter der Verheißung, immer wieder neu zum lebendigen WORT zu werden!) muss hier nicht eigens diskutiert werden, sein Verweis auf die Möglichkeit, für die Lesung den Ort im Gegenüber zur Gemeinde zu verlassen und sie aus deren Mitte auszuführen, halte ich aber für anregend.175 Nicht zuletzt schiene es mir (anders als Martin Nicol) durchaus auch denkbar und reizvoll, hin und wieder den Altar als Lesungsort zu wählen. Die dadurch gegebene Verbindung des sakramentalen Wortes mit dem Sakrament des Altares würde die nicht einfach sinnkulturell zu entschlüsselnde Bedeutung der Lesung besonders betonen. (4) Zur Materialität der Lesungsbibel: Auch zu diesem Punkt finden sich Ausführungen in Nicols Liturgik. Nicol plädiert für eine „Lesungsbibel“ (kein Evangeliar, kein Lektionar!), um mit einem ästhetisch ansprechend gestalteten vollständigen Bibelbuch auf die Bedeutung der ganzen Bibel für die Gemeinde hinzuweisen.176 Dieses müsse auch außerhalb seines Gebrauchs während der Verlesung einen Ort der würdevollen Aufbewahrung finden, von dem aus es zur Verlesung herbeigebracht und an den es anschließend wieder zurückgetragen werden müsste. In Aufnahme von Anregungen aus dem katholischen Bereich spricht sich Nicol für ein „Logophoron“ als Ort der Lesungsbibel aus.177 Die vier Aspekte sind weiter zu bedenken. Zudem stellt sich m.E. die Frage nach der stimmlichen Gestaltung und sprachlichen Inszenierung der Lesungen im evangelischen Gottesdienst. Auch hier wäre über Wege und Möglichkeiten kultischer Verfremdung nachzudenken, die das gelesene Wort einem zu eindeutig sinnkulturellen Paradigma des Verstehens entziehen würden. Dabei denke ich nicht an szenische Inszenierungen szenisch angelegter Evangelientexte zur Steigerung der emotionalen Wirkung in dramaturgischer Perspektive. Eher wären m.E. Wege der Verlangsamung (durch Pausen oder Wiederholung), der Verfremdung (durch unterschiedliche 174

NEIJENHUIS: Gottesdienst als Text, 282. In manchen Gemeinden ist es üblich, diesen besonderen Ort der Lesung am Weihnachtsfest zu wählen. Die inszenatorische Hervorhebung des Geschehens der „Inkarnation“, der Gegenwart des „Gott-mit-uns“ („Immanuel“), scheint dadurch möglich. – Dies nur eine Andeutung, wie die Frage nach dem Ort der Lesung immer auch eine theologische Frage ist und wie Theologisches und Ästhetisches hier ineinandergreifen. 176 Vgl. NICOL: Weg im Geheimnis, bes. 159f. 177 Vgl. NICOL: Weg im Geheimnis, 160. 175

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Stimmen oder unterschiedliche Orte im Raum) oder des Zusammenspiels von Musik und Stimme zu erwägen. Nicht zuletzt steht damit m.E. auch die Frage nach der Möglichkeit des kantillierenden Vortrags der Lesungen im Raum. Es ist bezeichnend, dass die Überwindung der Kantillation als kultureller Fortschritt in der Zeit der Aufklärung gepriesen wurde und sich seither weitestgehend durchgesetzt hat (vgl. oben Kap. 3.2.1.2). Ein etwas ausführlicheres Zitat aus einer 1786 erschienenen Schrift des Quedlinburger Pfarrers Johann August Ephraim Gœze (1731–1793) zeigt, wie es zur Abschaffung des gesungenen Vortrags kam und wie dies zunehmend zu einer ‚Homiletisierung‘ der Lesungen und einer sinnkulturellen Einordnung derselben beitrug: „Den Anfang machte ich damit, daß ich die Episteln und Evangelia nicht mehr absang; sondern langsam, mit Anstand und Würde, vorlas. […] ich sagte vorher mit ein Paar Worten, warum ich es thaete, weil ich nun schon über 24 Jahre diese Texte gesungen haette; aber gewiß wüßte, wie meine Zuhörer merken müßten, daß sie gar nicht mehr darauf hörten und achteten, weil es ihnen zur Gewohnheit geworden – auch verschiedenen das Singen historischer Begebenheiten ekelhaft und anstößig wäre; so waere es ganz unnütze Zeremonie, und ich wollte einmal versuchen, ob ich diese Sache nicht auf eine bessere und nützlichere Art für sie einrichten könnten – auch für mich selbst, zur Beförderung meiner eigenen Andacht und Erbauung, die ich bey dem gewöhnlichen Absingen, welches mir öfter sehr laestig und beschwerlich geworden, so wenig, als sie, haette haben können. Nun war alles weit aufmerksamer, als vorher. Ich verlaß also […] die Epistel nicht nur langsam und mit Nachdruck vor, wo derselbe auf Wort und Sache hingehörte; sondern ich setzte oft, wo ich es nöthig fand, eine kurze Paraphrase und Application unter dem Lesen dazu, welches allgemeinen Beyfall fand. […] Eben so machte ich es auch mit dem Evangelio. – Ich hörte von keiner Unzufriedenheit, und Niemand murrete.“178

Wie vor mehr als 200 Jahren die Abschaffung der Kantillation als (damals willkommene!) Verfremdung empfunden wurde und als kulturell notwendiger Weg hin zur sinnkulturellen Orientierung, so könnte gegenwärtig der Weg einer neuerlichen kantillierenden (oder anderweitig durch das Wechselspiel von Stimme und Musik geprägten) Vortragsweise als (vielleicht notwendige) Verfremdung empfunden werden.

178

Goeze, zitiert nach HERBST: Evangelischer Gottesdienst, 166f.

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6.3.2.2 Das gepredigte Wort: Zum Verhältnis von Predigt und Liturgie im evangelischen Gottesdienst Es ist m.E. nicht übertrieben, die Frage nach dem In- und Miteinander von Predigt und Liturgie als die wichtigste (primär: produktionsästhetische) Frage für den evangelischen Gottesdienst zu bezeichnen. Das Übergewicht der Predigt,179 die Konzentration auf das Wortgeschehen in der Predigt führten dazu, die Liturgie teilweise nur noch als das zu sehen, was die Predigt nach vorne und hinten begrenzt (scharf formuliert: ausschmückt), anstatt die Predigt als eine Gestalt des Wortes im Kontext des vielgestaltigen Wortgeschehens der Liturgie zu begreifen. Peter Cornehl hat sicher Recht, wenn er die Zusammenführung von homiletischen und liturgischen Überlegungen als die wesentliche Aufgabe für die Liturgik der Gegenwart bezeichnet.180 Auch die Kommission der Liturgischen Kommission und besonders Klaus Raschzok sehen dies ganz ähnlich.181 Entscheidend scheint es mir, die Predigt im beschriebenen Spannungsfeld von Wort und Kult zu betrachten – und auch die Predigt nicht als vermeintlich ‚reine‘ ‚Wort‘gestalt aus diesem zu entfernen. Freilich markiert die Predigt im gottesdienstlichen Verlauf am deutlichsten die Dimension des Wortes; sie kann sich – im Bild der Ellipse gesprochen – aber näher am Pol des Wortes verorten (2) oder näher in Richtung der Dimension des Kultus verschieben (1). (1) Es wäre möglich, der klassischen und problematischen Vorherrschaft der Predigt im evangelischen Gottesdienst durch eine Reduktion der Dauer und Betonung der Predigt und umgekehrt eine Neugewichtung der liturgischen Vollzüge jenseits der Predigt entgegenzusteuern. In dieser Hinsicht äußerte sich bereits vor rund 50 Jahren der katholische Liturgiker Cyprian Vagaggini, der der drohenden Vorherrschaft des auslegenden Wortes entgegenwirken und dieses daher den Lesungen und dem kultischen Charakter des gesamten Gottesdienstes unterordnen möchte. Für Vagaggini ist klar, dass „die unterweisenden und mahnenden Partien der Liturgie“ so zu ge-

179 Interessant erscheint, dass die Predigt bisweilen als „eigentliche[r] Kultusakt“ der evangelischen Kirche beschrieben werden konnte (Karl Barth); zitiert bei BAUDY: Art. Kult I. Religionswissenschaftlich, 1801. – Vgl. auch SEITZ: Gottesdienst und Predigt, 35–38, sowie KLIE: Fremde Heimat Liturgie, 13: „Das protestantische Verbalprinzip führt bis heute mehrheitlich dazu, das liturgische Formenspiel eher als eine kommunikative Fortsetzung der Predigt mit anderen Mitteln zu verstehen. Gottesdienstlichen Gebeten werden erklärende Präfamina vorangestellt, die Gemeinde sieht sich wortreich begrüßt, ganze einzelne liturgische Rubriken werden diskursiv verflüssigt oder ganz getilgt.“ 180 Vgl. CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, 12f. 181 Vgl. RASCHZOK: Die Agende der Zukunft, 38.

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stalten seien, „daß ihr kultischer Charakter nie dem Blick entschwindet“.182 Das bedeutet für die Homilien, dass diese idealerweise auf die Lesung folgen183 und im Sinne einer „Verschwisterung von Predigt und Liturgie“184 als „liturgische Predigt“185 bezeichnet werden könnten. Auf evangelischer Seite sind in den vergangenen Jahren besonders Manfred Josuttis und Martin Nicol für eine Hinordnung der Predigt auf die Lesungen und für eine deutliche Integration in den Kontext der Liturgie eingetreten. Manfred Josuttis wird in der Folge seiner Publikationen immer skeptischer gegenüber der Predigt und ihrer Bedeutung. Problematisch erscheint ihm dabei vor allem, dass die Predigtrede die „Heiligkeit“ des Wortes als „Heiliger Schrift“ zu zerreden droht. In einem im Jahre 2002 erschienenen Aufsatz bezeichnet er die Predigt als nicht mehr als ein „Nachwort“ zur Lesung (vgl. oben Kap. 2.2.3.2 (2.2) a). Auch Martin Nicol plädiert dafür, die Predigt einzufügen in die Dramaturgie des Lesungsteils.186 Dazu lege es sich – so Nicol – nahe, unter Umständen auch auf den gegenüber den Lesungen erhöhten Ort der Kanzel für die Predigt zu verzichten und ebenso auf die klassischen Kanzelrituale (Kanzelgruß, Vorbereitungsgebet, Kanzelsegen).187 Die Integration in den Lesungsteil führt Nicol anhand eines konkreten Vorschlags zur Gestaltung eines evangelischen Wortgottesdienstes näher aus.188 Die Predigt folgt hier im unmittelbaren Anschluss auf eine der drei Lesungen, die für diesen Wortgottesdienst vorgesehen sind – und somit nicht als Höhepunkt im Anschluss an den Lesungsteil. Die Verzahnung mit den Lesungen soll auch dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass das Credo (wie auch im Evangelischen Gottesdienstbuch als Möglichkeit vorgesehen) erst im Anschluss an die Predigt gemeinsam gesprochen oder gesungen wird. Wesentlicher Bestandteil des Vorschlags Nicols und wesentliche Voraussetzung für eine echte Integration der Predigt in den Kontext der Lesungen ist eine Kürzung der Dauer der Predigt.189 Für den durch seine homiletischen Aktivitäten in den vergangenen Jahren bekannt gewordenen Praktischen Theologen Martin Nicol ergibt sich eine besondere Chance des gegenwärtigen evangelischen Gottesdienstes bezeichnenderweise dann, wenn er die Predigt zeitlich und symbolisch reduziert – und evtl. auch die Kanzeln abschafft.

(2) Die zweite Richtung einer Wahrnehmung der Rolle der Predigt im evangelischen Gottesdienst sähe ich in einem – im musikalischen Bild – bewusst kontrapunktischen Musizieren von Predigt und übriger Liturgie. Als aktuelles, persönlich verantwortetes, in der Richtung der Kommunika182

VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 103f. Vgl. VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 428. 184 VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 427. 185 VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 429. 186 Vgl. NICOL: Weg im Geheimnis, 155. 187 Vgl. NICOL: Weg im Geheimnis, 155. 188 Vgl. NICOL: Weg im Geheimnis, 158–160. 189 Vgl. NICOL: Weg im Geheimnis, 155. 183

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tion klar an die Gemeinde gerichtetes (und in dieser Hinsicht zunächst ‚horizontales‘) Wort macht es in liturgischem Kontext seinen eigenen Sinn. Es holt aus der Überzeitlichkeit der liturgischen Kommunikation in die konkrete Zeit und bewahrt den Gottesdienst davor, zum „Spektakel“ im Sinne Guy Debords zu werden (Kap. 5.3.2). Freilich heißt kontrapunktisches Musizieren, dass man sich als Prediger und Predigerin noch bewusst ist, mit der übrigen Liturgie im selben Stück zu spielen. Wenn sich Predigtrede aufgrund ihrer Eigenwilligkeit oder Virtuosität so in den Vordergrund spielen würde, dass das Übrige bestenfalls zum umrahmenden Rest, schlimmstenfalls zum störenden Beiwerk würde, so hätte die Predigt aufgehört, „kontrapunktisch“ ihren Beitrag zum V-Effekt des Kultus durch das Wort beizutragen. Für die Art und Weise der Gestaltung der Predigt bedeutet dies zusammenfassend zweierlei: (a) Sie muss sich bewusst sein, dass sie aus dem Kultus – als der intendierten Gott-menschlichen Wechselrede – herauskommt und wieder in diesen hineinführt.190 (b) Sie muss den Bezug zur gottesdienstlich inszenierten Schrift so aufrecht erhalten, dass sie sich nicht primär als Aus-legung dieser Schrift, sondern vielmehr als Einführung in diese Schrift versteht.191 6.3.2.3 Das gesungene Wort: Zur Musik und ihrem Bezug auf die Worte im evangelischen Gottesdienst Immer wieder wurde die Musik in ihrer Bedeutung für den (nicht nur evangelischen!) Gottesdienst erkannt192 und genutzt – allerdings auf sehr unterschiedliche Weise.193 Ich erhebe in keiner Weise den Anspruch, die Frage nach ‚der‘ Musik im Gottesdienst auch nur annähernd umfassend zu beleuchten und benenne im Folgenden nicht mehr als drei Formen des Miteinanders von Wort und Musik, wie sie für die hier interessierende Frage nach dem WortKult von Bedeutung sind. Dabei setze ich mit zwei (tendenziell) problematischen Formen dieses Miteinanders ein: der Musik als blo190 Mit konkreten Beispielen angereichert finden sich Überlegungen dazu in: NICOL/DEEG: Im Wechselschritt zur Kanzel, 154–177 [Ritual & Rede. Von Predigt und Liturgie]. 191 Vgl. dazu ausführlicher DEEG: Predigt und Derascha, 475–528 [Peticha und Chatima – Predigt als Eröffnung und Einführung]. 192 Ich verweise nur exemplarisch auf das ausführliche Kapitel bei RATZINGER: Der Geist der Liturgie, 117–134 [Musik und Liturgie]. Vgl. auch EKD: Der Gottesdienst, 44–48, sowie ARNOLD: Was geschieht im Gottesdienst?, 142–159. – Eine neue Studie zeigt zudem die hohe Beliebtheit des gottesdienstlichen Gesangs bei Befragten in evangelischen Gemeinden; vgl. DANZEGLOCKE/HEYE/REINKE/SCHROETER-WITTKE: Singen im Gottesdienst. 193 Vgl. ALBRECHT: Die gottesdienstliche Musik, 414–427 [Albrecht bietet hier einen knappen, aber illustrativen Überblick zur Musik im Gottesdienst].

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ßer „Dienerin“ eines in bestimmter Hinsicht verstandenen Wortes einerseits, der Musik als Gegenüber zum Wort andererseits. (1) Musik als Dienerin des Wortes: Die Hochschätzung des Wortes in der Reformationszeit führte im Luthertum nicht zu einer Engführung auf das gesprochene Wort, sondern konnte auch das gesungene Wort und auch die nicht wortgebundene Musik meinen. Berühmt und oft zitiert ist an dieser Stelle Luthers Satz über den Komponisten Josquin des Préz: „Sic Deus praedicavit evangelium etiam per musicam.“194 Calvin war hier bekanntermaßen skeptischer, lobte zwar den Gemeindegesang im Gottesdienst, lehnte aber Instrumentalmusik in gottesdienstlichem Kontext ab; Zwingli hatte auch mit dem Gemeindegesang Mühe. Die Befürchtung, die Musik mit ihrer Emotionalität und Sinnlichkeit trete an die Stelle der Klarheit der Wortverkündigung, war bei den beiden Schweizer Reformatoren zu greifen.195

Luthers Hochschätzung der Musik führte dazu, dass er ab 1523 auch als Dichter von Liedern in Erscheinung trat. Dabei überwiegen zunächst Psalmlieder (wie etwa das 1524 entstandene Lied „Ach Gott, vom Himmel sieh darein“ zu Ps 12, EG 273196), es schließen sich deutsche Übersetzungen lateinischer Hymnen und weiterer liturgischer Gesänge an sowie Fest- und Katechismuslieder (wie etwa das ebenfalls 1524 entstandene Lied „Christ lag in Todesbanden“, EG 101). Das letztgenannte Lied greife ich exemplarisch heraus, um daran eine durchaus problematische Tendenz im Liedschaffen der Reformation anzudeuten. Es handelt sich bei dem Lied um die Übersetzung und Überarbeitung der auf Wipo von Burgund (ca. 995–1050) zurückgeführten Ostersequenz „Victimae paschali laudes“.197 Die Art und Weise von Luthers Überarbeitung zeigt eine Reduktion der Dramaturgie zugunsten einer lehrhaften Vereindeutigung. Die lateinische Sequenz umfasst ursprünglich sieben Strophen. Die erste kann als eine Art Überschrift gelesen werden „Victimae paschali laudes/ Immolent Christiani“ („Dem Osteropfer sollen die Christen Lobgesänge singen.“). Die Strophen zwei und drei beschreiben das Osterereignis – einmal als Erlösung der Schafe von ihrer Schuld durch das (geopferte) Lamm, einmal als Sieg des Lebens über den Tod durch den „Fürst des Lebens“ („dux vitae“). In den folgenden zwei Strophen wird Maria als Zeugin der Auferstehung angerufen: „Dic nobis, Maria,/ Quid vidisti in via?“, worauf Maria erzählt, was sie sah. Die im Konzil von Trient gestrichene sechste Strophe unterstreicht die Glaubwürdigkeit der Maria (im Unterschied zu der Unglaubwürdigkeit 194

WA.TR 2,11 Nr. 1258. Vgl. ALBRECHT: Die gottesdienstliche Musik, 418f. 196 Vgl. auch EG 280, 297, 299. 197 Die Ostersequenz wird im Folgenden nach Gotteslob, 215 zitiert. 195

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der Juden); die siebte Strophe führt das Geschilderte in das Bekenntnis und in die unmittelbare Anrede des Auferstandenen fort: „Scimus Christum surrexisse / A mortuis vere. / Tu nobis victor / Rex miserere.“ Damit ergibt sich eine dramaturgisch eindrucksvolle Struktur, die von der Aufforderung zum Lob über die Erinnerung an das Geschehen und das Zeugnis der Maria bis hin zum vollzogenen Lob reicht. Demgegenüber atmet Luthers Aufnahme und Nachdichtung weit weniger von dieser Dramaturgie. Zwar kommt die singende Gemeinde in der ersten Person Plural vor – allerdings nur in der Rolle derjenigen, für die das Ostergeschehen Relevanz hat: „… und hat uns bracht das Leben“. Am Ende aller sieben Strophen steht ein „Halleluja“, in dem der Übergang in das Lob, den auch die Vorgabe vollzieht, sprachlich wenigstens ansatzweise greifbar wird. Ansonsten aber bewegt sich das Lied eher in einer lehrhaft-distanzierten Rede: So führen die Strophen 2 und 3 eine Heilsgeschichte in Kernbegriffen vor Augen, indem von der Macht der Sünde und des Todes gesprochen wird, die durch Christus abgetan wird. Sprachlich schimmert hier immer wieder 1Kor 15 durch – ein Zusammenhang, der dann in V. 4 explizit gemacht wird: „Die Schrift hat verkündet das, / wie ein Tod den andern fraß, / ein Spott aus dem Tod ist worden.“ Die Dramatisierung durch die Anrufung der Maria fällt weg, ebenso aber auch die Bewegung hin zur direkten Anrede. Die letzte Strophe endet mit den Worten: „Christus will die Kost uns sein / und speisen die Seel allein; / der Glaub will keins andern leben. Halleluja“ (V. 7).

Die Tendenz, die sich hier in Ansätzen zeigt, lässt sich in anderen Liedern der Reformationszeit noch deutlicher greifen – etwa in dem 1523 entstandenen Lied von Paul Speratus „Es ist das Heil uns kommen her“ (EG 342), das sich zu einer Art ‚Schlager‘ der Reformationszeit entwickeln konnte. In sieben Strophen wird die Kernbotschaft der Reformation besungen: die Botschaft vom Heil aus Gnade ohne Werke des Gesetzes. Die lehrhafte Dimension des Liedes ist bis in die Formulierungen hinein greifbar: „[…] so lerne nun ein frommer Christ / des Glaubens recht Gestalte“ (V. 4). In den letzten beiden Strophen (V. 8f) allerdings wendet sich der Charakter des Liedes und verwandelt sich in eine Doxologie und Bitte in Aufnahme der Bitten des Vaterunsers. Es sind am ehesten Lieder wie diese, auf die Martin Mosebach mit seiner Kritik am Kirchenlied zurecht verweisen könnte. In seinem Buch „Häresie der Formlosigkeit“ (vgl. oben Kap. 4.1.2.3) äußert er seine „feste Überzeugung, daß den Kirchenliedern für den Niedergang der Liturgie eine vielleicht ursächliche Rolle zukommt“.198 Seine Begründung umfasst zwei Linien: Einerseits seien die Lieder dazu gedacht gewesen, die Liturgie zu ersetzen; sie würden schon allein deshalb die Liturgie, die sich in ihrer Gesamtheit (!) als Melodie begreifen lasse, zerstören; andererseits ließen sie sich als „Fortsetzungen der Predigt“199 verstehen. Die Liturgie verliere ihren 198 199

MOSEBACH: Häresie der Formlosigkeit, 35. Vgl. MOSEBACH: Häresie der Formlosigkeit, 35–37.

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Charakter als Anbetung und Gott-menschliche Wechselrede und werde in eine Form der Unterweisung verwandelt. Mosebach ist in seiner Pauschalität sicher nicht zuzustimmen; aber dass er eine problematische Weise der – in meinem Vokabular – sinnkulturellen Überfremdung der Musik durch das Wort kritisch aufgreift, die in protestantischem Kontext in der Tat zu greifen ist, ist durchaus zu konzedieren. (2) Musik im Gegenüber zum Wort: Bereits Luther war sich der Bedeutung der Musik für das Gefühl des Menschen bewusst. Er bezeichnete die Musik bekanntermaßen als „domina et gubernatrix affectuum humanorum“ (WA 50, 371). Musik konnte (und kann) aufgrund dieser Eigenschaft als das Andere des Wortes gesehen werden: Das Emotionale der Musik stünde dann im Gegenüber zur Ratio des Wortes. Dass damit sowohl das Wort als auch die Musik verkürzt werden, erscheint evident, hinderte aber nicht daran, die Musik entsprechend im Gottesdienst zu nutzen (bzw. zu instrumentalisieren). Dies lässt sich etwa dort greifen, wo die Musik zur Erreichung einer bestimmten Stimmung bewusst oder eher unbewusst eingesetzt wird200 – wie dies in der Gegenwart etwa in charismatischen Kontexten nicht selten geschieht, wie dies aber etwa auch in romantischen oder spätromantischen Verständnissen geistlicher Musik greifbar wird. Dies lässt sich auf der anderen Seite aber auch dort wahrnehmen, wo die Musik die Feierlichkeit einer bestimmten Festform garantiert – und lediglich in dieser Hinsicht im Gottesdienst eingesetzt wird. Gegenüber diesen beiden in ihrer Tendenz problematischen Weisen des Umgangs mit Musik im Gottesdienst, die letztlich auf eine Instrumentalisierung der Musik hinauslaufen – zugunsten des favorisierten Wortes oder zur Überwindung eines vermeintlichen Engpasses des rein kognitiv verstandenen Wortes –, erscheinen m.E. jene Wege des In- und Miteinanders von Musik und Wort am interessantesten, die das spezifische Wechselspiel von einer Verfremdung des Wortes durch den Kult und umgekehrt einer Verfremdung des Kultus durch das Wort inszenieren. Ich verweise nur knapp auf zwei Beispiele: die gegenwärtig auf vielfältige Weise wiederentdeckte Form des Psalmensingens (im Gegenüber zum gemeinsamen gottesdienstli200 Vgl. auch BIERITZ: In Techno Deo Gloria, bes. 57–67, der ausgehend von Beobachtungen bei einem Techno-Gottesdienst im Kontext des Leipziger Kirchentags 1997 Überlegungen zur Bedeutung einer die kognitiv geprägte Verbalsprache des Gottesdienstes überwindenden musikalischen Gestaltung anstellt. Die Musik bedeute eine Leiblichkeit, die die kognitive Ebene weit übersteigt (vgl. aaO., 61–63), und eine Ekstase, die – in Bezugssystemen des 16. Jahrhunderts gesprochen – die Frage nach dem Schwärmerischen in der Religion wachrufe (vgl. aaO., 63–67). – Insgesamt führen die Beobachtungen bei Bieritz weiter zur Bestimmung der Herausforderung gegenwärtiger Liturgiegestaltung zwischen „Inkulturation und Konter-Kulturation“ (aaO., 67).

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chen Sprechen von Psalmworten) einerseits, die emotionale Verfremdung durch die musikalisch-poetische Gestaltung andererseits. – Als 1996 in den evangelischen Kirchen im deutschsprachigen Bereich neue Gesangbücher erschienen, fiel die „Ausgabe für die Evangelisch-reformierte Kirche“ durch ihren besonderen Umfang von mehr als 1800 Seiten auf (im Vergleich: Bayern/Thüringen rund 1600 Seiten), der sich nicht zuletzt dadurch ergibt, dass die ersten rund 400 Seiten eine vorsichtig aktualisierte Fassung des sogenannten „Genfer Psalters“ (in der Textfassung von Matthias Jorissen, 1793) enthalten, jenes Gesangbuches, das Johannes Calvin für das eigentliche Gesangbuch der Kirche hielt; Gott selbst habe diese Worte seinen Gläubigen zum Gebet gegeben.201 Allerdings betrachtete Calvin die römische Art und Weise des lateinischen Psalmgebets als problematisch, da sie das Mitbeten für viele unmöglich mache und die Psalmen den üblichen Gottesdienstbesuchern entziehe. Daher schufen er und andere einfache, gereimte und strophische Fassungen der Psalmen, die dicht am biblischen Wort blieben und dazu führen sollten, dass die Gemeinde im Wechselspiel von Wort und Musik dem nahekommt, was die eigentliche Intention der Psalmen sei: Gebet, genauer: Anbetung, Doxologie.202 Dazu schränkt Calvin auch die Musik in ihren Möglichkeiten ein; die Melodien sind einfach, die Rhythmen keinesfalls tänzerisch. Vergleicht man den reformierten Reimpsalter mit Nachdichtungen aus der lutherischen Reformation, so fallen die große Zurückhaltung gegenüber den vorgegebenen Psalmtexten und das Bemühen auf, so nah als irgend möglich an den Texten selbst zu bleiben. So verwandelt, um nur ein Beispiel zu nennen, Martin Luther in seiner oben bereits erwähnten, 1524 entstandenen Nachdichtung zu Ps 12 (EG 273) diesen Psalm in ein Loblied des Gegründetseins in Gottes Wort (vgl. V. 2.5.6) und wendet den Psalm am Ende in die Bitte, „daß wir sein Wort behalten rein, / im rechten Glaub beständig sein / bis an das Ende“ (V. 6). Selbstverständlich kommt dieses auch in der Vorgabe von Ps 12 vor, allerdings im Kontext der Klage und Bitte um Gottes Eingreifen zugunsten der „Heiligen“ und gegen die „Gottlosen“ – ein Aspekt, der in der Fassung von Ps 12 im Genfer Psalter erhalten bleibt. – Es kann damit nicht behauptet und soll nicht die These aufgestellt werden, dass das eine grundlegend problematisch, das andere die einzig angemessene Weise des Umgangs mit Psalmen sei; es soll hier nur auf eine Tendenz hingewiesen werden, die mit der dominanten Tendenz zur „Homiletisierung“ im lutherischen Kontext einhergeht und die Problematik einer sinnkulturellen Dominanz beinhaltet.

Nachdem die Zeiten der kontroverstheologischen Polemik vorbei sind, wird gegenwärtig auch evangelischerseits das Psalmgebet in traditionellen For201 202

Vgl. dazu auch SCHULZ: Zur poetischen Qualität liturgischer Texte, 19f. Vgl. KUNZ/MOSER: Alles bleibt, wie es nie war, bes. 163.

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III. Liturgische Inszenierung des verbum externum

men auf vielfältige Weise neu erkundet. Ich verweise nur exemplarisch auf den von Godehard Joppich, Christa Reich und Johannes Sell herausgegebenen und für das respondierende Singen eingerichteten Münsterschwarzacher Psalter, dem die Herausgeber eine Einführung beigegeben haben, in der sie die Bedeutung der Sprache der Psalmen und der durch den wiederholten Gesang ermöglichten Externität zum Ausdruck bringen.203 Joppich, Reich und Sell blicken in der Einführung auf unterschiedliche Weisen, wie Psalmen gegenwärtig im Gottesdienst wiederentdeckt würden – vor allem als gemeinsam (oder im Wechsel) gesprochene Psalmen bzw. als antiphonale Psalmodien im Wechselgesang. Beide Weisen hätten, so die Herausgeber, ihre spezifischen Nachteile: „Beim chorischen Lesen geht die Eigenart der Psalmen – ihre Schönheit in Lautung und Form, die Lebendigkeit ihrer Sprache und ihrer Bilder – verloren. Zu sehr sei man bemüht, mit der eigenen Stimme im gemeindlichen Gleichschritt zu bleiben. Dass Klang Sinn erschließt und Sinn von Klang abhängig sei, bleibe dabei außer acht. Man könne bestenfalls intellektuell einen Text erfassen, sei beschäftigt, aber nicht spirituell beteiligt.“204 Dieser einseitig intellektuellen Rezeption versuche auch die antiphonale Psalmodie in zwei Gruppen zu begegnen; diese erweise sich in der Praxis des Gottesdienstes aber vielfach als zu voraussetzungsreich und schwierig. Sie erfordere „kontinuierliche gemeinsame Übung und große Sensiblität aller Beteiligten“.205 Daher biete sich die „responsoriale Psalmodie“ als Möglichkeit an; hier ist die Gruppe/Gemeinde durch ein immergleiches Responsorium beteiligt, das nach jedem von einem Einzelnen gesungenen Vers gemeinsam gesungen wird. Der Ruf entstammt selbst dem Psalm; ein Mitlesen ist nicht nötig: „[…] das Hören wird intensiviert, und der Ruf vertieft die Konzentration“.206 In kirchengeschichtlicher Hinsicht sei dies als die älteste greifbare Weise gemeinsamen Psalmensingens zu entdecken, und etwa Ps 136 zeige, dass diese Form auch schon in der Zeit der Entstehung der Psalmtexte praktiziert wurde.207 Das Ziel bleibe ein „‚Sich-einüben‘ in den Klang des lebendigen Wortes“.208

Durch responsoriale Psalmodie entstehe eine „langsame, wiederholende Weise mit Wort umzugehen“ und so eine Möglichkeit, „das Fremde, das uns in diesen Texten begegnet“ neu zu erkunden.209 – Im gesungenen Wort geschieht mehr als im gesprochenen. Augustins Aussage „bis orat qui cantat“ wird in dieser Hinsicht oft zitiert. Musik bedeutet und ermöglicht eine bestimmte Art der Emotionalität und setzt einen 203

Vgl. JOPPICH/REICH/SELL: Preisungen; die „Einführung“ findet sich ebd., 5–8. JOPPICH/REICH/SELL: Preisungen, 7. 205 JOPPICH/REICH/SELL: Preisungen, 7. 206 JOPPICH/REICH/SELL: Preisungen, 7. 207 Vgl. JOPPICH/REICH/SELL: Preisungen, 7. 208 JOPPICH/REICH/SELL: Preisungen, 8. 209 JOPPICH/SELL: Cantica, 4. 204

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Rahmen der Poetizität, die über das hinausgehen, was in der reinen Wortsprache möglich ist, die immer das Problem hat, zunächst einseitig sinnorientiert wahrgenommen zu werden. Die Worte vieler Lieder von Paul Gerhardt etwa könnten in einem Gottesdienst kaum gemeinsam gesprochen werden; gesungen aber führen sie in eine andere Art der Rezeption, die über die sinnkulturelle Einordnung hinausgeht, ohne diese zu negieren. Gesungen ist es so z.B. möglich, das Geheimnis von Weihnachten durch die schlichte, jede historische Differenz ausklammernde Zeile „Ich steh an deiner Krippen hier“ (EG 37) zum Ausdruck zu bringen und so hineingeholt zu werden in eine Bewegung, die das Weihnachtsgeschehen in der Anrede an den gegenwärtigen Herrn, der zugleich das in der Krippe liegende „Christkind“ ‚ist‘, ermöglicht.

In dieser Hinsicht ließe sich durch ein gesungenes Credo etwa auch dessen „doxologische[r] Charakter“ neu entdecken.210 Dieser bedeutet, dass das Credo in seinen Formulierungen weit über das hinausgreift, was das subjektive Glaubensbewusstsein und -empfinden im Moment aussagen oder im Sinne einer fides quae glauben kann. Die zahlreichen neuen Versuche, das Credo aufgrund dieser Tatsache durch neue und zeitgemäßere Texte zu ersetzen, ermäßigen dieses Problem nicht, sondern heben es nur auf eine andere Ebene. Nun sind es nicht mehr die überkommenen Worte der Tradition, die seit Jahrhunderten christliche Gemeinden verbinden, sondern die individuellen Worte des liturgisch Verantwortlichen oder einer vergleichbar zeitgemäßen Quelle, die mitgesprochen werden sollen und erst recht zu einer dominant sinnkulturellen Weise der Rezeption herausfordern. Martin Nicol verweist auf die Umkehrung der Richtung, die auch Protestanten gegenwärtig zu lernen hätten und nimmt damit in anderer Begrifflichkeit auf, was in dieser Erarbeitung als das liturgische Problem starker neuzeitlicher Subjektivität entfaltet wurde: Anstatt die Richtung von „Innen“ nach „Außen“ immer weiter zu kultivieren (nur das, was ich innerlich ‚glaube‘ oder verstehe, kann ich auch artikulieren), müsste (zusätzlich, nicht alternativ!) die Richtung von „Außen“ nach „Innen“ neu entdeckt werden. Es könne so geschehen, dass ‚ich‘ von einem außerhalb meiner selbst liegenden Wort oder Geschehen affiziert, berührt, verändert werde – und mich so einfinde in Neues und Anderes.211 An dieser Stelle böte, so meine Weiterführung, etwa ein gesungenes Credo die Möglichkeit einer Verfremdung weg von der Einseitigkeit sinnkulturellerer Rezeption. Aber auch das Andere kann geschehen. Es kann – und dies wurde vor allem in der Zeit des Dritten Reichs entdeckt – Formen der musikalischen Gestaltung geben, die sich dem dominanten Empfinden für das, was Musik 210 211

NICOL: Weg im Geheimnis, 160. Vgl. NICOL: Weg im Geheimnis, 241f.

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leisten kann und soll, widersetzen und so die Aufmerksamkeit ganz neu auf Worte lenken, die gerade gesungen werden, und auf eine Nüchternheit fokussieren, die gegenüber aller rauschhaft-ekstatischen Ablenkung und Vernebelung geboten sein kann. Das Wort kann gerade durch die Musik befreit werden von allzu viel Pathos und Bekanntheit und verfremdet werden, so dass es neu gehört wird. In der Zeit der Bedrängnis, in der viele den Versuchungen der totalitären Ideologie des Nationalsozialismus samt seiner kultischen Inszenierung erlagen, entdeckte die dagegen kämpfende Kirche den Gottesdienst in seiner überlieferten Form und die Art und Weise, wie darin gesungen wurde, neu. Die „spröde Fremdheit der alten Liturgien“, die Gregorianik als streng wortgebundene Singweise (vgl. die Alpirsbacher) und auch die reformatorischen Choräle wurden neu wahrgenommen. Gleichzeitig entstanden – meist in strenger Wortbindung – neue Kirchenlieder, die in ihrer „antiromantischen Herbheit eine eindrucksvolle Antwort auf die offiziell geförderte Rauschkultur“ boten.212 In beiden Fällen werden die Worte gegenüber dem eigenen verstehenden Zugriff bzw. dem eigenen gesellschaftlichen Kontext ‚verfremdet‘ und so in ein Gegenüber, in eine Dimension der Externität gerückt. Diese ist zwar theologisch noch keineswegs mit der Externität des WORTES zu identifizieren, aber sie kann zum heilsamen Weg gegen die Dominanz subjektiv-sinnkultureller Aneignung (bzw. Belangslosigkeit) werden. Singend in die Sprachrichtung zu finden, die dem Gottesdienst angemessen ist, die über verstandesmäßige Rezeption hinausweist, ohne diese zu negieren, die Worte zu einem Raum macht, der begangen werden kann und nachklingt, auch wenn der Gottesdienst schon längst wieder vorbei ist – dies ist die Dimension, die das Wechselspiel von Wort und Musik und den wechselseitigen V-Effekt im Kontext eines WortKults m.E. prägen sollte. 6.3.2.4 Das gebetete Wort: Zur Sprachgestalt des gemeinsamen Gebets im evangelischen Gottesdienst Die Sprache der Liturgie als Sprache des gemeinsamen Gebets steht vor dem generellen Problem, als von einem/r Einzelnen verlesene/gesprochene Sprache die Sprache einer Gemeinde werden zu müssen. Dieses Problem, das bei selbst formulierten Texten eine sensible Balance zwischen Originalität und Erwartbarkeit und bei Texten aus der Tradition ein genaues Abwägen zwischen Dignität der Tradition und aktueller Verständlichkeit erfor-

212

Alle Zitate aus CORNEHL: Art. Gottesdienst, 75.

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dert, ist aber keineswegs das einzige und wohl auch nicht das gewichtigste, mit dem liturgische Sprachfindung gegenwärtig konfrontiert ist. Catherine Pickstock geht im Kontext ihrer Analysen zur Philosophiegeschichte und im Kontext ihrer kritischen Anmerkungen zu modernem und postmodernem Denken – wie gezeigt – auch auf die Liturgie, genauer: auf deren Sprache ein. Sie markiert das Problem, dass liturgische Sprache gegenwärtig – und das heißt im Zusammenhang von Pickstocks Untersuchung: durch die Reformen des Zweiten Vatikanums – nicht mehr das leiste, was sie eigentlich leisten könnte. Sie sei vielfach ‚unerotisch‘ geworden und schaffe es nicht mehr, als anziehende, ‚erotische‘ Sprache formuliert und wahrgenommen zu werden. Sie sei von einer bis ins Bürokratische gehenden Klarheit geprägt, der die Erwartung des Über-sich-Hinausweisenden fehle. Sie bestätige das Individuum in seiner unangefochtenen, beständigen, seiner selbst präsenten Identität und bleibe so in den Kreisläufen der „Polity of Death“ verhaftet.213 Dass der Umbruch in der Mitte des 20. Jahrhunderts von Pickstock damit sehr einseitig eingeordnet wird, wurde oben bereits ausgeführt. Faktisch betrifft er keineswegs nur die katholische Kirche. Gail Ramshaw macht auf den gewaltigen liturgischen Übersetzungsprozess („monumental translation project“214) aufmerksam, der in der damaligen Zeit gesamtchristlich zu greifen ist: im Katholizismus und in der Orthodoxie (wenigstens teilweise) in die Landessprachen hinein, in den protestantischen Kirchen von einer Sprache des 16. Jahrhunderts in die des 20. Jahrhunderts. Ramshaw sieht die wesentliche Aufgabe der damaligen Zeit darin, die Balance zu finden „between the otherness of speech necessary for speaking about God and the ordinariness of language necessary for describing the incarnation.“215

Pickstock zeichnet die Frage nach der Gestalt der Liturgiesprache in die großen Zusammenhänge der philosophisch-theologischen Entwicklung ein – und zeigt andererseits, dass diese Sprache Indikator sein kann, an dem ablesbar wird, wie Liturgie verstanden und was von ihr erwartet wird. ‚Zeige mir deine für den Gottesdienst gestalteten Gebete – und ich sage dir, was du vom Gottesdienst erwartest und wie du von ihm denkst!‘ – So ließe sich salopp formulieren, um diesen Zusammenhang zum Ausdruck zu bringen. Im Kontext dieser Untersuchung würde es gelten, eine liturgische Sprache zu finden, die das Wort nicht einseitig als zu verstehendes und kognitiv zu rezipierendes Wort begreift, die die alltägliche Welt nicht einfach in die 213

Vgl. PICKSTOCK: After Writing, bes. 176. RAMSHAW: Liturgical Language, 7. 215 RAMSHAW: Liturgical Language, 7; vgl. zum Diskussionsstand um die 1960er Jahre BYARS: The Future of Protestant Worship, 8–20; STEVICK: Language in Worship; YORK: America’s Worship Wars. 214

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Liturgie hinein verdoppelt, sondern sprachlich Neues und Anderes antizipiert, die mit ihren Worten hineinführt in den Raum der biblischen Worte, Bilder und Geschichten und in alledem hinweist auf jenen WORTwechsel, der jenseits ihrer eigenen Machbarkeit liegt. Im Zusammenhang der hier vorliegenden Untersuchung können Pickstocks Aussagen verändert aufgenommen werden. Mithin sind es fünf Kennzeichen liturgischer Sprache, die als eine Art „Check-Liste“ abgefragt werden könnten, wann immer liturgische Texte (gemeint ist die Sprache des gemeinsamen Gebets – im Unterschied etwa zur Sprache der Predigt) analytisch untersucht oder aktiv geformt werden: Mündlichkeit, Biblizität, Poetizität, Theatralität und Theologizität der Liturgiesprache. Im knappen Durchgang durch diese fünf Aspekte bemühe ich mich um eine Konkretisierung des Gemeinten und blicke dabei immer wieder auf Literatur, die in den USA in den vergangenen Jahren erschienen ist. Dort nämlich wird die Aufgabe liturgischer Sprachfindung – sehr viel stärker als im Kontext einer europäischen/deutschen Universitätslandschaft – als genuine Aufgabe praktisch-theologischer Reflexion erkannt. (1) Die Mündlichkeit der Liturgiesprache Die Sprache des gemeinsamen Gebets ist durch eine Spannung gekennzeichnet: Sie ist mündliche Rede und wird hörend (nicht lesend!) rezipiert; sie ist andererseits aber in aller Regel und aus gutem Grund nicht spontan mündlich extemporiert, sondern bereits vor Beginn des Gottesdienstes schriftlich fixiert. Das Problem dieser schriftlichen Ausfertigung liegt – kurz gesagt – darin, dass die Texte in ihrer Dichte Sinn ergeben, aber kaum einen Raum eröffnen. Sie geben dann bestenfalls zu denken, lassen aber nicht ein in eine durch Worte konstituierte Atmosphäre. Das berühmteste Beispiel scheint mir in einer im gegenwärtigen evangelischen Gottesdienst durchaus prekären Sprachform greifbar: dem Kollektengebet bzw. Tagesgebet. Seit alter Zeit besteht es als kurzes, den Eröffnungsritus der Messfeier beschließendes Gebet aus drei Hauptteilen: der Gottesanrede mit Apposition oder relativischer Prädikation, die „das Tagesgeheimnis“ aufnimmt, der Bitte und dem trinitarischen Schluss.216 Interessant ist, dass dieses Gebet bereits in gallischen Liturgien als zu knapp empfunden und um weitere Orationen angereichert wurde, bis schließlich sieben Orationen in der Liturgie vorkamen.217 Das Missale Romanum in der Fassung von 1970 hat diese wieder auf eine einzige Oratio reduziert.218 216

Vgl. BERGER: Art. Tagesgebet, 501 [Zitat ebd.]. Vgl. BERGER: Art. Tagesgebet, 501. 218 Vgl. BERGER: Art. Tagesgebet, 501f. 217

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Das Evangelische Gottesdienstbuch hat das „Tagesgebet“ in Grundform I (Gottesdienst mit Predigt und Abendmahl) als solches erhalten,219 in Grundform II (Predigtgottesdienst) regulär durch ein „Eingangsgebet“ ersetzt (das aber – wie die Ausführungshinweise zeigen, auch als Tagesgebet gestaltet werden kann).220 Auch wenn diese Beobachtung nicht empirisch validiert wurde, so haben doch Befragungen bei liturgisch Verantwortlichen wie auch bei Studierenden und weiteren Gemeindegliedern gezeigt, dass sich die Vorgabe der Grundform II mehr und mehr durchzusetzen scheint: Das Tagesgebet in seiner klassischen Struktur wird durch ein ausführlicheres Eingangsgebet ersetzt, das die Befindlichkeit der Gemeinde zu Beginn des Gottesdienstes thematisiert, oder – wie Martin Nicol beobachtet – durch ein Gebet, das inhaltlich bereits die folgenden Lesungen aufnimmt.221 Was dabei liturgisch verloren geht, ist evident: ein geprägtes Formular, das Wiedererkennbarkeit ermöglicht, eine Chance zu dichter Formulierung dessen, was katholisch „Tagesgeheimnis“ genannt wird und was evangelischerseits mit dem Begriff „Proprium“ am ehesten wiedergegeben werden könnte. Andererseits scheint sich gegenwärtig eine Erfahrung mit dem Kollektengebet zu wiederholen, die bereits im Mittelalter gemacht wurde: Das Kollektengebet ist in seiner klassischen Form zu knapp und erweist sich für die mündliche Kommunikation im Gottesdienst als zu konzentriert. Bei einer Länge von durchschnittlich wohl wenig mehr als 30 Sekunden (bezogen auf die im Evangelischen Gottesdienstbuch abgedruckten Kollekten) ermöglicht es kaum ein ‚Hineinkommen‘ und Verweilen – ein Umstand, dem auch nur begrenzt durch die (in sich absolut sinnvolle!) Vorschaltung einer Phase der Stille begegnet werden kann.222 Zudem nötigt die knappe Form sprachlich zur Verwendung großer und teilweise sehr abstrakter Begriffe sowie zur radikalen Elimination von Redundanz. Eine sprachliche Analyse der im Evangelischen Gottesdienstbuch abgedruckten Kollektengebete würde sich sicherlich lohnen, kann hier aber nicht geleistet werden. Es fällt aber schon bei einer ersten Durchsicht auf, wie viele der ‚großen‘ Worte der Tradition des Glaubens die Sprache der Kollektengebete prägen und wie wenige Bilder demgegenüber versucht werden. So kommen in den – zufällig ausgewählten – Kollektengebeten vom 6. bis 9. Sonntag nach Trinitatis u.a. folgende ‚große‘ Worte (hier alphabetisch geordnet) vor: „Angst“, „Ehre“, „Erbarmen“, „Fülle“, „Gaben“, „Gerechtigkeit“, „Glanz deiner Wahrheit“, „Gnade“, „Güte“, „Heil“, „Herz“, „Hoffnung“ 219

Vgl. Evangelisches Gottesdienstbuch, 39. Vgl. Evangelisches Gottesdienstbuch, 52. 221 Vgl. NICOL: Weg im Geheimnis, 47; auch andere Erfahrungen mit dem Kollektengebet seien nicht verschwiegen; so lobt etwa die amerikanische Autorin Ruth C. Duck die bewundernswerte Klarheit und Knappheit der Sprache des klassischen Tagesgebetes (vgl. DUCK: Finding Words for Worship, 66–68). 222 So die Empfehlung im Evangelischen Gottesdienstbuch (aaO., 39). 220

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„Kraft“, „Leben“, „Licht“, „Liebe“, „Mut“, „Sehnsucht nach Leben“, „Sinn“, „Taten der Liebe“, „Trägheit“, „Vertrauen“, „Weisheit“, „Zweifel“. Bilder werden eher aus dem ‚klassischen‘ Bildrepertoire aufgenommen, am siebten Sonntag nach Trinitatis mit dem Evangelium der Brotvermehrung und am achten Sonntag nach Trinitatis mit Mt 5,13–16 auch aus diesen Texten: „Brot des Lebens“, „Dunkel“, „Dunkel der Welt“, „Licht der Welt“, „Salz der Erde“, „Tor zum Leben“, „Tür zu neuen Räumen“.

Ich komme nochmals zurück auf Catherine Pickstock. Diese nämlich hält der im Zweiten Vatikanischen Konzil neugestalteten römischen Liturgie vor, dass sie die originären Kennzeichen der Mündlichkeit der Liturgie eliminiert und aus der Liturgie einen zwar stimmigen Text gemacht habe, der aber den Atem des Gesprochenen verloren habe. Dazu nämlich gehörten Redundanzen, Wiederholungen und liturgisches „Stammeln“. Es sei eher eine Sprache geschaffen worden, die über Liturgie redet denn eine genuine Liturgiesprache. Es müsse demgegenüber wieder eine Sprache gesucht werden, die das ‚apophatische‘ liturgische Stammeln („apophatic liturgical ‚stammer‘“) lerne, die Spontaneität und das Durcheinander des Mündlichen.223 Pickstock aufnehmend würde es gelten, liturgische Sprache weniger als ein theologisch korrektes Reden über das, was Glaube ist und ausmacht oder wie sich die Gottesrelation ausdrückt, zu begreifen, sondern als eine Sprache, die selbst auf der Suche bleibt, in Anläufen Annäherungen versucht, im ‚Stammeln‘ zeigt, dass sie nicht am Ziel, sondern unterwegs ist – und so mitnimmt und einlässt in eine Art und Weise der Rezeption, die nicht die intellektuelle Zustimmung (oder Ablehnung) herausfordert, sondern Hörerinnen und Hörer von Gebeten mit hineinnimmt in die offene und unabgeschlossene Suche nach Sprache. Die Suche nach einer Gewinnung von Mündlichkeit würde dann nicht bedeuten, die sprachliche Sorgfalt schleifen zu lassen oder auf die sorgfältige Vorbereitung von gottesdienstlichen Gebeten zu verzichten. Es hieße vielmehr, sich inspirieren zu lassen von Dichtern und Philosophen, die nicht so sehr ‚unterwegs zur Sache“, als vielmehr „unterwegs zur Sprache“ sind.224 Am Ende des „Wüstenlied[es]“ von Huub Oosterhuis heißt es entsprechend: „Doch Worte, die mich behüten, Silbenspuren, die mich weisen auf Ihn hin.“225

223

PICKSTOCK: After Writing, 176. Vgl. HEIDEGGER: Unterwegs zur Sprache; vgl. zu einer paradigmatischen Durchführung WINKLER: Leise Bekenntnisse. 225 OOSTERHUIS: Ich steh vor dir, 52. 224

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(2) Die Biblizität der Liturgiesprache226 Eine Sprache, die Subjekte der Neuzeit nicht stabilisiert, sondern herausführt, nicht bei sich selbst behaftet, sondern einführt in jenen Raum, in dem die Begegnung mit dem WORT und damit der Gott-menschliche WortWechsel gesucht und erwartet werden, kann evangelischerseits nicht anders konzipiert werden als eine Sprache, die sich der Worte, Bilder und Geschichten der Bibel bedient. Anstatt den nicht selten scheiternden Weg zu gehen, sich immer wieder neu auf die Suche nach tragfähigen Metaphern und weiterführenden Bildern zu machen, wäre es ein erster Schritt, mit der gemeinsamen Gebetssprache in jenen Sprachraum einzuwandern, der durch die Bibel vorgegeben ist.227 Nichts anderes war – wie oben gezeigt – die Intention der Schweizer Reformatoren, allen voran Johannes Calvins, die den Psalter als Gebetbuch der Kirche wiederentdecken wollten. Und nichts anderes geschieht gegenwärtig an vielen Orten – unter anderem und besonders intensiv in den Niederlanden und in den USA. Nur auf diese beiden Orte einer Suche nach Liturgiesprache im Dialog mit der Bibel blicke ich kurz:228 (a) Mit dem Namen des niederländischen Theologen katholischer Provenienz Huub Oosterhuis ist nicht nur eine bestimmte Art und Weise poetischer Sprachfindung für das gemeinsame Gebet im Dialog mit der Bibel aufgerufen, sondern eine inzwischen auch in Deutschland mehr und mehr rezipierte eigene Schule der sogenannten „Amsterdamer Theologie“.229 Letztere bemüht sich, den „Zusammenklang von Exegese, Poesie und Gesang“ zu erkunden und fruchtbar zu machen. Im September 2009 fand dazu die dritte Tagung zur Amsterdamer Theologie im deutschsprachigen Be226 Vgl. zum Folgenden auch meinen Aufsatz „Das neue Lied und die alten Worte“; vgl. auch HUPFELD: Liturgische Irrwege und Wege, 47, der die Anlehnung an die Bibel und insbesondere an Luthers Übersetzung des Psalters als Möglichkeit zur Gewinnung einer gegenwärtig „kraftvoll ansprechende[n] Gebetssprache“ sieht; vgl. HUPFELD: Das kultische Gebet, 46–50. 227 Vgl. dazu auch JÜNGEL: Einheit und Vielheit der Kirche, 158: „[…] biblische Texte sind existentiale Orte, an denen man […] sich aufhalten, hin und her gehen, Heimat gewinnen kann. Und in solcher durch das Leben der biblischen Texte gewährten Heimat beginnt man zu staunen über die in diesen Texten immer wieder aufleuchtende, ganz und gar nicht selbstverständliche und dennoch der ganzen Welt geltende Wahrheit des Evangeliums.“ 228 Vgl. daneben zum Beispiel auch die anregende Gebetssammlung BUKOWKSI: Lass mich blühen unter deiner Liebe. Sylvia Bukowski verbindet in ihrem Band die Entdeckungsfreude bei der Wahrnehmung biblischer Sprache mit einer sensiblen Suche nach dem, was gegenwärtig zur Sprache kommen will. Sie schreibt in ihrer Einleitung: „Ein wichtiges Anliegen ist mir, aus dem Erfahrungsschatz der Psalmen zu schöpfen und gleichzeitig die heutige Befindlichkeit wahrzunehmen“ (aaO., 5). 229 Vgl. DE VRIES: Dienst am Wort, der in diesem Artikel die Grundlage der „Amsterdamer Theologie“ als die Erkenntnis, dass die Bibel vor allem ein liturgisches Buch sei, vorstellt.

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III. Liturgische Inszenierung des verbum externum

reich in Zusammenarbeit des Liturgiewissenschaftlichen Instituts der VELKD und des Mainzer Vereins „Kultur – Liturgie – Spiritualität“ unter dem Titel „Der Text darf es sagen. Die Bibel lesen und feiern mit Amsterdamer Akzent“ statt. Im Prospekt der Tagung wird der Zusammenhang von Bibel, poetischer Sprache und Gesang deutlich; dort heißt es u.a.: „Die Amsterdamer Theologie geht aus von der Einheit des Kanons und von der heute vorliegenden Gestalt der Schrift. Sie erkennt ein Prae der hebräischen Schriften […]. Die Sammlung der Hebräischen Schriften ist entstanden als liturgisches Buch: um eine gemeinsame Erfahrung zu bewahren, der Befreiung zu gedenken, sie zu feiern, auf sie zu hoffen. Daher sind die Texte großenteils hymnisch, poetisch, narrativ, sie dürfen nicht historisch oder dogmatisch gelesen werden. Sie müssen klingen.“230

Die Aufhebung der Trennung der wissenschaftlichen Disziplinen (hier Exegese, dort Liturgik!) ist eine der entscheidenden Voraussetzungen für die „Amsterdamer Theologie“. Sie verhindert Kurzschlüsse auf beiden Seiten (auch wenn im eben zitierten Text ein neuer Kurzschluss durch die adversative Formulierung: „sie dürfen nicht historisch oder dogmatisch gelesen werden“ droht): So macht sie es unmöglich, dass die Exegese den „Sitz im Leben“ ihrer Texte im Gottesdienst und den liturgischen Schriftgebrauch von den Anfängen bis in die Gegenwart aus ihrer Forschung systematisch ausklammert. Gleichzeitig verhindert sie umgekehrt, dass die Liturgik sich nicht mehr an der Bibel orientiert, sondern stärker an der Frage, welche Art der Sprache gegenwärtig ‚populär‘ sei oder was man vom Reden der Kirche erwarte. Die Möglichkeit, eine heutige Liturgiesprache in Aufnahme von biblischer Sprache zu gestalten, hat Huub Oosterhuis in vielen Bänden mit liturgischen Beispieltexten eindrucksvoll vor Augen geführt.231 Er selbst sagt einmal über seine Art, Gebetstexte zu verfassen: „Innerhalb des Kraftfeldes der Schrift versuche ich zu schreiben.“232 Was ihn und seine Versuche liturgischer Sprachfindung kennzeichnet, ist das Weben biblischer Textkomplexe durch die intertextuelle Verknüpfung von unterschiedlichen Bibelstellen einerseits, das oftmals spielerische und leichte Cross-over zwischen biblischer Sprache und Alltagssprache der Gegenwart andererseits.233 Ich kann hier nur exemplarisch auf einen der neuesten Bände hinweisen und nehme daraus ein einziges Beispiel auf, das „Auferstehungsgebet“ unter dem Titel „O Herr 230

Zitiert nach www.leipzig.velkd.de/prospekt-frenswegen.pdf [Zugriff vom 7.8.2009]. Vgl. KOK: Vorwort, 6, der meint, es entstehe bei Oosterhuis immer „ein Text, der seine Wurzeln in der biblischen Überlieferung hat.“. 232 OOSTERHUIS: Ich steh vor dir, 19. 233 Vgl. OOSTERHUIS: Ich steh vor dir, 138f: „Liturgie ist eine Collage von Bildern und Gleichnissen. Worte rufen andere Worte hervor […].“ 231

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Gott“.234 Dieses Gebet arbeitet leitmotivisch mit Ex 34,6f: „O Herr Gott, / erbarmend, gnädig, langmütig, / reich an Liebe / bis ins tausendste Geschlecht […]“ – ein Vers, der im Judentum große Bedeutung erlangte und von Oosterhuis als Refrain, den er immer wieder auch verwandelt, verwendet wird.235 Heilsgeschichtlich verbindet das Gebet die Erinnerung an Gottes Handeln am Volk seines Bundes mit der Erinnerung an die Auferstehung Jesu und der Hoffnung auf ein erneutes erfahrbares Handeln Gottes in unserer Gegenwart. So heißt es im ersten Drittel des Gebets diese drei Aspekte verbindend: „Send uns den Engel / deines Namens, / einen Mann wie Mose, / Jesus von Nazareth, / einen Menschen wie du. / Führe uns fort / bis dorthin, wo du bist / alles in allen.“236 Die zitierte Strophe zeigt zugleich, wie hier nicht nur Mose, Jesus und unsere Gegenwart miteinander versprochen werden, sondern immer wieder biblische Sprache in den Gebetstext aufgenommen wird – hier 1Kor 15,28 („alles in allen“). Nur aus einer weiteren Strophe zitiere ich einige Worte, da in ihnen deutlich wird, wie Oosterhuis so von „Auferstehung“ spricht, dass er dieses abstrakte Wort nicht gebrauchen muss, sondern in Bildern und Metaphern verweilen kann, die ihm die biblische Sprache vorgeben: „[…] Bei dir ist nichts unmöglich. / Wälze den Stein von uns ab; / setze uns gerade, aufrecht, / richte unsere Füße, / führe uns aus unwegsamem Abgrund / zu einem Wohnort von Licht.“237

Für Oosterhuis ist klar: „Die Bibel, in allen Tonarten gespielt und gesungen – das ist jene Kunst, die ‚Liturgie‘ genannt wird.“238 Diese Perspektive scheint mir für einen evangelischen Gottesdienst als WortKult bleibend bedeutsam. (b) In den USA wird eine Erneuerung der gegenwärtigen Liturgiesprache ebenfalls von zahlreichen Theologinnen und Theologen durch den Rückgriff auf biblische Sprache erwartet. Ich greife nur ein besonders plakatives Werk heraus: Das von Maxie Dunnam und John David Walt jr. verfasste Buch „Praying the Story. Learning Prayers from the Psalms“ wirbt auf der Titelseite mit der nicht wenig reißerischen Zeile: „Recovering the lost art of pastoral prayer“. Auch wer das reißerisch-plakative Bild, in dem die Kunst des liturgischen Gebets als ‚verloren‘ bezeichnet und auf diesem Hintergrund eine Erneuerung verheißen wird, nicht teilt, wird in dem Buch doch eine interessante Perspektive der Entdeckung biblischer Sprache für das Gebet der Gegenwart finden: Es ist dies die hermeneutische Perspektive, die als Ziel formuliert: durch das in biblischen Sprachformen gestaltete Gebet ist es möglich, hineingenommen zu werden in die „Story“, in die heilsgeschichtliche Bewegung, der sich christlicher Glaube und christliche 234

Vgl. OOSTERHUIS: Du Atem meiner Lieder, 98–101. Vgl. OOSTERHUIS: Du Atem meiner Lieder, 98–101 [auf jeder der genannten Seiten findet sich der Refrain einmal in gesungener oder gesprochener Form]. 236 OOSTERHUIS: Du Atem meiner Lieder, 99. 237 OOSTERHUIS: Du Atem meiner Lieder, 100. 238 OOSTERHUIS: Im Vorübergehen, 141. 235

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III. Liturgische Inszenierung des verbum externum

Hoffnung verdanken. „[…] worship is a narrative journey of remembering into the future.“239 Die Psalmen der Bibel werden zu Sprachlehrern für eine solche narrative Reise der Erinnerung in die Zukunft hinein.240 Der Grundgedanke dieser Hermeneutik ist konstruktivistisch: „The world we construct in worship determines the world we inhabit with our lives.“241 Damit ist dem gemeinsamen Gebet von vornherein auch eine ethische Stoßrichtung eingeschrieben. Das Weiterführende an dieser ethischen Perspektive liegt m.E. darin, dass sie eine problematische Unterscheidung von ‚Gebet‘ und ‚eigentlicher Aktivität‘ vermeidet. Im Gegenteil heißt es: „Prayer isn’t preparation for the battle; prayer is the battle.“242 Eine solche Sicht auf das Gebet spricht der Art und Weise der Weltwahrnehmung bereits eine konstitutive Rolle für die Art und Weise des Umgangs mit der Welt zu. Eine Trennung, die zunächst im Gebet nur um die hilfreiche Motivation bittet und damit Gott in die Rolle des ‚Coaches‘ drängt (wie sie zahlreiche Fürbittgebete prägt), ist damit von vorneherein ausgeschlossen. Das Buch von Dunnam und Walt versammelt in seinem Hauptteil verschiedene Anregungen zu Gebeten auf der Grundlage von biblischen Psalmen durch das Kirchenjahr hindurch. Die Aufforderung „Get creative, church“243 wird dabei zur Vorgabe für unterschiedlichste Formen der Gestaltung. So finden sich in dem Buch Anregungen für Gebete mit Gestik, für unterschiedliche Arten der Wechselrede von Gemeinde und Vorbeter/in etc. Die Kunst bei der Entdeckung der Biblizität der Gebetssprache liegt – und das zeigen die hier kurz vorgestellten Versuche – darin, die biblischen Sprachvorgaben mit der Sprache unserer Gegenwart so zu ‚ver-sprechen‘, dass sich in dieser Wechselseitigkeit ein Mehrwert ergibt. Ruth C. Duck schreibt: „The creative voice in Christian worship expresses contemporary concerns; yet it also draws on the words of scripture.“ Und weiter: „Wor-

239 DUNNAM/WALT: Praying the Story, 3; vgl. auch aaO., 13: „Through prayer, we believe God is narrating us more deeply into the story of salvation.“ 240 Dabei spielt eine liturgisch kaum beachtete und auch sonst häufig überlesene ‚Kleinigkeit‘ in den Psalmen für die beiden Autoren eine entscheidende Rolle: die Hinweise auf die Verortung der Psalmen in narrativem Zusammenhang durch die Zuschreibung im ersten Verses „Von David, als …“, vgl. DUNNAM/WALT: Praying the Story, 7. – Nur anmerken kann ich hier, dass sich die hohe Sensibilität der Amsterdamer Theologie für Fragen des christlich-jüdischen Miteinanders nicht in gleicher Weise in dem Buch von Dunnam und Walt spiegelt; hier wird Heilsgeschichte sehr viel einliniger konstruiert. 241 DUNNAM/WALT: Praying the Story, 1. 242 DUNNAM/WALT: Praying the Story, 2 [im Original hervorgehoben]. 243 DUNNAM/WALT: Praying the Story, 68.

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ship is the primary context in which the church enters in dialogue with scripture […].“244 (3) Die Poetizität der Liturgiesprache Friedrich Schleiermacher brachte die Unterscheidung von Poesie und Prosa wie folgt auf den Punkt: „Der allgemeine hermeneutische Unterschied zwischen Poesie und Prosa ist der, daß dort das Einzelne als solches seinen besonderen Werth haben will, hier das Einzelne nur im Ganzen, in Beziehung zu den Hauptgedanken.“245 Damit ist sicherlich nur ein Aspekt der Unterscheidung von „Poesie“ und „Prosa“ im Blick, der allerdings für die Frage nach der Sprache der Liturgie Bedeutung hat. Im Sinne Schleiermachers wäre die Sprachform der Prosa eine, die auf „Hauptgedanken“ zuläuft und diese bestimmt; die Sprachform der Poesie hingegen bleibe beim Einzelnen und verzichte auf die Einordnung ins Große und Ganze. Nicht unähnlich versucht Gail Ramshaw Poetisches von übriger Sprache zu unterscheiden. Sie schreibt: „What makes poetry into poetry these days is not adherence to a form, but rather the degree to which words are used metaphorically rather than discursively.“246 Wenn die Sprache der Liturgie – wie oben beschrieben – als eine Sprache bezeichnet werden kann, die unterwegs bleibt und nicht vorschnell zu greifen versucht, was bestenfalls in gehöriger denkerischer Abstraktion zu greifen ist, dann wird es sich um eine Sprache handeln, die tastend unterwegs ist, nach Bildern sucht, dazu in der Bibel und im Alltag fündig wird und entsprechend formuliert. Die amerikanische Professorin Ruth C. Duck hat die Bedeutung der bildhaft-poetischen Sprache für den Gottesdienst in einigen Veröffentlichungen betont.247 Sie schreibt: „Imagery is central to the creative voice in worship. Concrete imagery holds people’s interest more than abstract concepts do […]. Although it engages our attention, imagery is more than a rhetorical device or ornament. Through imagery, ideas are 244 DUCK: Finding Words for Worship, 5f. – Eine sprachlich und theologisch anregende Sammlung von Gebeten, die sich als biblische Kollekten verstehen, sind in dem Band „Revised Common Lectionary Prayers“ (2002) versammelt. Sie lehnen sich unmittelbar an die Sprachwelt der in den drei Lesejahren aufgerufenen biblischen Texte an und führen diese im Gebet weiter. Um nur ein Beispiel für die Art und Weise dieser Gebete zu geben, zitiere ich ein Gebet zu Proper 12, Lesejahr 1 (Gen 29,15–28; Ps 105,1–11.45b oder Ps 128; Röm 8,26–39; Mt 13,31–33.44–52): „Seed-planting, fish-netting, bread-baking, pearl-hunting God, / you shape us into living parables. / Pray with your Spirit in us / so that we may understand our experiences / as healing metaphors, / and become creative and abundant stewards / of the environment you entrusted to our love. Amen“ (165). 245 SCHLEIERMACHER: Hermeneutik und Kritik, 98. 246 RAMSHAW: Worship, 109. 247 Vgl. nur den Sammelband DUCK: Finding Words for Worship.

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embodied and given shape in terms of everyday reality. Imagery can engage the imagination so that worshippers do not simply think about what is said, but participate in it.“248

Duck betont die partizipatorische Kraft einer bildreichen, poetischen Liturgiesprache.249 Im Kontext meiner Überlegungen zum verbum externum wäre daneben und darüber hinaus die Kraft poetischer Sprache, übliche Wahrnehmung zu ‚erschüttern‘ und über das hinauszuführen, was ohnehin bekannt ist, zu nennen. Poetische Sprache ist nicht auf den abstrakt erhobenen ‚Sinn‘ zu reduzieren, sondern weist auf das Nicht-Verstandene und niemals Verstehbare, auf das Ambiguitäre, das übliche Wahrnehmungen durcheinander bringt,250 und auf das, was in diesem Sinne „höher ist als alle Vernunft“ (Phil 4,7)251 – ohne freilich das Nicht-Verstehen als solches zu zelebrieren und den Gottesdienst so in eine Veranstaltung gehoben kultureller Avantgarde zu verwandeln. Die US-amerikanische Liturgikerin Gail Ramshaw, die in ihren Publikationen das Poetische als die eigentliche Art und Weise der Liturgiesprache bezeichnet und dies mit dem Metaphorischen verknüpft,252 sieht in diesem Zusammenhang zwei große Aufgaben für die liturgische Sprachentwicklung der Gegenwart: Die Sprache müsse inklusiv und metaphorisch werden.253 Damit ist bei Ramshaw im Blick, was ich hier unter dem Stichwort der Poetizität andeute, gleichzeitig richtet sie aber auch ein Warnsignal auf. Inklusivität und Metaphoralität der Sprache beschreiben die Pole eines Spannungsfeldes. Ramshaw schreibt: „[…] liturgy is not poetry. Liturgy includes the communal recitation of the central metaphors of the faith, but liturgy is grounded in the assembly in a way that most poetry is not. The liturgy is the expression of all the people of God, and all those people need to have their voices heard. This goal we call here inclusivity.“254 248

DUCK: Finding Words for Worship, 33. Vgl. ähnlich auch Frieder Schulz, der von der „erschließende[n] und mitnehmende[n] Kraft verdichteter und gestalteter Sprache“ als Kennzeichen des Poetischen spricht (SCHULZ: Zur poetischen Qualität liturgischer Texte, 2). 250 Vgl. RAMSHAW: Worship, 110. 251 Vgl. RAMSHAW: Worship, 152f. – Vgl. auch STOCK: Liturgie und Poesie, 13: „Das Poetische ist, wie schon in der Romantik, kein Weg hinter die Aufklärung zurück, sondern über sie hinaus.“ 252 Vgl. nur RAMSHAW: Worship, 109–116; vgl. dies.: Reviving Sacred Speech, bes. 1–10. 253 Vgl. RAMSHAW: Liturgical Language, 7 und passim. – Eine vergleichbare Aufgabe für die Liturgiesprache konturiert auch Vera-Sabine Winkler. In Auseinandersetzung mit der Lyrik Hilde Domins sowie deren Poetik entwickelt Winkler Perspektiven einer liturgischen Sprache, die Erfahrungen verdichten und aufgrund ihrer „unspezifische[n] Genauigkeit“ (vgl. WINKLER: Leise Bekenntnisse, 127–165) jenseits der bloß funktionalen Abbildung in intertextuelle Schwingungsräume versetzen kann, die das Potential haben, die Fragmentarität des Lebens zu überwinden. 254 RAMSHAW: Liturgial Language, 10. 249

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„Metaphoric inclusivity“ könne in der Perspektive der Rhetorik als Oxymoron gewertet werden – als eine Art unmöglicher Möglichkeit, da die metaphorische Rede die intendierte Inklusivität auf den ersten Blick ausschließe.255 Genau dieses prima vista bestehenden Widerspruchs nimmt sich Ramshaw dann aber in ihren Publikationen an und zeigt, dass sich heute für die Gestalt der Liturgie Verantwortliche verhalten müssten wie der Hausvater, von dem Jesus in Mt 13,52 erzählt: „[…] aus seinem Schatz“ holt er „Neues und Altes“ hervor – für Ramshaw ein Gleichnis für die liturgische Sprachfindung, die aus dem Schatz der Tradition und aus der Bibel schöpfen und das dort Begegnende mit neuen Herausforderungen und Notwendigkeiten (wie z.B. der Überwindung eines einseitig männlichen Gottesbildes!) verbinden müsse.256 Dies aber immer so, dass insgesamt der poetische (respektive metaphorische) Charakter der Liturgie erhalten bleibe: „The liturgy is not primarily a discursive dialogue that outlines coherent facts about faith. It is rather a sustained metaphor in which language, body, movement, music, architecture, and art simultaneously play on biblical, traditional, and contemporary images and themes in an effort – never totally successful, always flaw and partial – to receive God in the world.“257

(4) Die Theatralität der Liturgiesprache Das Zitat von Gail Ramshaw macht zugleich aufmerksam auf einen Aspekt, der bei der Frage nach liturgischer Sprachfindung unbedingt mit zu bedenken ist. Liturgische Sprache dient nicht der lektoralen Rezeption, sondern der Aufführung, der Performance. Um sie wahrzunehmen, genügt daher ein einseitig linguistisches Modell nicht. Dieter Mersch hat – wie oben erwähnt (Kap. 5.1.2.2) – auf ein „theatrales Modell“ der Sprachwahrnehmung und ein Denken in Szenen hingewiesen.258 Dieses nimmt nicht nur die Texte in ihrem propositionalen Gehalt wahr, sondern gleichzeitig auch „Handelnde, Schweigende und Zuhörer“, aber auch „Gesten, Stimmen, Körper und die ‚Leere‘ zwischen ihnen.“ Szenen erweisen sich damit „als Ereignis der spezifischen Konfiguration ihrer Momente“.259 M.E. ist es ein solches, ‚theatrales‘ Modell, das für die Sprache der Liturgie Beachtung finden muss. Nicht nur die einzelnen Sätze werden dann wichtig, nicht die Sprache, wie sie auf dem Papier steht, sondern die Spra255

Vgl. RAMSHAW: Liturgical Language, 11. Vgl. RAMSHAW: Liturgical Language, 41–45. 257 RAMSHAW: Worship, 111. 258 MERSCH: Performativität und Ereignis, 6. 259 MERSCH: Performativität und Ereignis, 6. 256

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che, wie sie sich im Vollzug ereignet. Mit diesem Modell der Betrachtung werden dann auch scheinbare Kleinigkeiten liturgisch aufs höchste relevant. Nur auf eine will ich eingehen, die sowohl von Joseph Ratzinger als auch von Martin Nicol in ihrer jeweiligen Liturgik aufgegriffen wird: die Stellung des Liturgen/der Liturgin am Altar beim Gemeindegebet, wie sie seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil durch die flächendeckende Einführung von sogenannten „Volksaltären“ im Katholizismus üblich ist und wie sie mehr und mehr auch im protestantischen Bereich eingeführt wurde. Ratzinger erläutert die – durchaus bemerkenswerte – Entwicklung der Idee des Gebets versus populum, die sich aus einer falsch interpretierten liturgischen Besonderheit argumentativ gespeist habe. So sei im Petersdom schlicht aufgrund der topographischen Gegebenheiten der Altar so installiert worden, dass der amtierende Priester nach Westen blickte. Diese Ausrichtung habe man dann – mit anderen Argumenten – im Zweiten Vatikanischen Konzil zur Basis der generellen Umkehrung der Gebetsrichtung des Priesters gemacht.260 Für Ratzinger sprechen zwei Aspekte entschieden gegen die Haltung versus populum: zum einen (ein für Ratzinger sicher erstaunliches Argument) die „Klerikalisierung“261, die dadurch eingetreten sei, dass nun alle auf den Priester ausgerichtet wurden und dieser rein optisch zum Gegenüber der Gemeinde wurde. Zweitens aber schließe sich die Gemeinde mit dem sie anblickenden Priester „zu einem in sich geschlossenen Kreis“; ihre Ausrichtung nach vorne, nach Osten, auf den wiederkommenden Christus hin, gehe dadurch verloren.262 – Ratzinger möchte nun nicht einen Rückbau der Volksaltäre erreichen, aber er lenkt auf einen liturgisch sensiblen Umgang mit der neuen Haltung hin. Sein Vorschlag: Der Priester möge das Altarkreuz anblicken, nicht aber beim Gebet in die Gemeinde sehen, sodass das Altarkreuz zum „gemeinsame[n] Blickpunkt für den Priester und für die betende Gemeinde“ werden kann.263 Auch Martin Nicol schließt sich evangelischerseits der Argumentation von Ratzinger an und plädiert für eine Gebetshaltung zum Altar, die Gemeinde und Vorbeter/in, beide, gleichmäßig nach Osten hin ausrichtet und so zum Ausdruck bringt, dass es jetzt nicht um die Kommunikation innerhalb der Gemeinde, sondern um die Gottmenschliche Wechselrede und den gemeinsamen Adressaten – Gott – geht. Die Gemeinde müsse wissen, wohin sich ihr Gebet richtet: „nicht in die Stille des Äthers, nicht in die eigene Psyche und nicht in die Mitte der Gruppe, sondern zum Herrn, der ihr entgegenkommt und dem sie entgegengeht.“264

Scheinbare Kleinigkeiten erweisen sich in einem theatralen Modell des Sprechens als theologisch bedeutsam; die Form verweist auf den Inhalt – und umgekehrt. Damit gilt dann freilich auch, dass liturgische Sequenzen 260

Vgl. RATZINGER: Der Geist der Liturgie, 66–68. RATZINGER: Der Geist der Liturgie, 69f [Zitat: 69]. 262 RATZINGER: Der Geist der Liturgie, 70. 263 RATZINGER: Der Geist der Liturgie, 73. 264 NICOL: Weg im Geheimnis, 236; vgl. zur Argumentation insgesamt aaO., 234–237. 261

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und die Art und Weise, wie sie gesprochen werden, der Übung bedürfen. Nicht nur Thomas Kabel265, sondern auch das amerikanische und reformierte „Worship Sourcebook“ verwundern sich – freilich in anderer Sprache, sonst aber beinahe wortgleich – über die Tatsache, dass ein Schauspieler oder Musiker eine vergleichsweise bescheidene Rolle von wenigen Minuten intensiv proben würde, ein Liturg aber meint, ohne liturgische Probe agieren zu können.266 (5) Die Theologizität der Liturgiesprache Dieser fünfte und letzte Aspekt könnte auch als grundlegender und erster genannt werden. Zu suchen ist bei allen Versuchen liturgischer Sprachfindung eine Sprache, die das Spezifische der Liturgiesprache im Blick behält – und dieses liegt, mit Andreas Mauz formuliert, darin, „weniger über ihn als zu ihm“ zu sprechen,267 und so einzutreten in den Gott-menschlichen Wortwechsel. Das Spannungsfeld, in dem sich liturgische Sprache dann bewegt, scheint mir durch die beiden Pole der „Bescheidenheit“ einerseits, des „Wagemuts“ andererseits aufgespannt. Bescheidenheit, die darum weiß, dass kein einziges Wort und keine einzige Geste des liturgisch Handelnden Gottes Gegenwart theurgisch herbeizwingen kann; sie bleibt Gabe, die nur solange wirklich Gabe ist, als sie geschieht; sie bleibt Hoffnung, ohne die die Liturgie ein leeres Spiel wäre. Der Wagemut andererseits ergibt sich dort, wo sich Menschen bewusst sind und bleiben, dass sie nicht weniger unternehmen als von Angesicht zu Angesicht mit dem HERRN zu reden – wie es im Kontext des Alten Testaments nur Mose möglich war (vgl. Ex 33,11). Von Annie Dillard stammt der in dem 2004 erschienenen „Worship Sourcebook“ des „Calvin Institute of Christian Worship“ abgedruckte Satz: „I often think of the set pieces of liturgy as certain words which people have successfully addressed to God without their getting killed.“268 Bescheidenheit, weil wir das Entscheidende trotz aller Bemühungen nicht erreichen, und Wagemut, weil wir das Größte unternehmen, was Menschen unter der Sonne sich wagen können – ich profiliere diese beiden Aspekte, indem ich einerseits auf das Changieren liturgischer Sprache zwischen einem Modus der Direktheit und der Indirektheit, zwischen Präsenz und Absenz hinweise, andererseits auf eine problematische Art des verschleiernden Redens, die ich als ‚theologischen Voluntativ‘ charakterisiere. 265

Vgl. KABEL: Handbuch Liturgische Präsenz, 15f. Vgl. The Worship Sourcebook, 21. 267 MAUZ: Ceci n’est pas un Messie, 163. 268 The Worship Sourcebook, 21. 266

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(1) In den Psalmen begegnet häufig ein Phänomen, an das sich die Augen und Ohren der meisten Rezipienten schon so gewöhnt haben, dass es kaum mehr eigens auffällt: Im Kontext der dort gesammelten Gebete wechselt die Rede- und Anredesituation innerhalb weniger Verse mehrfach hin und her.269 Ich erwähne als ein Beispiel nur den oben bereits angeführten Ps 12: Der Psalm beginnt mit einer unmittelbaren Anrede: „Hilf, HERR!“ und setzt sich mit einer anschließenden Situationsbeschreibung gegenwärtiger Not fort (V. 2f). In V.4f wechselt der Psalm in eine indirekte Aufforderung an den HERRN über: „Der HERR wolle ausrotten …“ Ein erneuter Wechsel der Redeperspektive ergibt sich in V. 6, wo der HERR selbst mit einem Wort ‚zitiert‘ wird: „[…], spricht der HERR, ‚ich will Hilfe schaffen dem, der sich danach sehnt.‘“ Es schließt sich in V. 7 ein Bekenntnis des Beters zur Verlässlichkeit der Worte des HERRN an, gefolgt von einer erneuten Anrede an den HERRN in V. 8f: „Du, HERR, wollest sie bewahren …“ Damit ergibt sich ein chiastischer Aufbau um den zentralen Gottesspruch herum:270 V. 2f: Hilferuf an JHWH V. 4f: Wunsch an JHWH V. 6: Spruch JHWHs V. 7: Bekenntnis zu JHWH V. 8f: Vertrauensvolle Bitte an JHWH Der Psalm führt unterschiedliche Sprachformen zusammen, und es wird ein dramatisch-liturgisches Geschehen knapp verdichtet: „2–5 enthält typische Äußerungen eines Klageliedes. 6 ist ein (durch den Priester oder Kultpropheten) vorgetragener Gottesspruch. 7–9 äußert in teilweise hymnisch klingender Ausdrucksweise das Vertrauen zu Jahwes gegebenem Wort (6).“271 Insgesamt ergibt sich damit eine Sprache des Psalms, bei der verschiedene Haltungen Gott gegenüber und verschiedene Weisen der Erfahrung der Nähe bzw. Ferne Gottes zum Ausdruck kommen.

Was der Psalm vor Augen führt, ist ein Geschehen, das auch in der Liturgiesprache vorkommt und für die Gestaltung der Liturgie künftig noch mehr Beachtung finden könnte. So spricht die Gemeinde etwa in der im Evangelischen Gottesdienstbuch „Vorbereitungsgebet“ genannten Sequenz gemeinsam den Satz: „Der allmächtige Gott erbarme sich unser. Er vergebe uns unsere Sünde und führe uns zum ewigen Leben. Amen.“272 Es ist dies ein Satz, der zwischen direkter Anrede und einem Reden-Über schwankt und mit der Verbform „erbarme sich unser“ als Optativ bezeichnet werden kann. Die Erkenntnis der Entfernung des Menschen von Gott, die Erkenntnis der eigenen Sünde erlaubt an dieser Stelle wohl keine direktere Anrede. 269

Vgl. dazu auch PAHL: Wie heute sprechen in der Liturgie, 114. Vgl. ähnlich auch KRAUS: Psalmen, 1. Teilband, 94. 271 KRAUS: Psalmen, 1. Teilband, 94. 272 Evangelisches Gottesdienstbuch, 65. 270

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In der bayerischen Fassung des Vorbereitungsgebetes endet die Einleitung zudem mit einem Zitat aus Lk 18,13. Die Worte des Zöllners im Tempel: „Gott, sei mir Sünder gnädig.“ werden hier aufgenommen und in den folgenden Zusammenhang gebracht: „Aus eigener Kraft können wir nicht frei werden. Darum sehen wir auf Christus und beten: Gott, sei uns Sündern gnädig.“273 Das ‚Wagnis‘ direkter Anrede erscheint hier nur möglich im Zitat eines biblischen Textes (das zumindest von den biblisch Versierten mitgehört werden wird).274 Es gilt die Frage zu reflektieren, wie ‚direkt‘ Gott im liturgischen Reden angesprochen werden kann und soll, wo und wie seine Gegenwart gelobt oder seine vermisste Gegenwart beklagt werden kann und muss, wo er selbst mit seinem Wort das Wort ergreifen kann. Es gilt, das In- und Miteinander von Bescheidenheit und Wagnis, von Absenz und Präsenz auch sprachlich zu gestalten und von den Vorgaben der Tradition im Blick auf eigene Gebetsformulierungen zu lernen. (2) Ein Charakteristikum pastoralen Redens ist so verbreitet, dass es vermutlich gegenwärtig kaum mehr eigens auffällt. Ich meine, seine weite Verbreitung lohne die Einführung einer eigenen Begrifflichkeit und spreche von dem theologischen Voluntativ, wobei ich mich sprachlich an Engemanns Prägung des „homiletischen Lassiv[s]“ anlehne.275 Der theologische Voluntativ begegnet in Wendungen wie „Gott, du willst uns trösten …“ oder „Gott, du willst uns in deine Nachfolge rufen …“ Seinen Ursprung hat er wohl im häufigen Gebrauch des mit Formen von „wollen“ gebildeten Futurs in den deutschen Bibelausgaben – allen voran in der Luther-Bibel. Da heißt es etwa in Jes 57,18: „Ihre Wege habe ich gesehen, aber ich will sie heilen und leiten und ihnen wieder Trost geben …“ Im hebräischen Original steht hier eine Form des Imperfekts, die Vulgata hat Formen des Futurs, und einer üblichen Sprachform im gegenwärtigen Deutsch entspräche es daher zu übersetzen: „Ihre Wege habe ich gesehen, aber ich werde sie heilen und leiten und ihnen wieder Trost geben …“ Im Blick auf die Übersetzung einer biblischen Gottesrede ist der Unterschied zwischen einem „Ich will“ und einem „Ich werde“ nur graduell. Wenn die entsprechende Wendung aber in die Anrede des Gebets gezogen wird, verändert sich die Aussage deutlich. Würde gebetet: „Gott, du wirst uns trösten …“ bzw. „Gott, du wirst uns in deine Nachfolge rufen“, so wäre damit Anderes gesagt und würde Anderes gehört als bei den beiden oben 273

EG (Bayern/Thüringen), 675, [Seite] 1139. Vgl. zu der Sequenz auch NICOL: Weg im Geheimnis, 269f. 275 Vgl. ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 67–69; im Blick auf das Gebet machte Alfred Zillessen bereits 1909 eine vergleichbare Beobachtung, vgl. ZILLESSEN: Ein Kapitel vom liturgischen Gebet, 401. 274

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zitierten und mit „willst“ konstruierten Sätzen. Die Aussage wäre eine weit direktere, gewagtere – und jede/e Liturg/in müsste sich fragen, ob er oder sie tatsächlich so reden könnte. Noch deutlicher wäre dies, wenn die Sprachform im Präsens gewagt würde: „Gott, du tröstest uns …“ oder „Gott, du rufst uns in deine Nachfolge …“ Das entscheidende Problem aber ergibt sich in der notwendigen Rezeption durch die Hörerinnen und Hörer. Im Kontext der „Du willst“-Formulierung bleiben die Aussagen nicht nur einigermaßen distanziert, vielmehr werden sie zu Aussagen, die durch die Schaltstelle des ‚starken‘ Subjekts verifiziert werden müssen. „Gott will“ zwar vielleicht trösten, wenn ‚ich‘ diesen Trost aber nicht erfahre, dann könnte – und an dieser Stelle würde das Subjekt deutend aktiv – es an mir und meiner Unwürdigkeit oder an Gott und seiner Unfähigkeit liegen. Die Aussage über Gottes Handeln wird durch den theologischen Voluntativ in eine vom Subjekt zu bewährende bzw. zu beurteilende Aussage gezogen. Die Theologizität der Gebetssprache konstitutiv mit in die Überlegungen zur Formulierung einzubeziehen, würde an dieser Stelle bedeuten, sehr viel genauer, als dies oftmals geschieht, nach der Sprechrichtung und den Sprachformen zu fragen und diese im Wechselspiel von Bescheidenheit und Wagemut immer neu auszubalancieren. 6.3.2.5 Das gegessene und getrunkene WORT:276 Zum Abendmahl als Teil des WortKults Auf die Problematik der evangelischen Doppelformel „Wort und Sakrament“ wurde bereits oben (Kap. 5.3.1) hingewiesen. Sie besteht in der wechselseitigen Vereinseitigung und Vereindeutigung der beiden ‚Teile‘ des Gottesdienstes und lässt sich an Entwicklungen in der Abendmahlspraxis der vergangenen Jahre ablesen, die vielfach als der Versuch gelesen werden können, das Abendmahl in seiner sinnlichen Erlebnisqualität zu steigern.277 Was umgekehrt vergessen zu werden droht, ist die Sakramentalität des Wortes, wie sie bei Luther konzipiert wurde, die Möglichkeit, dass in, mit und unter den Worten das WORT hörbar wird. Wenn das Abendmahl als potenzielles WORT-Geschehen im Kontext der übrigen Handlungsvollzüge im Gottesdienst bedacht wird, entfällt zunächst die Notwendigkeit, es theologisch im Gegenüber zu diesen hervorzuheben – etwa, indem mit einer besonderen Dichte der Gottespräsenz im Abend276

Vgl. ASMUSSEN: Die Lehre vom Gottesdienst, 34 [im Original hervorgehoben]: „Die Sakramente sind in dem Sinne Gottes Wort an uns, als in ihrem mit dem Worte der Schrift verbundenen Vollzuge Jesus Christus unter den Zeichen selbst sich uns darreicht und wir dadurch von ihm angenommen oder zum Gericht bereitet werden.“ 277 Vgl. zahlreiche der bei DOMAY: Abendmahl, dokumentierten Texte und Liturgievorschläge.

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mahl gegenüber den anderen liturgischen Sequenzen gerechnet würde. Gleichzeitig aber erhält das Abendmahl seine besondere Bedeutung, da es im Wechselspiel von Wort und Kult am deutlichsten die Seite des Kults repräsentiert (wie umgekehrt die Predigt am deutlichsten auf der Wort-Seite zu stehen kommt). Anders formuliert: Der Verfremdungseffekt des Wortes könnte kaum größer sein als im Vollzug des Abendmahls – und dies in mehrfacher Hinsicht. Der Liturg/die Liturgin ist nicht in seiner Persönlichkeit gefragt, sondern ordnet sich (bei einer Feier in agendarischer Gestalt) den vorgegebenen Worten und Handlungssequenzen unter. Vielfach wird auch in evangelischen Liturgietraditionen, in denen sonst wenig gesungen wird, die Abendmahlssequenz (oder gewichtige Teile davon) singend gestaltet – ein Hinweis auf die andere Art der Wortgestaltung und Wortrezeption. Für die Zeit der Abendmahlsliturgie entfällt die Anrede an die „Liebe Gemeinde“, vielmehr ereignet sich im Wechselspiel von Gemeinde und Liturg eine Verschiebung der Raum- und Zeitkoordinaten. Die feiernde Gemeinde versetzt sich mit hinein in das Lob der himmlischen Heerscharen vor dem göttlichen Thron und stimmt schon jetzt in das Sanctus ein, das als himmlischer und überzeitlicher Lobgesang erklingt. Gleichzeitig wird das vergangene Geschehen des letzten Mahles Jesu mit seinen Jüngern anamnetisch vergegenwärtigt. Die Nacht des Gründonnerstags in Jerusalem wird zum „hic et nunc“. Die Worte „Das ist mein Leib“, gesprochen über der Hostie, „Das ist mein Blut“, gesprochen über dem Kelch, sind semantisch für den neuzeitlichen Menschen kognitiv nur als ‚significat‘ zu fassen; das lutherisch betonte „est“ markiert jenen Punkt, wo die kognitive Rezeption an ein Ende kommt. Wie überhaupt kurz danach ohnehin jedes Wort an sein Ende kommt – und es im Essen und Trinken um ein menschliches Handeln jenseits von „Reden und Schweigen“ geht, wie Martin Nicol betont.278 Er schreibt:„[…] Essen und Trinken. Eine ebenso alltägliche wie wunderbare Zeichensprache. Das Geheimnis wird sozusagen dort essbar und trinkbar, wo es noch nicht sagbar ist.“279 Essend und trinkend kann auf das WORT gewartet und gehofft werden – in Brot und Wein. Ja, noch mehr: Wenn das WORT Fleisch wurde und das lutherische ‚est‘ gilt, dann ist dieses WORT nun essbar und trinkbar geworden als Christi Leib und Christi Blut. Manfred Josuttis hat diesen Aspekt des Abendmahls in Aufnahme verhaltenswissenschaftlicher Überlegungen betont: „Menschen essen ein Stück Brot und trinken einen Schluck Wein.

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Vgl. auch BACHL: Essen und Trinken als sakramentales Handeln. – Bachl möchte die begriffliche Verschleierung und „ästhetische Verbergung“ (aaO., 33), die das Essen im Abendmahl zu einem Vollzug fernab jeder konkreter Nahrungsaufnahme macht, zurücknehmen und so die Leiblichkeit und Materialität des Essens im Mahl wiedergewinnen. 279 NICOL: Weg im Geheimnis, 112.

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III. Liturgische Inszenierung des verbum externum

[…] Die Kommunikanten inkorporieren den Leib des Erlösers und werden in diesen Leib ihrerseits inkorpiert.“280 Gegenüber dieser Sicht des Geschehens im Abendmahl mutet der in den vergangenen Jahren intensiv geführte Streit um den Verkündigungscharakter der Einsetzungsworte mindestens merkwürdig an, wie er vor allem durch die Thesen der Kirchengeschichtlerin Dorothea Wendebourg geprägt wurde. Für Wendebourg gilt es, sehr vereinfacht gesagt, daran festzuhalten, dass die biblischen Einsetzungsworte als Worte der Verkündigung an die Gemeinde aufgefasst und entsprechend liturgisch gestaltet werden und d.h. umgekehrt: dass sie nicht in das eucharistische Gebet integriert werden.281 Es ist das ‚protestantische‘ Bedürfnis, das Wort in seiner ‚Reinheit‘ gegenüber dem Kult zu sichern, das sich bei Wendebourg einen kirchengeschichtlich-systematischen Ausdruck verschafft. In der Perspektive des evangelischen Gottesdienstes auf dem Weg zum WORT und in der Erwartung des WORTES relativiert sich diese Auseinandersetzung. 6.3.2.6 Das Wort und das Schweigen: Zum Weißraum im WortKult Es ist wohl nicht übertrieben, die radikalste Weise des Verfremdungseffektes des Wortes durch den Kult als das Schweigen zu profilieren. In einer gegenwärtigen evangelischen Gottesdienstkultur, der die Tendenz zur Verbalisierung und Homiletisierung bis hin zur verbalen Verdoppelung (vgl. oben Kap. 2.2.3.1 (3b)) nicht abzusprechen ist und deren Akteure vielfach bemüht sind, Freiräume zu füllen, statt sie bewusst zu eröffnen, ist die Entdeckung der Stille vielleicht das, was gegenwärtig besonders not tut. KarlHeinrich Bieritz schreibt: „Der Gottesdienst [gemeint ist zunächst ein einzelner, aus der Literatur beschriebener Gottesdienst, AD] hat durchgängig eine literarische Gestalt, ist gelesenes, vorgelesenes, abgelesenes, aber nicht eigentlich freies, mündliches Wort. […] Rede-Pausen werden kaum zugelassen. Allenfalls dann, wenn die Orgel auf ihre Weise ‚spricht‘, schweigen die Worte. Der Gottesdienst vollzieht sich in einem ununterbrochenen Rede-Fluß.“282

280

JOSUTTIS: Der Weg in das Leben, 297. In den Liturgievorgaben des EGb kann die Grundfrage an der Konjunktion „denn“ abgelesen werden, die aaO., 114, fakultativ mit abgedruckt wird. Das „denn“ würde die Einsetzungsworte mit hineinnehmen in den Duktus des Gebets; fällt das „denn“ weg, blieben sie syntaktisch eigenständig bestehen. – Vgl. zu der Auseinandersetzung WENDEBOURG: Den falschen Weg Roms zu Ende gegangen; dies.: Noch einmal; RASCHZOK: Der Streit um das Eucharistiegebet. 282 BIERITZ: Daß das Wort …, 102. 281

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Dabei wäre das Schweigen (also die Zurückhaltung des Sprechens) am ehesten als Voraussetzung der zu gewinnenden Stille zu beschreiben.283 Wichtig erscheint es mir, diese Stille nicht neuerlich funktionalistisch zu verzwecken. Gemeint ist nicht nur das Schweigen, das dort einsetzt, wo der Gemeinde die Möglichkeit gegeben wird, über irgendetwas bewusst nachzudenken oder im Gebet eigene Anliegen zu formulieren (so nötig und wichtig auch ein solches Schweigen ist!). Es ist auch nicht jene Stille, die von Rudolf Otto als „sacramentum silentii“ („Schweigender Dienst“) so überaus bedeutsam aufgeladen und in dieser Hinsicht als die eigentliche oder geheime Mitte des (evangelischen) Gottesdienstes verklärt wurde.284 Es geht eher um jene Stille, die durch Langsamkeit, durch eine bewusst gefeierte und gestaltete Ritualität, durch Wiederholung, durch das Zurücktreten des Subjekts der Gottesdienstleitenden im Sinne liturgischer Medialität erreicht wird; um die Stille, die dort entsteht, wo Gottesdienst nicht diskursiver Raum neuer, durch die liturgisch Aktiven vermittelter Erkenntnis und nicht emotionaler Raum neuer, durch die Gestaltung erregter möglichst intensiver Erfahrung wird, sondern Raum einer Gelassenheit, die dem Kult im Wechselspiel mit dem Wort das Seine zutraut. Interessant ist es, dass die Sehnsucht nach dieser Stille durchaus als wesentliche Motivation gesehen werden kann, warum Menschen einen Gottesdienst besuchen. Freilich ist dies dann nicht selten mit dem Wunsch verbunden, einmal wieder ‚zu sich‘ zu kommen. Immerhin ein Teil derer, die sich nach der Wiederentdeckung der Lateinischen Messe sehnen, tut dies auch aus dem Grund, einer Liturgie folgen zu dürfen, die nicht darauf setzt, dass Feiernde ständig angeredet und zur ‚aktiven Teilnahme‘ herausgefordert werden (die sich dann nicht selten doch primär als Aufgabe des kognitiven Dabeiseins und Mitdenkens entpuppt), sondern als diejenigen gesehen werden, die in Freiheit einen Raum betreten, der zunächst keine bestimmte Art der Rezeption erfordert. – Die Form der Thomas-Messe mit ihrer langen offenen Phase kann als eine ganz andere Weise der Realisierung verstanden werden.285

Dieser Wunsch erscheint zwar theologisch insofern problematisch, als es im Gottesdienst gerade nicht um ein ‚zu sich selbst-Kommen‘, sondern um ein ‚von sich selbst entfremdet-Werden‘ gehen müsste; gleichwohl ist es möglich, dieser Sehnsucht durch eine Gestaltung des Gottesdienstes zu entspre283

Vgl. auch LEHMANN: Die Kunst, Gottesdienst zu gestalten, 230f, sowie SAUER: Liturgie – ein Ort der Katechese?, 145: „Eine mystagogische Liturgie muß sich vor dem Wortschwall bzw. vor der ‚Logolatrie‘, d.h. der Anbetung des Wortes[,] hüten, weil dadurch das Geheimnis zerredet wird. Sie ist auf ‚Oasen der Stille‘ angewiesen, wo der einzelne ganz persönlich Gott begegnen kann und doch sich aufgehoben weiß in der Gemeinschaft der Gott Feiernden.“ 284 Vgl. dazu oben Kap. 2.2.3.2 (2) a; vgl. auch SCHWARTZ: Begegnung mit Gott, 108–110. 285 Vgl. HABERER: Die Thomasmesse.

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chen, die das zu-sich-Kommen mit einem Aufenthalt in einem anderen Raum verbindet: dem Raum der biblischen Worte, die den Gottesdienst tragen und prägen und so als das Andere meiner selbst mich selbst nicht nur zu ‚mir‘, sondern zu der durch das WORT gewirkten neuen Kreatur kommen lassen, wo und wie es Gott gefällt. Oben (Kap. 3.3) wurden im Anschluss an die Darstellung einzelner historischer Stationen zwei liturgische Grundmodelle im Umgang mit dem „Wort“ ermittelt. Die hier angedeutete Konzentration auf das biblische Wort macht eine Verbindung der beiden Modelle möglich und denkbar. In der Ausrichtung auf die Worte der Bibel kann das Wort als gegebenes und immer neu zu suchendes erscheinen, Innovation und Tradition können sich verbinden, Ereignis und Inszenierung, das gelassene Vertrauen auf die tragenden Worte und die Notwendigkeit, selbst Worte zu finden im vorgegebenen Sprachraum. 6.3.3 Der erlernte Wort-Wechsel: Zu einer evangelischen Liturgiedidaktik Bereits oben (Kap. 5.1.2.4 (2)) wurde im Anschluss an kulturwissenschaftliche Überlegungen die Frage ventiliert, ob und inwiefern sich ein gelassenes Lassen, das die Grundlage einer Wahrnehmung des ‚Fremden‘, des Anderen meiner selbst jenseits der Problematik des ‚Zugriffs‘ des starken Subjekts bedeutet, eingeübt werden kann. In Auseinandersetzung mit Martin Nicols Begrifflichkeit einer „zweiten Kultfähigkeit“ habe ich dabei auf die Grenze der Habitualisierung und auf die Chance verwiesen, nicht von dem in bestimmter Weise rezipierenden Subjekt aus zu denken, sondern von der durch die Art und Weise der Inszenierung gegebenen bzw. sich immer neu ereignenden „Atmosphäre“. – In ähnlicher Weise blicke ich nun knapp auf die gegenwärtig wieder vermehrt diskutierte Frage nach der Möglichkeit und der Art und Weise „liturgischer Bildung“, wobei ich darunter die Frage verstehe, wie Menschen an das Geschehen der Liturgie so herangeführt werden können, dass sie diesem Geschehen in der Erwartung begegnen, dass hier mehr und anderes geschieht als ‚horizontale‘ Kommunikation und Vergemeinschaftung, kirchliche Werbung für eine mehr oder weniger interessante Botschaft, Weitergabe von Anregungen zur Denkbarkeit des Glaubens bzw. zur Gestaltung des alltäglichen Lebens oder schlicht gute Unterhaltung am Sonntagmorgen – sondern neben alledem und mit alledem (!) ein Neu-Identifiziert-Werden und Neu-Konstituiert-Werden ‚in alienis‘.286 Als Bündelung bisher erarbeiteter Linien benenne ich drei As286

Die Frage nach einer Wiedergewinnung der Möglichkeit zu genuin liturgischer Erfahrung beschäftigte auch die Vertreter der katholischen liturgischen Bewegung vor gut 100 Jahren. Nur am Rande sei hier auf ein – zu langem Atem animierendes – Zitat von Lambert Beauduin (1873–

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pekte, die für eine gegenwärtige liturgische Bildung m.E. von zentraler Bedeutung sind:287 (1) Ehrfurcht lernen Der amerikanische Liturgiker Don E. Saliers beschreibt in seinem 1996 erschienenen Buch „Worship Come to its Senses“ vier ‚Richtungssinne‘ („senses“) der Liturgie – und bestimmt als deren ersten (!) den „Sense of Awe“, den Richtungssinn der Ehrfurcht bzw. Scheu (neben „delight“, „truth“ und „hope“). Die Betonung der Scheu mag – gerade für einen evangelischen Liturgiker – ungewöhnlich erscheinen. Genau sie ist es aber, die nach der Meinung von Saliers gegenwärtig vielfach verloren gegangen sei. Er schreibt: „The plain fact is that much of our worship in contemporary American churches, Protestant and Roman Catholic alike, is domesticated. It is pleasant, user-friendly, but something is missing at the heart of our practices as well as our theology: awe in the presence of God.“288

Saliers kann das, was gegenwärtiger Liturgiewahrnehmung im Kontext der ‚gezähmten‘ („domesticated“) amerikanischen Tradition fehlt, auch mit dem Gespür für das „Wunder“ verbinden. Zu allererst möchte Saliers daher die Wahrnehmungsfähigkeit für die Gott gegenüber gebotene Scheu wecken – u.a. indem er auf die Wahrnehmung der Schöpfermacht Gottes in der Natur hinweist.289 Auch wenn ich diesen ersten Schritt einer Liturgiedidaktik für nicht unproblematisch halte, so scheint mir die grundlegende Richtungsangabe doch wegweisend. Was gegenwärtig angesichts vieler Bemühungen um einen ‚benutzerfreundlichen‘ („user-friendly“) Gottesdienst, in dem Menschen herzlich empfangen, freundlich begrüßt und möglichst wenig mit Unangenehmem konfrontiert werden, zu kurz zu kommen droht, ist paradoxerweise genau dies, was die eigentliche Verheißung des Gottesdienstes ist, die ansonsten keiner anderen menschlichen Veranstaltung mitgegeben ist: dass hier Wort-Wechsel zwischen dem lebendigen Gott und dem Menschen geschieht. Nicht weniger als der Schöpfer, vor dem sich nach Ps 22,30 sogar 1960) verwiesen, der 1914 schrieb: „Viele Generationen haben jahrhundertelang dafür gebraucht, die überlieferte (liturgische) Frömmigkeit zu verlernen; sie werden auch Jahrhunderte brauchen, um sie wieder neu zu lernen“ (zitiert bei GRILLO: Einführung in die liturgische Theologie, 127). 287 Einen anderen, sehr viel stärker auf das glaubende Subjekt und dessen Identitätsbildung bezogenen Ansatz stellen Reinhard Boschki und Jan Woppowa vor (vgl. BOSCHKI/WOPPOWA: Kann man Spiritualität didaktisieren?). 288 SALIERS: Worship Come to its Senses, 20; vgl. ähnlich auch PECKLERS: Worship, 214. 289 Vgl. insgesamt SALIERS: Worship Come to its Senses, 19–32.

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die Knie der Entschlafenen beugen, verheißt seine Gegenwart – ein Geschehen, angesichts dessen Mose die Schuhe ausziehen (Ex 3,5) und Simon Petrus zur Erkenntnis seines sündigen Menschseins kommen musste (Lk 5,8). Auch post Christum natum ist es – nach Hebr 10,31 – noch immer schrecklich, „in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen“; und Inkarnation bedeutet die Offenbarung des lebendigen Gottes zum Heil aller Welt, aber nicht, dass der lebendige Gott nicht der Herr und Richter bliebe. Dass die „Scheu“ bzw. „Ehrfurcht“ heute kaum noch verbreitet ist, dass aus dem lutherischen Zweiklang von „Gottesfurcht“ und „Gottesliebe“ fast nur noch die „Gottesliebe“ hörbar ist, hängt in einiger Komplexität mit Verschiebungen im Gottesbild der Neuzeit, mit einer Stärkung neuzeitlicher Subjektivität sowie einer entsprechenden kirchlichen Verkündigung zusammen. Und keineswegs ist es denkbar, nun einseitig Scheu und Ehrfrucht zu propagieren und von Liebe und Zuwendung nicht mehr zu sprechen. „Tremendum“ et „fascinans“ gehören zusammen – und dürfen weder in der Verkündigung noch in der konkreten Gottesdienstgestaltung oder der Hinführung zum Gottesdienst getrennt werden.290 Dass es gegenwärtig aber – wie Saliers meint – nach Jahren der Zurückdrängung Zeit ist, gerade den Aspekt des „tremendum“ oder des „Wunders“ zu betonen, scheint mir evident. Vielleicht würde dann auch das Gebet wieder relevanter und brisanter, das für Wilhelm Löhe, den liturgischen Reformer aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, die Voraussetzung für eine Wiederbelebung des Gottesdienstes darstellte (vgl. oben Kap. 3.2.2, Exkurs). Bereits Thomas von Aquin schrieb in seiner Summa theologiae: „[…] oratio est propriae religionis actus“291. Und auch Luther war davon überzeugt, dass „nächst dem Predigtamt“ „das Gebet das höchste Amt in der Christenheit“ sei.292 Gleichzeitig war für Luther klar: „Man kann und soll wohl überall, an allen Orten und zu jeder Stunde beten; aber das Gebet ist nirgends so kräftig und stark, als wenn der ganze Haufen einträchtig miteinander betet.“293 Das gemeinsame Gebet als Grundvollzug des Christseins bestimmt den Gottesdienst. Gemeinde- und religionspädagogische Arbeit im Kontext liturgischer Bildung müsste damit diesen Aspekt in den Mittelpunkt rücken – wie dies ähnlich auch Manfred Josuttis mit seinem Verweis auf die Wieder-

290 Vgl. auch BIERITZ: In Techno Deo Gloria, 77: „Das mysterium fascinans ist ohne das mysterium tremendum nicht zu haben. Wo der heilige Schrecken auszieht, bleibt nichts als Trivialität zurück […].“ 291 THOMAS: Summa theologiae II-II, 83,3. 292 WA 34/1, 395,14f. 293 WA 49, 593,24–26.

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entdeckung der Mystagogie andeutete294 (und lange vor ihm auf jüdischer Seite bereits Franz Rosenzweig betonte295). Damit wäre auch die Richtung aufgenommen, die Karl Rahner mit seinem berühmten Satz für das Christentum im 20. Jahrhundert vorgab: „[…] der Fromme von morgen wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein […].“296 Demgegenüber ist es durchaus ernüchternd, einen Blick auf das „Bildungskonzept für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern“ (2004) zu werfen. Die Konfirmandenarbeit wird darin konsequent in den Bereich der „Bildung als Lebensbegleitung“ eingeordnet, und es heißt: „In der Begegnung und Vermittlung von zentralen christlichen Inhalten werden die Jugendlichen in ihrer Werteorientierung und Verantwortung unterstützt.“297 Eine ‚kultische Propädeutik‘ oder einfacher: eine Ein- und Hinführung zum Gottesdienst der Kirche ist an keiner Stelle im Blick!298

Wenn die hier vorgelegte These vom WortKult Berechtigung hat, dann müsste für die evangelische Kirche klar werden, dass jede Hinführung zum Wort auch eine Hinführung zum Kult bedeutet – und damit auch für sie liturgische Bildung zu einer der wichtigsten Aufgaben werden, wie dies in der katholischen Kirche bereits seit vielen Jahren wenigstens theoretisch erkannt, wenngleich nicht überall praktisch umgesetzt wurde.299 Damit hängt liturgische Bildung mit der großen Frage zusammen, wie Beten und noch grundsätzlicher Glaube – in der Spannung „zwischen Lehrbarem und Nicht-Lehrbarem“ – weitergegeben werden kann.300 Zu lernen wäre an dieser Stelle m.E. vor allem von dem durch Bernd Beuscher und Dietrich Zilleßen profilierten Ansatz einer sogenannten „profanen Religionspädagogik“.301 294

Vgl. die knappen Andeutungen bei JOSUTTIS: Die Einführung in das Leben, 135–151; vgl. dazu auch das Themenheft des „Liturgischen Jahrbuchs“ zum Thema „Mystagogie – Geistliche Erschließung des Gottesdienstes“ (Heft 2/2006; auf der Grundlage einer Tagung der AKL-Junior im März 2006). Darin finden sich u.a. die folgenden Beiträge: STUFLESSER: „Das Geheimnis lasst uns künden […]“; RICHTER: Dramaturgie und Mystagogie; SABERSCHINSKY: Gottesdienst ins Bild gesetzt; WAHLE: Den Glauben feiern. 295 Vgl. ROSENZWEIG: Zeit ists. 296 RAHNER: Frömmigkeit früher und heute, 22f. 297 Bildungskonzept für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, 31. 298 Vgl. demgegenüber z.B. die Wiederaufnahme des Begriffs der „Mystagogie“ in neueren katholischen Überlegungen zur Taufkatechese, etwa bei KIEßLING: Taufkatechese; vgl. auch SABERSCHINSKY: Katechumenat. 299 Vgl. nur VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 383 u.ö. 300 KORHERR: Beten lehren, 18; vgl. insgesamt aaO., 18–26. Der katholische Pädagoge Edgar Josef Korherr legte 1991 das wohl umfassendste Lehrbuch der „Gebetspädagogik“ vor und beschreibt „Gebetserziehung“ darin primär als „Wegbegleitung“ in entwicklungspsychologischer Perspektive (vgl. aaO., 75–202). 301 Vgl. BEUSCHER/ZILLESSEN: Religion und Profanität.

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Der Ansatz der beiden Religionspädagogen geht von der „Verwicklung von Religiösem und Profanem“ aus und sucht so, die „Korrelation von Glauben und Leben, Glaubenstraditionen und Lebensübertragungen“ zu ergründen302 und zu einer Vermittlung zwischen einer jeweils spezifischen Barth- und Tillich-Lektüre zu gelangen. Dabei sind Zilleßen und Beuscher bemüht, Religionspädagogik als Annäherung an das Fremde, als Erschütterung üblicher Wahrnehmung, als Entzug geläufiger Sprache und ihrer Konventionen zu begreifen.303 Innerhalb dieser Didaktik spielen Experimentieren und Ausprobieren, Körpererfahrung und Nichtverstehen eine entscheidende Rolle – alles dies Hinweise auf eine auch in liturgicis zu suchende Didaktik (wenngleich sich die Ausführungen der beiden Pädagogen im einzelnen angesichts der Dichte der oft nur angerissen zitierten philosophischen und theologischen Gewährsmänner und -frauen nicht selten im Nebel begrifflicher Redundanz und Unklarheit verlieren).

(2) Liturgische Handlungsvollzüge lernen Dass liturgische Bildung nicht bedeuten kann, einseitig über die Liturgie zu informieren, sondern nur im Vollzug geschehen kann, ist angesichts der Bedeutung, die der Feiergestalt zukommt, evident.304 So sieht etwa Gail Ramshaw liturgische Bildung als Einführung in die Feier. Sie schreibt: „If the faith is about facts, then we line up the children and make them memorize catechetical questions and answers. […] But if we are dealing with poetry instead of prose, if we want the people incorporated into the liturgical life of the church, then we do not teach answers to questions. We memorize, not answers, but the chants of the ordinary; we explain liturgical action; we enlist people as lectors and assisting ministers; we design studies around the central images of Christian worship; we lead bible classes on the lectionary; that is, we immerse people into the constituent features of worship so that they, too, become part of the metaphoric exchange.“305

Liturgische Bildung bedeutet in dieser Hinsicht, einzelne Vollzüge in ihrer Körperlichkeit zu erfahren – und zwar sowohl im geschützten Raum als auch im konkreten Vollzug des Gottesdienstes.306 Für den Katholiken Cyprian Vagaggini wird die Mitfeier des Gottesdienstes zum Quellort permanenter Glaubens‚katechetik‘:

302

BEUSCHER/ZILLESSEN: Religion und Profanität, 19. Vgl. BEUSCHER/ZILLESSEN: Religion und Profanität, 54–78. 304 Dies schließt allerdings eine evangelische Wiederentdeckung der Praxis „liturgische[r] Katechesen“ keineswegs grundlegend aus; vgl. dazu SEITZ: Gottesdienst und Predigt, 43f. 305 RAMSHAW: Worship, 115. 306 Vgl. dazu auch BIERITZ: Bildet Gottesdienst Gemeinde, 12–16; RICHTER: Dramaturgie und Mystagogie. 303

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„Zudem stellt die Liturgie für den Katecheten nicht bloß eine Fundgrube von Texten und Riten dar, um die einzelnen Lehrpunkte zu illustrieren, sondern ein lebendiges Drama, an dem der Glaubensschüler während seines ganzen Lebens aktiv teilnimmt. Was er in der Katechismusstunde erlernte, erlebt er nun. Welche Einheit bringt die Liturgie, wenn man sie als das nimmt, was sie ist, in die christliche Erziehung hinein!“307

Der Paderborner Liturgiewissenschaftler Michael Kunzler spitzt dies in einem 2006 erschienenen Artikel auf die Feststellung der Notwendigkeit zu, das Kultische gegenwärtig wiederzugewinnen. Er stellt die These auf, „[…] dass die nach wir vor vorhandenen Infragestellungen der Liturgie in hohem Maße auf dem Verlust des Kultischen gründen. Erst die Rückgewinnung eines theologisch verantwortbaren und dem heutigen, zur tätigen Teilnahme am liturgischen Geschehen eingeladenen Gläubigen auch zu vermittelnden Verständnisses von Kult kann die Liturgie der Kirche retten.“308 Nicht zuletzt hat auch der evangelische Theologe Olaf Richter gezeigt, wie eine auf konkreten Handlungssequenzen beruhende liturgische Didaktik gedacht werden und Gestalt gewinnen könnte.309 In diesem Zusammenhang scheinen mir drei praktische Desiderate einer gegenwärtigen liturgischen Bildung unaufgebbar: – Es ist nach Formen zu suchen, die die aktive Partizipation in der Vorbereitung und Durchführung ermöglichen, ohne aber zu suggerieren, jeder und jede könne einfach so Gottesdienst gestalten (wie dies nicht selten dort geschieht, wo etwa im Kontext der Konfirmandenarbeit der Eindruck erweckt werde, man müsse nur die einzelnen Teile des Gottesdienstes aufteilen und schon könnten auch die kaum eingeführten Konfirmanden predigen, Gebete gestalten, die komplexe Dramaturgie des Gottesdienstes, die sich über 2000 Jahre entwickelte, eigenständig ‚umbauen‘ etc.). Dass die ‚klassiche‘ Art und Weise, Konfirmandinnen und Konfirmanden an den Gottesdienst heranzuführen, in aller Regel kaum erfolgreich ist, hat etwa Benjamin Roßner in seiner Studie zum Verhältnis junger Erwachsener zum Gottesdienst aufgewiesen.310 – Darüber hinaus gilt es, Kirchenräume neu zu erkunden und Wege zu finden, um deren Atmosphäre zu erfahren. Die verschiedenen Ansätze einer Kirchen(raum)pädagogik, die in den vergangenen Jahren entwickelt wurden, zeigen Möglichkeiten dazu auf. So möchte Klaus Raschzok die „problematische Alternative von ontologischer oder funktionaler Raum-Betrach307

VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, 432. KUNZLER: Bleibt die Liturgie, 51. 309 Vgl. RICHTER: Anamnesis. 310 Vgl. ROSSNER: Das Verhältnis junger Erwachsener zum Gottesdienst, bes. 351f. 308

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tung“ durch die Metapher der „Spuren im Kirchenraum“ überwinden,311 die auf Hans Asmussen zurückgeht und die das wahrnehmbare In- und Miteinander von Gegenständen, Räumen und Lebens- sowie Glaubensgeschichten zum Ausdruck bringt.312 Für Raschzok ergibt sich daraus das Modell der „geistliche[n] Raumerschließung“, die „der Wahrnehmung von Kirchengebäuden als Erlebnisräumen für die Gottesbegegnung“ dient.313 Besonders anregend erscheint mir zudem der von Inge Kirsner 2009 kurz vorgestellte Ansatz, ‚alte‘ und ‚neue‘ Kathedralen im Wechselspiel zu erkunden – d.h. klassische kirchliche Gebäude neben Wellness-Centern, Computern, dem Auto oder dem Kino in ihrer Gestalt und Wirkung wahrzunehmen.314 – Schließlich sei auf die Ansätze der sogenannten Performativen Religionspädagogik verwiesen, die sich m.E. besonders dort als hilfreich erweisen, wo es darum geht, liturgische Szenen didaktisch zu erschließen und in unterschiedlichen pädagogischen Kontexten im Blick auf ihre kognitiven und emotionalen Herausforderungen zu erfahren.315 Exemplarisch stellt Thomas Klie in einem 2008 publizierten Beitrag vor, welche Möglichkeiten sich durch eine Liturgiedidaktik zum „Gloria in excelsis“ ergeben, wenn diese in performativer Perspektive vollzogen wird.316 Dabei geht Klie davon aus, dass nur eine performative Erschließung dem Charakter liturgischer Vorgaben entspricht: „Erst dargestellte, d.h. räumlich wahrnehmbare und leiblich vermittelte Inhalte können überhaupt als bedeutsam erkannt und entsprechend moduliert werden.“317 Klie schlägt sodann einen didaktischen Weg vor, der das Gloria zunächst in seiner im Unterricht nachgestellten Urszene (Lk 2,8–15) re-inszeniert, es sodann in gegenwärtigen Aufführungskontexten (d.h.: Kirchenräumen) beobachtet (oder nachstellt), um schließlich seine Fortschreibungen (etwa in der Musik oder auch in neuen Kontexten wie dem Internet) zu beobachten.318 – Durch eine solche Didaktik sieht es Klie auch als möglich an, ein (vermeintliches) Desinteresse der Schüler an Gegenständen wie diesen produktiv so zu unterlaufen, dass sie auf vielfältige Weise in das Geschehen verstrickt werden und ihr „gesteigertes Interesse an ästhetischen Vollzügen […], an fremden Welten“ aktiviert wird.319 311 RASCHZOK: Spuren im Kirchenraum, 145 [im Original als Teil der Unterüberschrift hervorgehoben]. 312 Vgl. RASCHZOK: Spuren im Kirchenraum, bes. 145–150. 313 RASCHZOK: Spuren im Kirchenraum, 154. 314 Vgl. KIRSNER: Erkundung alter und neuer Kathedralen. 315 Vgl. grundlegend zu dem Ansatz KLIE/LEONHARD: Schauplatz Religion; KLIE: Performativer Religionsunterricht. 316 Vgl. auch KLIE: Fremde Heimat Liturgie, ein Aufsatz, in dem sich Klie Gedanken macht zur „religionsdidaktischen Wahrnehmung kirchlich gelebter Religion“ auf dem Hintergrund des Phänomens, dass Protestanten zwar eine ausgeprägte Kultur der Innerlichkeit und des Gefühls geschaffen, aber kaum ein Gespür für Formen und deren Bedeutung entwickelt hätten. 317 KLIE: Glorifizieren, 43. 318 Vgl. KLIE: Glorifizieren, 45–47. 319 KLIE: Glorifizieren, 44; vgl. ders.: Fremde Heimat Liturgie, 101: „Liturgiedidaktik kommt dem gesteigerten ästhetischen Empfinden unserer Jugendlichen entgegen. Wenn es uns gelänge,

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Nicht zuletzt lebt eine solche Form der liturgischen Bildung elementar davon, die Lust auf das Kennenlernen einer möglicherweise fremden Tradition zu wecken. So wendet Fulbert Steffensky die These vom gegenwärtigen „Traditionsabbruch“ positiv und schreibt: „Normalerweise hört man die fatalistische These: wo Traditionen verloren sind, sind sie nicht mehr herstellbar. Traditionsabbruch ist Abbruch! Ich möchte eine Gegenthese wagen: Traditionsabbruch macht neugierig auf Traditionen.“320

(3) Liturgische Medialität als gelassenes Lassen lernen Wenn der Gottesdienst selbst als wesentlicher Quellort liturgischer Bildung erkannt wird, so ist dabei die Inszenierungsaufgabe derer, die den Gottesdienst vorbereiten, ebenso entscheidend wie ihr liturgisches Verhalten. Dieses habe ich bereits oben idealiter als liturgische Medialität bestimmt. Wenn der liturgische Entertainer ‚seine‘ Gemeinde eine Stunde gut unterhält oder der Lehrer am Sonntagmorgen Interessantes erfahren lässt, so setzt dies im Raum des Gottesdienstes eine andere Atmosphäre und konsequenterweise eine andere Art und Weise der Partizipation. Es setzt eine Weise der Klerikalität, die – so Fulbert Steffensky – die katholische Klerikalität weit überbietet. Fulbert Steffensky meint zu den evangelischen Gottesdiensten der Gegenwart: „Sie waren noch nie so klerikal wie heute, und evangelische Gottesdienste sind weit klerikaler als die katholischen. Man kann es schon daran sehen, wie viel ein Pfarrer im Gottesdienst redet.“321 Bereits der Schleiermacher der „Reden“ hat die Bedeutung der „Führer“ in seiner Dritten Rede (1799) bestimmt. Wenn Religion nicht Metaphysik und nicht Moral sei, so gehe es darum, dass es Menschen gibt, die andere in jenen Bereich führen, der genuin als „Religion“ bezeichnet werden könne.322 – Gegenwärtige Aus-, Fort- und Weiterbildungen für Liturginnen dies im Unterricht konsequent zu operationalisieren, dann könnte dies ein theologisch wie didaktisch spannender Unterrichtsgegenstand werden.“ – Dietrich Zilleßen weist die „performative Religionspädagogik“ darauf hin, dass sie die „performative Dimension des Unverfügbaren“ konstitutiv mit in den Blick nehmen müsse – m.E. gegenüber aller möglicher Euphorie des Performativen ein notwendiger Einwand (vgl. ZILLESSEN: Performativer Religionsunterricht, 39). 320 STEFFENSKY: Schwarzbrot-Spiritualität, 177. – Auch Wilhelm Gräb sieht ein Potential für religiöse Bildung in den traditionellen Symbolen und Handlungsvollzügen der Kirche, konkret: in den „großartigen Räumen“, „schönen Gottesdiensten“ und „gedanklich anregenden Predigten“ der Kirche (GRÄB: Chancen kirchlicher Bildungsarbeit, 303; vgl. insgesamt aaO., 301–304). Auch wenn sein Ansatz, diese Bildung in ihrem Ziel als Befähigung zu individueller „religiöse[r] Selbstdeutung“ (aaO., 303) bzw. Sinndeutung (vgl. ebd.) zu sehen, dem hier vorgelegten Ansatz nicht entspricht, erscheint doch der Ausgangspunkt bei vorhandenen Inszenierungen als eine Gemeinsamkeit. 321 STEFFENSKY: Schwarzbrot-Spiritualität, 62. 322 Vgl. insgesamt SCHLEIERMACHER: Über die Religion, 116–133.

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und Liturgen oder Gottesdienstcoaches fokussieren meiner Wahrnehmung nach primär auf Weisen einer milieusensiblen, einladenden und ‚interessanten‘ Gestaltung des Gottesdienstes – und weniger auf die hier aus einem theologischen und zugleich ästhetischen Zugang erarbeitete Möglichkeit, den Gottesdienst als WortKult zu verstehen und dementsprechend in liturgischer Medialität zu agieren, so dass ich an dieser Stelle ein Desiderat in der Landschaft der Aus-, Fort- und Weiterbildung erkenne. Nach Jahren sicherlich notwendiger und auch weiterhin bedeutsamer Kurse in liturgischer Präsenz, scheint mir ein Kursprogramm in liturgischer Medialität gegenwärtig angesagt. Mit Karl-Heinrich Bieritz wäre dabei vor allem eine „Abkehr von jener Mentalität [zu lernen, AD], die so tut, ‚als ob‘ im Gottesdienst unser Herr selbst mit uns spräche … Und das beginnt wohl damit, daß einer wieder und wieder erschrickt vor dem, was er hier sagt, sinnt und handelt.“323 Dass dieses Erschrecken dann mit einer neuen ‚Heiterkeit‘ der Handlung verbunden sein kann, hat bereits Romano Guardini in seinem Buch „Vom Geist der Liturgie“ gezeigt. Er schreibt: „Auch darin besteht also die Aufgabe der Erziehung zur Liturgie, dass die Seele lerne, nicht überall Zwecke zu sehen, nicht allzu zweckbewusst, allzu klug und ‚erwachsen‘ sein zu wollen, sondern sich dazu verstehe, einfachhin zu leben. Sie muß die Rastlosigkeit der zweckgetriebenen Tätigkeit wenigstens im Gebet aufgeben lernen; muß lernen, für Gott Zeit zu verschwenden, Worte und Gedanken und Gebärden für das heilige Spiel zu haben, ohne immer gleich zu fragen: Wozu und warum? Nicht immer etwas tun, etwas erreichen, etwas Nützliches zustande bringen wollen, sondern lernen, in Freiheit und Schönheit und heiliger Heiterkeit vor Gott das gottgeordnete Spiel der Liturgie zu treiben.“324

6.4 Ein kirchentheoretischer und praktisch-theologischer Ausblick Wenn evangelischer Gottesdienst pointiert als WortKult verstanden wird, so hat dies Auswirkungen – wie auch jedes andere Verständnis des Gottesdienstes Folgen für kirchliches Handeln und praktisch-theologisches Denken zeitigt. In der Form eines perspektivischen Ausblicks deute ich zwei Felder an, in denen eine Weiterarbeit m.E. möglich, nötig und besonders aussichtsreich erscheint: die „Kirchentheorie“ einerseits, die Praktische Theologie als Wissenschaft andererseits.

323 324

BIERITZ: In Techno Deo Gloria, 78. GUARDINI: Vom Geist der Liturgie, 69f.

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6.4.1 Der evangelische Gottesdienst als WortKult und die Kirchentheorie Für die katholische Kirche ist der Zusammenhang von Ekklesiologie und Liturgik evident. Die Kirche ist Kirche aus der Liturgie, vor allem: aus der Eucharistie – so hat es Johannes Paul II. als eine Art Vermächtnis in der Enzyklika „Ecclesia de eucharistia“ aus dem Jahr 2003 weitergegeben und dabei bereits in der Einleitung an die berühmte Formulierung des Zweiten Vatikanischen Konzils erinnert, wonach das eucharistische Sakrament „culmen et fons“ der Kirche durch die Zeiten sei.325 Die Eucharistie beschreibt Johannes Paul II. als das, was die Kirche als Leib Christi immer neu aufbaue und so als ‚katholische‘ Gemeinschaft erhalte.326 Benedikt XVI. führt diese Linie konsequent fort – besonders deutlich ablesbar in seinem apostolischen Schreiben „Sacramentum Caritatis“ aus dem Jahr 2007, in dem er die Eucharistie das „Kausalprinzip der Kirche“ nennt.327 In evangelischem Kontext hat vor allem (der späte!) Schleiermacher mit seinem Begriff der „Darstellung“ diesen Aspekt hervorgehoben: Im „Cultus“ der Gemeinde stellt sich dar, was das religiöse Gefühl ausmacht. Auch in systematisch- und praktisch-theologischen Zusammenhängen ist dieser Zusammenhang von Ekklesiologie (moderner und ‚praktisch-theologischer‘ formuliert: Kirchentheorie) und Liturgik seither durchaus präsent und wird in unterschiedlicher Gewichtung immer wieder betont. Besonders deutlich kam er in den liturgischen und systematisch-theologischen Überlegungen der Michaelsbruderschaft zutage328 und tritt er gegenwärtig (auf einer ganz anderen Seite des theologischen Spektrums) meiner Wahrnehmung nach in den Überlegungen der „Liturgiekommission der evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz“ (www.liturgiekommission.ch) ans Licht. Die Kommission arbeitet an der Erstellung einer erneuerten Liturgie, wozu umfangreiche Vorarbeiten in den Bereichen „Empirie“, „Systematik“ und „Geschichte“ geleistet und auf dieser Basis „Texte“ und „Modelle“ vorgelegt wurden. Eine Publikation der wichtigsten Ergebnisse dieses Projekts liegt im Internet vor und wird derzeit erweitert. Was dabei u.a. deutlich wird, ist, wie ein bestimmtes Selbstbild der evangelisch-reformierten Kirche zu Vorstellungen über den Charakter und das ‚Wesen‘ des Gottesdienstes führt – und umgekehrt. 325

Vgl. JOHANNES PAUL II.: Die Kirche lebt von der Eucharistie, 10. – Vgl. auch die Pastoraltheologie von Daniel Bourgeois, die unter dem Titel „Die Pastoral der Kirche“ 2004 in deutscher Übersetzung erschien, und vgl. VAGAGGINI: Theologie der Liturgie, bei dem sich dann freilich zugleich zeigt, wie die Liturgie hier an eine bestimmte Gestalt der hierarchisch strukturierten Kirche gebunden wird. 326 Vgl. JOHANNES PAUL II.: Die Kirche lebt von der Eucharistie, bes. 24–27.33–40. 327 BENEDIKT XVI.: Sacramentum Caritatis, Nr. 14f. 328 Vgl. hierzu oben Kap. 3.2.4.3; vgl. dazu Evangelische Michaelsbruderschaft, Credo ecclesiam, sowie HUPFELD: Erneuerung der evangelischen Kirche.

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In den veröffentlichten Texten werden die Gestalt der Kirche und die Gestalt des Gottesdienstes unmittelbar – und deutlicher als in vergleichbaren evangelisch-lutherischen oder evangelisch-unierten Stellungnahmen – aufeinander bezogen. So geht das am 12. September 2001 veröffentlichte Thesenpapier von „theologischen Grundsätzen“ und „Aussagen zur Kirche“ aus und leitet daraus jeweils „Konkretisierung[en] im Gottesdienst“ ab. Unter anderem heißt es im siebten Punkt: „Der ‚prophetische‘ Auftrag der Kirche hat Vorrang vor dem ‚priesterlichem‘ [sic!].“ Daraus wird dann für den Gottesdienst gefolgert: „Der Gottesdienst ist eine Verdichtung des Beziehungsfeldes Kirche: dialogisch, partizipatorisch, demokratisch.“329 Dabei leitet ein kommunikationsorientiertes sowie prophetisches Kirchenverständnis. Entsprechend lautet dann die siebte These: „Gottesdienst ist mehr kritisch als kultisch, mehr innovativ als sichernd, mehr herausfordernd als tröstend.“330 Wie die Hierarchisierung bei der Bestimmung des kirchlichen Auftrags zustande kommt, bleibt fraglich – ebenso warum die Begriffe „prophetisch“ und „priesterlich“ in Anführungszeichen erscheinen. Zugleich aber zeigt das knappe Thesenpapier, dass vom Gottesdienst nicht geredet werden kann, ohne die Kirche zu bedenken – und umgekehrt. Demgegenüber fällt es m.E. auf, dass der Zusammenhang von Gottesdiensttheorie und -theologie weder in dem eingangs analysierten Papier der „Liturgischen Konferenz“ mit dem Titel „Gottesdienst feiern“ noch in dem EKD-Text „Kirche der Freiheit“ eine konstitutive Rolle spielt.331 Einmal wird der Gottesdienst eher aus der Wahrnehmung der gegenwärtigen kulturellen und gesellschaftlichen Situation abgeleitet („Gottesdienst feiern“), im anderen Fall („Kirche der Freiheit“) wird Kirche wird eher von organisationstheoretischen Überlegungen her bestimmt und theologisch durch eine Repristination liberaler Denkmodelle des „Religiösen“ in einem weiten Sinn als Dienstleistungsanbieter auf dem Markt der Religion verstanden. Es müsste daher gefragt werden, was es bedeutet, dass Kirche nur aus der Unverfügbarkeit immer neuen Wortgeschehens (WortKults!) Kirche ist. Die aktive Gelassenheit, die oben als die grundlegende ‚Haltung‘ derer, die den Gottesdienst als WortKult feiern, bestimmt wurde, könnte dann auch kirchliches Handeln in der Gegenwart prägen.332 Konsequenzen ergäben sich nicht nur für die Gestaltung des Gottesdiens329

Zitiert nach www.liturgiekommission.ch/Profil.htm [Zugriff vom 18.02.2007]. Zitiert nach www.liturgiekommission.ch/Profil.htm [Zugriff vom 18.02.2007]. 331 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die kritische Anfrage, die Michael Klessmann an die traditionelle Dominanz stellt, die den Gottesdienst als „Zentrum religiös-kirchlichen Lebens“ beschreibt (KLESSMANN: Liturgie und Seelsorge, Zitat: 188). Er plädiert für eine ausgewogene Wahrnehmung der verschiedenen Lebensformen und Beteiligungsformen in kirchlichem Kontext. 332 Vgl. PREUL: Kirchentheorie, 392: Im letzten Satz seiner Kirchentheorie erinnert Preul an die „in CA 7 ausgesprochen[e] Zuversicht der Reformatoren: ‚Es wird auch gelehrt, daß alle Zeit müsse eine heilige christliche Kirche sein und bleiben.‘“ 330

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tes und das Nachdenken über das, was Kirche ist, sondern etwa auch für die übrige Gestaltung des Gemeindelebens. Hier gilt es aufgrund der Beobachtungen dieser Erarbeitungen m.E., die Bedeutung des Gottesdienstes zugleich zu unterstreichen und zu relativieren. Zu unterstreichen insofern, als es sich beim Gottesdienst um das ausgezeichnete Handeln des Menschen in der Erwartung der Gegenwart Gottes in seinem WORT handelt. Zu relativieren insofern, als der Gottesdienst weder mit pädagogischen noch mit oikodomischen und erst recht nicht mit missionarischen Funktionalisierungen überfrachtet werden darf. Der Gottesdienst ist Mitte des Gemeindelebens, wie überhaupt des Lebens der Kirche; er ist, wie Vaticanum II erklärte, culmen et fons des kirchlichen Handelns auch in evangelischem Kontext. Aber er muss deshalb keineswegs diejenige ‚Veranstaltung‘ sein, die zahlenmäßig die meisten Menschen anzieht. Die Zahl der Gottesdienstbesucherinnen und -besucher ist – im Gegensatz zu den Vorstellungen des gegenwärtig diskutierten EKD-Zukunftspapiers „Kirche der Freiheit“ – keineswegs der allein entscheidende Indikator gemeindlicher Lebendigkeit (und dies gilt bereits seit den Umbrüchen gottesdienstlichen Beteiligungsverhaltens im späten 18. und 19. Jahrhundert333). Die Notwendigkeit, den Gottesdienst attraktiver, einladender, zeitgemäßer, moderner, niederschwelliger, familienfreundlicher, lebensdienlicher etc. zu gestalten, droht ansonsten den Blick für das zu verdecken, was im Gottesdienst eigentlich gefeiert wird: die verheißene und erfahrene Nähe Gottes in seinem Wort. Der Gottesdienst droht einseitig zur Anstrengung der liturgisch und homiletisch Verantwortlichen zu werden – anstatt auch für sie als befreiender Ort der Begegnung mit dem uns nahe kommenden Gott erfahren zu werden.334 333

Vgl. dazu CORNEHL: Art. Gottesdienst, bes. 63f.68. Exemplarisch und auf kurzem Raum lässt sich eine solche Sicht des Gottesdienstes an einem Text des Werbefachmanns Roland B. Dietz ablesen. Er gibt Grundfragen aus der Werbebranche an die liturgisch Verantwortlichen weiter und sieht den Gottesdienst so grundlegend als „eine Dienstleistung, die beworben werden muß, die sich in einem Markt mit vielen Anbietern durchsetzen muß“ (DIETZ: Riten und Rituale in säkularer Gesellschaft, 95). Nötig sei es daher, „klare Ziele für Ihren Gottesdienst“ zu bestimmen: „Feiern Sie nicht eine allgemeine Messe, sondern legen Sie Ihre qualitativen und quantitativen Ziele fest. Bestimmen Sie Thematik und Zielgruppe nach Altersstruktur, Interessen etc. Setzen Sie sich ein quantitatives Ziel, wieviele neue Kirchgänger Sie gewinnen und halten möchten“ (aaO., 97). In diesem Sinne müsse der Gottesdienst dann auch auf seine „Erlebnisdimension“ hin überprüft werden: „Überlegen Sie, welche Erlebnisdimensionen mit Ihrem Gottesdienst angesprochen werden und wie Sie diese bewußt zur Steigerung der Attraktivität Ihrer Veranstaltung nutzen können. Gehen Sie neue Wege und nutzen Sie das menschliche Bedürfnis nach Nähe, Berührung, Humor, Integration, Spiritualität usw.“ (aaO., 98). – Gegen Dietz sei sehr hart ein Wort von Joseph Ratzinger gestellt; dieser schreibt: „Die wahre Reform ist jene, die sich um das verdeckte wahrhaft Christliche bemüht, sich von ihm fordern und formen läßt; die falsche Reform ist jene, die hinter dem Menschen herläuft, anstatt ihn zu führen, und damit das Christentum in einen schlecht gehenden Krämerladen umwandelt, der um Kundschaft schreit“ (RATZINGER: Was heißt Erneuerung der Kirche, 268f). 334

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Auf diesem Hintergrund gilt es, ein deutliches „Ja“ zu einer kreativen Pluralität unterschiedlichster gemeindlicher Angebote für verschiedenste Zielgruppen zu sagen, die pädagogische, spirituelle, missionarische oder oikodomische Funktionen erfüllen. Hier gilt es, unterschiedlichste Medien und Veranstaltungsformen zu erproben; hier gilt es, je nach Fähigkeiten der Haupt- und Ehrenamtlichen immer neue Wege lustvoll zu begehen. Und es gilt gleichzeitig, ein deutliches „Nein“ dagegen zu sagen, das Etikett „Gottesdienst“ auf alle diese Veranstaltungen kleben zu wollen.335 Im Beispiel gesprochen: Wäre es nicht häufig ehrlicher und würde von manchem liturgischen Krampf entlasten, manchen Universitätsgottesdienst einfach als musikalisch-theologische Matinée zu deklarieren? Und könnte nicht so mancher Jugendgottesdienst besser als ein Konzert der Jugend-Band mit missionarischen oder pädagogischen Einlagen gefeiert werden? Würde dies nicht beidem gut tun – der Vielzahl der gemeindlichen Veranstaltungen einerseits und dem Gottesdienst andererseits? In dieser Hinsicht erscheint es mir kontraproduktiv, wenn immer weitere Pluralisierung des Gottesdienstes im evangelischen Kontext gefordert wird. Im Gegenteil droht der Gottesdienst als WortKult in dieser Pluralität unterzugehen – und mit ihm die Feier des fremden, herausfordernden und doch zugleich nahen und befreienden Gotteswortes.336 In diesem Zusammenhang scheinen mir auch die Überlegungen des katholischen Liturgiewissenschaftlers Benedikt Kranemann weiterführend. Auf dem Hintergrund einer Diagnose des religiösen Pluralismus, wie er ihn vor allem im Osten Deutschlands wahrnimmt, zeichnet Kranemann die Chancen nach, die entstehen, wenn „neben Liturgien“ andere „Feierformen“ entwickelt werden, „die bewusst in den Dienst einer pluralen Gesellschaft gestellt sind“.337 Beispiele wie Lebenswendefeiern oder „Segnungsfeiern für alle, die partnerschaftlich unterwegs sind“ am Valentinstag oder 335 Vgl. EKD: Der Gottesdienst, 41: „Die Konzentration auf die betende Haltung unterscheidet den Gottesdienst von anderen Aktivitäten der Gemeinde wie Seelsorge, Unterricht, Gemeindeleitung oder Öffentlichkeitsarbeit.“ 336 In diesem Zusammenhang scheint mir auch der fortschreitende Ausbau sogenannter ‚zweiter‘ bzw. ‚alternativer‘ Gottesdienstprogramme nicht unproblematisch. Nochmals: nicht die Suche nach Veranstaltungsformen, die Menschen gerne besuchen, denen der übliche Gottesdienst am Sonntagmorgen terminlich, örtlich oder im Blick auf die dort begangenen Interaktionsformen fremd geworden ist, ist das Problem, sondern eher die Frage, ob nicht das, was den Gottesdienst als WortKult kennzeichnet, angesichts der Angebotsorientierung verloren zu gehen droht. Nicht zu unterschätzen scheint mir außerdem das Problem, dass nicht wenig liturgische Kreativität gegenwärtig in diese ‚zweiten Programme‘ fließt, die damit dem WortKult nicht mehr zugewendet wird; vgl. zu dem Phänomen und zu einer kritischen Auswertung auch FRIEDRICHS: Mit dem Zweiten sieht man besser? Unter anderem fragt Friedrichs auf der Grundlage von zwei alternativen Gottesdienstangeboten, „ob solche Gottesdienstformen das Element des menschlichen Suchens und Fragens so stark betonen, das[sic!] kaum mehr Platz bleibt für eine (symbolische) Begegnung mit Gott und seinem Wort (siehe dazu das Wegfallen der biblischen Lesungen)“ (aaO., 11). 337 KRANEMANN: Christliche Feiern des Glaubens, 189.

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eines monatlichen Totengedenkens am Freitag um 15 Uhr (zur Todesstunde Jesu)338 machen deutlich, welche Chancen sich für die Kirche ergeben, wenn sie ein weites Spektrum an ‚Anlässen‘ (casus) aufnimmt und Menschen so in ihren alltäglichen Herausforderungen begleitet. Dass alle diese Feiern den Terminus „Gottesdienst“ vermeiden, scheint mir im Kontext der obigen Überlegungen hilfreich.339

6.4.2 Der evangelische Gottesdienst als WortKult und die Praktische Theologie Hans-Christoph Schmidt-Lauber schreibt gegen Ende seines Artikels zur Forschungsgeschichte der Liturgiewissenschaft: „Jede Theorie der Liturgie bleibt unzureichend, die die Frage offenlässt, was im christlichen Gottesdienst über das hinaus geschieht, was sonst im Umgang der Menschen miteinander und in ihren Versammlungen zu geschehen pflegt.“340 Dabei erkennt er, dass einseitig „dogmatische“ Liturgiebestimmungen ebenso wenig hilfreich seien wie einseitig „liberale“. „Richtungsweisend werden jene Bemühungen, die Theologie und Empirie, Soteriologie und Anthropologie zusammenzufügen suchen.“341 Anders und mit Peter Cornehl formuliert: „Gottesdienst und Kult [gehören, AD] zum (gesellschaftlichen) Wesen des Menschen überhaupt“ und seien daher nur im Miteinander von unhintergehbarem Gesellschaftsbezug und unaufgebbarer theologischer Eigenart zu bestimmen.342 Was Schmidt-Lauber und Cornehl hier von dem Gottesdienst und der Aufgabe der Liturgik sagen und was in der Problemfindung und -bearbeitung dieser Studie versucht wurde, gilt für die Praktische Theologie generell. Deren prekäre Grundfrage, die dieses Fach zugleich herausfordernd und spannend macht, lautet: Wie lässt sich die spezifische „GottesPraxis“ denken, beschreiben und gestalten, um die es der Religion geht?343 Im Blick auf den Gottesdienst wird deutlich, dass dieser zum autonom (!) handhabbaren Phänomen wird (und damit gleichzeitig seine spannende Herausforderung verliert), wenn er als Selbstinszenierung einer Kirche, als Aufführung eines festliegenden Stücks/Dramas der Tradition, als Werbe338

Vgl. zu den Beispielen KRANEMANN: Christliche Feiern des Glaubens, 194–197. In eine ähnliche Richtung weisen auch die dogmatischen Richtungsbestimmungen des Gottesdienstes durch den katholischen Systematiker Herbert Vorgrimler. Dieser plädiert für einen „‚erweiterten‘ Liturgiebegriff“, der neben die „Liturgie der Hierarchie“ die „Liturgie des Volkes“ setzt und auf diesem Hintergrund unterschiedliche Feierformen aufgrund menschlicher Bedürfnisse in den Blick nimmt; vgl. VORGRIMLER: Die Liturgie – ein Bild der Kirche, bes. 40f; vgl. ähnlich auch EBERTZ: Einseitige und zweiseitige liturgische Handlungen. 340 SCHMIDT-LAUBER: Begriff, 38. 341 SCHMIDT-LAUBER: Begriff, 38. 342 CORNEHL: Der Evangelische Gottesdienst, 50. 343 Vgl. NICOL: Ereignis und Kritik. Praktische Theologie als Hohe Schule der Gotteskunst. 339

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oder Unterhaltungsveranstaltung, als Bildungsveranstaltung oder ethischer Impulsgeber verstanden wird. Die spezifische GottesPraxis, die mit dem Begriff WortKult umschrieben wurde, kommt dadurch (noch) nicht in den Blick – so sehr solche Bestimmungen auf der Seite dessen, was Menschen tun, ihr relatives Recht behalten.344 Um diese GottesPraxis aber geht es – in allen Reflexionsfeldern der Praktischen Theologie. Was daher epistemologisch für den Bereich der Liturgik erarbeitet wurde, hat exemplarischen Charakter für eine Praktische Theologie, die sich als zugleich ästhetische und theologische Disziplin versteht und die gleichzeitig in einem reflektierten Miteinander theologischen Denkens und außertheologischer Wissenschaften arbeitet.345 Eine der wesentlichen Fragestellungen der Praktischen Theologie der Gegenwart scheint mir darin zu liegen, den ästhetischen Diskurs, der sich seit den 1980er Jahren zum leitenden Paradigma praktisch-theologischen Arbeitens entwickelt hat, anzubinden an eine neuerliche Aufnahme systematisch-theologischer Fragen in der Praktischen Theologie. Gerade in liturgicis wurde deutlich (Kap. 1), dass der ästhetisch und kulturwissenschaftlich weite Blick dazu führen kann, dass eine theologische Argumentation an den Rand gedrängt bzw. in ihrer Bedeutung gering geschätzt wird. Am deutlichsten wurde dies in der Wahrnehmung des Papiers „Gottesdienst feiern“ der Liturgischen Konferenz, für das die theologische Argumentation keinen epistemologisch bedeutsamen Stellenwert mehr einnimmt. Die Frage, die sich durch diese Arbeit zog, lautete: Wie kann eine theologische Grundlegung so gewonnen werden, dass sie nicht einfach deduktiv gesetzt, sondern als Entdeckungszusammenhang explorativ ins Spiel gebracht wird? Dieses Verfahren ermöglicht eine wechselseitige Bereicherung theologischen Fragens durch ästhetisch-kulturwissenschaftliche Einsichten und umgekehrt – und kann zu vertieften theologischen Erkenntnissen und gleichermaßen zu neuen Gestalten führen.346 Damit ist zu verhindern, dass theologische Argumentation nur dazu dient, apologetisch zu begründen, warum eine bestimmte Feiergestalt gegebenenfalls angemessen und stimmig ist – oder umgekehrt: eine bestimmte Feiergestalt einfach aufgrund vorgegebener theologischer Setzungen als unangemessen zu werten. Auf der anderen 344

Vgl. dazu ausführlich SALIERS: Worship as Theology, der das Miteinander von Gottes Ethos und menschlichem Pathos als grundlegende Bestimmung des Gottesdienstes versteht und dies vor allem in eschatologischer Perspektive expliziert. 345 Vgl. zur Bedeutung kulturwissenschaftlicher Diskurse für die Praktische Theologie RASCHZOK: Modeerscheinung. 346 Ähnlich erkennt Klaus Raschzok: „Paradoxerweise nötigen die wissenschaftstheoretischen Erfordernisse der Kulturwissenschaft die Praktische Theologie zu einem konsequenten und gleichberechtigten Dialog mit der Dogmatik. Dieser wird die Praktische Theologie zugleich davor bewahren, selbst zur Kulturwissenschaft zu werden“ (RASCHZOK: Modeerscheinung, 86.

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Seite kann dadurch erreicht werden, dass theologische Vorgaben auch in der praktischen Durchführung eine Chance erhalten. Dies erwies sich für die Luthersche Einsicht in die zentrale Bedeutung des äußeren Wortes als prekär. Die Emphase, die Luther und seine Mitstreiter auf das (äußere) Wort legten, führte kaum weiter zu der Frage nach der Gestaltung des Umgangs mit diesem Wort im liturgischen Kontext. Eine Antwort auf diese Frage wurde nur insofern gegeben, als die Predigt als zentraler Ort des Wortes bestimmt wurde. Dieses Problem beschränkte sich keineswegs auf das 16. Jahrhundert, sondern zog sich von da an durch die Geschichte des Protestantismus und verschärfte sich im Zuge des neuzeitlichen Umbruchs hin zu einer starken Subjektivität nochmals (Kap. 2). Es ist ein Problem im Blick, das die liturgische Theorie und Praxis seither herausforderte (Kap. 3) und auch in benachbarten (bibel-)ökumenischen Kontexten (Katholizismus, Judentum) begegnet (Kap. 4). Nicht zuletzt stieß auch die Kulturwissenschaft auf verwandte Problemstellungen und suchte in den vergangenen Jahren nach Lösungen, wie Menschen jenseits sinnkultureller Verschiebungen zu einer Wiederentdeckung des Fremden, der Aura, der Präsenz kommen können (Kap. 5). In der Konvergenz theologischer und ästhetisch-kulturwissenschaftlicher Argumentation ergab sich so die These vom evangelischen Gottesdienst als WortKult und von der Notwendigkeit einer doppelten, wechselseitigen Verfremdung: des Wortes durch den Kult und des Kultus durch das Wort und es lässt sich kurz formulieren: Evangelischer Gottesdienst ist WortKult in der Hoffnung auf das WORT.

Mit dieser Beschreibung eines abduktiven, ästhetischen und theologischen Weges scheint mir eine Weise konturiert, wie Praktische Theologie gegenwärtig in den verschiedenen Handlungsfeldern und angesichts unterschiedlicher konkreter Herausforderungen weiterführend arbeiten könnte. Dabei würde die Suche nach dem Spezifischen christlicher Praxis mit der Anschlussfähigkeit an die Weite der kulturellen Welt und der gesellschaftlichen Praxis in anderen Feldern verbunden. Das Proprium kirchlichen Handelns würde sich keineswegs als ästhetisches Ghetto erweisen, dessen Mauern von denen, die sich drinnen befinden, immer wieder selbst hochgezogen werden, sondern sich im Gegenteil inmitten der kulturellen Praxis der Gesellschaft als anregende, da andere Weise kulturellen Handelns erweisen.347 Gleichzeitig könnte formuliert werden, wofür die ‚Kirche‘ in der Gesellschaft der Gegenwart steht und was es ist, was nur sie ‚zu bieten‘ hat – bzw. was sich ihrer Darbietung immer aufs Neue entzieht und nur als absente Präsenz gewahrt und gehütet, gelobt und gefeiert werden kann.

347 In eine vergleichbare Richtung argumentiert Andrea Grillo in seiner Fundamentalliturgie; vgl. GRILLO: Einführung in die liturgische Theologie, bes. 45–62.

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Literatur

Das Literaturverzeichnis führt die zur Erarbeitung verwendete Literatur auf. Die verwendeten Abkürzungen beziehen sich auf SCHWERTNER, SIEGFRIED M., Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. Zeitschriften, Serien, Lexika, Quellenwerke mit bibliographischen Angaben, Berlin/New York 21992. Verwendete Hilfsmittel sind in der alphabetischen Liste vermerkt. Wo in der Arbeit nicht anders angegeben, beziehen sich Bibel-Zitate auf die Lutherbibel (1984). Sind mehrere Titel eines Autors/einer Autorin aufgelistet, so sind die Titel chronologisch nach dem Erscheinungsjahr des zitierten Textes und innerhalb desselben Erscheinungsjahres alphabetisch geordnet. ADLER, JACOB GEORG CHRISTIAN, Schleswig-Holsteinsche Kirchen-Agende. Einrichtung der öffentlichen Gottesverehrung. Formulare für die öffentlichen Religionshandlungen. Sonntagsund Festtags-Perikopen, auf allerhöchsten Königlichen Befehl zum künftigen allgemeinen Gebrauch in den Herzogthümern Schleswig und Holstein, der Herrschaft Pinneberg, der Grafschaft Ranzau und der Stadt Altona, Schleswig 1797. AHRENS, PETRA-ANGELA/WEGNER, GERHARD, „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier …“ Erkundungen zur Affinität sozialer Milieus zu Kirche und Religion in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, Hannover 2008. ALAND, KURT (Hg.), Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, 6 Bd., Stuttgart/Göttingen 21966. ALBERT, KARL, Vom Kult zum Logos. Studien zur Philosophie der Religion, Hamburg 1982. ALBRECHT, CHRISTOPH, Schleiermachers Liturgik. Theorie und Praxis des Gottesdienstes bei Schleiermacher und ihre geistesgeschichtlichen Zusammenhänge, VEGL 13, Göttingen 1963. –, Einführung in die Liturgik, Göttingen 51995. –, Die gottesdienstliche Musik, in: Hans-Christoph Schmidt-Lauber/Michael Meyer-Blank/KarlHeinrich Bieritz (Hg.), Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche, Göttingen 32003, 413–435. ALBRECHT, JUERG u.a. (Hg.), Kultur Nicht Verstehen. Produktives Nichtverstehen und Verstehen als Gestaltung, Theorie: Gestaltung, Zürich 2005. ALTHAUS, PAUL, Das Wesen des evangelischen Gottesdienstes, Gütersloh 21932 [zuerst 1926]. ANDERSON, E. BYRON, Worship and Christian Identity. Practicing Ourselves, Collegeville (Minnesota) 2003. APEL, KARL-OTTO, Der Denkweg von Charles S. Peirce. Eine Einführung in den amerikanischen Pragmatismus, Frankfurt/M. 1975. ARMSTRONG, KAREN, Die Achsenzeit. Vom Ursprung der Weltreligionen, aus dem Englischen v. Michael Bayer und Karin Schuler, München 2006. ARNOLD, JOCHEN, Theologie des Gottesdienstes. Eine Verhältnisbestimmung von Liturgie und Dogmatik, VLH 39, Göttingen 2004. –, Was geschieht im Gottesdienst? Zur theologischen Bedeutung des Gottesdienstes und seiner Formen, Göttingen 2010. –, Der Gottesdienst als Gegenstand und Quelle, Gabe und Aufgabe der Theologie, in: Irene Mildenberger/Wolfgang Ratzmann (Hg.), Zur Theologie des Gottesdienstes, Beiträge zu Liturgie und Spiritualität 25, Leipzig 2011, 95–119.

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Literatur

ZUNZ, LEOPOLD, Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden. Historisch entwickelt. Ein Beitrag zur Altertumskunde und biblischen Kritik, zur Literatur- und Religionsgeschichte, hg. v. N. Brüll, Frankfurt/M. 21892 [zuerst 1832]. ZUR MÜHLEN, Karl-Heinz, Wirkung und Rezeption Luthers im Zeitalter von Pietismus und Aufklärung, in: Albrecht Beutel (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 473–477.

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Namensregister

Adler, Jacob Georg Christian 236–240 Adorno, Theodor W. 206, 443 Aland, Kurt 94 Albert, Karl 185, 262 Albrecht, Christoph 82, 98, 101, 103– 110, 507f Albrecht, Juerg 349 Althaus, Paul 179, 195, 262, 494 Amsdorf, Nikolaus von 376 Angelico, Fra 450f Anselm von Canterbury 145 Apel, Karl-Otto 65 Aristoteles 65, 199, 415, 419, 430 Arper, Karl 259 Armstrong, Karen 99 Arnold, Jochen 27, 72, 74, 507 Artaud, Antonin 411 Asmussen, Hans 85f, 222, 241, 281, 496, 500, 530, 540 Assel, Heinrich 15, 27, 45, 114, 266, 313, 325, 386 Assmann, Aleida 182 Assmann, Jan 182 Augustin 75, 150, 313, 441, 448, 472, 512 Austin, John Langshaw 381 Averbeck, Wilhelm 73, 99, 152, 186, 233, 250, 252, 441, 471, 473, 477 Bachl, Gottfried 531 Bachmann-Medick, Doris 218 Bachtin, Michail 338, 346, 354, 375 Bader, Günter 310f Bäumer, Regina 500 Ballhorn, Egbert 280, 309 Baltruweit, Fritz 175 Bainton, Roland Herbert 93 Barth, Ferdinand 415 Barth, Hans-Martin 403

Barth, Karl 91, 127, 130f, 135f, 148, 179, 262, 273, 438, 448, 505, 538 Barth, Ulrich 142 Baudy, Dorothea 214, 505 Bauman, Zygmunt 331 Baumgarten, Alexander Gottlieb 362, 373 Bayer, Oswald 20, 27, 73 Beauduin, Lambert 534 Beck, Wolfgang 66 Becker, Hansjakob 501 Beintker, Horst 123 Bel, Jérôme 405 Benedikt XVI. 278, 297, 326, 543 Benjamin, Walter 357–360, 367, 371– 373, 391 Benyoetz, Elasar 181 Berger, Peter L. 477 Berger, Rupert 279, 300, 516 Beuscher, Bernd 537f Beutel, Albrecht 85–87, 121 Bhabha, Homi K. 330 Bieritz, Karl-Heinrich 16, 23–26, 46, 53f, 79, 82, 86, 89, 92, 96, 99, 118f, 147, 170, 174, 183f, 216, 227, 250, 256, 260, 379, 421, 429, 448, 472, 510, 532, 536, 538, 542 Binder, Christian 59 Birnbaum, Nathan 180 Blasberg-Kuhnke, Martina 309 Bloch, Ernst 204 Blumenberg, Hans 205f Böckler, Annette 314, 323 Böttrich, Christfried 344 Bonaccorso, Giorgio 491 Bornhauser, Thomas 58, 459 Bornhäuser, Karl 490 Bornkamm, Heinrich 125 Boschki, Reinhold 535

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Namensregister

Bourgeois, Daniel 543 Bradshaw, Paul Frederick 474 Brandstätter, Ursula 355f, 363, 369, 388f, 450 Brandy, Hans Christian 22 Braulik, Georg 501 Brecht, Bertolt 328, 393, 406, 412–421, 425–432, 481 Bronstein, Herbert 319 Brook, Peter 328, 392f, 414, 420–427, 432–434 Brüske, Gunda 498 Brunner, Peter 23, 45, 60, 64, 249, 441 Buber, Martin 149, 181, 319, 472 Bubmann, Peter 14f Buchholz, Friedrich 273 Bukowski, Sylvia 519 Bultmann, Rudolf 151f, 159, 346 Burghart, Georg 490 Burgin, Victor 420 Burke, John 500 Burkhardt, Armin 54 Butler, Judith 369 Byars, Ronald P. 83, 468, 515 Calvin, Johannes 508, 511, 519 Casel, Odo 220, 310f Cassirer, Ernst 292 Cézanne, Paul 452 Chupungco, Anscar J. 30 Cohen, Hermann 314 Cornehl, Peter 15, 24, 33, 38, 41–44, 50, 59, 65, 70, 73f, 79, 83, 99f, 138, 148, 151, 161, 191, 227, 233, 235f, 245, 255, 266, 271, 492, 505, 514, 545, 547 Corneille, Pierre 350 Cranach d.Ä., Lucas 89f Csikszentmihalyi, Mihaly 216 Danzeglocke, Klaus 507 Debord, Guy 406f, 409, 442–445, 507 Deml-Groth, Barbara 162, 164 Derrida, Jacques 120, 126f, 134, 349, 357, 407, 483 Descartes, René 335, 348, 357

Des Préz, Josquin 508 De Vries, Sytze 519 Dewey, John 363 Didi-Huberman, Georges 450f Diebner, Bernd-Jörg 471 Dietz, Otto 272 Dietz, Roland B. 545 Dillard, Annie 527 Dilthey, Wilhelm 330 Dinkel, Christoph 26, 48, 110, 148, 437, 476 Dober, Hans Martin 52, 70, 129f, 142, 449, 469 Dolch, Heimo 199 Domay, Erhard 530 Domin, Hilde 524 Drehsen, Volker 399 Duala M'bedy, Munasu 329 Duck, Ruth C. 517, 522–524 Dunnam, Maxie D. 521f Duns Scotus, Johannes 484 Durkheim, Émile 205 Ebeling, Gerhard 27, 28, 33, 76, 88, 121 Ebertz, Michael 131, 547 Eco, Umberto 68, 483 Eger, Karl 238, 242 Ehrenfeuchter, Friedrich 185 Ehrensperger, Alfred 13, 233, 236, 238, 240, 492 Eicker, Thomas 313 Elert, Werner 63, 179 Elias, Norbert 369 Elbogen, Ismar 315–318 Engelhardt, Klaus 488 Engemann, Wilfried 54, 107, 374, 529 Erasmus von Rotterdam 76, 86 Fallada, Hans 413 Fendler, Folkert 59 Fezer, Karl 151 Fischer, Balthasar 292 Fischer, Ulrich 130 Fischer-Lichte, Erika 55f, 357, 363, 369–371, 375, 379f, 387f, 392, 397f, 400–402, 410, 436

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Namensregister Flacius Illyricus, Matthias 124 Forster, Karl 199 Forsythe, William 405 Franz, Ansgar 501 Freud, Sigmunt 331 Friedrich, Johannes 457f, 461 Friedrich, Marcus A. 418 Friedrich Wilhelm III. 242, 244 Friedrichs, Lutz 546 Frishman, Elyse D. 320, 322 Früchtl, Josef 390, 399, 404 Fuchs, Georg 415 Fürst, Walter 33, 53 Gadamer, Hans-Georg 116–118, 123, 338 Gagnebin, Laurent 309 Gall, Sieghard 459, 464f Gerhards, Albert 61, 150, 287, 292, 313, 491 Gerhardt, Paul 439, 513 Gerlitz, Peter 143 Geyer, Christian 267 Geyer, Paul 100 Girard, René 471 Glock, Charles Y. 206 Goergen, Aloys 262 Goethe, Johann Wolfgang von 240f, 347f Goeze, Johann August Ephraim 237f, 504 Gojny, Tanja 15 Goldberg, Oskar 178–183, 323f Gosch, Jürgen 413f Gräb, Wilhelm 46–48, 52f, 60, 101, 112–114, 142, 213, 216f, 224, 377, 436, 467, 541 Graf, Friedrich Wilhelm 49f Graff, Paul 13, 98, 233–240, 261 Gregur, Josip 311 Grethlein, Christian 32, 38, 40f, 131, 147, 339 Grillo, Andrea 27, 32, 62f, 282, 306– 308, 311, 313, 491, 535, 549 Grözinger, Albrecht 52, 88f, 418, 452 Guardini, Romano 26, 32, 44, 69, 100f,

585

145, 249, 261f, 289f, 299, 383, 477, 542 Guéranger, Dom Prosper 151 Guhr, Ekkehard 92f Gumbrecht, Hans Ulrich 328, 338, 348ff, 352–357, 360, 362, 368, 372– 380, 388, 401, 404, 410, 438 Haberer, Tilmann 533 Habermas, Jürgen 293, 477 Härle, Wilfried 66f Häußling, Angelus A. 198, 216 Hager, Fritz Peter 34 Hahn, Alois 205, 212 Hahn, Ferdinand 40f, 473 Hahn, Wilhelm 183 Hahne, Werner 30–32, 71, 149, 291, 396 Hailer, Martin 205–207 Hake, Joachim 214, 218 Harbsmeier, Götz 74, 76, 151–161, 168, 170–172, 183, 185, 197, 199, 201, 211, 226, 383, 400, 471, 492 Harnack, Adolf (von) 132–134 Harnack, Theodosius 477 Harris, Ben 320f Hartwich, Wolf-Daniel 182 Hauerwas, Stanley 27, 468 Haug, Walter 349 Hauschild, Wolf-Dieter 74 Hauschildt, Eberhard 16, 25 Hawthorn, Jeremy 126 Hecht, Werner 414f, 418–420, 428, 431 Heeg, Günther 405, 410–412, 414 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 76, 97f, 160, 185, 365, 417 Heidegger, Martin 153, 155, 159, 179, 349, 352f, 361, 369, 518 Heiler, Friedrich, 262–266, 294 Hemme, Tanja 330 Herbst, Wolfgang 79, 82f, 237f, 242f, 504 Herlyn, Okko 61f, 93, 147, 154, 156, 160f, 170 Hermann, Johannes 439 Hermelink, Jan 164, 457

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Namensregister

Herrmann, Wilhelm 256 Herten, Joachim 69 Herwegen, Ildefons 261, 279f Heuser, Stefan 15, 99 Heye, Andreas 507 Hilberath, Bernd J. 286 Hintzenstern, Herbert von 89 Hörisch, Jochen 349 Hoffman, Lawrence A. 317 Hofmann, Beate 93 Holeton, David R. 500 Holl, Karl 86, 90, 96, 121, 266 Hoping, Helmut 32, 46, 287, 293, 475 Horkheimer, Max 206, 443 Horn, Curt 273 Huber, Wolfgang 48, 457f, 461, 477 Hübner, Hans 29, 39 Hünermann, Peter 286 Hupfeld, Renatus 259–261, 264, 266f, 270–273, 481, 519, 543 Husserl, Edmund 179, 347, 368 Irrlitz, Gerd 416 Jacob, Walter 321 Jaspers, Karl 99, 143 Jeggle-Merz, Birgit 32, 69, 310 Jetter, Werner 24, 88, 210–217, 219, 456f, 459 Jörns, Klaus-Peter 48f, 133–135 Joest, Wilfried 27f Johannes Paul II. 59, 543 Joppich, Godehard 512 Jordahn, Ottfried 234, 236, 239 Jorissen, Matthias 511 Josuttis, Manfred 20, 25, 41, 49–52, 60, 70, 99, 111, 138, 140f, 147, 172, 195–198, 212, 219, 223, 262, 310f, 387, 430, 477, 481, 483, 495, 506, 531f, 536f Jüngel, Eberhard 34, 45, 63f, 69, 72, 129, 148, 227, 436, 470, 519 Jung, Carl Gustav 138, 355 Jungmann, Josef Andreas 477 Kabel, Thomas 393–400, 402, 527

Kaczynski, Reiner 279, 281, 285–287, 289f, 300 Käsemann, Ernst 41, 94, 148 Kalb, Friedrich 73, 80, 105, 151, 233, 241, 473 Kamper, Dietmar 369, 374, 389, 442, 443, 444 Kant, Immanuel 185, 373 Kaplan, Dana Evan 321 Karl der Große 299 Karlstadt, Andreas (Bodenstein aus) 74f, 77f, 81, 83, 86 Kasparick, Hanna 132f Kastl, Eleonore 15 Kaufmann, Thomas 76 Kehlmann, Daniel 413 Kennel, Gunter 130 Kerl, Gerd 59 Kerner, Hanns 54, 389, 457, 462 Kierkegaard, Søren 338 Kießling, Klaus 537 Kirsner, Inge 540 Kissler, Alexander 300f Klek, Konrad 233, 249–254, 256f, 266 Klessmann, Michael 544 Klie, Thomas 26, 33, 54, 60, 66–69, 113, 224, 227, 488, 505, 540 Kliefoth, Theodor 185, 244f Knecht, Achim 459, 465f Knobel, Peter S. 320f Knopf, Jan 417–420 Körtner, Ulrich H. J. 262, 477 Kok, Cornelis 520 Kolbe, Ferdinand 279 Kolesch, Doris 404 Korherr, Edgar Josef 537 Korsch, Dietrich 94 Kraemer, Hendrik 92 Krämer, Peter 184 Kranemann, Benedikt 22, 32, 61, 150, 280, 287, 292, 297, 308f, 313, 491, 546 Kraus, Hans-Joachim 186, 528 Krause, Cyprian 310–313 Kressel, Hans 244–246, 248 Kristeva, Julia 331

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Namensregister Kühn, Ulrich 36 Kunstmann, Joachim 99 Kunz, Ralph 20, 38, 146, 170, 174, 196, 391, 476f, 511 Kunzler, Michael 305f, 342, 539 Kutzner, Hans-Jürgen 370 Lacan, Jacques 331, 340, 408 Lämmlin, Georg 142 Lando, Michael 320 Lange, Ernst 22, 24, 69, 129f, 161–172, 183, 210 Langer, Susanne K. 292, 473 Langer, Ruth 323 Lathrop, Gordon 27 Latzel, Thorsten 457 Lehmann, Karl 533 Lehmkühler, Karsten 79, 185 Lengeling, Emil J. 150, 184, 289 Leonhard, Silke 540 Le Roy, Xavier 405 Lessing, Gotthold Ephraim 127f, 415 Lefebvre, Marcel 290, 297, 300 Lévinas, Emmanuel 366, 372, 437 Linderholm, Johannes Emanuel 192, 502 Lindner, Herbert 460 Lingen, Jan von 175 Löhe, Wilhelm 83, 241, 244–249, 430, 536 Löwenich, Hermann von 488 Lohmeyer, Ernst 148 Lohse, Bernhard 385 Lorenzer, Alfred 37, 291–297, 304, 439 Lukatis, Ingrid 457 Lunk, Johanna 249 Luther, Henning 489 Luther, Martin 14, 33, 37, 58, 71–92, 94–98, 100–102, 109, 113–116, 118– 125, 127, 131, 137, 140, 142f, 148, 155f, 159, 168, 194, 213, 220f, 223– 227, 232, 234, 236, 238f, 245, 248f, 253, 256, 266, 268f, 272, 288, 339– 341, 346, 351, 382, 385f, 427, 435, 437, 444, 446, 452, 455, 467, 470f, 476, 489, 491, 494, 508–511, 519, 530, 536, 549

587

Lyotard, Jean-François 361 Macholz, Waldemar 194 Magonet, Jonathan 322 Magritte, René 364 Mahrenholz, Christhard 19 Major, Georg 376 Mann, Thomas 181f Manzeschke, Arne 99 Manzoni, Piero 450 Marcus, Dorothea 414 Margolis, Peter 322 Markschies, Christoph 493f Marsili, Salvatore 39 Martenstein, Harald 455 Martin, Gerhard Marcel 421, 423 Martin, Jeannett 461 Marx, Reinhard 300 Marx, Karl 374, 417, 443 Matiasek, Hellmuth 219 Matussek, Paul 199 Matzig, Gerhard 452 Mauz, Andreas 405, 527 Maybaum, Siegmund 316–318 Mayer, Hans 415–417, 419 Meier, Daniel 15, 58, 222, 477 Melanchthon, Philipp 72, 80, 88, 91, 125 Mensching, Gustav 266 Merleau-Ponty, Maurice 369 Mersch, Dieter 328, 357, 359–368, 372–374, 379, 381f, 390, 401, 403– 405, 410, 449, 450, 525 Meßner, Reinhard 39f, 69, 231 Meyer, Thomas 218f Meyer-Blanck, Michael 20, 27, 32, 55, 66, 72, 78f, 82, 92, 101, 110, 112, 114–116, 118f, 137f, 147, 173, 211f, 214, 278, 307, 313, 341f, 391, 399f, 420 Milbank, John 484 Mildenberger, Friedrich 429, 445 Mildenberger, Irene 15, 45, 227, 313 Mittenzwei, Werner 218 Möller, Christian 41, 45, 59 Mohaupt, Lutz 460

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Namensregister

Molière 350 Moltmann, Jürgen 170 Monzel, Nikolaus 199 Mosebach, Martin 55, 291, 300–304, 326, 340, 439, 509f Moser, Felix 170, 174, 476f, 511 Mostert, Walter 97f Mowinckel, Sigmund 183, 186–190 Muck, Herbert 290 Mühlen, Heribert 305 Müller, Karl Ferdinand 24, 152, 157, 261f Müller, Klaus-Detlef 415f, 420, 431 Müller, Theophil 170 Müller-Schwefe, Hans-Rudolf 457 Musculus,Wolfgang 79, 82 Musil, Robert 336, 342 Nancy, Jean-Luc 377, 389 Neijenhuis, Jörg 498, 502f Nestle, Wilhelm 143 Nicol, Martin 14f, 37f, 44, 173f, 309, 382–385, 387, 430–435, 437, 445, 471, 477–482, 489–491, 495–497, 502f, 506f, 513, 517, 526, 529, 531, 534, 547 Niebergall, Alfred 79, 81, 93, 185, 234, 242–244, 305 Niebergall, Friedrich 266 Nietzsche, Friedrich 179, 349 Nikolaus von Kues 139 Nowak, Kurt 315 Nürnberger, Christian 427 Odenthal, Andreas 211, 292, 307f Oosterhuis, Huub 518–521 Ortu, Marco 331 Otto, Rudolf 25, 141, 175, 188, 190– 198, 207, 253, 266, 325, 361, 502, 533 Pahl, Irmgard 528 Parsch, Pius 279 Paul VI. 278 Pecklers, Keith F. 535 Peirce, Charles Sanders 65f, 68

Perceval, Luk 413 Persch, Jörg 16 Peters, Christian 74 Petzoldt, Matthias 28 Pfister, Joseph 199, 204 Pickstock, Catherine 137, 296f, 376, 483–487, 489, 515f, 518 Pieper, Joseph 199–201, 203, 205f, 219 Pius XII. 281 Platon 126, 134, 199, 391, 483f Plüss, David 15, 55f, 64, 99, 214, 328, 390, 392f, 421, 432, 434, 492 Pohl-Patalong, Uta 459, 464, 466–468 Pompe, Hans-Hermann 458, 463 Post, Paul 183 Praßl, Franz K. 16 Preul, Rainer 544 Prokopf, Andreas 66 Prosper von Aquitanien 26, 46 Racine, Jean 350 Rad, Gerhard von 144 Rahner, Karl 62f, 307, 537 Ramshaw, Gail 515, 523–525, 538 Raschzok, Klaus 15, 20, 36, 54, 328, 396, 505, 532, 539f, 548 Ratzinger, Joseph 37, 39f, 44, 145, 176f, 303, 507, 526, 545 Ratzmann, Wolfgang 15, 61, 227, 500 Rauhaus, Alfred 20 Rauschenberg, Robert 449, 450 Redtenbacher, Andreas 14, 279, 304 Reich, Christa 512 Reichert, Detlef 234 Reifenberg, Hermann 29f, 140 Rein, Gerhard 162, 168 Reinke, Stephan A. 507 Reppenhagen, Martin 463 Richter, Olaf 220f, 537–539 Ricœur, Paul 383 Riefenstahl, Leni 359 Ringleben, Joachim 76, 123 Ritter, Karl Bernhard 261, 267, 270f Rössler, Dietrich 494 Rogers, Carl R. 398 Rohrbasser, Anton 281

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Namensregister Roloff, Jürgen 473 Rosenstock, Eugen 469 Rosenzweig, Franz 149, 181, 319, 323– 325, 327, 469, 472, 537 Roßner, Benjamin 459, 463, 539 Roth, Ursula 56, 328, 393, 395f, 399, 418, 421, 423, 425f Ruddat, Günter 131, 147 Rülicke-Weiler, Käthe 418 Saberschinsky, Alexander 49, 291, 537 Saliers, Don E. 27, 63, 479, 492, 535f, 548 Sander, Kai Gallus 26, 38, 62 Sarason, Richard S. 322 Sauer, Ralph 533 Schädelin, Albert 151 Schäfer, Paula 280 Schaeffler, Richard 141, 201–206 Scheele, Paul-Werner 278 Schiller, Friedrich von 373, 404, 428 Schilson, Arno 214–219, 310 Schimmelpfennig, Roland 414 Schlechter, Daniel S. 320, 321 Schleiermacher, Friedrich 67, 101–112, 118, 128, 132, 169, 185, 191, 193, 203, 224, 241, 249f, 252, 274, 341f, 482, 523, 541, 543 Schlemmer, Karl 40 Schlingensief, Christoph 413f Schlink, Edmund 149 Schmaus, Michael 199 Schmidt, Christopher 412–414 Schmidt, Hermann 199 Schmidtchen, Gerhard 456, 459–462 Schmidt-Lauber, Hans-Christoph 36, 44, 57, 95f, 185, 192, 241, 278, 472, 477, 547 Schmidt-Rost, Reinhard 343 Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich 329 Schmitz, Hermann 140f, 387 Schopenhauer, Arthur 179, 373 Schöttler, Heinz-Günther 287, 297, 309 Schrempf, Christoph 132 Schröer, Henning 446 Schröter, Kathrin 329

589

Schroeter-Wittke, Harald 174, 507 Schuck, Martin 438, 445, 493 Schulz, Frieder 36, 73, 149f, 177, 277, 287, 492, 511, 524 Schulze, Gerhard 216, 218 Schwartz, Detlef 191, 502, 533 Schwartz, Yossef 405 Schwier, Helmut 459, 464f Seebaß, Horst 144 Seel, Martin 328, 361f, 373, 375, 381, 401, 404, 449 Seiler, Georg Friedrich 234, 236, 238f Seitz, Manfred 173, 244, 505 Sell, Johannes 512 Sennett, Richard 398, 399 Serres, Michel S. 377–379, 381 Siebert, Andrea 16 Siegmund, Gerald 328, 405–409, 412, 414, 450, 451 Slenczka, Reinhard 36 Smend, Julius 13, 111f, 232, 240, 249– 259, 266 Söderblom, Nathan 188 Sölle, Dorothee 428 Sontag, Susan 349 Speratus, Paul 509 Spill, Christoph 16 Spitta, Friedrich 111f, 128, 232, 249– 256, 490 Stählin, Wilhelm 140, 191, 207–210, 215, 219, 241, 261, 267, 269–271, 440, 441 Stanislawski, Konstantin, 395, 418, 425 Steck, Wolfgang 41 Steffensky, Fulbert 428, 541 Steinacker, Peter 457, 458, 461, 488 Steiner, George 349 Steinmeier, Anne M. 16, 328, 418, 421, 423, 432f Steins, Georg 280, 308 Steup, Matthias 35 Stevick, Daniel B. 515 Stock, Alex 301, 496 Stoellger, Philipp 349, 448, 501, 502 Streiff, Stefan 88

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590

Namensregister

Stroh, Ralf 103f, 110, 128 Stuart, Meg 405 Stuflesser, Martin 537 Suhr, Ulrike 421, 432f Tacke, Helmut 125f Taubes, Jacob 179–182 Tergau-Harms, Christine 175 Tersteegen, Gerhard 387, 404f, 409, 499 Theißen, Henning 173f, 226 Thomas von Aquin 62, 79, 199f, 313, 536 Tillich, Paul 128, 147, 538 Turner, Victor 488 Umbach, Helmut 214 Vagaggini, Cyprian 27, 32f, 83, 151, 226, 279, 282–285, 289, 474, 505f, 537–539, 543 Vajta, Vilmos 13, 76, 148, 156 Vattimo, Gianni 348 Vodopivec, Johann 204 Voigts, Manfred 178, 180–182 Volp, Rainer 20, 24, 41, 54, 57, 67f, 210, 227 Volz, Paul 186 Vondung, Klaus 204 Vorgrimler, Herbert 287, 547 Wachowski, Johannes 497, 499–501 Wagner, Harald 28 Wagner, Johannes 100 Wagner, Richard 370, 418 Wahle, Stephan 129, 537 Wainwright, Geoffrey 20, 27, 79, 184, 472

Waldenfels, Bernhard 228, 328f, 332– 347, 360, 368, 371, 379, 401, 429, 432, 435 Wallraff, Martin 36 Walt jr., John David 521f Wannenwetsch, Bernd 27, 63 Ward, Graham 484 Ward, Richard F. 468 Watzlawick, Paul 347, 355, 399 Weber, Max 83, 295 Weber, Otto 73, 257, 272f, 446 Wellhausen, Julius 490 Wendebourg, Dorothea 36, 532 Weyer-Menkhoff, Stephan 37, 55, 100, 214–216, 218, 220, 262 Wiefel-Jenner, Katharina 191–193, 197 Wiggermann, Karl-Friedrich 32, 73, 92, 94 Winkler, Vera-Sabine 518, 525 Wintzer, Friedrich 185 Wipo von Burgund 508 Wöllenstein, Helmut 394f, 398, 400 Wohlmuth, Josef 309 Wohlrab-Sahr, Monika 457 Woppowa, Jan 535 Yoffie, Eric 320 York, Terry W. 515 Ziebertz, Hans-Georg 66 Zillessen, Alfred 259, 529 Zilleßen, Dietrich 537f, 541 Zimmerling, Peter 168 Zimmermann, Jörg 390, 399, 404 Zink, Jörg 138–140 Zovko, Jure 124 Zunz, Leopold 316 Zur Mühlen, Karl-Heinz 127 Zwingli, Ulrich 305, 351, 385, 459, 508

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Gelungenes Predigen durch homiletische Präsenz

Alexander Deeg / Michael Meyer-Blanck / Christian Stäblein Präsent predigen Eine Streitschrift wider die Ideologisierung der »freien« Kanzelrede 2011. 118 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62001-4

Wer eine gelungene Predigt halten will, der scheint – will man der jüngeren homiletischen Diskussion folgen – allein auf die freie Kanzelrede verwiesen zu werden. Diese Streitschrift wendet sich gegen den so oft gepriesenen »Königsweg« des Predigens und setzt sich stattdessen für die Rehabilitierung des Predigtmanuskriptes ein. Unter dem Stichwort »präsent predigen« plädieren die Autoren dieses Bandes für die gut vorbereitete, theologisch und homiletisch sorgfältig reflektierte Kanzelrede. Diese in angemessener Nähe und Distanz zur Gemeinde vorzutragen ist eine Kunst. Aber so kann die Predigt auch die Form des öffentlichen Redens in der Gesellschaft prägen. Darum ist eine genaue rhetorische Reflexion vonnöten und jede falsche rednerische Routine von Übel.

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Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie 70: Matthias Biermann »Das Wort sie sollen lassen stahn ...«

64: Dörte Gebhard Glauben kommt vom Hörensagen

Das Kirchenlied im »Kirchenkampf« der evangelischen Kirche 1933-1945 2011. 427 Seiten mit 7 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-62416-6

Studien zu den Renaissancen von Mission und Apologetik 2010. 350 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62442-5

69: Michael Lorenz Das Wort im Spannungsfeld von Anrede und Interpretation

63: Thomas Erne / Peter Schüz (Hg.) Die Religion des Raumes und die Räumlichkeit der Religion

Erfahrungsbezug und Wirklichkeitsdeutung in der Predigt 2011. 263 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62415-9

2010. 256 Seiten mit 50 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-62441-8

67: Silke Harms Glauben üben

Bioethische Erkundungen zur Leiblichkeit des Menschen 2010. 230 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62412-8

Grundlinien einer evangelischen Theologie der geistlichen Übung und ihre praktische Entfaltung am Beispiel der »Exerzitien im Alltag« 2011. 288 Seiten mit 4 Abb. und 2 Tab., kart. ISBN 978-3-525-57016-6

66: Andreas Kubik (Hg.) Protestantismus – Aufklärung – Frömmigkeit Historische, systematische und praktisch-theologische Zugänge 2011. 280 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-57125-5

65: Kristin Merle Alltagsrelevanz Zur Frage nach dem Sinn in der Seelsorge 2011. 352 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62413-5

61: Ulrich H.J. Körtner Leib und Leben

60: Johannes Block/Holger Eschmann (Hg.) Peccatum magnificare Zur Wiederentdeckung des evangelischen Sündenverständnisses für die Handlungsfelder der Praktischen Theologie 2010. 283 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62411-1

59: Ulf Liedke Beziehungsreiches Leben Studien zu einer inklusiven theologischen Anthropologie für Menschen mit und ohne Behinderung 2009. 652 Seiten mit 3 Graphiken, kartoniert ISBN 978-3-525-62410-4

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624142 — ISBN E-Book: 9783647624143