Das SS-Ahnenerbe und die »Straßburger Schädelsammlung« – Fritz Bauers letzter Fall [2 ed.] 9783428558575, 9783428158577

Der Anatom August Hirt ermordete im August 1943 im Konzentrationslager Natzweiler 86 Menschen. Deren Skelette wollte er

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German Pages 510 [511] Year 2019

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Das SS-Ahnenerbe und die »Straßburger Schädelsammlung« – Fritz Bauers letzter Fall [2 ed.]
 9783428558575, 9783428158577

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Zeitgeschichtliche Forschungen 52

Das SS-Ahnenerbe und die „Straßburger Schädelsammlung“ – Fritz Bauers letzter Fall Von Julien Reitzenstein Zweite, durchgesehene Auflage

Duncker & Humblot · Berlin

JULIEN REITZENSTEIN

Das SS-Ahnenerbe und die „Straßburger Schädelsammlung“ – Fritz Bauers letzter Fall

Zeitgeschichtliche Forschungen Band 52

Das SS-Ahnenerbe und die „Straßburger Schädelsammlung“ – Fritz Bauers letzter Fall

Von

Julien Reitzenstein

Zweite, durchgesehene Auflage

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagbild: Tibet-Expedition – Bruno Beger mit Messschieber bei kraniometrischer Messung (© Bundesarchiv, Bild 135-KB-15-083 / Fotograf: Ernst Krause) 1. Auflage 2018 Alle Rechte vorbehalten

© 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-15857-7 (Print) ISBN 978-3-428-55857-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-85857-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Dieses Buch widme ich den 115 Opfern eines beispiellosen Verbrechens, von denen 26 bis heute nicht identifiziert wurden und deren Schicksal ungeklärt blieb, sowie deren Angehörigen, allen Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft, den Gefallenen der Streitkräfte all jener Nationen, die ihr Leben und ihre Zukunft gegeben haben, um unser Land vom Terror zu befreien, das Leiden Unzähliger zu beenden und uns Freiheit und die Rückkehr zu den Werten der Menschenrechte zu bringen. Diese Dankbarkeit verpflichtet uns, die Stimme zu erheben, wann immer einige Wenige mit menschenverachtenden Ideologien das Leben anderer Menschen dominieren oder für wertlos erklären wollen. Toleranz ist ein hohes Gut der Menschheit, aber keine Selbstverständlichkeit gegen jene, die keine Toleranz kennen. Möge die Menschheit couragiert und unbequem genug sein, auch in Zukunft die Stimme zu erheben, und konsequent handeln, wenn dies notwendig ist, um die Einhaltung der universellen Menschenrechte durchzusetzen, aber auch würdiges Gedenken an die Opfer menschenverachtender Regime.

Vorwort zur zweiten Auflage Als die Recherchen zu diesem Buch im Jahr 2010 begannen, war nicht abzusehen, auf welche ungewöhnlichen Wege die Forschungsarbeiten führen und welche Ergebnisse dadurch zu Tage treten würden. Zunächst einmal ging es darum, für eine wissenschaftliche Fragestellung zu recherchieren, die zu dem Buch „Himmlers Forscher“ führen sollte. Im Mittelpunkt dieser Forschungen stand das „Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung“, eine Einrichtung der Waffen-SS, eng verbunden mit der SS-Wissenschaftseinrichtung „Ahnenerbe“. Einer der Abteilungsleiter dieses Instituts war der Anatom und SS-Sturmbannführer August Hirt. Dieser war in ein Verbrechen verwickelt, das als „Straßburger Schädelsammlung“ bekannt ist. Seine Schuld als Urheber und Nutznießer des Verbrechens schien seit dem Nürnberger Ärzteprozess erwiesen. Dort sagten der angeklagte Geschäftsführer des „Ahnenerbe“ und Direktor des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung, Wolfram Sievers, und der Zeuge der Anklage, Henri Henripierre, übereinstimmend aus, August Hirt habe ein Museum geplant, worin er Skelette ermordeter Juden ausstellen wolle. Als Motiv wurde Propagierung der nationalsozialistischen Rassenlehre angenommen. Michael H. Kater wies in seinem vor einigen Jahrzehnten erschienenen und Maßstäbe setzenden Werk zum Ahnenerbe darauf hin, dass dies nicht stichhaltig sei. Ebenso zweifelte die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Hessen unter ihrem Leiter Fritz Bauer am Wahrheitsgehalt dieser Darstellung. Mit viel Engagement gelang es Bauer, dass über die Verbrechen des NS-Regimes eine breite öffentliche Debatte geführt wurde. Beispielsweise fanden dank seines beharrlichen Einsatzes die Auschwitz-Prozesse statt. Bei der Ergreifung Adolf Eichmanns, des Mitorganisators der Deportation von Millionen europäischer Juden in die Vernichtungslager, hatte Bauer ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt. Bauer und seine Staatsanwälte vermuteten wie Kater, dass der Anthropologe und frühere SS-Hauptsturmführer Bruno Beger eine viel größere Rolle bei der Straßburger Schädelsammlung spielte, als es die Vernehmungen im Zuge der Nürnberger Prozesse nahelegten. Nach umfangreichen Ermittlungen unterzeichnete Bauer die Anklageschrift gegen Bruno Beger und weitere Tatbeteiligte – seine wohl letzte Anklage gegen einen NS-Täter. Diese datiert, möglicherweise zufällig, auf den 8. Mai 1968, genau 23 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Wenige Wochen später starb Fritz Bauer.

VIII Vorwort

Bruno Beger und das Verbrechen der Straßburger Schädelsammlung war somit praktisch Fritz Bauers letzter Fall. Bruno Beger war nicht Angehöriger des Instituts für wehrwissenschaft­ liche Zweckforschung, weshalb die Straßburger Schädelsammlung und Beger selbst in der Forschungsliteratur über diese Einrichtung nur am Rande erwähnt werden. Es blieben viele offene Fragen. Im Zuge der Recherchen für das Buch „Himmlers Forscher“ nahmen die offenen Fragen von Archivbesuch zu Archivbesuch immer mehr zu und die tradierte Darstellung des Verbrechens, seines Ablaufs und seines Motivs erschien immer unplausibler. Das legte es nahe, Fritz Bauers letzten Fall im Spiegel der neuen Quellenerkenntnisse aufzuklären, abzuschließen und die offenen Fragen zu beantworten. Aus diesen Gründen entstand ab dem Jahre 2011 dieses Buch. Es befasst sich nicht mit der Persönlichkeit Fritz Bauers, sondern geht ausschließlich dem letzten von ihm angeklagten Verbrechen nach. Das Ziel dieses Buches lautete, die neuen Erkenntnisse so zu verdichten, dass die Täter, würden sie heute vor Gericht gestellt, verurteilt werden könnten. Die notwendigen Recherchen führten in zahlreiche Archive. Parallel zur geschichtswissenschaftlichen Arbeit mussten unter anderem die Erkenntnisse der Kriminologie, der Aussagepsychologie, der Biochemie, der Medizin und des Rechts einbezogen werden, um die Quellenfunde einzuordnen und zu bewerten. Es ist naheliegend, dass ein Historiker eher selten Skelette präpariert und daher etwa den Zusammenhang zwischen Formol und Ameisensäure nicht sofort erkennt. Forensische Geschichtswissenschaft, die Kombination aus Rechtswissenschaften, Rechtsmedizin, Geschichtswissenschaft und weiterer Disziplinen, arbeitet mit einem transdisziplinärem Ansatz. Insoweit verdankt dieses Buch viele Aspekte dem Fachwissen zahlreicher Spezialisten, deren Expertise an den entsprechenden Stellen benötigt wurde. Dieses Buch fügt Quellen und Fakten, Meinungen und Interpretationen zu einem neuen Bild zusammen. Ermittelnde Staatsanwälte müssen von der Existenz eines Verbrechens und der Schuld eines ermittelten Täters überzeugt sein. Dann klagen sie an und versuchen, durch Interpretation der vorgelegten Fakten ein unvoreingenommenes Gericht vom Tathergang und dem schuldhaften Handeln der Täter zu überzeugen. Insofern versteht sich dieses Buch auch als Erhärtung des Verdachts der letzten Anklageschrift Fritz Bauers. Es versetzt den Leser in die Lage, sich selbst ein Urteil zu bilden. Er wird praktisch zur Revisionsinstanz, die auf Grundlage der im Buch vorgelegten neuen Dokumente entscheidet, ob es sich bei der Verurteilung Begers Anfang der 1970er Jahre um ein Fehlurteil handelt oder nicht.

VorwortIX

Im Verlaufe der Darstellung wird sich zeigen, dass seit Kriegsende Generationen von Historikern ein Bild vom Verbrechen Straßburger Schädelsammlung gezeichnet haben, das nicht den tatsächlichen Ereignissen entspricht, die die Quellen in ihrer Gesamtheit nahelegen. Es wird sich zeigen, dass zwar der Angeklagte und der Zeuge der Anklage Ähnliches aussagten. Doch offenbar wurde nie seit dem Nürnberger Ärzteprozess der Hintergrund des Zeugen vertieft überprüft. Um die Glaubwürdigkeit eines Zeugen und die Glaubhaftigkeit seiner Aussage zu prüfen, ist es jedoch wichtig zu erforschen, ob Interessenkonflikte vorliegen oder er gar eigene Interessen verfolgt. Dieses Buch trägt zur Aufklärung eines Verbrechens bei, das vor mehr als 75 Jahren begangen wurde. Es soll aber auch deutlich machen, dass die seit mehr als sieben Jahrzehnten andauernde Zeit von Frieden, Rechtsstaat und Demokratie in Europa keine Selbstverständlichkeit ist, sondern ein Glück. Es soll unterstreichen, dass der Nationalsozialismus und die Shoah Verbrechen waren, die mit nichts verglichen werden können und sollen. Bei aller Aufregung über die aktuelle politische Entwicklung in Deutschland und Europa soll das Buch mit Blick auf die Lebenswirklichkeit zum Zeitpunkt des Verbrechens der Straßburger Schädelsammlung klar machen, in welch glück­ lichen Zeiten wir heute leben dürfen. Schon kurz nach seiner Vorstellung wurde das Buch besprochen. Wolfgang Benz urteilte in der Süddeutschen Zeitung: „Die Wahrheit hinter den Legenden, die Reitzenstein in seiner luziden Studie zerstört, ist noch viel verstörender als der Befund selbst. (…) Das Ergebnis seiner Forschung ist keine angenehme, jedoch sehr notwendige Lektüre. (…) Seriöse Wissenschaft – das zeigt Reitzenstein – kann Augen öffnen.“ Nikoline Hansen schrieb in der Jüdischen Rundschau: „Gelegentlich ist es notwendig, andere Fragen zu stellen und auch bekannte historische Narrative aus einer anderen Perspektive zu betrachten, (…) Julien Reitzenstein (…) setzt damit eine unbequeme Tradition fort, die sich quasi durch das Denken gegen das Establishment auszeichnet. (…) Das umfangreiche und multiperspektivisch verfasste Buch [gilt] als Standardwerk zur Aufklärung eines nationalsozialistischen Verbrechens, das vor 70 Jahren begangen wurde.“ Sven Felix Kellerhoff schrieb in der WELT: „Julien Reitzenstein bietet auf Grundlage neu aufgefundener Quellen eine Antwort an, die nachvollziehbar klingt, die ihn aber erstaunlicherweise zum Ziel wüster Kri­ tiken im Internet gemacht hat. (…) Das Beispiel zeigt, dass kritische Geschichtswissenschaft auch die Aussagen von jahrzehntelang als verlässlich geltenden Kronzeugen infrage stellen sollte.“ Erfreulicherweise waren sämt­ liche bis zur Fertigstellung der zweiten Auflage in seriösen Medien erschienenen Rezensionen durchweg positiv. Die Reaktionen des Publikums auf den zahlreich folgenden Lesungen und Vorstellungen der Forschungsergebnisse waren nicht nur ebenfalls erfreulich – sie hatten stets eine Schnittmenge: Die Nachfahren der Opfer haben Anspruch auf historische Wahrheit.

X Vorwort

Diese Wahrheit ist jedoch offenkundig für einige Menschen ein Ärgernis, für andere eine Provokation. Ein Vorwort für eine zweite Auflage ist nicht der Ort, auf Drohbriefe und Hassmails einzugehen. Gleiches gilt für Polemiken. Für diese und deren Autoren gilt der Satz von Michelle Obama „When they go low, we go high“. Entgegen dieser guten Devise gab es von verschiedenen Seiten ein Drängen, das ebenfalls seine Berechtigung hat. Dabei geht es um jene Kritik, die getarnt als wissenschaftliche Bewertung geeignet ist, Leser zu täuschen und das Narrativ von NS-Kriegsverbrechern auch noch im 21. Jahrhundert aufrecht zu erhalten. Nachfolgend ist zu zeigen, mit welchen Methoden versucht wurde, die neuen Erkenntnisse zu marginalisieren. Sven Felix Kellerhoff wies in seiner Besprechung auf „wüste Kritiken“ hin. Diese Textstelle verlinkt in der Online-Ausgabe der WELT auf eine Website von Hans-Joachim Lang. Dort findet sich der Menüpunkt „Forschung“, unter dem zwei Polemiken gegen das vorliegende Buch online gestellt sind. Diese enthielten einige berechtigte Monita; beispielsweise hatte sich beim Datum der Anklageschrift ein Tippfehler fortgesetzt. Aus dem Zusammenhang war jedoch zu erkennen, dass es 1968 hätte heißen müssen. Auch deshalb finden sich in dieser zweiten Auflage einige wenige Korrekturen. Der Germanist Hans-Joachim Lang hatte im Jahre 2004 das Buch „Die Namen der Nummern“ veröffentlicht. Darin holt er 86 Opfer von Bruno Beger, August Hirt und Wolfram Sievers aus der Anonymität. Die Zahl von sechs Millionen ermordeten Juden ist so gewaltig, dass sie nur schwer fühlbar ist. Das Einzelschicksal hingegen ist fühlbar und das macht – wie auch schon in der ersten Auflage mehrfach und ausführlich gewürdigt – den menschlichen Ansatz des Buches von Lang aus, der jeden Respekt verdient. Jedoch schilderte Lang auch die Geschichte des Verbrechens selbst. Dabei wiederholte er jedoch jene Version, die Henripierre und Sievers vor dem Nürnberger Gericht erzählten. Da diese Geschichte in weiten Teilen nicht den Tatsachen entsprach, konnte Lang naturgemäß viele Passagen nicht belegen. Lang beschreibt Hirt in drastischen Bildern als fanatischen Rassisten, der „ein Museum mit toten Juden als Exponaten“ für seine Anatomie angestrebt habe. Ohne Zweifel hat Hirt tatsächlich schlimme Verbrechen begangen. Diese sind im Buch auch ausführlich dargestellt worden. Problematisch ist es aber, ihm Untaten anzudichten, die frei erfunden sind. Dies ist nicht nur respektlos gegenüber den Opfern und deren Anspruch auf historische Wahrheit. Dies ist zudem gefährlich in Zeiten, in denen die Anzahl der Apologeten und Relativierer des Nationalsozialismus in beängstigender Weise zunimmt. Wenn ein von renommierten Einrichtungen im guten Glauben an seriöse Quellenarbeit ausgezeichnetes Buch Erfindungen als historische Ereignisse vermittelt, ist das Wasser auf die Mühlen der Holocaust-Relativierer, aber auch jener, die

VorwortXI

die Verbrechen des „Tausendjährigen Reiches“ zum „Vogelschiss in über 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ erklären. Hans-Joachim Lang war jahrzehntelang Redakteur des Schwäbischen Tagblatts. Seine einfühlsamen Schilderungen des Schicksals der 86 Opfer haben sich in vielen Ländern gut verkauft, was für ein Sachbuch ein bemerkenswerter Erfolg ist. Allerdings ist „Die Namen der Nummern“ ein Sachbuch, eine wissenschaftliche Studie ist es nicht. Man muss deshalb von Lang keine Quellenkritik in wissenschaftlicher Tiefe erwarten. Was man von einem Sachbuchautor jedoch erwarten kann ist, sich mit neuen Erkenntnissen und Kritik professionell auseinanderzusetzen. Die neuen Erkenntnisse der ersten Auflage des vorliegenden Buches erweitern unser Wissen über das Verbrechen der Straßburger Schädelsammlung. Lang jedoch reagierte mit Polemik, Beschimpfungen und jenem Vorgehen, die sein Buch belasten: Er täuscht seine Leser durch manipuliert wiedergegebene Quellen. Damit stützt er nicht nur seine Thesen, sondern auch das Narrativ des verurteilten Kriegsverbrechers Wolfram Sievers und des SSKollaborateurs Henri Henripierre. Beispielsweise behauptet er, August Hirt habe 1942 einen Vertrag mit der Leitung des Lagers in Mutzig bei Straßburg geschlossen. Gegenstand des Vertrages sei gewesen, dass er gegen eine kleine Spende in die Mannschaftskasse von zehn Reichsmark Leichen von im Lager verstorbenen Kriegsgefangenen beziehen konnte. Dazu verweist Lang auf eine Quelle. Doch es handelt es sich nicht um den Vertrag, den Hirt nach Lang mit dem die Leichen verkaufenden Lager geschlossen haben soll. Darum kann es sich bei der Quelle auch nicht handeln, denn einen solchen Vertrag hat es nie gegeben – schon weil es 1940 bis 1944 in Mutzig bei Straßburg nie ein Lager gab, das ein solches Geschäft mit Leichen hätte machen können. Vielmehr handelt es sich bei Langs Beleg um ein Schreiben von Hirt an Sievers. Darin findet sich weder das Wort Vertrag noch geht es um Mutzig. Hirt berichtet Sievers in dem Brief, dass er Leichen aus dem KZ Natzweiler beziehe. Dieses bekam nach einem Provisorium erst im Herbst 1943 eine Krematoriumsbaracke; bis dahin wurden die Leichen in Straßburg eingeäschert. Die Route zum dortigen Krematorium führte an der Anatomie vorbei. Die Wachmannschaften brachten die Leichen in die Anatomie und Hirt belohnte diesen Service mit zehn Reichsmark in die Mannschaftskasse. Schließlich sparte er sich die Kosten für die Abholung im KZ Natzweiler. Diese Kosten meldete er Sievers in dem Brief, der laut Lang hingegen ein Vertragsverhältnis mit einem Lager in Mutzig über den Kauf von Leichen von Kriegsgefangenen belegen soll. Es scheint beinahe unglaublich, dass ein erfahrener Journalist wie Hans-Joachim Lang Quellen derart unzutreffend wiedergibt. Darum wurde in der ersten Auflage des Buches die Quelle abgedruckt, damit der Leser sich selbst ein Bild machen kann.

XII Vorwort

Sollte man in wissenschaftlichen Monographien Fehler und manipuliert widergegebene Quellen mit jener Form von Spott und Häme im Text thematisieren, wie sie Hans-Joachim Lang in seinen Attacken verwendet? Wohl eher nicht. Deshalb wurden diese Punkte, wo immer es möglich war, möglichst dezent in die Fußnoten der ersten Auflage verbannt. Ein Diskurs zu diesem Sachverhalt muss zum Ziel haben, den Anspruch der Öffentlichkeit und der Nachfahren der Opfer auf historische Wahrheit einzulösen. Gleichzeitig ist jedoch geboten, all jenen Autoren, die sich auf die Seriösität von Langs Forschungen verlassen haben, die Gelegenheit zu geben, sich ein eigenes Bild – auch und gerade durch Präsentation neuer Quellen – zu machen. Nach vielen Jahren Forschung zu einem derart monströsen Verbrechen, nach immer neuer Konfrontation mit menschlichen Abgründen, Grausamkeiten und Leid war ich dankbar, als das Buch abgeschlossen war. Es war damals nicht abzusehen, wie groß die positive Resonanz ausfallen würde. Dies führt dazu, dass Vorträge zu den neuen Forschungsergebnissen nach wie vor gefragt sind. Insofern ist ein Abschluss noch nicht gegeben. Ebenso war damals nicht abzusehen, dass Hans-Joachim Lang statt Diskurs und Dialog den beschriebenen Weg wählen würde. Dieser hält das Buch und seine Inhalte im medialen Interesse. Und schließlich ist es erfreulich, wenn eine wissenschaftliche Monographie nach noch nicht einmal einem Jahr eine zweite Auflage erhalten soll. All dies hat dazu geführt, dass das Thema auch international Aufmerksamkeit erfährt, sowohl filmisch als auch als Sachbuch. Was mit dem Erscheinen des Buches im Jahre 2018 abgeschlossen schien, hat also zwischenzeitlich ein bemerkenswertes Eigenleben entwickelt, das zu Beginn der Forschungen nicht absehbar war. Eine Nichtbeachtung der im Buch präsentierten neuen Quellen und Schlussfolgerungen wird kaum möglich sein. Es wäre unprofessionell, das Narrativ des Kriegsverbrechers Sievers und des SS-Kollaborateurs Henripierre weiter zu stützen. Unzweifelhaft muss das Recht der Öffentlichkeit und der Nachfahren der Opfer auf faktenbasierte historische Wahrheit im Mittelpunkt stehen. Aber ebenso unzweifelhaft muss verhindert werden, dass die populistische Relativierung des nationalsozialistischen Regimes durch manipuliert wiedergegebene Quellen Nahrung findet – oder gar durch die Relativierung des mörderischen Rassismus von Bruno Beger. Insoweit möge die zweite Auflage diesem Ziel dienen. Co. Kerry, im Sommer 2019 Julien Reitzenstein

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Hinweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die offenen Fragen – eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Editorische Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 2 17

B. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . 32 I. Straßburg und die Reichsuniversität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 II. Das Ahnenerbe und das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 III. Täter, Mittäter und Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 IV. Wolfram Sievers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 V. August Hirt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 1. August Hirt – eine akademische Karriere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2. Die Gründung und Arbeit der Abteilung „H“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3. Hirts Interesse an Lost-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 4. Leichen für die medizinische Ausbildung in der Anatomie . . . . . . . 91 5. Sievers legt eine falsche Spur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 6. Lost-Versuche in Natzweiler  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 7. Sievers’ Fürsorge für Hirt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 8. Transdisziplinäre Forschung an der Universität Straßburg . . . . . . . 137 9. Exkurs: Bickenbach, Hirt und die Gaskammer . . . . . . . . . . . . . . . . 140 10. Krebsforschung in Straßburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 11. Kein Durchbruch in der Lost-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 12. Straßburg fällt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 13. Wo sind Hirts Unterlagen verblieben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 VI. Bruno Beger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 1. Von der Universität direkt ins SS-Rasseamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 2. Tibetexpedition und Tibetforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 3. Krieger Beger und „Rassen im Kampf“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 4. Der Rassenexperte der SS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 5. Die Vorbereitung des Beutezuges in den Kaukasus  . . . . . . . . . . . . 216 6. Die SS reist nicht zu den Asiaten – die Asiaten kommen in SS-Lager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 VII. Die deutschen Tatbeteiligten und Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 1. Wolf-Dietrich Wolff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 2. Anton Kiesselbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

XIV Inhaltsverzeichnis 3. Otto Bong . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Hans Fleischhacker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Wilhelm Gabel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Lieselotte Seepe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Die elsässischen Tatbeteiligten und Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. René Colombin Wagner  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Henri Henripierre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

253 255 258 260 262 262 263

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“ . . . . . . . . . . . I. Der Vorschlag zur Begründung einer Schädelsammlung . . . . . . . . . . . . II. Die Umsetzung des Plans beginnt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Niemand hat die Absicht, eine Skelettsammlung aufzubauen . . . . . . . . V. Die Spuren des Verbrechens werden vernichtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Die Nummern und die Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

281 281 301 325 373 389 406

E. Beger-Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 F. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 G. Versuch einer Ereignisrekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 H. Wer war wer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 I. Quellen und bibliographische Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 II. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 Abkürzungsverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491

A. Einleitung I. Hinweis Dieses Buch ist die überarbeitete und gekürzte Fassung einer rechtsgeschichtlichen Studie mit dem Schwerpunkt Strafrechtsgeschichte. Es enthält zwei besondere Sachverhalte, auf die ausdrücklich hingewiesen sein soll: a) Um dem Leser zu ermöglichen, sich selbst ein Bild über den Tathergang und die Motive zu machen, werden zunächst die Biographien der Täter und der Mittäter vorgestellt. Anschließend wird das Verbrechen selbst geschildert. Nach der Zusammenfassung der wichtigsten Ereignisse wird eine separate, narrative Ereignisrekonstruktion angeboten. Aufgrund der gewählten Struktur wurden der rechtlichen Klarheit halber einige Ereignisse in ihrem zeitlichen Verlauf mehrfach erwähnt. Dies gestattet es zudem, jedes Kapitel einzeln zu lesen und den jeweils vollen Sachverhalt vor Augen zu haben. Beispielsweise fehlen in der Literatur Monographien zu Sievers, Beger und Hirt. Die biographischen Kapitel dieses Buches sind so aufgebaut, dass sie auch für Leser nutzbar sind, die sich nur für die Personen und nicht für das Verbrechen der Schädelsammlung interessieren. b) Aufgrund seiner Grausamkeit und seiner Menschenverachtung gehört das beschriebene Verbrechen zu den bekanntesten Untaten, die während der Zeit des Nationalsozialismus begangen wurden. Das Ergebnis der Untersuchung zeigt, dass es auch eines der zynischsten Verbrechen war. Es handelte sich um ein Verbrechen, dessen Darstellung mehrere Fachgebiete berührt: Anthropologie, Medizin, Geschichts- und Rechtswissenschaften. Es wird – trotz aller berechtigten Empörung über Täter und Tat – auf Diskurse auf dem Gebiet der Ethik und Moral verzichtet, sondern einzig auf juristische Evidenz und geschichtswissenschaftliche Sorgfalt Wert gelegt. Gleichzeitig ist es das vorrangige Anliegen dieses Buches, sämtliche Elemente dieses Verbrechens detailliert und chronologisch darzustellen, so dass es auch für den Nicht-Wissenschaftler möglich ist, den tatsächlichen Tat­ ablauf nachzuvollziehen und zu plausibilisieren. Aus den genannten Gründen ist eine sehr nüchterne, präzise und tatsachenorientierte Sprache gewählt worden. Daher konnte auch nicht darauf verzichtet werden, Details zu Mord, Zerstückelung, Leichenkonservierung und weiterer wenig ästhetischer Vorgänge so zu beschreiben, wie sie sich zugetragen

2

A. Einleitung

haben. Ebenso mögen einige der originalen photographischen Aufnahmen der Tatorte, Leichen und Leichenteile unter Umständen verstörend wirken. Daher wird dieses Buch ausdrücklich nicht zur Lektüre durch Kinder und Jugendliche empfohlen.

II. Die offenen Fragen – eine Einführung Wer die Literatur und den Forschungsstand zu einem der unmenschlichsten Verbrechen in der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland studiert, dem drängen sich viele offene Fragen auf. Aus diesen Fragen zur sogenannten „Straßburger Skelettsammlung“ ergibt sich nicht nur die Notwendigkeit, den Opfern eine umfassende Untersuchung des Verbrechens zuteil werden zu lassen – sie sind auch der Ausdruck für das Bestreben, eine Antwort auf die Frage zu finden, weshalb dieses in vielerlei Hinsicht sinnlose Verbrechen begangen wurde.1

Abb. 1: Gedenktafel für die 86 Opfer des Verbrechens am Eingang der Anatomie in Straßburg mit dem Hinweis, dass es Professor August Hirt war, der diese Menschen im Konzentrationslager Natzweiler-Struthof ermordete.2 (Quelle: Aufnahme des Verfassers) 1  Zahlreiche Details dieser Einführung werden im Hauptteil detailliert bearbeitet und belegt. Insofern wurde auf separate Belege zu jeder einzelnen Aussage in der Einleitung verzichtet. 2  Bemerkenswert ist, dass die Fläche auf der Tafel, die die Verewigung der Teilnehmer an der Enthüllung sicherstellt sowie deren Positionen im öffentlichen Leben



II. Die offenen Fragen – eine Einführung3

Nach beispiellosen Verbrechen stand die Welt im Jahre 1945 vor der Aufgabe, das Geschehene aufzuklären, einzuordnen und zu ahnden. Viele Täter blieben unbestraft, mancher stilisierte sich gar tatsachenwidrig zum Widerstandskämpfer. Die ersten Ermittlungen und die ersten Prozesse der Alliierten konnten gar nicht die Aufgabe bewältigen, in kürzester Zeit alle Details eines verbrecherischen Staats- und Parteiapparates und seiner Handlungen zu sichten, zu bewerten und mehr oder minder zutreffend zu beurteilen. Dennoch sind die Ergebnisse dieser Prozesse und vor allem der Inhalt der damaligen Zeugenaussagen bis heute Teil des kollektiven Gedächtnisses. Etablierte Historiker griffen diese Aussagen häufig auf und bauten auf ihnen ihre Thesen auf, häufig ohne die dazugehörigen Quellen in ihrer Gesamtheit zu prüfen, um auf diese Weise ein umfassendes Bild zu gewinnen. In den ersten Jahrzehnten nach dem Kriege war dies nicht immer einfach möglich, und in den Jahren danach hatten bereits zahlreiche Historiker auf Grundlage der damals bekannten Fakten publiziert, bevor dann auf dieser Grundlage weitere Literatur entstand. Doch es bedarf – vor allem in Bezug auf eines der schlimmsten Verbrechen während der nationalsozialistischen Diktatur – vieler Komponenten. Besonders aber bedarf es der Zeit, um Quellen zusammenzutragen und sie abzuwägen und zu beurteilen und um die Tatsachen in Relation zu subjektiven Erinnerungen zu setzen. Diese Evidenzbasierung ist Grundlage dieses Buches: Es versteht sich als Tatsachenchronik eines Verbrechens und der Vita der Verbrecher sowie der darin einbezogenen Personen, die sich nach dem Kriege als Opfer stilisierten, wenngleich sie freiwillig Teil des Vernichtungsapparates waren. Diese Notwendigkeit, Zeit für eine umfassende Abwägung zu benötigen, hat schon Johann Wolfgang von Goethe, nach dem der Platz vor der Universität Straßburg benannt ist, in anderem Zusammenhang beschrieben: „Gedichte sind gemalte Fensterscheiben! Sieht man vom Markt in die Kirche hinein, Da ist alles dunkel und düster; Und so siehts auch der Herr Philister. Der mag denn wohl verdrießlich sein Und lebenslang verdrießlich bleiben. Kommt aber nur einmal herein! Begrüßt die heilige Kapelle; Da ists auf einmal farbig helle, Geschicht und Zierat glänzt in Schnelle, Bedeutend wirkt ein edler Schein, Dies wird euch Kindern Gottes taugen, Erbaut euch und ergetzt die Augen!“

nennt, beinahe genau so groß ist wie die Fläche für die Erinnerung an die Opfer und das Verbrechen selbst.

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Professor Dr. August Hirt wurde im Oktober 1941 Direktor der Anatomie der Medizinischen Fakultät der Universität Straßburg. Der Mediziner hatte seit dem Beginn seiner Laufbahn in der Weimarer Republik eine steile akademische Karriere durchlaufen. Nachdem er bereits zwei Lehrstühle innehatte, konnte der 43-jährige Facharzt für Anatomie seine Laufbahn mit der Berufung an die neu aufgebaute und von der Propaganda als elitär gepriesene Universität Straßburg „krönen“. Dort setzte er seine als bahnbrechend geltenden Forschungen in der Fluoreszenzmikroskopie fort und machte erstmals lebende Krebszellen unter dem Mikroskop sichtbar. In Zeiten des Krieges wurden vermehrt Ärzte für die Front benötigt. Daher war die verstärkte Ausbildung von Medizinstudenten erforderlich. Bedingt durch die hohen Studentenzahlen wurden zu Ausbildungszwecken mehr Leichen benötigt, als auf üblichem Wege für Universitätsanatomien erhältlich waren. Die zuständige Dienststelle der Konzentrationslager-Verwaltung sicherte der Anatomie Straßburg im Herbst 1942 zu, Leichen von Verstorbenen des in der Nähe von Straßburg gelegenen Konzentrationslagers Natzweiler kostenfrei zur Verfügung zu stellen. Rund 52.000 Häftlinge durchliefen in der Zeit seines Bestehens das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof, davon waren rund elf Prozent als „Juden“ Kategorisierte inhaftiert. Allein für das Jahr 1943 sind in diesem Arbeitslager 4.687 Verstorbene belegt. Diese waren durch Krankheiten, Unfälle, Mord oder Totschlag umgekommen. Der Direktor der Anatomie in Straßburg konnte daher auf eine hinreichende Zahl von Leichen für die medizinische Ausbildung zugreifen. Am Ende einer jeden Leichenpräparation standen, wie es auch heute üblich ist, die für die medizinische Ausbildung haltbar gemachten Präparate einerseits und die zu bestattenden Leichenreste andererseits. In der Sammlung der Anatomie Straßburg befanden sich präparierte sympathische Ganglienzellen als spezielles Forschungsgebiet Hirts ebenso wie Gehöre und Skelettteile. Doch August Hirt bezog nicht nur Leichen von Häftlingen des Konzentrationslagers Natzweiler. Er erhielt ebenso beispielsweise die Leichen verstorbener sowjetischer Kriegsgefangener aus dem Kriegsgefangenlazarett Straßburg. August Hirt besaß in den Jahren von 1942 bis 1944 eine nach damaliger Rechtslage legale Möglichkeit, im Rahmen seiner universitären Tätigkeit eine Schädel- oder Skelettsammlung aufzubauen. Da so etwas in einer Anatomie nicht ungewöhnlich ist, hätte diese Sammlung kein Aufsehen erregt. So existierte an der Universität Straßburg bereits eine Schädelsammlung, die der Anatom Gustav Schwalbe auf Grundlage einer schon bestehenden Sammlung ausbaute, nachdem das Deutsche Reich 1871 das 1681 von Frankreich annektierte und als formal ausländische Provinz in den französischen Staatsverband integrierte Elsass zurückerobert hatte. Diese Sammlung wurde nach der deutschen Niederlage von 1918 von französischen Wissenschaftlern



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weitergeführt. Die beim deutschen Einmarsch 1940 vorgefundene – und weiterhin im ab 1942 baulich verbesserten Obergeschoss der Anatomie (bis 1940 / 41 „Musée d’Anatomie“) aufbewahrte – Schädelsammlung beinhaltete Objekte von verschiedensten Ethnien aus aller Welt. Hätte sich Hirt bei der Auswahl, welche der von seinen Studenten bearbeiteten Leichen kremiert und welche präpariert würden, dazu entschieden, eine weitere Sammlung von Schädeln und Skeletten Verstorbener jüdischen Glaubens oder „bolschewistischer“ Provenienz aufzubauen, hätte dies vielleicht auch nach damaligen Maßstäben auf Außenstehende makaber gewirkt. Doch wäre weder Hirts Ruf in der deutschen Wissenschaft noch an der nationalsozialistischen Vorzeige­ universität Straßburg beschädigt gewesen. Eine besondere Geheimhaltung hätte es nicht erfordert. Auch andere Anatomien, wie beispielsweise jene der Universität Hamburg, bezogen Leichen aus Konzentrationslagern. Sollte Hirt einen bestimmten Schädel- oder Skeletttyp für eine Sammlung benötigt haben, wäre ein Tausch von Sammlungsstücken zwischen Universitäten ebenfalls nicht ungewöhnlich gewesen. Wenn sich August Hirt überhaupt jemals mit der Erforschung von Schädeln hätte befassen wollen – wofür es in den Quellen zu Hirt keinerlei Belege gibt –, wäre es ihm demnach ohne Geheimhaltungsaufwand, Straftaten, Kosten und Beiziehung Dritter im Rahmen seiner Aufgaben als Universitätsprofessor und Direktor der Universitätsanatomie möglich gewesen, eine „Jüdische Skelettsammlung“ aufzubauen und in der Reichsuniversität Straßburg aufzubewahren. Damit wäre Hirt auch kein Einzelfall gewesen. Wie gezeigt werden wird, baute das Naturhistorische Museum in Wien ebenso eine Schädelsammlung toter Juden auf wie die Anatomie in Hamburg. Es gab für August Hirt auf den ersten Blick also erst einmal kein Motiv, jenes Verbrechen zu planen, das in dem vorliegenden Buch beschrieben wird. Seine unterstützende Beteiligung an diesem Verbrechen – unabhängig von den von ihm mit Kampfstoffen verübten und mit Kälteexperimenten geplanten Verbrechen – ist dennoch erwiesen. Allerdings wird seit 1945 nur er allein als Urheber, prospektiver Nutznießer und Haupttäter dieses Verbrechens der Ermordung von 86 Menschen genannt, der sich dafür jedoch zahlreicher Helfer bediente: Nach langer Vorbereitungszeit und intensivem Bemühen um die Erlaubnis, 150 Menschen zu ermorden, waren im Sommer des Jahres 1943 86 Häftlinge aus ganz Europa aus dem Konzentrationslager Auschwitz in das Konzentrationslager Natzweiler verlegt und vom Lagerkommandanten ermordet worden. Die Leichen wurden anschließend in die Anatomie nach Straßburg transportiert, wo sie bis kurz vor dem alliierten Einmarsch gelagert wurden. Hierbei waren zahlreiche Personen – von sogenannten Funktionshäftlingen in Auschwitz und Natzweiler über Wachmannschaften, Anthropologen und

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Transportbegleitkommandos bis zu Sekretärinnen bei der SS und in der Anatomie – beteiligt, was eine lückenlose Geheimhaltung ausschloss. Aufgrund der Nachkriegsaussagen von Beteiligten darf angenommen werden, dass der Tötungsvorsatz gegenüber den 86 Opfern den meisten der in dieses Verbrechen Involvierten bekannt war. Während der Vorgänge im Zeitraum 1943 und 1944 hielt sich der schwer erkrankte Hirt mehrfach längere Zeit in der Steiermark zu Kurbehandlungen auf. So war er während der Ermordungstermine in Natzweiler zunächst bettlägerig und dann – lange im Vorhinein geplant – in einer Kurklinik in der Steiermark. Dazwischen war er mit anderen Forschungen befasst, wie Intravitalmikroskopie und Kampfstoffversuchen, bei denen er zahlreiche Menschen ermordete. Bis heute ist kein irgendwie geartetes wissenschaftliches Interesse oder eine Beschäftigung Hirts mit den eingelagerten Leichen der 86 Ermordeten und deren Skeletten belegt. Eine Sammlung dient dem Zweck, der Öffentlichkeit oder der Forschung und der Lehre als Anschauungsobjekt zu dienen. Zwar gibt es vereinzelt Behauptungen von Journalisten, Hirt selbst habe ein Museum für die Skelette in der Universität geplant. Diese konnten jedoch bis heute nie anhand von Dokumenten belegt werden. In der Literatur wird diese Behauptung bemerkenswerterweise nie hinterfragt: Warum sollten das Ahnenerbe und August Hirt einerseits ein Museum – also einen öffentlichen oder teilöffentlichen Ausstellungsraum – planen oder erweitern und gleichzeitig die Beschaffung der Exponate unter höchste Geheimhaltung stellen? Es ist erwiesen, dass August Hirt an der Untersuchung und Auswahl der später ermordeten 86 Menschen aus dem Lager Auschwitz persönlich nicht beteiligt war. Ebenso wenig war er nicht bei den Ermordungen anwesend, um sicherzustellen, dass diese so durchgeführt wurden, dass die Skelette anschließend verwertbar waren. Auch an dem vorgeblichen Zweck der Ermordungen, dem Präparieren der Skelette, zeigte er bis zur Eroberung Straßburgs über ein Jahr später kein Interesse, wohingegen er im Rahmen seiner Tätigkeit als Anatom laufend die Präparierung anderer Leichen und Skelette im Rahmen des Lehrbetriebes anordnete. Dies führt zu der Frage, warum jemand die Objekte einer angeblich von ihm geplanten Schädelsammlung von jemand anderem auswählen ließ, der über keinerlei Erfahrungen mit Schädelsammlungen und Anatomie verfügt. Denn weder Hirt selbst noch einer seiner langjährigen und qualifizierten wissenschaftlichen Mitarbeiter waren mit der Auswahl befasst. Es stellt sich weiter die Frage, warum trotz legaler Skelettgewinnungsmöglichkeiten im nahen geographischen Umfeld ein so großer Aufwand getrieben wurde, um die Opfer aus dem 1.100 Kilometer entfernten Auschwitz zu beschaffen. Am Ende steht die Frage, warum nach dem Erhalt der 86 Leichen der ermordeten Opfer niemand begann, aus den Leichen der Opfer die in der Literatur so genannte „Jüdische Skelettsammlung für die Reichsuniversität Straßburg“ einzurichten. August Hirt hatte dazu Gelegenheit, Zeit und Mittel.



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Doch Hirt legte keine Schädelsammlung an, weder aus nach damaligen Maßstäben legal erworbenen Skeletten noch von eigens dazu ermordeten. Die besondere Rolle des Anthropologen Bruno Beger wird in diesem Zusammenhang in diesem Buch ebenso untersucht wie die Tatbeteiligung Hirts. Beger ist in weiten Kreisen als diejenige Person bekannt, die für Hirt nach Auschwitz reiste und dort die anthropologisch interessantesten Opfer auswählte und sich ansonsten der Tibetologie widmete. Als Momentaufnahme ist dies zutreffend und macht einen schlüssigen Eindruck. Bei genauer Betrachtung der Quellen ergibt sich jedoch ein anderes Bild. Beger befasste sich seit 1937 im Rahmen seines Faches nahezu ausschließlich mit der Vermessung und Abformung von Menschen und deren Knochenbau, bevorzugt von Menschen aus Vorder- und Innerasien. Seit Kriegsbeginn stellte er zahlreiche einschlägige Forschungsanträge, die oft bewilligt wurden. Dabei gibt es starke Indizien, dass der auf Asiaten spezialisierte Beger bereits lange vor Hirts erstem Kontakt mit dem Ahnenerbe als Mitarbeiter des SS-Rasse- und Siedlungshauptamtes (RuSHA) eine Schädelsammlung von Asiaten – oder wie er es ausdrückte: Mongolen – aufbauen wollte und auch andernorts die Tötung von asiatischen Opfern zur Gewinnung von deren Schädeln plante. Später bereitete er seine Abteilung auf eine Expedition in den Kaukasus vor, deren Ausrüstung zum Aufbau der in der Expeditionsplanung genannten Sammlung diente. Dazu gehörten kleine und große Skalpelle. Solche Skalpelle und weitere Geräte zur Entfleischung wären bei den fachtypischen anthropologischen Vermessungen Lebender ein eher ungewöhnliches Werkzeug gewesen, was den Schluss nahe legt, dass Beger offenbar bei der Kaukasusexpedition sein Vorhaben einer Schädelsammlung forcieren wollte. Parallel versuchte Beger, eine Sammlung mit asiatischen Schädeln aus dem ehemaligen Besitz des russischen Zaren in seinen Besitz zu bringen. Diese langjährige wissenschaftliche Obsession Begers hatte ein Ziel: Er wollte eine eigene Rassekunde-Forschungsstätte im Ahnenerbe aufbauen. In vorbereitender Absicht wollte er die These belegen, dass der in Europa beheimatete Mensch ursprünglich aus Tibet stammte. Angesichts dieser langfristigen Zielsetzung ist der Vermessungs- und Auswahlprozess der 86 Opfer aus Auschwitz nur ein Ereignis in einer langen Ereigniskette. Beger „beforschte“ seit 1941 die Kriegsgefangenen der Roten Armee aus Vorder- und Innerasien. Er persönlich – und nicht etwa Hirt – erhielt die Genehmigung, sich im Jahre 1943 in Auschwitz 150 Personen aus dieser Gruppe zur Ermordung auszuwählen. Adolf Eichmann hatte zuvor auf den günstigen Zeitpunkt hingewiesen, an dem hinreichend „geeignetes Material“ in Auschwitz vorhanden sei. Juden kann er damit nicht gemeint haben, denn diese waren immer in großer Zahl in Auschwitz zu finden. Nachdem Beger in Auschwitz eintraf, berichtete er brieflich von der Enttäuschung, im gesamten Lager nur vier Innerasiaten gefunden zu haben. Möglicherweise um eine Blamage zu vermeiden, wählte

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Beger neben den vier Innerasiaten 111 andere Opfer aus, deren Identität teilweise ungeklärt ist. Hintergrund war die Demütigung die er erlitten hatte, als er – aus Tibet zurückkommend – auch aufgrund einer wissenschaftlich nicht hinreichend großen Zahl an Versuchspersonen die bekannte These von nach Tibet eingewanderten nordischen Menschen nicht belegen konnte: Für Begers Ansehen bei Himmler dürfte dies geradezu verheerend gewesen sein. Denn Himmler erwartete gerade in dieser Hinsicht „wissenschaftliche“ Bestätigungen seiner diesbezüglichen Vermutungen, die Beger jedoch schuldig blieb. Die 86 Opfer, die Beger zur Ermordung nach Natzweiler schickte, waren ausschließlich Juden, mehrheitlich aus Deutschland, Frankreich und Griechenland. Die ausgewählten Innerasiaten waren nicht dabei – ihr Verbleib ist ungeklärt. Es handelte sich bei diesen 86 Opfern auch nicht um jene „jüdisch-bolschewistischen Kommissare“, die Gegenstand jener unten näher behandelten Denkschrift waren, in der das Verbrechen erstmals schriftlich thematisiert wurde. Ab 1944 ist die Existenz einer Sammlung mit Ergebnissen dieser Mordaktion in Auschwitz und Natzweiler in Begers Büro belegt. Bis kurz vor Kriegsende war Beger damit befasst, die Skelettstruktur von Kriegsgefangenen aus Asien zu untersuchen. Das Vorhaben der Schädelsammlung geriet mit den Nürnberger Prozessen in das Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit. Dies geschah in zwei Schritten: Zunächst wurde Wolfram Sievers, der Geschäftsführer der SSForschungs- und Lehrgemeinschaft „Das Ahnenerbe“, und damit Vorgesetzter von Beger und Hirt, als Zeuge im Hauptkriegsverbrecherprozess gehört. Anschließend sagte Sievers als Angeklagter im Ärzteprozess aus. Dabei ist es in Anbetracht der Quellenlage fast anrührend, wie naiv die Aussagen des um sein Leben kämpfenden Sievers von Prozessbeobachtern als Wahrheit übernommen wurden und seitdem nahezu ungefiltert Eingang in die Geschichtsschreibung fanden. Sievers sagte als Zeuge aus, die Schädelsammlung sei nicht vom Ahnenerbe und der SS, also letztlich von ihm selbst zu verantworten gewesen, sondern von der staatlichen Universität Straßburg gefordert worden. Dies wurde in der Literatur bislang nicht als offenkundiger Versuch gewertet, sich selbst durch diese Aussage zu entlasten. Nachdem das Londoner Boulevardblatt „Daily Mail“ im Januar 1945 in einer Schlagzeile Hirt als Mörder von 22.000 Menschen benannte, ergriff Sievers die Gelegenheit, auch die Verantwortung für die tatsächlich unter Beteiligung von Hirt verübten 86 Morde diesem und der Universität allein zuzuschreiben. Diese tendenzielle, auf Selbstverteidigung beruhende Aussage wurde danach für viele Historiker zu einer nicht näher bezweifelten Tatsache. Als Sievers in gleicher Weise als Angeklagter im Ärzteprozess argumentierte und den bereits verstorbenen Hirt belastete und zudem den überlebenden Beger entlastete, schien Hirt damit als Mörder der 86 Opfer und zugleich Urheber des Verbrechens festzustehen. Diese Darstellung wurde auch von dem französi-



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schen Zeugen Henri Henripierre alias Heinrich Heinzpeter im Ärzteprozess gestützt. Der Elsässer hatte sich im Jahre 1941 um die deutsche Staatsbürgerschaft bemüht, die ihm erteilt wurde. Daraufhin bewarb er sich im Jahre 1942 um eine Stelle bei Hirt. Noch im März 1945, rund ein halbes Jahr, nachdem Straßburg wieder französisch geworden war und die Jagd auf die Kollaborateure im Gange war, zahlten Sievers und die SS Henripierre sein monatliches Salär. Als Zeuge im Ärzteprozess tätigte Henripierre daher ganz offenkundig keine neutrale Zeugenaussage und vermied sogar jede Erwähnung seiner Kontakte zum Konzentrationslager Natzweiler. Insbesondere vermied es der Kollaborateur Henripierre aus nahe liegenden Gründen, auf den Umstand hinzuweisen, auf der Gehaltsliste der SS gestanden zu haben. Im Ergebnis ist Henripierre heute in der Literatur und im kollektiven Bewusstsein als Widerstandskämpfer und Zwangsarbeiter bekannt, während Hirt als fanatischer Mörder der 86 Opfer gilt. Dieses unjuristische Vorgehen nach dem Schema „gefühlter Gerechtigkeit“ störte einen deutschen Juristen so sehr, dass er – wie in anderen Fällen auch – versuchte, Konsequenzen zu ziehen: Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer unterschrieb persönlich die von seiner Behörde erarbeitete Anklageschrift gegen Bruno Beger und zwei Mittäter. Der Jurist unterstellte August Hirt dabei eine geringere Tatbeteiligung als Beger. Dieser Argumentation folgte auch das Gericht in weiten Zügen. Doch Gerichte sind bekanntlich nie beauftragt, die allgemeine Wahrheit zu ergründen. Es obliegt ihnen, allein die Tatbeteiligung und Schuld der Angeklagten zu ermitteln. Somit wurde die Rolle des toten Hirt im Verfahren nicht näher ermittelt oder eingeschätzt, sondern nur die Beteiligung Begers dahingehend erforscht, welche strafbaren Handlungen ihm gerichtsfest nachzuweisen waren. „Im Zweifel für den Angeklagten“ ist ein hohes Rechtsgut, dass die Rechtsprechung der Bundesrepublik deutlich von jener der NS-Diktatur unterschied. Dass dieser Rechtsgrundsatz auf Beger angewendet werden konnte, lag an der Art und Weise, wie NS-Prozesse in den 1960er Jahren geführt wurden und ehemalige SS-Kameraden als Zeugen befragt wurden. Daher reichte das verbleibende Belastungsmaterial nur für eine Verurteilung Begers wegen Beihilfe zum Mord an seinen 86 Opfern aus. Es ist jedoch erstaunlich, wie wenig der Beger-Prozess inhaltlich Eingang in die historiographische Beurteilung des stattgefundenen Verbrechens gefunden hat. Denn dieses Verbrechen hatte mindestens 86 Mordopfer, vermutlich jedoch noch erheblich mehr, zur Folge. Doch niemand hat seit 1945 überprüft, wie viele Opfer es tatsächlich gegeben hat. Dass bis heute vor allem an die 86 ermordeten Juden unter den 115 Opfern der Auswahl Begers erinnert wird, ist mehr als angemessen. Dass allerdings in den letzten 70 Jahren niemand thematisierte, wo beispielsweise die anderen Juden und die vier von Bruno Beger zur Ermordung ausgewählten Innerasiaten verblieben sind, erstaunt und ist ein Indiz für die Fixiertheit

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der öffentlichen Wahrnehmung auf Hirt und den vermeintlichen Tatort Straßburg. Diese Konzentration beruht auch auf der Tatsache, dass Hirt ein Schreiben mit einem Forschungsbericht über seine medizinischen Arbeiten an das Ahnenerbe geschickt hatte, der nachweislich und ausdrücklich nur als eine Anlage unter mehreren beigefügt war. Dieser Forschungsbericht wurde jedoch als eine von zwei Anlagen von Sievers an Himmler weitergeleitet. Die zweite Anlage enthielt den bereits erwähnten, anonymen Plan zur Begründung einer Schädelsammlung aus den Köpfen „jüdisch-bolschewistischer Kommissare“. Bislang wurde nie näher untersucht, wer diese Zeilen tatsächlich verfasste. Im Nürnberger Prozess und im Beger-Prozess Anfang der 1970er Jahre gab es bei den Ermittlungsbehörden noch keine Spezialisten für forensischen Sprachstilvergleich nach heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen, die die anderen Denkschriften Begers mit diesem Plan verglichen hätten. Für Generalstaatsanwalt Fritz Bauer als Unterzeichner der Anklageschrift war zwar offensichtlich, dass der Plan von Beger verfasst wurde. Doch die Überzeugung eines Juristen und der gesunde Menschenverstand eines jeden sprachsensiblen Beobachters sind noch keine Beweise, die im Sinne der Strafprozessordnung geeignet sind, einen Mörder zu überführen – und für diesen lebenslange Haft nach sich ziehen. Wenn das Bundeskriminalamt damals bereits die heutigen Spezialisten für forensischen Sprachstilvergleich gehabt hätte, wäre Bruno Beger die Urheberschaft für den Plan – ganz unabhängig von den zwischenzeitlich erbrachten Indizienbeweisen – mit hoher Wahrscheinlichkeit nachgewiesen worden. Gleiches gilt in Bezug auf jene Quellen, die dem Gericht noch nicht vorlagen und die beweisen, dass Beger im Juni 1943 allein aus einem Zweck nach Auschwitz gereist war. Er wollte dort Kriegsgefangene aus den asiatischen Sowjetrepu­ bliken – und nicht etwa Juden – ermorden, um ihre Schädel zu gewinnen. Diese seinerzeitige Lücke in der Indizienkette wird durch die in diesem Buch präsentierten Fakten geschlossen. Eine weitere offene Frage bildet die Tatsache, dass nach der Anlieferung der Leichen in der Universitätsanatomie weder Hirt noch Beger jemals irgendwelches Interesse zeigten, an oder mit diesen zu arbeiten. Durch einen während der Quellenrecherche aufgefundenen Brief eines Mitarbeiters Begers aus dem Jahre 1944 kann jedoch belegt werden, was bei der Ermordungssituation derart „missglückte“, dass die Leichen der Opfer unbrauchbar für weitere Forschungen wurden. Durch diese Umstände kann gezeigt werden, dass dieses unsinnige und beispiellose Verbrechen selbst für dessen Urheber letztlich vollständig sinnlos war. Auch konnte ein kurz nach der Tat von Beger verfasstes Dokument ermittelt werden, das belegt, dass Beger die Opfer in Auschwitz ausdrücklich für „Mongolenforschung“ aussuchte und er auf der Grundlage des Verbrechens eigentlich eine Forschungsstätte errichten wollte, die sich ausdrücklich nicht mit Juden befassen sollte. Neben anderen



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ist auch dies ein Beleg, dass Beger nach Auschwitz reiste, um dort Opfer für eine Schädelsammlung von Vorder- und Innerasiaten zu suchen und – nachdem dort kaum welche zu finden waren – er erst dann zur Vermeidung eines neuerlichen wissenschaftlichen Fehlschlags alternativ Juden auswählte. Im Gegensatz zu seinen vorgesehenen und tatsächlichen Mittätern in Auschwitz, den Anthropologen Rübel, Endres und Fleischhacker, hatte sich Beger bis dahin in seiner wissenschaftlichen Arbeit nie mit Juden befasst. Ein weiterer Aspekt, der gegen die landläufige Auffassung spricht, dass Hirt seit seiner Berufung nach Straßburg im Jahre 1941 plante, die Opfer im nahen Natzweiler ermorden zu lassen und dann in der Straßburger Anatomie eine Sammlung zu begründen, ist der Zeitplan: Beger wurde im Herbst 1942 erstmals die Auswahl der Opfer in Auschwitz ermöglicht. Nur eine Epidemie im Lager verhinderte im letzten Moment die Abreise, so dass die Auswahl der Opfer im Juni 1943 nachgeholt wurde. Erst nachdem auch diese Aktion in Auschwitz im Juni 1943 aufgrund einer erneuten Epidemie abgebrochen wurde, begann man den für die Giftgasexperimente von Otto Bickenbach im Konzentrationslager Natzweiler zu einer Gaszelle umgebauten Gasmaskenübungsraum erneut für die Tötung der von Beger ausgewählten Opfer umzubauen. Dafür fehlten jedoch die Eisenbezugsscheine zum Umbau der Kammer, ebenso wie die zum Mord benötigte Blausäure, die erst einen Monat später geliefert wurde. Ebenfalls nicht vorhanden war die Abformmasse, um die 86 Opfer vor der Ermordung abformen zu lassen, wie es ihren Leidensgenossen aus der Gruppe der 115 in Auschwitz widerfuhr. Man sollte annehmen, dass ein in Forschungsvorhaben und Versuchsanordnungen erfahrener Mediziner wie Hirt nach fast 20 Berufsjahren nicht derart planlos vorgegangen wäre – insbesondere wenn bedacht wird, dass zwischen der erwähnten Schädelsammlungs-Denkschrift und der Durchführung des Verbrechens eineinhalb Jahre lagen, die hinreichend Vorbereitungszeit geboten hätten. Diese wurden jedoch nach der gegebenen Quellenlage nicht zur Vorbereitung genutzt. Es ist augenscheinlich, wie planlos, kurzfristig und ungeordnet bei der Durchführung des Verbrechens vorgegangen wurde. Die offene Frage lautet jedoch, was geschehen wäre, wenn im Herbst 1942 keine Epidemie in Auschwitz ausgebrochen wäre und dort von Beger 150 Menschen zur Ermordung nach Natzweiler ausgewählt gewesen wären. Hätte Hirt tatsächlich Ende 1941 den Plan gefasst, eine derartige Schädelsammlung anzulegen, muss unterstellt werden, dass er nicht über ein Jahr später die Opfer ermorden ließ, ohne irgendeine der notwendigen Vorbereitungen getroffen zu haben. Eine Schlüsselfrage bei der Betrachtung dieses Falles wurde von Begers Präparator Wilhelm Gabel in seiner ersten Vernehmung nach dem Kriege gestellt:

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„Heute möchte ich rückschauend sagen, dass man, wenn man lediglich beabsichtigt haben sollte, von jüdischen Häftlingen eine Skelettsammlung zu machen, diese viel einfacher und weniger umständlich im Konzentrationslager Dachau hätte finden können.“3

Das Konzentrationslager Dachau lag bei München, dem damaligen Dienstsitz Begers und Gabels. Dort hätte Beger laut Gabel viel einfacher Menschen zur Ermordung und Skelettierung finden können, darunter vor Himmlers Befehl vom 2.10.1942 auch Juden. Wenn der Plan von Hirt stammte, hätte dieser keine Häftlinge aus dem weit entfernten Dachau oder dem noch weiter entfernten Auschwitz auswählen müssen, um sie dann ermorden zu lassen – Hirt bekam, wie erwähnt, seit Ende 1942 Leichen frisch Ermordeter ohne größere Schwierigkeiten legal geliefert, so wie andere Anatomen auch. Eine weitere offene Frage ist jene nach den Zuständigkeiten und Kosten. Hirt war Professor an der Universität Straßburg und nebenberuflich Abteilungsleiter des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung. Beger war Angestellter der Ahnenerbe-Forschungsstätte Innerasien und Expeditionen. Die Waffen-SS bezahlte die Mitarbeiter und das Material des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung. Es ist unzweifelhaft, dass Beger Anfang 1944 Abformmasse für die Opfer des Verbrechens bestellte. Er tat dies aber nicht für Hirt, sondern für seine eigene Abteilung im Ahnenerbe. Die Rechnung erhielt ebenfalls Beger. Es wäre ungewöhnlich, wenn Begers Vorgesetzter Sievers gebilligt hätte, die erheblichen Devisenkosten für die Abformmassen nicht vom Reich tragen zu lassen, sondern auf den knappen Ahnenerbe-Etat zu übernehmen, wenn es sich nicht um ein Vorhaben von Begers Abteilung gehandelt hätte. Wenn tatsächlich jemand im Jahre 1941 oder 1942 vorgehabt hätte, eine Sammlung von Schädeln oder Skeletten von Juden zu begründen, wäre dies sehr einfach und ohne jedes Verbrechen möglich gewesen: Die deutschen Truppen verübten entsetzliche Verbrechen in Osteuropa. Ihnen folgten Einheiten, die Rohstoffe ebenso raubten wie Kunstwerke, die Bestände und Geräte wissenschaftlicher Einrichtungen oder Bibliotheken. Dabei wurde keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten der lokalen Bevölkerung genommen, insbesondere nicht auf jene von Juden. Es wäre also ein Leichtes gewesen, einige jüdische Friedhöfe zu besuchen, wie etwa den „Jüdischen Friedhof an der Okopowa-Straße“ in Warschau mit mehr als 200.000 Grabstellen. Dort wären sehr einfach 150 Skelette auszugraben gewesen. Auch dies ist ein Hinweis, dass es den Handelnden nicht um Juden ging, als sie in Auschwitz ihr Verbrechen begannen.

3  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Gabel vom 25.7.1960, S. 53.



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Noch einfacher wäre jedoch die Bestellung der Abgüsse der Köpfe und der zugehörigen skelettierten Schädel im Versandhandel gewesen. Bereits im Jahre 1987 publizierte Götz Aly das Tagebuch des Direktors der Anatomie der Reichsuniversität Posen, Professor Dr. Hermann Voss.4 Detailliert zeichnet Aly nach, wie Voss Präparate aus den Leichen von in Konzentrationslagern zu Tode Gekommenen fertigte und im Versandhandel an andere Einrichtungen verkaufte. Felicitas Heimann-Jelinek untersuchte im Jahre 1999 diesen Sachverhalt und stellte fest, dass beispielsweise der Leiter der Anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums in Wien, Dr. Josef Wastl, im Jahre 1942 in Voss’ Institut „Polenschädel“ und „Judenschädel“ bestellte, die ihm auch geliefert wurden.5 Zudem bestellte Wastl auch die Abgüsse der Köpfe, die vor dem Skelettieren angefertigt worden waren, damit man „die Kopfform und die oft recht eigenartigen Ohren sehen kann“. Wastl erwarb auf legalem Wege zum Aufbau einer Sammlung 29 Schädel von Juden aus Konzentrationslagern zum Preis von je 25 Reichsmark. In den Abrechnungen des öffentlichen Museums wurden die Rechnungen von Voss unter „Unterhaltung und Vermehrung der Sammlungen“ erfasst.6 Das Institut von Herrmann Voss war nicht unbekannt, und insbesondere der AnatomieDirektor Hirt dürfte dieses Anatomie-Institut und dessen Wirken gekannt haben. Sollte Hirt den Plan verfolgt haben, eine jüdische Schädelsammlung aufzubauen, hätte es weder des gegenständlichen Verbrechens bedurft noch des Ahnenerbes oder der Einbeziehung so vieler Beteiligter, einschließlich des Anthropologen Beger. Wenngleich seit vielen Jahren die von verschiedenen Historikern behandelte Tatsache bekannt ist, dass auch andere Anatomen neben Hirt sich mit Skeletten ermordeter Juden befassten und mit deren Schädeln sogar ohne jede Geheimhaltung Versandhandel betrieben, steht die Frage im Raum, warum dies in den Arbeiten und Büchern zur „jüdischen Skelettsammlung des August Hirt“ bislang eher übersehen wurde. Das vorliegende Buch hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Widerspruch zwischen den Fakten einerseits und der landläufigen Meinung in Wissenschaft und öffentlicher Erinnerungskultur andererseits zu untersuchen. Es soll – juristisch nachvollziehbar – der tatsächliche Hergang der Ermordung von 86 Menschen dargestellt werden. Darum wird zunächst narrativ die Geschichte der Universität Straßburg skizziert. Dem folgt eine Einführung zum Ahnen4  Aly, Götz: Das Posener Tagebuch des Anatomen Hermann Voss, in: Ders. u. a.: Biedermann und Schreibtischtäter. Materialien zur deutschen Täterbiographie. Berlin 1989. 5  Heimann-Jelinek, Felicitas: Zur Geschichte einer Ausstellung. Masken. Versuch über die Shoa, in: Fritz Bauer Institut (Hrsg.), „Beseitigung des jüdischen Einflusses …“. Antisemitische Forschung, Eliten und Karrieren im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1999. 6  Heimann-Jelinek, Masken, S. 135.

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erbe und seinem Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung hinsichtlich ihres Aufbaus und ihrer Tätigkeit. Sodann werden die bei diesem Verbrechen handelnden Hauptpersonen biographisch vorgestellt, wobei ihr Wirken von 1940 bis 1945 im Mittelpunkt steht. Im Hauptteil dieses Buches wird der Tathergang chronologisch dargestellt. Dies geschieht beinahe ausschließlich auf der Basis von Quellen. Anschließend wird fakten- und evidenzbasiert die Tatbeteiligung von Beger und Hirt – jeweils chronologisch – nachgezeichnet. Ebenso wird gezeigt, wie Hirt in Verbindung mit der Schädelsammlung im öffentlichen Bewusstsein zum Prototypen des gewissenlosen Medizinverbrechers wurde, was in Rolf Hochhuths Stück „Der Stellvertreter“ einen Höhepunkt fand, obwohl August Hirts Ermordung von Häftlingen mittels Lost diesen Ruf ohnehin hinreichend gerechtfertigt hätten. Ebenso wird medizinisch exakt und dennoch allgemeinverständlich erklärt, dass die Art und Weise, wie die Leichen in Straßburg fixiert wurden, nach spätestens einem Jahr die Knochenstruktur der Leichen so geschädigt hätte, dass die Herstellung von Skeletten später nicht mehr möglich gewesen wäre. Die Herstellung von Ganzkörper-Skeletten der von Beger ausgewählten Opfer in Hirts Anatomie hätte mit der damals vorhandenen Anzahl an Mitarbeitern Jahrzehnte gedauert, allein die von 86 Schädeln viele Jahre. Dies hätte jedoch vorausgesetzt, dass Hirt zu diesem Zweck entsprechend qualifizierte Kräfte aus dem universitären Betrieb hätte freistellen oder für das Ahnenerbe-Projekt „Schädelsammlung“ Mitarbeiter hätte einstellen können. Da es selbst Himmler zu dieser Zeit beinahe unmöglich war, weitere Mitarbeiter zu finden oder vorhandene vor dem Fronteinsatz dauerhaft zu bewahren, ist im Zusammenhang mit den ständig wachsenden Lehrverpflichtungen der vorhandenen Mitarbeiter zu fragen, wer mit welchen Kapazitäten 150 Skelette hätte präparieren sollen. Hinzu tritt die Tatsache, dass die meisten Tatbeteiligten unerfahren in der korrekten Benutzung medizinischer Termini waren. Ein entfleischter und präparierter menschlicher Arm ist ein Armskelett, und ein entsprechend präparierter Kopf – bestehend nur aus Knochensubstanz und Zähnen – kann als Schädel oder als Schädelskelett angesprochen werden. Dies kann zu Missverständnissen führen, da bei dem Begriff Skelettsammlung für den Laien unklar bleibt, ob es sich um die Präparierung der Knochen des Kopfes oder des ganzen Körpers handelt. Es ist allerdings nach allen Recherchen nicht eindeutig zu belegen, dass jemals geplant war, ganze Skelette und nicht nur Schädelskelette zu fertigen. Alle unten dokumentierten Vorbereitungs- und Tathandlungen stellen auf das Gewinnen von Schädelskeletten, nicht von ganzen Körperskeletten, ab. Wenngleich es keinen Hinweis auf ganze Skelette gibt, wird die Verwirrung bezüglich der Termini bis heute in der Literatur weiter missverständlich fortgeführt. Daher wird im weiteren Verlauf zwar immer jener Begriff verwendet, der in der jeweiligen Phase in den Quellen verwendet wird. Festzuhalten ist jedoch, dass nicht von Gesamtskeletten,



II. Die offenen Fragen – eine Einführung15

sondern von Schädelskeletten auszugehen ist. Auch Wolfram Sievers notierte in seinem Diensttagebuch „Schädel- und Skelettsammlung“, und Hirts Sekretärin Lieselotte Seepe sprach nach dem Krieg von „Schädel- oder Skelettsammlung“. Eine weitere offene Frage, die zu vielen Missverständnissen und Fehlinterpretationen führte, ist die wechselnde Benennung der Opfergruppe: „jüdisch-bolschewistische Kommissare“, „Juden“, „Fremdrassige“, sowie „Juden und Fremdrassige“. Diese Unschärfe wird durch die Gesamtschau auf die Quellen aufgelöst. Sie beruht auf der Tatsache, dass Mord auch zwischen 1933 und 1945 eine Straftat war und in bestimmten Kategorien in SS-Arbeitslagern, besonders aber in Kriegsgefangenenlagern, nie von vornherein legal war.7 Es gab nach dem Einmarsch in die Sowjetunion nur eine legalisierte Möglichkeit, Kriegsgefangene der Roten Armee – also auch deren Soldaten aus Vorder- und Innerasien – zu töten: wenn es sich um sogenannte „Politkommissare“ handelte. Diese wurden von der NS-Propaganda als jüdisch qualifiziert und deren Politagitation als jüdisch-bolschewistische Propaganda. Insoweit erklärt sich die erste Begrifflichkeit, die je nach eingebundener Dienststelle auf Juden verkürzt wurde. Die Ermordung von Kriegsgefangenen hätte bei Angehörigen der zahlreichen beteiligten Dienststellen – zumeist selbst ehemalige oder aktive Soldaten – erhebliche Widerstände auslösen können. Da die tatsächlich gewünschte Opfergruppe jedoch aus kriegsgefangenen Asiaten bestand, wurde in der internen Kommunikation zumeist der Begriff Fremdrassige und Kriegsgefangene verwendet, in der externen Kommunikation dagegen in der Regel der Begriff Juden. Am Ende der Darstellung wird aufgrund der evidenten Quellenbelege die wahrscheinlichste Version des tatsächlichen Hergangs nachgezeichnet. Zu den offenen Fragen gehört deshalb auch, warum bei der Auswahl der 115 Opfer kein einziger Kommissar ausgewählt wurde, wie in der erwähnten und unten näher behandelten Denkschrift vorgesehen, jedoch stattdessen 30 Frauen. ­ Ebenso muss gefragt werden, weshalb kein einziges Opfer Sowjetbürger war, wie es die Denkschrift vorsah. Die Motivation für diese Untersuchung war die Tatsache, dass in der Forschungsliteratur August Hirt stets als Urheber und prospektiver Nutznießer einer Schädel- oder Skelettsammlung bezeichnet wurde, sie jedoch all die oben genannten offenen Fragen unbeantwortet ließ und immer an denselben Stellen Belege durch Vermutungen ersetzt wurden. Die Argumentation ähnelt sich und folgte dem Motto: ‚Da keinerlei Zweifel daran bestehen oder bestehen dürfen, dass Hirt der Hauptschuldige ist, muss nicht alles dezidiert belegt werden und die offenen Fragen sind sekundär.‘ Die seit 1945 evidenten Belege, die gegen Hirt als Hauptschuldigen sprechen, wurden – offenbar aus 7  Vgl. Pauer-Studer, Herlinde / Velleman, David J.: „Weil ich nun mal ein Gerechtigkeitsfanatiker bin“ – der Fall des SS-Richters Konrad Morgen, Berlin 2017.

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A. Einleitung

dieser Logik heraus – stets ignoriert. Nur wenige Autoren, wie Michael Kater, meldeten Zweifel an einer Urheberschaft Hirts an. Daher war es das Ziel der vorliegenden Studie, unvoreingenommen alle auffindbaren Belege, die Beger und Hirt in Bezug auf eine mögliche Beteiligung an dem Verbrechen betreffen, in eine ergebnisoffene, chronologische Reihenfolge zu bringen, die Motive beider Täter zu ergründen und den Ablauf des Verbrechens nachvollziehbar zu machen. Dabei ist es ausdrücklich nicht das Anliegen dieses Buches, den vielfachen Mörder Hirt, gewiss eine der grausigsten Gestalten des an grausigen Gestalten nicht armen NS-Regimes, zu entlasten. Vielmehr soll durch juristisch klare Sachaufklärung den Opfern und ihren Angehörigen Gerechtigkeit widerfahren. Am 9.2.1942 wurde die nicht unterzeichnete Denkschrift eines bislang mit juristischen Maßstäben nicht eindeutig zu identifizierenden Autors mit dem Plan zum Aufbau einer Schädelsammlung vermutlich von Sievers an Himmler verschickt. Es gibt bislang keinen Beleg, wer wann und weshalb diese Denkschrift hinter den obligatorischen Forschungsbericht von Hirt geheftet hatte. Ebenso ist unklar, ob diese dahinter geheftete Denkschrift nur im Doppel der Ahnenerbe-Akten vorhanden war oder ob tatsächlich Begleitschreiben, Forschungsbericht mit Anlagen und die Denkschrift Himmlers Büro erreicht haben. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass Himmlers Persönlicher Referent, Rudolf Brandt, mehrfach Teile dieser Postsendung thematisierte, nie aber die Denkschrift zur Schädelsammlung von sowjetischen Kommissaren. Im Februar 2012 wurde nach zwei Jahren vorbereitender Archivarbeit mit der Arbeit an diesem Buch begonnen. Dies geschah mit dem Ziel, die tatsächlichen Ereignisse anhand der Quellen und Zeugen und ohne jede Vorverurteilung nachzuzeichnen und sie so transparent zu machen. Das erstaunliche Ergebnis mag eine Mahnung sein, im Angesicht unmenschlicher Verbrechen nicht dem wohlfeilen Trend der gefühlten Gerechtigkeit anheimzufallen, sondern Taten und Täter nach den Fakten zu beurteilen. Der Autor lebte eineinhalb Jahrzehnte neben dem Hôpital Civil in Strasbourg, dem ehemaligen Bürgerspital und Sitz der Anatomie, deren Direktor August Hirt von 1941 bis 1944 war, und neben dem heutigen Quai Menachem Taffel, benannt nach dem ersten identifizierten Opfer dieses Verbrechens. Dieses Buch ist auch ein Stück Regionalgeschichte und Aufklärung eines deutschen Verbrechens, das bis heute mit dem Namen der einzigartigen Stadt Straßburg verbunden ist – der wohl deutschesten aller französischen Städte und der nördlichsten mediterranen Stadt Europas. Möge eine Aufklärung des Verbrechens zur Versöhnung der Nachfahren der Täter und der Opfer ebenso beitragen wie zum friedlichen Miteinander von Franzosen und Deutschen im 21. Jahrhundert.



III. Editorische Bemerkungen17

III. Editorische Bemerkungen Die Bestände des Bundesarchivs zu den geschilderten Ereignissen sind in der Regel zumeist ungebundene und weitgehend unpaginierte Lose-BlattSammlungen, insbesondere bei den Beständen zum Ahnenerbe. Die dort enthaltenen und hier zitierten Dokumente sind für den Historiker daher nur mit hohem zeitlichem Aufwand zu finden. Jene dieser Dokumente, die ebenfalls im Beger-Prozess verwendet wurden, werden daher zumeist mit der dortigen Fundstelle aufgeführt. Die durchgehende Nummerierung der Prozessakten im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden und die dortige Paginierung der Inhalte erleichtert im Bedarfsfalle das rasche Auffinden. Da die „Forschungs- und Lehrgemeinschaft ‚Das Ahnenerbe e. V.‘ “ als Verein unter allen drei Satzungen und als Amt A des Hauptamtes Persönlicher Stab Reichsführer-SS verschiedenste Varianten der Benennung kennt, wird hier auf Anführungszeichen und – ab 1942 – auf die Bezeichnung als Amt verzichtet, sondern durchgehend zur Vermeidung von Uneinheitlichkeiten der Begriff Ahnenerbe verwendet. Aufgrund der oft sehr langen Titel einiger Personen, zum Beispiel „SSObergruppenführer und General der Waffen-SS Oswald Pohl“ oder der häufigen Wiederholung von zum Beispiel „SS-Hauptsturmführer Hirt“ wird in der Regel auf die Nennung der Dienstbezeichnung verzichtet oder der erste Teil „SS-“ fortgelassen. Die korrekten Dienstbezeichnungen finden sich im Abkürzungsverzeichnis. Es bedarf keiner Erörterung, dass Begriffe wie „Führer“, „Reichsführer“, „Fremdrassige“, „Rassejuden“ und andere Begrifflichkeiten der Diktatur – die Beobachtungen Victor Klemperers sind nach wie vor ein wichtiges Werkzeug des Sprachverständnisses – nicht Gedankengut des Autors sind. Um einerseits eine lesekomfortsenkende Inflation von Anführungszeichen zu vermeiden, andererseits Interpretationsspielraum wie bei der Rede des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger vom 10.11.1988 zum fünfzigsten Jahrestag der Pogromnacht am 9.11.1938 auszuschließen, sei an dieser Stelle einmalig und abschließend auf diesen Umstand hingewiesen. Neben den Standards der Geschichtswissenschaft wird ein weiterer methodischer Schwerpunkt auf die juristische Evidenz bestimmter Sachverhalte gelegt und daher in den hierbei notwendigen Abschnitten sprachlich angepasst vorgegangen. Wenngleich es sich oftmals angeboten hätte, aufgrund eines Gesamtzusammenhanges eine mit hoher Wahrscheinlichkeit unterlegte Tatsachenbehauptung aufzustellen, geschah dies stets nur dann, wenn Tatsachen evident und in der Regel gerichtsfest waren. Dies führt zu einer – für Arbeiten dieser Art – ungewöhnlich hohen Anzahl an Textstellen, in denen Vermutungen geäußert werden. Dies ist jedoch nicht der Unsicherheit bezüg-

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A. Einleitung

lich des Ablaufes der Ereignisse geschuldet, sondern den Anforderungen juristischer Lesart. Schließlich sei angemerkt, dass der Übersichtlichkeit halber darauf verzichtet wurde, nicht unmittelbar relevante Personen, Projekte und Strukturen explizit darzustellen. Beispiele sind hier die anthropologischen Vermessungen russischer Kriegsgefangener Wolfgang Abels, die röntgenologischen Anthropologieprojekte Hans Holfelders oder die Forschungsprojekte von Ernst Schäfer. Bewusst werden die Geschichte des Ahnenerbes, die Biographien der Handelnden und die Chronologie des Verbrechens einzeln und nacheinander behandelt. Dabei sind Überschneidungen, aber auch die Mehrfachzitierung aus denselben Dokumenten nicht zu vermeiden. Insofern versteht sich dieses Buch nicht als stringente Gesamtdarstellung, sondern Kompendium verschiedener chronologischer Ereignisstränge. Einem davon, der stringenten chronologischen Darstellung des Verbrechens, wurde daher ein eigenes Kapitel innerhalb des Buches gewidmet.

B. Forschungsstand In den letzten Jahrzehnten sind viele tausend Bücher zur Geschichte des Nationalsozialismus und der SS erschienen. Unzählige Autoren haben sich mit NS-Verbrechen, darunter auch NS-Medzinverbrechen befasst. Es entstanden immer neue Ansätze und Debatten, wie NS-Geschichte zu denken und zu interpretieren ist. Daraus entstanden Denkschulen; manches Mal folgte eine Auseinandersetzung oder gar ein erbittert geführter Historikerstreit. Vielen Geschichtswissenschaftlern war es oft nicht nur wichtig, was jemand neu veröffentlicht, sondern auch, wo er „herkam“ – auch heute hat die Zugehörigkeit zu bestimmten Lagern, Theorien und Netzwerken oft Einfluss auf die Rezeption neuer Forschungsergebnisse. Wie einleitend erwähnt, versteht sich dieses Buch als Präsentation von Fakten und ordnet sich ausdrücklich nicht in Theorien und Denkschulen ein und Lagern zu. Die unzähligen Werke zum Nationalsozialismus im Allgemeinen und zur SS und SS-Wissenschaft im Speziellen sind alle wichtig. Es ist legitim, dass ihre Autoren kritisch prüfen, ob ihre Werke in diesem Buch berücksichtigt wurden. Es ist ebenso legitim, in Rezensionen kritisch anzumerken, dass im vorliegenden Kapitel dieses oder jenes Werk, das der Rezensent sehr wichtig findet, nicht erwähnt wird. Genauso legitim ist es jedoch, wenn ein Buch erst gar nicht den Anspruch erhebt, vollständig und abschließend jedes Werk aufzuführen, das wichtig ist oder für wichtig gehalten werden kann. Dies gilt insbesondere, da der Kern dieser Studie die Neubetrachtung eines Verbrechens auf Grundlage vieler, darunter auch neuer, Quellen ist. Aus diesem Grunde werden nachfolgend einzig einige jene Bücher genannt, die sich im Kern oder am Rande mit dem Verbrechen der Straßburger Schädelsammlung und ihrem institutionellen Rahmen befassen. Das methodische Ziel ist dabei, dem Leser Hinweise auf weiterführende Literatur zu geben und ausdrücklich nicht ein nach Forschungsgebieten und Teildisziplinen chronologisch geordneter Forschungsbericht. Das Verbrechen der Straßburger Schädelsammlung wurde erstmals in Eugen Kogons 1946 erschienenem Buch zum SS-Staat1 erwähnt. In ihm wurde 1  Kogon, Eugen: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, 18. Aufl., München 1988 (Originalausgabe 1946).

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B. Forschungsstand

Hirt als Urheber und Nutznießer der Schädelsammlung genannt. In dem 1967 publizierten Standardwerk Heinz Höhnes2 zur Geschichte der SS geht es nur am Rande um Medizinforschung; die „Straßburger Skelettsammlung“ wird nicht erwähnt. Die jüngste und fundierteste Himmler-Biographie von Peter Longerich aus dem Jahre 20083 streift das Thema Medizin lediglich und erwähnt Hirt und das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung ebenfalls nicht. Wolfram Sievers wird nur an zwei Stellen erwähnt – im Zusammenhang mit seiner frühen Berufung zum Generalsekretär des Ahnenerbes und im Zusammenhang mit paläontologischen Forschungen. Die These von Himmler als prägender Persönlichkeit der SS und deren Erzieher, vor allem in Bezug auf gesunde Lebensführung mit großem Interesse an medizinischen Fragen, belegte jedoch schon Josef Ackermann im Jahre 1971 in seiner Monographie „Heinrich Himmler als Ideologe“.4 Jedoch geht auch er nicht auf das Verhältnis zwischen Himmler und Sievers ein, ebenso wenig wie auf das Vorgehen von Sievers bei dem Aufbau der Ahnenerbe-Medizinforschung oder der Skelettsammlung. Das große Interesse Himmlers an medizinischen Themen wurde im 1999 von Michael Wildt und anderen Zeithistorikern herausgegebenen Dienstkalender Himmlers untermauert. Dort sind die medizinischen Fragestellungen und häufigen Arztkontakte Himmlers präzise dokumentiert.5 Auch die Fallbeispiele von Ärzten, die sich der SS andienten, in Wildts Arbeit zum Führungspersonal des Reichssicherheitshauptamtes (erschienen 2002 unter dem Titel „Generation des Unbedingten“)6 belegen das Zusammenspiel zwischen dem nach Erkenntnissen suchenden Himmler einerseits und den Medizinern, die Forschungsfelder jenseits ethischer Grenzen oder einfach nur mensch­ liche Versuchspersonen suchten. Die Schädelsammlung wird jedoch auch hier nicht thematisiert. Im Bereich der SS-Medizin und des Ahnenerbes ist Michael Katers Ahnen­ erbe-Betrachtung in der überarbeiteten Version von 1974 nach wie vor das Standardwerk.7 Es ist nach den Forschungsgebieten des Ahnenerbes gegliedert. Kater beschreibt die Rolle von Sievers in seiner Funktion als Reichsgeschäftsführer des Ahnenerbes, zeigt ihn jedoch als Vollstrecker von Himmlers 2  Höhne,

Heinz: Der Orden unter dem Totenkopf, Gütersloh 1967. Peter: Heinrich Himmler. Biographie, München 2008. 4  Ackermann, Josef: Heinrich Himmler als Ideologe, Göttingen 1970. 5  Wildt, Michael u. a. (Red. / Hrsg.): Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941 /  42, Hamburg 1999. 6  Wildt, Michael: Generation des Unbedingten, Hamburg 2002. 7  Kater, Michael H.: Das „Ahnenerbe“ der SS 1935–1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, Stuttgart 1974. 3  Longerich,



B. Forschungsstand21

Willen und in den nichtmedizinischen Abteilungen von Wüsts8 Normen. Die Medizin im Ahnenerbe wird nur auf 28 von 350 Seiten des Buches behandelt, dies aber mit großer Gründlichkeit und – bei schwacher Quellenlage – mit sorgfältiger Abwägung. Auf den qualitativen Unterschied der medizinischen Arbeiten im Gegensatz zu den anderen Arbeiten des Ahnenerbes geht Kater nur am Rande ein. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass er zwar tendenziell auch zu dem Schluss gelangt, dass es sich um eine Art von untergeschobener Legende handelte, August Hirt sei Urheber einer Schädelsammlung gewesen. Im vorliegenden Buch ist der gleiche Schluss evident, jedoch aus anderen Gründen. Kater argumentiert, dass Hirt aus dem Grunde zum Mittäter wurde, weil er als Anatom ohne viel Aufwand Leichen und Skelette als Übungsmaterial für die Studenten im universitären Lehrbetrieb benötigte. Offenbar waren Kater jene Quellen nicht zugänglich, die zeigen, dass Hirt ohnehin unabhängig von der gegenständlichen Sammlung Skelette von verstorbenen Häftlingen in großer Menge erhielt wie Raphael Toledano 2016 zeigte. Zutreffend ist sein Hinweis, dass in der Literatur bislang stets von Skelettsammlungen geschrieben wurde, es sich jedoch um das Vorhaben einer Schädelsammlung handelte. Doch wird dieser Hinweis im Großteil der Literatur seit Erscheinen von Katers Werk ignoriert. Katers großes – jedoch meist unbeachtetes – Verdienst ist es, dass er deutlich festgestellt hat, dass das Abwälzen der Verantwortung vom Ahnenerbe, von Beger und sich selbst auf Hirt und die staatliche Universität eine Verteidigungsstrategie des um sein Leben kämpfenden Sievers war. Sievers wurde insbesondere aufgrund seiner Beteiligung an diesen 86 Morden hingerichtet. Ebenso benennt Kater Sievers’ Versuche, eine enge Bekanntschaft zwischen Hirt und Himmler seit 1936 zu konstruieren, deutlich als Unwahrheit. Das Werk Katers ist nach über 40 Jahren streckenweise überholt, da 8  Walther Wüst, (geb. 7.5.1901 in Kaiserlautern, gest. 21.3.1993 in München), Stu­ dium der Indo-Iranischen Philologie, der indogermanischen Sprachwissenschaft, der germanischen und deutschen, sowie englischen Philologie, der Völkerkunde Asiens und der allgemeinen, vergleichenden Religionswissenschaft, 1923 Promotion summa cum laude, 1926 Habilitation in indischer Philosophie, 1932 außerordentlicher Professor für Indologie in München. 1933 Eintritt in die NSDAP, Referent verschiedener Stellen der NSDAP, Mitglied der Reichsdozentenführung, 1935 ordentlicher Professor für arische Kultur und Sprachwissenschaft in München, SD-Vertrauensmann, 1935 bis 1941 Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität München, 1937 Eintritt in die SS als Hauptsturmführer, letzter Dienstgrad Oberführer, 1937 Präsident, 1939 Kurator des Ahnenerbe e. V., 1942 Leiter des Amtes A im Persönlichen Stab Reichsführer-SS, 1940 Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 1941 Rektor der Universität München, 1945 interniert, 1950 Spruchkammerverfahren, das ihn als „minderbelastet“ einstufte. Daraufhin seit 1951 „Ordentlicher Professor zur Wiederverwendung“ mit monatlichen Bezügen von 1.100 D-Mark (1961), jedoch ohne jemals wieder Verwendung an einer Hochschule zu finden (siehe Klee, Personenlexikon; und HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Wüst vom 21.4.1961, S. 87 ff.).

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B. Forschungsstand

neue Erkenntnisse und Quellenfunde vorliegen. Jedoch steht Katers Verdacht, dass Beger der Initiator des Verbrechens der Schädelsammlung war, weiterhin ungeprüft im Raum. Katers Werk dient daher nur sekundär zur Einordnung von Sachverhalten in Zusammenhänge, vor allem jedoch zur Einordnung in zeitliche Zusammenhänge und dazu, quellenbasierte Fakten zu belegen. Jüngere Angriffe auf die Thesen Katers durch Hans-Joachim Lang werden durch die Auswertung der Fakten nicht erhärtet. Katers Studie ist und bleibt ein Standardwerk. In ihrer Untersuchung zum Rasse- und Siedlungs-Hauptamt der SS arbeitete Isabel Heinemann 2003 die gemeinsamen Wurzeln dieses Hauptamtes und des Ahnenerbes heraus.9 Ebenfalls erläutert sie die Zusammenarbeit zwischen beiden Einrichtungen bis zum Ende des Krieges. Ohne dies näher zu spezifizieren, äußerte auch sie den Verdacht, dass Bruno Beger Urheber des Verbrechens der Schädelsammlung war. Im Jahre 2000 publizierten Angelika Ebbinghaus, Karl Heinz Roth und andere den Erschließungsband zu der von ihnen publizierten Microfiche-Ausgabe der Unterlagen des Nürnberger Ärzteprozesses.10 Dort wurde die Vorgeschichte und der Verlauf des Prozesses dargestellt, unterlegt mit einer großen Zahl von Details. Hinzu kommen faktenreiche Kurzbiographien der Beteiligten. Es ist heute offensichtlich, dass die Verfahrensbeteiligten der Prozesse, insbesondere die Ankläger und Richter, sich in vergleichsweise kurzer Zeit in sehr komplexe und ihnen fremde Sachverhalte und Strukturen einarbeiten mussten. Dies führte dazu, dass Fakten oft falsch eingeschätzt und offensichtliche Falschaussagen nicht als solche identifiziert werden konnten. Auch nach heutiger Einschätzung waren solche Fehler aufgrund der Kürze der Prozessvorbereitung nicht vermeidbar. Da der Erschließungsband primär den Prozessverlauf, aber nicht die konkreten Taten der Angeklagten darstellt, wurden diese Fehler nicht ausdrücklich thematisiert. Daher nennt der Erschließungsband beispielsweise August Hirt als Urheber und prospektiven Nutznießer der Straßburger Skelettsammlung. In Kombination mit der geleisteten Quellen­ recherche ist das Werk jedoch ein wertvoller Forschungsbeitrag. Es ist unverzichtbar für Forschungen zu Medizinverbrechen des NS-Regimes. Udo Benzenhöfers Arbeit über die Frankfurter Mediziner der NS-Zeit von 201011 befasst sich zwar mit August Hirt, aber nur in jener kurzen Periode, 9  Heinemann, Isabel: „Rasse, Siedlung, deutsches Blut“. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003. 10  Ebbinghaus, Angelika: Der Nürnberger Ärzteprozeß 1946 / 47. Erschließungsband zur Mikrofiche-Edition. Mit einer Einleitung von Angelika Ebbinghaus zur Geschichte des Prozesses und Kurzbiographien der Prozeßbeteiligten. München 2000. 11  Benzenhöfer, Udo (Hrsg): Mengele, Hirt, Holfelder, Berner, von Verschuer, Kranz: Frankfurter Universitätsmediziner der NS-Zeit, Münster 2010.



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in der er Direktor der Dr. Senckenbergischen Anatomie war. Er bezieht sich zudem meistens auf Langs unten vorgestellte Monographie „Die Namen der Nummern“, die vor allem in Bezug auf die Skelettsammlung wichtige ­Quellen außer Acht lässt. Beide fokussieren so stark auf August Hirt, dass das Ahnenerbe oder gar der Einfluss von Sievers oder Beger auf den Plan nicht in den Blick gerät. Ähnlich verhält es sich mit Alexander Drabeks Betrachtung der Dr. Senckenbergischen Anatomie in Frankfurt aus dem Jahre 1988.12 Ein umfangreiches Werk zur Medizin im Nationalsozialismus verfasste der Medizinhistoriker Wolfgang Uwe Eckart.13 Allerdings erwähnt er das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung nur an einer Stelle im Zusammenhang mit der Straßburger Skelettsammlung. Die Forschungen Hirts werden nicht näher erläutert. Auch in Ernst Klees Monographie „Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer“14 von 2001 wird die These von Hirts „jüdischer Skelettsammlung“ aufgegriffen. Zwar finden sich darin auf 37 von 380 Seiten Beschreibungen der Versuche von Sievers’ Mitarbeitern Rascher15 und Plötner,16 jedoch vorwiegend bezüglich des blutstillenden Mittels Polygal. Die Tätigkeit Hirts wird nur am Rande erwähnt. Die Arbeit von Patrick Wechsler „La Faculté de Medecine de la ‚Reichsuniversität Straßburg‘ (1941–1945) a l’heure nationale-socialiste“ dokumen12  Drabek, Alexander: Die Dr. Senckenbergische Anatomie von 1914 bis 1945. Hildesheim, 1988. 13  Eckart, Wolfgang Uwe: Medizin in der NS-Diktatur, Köln 2012. 14  Klee, Ernst: Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer, Frankfurt am Main 1997. 15  Sigmund Rascher (geb. 12.2.1909 in München, gest. 26.4.1945 in Dachau) war Sohn eines Arztes. Er trat 1933 in die NSDAP ein und schloss 1936 sein Medizinstudium ab. Von 1936 bis 1938 arbeitete er mit einem Stipendium der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft (der späteren DFG) über Krebsdiagnostik und war von 1937 bis 1939 unbezahlter Assistenzarzt im Klinikum rechts der Isar. 1939 trat er in die SS ein und erhielt eine Forschungsbeihilfe des Ahnenerbe e. V. zur Krebsdiagnostik. Er wurde Leiter der Abteilung „R“ des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung. 1944 wurde er auf Geheiß Himmlers wegen anderer Vorwürfe verhaftet und 1945 im KZ Dachau erschossen. 16  Kurt Plötner (geb. 19.5.1905 in Hermsdorf, gest. 26.2.1984), letzter Rang SSSturmbannführer, 1932 Promotion zum Dr. phil. nat., 1933 Eintritt in die NSDAP, 1934 med. Staatsexamen, anschließend Assistent bei Ludwig Heilmeyer in Jena, 1939 Sanitätsdienst in der Waffen-SS, u. a. in den Lazaretten Dachau und Minsk, ab 1943 Arzt in Dachau mit Forschungsbeihilfe des Ahnenerbes, 1945 Gefangennahme in Lochau, 1946 Flucht aus der Gefangenschaft, unter dem Namen Kurt Schmitt in Schleswig-Holstein, 1952 unter richtigem Namen Assistent Heilmeyers in Freiburg, 1954 apl. Professor.

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tiert Zweifel an der Urheberschaft Hirts.17 Zwar übernahm Wechsler recht unkritisch die tendenziösen Schlussfolgerungen des Ost-Berliner Autors Friedrich Karl Kaul, deren manipulierter Charakter bereits von Kater nachgewiesen wurde; doch kam er zu demselben Ergebnis. Eine vertiefende Einordnung, insbesondere über die Rolle Kauls als Vertreter der DDR-Justiz und Beteiligter bei ostdeutschen Schauprozessen findet nicht statt. Wenngleich Wechsler viele Zeugenaussagen aus den Prozessen zu diesen Vorfällen unkritisch übernahm, so weist er doch darauf hin, dass es Beger war, der als Schädelexperte diesem Thema große Aufmerksamkeit widmete. Der als Abteilungsleiter des RuSHA angesprochene Beger18 soll nach Wechsler für den Ahnenerbe-Forschungsstättenleiter Eduard Paul Tratz auch den vermeintlichen Mozart-Schädel identifiziert haben.19 In Sören Flachowskys Untersuchung zum Reichsforschungsrat (von 2008)20 findet Sievers zwar Erwähnung als Stellvertreter von Mentzel, allerdings wird die SS-Medizin nur am Rande erwähnt, das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung wird nicht näher beleuchtet und damit auch nicht dessen Forschungen zur Schädelsammlung. Ein solcher Anspruch ginge jedoch auch an den Realitäten vorbei: Die umfangreiche, gut recherchierte und detailreiche Studie Flachowskys und sein in Fachkreisen geschätztes Privatarchiv weisen ihn als profunden Kenner des Reichsforschungsrates aus. Vertiefte Betrachtungen zur Geschichte der Wehrmedizin sind deshalb nur bedingt in einer Studie zum Reichsforschungsrates zu erwarten. Verdienstvoll ist zudem, dass Flachowsky sein Forschungsfeld nicht separiert betrachtet, sondern Zusammenhänge zu anderen Forschungsgebieten herstellt. In einem Beitrag hält er in Bezug auf Sievers fest: „S. verfügte über enge Beziehungen zum Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Rudolf Mentzel (1900–87), der ihn 1943 als Stellvertreter in den „Geschäftsführenden Beirat“ des Reichsforschungsrates berief. Mit Hilfe seiner zahlreichen Funktionen verstand es S., das „Ahnenerbe“ zu einer weit verzweigten Organisation mit über vierzig wissenschaftlichen Abteilungen auszubauen, und der SS auf diese Weise Einfluß im NS-Forschungsbetrieb zu sichern.“ Der festgestellte Einfluss Sievers’ auf den NS-Forschungsbetrieb ist ein wichtiges Detail, sowohl bei der Beurteilung des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung als auch beim Verbrechen der Straßburger Skelettsammlung. Der Mediziner Raphael Toledano legte 2010 an der Universität Strasbourg eine Dissertation vor, die ebenfalls Experimente an Häftlingen im Konzen­ 17  Wechsler,

Faculté, S. 197. S. 187. 19  Ebd., S. 198. 20  Flachowsky, Sören: Von der Notgemeinschaft zum Reichsforschungsrat. Wissenschaftspolitik im Kontext von Autarkie, Aufrüstung und Krieg, Stuttgart 2008. 18  Ebd.,



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trationslager Natzweiler zum Gegenstand hat. Dort befasste er sich mit den Experimenten des Virologen Eugen Haagen, der – wie August Hirt – Professor an der Medizinischen Fakultät der Reichsuniversität Straßburg war. Akribisch und detailorientiert – mit bis zu drei Kapiteln auf einer Seite – arbeitet Toledano die Abläufe heraus und ordnet sie in Zusammenhänge ein. Unbefriedigend bleibt allein, dass Toledano die Aussagen von Zeugen, darunter – teilweise schwer traumatisierte – Häftlinge der Konzentrationslager, stets als absolute Wahrheit betrachtet. Die Disziplin der Aussagepsychologie wird dabei völlig außer Acht gelassen, wodurch subjektive und nach bester Erinnerung gemachte Zeugenaussagen zum Ausdruck einer unangreifbaren Objektivität erhoben werden. Nach Fertigstellung der 1. Auflage dieses Buches erschien Toledanos Aufsatz „The Anatomical Institute of the Reichsuniver­ sität Strassburg and the delivery of dead bodies.“ Der exzellent recherchierte Aufsatz in den Annals of Anatomy 205 (2016) bestätigt, dass Hirt für die Ausbildung seiner Studenten auf verschiedensten Wegen Leichen beschaffte. Sofern es für das vorliegende Buch relevant ist, sind die Ergebnisse deckungsgleich, wenngleich unten noch weitere, über die von Toledano genannten Leichenquellen hinaus, dokumentiert sind. Auch Toledano bestätigt, dass die Annahme Hans-Joachim Langs, in Mutzig habe es ein Lager gegeben, unzutreffend ist. Insgesamt vermittelt die Tatsache, dass Toledano Mediziner ist, den präsentierten Ergebnissen Nachvollziehbarkeit und Glaubwürdigkeit. Die Arbeit Toledanos ist in weiten Strecken hilfreich zur Einordnung der Art der Erkenntnissuche jener Zeit, aber auch der Verhältnisse in Natzweiler, insbesondere aus französischer Sicht. Robert Steegmann publizierte 2005 ein Buch über das Konzentrationslager Natzweiler, das im Jahre 2010 auch in deutscher Übersetzung erschien.21 Für diese von der „Direction de la mémoire, du patrimoine et des archives“ des Verteidigungsministeriums der Französischen Republik geförderte Monographie erhielt der Autor Einblick in zahlreiche Archivbestände, die nach seiner Auskunft nur mit besonderer Genehmigung zugänglich sind. Das Werk zeichnet auf der Grundlage einer hohen Quellendichte und zahlreicher Zeitzeugengespräche ein sehr detailreiches und gut strukturiertes Bild vom Alltag im Konzentrationslager Natzweiler mitsamt seinem Aufbau und dem eingesetzten Personal. Steegmann differenziert dabei einerseits sehr genau, dass viele der Häftlinge des Konzentrationslagers Natzweiler keine objektiven Zeitzeugen sind, und bezeichnet zahlreiche Zeugen als wenig glaubwürdig. Andererseits werden häufig unterschiedliche Erinnerungen von Zeitzeugen unkommentiert stehen gelassen. Ein Beispiel sind die unterschiedlichen Erinnerungen der Zeitzeugen, wann das Konzentrationslager Natzweiler er21  Steegmann, Robert: Das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof und seine Außenkommandos an Rhein und Neckar, Berlin 2010.

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öffnete. Hier werden Spannen von rund zwei Monaten nicht kommentiert, womit die Chance vertan wird, die Traumatisierung der Häftlinge zu thematisieren, die schon bei solch banalen Ereignissen zu unterschiedlichen Erinnerungen führte. Es ist beeindruckend, wie akribisch der Autor alle Häftlinge aus Natzweiler einzeln erfasst hat. Diese Tiefe an Details ergibt ein plastisches und nachvollziehbares Bild von der Entwicklung der Lagerstrukturen. Andere Einrichtungen, die in Kontakt mit dem Konzentrationslager Natzweiler standen, wie das Ahnenerbe und die Reichsuniversität Straßburg, werden in vielen Fällen jedoch unzutreffend dargestellt. Dies mag den Klippen der Rückübersetzung von Steegmanns Buch ins Deutsche geschuldet sein.22 Ebenso drehen sich Steegmanns Interpretationen der Kampfstoff-Versuche Hirts an Häftlingen um die Annahme, dass Lost – im Ersten Weltkrieg auch als Senfgas oder Yperit bezeichnet – nur gasförmig angewendet wurde und als Gas wirkt. Tatsächlich aber experimentierte Hirt mit flüssigem Lost. Da Lost primär über die Haut aufgenommen wird, war es im Ersten Weltkrieg zweckdienlich, es nicht in flüssiger Form in Granaten zu füllen, sondern als sich rasch verteilendes Gas. Für Hirts Experimente war jedoch der flüssige Aggregatzustand hinreichend. Alle Zeugen und Opfer beschrieben auch nur den Einsatz flüssigen Losts. Möglicherweise kam es durch den volkstüm­ lichen Begriff Senfgas für den gegenständlichen Kampfstoff zu 22  An dieser Stelle seien nur drei Beispiele genannt: Steegmann stieß auf ein ­ chreiben von Reinhard Heydrich an Heinrich Himmler. In diesem lobte Heydrich S den Rektor der Universität Straßburg und legte Himmler „unumwunden nahe, die künftige Reichsuniversität in den Dienst der SS zu stellen“. Wenngleich Steegmann festhält, dass „Heydrichs Traum von einer SS-Universität unerfüllt“ blieb, wird diese Universität – ohne jede Einordnung, inwieweit Heydrich überhaupt den entsprechenden Einfluss gehabt habe, seinen „Traum“ umzusetzen – weitgehend als ideologische Schulungsstätte der NSDAP dargestellt. Das ist nicht falsch, aber eben nicht durch einen „Traum“ Heydrichs begründet. Ebenso ist das Ahnenerbe nur verzerrt erfasst: So wird unzutreffend festgehalten, dass Sievers im Jahre 1935 Reichsgeschäftsführer gewesen und das Ahnenerbe „im April 1942 […] Himmlers persönlichen Generalstab zugeordnet“ worden sei. (Das Hauptamt Persönlicher Stab Reichsführer-SS wird im Buch durchgehend als persönlicher Generalstab Himmlers angesprochen. Dabei handelt es sich offenbar um eine Kombination von Übersetzungsfehlern mit Unkenntnis der Strukturen. Da Himmler bis 1944 nie Truppenführer war, konnte er keinen Generalstab haben; auch hat es „persönliche“ Generalstäbe in der deutschen Militärgeschichte nie gegeben.) Eduard May wird unzutreffend als Professor angesprochen, das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung wurde angeblich in die „Stiftung Ahnenerbe“ „eingegliedert“, und das Rohstoffamt im Hauptamt Persönlicher Stab Reichsführer-SS wird als Reichsrohstoffamt missverständlich als Reichseinrichtung interpretiert, gegen die das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung die Lieferung von Rohstoffen habe durchsetzen müssen. Schließlich fällt aber auch auf, dass Steegmann stets von Versuchen Hirts mit Lost in gasförmiger Form aus Glasampullen berichtet, obwohl dieser ausschließlich mit flüssigem Lost experimentierte. Es ist offenkundig, dass eine Verwechslung mit den Glasampullen von Otto Bickenbach vorliegt, die mit gasförmigem Phosgen gefüllt waren.



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dem irrtümlichen Schluss, dass Hirt diesen in einer Gaskammer verabreicht habe. Abgesehen von diesen beiden Feldern ist Steegmanns Werk nicht nur ein kenntnisreich in das Lagersystem Natzweiler einführendes Buch, sondern dem Autor gelingt es auch, dem Leser sehr sensibel und empathisch die Leiden der Opfer der mörderischen Arbeiten im Steinbruch des Lagers nahezubringen. In dem Buch „Die Namen der Nummern“ aus dem Jahre 2004 hat HansJoachim Lang mit großem Fleiß die Biographien jener 86 Menschen, die für die Schädelsammlung im Konzentrationslager Natzweiler ermordet wurden, recherchiert und auch einige biographische Stationen Hirts vor seiner Versetzung nach Straßburg präzise geschildert.23 Allerdings unterstellt der promovierte Germanist Lang bemerkenswert freihändig die alleinige Urheberschaft für das Verbrechen August Hirt, qualifiziert Bruno Beger als unbedeutenden Mittäter und ignoriert jeden gegenteiligen Beleg. Es ist Lang anzurechnen, den 86 bis dahin anonymen Opfern von Beger und Hirt Namen, Gesicht und Biographie zurückgegeben zu haben. Über diese anerkennenswerte Gedenkarbeit hinaus weist das Werk jedoch erhebliche methodische und sachliche Unschärfen auf: Lang zitiert beispielsweise ausgiebig aus „Hornung, The Natzweiler Concentration Camp“.24 Dieses Buch wird einige Male mit einer Fundstelle des National Archives and Records Administration in Washington D.C. zitiert. Allerdings nennt Lang nur „RG 153“ ohne weiteren Zusatz oder Fundstellen.25 Diese Record Group 153 enthält Hunderttausende Dokumente, darunter die Untersuchungen zur Ermordung Abraham Lincolns und zur Niederlage von General George Armstrong Custer am Little Bighorn im Jahre 1876.26 Es bleibt offen, weshalb die genauen Fundstellen nicht genannt werden. Dabei ist das im Jahre 1945 von Albert Hornung verfasste Buch „Le Struthof. Camp de la mort“ aus dem Jahre 1945 in deutschen Universitätsbibliotheken sowie in Online-Antiquariaten ohne weiteres erhältlich.27 Ähnlich verhält es sich mit den Archivalien aus dem United States Holocaust Memo23  Lang, Hans-Joachim: Die Namen der Nummern. Wie es gelang, die 86 Opfer eines NS-Verbrechens zu identifizieren, Hamburg, 2004. 24  Ebd., S.  256 ff. 25  Ebd., S. 257. 26  NARA RG 153: In diesem Bestand finden sich Quellen zu allen Fällen des Judge Advocat General, beispielsweise: „Records of U.S. Army War Crimes Trials in Europe: United States of America v. Valentin Bersin, et al., War Crimes Case 6–24, May 16–18, 1946.“ mit sechs Filmrollen oder „Court-Martial Case Files Relating to the ‚Hesse Crown Jewels Case,ʻ 1944–1952“ mit 13 Filmrollen oder „General Court Martial of Gen. George Armstrong Custer, 1867“ mit einer Rolle oder gar „Investi­ gation and Trial Papers Relating to the Assassination of President Lincoln.“ mit 16 Rollen. 27  Hornung, Albert: Le Struthof. Camp de la mort, Paris 1945.

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rial Museum.28 Dabei wiederholt sich die Unschärfe: Lang nennt zwei Bestände, die er in diesem Archiv bearbeitet haben will: „Reel 1 Departmental Archives Bas Rhin in Strasbourg Records“ und „Reel 2 Departmental Archives Bas Rhin in Strasbourg Records“. Die beiden „Reels“ enthalten auch wieder verschiedenste Bestände, die über tausend Dokumente beinhalten.29 Es ist kaum anzunehmen, dass beispielsweise das dort ebenfalls umfassend dokumentierte Massaker von Oradour Grundlage für Langs Buch war.30 Kurzum: Die Aufnahme von Belegen, die eine bestimmte These stützen, und die Erschwerung der Quellenüberprüfung haben ein lange Zeit viel beachtetes Projekt – „Die Namen der Nummern“ – hervorgebracht. Die Tatsache, dass es Hans-Joachim Lang gelungen ist, mit intensiver Gedenkarbeit die Leiden der Opfer so stark ins öffentliche Bewußtsein zu heben und ihr Andenken zu bewahren, ist ehrenwert und dem Autor hoch anzurechnen. Sein Buch ist unverzichtbar bei der moralischen Bewertung eines der unmenschlichsten NS-Verbrechen. Aus diesem Grunde und weil es erkennbar ein Sachbuch ist, sollte man nicht Maßstäbe wie an ein wissenschaftliches Buch anlegen. Die schlussendlich erfolgte Überprüfung der verwendeten Quellen Langs im Rahmen dieser Studie ermöglicht darüber hinaus, den von Lang geschilderten Tatablauf entsprechend der tatsächlichen Ereignisse und Zusammenhänge zu ergänzen. Florian Schmaltz wies sich mit seiner Untersuchung zur Kampfstoffforschung im Nationalsozialismus als profunder Kenner der verschiedensten 28  Erwähnt wird das „United States Holocaust Museum“, richtig: United States Holocaust Memorial Museum (USHMM); beim erwähnten „National Archive“, zitiert als „NA Wash.“, handelt es sich um die National Archives and Records Administration (NARA). 29  USHMM, RG-43.050M, Acc. 1997.A.0197 Reel 1: AL 150 P3: From the Direction régionale de la Police Judiciaire Cité administrative, Strasbourg. Case file with documentary evidence concerning the Schirmeck camp war crimes trial related to the murder of Jews by camp personnel, 1945–1947. Approximately 500 frames. AL 150 P8: From the Direction régionale de la Police Judiciaire Cité administrative, Strasbourg. Legal procedures number 1 to 80; selected war crimes records related to German atrocities committed in the Belfort territory, 1945–1947. Approximately 200 frames. Reel 2: AL 150 P13, Dossier 2020: From the Direction régionale de la Police Judiciaire Cité administrative, Strasbourg. File titled Anatomie de Strasbourg, related to the Natzweiler gas chambers and the medical faculty, particularly Bickenbach, Hagen and Stein, 1945–1947. Approximately 400 frames. AL 150 P78: From the Direction régionale de la Police Judiciaire Cité administrative, Strasbourg. Case file and investigations into the „Das Reich“ SS division’s actions in Oradour sur Glane, 1945–1947. Approximately 400 frames. 30  Lang, Nummern, S. 259.



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Kampfstoff- und Giftgasforschungen im Deutschen Reich aus.31 Ergänzend hat er in einem Aufsatz zur Gaskammer im Konzentrationslager Natzweiler zweifelsfrei nachgewiesen, dass diese ausschließlich für die Phosgen-Forschungen Otto Bickenbachs eingerichtet wurde. Zwar übersah auch Schmaltz, dass dieses ehemalige Kühlhaus zum Zeitpunkt des Umbaus bereits offenbar seit einiger Zeit als Gasmaskenübungsraum genutzt wurde, doch zeigt er, dass die Nutzung dieser Einrichtung zur Ermordung der 86 aus Auschwitz deportierten Häftlinge nur aus opportunistischen Erwägungen geschah. Als die Morde eigentlich beginnen sollten, waren die Umbauten dieses Raumes noch nicht einmal geplant worden.32 Wenngleich Lang auf der Internetseite zu seinem Buch schreibt, dass die Opfer eigentlich in Auschwitz ermordet und konserviert nach Straßburg geschickt werden sollten, vertritt er andererseits weiter entgegen allen – auch von Schmaltz – belegten und publizierten Erkenntnissen die These, dass die Gaskammer von Natzweiler allein dazu errichtet wurde, um für Hirt 86 Menschen ermorden zu können. Für die Erkundung der Motivlage Begers war die 2003 abgeschlossene Dissertation von Peter Mierau eine reichhaltige Quelle.33 Im zweiten Teil seiner Arbeit stellt Mierau in präziser Kenntnis der Quellen die AhnenerbeForschungsstätte für Innerasien und Expeditionen dar. Dabei erläutert er nicht nur das geradezu obsessive Streben Begers nach Vermessung russischer Kriegsgefangener, bevorzugt aus den vorder- und innerasiatischen Gebieten der UdSSR. Mierau belegt das Streben Begers nach einer eigenen AhnenerbeForschungsstätte für Rassenkunde ebenso wie die Tatsache, dass die Ergebnisse von Begers Tibetreise für eine Ausstellung vorbereitet wurden. Dies ist ein missing link zur Beantwortung der Frage, welches Interesse der Anthropologe Beger an einer Anthropologischen Sammlung und einem Museum gehabt haben könnte. Wolfgang Kaufmann legte 2009 eine umfangreiche Dissertation zum Themenfeld „Das Dritte Reich und Tibet“ vor.34 Wenngleich das Wirken von Bruno Beger nur ein kleiner Nebenaspekt außerhalb des Kerninteresses seiner Arbeit ist, so trägt Kaufmanns Perspektive auf Beger dazu bei, die Kenntnisse über dessen Selbstverständnis zu erweitern. Insbesondere der von Kaufmann geführte Nachweis, dass die Expedition nach Tibet für Beger ein Misserfolg 31  Schmaltz, Florian: Kampfstoff-Forschung im Nationalsozialismus. Zur Kooperation von Kaiser-Wilhelm-Instituten, Militär und Industrie. Göttingen 2005. 32  Schmaltz, Florian: Die Gaskammer im Konzentrationslager Natzweiler in: Günter Morsch / Bertrand Persch, Bertrand (Hrsg.): Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentötungen durch Giftgas, Berlin 2011. 33  Mierau, Peter: Nationalsozialistische Expeditionspolitik, München 2003. 34  Kaufmann, Wolfgang: Das Dritte Reich und Tibet. Die Heimat des ‚Östlichen Hakenkreuzes‘ im Blickfeld der Nationalsozialisten, Ludwigsfelde 2009.

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war, da er kaum Abformungen und Vermessungen der Tibeter in von ihm gewünschten Umfang durchführen konnte, mag dessen Motivation in Bezug auf das Verbrechen der Straßburger Skelettsammlung teilweise zu erklären. Dabei differenziert Kaufmann und zeigt, dass es in der Regel nur die tibetische Unterschicht war, die bereit war, an Begers anthropologischen Maßnahmen teilzunehmen, und nicht die von Beger als „nordisch“ klassifizierte Oberschicht. Zum Bereich der Tibetforschung im Ahnenerbe haben auch Reinhard Greve und Isrun Engelhardt publiziert. Greves Beitrag „Tibetforschung im SS-Ahnenerbe“ erschien 1995 in „Lebenslust und Fremdenfurcht: Ethnologie im Dritten Reich“, herausgeben von Frank Hauschild.35 Die sich mit Sprachund Kulturwissenschaften Zentralasiens befassende Engelhardt hat ihre Ergebnisse unter dem Titel „Die Ernst Schäfer Tibetexpedition 1938–1939“ online zugänglich gemacht. Sie betont insbesondere, dass die Tibet-Expedition keinen primär politischen Charakter hatte.36 Der Text enthält zahlreiche von Expetionsteilnehmern gefertigte Fotografien, die in Verbindung mit diesem Buch eine anschauliche Quelle darstellen. Das jüngste Werk zur Tibet-Expedition stammt – unter dem Titel „Nazis in Tibet: Das Rätsel um die SS-Expedition Ernst Schäfer“ – von dem Reli­ gionswissenschaftler, Journalisten und Tibet-Kenner Peter Meier-Hüsing. Es versteht sich als populärwissenschaftliche, fesselnd geschriebene Darstellung der Expedition von Beger und Schäfer nach Tibet.37 Dabei beleuchtet MeierHüsing ebenfalls, wie weit bei Begers anthropologischer Vermessung der Tibeter Anspruch und Realisierbarkeit auseinanderlagen. Irmtrud Wojak zeichnete in ihrer Habilitationsschrift über Fritz Bauer aus dem Jahre 2009 das Leben von Fritz Bauer mit vielen Details und bisher unbekannten Zusammenhängen nach.38 So wird eine oft neue Sicht auf die Hintergründe der von Fritz Bauer geführten oder angestoßenen NS-Strafverfahren ermöglicht. Das Verfahren gegen Bruno Beger nimmt dabei weniger als drei Seiten von weit über 400 Seiten ein. Dabei wiederholt Wojak im Wesentlichen ihre Ergebnisse aus einem zehn Jahre zuvor publizierten Aufsatz.39 Auch wenn das Werk sehr hilfreich ist, um die Persönlichkeit Fritz 35  Greve, Reinhard: Tibetforschung im SS-Ahnenerbe, in: Hauschild, Thomas (Hrsg): Lebenslust und Fremdenfurcht: Ethnologie im Dritten Reich, Frankfurt 1995, S. 168199. 36  Engelhardt, Isrun: Die Ernst Schäfer Tibetexpedition 1938–1939. InternetFundstelle: https: /  / info-buddhismus.de / Ernst-Schaefer-Tibetexpedition-Engelhardt. html, abgerufen am 23.10.2017. 37  Meier-Hüsing, Peter: Nazis in Tibet: Das Rätsel um die SS-Expedition Ernst Schäfer, Stuttgart 2017. 38  Wojak, Irmtrud: Fritz Bauer 1903–1968. Eine Biographie. München 2009. 39  Wojak, Irmtrud: Das „irrende Gewissen“ der NS-Verbrecher und die deutsche Rechtsprechung. Die „jüdische Skelettsammlung“ am Anatomischen Institut der



B. Forschungsstand31

Bauers – und damit dessen Motivation, Bruno Beger anzuklagen – besser zu verstehen, so übernimmt sie bedauerlicherweise die unbelegte Behauptung Langs, dass das Ziel der Skelettsammlung ein „Museum mit toten Juden als Exponaten“ für August Hirt gewesen sei. Eine geschlossene Darstellung zum Plan der Straßburger Schädelsammlung fehlt bisher. Diese Lücke soll diese Studie schließen. Hierbei orientiert sie sich mehrheitlich an den Quellen. Dabei wurde vorwiegend mit Beständen gearbeitet, die im National Archive Washington, D.C., im United States Holocaust Memorial Museum in Washington, D.C., im Landesarchiv Berlin, im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, im Archiv des Internationalen Suchdienstes in Bad Arolsen, im Institut für Zeitgeschichte (München), im Stadtarchiv Quedlinburg, im Bundesarchiv an seinen verschiedenen Stand­ orten und weiteren, im Quellenverzeichnis genannten, Archiven zu finden waren. Hinzu kamen Interviews mit Zeitzeugen und Angehörigen, die hier nur dann mit vollem Namen Erwähnung finden, wenn sie dem zustimmten. Recherchen in Auschwitz, Natzweiler-Struthof und Straßburg rundeten die Forschungen zu diesem Buch ab. In der Regel wurden bei allen beteiligten Personen die Grunddaten erhoben – und zwar mit Hilfe der SS-Führerpersonalakten im Bundesarchiv, sofern es sich um SS-Angehörige handelte, beziehungsweise mit Hilfe der Personalakten aus den dortigen DS-Beständen, sofern es sich um Wissenschaftler handelte.

„Reichsuniversität Straßburg“, in: Fritz Bauer Institut (Hrsg.): „Beseitigung des jüdischen Einflusses …“. Antisemitische Forschung, Eliten und Karrieren im National­ sozialismus. Frankfurt am Main 1999.

C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen I. Straßburg und die Reichsuniversität Ein Essay zur Geschichte und zum Selbstverständnis einer Stadt, deren Namen heute untrennbar mit dem Medizinverbrechen „Straßburger Schädelsammlung“ verbunden ist.

Im Jahre 1538 gründete der aus der Eifel stammende Johannes Sturm ein erstes Gymnasium in Straßburg, das ab 1566 die Funktionen einer Akademie wahrnahm. Nicht zuletzt durch das Bestreben der dort ausgebildeten Akademiker erhielt diese Einrichtung schon 1622 den Status einer Universität. Schon zu römischer Zeit eine Stadt, seit dem 4. Jahrhundert Bischofssitz und seit den Straßburger Eiden im Jahre 842 von deutschsprachigen Bewohnern bevölkert, erlebte die Stadt am Flüsschen Ill unter den konkurrierenden Familien Zorn und Müllenheim im aufblühenden Heiligen Römischen Reich deutscher Nation eine bemerkenswerte Prosperität. Diese führte dazu, dass Straßburg 1262 zur Freien Reichsstadt erhoben wurde. Die weitgehend heute noch im deutsch-alemannischen Dialekt des Elsässischen beschrifteten Straßenschilder der Altstadt weisen auf die enge Beziehung Straßburgs zu Deutschland hin. Beispielsweise erinnert der Gutenbergplatz an den dort wirkenden Erfinder des Buchdrucks. Seit Beginn der Reformation war Straßburg eine Hochburg des protestantischen Bekenntnisses. Doch schon 1681 änderten sich die Verhältnisse. Ludwig der XIV. besetzte mitten im Frieden das Elsass, womit Straßburg eine französisch dominierte Stadt wurde. Allerdings wurde das Elsass von Frankreich bis 1789 rechtlich als ausländische Provinz behandelt. Damit umschloss die französische Staatsgrenze zwar das Elsass bis zur Reichsgrenze am Rhein, doch endete das französische Staatswesen an der ehemaligen Grenze. Damit galten im Elsass andere Gesetze als im Rest Frankreichs. Die dadurch entstehende faktische Freihandelszone prosperierte und brachte ein stolzes deutschsprachiges Bürgertum hervor. Zwar ließ der Sonnenkönig seinen berühmten Festungsbaumeister, den Marschall von Frankreich Sébastien Le Prestre, Marquis de Vauban, Festungen anlegen, die bis heute das Stadtbild prägen. Ebenso wurden große Verwaltungsgebäude im Stil französischer Verwaltungsarchitektur geschaffen. Doch innerhalb des Elsass galten liberale Wirtschafts- und Lebensregeln, vor allem aber Religionsfreiheit. Dies führte zu bemerkenswerten Vorgängen im Ver-



I. Straßburg und die Reichsuniversität 33

hältnis zwischen dem protestantischen Elsass und dem katholischen Frankreich: Die Vorlesungssprache an der Universität war das Deutsche. Goethe wechselte von der Universität Leipzig nach Straßburg, um Jura zu studieren. Noch heute steht sein Denkmal vor dem Hauptgebäude der Universität. Einer der erfolgreichsten Marschälle Frankreichs, der „Maréchal de Saxe“, Hermann Moritz Graf von Sachsen, Herzog von Kurland, war der uneheliche Sohn von Kurfürst August dem Starken von Sachsen und Gräfin Aurora von Königsmarck – und er war Protestant in Diensten eines katholischen Königs. Hochgeehrt verstarb er 1733 im königlichen Schloss zu Chambord. Anschließend wurde der Leichnam rasch aus Frankreich ins Elsass gebracht. Für Ludwig XV., dem der Marschall so viele Siege geschenkt hatte, war es undenkbar, diesen in katholischer Erde ruhen zu lassen. Also wurde er im Chor der protestantischen Hauptkirche St. Thomas in der heutigen rue Martin Luther in Straßburg bestattet. Ludwig beauftragte seinen berühmten Bildhauer Jean-Baptiste Pigalle, eines der größten und prächtigsten Grabmäler Mitteleuropas über Moritz’ Grab im Chor zu errichten. Dort finden noch heute deutschsprachige Gottesdienste statt, bei denen eine sächsische SilbermannOrgel erklingt und der Blick des Besuchers in den Chor auf ein großes sächsisches Wappen zu den Füßen der Statue des Marschalls fällt. Im Jahre 1792 wurde die „Marseillaise“ von Claude Joseph Rouget de Lisle in Straßburg verfasst und kündigte so eine neue Zeit an. Nach dem Sieg der deutschen Fürsten über Frankreich und der Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 wurde das zurückeroberte Territorium zum Reichsland Elsass-Lothringen unter direkter Herrschaft des deutschen Kaisers. Im Zuge dessen wurde ein gewaltiger Festungsgürtel um die Hauptstadt des Reichslandes, Straßburg, gezogen. Eines der vielen Forts trug den Namen Fort Fransecky und sollte 1944 die letzte Zufluchtsstätte von August Hirts Labors im Elsass werden. Ebenfalls im Jahre 1871 wurde die Universität, deren Angehörige bleiben durften, jedoch mehrheitlich den Umzug nach Frankreich bevorzugten, unter dem Namen Kaiser-Wilhelm-Universität neu gegründet. Sie übernahm auch die bereits bestehende Anatomische Sammlung und baute sie unter Gottfried Waldeyer und Gustav Schwalbe aus.1 Unter gewaltigem 1  Die Université de Strasbourg erklärt die Genese dieser Sammlung auf ihrer Internetseite heute wie folgt: „Dès le XVIe siècle, Strasbourg est à la pointe des connaissances nouvelles avec un centre d’enseignement des sciences anatomiques et de publication d’ouvrages illustrés par des chirurgiens locaux. Un cabinet d’anatomie rassemblant des préparations liées à l’enseignement voit le jour en 1670. A cette époque, les collections d’anatomies renferment des pièces aussi bien normales, pathologiques que comparées. Elles se sont enrichies tout au long du XVIIIe siècle par nombre de prosecteurs – médecins spécialisés dans les dissections anatomiques. On retiendra notamment le Pr. Thomas Lauth (1758–1826), qui fera du cabinet d’anatomie une de ses préoccupations premières pour lui offrir en 1811 ses collections personnelles. En 1819, Jean-Frédéric Lobstein (1777–1835), ancien élève de

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Mitteleinsatz des Reiches wuchs die Universität und mit ihr die Stadt. Das deutsche Viertel war – neben der mittelalterlichen Stadt auf der Flussinsel und dem französischen Viertel – die dritte, baulich ebenfalls fast homogene Stadt in der Stadt. Architekten wie Ludwig Levy, Hermann Eggert, JaquesAlbert Brion oder Paul Bonatz hinterließen ein bis heute bemerkenswertes städtebauliches Zeitzeugnis. Im Jahre 1919 wurde das Elsass mit Straßburg – wie im Versailler Vertrag festgeschrieben – Teil des französischen Staatsgebietes. Unter anderem wurden deutsche Beamte mehrheitlich ausgewiesen. Insgesamt verloren etwa 300.000 deutsche Staatsangehörige ihre Heimat. Dies war eine der ersten Zwangsumsiedlungen des 20. Jahrhunderts, denen viele weitere – zumeist unter der Regie der Nationalsozialisten und Kommunisten in ganz Europa – folgen sollten. Die Eingliederung des Elsass in die Französische Republik war bereits in den 14 Punkten Wilsons proklamiert worden und erfolgte – anders als in anderen Gebieten des Deutschen Reiches wie der Saar oder Oberschlesiens – ohne Volksabstimmung. Dies ist vor allem deshalb bemerkenswert, da es im deutschen Elsass schon lange Parteien gegeben hatte, die entweder die Autonomie oder den Anschluss an Frankreich forderten. Doch diese erhielten bis zur letzten regulären Wahl vor dem Ersten Weltkrieg nur geringe Stimmenanteile. Aufgrund der erzwungenen Eingliederung wurden fast 2.000 Universitätsbeschäftigte vertrieben, aber auch große Teile der Bevölkerung Straßburgs. Die Universität wurde von der französischen Regierung in Paris nach 1919 mit erheblichem Aufwand unterstützt. Neue Professoren lehrten nun an der Universität. Aus dieser Zeit sind die Namen großer Gelehrter wie beispielsweise des Historikers Marc Bloch bis heute mit Straßburg verbunden. Ende 1939 wurde Straßburg geräumt, so dass die Stadt außer den Truppen in den Kasernen menschenleer war. Die französische Bevölkerung war zwangsweise von der französischen Regierung umgesiedelt worden. Im Zuge dessen wurde die Straßburger Universität einschließlich Personal nach Clermont-Ferrand verlegt. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht im Juni 1940 T. Lauth, développe le Muséum Anatomique de Strasbourg et en devient son premier directeur. Il publie en 1820 un catalogue des objets qui s’y trouvent. Charles-Henri Ehrmann (1792–1878), en 1835, prend la direction du musée et n’aura de cesse d’inventorier, classer et enrichir les collections. Ainsi, le musée connaîtra tout au long du XIXe siècle un essor exceptionnel. Lors de l’annexion allemande, l’anatomie pathologique est séparée de l’anatomie normale. A la chaire d’anatomie normale se succèderont Heinrich Wilhelm Gottfried Waldeyer (1836–1921) et Gustav Schwalbe (1844–1916) qui augmenterons considérablement les pièces. Les catalogues issus de cette période wilhelminienne, tous manuscrits, sont fondamentaux puisque peu de pièces sont entrées après 1918. Seules quelques belles préparations ont été laissées depuis par des professeurs de passage ainsi que, ces vingt-cinq dernières années, des pièces d’anatomie sectionnelle, ou d’autres plastinées.“



II. Ahnenerbe und das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung35

und dem Anschluss des Elsass an das Deutsche Reich durften nur jene Einwohner Straßburgs aus Frankreich zurückkehren, die als Elsässer galten. Der Reichsstatthalter und Gauleiter Robert Wagner führte eine scharfe antifranzösische und antijüdische Politik ein. Nach der Gründung der vom Reich getragenen Reichsuniversitäten in Prag im Jahre 1939 und in Posen im Jahre 1941 sollte auch die Universität Straßburg eine Reichsuniversität werden. Die nun wieder unter deutscher Leitung stehende Universität wurde jedoch formal nicht neu gegründet. Bei der am 23.11.1941 im Lichthof des Universitätshauptgebäudes stattfindenden Feierstunde wurde stattdessen die Wiederaufnahme der 1918 unterbrochenen Vorlesungen begangen. An der Feier nahm nicht nur Reichserziehungsminister Bernhard Rust teil, sondern auch führende Angehörige der Gliederungen der NSDAP, wie SA-Obergruppenführer August Wilhelm Prinz von Preußen, der in Straßburg Rechtswissenschaften studiert hatte.2 Für die Universität Straßburg war eine vergleichsweise opulente Ausstattung mit Stellen und Mitteln vorgesehen. Rund 100 Lehrstühle waren geplant. Allein der medizinischen Fakultät gehörten 14 ordentliche Professoren an, zehn außerordentliche Professoren, neun Dozenten, zwei Lehrstuhlvertreter und zwei Lehrbeauftragte, zu denen später noch ein außerordentlicher Professor hinzukam.3 Das Prestige der Reichsuniversität Straßburg zog eine Bewerberflut nach sich. Zu den Berufenen gehörten Vertreter der akademischen Eliten Deutschlands. Namen wie die des Staatsrechtlers Ernst-Rudolf Huber, des Physikers Freiherrn Carl-Friedrich v. Weizsäcker, des Kunsthistorikers Hubert Schrade oder des Althistorikers Graf Alexander Schenk v. Stauffenberg waren ebenso vertreten wie die des Bakteriologen Eugen Haagen, des Internisten Otto Bickenbach und des Anatomen August Hirt. Deren Medizinverbrechen sind ebenfalls bis heute mit Straßburg und seiner Universität verbunden.

II. Das Ahnenerbe und das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung Heinrich Himmler4 und sechs weitere Personen versammelten sich am 1.7.1935 an dessen Amtssitz in der Berliner Prinz-Abrecht-Straße, um einen 2  Steegmann,

Natzweiler, S. 415. S. 415. Steegmann interpretiert, dass nur „hochrangige und politisch angepasste Professoren berufen wurden, was junge Lehrkräfte ausschloss“. Mit Blick auf die Vita der Berufenen und angesichts von Vergleichen mit anderen Universitäten ist diese Interpretation nicht in jedem Falle zutreffend. 4  Heinrich Luitpold Himmler (geb. 17.10.1900 in München, gest. 23.5.1945 in Lüneburg durch Suizid), Offiziersausbildung, Diplom-Landwirt, 1923 Eintritt in die 3  Ebd.,

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Verein zu gründen.5 Laut Satzung lautete dessen Name „ ‚Deutsches Ahnenerbe‘ Studiengesellschaft für Geistesurgeschichte“.6 Der satzungsgemäße Zweck der Gesellschaft bestand darin, „Raum, Geist und Tat des nordischen Indogermanentums zu erforschen, die Forschungsergebnisse lebendig zu gestalten und dem deutschen Volke zu vermitteln; jeden Volksgenossen aufzurufen, hierbei mitzuwirken“.7 In der Literatur werden neben Himmler als federführende Personen bei der Gründung oft Wolfram Sievers und Reichsbauernführer Richard Walter Darré genannt.8 Dies ist ausweislich der Akten des Vereinsregisters beim zuständigen Amtsgericht unrichtig.9 Ebenso wird in der Literatur Sievers in diesen Jahren in seiner Funktion als Generalsekretär des Vereins eine Art Verwalterrolle zugeschrieben, dessen Machtbereich im Ahnenerbe erst mit den Jahren NSDAP, 1925 in die SA, kurz darauf in die SS, 1926 stellvertretender Gauleiter in Oberbayern, 1927 stellvertretender Reichsführer-SS, 1929 Reichsführer-SS, 1933 Polizeipräsident München, 1934 Chef der Geheimen Staatspolizeien der Länder, 1936 Chef der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Inneren, 1939 „Reichskommissar zur Festigung des Deutschen Volkstums“, 1943 Reichsminister des Inneren, 1944 Oberbefehlshaber des Ersatzheeres und verschiedener Heeresgruppen, 1945 Gefangennahme und Suizid. 5  BArch NS 21 / 567: Bericht des Wirtschaftsprüfers Georg Niethammer vom 31.3.1937: Als Gründer werden genannt: „Der Reichsführer-SS Heinrich Himmler, SS-Brigadeführer Dr. Hermann Reischle, SS-Standartenführer Erwin Metzner, SSObersturmführer Professor Dr. Herman Wirth, SS-Standartenführer George Ebrecht, Hauptstabsleiter Richard Hintmann, SS-Untersturmführer Adolf Babel“ (Babel war zu diesem Zeitpunkt bereits promoviert und arbeitete im Reichsnährstand als Vertreter Reischles; er war auch einer der beiden Bürgen, die Wolfram Sievers beim Eintritt in die SS benannte). 6  Amtsgericht Charlottenburg von Berlin, Vereinsregister, 95 VR 7996, Registerblatt. Der Verein ist in dieser oben genannten amtlichen Schreibweise eingetragen worden. Bei Kater, Ahnenerbe, S. 11, findet sich hingegen die Schreibweise „Studiengesellschaft für Geistesurgeschichte ‚Deutsches Ahnenerbe‘ “. Da letztere Schreibweise seitdem in der Literatur üblich ist, darf von einem Abschreibfehler ausgegangen werden. Die Vereinsregisterakte ist laut Registraturstreifen seit 1955 nur zwei Mal eingesehen worden. 7  BArch NS 21 / 567: Bericht des Wirtschaftsprüfers Georg Niethammer vom 31.3.1937. 8  Richard Walther Darré, (geb. 14.7.1895 in Buenos Aires, gest. 5.9.1953 in Bad Harzburg), 1925 Diplomlandwirt, 1927 erste Kontakte zu Himmler, 1930 mit Hitler. Autor von Blut- und Boden-Büchern, 1931 bis 1938 Leiter des SS-Rasse- und Siedlungshauptamtes (letzter Dienstgrad: SS-Obergruppenführer), 1933 Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, 1942 Entlassung aus allen Ämtern, lebte zurückgezogen in der Schorfheide, 1949 in Nürnberg zu sieben Jahren Haft verurteilt, 1950 entlassen (u. a. aus: Klee, Personenlexikon). 9  Amtsgericht Charlottenburg von Berlin, Vereinsregister, 95 VR 7996. Ausweislich des Laufzettels wurde die Akte nach der Auflösung des Vereins nur einmal eingesehen.



II. Ahnenerbe und das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung37

wuchs. Doch in der jüngeren Forschung hat sich dieses Bild gewandelt. Ina Schmidt urteilte über Sievers: „Obwohl nominell nur der ‚Reichsgeschäftsführer‘ dieser Einrichtung, war Sievers gleichwohl die Schlüsselfigur, die über das entscheidende Herrschafts- und Dienstwissen verfügte und die zweite Spitze, den Kurator Walther Wüst, weit in den Schatten stellte.“10 Damit differenzierte Schmidt die rund 40 Jahre zuvor formulierte Auffassung des Landgerichtes Frankfurt am Main vom 6.4.1971, die da gelautet hatte: „Himmler empfing Sievers nur selten. Die Verbindung zu ihm – insbesondere der Schriftverkehr – lief meist über Ministerialrat SS-Obersturmbannführer Dr. Rudolf Brandt, den Leiter des Persönlichen Stabs Himmlers. Im übrigen hatte Sievers ein Diensttagebuch zu führen, das sich Himmler in regelmäßigen Abständen vorlegen ließ. Einen engeren Kontakt hielt Himmler hingegen zur ‚wissenschaftlichen Spitze‘ des ‚Ahnenerbes‘, die in der Person des Kurators verkörpert war. Es war dies zuletzt der Rektor der Münchener Universität, Professor Dr. Wüst.“11

Die Einschätzung Schmidts zum Einfluss von Sievers galt jedoch nicht nur bezüglich der faktischen Macht, sondern auch in Bezug auf die juristischen Verhältnisse. Das Bild vom mächtigen Gründungspräsidenten des Vereins, Herman Wirth,12 des Kuratoriumsvorsitzenden Himmler als wissenshungri10  Schmidt, 11  HStA

S. 3.

Hielscher, S. 248. Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Urteil vom 6.4.1971,

12  Herman Wirth (geb. 6.5.1885 in Utrecht, gest. 16.2.1981 in Kusel). Der deutschniederländische Privatgelehrte war eines der Gründungsmitglieder des Ahnenerbes. Wirth hatte in Berlin und Utrecht Geschichte, niederländische Philologie, Musikwissenschaften und Germanistik studiert und im Alter von 25 Jahren über den „Untergang des niederländischen Volksliedes“ promoviert. Im Ersten Weltkrieg diente er als Verbindungsmann des deutschen Heeres zu den flämischen Separatisten, die sich von den frankophonen Wallonen lösen wollten. Wohl aus diesem Grunde verlieh ihm Kaiser Wilhelm II. im Jahre 1916 den Ehrentitel eines Titularprofessors. Nach dem Krieg gelang es Wirth nicht, eine universitäre Laufbahn zu begründen. Er ließ sich daher in Marburg als Privatgelehrter nieder und versuchte seine vielfach publizierten völkischen Thesen wissenschaftlich zu untermauern. Dies war von mäßigem publizistischem (und auch geringem finanziellen) Erfolg. Wirths Interessenlagen und Forschungen wurden thematisch immer germanisch-völkischer. Er nannte sein Haus „Eresburg“ und avancierte zum fanatischen Rohkostanhänger und Vegetarier. Nach einer Bekanntschaft mit Hitler und seiner ersten pro-nationalsozialistischen Schrift „Was heißt deutsch?“ richtete ihm die NSDAP-geführte Landesregierung von Mecklenburg im Oktober 1932 ein „Forschungsinstitut für Geistesurgeschichte“ ein. Dieses Institut in Bad Doberan war gewissermaßen ein Vorläufer des Ahnenerbes, denn es befasste sich mit ähnlichen Fragestellungen wie viele der späteren Ahnenerbe-Abteilungen. Wie sich im Folgenden ergeben wird, war auch das Personal zum Teil identisch. In diesem Institut plante Wirth unbehelligt von der Expertise der universitären Fachgermanisten seine Forschungsideen zu verwirklichen. Nach der Gründung des Ahnenerbes wurde er rasch aus dem Verein in die bedeutungslose Position des Ehrenpräsidenten abgeschoben. Es muss offen bleiben, ob er, wie Sievers angab, nicht mit Mitteln umgehen konnte oder seine Vorstellungen Himmler zu wirr waren. Nach 1945

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

gem Programmchef und des mächtigen Funktionärs Darré als Finanzier ist falsch. Ausweislich des Vereinsregisters war Wolfram Sievers seit der Gründung am 1.7.1935 mit Wirkung der Eintragung ins Register am 19.11.1935 alleiniger gesetzlicher Vertreter des Vereins gemäß § 26 BGB Absatz 2.13 In der Registeranmeldung vom 7.8.1935 schrieb Sievers an das zuständige Amtsgericht Berlin-Mitte: „Am 1. Juli 1935 ist die Studiengesellschaft für Geistesurgeschichte ‚Deutsches Ahnenerbe‘ gegründet worden. Ich bin zum Generalsekretär und zum Vorstand im Sinne des § 26, Abs. 2 BGB bestellt worden. In der Anlage überreiche ich die Satzung in Ur- und Abschrift und erbitte die Urschrift der Satzung mit Eintragungsvermerk versehen zurück an meine Anschrift: Wolfram Sievers, Berlin C 2, Brüderstraße 29. Die Satzung ist von sieben Mitgliedern unterschrieben und enthält den Tag der Errichtung. Ferner füge ich einen Durchschlag über meine Bestellung zum Vorstand bei und beziehe mich insoweit auf §§ 7, 10, 13 der Satzung.“14

Wolfram Sievers war damals 30 Jahre alt. Zuvor hatte er sich bei verschiedenen völkischen Organisationen engagiert, so auch bei den Artamanen.15 Sievers wurde jedoch nicht von der Blut-und-Boden-Ideologie der Artamanen angezogen, sondern von deren anthropologisch begründetem Elitedenken.16 Im Jahre 1929 trat Sievers in die NSDAP ein und kurz darauf wieder aus. Er gab an, dass ihn Massenveranstaltungen abstießen. Über den völkischen Laienforscher Friedrich Hielscher17 kam Sievers in Kontakt mit Herbefasste sich Wirth als Privatgelehrter weiterhin mit seinen alten Forschungsgebieten. Nach einem Treffen mit Altbundeskanzler Willy Brandt im Jahre 1979 sollte er ein eigenes Museum erhalten und wieder ein Institut für Urgemeinschaftskunde eröffnen. Proteste verhinderten diese Ahnenerbe-Nachfolgeeinrichtung. Vgl. Der Spiegel 40 /  1980: „Die Schenkel der Göttlichen“ vom 29.9.1980. (http: /  / www.spiegel.de / spiegel /  print / d-14315413.html). 13  Jedoch war Sievers ausweislich des in der Folge zitierten Schreibens zu diesem Zeitpunkt nicht Mitglied des Vereins. 14  Amtsgericht Charlottenburg von Berlin, Vereinsregister, 95 VR 7996, S. 2. 15  Artamanen nannten sich die Mitglieder des 1926 gegründeten „Bund Artam e. V.“ in München, der politisch im deutschnationalen Bereich der Jugendbewegung angesiedelt werden kann. In der Hauptsache wurde ein Blut-und-Boden-orientierter freiwilliger Einsatz in der Landwirtschaft als Ziel ausgegeben, auch um sich dem Zuzug polnischer Landarbeiter in den Weg zu stellen. In der Hochzeit waren 2.000 Freiwillige auf 300 Höfen im Einsatz. Später kauften sie ganze Höfe und bauten diese aus. 1934 wurde der Verein geschlossen in die Hitlerjugend übernommen, woraus dort der freiwillige Landdienst der HJ entstand. Insgesamt waren im Laufe der Jahre 20.000 bis 30.000 Menschen Mitglieder dieses Vereins. 16  Kater, Ahnenerbe, S. 29. 17  Friedrich Hielscher (geb. 31.5.1902 in Plauen / Vogtland, gest. 9.3.1990), ab 1940 Ahnenerbe-Forschungsauftrag zum Brauchtum, nach 1945 Schriftsteller. Der Doktor der Staatswissenschaft Friedrich Hielscher besaß einen großen, noch kaum erforschten Einfluss auf Sievers. So berichtet Kater von einem Versuch Hielschers, ihm während eines Gesprächs in den 1960er Jahren einzureden, er habe Sievers als



II. Ahnenerbe und das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung39

man Wirth. Dieser gründete 1932 in Bad Doberan ein von der Landesregierung Mecklenburgs finanziertes „Institut für Geistesurgeschichte“. Wirth stellte den organisatorisch begabten Sievers als Privatsekretär ein und musste ihn ein Jahr später aus Geldmangel entlassen.18 Sievers war dann in der Wirtschaft tätig, bis ihn Wirth während der Vorbereitungen zur Gründung des Ahnenerbes Himmler als Generalsekretär empfahl.19 Sievers’ Funktion im Ahnenerbe wird unten noch näher betrachtet. Im Jahre 1946 erklärte Sievers den Alliierten, dass Himmler sich für wissenschaftliche Dinge interessierte und sie weitgehend förderte, so wie andere Leute sich um Liebhabereien kümmerten. Vor allem habe er sich sehr für vorgeschichtliche Ausgrabungen interessiert.20 Doch bereits im Jahre 1936 ging das Interesse Himmlers über die Geistesurgeschichte und Ausgrabungen hinaus. Um diese Begrenzung im Namen des Forschungsvereins zu beseitigen, beantragte Sievers am 19.6.1936, im Vereinsregister den Namen des Vereins in „Das Ahnenerbe“ zu ändern.21 Diese Umbenennung wurde am 20.3.1937 in die Satzung ebenso aufgenommen wie jene von Sievers’ Generalsekretärs-Position in die Stelle eines Reichsgeschäftsführers. Sievers blieb als Alleinvorstand jedoch auch weiterhin alleiniger rechtlicher Vertreter des Ahnenerbes. Erst mit der Satzungsänderung zum 1.1.1939 verlor er rechtlich gesehen alle Macht und Verantwortung:22 Alleiniger Vorstand und somit alleiniger Rechtsvertreter des Vereins war seit diesem Zeitpunkt Himmler persönlich.23 Der Einfluss von Sievers auf das Ahnenerbe wuchs dennoch auch ohne rechtlich-formale Vertreterschaft weiter. Im Oktober 1936 wurde der Münchener Indogermanist Professor Walther Wüst Leiter der neuen „Pflegestätte für Wortkunde“ im Ahnenerbe. Wüst war ein Wissenschaftler mit guter Reputation.24 Warum ausgerechnet er dem Ahnenerbe beitrat, das in seinen ersten Jahren noch weitgehend unwissenschaftlich arbeitete, muss offen bleiben. Kurze Zeit später wurde der Germanist Dr. Joseph Otto Plassmann25 Leiter des Bereich der Märchenforschung Speerspitze einer Widerstandsbewegung beim Ahnenerbe lanciert. Zeitzeugen berichteten Kater, wie Hielscher Sievers mit einigen von dessen Familienangehörigen in der Todeszelle in Landsberg besuchte und dort religiöse Handlungen vornahm. 18  Kater, Ahnenerbe, S. 32. 19  IfZ MA 1562: Pre-Trial-Interrogations Sievers vom 23.11.1946, S. 2. 20  Ebd., S.  2 f. 21  Amtsgericht Charlottenburg von Berlin, Vereinsregister, 95 VR 7996, S. 20. 22  Ebd., S.  33 ff. 23  Ebd., Registerkarte. 24  Kater, Ahnenerbe, S.  43 ff. 25  Joseph Otto Plassmann, (geb. 12.6.1895 in Warendorf, gest. 12.1.1964 in Celle), letzter Dienstgrad: SS-Obersturmbannführer, 1929 Eintritt in die NSDAP, 1936–1943 als promovierter Germanist Herausgeber von Ahnenerbezeitschriften, 1943 Dozent an

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des Ahnenerbes. Ihnen folgten weitere Wissenschaftler mit hohem Ansehen. Diese blieben jedoch in den ersten Jahren des Ahnenerbes in der Minderheit. Das Ahnenerbe wurde zunächst vom Reichsnährstand26 finanziell unterstützt. Die rasch wachsende SS wurde ab Anfang 1938 regelmäßig durch die ­NSDAP etatisiert, so dass sie seitdem in der Lage war, nach und nach einen großen Teil der Finanzierung des Ahnenerbes zu übernehmen.27 Der überwiegende Teil der Einnahmen stammte jedoch seit 1937 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).28 Mit dieser finanziellen Ausstattung erweiterte das Ahnenerbe seine Forschungsrichtungen auf neue Gebiete. Himmler hatte eine sehr eigene Auffassung von germanischer Geschichte. Eine Unterscheidung zwischen Tatsachen und Sagen nahm er häufig nicht

Abb. 2: Arbeitszimmer von Wolfram Sievers in der Ahnenerbezentrale, Pücklerstraße 16 in Berlin-Dahlem, benachbart zur heutigen Dienstvilla des Bundespräsidenten. (Foto: Nachlass Sievers, in Privatbesitz) der Universität Tübingen, 1944 Lehrstuhlvertretung für germanische Volkskunde in Bonn. 1945 entlassen, 1958 emeritiert (u. a. nach: Klee, Personenlexikon). 26  Der Reichsnährstand (RNST) war von 1933 bis 1945 eine Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Sitz in Goslar. Die Steuerung der Preise sowie Produktion und Vertrieb von landwirtschaftlichen Produkten waren seine Hauptaufgaben. Die Leitung nahm der Reichsbauernführer wahr: 1933 bis 1942 der Reichsernährungsminister ­Richard Walther Darré, danach sein Nachfolger im Amt, Herbert Backe. 27  IMT, Affidavit Otto Schwarzenberger vom 2.5.1947 (NI-6037). 28  Kater, Ahnenerbe, S. 37.



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vor. So glaubte Himmler, die germanische Menschheit stamme nicht vom Affen ab, sondern sei gemäß einer germanischen Sage direkt vom Himmel herab gestiegen, wo sie als lebendige Keime im ewigen Eis konserviert waren, wie es die sogenannte „Welteislehre“ Hanns Hörbigers beweisen wollte.29 Daher erteilte Himmler dem Ahnenerbe in dessen Anfangszeit weniger wissenschaftlich orientierte, ergebnisoffene Forschungsaufträge, sondern wies das Ahnenerbe an, Belege für seine eigenen Theorien und Vermutungen aufzuspüren. Dies führte dazu, dass in einigen Fällen Forscher ihre wissenschaftlich gewonnenen Ergebnisse nicht publizieren durften, da deren Ergebnisse „mit den Ansichten des Reichsführers nicht übereinstimmten“.30 Diese Einzelbeispiele gelten einigen Autoren oft als Generalbeweis, dass das Ahnenerbe von himmlerhörigen Abenteurern dominiert wurde, die ausschließlich Pseudowissenschaft betrieben hätten. Der Einfluss solcher – aus heutiger Sicht – Pseudowissenschaftler, wie des Wünschelrutenforschers Professor Dr. Josef Wimmer, und der Anteil ihrer „Forschungen“ am Gesamtvolumen des Ahnenerbes wurden seit 1938 immer geringer. Im Zuge dieser Professionalisierung erhielt der Verein bereits am 11.3.1937 eine neue Satzung. Diese bestimmte Wüst als Nachfolger Wirths zum Präsidenten. Himmler wurde Erster Kurator und führte in dieser Funktion die Aufsicht über den Verein. Der unseriös wirtschaftende Wirth wurde zum einflusslosen Ehrenpräsidenten ernannt.31 Ein enger Verbündeter Wirths war Reichbauernführer und Reichsernährungsminister Richard Walter Darré, der den Aufbau des Ahnenerbes von Beginn an tatkräftig unterstützt hatte. Seit März 1937 nahm durch diese Satzungsänderung der Einfluss von Darré selbst und den ihm nahe stehenden Ahnenerbe-Mitgliedern, wie dem Agrarfunktionär Hermann Reischle,32 dem Hauptabteilungsleiter im Stabsamt des Reichsbauernführers Darré, Erwin Metzner, oder dem Arzt Dr. Wilhelm Kinkelin33 ab. 29  Ackermann,

Ideologe, S. 45. Ahnenerbe, S. 72. 31  Ebd., S. 60. 32  Hermann Reischle (geb. 22.9.1898 in Heilbronn, gest. 25.12.1993 in Rengsdorf), letzter Rang: SS-Gruppenführer. Kriegsteilnehmer, 1919 bis 1923 Studium der Volkswirtschaft mit Promotion, 1931 Eintritt NSDAP, dort Mitarbeit bei Darré, 1932 Eintritt SS, 1933 Stabsamtsleiter des Reichsbauernführers, versch. Parteifunktionen, 1934 bis 1938 Leiter des Rasseamtes, 1935 bis 1938 stellv. Kurator Ahnenerbe, seit 1939 im Persönlichen Stab Reichsführer-SS als SS-Gruppenführer, 1942 bis 1944 Wehrdienst, danach SS-Personalhauptamt. 33  Wilhelm Kinkelin (geb. 25.8.1896 in Pfullingen, gest. 18.10.1990 in Pfullingen), letzter Rang: SS-Brigadeführer. Weltkriegsteilnehmer, Medizinstudium, Landarzttätigkeit, 1926 Promotion, 1930 Eintritt in NSDAP und SA, 1935 im Stab Reichsbauernführer Darré, 1936 Vizepräsident Ahnenerbe, 1937 Eintritt SS (Nr. 275.990), 1939 Hauptamtsleiter beim Reichsbauernführer, 1940 SS-Oberführer, 1941 RSHA und Reichsmininisterium für die besetzten Ostgebiete, 1943 Ministerialdirigent und SS-Brigadeführer, nach dem Kriege Schriftsteller. 30  Kater,

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Mit der Ausschaltung von Darrés Einfluss war es Himmler gelungen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, um das Ahnenerbe als externe Wissenschaftsabteilung der SS zu etablieren. Dazu wurde der Verein zunächst formlos in das Hauptamt Persönlicher Stab Reichsführer SS eingegliedert. Die Ahnenerbe-Bezeichnung „Dienststelle Persönlicher Stab RFSS“ ist erst ab 1937 regelmäßig nachzuweisen.34 Parallel dazu wurden die Verwaltungsvorschriften des Vereins mit jenen der SS synchronisiert.35 Der Verwaltungschef der SS, Oswald Pohl,36 beaufsichtigte die Finanzen des Vereins; die sonstige Verwaltung lief über Wüst und Sievers an Himmler und den Chef des Persönlichen Stabes Karl Wolff37 beziehungsweise dessen Stabsführer Otto Ull34  So in einem Schreiben des Ahnenerbe-Mitarbeiters Bruno Galke an das Ahnenerbe vom 10.1.1938, IMT T-580 Roll 462 / 463. Galke nahm auch eine Schlüsselstellung im Wirtschafts-Verwaltungs-Hauptamt Pohls ein. 35  Kater, Ahnenerbe, S. 65. 36  Oswald Pohl (geb. 30.6.1892 in Duisburg, gest. 7.6.1951 in Landsberg am Lech) war Sohn eines Fabrikmeisters, obwohl er 1933 im SS-Personalbogen als Beruf des Vaters Bauer angab. Als Marinezahlmeisteranwärter trat er 1912 in die Marine ein. Im Krieg diente er bei einer Marinedivision in Flandern. 1925 wurde er Marineoberzahlmeister und gehörte vermutlich einem Freikorps an; er will zu einer Reserveeinheit des Hitlerputsches gehört haben. Der Eintritt in die NSDAP erfolgte je nach Quelle 1923, 1925 oder 1926 mit der Nummer 30842. 1929 bis 1931 war er in Swinemünde stationiert, wo er auch als Ortsgruppenleiter der NSDAP und als SA-Führer wirkte. 1934 wurde er SA-Standartenführer in Kiel, wo er seit 1933 im Stadtparlament saß. Nachdem die SS gemäß des „Gesetzes zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat“ vom 1.12.1933 u. a. als Hilfspolizei auch Staatsaufgaben wahrnahm, wurde sie teilweise aus dem Reichshaushalt etatisiert und musste diese Zahlungen kameralistisch abrechnen. Himmler selbst warb Pohl für die SS und machte ihn per 1.2.1934 zum SS-Standartenführer und Chef der Abteilung VI (Verwaltung) mit der Mitgliedsnummer 147614. 1935 wurde Pohl Verwaltungschef der SS und bereits 1937 Gruppenführer. Als Mitglied des Präsidialrates des Deutschen Roten Kreuzes arbeitete er hier eng mit dem Reichsarzt-SS Grawitz zusammen. 1939 wurde er Ministerialdirektor im Reichsministerium des Inneren. Die organisatorischen Formen der staatlichen und parteilichen Stellen der SS-Verwaltung waren in stetem Wandel, doch Pohl blieb bis Kriegsende oberster Wirtschaftschef der SS und damit auch der Wirtschaftsbetriebe und Konzentrationslager. Aus diesem Grunde wurde er am 3.11.1947 in Nürnberg verurteilt und am 7.6.1951 in Landsberg am Lech durch den Strang hingerichtet. 37  Karl Wolff, (geb. 13.5.1900 in Darmstadt, gest. 17.7.1984 in Rosenheim), letzter Dienstgrad: SS-Obergruppenführer nach Dienstakten, SS-Oberstgruppenführer nach eigenen Angaben durch Beförderung unmittelbar vor Himmlers Absetzung, Offiziersausbildung und Weltkriegsteilnahme, 1931 Eintritt in SS und NSDAP, 1935 Chefadjutant Reichsführer-SS, 1936 Chef Persönlicher Stab Reichsführer-SS, 1939 „Verbindungsoffizier der SS zum Führer“, 1943 HSSPF Italien, 1945 faktischer Oberbefehlshaber der deutschen Truppen in Italien, verhandelte über einen Separatfrieden mit dem späteren CIA-Direktor Allen Dulles, 1964 wegen Beihilfe zum Mord – den Morden in Treblinka – in mindestens 300.000 Fällen zu 15 Jahren Haft verurteilt, 1971 Haftverschonung (u. a. nach: Klee, Personenlexikon).



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mann.38 Wissenschaftliche Fragen besprachen Sievers und Wüst in der Regel mit Himmlers Persönlichem Referenten, dem Ministerialrat im Reichministerium des Inneren Dr. iur. Rudolf Brandt.39 Eine SS-Mitgliedschaft war zu keiner Zeit zwingend für die Angehörigen des Ahnenerbes, insbesondere nicht für Wissenschaftler. Jedoch wurden die meisten von ihnen 1937 als Ehrenführer in die SS aufgenommen und wie die anderen Ehrenführer beim Persönlichen Stab RFSS geführt.40 Sievers und Wüst waren reguläre Angehörige der SS. Der SS-Dienstrang von Wüst lag jedoch immer eine Stufe über jenem von Sievers. Die Integration in die SS sicherte den Funk­tionären des Ahnenerbes langfristige berufliche Perspektiven im jungen „Führerstaat“. Die Integration des Ahnenerbes in die SS hatte im Sommer 1936 begonnen. Zu diesem Zeitpunkt wurde die König-Heinrich-Feier im Quedlinburger Dom begangen.41 Himmler verehrte diesen mittelalterlichen König und richtete eine große Feier zu dessen 1000. Todestag aus. Im Rahmen dieser Feier wurden von Seiten des Ahnenerbes vor den Teilnehmern, zu denen auch der

38  Otto Ullmann (geb. 21.9.1899 in Homburg an der Saar), letzter Rang: SS-Brigadeführer. 1917 Primarreife, Kriegsende als Fähnrich, 1925 Dipl.-Ing. in Elektrotechnik, Anstellung bei einem Stromversorger, 1930 Eintritt in die NSDAP, 1936 Wechsel vom Stromversorger zum hauptamtlichen SS-Führer im Persönlichen Stab, dann Stabsführer, 1937 Stabsführer im Range eines Hauptabteilungsleiters, 1943 als SSBrigadeführer Versetzung in das Amt des Polizeipräsidenten in Posen (vgl. vor allem BArch BDC SSO 197 B Ullmann, Stammrollenauszug vom 2.5.1936; Lebenslauf o. Dat.; Schreiben des Leiters SS-Personalhauptamt v. Herff vom 23.2.1943 an verschiedene Empfänger). 39  Rudolf Hermann Brandt (geb. 2.6.1909 in Frankfurt / Oder, gest. 2.6.1948 in Landsberg am Lech), Ausbildung als Stenotypist, später promovierter Jurist, 1932 Eintritt in die NSDAP, 1933 in die SS, letzter Dienstrang: SS-Standartenführer. 1934 Ministerialrat und Leiter des Ministerbüros im Reichsministerium des Inneren. Gleichzeitig seit 1933 im Persönlichen Stab Reichsführer-SS, 1936 bis 1945 Persönlicher Referent Himmlers, 1945 gemeinsame Flucht mit Himmler, Verhaftung in Niedersachen, im Ärzteprozess zum Tode verurteilt. (u. a. Übernahme von Klee, Personenlexikon). 40  Diese ehrenamtlichen SS-Angehörigen wurden keine Mitglieder der SS, doch sie erhielten Rechte, wie das Tragen der SS-Uniform, verbunden mit einem – in der Regel hohen – SS-Rang. Sie waren jedoch der SS rechtlich zu nichts verpflichtet, Himmler erwartete jedoch Dankbarkeit. 1936 wurde die Bezeichnung „Ehrenführer“ abgeschafft und durch „Führer im Persönlichen Stab Reichsführer-SS“ ersetzt. 41  Der Quedlinburger Dom, eigentlich eine Stiftskirche, 1021 im Beisein von Kaiser Heinrich II. geweiht, geplant als Grablege für die Stifter Heinrich I. und seiner Gemahlin Mathilde sowie für die Quedlinburger Äbtissinnen. Himmler vermutete hier – auch entgegen von Expertenmeinungen – die tatsächliche Grablege Heinrichs I., ließ in der Nähe des Doms Ausgrabungen durchführen und erklärte gefundene Gebeine zu jenen Heinrichs. Am 2.6.1936 richtete Himmler mit Unterstützung des Ahnenerbes die Feier zum 1000-jährigen Todestag Heinrichs aus, dem er sich verbunden fühlte.

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Freundeskreis Reichsführer-SS gehörte, Fachvorträge gehalten.42 Seit dieser Zeit waren die Vorträge des Ahnenerbes regelmäßiger Programmpunkt bei Veranstaltungen des sogenannten Freundeskreises Reichsführer-SS.43 Kater hebt hervor, dass sich seit 1938 verschiedene Handlungsebenen innerhalb des Ahnenerbes herauskristallisierten. Auf der ersten Ebene wurden Himmlers, teilweise skurrile bis absurde, Fragestellungen behandelt, was den etablierten Wissenschaftlern vermutlich nicht selten eine gewisse Überwindung abverlangte. Auf einer weiteren Ebene wurde die ideologische Zweckwissenschaft betrieben, die dem Ahnenerbe seine politische Bedeutung verlieh.44 Der Kriegsausbruch bedeutete eine erhebliche Gefährdung für das Weiterbestehen des Vereins. Während die wehrfähigen Männer an der Front benötigt wurden, in der Rüstung arbeiteten oder das Land auf anderen Wegen wehrfähiger machten, wurde im Ahnenerbe zu germanischen Sagen und ­Tibetologie geforscht, es wurden Wikingerstädte ausgegraben sowie Märchen und Volksmusik gesammelt. Daher wurden mit Kriegsausbruch die ersten geisteswissenschaftlichen Ahnenerbe-Abteilungen still gelegt. „Das Gebot der Stunde im Herbst 1939, nämlich das Ahnenerbe zunächst durch politische Kriegsaufgaben abzusichern, musste befolgt werden […]. Die natur­ wissenschaftlichen (Abteilungen) ließen sich ohnehin sämtlich als ‚kriegswichtig‘ deklarieren, bei den Geisteswissenschaften wurde individuell entschieden.“45 Zwar konnten die meisten geisteswissenschaftlichen Abteilungen aufgrund der steten Bemühungen von Sievers, Himmler und Wüst weiterarbeiten. Dennoch blieben sie bis zum Ende des Krieges stets davon bedroht, dass ihre Mitarbeiter zum Wehrdienst eingezogen wurden. Um in diesem Falle für das Ahnenerbe als Ganzes einen hinreichend großen Personalbestand erhalten zu können, suchte Sievers seit Kriegsausbruch neue Forschungsfelder. Diese sollten idealerweise kriegsrelevant sein. Bereits am 24.4.1939 hatte Himmler dem Münchener Arzt Sigmund Rascher einen Forschungsauftrag erteilt und das Ahnenerbe angewiesen, ihm Forschungsbeihilfen auszuzahlen.46 Bei näherer Betrachtung des Dienstkalenders Himmlers fällt auf, welch großes Interesse dieser der Krebsforschung widmete.47 Hier42  Kater, Ahnenerbe, S. 254: Kater entlarvte es als Legende, dass der Anatom August Hirt 1936 im Zusammenhang mit dieser Feier den vermeintlichen Schädel Heinrich I. untersucht habe, da dieser erst 1937 geborgen wurde. Offenbar wurde hier ein Zusammenhang konstruiert, um Hirt nachzuweisen, dass er schon lange Jahre eine wissenschaftliche Passion für Schädel gehabt haben soll. 43  Vogelsang, Freundeskreis, S. 91. 44  Kater, Ahnenerbe, S. 73. 45  Kater, Ahnenerbe, S. 191. 46  BArch NS 21 / 921a, Schreiben von Sievers und Wüst an Rascher vom 21.10.1939. 47  Wildt u. a., Dienstkalender, u. a. S. 178.



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durch fanden die ersten medizinischen Versuche Eingang in das Ahnenerbe, das bis dahin nur auf dem Gebiet der Geistes- und Naturwissenschaft tätig war. Himmlers Dienstkalender verzeichnet für den 2.1.1942 für 16:20 Uhr eine Besprechung mit „SS Oberstbf. Sievers Ahnenerbe Berlin“ wegen „Auftrag für Ungeziefer-Forschungsinstitut“. Dies darf als Initialhandlung für die Gründung des Instituts für Entomologie – als Vorläufer und Kern des späteren Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung im Ahnenerbe – gelten. Sievers fertigte über den Anruf einen Aktenvermerk an.48 Wenige Tage später, am 29.1.1942, erteilte Himmler den endgültigen Befehl zur Errichtung des Instituts.49 Nachdem Sievers am 2.1.1942 den Anruf Himmlers erhalten hatte, rief er sofort danach Wüst an, um diesen über die neuen Entwicklungen zu informieren.50 Himmler war stark daran interessiert, die für Menschen schädlichen Insekten bekämpfen zu können. Dies wurde insbesondere Ende 1941 dringend, nachdem die durch Kleiderläuse hervorgerufenen Fleckfieberepidemien zugenommen hatten.51 Fleckfieber bedrohte aufgrund der schlechten hygienischen Situation an der Front auch die Wehrfähigkeit der Truppen. Vor allem deshalb sollte Sievers innerhalb des Ahnenerbes eine Versuchsstation zur Fliegen- und Läusebekämpfung einrichten.52 Über diese Aufgabenstellung hinaus nutzte Sievers die Gunst der Stunde und plante mit Wüst die Gründung einer medizinischen Forschungsabteilung der SS unter Führung des Ahnenerbes. Trotz immer neuer Anträge gewährte ihm Himmler bis zum Kriegsende diese Abteilung nicht, vermutlich, um die Machtbalance innerhalb der SS zu wahren.53 Nachdem das Entomologische Institut zur Gründung befohlen war, wurde ein Leiter benötigt. Es gelang Sievers nicht, den Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung mbH, 48  BArch

NS 21 / 38a, Aktenvermerk von Sievers vom 2.1.1942. NS 21 / 910, Schreiben von Himmler an Sievers vom 29.1.1942. 50  IfZ MA 1406 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 2.2.1942. 51  Das Konzentrationslager Neuengamme, am Ostrand Hamburgs gelegen, wurde 1938 als Außenlager des KZ Sachsenhausen in Oranienburg gegründet und 1940 selbstständig mit insgesamt 86 Außenlagern. Von den insgesamt 100.000 Häftlingen wurden rund 50.000 durch Unterernährung, Krankheiten und Hinrichtungen getötet. Anlass zu seiner Gründung war der Kauf einer ehemaligen Ziegelei durch die Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH, die zum SS-Konzern gehörte. Darum bestand die Haupteinnahmequelle des Stammlagers Neuengamme im Verkauf der produzierten Ziegel. Der SS-Arzt Dr. Kurt Heißmeyer, ein Neffe des SS-Hauptamtchefs August Heißmeyer, arbeitete 1938 als Oberarzt in der Tuberkulose-Heilanstalt Hohenlychen unter Gebhardt. Hierzu führte er in Neuengamme Versuchsreihen durch, unter anderem an Kindern, die anschließend getötet wurden. 52  Wildt u. a., Dienstkalender, S. 307. 53  In den Beständen NS 21 / 33 und NS 21 / 910 finden sich hierzu zahlreiche Belege. 49  BArch

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kurz Degesch,54 Dr. Gerhard Peters, mitsamt seinen Forschungskenntnissen55 zu bewegen, ins Ahnenerbe zu wechseln, obwohl Sievers erhebliche Mittel in Aussicht stellte. Ähnlich ging Sievers bei Professor Dr. Peter Mühlens, dem Direktor des Hamburger Tropeninstituts, vor. An diesen schrieb Sievers am 3.1.1942.56 Dabei trat abermals Sievers’ Methode zu Tage, den Versuch zu unternehmen, ganze Institutionen mit Mittelzusagen für das Ahnenerbe zu gewinnen und somit aufwendige Neugründungen zu vermeiden. Kater nennt dieses System „kalte Übernahme“.57 Doch auch Mühlens ging nicht auf Sievers’ Angebote ein.58 Wie unten noch näher dargelegt wird, war Sievers zu diesem Zeitpunkt auch mit August Hirt im Kontakt, um diesen in das geplante Entomologische Institut einzubeziehen. Die Quellen lassen keinen Zweifel darüber zu, dass Sievers Hirt zunächst einzig deshalb ins Ahnenerbe einbinden wollte, um Unterstützung bei der Bekämpfung der Insekten zu erhalten. Eine Vertiefung der Zusammenarbeit und deren Genehmigung durch Himmler waren folglich erst nach der unten näher dargestellten Übersendung von Hirts Forschungsbericht – in dem er seine Forschungsfelder vorstellte – denkbar.59 Als die Integration des Ahnenerbes als Amt „A“ in das Hauptamt Persönlicher Stab Reichsführer-SS zum 17.3.1942 vorbereitet wurde, wusste Sievers um die anstehende finanzielle Aufwertung des Ahnenerbes.60 Allein 197 der angeforderten 281 Planstellen für die Festangestellten des Ahnenerbes wurden nach der Eingliederung über die SS aus der Parteikasse der NSDAP finanziert.61 Diese wirtschaftliche Entlastung ermöglichte neue Projekte in anderen Bereichen, wie Sievers mit Sicherheit ein halbes Jahr vor der Eingliederung gewusst haben wird. Darum konnte er ohne wirtschaftliche Be54  Das Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie unter der Leitung von Professor Dr. Fritz Haber beschäftigte sich mit dem Problem der Verlausung in Massenunterkünften bereits im Jahre 1915. Schon in diesem chronologisch frühen Stadium der Forschung wurde die Industrie, die nach der auf Kosten der KWI erfolgten Forschung die Ergebnisse kommerziell verwertete, eingebunden. Hierzu gehörte auch die Degussa. Diese gehörte, wie auch Fritz Haber als Geschäftsführer, nach dem Kriege zu den Mitbegründern der Degesch. 55  Reitlinger, Endlösung, S. 164. 56  BArch SSO 101 A Personalakte Hirt, Schreiben von Sievers an Hirt vom 3.1.1942. 57  Zahlreiche Beispiele für dieses Vorgehen in Kater, Ahnenerbe, S. 126, 261, 266. 58  BArch NS 21 / 794, Schreiben von Mühlens an Sievers vom 12.1.1942. 59  Dies stützt auch die Zweifel an der verbreiteten Auffassung, Hirt habe einen Plan verfolgt, eine jüdische Skelettsammlung für die Reichsuniversität Straßburg anzulegen, bevor Bruno Beger im Dezember 1941 diese Planungen bei Sievers vortrug. 60  NARA T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 17.3.1943. 61  Kater, Ahnenerbe, S. 302.



II. Ahnenerbe und das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung47

denken die Gründung des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung vorbereiten. Nachdem Sievers mit verschiedenen Forschern, unter diesen auch August Hirt, über eine koordinierte Zusammenarbeit gesprochen hatte, schlug er am 29.6.1942 Himmlers Persönlichem Referenten Brandt die Gründung des späteren Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung vor: „Die darin von mir gemachten Vorschläge habe ich zusammengefasst in einen Entwurf eines Befehls des Reichsführers-SS, liegt ebenfalls bei.“62 Im dann erteilten Gründungsbefehl hatte Himmler verfügt, dass die gesamten Kosten des neuen Instituts von der Waffen-SS getragen werden sollten.63 Dies sorgte noch einmal für eine wirtschaftliche Entlastung des Ahnenerbes und erhöhte gleichzeitig die Bedeutung des Ahnenerbes für die Kriegsanstrengungen des „Großdeutschen Reiches“. Bereits das Entomologische Institut wurde nicht aus dem Etat der SS, sondern aus Staatsmitteln bezahlt, wie der Aktenvermerk von Sievers vom 2.1.1942 zeigt. Somit war es Sievers gelungen, das Ahnenerbe mit dem neuen Schwerpunkt der wehrwissenschaftlichen Zweckforschung langfristig auch in Zeiten des Krieges bei gleichzeitiger Kostenneutralität zu erhalten.64 Der unten als Faksimile wiedergegebene Gründungsbefehl65 des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung steht in direktem Zusammenhang zum ersten renommierten und akademisch erfolgreichen Mediziner, den Sievers für das Ahnenerbe gewinnen konnte: August Hirt. Am Ende des Krieges hatte das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung acht Abteilungen, von denen fünf tatsächlich arbeiteten: •• Abteilung „R“ Rascher •• Abteilung „P“ Plötner als Nachfolge-Abteilung von „R“ •• Abteilung Hirt •• Abteilung May (vormals Entomologisches Institut) •• Mathematische Abteilung. Die nicht oder nicht voll tätigen Abteilungen wurden von der bisherigen Forschung zum Ahnenerbe bislang nur am Rande betrachtet. Die Abteilung für Züchtungsforschung unter Ernst Schäfer hatte ihren Arbeitsgegenstand, ein zukünftiges Gestüt, bis Kriegsende gerade erst nach Deutschland gebracht, und die Karstwehrwissenschaftliche Abteilung unter Hans Brand bestand wahr62  BArch

NS 19 / 1209, Schreiben von Sievers an Brandt vom 29.6.1942. NS 21 / 905, Gründungsbefehl Ahnenerbe vom 7.7.1942, Abschrift Wolff vom 27.11.1943. 64  IfZ MA 1562: Pre-Trial-Interrogations Sievers vom 29.8.1946 Nachmittag, S. 5. 65  BArch NS 21 / 905, Gründungsbefehl Ahnenerbe vom 7.7.1942, Abschrift Wolff vom 27.11.1943. 63  BArch

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

scheinlich nur auf dem Papier als Klon der Ahnenerbe-Forschungsstätte für Karst- und Höhlenforschung.66 Zudem existierte noch die Abteilung Institut für Grenz- und Auslandsstudien, zu der die Quellenlage jedoch sehr dünn ist: „Da die Arbeiten des Institutes für Grenz- und Auslandsstudien wehrwichtig sind, wurden sie vom Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung beim Persön­ lichen Stab Reichsführer-SS übernommen und gleichzeitig sind die nachstehend aufgeführten Mitarbeiter in das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung übernommen worden.“67

Die Arbeit des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung ist in einer Monographie des Verfassers jüngst umfassend dargestellt worden.68

III. Täter, Mittäter und Zeugen Im Zweiten Weltkrieg änderte sich die tradierte Art der Kriegsführung. Die Ziele von Angriffen waren nicht mehr nur militärische Einrichtungen und Militärpersonen, sondern auch Wohngebiete und Zivilisten. Daher wurden erhebliche Aktenbestände ein Raub der Spreng- und Brandbomben. Bei He­ rannahen der alliierten Truppen wurden weitere große Aktenbestände des Regimes vernichtet. Die Unterlagen zum Verbrechen der Schädelsammlung sind zwar in weiten Teilen erhalten. Da jedoch – wie unten gezeigt wird – Hirts Sekretärin Lieselotte Seepe Hirts Akten zum Verbrechen vernichtete und viele andere Unterlagen von französischen und sowjetischen Truppen abtransportiert wurden und häufig als verschollen gelten, bleiben Lücken in der Überlieferung. Diese gestatten unterschiedliche Interpretationen des Geschehenen. Zur Bewertung und Einordnung der überlieferten Quellen spielen daher zwei Dinge eine elementare Rolle: Nachfolgend wird der persönliche und berufliche Weg der Hauptbeteiligten nachgezeichnet, um daraus eine Motivlage bezüglich der Tat zu ergründen. Anschließend werden einige Zeugen und Mittäter des Verbrechens in Kurzform aufgeführt. Dabei wird vor allem hinterfragt, welche Motive die Zeugen nach dem Krieg hatten, genauso auszusagen, wie sie es taten. Selbst in jedem drittklassigen Fernsehkrimi ist es selbstverständlich, dass Zeugen, die möglicherweise in ein Verbrechen verstrickt sind, durchaus eigennützige Gründe für vorsätzliche Falschaus­ sagen haben und auch unbeteiligte Zeugen sehr verschiedene Eindrücke einer Tat zu schildern vermögen. Wenngleich die Feinheiten der Aussagepsycholo66  Ebbinghaus / Dörner / Linne

u. a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, S. 8474. NS 21 / 22, Schreiben vom Personalchef des Ahnenerbes und Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung, Dr. Dr. Alfred Kraut, an das Arbeitsamt Berlin C2 vom 19.4.1943. 68  Reitzenstein, Himmlers Forscher. Wehrwissenschaft und Medizinverbrechen im „Ahnenerbe“ der SS. 67  BArch



III. Täter, Mittäter und Zeugen49

gie nicht Gegenstand dieses Buches sind, sollen die Hintergründe kurz dargestellt werden, da in der Literatur erstaunlicherweise zumeist alle Zeugenaussagen zum gegenständlichen Verbrechen als neutrale Wahrheit gelten. In diesem Zusammenhang werden die Aussagen der Beteiligten nach dem Kriege am Ende der jeweiligen biographischen Skizzen kritisch hinterfragt.

Abb. 3: Gründungsbefehl für das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung vom 7.7.1942.69

69  BArch

R 26 III / 29, Gründungsbefehl vom 7.7.1942.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Davon ausgenommen sind Sievers, Hirt, Wimmer und Beger. Hirt und Wimmer waren nach dem Kriege – ohne vernommen worden zu sein – verstorben. Die Rolle Begers in dem gegen ihn vor dem Landgericht Frankfurt am Main geführten Prozess ist Gegenstand eines eigenen Kapitels. Die Aussagen von Sievers im Rahmen jenes Verfahrens werden an den betreffenden Stellen im Text eingeführt.

IV. Wolfram Sievers Am 10.7.1905 wurde Wolfram Sievers in Hildesheim als Sohn eines evangelisch-lutherischen Kirchenmusikdirektors geboren. Er hatte zwei jüngere Schwestern, die in den Jahren 1907 und 1915 zur Welt kamen.70 Die oft beschriebene tiefe Religiösität Sievers stammt nach seiner Auskunft aus seiner Kindheit, da er durch den Beruf des Vaters „sozusagen in der Kirche aufgewachsen“ sei.71 Nach der Trennung der Eltern aus einem ‚delikaten‘ Grund im Jahre 192372 erkrankte der Vater schwer.73 Bis 1922 war Sievers Gymnasiast am Andreanum in Hildesheim, wie vor ihm der berühmte Barock-Komponist Georg Philipp Telemann und nach ihm der spätere SSGruppenführer und Amtschef des SD-Inland Otto Ohlendorf. Der SS gegenüber gab Sievers an, dass er das Gymnasium aufgrund von völkischer Agitation in der Obersekunda vorzeitig verlassen musste.74 Er wechselte auf eine Handelsschule,75 um rasch mit einem praktischen Beruf die Familie ernähren zu können.76 Sievers begann eine Lehre als Verlagskaufmann in einer Papierwarenfabrik in Hildesheim.77 Im Jahre 1927 war der 22-jährige Sievers der einzige Ernährer der Familie, nachdem sein Vater gestorben war.78 Im Jahr darauf begann Sievers nach verschiedenen anderen beruflichen Stationen eine Tätigkeit im Stuttgarter Industrieverlag und schrieb sich als Gasthörer an der Technischen Hochschule Stuttgart für die Fächer Geschichte, Philoso-

70  Auskunft

von Sievers’ Sohn Eike 2012. MA 1562, Pre-Trial-Interrogations Sievers vom 21.1.1947, S. 3. 72  Ebd., S.  1 f. 73  Ebd., S. 13. 74  BArch NS 21 / 694 Personalakte Sievers. Diese Darstellung für die SS-Akten mag geschönt sein, da Sievers mutmaßlich kein Interesse daran hatte, den Hergang der Trennung seiner Eltern und den Tod des Vaters zu thematisieren, wie auch die daraus resultierende Folge, dass er als zukünftiger Alleinernährer der Familie möglichst rasch einen praktischen Beruf ergreifen musste, statt lange zu studieren. 75  Schmidt, Hielscher, S. 245. 76  IfZ MA 1562, Pre-Trial-Interrogations Sievers vom 21.1.1947, S. 6. 77  Auch findet sich häufig die Bezeichnung Verlagskaufmann. 78  IfZ MA 1562, Pre-Trial-Interrogations Sievers vom 21.1.1947, S. 5. 71  IfZ



IV. Wolfram Sievers51

phie und Religionswissenschaft ein.79 Im Nürnberger Prozess gab Sievers zu Protokoll, dass er gern Akademiker geworden wäre. Seit 1925 litt Sievers an einem sich verschlimmernden Herzasthma aufgrund von Linksherzinsuffi­ zienz, das erst 1932 bei einem mehrmonatigen Kuraufenthalt im Schwarzwald behandelt werden sollte. An die Kur schloss sich eine halbjährige Arbeitslosigkeit an.80 Anschließend arbeitete er als Privatsekretär des völkischen Privatgelehrten Herman Wirth – zunächst in dessen Privathaus in Marburg, ab November 1932 im neu gegründeten Institut für Geistesurgeschichte in Bad Doberan.81 Nach der Entlassung durch Wirth im Frühjahr 1933 wechselte Sievers nach verschiedenen weiteren Tätigkeiten schließlich zum EherVerlag der NSDAP als Verlagskaufmann.82 Doch bereits Mitte 1935 verlor er abermals seine Arbeitsstelle.83 Ende 1934 heiratete Wolfram Sievers Helene Siebert. Aus dieser Ehe gingen zwei Töchter und ein Sohn hervor.84 Heinrich Himmler begann eine Beziehung mit seiner Sekretärin Hedwig Potthast, aus der zwei Kinder hervorgingen. Daraufhin erklärte er, dass für einen SS-Angehörigen eine zweite Frau durchaus statthaft sei, sofern aus der Beziehung Kinder hervorgingen.85 Einige Zeit später begann Sievers ein Verhältnis mit seiner Chefsekretärin Dr. phil. Gisela Schmitz-Kahlmann. Diese gebar Sievers daraufhin im Jahre 1944 einen weiteren Sohn.86 Bei der Vernehmung in Nürnberg antwortete Sievers auf die Frage nach seinen ehelichen Kindern: „10 Jahre das Mädel, 5 Jahre der Junge und 3 Jahre das Mädchen.“ Auf die Frage, ob seine Ehe harmonisch sei, antwortete er: „Ja, sehr.“87 Zeitzeugen beschreiben Sievers als liebevollen Vater, der lange Ausflüge in die Natur mit den Kindern unternahm und viel Orgel und Cembalo spielte,88 wozu seine Frau oft sang.89 Am 1.7.1935 wurde Sievers als Generalsekretär des Vereins Ahnenerbe angestellt. Sievers erhielt vom Ahnenerbe in den ersten Jahren ein Angestelltengehalt. Dieses entsprach in seiner Höhe jedoch der Besoldung eines SS-Führers in seinem jeweiligen Rang.90 Dazu erhielt er eine monatliche 79  Kater,

Ahnenerbe, S. 28. MA 1562, Pre-Trial-Interrogations Sievers vom 21.1.1947, S. 11. 81  Kater, Ahnenerbe, S. 32 und 334. 82  Schmidt, Hielscher, S. 246. 83  Kater, Ahnenerbe, S. 33. 84  Schmidt, Hielscher, S. 246. 85  Longerich, Himmler, S. 389. 86  Gesprächsprotokoll Katharina Görlitz vom 18.1.2012. 87  IfZ MA 1562, Pre-Trial-Interrogations Sievers vom 21.1.1947, S. 11. 88  Ebd., S. 14. 89  Gesprächsprotokoll Katharina Görlitz vom 18.1.2012. 90  IfZ MA 1562, Pre-Trial-Interrogations Sievers vom 23.11.1946. 80  IfZ

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Zusatzzahlung vom Persönlichen Stab Himmlers und eine separate Spesenpauschale.91 Nach der Anstellung im Ahnenerbe im Jahre 1935 trat Sievers in die SS ein und wurde zunächst dem SS-Rasseamt zugeordnet.92 Im Jahre 1936 wurde er nach eigenen Angaben zum Unterscharführer und 1937 zum Untersturmführer befördert.93 Wie andere Ahnenerbe-Angehörige, wurde auch Sievers infolge der Satzungsänderung am 11.2.1937 zum Persönlichen Stab versetzt.94 Am 1.4.1937 wurde er dann zum SS-Obersturmführer befördert. Nach Beginn des Krieges wurde die wissenschaftliche Leitung des Ahnenerbes faktisch geteilt. Der formal für alle Wissenschaftler zuständige Walther Wüst betreute faktisch nur die Geisteswissenschaften, während der Leiter der Forschungsstätte Innerasien und Expeditionen, Ernst Schäfer, die Naturwissenschaften verantwortete.95 Nach der Gründung des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung nahm Sievers die wissenschaftliche Leitung des neuen Arbeitsbereichs selbst wahr. Damit machte er in Bezug auf die medizinischen Fragen die „Drecksarbeit“, die Walther Wüst als Kurator des Ahnenerbes nicht sehen wollte.96 Nachdem Sievers im Jahre 1943 als stellvertretender Leiter des Geschäftsführenden Beirats des Reichsforschungsrates97 formal der zweitwichtigste Wissenschaftsmanager der wichtigsten Wissenschaftseinrichtung des Reiches geworden war, genoss er seinen Erfolg.98 Der „verhinderte Akademiker Sievers“ (Michael Kater) war mit den Mitteln aus DFG und Reichsforschungsrat im Tagesgeschäft der Forschungsmittelvergabe Brotherr von Koryphäen wie August Hirt oder Herbert 91  BArch

NS 21 / 822, Abrechnung Spesenpauschale, o. Dat. Berlin, AP B Rep. 030-04 Nr. 4593, Stellungnahmeformular des Polizeipräsidiums vom 4.10.1935. 93  IfZ MA 1562, Pre-Trial-Interrogations Sievers vom 20.8.1946, S. 1. 94  Dies hatte keine unmittelbare Auswirkung auf die tägliche Arbeit der Mitarbeiter, sondern war eine Strukturanpassung, die faktisch zu einem organisatorischen Vorgriff auf die 1942 erfolgte Umwandlung des Ahnenerbes als Amt A im Hauptamt Persönlicher Stab Reichsführer-SS wurde. 95  BArch NS 21 / 53, Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 16.3.1943. 96  Kater, Ahnenerbe, S. 526. 97  Der Reichsforschungsrat (RFR) wurde 1937 gegründet und dem Reichserziehungsministerium (REM) untergeordnet. Hiermit sollte die Grundlagenforschung und die angewandte Forschung zentral koordiniert werden. Nach einer Umorganisation 1942 wurde der RFR mit 18 Fachsparten dem Reichsministerium für Bewaffnung und Munition unterstellt. Hermann Göring wurde Präsident. Da der Präsidialrat jedoch nie tagte, war der Vorsitzende des Geschäftsführenden Beirats, Rudolf Mentzel, der Präsident der DFG, die seit 1937 ein Teil des RFR war, der faktische Leiter dieser Einrichtung. Sievers wurde dessen Vertreter. 98  BArch NS 21 / 53 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 10.7.1943, vgl. auch Einträge vom 25. und 26.8.1943: In seiner Funktion als Wissenschaftsmanager des Reichsforschungsrates nahm der Verlagskaufmann Sievers auch an Hochschulrektorenkonferenzen teil. 92  Landesarchiv



IV. Wolfram Sievers53

Abb. 4: Wolfram Sievers Mitte der dreißiger Jahre. (Quelle: BArch VBS-283-6055009688)

Jankuhn99 und arbeitete in diesem Gremium kollegial mit Spitzenforschern wie Abraham Esau, Walther Gerlach oder Ferdinand Sauerbruch zusammen. Mit Ausbruch des Krieges wurden von Ratten und Insekten übertragenen Krankheiten zu einem wichtigen Thema für die SS. Denn diese Gliederung der NSDAP hatte nicht nur viele Waffen-SS-Angehörige unter schlechten hygienischen Bedingungen an der Front, sondern beutete auch unzählige Häftlinge in ihrem Herrschaftsbereich unter ähnlichen hygienischen Bedingungen aus. Die schlechten hygienischen Verhältnisse führten jeweils dazu, dass Himmler die Schaffung des Entomologischen Instituts und später des Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung befahl. Der Verlagskaufmann Sievers arbeitete sich daraufhin in die entomologischen und medizini99  Herbert Jankuhn (geb. 8.8.1905 in Angerburg, gest. 30.4.1990 in Göttingen), letzter Rang: SS-Obersturmbannführer. Studium u. a. der Fächer Geschichte und Vorgeschichte, 1931 Promotion in Berlin, 1930 Grabungsleiter in der Wikingerstadt Haitabu bei Schleswig, 1935 Habilitation, 1937 Eintritt in die SS und die NSDAP, 1938 Ahnenerbe, 1940 Leiter der Ahnenerbe-Lehr- und Forschungsstätte Ausgrabungen, außerplanmäßiger Professor in Kiel, 1941 Sonderkommando Jankuhn zur Untersuchung und Raub von Museumsgut in den eroberten Ostgebieten, 1942 Wechsel als außerplanmäßiger Professor nach Rostock, 1944 Obersturmbannführer, Waffen-SSEinsatz. Nach dem Kriege Fortsetzung der wissenschaftlichen Karriere und hohe Ehrungen (u. a. nach: Ebbinghaus, Erschließungsband Ärzteprozeß, S. 108).

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

schen Fragestellungen ein.100 Die Quellen lassen den Schluss zu, dass Sievers sich dabei ein umfangreiches Wissen aneignete, das ihn in die Lage versetzte, in der Regel kompetent zu entscheiden und zu führen. Sievers’ zeitweiliger Mentor Friedrich Hielscher sagte als Entlastungszeuge im Nürnberger Ärzteprozess aus, dass Sievers Mitglied einer Widerstandsgruppe gewesen und trotz Gewissensbissen im Amt geblieben sei, da die Widerständler ihn aus Schutzgründen darum baten. Wie weit dieser Widerstand ging, ist umstritten. Einerseits sagten glaubwürdige Zeugen zu seinen Gunsten aus, andererseits ist es wenig glaubwürdig, dass Sievers sich den Risiken eines aktiven und verfolgungswürdigen Widerstandes ausgesetzt hätte.101 Nach Eröffnung des Ärzteprozesses begegnete der tiefgläubige Sievers der Frage, ob er den Prozess für gerechtfertigt hielt, mit den Worten: „Ich kann nur wiederholen, was ich bei vielen Verhören erklärt habe, dass die Klärung und Sühne für die Verbrechen notwendig ist.“102 Einer seiner Vernehmer im Nürnberger Ärzteprozess war der in Wien geborene und in Berlin promovierte jüdische Psychiater Major Leo Alexander.103 Dieser war 1933 in die USA emigriert und kehrte als medizinischer Offizier der US Army nach Deutschland zurück. In Nürnberg befragte er Sievers nicht nur zu medizinischen Sachverhalten im Ahnenerbe, sondern arbeitete auch psychologisch an der Person Sievers und dessen Schriftgut. Am 21.1.1947 stellte der Arzt Alexander gegenüber Sievers in Bezug auf die Medizinversuche des Ahnenerbes – wohl, um Vertrauen zu Sievers aufzubauen und ihn aus der Reserve zu locken – fest: „Für einen Laien haben Sie eine sehr schöne Arbeit geleistet, abgesehen von der Tatsache, dass Sie in einem dieser Versuche wegen Unfreiwilligkeit als Kriegsver100  BArch NS 21 / 794: Zahlreiche Schreiben an verschiedenste Forschungseinrichtungen mit der Bitte um Übersendung von Forschungsberichten und Literaturlisten sind für Anfang Januar 1942 verzeichnet. 101  Ebbinghaus / Dörner / Linne u. a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, S. 5838: Vernehmung Sievers vom 11.4.1947 mit Verweis auf Sievers-Exhibit Nr. 29 vom 21.1.1947. 102  IfZ MA 1562, Pre-Trial-Interrogations Sievers vom 21.1.1947, S. 19. 103  Leopold Alexander (geb. 11.10.1905 in Wien, gest. Juli 1985 in Boston), 1923 maturiert, Medizinstudium in Wien, Approbation 1929, seit 1931 Assistenzarzt in der Psychiatrie in Frankfurt am Main, Februar 1933 Beurlaubung und Dozententätigkeit als Rockefeller-Stipendiat in China, aufgrund seines jüdischen Glaubens verlor er unterdessen seine Stelle in Frankfurt, weshalb er in die USA emigrierte. 1934 bis 1941 Dozent für Psychiatrie an der Harvard Medical School, gleichzeitig als Neuropathologe am Boston City Hospital tätig; 1941 Professor an der Duke University, 1942 bis 1946 Dienst im Medical Corps der U.S. Army. Von Mai bis September 1945 im Auftrag des Militärgeheimdienstes Untersuchung von medizinischen Einrichtungen in den alliierten Zonen, von November 1946 bis Juni 1947 medizinischer Sachverständiger der Anklage im Nürnberger Ärzteprozess, nach dem Krieg Tätigkeit im Bereich der Medizinwissenschaften. (u. a. Übernahme aus: Ebbinghaus, Erschließungsband Ärzteprozeß, S. 74).



IV. Wolfram Sievers55 brecher betrachtet werden. Wenn das freiwillig gewesen wäre, dann hätten Sie eine sehr schöne Arbeit geleistet. […] Die Menge die Sie gearbeitet haben und die Sache, wie Sie alles gemacht haben, ohne etwas von Medizin zu verstehen ist bewundernswert, für einen Laien sehr bewundernswert.“104

Aufgrund dieser von Leo Alexander genannten fehlenden Freiwilligkeit wurde Wolfram Sievers im Nürnberger Ärzteprozess zum Tode verurteilt und anschließend am 2.6.1948 in Landsberg am Lech hingerichtet.105 Dies geschah ausdrücklich auch, weil er vom ersten Augenblick an gewusst habe, dass ein Massenmord für die Schaffung der Skelettsammlung geplant gewesen sei.106

Abb. 5: Wolfram Sievers in der Uniform eines SS-Standartenführers mit der Schnalle zum Kriegsverdienstkreuz II. Klasse mit Schwertern sowie dem SA-Sportabzeichen, dem Reichssportabzeichen und dem Ritterkreuz des spanischen Ordens „Isabella die Katholische“. (Aufgenommen zwischen der Beförderung zum Standartenführer am 9.11.1942 und der Verleihung des Kriegsverdienstkreuzes I. Klasse am 30.1.1944, das als Steckkreuz an der Brusttasche getragen wurde. Sievers war zum Zeitpunkt der Aufnahme folglich zwischen 37 und 39 Jahre alt.) 104  IfZ

MA 1562, Pre-Trial-Interrogations Sievers vom 21.1.1947, S. 23. Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34148 Prozessakte Beger, Sterbeurkunde Sievers, S. 346. 106  Ebbinghaus / Dörner / Linne u. a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, S. 163. 105  HStA

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

V. August Hirt 1. August Hirt – eine akademische Karriere In Michael Katers Gesamtdarstellung zur Arbeit des Ahnenerbes widmet sich ein Kapitel auch der Arbeit von August Hirt. Dessen Überschrift lautet: „Anatomische Zweckforschung: August Hirt und Bruno Beger“.107 Doch forschte Hirt als Anatom im Bereich der wehrwissenschaftlichen Zweckforschung nur bedingt als Anatom. Bruno Beger hingegen war kein Mediziner und auch kein Angehöriger des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung, sondern als Anthropologe ausgebildeter Naturwissenschaftler. Zudem betrieb er auch keine anatomische Forschung. Dies zeigt, welches Projekt der Abteilung „H“ im Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung des Ahnenerbes im kollektiven Gedächtnis verankert ist: die so genannte Straßburger Schädelsammlung, an deren Entstehung sowohl Hirt als auch Beger beteiligt waren. August Erwin Theobald Hirt wurde als Sohn von Johannes und Charlotte Maria Katharina Hirt als eines von neun Geschwistern108 am 29. April 1898 in Mannheim im damaligen Großherzogtum Baden geboren.109 Die Eltern besaßen die schweizerische Staatsangehörigkeit.110 Hirt nahm erst mit seiner ersten Stelle im öffentlichen Dienst in Heidelberg im Jahre 1921 die deutsche Staatsbürgerschaft an, wobei umstritten ist, ob er die schweizerische behielt.111 Sein Vater Johannes Hirt war Kaufmann in Mannheim.112 Im Jahre 1914 meldete sich der 16-jährige Hirt freiwillig zum Dienst auf deutscher Seite:113 Er wurde dem 2. Badischen Grenadier-Regiment Nr. 110 zugeteilt.114 An der Front erlitt Hirt einen Durchschuss des Ober- und des Unter107  Kater,

Ahnenerbe, S. 245. RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020, Schreiben des Schweizerischen Kriminalkommissars Jöhl an den Ermittler Mauerhan in Strasbourg vom 16.1.1948, S. 58. 109  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 117a. 110  BArch PK E 0241 Personalakte Hirt, Lebenslauf o. Dat. 111  Drabek, Anatomie S. 89. 112  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34168 Prozessakte Beger, S. 154, Lebenslauf Hirt. 113  Lang, Nummern, S. 124: Lang berichtet, dass Hirt sich bei Kriegsausbruch 1914 freiwillig meldete und 1916 erst durch einen Kieferdurchschuss „wieder zur Besinnung“ kam. Diese Implikation des fanatischen Kriegers verweist auf die Millionen Freiwilligen seiner Generation unter den 13,25 Millionen deutscher Soldaten des Ersten Weltkrieges, die somit zu Besinnungslosen umgedeutet werden. 114  BArch PK E 0241 Personalakte Hirt, Lebenslauf o. Dat., doch nach dem 30.8.1943, da dieser das am 30.8.1943 an Hirt versendete Kriegsverdienstkreuz als erhaltene Auszeichnung ausdrücklich aufführt. 108  USHMM



V. August Hirt57

Abb. 6: August Hirt, zeitgenössisches Foto.

kiefers und wurde im Oktober 1916 als schwer kriegsverwundet aus der Armee entlassen.115 Diese Verletzung, die seine Artikulationsfähigkeit einschränkte, ihn entsprechend hemmte und ihm die Nahrungsaufnahme erschwerte, ist auch auf den Fotos in seinen SS-Akten und anderen Fotos späterer Jahre gut zu erkennen. Die Folgen des Kieferdurchschusses führten auch zu einer Minderung der Qualität seiner Vorlesungen. Hirt erhielt bis zu seinem Lebensende eine Invalidenrente.116 Nach seiner Genesung holte Hirt das Abitur nach und begann 1917 ein Medizinstudium in Heidelberg.117 Nach dem Staatsexamen im Jahre 1921 erhielt Hirt die ärztliche Approbation.118 Im April 1921 wurde Hirt Praktikant am Anatomischen Institut der Universität Heidelberg119 und noch im selben Jahr Assistent bei Professor Dr. Hermann Braus an der Universität Heidelberg und damit Beamter. Im Zuge dessen wurde ihm die deutsche Staatsbürgerschaft als notwendige Voraussetzung für den Beamtenstatus von Amts wegen verliehen. Im Jahre 1922 wurde Hirt an der Universität Heidelberg promoviert.120 Doktorvater war Kurt Elze, jedoch war es damals üblich, 115  Ebd.

116  HStA

Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34166 Prozessakte Beger, S. 51 Personalbogen

117  HStA

Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34168 Prozessakte Beger, S. 154, Lebenslauf

Hirt.

Hirt.

118  BArch PK E 0241 Personalakte Hirt, Lebenslauf o. Dat., doch nach dem 30.8.1943, da dieser das am 30.8.1943 an Hirt versendete Kriegsverdienstkreuz als erhaltene Auszeichnung ausdrücklich aufführt. 119  Grundmann, Kallius, S. 138. 120  BArch PK E 0241 Personalakte Hirt, Lebenslauf o. Dat., doch nach dem 30.8.1943, da dieser das am 30.8.1943 an Hirt versendete Kriegsverdienstkreuz als erhaltene Auszeichnung ausdrücklich aufführt.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

dass auch der Institutsdirektor auf der Promotionssurkunde und in den Exemplaren der Dissertation vermerkt war. Man sprach davon, „unter“ dem Institutsdirektor Braus promoviert worden zu sein, so wie auch Hirt in seinem Lebenslauf. Dies führte in der Literatur stellenweise zu Unklarheiten über den Doktorvater Hirts. Noch 1922 wurde August Hirt Zweiter Prosektor an der Anatomie.121 Am 25.9.1923 heiratete Hirt Marie Frieda Häffner, genannt Friedel.122 Aus dieser Verbindung gingen zwei Kinder hervor.123 Schon 1925 folgte die Habilitation im Fach Anatomie124 unter Geheimrat Professor Dr. Erich Kallius in Heidelberg.125 Die Habilitationsschrift „Über den Faserverlauf der Nierennerven“ wurde von den Gutachtern sehr gelobt.126 Im Jahre 1930 erhielt Hirt eine außerordentliche Professur für Anatomie an der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg.127 Seit 1921 forschte und publizierte Hirt vorwiegend zum vegetativen Nervensystem, und zwar vorwiegend über den Einfluss des Sympathikus auf Organsysteme.128 Darüber hi­ naus arbeitete er mit seinem Kollegen Philipp Ellinger129 an einer neuartigen Mikroskopiertechnik: Die beiden Wissenschaftler entwickelten eine Methode, um lebendes Gewebe unter dem Mikroskop zu untersuchen.130 121  Grundmann,

Kallius, S. 138. RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020, Bericht von Inspektor Robert Mauerhan über Hirt vom 13.1.1949, S. 55. 123  BArch PK E 0241, Personalakte Hirt, Lebenslauf o. Dat., doch nach dem 30.8.1943, da dieser das am 30.8.1943 an Hirt versendete Kriegsverdienstkreuz als erhaltene Auszeichnung ausdrücklich aufführt. 124  Benzenhöfer, Mengele, S. 23. 125  BArch PK E 0241 Personalakte Hirt, Lebenslauf o. Dat., doch nach dem 30.8.1943, da dieser das am 30.8.1943 an Hirt versendete Kriegsverdienstkreuz als erhaltene Auszeichnung ausdrücklich aufführt. 126  Grundmann, Kallius, S. 138. 127  Klee, Auschwitz, S. 356. 128  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34168 Prozessakte Beger, S. 157 ff. Publika­ tionsliste Hirt. 129  Philipp Ellinger (geb.18.6.1887 in Frankfurt / M., gest. 12.9.1952 in London) war Biochemiker und Pharmakologe. Nachdem er 1911 in Chemie und 1914 in Medizin promoviert wurde, habilitierte er sich 1921 zur Pharmakologie der Zellatmung. 1925 wurde er außerordentlicher Professor in Heidelberg und 1932 ordentlicher Professor in Düsseldorf. Am 7.4.1933 wurde das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums erlassen, das Beamte verpflichtete, einen Ariernachweis vorzulegen. Lange vor Fristablauf verließ Ellinger die Universität im April 1933. Noch im selben Frühjahr nahm er eine Stelle am Lister Institute for Preventive Medicine in London an. 130  Archiv Deutsches Patent- und Markenamt, Patentschrift Nr.  581687 vom 30.10.1929, eingereicht von Dr. Philipp Ellinger und Dr. August Hirt in Heidelberg; Patent erteilt am 13.7.1933. Vgl. Benzenhöfer, Mengele, S. 23. Entgegen der Behauptungen von Lang, Nummern, S. 125, versuchte Hirt nicht, Ellingers „Beiträge zur In­travitalmikroskopie wie auch die Erträge aus den Patentrechten für sich allein zu 122  USHMM



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Bei diesem Verfahren der Einbringung von fluoreszierenden Stoffen ins Gewebe, beispielsweise Magdalarot, Fluoreszin oder Trypaflavin, wird der Stoff durch ultraviolettes Licht dazu angeregt, das Gewebe selbstständig zu erleuchten. Dabei fanden Hirt und der Mitte 1933 aufgrund seiner jüdischen Herkunft nach England emigrierte Ellinger heraus, dass sich Fluoreszin nur mit den basischen und Trypaflavin nur mit den sauren Zellbestandteilen verbindet. Diese Eigenschaft von Trypaflavin wurde später Ausgangspunkt für Hirts Ansatz einer Therapie gegen Lostschäden.131 Da bei dem neuartigen Mikros­kopierverfahren nur mit unsichtbarem ultravioletten Licht gearbeitet wurde, entfielen die bis dahin durch Lichtbrechung entstehenden Ungenauigkeiten.132 Diese bahnbrechenden Erfindungen begründeten den wissenschaft­lichen Ruf Hirts, was zur Folge hatte, dass unter anderem die I.G. Farben Hirt später einen Forschungszuschuss von beachtlichen 1.500 Reichsmark pro Quartal zahlte. Damit förderte der durch Fusionen entstandene größte deutsche Chemie-Konzern die Weiterentwicklung der Methodik, wie sich die Verteilung von Farbstoffen unter dem Fluoreszenzmikroskop intravital beobachten ließ.133 Es kursierten nach dem Kriege Gerüchte, die in der Literatur als Tatsachen präsentiert werden, dass Hirt bereits kurz nach der Machtübernahme ein derart radikaler Nationalsozialist gewesen sei, dass er mitgewirkt habe, einen Professor der Medizinischen Fakultät von der Hochschule zu entlassen, weil dieser mit einer Frau jüdischer Herkunft verheiratet war.134 Dabei handelte es sich um Hermann Hoepke, der sich – so reklamieren“, wobei er sich auf Textstellen bei Frederick Kasten bezieht. In diesem Zusammenhang sind Fragen wie die gesetzliche Regelung des Devisenverkehrs von Deutschland nach England nach 1933 ebenso zu prüfen, wie die Behauptung Kastens, Hirt habe Ellingers Beiträge zum Verfahren für sich allein reklamiert: Seit 1933 steht die Patentschrift mit Ellingers Namen offen einsehbar und niemand hat bis 1945 einen Versuch unternommen, dies zu ändern. Zudem gab Hirt in seinem Lebenslauf gegenüber der NSDAP nach 1941 an, gemeinsam mit Ellinger mehrfach zu diesem Thema publiziert zu haben. (BArch PK E 0241, Personalakte Hirt, Lebenslauf o. Dat.m, doch nach dem 30.8.1943). 131  Der chemische Kampfstoff Lost (Bis(2-chlorethyl)sulfid), der auch als Gelbkreuzgas bezeichnet wird, wurde 1916 von zwei Mitarbeitern Fritz Habers, Wilhelm Lommel und Wilhelm Steinkopf, am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische und Elektrochemie entwickelt. Der Handelsname „LoSt“ setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der beiden Nachnamen zusammen. Der Kampfstoff wurde erstmals in der Schlacht bei Ypern am 12.7.1917 durch die deutschen Streitkräfte eingesetzt. 132  Archiv Deutsches Patent- und Markenamt, Patentschrift Nr.  581687 vom 30.10.1929. 133  Klee, Auschwitz, S. 356. 134  Lang, Nummern, S. 125: „Aus dem gleichen Grund steht der Anatom im Verdacht, dabei mitgewirkt zu haben, dass sein Kollege Hermann Hoepke, der mit einer Jüdin verheiratet war, aus dem Hochschuldienst entlassen wurde.“ Als Beleg führt Lang ein vor einigen Jahren geführtes Telefonat mit einem damaligen Mitarbeiter von

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wie Hirt – bei Erich Kallius habilitiert hatte und der seit 1921 dessen planmäßiger Assistent und Erster Prosektor war. Hoepkes Frau soll jüdischer Herkunft gewesen sein, weshalb der Mediziner an der Universität unhaltbar gewesen sei. Entgegen dieser Gerüchte gelang es Hoepke, weitere sechs Jahre im Amt zu bleiben. Entscheidend war hierfür die Protektion durch den damaligen Dekan der Medizinischen Fakultät Hans Runge (1892–1964). Ob und inwieweit Kallius hierbei eine Rolle spielte, können die erhaltenen Akten nicht erhellen. Nach seiner Zwangsentlassung und der Entziehung der Lehrbefugnis 1939 war Hoepke in Heidelberg erfolgreich als praktischer Arzt tätig. Nach Kriegsende kehrte er als ordentlicher Professor und Direktor der Anatomie wieder an die Universität Heidelberg zurück.135 Eine mehr oder minder aktive Forderung von Hirt, das Gesetz „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ auf seinen Kollegen Hoepke anzuwenden, ist in allen verfügbaren Quellen nicht nachzuweisen.136 Als Hoepke die Universität Heidelberg verlassen musste, war Hirt bereits seit Jahren nicht mehr dort tätig. Diese Begebenheit zeigt jedoch, wie in der Literatur bereitwillig ohne nähere Prüfung dem Mörder und Medizinverbrecher August Hirt weitere Untaten angelastet worden sind – unabhängig davon, ob er sie begangen hat oder überhaupt begehen konnte. Nach dem Tode von Erich Kallius Anfang 1935 wurde Hirt im Alter von 36 Jahren kommissarischer Leiter der Anatomie der Universität Heidelberg.137 Auch unter Fachkollegen genoss Hirt einen fachlich guten Ruf. In einschlägigen Fachzeitschriften wurde unter anderem geschrieben, dass es Hirt nun gelungen sei, „im Lumineszenz-Mikroskop Gewebe von Kalt- und Warmblütern im lebenden Zustand längere Zeit zu beobachten“.138 Im Jahre 1936 blickte Hirt bereits auf 18 erfolgreiche Publikationen zurück.139 Demnach – und aufgrund seiner sonstigen akademischen Leistungen – war es nicht erstaunlich, dass der 38-jährige Hirt mit Wirkung vom 1.6.1936 zum ordentlichen Professor ernannt und zunächst stellvertretender Direktor und Hirt und Hoepke an, der den Eindruck hatte, als habe Hirt bei der Entlassung mitgewirkt. 135  Grundmann, Kallius, S. 136. 136  Ebd., S. 136 f. Steffen Grundmann hat für seine Dissertation über Kallius die Quellen intensiv ausgewertet und die Ursachen für die Entlassung von Hoepke – der wie andere Professoren der Universität Heidelberg aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ entlassen worden war – nachgezeichnet. Eine Beteiligung Hirts, dem Grundmann sehr kritisch gegenübersteht, fand er nicht. 137  Grundmann, Kallius, S. 138. 138  Stieve, Hermann: Forschungen und Fortschritte, Nr. 3 / 4, 1.2.1943; nach – vgl. Klee, Auschwitz, S. 357. 139  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34168 Prozessakte Beger, S. 157 ff. Publika­ tionsliste Hirt.



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dann Direktor des Instituts für Anatomie an der Universität Greifswald wurde.140 Es besteht die Vermutung, dass Hirts Karriere „erst durch die Nazis Fahrt aufnahm“. Es ist richtig, dass ein großer Anteil der seit Mitte der dreißiger Jahre in Deutschland berufenen Professoren Mitglieder der NSDAP waren und dies förderlich, wenn nicht sogar Voraussetzung für manche akademische Karriere war.141 Allerdings im Umkehrschluss anzunehmen, dass all jene, die zu dieser Zeit NSDAP-Mitglieder waren und Professoren wurden, akademische Minderleister waren, die ohne „die Nazis“ keine Karriere gemacht hätten, ist abwegig. Richtig ist allerdings, dass Hirt am 1.4.1933 oder 16.10.1933 SS-Anwärter wurde142 und als Dozent vermutlich auch dem NS-Dozentenbund beitrat.143 Seit dem 1.3.1937 oder 1.5.1937 war Hirt auch Mitglied der NSDAP mit der Nummer 4012784.144 Mit Datum vom 3.10.1938 versetzte das Wissenschaftsministerium die Lehrstuhlinhaber für Anatomie der Universitäten Greifswald und Frankfurt, Hirt und Wilhelm Pfuhl, durch den Tausch ihrer Lehrstühle. Dies geschah, weil die beiden Familien das jeweils andere Klima aus gesundheitlichen Gründen bevorzugten und diesen Tausch zuvor einvernehmlich beantragt hatten.145 Hirt begann seine Tätigkeit in Frankfurt mit einer stark verbesserten Ausstattung seines neuen Instituts, wozu vor allem verschiedene neue Mikroskop-Typen zählten.146 Ebenso wurde er im Juli 1939 als Leiter der SS-Studiengemeinschaft in Frankfurt am Main in Aussicht genommen.147 Ob 140  Ebd., S. 51 Personalbogen Hirt Universität Greifswald. Vgl. Drabek, Anatomie, S. 90; und Müßig, Katrin: Prof. Dr. med. August Hirt 1898–1945, Regensburg 2014. 141  Vgl. Grüttner, Michael / Connelly, John: Zwischen Autonomie und Anpassung. Universitäten in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Paderborn 2003. Weiterführend u. a.: Ash, Mitchell G.: Hochschulen und Wissenschaften im Nationalsozialismus. Stand der Forschung und Projekte in Österreich. Wien 2003. 142  SS-Nummer 100.414. 143  BArch NS 21 / 904, Schreiben von Hirt an Sievers vom 9.9.1942: Hier gibt Hirt den 1.4.1933 an. Benzenhöfer nennt hier als Quelle Patrick Wechslers Buch „La faculté de Médecine de la Reichsuniversität Strasbourg“. Allerdings ist der Beleg in der Personalakte nicht nachvollziehbar. Vermutlich wurde Hirt am 1.4.1933 SS-Anwärter und am 16.10.1933 aufgenommen. 144  Hier sind die Quellen widersprüchlich. Das Jahr 1937 kann als gesichert gelten. Während Wechsler Faculté, S. 129, vom 1.5.1937 spricht, gibt es auch andere Auffassungen: Vgl. HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 26; Ebbinghaus, Erschließungsband Ärzteprozeß, S. 105: Hier wird der 1.5.1937 als Eintrittsdatum in die NSDAP genannt, der 1.4.1933 als Aufnahmedatum in die SS.  145  Drabek, Anatomie, S.  84 ff. 146  Benzenhöfer, Mengele, S. 23 f. 147  BArch SSO 101 A Personalakte Hirt, Schreiben vom SS-Oberabschnitt FuldaWerra an das SS-Hauptamt / Sanitätsamt vom 12.7.1939.

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der zwei Monate später erfolgte Kriegsausbruch hier noch eine Besetzung der Position durch Hirt erlaubte, muss offenbleiben. Kurz vor dem Beginn des Krieges, am 12.8.1939, wurde August Hirt zur Wehrmacht eingezogen, wo er zuerst an der Westfront als Truppenarzt bei einer Panzerjägerabteilung tätig war.148 Die hohen Verluste und das gewaltige Leiden der Soldaten durch Giftgasangriffe im Ersten Weltkrieg hatten sich fest im kollektiven Gedächtnis eingegraben. Daher führten die Soldaten aller kriegführenden Mächte in Europa Gasmasken mit sich, denn niemand konnte ausschließen, dass eine Kriegspartei erneut gasförmige Kampfstoffe einsetzen würde, wie unten belegt wird. Die Forschung nach wirksamen Filtern und Schutz vor Kampfstoffen war daher ein Feld mit hoher Priorität in Rüstungsindustrie und Medizin. August Hirt hatte bereits in Frankfurt an Ratten mit Lost experimentiert und beobachtet, dass sich Vitamin A in hoher Dosierung in der Leber anreichert und die Ratten scheinbar gegen Lost schützte. Er berichtete darüber am 2.6.1942 wie folgt: Nach der prophylaktischen Gabe von Vitamin A und anschließender Vergiftung mit Lost seien die ansonsten binnen 24–48 Stunden letal auf Lost reagierenden Ratten noch mehrere Wochen lebendig gewesen, eine sogar noch ein Jahr lang. „Die Untersuchung der Organe der […] getöteten Tiere ergab dann, dass die Leber reichlich Vitamin A gespeichert hatte und von den toxischen Produkten kaum nennenswerte Mengen nachzuweisen waren.“149 Die Wirkung von Lost kann allgemein als antiproliferative, also wachstumshemmende Wirkung beschrieben werden. Dies führt bei Zellen mit einer hohen Zellteilungsrate zu einer besonders deutlichen Hemmung der Zellteilung. In der Zeit zwischen den Weltkriegen wurde als Weiterentwicklung der weniger giftige Stickstoff-Lost unter dem Handelsnamen Mechlorethamin auf den Markt gebracht. Dieses Medikament wurde ab 1942 als erstes Zytostatikum in der Medizin eingesetzt. Inwieweit der an Krebsforschung interessierte Himmler über den Einsatz dieses Zytostatikums informiert war, sollte näher beleuchtet werden (Stickstoff-Lost ist bis heute als Chemotherapeutikum in den USA zugelassen). In den Nachkriegsjahrzehnten wurden zahlreiche Stickstoff-Lost-Abkömmlinge zur zytostatischen Chemotherapie entwickelt und auch später in der EU zugelassen (Bendamustin, Chlorambucil, Cyclophosphamid, Estramustin, Ifosfamid, Melphalan, Trofosfamid). Das im Jahre 1929 von der I.G. Farben patentierte Trypaflavin ist heute als Acriflaviniumchlorid bekannt. Die beiden Bestandteile sind Deri148  BArch SSO 101 A Personalakte Hirt, Schreiben vom Ahnenerbe an den Persönlichen Stab vom 10.8.1942: Übernahme von Hirt in die Waffen-SS mit Auflistung seiner Wehrdienstzeiten: 12.8.1939 bis 26.8.1939 Panzerjägerabteilung 15, 16.8.1939 bis 9.4.1941 Feldheer. 149  BArch NS 19 / 1582, Bl. 45 ff.



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vate des Acridins. Acridine sind gegenüber grampositiven Bakterien wirksam. Acriflaviniumchlorid lagert sich in den Zwischenräumen der DNA und hemmt dadurch die Vermehrung sämtlicher Zellen, aber auch von Bakterien und Viren. Es ist nicht exakt nachvollziehbar, weshalb Hirt als therapeutischen Ansatz zur Behandlung von Lostvergiftungen die Gabe von Trypaflavin wählte. Es scheint jedoch naheliegend, dass er durch gezielte, reversible Unterdrückung des Zellwachstums nach Tryptaflavingabe die relativ langsam einsetzenden, dann aber weniger reversiblen zellschädigenden Wirkungen von Lost senken wollte. Eine Zelle, die in ihrer Zellteilung therapeutisch bereits gehemmt wurde, sollte so weniger empfindlich für die stärkere, irreversibel schädigende Wirkung von Lost sein. Hirts Denkansatz für einen Schutz vor Lost-Verletzungen scheint zunächst aus medizinischer Sicht nachvollziehbar und dem Grunde nach – sowie nach erfolgreichen Tierversuchen – auf Menschen anwendbar. Doch in den 1930er Jahren war es gewiss nicht einfach, Freiwillige für Experimente mit jenem Kampfstoff zu finden, der in den Erzählungen der Weltkriegsteilnehmer als mörderische Substanz bekannt war. Der Truppenarzt Hirt wurde kurzzeitig an das Institut für Pharmakologie und Wehrtoxikologie der Militärärztlichen Akademie in Berlin kommandiert. Hirt erklärte seine These bezüglich eines Schutzes vor Lost wie folgt: Da „Trypaflavin – ein Acridinfarbstoff, den ich zur Färbung lebender Zellen benutzte –, in den Zellkern eindringt und bei entsprechender Dosierung die Zellteilung lähmt, kam ich zu der Vorstellung, diesen Farbstoff zur Behandlung lostgeschädigten Gewebes zu benutzen. Der Gedankengang war der, dass die geschädigten Zellen mit dem Farbstoff beladen werden sollen, wodurch ihre pathologischen Zerfallserscheinungen, die ja immer die gesunden Zellen zum Untergang bringen, abgestoppt werden. Die gleichzeitig mit Farbstoff beladenen gesunden Zellen werden ihrerseits in einen Ruhezustand versetzt und können nach Abgabe des Farbstoffes durch verstärkte Zellteilung den so entstandenen Defekt decken.“150 Nach dem Krieg, als die Fachwelt sich von Hirts Verbrechen zu distanzieren suchte, wurde der Leiter des Instituts, der Chef­toxikologe der Wehrmacht, Wolfgang Wirth, von den US-Behörden verhört. Er gab an, die Kommandierung in seinen Bereich sei allein auf Hirts eigene Anforderung hin erfolgt, und zwar unter dem Versprechen, „phänomenale Erfolge“ auf „dem Gebiete Lost oder Phosgen“151 erzielen zu können. Weiter berichtete er, „das Ganze entwickelte sich immer mit sehr viel Getöse. […] Wir haben auch an 2 oder 3 Fähnrichen experimentiert. Dann haben wir um Ablösung gebe150  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34166 Prozessakte Beger, S. 100 f., Geheimbericht von Hirt zu Lostversuchen. 151  Vernehmungsbericht des Office of U.S. Chief of Councel for War Crimes Nr. 799 vom 12.2.1947.

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ten. Wir […] halten nichts von dieser Sache, Hirt war uns nicht sehr sympathisch.“152 Es ist bemerkenswert, dass Wirth nicht mehr wusste, mit welchem Forschungsvorhaben sich Hirt bei ihm beworben hatte – ob mit Lost oder dem in Wahrheit nicht von Hirt, sondern von Otto Bickenbach153 beforschten Phosgen154 –, er sich jedoch sicher war, dass Hirt unsympathisch war und unter ihm genau jene Forschungsgebiete bearbeitete, aufgrund derer er nach dem Krieg mit internationalem Haftbefehl gesucht wurde. Die Hirt zugeschriebenen Verbrechen waren nach Kriegsende Gegenstand von Zeitungsartikeln, die auch in Kriegsgefangenenlagern verbreitet wurden.155 Insoweit wäre es eigentümlich gewesen, wenn Wirth kurz nach 1945 den Amerikanern gegenüber erklärt hätte, dass Hirt eine großartige Persönlichkeit gewesen sei, die beeindruckende Wissenschaft betrieben habe und die er (Wirth) zutiefst bewundere. Es ist jedoch bemerkenswert, wie freimütig Wirth einräumte, dass unter seiner Leitung Kampfstoffexperimente an Fähnrichen der Wehrmacht durchgeführt wurden. Für das akademische Jahr 1940 wurde Hirt beurlaubt, um in Frankfurt weiter Mediziner auszubilden. Doch schon Anfang 1941 wurde er wieder an die Front kommandiert.156 Am 15.2.1941 erhielt Hirt die briefliche Nachricht des Reichswissenschaftsministeriums, dass er einer der Kandidaten für den Lehrstuhl für Anatomie an der Reichsuniversität Straßburg sei, deren Wieder152  Vgl. Klee, Auschwitz, S. 358. Bei dieser Art von Nachkriegsaussagen ist zu bedenken, dass Hirt seit dem 3.1.1945 als verbrecherischer NS-Arzt international bekannt war. Es dürfte verwunderlich sein, wenn sich jemand nach dem Krieg, insbesondere gegenüber Angehörigen der alliierten Militärverwaltungen und Streitkräfte, eines engen freundschaftlichen Verhältnisses mit Hirt gerühmt und seine berufliche Qualifikation gelobt hätte. 153  Otto Bickenbach (geb. 11.3.1901 Ruppichteroth / Rheinland, gest. 26.11.1971 in Siegburg), 1919 Notabitur, 1920 bis 1923 Freikorps, 1920 bis 1925 Medizinstudium, 1938 bis 1934 Assistenzarzt in München, 1933 NSDAP und SA, 1934 Universität Freiburg, 1934 stellv. Klinikdirektor Universität Heidelberg, 1938 Habilitation, 1939 Beginn der Phosgen-Forschung, 1939 Wehrdienst als Lazarettleiter in Heidelberg, 1941 Direktor der Poliklinik und ao. Prof. in Straßburg, 1947 Auslieferung an Frankreich, 1952 in Metz verurteilt zu lebenslanger Haft, 1954 in 20 Jahre Zwangsarbeit gemindert, 1955 amnestiert, anschließend niedergelassener Internist in Siegburg (u. a. aus BArch R 26 III / 690, verschiedene Lebensläufe Bickenbach). 154  Die Chemikalie Phosgen wurde 1812 von John Davy entdeckt. Es wird durch die Verbindung von Chlorgas mit Kohlenstoffmonoxid erzeugt. Unter dem Namen Grünkreuz wurde es als tödlichstes der Gaskampfmittel des Ersten Weltkrieges eingesetzt. Es gelangt beim Einatmen in die Lungenbläschen, wo es sich langsam zu Kohlenstoffdioxid und Salzsäure zersetzt. Letztere verätzt das Gewebe der Lunge und führt zum Ersticken bei vollem Bewusstsein. 155  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Wolff vom 14.12.1960, S. 78. 156  Drabek, S.  93 f.



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eröffnung für das Jahresende anstand. Er wurde nach einiger Zeit auf den prestigeträchtigen Lehrstuhl zum 1.10.1941157 unter Freistellung vom Wehrdienst berufen.158 Am 21.10.1941 traf Hirt in Straßburg ein, um seine neue Position anzutreten.159 Bis zu diesem Zeitpunkt konnte August Hirt auf eine steile akademische Karriere zurückblicken160. Der Hochschullehrer erhielt im Alter von nur 43 Jahren seinen dritten Ruf und diesen zudem an eine der drei neugegründeten „Reichsuniversitäten“161 des NS-Staates, mit dem eine großzügige Ausstattung des Lehrstuhls, aber auch eine vergleichsweise üppige Besoldung verbunden war.162 Dazu wurde ihm gestattet, seine beiden Assistenten, Anton Kiesselbach163 und Karl Kaspar Wimmer,164 seinen Präparator 157  BArch R 74 IV / 69, Schreiben von Ministerialrat Dr. Klingelhöfer im REM an den Rektor der Universität Straßburg, Schmidt, vom 17.9.1941 mit Nennung von verbindlich berufenen Professoren, darunter Hirt. 158  Benzenhöfer, Mengele, S. 24. 159  USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020, Bericht von Inspektor Robert Mauerhan über Hirt vom 13.1.1949, S. 56. 160  Bei den bisherigen Experimenten war keine Strafbarkeit zu erkennen, da die Fähnriche der Militärärztlichen Akademie sich formal freiwillig meldeten und Hirt nur kommandiert war. 161  Die neu gegründeten Reichsuniversitäten befanden sich von 1939 bis 1944 in Prag sowie 1941–1945 in Posen und 1941–1944 in Straßburg. Straßburg erhielt 100 Planstellen für Professoren. 162  BArch R74 IV / 06, Gehaltsaufstellung der Professoren der Reichsuniversität Straßburg vom 1.12.1944: August Hirt erhielt ein Jahresgehalt in Höhe von 11.600 Reichsmark zzgl. 7.000 Reichsmark Unterrichtsgeldgarantie. Zum Vergleich: Der Dekan der Medizinischen Fakultät, Stein, erhielt nur 1.000 Reichsmark Unterrichtsgeldgarantie bei gleichem Grundgehalt. Der Naturwissenschaftler Carl-Friedrich v. Weizsäcker erhielt 7.200 Reichsmark Jahresgehalt zzgl. 1.000 Reichsmark Unterrichtsgeldgarantie. Hirt zählte damit zu den vier bestbezahlten in Straßburg lehrenden Professoren. Vgl. BArch, R74 IV / 71 Gebührniskarte Hirts für die Zeit vom 1.4.1945 bis 1.7.1945 mit dem Vermerk „Höchstbezüge“. 163  Anton Kiesselbach (geb. 13.6.1907 in Kempenich bei Mayen, gest. 27.7.1984 in Düsseldorf): 1934 Promotion in Zoologie, 1935 Universität Greifswald bei Hirt, 1939 Habilitation und Dozent für Embryologie, 1939 Wechsel mit Hirt nach Frankfurt, 1933 / 34 Eintritt in die SA, 1937 in die NSDAP, 1941 Wehrdienst als Unterarzt in einem Lazarett in Thüringen, zur Jahreswende 1942 / 43 Kommandierung zu Hirt nach Straßburg, wahrscheinlich Versuche an Hoden ermordeter Juden, November 1944 Wehrdienst, bis 1947 Kriegsgefangener, danach Anatomisches Inst. Universität München in Regensburg, 1955 Direktor des Anatomischen Instituts Universität Düsseldorf, 1962 Ordinarius, 1963 Verfahren vor dem Landgericht Düsseldorf wegen möglicher Straftaten bei Hirt, 1965 Einstellung des Verfahrens (u. a. nach: Ebbinghaus, Erschließungsband Ärzteprozeß, S. 111 f., und HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Kiesselbach vom 31.1.1963, S. 382). 164  Karl Kaspar Wimmer (geb. 24.10.1910 in Mainz, gest. 13.10.1946 Internierungslager Rendsburg durch Suizid), letzter Rang: Stabsarzt der Luftwaffe, 1935 Promotion zum Dr. med. in München über „Die beim Samennachschub wirksamen

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Otto Bong165 sowie seine Sekretärin Lieselotte Seepe166 an die Universität Straßburg mitzunehmen. Kiesselbach wurde zwar während des Wechsels im Jahre 1941 zur Wehrmacht eingezogen, konnte aber – wegen eines Nierenleidens vorläufig ausgemustert – bereits zum Jahreswechsel 1941 / 42 Hirt nach Straßburg folgen.167 Hirt war nicht nur einer der am besten bezahlten Professoren der Universität Straßburg – er war zudem einfaches Mitglied der ­NSDAP, ehrenamtliches SS-Mitglied und galt als unbescholten.168 Als Arzt im Kriege war er von dem hochgesteckten Ziel angetrieben, das Leiden künftiger Kampfstoff-Opfer durch Prävention zu mindern. Ebenso verfolgte er seine beiden Forschungsschwerpunkte weiter, die ihm zu Ansehen verholfen hatten: Intravitalmikroskopie und der Einfluss des sympathischen Nervensystems auf die Organe. Doch dann wurde Heinrich Himmler auf die Forschungen des SS-Untersturmführers Hirt aufmerksam, als es galt, das Ahnenerbe auf das Gebiet der Wehrwissenschaft zu expandieren. Hierzu passten nicht nur die Lost-Forschungen Hirts, von denen Himmler zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich noch nichts wusste. Himmler nahm an, dass Hirt die Einführung von Erregern durch Insekten in den menschlichen Organismus mittels Intravitalmi­ kroskopie sichtbar machen könnte, um dann nach Präventionsmaßnahmen zu forschen.169 Der wissenschaftliche Ruf Hirts muss auch bei Himmler und Sievers einen guten Eindruck hinterlassen haben. Denn nur in diesem einen Fall der Anwerbung für das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung hat Sievers nicht wiederholt versucht, den Wissenschaftler hauptberuflich für das Ahnenerbe zu verpflichten, wie dies bei May,170 Rascher, Kräfte“, 1936 Approbation, anschließend Assistent in Greifswald bei Hirt, in gleicher Funktion Wechsel nach Frankfurt, dort Habilitation, 1937 Eintritt in die NSDAP und SA, ab 1942 Lostversuche unter Hirt in Natzweiler, November 1944 Wehrdienst bei der Luftwaffe, Gefangennahme und Suizid. (u. a. nach: Ebbinghaus, Erschließungsband Ärzteprozeß, S. 155 f.). 165  Otto Bong (geb. 1911), Assistent bei Hirt in Frankfurt seit dem 1.10.1938, ab 1.10.1941 in Straßburg, 1944 Gefangennahme, nach dem Kriege Oberpräparator in der Anatomie Mainz. Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Bong vom 10.1.1963, S. 329. 166  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Seepe vom 10.1.1963, S. 323. 167  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Kiesselbach vom 31.1.1963, S. 382. 168  BArch R 74 IV 12a, Gehaltskladde des Kurators der Reichsuniversität Straßburg, S.  21 f. 169  BArch SSO G 120, Schreiben von Sievers an Hirt vom 17.1.1942. 170  Eduard May (1905–1956) promovierte 1929 über Schiffsbohrwürmer, arbeitete über naturphilosophische Themen, wurde 1942 als wehruntauglich ausgemustert und begann daraufhin seine Tätigkeit beim Ahnenerbe als Leiter des Entomologischen



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Plötner,171 Boseck172 und anderen geschah. Es dürfte Himmler und Sievers darüber hinaus klar gewesen sein, dass ein ernst zu nehmender Wissenschaftler kaum einen exzellent ausgestatteten Lehrstuhl verlassen würde, um hauptamtlicher Mitarbeiter bei einem Verein des Leiters einer Gliederung der NSDAP – Heinrich Himmler – zu werden. An der zwei Jahre nach Kriegsausbruch neu eröffneten Reichsuniversität Straßburg waren die Mangelerscheinungen des Krieges deutlich zu spüren. Viele Wissenschaftler befanden sich an der Front und nicht im Hörsaal,173 so dass einige Lehrstühle, wie der für Anthropologie, bis zum Kriegsende unbesetzt blieben.174 Aufgrund der Materialbewirtschaftung gab es Lieferengpässe bei Geräten,175 und in der Anatomie fehlten – wie unten näher zu zeigen sein wird – Leichen zur Ausbildung der Mediziner.176 Diese MangelerscheinunInstituts. Die zeitliche Koinzidenz der Ausmusterung bedarf der Untersuchung auf mögliche Zusammenhänge. Von 1950 an lehrte May Philosophie an der FU Berlin. Reitzenstein, Himmlers Forscher, S. 81 ff. 171  Kurt Plötner (geb. 19.5.1905 in Hermsdorf, gest. 26.2.1984), letzter Rang SSSturmbannführer, 1932 Promotion zum Dr. phil. nat., 1933 Eintritt in die NSDAP, 1934 medizinisches Staatsexamen, anschließend Assistent bei Ludwig Heilmeyer in Jena, 1939 Sanitätsdienst in der Waffen-SS, u. a. in den Lazaretten Dachau und Minsk, ab 1943 Arzt in Dachau mit Forschungsbeihilfe des Ahnenerbes, 1945 Gefangennahme in Lochau, 1946 Flucht aus der Gefangenschaft und unter dem Namen Kurt Schmitt in Schleswig-Holstein lebend, 1952 unter richtigem Namen Assistent Heilmeyers in Freiburg, 1954 apl. Professor (BArch NS 21 / 244, Personalakte Plötner). 172  Karl-Heinz Boseck (geb. 11.12.1915 in Berlin) absolvierte nach Volksschule und höherer Schule sein Abitur und studierte nach Arbeitsdienst und Wehrdienst Mathematik in Berlin. Als erlernten Beruf gab Boseck Mathematiker an, zum Zeitpunkt der Beförderung zum SS-Untersturmführer am 1.10.1944 Diplom-Mathematiker. Reitzenstein, Himmlers Forscher, S. 244 ff. 173  Klee, Auschwitz, S. 362. 174  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, S. 201: Vorlesungsverzeichnis Universität Straßburg Wintersemester 1944 / 45. 175  BArch NS 19 / 1209, Geheimvermerk Sievers vom 26.6.1942: „Infolge Fehlens vieler wichtiger Apparate und unentbehrlicher Einrichtungen kann jedoch noch lange nicht von Vollkommenheit gesprochen werden. Das größte Problem ist die Mitarbeiter-Frage.“ 176  Üblicherweise erhielten Anatomien dieser Zeit ihre Leichen durch amtliche Verfügungen, beispielsweise bei Hingerichteten oder Verstorbenen ohne Angehörige mit der Auflage der Bestattung der Leichenreste nach der Präparation. Hinzu kam die heute noch übliche Variante des Vermächtnisses. Eine aktuelle Information der Medizinischen Fakultät der RWTH Aachen erklärt heute Körperspendern das Verfahren wie folgt: „Was geschieht mit dem Körper in der Anatomie? Der Leichnam wird mittels einer chemischen Konservierung haltbar gemacht. Da für die Konservierung eine etwa halbjährige Vorbereitung benötigt wird und die Präparierkurse mehrere Monate dauern, vergeht in der Regel ein Zeitraum von ein bis zwei Jahren zwischen dem Ableben und der Beisetzung. Bei Vermächtnissen, in denen auf eine Bestattung ver-

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gen konnten auch durch die großzügigen Etats der Universität nicht beseitigt werden. Die Ursache für die Bauverzögerung lag in der Tatsache begründet, dass die Errichtung der Universität, einschließlich Umbau bestehender Gebäude wie der Anatomie, zunächst in der Verantwortung des Chefs der Zivilverwaltung des Elsaß lag. Dann ordnete Hitler an, dass die Universität unmittelbar dem Reichserziehungsministerium (REM) zugeordnet werden ­ sollte. Während der Chef der Zivilverwaltung, Gauleiter Robert Wagner, noch eine Bausumme von 2.829.000 Reichsmark veranschlagt hatte, musste das REM die Planungen nach oben anpassen und erhöhte die Baukosten auf die Summe von 9.668.500 Reichsmark. Zudem hatte das Ministerium eine abweichende Haushaltsplanstruktur und musste auch noch konzeptionelle Änderungen anbringen. Dies führte zu den auch Hirt betreffenden Verzögerungen.177 Wenngleich Hirt die Möglichkeit in Betracht zog, eines Tages seinen vermeintlichen Lost-Schutz durch Vitamin A und Trypaflavin am Menschen auszuprobieren, war er doch Wissenschaftler genug, zunächst die Tierversuche fortzusetzen.178 Dabei erlitten sowohl er selbst als auch drei Mitarbeiter so starke Schäden durch Lost, dass sie stationär behandelt werden mussten.179 Doch bis Mitte 1942 gibt es keine Hinweise, dass Hirt die SS benötigte, um seine bis dahin erfolgreiche Karriere oder seine Lost-Forschungen fortzusetzen. Dies änderte sich erst zum Jahreswechsel 1942 / 43, als Hirt tatsächlich vom Tier- zum Menschenversuch überging, um die Anwendbarkeit seiner bisherigen Forschungsergebnisse auf den Menschen zu beweisen. Nun konnte er nach beinahe einem Jahr das Angebot Himmlers annehmen, an „Gefangenen und mit Berufsverbrechern, die sowieso nicht mehr in Freiheit kommen, und mit den für eine Hinrichtung vorgesehenen Personen Versuche jeder Art anzustellen“.180 Es zeigte sich in den folgenden Jahren, dass Hirt seine grausamen Lost-Experimente ausschließlich an deutschen sogenannten Berufsverbrechern durchführte. Daher ist es auszuschließen, dass Himmler in diesem Schreiben beabsichtigte, Hirt Juden für anatomische Sammlungen zu überlassen. Der Bezug auf die späteren Lost-Experimente ist unzweifelhaft. zichtet wird, verbleiben die Leichname langfristig im Institut. Sie werden entweder später anonym eingeäschert oder dauerhaft in der Skelettsammlung archiviert“ (http: /  / www.moca.rwth-aachen.de / koerperspende.html). Dabei ist jedoch zu beachten, dass nach Auskunft der Aachener Anatomie schon bei Anlieferung der Leichen festgelegt werden musste, ob sie mit einer Konservierungsmethode zur späteren Skelettierung oder zur Präparierung fixiert werden. 177  BArch R 2 / 12471, Schreiben vom Chef des Amtes Wissenschaft im REM, Rudolf Mentzel, an den Reichsminister der Finanzen vom 26.8.1941 bzw. 1.9.1941. 178  BArch NS 19 / 1209, Aktenvermerk Sievers vom 26.6.1942. 179  BArch NS 19 / 1209, Geheimvermerk Sievers vom 26.6.1942. 180  BArch NS 19 / 1582, Schreiben von Brandt an Sievers vom 4.12.1942.



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Mit Beginn dieser Lost-Versuche war Hirt vom Wissenschaftler zum Medizinverbrecher und Mörder geworden. Es ist ungeklärt, ob Hirt davon ausging, die SS auszunutzen, um seinen Ruhm zu mehren, oder ob Himmler davon ausging, einen renommierten Mediziner für seine Forschungsabteilung zu gewinnen. Im Ergebnis führte die Symbiose zur Gründung der Abteilung „H“ im Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung.181 2. Die Gründung und Arbeit der Abteilung „H“ Trotz aller anderslautenden Schutzbehauptungen von Sievers im Nürnberger Prozess kam es zu seiner ersten – zufälligen – Begegnung mit Hirt im Rahmen der Gründungsveranstaltung der Reichsuniversität Straßburg bei einem Empfang des Rektors. Es gibt in den Quellen bis 1945 keinen Hinweis, dass bis zu diesem Empfang irgendein persönlicher Kontakt zwischen Hirt einerseits und Sievers, Wüst oder Himmler andererseits bestand.182 Sievers’ Diensttagebuch erlaubt es, den Hergang des Ablaufs nachzuvollziehen.183 Diese Ereignisse werden unten in der Chronologie (Kapitel IV.) detailliert geschildert. Am 21.11.1941 reisten Ahnenerbe-Kurator Wüst und Reichsgeschäftsführer Sievers zur Wiedereröffnungsfeier der Universität nach Straßburg. Sonntagabends, am 23.11.1941, fand um 19:30 Uhr ein Empfang des Rektors der Universität im Festsaal des Hotels „Rotes Haus“ in Straßburg, Karl-Roos-Platz 11, der heute wieder Place Kléber heißt, statt. Die Speisenfolge des Banketts war für das dritte Kriegsjahr opulent.184 Dieser Empfang ist in vielerlei Hinsicht wichtig für die Beurteilung der Person Sievers’ und seines Handelns im Zusammenhang mit den Aktivitäten des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung in Straßburg. Der Schlüssel liegt dabei im gedruckten Heft mit der Tischordnung. Das für Sievers bestimmte Exemplar ist in seiner Personalakte im Bundesarchiv überliefert185 Es zeigt zweierlei: Die zahlreichen hochrangigen Gäste aus Wissen181  BArch NS 21 / 905, Gründungsbefehl Ahnenerbe vom 7.7.1942, Abschrift durch Wolff vom 27.11.1943. 182  Kater, Ahnenerbe, S. 254: Kater belegt, dass die Legende, Hirt habe 1936 den Schädel König Heinrichs I. in Quedlinburg untersucht, zeitlich nicht zu den Tatsachen passt. 183  NARA T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Einträge vom 21. bis 25.11.1941. 184  BArch VBS286-6400042888, Personalakte Sievers, Tischkarte mit Speisenfolge: „Ochsenschwanzsuppe, Straßburger Gänseleber mit Rostbrot und Butter, Mastgeflügel in Riesling gedämpft, Reis mit Trüffeln, Gemischer Salat, Fürst Pückler-Eis, Waffeln.“ 185  VBS286-6400042889, Heft mit der Tischordnung der Veranstaltung vom 23.11.1941 im Hotel „Rotes Haus“.

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schaft und Politik waren an verschiedenen Haupt- und Nebentischen platziert. Während der Rektor der Universität München und Kurator des Ahnenerbes, Walther Wüst, an einem unbedeutenden Nebentisch mit weniger prominenten Tischnachbarn saß, wurde Sievers an den Tisch A platziert und speiste mit den Hauptpersonen des Empfanges. Unter den Tischgästen am Tische von Sievers waren unter anderem Reichserziehungsminister Bernhard Rust, Reichsstudentenführer Gustav Adolf Scheel, der Kurator der Reichsuniversität und Gaustudentenführer Richard Scherberger, der unweit von Straßburg geborene Leiter der Reichspräsidialkanzlei Staatsminister Otto Meißner, Reichsstatthalter Robert Wagner, SA-Gruppenführer Prinz August-Wilhelm v. Preußen und viele andere prominente Vertreter des Regimes, aber auch zahlreiche Wissenschaftler. Sievers notierte in seinem Diensttagebuch, wen er bei dem Empfang sprach, darunter den SS-Sturmbannführer Ernst Turowski aus der Abteilung III C 1 (Wissenschaft) des RSHA. Dabei scheint auf den ersten Blick – beispielsweise wie bei SS-Sturmbannführer Dr. Otto Rößler – unklar, aus welchem Grunde Sievers ausgerechnet diese Gäste ansprach und deren Namen in das für Himmler bestimmte Diensttagebuch notierte.186 Die Erklärung ist einfach: Sie saßen an seinem Tisch. Daher könnte es auch Zufall sein, dass Sievers SS-Untersturmführer Professor Dr. Hirt in seinem Tagebuch vermerkte, denn auch Hirt saß an demselben Tisch wie Sievers. Allerdings weist das Sitzordnungsheft Markierungen auf. Während Rößler und Turowski nicht markiert sind, ist dies für Sievers, aber auch für die Namen von August Hirt und Otto Bickenbach sowie weitere Anwesende der Fall. Es besteht die Möglichkeit, dass Sievers während der Veranstaltung markierte, mit wem er gesprochen hatte. Da Rößler und Turowski nicht markiert sind, ist es wahrscheinlicher, dass Sievers ganz gezielt auf Medizinprofessoren zugehen wollte und die Markierungen bereits vor der Veranstaltung vornahm. Am Folgetag, aber auch am übernächsten des 25.11.1941 hatte Sievers ununterbrochen Besprechungen, die vorletzte bis 23 Uhr mit Wüst. Erst danach ermöglichte er Hirt einen ersten Termin unter vier Augen, der bis ein Uhr in der Nacht dauerte. Dabei sprachen beide über Hirts Forschungen, aber auch über weitere attraktive neue Forschungsfelder, wie die kernphysikalischen Arbeiten des Geographen Professor Dr. Georg Niemeier, zu denen Hirt Sievers bereits erste Unterlagen zur Weiterleitung an Himmler mitgebracht hatte187. „Niemeier wurde Dekan der einflußreichen Naturwissen186  NARA T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Einträge vom 21. bis 25.11.1941. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass einige der markierten Gäste Sievers bereits zuvor bekannt waren, da er beispielsweise mit der Abteilung III C 1 (Wissenschaft) im RSHA ohnehin in laufendem Austausch stand. 187  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34168 Prozessakte Beger, S. 81 f.



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schaftlichen Straßburger Fakultät, die sich als eine ‚biologische Arbeitsgemeinschaft‘ verstand und die Schwerpunkte Vererbungslehre und Rassenkunde auf allen naturwissenschaftlichen Gebieten in den Vordergrund stellen sollte.“188 Die Bedeutung der Kernforschungsgedanken Niemeiers, die Hirt Sievers zu vermitteln trachtete, betont Horst Kant: „Der Dekan der Naturwissenschaftlichen Fakultät, der Geograph Georg Niemeier (1903–1984), ging in seinem Beitrag zur Universitätseröffnung insbesondere auf die Bedeutung der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung für die Wehrforschung ein. […] Bezüglich der Physik führte er aus: ‚…soll zum Schluß nur kurz auf einen Ausschnitt verwiesen werden, der vielleicht erst nach dem Kriege sich praktisch auswirken wird: auf die Kernphysik. … Der Vorgang der Kernumwandlungsenergie ist zuerst in Deutschland gefunden worden; insbesondere ist seit etwa 2 Jahren ein spezieller Umwandlungsprozeß bekannt geworden, der in der Form einer Kettenreaktion eine technische Energiegewinnung theoretisch in den Bereich des Möglichen gerückt hat. … Entscheidend ist, daß die hier in Frage kommenden kernphysikalischen Energieumsetzungen bei gleichen Substanzmengen rund eine Million Mal größer sind als bei chemischen Prozessen! … Eine noch so große Phantasie reicht wohl kaum aus, um sich die vielfältigen Möglichkeiten im Krieg und im Frieden auszumalen, welche die völlige Beherrschung solcher Energiegewinnungsmethoden bedeuten würde.‘ “189 In Sievers’ Schreiben vom 3.1.1942 an Hirt, indem er ihn mit vielen Versprechungen für das Ahnenerbe zu gewinnen versuchte, wies Sievers ausdrücklich darauf hin, dass er sich um dieses Anliegen Hirts in Sachen Niemeier gekümmert habe.190 Dies spricht dafür, dass Hirt selbst zu diesem Zeitpunkt kein konkretes Anliegen gegenüber der SS oder dem Ahnenerbe hatte. Denn dann hätte er eigene Vorschläge, Denkschriften und Anträge besprochen, aber nicht diejenigen von Kollegen anderer Fachrichtungen. Aus der nachfolgenden Korrespondenz und dem weiteren Verlauf ist nachvollziehbar, dass Sievers versuchte, Hirt zur Mitarbeit am Entomologischen Institut des Ahnenerbes, das kurz vor seiner Gründung stand, zu gewinnen. Die Tatsache, dass mögliche Humanversuche mit Lost an Häftlingen der SS ebenso wenig besprochen wurden wie die Gewinnung der dringend von Hirt für die medizinische Ausbildung 188  Hausmann, Frank-Rutger: Rezension zu Thamer / Droste / Happ (Hrsg.): Die Universität Münster im Nationalsozialismus, in: Informationsmittel (IFB). Digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und Wissenschaft, URL: http: /  / ifb.bsz-bw.de / bsz373431562rez-1.pdf, abgerufen am 5.9.2017. 189  Kant, Horst: Zur Geschichte der Physik an der Reichsuniversität Straßburg in der Zeit des Zweiten Weltkrieges, Max-Planck-Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 1993. http: /  / www.mpiwg-berlin.mpg.de / Preprints / P73.PDF, abgerufen am 5.8.2017. 190  BArch SSO 101 A Personalakte Hirt, Schreiben von Sievers an Hirt vom 3.1.1942.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

benötigten Leichen für die Anatomie durch die SS, legt den Schluss nahe, dass Hirt die Möglichkeiten, die Sievers zur Verfügung standen, noch nicht einschätzen konnte. Ebenso wird deutlich, dass der Anatomieprofessor Hirt in einem derart frühen Stadium des Kennenlernens bei einem ihm von Person und Dienststellung Fremden kaum den Antrag auf eine Morderlaubnis für den Aufbau einer Schädelsammlung gestellt haben dürfte. Die Fremdheit zwischen beiden Personen wird auch dadurch belegt, dass Sievers in der – unten gezeigten – ersten Kommunikation zwischen ihm und Hirt dessen Namen falsch schrieb. Am nächsten Morgen reiste Sievers ab.191 Sievers berichtete Himmler von dieser Begegnung. Da­raufhin forderte dessen Persönlicher Referent Brandt am 29.12.1941 von Sievers einen Bericht an, in dem Hirt seine Forschungen erläutern solle:192 „Bezüglich der von SS-Untersturmführer Prof. Hirt gemachten Forschungen bittet Sie der Reichsführer-SS Prof. H. zu veranlassen, ihm sofort einen eingehenden Bericht zur Verfügung zu stellen, der dann allenfalls auch die Grundlage für eine Rücksprache sein könnte. Der Reichsführer-SS würde dem SS-Untersturmführer Prof. H. die Möglichkeit geben, mit Gefangenen und mit Berufsverbrechern, die sowieso nicht mehr in Freiheit können und mit den für eine Hinrichtung vorgesehenen Personen Versuche jeder Art anzustellen, die seine Forschungen fördern könnten.“193

Auf diesem Schreiben zeichnete Walther Wüst seine Kenntnisnahme ab.194 Offenbar war dieses neue Feld der Humanversuche auch für Sievers so brisant, dass er sich beim wissenschaftlichen Leiter des Ahnenerbes absichern wollte. Nach Aussage von Wüst stammte der handschriftliche Vermerk „geheim“ auf dem Schreiben von Himmler.195 Sievers hatte Hirt zwischenzeitlich zum Julfest, der von der SS propagierten Alternative zum Weihnachtsfest, gratuliert. Hierfür bedankte sich Hirt am 1.1.1942 und teilte mit, dass er kurz nach der Einweihung der Reichsuniversität an einer Lungenblutung erkrankt sei und hoffe, bald seine Tätigkeit wieder aufnehmen zu können.196 Am 3.1.1942 antwortete Sievers („Lieber Kamerad Hirth“ [sic!]) mit der Anforderung des von Himmler gewünschten Forschungsberichtes.197 Am Samstag, den 17.1.1942, schrieb Sievers erneut an Hirt und forderte ihn auf diesem Wege noch einmal zur Mitarbeit bei der „Erforschung und Bekämp191  BArch

NS 21 / 127 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 26.11.1941. Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34168 Prozessakte Beger, S. 8 f. 193  Ebd., S.  8 f. 194  Ebd., Aussage Wolff vom 14.12.1960, S. 78. 195  Ebd., Aussage Wüst vom 21.4.1961, S. 102. 196  BArch NS 21 / 50 Personalakte Hirt, Schreiben von Hirt an Sievers vom 1.1.1942. 197  BArch SSO G 120 Personalakte Hirt, Schreiben von Sievers an Hirt vom 3.1.1942. 192  HStA



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fung der auf den Menschen einwirkenden Insekten“ auf.198 Am Dienstag den 20.1.1942 schrieb Hirt zurück und fügte einen vorläufigen Bericht über seine reguläre Arbeit – ohne die Lost-Forschungen – bei. Zudem beklagte er, noch immer erkrankt zu sein, aber auch, dass der bauliche Zustand seines Institutes einen regulären Betrieb dort noch nicht zulasse.199 Doch erst nachdem dieser Brief verschickt worden war, traf offenbar der von Sievers am 17.1.1942 abgesendete Brief mit der Aufforderung zur Mitarbeit im Entomologischen Institut bei Hirt ein.200 Dieses Ansinnen beantwortete Hirt am 20.1.1942 mit dem zweiten Brief an Sievers an diesem Tage.201 Dabei machte er deutlich, dass er eigentlich zur Mitarbeit am Entomologischen Institut ungeeignet sei, weil er nicht glaube, „auf diesem Gebiet Nutzbringendes zu leisten“. Stattdessen benannte Hirt andere Wissenschaftler, die er für geeigneter hielt. Um diese brüske Absage zu mildern, stellte Hirt die vage Möglichkeit in Aussicht, dass seine Intravitalmikroskopie bei Nachverfolgung der Übertragungswege nach Insektenstichen in den Dienst der Sache gestellt werden könnte. Dieses Angebot war jedoch nur eine Floskel, da es bis auf weiteres nicht umsetzbar war, wie Hirt im nächsten Absatz einräumte – wegen des Mangels an Laboreinrichtungen und Mitarbeitern. Daher könne diese Unterstützung noch sehr lange auf sich warten lassen. Doch dann folgte ein Hinweis auf den Gesprächsinhalt bei dem Treffen in Straßburg am 25.11.1941. Offenbar hatte Sievers Hirt dort schon gefragt, ob er als Leiter des Entomologischen Instituts zur Verfügung stehe. Doch Hirt reagierte in seinem Brief nun wie vor ihm schon Peters und Mühlens: Er bedauerte, „dass ich Ihnen keine bessere Auskunft geben kann und somit ein weiterer Versager auf ihrer bisherigen Suche bin“.202 Am 9.2.1942 schrieb Sievers an Brandt, dass der Geheimbericht über die aktuellen Forschungsvorhaben Hirts nicht früher übersendet werden konnte, da Hirt mit Lungenbluten und Kreislaufschwäche im Krankenhaus liege. Die Diagnose laute Zystenlungen, „wenigstens keine Tuberkulose“.203 Da der Forschungsbericht Hirts vom 20.1.1942 seit bereits drei Wochen bei Sievers vorlag, deutet die offenkundige Lüge, dass die Übersendung an Himmler sich wegen einer Erkrankung Hirts verzögert hat, auf den Umstand hin, dass 198  Ebd.,

Schreiben von Sievers an Hirt vom 17.1.1942. NS 21 / 904, 1. Schreiben von Hirt an Sievers vom 20.1.1942; vgl. BArch SSO G 120 Personalakte Hirt, 2. Schreiben von Hirt an Sievers vom 20.1.1942. 200  BArch NS 21 / 904, 1. Schreiben von Hirt an Sievers vom 20.1.1942: vgl. BArch SSO G 120 Personalakte Hirt, 2. Schreiben von Hirt an Sievers vom 20.1. 1942. 201  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34168 Prozessakte Beger, S. 86 f. 202  Ebd. 203  BArch NS 21 / 904, Schreiben von Sievers an Brandt vom 9.2.1942. 199  BArch

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

es andere Gründe gab, warum Sievers das Verschicken des Geheimberichts hinauszögerte. Dies wird im weiteren Verlauf der Ereignisschilderung noch ein sehr wichtiges Detail sein. Dem Schreiben vom 9.2.1942 fügte Sievers jenen Forschungsbericht bei, den Hirt ihm bereits am 20.1.1942 übersendet hatte. Dieses zentrale Ereignis für die Beurteilung des untersuchten Verbrechens wird in der Chronologie unten ausführlich dargestellt. Jedoch ist zunächst festzuhalten, dass der eindeutig Hirt zuzuschreibende und von ihm unterschriebene Forschungsbericht nur dessen Forschungen im Bereich des sympathischen Nervensystems und der Mikroskopie beschrieb, nicht jedoch die als geheim qualifizierten Lost-Forschungen. Am 13.2.1942 beantragte Sievers beim SS-Oberabschnitt Fulda-Werra, dem Hirt noch angehörte, dessen Versetzung in den Persönlichen Stab und ins Ahnenerbe.204 Kurz darauf teilte Sievers Hirt mit, dass dieser ab dem 1.3.1942 als Angehöriger des Persönlichen Stabes Reichsführer-SS geführt werde.205 Am 25.3.1942 schrieb Brandt an Sievers: „Der Reichsführer-SS hat die beiden Abhandlungen des Professors Hirt über die ‚Intravitalmikroskopie im Lumineszenzlicht‘ und über die ‚Lumineszenzmikroskopie und ihre Bedeutung für die medizinische Forschung‘ durchgelesen. Er hält diese Dinge für so wichtig, dass er die Forschungen des Professors Hirt weitgehend unterstützen will. Er wünscht vor allen Dingen auch, dass diese Forschungen bei der Insektenbekämpfung weitgehend eingesetzt werden, insbesondere bei der Erforschung, wie sich Insektenstiche im Gewebe auswirken.“206

Das Schreiben zeigt, dass Himmler Hirt nach wie vor für das von ihm bevorzugte Forschungsgebiet an das Ahnenerbe gewinnen und binden wollte – der Insektenbekämpfung. Bemerkenswert ist, dass Brandt nur auf die „beiden“ Berichte zu den zwei von Hirt bearbeiteten Forschungsfeldern Bezug nahm – und sich in keiner Weise zur Schädelsammlungs-Denkschrift äußerte. Der nächste wesentliche Quellenfund ist ein Dankschreiben Hirts an Sievers vom 7.4.1942, „dass kurz vor Ostern 2 Kistchen mit je 4 kg Apfelsinen aus Italien kamen, in einem waren auch noch einige Äpfel“. Hirt fragte weiter, an wen er die Lieferung der im dritten Kriegsjahr beinahe unmöglich zu beschaffenden Südfrüchte bezahlen dürfe. Am 20.6.1942 wies Sievers seine Kasse an, die hierfür ausgegebenen 300 italienischen Lire als Geschenk an Hirt zu verbuchen.207 Kurz darauf sagte er Hirt zu, sich um die Beschaf204  BArch SSO 101 A Personalakte Hirt, Schreiben vom Ahnenerbe an den Oberabschnitt Fulda-Werra vom 13.2.1942. 205  BArch NS 21 / 50, Schreiben von Sievers an Hirt vom 12.5.1942. 206  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34166 Prozessakte Beger, S. 96, Schreiben von Brandt an Sievers vom 25.3.1942, Hervorhebung durch den Verfasser. 207  BArch NS 21 / 50 Personalakte Hirt: Am 20.6.1942 fertigte Sievers für die Kasse des Ahnenerbes einen Vermerk an, dass Himmler für den Einkauf der Früchte



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fung eines Feigenbaums und eines Oleanders zu kümmern.208 Schon zwei Tage nach dem Dankschreiben für das Obst, am 9.4.1942, kündigte Hirt Sievers brieflich an, dass er bald gesundheitlich in der Lage sei, den weiteren von Himmler angeforderten Bericht zu seinen Lost-Forschungen in Form eines Geheimberichtes abzureichen. Hirt fügte versöhnlich an: „Zur Mitarbeit bei der Insektenbekämpfung in dem besprochenen Umfange bin ich gerne bereit; das Wie und Wo könnten wir hier näher erläutern.“209 Es ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass Hirt erstmals zum 1.11.1942 seine monatliche Forschungsbeihilfe vom Ahnenerbe bezog und bis dahin keinerlei verbindliche Zusagen besaß, auch nicht für die später gewährten Mittel zur Bezahlung von zehn Mitarbeitern210 und für das Sachmittelbudget.211 Daher wäre es nachvollziehbar, dass Hirt nicht jede – auch eine fachlich wenig fruchtbare – Zusammenarbeit mit Blick auf die von Sievers versprochenen Forschungsmittel brüsk ablehnte, auch wenn er gewusst haben dürfte, dass er als Anatom nur wenig bis überhaupt nicht in dem von Himmler und Sievers erwarteten Maß zur Bekämpfung von durch Insekten übertragenen Krankheiten beitragen konnte. Am 9.4.1942 teilte Sievers Hirt mit, dass er während der Ostertage bei Himmler gewesen und das Entomologische Institut mittlerweile von diesem genehmigt sei. Er ergänzte auch noch einmal, dass Himmler auf den Forschungsbericht über Hirts Lost-Versuche warte, der dem ersten kurzen Forschungsbericht Hirts zur Mikroskopie- und Sympathikus-Forschung nicht beigefügt war. Er lud Hirt, sofern es diesem gesundheitlich möglich sei, nach Dachau ein, um Raschers Versuche zu beobachten. Ebenfalls avisierte Sievers die Beförderung Hirts vom Untersturmführer um zwei Ränge zum Hauptsturmführer.212 Sievers plante, Ende Mai 1942 nach Straßburg zu reisen, um die Zusammenarbeit mit Hirt persönlich zu besprechen. Ein Telegramm Hirts vom 25.5.1942 sorgte für eine Verschiebung der Reisepläne, da Hirt vom 26. bis 30.5.1942 im Dozentenlager sei.213 Nach Eintref-

in Italien 300 Lire freigegeben habe und die Früchte als Geschenk verbucht werden sollen, da Hirt an „Lungenblutung – Zystenlungen – auf den Tod darnieder“ lag. 208  BArch NS 21 / 50, Schreiben von Sievers an Hirt vom 10.7.1943. 209  BArch NS 21 / 904, Schreiben von Hirt an Sievers vom 9.4.1942. 210  HStA Wiesbaden Abt. 461 Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 54. 211  BArch SSO 101 A Personalakte Hirt, Schreiben von Sievers an die Verwaltung Ahnenerbe vom 29.10.1942; vgl. Schmaltz, Kampfstoff-Forschung, S. 530. 212  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34166 Prozessakte Beger, S. 47 f.; vgl. BArch R 26 III / 729: Vermerke von Sievers vom 8.9.1942 und vom 11.9.1942. 213  BArch NS 21 / 50, Telegramm von Hirt an Sievers vom 25.5.1942. Vgl. zum Dozentenlager: Thiel, Jens: Der Dozent zieht in den Krieg. Hochschulkarrieren zwischen Militarisierung und Kriegserlebnis (1933–1945), in: Berg, Matthias: Mit Feder und Schwert: Militär und Wissenschaft – Wissenschaftler und Krieg. Stuttgart 2009, S. 211–240.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

fen des Berichtes zur Lost-Forschung am 2.6.1942 leitete Sievers diesen an Brandt weiter. Dabei informierte er Brandt, dass er sich bei Hirt für den 16.6.1942 in Straßburg angemeldet habe.214 Als Sievers in Straßburg eintraf, befand sich die Anatomie – mehr als ein halbes Jahr nach Universitätseröffnung – immer noch im Stadium des Aufbaus. Zunächst wurde Hirts Arbeitsplan zu Lostversuchen besprochen, aber auch dessen Verfahrensidee zur Rettung von Fliegern in Seenot. Wieder ging es auch um Hirts Mitarbeit im Entomologischen Institut, wobei Sievers abermals mit seiner Unterstützung bei der Beschaffung von Personal und Geräten lockte. In seinem Diensttagebuch schloss Sievers die Aufzählung der Besprechungspunkte mit der Bemerkung bezüglich der Lost-Forschungen, dass die „Durchführung der Menschenversuche, die letzthin ausschlaggebend sind, da Tierversuche nur vorbereitend sein können“, bald beginnen soll. Die gesamte Besprechung hatte ein zentrales Thema, wie Sievers im Tagebuch vermerkte: „Engere Bindung an ‚Ahnenerbe‘, gegebenenfalls Gründung eines Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung“.215 Es kann nun in diesen Tagebucheintrag hineininterpretiert werden, dass Hirt die Anregung gab, ein Institut für wehrwissenschaft­ liche Zweckforschung zu gründen. Dem könnte entgegengehalten werden, dass das Vorhaben für Sievers einfacher durchzusetzen gewesen wäre, wenn Sievers in sein Diensttagebuch, das Himmler sich regelmäßig vorlegen ließ,216 notiert hätte, dass der Vorschlag von dem angesehenen und von Himmler offenbar respektierten Hirt kam. So hätte Sievers seine Machtbasis durch die Gründung des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung vergrößern können, ohne als Untergebener Himmlers dazu sonderlich viele Anstrengungen unternehmen zu müssen. Wer letztendlich den entscheidenden Vorschlag zur Gründung des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung machte, muss demnach offen bleiben. Sievers reiste mit der Idee eines Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung zurück zur Ahnenerbe-Zentrale nach Berlin-Dahlem. Dort legte er den bereits zitierten Geheimvermerk vom 26.6.1942 nieder217. In dessen Fazit heißt es: 214  HStA

Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34166 Prozessakte Beger, S. 49. T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 17.6.1942. 216  IfZ MA 1406 Diensttagebuch Sievers, Sonderblatt: Kopie eines Schreibens von Sievers an Sturmbannführer Baumert – dem späteren Nachfolger von Himmlers Stabsführer Ullmann – im Persönlichen Stab vom 1.7.1943: „Befehlsgemäß wird das vom Unterzeichneten geführte Tagebuch des Amtes ‚Ahnenerbe‘ für die Zeit vom 1.1. – 30.6.1943 zur Vorlage gebracht. Um Rückgabe nach Einsichtnahme wird gebeten.“ Vgl. NARA T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 5.4.1941: Sievers notierte, dass er Ullmann das Diensttagebuch vorgelegt hatte. 217  BArch NS 19 / 1209, Geheimvermerk von Sievers vom 26.6.1942. 215  NARA



V. August Hirt77 „Um diese und ähnliche (Insekten- und Rattenbekämpfung, Rascher’s Versuche) sich sicher auch noch ergebenden Forschungen im ‚Ahnenerbe‘ einheitlich zusammen zu fassen und dadurch die organisatorisch-technische Durchführung zu erleichtern, schlage ich vor: Die Begründung eines Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung im ‚Ahnenerbe‘. Berufung von SS-Hauptsturmführer Prof. Dr. Hirt zum tätigen Mitglied und seine Ernennung zum Leiter der Abteilung H (Hirt) im Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung. Die Arbeiten von Rascher würden hier auch gut unterzubringen sein, sodass man ihn zum Leiter der Abteilung R (Rascher) ernennen könnte. Für ein solches den Zwecken der Truppe in erster Linie dienendes Institut wäre z. B. die notwendige Beschaffung leichter zu begründen und verständlicher, als wenn sie unter dem Namen des Ahnenerbe allein angefordert werden.“

Mit diesem Geheimvermerk war die Gründung des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung im Ahnenerbe von dessen Reichsgeschäftsführer vorbereitet worden. Diesen Vermerk sandte Sievers am 29.6.1942 an Brandt und fügte gleich einen vorformulierten Gründungsbefehl für ein Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung für Himmler bei.218 In dem Geheimvermerk sind alle zu dieser Zeit denkbaren Forschungsfelder für ein Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung festgehalten. Jedoch finden sich darin keine Hinweise auf anthropologische Forschungen oder gar auf das Vorhaben einer Schädel- oder Skelettsammlung. Vielmehr wird die Institutsneugründung nur in Relation zu den potentiell tödlichen Versuchen Raschers im Bereich der Luftfahrtforschung und denjenigen von Hirt im Bereich der Lost-Forschung gebracht. Im Übrigen wäre die wehrwissenschaftliche Bedeutung von Schädelsammlungen auch wenig nachvollziehbar gewesen. Ebenso wenig finden sich in dem Geheimvermerk, dem Gründungsbefehl oder anderen Quellen Belege, dass Wolfram Sievers zum Direktor des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung berufen wurde. Faktisch übte er eine solche Position aus, doch tatsächlich war Sievers nie in eine solche Stellung berufen oder ihm der Titel zugebilligt worden. Dies ist für die Beurteilung des Verbrechens der Schädelsammlung selbst nur bedingt relevant, jedoch sehr wichtig bei der Differenzierung zwischen Tatsachen und Annahmen, wenn es um die Beurteilung geht. Allerdings zeigt dieser Punkt deutlich, wie in der Sekundärliteratur Tatsachen dargestellt werden, um ein bestimmtes Ergebnis präsentieren zu können. Bis in die jüngste Zeit wird von einer „Ernennung“ Sievers’ zum Direktor des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung gesprochen, ohne zu belegen, wann wer auf 218  Ebd.,

Schreiben von Sievers an Brandt vom 29.6.1942.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

welchem Wege Sievers ernannt habe, oder einen Vertrag, Befehl oder gar eine Vergütung zu benennen.219 Himmler entsprach dem Wunsch von Sievers und akzeptierte den vorformulierten Gründungsbefehl: Am 7.7.1942 gab der Reichsführer-SS sein offizielles Einverständnis zur Gründung des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung mittels dieses Befehls.220 Durch den Begleitbrief vom 13.7.1942 konnte auch Hirt Himmlers Macht und Einflussmöglichkeiten erstmals in voller Gänze spüren, denn dessen Persönlicher Referent, Rudolf Brandt, schrieb: „Die Schwierigkeiten hinsichtlich der Tierversuche können in dem Augenblick als behoben gelten, in dem Hiert [sic!] sich entschliesst, diese Versuche in dem nächstliegenden Konzentrationslager Natzweiler durchzuführen. Ich werde an Glücks221 entsprechend schreiben, dass dem SS-Hauptsturmführer Hirt für seine Versuche sowohl an Häftlingen als auch Tieren weitestgehende Unterstützung zu gewähren ist […] Mit SS-Standartenführer Kloth können Sie zweckmäßigerweise einmal sprechen, damit Kloth Ihnen die entsprechenden Dringlichkeitsbescheinigungen für die Fluoreszenzmikroskope und auch für den Bau des von Hirt konstruierten Mi­ kroskopes beschafft.“222

Bei Richard Glücks handelte es sich um den Leiter der Amtsgruppe D im Wirt­schaftsverwaltungshauptamt;223 er war somit zuständig für das ihm unterstellte Konzentrationslagerwesen. Albert Kloth224 war Leiter des RohWojak, Die „jüdische Skelettsammlung“, S. 104. NS 21 / 905, Gründungsbefehl Ahnenerbe vom 7.7.1942, Abschrift Wolff vom 27.11.1943. 221  Richard Glücks (geb. 22.4.1889 in Odenkirchen bei Mönchengladbach, gest. 10.5.1945 in Flensburg-Mürwik durch Suizid), letzter Rang: SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS. Kaufmännische Lehre, Weltkriegsteilnehmer, zuletzt Oberleutnant, bis 1931 bei der Reichswehr, 1930 Eintritt NSDAP, 1932 SS (Nr. 58.706), 1935 Standartenführer, 1936 SS-FHA im Stab des Inspekteurs der Konzentrationslager Theodor Eicke, 1939 dessen Nachfolger als IdKL, in dieser Funktion bis Kriegsende. 222  BArch NS 19 / 1209, Schreiben von Brandt an Sievers vom 13.7.1942. 223  BArch NS 3 / 555, Befehl von Himmler vom 1.2.1942: „Mit Wirkung vom 31.01.(!)1942 werden folgende Dienststellen aufgelöst: 1.) Hauptamt Haushalt und Bauten 2.) Hauptamt Verwaltung und Wirtschaft 3.) Verwaltungsamt SS. Diese Aufgaben der Dienststellen zu 1.) – 3.) übernimmt ab 01. Februar 1942 das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt (SS-W.-V. Hauptamt).“ 224  Albert Kloth (geb. 3.1.1905 in Westendorf bei Arnsberg), letzter Rang SSStandartenführer. Jurist, Eintritt in die NSDAP (Nr. 1.246.441), 1931 Eintritt in die SS (Nr. 34.424), Mai 1933 Eintritt in die Leibstandarte als Verwalter im Bereich Verpflegung bis 1934, Wechsel ins RuSHA, Abteilungsleiter und Fürsorgereferent, dort 1936 Hauptsturmführer, später Leiter des Rohstoffamtes im Persönlichen Stab RFSS, dort seit 1942 Standartenführer und parallel seit 1942 aktiver Standartenführer der Waffen-SS und Hauptabteilungsleiter des Stabshauptamtes des Reichskommissars für die Festigung des Deutschen Volkstums, 1945 Heirat mit Christa Kipp (BArch SSO 219  So

220  BArch



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stoffamtes im Hauptamt Persönlicher Stab Reichsführer-SS.225 Dieses Schreiben dokumentiert den ersten Schritt der Zusammenarbeit zwischen ­ Hirt und dem Ahnenerbe. Es ist bemerkenswert, dass Brandt in diesem Schreiben sehr deutlich machen wollte, dass Hirt alles erhalten solle, was er sich wünscht: Versuchstiere, Mikroskope, Rohstoffe, Bezugsscheine und Menschen – aber der Brief enthält keinen Hinweis auf Schädel oder Skelette. Zwar wurde Hirt gestattet, Menschen mit Lostversuchen zu ermorden – eine Morderlaubnis zum Aufbau einer Schädelsammlung fehlt jedoch, ebenso wie der Gedanke, die Skelette der mit Lost ermordeten Opfer Hirts zu präparieren. Am 18.7.1942 schrieb Brandt an Glücks, teilte Himmlers „Blanko“-Befehl für Hirt mit und ersuchte ihn, den Kommandanten des Konzentrationslagers Natzweiler anzuweisen, Hirt dort Experimente an Tieren und Menschen zu ermöglichen.226 Die Einbindung Hirts in das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung war nicht so einfach umzusetzen, wie Sievers zunächst angenommen hatte. Denn Hirt hatte als Beamter den Genehmigungsvorbehalt der Universitätsleitung zu beachten. Nachdem Sievers Hirt am 3.8.1942 informierte, dass Himmler sein Einverständnis zur Gründung des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung gegeben hatte, schrieb Hirt am 10.10.1942 zurück und gab damit zugleich ein einzigartiges Selbstzeugnis, das anschaulich über sein Selbstbild und seine Vorstellungen vom Wirken seiner Anatomie und von der Zusammenarbeit mit dem Ahnenerbe berichtet: „Lieber Kamerad Sievers! Schönen Dank für Ihr Schreiben mit der guten Nachricht! Ihren ‚Vermerk‘ gebe ich in der Anlage wieder zurück. Im grossen ganzen bin ich damit einverstanden. Bei einigen Punkten sind wenige, kleine und nicht bedeutende Mißverständnisse, über die wir uns ja dann noch mündlich unterhalten können. Mit Ihrem Brief hat sich ja nun mein letztes Schreiben gleichzeitig beantwortet. Ich bin auch der Ansicht, dass wir uns wegen verschiedener Einzelheiten nochmals besprechen, und stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung. Vor allem ist nochmals die Frage des Institutes zu klären, da, wie ich jetzt erfahren habe, unser Rektor nicht damit einverstanden ist, dass von irgendeiner Seite – sei 182 A). Um in Bezug auf Rohstofffragen aktiv zu werden, gründete Himmler 1942 die Rohstoffbeschaffungsstelle beim RFSS, die Kloth leitete. Dieser sollte über die SS-eigenen Deutschen Erd- und Steinwerke GmbH Baumaterial, durch die Kooperation mit den Hermann-Göring-Werken Metall und durch eigenen Holzabbau im Osten Holz beschaffen, damit die SS auf eigene Rohstoffquellen zurückgreifen konnte und weniger auf Kontingentierung durch andere Stellen angewiesen war. Angestrebt wurde, 80 Prozent aller SS-eigenen Bauten aus eigenen Ressourcen zu bestreiten (Fings, SS-Baubrigaden, S. 37 f.). 225  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34169 Prozessakte Beger, S. 288. 226  BArch NS 19 / 1209, Schreiben von Brandt an Glücks vom 18.7.1942.

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es Wehrmacht, sei es Ahnenerbe – ein Institut im Rahmen des Universitätskomplexes gegründet wird. Er wendet allerdings nichts dagegen ein, dass wir weitgehend für Wehrforschungen zur Verfügung stehen. Wir müssen also unbedingt über die Angelegenheit mit dem Rektor verhandeln; ich glaube aber nicht, dass bei der von uns geplanten Form von seiner Seite irgendwelche Einwendungen entstehen, da ja damit meine Selbständigkeit als Leiter meines Institutes nicht berührt wird. Zu dem Wunsch des RF-SS, daß meine Vorlesungsstunden vermindert werden sollen, muss ich bemerken, daß das unmöglich ist. Ich bin ja schliesslich hier als Direktor des Anatomischen Institutes hauptamtlich tätig und muss dementsprechend selbstverständlich meinen Vorlesungsverpflichtungen nachkommen, zumal die Einnahmen aus den Vorlesungen einen wesentlichen Teil meines Einkommens darstellen. Ich kann und will darauf natürlich auch nicht verzichten, vor allem weil ich gesteigerten Wert darauf lege, dass die Studenten der Wehrmacht hier einen anständigen Unterricht erhalten. Meine jungen Mitarbeiter sind noch nicht soweit entwickelt, daß sie große Kollegs halten können. (Bei dieser Gelegenheit möchte ich einflechten, dass Unterarzt Dr. Kiesselbach Dozent ist. Er und Dr. Wimmer sind gleichgestellte Prosektoren. Dies nur zu Ihrer Orientierung, weil es in Ihrem ­Schreiben so klang, als sei Kiesselbach am Institut Unterarzt, er ist nur militärisch Unterarzt.) An die Firma Zeiss in Jena habe ich wegen der Geräte nochmals geschrieben, da ich gerade vor ein paar Tage eine Aufstellung von dem, was sie noch liefern kann, erhielt. Darunter sind leider die Fluoreszenzmikroskope für Vitalmikroskopie nicht enthalten. Die Bestellnummern, unter denen die Geräte laufen, lege ich bei. Es wäre mir sehr recht, wenn Sie beim Reichsforschungsrat in Berlin vorstellung [sic!] werden könnten und dort mitteilen würden, dass ich zur Durchführung der wehrwissenschaftlichen Aufgaben die Einrichtungen unbedingt benötige. So würden wir die Lieferung sicher doch noch durchsetzen. Ich habe jetzt 2 Angehörige der Wehrmacht (Doktoranden) an meinem Gerät arbeiten lassen mit dem Erfolg, dass es in einem unbewachten Augenblick in die Binsen ging. Jetzt warte ich auf Ersatzteile. Von der geglückten Versetzung Dr.Kiesselbach’s nach Straßburg habe ich Ihnen bereits berichtet. Er ist aber den ganzen Vormittag als Truppenarzt eingesetzt und steht mir somit nur halbtägig zur Verfügung. Das ist während der vorlesungsfreien Zeit schon vertragbar, aber es geht natürlich nicht während des Semesters. Auch dieser Punkt muss noch geregelt werden. Wie ich Ihnen bereits schrieb, liegt mir an der Mitarbeit meines Laboranten Mayer, dessen Fragebogen ich Ihnen geschickt habe, sehr viel, da er eingefuchst und sehr fix ist. Ich nehme nämlich an, dass die techn. Assistenten (innen), die wir evt. bekommen werden, von histologischer Technik keine Ahnung haben. Das ist leider fast immer so. Über meine Übernahme in die Waffen-SS freue ich mich. Ich möchte nur die bescheidene Bitte aussprechen, dass ich dann wenigstens in den mir zustehenden Rang übernommen werde. Wie Sie aus meinem Wehrpass ersehen können, habe ich schon neben dem Weltkrieg vor dem jetzigen Krieg zahlreiche Übungen mitgemacht und ich bin eigentlich schon lange reif zum Oberstabsarzt, laufe aber durch die im letzten Jahr erfolgte Uk-Stellung immer noch als Oberarzt herum, während



V. August Hirt81 meine jungen Assistenten alle schon Stabsarzt werden oder sind, obwohl sie zum Teil auch in diesem Kriege nicht im Feld waren. Das hat mit Eitelkeit nichts zu tun, es ist nur ein auf die Dauer etwas merkwürdiger Zustand und erweckt den Eindruck, als ob man noch nichts geleistet hätte. Ich hätte mich sonst der Wehrmacht zur Verfügung gestellt, um endlich meine Beförderung zu erlangen. Das wird wohl im wesentlichen das sein, was ich vorläufig zu Ihrem Schreiben zu sagen habe. Alles andere können wir ja dann mündlich erledigen. Ich danke Ihnen nochmals herzlichst für Ihre Bemühungen in der Angelegenheit und hoffe vor allem, dass wir bald mit der Arbeit beginnen können. Mit herzlichem Gruß und Heil Hitler! Ihr gez. A. Hirt 2 Anl.“227

Dieses Schreiben zeigt keinen Universitätsprofessor, der zu allem bereit ist, um mit der SS oder dem Ahnenerbe zu kooperieren, nur um Lost-Forschungen oder gar eine Schädelsammlung verwirklichen zu können. Das Schreiben macht deutlich, dass Hirt keinesfalls bereit war, seinen Beruf und seine Aufgaben auch nur geringfügig zu verändern, nur weil der Reichsführer-SS es so wollte. Der Beamte Hirt nahm seine dienstlichen Pflichten offenbar ernst. Vor allem jedoch forderte Hirt die Freistellung von Mitarbeitern sowie Laborgeräte und Beförderungen – und drohte unverhohlen damit, dass er auch mit der Wehrmacht statt dem Ahnenerbe zusammenarbeiten könne. Ein fanatischer, SS-orientierter Pseudowissenschaftler hätte diese Option wohl eher nicht in Betracht gezogen. Vor allem jedoch zeigt das Schreiben Hirts, dass das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung in seiner geplanten Ausrichtung von Sievers zunächst als Teil der Universität Straßburg vorgesehen war und Hirt sein Mittel zum Zweck sein sollte, das Ahnenerbe auf diese Weise aufzuwerten. Es mag jedoch die profane Tatsache hinzukommen, dass Hirt erkannt haben mag, dass das Ahnenerbe nicht in der Lage gewesen wäre, ihm ein ähnlich attraktives finanzielles Auskommen zu sichern wie die Universität. Dabei ist in Betracht zu ziehen, dass Hirt einerseits als Universitätsangehöriger eine Pensionsberechtigung hatte, aber auch, dass der größte Teil seiner Einnahmen aus Unterrichtsgeldern bestand, die er nur bezog, wenn er auch tatsächlich Lehrveranstaltungen abhielt. Sievers hatte sich bereits im Vorfeld um rasche Abhilfe wegen Hirts Sorgen um die personelle Ausstattung seines Instituts bemüht. Er bat Brandt, die Mitarbeiter Hirts vom Wehrdienst freistellen zu lassen.228 Das WVHA infor227  BArch 228  BArch

NS 21 / 904, Schreiben von Hirt an Sievers vom 10.10.1942. NS 19 / 1209, Schreiben von Sievers an Brandt vom 27.8.1942.

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mierte den Persönlichen Stab am 29.10.1942 über die Kostenstellen, unter denen die Aufwendungen des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung abgerechnet werden können: „Der Reichsführer-SS hat mit Befehl vom 7.7.42 das ‚Ahnenerbe‘ beauftragt, ein Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung zu errichten. Soweit Kosten für dieses Institut anfallen, sind sie aus Mitteln der Waffen-SS bei der Kasse des Pers. Stabes zu verausgaben und zwar: pers. Kosten: b / Kap. 21 / 7a, sachliche Kosten: b / Kap. 21 / 7b.“229

Die monatliche Forschungsbeihilfe Hirts nach der Gründung des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung betrug ab November 1942 316,00 Reichsmark.230 Dies mag ein angenehmes Zubrot gewesen sein, doch im Verhältnis zum Professorengrundgehalt von monatlich 1.550 Reichsmark231 oder den 1.500 Reichsmark Forschungsbeihilfe, die Hirt von der I.G. Farben pro Quartal erhielt, war der Betrag gering.232 Daher ist kaum anzunehmen, dass Hirt sich ‚gekauft‘ fühlte oder Sievers den Eindruck hatte, damit Hirt ‚kaufen‘ zu können. Insgesamt erhielt Hirt Gehälter und Forschungsbeihilfen für zehn Mitarbeiter seines Instituts.233 Diese refinanzierte Sievers für das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung, wie von Himmler angeordnet, aus dem Haushalt der Waffen-SS mit 2.600 Reichsmark pro Monat ab November 1942 sowie mit den als monatlichem Vorschuss gezahlten 500 Reichsmark für Sachmittel ab Oktober 1942.234 Die in den Forschungsbeihilfezahlungen enthaltene monatliche Zuwendung für Hirt, seine Assistenten Wimmer und Kiesselbach, seinen Präparator Bong und seine Sekretärin Seepe betrug insgesamt 1.041 Reichsmark.235 In einer undatierten Personalaufstellung des Ahnenerbes – mutmaßlich von frühestens der Jahresmitte 229  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 74, Schreiben von Chef Haushaltsamt WVHA, Lörner, an Persönlichen Stab vom 29.10.1942. 230  Klee, Auschwitz, S. 363. Klee belegt die Versteuerung dieses Betrages, beziffert diesen aber irrtümlich in D-Mark. Vgl. BArch NS 21 / 63 Geheimschreiben von Sievers an Hirt vom 29.10.1942. Die Forschungsbeihilfe in Höhe von 316 Reichsmark wurde am 1.10.1942 widerruflich bewilligt. 231  Wechsler, Faculté, S. 186. 232  Klee, Auschwitz, S. 356. 233  BArch NS 21 / 904, Vermerk von Sievers über Besprechung mit Hirt über Haushaltsmittel des Instituts H am 28.8.1942. Bemerkenswert ist, dass zunächst eine Mitarbeit vereinbart, dann ein Institut gegründet, dann Hirt die Leitung einer Abteilung bekommt und dann erst ein Haushaltsplan aufgestellt wird. Beim Entomologischen Institut wurde ebenso vorgegangen. 234  BArch SSO 101 A Personalakte Hirt, Schreiben von Sievers an die Verwaltung Ahnenerbe vom 29.10.1942, vgl. Schmaltz, Kampfstoff-Forschung, S. 530. 235  BArch NS 21 / 419, Beleg 808, Forschungsbeihilfen für August 1943. In den Monaten vorher und nachher war der Betrag unverändert.



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1943 – sind für Straßburg folgende Mitarbeiter verzeichnet: Hirt, Walbert, Wimmer, Kiesselbach, Holtz, Bennemann,236, Schmidt,237 Seepe, Bong und Buchheid.238 3. Hirts Interesse an Lost-Forschung Am 12.8.1942 sandte Brandt den geheimen Forschungsbericht Hirts zu den Lostversuchen zurück an Sievers, versehen mit Himmlers handschrift­ lichen Kommentaren „1. gel.[esen] 2. Ahnenerbe zum Verbleib. Nehme an, dass Hirt bei uns die Versuche fortsetzt. 2 VIII 42 HH“. Anschließend stellte Hirt bei Sievers weitere Anträge. Ob sich diese nur auf seine Lost-Versuche bezogen oder auch auf die Option einer Kooperation mit Otto Bickenbach, erschließt sich aus Sievers’ Diensttagebuch nicht. Am 27.8.1942 teilte Sievers Brandt – offenbar nach eigenen Recherchen – detailliert mit, warum die Anwendung von Lost gegen Ratten technisch undurchführbar und für Menschen sehr gefährlich sei. Möglicherweise um Himmler nicht vor den Kopf zu stoßen, schloss Sievers den Brief mit den Worten: „Trotzdem erscheint mit Ihr Gedanke, an die Ausrottung des Ungeziefers mit einem Kampfstoff heranzugehen, durchaus nicht abwägig [sic!], es müsste nur von einem Kampfstoffexperten festgestellt werden, ob es nicht noch für die Menschen harmlosere Mittel gibt, die die Ratten umlegen.“ Offenbar hatte auch Himmler den Geheimbericht Hirts zur Lost-Forschung in einen Zusammenhang mit dem Entomologischen Institut gebracht und nicht nur den wehrwissenschaftlichen Effekt gesehen. Sievers reiste am 28.8.1942 aus Köln kommend nach Straßburg und besprach sich unmittelbar nach seiner Ankunft im Hotel Rotes Haus von 22 bis 23:30 Uhr mit Hirt. Am Morgen des 29.8.1942 organisierte Sievers fernmündlich über seine Berliner Dienststelle einen Besichtigungstermin für das Konzentrationslager Natzweiler, wo Hirt an Häftlingen zu Lost forschen sollte. Ferner bestellte Sievers über Berlin ein Fahrzeug für die Fahrt zu dem in den Vogesen bei Straßburg gelegenen Konzentrationslager. Von 10 bis 13:30 Uhr besprach Sievers in der Anatomie mit Hirt verschiedene Aspekte der weiteren Zusammenarbeit. Das Spektrum reichte von Anwendungsberei236  Folder 16, Box 27, Samuel A. Goudsmit papers. Niels Bohr Library & Ar­ chives, Schreiben von Kraut an Bennemann vom 27.3.1943, S. 41: Die im Jahre 1922 geborene Bennemann wurde von der Reichsstelle für Arbeitsvermittlung zur Verfügung gestellt und musste am 15.4.1943 ihr Arbeitsverhältnis bei Hirt beginnen. 237  Elisabetha Schmitt wurden in den Unterlagen auch als Else Schmitt und als Schmidt bezeichnet. Dies kann zu Verwechslungen mit dem Präparator und Laboranten bei Hirt, Karl Schmidt (auch Charles Schmitt), führen. 238  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159, Prozessakte Beger, S. 109 f.

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Abb. 7: Hirts Lost-Forschungsbericht mit Himmlers handschriftlichen Kommentaren. (Quelle: HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34168 Prozessakte Beger, S. 116 ff.)

chen für Trypaflavin239 bis zur Vorbereitung eines Besuchs in Natzweiler. Bezüglich des Haushaltsplans für Hirts künftige Ahnenerbe-Abteilung fertigten Sievers und Hirt in ihrer Besprechung in Straßburg am 29.8.1942 bereits eine Skizze an, die die bereits genannte Forschungsbeihilfe für Hirt von 316 Reichsmark brutto und zudem noch zehn Drittmittelstellen vorsah.240 Darunter befanden sich nicht nur Mittel für Forscher, sondern auch beispielsweise die Einstellung einer Hausmeisterin für Hirts Institut zu einem Monatsgehalt von 185 Reichsmark.241 Bei dieser Besprechung legte Hirt 239  Gemeint ist Trypaflavin, ein 1929 von der I.G. Farben patentiertes Antiseptikum, das zur Behandlung der Schlafkrankheit eingesetzt, jedoch auch in der Vitalfärbung verwendet wurde. 240  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159, S. 54. 241  BArch R 26 III / 29, Vermerk von Sievers vom 13.1.1943 über das Gehalt der Hausmeisterin Brandner.



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Abb. 8: Das Hotel Rotes Haus, in dem Sievers bei allen Aufenthalten in Straßburg abstieg, um 1900 auf einer zeitgenössischen Postkarte, noch mit alter Schreibweise „Rothes Haus“.

Sievers auch eine Liste von bereits im Juli 1942 von der Universität bestellten Ausstattungselementen der Anatomie vor, die zum Zeitpunkt des Gespräches immer noch nicht geliefert worden waren.242 Zwischen 14 und 17 Uhr standen jedoch zwei Projekte auf der Tagesordnung, durch die August Hirt Ruf und Existenz sowie Wolfram Sievers sein Leben verlieren sollten: „1. Beteiligung von Prof. Hirt bei Unterkühlungsversuchen. 2. Aufstellung einer Sammlung von Schädeln und Skeletten Fremd­ rassiger.“243 Dies ist die früheste schriftlich belegte Kenntnisnahme Hirts von dem geplanten Verbrechen, das bis heute mit seinem Namen verbunden ist. Nach einem Gesprächstermin mit einem anderen Wissenschaftler der Straßburger Reichsuniversität wurde Sievers von Hirt und seiner Frau von 17 bis 23 Uhr in das Künstlerhaus Straßburg eingeladen. Dort sprachen Hirt und Sievers über die Wassertherapie – mit dem sogenannten Gasteiner Wasser – bei Erfrierungen, die Anwendungsgebiete von Trypaflavin und die Bildung eines Forschungsrates zur Zusammenfassung medizinischer Forschungen im

242  HStA

Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159, S. 57. T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 29.8.1942.

243  NARA

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Abb 9.: Budgetplanung von Sievers für Abteilung H des Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung mit handschriftlichen Anmerkungen über die Art der Zahlungen, die von Forschungsbeihilfen über Gehaltszuschüsse bis zu vollen Gehältern reichten. (Quelle: BArch R 26 III / 29)

Ahnenerbe.244 Neben einer kurzen erneuten Begegnung mit Hirt nahm Sievers am folgenden Tag, dem 30.8.1942, Termine mit anderen Wissenschaftlern wahr, bevor er am Abend die Gespräche mit Hirt fortsetzte.245 In Sievers’ Diensttagebuch wurde SS-Untersturmführer Hirt im Eintrag für den 30.8.1942 bereits als SS-Hauptsturmführer bezeichnet. Am selben Tage erhielt Hirt zwei auf den 31.8.1942 datierte Beförderungsurkunden: Mit Wirkung vom 9.11.1941246 war Hirt zum Obersturmführer und mit Wirkung zum 20.4.1942 244  Ebd.,

Eintrag vom 29.8.1942. Eintrag vom 30.8.1942. 246  Die Beförderungen innerhalb der SS fanden in der Regel an den „Feiertagen“ des NS-Regimes statt: 30.1. (Jahrestag der „Machtergreifung“), 20.4. (Hitlers Geburtstag) und 9.11. (Jahrestag des Hitler-Putsches). 245  Ebd.,



V. August Hirt87

zum Hauptsturmführer befördert worden.247 Wenngleich diese Beförderungen in zeitlichem Zusammenhang mit dem Lost-Forschungsbericht stehen, ist ein Zusammenhang in Anbetracht der SS-Bürokratie und der Dauer der Bearbeitung einer Beförderung, wie sie sich aus der Gesamtschau der Diensttagebücher und der überlieferten Akten des Ahnenerbes ergeben, unwahrscheinlich. Ein Zusammenhang mit dem genannten Anliegen Hirts vom 10.10.1942, in dem er einen mit dem Rang eines Stabsarztes vergleichbaren SS-Rang erbat, ist wahrscheinlicher.248 Zudem wäre es plausibel, wenn Himmler den habilitierten Ordinarius Hirt als Abteilungsleiter des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung in denselben Rang versetzt hätte, wie er dem erheblich jüngeren und akademisch unerfahrenen Abteilungsleiter Sigmund Rascher mit demselben Beförderungsdatum 9.11.1942 zugedacht war.249 Sievers fuhr mit Hirt und anderen Wissenschaftlern, wie unten noch näher gezeigt wird, an diesem 31.8.1942 in das Straßburg am nächsten gelegene Konzentrationslager. Auf einem Höhenzug der Vogesen befand sich das im Sommer und Winter bei den Straßburgern als Ausflugziel beliebte Hotel und Restaurant „Le Struthof“ in der Nähe des Ortes Natzweiler. Das Hotel war 1906 auf dem Grundstück der 1829 gebauten Gaststätte gleichen Namens entstanden. Die Familie Idoux, deren Bauernhof nur wenige hundert Meter entfernt lag, kaufte das gesamte Gelände auf dem Höhenzug im Jahre 1929 und führte 1936 eine grundlegende Sanierung des Hotels durch. Das Gelände mit den Touristenzielen wurde als gewerblicher Betrieb bewirtschaftet, dessen Gesellschafter das Bauernehepaar Idoux, deren Schwester und zwei Brüder sowie drei weitere Personen waren.250 In dieser Gegend entdeckte der SS-Geologe Karl Blumberg nach der deutschen Besetzung des Elsass roten Granit. Die Wirtschaftsbetriebe der SS lieferten unter anderem Ziegel und Natursteine für die neuen Repräsen­ tationsbauten des Reiches, für die roter Granit beliebt war. Darum wurde für die SS-eigene Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH ab dem 1.5.1941 rund um den Struthof das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof errichtet.251 Die meisten Häftlinge des Stammlagers wurden im Steinbruch eingesetzt, später gab es auch Außenlager des Konzentrationslagers Natzweiler, 247  BArch NS 21 / 50 Personalakte Hirt, Anschreiben mit Beförderungsurkunden von Sievers an Hirt vom 31.8.1942. 248  BArch NS 19 / 1209, Befehl Himmlers vom 7.7.1942, siehe auch: BArch NS 21 / 905, Gründungsbefehl Ahnenerbe vom 7.7.1942, Abschrift durch Wolff vom 27.11.1943. 249  Ebbinghaus, Erschließungsband Ärzteprozess, S. 133. 250  Steegmann, Natzweiler, S. 326. 251  BArch B 162 / 20260, Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade, S. 72.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Abb. 10: Das Hotel Struthof im Jahre 1934. Links die „Farm“, Sitz der Familie Idoux während der Zeit des KZ Natzweiler; neu gebaut, nachdem die landwirtschaftlichen Gerüche zu Beschwerden bei den Gästen des neuen Hotels (Bildmitte) führten. Im neuen Hotel wohnten während des Krieges auch SS-Offiziere, während sich nördlich angrenzend das alte Hotel befand. Rechts im Bild das „Festsaal“Gebäude mit Tanzlokal im Erdgeschoss und Heuschober im Obergeschoss. (Quelle: zeitgenössische Postkarte, Archiv Hans-Jürg Kuhn, Postkarten 312.463.668)

unter anderem bei der Württembergischen Metallwarenfabrik (WMF) AG in Geislingen an der Steige. Dabei ist zur Bewertung der Quellen zu beachten, dass sich innerhalb der weitläufigen und gut bewachten Absperrungen um den Struthof eine weitere, unter Starkstrom stehende Absperrung befand. Auf dem hiervon eingezäunten Gebiet war das Konzentrationslager Natzweiler errichtet worden.252 Es konnte also durchaus sein, dass jemand auf dem Struthof war, ohne jemals das höher gelegene KZ Natzweiler betreten zu haben. Ebenso konnte jemand durch den ersten und den zweiten Sperrkreis in das KZ Natzweiler fahren, ohne den unterhalb der Straße zwischen beiden Sperrkreisen gelegenen Struthof wahrzunehmen. Zudem firmierten auch die rechtsrheinischen Außenlager ab 1944 unter der Bezeichnung „Konzentra­ tionslager Natzweiler“. So ist zu erklären, dass es Häftlinge des Konzentra­ tionslagers Natzweiler gab, die niemals den außerhalb des Kerns des Stammlagers gelegenen Struthof gesehen oder das Lager Natzweiler selbst betreten haben. Durch den Austausch von Häftlingen zwischen den Lagern wurden

252  Steegmann,

Natzweiler, S. 199.



V. August Hirt89

Abb. 11: Skifahrer vor dem Gebäude „Festsaal“ des Hotels Struthof, vermutlich in den 1920er Jahren. (Quelle: Pressac, Struthof, S. 58)253

die grauenvollen Erfahrungen und Gerüchte über Verbrechen in allen Teilbereichen des Komplexes Natzweiler jedem Häftling rasch bekannt. Diese Fakten zu kennen, ist zur Bewertung von Zeugenaussagen unabdingbar. Als die SS im Jahre 1940 das Gelände für den Bau eines Konzentrationslagers beschlagnahmte, soll der Eigentümervertreter der Liegenschaft, Edouard Idoux, an einen seiner Regimentskameraden aus dem Ersten Weltkrieg geschrieben und ihn gebeten haben, dies zu verhindern. Dieser Regiments­ kamerad soll Adolf Hitler gewesen sein, der verfügt habe, dass Idoux auf seinem Gelände bleiben könne, die SS Pacht zahlen solle und er das SSPersonal mit landwirtschaftlichen Produkten versorgen dürfe.254 Es entstand das Unikum, dass sich – wie Aussagen von SS-Angehörigen unten zeigen – Zivilisten in einem Konzentrationslager aufhielten und dort arbeiteten.255 Dorthin also fuhren Sievers und Hirt, dessen Mitarbeiter Wimmer und der zwischenzeitlich zum Leiter des Entomologischen Instituts berufene Eduard

253  Pressac,

Struthof, S. 58. Rahmen der Recherchen zu diesem Buch konnten diese in Straßburg kursierenden Gerüchte nicht überprüft werden. 255  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Robert Nitsch vom 23.8.1962, S. 414. 254  Im

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

May am 31.8.1942, um die Örtlichkeiten auf ihre Geeignetheit für Lost-Experimente zu prüfen. Sievers hatte die Besichtigung sehr kurzfristig bei Glücks beantragt und sich dabei auch auf Himmlers „Blanko“-Befehl für Hirt vom 13.7.1942 bezogen.256 Nach der Ankunft im Konzentrationslager Natzweiler besprachen die Besucher die Errichtung von Tierstallungen für die Versuchstiere mit der Lagerleitung.257 Von 19 bis 21:30 Uhr vermittelte Sievers eine weitere Kooperation, diesmal zwischen May und Hirt.258 May wurde von Sievers auch in der Folgezeit angehalten, die Lost-Versuche zu unterstützen.259. Aber die Unterstützung erfolgte auch umgekehrt: May schickte seine technische Assistentin Dr. Marianne Rühl-Stanislaus zu Hirt, der sie in die Fluoreszenzmikroskopie einarbeitete.260 Es gibt keinerlei Anzeichen, dass bei diesem Termin in Natzweiler oder den Folgebesprechungen im Januar 1943 zwischen Hirt, Sievers und der Lagerleitung über Natzweiler als Tötungsort für Opfer einer zu errichtenden Schädelsammlung gesprochen wurde. Dabei ist zu festzuhalten, dass in Natzweiler zu diesem Zeitpunkt keine Gaskammer und kein Krematorium vorhanden waren. Während der Exkursion nach Natzweiler sagte Sievers Hirt abermals zu, ihn bei der beschleunigten Beschaffung der von der Universität bereits ein Jahr zuvor bestellten technischen Ausstattungsgegenstände der Anatomie (wie Leichenkühlfächer, Aufzüge, Entfettungsofen und Mazera­ tionseinrichtung) unterstützen zu wollen. Eine der Ursachen für die Verzögerung bei den Lieferungen lag darin, dass die meisten Unternehmen in Deutschland kriegsbedingt übervolle Auftragsbücher besaßen und gleichzeitig viele ihrer männlichen Arbeiter und Angestellten an die Streitkräfte abgeben mussten. Die Zuteilung von bewirtschafteten Rohstoffen war jedoch befristet, so dass auch im Falle der Leichenaufzüge für die Anatomie in Straßburg ein Verfallen der Rohstoff-Bezugsgenehmigungen drohte. Am 22.4.1943 schrieb Sievers an Hirt, dass die ursprünglich von der Universität mit dem Aufzugbau beauftragte Firma Otis diese erst nach dem Kriege liefern könne. Sievers war es daraufhin gelungen, freie Aufzugsbau-Kapazitäten bei der Firma Mohr und Federhoff in Mannheim zu finden. Ebenfalls hatte er die Baupläne von Otis beschafft und an das Mannheimer Unternehmen weitergegeben. Sievers informierte Hirt, dass dieser nun nur noch veranlassen müsse, 256  BArch

R 26 III / 29, Schreiben von Hirt an Glücks vom 27.8.1942. Natzweiler, S. 199 f. und S. 422: Sievers und seine Begleiter besprachen sich mit Lagerkommandant Egon Zill und dem Schutzhaftlagerführer Josef Kramer, der Zill im September 1942 als Kommandant ablöste. 258  NARA T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 31.8.1942. 259  BArch NS 21 / 53 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 28.1.1943. 260  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159, S. 90 ff., Schreiben von Hirt an Sievers vom 13.11.1942. 257  Steegmann,



V. August Hirt91

dass die Universität den Auftrag an den neuen Lieferanten erteile. In diesem Schreiben hielt Sievers allerdings auch fest, dass er bezüglich der Leichenkühlanlage immer verhandeln würde.261 Diese war zwar eingebaut worden, doch acht Tage vor Beendigung der Arbeiten waren die Monteure abgezogen worden.262 Die Motivation für Sievers, sich so intensiv für die – eigentlich von der Universität verantwortete – Ausstattung von Hirts Institut einzusetzen, lag in dem intensiven Interesse Himmlers. Dieser hatte bereits bei der Gründung des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung den „Blanko“-Befehl zur Förderung von Hirts Forschungen erteilt. Sievers hatte Himmler Anfang April 1944 die Ergebnisse der Lost-Versuche in Natzweiler vorgetragen, woraufhin dieser die Intensivierung der Versuche befahl.263 4. Leichen für die medizinische Ausbildung in der Anatomie Zu den von Hirt auf der Fahrt nach Natzweiler angesprochenen Problemen gehörte auch eines, das für die Universitätsanatomie und deren Direktor Hirt von existenzieller Bedeutung war: Es konnten nicht genug Leichen für die medizinische Ausbildung auf dem üblichen Wege beschafft werden. Dazu gehörten unter anderem Körperspender und die von der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellten Leichen Hingerichteter. Dabei ist zu bedenken, dass Hirt allein 28 Wochenstunden Lehrdeputat in der Anatomie zu absolvieren hatte, darunter viele Präparationskurse, deren Umfang sich bis zum Ende seiner Tätigkeit in Straßburg noch steigern sollte.264 Sievers machte Hirt den Vorschlag, die Verstorbenen der Konzentrationslagers Natzweiler, sofern sie Sowjetbürger waren oder keine Angehörigen hatten, nach Straßburg in die Anatomie bringen zu lassen. Dies legte er am 14.9.1942 auch dem zuständigen Richard Glücks (WVHA) in einem Schreiben nahe.265 Hier, wie auch in einem Geheimvermerk Sievers’ vom 14.9.1942, heißt es: „Betr.: Überführung von im KL Natzweiler verstorbenen Häftlingen in die Anatomie der Universität Strassburg Bezug: mündliche Unterredung vom 9.9.1942 Bei der am 31.8.1942 in Natzweiler stattgefundenen Besprechung erklärte SSHauptsturmführer Prof. Dr. Hirt, Direktor der Anatomie der Universität Strassburg, dass die Möglichkeit bestehe, verstorbene Häftlinge in die Anatomie zu überführen. Es kämen Tote dafür in Frage, die keine Angehörigen haben, und Sowjets. 261  BArch

NS 21 / 906, Schreiben von Sievers an Hirt vom 22.4.1943. Schreiben von Hirt an Sievers vom 25.3.1943. 263  BArch NS 21 / 906, Schreiben von Sievers an Hirt vom 14.4.1943. 264  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, S. 201: Vorlesungsverzeichnis Universität Straßburg Wintersemester 1944 / 45. 265  BArch NS 21 / 904, Schreiben Sievers an Glücks vom 14.9.1942. 262  Ebd.,

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Da die Reichsuniversität Strassburg gänzlich neu aufzubauen ist, sind in der Anatomie auch nicht genügend Leichen vorhanden. Ausser der Überführung nach Strassburg, die sowieso erfolgen muss, entstehen dem KL Natzweiler keine Kosten. Wenn Sie mit dieser Regelung einverstanden sind, wird um Genehmigung und um Verständigung der Lagerkommandantur gebeten.“266

Für den weiteren Verlauf ist es wichtig, festzuhalten, dass die Verstorbenen aus Natzweiler ausweislich dieses Schreibens ohnehin nach Straßburg überführt werden mussten. Hintergrund ist die Tatsache, dass Natzweiler erst im Oktober 1943 eine Krematoriumsbaracke erhielt.267 Im September 1942 war es noch üblich, Verstorbene zur Kremierung in das städtische Krematorium nach Straßburg zu bringen. Ab dem 4.2.1943 wurden die Totenscheine nicht mehr im Zivilregister des Amtes Natzweiler verzeichnet, sondern direkt im Konzentrationslager, wo seitdem zunächst ein provisorisches Krematorium in Betrieb war.268 Glücks antwortete auf Sievers’ Anforderung am 15.9.1942 zustimmend: „Auf das oben angezogene Schreiben teile ich mit, dass ich den Lagerkomman­ danten des Konzentrationslagers Natzweiler, wie von Ihnen gewünscht, verständigt habe.“269

Nach weiterer Korrespondenz antwortete Hirt am 12.10.1942 auf ein ­Schreiben von Sievers vom 8.10.1942: „Betr.: Ihr Schreiben v. 8. Okt.42 – G / H / 6 / Wo / 1. Überführung von Häftlingen des KL. Natzweiler an die Anatomie Straßburg Auf Grund des vorgelegten Schreibens teile ich folgendes mit: Mit den beigegebenen Bestimmungen 1–4 bin ich einverstanden. Wegen des Termins der Beisetzung allerdings müsste eine Änderung getroffen werden. Die Verwendung der Leichen im Unterrichtsbetrieb erfolgt normalerweise erst im Wintersemester. Nach Beendigung der Präparation werden sie der Feuerbestattung zugeführt. Eine Leiche, die demnach im Sommersemester eingeliefert würde, könnte frühestens nach ¾ Jahren feuerbestattet werden. Eine Beisetzung innerhalb 8 Tagen nach der Besichtigungsfrist würde für das Anatomische Institut unmöglich sein. Ich kann mir auch nicht denken, dass die Anatomie Hamburg diese Bedingungen ordnungsgemäß einhalten kann. 266  HStA

Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159, S. 61a. im ehemaligen Konzentrationslager Natzweiler-Struthof, ebenfalls nachzulesen unter www.struthof.fr. 268  Steegmann, Natzweiler, S. 333 ff. 269  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159, S. 62. 267  Ausstellung



V. August Hirt93 Ich erlaube mir, in der Anlage einen Entwurf vorzulegen, den ich für das Anatomische Institut Straßburg durchführen kann.“270

Die Lieferung von Leichen aus Konzentrationslagern an Anatomien war kein Einzelfall. Beispielsweise erhielt die Anatomie der Universität Hamburg unter ihrem Direktor Professor Dr. Karl Zeiger Leichen aus dem Konzentrationslager Neuengamme. Bereits am 14.10.1940 unterschrieb der Kommissarische Direktor der Anatomie Hamburg, Professor Dr. Johannes Brodersen, eine Verpflichtungserklärung zur Behandlung der aus dem Konzentrations­ lager Neuengamme überlassenen Leichen „ehemaliger Schutzhäftlinge“, die beinahe identisch mit der Verpflichtungserklärung war, die Hirt zur Unterzeichnung vorgelegt wurde.271 Im Gegensatz zu den Forschungsgebieten des Anatomen Hirt waren die Forschungsgebiete des Anatomen Zeiger „vor allem Erblehre und Rassenhygiene (Untersuchungen an Zwillingen zu Merkmalen des Gebisses und des Gaumens), Histochemie und Histophysiologie“.272 Im Gegensatz zur geplanten Sammlung von Schädeln benötigte Zeiger Gewebe. Hätte er nur Schädel oder Skelette von Juden benötigt, hätte er diese auch im Versandhandel erwerben können. Der Direktor der Anatomie der Reichsuniversität Posen, Professor Dr. Hermann Voss, fertigte Präparate aus verstorbenen Konzentrationslager-Häftlingen für den gewerblichen Versandhandel an andere wissenschaftliche Einrichtungen an.273 Es ist nachgewiesen, dass er im Jahre 1942 auch „Polenschädel“ und „Judenschädel“ verschickte, einschließlich zugehöriger Abgüsse, damit man „die Kopfform und die oft recht eigenartigen Ohren sehen kann“.274 In diesem konkreten Falle zahlte der Leiter der Anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums in Wien, Dr. Josef Wastl, zur „Unterhaltung und Vermehrung der Samm­ lungen“ seiner Einrichtung für jeden der erhaltenen 29 „Judenschädel“ 25 Reichsmark. Weil der Versand solcher Präparate keine hochgeheime Angelegenheit war, hätte August Hirt hier Schädel von verstorbenen Juden bestellen können, wenn er dies gewollt hätte. Dies wäre ihm ohne Geheimhaltung, Ermordungen, die Einbindung Dritter und die erheblichen Kosten des hier beschriebenen Verbrechens möglich gewesen. Die von Hirt im Schreiben vom 12.10.1942 genannte Zeitspanne wurde mehrfach vom Reichssicherheitshauptamt und dem WVHA bestätigt, zuletzt am 10.6.1943 durch ein Schreiben vom Zentralamt des WVHA an das ­Ahnenerbe: 270  BArch

NS 21 / 904, Schreiben von Hirt an Sievers vom 12.10.1943. NS 21 / 905, Schreiben der Hansischen Universität, Anatomisches Institut, an Inspekteur der Konzentrationslager vom 14.10.1940. 272  Nagel, Wissenschaft, S. 381. 273  Aly, Posener Tagebuch. 274  Heimann-Jelinek, Masken. 271  BArch

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

„Das Reichssicherheitshauptamt teilt mit dem Bezugsschreiben mit, daß nach erneuter Prüfung keine Bedenken bestehen, wenn die Leichen im Konzentrationslager Natzweiler verstorbener Ostarbeiter, die keine Angehörigen haben, der Anatomie der Universität Straßburg unbeschränkt, jedoch unter der Verpflichtung zur Verfügung gestellt werden, daß dieselben nach Abschluß der Versuche eingeäschert werden und daß in allen Fällen bei evtl. Rückfragen grundsätzlich die Auskunft erteilt wird, daß die Leiche eingeäschert ist. Nach Einäscherung sind die Urnen an das Konzentrationslager Natzweiler zur Aufbewahrung zurückzugeben.“275

Hirt sandte daraufhin eine Verpflichtungserklärung mit Datum vom 23.6. 1943: „Das Anatomische Institut der Reichsuniversität Straßburg verpflichtet sich, 1. die von KL Natzweiler zur Untersuchung zur Verfügung gestellten Leichen verstorbener Ostarbeiter, die keine Angehörigen haben, nach Verwendung im Unterrichtsbetrieb in angemessener Weise kostenlos einzusargen und im Krematorium Straßburg feuerzubestatten. 2. in allen Fällen bei evtl. Rückfragen grundsätzlich die Auskunft zu erteilen, daß die betreffende Leiche eingeäschert sei. 3. nach der Einäscherung der Leiche die Urne an das KL Natzweiler zur Aufbewahrung unter gleichzeitiger Mitteilung der Bestattungsnummer zurückzugeben.“276

Damit hatte August Hirt seit Oktober 1942 Zugriff auf hinreichend Leichen aus verschiedenen Ländern. Da im Konzentrationslager Natzweiler die Sterblichkeitsrate bei rund 40 Prozent lag, zahlreiche der Arbeitshäftlinge aus den besetzten Ostgebieten jüdischen Glaubens waren und regelmäßig Hinrichtungen stattfanden, wäre Hirt nun in der Lage gewesen, ohne Mühe und Geheimhaltungserfordernis auch von dort jene Leichen anzufordern, die er bevorzugte. Und tatsächlich gab Hirts Präparator Otto Bong Anfang Januar 1945 nach der Besetzung der Anatomie durch US-Truppen freimütig zu, dass er zahlreiche Präparate aus den Leichen aus Natzweiler angefertigt hatte.277 Bislang wurde in der Forschung nur selten erwähnt, dass Hirt neben den Leichen aus Natzweiler auch weitere Leichen für den Lehrbetrieb erhielt. Noch bevor er im Juni 1941 seine Tätigkeit in Straßburg aufnahm, bat Hirt beim Kriegsgefangenen-Lazarett in Straßburg darum, ihm verstorbene „sowjetrussische Kriegsgefangene“278 zu überlassen. 275  HStA

Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159, Prozessakte Beger, S. 131. S. 144. 277  BArch R 4901, Stellungnahme von Hirt zur Veröffentlichung in der „Daily Mail“ vom 3.1.1945 an den Kurator der Universität Straßburg vom 25.1.1945. 278  USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020, Schreiben von Hirt an Sanitätsstaffel Straßburg vom ?.8.1941 unter Bezugnahme auf sein vorheriges Schreiben vom 29.6.1941, S. 252. 276  Ebd.,



V. August Hirt95

Abb. 12: Das vom Festungsbaumeister Ludwig XIV., Sébastien Le Prestre, Marquis de Vauban erbaute, großflächige Militärkrankenhaus, das zwischen 1940 und 1944 in Wehrkreis V als Reservelazarett I (neben Reservelazarett II in Mutzig) diente. (Foto: Aufnahme des Verfassers)

In einem weiteren Schreiben vom 25.6.1942 teilte Hirt dem Reserve-Lazarett Straßburg mit, dass sein Institut nun in der Lage sei, Leichen sowjetrussischer Kriegsgefangener aufzunehmen und durch das – noch heute existierende – Bestattungsunternehmen Aubry aus Straßburg abholen zu lassen.279 Der Leichenwagen der Anatomie war im Sommer 1942 noch nicht geliefert worden.280 In beiden Schreiben bezog sich Hirt auf Anordnungen des Wehrkreisarztes V, der für die Kriegsgefangenen zuständig war. Es ist anzunehmen, dass die Abgabe der Leichen von Kriegsgefangenen an Anatomien kein Einzelfall war, der nur in Straßburg vorkam. Die Quellen legen nahe, dass Hirt zahlreiche verstorbene sowjetische Kriegsgefangene für die Anatomie erhielt: Am 24.8.1944 empfing Hirt ein drängendes Schreiben der Stadt Straßburg, das auf mehrere vorherige, von Hirt unbeantwortete Schreiben Bezug nahm. Hirt hatte dem städtischen Krematorium am 5.1., 10.2., 7.3., 18.3. und am 21.7.1944 Leichen sowjetischer Kriegsgefangener liefern lassen, sich jedoch nicht um die Abholung und Bestattung der Asche geküm279  Ebd., Schreiben von Hirt an Kriegsgefangenen-Lazarett Straßburg vom 29.6.1942, S. 252. 280  Ebd., Schreiben von Hirt an Oberstaatsanwalt beim Landgericht Stuttgart vom 17.7.1942, S. 251. Vgl. Toledano, Anatomical Institute, S. 132.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

mert, wie es seine Verpflichtung gewesen wäre.281 Auf diesem Wege ist dokumentiert, dass Hirt sowohl Leichen von Häftlingen aus Natzweiler über die SS bezog als auch Leichen von Kriegsgefangenen der Roten Armee aus den Reserve-Lazaretten der Wehrmacht in Mutzig und Straßburg. Letzteres befand sich 1.400 Meter vom Anatomischen Institut entfernt in der heutigen rue de Maréchal Juin. Doch Hirt bezog noch aus anderen Quellen Leichen: Bislang blieb in der einschlägigen Forschung unbemerkt, dass Hirt auch Leichen aus der Landesheilanstalt Lörchingen in Lothringen bezog. Dort wurden – wie in anderen derartigen Einrichtungen auch – ab 1943 geistig Behinderte im Rahmen der sogenannten „Aktion Brandt“ ermordet. Es muss offenbleiben, wie viele Leichen Hirt von dort bezog und wie diese Opfer verstarben. Der kommissarische Leiter der Einrichtung schrieb am 8.9.1942 an Hirt und belegt im Brief, dass Hirt sich aktiv um Leichen aus dieser Anstalt bemüht hatte.282 Anders verhielt es sich mit den Leichen Hingerichteter, die Hirt von den zuständigen Staatsanwaltschaften angeboten wurden. Ein Rundschreiben vom 15.7.1942 des Generalstaatanwalts in Karlsruhe an die Anatomien in Tübingen, Heidelberg, Freiburg und Straßburg zeigt dies: „Für die nächste Zeit muss mit weiter stärker als bisher besetzten Hinrichtungsterminen gerechnet werden. Ich wäre deshalb dankbar, wenn entsprechende Maßnahmen getroffen würden, dass Ihre Wagen bis zu 6 Leichen laden könnten. Das Ladegewicht könnte dadurch erheblich vermindert werden, dass die schweren Särge durch eine leichtere, den Laderaum voll ausnützende Kiste ersetzt würde.“283

Diese Gedanken eines hochrangigen Juristen sind ein beredtes Beispiel, wie menschenverachtend das Regime mit seinen Gegnern umging und ihnen nicht einmal im Tode ihre Würde ließ. Hirts Antwort war nicht minder pietätlos: Er fragte an, ob er die Leichen auch per Bahn beziehen dürfe, da sich bei der avisierten großen Anzahl an Hingerichteten ein Eisenbahnwaggon „rentieren“ würde.284 Die Staatsanwaltschaften boten offenbar laufend Leichen in Straßburg an: Noch im Mai 1944 erhielt Hirt vom Generalstaatsanwalt die Leichen Hingerichteter aus dem Zuchthaus Bruchsal angeboten.285

281  Ebd.,

Schreiben der Stadt Straßburg an Hirt vom 24.8.1944, S. 136. Schreiben des Oberstaatsanwalts am Landgericht Stuttgart an Anatomie Straßburg vom 15.7.1942, S. 247. 283  Ebd., Schreiben von Hirt an Sanitätsstaffel Straßburg vom ?.8.1941 unter Bezugnahme auf sein vorheriges Schreiben vom 29.6.1941, S. 252. 284  Ebd., Schreiben von Hirt an Oberstaatsanwalt beim Landgericht Stuttgart vom 17.7.1942, S. 251. 285  Ebd., Schreiben des Generalstaatsanwalts an Anatomie Straßburg vom 11.5. 1944, S. 250. 282  Ebd.,



V. August Hirt97

Die Beschaffung von Leichen wurde also nicht nur von Sievers organisiert, sondern auch von Hirt selbst. Es muss offen bleiben, ob er sich als Hochschullehrer nicht ausschließlich von der SS abhängig machen wollte. Hirt verfügte nachweislich ebenso über Leichen von Menschen aus Natzweiler und von Angehörigen der Roten Armee aus den Kriegsgefangenenlazaretten der Wehrmacht wie über Möglichkeiten, Skelettpräparate durch den Versandhandel zu beziehen. Er hätte ohne Aufwand im Rahmen seiner regulären Tätigkeit eine Sammlung von Skeletten von Juden und „Bolschewisten“ anlegen können. Ein wichtiger Sachverhalt ist die Aussage von Hirts französischem zivilen Mitarbeiter Henri Henripierre im Ärzteprozess. Henripierre berichtete, dass er zwischen dem 6.6.1942 und der Räumung der Anatomie im Herbst 1944 250 bis 300 Leichen von verstorbenen polnischen und russischen Kriegsgefan­ genen aus der Festung Mutzig abgeholt habe.286 Diese Verbindung zwischen der Anatomie und der Festung Mutzig wirkt zunächst unglaubwürdig. In dem  Untersuchungsbericht von Simonin / Piédelièvre / Fourcade werden die Leichen von zwei Kriegsgefangenen aus Mutzig erwähnt, deren Herkunftsort Mutzig jedoch erneut Henripierre angegeben hatte.287 Allerdings erscheint es wenig glaubwürdig, dass Hirt mit der Kriegsgefangenenverwaltung der Wehrmacht in Mutzig einen Vertrag abgeschlossen haben soll, dass dort anfallende Leichen gegen eine Spende in die Mannschaftskasse von ihm erworben werden konnten, wie es in der Literatur ebenso forsch (wie darüber hinaus falsch zitierend) behauptet wird.288 Richtig ist hingegen, dass die Vereinbarung zwischen Hirt und dem Konzentrationslager Natzweiler vorsah, für die Dienstleistung der Lieferung einer Leiche jeweils zehn Reichsmark vom Anatomi286  Ebbinghaus / Dörner / Linne u.  a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Aussage Henripierre vom 18.12.1946, S. 754 f. 287  Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade: Dieser vom Richter am Ständigen Militärgerichtshof des 10. Militärbezirks in Straßburg, Major Jadin, am 9.7.1945 beauftragte Untersuchungsbericht des Straßburger Rechtsmediziners Professor Dr. Camille Simonin, des Pariser Rechtsmediziners Professor Dr. René Piédelièvre und des Straßburger Gerichtsmediziners Professor Dr. Jacques Fourcade hielt akribisch unter anderem fest, welche Leichen und Leichenteile von den 86 Opfern noch in Straßburg in der Anatomie waren und wie sie beschaffen waren. Außer geringfügigen Übertragungsfehlern (so ist stets von crural – also den Unterschenkel betreffend – die Rede, wenn es um fermorale – also den Oberschenkel betreffende – Injektionen von Konservierungsflüssigkeit geht) ist der Bericht im Gegensatz zu dem von Champy sehr sachlich und tatsachenorientiert. Die fermoralen Einstichstellen sind auf allen Fotos des Berichts deutlich zu sehen, so dass hier von einem Versehen in der Benennung auszugehen ist. 288  Lang, Nummern, S. 176: „Zu den Aufgaben Henripierres […] gehörte die Konservierung von Leichen, großteils Leichen russischer und polnischer Kriegsgefangener aus dem nahe gelegenen Fort Mutzig. Mit der dortigen Lagerverwaltung hatte Hirt einen Vertrag geschlossen, dass das Straßburger Anatomische Universitätsinstitut gegen eine kleine Spende von zehn Reichsmark für die Mannschaftskasse der SS Leichen beziehen durfte.“

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Abb. 13: Schreiben von Hirt an Sievers vom 20.10.1942. (Quelle: BArch NS 21 / 905)

schen Institut an die Mannschaftskasse zu zahlen. Ausdrücklich festgehalten wurde, dass die Leichen selbst kostenfrei zur Verfügung gestellt wurden.289 Das diesbezügliche, in der Literatur zitierte, Schreiben von Hirt an Sievers bezieht sich entgegen der wiedergegebenen Inhalte Langs ausdrücklich auf verschiedenste Absprachen zwischen Hirt und dem Konzentrationslager Natzweiler. Insoweit ist nicht nachvollziehbar, weshalb von Lang ausdrücklich dieses Schreiben als Beleg genannt wird, dass Hirt Leichen aus Fort Mutzig bezogen und dort Geld gezahlt habe.290 Der von Lang genannte „Vertrag“ wurde bislang nicht dokumentiert. Es ist zudem schlicht falsch, dass sich in Mutzig ein „Lager“ befunden haben soll oder gar eine dort sitzende „Lagerverwaltung“. In Mutzig befand sich das Reservelazarett II des Wehrkreises V. in dem vor allem Lungenkranke behandelt wurden. Verstarben dort behandelte Kriegsgefangene, wurden die Leichen unter anderem in die Anato­mie nach Straßburg gebracht. Der Grund, warum in der Literatur überhaupt eine Verbindung zwischen Hirt und dem Kriegsgefangenenlager Mutzig diskutiert wird, sind die Nach289  BArch NS 21 /  905, Schreiben von Hirt an Sievers vom 20.10.1942: „Zum Schluss wurde noch die Ablieferung von Russenleichen von Natzweiler an das Anatomische Institut geregelt. Das Institut zahlt pro Leiche eine Ablieferungsgebühr von RM 10,- an die Mannschaftskasse des KL Natzweiler.“ 290  Lang, Nummern, S. 176. Vgl. Toledano, Anatomical Institute, S. 132 f.



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kriegsaussagen des bereits erwähnten Ahnenerbe-Mitarbeiters Henri Henripierre.291 Dieser stellte sich während seines Zeugenauftritts im Nürnberger Ärzteprozess als Opfer Hirts dar und versuchte, seine eigene Rolle im In­stitut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung zu verbergen. Die Verbrechen im Konzentrationslager Natzweiler waren bereits vor Kriegsende bekannt. Henripierre war jener Angestellte in Hirts Anatomie, der für das Abholen der Leichen zuständig war. Da er nach dem Kriege sehr darauf bedacht war, nicht in die Nähe der SS gerückt zu werden, erfand Henripierre offenbar gegenüber der französischen Untersuchungskommission seine eigene Opferrolle und betonte vor allem die Tatsache, dass er die Leichen aus Mutzig geholt habe.292 Diese Geschichte trug er konsequent weiter vor, beispielsweise auch im Ärzteprozess.293 Es ist deshalb anzunehmen, dass Henripierre Leichen aus Natzweiler und dem Wehrmachts-Lazarett Mutzig meinte und aus irgendeinem Grunde nicht mit dem Konzentrationslager in Verbindung gebracht werden wollte. Bei der Festung Mutzig hatte sich im Ersten Weltkrieg ein Kriegsgefangenenlager befunden, in dem vorwiegend Häftlinge aus Polen und Russland untergebracht waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg richteten die Franzosen bei Mutzig ein Kriegsgefangenenlager vorwiegend für deutsche Soldaten ein. Bis heute ist in den Quellen kein Hinweis zu finden, dass es während des Zweiten Weltkrieges ein deutsches Kriegsgefangenenlager in Mutzig gab, von wo russische und polnische Kriegsgefangene in die Anatomie von Straßburg hätten gelangen können, wie in der Literatur behauptet, sondern lediglich das Reserve-Lazarett II, Lazarettabteilung für Kriegsgefangene.294 Der Bezug von verstorbenen russischen und polnischen Kriegsgefangenen aus den Reservelazaretten ist dagegen gut belegt. In Bezug auf die Schädelsammlung ist es jedoch ein Anhaltspunkt, dass Hirt offenbar rund 250 Leichen Kriegsgefangener „frei Haus“ erhielt, wie Toledano anhand der Namen belegte. Dabei ist festzuhalten, dass es (wie oben bereits erläutert) bis heute in der medizinischen Ausbildung üblich ist, gespendete Körper zu präparieren, gelegentlich in der Anatomie verbleibende Präparate zu Ausbildungszwecken zu fertigen und die Überreste der Leichen zu bestatten. Damals wie heute wäre es also möglich gewesen, aus zur Verfügung gestellten Leichen – sofern nach der Anlieferung die passende Konservierungsmethode gewählt wurde – Schädelknochen zu präparieren und anschließend die Leichenreste 291  BArch NS 21 / 29, Aufstellung der Forschungsbeihilfeempfänger des Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung durch die Verwaltungsführerin des Ahnen­ erbes, Anneliese Deutschmann, vom 13.3.1945. 292  BArch B 162 / 20260, Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade, S. 9. 293  Ebbinghaus / Dörner / Linne u. a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, S. 754. 294  Lang, Nummern, S. 176.

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zu kremieren. Eine weitere Unterstützung der Leichenbeschaffung durch das Ahnenerbe, beispielsweise bezüglich eines Museums oder einer Ausstellung der in der Universität aufbewahrten und von den Franzosen zwischen 1918 und 1940 ergänzten Schädelsammlung Gustav Schwalbes aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg oder einer möglichen Alternative oder Ergänzung durch Hirt mit Schädeln von Juden, ist nicht belegt.295 Stattdessen finden sich in den Quellen Hinweise, dass die Räume der Schwalbe’schen Sammlung im Obergeschoss der Anatomie auf Hirts Antrag baulich modernisiert und mit Heizungen versehen wurden.296 Für die Heizung des Obergeschosses hatte das Ahnenerbe Metallbezugsscheine für 1.900 Kilogramm beschafft.297 Gänzlich unbelegt ist jedoch die folgende Behauptung aus der Monographie von Hans-Joachim Lang: „Unmittelbar nach seiner Ankunft in Straßburg 1941 fasste Hirt den Plan, die in seinem Institut vorhandenen Sammlungen zu einem Anatomischen Museum auszubauen.“298 Merkwürdig wirkt zudem die Behauptung, es sei „[e]in ­Museum mit toten Juden als Exponaten“299 geplant gewesen. Auch nach rund 70 Jahren ist es nicht gelungen, in den Akten des Bauarchivs Straßburg oder in den Aktenbeständen der Reichsuniversität, der Zivilverwaltung oder der SS Belege zu finden, die eine solche These stüt295  Ohne Belege behauptete Hans-Joachim Lang, Hirt habe ein Museum geplant, um dort den Menschen in kommenden judenfreien Zeiten anhand der Skelette die rassische Minderwertigkeit von Juden zu beweisen. Diese Behauptung hat sich im Internet rasch verbreitet, wie Suchmaschinenabfragen jederzeit zeigen. Es ist wohlfeil, jemandem, der so „besinnungslos“ ist, freiwillig in den Krieg zu ziehen, danach wie ein Kinderschreck aussieht und dann auch noch vor Giftgasexperimenten an Menschen nicht zurückschreckt, ein solch grausiges Vorhaben zu unterstellen. Allerdings muss solchen unbelegten Gruselgeschichten Folgendes entgegengehalten werden: Nach 1945 galt August Hirt als einer der bekanntesten Medizinverbrecher. Unzählige Mitarbeiter der alliierten Organe suchten Beweise für die Anklage in Nürnberg, die die Skelettsammlung als prägnanten Punkt beinhaltete. Einige Mitarbeiter Hirts standen parallel in Paris vor Gericht. Die Fachwelt distanzierte sich – wie oben im Falle Wirth gezeigt – von dem Verdacht, mit irgendeiner Handlung Hirts in Verbindung gebracht werden zu können. Jedoch distanzierte sich erstaun­ licherweise kein Angehöriger der Reichsuniversität Straßburg von dem Plan, Hirt durch die Zusage von Museumsräumen bei dem Verbrechen der Skelettsammlung unterstützt zu haben. 296  BArch NS 21 / 906, Schreiben von Hirt an Ahnenerbe vom 29.8.1942 sowie weitere entsprechende Korrespondenz über die Eisenzuteilungen, unter anderem für die Deckenkonstruktion und die Heizungen der Sammlungen im Obergeschoss. 297  BA NS 21 / 905, Ahnenerbe an Heizungsbau Stenger vom 28.10.1942. 298  Lang, Nummern, S. 126. 299  Ebd., Inhaltsverzeichnis: Lang betitelt zwar eines seiner fünf Kapitel mit dieser reißerischen Überschrift, bleibt aber auf über 300 Seiten jeden Beleg schuldig, wer wann wo in welcher Weise, welcher Größe und für welches Publikum und mit welchem Geld ein Museum bauen wollte und was dort neben den „toten Juden“ ausgestellt sein sollte.



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zen – besonders, weil die Anatomie und die Pathologie, die sich ein Gebäude teilten, ausweislich der Grundrisse300 überhaupt nicht über Räume verfügten, in die einem Museums­publikum langfristig hätte Zugang ermöglicht werden können.301 Gerade das Obergeschoß der Anatomie, in dem die Schwalbe’sche Sammlung beim ­Eintreffen Hirts bereits, aus der französischen Zeit als Musée d’Anatomie bekannt, eingelagert war, entsprach in keiner Weise den baupolizeilichen Anforderungen für öffentliche Ausstellungsräume, vor allem in Bezug auf Brandschutz und Entfluchtung.302 Ein Neubau für solche Zwecke war aufgrund der kriegsbedingten Materialbewirtschaftung, die schon eine bauliche Fertigstellung der regulären Universitätsgebäude sehr erschwerte, ebenso unwahrscheinlich wie der Kauf eines Gebäudes. Selbiges gilt auch für eine nicht-öffentliche Sammlung, die nur für ein Fachpublikum zugänglich gewesen wäre. Aus den entsprechenden Akten des Reichsfinanzministeriums geht hervor, wie knapp das Geld für die Universität Straßburg tatsächlich war, so dass zwischen dem Ausstattungsanspruch und den tatsächlichen Mitteln erhebliche Differenzen bestanden. Letztlich gab es nur einen Zusammenhang zwischen der Ermordung der 86 Opfer und einem Museum – wie unten gezeigt wird –, jedoch ohne jede Verbindung mit der Anatomie in Straßburg und ihrem Direktor Hirt. Ebenso fanden sich bis heute keinerlei Belege, dass Hirt eine Präferenz in Bezug auf die ihm frei Haus gelieferten Leichen oder in Bezug auf Leichenteile hatte. Während beispielsweise eine Mitarbeiterin Hirts damit beschäftigt war, die aus diesen Leichen präparierten Nervenzellen zur Konservierung als Demonstrationsstücke für die medizinische Ausbildung durch Versilberung haltbar zu machen, sind keinerlei Arbeiten in Bezug auf die Skelette oder Schädel der Leichen belegt.303 Durch die Quellen ist allerdings ein Sachverhalt unzweifelhaft: Hätte August Hirt eine Schädel- oder Skelettsammlung aus den Leichen von Juden oder sonstigen Opfergruppen aufbauen wollen, so besaß er ohne zusätzlichen Aufwand oder irgendein strafrechtliches oder Geheimhaltungsrisiko mit wenigen Mitwissern vielfache Gelegenheit dazu.

300  BArch R 2 / 29536, Bauunterlagen der Reichsuniversität Straßburg einschließlich der Grundrisse des Gebäudes der Pathologie und Anatomie in den Unterlagen des Reichsfinanzministeriums. 301  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Schmitt vom 10.4.1963, S. 484. 302  BArch R 2 / 29536, Bauunterlagen der Reichsuniversität Straßburg einschließlich der Grundrisse des Gebäudes der Pathologie und Anatomie in den Unterlagen des Reichsfinanzministeriums. 303  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Schmitt vom 10.4.1963, S. 484.

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5. Sievers legt eine falsche Spur Die Ursache für diese Gerüchte, die Historiker trotz fehlender Quellen zu Tatsachen umdeuteten, liegen in den zahlreichen Aussagen Sievers’ in Nürnberg begründet, aber auch in den tendenziösen Bestätigungen derselben durch Henripierre. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass 86 Menschen grausam ermordet wurden, um an Teile ihres Körpers zu gelangen. Ein Teil des Verbrechens fand in der Anatomie Straßburg statt, deren Leiter Hirt in Personalunion auch als führender Mitarbeiter des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung war. Diese Tat wurde daher dessen Direktor Sievers angelastet. Er entlastete sich stets mit dem Hinweis, dass dies kein Verbrechen des Ahnenerbes und der SS sei und es ihm daher nicht zugerechnet werden könne. Vielmehr habe es sich um ein Vorhaben der staatlichen Universität gehandelt. Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess konfrontierte der Ankläger Major Frederick Elwyn-Jones den Zeugen Sievers am 8.8.1946 mit der Frage: „Hörten Sie je von der Skelettsammlung des Professors Hirt?“ Sievers stellte mit seiner Antwort die Weichen für die Interpretation dieses Verbrechens und stellte die bis heute weithin akzeptierte, wenngleich erlogene These auf: „Es handelte sich hier um eine Angelegenheit der Universität Straßburg. […] Es handelte sich um den Ausbau der Anatomie der damals neu übernommenen Universität Straßburg, und zwar um den Neuausbau des sogenannten Anatomischen Museums, wie es an allen Anatomien der Universitäten besteht.“304

Hier wird noch einmal deutlich, dass es um ein (öffentliches) Museum ging und nicht um eine (nicht öffentliche) Sammlung. Das International Council of Museums hat klar definiert, was unter einem Museum zu verstehen ist: „Ein Museum ist eine gemeinnützige, auf Dauer angelegte, der Öffentlichkeit zugängliche Einrichtung im Dienste der Gesellschaft und ihrer Entwicklung, die zum Zwecke des Studiums, der Bildung und des Erlebens materielle und immaterielle Zeugnisse von Menschen und ihrer Umwelt beschafft, bewahrt, erforscht, bekannt macht und ausstellt.“305 Damit unterscheidet sich ein Museum von einer Sammlung. Der grundsätzliche Unterschied zwischen öffentlicher Ausstellung und nichtöffentlicher Sammlung dürfte auch 1941 in Straßburg gegolten haben. Auf die Nachfrage, in welcher Form Adolf Eichmann mit Hirt zusammengearbeitet habe, antwortete Sievers am 20.8.1946:

304  IMT,

Aussage Sievers vom 8.8.1946. des International Council of Museums, abgerufen am 17.10.2017: http: /  / www.icom-deutschland.de / schwerpunkte-museumsdefinition.php. 305  Internetseite



V. August Hirt103 „Das ist so zustande gekommen: Bei dem Neu-Aufbau der Anatomie Straßburg hat Hirt den Antrag gestellt, (Leichen306) zu erhalten und zwar aufgrund des Kommissar-Befehls, also so, wenn der Direktor einer Anatomie von einer bevorstehenden Hinrichtung erfaehrt, an den Staatsanwalt herantritt, die Leiche des Hinzurichtenden zu erhalten und er dann Antrag stellt auf Grund des Kommissar-Befehls, dass in Zukunft die besonders kriminell erscheinenden Personen, die zur Hinrichtung bestimmt waren, zu wissenschaftlichen Untersuchungen der Anatomie Straßburg zur Verfuegung gestellt wurden. Dieser Antrag ging an Himmler und Himmler ordnete an, dass in einem Befehl an Gluecks, dem Inspecteur für die Konzentrationslager, die Zurverfuegungstellung zu erfolgen habe. Ich erhielt den Auftrag, mit Gluecks deswegen zu sprechen, der mir sagte, dass dafuer Eichmann zustaendig sei.“307

Sievers’ Aussage vermischte zunächst geschickt verschiedene Sachverhalte, zumal er in Unkenntnis über den Ermittlungsstand der Alliierten war. Zunächst einmal vermengte er den damals bereits bekannten „Kommissarbefehl“, der die Tötung von Kriegsgefangenen legalisierte, mit der Praxis, dass Anatomien und Staatsanwaltschaften aufgrund der Körper von Hingerichteten miteinander in Kontakt waren. Dass der Kommissarbefehl an die Wehrmacht nicht von einem Staatsanwalt im Reichsgebiet an „besonders kriminell erscheinenden Personen“ vollstreckt wurde, wollte Sievers der Glaubwürdigkeit seiner Geschichte wegen wohl nicht offenlegen. Ebenso vermischte er den auf die Kriegführung in der Sowjetunion bezogenen Kommissarbefehl mit Kriminellen, die nach einer Verurteilung inhaftiert wurden. Doch schon eine der nächsten Fragen des Vernehmers in diesem Zusammenhang klärte Sievers auf, warum er zu diesem Thema befragt wurde, und er schwenkte auf die Verteidigungslinie ein, die er fortan beibehielt. Auf die Frage „Kennen Sie Dr. Beger?“ antwortete Sievers: „Ja. Dr. Beger war ein alter Mitarbeiter, jedenfalls Bekannter von Professor Hirt. Er war Anthropologe und hat aus diesem zum Tode verurteilten Personenkreis diese Personen ausgesucht.“308

Explizit erklärte Sievers in der Hauptverhandlung des Ärzteprozesses auf die Frage, warum die Skelett-Sammlung angelegt wurde: „Das ging aus dem Antrag hervor, den Hirt gestellt hatte für den Aufbau der Universität Straßburg.“ Ein solcher ist bis heute nicht gefunden worden, und die Quellen schließen die Existenz eines solchen Antrages aus. Sievers setzte dann in der 306  Dieses Wort fehlt im Original-Protokoll, das zudem in sehr schlechtem Deutsch mit wiederkehrenden Hörfehlern geschrieben ist. Vermutlich wurde das Protokoll von einem amerikanischen Staatsangehörigen mit Deutschkenntnissen angefertigt, während Sievers in der Regel von Amerikanern verhört wurde und Deutsche das Protokoll schrieben. 307  IfZ MA 1562, Pre-Trial-Interrogations Sievers vom 20.8.1946, S. 7. 308  Ebd., S. 8.

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öffentlichen Verhandlung jene Legende in die Welt, die erst Michael Kater im Rahmen seiner Gesamtdarstellung zum Ahnenerbe widerlegte: „Hirt ist ein alter Bekannter von Himmler und hat zuerst im Auftrag von Himmler 1935 – das war vor meiner Zeit – die anatomische Altersbestimmung des wiederaufgefundenen Schädels von König Heinrich I. durchgeführt.“309

Allerdings wurde die Dokumentation von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke dennoch gutgläubig im Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Frankfurt gegen Bruno Beger ausdrücklich als Beleg dafür genannt, dass die Dinge so waren, wie von ihnen mit der nur wiedergegebenen Aussage von Sievers in Nürnberg dargestellt.310 Es ist aufgrund des Inhaltes und der Formulierungen der Quellen ausgeschlossen, dass Himmler bereits vor 1942 Hirt persönlich kannte. Kater zeigt, dass die „Lüge“ bezüglich des Heinrich-Schädels lediglich dazu diente, Hirt nach dem Krieg als Schädel-Experten darzustellen. Die Lüge entlarvte Kater auf simple Art: Er zeigte, dass der angebliche Heinrich-Schädel erst 1937 – lange nach der Feier zum 1000. Todestag Heinrichs I. im Jahre 1936 (nicht wie von Sievers angegeben 1935) – gefunden wurde.311 Dennoch wird die Widerlegung Katers, dass Hirt den Schädel nicht untersucht haben kann, in jüngeren Forschungen als Beleg dafür angeführt, dass Hirt den Schädel dennoch untersucht habe.312 Eine weitere Unwahrheit wurde in dem Zusammenhang ebenfalls aufgeklärt. Diese Vorgänge fanden nicht, wie von Sievers behauptet, vor dessen Zeit beim Ahnenerbe statt: Es ist belegt, dass es zum ersten Kontakt Sievers’ zum „Freundeskreis Reichsführer309  IfZ

MA 1562, Pre-Trial-Interrogations Sievers vom 23.11.1946. Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift, S. 24. Der junge Arzt Alexander Mitscherlich beobachtete als Vorsitzender der Kommission der Westdeutschen Ärztekammern den Nürnberger Ärzteprozess. Dabei wurde er vom Studenten Fred Mielke begleitet. Beide gaben im Jahre 1947 eine Schrift mit dem Titel „Das Diktat der Menschenverachtung. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Quellen“ kommentiert heraus. Das Buch erfuhr über die Jahre mehrere Überarbeitungen, auch wegen gerichtlich durchgesetzter Änderungsforderungen. Seit dem Jahre 1960 erscheint es unter dem Titel „Medizin ohne Menschlichkeit“. Mitscherlich und Mielke stellten dar, was sie im Ärzteprozess erfahren hatten. Eigene Recherchen zur Überprüfung und Plausibilisierung der Angaben der Angeklagen und Zeugen waren nicht Gegenstand der Publikation. 311  Kater, Ahnenerbe, S. 80 f. und 246. Obwohl bei Kater (S. 80) ausdrücklich festgehalten ist, dass der vermeintliche Schädel erst 1937 gefunden wurde, ignoriert Lang diesen Befund und begründet seine Behauptung, dass Hirt im Jahre 1936 den Heinrich-Schädel untersucht habe, ausdrücklich mit der Aussage Sievers’, womit er sich zu dessen Erfüllungsgehilfen macht, der auf diesem Wege Hirt eine Spezialisierung auf Schädel andichtete, die nicht vorhanden war. Ferner ignoriert Lang, dass Kater belegte, dass ein Anthropologe des RuSHA den Schädel im Jahre 1937 untersuchte. Hirt war weder Anthropologe noch beim RuSHA beschäftigt, was offenbar nicht zu der These Langs passte (Lang, Nummern, S. 128). 312  Lang, Nummern, S. 128. Lang ergänzte 2019 in der FAZ, dass Hirt bereits Ende 1937 Skelette aus Quedlinburg untersucht habe, allerdings in Greifswald. 310  HStA Wiesbaden



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SS“ eben bei der König-Heinrich-Feier 1936 in Quedlinburg kam.313 Richtig ist jedoch, so belegt Kater, dass ein Anthropologe des Rasse- und Siedlungshauptamtes den vermeintlichen Heinrich-Schädel 1937 untersuchte.314. Der einzige Anthropologe, dessen späterer Wechsel vom Rasse- und Siedlungshauptamt zum Ahnenerbe nachweisbar ist, war jedoch Bruno Beger. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Hirt verschiedene Möglichkeiten hatte, legal an Leichen zum Aufbau einer Skelettsammlung zu gelangen, nicht zuletzt durch die von Sievers nach seinem Besuch in Natzweiler am 31.8.1942 beschafften Genehmigungen des WVHA. Dabei zeigte Hirt jedoch nie Präferenzen in Bezug auf die Herkunft der Verstorbenen. Es gibt keine Belege, dass er jüdische Verstorbene suchte. Hirt baute jedoch weder eine Sammlung auf, noch gibt es bis heute irgendeinen Hinweis, dass die Reichsuniversität Straßburg von ihrem beamteten Professor Derartiges verlangte oder dieser so etwas anbot. Daher ist es unwahrscheinlich, dass die Behauptung Sievers’, die staatliche Reichsuniversität Straßburg habe ein solches Vorhaben beim privaten Verein Ahnenerbe beantragt, zutreffend ist. Denn eine genauere Bezeichnung des von Sievers erwähnten Antrages, seiner Inhaltes oder weiterer Details hätte ihn in diesem Hauptanklagepunkt entlasten können. Es spricht für sich, dass er diesbezüglich keine näheren Angaben machte. 6. Lost-Versuche in Natzweiler Bei ihrem Besuch im Konzentrationslager Natzweiler am 31.8.1942 waren sich Sievers und Hirt einig, dass die dortigen Einrichtungen geeignet seien, um die geplanten Lost-Versuche am Menschen durchzuführen. Einige Tage später, am 9.9.1942, reiste Sievers zur Zentrale der Konzentrationslagerverwaltung – der Amtsgruppe D im Wirtschafts-Verwaltungs-Hauptamt der SS – in Oranienburg.315 Dort sprach er mit dem Amtschef, Brigadeführer Richard Glücks. Mit Hilfe des „Blanko“-Befehls Himmlers für Hirt erhielt dieser die förmliche Genehmigung, im Konzentrationslager Natzweiler eine Außenstelle der Abteilung H des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung einzurichten. Damit stand der Herrichtung einer Versuchsstation im

313  Kater,

Ahnenerbe, S. 68. S. 81. 315  Das Konzentrationslager Oranienburg entstand 1933 in der Innenstadt von Oranienburg und wurde 1934 geschlossen und als Reserve-KZ ohne Gefangene geführt. Es ist nicht identisch mit dem Konzentrationslager Sachsenhausen am Stadtrand von Oranienburg, das von 1936 bis 1945 bestand. Vielmehr befand sich dort mit der Amtsgruppe D des WVHA die für die Verwaltung aller Konzentrationslager zuständige Dienststelle der SS.  314  Ebd.,

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Lager nichts mehr im Wege.316 Doch als Hirt am 19.10.1942 in Natzweiler prüfen wollte, wie weit der Ausbau der für ihn bereitzustellenden Räumlichkeiten gediehen war, stellte er fest, dass nicht viel geschehen und auch das zugesagte Personal noch nicht für die anstehenden Aufgaben bereitgestellt worden war.317 Offenbar gab es einen Zeitplan für die geplanten Lost-Versuche. Denn obwohl noch keine Vorbereitungen getroffen waren, bestellte Sievers am 22.10.1942 die erste Charge Lost für Hirt. Diese 20 Gramm Lost wurden dann im Tierversuch eingesetzt.318 Am 3.11.1942 verfasste Sievers einen längeren Bericht über den Stand seiner Lost-Forschungen zur Dokumentation für das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung. Auch bei diesem Vorhaben verwies er zunächst auf den „Blanko“-Befehl Himmlers, mit dem er die Lost-Versuche rechtfertigte. Anschließend dokumentierte er, dass unter allen Teilnehmern der Lagerbesichtigung am 31.8.1942 Einigkeit bestanden habe, dass die Versuche in Natzweiler stattfinden sollten. Sievers vermerkte weiter: „Ich berichtete darüber am 9.9.42 mündlich und anschließend am 11.9.42 schriftlich SS-Brigadeführer Glücks, der sein Einverständnis gab und seine vollste Unterstützung zusicherte. In Hinblick auf die Dringlichkeit der Forschungsaufgaben habe ich SS-H’Stuf. Prof. Dr. Hirt veranlasst, weil bisher eine Meldung über den Beginn der Arbeiten noch nicht vorlag, noch einmal nach Natzweiler zu fahren. Über diese am 19.10.42 in Natzweiler stattgefundene Unterredung berichtete SS-H’Stuf. Prof. Dr. Hirt u. a.: ‚Grund der Besprechung war die Tatsache, dass außer der Abkommandierung von Oberscharführer Walbert bis jetzt noch nichts erfolgt ist; so ist auch der Ausbau der Laboratorien noch nicht in Angriff genommen. Es wurde nunmehr beschlossen, dass im Laufe dieser Woche mit dem Ausbau der Laboratoriumsräume begonnen wird. Weiter wurde festgelegt, dass der Bau der Stallungen in Schirmeck durchgeführt wird, dessen Kommandant sich erfreulicherweise sofort bereit erklärt hat, die notwendigen Leute kostenlos zur Verfügung zu stellen, während Natzweiler durch große umständliche Anforderung der Arbeiter doch nicht dazu in der Lage gewesen wäre. Ferner wurde mitgeteilt, dass die Häftlinge, die nachher in Versuch genommen werden sollen, von uns aus bezahlt werden müßten für die Dauer, die sie in Versuch sind. Für die im L-Versuch liegenden Häftlinge ist von uns aus zu beantragen, daß sie auf Vollkost (Kost der Bewachungsmannschaft) gesetzt werden, damit die Versuche 316  NARA

T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 9.9.1942. NS 21 / 905, Vermerk von Saßenroth vom 4.12.1942. 318  Ebd., Schreiben von Sievers an SS-Hauptsanitätslager der Waffen-SS vom 22.10.1942. 317  BArch



V. August Hirt107 unter gleichen Bedingungen wie evtl. im Ernstfall bei der Truppe durchgeführt werden. Wir beabsichtigen, zunächst 10 Häftlinge in Versuch zu nehmen. H’Stuf. Dr. Blanke erklärte, daß ihm die Zuteilung eines zweiten Arztes für die Überwachung der Versuche an Patienten abgelehnt worden sei, so daß er vermutlich nicht genügend Zeit habe, sich um die Versuche zu kümmern. Das Röntgengerät, das ich hier beschaffen konnte, ist endgültig von Berlin noch nicht in Auftrag gegeben. Es müsste schnell zugegriffen werden, damit es nicht unter Umständen verloren geht. Die Legung von Gleichstrom macht Schwierigkeiten. Man hat aber den Eindruck, als ob die Bauleitung mit dem Problem sich überhaupt noch nicht befasst hat. Nach ihrer Ansicht wäre ein Transformator zu beschaffen, der 220 [Volt] Wechselstrom auf Gleichstrom transformieren kann. Das dürfte hier ziemlich unwahrscheinlich sein. Zur Einrichtung des Laboratoriums würde ich aus Beständen des Anatomischen Institutes die nötigen Einrichtungsgegenstände (Gefriermikroton, Brutschränke, usw.) im Laufe der nächsten Woche nach Natzweiler schaffen. Sie bleiben natürlich Eigentum der Anatomie. – Die beiden Häftlinge, die im Mikrotomieren ausgebildet sind, können dann eingesetzt werden. Sie sollen nach Mitteilung von H’Stuf. Dr. Blanke darin perfekt sein.‘ “319

Sievers hielt in seinem Bericht weiter seinen Eindruck fest, „als ob in Natzweiler kein allzugroßes Interesse an einer Zusammenarbeit besteht“. Denn: „Wir machen die Versuche ja nicht einer fixen wissenschaftlichen Idee wegen, sondern, um damit praktisch der Truppe und darüber hinaus im gegebenen Ernstfall dem Deutschen Volke zu nützen.“320 Daraufhin wurden offenbar die Mängel abgestellt, denn kurz darauf begannen die Versuche Hirts.321 Schon am 11.11.1942 konnte Hirt das Entgegenkommen von Glücks’ Vorgesetztem Oswald Pohl feststellen, an den man sich offenbar gewandt hatte: Pohl hatte entschieden, dem Institut für wehrwissen319  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 79 ff., Vermerk von Sievers vom 3.11.1942. 320  Steegmann, Natzweiler, S.  424: Steegmann zitiert Sievers’ Bericht vom 3.11.1942 und fügt ohne Beleg lückenlos an: „Hirts Reaktion zeugte von Arroganz und Brutalität. Er war enttäuscht, dass man ihm nicht den Dienstgrad verlieh, der ihm seiner Meinung nach zustand, nämlich dem eines Oberstabsarztes – er war damals nur Oberarzt. Trotz aller Hindernisse begannen die Versuche schließlich am 25. November 1942.“ Es ist nicht ersichtlich, worin Hirts Reaktion auf die Verzögerungen bestand und inwiefern diese brutal war. Hirts Hinweis, dass seine Assistenten ihn hinsichtlich des Wehrmachtsdienstgrades beinahe überholten und er daher eine Beförderung bei der Wehrmacht wünschte – für die Sievers nicht zuständig war – hatte er in ganz anderem Zusammenhang bereits zwei Wochen zuvor geäussert. (BArch NS 21 / 904, Schreiben von Hirt an Sievers vom 10.10.1942.) Diese Klage Hirts steht in keinerlei Zusammenhang mit den Verzögerungen in Natzweiler. 321  Benzenhöfer, Mengele, S. 31.

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schaftliche Zweckforschung weder die Nutzung der Häftlinge noch Material, Elektrizität oder sonstige Kosten zu berechnen.322 Nun stand den Versuchen mit dem gefährlichen Kampfstoff nichts mehr im Wege. Als Ort für die Versuche war der Häftlingskrankenbau (HKB) des Konzentrationslagers vorgesehen, der auch Revier oder Krankenrevier genannt wurde. In dieser Baracke, dem Block 5, wurde eine Versuchsstation eingerichtet. Diese wird in den Quellen als Sonderstation Ahnenerbe H bezeichnet. Seitdem nach Kriegsende Mitarbeiter von Hirt die Identität der 86 Opfer der Schädelsammlung, aber auch der Opfer der Lost-Versuche offenbarten, waren beide Opfergruppen leicht zu identifizieren. Die französischen Ermittlungsbehörden, die die Identität aller Opfer bereits Ende 1944 kannten, gingen dem Thema jedoch ebenso wenig nach wie später die Historiker, die sich mit dem Thema beschäftigten. Daher kann erst heute – siebzig Jahre nach der Tat – diese Wissenslücke geschlossen werden. Aufgrund der beim Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen aufbewahrten Quellen konnte die Einbeziehung der Häftlinge in die Lost-Versuche präzise nachvollzogen werden. Zunächst wurden zehn Häftlinge für den ersten Lost-Versuch ausgewählt. Alle – auch die weiteren, später ausgewählten Häftlinge – gehörten der Häftlingskategorie „BV“ an. Das Kürzel stand in den Konzentrationslagern für Berufsverbrecher, also in der Regel deutsche Häftlinge, die bereits mehrfach straffällig geworden waren. Die meisten Häftlinge stammten aus Block 3, einige jedoch auch aus Block 1, wo die sogenannten Funktionshäftlinge untergebracht waren.323 Dies waren Häftlinge, die anstelle der Zwangsarbeit im Steinbruch Funktionen im Lageralltag für die SS wahrnahmen. Die ersten zehn Häftlinge wurden am 12.11.1942 in den Block 5 verlegt.324 Dieser Block verfügte über 18 Zimmer mit je 24,5 Quadratmetern.325 Diese zehn Häftlinge wurden im Block 5 von Funktionshäftlingen betreut, die teilweise nach dem Kriege als Zeugen gegen ihre Peiniger von der SS aussagten. Dazu gehörte der Pfleger Hendrik Nales, der die Opfer Hirts betreute.326 Der Kapo 322  BArch

NS 21 / 905, Schreiben von Sievers an Hirt vom 11.11.1942. Natzweiler, S. 331. 324  Die Häftlinge im Block 3 waren der Häftlingskategorie „Berufsverbrecher“ zugeordnet. Im Block 1 waren die Funktionshäftlinge untergebracht, darunter die Häftlingsärzte, Pfleger und andere für den Lageralltag wertvolle Häftlinge. 325  Steegmann, Natzweiler, S. 332. Steegmann thematisiert die Überbelegung der Krankenbaracken. Dabei ist zu bedenken, dass durch das Einrichten der Sonderstation Ahnenerbe der verfügbare Raum für die anderen Kranken des Konzentrationslagers noch weiter reduziert wurde. Diese negativen Sekundäreffekte der Medizinverbrechen in Konzentrationslagern – die unter anderem auch für die Versuche Bickenbachs und Haagens in Natzweiler gelten – werden in der Literatur nur selten diskutiert. 326  Ebbinghaus / Dörner / Linne u. a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Aussage Nales, S. 10582. Nales sagte aus, dass der Häftling Josef Ruffer, Häftlingsnummer 1219, 323  Steegmann,



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des Häftlingskrankenbaus war nach eigener Aussage (getätigt während des Nürnberger Ärzteprozesses) Ferdinand Holl.327 Alle Zugänge von Häftlingen zur Truppenverpflegung, Veränderungen am Einsatzort und andere, für die Verpflegungskosten relevante Vorgänge wurden im sogenannten Veränderungszettel des Kommandanturstabes des Konzentrationslagers Natzweiler eingetragen. Selbst wenn es nach dem Schreiben dieser Listen am selben Tag zu einer Veränderung kam, wurde nicht mit Streichungen gearbeitet. In solchen Fällen wurden Nachtrags-Veränderungszettel geschrieben. Alle Veränderungszettel der Kommandantur waren durchnummeriert, so dass eine Auswertung auch nach über 70 Jahren nicht sonderlich schwer ist. Im Nachtragsveränderungszettel Nr. 68 war vermerkt, dass ab 13.11.1942 „10 Mann ‚Sonderabteilung Ahnenerbe H‘ b. a. w. in Verpflegung“ waren. Dies bedeutete, dass zehn Häftlinge in die Sonderabteilung Ahnenerbe, Abt. H des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung, in den Block 5 verlegt worden waren und dort bis auf weiteres verpflegt wurden. Diese Verpflegung unterschied sich von derjenigen, die die anderen Häftlinge im Lager erhielten.328 Hirt hatte darauf bestanden, dass die Häftlinge zur Vorbereitung des Versuches Truppenverpflegung erhalten sollten. Diese Truppenverpflegung – die jedoch offenbar nur am Mittag und am Abend an die Häftlinge ausgegeben wurde – sollte gewährleisten, dass die – untechnisch ausdrückt – körpereigenen Speicher für Vitamin A und Vitamin B6 aufgefüllt wurden. Zudem sollte gesichert sein, dass der Ernährungszustand der Häftlinge in etwa demjenigen von Frontsoldaten entspricht. Diese waren die wichtigste Zielgruppe unter den prospektiven Nutzgeboren am 9.3.1896 in Breslau, gestorben am 22.11.1942, das erste Opfer der LostVersuche Hirts war. Der am 9.9.1942 in Natzweiler eingelieferte Ruffer kam am 31.10.1942 wegen Körperschwäche in den Häftlingskrankenbau und starb dort vor dem ersten Versuch mit dem unwirksamen Lost. Ebenso verwechselte er Wimmer mit Bickenbach, der am 5.4.1943 erstmals von Sievers bei Lagerkommandant Kramer angemeldet wurde (S. 10587 ff.). 327  Ferdinand Holl (geb. 21.12.1900) war Kommunist im Saarland gewesen und wurde vor diesem Hintergrund inhaftiert. Er nahm Kapo-Funktionen wahr. Damit war er ein Häftling, der Privilegien auf Kosten der anderen Häftlinge bezog, die er zu kontrollieren hatte. Später ging Holl – ob freiwillig oder auf Druck oder um dem Lageralltag zu entgehen, muss offenbleiben – zur berüchtigten SS-Brigade Dirlewanger, die für ihre Verbrechen auf allen Kriegsschauplätzen bekannt war. Seine Nachkriegsaussagen wichen bezüglich konkreter Details jeweils stark voneinander ab, wie beispielsweise die Opferzahlen der Lostversuche Hirts bei den Aussagen Holls in Nürnberg. Warum sich Holl als Kapo bezeichnete, ist in Anbetracht des schlechten Rufs von Kapos unklar. Nachweislich war Fritz Pröll bis Dezember 1943 Kapo in Natzweiler. Im Dezember 1943 wurde auch Holl aus Natzweiler in ein Außenlager verlegt. 328  ITS 1.1.29.0 / 0016 / 0071 Veränderungszettel Kommandanturstab Nr. 0068 vom 12.11.1942.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

nießern von Hirts Therapieansätzen, die er mit den Versuchen an den Häftlingen überprüfen wollte.329 Das Genehmigungsverfahren für die Truppenverpflegung verlief sehr chaotisch und wurde erst am 17.11.1942 fernmündlich abgeschlossen. Die Liste mit den Namen der ersten zehn Häftlinge, die Opfer von Hirts Kampfstoff-Versuchen werden sollten, hat das Kriegsgeschehen über­ dauert:330 Häftlingsnr. / -Ka­tegorie

Name

Geb.-Datum /  -ort

Lagerdaten

1216 BV

Wilhelm Blum

15.11.1903 in Wildersheim

Strafhaft in Papenburg 9.9.1942 eingeliefert nach KZ Natzweiler 10.2.1943 Entlassung aus HKB 2.3.1943 von KZ Natzweiler nach KZ Dachau 26.8.1944 von KZ Dachau nach KZ Flossenbürg Schicksal ungewiss

0061 BV 175

Erich Köpf

5.4.1912 in Stuttgart

21.5.1941 von KZ Sachsenhausen nach KZ Natzweiler 30.1.1943 von KZ Natzweiler nach KZ Sachsenhausen Köpf überlebte den Krieg

1416 BV

Peter Landen

15.5.1906 in Koblenz

14.10.1942 eingeliefert nach KZ Natzweiler 12.11.1942 in Block 5 (HKB) 18.11.1942 Entlassung von dort; möglicherweise keine Teilnahme an Lost-Versuchen 05.9.1944 von KZ Natzweiler nach KZ Dachau 22.10.1944 von KZ Dachau nach KZ Neuengamme Schicksal ungewiss

1393 BV

Wilhelm Mezger

12.10.1913 in Stuttgart

7.10.1942 eingeliefert nach KZ Natzweiler 28.11.1942 in Block 5 (HKB) wegen Unterschenkel-Abszess; möglicherweise keine Teilnahme an Lost-Versuchen 7.9.44 Flucht Schicksal ungewiss

329  BArch 330  ITS

NS 21 / 905, Schreiben von Sievers an Hirt vom 20.11.1942. Natzweiler Listen 0011,0052; vgl. ITS 1.1.29.0 / 0016 / 0077.



V. August Hirt111

1281 BV

Wilhelm Müssgen

6.1.1901 in Köln

0.3.1935 eingeliefert nach Zuchthaus Rheinbach 24.3.1936 eingeliefert nach Zuchthaus Werl 23.9.1942 eingeliefert nach KZ Natzweiler (23 Vorstrafen) 24.11.1942 Block 5 wegen langer Krankheit 12.11.1942 eingegliedert in Lost-Versuch 31.12.1942 Tod nach Lost-Versuch wegen Lungenödem bei Bronchopneumonie

1348 BV

Friedrich Port

17.4.1914 in Kalbach

27.7.1942 Gestapohaft in Frankfurt 5.10.1942 eingeliefert nach KZ Natzweiler 12.11.1943 Block 5 (Hirt) 10.2.1943 Entlassung aus Block 5 2.3.1943 von KZ Natzweiler nach KZ Dachau 9.6.1943 von KZ Dachau nach KZ Sachsenhausen 10.6.1943 Entlassung, mutmaßlich zur Waffen-SS-Einheit Dirlewanger331 Schicksal ungewiss

1383 BV, PSV

Richard Reichard

8.5.1918 in München

7.10.1942 eingeliefert nach KZ Natzweiler 12.11.1942 Block 5 (Hirt) 2.3.1943 aus KZ Natzweiler nach KZ Dachau 6.4.1945 Flucht Schicksal ungewiss

0537 BV

Alfred Zinhobl

27.5.1907 Schwertberg

10.3.1941 von KZ Papenburg nach KZ Dachau 26.10.1942 von KZ Dachau nach KZ Natzweiler 12.11.1942 Block 5 (Hirt) 26.10.1943 von KZ Natzweiler nach KZ Sachsenhausen, von dort zur WaffenSS-Einheit Dirlewanger Schicksal ungewiss

331  Zahlreiche Häftlinge und Funktionshäftlinge wurden aus Konzentrationslagern entlassen, um bei der Waffen-SS-Einheit unter Dr. Oskar Dirlewanger eingesetzt zu werden. Die Formation bestand mehrheitlich aus verurteilten Straftätern, degradierten SS-Leuten, die dort „Bewährung“ erhielten, und aus sogenannten „Berufsverbrechern“, die aus Konzentrationslagern entlassen wurden. Dabei ist zumeist unklar, wann es sich bei der Entlassung aus dem Konzentrationslager um Zwang, eine freiwillige Meldung oder schlicht den Wunsch, dem tödlichen Lageralltag zu entgehen,

112

C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

0234 BV

Heinrich Scheepker

26.6.1907 in Bremen

22.6.1934 Verhaftung 1937–1940 Strafhaft 5.3.1940 Schutzhaft angeordnet in KZ Buchenwald 23.5.1941 von KZ Buchenwald nach KZ Natzweiler 12.11.1942 Block 5 (Hirt) 17.6.1943 von KZ Natzweiler nach KZ Buchenwald 25.6.1943 Tod (Kreislaufschwäche?)

0537 BV

Alfred Zinhobl

27.5.1907 Schwertberg

10.3.1941 von KZ Papenburg nach KZ Dachau 26.10.1942 von KZ Dachau nach KZ Natzweiler 12.11.1942 Block 5 (Hirt) 26.10.1943 von KZ Natzweiler nach KZ Sachsenhausen, von dort zur WaffenSS-Einheit Dirlewanger Schicksal ungewiss

In Bezug auf zwei der Häftlinge auf der Liste sind Zweifel angebracht, dass sie an den Versuchen Hirts teilgenommen haben: Peter Landen wurde bereits vor dem ersten Lost-Versuch aus dem Krankenrevier in Block 5 in den Block 1 entlassen, dem Block, in dem die Funktionshäftlinge untergebracht waren. Insoweit ist anzunehmen, dass er nie als Versuchsteilnehmer auf der Sonderstation im Krankenrevier war. Wilhelm Mezger wurde nicht in den Block 5 verlegt, weil er körperlich geeignet schien, an den strapaziösen Lost-Versuchen teilzunehmen, sondern weil er krank war. Daher befand er sich nicht auf der Sonderstation des Blocks 5, sondern in der Krankenstation, von der er am 25.1.1943 entlassen wurde. Der Veränderungszettel des Kommandanturstabes zeigt, dass ab dem 20.11.1942 15 Häftlinge auf der Sonderstation Ahnenerbe H Truppenverpflegung erhielten.332 Die daraufhin neu ausgefertigte Liste zeigt, dass von der vorherigen Liste nur fünf Häftlinge übernommen wurden. Die Namen Landen, Mezger, Köpf, Scheepker und Reichard fehlen.333 Angesichts der Quellenlage muss vermutet werden, dass den Häftlingen – die sich möglicherhandelte. Robert Steegmann thematsiert dies kontrovers. Vgl. Steegmann, Natzweiler, S. 194. 332  ITS 1.1.29.1 / 0023 / 0005 Veränderungszettel Kommandanturstab Nr. 0081 vom 20.11.1942. 333  ITS 1.1.29.1. / 0020 / 0012 Sonderabteilung, undatierte Liste aus dem Dezember 1942.



V. August Hirt113

weise wegen der Aussicht auf gute Ernährung freiwillig gemeldet hatten – und der SS die Gefährlichkeit von Hirts Versuchen nicht klar war. Daher mag es – außer in den Fällen von Landen und Mezger – dazu gekommen sein, dass die für die SS wertvollen Funktionshäftlinge von der Sonderstation zurückgeholt wurden. Ohne dem weiteren Verlauf vorzugreifen, muss festgehalten werden, dass es zwischen dem 20.11.1942 und dem finalen Lost-Versuch einige undokumentierte Wechsel bei der Gruppe der verpflegten 15 Häftlinge im Block 5 gab. Dies erklärt, weshalb beispielsweise die Häftlinge Karl Kirn und Wilhelm Denne zwar erst am 25.11.1942 in Natzweiler aufgenommen wurden – „immatrikuliert“ in der Sprache der KZ-Verwaltung – und gleich in die Versuchsgruppe verlegt wurden. Die nachfolgende Liste zeigt daher alle Teilnehmer des letzten Versuchs zwischen dem 6. Dezember und 8. Dezember 1942. Häftlingsnr. / -Kate­ gorie

Name

Geb.-Datum / -ort

0232 BV

Georg Schatz

14.04.11 in 23.5.41 von KZ Sachsenhausen nach Mühlheim / M. KZ Natzweiler 20.11.42 in Block 5 (HKB) 9.3.43 von KZ Natzweiler nach KZ Buchenwald 27.4.44 von KZ Buchenwald nach KZ Mittelbau-Dora 15.1.44 von KZ Mittelbau-Dora nach KZ Mauthausen Schicksal ungewiss

0501 BV

Bernhard Bauer

21.10.05 in Tonndorf

3.9.40 eingeliefert nach KZ Dachau 12.07.41 von KZ Dachau nach KZ Buchenwald 26.10.41 von KZ Buchenwald nach KZ Natzweiler 20.11.42 in Block 5 (HKB) 9.3.43 von KZ Natzweiler nach KZ Buchenwald Bauer überlebte den Krieg

0774 BV

Willy Nowak334

06.04.13 in Berlin

Strafhaft in Walchum 14.1.42 eingeliefert nach KZ Natzweiler

334  In

den Quellen auch Willi Novak.

Lagerdaten

114

C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen 20.11.42 in Block 5 (HKB) 10.2.43 Entlassung aus HKB 25.10.43 verstorben

1287 PSV

Karl Ries

08.04.15 in Friedberg

21.9.42 eingeliefert nach KZ Natzweiler 20.11.42 in Block 5 (HKB) 10.2.43 Entlassung aus HKB 2.3.43 von KZ Natzweiler nach KZ  Da­chau 5.3.43 von KZ Dachau nach KZ s’Hertogenbosch Schicksal ungewiss

1344 BV

Hubert Schmidt

25.03.11 in Riegelsberg

5.10.42 eingeliefert nach KZ Natzweiler 20.11.42 in Block 5 (HKB) 10.2.43 Entlassung aus HKB 2.3.43 von KZ Natzweiler nach KZ  Da­chau 27.8.43 Flucht Schicksal ungewiss

1346

Friedrich Karl Tries

06.04.05 in K’lautern

5.10.42 eingeliefert nach KZ Natzweiler 20.11.42 in Block 5 (HKB) 28.12.42 Tod nach Lost-Versuch wg. Lähmung des Vasomotorenzentrums und Lungenentzündung

1384

Josef Tuscher

29.07.13 in Villach

7.10.42 eingeliefert nach KZ Natzweiler 20.11.42 in Block 5 (HKB) 3.3.43 erneute Aufnahme wg. Spätfolgen der Lost-Versuche 4.6.44 über KZ Buchenwald entlassen zur Waffen-SS-Einheit Dirlewanger Schicksal ungewiss

1413

Franz Kramer

02.02.12 in Haßloch Krs. Neustadt /  Weinstr.

14.10.42 eingeliefert nach KZ Natzweiler nach 8 Vorstrafen 20.11.42 in Block 5 (HKB) 7.03.44 über KZ Buchenwald entlassen zur Waffen-SS-Einheit Dirlewanger Schicksal ungewiss

1626

Wilhelm Denne

05.08.09 in Spiesen

25.11.42 eingeliefert nach KZ Natzweiler nach 8 Vorstrafen 25.11.42 in Block 5 (HKB) 14.9.43 von KZ Natzweiler nach KZ Buchenwald 27.3.44 verstorben



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1656

Karl Kirn

14.09.07

25.11.42 eingeliefert nach KZ Natzweiler 25.11.42 in Block 5 (HKB) 21.12.42 verstorben

Hinzu kamen die fünf Häftlinge, die bereits auf der ersten Liste gestanden hatten: 1216 0537 0854 1281 1348

BV BV BV BV BV

Wilhelm Blum Alfred Zinhobl Willy Swienty Wilhelm Müssgen Friedrich Port

15.11.03 in Wildersheim 27.5.07 in Schwertberg 9.3.15 in Berlin 6.1.01 in Köln 17.4.14 in Kalbach

Die Häftlinge Blum, Zinhobl, Swienty, Müssgen und Port sind identisch mit den gleichnamigen Häftlingen, die sich bereits auf der ersten Liste befunden hatten. Insoweit bilden die zehn Häftlinge der ersten Liste und die 15 Häftlinge der zweiten Liste eine Gesamtzahl von 20 beziehungsweise 18 Menschen, die für die Versuche Hirts in Truppenverpflegung genommen wurden. Es muss offen bleiben, wer die Häftlinge für die Versuche auswählte. Wenngleich es in der Literatur Spekulationen gibt, dass Hirt persönlich die Auswahl getroffen habe, wurden derartige Aussagen bislang nicht plausibel belegt. Obschon der Zeitraum seit Beginn der Truppenverpflegung – medizinisch gesehen – sehr kurz war, begann am 25.11.1942 der erste Lost-Versuch. Der am häufigsten zitierte Zeuge dieser Versuche ist der Kapo der Krankenstation, Ferdinand Holl. Er war von März bis Dezember 1943 in der Krankenstation in Natzweiler beschäftigt.335 Holl berichtete, dass je ein Tropfen Lost oberhalb des Unterarms eines jeden Häftlings aufgetragen wurde.336 August Hirt erläuterte Sievers die Versuchsanordnung in einem Brief: Demnach habe er zehn der 15 Häftlingen mit verschiedenen – seiner Meinung nach schützenden – Vorbehandlungen dem Kampfstoff ausgesetzt, wobei eine Kontrollgruppe von fünf Häftlingen ohne jeden Schutz am Versuch teilnahm.337 Die Vorbehandlung bestand unter anderem in der präventiven Gabe von Trypa­ flavin und hoch dosiertem Vitamin A, das sich in der Leber anreichern sollte. 335  Steegmann, Natzweiler, S. 425: Leider gibt Steegmann nicht wieder, wann genau Holl das Stammlager und damit das Versuchsgeschehen im Dezember 1942 verlassen hat. 336  Ebbinghaus, Erschließungsband Ärzteprozeß, S. 43. Es ist vor allem bei den Nachkriegsaussagen von Holl auf seine politische Vorgeschichte und die immer wieder deutlich variierenden und zudem erkennbar tendenziösen Aussagen über die Verbrechen Hirts im KZ Natzweiler hinzuweisen, die seine Glaubwürdigkeit in Zweifel ziehen. 337  BArch NS 21 / 905, Forschungsbericht von Hirt für Sievers vom 30.11.1942.

116

C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Dies sollte das Zellgewebe vor der Wirkung des Kampfstoffs schützen.338 Hinzu kam nach Verabreichung des Losts die therapeutische Behandlung mit äußerlich aufgetragener Vitaminsalbe.339 Spätestens zwölf Stunden nach dem Kontakt mit dem Kampfstoff hätten sich deutliche Verbrennungserscheinungen zeigen müssen, die sich von der Kontaktstelle aus über den Körper ausbreiten. Doch bei keinem der Häftlinge war auch nur eine Rötung des behandelten Unterarms festzustellen. Aus ­diesem Grunde wurde der Versuch am 28.11.1942 erneut durchgeführt. Bei diesem Versuch wurden sechs Häftlingen zwei Mull-Lappen – jeweils am rechten und am linken Unterarm – fest umgebunden. Doch auch nach 48 Stunden zeigte sich keinerlei Reaktion.340 Daher steht der Verdacht im Raum, dass entweder der Hersteller BASF die falsche Substanz an die Waffen-SS geliefert hatte, der Lost überlagert war, eine Verwechselung bei der Waffen-SS stattgefunden oder jemand im Konzentrationslager Natzweiler heimlich die Substanz ausgetauscht hatte. Hirt reklamierte den unwirksamen Wirkstoff bei Sievers in einem Schreiben vom 30.11.1942, das laut Posteingangsstempel erst am 7.12.1942 eintraf.341 Doch schon zwei Tage nach Absendung des Briefes erhielt die Zentrale des Instituts für wehrwissenschaft­ liche Zweckforschung zwei Anrufe: „Straßburg 2 Anrufe betr. Lost Da am Mittwoch nächster Woche Vorlesungen beginnen, müssen Lostversuche sofort weitergeführt werden. Es wird um sofortige Abholung und Überbringung durch Kurier gebeten. Erbitten Antwort, ob und wann Kurier ankommt. ? den 2.12.42 Zugverbindungen: 1) 2)

ab Aug.[?] Hbf. an Saarbrücken ab " Straßburg an ab Aug.[?] Hbf. Appenweier an " ab Straßburg an

338  Ebbinghaus,

11.28 23.50 5.24 10.00 20.20 8.48 8.58 9.18“342

Erschließungsband Ärzteprozeß, S. 43. NS 19 / 1582, Behandlungsvorschlag von Hirt und Wimmer aus dem Jahre 1944, faksimiliert im Anhang. Vgl. BArch NS 21 / 908, Schreiben von Hirt an Sievers vom 21.4.1944. Der Behandlungsvorschlag ist wenige Tage zuvor an Sievers verschickt worden. 340  BArch NS 21 / 905, Forschungsbericht von Hirt für Sievers vom 30.11.1942. 341  Ebd. 342  BArch NS 21 / 906, Notiz vom 2.12.1942. 339  BArch



V. August Hirt117

Abb. 14: Viel Leid für wenig Geld: Für eine Reichsmark kaufte das Ahnenerbe 20 Gramm Lost. Da die erste Charge unwirksam war, wurde handschriftlich vermerkt, dass es am 8.12.1942 zu einer kostenfreien Ersatzlieferung kam. (Quelle: BArch NS 21 / 905).

Einer der Anrufe – von Karl Wimmer – wurde von Sievers’ Persönlichem Referenten Wolff zu einem Vermerk zusammengefasst: „In fernmündlichem Gespräch teilt Stabsarzt Dr. Wimmer am 2.12.42 mit, dass Versuche mit dem durch das ‚Ahnenerbe‘ zur Verfügung gestellten L-Stoff ergebnislos verlaufen seien und die Versuchsreihe abgebrochen werden musste. Die Beschaffung neuen L-Stoffes sei dringend erforderlich! Am 3.12.42 wurden erneut 20 g L-Stoff jüngerer Lagerung angefordert und der Eile halber sofort durch SSUntersturmführer Sassenroth nach Strassburg verbracht. Sollte auch der L-Stoff jüngerer Lagerung an den Objekten keinerlei Wirkung verursachen, ist Dr. Wimmer in Aussicht gestellt worden, L-Stoff über OKH anzufordern und nach Möglichkeit umgehend zu übermitteln.“343

Dieser Vermerk Wolffs ist zum Verständnis der Lost-Versuche sehr wertvoll: Karl Wimmer, der Assistent Hirts, rief bei der vorgesetzten Stelle seines Vorgesetzten an und beschwerte sich. Damit umging er den Dienstweg. Wäre dies gegen den Willen von Hirt erfolgt, hätte das Folgen für Wimmer gehabt. Daher ist anzunehmen, dass Hirt die Eigenständigkeit Wimmers bei der Durchführung der Lost-Versuche ausdrücklich förderte. Dies legt den Verdacht nahe – der im weiteren Verlauf erhärtet wird –, dass die Planung und 343  BArch NS 21 / 905, maschinenschriftlicher Vermerk Wolff vom 4.12.1942. Vgl. 82227300‘1 / 0130 hs. Vermerk Wolff vom 4.12.1942 mit identischem Wortlaut.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Durchführung der Lost-Versuche bei Wimmer lag und Hirt nur am Rande eingebunden war. Noch heute ist es üblich, dass Institutsdirektoren Projekte ihrer Assistenten fördern, die dann unter dem Namen des Direktors und des Projektleiters veröffentlicht werden, wie es auch mit dem Ergebnis der LostVersuche geschah.344 Die drängende Tonfall der Beschwerde Wimmers – der bis zu seinen Vorlesungsverpflichtungen am 8.12.1943 den Versuchsbeginn abgeschlossen haben wollte – zeigte Wirkung. Das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung reklamierte den wirkungslosen Lost beim Hauptsanitätslager der Waffen-SS in Berlin-Lichtenberg und beantragte eine Ersatzlieferung. In diesem Anforderungsschreiben wurde mitgeteilt, dass mit dem Lost an Ratten und Mäusen experimentiert werden sollte. Dies ist ein Hinweis darauf, dass den Beteiligten klar war, dass Versuche mit Kampfstoffen an Menschen auch in Zeiten eines verbrecherischen Regimes geheim bleiben mussten.345 Gefährliche Kampfstoffe wie Lost durften nur durch Kuriere verschickt werden. Deshalb entsandte Sievers Johann Saßenroth, den Schriftgutverwalter des Ahnenerbes nach Berlin-Lichtenberg, um die Lost-Lieferung abzuholen. Von dort brachte er den Kampfstoff auf direktem Wege nach Straßburg.346 Dort händigte er das Lost für die Abteilung H nicht dem Abteilungsleiter Hirt, sondern dem Versuchsleiter Wimmer aus347. Saßenroth traf Hirt nicht persönlich an, doch gab es ein längeres Telefonat, dessen Inhalt Saßenroth in einem Vermerk festhielt. Darin beschwerte sich Hirt hauptsächlich über den bisher unwirksamen Lost. Ebenso zeigte er sich verärgert, dass dem Lagerarzt des Konzentrationslagers Natzweiler, „Dr. Blanke“,348 die Mitarbeit bei den Lost-Versuchen durch dessen Vorgesetzten, „Dr. Golling“ aus Oranienburg nicht gestattet worden sei, da dieser keine Kenntnisse über die Versuche des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung habe349 Daher solle 344  BArch NS 19 / 1582 Behandlungsvorschlag von Hirt und Wimmer aus dem Jahre 1944. 345  BArch NS 21 / 905, Schreiben von Wolff an Hauptsanitätslager vom 1.12.1942. Es muss offen bleiben, wer den Vermerk über die Lieferung vom 8.12.1942 auf den Lieferschein schrieb. Da Saßenroth das Lost in Straßburg übergab und der Aufenthalt Wimmers in Natzweiler vom 5. bis zum 8.12.1942 belegt ist, kann dies ein Indiz für eine letztliche Nutzung am 8.12.1942 sein, wenngleich der 7.12.1942 wahrschein­ licher ist. Möglicherweise handelt es sich aber auch nur um einen Schreibfehler. 346  NARA T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 5.11.1942. 347  BArch NS 21 / 905, Quittung von Wimmer an Saßenroth vom 4.12.1942. 348  Richtig: Blancke. SS-Obersturmführer Dr. med. Max Blancke (1905–1945) war Lagerarzt in Natzweiler (SS-Nummer 162 897). 349  Richtig: Lolling. SS-Obersturmbannführer Dr. med. Enno Lolling wurde am 3. März 1942 Chef des Amtes D III des WVHA und damit zuständig für Sanitätswesen und Lagerhygiene mit Sitz in Oranienburg. Er war dadurch der Vorgesetzte aller Ärzte in Konzentrationslagern im deutschen Machtbereich.



V. August Hirt119

Sievers noch einmal einen Zusatzarzt für Natzweiler anfordern. Weiter teilte Hirt mit, dass es ihm gesundheitlich so schlecht gehe, dass er aufgrund von Divertikeln im Mastdarm und Dickdarmentzündung nachts in der Klinik schlafe, damit er tagsüber besser arbeiten könne.350 Die Abteilung H hatte damit nach Beginn der Zusammenarbeit im Sommer zum dritten Male Lost vom Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung erhalten.351 Die erste Charge wurde für Tierversuche verbraucht, die zweite war nicht wirksam und die dritte stand nun zur Überprüfung der Thesen Hirts und Wimmers in Straßburg bereit.352 Nachdem Saßenroth ­ ihm den Lost am 4.12.1942 übergeben hatte, reiste Wimmer am 5.12.1942 nach Natzweiler und wurde dort in Verpflegung genommen, wie die Veränderungszettel des Kommandanturstabes zeigen. Schon am Mittwoch, den 8.12.1942 reiste er – wie er gegenüber dem Ahnenerbe in seinem Anruf am 2.12.1942 mitteilte353 – wieder ab, um Vorlesungen in Straßburg zu halten.354 Der zweite Lost-Versuch wurde von Wimmer folglich zwischen dem 6. und 8.12.1942 durchgeführt. Alle diesbezüglichen Zeugenangaben sind nicht hinreichend präzise; als sicher gilt, dass Wimmer die Versuche in diesem Zeitraum durchführte, währenddessen er sich in Natzweiler aufhielt. Ebenso ist gesichert, wie der Lost wirkte: Alle 15 Häftlinge der zweiten Liste erhielten abermals – den nun wirksamen – Lost auf den Unterarm getropft. Der zerstörerische Kampfstoff führte sofort zu heftigen Verbrennungen, die sich ausbreiteten. Nach der Abreise Wimmers übernahm Lagerarzt Max Blancke die Betreuung der verletzten Häftlinge. Die extrem schmerzhaften Verletzungen forderten am 21.12.1942 ihr erstes Opfer: Gegen 15:20 Uhr starb Karl Kirn durch die Wirkung des Losts. Hirt schrieb am nächsten Tag aus Straßburg an Sievers: 350  BArch NS 21 / 905, Vermerk von Saßenroth vom 7.12.1942 über Anruf Hirts vom 4.12.1942. 351  Ebd., Vermerk Saßenroth über eine Besprechung mit Hirt am 9.2.1942 in Straßburg. 352  Steegmann, Natzweiler, S. 423: Steegmann berichtet – ohne Belege –, dass Hirts Tierversuche in Fort Ney (damals Fort Fransecky geheißen) durchgeführt worden seien. Offenbar handelt es sich um eine Verwechslung mit den Tierversuchen von Otto Bickenbach in Fort Ney. Ebenso ist unklar, wie Steegmann zu der Aussage gelangt, „nach ersten Tierversuchen im Labor und im KZ Dachau betrieb Hirt ab 1941 Grundlagenforschung mit Ratten, wobei er sich des Fluoreszenzmikroskops bediente“ (S. 422). Da Hirt erst Ende 1941 Sievers kennenlernte, kann er nicht zuvor im KZ Dachau an Ratten experimentiert haben. Zudem sind keinerlei Forschungen Hirts in Dachau belegt, abgesehen von der eintägigen beobachtenden Teilnahme an luftfahrtmedizinischen Versuchen Raschers. 353  BArch NS 21 / 906, Notiz vom 2.12.1942. 354  ITS 1.1.29.0 / 0016 / 0071 Veränderungszettel Kommandanturstab Nr. 0068 vom 12.11.1942.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

„Die Versuche in Natzweiler sind jetzt im Gange. Der neue Stoff hat nun endlich gefunkt und zwar überraschend gut. Die Bilder sind schon toll. Irgend etwas Positives lässt sich vorläufig noch nicht sagen. Wir müssen erst abwarten, bis das toxische Stadium eintritt. Die Zusammenarbeit mit dem dortigen Truppenarzt ist sehr gut.“355

Am 28.12.1942 starb Friedrich Karl Tries an den Folgen seiner Verletzungen. Drei Tage später, am 31.12.1942, verstarb das letzte Opfer der LostVersuche Wimmers und Hirts, Wilhelm Müssgen. Im Krankenrevier des Konzentrationslagers Natzweiler war ein Sektionsraum eingerichtet worden, so dass Wimmer bei der Obduktion die Todesursache der Häftlinge ermitteln konnte: Tries starb an einer Lähmung des Vasomotorenzentrums sowie an Lungenentzündung. Müssgen starb an einem Lungenödem bei Bronchopneumonie.356 Die anderen Häftlinge wurden dagegen weiter mit der von Wimmer verordneten Vitaminsalbe behandelt. Die Wirkung der Salbe im Heilungsverlauf der geschädigten Hautpartien, die sich oft über den ganzen Körper erstreckten, wurde von Wimmer und dem Personal der Krankenstation laufend fotografisch dokumentiert. Die Entwicklung der fotografischen Aufnahmen führte Hirts Laborant Karl Schmitt durch. Der Elsässer Schmitt gehörte zu jenen Angehörigen der Anatomie, die unmittelbar nach der Befreiung Straßburgs 1944 / 45 von den französischen Ermittlungsbehörden vernommen wurde. Er sagte aus, dass die Opfer der Lost-Versuche vor der Behandlung durch Wimmer sehr gesund gewirkt haben. Es sei auf den Fotos gut nachvollziehbar gewesen, wie sehr die Häftlinge an den sich ausbreitenden Verbrennungen litten. In seiner Aussage nannte Schmitt viele Details zu den Versuchen, aber auch die Namen der drei Todesopfer: Kirn, Tries und Müssgen. Wie bei den Opfern von Raschers Unterkühlungsversuchen wurden laut Schmitt auch diesen Opfern der NS-Medizin Ganglienzellen zur Untersuchung durch Hirt entnommen, der auf diese Zellen spezialisiert war. Doch zog dies keine weiteren Ermittlungen der französischen Behörden nach sich. Vier Tage nach Schmitt vernahmen dieselben Behörden Hirts Mitarbeiter Henri Henripierre, der die Häftlingsnummern der Opfer der Schädelsammlung zu Protokoll gab. Es wurden jedoch keinerlei Versuche der Ermittlungsbehörden bekannt, die Identität der Todesopfer der Abteilung H des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung zu dokumentieren oder gar die Angehörigen zu ermitteln und sie zu benachrichtigen. Stattdessen wurde die von Schmitt zu Protokoll gegebene brutale Ausdrucksweise Hirts gegenüber jedermann gut dokumentiert und verbreitet. Hierzu gehörte ebenso die Behauptung, dass so355  BArch NS 21 / 905, Vermerk von Saßenroth vom 7.12.1942 über Anruf Hirts vom 4.12.1942. 356  Ebbinghaus / Dörner / Linne u. a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Aussage Nales, S.  10587 ff.



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gar Hirts Familie vor ihm zitterte.357 Es ist durchaus möglich, dass Hirt sich „brutal“ ausdrückte und jedermann bis hin zu seiner Familie vor ihm zitterte. Allerdings ist es schwierig, unmittelbar nach einem Krieg sachliche Eindrücke über den Charakter und die Wesensart von jemandem zu erlangen, der zu diesem Zeitpunkt als einer der skrupellosesten deutschen NSMediziner bekannt war. Deshalb ist in Anbetracht der damals üblichen so­ zia­len Schranken zu hinterfragen, wie oft und wie intensiv der Laborant der Anatomie Karl Schmitt Zeuge des Umgangs von einem der vier bestbezahlten Straßburger Professoren und Institutsdirektors mit dessen Familie war. Ebenso ist zu hinterfragen, warum Hirts angeblich vor ihm zitternde Mitarbeiter mit ihm von Greifswald nach Frankfurt und von Frankfurt nach Straßburg wechselten, um bei ihm zu bleiben. Diese hatten sichere Posten an den jeweiligen Universitäten inne, nicht aber bei Hirt persönlich. Ein Verbleib an den jeweiligen Universitäten hätte für sie keine Nachteile gebracht. In diesem Zusammenhang ist es jedoch erstaunlich, wie rasch sich Schmitts Charakterisierung eines im persönlichen Umfeld brutalen Hirt verbreitet hat und wie wenig dagegen die brutale Behandlung der Todesopfer Kirn, Tries und Müssgen und der anderen Häftlinge, die Wimmer und Hirt ausgeliefert waren. Hirt verfasste einen Bericht über die ersten Ergebnisse der Lost-Experimente, den Sievers Ende 1942 las. Zu dieser Zeit lag Hirt abermals in der Klinik. Wahrscheinlich kam es aufgrund der bereits zuvor im Tierversuch durch Umgang mit dem hochtoxischen Lost erlittenen körperlichen Beeinträchtigungen zu immer neuen Darmerkrankungen Hirts. Doch auch eine Koloskopie brachte keine Ergebnisse bezüglich der Frage, warum Hirt trotz erheblicher Körpergröße nur 62,5 Kilogramm wog.358 Dennoch ließ sich Hirt über den Fortgang der Lost-Versuche von Wimmer auf dem Laufenden halten. In einem Schreiben an Sievers teilte er am 31.12.1942 mit, dass die Versuche in Natzweiler ihren Gang gingen, „anscheinend aber anders, als wir erwartet haben“.359 357  USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020, Vernehmungsprotokoll Charles Schmitt vom 19.12.1946, S. 122 ff.: Karl Schmidt erscheint in den Quellen in unterschiedlichen Schreibweisen. Gegenüber den französischen Behörden nannte er sich nach dem Kriege Charles Schmitt. Da er im Jahre 1896 in Illkirch-Graffenstaden geboren wurde – einem Vorort von Straßburg –, ist anzunehmen, dass er Karl hieß. 358  BArch NS 21 / 905, Schreiben von Hirt an Sievers vom 31.12.1942. Insoweit hat Rolf Hochhuth sicherlich überzeichnet, als im „Stellvertreter“ Hirt als „gargantua­ hafter, raumfüllender Zecher mit einem Brustkorb wie ein Allesbrenner“ beschrieb. Der Medizinverbrecher Hirt erscheint im Spiegel der Quellen eher als dünner, gesundheitlich stark angeschlagener Mann, der auf Diätverpflegung angewiesen war. 359  Ebd.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Bereits einige Wochen zuvor hatte Hirt mitgeteilt, dass Wimmer im Zusammenhang mit den Lost-Versuchen im abgelegenen Konzentrationslager Natzweiler in Sorge sei, weil es „für Dr. Wimmer etwas schwierig ist, in die Einsamkeit da hinauf verbannt zu sein, vor allem da das Lokal doch reichlich ungemütlich ist“.360 Es ist geradezu grotesk, wie wenig Empathie Hirt mit den Opfern der Versuche hatte. Er beklagt, dass Wimmer ungern in Natzweiler war, weil es diesem zu einsam war, und übersah, dass auch die Häftlinge mehr als ungern in Natzweiler waren, insbesondere jene, die den potentiell tödlichen Lost-Versuchen ausgeliefert waren. Hirt teilte am 18.1.1943 mit: „Die Wirkung der letzten Sendung war kräftig!“ Die nächste Charge, die bereits bestellt war, solle zunächst nach Straßburg geliefert werden, da das Labor in Natzweiler „noch genügend eingedeckt“ sei.361 Da sich in den Quellen keine weiteren Belege für Kurierfahrten finden, ist anzunehmen, dass Sievers persönlich den Kampfstoff nach Straßburg brachte, als er am 24.1.1943 nach Straßburg reiste. Hirt hatte ihm in seinem Schreiben vom 18.1.1943 bereits mitgeteilt, dass „erst“ drei Häftlinge verstorben seien, dies aber nur „zum Teil“ durch die Lost-Versuche verursacht worden sei. Hingegen teilte er stolz die Heilungserfolge seiner LostTherapie mit.362 Diese vermeintlichen Erfolge besichtigte Sievers bei seinem Besuch in Straßburg, wo ihm wahrscheinlich die Fotodokumentation gezeigt wurde.363 Am folgenden Tag fuhren Hirt, Wimmer und Sievers nach Natzweiler. Dort besprachen sie die Lost-Versuche und die weiteren Planungen mit dem Lagerkommandanten Kramer, dessen Verwaltungsführer Faschingbauer und dem Lagerarzt Blancke.364 Im Antrag vom 11.9.1942 hatte Sievers bei Glücks darum gebeten, Hirt, Wimmer und Kiesselbach365 während ihrer Aufenthalte in Natzweiler dort „unterkunfts- und verpflegungsmäßig zu betreuen“.366 In den Veränderungszetteln des Kommandanturstabes lässt es sich daher gut nachvollziehen, wann wer im Konzentrationslager Natzweiler verpflegt wurde. Aus dem 360  Ebd.,

Vermerk von Saßenroth vom 7.12.1942 über Anruf Hirts vom 4.12.1942. Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 98, Schreiben von Hirt an Sievers vom 18.1.1943. 362  Ebd. 363  BArch NS 21 / 53 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 24.1.1943. 364  Ebd., Eintrag vom 25.1.1943. 365  Eine Beteiligung Kiesselbachs an den Lost-Versuchen im Konzentrationslager Natzweiler ist in den Quellen nicht nachweisbar. Die Tatsache, dass Hirt beide Assistenten anmelden ließ, ist jedoch ein weiterer Hinweis darauf, dass Hirt von Beginn an die Arbeiten in Natzweiler weitgehend delegieren wollte. 366  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 60, Schreiben von Sievers an Glücks vom 11.9.1942; vgl. BArch R 26 III / 29, Schreiben von Sievers an Glücks vom 11.9.1942. 361  HStA



V. August Hirt123

Zettel für den 25.1.1943 geht hervor, dass „SS-Staf. Siebert“ [sic!], „SSHstuf. Hirth“ [sic!] und „Stabsarzt Wimmer“ in Verpflegung genommen wurden, aber auch, dass dies am Folgetag nicht mehr der Fall war.367 Seitdem die Sonderstation H im Konzentrationslager Natzweiler eingerichtet wurde, war Wimmers Verpflegung regelmäßig auf den Veränderungszetteln notiert worden. Hirt hingegen wurde seinerzeit nur an zwei Tagen verpflegt. Dies bestätigte Lagerkommandant Kramer nach Kriegsende, als er angab, Hirt sei nur zwei Mal während der Lost-Versuche in Natzweiler gewesen.368 Dies ist zutreffend für die Zeit während der Lost-Versuche. Anschließend, während der Versuche von Otto Bickenbach und Eugen Haagen, war Hirt mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere Male in Natzweiler. Es ergibt sich bezüglich der Versuche das folgende Bild: Die Lost-Versuche wurden von Wimmer mit bemerkenswerter Eigenständigkeit geplant und durchgeführt. Wimmer kümmerte sich um die Beschaffung des wirksamen Losts und machte deutlich, dass die Verabreichung des Kampfstoffes abgeschlossen sein musste, bevor seine Vorlesungen wieder begännen. Während seiner Zeiten an der Universität betreute Lagerarzt Blancke die Patienten der Sonderstation.369 Dort hielt sich Wimmer aber immer wieder für längere Zeit auf, so dass er sich einsam fühlte. Auch Schmitt bestätigte, dass Wimmer der Versuchsleiter war, der von der Fotodokumentation bis zur Sektion alle wichtigen wissenschaftlichen Begleituntersuchungen durchführte. Der erkrankte Hirt kam möglicherweise nur für kurze Visiten nach Natzweiler. Zudem könnte er tagsüber – neben dem universitären Lehrbetrieb – die Ergebnisse Wimmers ausgewertet haben, während er streckenweise nachts in der Klinik schlief. Zu den Visiten reiste Hirt mit der Eisenbahn nach Natzweiler. Von Straßburg kommend, erreichte er die nahe Natzweiler gelegene Bahnstation Rothau, wo er von einem Fahrzeug der Konzentrationslager-Verwaltung abgeholt wurde. Den Kraftstoff für diese Fahrten – für Wimmer und ihn – musste sein Institut dem Lager ersetzen. Durch die Abrechnung gegenüber dem Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung ist belegt, dass im Monat 20 Liter Benzin verbraucht wurden.370 In Anbetracht des hohen Kraftstoffverbrauchs damaliger Fahrzeuge, der steilen Serpentinen zum Lager und der Entfernung von rund acht Kilometer für eine Strecke können die beiden Ärzte diese Transporte nicht allzu oft in Anspruch genommen haben. Die

367  ITS

Bad Arolsen, ITS 1.1.29.0 / 0016 / 0195 (BArchL B162 / 3969). Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34160 Prozessakte Beger, Aussage Kramer,

368  HStA

S.  121a f. 369  BArch NS 21 / 906, Schreiben von Hirt an Sievers vom 23.2.1943. 370  BArch R 26 III / 29, Schreiben von Sievers an SS-FHA vom 27.11.1942; vgl. BArch R 26 III / 729, Vermerk von Sievers vom 17.9.1942.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

seltene Einbindung Hirts in die Versuche in Natzweiler bestätigte Hirts Sekretärin Lieselotte Seepe nach dem Kriege.371 In der Gesamtschau steht der Verdacht im Raum, dass die Lost-Forschung ein Projekt von Wimmer war, der im Jahre 1943 bereits seit acht Jahren als Assistent bei Hirt war. Auch für das Ergebnis der Versuche, den Behandlungsvorschlag, zeichneten Wimmer und Hirt als Autoren.372 Gerade bei Hirt wäre dies nicht ungewöhnlich gewesen, da er so Sievers entgegenarbeiten und sich Unterstützung durch das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung sichern konnte – und zwar im Wissen darum, dass Sievers auf diese Weise Himmler entgegenarbeiten konnte, für den die Entwicklung einer wirksamen Heilmethode bei Kampfstoffverletzungen eine Mehrung seines politischen Kapitals bedeutet hätte. Zudem hätte der Arzt Hirt im Erfolgsfall viele Leben retten können. Um dies zu erreichen, wäre es üblich gewesen, dass der erfahrene Professor Hirt die Versuche seines Assistenten begleitet – und diese verantwortet – hätte. Sollte diese Arbeitsteilung zwischen Hirt und Wimmer in der beschriebenen Weise stattgefunden haben, worauf die Zeugenaussagen und Gesamtumstände hindeuten, so wäre die Verantwortung Hirts für den Tod seiner Opfer sowohl rechtlich als auch moralisch genau so groß, als wenn er diese an Stelle von Wimmer persönlich ermordet hätte. Die Tatsache, dass die Lost-Versuche in Natzweiler weitgehend nur von Wimmer durchgeführt wurden, eröffnet die Möglichkeit, eine lange Zeit offene Frage zu klären. Der Kapo Ferdinand Holl gab nach dem Krieg an, dass Hirt von März 1942 bis Dezember 1943 an 150 Personen mit Lost experimentiert habe, von denen acht verstorben seien.373 In einem Affidavit vom 3.11.1946 teilte Holl mit, dass die Lost-Versuche im Zeitraum Ende 1941 und Anfang 1942 stattgefunden haben. Hier mag er sich um ein Jahr geirrt haben. Jedoch gab er auch an, dass 220 russische, tschechische, polnische und deutsche Häftlinge an den Versuchen teilgenommen hätten, von denen sieben dabei verstorben seien.374 Zwei Monate später, am 6.1.1947 sprach Holl in der direkten Vernehmung durch den Anklagevertreter im Ärzteprozess, James M. McHaney, bereits von „etwa 50 Tote[n]“.375 Da die Listen des Lagers Natzweiler ebenso wie das Totenbuch in gutem archivalischem Zustand überliefert sind und keinen Anhaltspunkt für diese Auskunft geben, muss angenommen werden, dass Holl in seinen Aussagen maßlos übertrieb. Dabei hatte er selbst darauf hingewiesen, dass die Station Ahnenerbe aus nur 371  Wiesbaden Abt. 461, Nr.  34146 Prozessakte Beger, Aussage Seepe vom 10.1.1963, S. 327. 372  Ebbinghaus, Erschließungsband Ärzteprozeß, S. 43. 373  Steegmann, Natzweiler, S. 425. 374  Klee, Auschwitz, S. 365 f.; vgl. Schmaltz, Kampfstoff-Forschung, S. 561 f. 375  Ebbinghaus / Dörner / Linne u. a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, S. 01096.



V. August Hirt125

zwei Zimmern bestand, von denen eines zur Unterbringung von Versuchshäftlingen und das andere zur Sektion genutzt worden sei.376 Der Pfleger auf der Krankenstation, Gerrit Hendrik Nales, teilte hingegen im Ärzteprozess zutreffend mit, dass 15 Häftlinge an den Lost-Versuchen teilnahmen, wovon drei verstorben seien.377 Betrachtet man die Details der Aussagen Holls, so fällt auf, dass er behauptete, Hirt habe im Jahre 1943 mit gasförmigem Lost in der Gaskammer des Konzentrationslagers Natzweiler experimentiert, wobei das Gas in Glasampullen, die zerbrochen wurden, in die Kammer gelangte.378 Da Hirt weder im Jahre 1943 Versuchsreihen in Natzweiler durchführte noch für Lost-Versuche die Gaskammer nutzte und ausschließlich mit flüssigem Lost arbeitete, ist die Aussage von Holl falsch. Allerdings wurden bei den Experimenten Otto Bickenbachs Ampullen mit je 2,7 Gramm Phosgen in der Gaskammer von Natzweiler zerbrochen.379 Insoweit hat Holl diese Experimente wohl verwechselt und fälschlich Hirt zugeschrieben.380 Wer der Frage nachgeht, wie das geschehen konnte, dem zeigt sich das folgende Bild: Hirt war – ob in Zivil oder SS-Uniform – nur sehr selten in Natzweiler. Die Lost-Versuche wurden von Wimmer durchgeführt, der als Luftwaffen-Arzt eine Luftwaffen-Uniform trug. Eine solche trugen auch Otto Bickenbach und Eugen Haagen. Alle drei bekleideten bei der Luftwaffe den Rang eines Stabsarztes, und alle drei nutzten die Sonderstation des Blocks 5 für ihre Experimente. Daher ist anzunehmen, dass sich alle drei Versuchsfelder in der Erinnerung vermischten und Holl zudem Hirt mit Wimmer verwechselte. Hirt, Wimmer und Sievers fuhren am 25.1.1943 vom Konzentrationslager Natzweiler weiter in das nahe gelegene Lager Schirmeck. Dies war kein Konzentrationslager der SS, sondern ein sogenanntes „Besserungslager“ für politische Gefangene. Die nach dem Kriege gemachten Aussagen der Häftlinge aus Schirmeck legen nahe, dass die Behandlung der Gefangenen nicht ganz so grausam wie in Natzweiler und die Sterblichkeitsrate erheblich geringer war. Das Lager in Schirmeck wurde von der SS unter der Bezeichnung 376  ITS

BAL Holl B162 / 20.264, S. 22–24. u. a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, S. 01640 f. 378  Steegmann, Natzweiler, S. 426. 379  Ebd., S. 433. Steegmann zitiert aus einer Aussage Bickenbachs aus dem Jahre 1947. 380  Steegmann, Natzweiler, S. 422 ff. Steegmann nimmt irrtümlich an, dass Lost – im französischen Sprachraum und somit auch von Steegmann Yperit genannt – nur gasförmig verwendet wurde. Er übersieht, dass Lost, wie viele andere Kampfstoffe auch, in verschiedenen Aggregatzuständen gelagert und eingesetzt werden kann. Durch die Verwendung in Gasform hatte es sich im Ersten Weltkrieg auf die Seite des Feindes ausbreiten können. Flüssiges Lost wäre dabei wenig zweckdienlich gewesen. Für die Experimente Hirts war jedoch eine gasförmige Anwendung nicht notwendig, da Lost über die Haut wirkt und nur nachrangig über die Lunge. 377  Ebbinghaus / Dörner / Linne

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

„Außenlager Vorbruck“ geführt.381 Geleitet wurde es von Kriminalbeamten der Gestapo Straßburg im Polizei- und SS-Offiziersrang, während die Bewachung von Polizisten aus dem Elsass und Baden besorgt wurde.382 Hirt, Wimmer und Sievers besuchten das Lager, weil sich dort die Versuchstierzucht Hirts befand, die von SS-Oberscharführer Erich Walbert betreut wurde.383 Walbert war als Kammerwart in der Verwaltung des Konzentrationslagers Natzweiler beschäftigt gewesen, als Sievers ihn zur Betreuung von Hirts Tieren am 11.9.1942 bei Glücks angefordert hatte.384 Nach Abschluss der Lost-Versuche in Natzweiler Anfang 1943 zogen sowohl die Tierzucht als auch Walbert in Hirts Privathaus in Straßburg. Nach den Besuchen in Straßburg, Natzweiler und Schirmeck fertigte Sievers einen Vermerk an, in dem die bisherigen Ergebnisse der Lost-Versuche festgehalten und die nächsten Versuche skizziert wurden. Dieser Vermerk ist einer der wenigen Belege dafür, dass Sievers nicht nur der Verwaltungschef des Ahnenerbes und des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung war, der in wissenschaftlicher Hinsicht von den Forschern dominiert wurde und sie nur hinsichtlich der Mittelversorgung und Buchführung unterstützte. Dieses von Sievers’ Verteidigung im Nürnberger Ärzteprozess gezeichnete Bild hätte sehr viel rascher von der Anklage zerstört werden können, wenn ihr dieser Vermerk vorgelegen hätte. Er zeigt deutlich, dass Sievers eine gestaltende Kraft bei den unmenschlichen Kampfstoff-Versuchen war. „Betr.:  Arbeiten des Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung im KL  Natz­weiler Bezug:

Besuch und Besprechungen am 25.1.1943 in Natzweiler

1. Die Versuche haben einen in jeder Hinsicht befriedigenden Verlauf genommen; aber ergeben, daß nunmehr, um gültige Vorschriften für die Behandlung der Truppe auszuarbeiten, Großversuche unerläßlich sind. 2. Bei den abgeschlossenen Versuchen ist eine wesentlich größere Menge an Verbandsmaterial und Heilmitteln benötigt worden, sodaß teilweise das Bürgerspital in Straßburg aushilfsweise einspringen musste. Diese Mengen sind zu erstatten. […]

381  Die Benennung der nationalsozialistischen Lager wird heute regional unterschiedlich gehandhabt. Das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof – gebaut um den Struthof außerhalb des Ortes Natweiler – wird im deutschen Sprachgebrauch zumeist „KZ Natzweiler“ genannt, im französischen hingegen „Le Struthof“. Ähnlich verhält es sich bei dem Sicherungslager Schirmeck-Vorbruck, das im deutschen Sprachgebrauch heute zumeist „KZ Schirmeck“ oder „Außenlager Schirmeck“ genannt wird. 382  USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P3, Ermittlungsbericht von Mauerhan an Lorich vom 25.5.1950, S. 32 f. 383  BArch NS 21 / 53 Diensttagebuch Sievers, Einträge vom 24. und 25.1.1943. 384  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 60, Schreiben von Sievers an Glücks vom 11.9.1942.



V. August Hirt127 3. Ein Bericht über die durchgeführten Versuchsreihen ist in Bearbeitung und wird demnächst vorgelegt werden. Nach Eingang dieses Berichtes soll versucht werden festzustellen, was auf diesem Gebiet in der Militärärztlichen Akademie bisher geschehen ist. […] 4. Professor Flury, Würzburg, zwar der beste Kenner der Kampfstoffgruppen ist jedoch der Meinung, es gäbe kein Mittel gegen Lost. 5. Für die Durchführung der Großversuche macht SS-H’Stuf.Prof.Dr. Hirt folgende Angaben über die notwendigen Erfordernisse und Voraussetzungen: a) Gasmasken, um Beschädigungen der Augen zu vermeiden […] b) genügend Verbandmaterial und Heilmittel c) die bisherigen Ergebnisse haben gezeigt, dass ein guter Ernährungszustand die wesentliche Voraussetzung für den Heilprozess ist. Sämtliche in den Großversuch genommene VP müssten daher Truppenverpflegung erhalten. d) Dem Großversuch mit VP hat ein Großrattenversuch vorauszugehen. Dazu werden 1.000 Ratten benötigt, die jedoch erst in einigen Wochen zur Verfügung stehen. e) Ein Gesamtversuch dauert 6–8 Wochen. Aus Zeitersparnisgründen wäre es zweckmäßig, nicht nur in Natzweiler, sondern auch in Dachau Versuche durchzuführen. […] f) An VP und Pflegepersonal werden benötigt: 240 Häftlinge 60 Pfleger zum Füttern und Tragen 1 Laborant für Natzweiler 2 Laboranten für Dachau Erwünscht wäre, wenn 10–15 Pfleger aus der Pflegerschule Dachau nach Natzweiler abkommandiert werden könnten. Alter der VP: 25–35 Jahre In gutem Ernährungs- und Kräftezustand und ohne Hautkrankheiten g) Da der Großversuch mit vier Vitaminen durchgeführt werden soll, kämen je 120 Mann für zwei Vitamine in Frage. h) Falls nicht genügend Berufsverbrecher als VP zur Verfügung stehen, wäre die Genehmigung zur freiwilligen Meldung von politischen Häftlingen für die Versuche zu erteilen. Dabei hätte eine Aktenvorprüfung zu erfolgen, ob nach durchgeführtem Versuch Entlassungsmöglichkeit besteht. i) Ähnlich wie bei den VP in Dachau bei den Höhenflug- und Kälteversuchen müßte für die in den L-Versuch genommenen VP eine Entscheidung des ReichsführersSS über Hafterleichterung oder -entlassung herbeigeführt werden.“385

Zunächst ist bemerkenswert, dass Sievers Professor Dr. Ferdinand Flury von der Universität Würzburg als besten Kenner des Losts benennt, der jedoch 385  BArch

NS 21 / 906, Vermerk von Sievers o. Dat.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

meinte, es gäbe keine Prävention oder Heilung. Sievers versuchte offensichtlich, mit dem skizzierten Großversuch eine Koryphäe auf diesem Forschungsgebiet zu widerlegen. Warum der Großversuch an 240 Häftlingen in Dachau und Natzweiler in der beschriebenen Form nicht umgesetzt wurde, geht aus den Quellen nicht hervor. In der Literatur wird jedoch spekuliert, dass diese Versuche mit Teilnehmern aus Dachau in Natzweiler stattfinden sollten. Dies sei der Grund für Sievers’ Besuch dort am 25.1.1943 gewesen. Diese beziehen sich jedoch einzig auf den soeben genannten Beleg und können – nicht zuletzt, da die Listen des Konzentrationslagers Natzweiler keine derartigen Verlegungen von Häftlingen nach Natzweiler oder vom Steinbruch auf die Sonderstation ausweisen – als unzutreffend gelten.386 Nach Abschluss der Versuche in Natzweiler und der Schließung der Sonderstation Ahnenerbe H im Block 5 am 10.3.1943 fanden keine weiteren Versuche mit Lost an Häftlingen durch das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung mehr statt. Der Ernährungsinspekteur der Waffen-SS und der Wehrmacht, Professor Dr. Dr. Ernst-Günter Schenck,387 verschaffte sich kurz nach Sievers’ Besuch unter dem Vorwand, die Häftlingsernährung inspizieren zu wollen, Zutritt zum Konzentrationslager Natzweiler. Dabei inspizierte er auch Hirts LostVersuche und verschaffte sich beim Lagerarzt Max Blancke einen Überblick über die laufenden Versuche Hirts. Blancke informierte aber weder Hirt, Wimmer oder Sievers. Daraufhin beschwerte sich Hirt sehr nachdrücklich bei Sievers über Schenck.388 Sievers leitete die Beschwerde an Himmler weiter, woraufhin Schenck zurechtgewiesen wurde. In der Folge versuchte dieser in einem einlenkenden Schreiben an Sievers am 15.3.1943, die Si­ tuation zu entspannen.389 Doch die geheimen Versuche Hirts waren fortan ein bisschen weniger geheim. 386  Steegmann,

Natzweiler, S. 425. Günther Schenck (geb. 3.8.1904 in Marburg, gest. 21.12.1998 in ­Aachen), 1930 approbiert und daraufhin Assistenzarzt in Heidelberg, 1933 Eintritt in die SA, 1937 in die NSDAP und verschiedene Gliederungen wie NS-Dozentenbund, Mitarbeit im Institut für Ernährung und Heilpflanzenkunde in Dachau, 1939 Berater bei Conti, 1940 Ernährungsinspekteur Waffen-SS, 1941 Chefarzt in MünchenSchwabing (ob er den zuvor dort forschenden Rascher aus eigenem Erleben kannte oder nur aus den Berichten von dessen ehemaligen Kollegen, muss dahingestellt bleiben), 1942 außerordentlicher Professor, 1943 und 1944 Hungerödemversuche im KZ Mauthausen, 1944 Ernährungsinspekteur der Wehrmacht – der doppelte Wehrdienst bei Wehrmacht und Waffen-SS war ein Unikum – 1945 Gefangennahme als Oberstarzt und Ernährungsinspekteur der Wehrmacht und SS-Standartenführer und Ernährungsinspekteur der Waffen-SS. 1955 aus russischer Gefangenschaft heimgekehrt, verschiedene Tätigkeiten in der pharmazeutischen Industrie, u. a. für den Grünenthal-Konzern. 388  BArch NS 21 / 906, Schreiben von Hirt an Sievers vom 23.2.1943. 389  Ebd., Schreiben von Schenck an Sievers vom 15.3.1943. 387  Ernst



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Rund drei Monate, nachdem ihnen Lost auf die Unterarme aufgetragen worden war, am 10.2.1943, wurden die ersten Opfer der Lost-Versuche aus der Sonderabteilung entlassen. Willy Nowak, Wilhelm Blum, Karl Ries, Friedrich Port und Hubert Schmidt wurden wieder in den mörderischen Lageralltag des Konzentrationslagers Natzweiler eingegliedert. Die anderen Häftlinge wurden entlassen, sobald sie genesen schienen. Am 3.3.1943 wurde der letzte Häftling, Josef Tuscher, von der Sonderstation in die Krankenstation des Blocks 5 verlegt. Von dort wurde er am 21.5.1943 ins Lager entlassen. Die meisten Häftlinge wurden einige Wochen bis einige Monate später in die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald verlegt. Ob es sich dabei um reguläre Verlegungen handelte, muss in Anbetracht der Quellenlage offenbleiben. Gerüchte, dass die Häftlinge gezielt und planmäßig ermordet worden seien, um sich dieser Mitwisser zu entledigen, finden in den Quellen keine Bestätigung. Die Sonderabteilung Ahnenerbe H im Block 5 des Konzentrationslagers Natzweiler wurde am 10.3.1943 geschlossen, bevor sie am 30.5.1943 für die Phosgen-Versuche von Otto Bickenbach wieder in Betrieb genommen wurde.390 Das Ergebnis der brutalen Versuche war ein „Behandlungsvorschlag bei Kampfstoffverletzungen durch Lost“ von Hirt und Wimmer. In diesem wurden die präzisen Dosierungen der Vitamine und die Verbandswechsel beschrieben, die die Autoren auf Grundlage ihrer Versuche für notwendig hielten. Aber auch die zu erwartenden medizinischen Komplikationen wurden thematisiert. Im Bericht heißt es: „Der Lostschaden kann vom Organismus am besten abgefangen werden, wenn die Vitaminspeicher des Körpers aufgefüllt sind. Eine nach Lostschaden einsetzende Vitaminbehandlung muss aber beachten, dass die Wirkstoffe nicht wahllos gegeben werden dürfen. Am besten bewährt haben sich Vitamingemische (A, B-Komplex, C peroral oder Vitamine B1 mit Traubenzucker intravenös gegeben.“391

Kurz nach Sievers’ Abreise aus Straßburg am 26.1.1943 zeitigte ein Vorhaben Hirts, das von ihm unterstützt wurde, einen Teilerfolg:392 Nachdem die von der Reichsuniversität bei der Neugründung der Anatomie bestellte Mazerationseinrichtung und der zugehörige Entfettungsapparat – beide Geräte wurden nach einer Grobentfleischung frischer Leichen durch die Präparatoren benötigt, um aus den Knochen haltbare Knochenpräparate zu fertigen – nach über einem Jahr immer noch nicht geliefert waren, traf am 26.1.1943 die Lieferbestätigung der Franz Bergmann und Paul Altmann KG 390  Für die vorstehenden Rekonstruktionen und Recherchen beim ITS in Bad Arolsen bezüglich der Lost-Versuche Hirts danke ich Herrn Professor Dr. Hans-Jürg Kuhn sehr herzlich. 391  Ebbinghaus, Erschließungsband Ärzteprozeß, S. 43. 392  BArch NS 21 / 53 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 26.1.1943.

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Laboratoriumsbedarf für den benötigten „Knochenentfettungsapparat“ ein.393 Zuvor hatte Sievers von der Rohstoffstelle des Persönlichen Stabes infolge einer Ausnahmegenehmigung Metallbezugsscheine zum Bezug „von 15 kg Stahl für Herstellung des Innenkessels und -deckels für die von Ahnenerbe in Auftrag gegebene Knochenpräparieranlage“ beschafft.394 Dabei ist zu beachten, dass es sich bei einer Mazerationseinrichtung und einem Entfettungsofen um zwei verschiedene Geräte handelt. Beides wird unter dem Begriff Knochenpräparieranlage subsumiert. Zu diesem Zeitpunkt war allerdings die Lieferung der Mazerationseinrichtung immer noch nicht avisiert. Das Anatomische Institut der Universität Straßburg war demnach Anfang 1943 noch nicht in der Lage, Skelettpräparate herzustellen. Am 7.4.1943 ließ sich Himmler über Brandt von Sievers über „die Arbeit unseres Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung im KL Natzweiler“ Bericht erstatten.395 Die Ergebnisse Hirts führten zu einem offiziellen Forschungsauftrag des Reichsforschungsrates mit einer der höchsten Dringlichkeits­stufen der Kriegsbewirtschaftung (SS 4891-0329 [1881 / 15]III / 43).396 Hirt wurde nun beauftragt, „die Veränderungen des lebenden Organismus bei Einwirkung von Kampfstoffen als Grundlage für die Verhinderung von Schäden durch prophylaktische Anwendung bestimmter Wirkstoffe“ zu erforschen.397 Seit dem Beginn der Lost-Versuche in Natzweiler hatte August Hirt eine Grenze überschritten, die ihn vom forschenden Arzt zum Verbrecher machte. 7. Sievers’ Fürsorge für Hirt August Hirt war ab dem 1.4.1942 für das Ahnenerbe tätig, doch erst mit Vertrags- und Vergütungsbeginn am 1.11.1942 fiel er auch formal unter die 393  BArch

NS 21 / 906, Schreiben von Sievers an Brandt vom 7.4.1943. Schreiben vom Persönlichen Stab an Sievers vom 12.12.1942. 395  BArch NS 21 / 53 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 7.4.1943. 396  BArch R 26 III / 729, Schreiben vom Leiter der Kriegswirtschaftsstelle im Reichsforschungsrat an die Fachspartenleiter im Reichsforschungsrat o. Dat. mit Definition der Dringlichkeitsstufen: „DE-Stufe: Jeder DE-Auftrag bedarf der persönlichen Zustimmung des Ministers Speer. […] Unter DE laufen bei uns: Übermikroskop […] SS I. Gruppe. (4911–4950): Wir können bis jetzt keine Forschungsaufträge dieser dieser Gruppe vergeben. Das Rüstungslieferamt gibt uns aber für Bestellungen SS-Gruppe I mit der Nummer 4950. […] SS II. Gruppe. (4951–4989 u. a.): Wie vorher. […] SS III. Gruppe: Hierher gehört die von uns vergebene Nummer 8491. Sie reicht praktisch nicht mehr aus für Beschaffung von Apparaturen, genügt aber für andere Dinge durchaus. […] S-Stufe: bedeutet praktisch wenig, erkennt aber eine gewisse Kriegswichtigkeit an.“ 397  BArch R 26 III / 729, Forschungsauftrag vom 4.10.1943, beim Ahnenerbe eingegangen am 28.12.1943. 394  Ebd.,



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Weisungsbefugnis von Sievers. Doch offenbar schätzte Hirt die sich durch das Ahnenerbe ergebenden Möglichkeiten rasch, obwohl er in der akademischen Welt auch ohne diese Kooperation nach wie vor hohes Ansehen genoss. Am 13.6.1941 hielt Professor Dr. Paul Rostock,398 Beauftragter für medizinische Wissenschaft und Forschung des Bevollmächtigten für das Sanitäts- und Gesundheitswesen, Professor Dr. Karl Brandt,399 in einer Kommissionssitzung zur Person Hirts und seinem Werdegang fest: „Hat Strassburg bekommen. Gute Arbeiten. Nierenarbeiten großartig. Als Lehrer nicht sehr gut. Hat Schwierigkeiten als Lehrer wegen Gesichtsverletzung.“ Ausdrücklich wurden im Sitzungsprotokoll als „herausragende wissenschaftliche Leistungen“ Hirts Nierenarbeiten separat noch einmal erwähnt, die Grundlage seiner Intravitalmikroskopie.400 Dieser Hinweis macht deutlich, dass es für den durch die zerschossene Kinnlade behinderten Hirt attraktiv gewirkt haben mag, nach den durch seine Artikulationsschwierigkeiten bedingten Akzeptanzproblemen im Hörsaal nun im kleinen Kreis seiner Mitarbeiter für das Ahnenerbe bei allseitiger Akzeptanz und Wertschätzung forschen zu können. Bis zum Wintersemester 1944 / 45 war Hirts Lehrdeputat bereits von 28 auf 32 Semesterwochenstunden angewachsen.401 Heute sind in der Regel bei einem Lehrstuhlinhaber im Fach Anatomie etwa acht Semesterwochenstunden Lehre üblich. In die Betrachtung ist ebenso einzubeziehen, dass Ende 1942, ein Jahr nach Beginn seiner Tätigkeit 398  Paul Rostock (geb. 18.1.1892 in Kranz bei Meseritz, gest. 17.6.1956 in Bad Tölz), 1927 Oberarzt am Klinikum Bergmannsheil in Bochum, 1933 Chefarzt des Klinikums an der Ziegelstraße (Universität Berlin), 1936 außerordentlicher Professor, 1937 Eintritt in die NSDAP, 1940 in den NS-Ärztebund, 1941 ordentlicher Professor, 1942 beratender Chirurg des Sanitätsinspekteurs des Heeres, 1943 Stellvertreter Karl Brandts und Leiter des Amts für Medizinische Wissenschaft und Forschung, Koordinierung der Medizinversuche, 1947 im Nürnberger Ärzteprozess freigesprochen, 1948 Chefarzt in Possenhofen, 1953 Chefarzt in Bayreuth. (u. a. nach: Klee, Personenlexikon). 399  Karl Brandt (geb. 8.1.1904 in Mülhausen / Elsass, gest. 2.6.1948 in Landsberg am Lech), 1922 Beginn Medizinstudium, 1932 Eintritt NSDAP, 1933 SA, 1934 Wechsel zur SS (Nr. 260.353), 1934 Begleitarzt Hitlers, 1939 Beauftragter Hitlers für die Durchführung der Euthanasie-Morde (Aktion T4), 1942 Generalkommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen, 1943 Leiter des medizinischen Versorgungswesens und Koordinator der medizinischen Forschung, 1945 von Hitler zum Tode verurteilt, von Himmler und Speer gerettet, im Nürnberger Ärzteprozess zum Tode verurteilt. 400  BArch BDC E0241. Hierbei ist zu bedenken, dass ein großflächiger Kieferdurchschuss mit starker, auf Fotos deutlich zu Tage tretender Vernarbung zu einer erheblichen Sprechbehinderung geführt haben wird. In einem solchen Zustand, einhergehend mit Lungen- und Darmblutungen, ist das Abhalten von Vorlesungen im Umfang von 28 Semesterwochenstunden bemerkenswert. 401  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34166 Prozessakte Beger, S. 86 f.

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Abb. 15: Vorlesungsverzeichnis der Reichsuniversität Straßburg, Wintersemester 1944 / 45. (Quelle: HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34166 Prozessakte Beger, S. 54)

in Straßburg, die Universität es (wie geschildert) noch nicht vermocht hatte, sein Institut auszubauen, die bestellten Aufzüge oder Geräte zu beschaffen oder alle seine Mitarbeiter von der Front zurückzuholen und sie „unabkömmlich“ zu stellen. Kurzum: Der mit großen Plänen neugegründeten Reichsuniversität gelang es nicht, August Hirt ein vollständig arbeitsfähiges institutionelles Umfeld zu bieten. Zu diesem Zeitpunkt wusste niemand, ob und wann Giftgas von einer Kriegspartei eingesetzt werden würde. Doch August Hirt war sich sicher, dass er ein Verfahren entwickeln könne, in einem solchen Falle Menschen vor Leid und Tod zu schützen. Doch offenbar verkannte er, dass er, um – im Falle erfolgreicher Forschungen – vielen Menschen das Leben retten zu können, erst Leid und Tod über unschuldige Häftlinge bringen musste. Daher stand Hirt unter sehr großem Druck, bald mit seinen LostExperimenten zu beginnen. Es darf als sicher angenommen werden, dass Hirt die Zahl der durch Kampfstoffe Verletzten und Toten aus dem Ersten Weltkrieg kannte und wohl ebenso die Tatsache, dass die verbündeten Japaner in China bereits Giftgas einsetzten. Möglicherweise besaß er auch Informationen über den Lost-Einsatz in Polen im Herbst 1939 beziehungsweise über



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die von den Amerikanern auf den europäischen Kriegsschauplatz verfrachteten, erheblichen Lost-Mengen. In dieser Situation versprach nun der mächtige Reichsführer-SS alles, um Hirts Forschungen zu unterstützen. August Hirt war unzweifelhaft ein Verbrecher, der wenig Skrupel hatte, wehrlose Menschen zu schädigen und zu töten. In einem gerichtlichen Verfahren gegen Hirt wären in einem Rechtsstaat sowohl be- als auch entlastende Fakten zu ermitteln gewesen. Möglicherweise hätte Hirt mit der Logik des viele Jahre später von der Psychologin Philippa Foot definierten Trolley-Problems geantwortet.402 Wenngleich die Empörung über die Verbrechen jedem normalen Rechtsempfinden entspricht, hätte die Motivation und mögliche Argumentation Hirts rechtsphilosophisch jedoch möglicherweise nicht nach den Kriterien „richtig“ oder „falsch“ beurteilt werden können. Dies ändert allerdings nichts an der Tatsache des offenkundigen Verbrechens Hirts. Doch es versachlicht die Diskussion der Rechtsfragen in Anbetracht der jüngeren Literatur.403 Bereits im November 1942 hatte Sievers Hirt mitgeteilt, dass nun weitere seiner Mitarbeiter Forschungsbeihilfen erhalten würden.404 Im Rahmen der Dokumentation der Unterstützungen für Hirt, die Sievers am 16.12.1942 in einem Aktenvermerk festhielt, gab er auch Einblick in seine Bemühungen, alle medizinischen Forschungen der SS unter seiner Leitung zusammenzufassen oder zumindest auf dem Kooperationsweg Einfluss auszuüben. Zu den geplanten Unterstützungen für Hirt gehörte, dass Sievers versuchte, ein Exemplar des kurz zuvor entwickelten Übermikroskops für Hirt bauen zu lassen. Dabei handelte es sich um ein Vorläufermodell des heutigen Elektronenrastermikroskops. Hirt begründete die Notwendigkeit, ein solches zu beschaffen, am 29.3.1943 gegenüber Sievers: „Mit dem Übermikroskop sollen zunächst 2 Fragekomplexe angegangen werden: 1. Die Kampfstofforschungen haben ergeben, dass bei Vergiftungen mit Gelbkreuz in verschiedenen Organen fluoreszierende Substanzen unbekannter Natur auftreten, die zu schwerer Organschädigung und schließlich wahrscheinlich zum Tode führen. Es soll mit Hilfe des Elektronenmikroskopes versucht werden über die Natur dieser 402  Das sogenannte Trolley-Problem ist ein Gedankenexperiment aus dem Bereich der Ethikforschung und Psychologie. Zuerst wurde es von der britischen Philosophin Philippa Ruth Foot beschrieben. In der gedanklichen Situation ist eine Straßenbahn (Trolley) außer Kontrolle geraten. Dabei ist für den Betrachter abzusehen, dass sie fünf unbeteiligte Passanten überrollen wird. Durch das Umstellen einer Weiche kann der Betrachter dies verhindern. Doch wird dann auf der neuen Fahrtstrecke der Bahn ein anderer Unbeteiligter überrollt werden. Die Frage lautet, ob es legitim sei, vorsätzlich einen Menschen zu Tode zu bringen, um damit fünf andere zu retten. 403  Lang, Nummern; Koop, Ahnenerbe. 404  BArch NS 21 / 905, Schreiben von Wolff an Hirt vom 12.11.1942: Dr. Kiesselbach und Präparator Bong erhalten Forschungsbeihilfen.

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großen Moleküle, die aus den einzelnen Organzellen mikromanipulatorisch herausgelöst werden sollen, Aufschluss zu gewinnen. […] 2. Die ersten Versuche am Tübinger Elektronenmikroskop über die mit Fluoreszenzfarbstoffen und anderen Chemotherapeutika vorbehandelten Bakterien haben ergeben, dass so vorbehandelte Bakterien erhebliche Strukturveränderungen gegenüber unbehandelten zeigen. […] Es soll vor allem eine Strukturanalyse der Blutelemente durchgeführt werden, wodurch die unter dem Einfluss bestimmter Pharmaca (Sulfonamide) auftretende Veränderung der Blutkörperchenpermeabilität geklärt werden soll.“405

Aufgrund der Bewirtschaftungsregeln hatte der zuständige Minister für Bewaffnung und Munition, Albert Speer, den Bau durch die Firma Siemens unterbunden, da ein solches Gerät nicht kriegswichtig sei. Daraufhin intervenierte Sievers beim Büroleiter des Reichsarztes-SS, Ernst-Robert Grawitz,406 Helmut Poppendick, um dennoch den Bau zu erwirken, wie er in dem Vermerk festhielt:407 „Betr.: Zusammenarbeit mit dem Reichsarzt-SS, SS-Sanitätsamt und HygieneInstitut der Waffen-SS. Bezug:

Unterredung mit SS-Obersturmbannführer Dr. Poppendiek [sic!]

(Übermikroskop kann nicht geliefert werden, da Speer es nicht als kriegswichtig sieht; Ausbildung ist aber möglich.) Einen zweiten Arzt zur Unterstützung des Lagerarztes Dr. Blanke in Natzweiler sei bei der augenblicklichen Kriegslage unmöglich zur Verfügung zu stellen. Die Unterstützung unserer Forschungen in Natzweiler wie auch unserer anderen Aufgaben, wie Schädlingsbekämpfung, Anwendung Gasteiner Wassers usw., sagte uns Dr. Poppendiek zu. 405  BArch

NS 21 / 906: Schreiben von Hirt an Sievers vom 29.3.1943. Grawitz (geb. 8.6.1899 in Charlottenburg, gest. 24.4.1945 in Potsdam) war der Sohn und Neffe erfolgreicher Ärzte. Von 1933 bis 1936 war er als Arzt für Innere Medizin am Krankenhaus Berlin-Westend tätig. Seit 1919 engagierte er sich in Freikorps, u. a. auch beim Kapp-Putsch. 1931 trat er in die SS ein, 1932 in die NSDAP. 1935 wurde er Reichsarzt-SS und Chef des SS-Sanitätsamtes. In diesen Funktionen unterstanden ihm alle SS-Ärzte. 1937 wurde er faktischer Chef des Deutschen Roten Kreuzes, das er in den nächsten Jahren nach dem Führerprinzip um­ gestaltete. Als Reichsarzt-SS war er die genehmigende Instanz für medizinische Versuche; fanden diese in KZ statt, genehmigte er sie gemeinsam mit Oswald Pohl. Anforderungen kamen vom Robert-Koch-Institut, der Forschungsstelle der Heeres­ sanitätsinspektion, der Luftwaffe, aber auch von Himmler selbst, dem Grawitz laufend berichtete. Zwei Wochen vor Kriegsende tötete Grawitz seine Familie und sich selbst mit Handgranaten. 407  Am 3.6.1942 unterzeichnete Hitler den Erlass zur Gründung des Zweiten Reichsforschungsrates. Zu diesem gehörte nicht nur eine Kriegswirtschaftsstelle unter Dr. Georg Graue, sondern der Rat unterstand nun Albert Speer, der seit 8.2.1942 als Reichsminister für Bewaffnung und Munition amtierte. Seit 22.4.1942 unterstand ihm mit der „Zentralen Planung“ eine Behörde, die prüfte, welche Lieferung an welche Institutionen und Personen kriegswichtig war und ausgeführt werden durfte. 406  Ernst-Robert



V. August Hirt135 Ich erklärte, dass ich gern bereit sei, dem Reichsarzt-SS über unsere Sonderaufträge Bericht zu erstatten, wenn er dies wünsche.“408

Mit dem letzten Satz gab Sievers einen Hinweis auf die Zwangslage, in der sich das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung befand: Alle medizinischen Versuche der SS unterstanden dem Reichsarzt-SS mit Ausnahme derjenigen, die im Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung durchgeführt wurden.409 Dennoch war Grawitz organisatorisch jene Instanz, die über die Versetzung und Abordnung von SS-Ärzten für die ­Arbeiten des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung entschied. Der Bau des Mikroskops konnte von Sievers allerdings trotz immer neuer Bemühungen bis zur Eroberung Straßburgs durch die Alliierten nicht erreicht werden.410 Doch die Fürsorge und der Einsatz Sievers’ für Hirt dabei waren kein Einzelfall: Am 31.12.1942 bedankte sich Hirt brieflich bei Sievers für das erhaltene Weihnachtsgeld: „Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich von einer vorgesetzten Behörde eine Weihnachtsgratifikation erhalten habe!“411 Hirt fand offenbar im Ahnenerbe jene Akzeptanz, auf die er im Hörsaal nicht stieß. Die kameradschaftliche Hilfe von Sievers war jedoch nicht nur auf die Unterstützungen für die Ahnenerbe-Forschungen oder die Beschleunigung der Ausstattung von Hirts Institut beschränkt: Mit Datum vom 17.3.1944 teilte Hirt Sievers mit, dass er gezwungen war, „unsere Perle aus verschiedenen Gründen an die Luft“ zu setzen. „Meine Frau macht seit vier Monaten alles allein, einschließlich der Tierpflege.“ Weil das Arbeitsamt nur „charakterlich ungeeignete“ Bewerberinnen schicke, nahm er Bezug auf einen Hinweis Raschers, dass die SS eine ausländische Arbeitskraft vermitteln könne, denn Hirt befürchtete „dass meine Frau bei weiterer Belastung restlos kollabiert, zumal sie ja schon mit mir genügend Kummer hat“.412 In einem Vermerk vom 18.2.1943 hatte Sievers festgehalten, dass der Tierpfleger Erich Walbert für die Tierzucht besonders geeignet und unersetzlich sei, weshalb er nicht an die Front dürfe. „Wenn die Versuche demnächst einen größeren Umfang annehmen, ist die Entfernung Straßburg – Schirmeck hinderlich. Geplant ist deshalb, die Tierzucht auf das Grundstück von Professor Dr. Hirt zu verlegen, zumal dort die Möglichkeit bestehen würde, Walbert eine Drei-Zimmer-Wohnung zur Verfügung zu 408  BArch

NS 21 / 905, Vermerk von Sievers vom 16.12.1942. facto unterstanden auch diese Versuche Grawitz, da Himmler nie etwas anderes bestimmt hatte. Praktisch ignorierte Sievers diese Regelung, so gut es ging, und Grawitz sabotierte Sievers ebenfalls, so gut es ging. 410  BArch NS 21 / 11 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 18.4.1944. 411  BArch NS 21 / 905, Schreiben von Hirt an Sievers vom 31.12.1942. 412  BArch NS 21 / 50, Schreiben von Hirt an Sievers vom 17.3.1944. 409  De

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stellen.“413 Dieser Umzug hat nach dem Abschluss der Versuche mit Häftlingen stattgefunden, als Hirt die Versuche an Tieren in Straßburg weiterführte. Die Versuchstierzucht befand sich seitdem auf seinem Grundstück in der Karl-Bernhard-Straße 7 in Straßburg.414 Aufgrund der angespannten Kriegslage gelang es Sievers nicht, Hirts Wunsch nach einer neuen Haushaltshilfe zu erfüllen.415 Jedoch kümmerte sich Sievers mehrfach um einen Kuraufenthalt für Hirt in St. Lambrecht in der Steiermark, um dessen Gesundheitszustand zu stabilisieren. Erstmals hatte Sievers den Aufenthalt dort bei Brandt am 27.4.1943 angeregt, da Hirt selbst im Selbstversuch mehrfach zum Opfer seiner eigenen Kampfstoffversuche geworden sei. „Wenn er jetzt im Sommersemester den Vorlesungsbetrieb und daneben seine Forschungsarbeiten durchführt, wird er am Ende des Semesters bestimmt wieder restlos fertig sein. […] Würden Sie den Reichsführer-SS fragen, ob er mit einer Aufnahme von Prof. Hirt in St. Lambrecht einverstanden ist oder wissen Sie einen besseren Platz? Wir würden dann einfach diesen Erholungsaufenthalt Prof. Hirt als Befehl übermitteln, sodaß er sich wirklich schonen muss. Ich fürchte sonst, dass er uns eines Tages wegstirbt.“416

Brandt genehmigte am 30.4.1943 den Urlaub für Hirt, teilte Sievers aber mit, dass dessen Wunsch, dass Hirt ein Urlaubssemester erhielte, nicht durchführbar sei.417 Am 13.5.1943 leitete Brandt den Erholungsaufenthalt in St. Lambrecht über Pohl in die Wege.418 Pohl teilte Brandt am 20.5.1943 mit, dass Hirt die Semesterferien in St. Lambrecht verbringen könne, gut unter­ gebracht werde und eine Verpflegung erhalte, „bei der er sich wirklich erholt“.419 Hirt bedankte sich bei Sievers am 26.6.1943 – wenige Tage nach der Auswahl der Opfer in Auschwitz – brieflich, dass er ihm einen Kuraufenthalt in 413  BArch

NS 21 / 906, Vermerk von Sievers vom 18.2.1943. NS 21 / 505, Rechnung der Spedition Neberschnee an das Anatomische Institut vom 31.7.1943 für den Transport von zwei Expressgutcollis (35 Kilogramm) von „Fa. Erich Walbert“ aus Schirmeck. Es muss offen bleiben, ob Walbert sich als Firma tarnte, wenn er Tiere zu Hirt ins Labor schickte, oder ob die Spedition die Rechnung ungenau fertigte. Vgl.: BArch R 4901, Stellungnahme von Hirt zur Veröffentlichung in der „Daily Mail“ vom 3.1.1945 an den Kurator der Universität Straßburg vom 25.1.1945; BArch NS 21 / 419, Rechnung Seegmüller GmbH & Co. KG an das Anatomische Institut der Reichsuniversität Straßburg vom 24.6.1943 für 100 Kilogramm Mastfutter, ausgeliefert an Hirts Privatadresse Karl-Bernhard-Straße 7. 415  BArch NS 21 / 50, Schreiben von Sievers an Hirt vom 16.10.1944. 416  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34166 Prozessakte Beger, S. 137 f., Schreiben von Sievers an Brandt vom 27.4.1943. 417  BArch NS 21 / 53 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 30.4.1943. 418  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34168 Prozessakte Beger, S. 141, Schreiben von Brandt an Pohl vom 13.5.1943. 419  BArch NS 19 / 1209, Schreiben von Pohl an Brandt vom 20.5.1943. 414  BArch



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St. Lambrecht für den August verschafft habe, da er im September mit Professor Stein zu einem Einsatz nach Frankreich müsse, bei dem er sich nicht vertreten lassen könne.420 Deshalb war Hirt die Erholung offenkundig recht. Allerdings erwähnte Hirt mit keinem Wort, dass genau zu dieser Zeit die 86 Opfer aus Auschwitz in Natzweiler eintreffen sollten – offenbar kannte er den Termin im Sommer 1943 noch gar nicht. 8. Transdisziplinäre Forschung an der Universität Straßburg Für den 17.3.1943 lud das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung ausgewählte Angehörige der Reichsuniversität Straßburg zu einer kleinen Konferenz ein. Die Teilnehmer der Veranstaltung waren Sievers, May, Hirt, dessen Mitarbeiter Wimmer und Kiesselbach, der Internist, und zugleich Dekan der medizinischen Fakultät der Universität Straßburg, Johannes Stein, der Pharmakologe Peter Holtz,421 der Internist Otto Bickenbach, der Chemiker Friedrich Weygand422 und der Kernphysiker Rudolf Fleisch­ mann,423 die ebenfalls an der Reichsuniversität Straßburg tätig waren.424 Bickenbach war in Heidelberg Oberarzt unter Stein gewesen, der ihn dann nach Straßburg holte.425 Weygand und Fleischmann hatten wie Bickenbach in Heidelberg mit Stein zusammengearbeitet.426 Hirt stellte seine Forschungen in zwei Referaten vor: „Über Methodisches in der Fluoreszenzmikroskopie“ 420  BArch

NS 21 / 50, Schreiben von Hirt an Sievers vom 26.6.1943. Holtz (geb. 6.2.1902 in Stolberg / Rheinland, gest. 9.11.1970 in Frankfurt am Main), Schwager von Oswald Pohl, 1935 Dozent in Greifswald, 1938 außerordentlicher Professor, 1946 ordentlicher Professor in Rostock, 1953 Direktor des Pharmakologischen Instituts in Frankfurt. 422  Friedrich Weygand (geb. 1.10.1911 in Büdingen, gest. 19.9.1969 in München), 1933 Eintritt SA, 1938 Promotion in Chemie, 1941 Eintritt NSDAP, 1943 ao. Prof. für organische Chemie in Straßburg, 1948 Prof. in Heidelberg, 1953 in Tübingen, 1955 in Berlin und 1958 in München. 423  Rudolf Fleischmann (geb. 1.5.1903 in Erlangen, gest. 3.2.2002 in Erlangen), Studium Mathematik und Physik, 1929 Promotion in Physik, Assistent in Göttingen und Heidelberg, 1933 Eintritt SA, 1937 NSDAP, 1938 Habilitation, 1941 außerordentlicher Professor für Kernphysik in Straßburg, 1947 ordentlicher Professor für Physik in Hamburg, 1953 in Erlangen, Forschungen im Bereich der Kernphysik. 424  BArch BS 21 / 53 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 17.3.1943. 425  BArch R 26 III / 690, Lebenslauf Bickenbach o. Dat. als Anlage seines Zulassungsantrages zur Habilitation vom 4.6.1937. 426  Steegmann, Natzweiler, S. 416: An der Reichsuniversiät Straßburg wurde nach dem Muster einer von Ludolf v. Krehl im Jahre 1927 in Heidelberg gegründeten Einrichtung ein „Forschungsinstitut der Medizinischen Fakultät“ errichtet. Die meisten Teilnehmer der Tagung am 17.3.1943 waren demnach einander bereits bekannt und arbeiteten im Straßburger Institut an transdisziplinären Projekten. Die Zielsetzung des Instituts und sein transdisziplinärer Ansatz über die einzelnen Fachgebiete 421  Peter

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

und anschließend über „fluoreszierende Körper im normalen und kranken Organ“. Danach referierte Hirts Assistent Wimmer über „fluoreszenzmikroskopisch nachweisbare Vorgänge des Vitaminstoffwechsels“.427 Am Nachmittag führte Bickenbach einen Film vor, in dem er die Wirkung des Giftgases Phosgen an Affen und Katzen zeigte, der die Anwesenden nach Sievers’ Beobachtung beeindruckte. Sievers bot Bickenbach unmittelbar nach der Filmvorführung an – sofern er mit der Abteilung H kooperiere –, Forschungsressourcen in Natzweiler nutzen zu können.428 Vor dem Abendessen klang der wissenschaftliche Teil der Ahnenerbe-Tagung am 17.3.1943 mit gemeinsamen fluoreszenzmikroskopischen Versuchen im Anatomischen Institut aus.429 Die Absicht, die Sievers mit dieser Veranstaltung verfolgte, war offensichtlich: nämlich weitere Forscher für das Ahnenerbe zu gewinnen oder Kooperationen zu begründen. Dies gelang ihm, denn in der Folgezeit erhielten sowohl Bickenbach, als auch Weygand Forschungsmittel vom Ahnen­ erbe.430 Der Wissenschaftshistoriker Florian Schmaltz urteilte hierzu: „Die Abteilung Hirt diente als Ausgangsbasis, um akademische Verbindungen zu Wissenschaftlern, insbesondere an der Reichsuniversität Straßburg, zu eta­ blieren.“431 Dies bestätigt auch ein Brief von Sievers an Hirt vom 14.4.1943, in dem er mitteilte, dass Hirt herausfinden möge, weshalb die Wehrmacht Bickenbachs Forschungen abgelehnt habe. Himmler wolle deren Realisierung im Rahmen des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung ermöglichen.432 Ein Vermerk Sievers vom 5.4.1943 belegt seine Entschlossenheit, auf möglichst vielen Gebieten für das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung neue Forschungsfelder zu erschließen: „Bei der Arbeitsbesprechung am 17.3. in Straßburg wurde davon gesprochen, daß die Engländer ein noch wirksameres Mittel als unsere Sulfonamide im Notatin besitzen. Es wird hergestellt von der Züchtung eines Pilzes. Dringend erwünscht, Näheres darüber zu erfahren. Ich erklärte mich Prof. Weygand gegenüber bereit, die Beschaffung von Unterlagen zu versuchen, wenn ich die notwendigen Angaben erhalten würde.“433

Es ist offensichtlich, dass Sievers versuchte, mit dem ihm zur Verfügung stehenden Apparat attraktive Rahmenbedingungen zu präsentieren, die weihinaus mögen eine Erklärung dafür sein, warum die Teilnehmer den Anliegen des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung gegenüber aufgeschlossen waren. 427  BArch BS 21 / 53 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 17.3.1943. 428  Ebd., Eintrag vom 17.3.1943. 429  Ebd. 430  BArch NS 21 / 53 Diensttagebuch Sievers, mehrere diesbezügliche Einträge im Jahre 1943. 431  Schmaltz, Kampfstoff-Forschung, S. 531. 432  BArch NS 21 / 906, Schreiben von Sievers an Hirt vom 14.4.1943. 433  BA NS 21 / 906, Vermerk von Sievers vom 5.4.1943.



V. August Hirt139

tere etablierte Wissenschaftler an das Ahnenerbe binden sollten. Grundlage für sein Handeln bildete stets der „Blanko“-Befehl Himmlers für den Arbeitsbereich Hirts. Ein Brief Sievers’ vom 5.4.1943 an den Kommandanten von Natzweiler, Josef Kramer, wirft ein bezeichnendes Licht auf die spätere Argumentationslinie zur Durchsetzung der Tötungsfreigabe für Häftlinge, die für die Schädelsammlung vorgesehen waren: In Himmlers Befehl vom 13.7.1942 war festgehalten worden, dass Hirt alles zur Verfügung gestellt werden solle, was dieser benötige.434 Mit Bezug auf genau diesen BlankoBefehl positionierte Sievers im Schreiben an Kramer vom 5.4.1943 Bickenbach im „Windschatten“ Hirts. Er ermöglichte auf diesem Wege auch Bickenbach Forschungen an Menschen und erweiterte so die Forschungsbasis des Ahnenerbes. Kramer gegenüber machte Sievers Hirt sogar zum Leiter des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung: „Im Zusammenhang mit den vom Leiter unseres Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung, SS-Hauptsturmführer Professor Dr. Hirt durchgeführten Forschungen ist jetzt die Hinzuziehung eines weiteren Mitarbeiters, Professor Dr. Bickenbach, erforderlich. Ich melde Prof. Dr. Bickenbach hiermit bei Ihnen an und bitte ihm genau so wie SS-Hauptsturmführer Prof.Dr.Hirt seine Arbeiten im KL. zu erleichtern. Bei dieser Gelegenheit bitte ich um Mitteilung, ob die G-Zelle bereits fertiggestellt ist und welchen Rauminhalt sie hat. Es sind jetzt Versuche unter Benutzung der G-Zelle durchzuführen. Um die notwendige Menge von K-Stoff zur Verfügung zu stellen, ist aber zuvor wichtig, den Rauminhalt zu kennen.“435

Die weiteren Ereignisse zeigen, dass es Hirt nicht entgangen sein kann, dass Sievers aufgrund des „Blanko“-Befehls Himmlers weitere Wissenschaftler an das Ahnenerbe band. Es wird deshalb in der Folge gezeigt, dass diese offiziell unter der Aufsicht von Hirt arbeiteten und sich dieser die teils nominellen, teils informellen Erweiterungen seines Forschungsbereichs bereitwillig gefallen ließ. Dies geschah möglicherweise, weil er dies als Mehrung seiner akademischen Reputation betrachtete. In einem Aktenvermerk hatte Sievers am 5.4.1943 über die Sitzung vom 17.3.1943 festgehalten: „Phosgen-Film angesehen. Fortführung der Versuche von Prof. Dr. Bickenbach soll in Verbindung mit dem Forschungsauftrag von SS-H’Stuf. Prof. Dr. Hirt im KL. Natzweiler ermöglicht werden. Weitere Besprechungen sollen in gewissen Abständen erfolgen. Diese Besprechung hat den Wert eines kleinen Forschungskreises deutlich erkennen lassen. Die Beteiligten erklärten sich gern zur Gemeinschaftsarbeit im ‚Ahnenerbe‘ bereit.“436

Damit dürfte die bewusste Nutzung des „Blanko“-Befehls Himmlers für Hirt durch Sievers zur Ausweitung seiner eigenen Machtbasis im Institut für 434  BArch NS 21 / 905, Gründungsbefehl Ahnenerbe vom 7.7.1942, Abschrift Wolff vom 27.11.1943. 435  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 110a. 436  BArch NS 21 / 906, Vermerk von Sievers vom 5.4.1943.

140

C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

wehrwissenschaftliche Zweckforschung durch die Einbindung weiterer Wissenschaftler unstrittig sein. 9. Exkurs: Bickenbach, Hirt und die Gaskammer Im Gegensatz zu Hirt, der seine Menschenversuche in Natzweiler durch Aufbringen des Losts auf die Haut der Opfer durchführte, forschte Bickenbach an Phosgen, also einem gasförmigen Gift. Für diese Versuche bedurfte es einer Gaskammer, die in der entsprechenden Korrespondenz zwischen den Beteiligten auch Gaszelle oder G-Zelle genannt wurde. Die Wirkung des gasförmigen Phosgens auf den menschlichen Körper entfaltet sich über das Einatmen, wodurch das Gift in die Lungenbläschen gelangt, wo es sich langsam zu Kohlenstoffdioxid und Salzsäure zersetzt. Letztere verätzt das Gewebe der Lunge und führt zum Ersticken bei vollem Bewusstsein. Bickenbachs Hypothese lautete, dass die Verabreichung von Hexamethylentetramin die Viskosität des Blutes in einer Weise herabsetzt, dass ein Schutz vor Phosgen gegeben sei. Ein Schutz gegen Phosgen hätte jedoch den Gebrauch von Gasmasken bei Angriffen mit Phosgen überflüssig gemacht. Bickenbach forschte – wie unten noch näher erläutert wird – in jener Zeit auch zur Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit bei Gebrauch von Gasmasken. Bickenbach wollte mutmaßlich durch den Einsatz von Hexamethylentetramin die Leistungsfähigkeit von Soldaten während Kampfstoffangriffen schützen. Diese These stellte er nach seiner Einberufung zur Luftwaffe am 28.8.1939 – wo er stellvertretender Leiter eines Lazaretts in Heidelberg wurde, was er mit dem Abhalten von Vorlesungen an der dortigen Universität verband – im Jahre 1940 einer Militärkommission in Bad Kreuznach vor. Auch dort zeigte er den seine These stützenden Film über die Tierversuche.437 Im Jahre 1941 wurde Bickenbach als außerordentlicher Professor an die Reichsuniversität Straßburg berufen und leitete dort die Medizinische Poliklinik. Parallel forschte er für die Luftwaffe in deren Forschungsanlage in dem bei Straßburg gelegenen Fort Fransecky.438 Obwohl seine eigenen Laboratorien dort erst Anfang 1944 fertig gestellt worden waren, schien er dennoch dort bereits zuvor experimentiert zu haben. Wie in anderen Militäreinrichtungen auch, gab es im Fort einen Gasmaskenübungsraum. Dieser verfügte über rund 25 Kubikmeter Rauminhalt. Am 28.4.1943 stellte die 437  Schmaltz,

Kampfstoff-Forschung, S. 93. Eduard von Fransecky, 1807–1890, am 20.3.1871 zum kommandierenden General des neu gebildeten XV. Armeecorps in Straßburg ernannt; als solcher ließ er den Befestigungsgürtel mit zahlreichen Forts um die Stadt anlegen. Zu seinem fünfzigjährigen Dienstjubiläum erhielt er den Schwarzen Adlerorden und eine weitere Ehrung: Das Fort Nr. 1, südlich von Wanzenau, zwischen Ill und Rhein gelegen, wurde fortan „Fort Fransecky“ genannt. 438  General



V. August Hirt141

„Luftfahrtforschung Strassburg“ beim Reichsforschungsrat und der DFG einen Antrag auf Pumpen zur Viskositätsmessung und einen Spiroergometer, mit dem sich die Atmungs- und Herzfunktion überwachen ließ. Diese Geräte können den Versuchen Bickenbachs zugeordnet werden. Über diese Versuche schrieb Bickenbach Protokolle, die bis heute erhalten sind und den medizinischen Ansatz belegen, der bis in die 1980er Jahre auf breiter Basis in der Bundesrepublik klinisch umgesetzt wurde.439 Bickenbach schlug der Luftwaffe Versuche an Häftlingen im Gasraum des Forts Fransecky vor. Die Luftwaffe weigerte sich jedoch, über Tierversuche hinaus Menschenversuche in Fort Fransecky anstellen zu lassen. Dies wurde allerdings nicht mit humanitären Überlegungen begründet, sondern mit der Gewährleistung der Geheimhaltung und der fehlenden medizinischen Einrichtung.440 Die Möglichkeit von Selbstversuchen Bickenbachs konnten bislang weder bestätigt noch widerlegt werden. Sie sind aber wenig wahrscheinlich. Daher gab es ein Interesse Bickenbachs, diese Versuche an Häftlingen in Natzweiler durchzuführen. Jedoch wurde auch dafür ein Gasraum benötigt, der dergestalt ertüchtigt wurde, dass er über Gasmaskenübungen hinaus für Versuche mit Phosgen genutzt werden konnte. Bei der Tagung vom 17.3.1943 bot Sievers Bickenbach an, dessen Forschungen zu unterstützen, und befragte ihn zur erforderlichen Größe der Versuchsgaskammer.441 Offensichtlich machte sich auch dieser Mediziner, der nicht Mitglied der SS und des Ahnenerbes war und auch sonst nicht als besonders radikaler Nationalsozialist auffiel, keinerlei Gedanken über das Schicksal der Häftlinge, die durch seine Kampfgasversuche Leid und Tod zu erwarten hatten. In der Folge dieser Begegnung Bickenbachs mit Sievers ließ der Lagerkommandant Josef Kramer die ehemalige Kühlzelle des Hotels Struthof in einem separaten Nebengebäude, dem sogenannten Festsaal, für Bickenbachs Versuche weiter umbauen.442 Das Hotel Struthof war aufgrund der hohen Besucherzahlen seit Anfang des 20. Jahrhunderts beständig erweitert worden. Auf der anderen Straßenseite – dem Hotel gegenüber – wurde zwischen 1912 und 1914 der sogenannte Festsaal errichtet. Dieser bestand aus Speiseräumen für die Besucher und enthielt damit auch eine Küche. Neben dieser befand sich eine Kühlzelle. Diese wurde – vermutlich in den zwanziger Jahren – von der heute noch in Duttlenheim bei Straßburg ansässigen Firma Quiri geliefert. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei dem Aggregat technisch um eine nur we439  BArch R 26 III / 690, undatierte Versuchsprotokolle Bickenbachs zur in-vitroViskositätsmessung von Blut bei Gabe von Hexamethylentetramin. 440  Schmaltz, Kampfstoff-Forschung, S. 542. 441  Ebd., S. 521. 442  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Schreiben Kramer an Ahnenerbe vom 12.4.1943: Die Gaszelle wird fertig gestellt gemeldet mit 22 Kubikmetern Inhalt. Vgl. Abschrift in: BArch NS 21 / 906.

142

C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

nige Jahre gebräuchliche Kühlvorrichtung handelte, die die Lücke der technischen Entwicklung zwischen den bis etwa 1910 gebräuchlichen Natureiskellern und modernen Kühlaggregaten, die ab Ende der zwanziger Jahre verwendet wurden, schloss. Die Größe des eigentlichen Kühlraums beträgt – vor Ort nachgemessen – 19,8 Kubikmeter.443 Nachdem der Landwirt und Eigentümer des Hotels Struthof, Edouard Idoux, der SS das Gelände überlassen hatte, wurden die zum Hotel gehörenden Gebäude von der SS genutzt. Während der Aufbauphase des Konzentrationslagers Natzweiler wurden Häftlinge auch im Festsaalgebäude untergebracht.444 Nachdem diese ins Lager verlegt wurden, scheint das Festsaalgebäude keinen spezifischen Verwendungszweck mehr gehabt zu haben, außer der Nutzung des darin neben der ehemaligen Hotelküche befindlichen Kühlraums. Dieser wurde von den SS-Angehörigen als Gasmaskenübungsraum genutzt.445 Das heißt, die halbjährlich übliche Überprüfung der Dichtigkeit der Gasmasken der SS-Angehörigen mit Tränengas fand im Konzentrationslager Natzweiler in diesem ehemaligen Kühlraum statt. Dieses Verfahren ist bei militärischen Verbänden auch heute noch üblich. Dass der Umbau des Gasmaskenübungsraumes zur Gaskammer für medizinische Versuche zuerst durch Bickenbachs Anforderung ausgelöst wurde, ist unstrittig.446 Hirt experimentierte von Beginn an bis zum Einmarsch der Amerikaner in Straßburg ausschließlich mit flüssigem Lost, wofür eine Gaszelle nicht benötigt wurde, und die Tötung der 86 Opfer aus Auschwitz stand noch nicht an.447 443  Dies

2015.

geschah während Inaugenscheinnahmen vor Ort in den Jahren 2012 bis

444  Steegmann,

Natzweiler, S. 327. Struthof, S. 6. 446  Schmaltz, Natzweiler, S. 314; vgl. Steegmann, Natzweiler, S. 341. Steegmann schließt aus, dass die Gaskammer zuvor ein Kühlraum gewesen sei und schlussfolgert daraus, dass diese für Bickenbachs Versuche neu errichtet wurde. Den Ausschluss begründet er damit, dass es keine „Übergänge“ zwischen dem Fenster in der Tür und der Türe der Kammer selber gebe, weshalb er es für ausgeschlossen hält, dass das Fenster nachträglich eingesetzt worden sei. Jedoch war und ist es üblich, dass größere Kühlräume ein Fenster in der Tür haben. Die unten belegten Handwerkerrechnungen zur Herrichtung der Gaskammer zeigen in der Tat keinen Einbau von Glas oder auch nur Glas als Material. Allerdings geben sie die Vergitterungsstäbe wieder. Insoweit kann der Feststellung Steegmanns nicht widersprochen werden, dass das Fenster nicht nachträglich eingesetzt wurde. Vielmehr muss daher angenommen werden, dass der Kühlraum bereits eine befensterte Türe hatte, die dann von der SS vergittert wurde, um zu verhindern, dass die um ihr Leben kämpfenden Häftlinge die Scheibe eindrückten. Steegmanns These, dass die gesamte Gaskammer neu errichtet wurde, ist dagegen nicht haltbar. Die beiden unten genannten Rechnungen weisen alles Material aus, dass die SS-Bauleitung bis hin zu Kleinstbeträgen an Hirt weiter berechnete. Jedoch fehlen etwa die Fliesen, Siele, die Tür und das Schauglas in der Tür, etc. Folglich wurde ein bestehender Raum baulich ertüchtigt. 447  Lang, Nummern, S. 162, Lang hält fest, dass die Gaskammer für Lost-Versuche verwendet worden sei. Dies ist unzutreffend. 445  Pressac,



V. August Hirt143

Die Gaszelle selbst ist in der Literatur eine stete Quelle vieler Missverständnisse. Eine Besichtigung vor Ort löst diese jedoch weitgehend auf. Der vom Kommandanten Kramer veranlasste Umbau bestand im Wesentlichen in der Ertüchtigung eines Beobachtungsfensters – das bereits im Gasmaskenübungsraum vorhanden gewesen sein dürfte und nur noch gegen Zerbrechen von innen mit einem Gitter geschützt zu werden brauchte – und einer Vorrichtung zum Einleiten von Gas. Eine primitive Absauganlage muss es bereits im Gasmaskenübungsraum gegeben haben, um das unangenehme, aber nicht gefährliche Tränengas beim Öffnen der Türen nach der Dichtheitsprüfung der Masken absaugen zu können. Noch heute ist ein vermauertes Loch unterhalb der Öffnung zu sehen, durch die später das Gas mittels einer Absauganlage mit Kamin nach draußen abgesaugt wurde. Diese Absaugeinrichtung wurde möglicherweise von Kramer auf Anforderung Bickenbachs verbessert. Somit ist die in der Sekundärliteratur häufig anzutreffende Ansicht, dass eigens eine Gaskammer für Hirt oder Bickenbach gebaut worden sei, ebenso unrichtig wie die Behauptung, diese sei im Festsaal des Hotels „aufgestellt“ worden. Es mag die Aufmerksamkeit des Lesers erregen zu behaupten, dass der Anatom Hirt sich für seine Morde nicht irgendeinen Raum des Konzentrationslagers Natzweiler aussuchte, sondern eine Gaskammer in einem Hotelfestsaal aufzustellen befahl – doch hat dies mit den historischen Tatsachen wenig zu tun.448 Die Kosten für den Umbau der Kühlzelle beziehungsweise des Gasmaskenübungsraumes zu der für die anstehenden Projekte geeigneten Gaszelle berechnete die Bauleitung der Waffen-SS in Natzweiler dem Anatomischen Institut der Reichsuniversität Straßburg in mehreren Rechnungen. Die Bauleitung bestand im Wesentlichen aus dem Untersturmführer (F) Robert Heider. Für Arbeiten am 3.6.1943 und 5.6.1943 berechnete Heider Hirt am 16.7.1943 (Rechnungsnummer 84) die nachfolgend aufgeführten Posten weiter.449 Hirt reichte diese dem Anatomischen Institut berechneten Kosten an das Ahnenerbe weiter, da Sievers Bickenbach dazu eingeladen hatte, die bei der Luftwaffe nicht möglichen Versuche unter dem Dach und auf Kosten des Ahnenerbes durchzuführen (siehe Aufstellung auf der nächsten Seite):

448  www.its-arolsen.org: Auch auf der Internetseite dieser wichtigen und unverzichtbaren Institution zur Erforschung der Konzentrationslager-Geschichte wird missverständlich unterstellt, dass die Gaszelle auf Antrag „der Mediziner“ – zuvor sind Haagen und Hirt genannt – im Festsaal des Hotels eingerichtet wurde. Zutreffend wäre die Beschreibung, dass diese in dem gegenüber des Hotels liegenden separaten Gebäude, das Festsaal genannt wurde, der bisherige Kühlraum erst zum Gasmaskenübungsraum und dann zur Gaszelle umgebaut wurde. 449  BArch NS 21 / 505, Rechnung von Heider an Hirt vom 16.7.1943.

144

C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Pos. Datum

Menge Einheit Leistung

„1

3.6.

0,026

kg

Nieten 3 / 10

2

3.6.

4,455

ʺ

1,50 m Winkeleisen

0 20

0 89

3

3.6.

4

Maschinenschrauben 8 / 40

0 06

0 24

4

3.6.

0,175

kg

1 Stange Lötzinn

2 85

0 50

5

3.6.

2,340

ʺ

2,40 m Flacheisen

0 19

0 45

6

3.6.

0,711

ʺ

0,80 m Rundeisen

0 18

0 13

7

3.6.

4

8

ʺʺ

19,–

kg

Gips

9

ʺʺ

64

Stunden

Arbeitszeit

10

ʺʺ

1

Bezug

0 05

Holzschrauben F.K. 5 / 80

0 05 50 kg

2 00

11

ʺʺ

1

5.6.

0,500

kg

13

ʺʺ

25,–

ʺ

Gips

14

ʺʺ

2,–

ʺ

Nitro-Lackfarbe grau

15

ʺʺ

10,060

ʺ

Zinkblech Nr. 13

0 56

Sichelkleister 50 kg

% zusammen

für Anfuhr und Verwaltungskosten

38,40 0 45

Stopfen 1½ ʺ

Zuschlag

0 76

0 60

Muffe 1½ ʺ

12

10 %

E-Preis Summe Summe Mat. Arb.450

1 58

0 79

2 00

1 00

3 20

6 40

35 10

3 53 15 80

38,40 1 58

Materiallieferungen

17 38

Arbeitsleistungen

38 40

Gesamtbetrag

55 78“

450  BArch NS 21 / 507, Beleg Nr. 1463, die Spaltenbenennung erfolgte durch den Autor, die folgenden Fußnoten bezeichnen besonders hervorzuhebende Rechnungselemente.



V. August Hirt145

Insgesamt führte Otto Bickenbach im Jahre 1943 und 1944 15 Versuche mit Phosgen durch. Die erste Versuchsreihe – Versuch I bis V – fand am 2. oder 3.6.1943 mit zehn Versuchspersonen statt. Sofern die am 1.6.1943 eingehende Genehmigung nicht abgewartet wurde, ist auch ein Versuchsbeginn ab dem 31.5.1943 nicht unwahrscheinlich. Offenbar stellte sich während der Versuchsreihe heraus, dass der Gasmaskenübungsraum nicht optimal nutzbar war, so dass noch am selben Tage die oben genannten Umbaumaßnahmen durchgeführt wurden, die am 5.6.1943 abgeschlossen waren. Nach dem Umbau, am 6.7.1943, setzte Bickenbach die Versuche mit der zweiten Versuchsreihe – Versuch VI bis XI – mit 14 Personen fort. Die nächste Versuchsreihe fand – mit Versuch XII bis XIV – am 15.6.1944 mit jeweils vier Versuchspersonen statt. Abgeschlossen wurden die Versuche des Jahres 1944 mit der letzten Versuchsreihe – Versuch XV – am 9.8.1944 mit vier Versuchspersonen.451 Es ist dabei bemerkenswert, dass diese Versuchsreihen sehr kurzfristig begannen: Am 17.3.1943 hatten Sievers und Bickenbach am Rande der Tagung in der Universität Straßburg über eine mögliche Kooperation gesprochen. Am 23.4.1943 hatte Hirt an Sievers geschrieben, dass er in dessen Auftrag bei Bickenbach einen Forschungsbericht angefordert habe.452 Am 30.5.1943 waren bereits die Häftlinge für die Versuche ausgewählt. In Anbetracht der üblichen zeitlichen Abläufe anderer Vorhaben im Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung ist im Falle Bickenbachs eine bemerkenswert hohe Geschwindigkeit zu beobachten. Dies mag nicht zuletzt an der Vermutung liegen, dass Sievers sich für das Institut für wehrwissenschaft­ liche Zweckforschung erhebliches Prestige versprach, wenn dort der Beweis geführt werden konnte, dass Hexamethylentetramin den Einsatz der leistungshemmenden Gasmaske überflüssig machen würde. Aufgrund der hohen Umsetzungsgeschwindigkeit, mit der die Häftlingsversuche ermöglicht wurden, ist die Gaskammer nicht nur sehr rasch hergestellt worden. Sie wurde vielmehr – vermutlich nach den ersten Versuchen – am 5.6.1943 auch weiter baulich ertüchtigt. Erst am Tag nach der formalen Aufnahme der 86 Häftlinge aus Auschwitz am 2.8.1943 begann ein erneuter Umbau der Gaszelle, der am 12.8.1943 451  ITS Archives, Archivnummer 2273, Copy of Doc.No. 3132604#1 (1.1.29.1 /  0020 / 0169) Diese Liste mit den ersten zehn Namen der Häftinge, an denen Bickenbach zu experimentieren beantragte (Walter Haufe, Georg Weinmann, Hugo Weckel, Karl Bosch, Friedrich Bungert, Paul Schneider, Philipp Landgrebe, Hasso Rainer, Josef Schmidl und Alfred Schmidt), lag mit hoher Wahrscheinlichkeit Bickenbachs fernschriftlichen Antrag zur Genehmigung der Versuche vom 31.5.1942 bei. Da die Häftlinge bereits am 30.5.1943 – also vor Antragstellung bzw. der Genehmigung – in Truppenverpflegung genommen wurde, ist es nicht unwahrscheinlich, dass auch der erste Versuch bereits vor dem Eintreffen des Genehmigungs-Fernschreibens am 1.6.1943 um 20:30 Uhr begonnen hat. 452  BArch NS 21 / 906, Schreiben von Hirt an Sievers vom 23.4.1943.

146

C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

abgeschlossen wurde. Dies stärkt die Vermutung, dass die Ermordung der 86 Menschen in Natzweiler nicht Teil eines seit 1941 entwickelten Plans war, sondern Ergebnis eines spontanen Umsteuerns, nachdem die Mordaktion in Auschwitz unterbrochen wurde. Die Kosten des Umbaus wurden Hirt am 29.9.1943 berechnet.453 Diese Rechnung Nr. 139 der Bauleitung der WaffenSS in Natzweiler weist verschiedene interessante Details auf, die geeignet sind, die zahlreichen Unklarheiten über diese Gaskammer zu beseitigen. Die in der Rechnung aufgeführten Posten zeigen verschiedene Gewerke. Einerseits betreffen sie den Umbau der Zelle mit einer technischen Verstärkung der Tür und einem Einführungsrohr für die Giftstoffe. Andererseits weisen sie jene Materialien auf, die durch den Einbau eines separaten Einganges und eines im Inneren des Gebäudes liegenden Ganges verwendet wurden. Diese Baumaßnahmen wurden offenbar durchgeführt, um die Häftlinge von außen ohne Durchquerung des Gebäudes zur Gaszelle bringen zu können. Dieser Aufwand wurde für die Opfer Bickenbachs nicht unternommen. Die Rechnung beinhaltete folgende Posten, die jeweils mit dem Datum des Ausführungstages versehen waren: Pos. Datum

Menge Einheit Leistung

Bezug

EPreis

Summe Summe Mat. Arb.

„1

3.8.

800

Ziegelsteine

%Stk.

39 20

31 36

2

ʺ

150,00 kg

Kalk

%kg

2 70

4 05

3

ʺ

1,500

cbm

Sand

4 50

6 75

4

ʺ

2

Sack

Gips

1 55

3 10

5

ʺ

3

ʺ

Zement

2 35

7 05

6

ʺ

60,–

kg

Kreide

6 75

4 05

7

ʺ

5,–

ʺ

E.C.Farbe weiss

1 20

6 00

8

ʺ

15

Tapeten

1 00

15 00

9

ʺ

55

ʺ

Tapeten

0 60

33 00

10

ʺ

1,–

kg

Glutolin Kleister

5 20

5 20

11

ʺ

20,–

ʺ

Pflanzenleim

0 42

8 40

12

ʺ

2,–

m

verz. Rohr 1 / 2ʺ

0 56

1 12

13

ʺ

Absperrhahn 1 / 2ʺ

1 59

1 59

14

ʺ

1

Paar

Türdrücker

1 00

1 00

15

ʺ

1

Schlüssel

0 25

0 25

453  BArch

Rollen

%kg

NS 21 / 507, Beleg Nr. 1463 vom 29.9.1943.



V. August Hirt147 Pos. Datum

Menge Einheit Leistung

16

ʺ

2

Riegel

0 32

0 64

17

ʺ

0,585

kg

Flacheisen 5 / 25 mm

0 19

0 11

18

ʺ

1,764

Ø

Rundeisen 12 mm Ø

0 18

0 32

19

ʺ

0,600

ʺ

Nieten

0 70

0 42

20

ʺ

1

Tupfbürste

12 90

12 90

21

ʺ

45

Arbeitsstunden Facharbeiter

0 60

27,00

22

ʺ

80

Arbeitsstunden Hilfsarbeiter

0 40

32,00

23

12.8. 1,–

m

Drahtseil

Bezug

(2x „0 39“ ?)

EPreis

Summe Summe Mat. Arb.

0 39

0 39

Werkzeugheft

0 25

0 25

24

ʺ

1

25

ʺ

1,111

kg

Rundeisen 10 mm Ø

0 19

0 21

26

ʺ

1,170

kg

Flacheisen 5 / 25 mm

0 19

0 22

27

ʺ

1

Rolle

80 x 15 mm

0 05

0 05

28

ʺ

2

Freileitungsklemmen

0 05

0 10

29

ʺ

32

ArbeitsstundenFacharbeiter zusammen

10 %

Zuschlag

19,20

143 53

78,20

14 35

für Anfuhr und Verwaltungskosten Materiallieferungen

157 88

Arbeitsleistungen

78 20

Gesamtbetrag

454  Ebd.,

0 60

236 08“454

Beleg Nr. 1463, die Spaltenbenennung erfolgte durch den Autor.

148

C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Den Rechnungsbetrag führte Hirt in der Abrechnung der Abteilung H für den Monat September 1943 an das Ahnenerbe als 7. Position auf und bezeichnete ihn mit „Bauleitung der Waffen-SS, Natzweiler (G-Zelle)“. Es sei erwähnt, dass die sechste Rechnungsposition mit 485 Reichsmark erheblich teurer war als der Bau der Gaszelle. Dieser Betrag wurde von der Firma Steggemann in Ahaus für die Lieferung von 250 Ratten berechnet. Die abgerechneten Gesamtkosten der Abteilung „H“, die keine Personalkosten für Hirts Mitarbeiter enthielt, betrugen 939,37 Reichsmark bei einem monat­ lichen Sachmittelbudget des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung für die Abteilung H in Höhe von 500 Reichsmark.455 Insgesamt lässt sich festhalten, dass der Bau der Gaszelle von der Bauleitung der Waffen-SS für das Anatomische Institut der Universität Straßburg fertiggestellt wurde. Das Institut reichte die dabei entstandenen Kosten als Abteilung H an das Ahnenerbe weiter‚ das sich diese wiederum und gemäß des Gründungsbefehls für das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung von der Waffen-SS erstatten ließ. Zudem wurde der Umbau der Gaszelle unmittelbar vor deren erstem Gebrauch zur Tötung der Häftlinge aus Auschwitz endgültig abgeschlossen, wobei die Einbindung Hirts unzweifelhaft ist. Im strafrechtlichen Sinne machte sich Hirt mit vorstehendem Tatbeitrag der Beihilfe zum Mord schuldig. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Umbaumaßnahmen des Raumes in einen Zustand, der zur Vergasung der 86 Opfer geeignet waren, erst rund drei Wochen nach der unten zu beschreibenden Abreise Begers aus Auschwitz nach Auswahl der Opfer erfolgte. Insbesondere fehlten jedoch zum Umbauzeitpunkt die für das Material notwendigen Eisenbezugsscheine, die in den Quellen häufig nur Eisenscheine genannt werden. Hierbei handelte es sich um einen Teil des Systems zur Bewirtschaftung jener Rohstoffe, die im Zweiten Weltkriege nicht in ausreichendem Maße im deutschen Machtbereich vorhanden waren. Schon 1942 begann Sievers, für die verschiedensten möglichen Fälle im Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung Eisenscheine auf Vorrat zu sammeln.456 Im Gegensatz zu Lebensmittelmarken wurden Eisenscheine nicht in Form von gedruckten Gutscheinen ausgefertigt, deren Besitz zum Einkauf bestimmter Mengen berechtigte. Vielmehr gab es bestimmte Mengen, die bestimmten Dienststellen zugeteilt wurden. Wenn nun eine Dienststelle, wie die Abteilung H, einen Bedarf z. B. an Aufzügen, Kühlfächern oder Mazerationseinrichtungen hatte, konnte der Hersteller diesen Auftrag nicht ausführen, ohne dass er Kennziffern für das der Dienststelle zugeteilte Kontingent erhielt. Diese wurden von der Abteilung H beim Ahnenerbe und von dort beim Rohstoffamt des Persönlichen Stabes Reichsführer-SS beantragt. Die 455  Ebd.,

Abrechnung Abteilung „H“ September 1943. R 26 III / 29, Schreiben von Sievers an Graue vom 6.2.1943.

456  BArch



V. August Hirt149

erteilten Kennziffern wurden dann dem Herstellerbetrieb mitgeteilt, der diese dann beim Einkauf der Rohstoffe seinem Lieferanten mitteilen musste. Die Begriffe Kennziffern, Eisenscheine und Eisenmarken wurden in den Quellen häufig synonym verwendet, was im weiteren Verlauf nach dieser Erläuterung unkommentiert übernommen wird. Die von der Abteilung H zum Umbau des Gasmaskenübungsraumes benötigten Eisenscheine wurden – ohne Rechtspflicht – zunächst vom Bauleiter des Konzentrationslagers Natzweiler, Heider, leihweise zur Verfügung gestellt. Doch offenbart die anschließende Korrespondenz, wie schwierig und langwierig es für das Ahnenerbe war, die Bezugsscheine für die verbrauchte Menge von rund 50 Kilogramm Metall zu beschaffen. Diese Probleme ergaben sich auch etwa bei dem Metall der ­Leichenaufzüge oder der Laborgeräte Hirts, die von der Reichsuniversität Straßburg bestellt und bezahlt wurden. In Kenntnis dieser Schwierigkeiten ist es ganz und gar nicht evident, dass bereits Ende 1941 oder Anfang 1942 der Plan bestand, Häftlinge für eine Schädelsammlung in Natzweiler zu vergasen. Hirt und das Ahnenerbe hätten eineinhalb Jahre Zeit gehabt, die Metallbezugsscheine zu beschaffen und den Umbau zu veranlassen. Stattdessen wurde hektisch umgebaut und die Fertigstellung war von dem Zufall abhängig, dass eine nicht involvierte Dienststelle ihre knappen Bezugsscheine leihweise zur Verfügung stellte, die sie dringend anderweitig benötigte.457 Auf der Rückseite des am 9.7.1944 ausgefertigten Eisenscheinzuteilungsantrages wurde vermerkt, wofür das beantragte Eisen verwendet worden war: „20 m 4m 3 qm

Rundeisen 12 mm Flacheisen 5 / 25 mm Blech 1mm

17,8 kg 3,95 ʺ 23,70 ʺ

457  BArch NS 21 / 908, Schriftwechsel zu den Eisenscheinen sowie Eisenschein über 50,5 Kilogramm vom 9.6.1944 für das verwendete Eisen beim „Einrichten und Sichern von Versuchsräumen“, wie der Leiter der Verwaltung des KZ Natzweiler auf der Rückseite notierte. Vgl. Anschreiben des Rohstoffamtes des Persönlichen Stabes an den Leiter der Verwaltung des KZ Natzweiler vom 30.6.1944 zur Übersendung von Eisenmarken für 51 Kilogramm Material unter Bezugnahme auf den Verwendungszweck „Einrichten und Sichern von Versuchsräumen“, zur Kenntnisnahme in Kopie an das Ahnenerbe nach Waischenfeld übersendet. Vgl. ITS 4.2 / 0007 / 151: Schreiben vom Verwaltungsleiter Natzweiler, Herbert Dillmann, an Hirt vom 13.5.1944 mit der Aufforderung, die 50,6 Kilogramm Eisenmarken zu übersenden, die verwendet wurden, da die gegenständlichen Räumlichkeiten nicht als „Versuchsstation ‚Ahnenerbe‘ eingerichtet waren. Es musste deshalb im Laufe der Versuche [sic!] Fenstervergitterungen, 1 Ventilator mit Abzugsschacht, Bodenroste, Bleichverkleidung für Türe, Riegel, u. a.m. angebracht werden.“ Bemerkenswert an diesem Schreiben ist vor allem, dass es bestätigt, dass die Baumaßnahmen sukzessive im Laufe der Versuche erfolgten. Vgl. BArch R 26 II / 729, Antrag von Wolff an Kriegswirtschaftsstelle im Reichsforschungsrat für 50 Kilogramm Eisenscheine in 1 kgMarken vom 6.2.1943.

150

C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

1 m Flacheisen 40 / 10 3,14 ʺ Schrauben und Nieten 1,50 ʺ 50,09“.458

Der beantragende Lieferantenbetrieb, die Firma Grimmeisen in Straßburg, übersandte den Schein an das Konzentrationslager Natzweiler, das ihn am 13.6.1944 an das Ahnenerbe weiterleitete.459 Wolff übermittelte ihn am 22.6.1944 an Standartenführer Kloth, den Leiter des Rohstoffamtes im Persönlichen Stab Reichsführer-SS, verbunden mit der Bitte, die Zuteilung unmittelbar an das Konzentrationslager Natzweiler zu veranlassen.460 JeanClaude Pressac kommentierte die Nachkriegsaussage eines der an diesem Umbau beteiligten Häftlinge, Georg Weydert, wie folgt:461 „Deposition by ex-prisoner Georg WEYDERT of Luxemburg regarding the installation, in the unused cold storage chamber at Struthof, of a device that could be used to make liquid flow from the exterior to the interior: ,while I was with the sanitary installations commando at camp Natzweiler, sometime between the spring and summer of 1943, I had to go to the gas chamber [The witness might seem to be anticipating the function of the room. It did not become a homicidal gas chamber until after the work he did there. But it is probable that it no longer served as a cold storage chamber at the time, and that the SS had already adapted it for training recruits in the wearing of gas masks.] on orders from the building directorate, to do some work there with the help of a prisoner of German nationality. Schondelmaier [an SS-man] was already there, and he told me to make a funnel out of sheet-metal, which was then attached to the outer wall of the gas chamber, on the corridor side, right next to a peep-hole for looking into the chamber. The small end of the funnel led into a pipe which passed into the chamber and stopped over a hole made in the concrete floor. A porcelain receptacle with a capacity of one or two litres was placed in this hole. A tap was fitted into the piece of pipe immediately below the funnel. The purpose of this device was to pour a liquid – I have no idea what liquid – into the funnel with the tap turned shut, and then, at a chosen moment, to cause this liquid to flow towards the gas chamber and into the porcelain receptacle, where another liquid would have been placed in advance. [ln fact, J. Kramer placed crystals in the porcelain receptacle.] The chemical reaction between the two liquids was to result in the release of toxic gas, designed to asphyxiate prisoners enclosed in the chamber. [The witness is extrapolating. How could he have known that the system would be used to gas prisoners? If he had such knowledge through an indiscretion, he should have said so and his deposition would thereby have taken on even more weight.]

458  BArch 459  Ebd.,

NS 21 / 908, Eisenschein vom 9.6.1944. Schreiben vom Konzentrationslager Natzweiler an Ahnenerbe vom

13.6.1944. 460  Ebd., Schreiben von Wolff an Rohstoffamt vom 22.6.1944. 461  Pressac setzt seine Kommentare in Klammern.



V. August Hirt151 My work was barely finished when Nitsche462 came along, in the company of a Wehrmacht doctor whose name I never knew. After Nitsche had checked the work, he ordered me to install a grating, fastening it with care over the porcelain receptacle, so the prisoners enclosed in the chamber would not be able to move the receptacle.‘ [The above remark applies again. Note that the receptacle had no drain and was immobilized by the grating, so any liquid it contained could not be poured out. This absurdity made cleaning a problem, and exemplifies the improvised nature of an installation that was to be used for only a short time.]“463

Die Überlegung von Pressac, dass durch das Fehlen eines Gully-Abflusses weder Flüssigkeiten ablaufen konnten noch die Reinigung gut funktionierte, ist nachvollziehbar (letzteres insbesondere vor dem Hintergrund, dass Sterbende sich in der Regel entleeren). Vor allem aber ist der Eindruck zu teilen, dass es sich bei dem Umbau um einen eiligen, improvisierten Vorgang handelte, den Bickenbach überwachte.

Abb. 16: Links ist die neu eingebaute Eingangstür zum Vorraum des Kühlraums zu sehen, rechts daneben das Fenster zum Vorraum des Kühlraums, rechts daneben die alte Entlüftung im Mauerloch. Darüber ist die neue im Sommer 1943 mit einem Kamin versehene Abluftanlage aus dem Kühlraum bzw. der Gaszelle nach draußen zu erkennen, rechts daneben das zur Tür umgebaute Fenster zum hinteren Gebäudeteil und ganz rechts und ganz links je eines der originalen Fenster. (Foto: Aufnahme des Verfassers) 462  Gemeint ist der SS-Angehörige Robert Nitsch, in der Literatur häufig auch als Nietsch aufgeführt. 463  Pressac, Struthof, S. 29.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Auf dem Grundriss des Erdgeschosses des Festsaals (siehe Abb. 17) lassen sich zudem folgende Details erkennen: Am rechten Bildrand ist der ehemalige Eingang für die Gäste des vormaligen gastronomischen Betriebes zu erkennen. Am oberen und unteren Bildrand sind die ursprünglichen je vier Fenster mit Einfassungen aus rotem Granit zu sehen. Am linken Bildrand sind die sanitären Anlagen zu erkennen, die keinen Zugang vom Gebäude, sondern nur von außen besaßen. Am oberen Bildrand ist zu erkennen, dass eine zusätzliche Tür eingebaut und eines der Fenster zu einer Tür umgebaut wurde. Das Foto der Vorderfront des Gebäudes (siehe Abb. 16) zeigt, dass im unteren Teil dieser Tür der rote Granit nur angemalt wurde. Die Innentüren wurden teilweise zugemauert. Mit diesen Baumaßnahmen wurde ermöglicht, dass der auf dem Grundriss linke Teil des Gebäudes mit dem neuen vom Fenster zur Außentür umgebauten Zugang und der rechte Teil durch die ursprüngliche Eingangstür genutzt werden konnte. Nur der mittig am oberen Bildrand vorhandene Raum war von den beiden anderen Bereichen abgetrennt und besaß seine eigene, neue Zugangstür, die sich von den anderen Fenstern und Türen durch die Höhe des oberen Randes und die Gestaltung unterschied. In diesem Raum befand sich der ehemalige Kühlraum, der auf dem Grundriss dick schwarz umrandet ist. Florian Schmaltz datiert die Versuchsreihen Bickenbachs mit Phosgen abweichend von den oben dokumentierten Ergebnissen in Natzweiler auf April, Mai und Juni 1943, also noch vor der Ertüchtigung der Kühlzelle.464 Bickenbach hatte im Vorfeld betont, dass er nicht unter Hirt forschen wolle, sondern

Abb. 17: Grundriss des Festsaals. (Quelle: Skizze nach Pressac, Struthof, S. 59) 464  Schmaltz,

Kampfstoff-Forschung, S. 534.



V. August Hirt153

unmittelbar einen Befehl von Himmler fordere, um abgesichert zu sein, falls Häftlinge zu Schaden kämen, wie Hirt am 23.4.1943 an Sievers über seine Absprachen mit Bickenbach schrieb: „Gleichzeitig habe ich ihn darüber orientiert, dass wir mit den Versuchen in Natzweiler unter meiner Verantwortung beginnen können. Prof. Bickenbach bittet nun zu seiner eigenen Rückendeckung um einen direkten Auftrag mit einer mir nicht ganz klaren Begründung. Er möchte vor allen Dingen im Falle des Versagens seiner Prophylaxe wohl zur Sicherheit haben, dass er auf Befehl des RFSS den Versuch durchgeführt hat. Das ist in diesem Falle verständlich, da wir ja aus unseren eigenen Erfahrungen gesehen haben, dass die Übertragung des Tierexperiments auf den Menschen durchaus nicht immer zum gleichen Ergebnis führen muss.“465

Bickenbachs Kalkül ging auf: Als er nach dem Kriege vor einem französischen Gericht angeklagt wurde, gab sich Bickenbach als Opfer Himmlers aus, der ihn durch Befehle zu Versuchen gezwungen habe, die jeder ärzt­ lichen Ethik zuwiderliefen.466 Da auf Befehlsverweigerungen empfindliche Strafen folgen konnten, war dies nach dem Kriege eine häufig vorgebrachte Schutzbehauptung. Die Kooperation des Ahnenerbes mit Bickenbach währte zunächst nur kurz. Bereits am 2.2.1944 traf Sievers Bickenbach auf dem Weg nach Straßburg auf dem Bahnhof in Karlsruhe. Bickenbach teilte mit, dass er seine Forschungen und sich dem Generalkommissar für das Gesundheitswesen Karl Brandt unterstellt habe. Nach der Ankunft in Straßburg setzte Hirt Sievers darüber in Kenntnis, dass Bickenbach sich, ohne Hirt oder den Dekan zu benachrichtigen, an Brandt gewandt und diesem Zutritt zu den Ahnenerbe-Versuchen in Natzweiler verschafft habe. Der empörte Sievers zog sofort alle Aufträge an Bickenbach zurück und sperrte den Zugang ins Konzentrationslager Natzweiler für den Mediziner.467 Zudem hielt er in seinem Tagebuch fest, dass auch Dekan Stein das Vorgehen Bickenbachs missbillige.468 Offenbar hatte es bezüglich der Kampfstoffforschung einen Füh­ rerbefehl gegeben. Sievers sah sich veranlasst, nach Beelitz zu Karl Brandt zu fahren und ihm die Ergebnisse Hirts vorzustellen. Im Ergebnis wurden nach einer Aussprache zwischen Bickenbach, Brandt und Hirt die Versuche Bickenbachs unter Einbeziehung von Brandt in Natzweiler fortgesetzt.469 Da Hirts Sekretärin Lieselotte Seepe einen Erschöpfungskollaps erlitten hatte, schrieb Hirt am Sonntag, den 09.4.1944 selbst und handschriftlich an Sievers: 465  BArch

NS 21 / 906, Schreiben von Hirt an Sievers vom 23.4.1943. Kampfstoff-Forschung, S. 534. 467  BArch NS 21 / 11 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 2.2.1944. 468  Ebd., Eintrag vom 3.2.1944. 469  BArch NS 21 / 908, Telegramm von Sievers an Hirt vom 20.4.1944 mit Himmlers Zustimmung zu der neuen, von Hirt am 9.4.1944 vorgeschlagenen Kooperation mit Bickenbach; vgl. Klee, Auschwitz, S. 382. 466  Schmaltz,

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

„Lieber Kamerad Sievers! Ich möchte Ihnen kurz über die Unterredung mit Prof. Brandt berichten, der am Mittwoch bei mir war. Er kam mit Prof. Bickenbach & fing nach wenigen überleitenden Worten ziemlich erregt von einer unmöglichen Situation zu reden an, wenn eine Dienststelle einer anderen das Arbeiten verbiete. Ich habe ihm darauf sehr ruhig aber bestimmt auseinandergesetzt, wie die Sachlage wirklich war & dass Prof. Bickenbach bis heute noch keinen schriftlichen Bericht über die im Auftrage des Reichsführers durchgeführten Untersuchungen vorgelegt habe. Im übrigen sei Prof. Bickenbach bis heute nicht zu dem einzig entscheidenden Versuch geschritten. Schliesslich ordnete Prof. Brandt an, dass B. nunmehr diesen Versuch durchzuführen habe, unabhängig von den weiteren Arbeiten, die er in seinem Bericht an Sie vorgeschlagen hat. Damit wäre also das was ich wollte erreicht & ich bitte Sie nunmehr die Erlaubnis zu erteilen erwirken, dass die von Prof. Brandt vorgeschlagenen Versuche in N. durchgeführt werden können. Da Prof. Br. vorläufig ganz von Bickenbach überzeugt zu sein scheint, habe ich mich von einer weiteren Kritik enthalten, um in Ruhe den Ausgang der weiteren Versuche abzuwarten. Im Übrigen habe ich den Vorwurf, dass Sie unrichtig gehandelt hätten, energisch zurückgewiesen & Prof. Br. wohl auch davon überzeugt.“470

Am 20.4.1944 telegraphierte Sievers an Hirt: „Dank für Brief vom 9.IV. Besprechung Brandt / Bickenbach voll einverstanden. Reichsführer-SS hat Sie heute befördert. Herzliche Wünsche. Ihr Sievers.“471

Am nächsten Tag (21.4.1944) schrieb Hirt an Sievers: „Prof. Bickenbach wünscht nun die von mir geforderten Versuche, die er jetzt im Auftrage von Prof. Brandt ausführen soll, in Natzweiler aufzunehmen. […] Ich denke, dass wir dann Ende nächster Woche den entscheidenden Versuch durchführen werden.“472

Dieses Schreiben belegt, dass Bickenbach zwar zunächst im Rahmen von Himmlers „Blanko“-Befehl für Hirt nominell unter Hirt arbeitete, doch Hirt zwischenzeitlich eigene Interessen auf dem Gebiet der Phosgen-Forschung entwickelt hatte. Die Erschöpfung von Lieselotte Seepe scheint nachhaltig gewesen zu sein, denn das Ahnenerbe organisierte und bezahlte ihr Anfang April 1944473 für den Sommer 1944 einen Erholungsurlaub, was in der Gesamtschau der Quellen eine ungewöhnliche Auszeichnung war.474 Nach einem Schreiben Brandts vom 21.8.1944 erklärte sich Hirt mit Sievers’ Zustimmung vom 5.9.1944 470  BArch

NS 21 / 908, Schreiben von Hirt an Sievers vom 9.4.1944. Telegramm von Sievers an Hirt vom 20.4.1944. 472  Ebd., Schreiben von Hirt an Sievers vom 21.4.1944. 473  BArch NS 21 / 238, Schreiben von Seepe an Wolff vom 5.4.1944. 474  Ebd., Schreiben von Wolff an Seepe vom 13.7.1944 und Schreiben von Seepe an Wolff vom 3.8.1944. 471  Ebd.,



V. August Hirt155

bereit, nach ersten gemeinsamen Versuchen im April und Mai 1944475 erneut persönlich mit Bickenbach zusammenzuarbeiten476. In diese Zeit fallen weitere Medizinverbrechen Hirts, bei denen die Quellenlage allerdings vergleichsweise dünn ist: Am 18.2.1944 notierte Sievers in einem Aktenvermerk, dass Hirt in Natzweiler mit gutem Erfolg Fleckfieberschutzimpfungen durchgeführt habe. Dabei handelte es sich um die Fleckfieberversuche von Eugen Haagen477 in Natzweiler, der bei diesen Versuchen nominell Hirt – ähnlich wie Bickenbach bei seinen Versuchen in Natzweiler mit Himmlers „Blanko“-Befehl – formal unterstellt war.478 Allerdings hielt Sievers unzweifelhaft fest, dass Hirt auch selbst Versuche durchgeführt habe.479 Auch in diesem Falle nutzte Sievers die Möglichkeit, einem Wissenschaftler, der mangels geeigneter Forschungsbedingungen in eine Sackgasse geraten war, mit den Möglichkeiten des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung und des „Blanko“-Befehls eine Zukunftsperspektive zu eröffnen. Dies geschah just zu dem Zeitpunkt, in dem der Chef des Wehrmachtssanitätswesens, Generaloberstabsarzt Professor Dr. Siegfried Handloser, Haagens Influenza-Impfungsmethode für die Wehrmacht abgelehnt hatte.480 Am 1.3.1944 schrieb Sievers an Hirt und erkundigte sich nach einem Bericht über die Fleckfieberschutzimpfung und die Vorbeugungsimpfung gegen Influenza.481 Hirt übersandte den Forschungsbericht Haagens am 30.6.1944 an Sievers.482 Im Juni 1944 schrieb Rudolf Brandt an Sievers und 475  BArch

NS 21 / 908, Schreiben von Hirt an Sievers vom 21.4.1944. Schreiben von Sievers an Hirt vom 5.9.1944. 477  Niels Eugen Haagen (geb. 17.6.1898 in Berlin, gest. 3.8.1972 in Berlin), Medizinstudium und Promotion, 1926 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Reichsgesundheitsamt im Bereich Tumorforschung und Virologie. 1928 / 29 Gastwissenschaftler am Rockefeller Institute in New York, 1930 Regierungsrat, 1933 Wechsel zum RobertKoch-Institut, 1936 dort Abteilungsleiter für Zell- und Virusforschung, Ernennung zum Professor und Kandidat für den Medizinnobelpreis für einen Typhusimpfstoff. 1937 Eintritt in die NSDAP, weitere Mitgliedschaften in verschiedenen Parteigliederungen; 1941 Ruf nach Straßburg als Direktor des Hygienischen Instituts. Entwicklung eines Fleckfieberimpfstoffes und Erprobung an Häftlingen in Natzweiler mit oft letalem Ausgang. 1944 Verlegung des Instituts nach Saalfeld (Saale); 1954 wegen der Versuche Verurteilung in Frankreich zu 20 Jahren Zwangsarbeit; Amnestie 1955. 1956 bis 1965 an der Bundesforschungsanstalt für Viruserkrankungen mit DFG-Förderung tätig. 478  Vgl. Toledano, Raphael: Les Expériences Médicales du Professeur Eugen Haagen de la Reichsuniversität Strassburg. Faits, Contexte et Procès d’un Médecin Na­ tional-Socialiste, Strasbourg 2010. 479  BArch NS 21 / 903, Vermerk von Sievers vom 18.2.1944. 480  Ebd., Vermerk von Sievers vom 18.2.1944. 481  BArch NS 21 / 908, Schreiben von Sievers an Hirt vom 1.3.1944. 482  BArch NS 21 / 903, Schreiben von Hirt an Sievers vom 30.6.1944. 476  Ebd.,

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

bedankte sich für den Vorschlag zur Herstellung eines neuartigen Fleck­ fieberimpfstoffes, den er dem WVHA-Chef Pohl unterbreitet hatte. Für die Umsetzung seien in Zukunft als unterstützende Dienststellen sowohl das WVHA als auch das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung zu nennen.483 Dies bezog sich auf eine Veröffentlichung im „Zentralblatt für Bakteriologie, Parasitenkunde und Infektionskrankheiten“ vom 20.12.1944. Dort hatten der „Oberstabsarzt und beratende Hygieniker bei einer Luftflotte“, Eugen Haagen, und seine spätere Ehefrau Brigitte Crodel einen Aufsatz mit dem Titel „Versuche mit einem neuen getrockneten Fleckfieberimpfstoff“ publiziert. Die Überschrift war mit einer Fußnote mit dem folgend wiedergegebenen Inhalt versehen: „Die Untersuchungen wurden im Auftrage und mit Unterstützung des Chefs des Sanitätswesens der Luftwaffe sowie mit Unterstützung des Reichsforschungsrates durchgeführt und durch den Reichsführer SS persönlich sowohl durch das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt als auch durch das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung der Waffen-SS gefördert.“484 Offenbar war Hirt in weitere Versuche an Häftlingen verstrickt, was durch die Fokussierung auf die Lost-Versuche und die Straßburger Schädelsammlung häufig übersehen wird. Auch in diesem Falle ist Hirt zweifelsfrei Beihelfer und unter Umständen auch Mittäter an zahlreichen weiteren Tötigungsdelikten an Häftlingen. Zudem zeigen die Korrespondenz, die der Veröffentlichung vorausging, und der dankende Hinweis auf das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung eines ganz deutlich: Sievers wusste um das Interesse Himmlers an der Entwicklung eines Fleckfieber-Impfstoffes. Es gelang ihm, ohne eigene personelle Ressourcen, dass bei der Publikation des Ergebnisses neben der obligatorischen Nennung des Dienstherrn Haagens und des Reichsforschungsrates auf auf das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung als Mit-Urheber genannt wurde. Gleichzeitig wurde die persönliche Förderung durch Himmler betont. Dieses Ergebnis spiegelt einerseits die Bemühungen von Sievers um eine Profilierung des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung wider, andererseits dürfte es Sievers’ Position bei Himmler gestärkt haben.

483  BArch

1944.

NS 19 / 1582, Schreiben von Brandt an Sievers vom ? [unleserlich] .6.

484  Haagen, Eugen / Crodel, Brigitte, Versuche mit einem neuen getrockneten Fleckfieberimpfstoff, in: Zentralblatt für Bakteriologie, Parasitenkunde und Infek­ tionskrankheiten, 20.12.1944.



V. August Hirt157

10. Krebsforschung in Straßburg Seitdem Sigmund Rascher im Jahre 1939 die Krebsforschung im Ahnenerbe begründete, genoss diese Disziplin einen hohen Stellenwert bei Sievers. Nachdem Himmlers Mutter an Krebs verstorben war, zeigte Himmler großes Interesse an der Krebsforschung. Auch darin lag begründet, dass Rascher den Krebsforschungsauftrag erhielt. Im Wissen um Himmlers Interesse an diesem Forschungsgebiet unternahm Sievers den Versuch, Hirt auch in diese Arbeiten einzubeziehen. Die ersten erfolgreichen Ergebnisse dieser Zusammenarbeit erfuhr Sievers bei einem Besuch bei Hirt am 2.2.1944. Anschließend vermerkte Sievers euphorisch in seinem Tagebuch: „CA-Arbeit  /  Erstmalige Darstellung lebender Krebszellen und ihre Bekämpfung  /  Hirt gelang die Darstellung lebender Krebszellen und dabei der Nachweis, dass Tripaflavin in den Zellkern eindringt als krebszellschädigender Farbstoff  /  zu stellen wäre als Aufgabe weitere Erforschung des Eindringens in den Zellkern ohne Schädigung des sonstigen Organismus  /  Bericht für RF-SS angefordert.“485

Hirt versicherte Sievers, dass er den Versuch jederzeit vor Himmler wiederholen könne. Noch in Nürnberg war Sievers stolz auf Hirts Ergebnis: „Hirt hat als 1. die Krebszelle lebend dargestellt an Maeusekrebs.“486 Nach seinem Besuch in Straßburg forderte Sievers am 1.3.1944 einen Bericht für Himmler an: „Lieber Kamerad Hirt! Wann darf ich erstens mit dem Bericht über die Darstellung lebender Krebszellen für den Reichsführer-SS rech­nen?“487 An dieser Stelle muss festgehalten werden, dass Hirt Krebs bei Mäusen untersuchte und die lebenden Geschwulste auf den Objektträger seines Lumineszenzmikroskopes legte. Dies erklärte Hirt in einem Forschungsbericht: „Endziel auch hier: weniger zunächst nach der Ursache der bösartigen Geschwülste in ihrer Entstehung zu suchen als vielmehr nach der Möglichkeit, sie auf Grund ihres Verhaltens therapeutisch anzugehen und wenn möglich unschädlich zu machen.“488

In der jüngeren Literatur wurde die Tatsache, dass und auf welche Weise Hirt onkologische Forschung durch Fluoreszenzmikroskopie durchführte, zu einem weiteren Beleg für die unseriösen und menschenverachtenden Forschungen Hirts umgedeutet. Hans-Joachim Lang etwa schrieb: „Hirt wollte so lange herumdoktern, bis sich das gewünschte Ergebnis einstellte. Das Ergebnis an Humanversuchen lag damit auf der Hand, ohne dass er ihn explizit begründen musste.“489 485  BArch

NS 21 / 11 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 2.2.1944. MA 1562: Pre-Trial-Interrogations Sievers vom 20.8.1946, S. 14. 487  BArch NS 21 / 11 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 2.2.1944. 488  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159, Prozessakte Beger, Forschungsbericht von Hirt vom 20.1.1942, S. 43–45. 489  Lang, Nummern, S. 130 f. 486  IfZ

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

In Verkennung jedes medizinischen Forschungsansatzes beschreibt dies einen Auszug aus einem Forschungsansatz Hirts in Bezug auf Krebs. Grundsätzlich wurde und wird im medizinischen Bereich sowohl präventiv als auch kurativ geforscht. Hirt wählte das bis heute weltweit mit erheblichem Aufwand verfolgte Feld der kurativen Forschung. Trotz dieser Interpretation steht die kurative Onkologie auch heute nicht im Generalverdacht des „Herumdokterns“. Bei Langs Interpretation der betreffenden Stelle aus Hirts Forschungsbericht vom 20.1.1942 wurde diese aus dem Zusammenhang gerissen: Hirts Bericht beschrieb die Möglichkeit, mit Intravitalmikroskopie lebende Zellen zu beobachten und zu analysieren, darunter auch Krebszellen. Hirt forschte an Mäusen und Ratten, deren Krebsgeschwulste unter einem Mikroskop gut zu erkennen waren. Es war nach dem damaligen Stand der Technik entgegen der Ausführungen Langs zu diesem Thema schlicht nicht möglich, im Humanversuch eine Krebsgeschwulst mittels Trypaflavin von innen zu beleuchten und mitsamt dem lebenden Menschen unter einem Lumineszenzmikroskop zu betrachten. Herausoperierte Krebsgeschwulste von mensch­lichen Patienten hingegen wurden schon erheblich früher mikroskopisch ­untersucht.490 Allerdings ist das Entfernen von Krebsgeschwulsten nicht als „Human-Versuch“ zu qualifizieren, sondern medizinischer Alltag. Im Übrigen hielt auch Sievers ausdrücklich fest, dass an Mäusekrebs geforscht wurde.491 Sievers versuchte nach der Erfolgsnachricht vom 2.2.1944 auch in diesem Falle, die Wissenschaftler des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung weitläufig zu vernetzen. Sievers notierte in sein Tagebuch: „Wegen fluoreszierender Stoffe für L-Versuche direkte Verhandlungen aufnehmen, gegebenenfalls mit Prof. Kuhn.“492 Professor Dr. Richard Kuhn aus Heidelberg war der Leiter der Fachsparte für organische Chemie im Reichsforschungsrat.493 Der im Jahre 1900 geborene Kuhn war bereits im Jahre 1926 Professor in Zürich geworden und wechselte im Jahre 1928 an die Universität Heidelberg. Der noch nicht 30-jährige Kuhn war so erfolgreich, dass er im Jahre 1929 bereits zum Abteilungsleiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts für medizinische Forschung berufen worden war, dessen Direktor er 1937 wurde. Im Jahre 1938 erhielt er den Nobelpreis für Chemie. Jedoch finden sich in den persönlichen Aufzeichnungen Kuhns keine Hinweise, dass Hirt oder die Universität Straßburg sich bei ihm um Farbstofflieferungen bemüht hätten.494 490  BArch NS 21 / 921a, Denkschrift von Rascher vom 1.5.1939. Vgl. Flachowsky, Reichsforschungsrat: Die Breite der präventiven und kurativen Forschungen im Deutschen Reich wird hier übersichtlich dargestellt. 491  IfZ MA 1562: Pre-Trial-Interrogations Sievers vom 20.8.1946, S. 14. 492  BArch NS 21 / 11 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 2.2.1944. 493  NARA T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 16.1.1942. 494  Fernmündliche Auskunft von Kuhns Sohn am 7.10.2012.



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In den Quellen wie auch im Nachlass Kuhns findet sich bislang keinerlei rechtlich belastbarer Beleg über einen persönlichen Kontakt oder gar eine tatsächlich stattgefundene Zusammenarbeit zwischen Hirt und Kuhn. 11. Kein Durchbruch in der Lost-Forschung Noch vor dem Beginn von Bickenbachs Phosgen-Versuchen in Natzweiler schrieb Sievers am 27.4.1943 an Himmlers Referenten Brandt, dass Hirt durch Verletzung mit Lost schwer erkrankt sei und darüber hinaus eine bessere Ernährung und eine Kur dringend geboten seien.495 Nur einen Tag später, am 28.4.1943, teilte Sievers Brandt abermals mit,496 dass der Erfolg der Lost-Versuche gefährdet sei, wenn Hirts Mitarbeiter Wimmer nicht rasch wieder von der Front zu Hirt kommandiert würde. Hintergrund war ein abermaliger Beschwerdebrief Hirts vom 22.4.1943.497 Gleichzeitig versuchte Sievers über den Frühgeschichtler und Ahnenerbe-Forschungsstättenleiter Professor Dr. Walter von Stokar einen weiteren Assistenten für Hirt in den besetzten Niederlanden anwerben zu lassen.498 Sievers versuchte auf verschiedensten Ebenen den Fortgang von Hirts Forschungen sicher zu stellen: Hermann Göring bekleidete zahlreiche Ämter im nationalsozialistischen Regime. Unter anderem war er seit 1942 Präsident des zweiten Reichsforschungsrates. Die operative Leitung dieses Gremiums lag jedoch beim Geschäftsführenden Beirat unter dessen Leiter Mentzel und seinem Vertreter Sievers. Wichtige Entscheidungen wurden jedoch mit Görings ständigem Vertreter im Reichsforschungsrat abgestimmt. Dies war der Leiter der Abteilung 1 des Persönlichen Stabes Görings, Fritz Görnnert.499 An ihn schrieb Brandt nach Sievers’ erfolgreicher Intervention am 9.6.1943 im Auftrage Himmlers, um Wimmer für Hirt zurückzuerhalten500. Bereits am 1.8.1943 war Wimmer wieder bei Hirt in Straßburg.501 Kurz darauf verletzten sich 495  HStA

Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34168 Prozessakte Beger, S. 137 f. NS 21 / 906, Schreiben von Sievers am Brandt vom 22.4.1943 und von Sievers an Meine vom 22.4.1944. 497  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34168 Prozessakte Beger, S. 139 f., Schreiben von Sievers an Brandt vom 28.4.1943. 498  BArch NS 21 / 906, Schreiben von Sievers an v. Stokar vom 27.4.1943. 499  Hachtmann, Wissenschaftsmanagement, S. 868. 500  BArch NS 19 / 1582, Schreiben von Brandt an Görnnert vom 9.6.1943. 501  Klee, Auschwitz, S. 380: Klee nennt als Quelle Korrespondenz aus BArch NS 19 / 1582, dazu jedoch ein weiteres Schreiben von Sievers an Hirt vom 19.6.1943, das an der angegebenen Fundstelle in der Zentralstelle in Ludwigsburg jedoch nicht gefunden werden konnte. Hierin soll Sievers Hirt berichtet haben, wie er Wimmer ins Gewissen geredet habe, doch seine eigenen Wünsche zurückzustellen und wieder nach Straßburg zu kommen. Es bleiben Zweifel an der Umsetzbarkeit eines solchen 496  BArch

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Wimmer und Schmitt mit Lost so schwer, dass sie eine spezielle Diätnahrung benötigten.502 In seinem Schreiben an Sievers vom 9.4.1944 berichtete Hirt von einem weiteren Einberufungsversuch Wimmers: „Dr. Wimmer ist von der Fallschirmtruppe wieder angefordert worden, ich habe es von mir aus abgelehnt ihn freizugeben.“503 Sievers intervenierte und hielt in einem ­Vermerk die vorliegenden Schwierigkeiten mit dem Reichsarzt-SS fest, der Wimmer für die Luftwaffe angefordert hatte. Ebenso notierte er, dass Hirts Lost-Versuche ohne Wimmer gefährdet seien. Hirt würde Wimmer allenfalls zum Semesterende freigeben, unter der Prämisse, den bis dahin halbtags für ihn tätigen Kiesselbach dann vollständig zur Verfügung zu haben. Allerdings sei Kiesselbach kein adäquater Ersatz für Wimmer.504 Die Rückgabe Wimmers an die Luftwaffe konnte dann noch bis zum 1.8.1944 aufgeschoben werden.505 Während einer Tagung in Pabenschwandt teilte Hirt Sievers dann Ende August 1944 mit, dass Wimmer endgültig einberufen und mit einer Rückkommandierung nicht zu rechnen sei.506 Es war Sievers dennoch auf einen Antrag vom 11.11.1944 hin gelungen, Wimmer abermals für sechs Monate zurückkommandieren zu lassen. Der Beginn dieser Kommandierung ist für den 2.3.1945 belegt.507 Welche Tätigkeiten Wimmer genau ausübte und wo er arbeitete, muss offen bleiben. In der angespannten Personallage des sechsten Kriegsjahres mit hohen Gefallenenzahlen versuchte Sievers zu gewährleisten, dass Hirt als „u.k.“ gestellter Wehrmachtsarzt und Mitglied der Allgemeinen SS nicht doch noch zur Wehrmacht eingezogen wurde. Daher teilte Sievers Hirt am 13.4.1944 mit, dass die Wehrmacht in Aussicht stelle, ihn zur Waffen-SS zu überstellen.508 Doch schon am 27.6.1944 war Hirt in einer so schlechten gesundheitlichen Verfassung, dass Sievers sich wie im Vorjahr um eine Kur bemühte: Mit einem Schreiben an die – für das Kurheim St. Lambrecht in der Steiermark zuständige – Forst- und Güterdirektion meldete er Hirt dort zur Kur an.509 Am 30.6.1944 wurde Hirt die Beförderung zum Sturmbannführer mit Appells durch Wimmer – war er doch kaum Herr der Entscheidung über seine Wehrverwendungsfähigkeit. 502  BArch DS G 143 Personalakte Wimmer, Bescheinigung von Sievers für Wimmer und Schmitt vom 5.11.1943. 503  BArch NS 21 / 908, Schreiben von Sievers an Hirt vom 5.9.1944. 504  BArch DS G 143 Personalakte Wimmer, Vermerk von Sievers vom 16.6.1944. 505  BArch NS 21 / 11 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 16.6.1944. 506  Ebd., Eintrag vom 22.8.1944. 507  BArch DS G 143 Personalakte Wimmer: Schreiben von Sievers an Breitfeldt vom 9.4.1945. 508  BArch NS 21 / 50 Personalakte Hirt, Schreiben von Sievers an Hirt vom 13.4.1944. 509  Ebd., Schreiben von Hirt an die Forst- und Güterdirektion vom 27.6.1944.



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Wirkung zum 20.4.1944 brieflich mitgeteilt,510 nachdem Sievers ihn davon schon am 20.4.1944 telegraphisch unterrichtet hatte.511 Der von Wüst unterschriebene Beförderungsvorschlag nannte dezidiert die Verdienste, die diese Beförderung rechtfertigen würden, wozu ausdrücklich auch die „Geheimversuche (Kampfstoffversuche auf dem Gebiete der Fluoreszenzmikroskopie)“ und Hirts dabei erlittene Verletzungen zählten. Eine Unterstützung des Ahnenerbes in Bezug auf anthropologische Sammlungen wurde nicht genannt.512 Dabei waren diese ebenso geheim und illegal wie Humanversuche mit Kampfstoffen. Daher kann die Erfordernis der Geheimhaltung kein Grund gewesen sein, in der Vorschlagsbegründung eine Mitarbeit an einer Schädelsammlung nicht zu benennen. Die Lost-Versuche wurden nach dem Abschluss der Versuchsreihen an Menschen in Natzweiler an Ratten, Kaninchen und Hühnern im Labor in Straßburg weitergeführt.513 Für diese wurde Futter benötigt, was angesichts der herrschenden Nahrungsmittelknappheit nicht unproblematisch war. Daher wurde das Futter mit Papier gestreckt514. Außer einer Nachricht an Sievers vom 18.8.1944, dass sein technischer Assistent August Mayer durch Lost verletzt wurde,515 gibt es nur wenige Belege über Art und Umfang dieser Forschungen. Ein Brief von Sievers an den Verbindungsführer zwischen der Ahnenerbe-Leitung in Waischenfeld und dem Ahnenerbe-Sitz in BerlinDahlem, Obersturmführer Löhausen, vom 6.7.1944 zeigt, dass Hirt seine Lost-Versuche fortführte: „Lieber Kamerad Löhausen l Prof.Dr.Hirt, Straßburg, braucht für seine Versuche Lost. Ich habe beim Hauptsanitätslager der Waffen-SS, Berlin- Lichtenberg, mit Schreiben vom 30.6.1944 (Geheime Reichssache) 150 gr. technisch reines Lost beantragt. Das SS-Hauptsanitätslager hatte seinerzeit zur Auflage gemacht, daß Lost nur durch Führer-Kurier nach Straßburg verbracht werden dürfe. Bitte rufen Sie im SS-Hauptsanitätslager an und ermitteln Sie, wann die beantragte Menge zur Verfügung steht. […] Vielleicht reist ein Kurier des SD oder des Pers.Stabes über Straß-

510  BArch NS 21 / 908 und BArch NS 21 / 50, Schreiben von Sievers an Hirt vom 30.6.1944. 511  BArch NS 21 / 908, Telegramm von Sievers an Hirt vom 20.4.1944. 512  BArch SSO 101 A, Schreiben von Wüst an Persönlichen Stab vom 6.2.1944. 513  BArch R 4901, Stellungnahme von Hirt zur Veröffentlichung in der „Daily Mail“ vom 3.1.1945 an den Kurator der Universität Straßburg vom 25.1.1945. 514  BArch NS 21 / 419, Rechnung Seegmüller GmbH & Co. KG an das Anatomische Institut der Reichsuniversität Straßburg vom 24.6.1943 für 100 Kilogramm Mastfutter, ausgeliefert an Hirts Privatadresse Karl-Bernhard-Straße 7. 515  BArch NS 21 / 908, Schreiben von Sievers an Hirt vom 18.8.1944.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

burg nach Frankreich, der es dann mitnehmen könnte, wenn nicht, müssen Sie selbst fahren und es hinbringen.“516

Aus diesem Sachverhalt lassen sich zwei Schlussfolgerungen ziehen. Einerseits führte Hirt seine Versuche fort – allerdings ohne offenbar noch weitere Humanversuche beantragt oder von Sievers genehmigt erhalten zu haben. Andererseits bestätigt es den oben bereits erwähnten Sachverhalt, dass Kampfstoffe nur durch einen SS-Offizier als Kurier transportiert wurden. Demnach war es kein Ausnahmefall, dass Sievers’ Persönlicher Referent, SSObersturmführer Wolf-Dietrich Wolff, im Jahre 1943 das Gift – ein bis heute nicht eindeutig analysierter Stoff, vermutlich ein Blausäurederivat – für die Ermordung der 86 Opfer in Natzweiler nach Straßburg brachte. Es entsprach vielmehr der SS-Vorschrift. Der Generalkommissar des Führers für das Sanitäts- und Gesundheitswesen, Karl Brandt, teilte Hirt am 21.8.1944 mit, dass an der Militärärztlichen Akademie in Berlin Lost-Versuche geplant seien: „Um die offenbar stark beanspruchte Militärärztliche Akademie zu entlasten, frage ich bei Ihnen an, ob wir einige Sonderversuche durch Sie selbst, bezw. Herrn Prof. Bickenbach betreuen lassen könnten. […] gez. Prof. Brandt“.

Damit hätte sich der Kreis von Hirts Lost-Versuchen an Menschen geschlossen, die er an der Militärärztlichen Akademie zu Beginn des Krieges begonnen hatte. Obschon Sievers am 2.2.1944 in sein Tagebuch notierte: „Heiltherapie für Lost entwickelt“ und über den Reichsforschungsrat alle mit Lost-Forschungen befassten Wissenschaftler ermitteln wollte, um ihnen Hirts Ergebnisse vorzustellen, konnte dieser bis zum Ende des Krieges keinen Durchbruch in der Lost-Forschung erzielen.517 Das einzige Ergebnis von Hirts Forschungen war ein Behandlungsvorschlag bei Lost-Verletzungen, den er im Jahre 1944 gemeinsam mit Wimmer erarbeitet hatte518. Dieser Vorschlag wurde mutmaßlich im April 1944 von Hirt an Sievers und von diesem an Himmler gesandt. Himmler hatte daraufhin diese Behandlung bei Lostschäden für die Waffen-SS angeordnet. Dies führte dazu, dass Grawitz den Behandlungsvorschlag bei Hirt anforderte, den dieser per Kurier über die Ahnenerbe-Zentrale versandte.519 Sievers übermittelte den Verleihungsvorschlag für eine Auszeichnung Hirts mit dem Kriegsverdienstkreuz II. Klasse mit Schwertern am 29.6.1943 an 516  ITS Bad Arolsen: Schreiben Sievers an Löhausen vom 6.7.1944, Doc. No. 82227324#1 (4.2 / 0007 / 0154) Archivnummer: 3786, ITS Digitales Archiv. 517  BArch NS 21 / 11 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 2.2.1944. 518  BArch NS 191582, Behandlungsvorschlag von Hirt und Wimmer aus dem Jahre 1944, facsimiliert im Anhang. Vgl. BArch NS 21 / 908, Schreiben von Hirt an Sievers vom 21.4.1944. Der Behandlungsvorschlag ist wenige Tage zuvor an Sievers versendet worden. 519  BArch NS 21 / 908, Schreiben von Hirt an Sievers vom 21.4.1944.



V. August Hirt163

Helmuth Fitzner, den faktischen Chef der Ahnenerbe-Stiftung, der Finanzträgerin des Ahnenerbe e. V.520 Der Begleitbrief zum verliehenen Orden und der Besitzurkunde datiert auf den 30.8.1943.521 Im Verleihungsvorschlag wurden die Lost-Versuche und die Fluoreszenzmikroskopie Hirts als einzige Gründe angeführt.522 Obwohl diese Begründung eindeutig ist, finden sich in der Literatur andere Spekulationen für den Verleihungsgrund: Hirt sei „wahrscheinlich als Auszeichnung für die, wenn man so will, toten Leichname im Keller seines Institutes mit dem Kriegsverdienstkreuz II. Klasse mit Schwertern dekoriert“ worden, wie Hans-Joachim Lang mutmaßte.523 Gerade die Ordensdekoration mit Schwertern macht mit Blick auf die Verleihungsvorschriften deutlich, dass der Auszeichnungsgrund mit einem Vorteil für die kämpfende Truppe zusammenhing. Die von Lang postulierte Absicht Hirts, seit 1941 mittels einer Skelettsammlung die Minderwertigkeit der Juden zu belegen und somit den weltanschaulichen Charakter des Krieges, den das NS-Regime führte, zu rechtfertigen,524 wird in der Begründung nicht erwähnt. Entweder unterblieb dies, weil ein wissenschaftlicher Nachweis der Richtigkeit der NS-Ideologie durch den Anatomen Hirt für Himmler als Ordensverleihendem nicht wichtig war oder weil er wusste, dass die Schädelsammlung keine „Leistung“ Hirts war, die ausgezeichnet werden musste. Es unterblieb, weil Bruno Beger diese erbracht hatte und dieser für diese rassenkundlichen Forschungen deshalb separat ausgezeichnet wurde. 12. Straßburg fällt Die unmittelbar bevorstehende Eroberung Straßburgs durch alliierte Truppen verhinderte, dass Hirt seine Forschungen fortsetzte. In seinem handschriftlichen Brief an Sievers hatte Hirt bereits am 9.4.1944 angeregt, die geheimen Akten der Abteilung und des Instituts aus Straßburg abholen zu lassen: „Die Alarme häufen sich und es wäre jetzt wohl an der Zeit alle Geheimakten durch Kurier abholen zu lassen. Ich werde sicherheitshalber an die Dienststellen schreiben & bitten, dass für nächste Woche ein Kurier kommt, um alles abzuholen.“525

520  BArch 521  BArch

NS 21 / 50, Schreiben von Sievers an Fitzner vom 29.6.1943. SSO 101 A Personalakte Hirt, Schreiben von Fitzner an Ahnenerbe vom

30.8.1943. 522  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34168 Prozessakte Beger, S. 150 f. 523  Lang, Nummern, S. 178. 524  Ebd., S.  136 ff. 525  BArch NS 21 / 908, Schreiben von Hirt an Sievers vom 9.4.1944.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Am 5.9.1944 wies Hirt das Ahnenerbe darauf hin, dass niemand in seinem Institut eine Waffe habe, darum erbitte er eine und auch der Laborant Mayer als „alter Feldsoldat“ solle eine erhalten.526 Daraufhin wurde am 9.9.1944 an Hirt eine Dienstpistole mit Kaliber 7,65 Millimeter versandt.527 Diese kam jedoch bis zum Kriegsende nicht bei ihm an.528 Die Mitarbeiterinnen Bennemann und Schmitt wurden aufgrund der herannahenden Front in das Entomologische Institut des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung nach Dachau versetzt.529 Ausweislich der Fahrtkostenabrechnung begaben sie sich am 18.9.1944 dorthin.530 Dann warf ein Schicksalsschlag Hirt aus der Bahn: Am 12.10.1944 schrieb Hirt an Sievers: „Wie ich Ihnen schon durch Eilkarte mitgeteilt habe, ist am 25. Sept. mein Anwesen durch 12 Bomben restlos zerstört worden. Meine Frau und mein Junge wurden dabei getötet.“

Auf die erwähnte Eilkarte hin hatte Sievers bereits am 5.10.1944 kondoliert: „Lieber Kamerad Hirt, – mit tiefer Erschütterung und in herzlichem Mitgefühl nehmen wir teil an Ihrem unerbittlich harten Verlust. Seien Sie gewiss, dass wir als Ihre Kameraden immer wieder dessen eingedenk sein werden, welche Verpflichtung Ihr schweres Opfer uns mit auferlegt. Ich bin davon überzeugt, dass all diese so sinnlos erscheinende Vernichtung eine Bedeutung an sich hat und dass darin, sei es auch im eigenen Untergang, der Sieg des Reiches beschlossen liegt, ja, dass er gerade daraus hervorgehen muss. Ihnen in getreuer Kameradschaft verbunden, möchte ich mit einem herzlichen Händedruck das sagen, was Worte nicht vermögen. Stets Ihr Wolfram Sievers“531

Diese Zeilen von Sievers sprechen für sich selbst und die Geisteshaltung ihres Autors. Hirts Sohn Rainer Wolfgang532 wurde am 26.9.1929 geboren und 526  BArch NS 21 / 50 Personalakte Hirt, Schreiben von Hirt an das Ahnenerbe vom 5.9.1944; vgl. BArch NS 21 / 908: Schreiben von Schütrumpf an Ahnenerbe vom 20.9.1944: Schütrumpf teilt mit, dass Hirts Mitarbeiterinnen vorübergehend beschäftigt werden können und sich am 23.9.1944 in Dachau melden sollen. 527  BArch NS 21 / 50 Personalakte Hirt, Leihschein für Pistole vom 9.9.1944. 528  Ebd., Schreiben von Hirt an Ahnenerbe vom 2.2.1945. 529  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34168 Prozessakte Beger, S. 186, Schreiben von Sievers an May vom 22.12.1944. 530  BArch NS 21 / 29, Abrechnungsliste Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung 30.4.–17.11.1944. 531  BArch NS 21 / 50 Personalakte Hirt, Schreiben von Sievers an Hirt vom 5.10.1944. 532  USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020, Schreiben des Schweizerischen Kriminalkommissars Jöhl an den Ermittler Mauerhan in



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starb einen Tag vor seinem 14. Geburtstag.533 Ein nicht mehr erhaltener Brief vom 2.10.1944, auf den die französischen Untersuchungsbehörden nach dem Krieg Bezug nahmen, stammte von SS-Standartenführer Hubert Ehrhardt, dem Gutsverwalter des Barons Meyer-Mehlendorf, dem örtlichen Großgrundbesitzer in St. Lambrecht. Mit diesem hatte Hirt sich ausweislich der Ermittlungsbehörden bei seinen Aufenthalten in St. Lambrecht angefreundet. Ehrhardt kondolierte Hirt in dem genannten Brief. In einem weiteren Brief, so die Behörden, habe er seiner Tochter Renate geschrieben, dass die Möglichkeit bestehe, nach St. Lambrecht umzuziehen oder sich in Straßburg eine Behelfswohnung einzurichten.534 Dies mag ein Hinweis darauf sein, dass Hirt eben nicht nur ein aufgrund seiner Behinderungen komplexbeladener, cholerischer Eigenbrötler war, wie die oben genannten Charakterisierungen nahe legen, sondern es durchaus verstand, auf gesellschaftlicher Ebene für ihn nützliche Verbindungen aufzubauen und zu pflegen. Die näher rückende Front veranlasste Sievers, auf eine rasche Verlagerung von Hirts Abteilung zu drängen. In der sich verschärfenden Lage begann Hirt Spionage und Angriffe der französischen Résistance zu fürchten. Deshalb bat er beim Ahnenerbe darum, die Bezeichnung „Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung“ nicht im Adressfeld der an ihn gerichteten Briefe zu verwenden.535 Alle Mitarbeiter der Ahnenerbe-Zentrale in Waischenfeld mussten im üblichen Umlaufverfahren am 11.11.1944 nacheinander eine Anweisung unterschreiben, dass als Adresse „nur noch ‚Prof. Dr. Hirt, Straßburg, Anatomisches Institut, Bürger-Spital‘ “ benutzt werden solle, keinesfalls „Institut für wehrwissenschaftliche Zweck­ forschung“.536 Nachdem Hirt die formlose Verlagerungsaufforderung bereits am 29.10.1944 und den förmlichen Verlagerungsbefehl von Sievers am 2.11.1944 erhalten hatte, befasste er sich in den folgenden Tagen mit der ­Verlagerung von Geräten und Personal seines Instituts.537 Zu diesem Zweck erhielt er vom Ahnenerbe Blanko-Frachtbriefe538 und hatte – wie er am Strasbourg vom 16.1.1948, S. 58. Während Hirt selbst den Namen seines Sohnes Rainer schrieb, schrieben die französischen und Schweizer Ermittlungsbehörden Reiner bzw. Reiner Wolfgang. 533  BArch R 74 IV / 70, Auszahlungsanordnung des Kurators der Universität Straßburg vom 9.4.1945 betreffend die Kinderzuschläge des Beamten Hirt. 534  USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020, Schreiben der Untersuchungsbehörden in Straßburg an den Leiter der Kriegsverbrecherfahndung in Paris vom 20.11.1945, S. 240. 535  BArch NS 21 / 908, Schreiben von Hirt an Sievers vom 28.10.1944. 536  BArch NS 21 / 908: Der Umlauf wurde unterschrieben von folgenden Ahnenerbe-Mitarbeitern in Waischenfeld: Wolff, Dr. Schmitz, Steinbauer, Rothmann, Brendemühl, Dr. Kraut, Weber, Deutschmann, Greschik, Tiedge, Saßenroth, Ullrich, Bauer. 537  BArch NS 21 / 908, Schreiben Ahnenerbe an Hirt vom 2.11.1944. 538  BArch NS 21 / 265, Schreiben von Wolff an Hirt vom 2.9.44: „Zur Erleichterung der von Ihnen in Aussicht genommenen Evakuierung Ihres Instituts übersende

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

28.10.1944 an das Ahnenerbe schrieb – bereits jeweils zwei Sätze an Instrumenten nach Tübingen verlagert. Einen Satz behielt Hirt in Straßburg, da das Semester noch laufe und er auch so lange bleiben wolle, damit die Ausbildung der Studenten nicht unterbrochen würde. Er wollte aber Teile seines Personals ins Reichsinnere schicken.539 Allerdings bat er Sievers in seinem Schreiben vom 28.10.1944, mit seinem Labor in das Fort Fransecky vor den Toren Straßburgs umziehen zu dürfen, und forderte dazu bei Sievers Fahrzeuge und Benzin an.540 Sievers versuchte Hirt auch diesbezüglich zu unterstützen, was jedoch aufgrund der Knappheit an Fahrzeugen nicht gelang.541 Auch der Höhere SS- und Polizeiführer und Befehlshaber der Sicherheitspolizei, Otto Hofmann, an den Sievers einen langen Bittbrief zur Unterstützung Hirts schrieb – dessen gesamter Tierbestand mit verlagert werden musste – unterstützte das Anliegen nicht.542 Hieran änderte auch der optimistische und von Sievers’ Engagement zeugende Brief an Hirt vom 11.11.1944 nichts, in dem Sievers die Einbindung Hofmanns in diese Vorhaben erläuterte.543 Entgegen der Weisung des Gauleiters Wagner, dass niemand Straßburg verlassen dürfe, setzte Sievers den früher von Himmler in anderem Zusammenhang erteilten „Blanko“-Befehl abermals ein, um diesmal Hirt zu retten: „Auf Befehl des Reichsführers-SS ist die Abteilung H des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung infolge der militärischen Lage und zur ungestörten Fortführung seiner auch vom Reichsmarschall als staats- und kriegswichtig anerkannten Forschungsaufgaben aus Straßburg herauszulösen und in Teilen nach Tübingen, bezw. Würzburg zu verlegen!“544

Amerikanische Panzer fuhren am 23.11.1944 um 10 Uhr vor dem Bürgerspital auf. Die amerikanischen Soldaten nahmen die dort tätigen Mitarbeiter gefangen.545 Dabei trafen sie in der Medizinischen Fakultät die Hälfte – sieben von 14 – der Professoren an – Friedrich Klinge, Johannes Stein, Theodor Nühsmann, Hans Lullies, Karl Schmidt, Ludwig Zukschwerdt und Hans Ja-

ich Ihnen beiliegend 5 unterschriftlich vollzogene Blanko-Wehrmachtsfrachtbriefe. Das von Ihnen zum Versand zu bringende Gut wollen Sie bitte als ‚wissenschaftliche Geräte des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung‘ deklarieren.“ 539  BArch NS 21 / 908, Telegramm von Schütrumpf an Ahnenerbe vom 20.9.1944. 540  BArch NS 21 / 11, Einträge November 1944. 541  BArch NS 21 / 908, Bescheinigung von Sievers für Hirt zur Fahrzeugbenutzung ins Fort Fransecky vom 11.11.1944. 542  Ebd., Schreiben von Sievers an HSSPF Hofmann vom 11.11.1944. 543  Ebd., Schreiben von Sievers an Hirt vom 11.11.1944. 544  BArch NS 21 / 265, Befehl von Sievers vom 3.11.1944. Mit Schreiben vom 10.11.1944 wurden elf Kubikmeter Schnittholz für den Bau von Regalen und ähn­ lichen Möbeln bewilligt. 545  Schmaltz, Kampfstoff-Forschung, S. 553.



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kobi.546 Dies hing mit der Beschlusslage der Fakultät zusammen, dass alle Kliniker möglichst bei ihren Kranken im Bürgerspital verbleiben sollten.547 Die US-Truppen ließen diese Mediziner unbehelligt. Zukschwerdt, den sie während einer Operation antrafen, ließen sie weiter operieren. Der anschließende Verbleib einiger Professoren war zunächst unklar: Bickenbach sah Friedrich Klinge eine Straßenbahn nach Kehl besteigen.548 Den Prodekan der Medizinischen Fakultät, Professor Dr. August Hirt, trafen die amerikanischen Truppen im Bürgerspital nicht an,549 da er sich zu diesem Zeitpunkt nicht in Straßburg, sondern in Heidelberg aufhielt. Dort besuchte er, entgegen Langs Annahme, mit seiner 19-jährigen Tochter Renate550 Angehörige seiner getöteten Frau und holte Bücher ab.551 Am 7.12.1944 ließ Himmler, der mittlerweile neben all seinen anderen Aufgaben auch mit der Führung der Heeresgruppe Oberrhein betraut war, aus der Feldkommandostelle Birkenwald über Brandt bei Sievers per SD-Telegramm anfragen: „Lieber Kamerad Sievers. Ist Professor Dr. Hirt aus Straszburg herausgekommen? Heil Hitler Ihr gez. Dr. Brandt“552

Sievers antwortete am 7.12.44 aus Waischenfeld über den SD in Bayreuth per Fernschreiben: „Hirt befindet sich z. Zt. in Tübingen. Am kritischen Tag war er in Heidelberg um Sachen zu holen, kam dann aber nicht mehr nach Straßburg hinein. Von seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen fehlen bis jetzt jede Nachrichten. Restliche Forschungseinrichtung ist in Straßburg verblieben.

546  BArch R 74 IV / 06, Bekanntmachung des Rektors der Universität Straßburg Nr. 162 / 45 vom 3.1.1945. 547  Ebd., Bericht von Hirt aus dem Dezember 1944 über den Verbleib der Professoren der Medizinischen Fakultät. 548  Ebd. 549  Lang, Nummern, S. 255: Hans-Joachim Lang behauptet, dass unmittelbar im Zusammenhang mit dem Einmarsch der 2. Französischen Panzerdivision unter General Philippe de Hauteclocque am 23. November 1944 Hirt mit seiner Tochter nach Tübingen floh, wo er bis zum Kriegsende gewohnt haben soll. Als die Alliierten Württemberg besetzten, soll er sich bei Bauern im Schwarzwald versteckt haben. Richtig ist hingegen, dass Hirt am Tage des amerikanischen Einmarsches gar nicht in Straßburg war, sondern in Heidelberg, wie aus dem oben erwähnten Fernschreiben vom 7.12.1944 von Sievers an Brandt hervorgeht. Dort besuchte er Angehörige seiner getöteten Frau und holte Bücher ab. 550  BArch R 74 IV / 70, Auszahlungsanordnung des Kurators der Universität Straßburg vom 9.4.1945 betreffend die Kinderzuschläge des Beamten Hirt. 551  BArch R 4901, Stellungnahme Hirt zur Veröffentlichung in der „Daily Mail“ vom 3.1.1945 an den Kurator der Universität Straßburg vom 25.1.1945. 552  BArch NS 21 / 908, Telegramm von Brandt an Sievers vom 7.12.1944.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Bin nur froh, dass wir die Sammlung und alles was damit zusammenhängt restlos vernichtet haben.“553

Doch offenbar hatte Hirt versäumt, tatsächlich „alles was damit zusammenhängt restlos“ zu vernichten, wie sich später zeigen sollte. Hirt fand in Tübingen nicht so einfach Aufnahme wie seine Instrumente.554 Dies lag darin begründet, dass es aufgrund der Folgen der alliierten Luftangriffe keine Wohnungen für ihn und seine Mitarbeiter gab.555 Er arbeitete daher zunächst in Würzburg am Anatomischen Institut, da er nicht nur den Ordinarius, Professor Dr. Kurt Elze,556 lange kannte, sondern dieser von Sievers ausdrücklich am 29.12.1944 aufgefordert wurde, Hirt zu unterstützen.557 Hirt konnte seine Lost-Versuche in Würzburg bei seinem Doktorvater Kurt Elze nicht weiterführen und war auch dort seit einem in der „Daily Mail“ vom 3.1.1945 erschienenen Zeitungsartikel über Hirts Tätigkeiten während des Krieges (da­ rauf wird später noch näher eingegangen) nicht mehr sonderlich erwünscht. Hirt reiste am 15.2.1945 nach Waischenfeld, wo er um 21:20 Uhr eintraf und sich bis 1:30 Uhr mit Sievers besprach. Dabei ging es unter anderem um die „Straßburger Vorgänge im November 1944 und die Rückführung von Hirts Sekretärin Seepe aus der Kriegsgefangenschaft über die Schweiz nach Deutschland“.558 Am nächsten und übernächsten Tag, den 17. und 18.2.1945, besprachen sich Sievers und Hirt jeweils ganztägig. Ein Blick in Sievers’ Diensttagebücher vom 1.1.1941 bis zum 31.3.1945 zeigt, dass eine solch lange und exklusive Besprechung einzigartig war, was für eine besondere Bedeutung dieses Treffens spricht. Am 18.2.1945 vereinbarten beide, dass Hirt in Tübingen weiterarbeiten solle, da Würzburg als Ausweichstelle abgelehnt wurde.559 Sievers berichtete nach dem Kriege in Nürnberg, dass Hirt aufgrund des Verlusts seiner Angehörigen ebenso deprimiert gewesen sei wie angesichts des erwarteten Zusammenbruchs des „Dritten Reiches“. Hirt sei sich sicher gewesen, einen Zusammenbruch Deutschlands nicht überleben zu können.560 In einem Bericht über Hirts Besuch, den er an Rudolf Brandt schickte, hielt Sievers unter anderem fest, dass Anton Kiessel553  Ebd.,

Telegramm von Sievers an Brandt vom 7.12.1944. Telegramm von Sievers an Hirt vom 27.12.1944: „Unterbringungsmöglichkeit für Straßburger Familien in Tübingen trotz aller Versuche nicht gegeben.“ 555  Ebd., Telegramm von Sievers an Hirt von 27.12.1944. 556  Kurt Elze, auch Curt Elze (geb. 16.2.1885 in Halle / S., gest. 9.4.1972 in Kassel), Studium der Medizin, 1916 Ordinarius für Anatomie in Gießen, 1940 in Würzburg, NSDAP-Mitglied und zeitweise Leiter des rassenbiologischen Instituts an der Universität Würzburg. 557  BArch NS 21 / 908, Schreiben von Sievers an Elze vom 29.12.1944. 558  BArch NS 21 / 794, Diensttagebuch Sievers, Einträge vom 9.2. bis 31.3.1945. 559  Ebd. 560  IfZ MA 1562, Pre-Trial-Interrogations Sievers vom 20.8.1946, S. 14. 554  Ebd.,



V. August Hirt169

bach wider Erwarten Straßburg mit der Wehrmacht habe verlassen können. Jedoch habe er sich beim Eintreffen der Alliierten laut Seepe „überhaupt nicht“ um das In­stitut gekümmert und befinde sich mittlerweile in München. Daher verzichte Hirt künftig auf jede Zusammenarbeit mit Kiesselbach.561 Am 17.2.1945 hatte Sievers Hirt eine Bestätigung ausgestellt, dass er auf Diätverpflegung angewiesen sei.562 Offenbar waren die Verletzungen aus dem Ersten Weltkrieg und die Lostschäden so gravierend, dass Hirts Gesundheit stark angeschlagen war. Da Hirt als Arzt seine gesundheitliche Lage und seine Lebenserwartung realistisch einzuschätzen vermochte und er außer seiner Tochter die gesamte Familie, seinen Besitz, seine akademische Reputation und seine Ehre verloren hatte, entzog sich August Hirt der Strafverfolgung bezüglich der von ihm begangenen Verbrechen und erschoss sich am 2.6.1945 bei Schönenbach im Schwarzwald.563 Er wurde auf dem Friedhof in Grafenhausen beerdigt.564 Hirts Sekretärin Lieselotte Seepe gab an, mit Hirts Tochter Renate, die zu jenem Zeitpunkt als Taubstummenlehrerin in Neckergemünd arbeitete, einige Jahre nach Kriegsende nach Grafenhausen gefahren zu sein und dort die ehemaligen Gastgeber Hirts gefunden zu haben. Diese hätten Hirt aufgrund der beschriebenen Gesichtsverletzung eindeutig identifiziert. Auf dem Friedhof habe ein Grabkreuz mit der Aufschrift „A. Hirt“ gestanden. Ebenso sei als Todesursache Herzschuss mitgeteilt worden. Eine Sterbeurkunde sei bei der zuständigen Behörde vorhanden gewesen.565 Wie im Falle zahlreicher NS-Verbrecher hielten sich in der Region unbestätigte Gerüchte, dass Hirt untergetaucht sei und noch lange gelebt habe. All dies zeigt, dass August Hirt ein begabter Wissenschaftler war, der auch ohne Himmler und dessen Machtapparat seine Karriere hätte fortsetzen können. Doch August Hirt ließ sich von Himmler und der SS mit faustischen Versprechungen korrumpieren und wurde zum Verbrecher – ganz unabhängig vom Grad seiner Beteiligung am Schädelsammlungsprojekt.

561  BArch

NS 19 / 2281, Schreiben von Sievers an Brandt vom 21.2.1945. NS 21 / 50 Personalakte Hirt, Bestätigung von Sievers vom 17.2.1945. 563  Kater, Ahnenerbe, S. 255. Vgl. HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34148 Prozessakte Beger, Sterbeurkunde Hirt vom 13.12.1966 (!), S. 318. 564  Lang, Nummern, S. 214. 565  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Seepe vom 10.1.1963, S. 323; die Sterbeurkunde Hirts trägt die Nummer 1 / 1949 und wurde vom Standesamt Schönenbach (Gemeinde Schluchsee) ausgestellt. Diese zeitliche Differenz von vier Jahren zwischen Auffinden und Beerdigung einer Leiche und der Ausstellung der Sterbeurkunde gibt zur Spekulation Anlass. 562  BArch

170

C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

13. Wo sind Hirts Unterlagen verblieben? Zu den noch heute offenen Fragen gehört, wo Hirts Aufzeichnungen und Notizen seiner Forschungsergebnisse verblieben sind. Ein Teil wurde nach Auskunft seiner Sekretärin Lieselotte Seepe von ihr selbst kurz vor dem Eintreffen der Amerikaner im Heizungsofen verbrannt.566 Hierbei dürfte es sich jedoch lediglich um Restbestände gehandelt haben, da ein Großteil der Unterlagen zuvor verlagert worden war. Dies muss jedoch Spekulation bleiben, da unklar ist, was für Unterlagen vernichtet wurden. Einerseits wäre nachvollziehbar, wenn Hirt die belastendsten Unterlagen weit entfernt von der anrückenden alliierten Front in Sicherheit bringen wollte, andererseits wäre es denkbar, wenn er diese stets greifbar in seiner Nähe und nicht auf unbewachten Transporten sehen wollte. Seepe selbst gab nach dem Kriege an, dass es sich dabei ausschließlich um Unterlagen zur Lost-Forschung gehandelt habe.567 Bisher waren nur Tübingen und Würzburg als Verlagerungsorte für Hirts Institut und dessen Materialien bekannt. Seit dem 2.10.1944 bemühte sich Sievers allerdings zusätzlich um einen weiteren Alternativstandort für die Verlagerung der Abteilung H in das Stadtschloss von Quedlinburg.568 Nachdem er an diesem Tage vom Quedlinburger Oberbürgermeister, Obersturmbannführer Karl Selig,569 eine entsprechende Offerte erhalten hatte,570 bot Sievers diesen Standort am nachfolgenden Tag, dem 3.10.1944, Hirt an und wies darauf hin, dass dort allerdings nur Gleichstrom vorhanden sei.571 Auf den ersten Blick scheint es sich um gewöhnliche Verlagerungsaktionen 566  Wiesbaden Abt. 461, Nr.  34146 Prozessakte Beger, Aussage Seepe vom 10.1.1963, S.  324 ff. 567  Ebd., S. 325. 568  BArch NS 21 / 11 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 2.10.1944. 569  Karl Selig (geb. 27.8.1890 in Quedlinburg / Harz), letzter Rang: SS-Sturmbannführer. Lehre in einer Wollgroßhandlung, Handelsschule, Angestellter, Prokurist und dann Zigarrenfabrikant, im Februar 1931 Eintritt in die NSDAP (Nr. 429.053), Mai 1932 Politischer Leiter, Gründer von NSDAP-Ortsgruppen, Fraktionsvorsitzender und Stadtverordnetenvorsteher in Oranienbaum, Kreispropagandaleiter, Gauredner, Kreisleiter in Dessau, Abgeordneter und 2. Präsident des Anhaltinischen Landtages, Fraktionsgeschäftsführer, 1933 Reichstagsabgeordneter. Aberkennung aller Ämter durch ein Parteigericht, da er 1922 kurzzeitig Freimaurer war, daraufhin 1934 Entlassung aus der Gauleitung in der Uniform eines Gauamtsleiters und in die Position des Oberbürgermeisters von Quedlinburg. 1935 Aufhebung des Urteils. Danach nur noch Berechtigung des Uniformtragens eines Gauamtsleiters und Tätigkeit als Gauredner und Oberbürgermeister. 1939 Eintritt in die SS (Nr. 340.785) im Range eines SS-Hauptsturmführers, ab 1.9.1940 im Ahnenerbe unter Beförderung zum Sturmbannführer, Geschäftsführer der König-Heinrich-Stiftung (vgl. BArch SSO 132 B). Laut dem Wikipedia-Eintrag zu Selig gestorben am 19.4.1945. 570  BArch NS 21 / 11 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 2.10.1944. 571  BArch NS 21 / 908, Kurzbrief von Sievers an Himmler vom 3.10.1944.



V. August Hirt171

gehandelt zu haben. Seit der Einberufung des Kurators der Reichsuniversität Straßburg, Regierungsdirektor Dr. iur. Richard Schergerber572, zur ­Wehrmacht zu Beginn des Sommersemesters 1943 führte der vom Reichserziehungsministerium als stellvertretender Universitätskurator entsandte Ministerialrat Dr. iur. Emil Breuer dessen Geschäfte weiter. Breuer hatte als Ministerialrat einen höheren Rang inne als der Kurator, den er vertrat. Die Dienstbezeichnung Kurator bezeichnet den Verwaltungschef der Universität. Breuer war für die Verlagerung sämtlicher Einrichtungen der Reichsuniversität Straßburg, einschließlich deren beweglicher Habe, zuständig. Nachdem Breuer die meisten Kisten Hirts – wie unten gezeigt – in den Keller der Universität Tübingen und einen nahe Tübingen gelegenen Gutshof verlagerte, musste es einen Grund für Sievers und Wolff geben, ein so viel weiter entferntes – und im Verkehrschaos der letzten Kriegsmonate viel schwerer zu erreichendes – Ziel für nur einen Teil von Hirts Kisten zu wählen. Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass Selig nicht nur Oberbürgermeister und SS-Mitglied war, sondern auch Mitglied des Ahnenerbes und Geschäftsführer der König-HeinrichStiftung im Persönlichen Stab Reichsführer-SS. Obschon er zu jener Zeit unzählige Ahnenerbe-Forschungsstätten und deren Materialien verlagern musste, sandte Sievers in diesem besonderen Fall Wolff persönlich nach Quedlinburg, um die Situation mit Selig vor Ort zu besprechen und die ­Unterbringung der Kisten Hirts durch Selig persönlich zu gewährleisten.573 Dies wirft die Frage auf, was der Inhalt der auf diese Weise von den anderen Umzugsgütern separierten Kisten gewesen sein mag, dass sie einem solchen Gewährsmann wie Selig anvertraut wurden. Wolff bedankte sich nach seinem Besuch bei Selig „ganz besonders für die Unterstützung, die Sie der Verlagerung unseres Instituts nach Quedlinburg durch die Bereitstellung der Räume angedeihen lassen. Der Antrag auf Zuzugsgenehmigung ist mit gleicher Post dem Reichsamtsleiter Kruse zugeleitet worden.“574 Dies belegt, dass es nicht nur um die Verlagerung der Kisten Hirts nach Quedlinburg ging, sondern auch um dessen Übersiedlung dorthin und wahrscheinlich auch der anderen Mitarbeiter seiner Abteilung. Am 18.10.1944 bot Sievers Hirt erneut an, nach Quedlinburg zu gehen: „Mit der Verlagerung der Universität ist also auch Ihr Verlassen von Strassburg gegeben. […] Wenn Ihnen aber in Würzburg die Arbeitsmöglichkeiten ungünstig 572  Richard Scherberger (geb. 1910 in Pforzheim), Sohn eines Malermeisters, studierte Jura in Heidelberg, als „alter Kämpfer“ geltend, Promotion Dr. iur. 1943, vorher Übernahme in den SD, 1938 Beigeordneter der Stadt Heidelberg und Gaustudentenführer, 1940 zum Verwaltungschef (Kurator) ernannt und 1943 endgültig berufen, letzter Rang: SA-Hauptsturmführer. Nach 1945 Geschäftsführer beim Evangelischen Siedlungswerk (aus: Hachmeister, Schleyer, S. 96 ff.). 573  BArch NS 21 / 11 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 14.10.1944. 574  BArch NS 21 / 265, Schreiben von Wolff an Selig vom 16.(?)10.1944.

172

C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

erscheinen, […] dann kann ich Ihnen im Fall baldiger Entscheidung eine besondere Arbeitsmöglichkeit und Unterkunft in Göttingen oder auf jeden Fall ausreichende Unterkunft im Stadtschloss zu Quedlinburg geben.“575

Am 5.11.1944 telegraphierte der Universitätskurator der Reichsuniversität Straßburg an das Ahnenerbe nach Waischenfeld, dass eine Verlagerung von Material nach Quedlinburg genehmigt sei. Dabei fragte er an, ob die dortigen Räumlichkeiten möbliert seien.576 Am 13.11.1944 waren die US-Streitkräfte Straßburg bereits sehr nahe, als Wolff schrieb: „An Gauleitung Reichsverteidigungskommissariat Magdeburg mit der Bitte um Weiterleitung an: Gauquartieramt, Kreisamtsleiter Kruse, Magdeburg, Domplatz 3 Betr.: Bezug freistehender Räume Schloß Quedlinburg durch Abteilung hiesiger Dienststelle Bezug: Eingabe vom 31.10.44. Verlagerung Straßburger Institut in freie Räume Schloß Quedlinburg dringend erforderlich. Erbitte daher möglichst beschleunigte positive Bearbeitung und Entscheidung obiger Eingabe. Mitteilung über Entscheidung durch FS. über SD-Leitstelle Bayreuth an hiesige Dienststelle erbeten. Der Reichsführer-SS Persönlicher Stab Amt ‚A“‘ Wo“577

Offenbar sind tatsächlich Kisten verlagert worden. Nachdem deutlich wurde, dass Hirt seine Forschungen nicht in vollem Umfang wieder würde aufnehmen können, war eine Weiterarbeit in Quedlinburg vermutlich aufgegeben worden. Doch bei dem späteren Verzicht auf die dortigen Räume zu Forschungszwecken nahm Wolff ausdrücklich Bezug auf die dort bereits befindlichen Kisten Hirts. Am 20.3.1945 schrieb Wolff an Selig, dass aufgrund mangelnder Transportkapazitäten die Abteilung Hirt des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung noch nicht verlagert wurde. Daher könne das Regierungspräsidium, das sich ebenfalls für die Räume im Schloss interessiert hatte, diese nun belegen. Weiter heißt es: „Wegen der Unterbringung der bereits dort lagernden Material-Kisten des Straßburger Instituts dürfen wir wohl auch weiterhin Ihre Hilfe in Anspruch nehmen. Soweit dieses nicht schon geschehen ist, bitte ich Sie recht sehr, das Material bomben­ sicher unterzubringen und vor unberechtigtem Zugriff zu sichern. Ich wäre Ihnen 575  BArch

NS 21 / 908, Schreiben von Sievers an Hirt vom 18.10.1944. NS 21 / 265, Schreiben von Wolff an Gauleitung vom 13.11.1944. 577  BArch NS 21 / 265, Schreiben von Wolff an Selig vom 20.3.1945. 576  BArch



V. August Hirt173 dankbar, wenn Sie mir recht bald mitteilen würden wo und unter welchen Umständen Sie die Einlagerung vorgenommen haben.“578

Da die Unterlagen aus der Abteilung H weitgehend als verschollen gelten und deren Aktivitäten, einschließlich des Projektes „Schädelsammlung“, nur aus Zeitzeugenberichten und korrespondierenden Quellen rekonstruiert wurde, darf angenommen werden, dass der Inhalt der gegenständlichen Kisten geeignet wäre, neue Erkenntnisse zu ermöglichen. Doch deren endgültiger Verbleib ist bis heute ungeklärt. Kurz nach Kriegsende wurden 25 Kisten der Reichsuniversität Straßburg von der Roten Armee aus dem Keller des Quedlinburger Schlosses mit unbestimmtem Ziel abtransportiert.579 Die von Wolff in Quedlinburg nach der Einlagerung besichtigten Kisten Hirts wurden in den offiziellen Verlagerungslisten des Kurators der Universität Straßburg nicht erwähnt. Dieser hatte die Verlagerung der Kisten – wie oben gezeigt – aber dennoch ausdrücklich genehmigt.580 Breuer verlagerte die restlichen Kisten – wie ebenfalls oben erwähnt – nach Tübingen und Umgebung. Diese sind in den Verlagerungslisten aller Kisten sämtlicher Einrichtungen der Universität Straßburg lückenlos erhalten. Daher sind die Verlagerungsorte aller anderen – nicht nach Quedlinburg verbrachten – Kisten Hirts zweifelsfrei nachvollziehbar.581 Kurator Breuer hatte rechtsrheinisch, vorwiegend in der Umgebung von Tübingen, Lagermöglichkeiten angemietet, teilweise mit, zum Teil aber auch ohne Vertrag. Eines der gemieteten Lager war der Gutshof Schwärzloch der Familie Reichert am Stadtrand von Tübingen.582 Auf der „Liste der ausgelagerten Gegenstände der Reichsuniversität Straßburg“ vom 1.1.1945 sind 16 Kisten Hirts aufgeführt, die dorthin verlagert wurden, während ein anderer Teil in den Keller des Hauptgebäudes der Universität Tübingen gebracht wurde.583 Rund eine Woche, nachdem die französischen Truppen am 19.4.1945 in Tübingen einmarschiert waren, fand am 27.4.1945 ein Mitarbeiter des Kurators die Kisten in Schwärzloch noch unversehrt vor.584 Unmittelbar nach der Besetzung und nochmals am 27. und 28.4.1945 wurden von Amerikanern und Franzosen die im Keller des Universitätsge578  Ebd.

579  Stadtarchiv Quedlinburg, Akte VII A 107 Bd. XI, Schreiben des Kulturamtes an die Provinzialregierung Sachen-Anhalts vom 13.6.1947 mit einer Aufstellung von Reparationen und Besatzungsschäden. Es muss offen bleiben, ob die Kisten Hirts aus Geheimhaltungsgründen beschriftet und mit Inventarverzeichnissen versehen waren, oder nicht. 580  BArch R 76 IV 54, Liste des Kurators vom 1.1.1945. 581  Ebd. 582  BArch R 76 IV 54, handschriftliche Liste des stellv. Kurators Min.-Rat Breuer o. Dat. mit 14 Einlagerungsorten. 583  Ebd., Liste des Kurators vom 1.1.1945. 584  Ebd., Bericht über die verlagerten Sachen im Gutshof Schwärzloch vom 27.4.1945 von Universitätsmitarbeiter Stadler.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

bäudes Tübingen eingelagerten Kisten Hirts gezielt durchsucht.585 Die Auslagerungsliste bezüglich aller Universitätseinrichtungen wurden am 3.5.1945 von Breuer an Professoren der Universität von Clermont-Ferrand – dem Ausweichstandort der französischen Universität Straßburg nach dem deutschen Einmarsch – übergeben.586 Mit diesen wurde eine Rundfahrt zu den Auslagerungsorten unternommen. Am 4.5.1945 fanden sie Hirts Kisten in Schwärzloch unbeschädigt vor. In diesen Kisten waren folgende Dinge enthalten: „Kiste 626: Kiste 848: Kiste 840: Kiste 592: Kiste 915: Kiste 851: Kiste 624: Kiste 585: Kiste 560: Kiste 570: Kiste 528: Kiste 786: Kiste 597: Kisten 601 und 916:

Schädel587 Panfot neu Präpariermikroskop und Contax ohne Optik Bücher (Institut) Bücher (Chef) Platten und Filme Abformmasse Hominit Waage Mikrotom Wachsplatten-Apparat Bücher Panfot alt Fotomaterial ohne Inhaltsangabe“588

Es muss offen bleiben, um was für Schädel es sich in der Kiste Nr. 626 handelte. Da jedoch die Alliierten spätestens seit Dezember 1944 das Verbrechen der Schädelsammlung verfolgten und in Bezug auf diese Kiste keine Maßnahmen ergriffen wurden, ist anzunehmen, dass es sich offenbar um Schädel aus der Schwalbe’schen Sammlung oder seltene Tierschädel aus der Anatomie handelte. Am 20.5.1945 erschienen fünf französische Militärangehörige in Schwärzloch und durchsuchten trotz eines Verbotsschilds der französischen Militärkommandantur die Kisten Hirts. Zwei Tage später kamen sie zurück und holten alle Kisten mittels eines Lastwagens mit dem Kennzei585  Ebd., Bericht des technischen Inspektors der Universität Straßburg vom 30.4.1945. 586  BArch R 76 IV 55, Bericht des Kurators vom 7.5.1945. 587  Die Schädel in dieser Kiste gehörten diese nicht zu jenen Dingen, die ins sichere Quedlinburg verlagert wurden, was vermuten lässt, dass es sich um Schädel Schwalbes handelte oder um „reguläre“ Schädel der Anatomie. Hätten die Schädel von den 86 Opfern gestammt, wären sie wohl nicht mehr eindeutig identifizierbar gewesen. 588  BArch R 76 IV 55, Verlagerungsliste von Breuer zur Anatomie, S. 3.



VI. Bruno Beger175

chen III M 3568 ab.589 Mutmaßlich wurden sie in die Festung Mutzig gebracht.590 Danach verliert sich die Spur auch dieser Kisten und Aufzeichnungen Hirts in den Archiven der Französischen Republik, wo sie vermutlich noch heute ihrer Auswertung harren.

VI. Bruno Beger 1. Von der Universität direkt ins SS-Rasseamt Bruno Karl Beger wurde am 12.4.1911 in Frankfurt am Main geboren. Sein Vater war der 1874 in Heidelberg geborene vormalige aktive Offizier Friedrich Otto Beger. Dieser war der Sohn des Heidelberger Kaufmanns und Stadtverordneten Albert David Beger. Zum Zeitpunkt von Begers Geburt war der Vater bereits im Range eines Oberleutnants verabschiedet worden und besuchte die Heeresverwaltungsschule in Frankfurt. Vor Beginn des Ersten Weltkrieges wurde der vormalige Offizier Leiter der Garnisonsverwaltung in Neuruppin.591 Bei Kriegsausbruch eingezogen, fiel Friedrich Otto Beger am 6.3.1915 bei Westende in Flandern, als ein Granatsplitter in sein Herz eindrang. Ein Onkel Begers väterlicherseits, Max Beger, fiel am 20.8.1914 bei Hochwald im Saarkreis. Der andere Onkel väterlicherseits, Karl Beger, wurde am 20.9.1917 in Plieningen bei Stuttgart ermordet.592 Friedrich Otto Begers Frau Gertrud, geborene Leonhardt, kam 1882 in Weißenfels an der Saale zur Welt. Sie wurde Mutter von fünf Kindern: Der spätere Arzt Heinz Beger wurde 1908 geboren, die 1909 geborene Ruth heiratete einen in Stuttgart ansässigen Mann, der 1913 geborene Joachim praktizierte später als Zahnarzt in Bad Kreuznach, und der 1914 geborene Horst wurde Kaufmann in Karlsruhe. Der mittlere Sohn Bruno besuchte in Neckarsteinach die Schule, wohin die Witwe Beger nach dem Kriege über Gotha mit ihren Kindern gezogen war. Der kleine Ort liegt rund 20 Kilometer östlich von Heidelberg. Dort baute Gertrud Beger ein Töchterheim auf, dessen Erträge ihre Witwenpension aufbesserten. Nach der Volksschule besuchte Beger die Vorbereitungsschule, an die sich ein halbes Jahr auf dem Pädagogium anschloss, einem Vorläufer der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.593 1922 zog Ger589  Ebd.,

Bericht vom 6.6.1945. Bericht von Breuer vom 6.7.1945. 591  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Beger vom 31.3.1960. 592  BArch DS G 113 Personalakte Beger, Antrag Heiratsgenehmigung vom 21.9.1934. 593  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Beger vom 31.3.1960. 590  Ebd.,

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

trud Beger mit ihren Kindern wieder nach Gotha, wo Bruno Beger erst 1931 im Alter von 20 Jahren das Gymnasium Ernestinum mit dem Abitur verließ, also zwei Jahre später als üblich.594 Ein halbes Jahr lang arbeitete er als Volontär in der Maschinenbau- und Stahlmöbelfabrik August Blötner in Gotha, um sich auf die Auswanderung nach Namibia vorzubereiten.595 Beger schilderte, dass er sich schon immer für fremde Länder interessiert und schon zu Schulzeiten erwogen habe, an einer Expedition nach Südafrika teilzunehmen, wovon ihn nur die Sorge um eine Zukunft ohne Abitur abgehalten habe.596 Nachdem er es sich rasch anders überlegt hatte, schrieb er sich an der Universität Jena für die Fächer Mathematik, Geographie, Geologie und Leibesübungen ein. Zusätzlich hörte er Vorlesungen in Anthropologie und Erbbiologie.597 Nach zwei Semestern dehnte er sein Studium auf die Anthropologie aus. Die Studienfinanzierung erfolgte durch ein Stipendium für Halbwaisen sowie durch Nebenverdienste als Nachhilfelehrer. Anschließend soll Beger für zwei Semester in Heidelberg studiert haben.598 Dort konnte er sich nach eigenen Angaben kein Heizmaterial leisten, so dass er sich einen Tubenröhrenkatarrh zuzog, der ihn für Wochen taub machte und der eine lebenslange Schwerhörigkeit nach sich zog.599 Das Landgericht Frankfurt am Main unterstellte in der Urteilsbegründung gegen Beger, dass dieser aus wirtschaftlichen Gründen während des Studiums in Heidelberg am 17.2.1934 in die SS eintrat. Dort habe er „sportliche Betreuungsaufgaben“ geleitet und dabei vermutlich Hirt kennengelernt.600 Beger war zu dieser Zeit sportlich so erfolgreich, dass er – unter der Anleitung eines Reichstrainers – gemeinsam mit späteren Olympioniken sogar für nationale Reichswettkämpfe vorbereitet wurde601. Nach zwei 594  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34152 Prozessakte Beger, Lebenslauf Beger o. Dat., S. 1333. 595  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Beger vom 31.3.1960. 596  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34152 Prozessakte Beger, Lebenslauf Beger o. Dat., S. 1334. 597  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Urteil vom 6.4.1971, S. 3. 598  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Beger vom 31.3.1960: Beger erwähnte Heidelberg nicht, während die Anklageschrift zwei Semester dort erwähnt; vgl. HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968. 599  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34171 Prozessakte Beger, Urteil vom 6.4.1971, S. 5; vgl. HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34152 Prozessakte Beger, Lebenslauf Beger o. Dat., S. 1336. 600  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Urteil vom 6.4.1971, S. 3. 601  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34152 Prozessakte Beger, Lebenslauf Beger o. Dat., S. 1335.



VI. Bruno Beger177

Semestern in Heidelberg wechselte Beger zum Sommersemester 1934 an die Berliner Universität. Hier lag der Studienschwerpunkt des 23-jährigen Beger auf dem Fachgebiet der Anthropologie.602 Am 24.4.1934 trat Beger während des Studiums in Berlin als SS-Anwärter in den SS-Verband 4 / I / 32 in Stuttgart ein. Da er als studentische Hilfskraft des Rassereferenten des SS-Oberabschnitts Südwest, SS-Sturmführer Erich Spaarmann, tätig war, wurde er dem dortigen 4. Sturm des I. Sturmbanns der 32. Standarte der SS zugeteilt.603 Es muss ungeklärt bleiben, ob die studentische Hilfskraft Beger über den Arbeitsplatz Zugang zur SS-Mitgliedschaft oder, weil er in die SS eingetreten war, er eine Beschäftigung bei der Parteigliederung fand. Die Tatsache, dass er während der Semesterferien von Berlin nach Stuttgart zog, wo er in der Hohenheimer Straße 93 eine Wohnung bezog, spricht jedoch dafür, dass ihn berufliche Gründe gezielt zur SS nach Stuttgart geführt haben.604 Aufgrund des geschilderten Ablaufs wäre das Zeitfenster zwischen dem vom Gericht vermuteten Eintritt in die SS in Heidelberg am 17.2.1934 und dem Wechsel zum Sommersemester am 1.4.1934 nach Berlin bei Arbeitsaufnahme am 24.4.1934 in Stuttgart recht knapp bemessen gewesen, um nachhaltig SS-Sportveranstaltungen in Heidelberg zu betreuen und dabei eine nähere Bekanntschaft zu Hirt aufgebaut zu haben. Bei einem Eintritt in die SS am 24.4.1934, den die Personalakte Begers belegt, wäre diese Wahrscheinlichkeit noch geringer. Doch ist es unerheblich, ob es sich – als dritte Möglichkeit – um einen Aufnahmeantrag am 17.2.1934 und eine Aufnahme am 24.4.1934 handelte: In jedem Fall ist auszuschließen, dass Hirt und Beger „alte Freunde aus gemeinsamen Sportlerjahren“ waren. Allerdings gab Beger in der Spätphase des Gerichtsverfahrens gegen ihn zu, dass er beim SS-Abschnitt Stuttgart auch als Sportwart tätig war und als solcher „einige Male als Sportlehrer bei Schulungskursen in Hohenheim und Heidelberg eingesetzt wurde“.605 Insofern ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich die beiden SS-Angehörigen Beger und Hirt bei diesen Veranstaltungen trafen. Es ist bislang noch offen, mit welcher Intensität Hirt, der eine Kriegsinvalidenrente bezog, Sport treiben konnte und wie intensiv der Kontakt zwischen genau diesen beiden SS-Angehörigen bei den vergleichsweise wenigen Begegnungen zwischen Professor und Student tatsächlich gewesen sein kann. Beger gab im Aufnahmeantrag gegenüber der SS an, sechs Semester Naturwissenschaften und Sport studiert zu haben, und notierte in der entspre602  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Beger vom 31.3.1960. 603  BArch DS G 113 Personalakte Beger, Antrag Heiratsgenehmigung vom 21.9.1934. 604  Ebd. 605  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34152 Prozessakte Beger, Lebenslauf Beger o. Dat., S. 1337.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

chenden Rubrik des Antrages auf Heiratserlaubnis durch die SS „zahlreiche Meisterschaften, Plaketten, Diplome und sonstige Preise“ sowie das Sportabzeichen in Bronze. Offenbar versuchte er dem Bild des sportlichen, ideologisch gefestigten SS-Mannes zu entsprechen. Dem entspricht auch, dass er angab, konfessionslos zu sein, während seine Mutter Adventistin und sein Vater Protestant war.606 Folgerichtig unterschrieb der SS-Anwärter Beger das Heiratsgesuch auch nicht am 21. September 1934, sondern „21. im Scheiding 1934“. Am „24. Gilbhart 1934“, also am 24.10.1934, erteilte das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS Beger die Heiratserlaubnis.607 Am 19.9.1935 heiratete Beger die ein Jahr jüngere Hildegard Kulinski aus Pudewitz in Posen, die er bereits sechseinhalb Jahre zuvor in der Tanzstunde kennengelernt hatte.608 Im Jahre 1936 wurde das erste von Begers fünf Kindern, eine Tochter, geboren. Bereits vor Abschluss des Anthropologie-Studiums hatte Beger 1935 sein Examen als Sportlehrer abgelegt.609 Nach der Verwendung beim Rassereferenten des SS-Abschnittes Süd-West wechselte die Hilfskraft Be­ ger zum Rassereferenten des SS-Abschnittes Süd in München.610 Beger trat nach dem Studium eine Stellung als Rassereferent im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS in Berlin an. Die Versetzung erfolgte mit Wirkung zum 1.6.1935.611 In seinem Aufnahmeantrag vom 17.7.1937, in dem er um den Eintritt in die NSDAP nachsuchte,612 gab er als gegenwärtigen Beruf an, hauptamtlicher SS-Führer zu sein.613 Zu seinen Tätigkeiten im Rasse- und Siedlungshauptamt unter Brigadeführer Meinecke gehörte nach Begers Angaben die Bearbeitung der Rassegeschichte von Hellenen und Germanen, die er selbst unter dem Begriff Indogermanen subsummierte.614 Im Jahre 1937 lebte er in der Fichtestraße 86 in Berlin-Lichtenrade von einem Monatsgehalt von 405 Reichsmark, die einer jungen Familie einen hinreichenden Unterhalt 606  BArch DS G 113 Personalakte Beger, Antrag Heiratsgenehmigung vom 21.9.1934. 607  Ebd., Aktenvermerk, Heiratsgenehmigung vom 24.10.1934. 608  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34152 Prozessakte Beger, Lebenslauf Beger o. Dat., S. 1339. 609  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Urteil vom 6.4.1971, S. 6. 610  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968. 611  BArch SS-Listen, A1 VBS 287, Schreiben vom RuSHA an Verteiler vom 27.5.1935. 612  Beger wurde am 1.5.1937 mit der Mitgliedsnummer 4 037 145 in die NSDAP aufgenommen. 613  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 4. 614  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Beger vom 14.12.1961, S. 122.



VI. Bruno Beger179

boten.615 Bereits im Jahre 1936 stellte Beger nach eigenem Bekunden einen Promotionsantrag an die Berliner Universität, laut dem er eine Arbeit über die Bevölkerung der Altmärkischen Wische, den dort so genannten Überflutungswiesen, anfertigen wollte.616 Dabei plante Beger, die Bevölkerung am Elbeknick zwischen Wittenberge, Osterburg, Tangermünde und Havelberg anthropologisch zu untersuchen. Die Gegend war unter Albrecht dem Bären mit immigrierten Holländern besiedelt worden, die Deiche zu errichten und zu pflegen hatten und dafür bis ins 19. Jahrhundert Sonderrechte genossen. Vom Frühjahr bis Herbst 1936 untersuchte Beger für seine Dissertation die Bevölkerung vor Ort in der Altmark.617 Begers Doktorvater618 war der An­ thropologe Hans Friedrich Karl Günther,619 der seit 1930 in Jena gelehrt hatte und 1935 nach Berlin gewechselt war.620 2. Tibetexpedition und Tibetforschung In den Jahren 1937 und 1938 wurde das Rasse- und Siedlungshauptamt reorganisiert. Dabei schieden laut einem Befehl von Himmler vom 11.8.1938 Ende Oktober desselben Jahres alle mit wissenschaftlichen Forschungsfragen befassten Mitarbeiter aus dem Rasse- und Siedlungshauptamt aus. Die Abteilungsleiter wurden in den Persönlichen Stab Reichsführer-SS übernommen. Das Rasseamt im Rasse- und Siedlungshauptamt hatte ab dem 1.11.1938 nur noch drei Aufgaben. Eine davon war die Erstellung einer Rassenkarte Deutschlands.621 Bruno Beger wusste also nicht nur, welche Forschungsfragen Himmler interessierten, sondern er kannte auch den Stellenwert, den das Anfertigen von Rassenkarten bei Himmler genoss. Im Zuge der Umorganisation des Rasse- und Siedlungshauptamtes622 und während der Vorbereitung einer Ex615  BArch DS G 113 Personalakte Beger, Aktenvermerk, Gehaltsbescheinigung RuSHA o. Dat., ausgestellt ein Jahr und drei Monate nach Geburt der Tochter Ingeborg. 616  Die Bevölkerung der altmärkischen Wische. Eine rassenkundliche Untersuchung. 1941. 218 Bl., Math.-naturwiss. Fakultät, Dissertation vom 24. Februar 1941. 617  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34152 Prozessakte Beger, Lebenslauf Beger o. Dat., S. 1339. 618  Kater, Ahnenerbe, S. 208: Kater irrt bei seiner Feststellung, Beger sei von Ludwig Ferdinand Clauß promoviert worden. Dieser Fehler wurde in der Literatur vielfach übernommen, beispielsweise von: Wojak, Die „jüdische Skelettsammlung“, S. 105. 619  Umgangssprachlich war dieser Hochschullehrer auch als „Rasse-Günther“ bekannt. 620  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Beger vom 31.3.1960. 621  BArch NS 2, Findbuch, Vorwort Hans Booms, S. VII. 622  Kater, Ahnenerbe, S. 208.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

pedition nach Tibet wurde Beger mit Wirkung zum 1.1.1938 zum Hauptamt Persönlicher Stab Reichsführer-SS versetzt.623 Spätestens zu diesem Zeitpunkt war Beger SS-Untersturmführer.624 Dort war auch bereits entschieden, dass der Anthropologe Beger, der sich seit Jahren mit rassekundlichen Fragen im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS beschäftigte, an der Tibet-Expedition Ernst Schäfers teilnehmen sollte. Der promovierte Ornithologe Ernst Schäfer, der zu diesem Zeitpunkt bereits an zwei Tibet-Expeditionen eines US-amerikanischen Forschungsreisenden als Mitglied teilgenommen hatte, plante eine dritte Expedition, die nun unter seiner eigenen Leitung stehen sollte.625 Himmler versuchte, das SS-Mitglied Schäfer in das Ahnenerbe einzugliedern, und stellte auch andere SS-Leute als Expeditionsteilnehmer zur Verfügung. Eine Bereitstellung der Expeditionskosten von 60.000 Reichsmark gelang Himmler jedoch ebenso wenig wie die Einwerbung von Sponsoren. Dagegen schaffte es Schäfer, verschiedene Institutionen für sein Projekt zu begeistern. Dazu gehörten nicht nur die Phönix-Gummiwerke, bei denen Schäfers Vater Direktor war, sondern auch der Werberat der deutschen Wirtschaft, die I.G. Farben und die Ilseder Hütte, sowie die DFG und der Reichsforschungsrat.626 Erst nachdem Schäfer die Finanzierung vorangebracht hatte, sprach sich Himmler für das Projekt aus.627 Deshalb ist die in der Literatur weit verbreitete Behauptung, es habe sich bei dem Unternehmen um eine SS-Expedition628 gehandelt – oder um gar eine des Ahnenerbes – unzutreffend. Erst spät übernahm Himmler einen geringen Teil der Kosten.629 Es gelang Schäfer auch, die Mitnahme der von Himmler für unverzichtbar gehaltenen SS-„Wissenschaftler“ Scultetus und Wiligut zu verhindern.630 Nach verschiedenen Besetzungsvarianten bestand die Expedition bei der Abreise schließlich aus fünf Teilnehmern: Neben Schäfer und Beger wurde der Geophysiker Karl Wienert als stellvertretender Expeditionsleiter ausgewählt. Hinzu kamen noch der Kameramann und Mitarbeiter des Zoologischen Museums der Universität Berlin Ernst Krause und SS-Hauptscharführer Edmund Geer als Assistent. Letzterer war für alle technischen Fragen, wozu vor allem die technische Ausrüstung gehörte, verantwortlich.631 Nachdem Himmler der Expedition, die nur teil623  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 4. 624  Ebd. 625  Die genauen Abläufe, auf die nachfolgend mehrfach Bezug genommen wird, sind detailliert bei Mierau, Expeditionen, aufgeführt. 626  Kaufmann, Tibet, S.  213 ff. 627  Ebd., S. 211. 628  Koop, Ahnenerbe, S.  112 f. 629  Kater, Ahnenerbe, S.  79 f. 630  Kaufmann, Tibet, S.  212 ff. 631  Ebd., S.  214 ff.



VI. Bruno Beger181

weise der von ihm erhofften wissenschaftlichen Zielsetzung entsprach, unter anderem eine Unfallversicherung und andere geldwerte Vorteile verschafft hatte, war die Expedition Anfang 1938 abreisebereit. Himmler, der sich auf die Rolle des Schirmherrn zurückgezogen hatte, bestand jedoch vor der Abreise auf schriftlichen Verpflichtungserklärungen der Teilnehmer, dass sie die Expedition „im Sinne des Reichsführers-SS durchführen“ würden und „SSPrinzipien“ einzuhalten haben.632 Ein Teil der Auswertung der Expeditionsergebnisse wurde nach der Rückkehr in der mittlerweile gegründeten Forschungsstätte für Innerasien und Expeditionen auf Kosten des Ahnenerbes vorgenommen, wie unten noch näher gezeigt wird. Während der Vorbereitung der Expedition verlangte Himmler über seinen Stabsführer Ullmann von Beger, dass er seine Promotionsverfahren vor der Abreise nach Tibet abschließen solle.633 Himmler intervenierte sogar bei Begers Doktorvater Günther.634 Der Abschluss der Promotion gelang Beger jedoch nicht, bis er als Völkerkundler mit den vier anderen Expeditionsteilnehmern im April 1938 aufbrach.635

Abb. 18: Bruno Beger bei anthropologischen Messungen in Tibet. (Quelle: Bundesarchiv, Bild_135-KB-15-083) 632  Ebd.,

S. 223. DS G 113 Personalakte Beger, Aktenvermerk Ullmann o. Dat. (unleser-

633  BArch

lich).

634  Kaufmann, 635  Kater,

Tibet, S. 216. Ahnenerbe, S. 208.

182

C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Das Vorhaben einer intensiven anthropologischen Untersuchung der Tibeter sollte für das künftige favorisierte Forschungsfeld Begers, nämlich Vorder- und Innerasiaten, prägend sein. Der Hintergrund war die seit langer Zeit existierende Vorstellung, der Ursprung der europäischen Rasse sei in Tibet zu finden. Diese seien dann im Laufe der Jahrtausende über den Kaukasus nach Europa eingewandert und hätten sich dabei mit den autochthonen Bevölkerungsgruppen vermischt. Nachdem der Franzose François Bernier im Jahre 1648 die Menschheit in vier bis fünf große Gruppen unterteilt hatte, entwickelte sein Landsmann George Louis Leclerc, Comte de Buffon, 1749 darauf aufbauend die Theorie der Herkunft einer homogenen Rasse, die – aus Zentralasien kommend – sich immer weiter ausdifferenziert habe.636 Der Anatom Johann Friedrich Blumenbach, der gemeinhin als Begründer der wissenschaftlichen Anthropologie gilt, skizzierte in einer Neuauflage seiner Dissertation von 1775 („De generis humani varietate nativa“) die Theorie, dass es menschliche Rassen gebe. Er bestand jedoch in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen darauf, dass die verschiedenen Rassen einander nicht über- oder unterlegen seien. Der Zusammenhang mit der homogenen, aus Zentralasien über den Kaukasus nach Europa gelangten Rasse findet sich in seiner Bennennung der Europäer als Kaukasier. Deshalb sind in vielen amtlichen Dokumenten der englischsprachigen Staaten „weiße“ Menschen noch heute als „caucasian“ klassifiziert. Ebenfalls im Jahre 1775 äußerte dann der französische Astronom Jean-Sylvain Bailly die Vermutung, dass bei einer Sintflut nur jener Teil der Menschheit überlebt haben könnte, der in den weltweit höchsten Bergen Zentral­ asiens gelebt habe. Nach dem Rückgang der Flut wären dann allein die dort verbliebenen Menschen die Vorfahren der heute lebenden. Dies griff Immanuel Kant auf, der 1802 meinte, die Wiege der Menschheit habe in Tibet gestanden.637 Wenngleich die Wissenschaft später Zweifel erhob, ob alle Menschen von einer Ursprungsrasse aus Tibet abstammten, so wurde dies doch zumeist für die Europäer angenommen. Begers Doktorvater Hans F. K. Günther, Inhaber des ersten Lehrstuhls für Rassekunde in Deutschland (an der Universität Jena), dürfte seinen Doktoranden mit seiner eigenen These vertraut gemacht haben. Günther unterstellte Einschläge nordischer Menschen in Zentralasien. Dabei postulierte er, dass die nordeuropäische Rasse praktisch eine eigene Kreation sei, die in umgekehrter Richtung in die Ursprungsregion der anderen weißen Rasse, der Kaukasier beziehungsweise Europäer, nach Zentralasien gewandert, beziehungsweise zurückgewandert sei.638 636  Kaufmann,

Tibet, S. 380. S. 381. 638  Ebd., S. 393. 637  Ebd.,



VI. Bruno Beger183

Beger glaubte fortan, anhand von anthropologischen Messungen im Gebiet zwischen Tibet und Norwegen diese Wanderungsbewegungen wissenschaftlich beweisen und nachvollziehbar machen zu können.639 Wichtig waren ihm dabei zunächst die ersten Etappen auf diesem vermeintlichen Wanderungsweg: Tibet, Inner- und Vorderasien und der Kaukasus als Landbrücke nach Europa. Beger wollte – nach dem Muster der Rassenkarte Deutschlands, die er aus dem Rasse- und Siedlungshauptamt kannte – eine Rassenkarte Europas erarbeiten, die diese Wanderungsbewegung abbilden sollte, wie unten gezeigt wird. Daher enthielt Begers Arbeitsprogramm für die Expedition zu diesem frühen Zeitpunkt nicht nur die Motivation für das spätere Verbrechen der Schädelsammlung. Es zeigt auch bereits sämtliche Elemente, die später die Überlegungen zum Aufbau der Skelettsammlung prägen sollten: 1. Suche nach fossilen Menschenresten. 2. Suche nach Skelettresten früherer nordischer Einwanderer. 3. Erforschung gegenwärtiger rassekundlicher Verhältnisse […]. 4. Die nordische Rasse und der Bevölkerung: Anteil, Herkunft […], Bedeutung (im Adel, Schönheitsbild, usw.), Entwicklung (Einflüsse des Klimas u. a. räumlicher Gegebenheiten).“640

Nachdem Beger in Tibet angekommen war, musste er feststellen, dass sein Programm so nicht umzusetzen war. In Tibet galt es als eine Provokation der Erdgeister und somit als sehr gefährlich, wenn die Erde aufgegraben wurde.641 Somit entfielen die ersten beiden Punkte von Begers Programm. Für die anderen beiden Vorhaben bedurfte es der Prozeduren von Anthropologen. Beger musste Menschen vermessen und zudem Köpfe abformen. Jedoch begegneten die Tibeter, die bis dahin nur wenige Kontakte zu europäischen Ausländern gehabt hatten, der Expedition mit Skepsis. Daher gelang es Beger nur unter Mühen und mit „Überredungs- und Bestechungsversuchen“, Tibeter zu Studienobjekten zu machen.642 Jedoch stammten die Menschen, von denen er binnen 15 Monaten nur 389 vermessen und zwölf zu Kopfabformungen überreden konnte, ausschließlich aus dem einfachen Volk. Aus dem Adel, unter dem Beger die nordischen Einwanderer vermutete, gab sich niemand dazu her, wie Kaufmann schreibt. Selbst von den fotografierten 300 Tibetern gehörten nur rund fünf Prozent der Adelsschicht an.643 Im Salzburger „Haus der Natur“ befindet sich ein unten näher beschriebenes Diorama, das ein tibetisches Fürstenzelt zeigt. Davor sitzen zwei modellierte Personen, 639  Mierau,

Expeditionen, S. 312. R 135 / 43; vgl. Kaufmann, Tibet, S. 399. 641  Ebd., S. 400. 642  Ebd., S.  436 ff. 643  Ebd., S. 231 und 401. Vgl. Begers Aufzeichnungen (Fußnote 649). 640  BArch

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

die laut der Objektbeschriftung von Ernst Schäfer aus dem Jahre 1942 „Exzellenz Tsarong ehemaliger Premierminister und Oberbefehlshaber der tibetischen Armee“, sowie „der geistlichen Würdenträger Lama Möndo, im Generalsrang stehend“, darstellen.644 In einer erhaltenen Liste sind alle 16 Personen, die Beger abgeformt hat, erhalten. Keiner der Namen ist mit den beiden Personen identisch.645 Dies stützt die Erkenntnis Kaufmanns, dass Beger keine Adligen abzuformen vermochte und führt zu der Annahme, dass sie nach Fotografien modelliert wurden. Bei einem Besuch am 27.7.1992 im Rahmen der Eröffnung des Sonderschau „Tibet und die Götter des Himalaya“ habe der Dalai Lama die Personen identifizieren können.646 Der Wissenschaftler Beger versuchte es daher mangels einer hinreichender Anzahl an Abformungen und Vermessungen mit „gefühlter Anthropologie“, wie Wolfgang Kaufmann es anschaulich beschrieben und charakterisiert hat: „Deshalb blieb Beger am Ende häufig nichts anderes übrig, als den vermuteten nordischen ‚Blutsresten‘ durch ein intuitives Vorgehen nachzuspüren. Das lief dann ungefähr so ab: Der Rassenkundler bemerkte, daß ‚an einem stattlichen Haus […] die Eingangstüren mit Hakenkreuzen […] verziert‘ waren. Daraufhin schaute er sich nach den dazugehörigen Bewohnern um – und sieh da: plötzlich kam eine junge Frau des Weges, die ‚durch ihren rosigen Teint und die etwas helleren Haare und Augen auffiel…! Begreiflicherweise waren solche Beobachtungen völlig ungeeignet, um die magere Ausbeute an exakten Daten wettzumachen.“647

Beger selbst bezifferte nach dem Kriege die Anzahl der vermessenen und teilweise abgeformten Tibeter auf 400 Personen.648 In seinen Aufzeichnungen nennt Beger 16 Abformungen von Köpfen, sowie je eine von einer Hand und eine von einem Paar Ohren.649 Nachdem bereits im Jahre 1936 in der SS-Zeitschrift „Das Schwarze Korps“ erklärt wurde, dass die nordischen Menschen nach Tibet eingewandert seien, hatte sich Schäfer nach seiner Rückkehr aus Tibet noch im selben Jahr an Himmler als Zeuge dafür angeboten. Es stelle eine unumstößliche Tatsache dar, dass der mongoloide Normaltibeter „von […] arischen Adeligen beherrscht wird“.650 Somit war Begers Expeditionsteilnahme eng damit verknüpft, in „alter“ Ahnenerbetradition 644  Archiv HdN: 2015 / 380 Ernst Schäfer undatiert (verm. Ende 1942): „Legende für die Salzburger Dioramen, An SS Obersturmbannführer Tratz Mit besten Grüssen von mir durchgegeben“. 645  BArch R135 / 60, S. 164998 bis 165002. 646  Mündliche Auskunft von Dr. Robert Lindner, Sammlungsleiter Haus der Natur, vom 10.10.2017. 647  Ebd., S. 400. 648  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34152 Prozessakte Beger, Lebenslauf Beger o. Dat., S. 1341. 649  BArch R135 / 60, S. 164998 bis 165002. 650  Kaufmann, Tibet, S. 398.



VI. Bruno Beger185

die Ansichten seines Reichsführers wissenschaftlich belegen zu wollen. Dieser Versuch war nun mangels Versuchspersonen und auch mangels sonstiger Evidenz schlicht gescheitert. Kurzum: Während Schäfer mit dem Beweis für die bislang bezweifelte Existenz bestimmter Tierarten sowie mit unzähligen Saatgutproben zurückkehrte, hatte Beger keinerlei wissenschaftlich verwertbare Ergebnisse vorzuweisen. Begers Teilnahme an der Tibet-Expedition war wissenschaftlich gesehen und gegenüber Himmler eine große Blamage. Dies mag einer von vielen Gründen gewesen sein, dass Himmler die Bearbeitung des Tibetmaterials nach Begers Rückkehr als „nicht so eilen[d]“ qualifizierte und auch sonst aus politischen Gründen die Tibetforschung praktisch mit einem Publikationsverbot belegte.651 Der Umgang Himmlers mit Begers dürftigen Ergebnissen mag erklären, weshalb Beger später in Auschwitz, konfrontiert mit einem aus seiner Sicht ähnlichen Desaster, ad hoc die wissenschaftlichen Ziele seines Vorhabens veränderte. In einer bemerkenswerten Publikation interpretierten die Expeditionsteilnehmer Edmund Geer und Bruno Beger nach dem Krieg viele Aspekte der Expedition um. Das Heftchen „Wir ritten nach Lhasa“ zeigt jedoch in vielen Details die Theorien, denen Beger dort folgte, auch wenn die Ziele der Expedition stark geschönt dargestellt wurden: „Nun war also der Weg frei, um das geheimnisvolle Herz Tibets, die Zentrallandschaft um Lhasa, mit dem Rüstzeug der modernen Wissenschaft zu erforschen. Die Untersuchung des Erd- und Bodenaufbaus und der erdmagnetischen Verhältnisse, Landvermessungen, Wetterbeobachtungen, Höhenmessungen, das Studium der Gewässer, der Pflanzendecke, der Säugetiere, Vögel, Insekten und nicht zuletzt die Beobachtung des Volkes, seiner Lebensgewohnheiten, Religionsbräuche und seiner Kunst waren als Aufgabe gestellt. So begleiteten den erfahrenenen Expeditions­ leiter, Ernst Schäfer, Spezialisten verschiedener Wissenszweige: Der Geologe und Erdmagnetiker Karl Wienert, der Völkerkundler und Geograph Bruno Beger, der Insektenforscher Ernst Krause, der gleichzeitig als Filmoperateur und Kameramann tätig war, und Edmund Geer, der technische Leiter der Expedition.“652

Recht anschaulich schilderte Beger selbst so viele Jahre später, dass es sehr schwierig war, die Tibeter davon zu überzeugen, sich fotografieren zu lassen, und ebenso, wie die Expeditionsteilnehmer um ihr Leben füchten mussten, als aufgebrachte Gläubige sie angriffen, weil sie eine hohe religiöse Zeremonie durch ihre Kamera vermeintlich entweihten.653 Die Nord-Theorie Begers floss in diese Publikation unterschwellig mit ein. Er beschreibt Land und Leute durchweg als schmutzig und rückständig, den Adel jedoch als modern und sauber.654 Beger und Geer berichten nicht nur, dass der Regent von Tibet Be651  Ebd.,

S. 337 und 570 ff. Tibet, S. 3. 653  Ebd., S. 5 und 23. 654  Ebd., S. 11, 15 und 22. 652  Beger,

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ger aufgrund seiner Körpergröße als Leibwächter gewinnen wollte, sondern auch, dass Beger durch seine „ärztliche Tätigkeit“ an der lokalen Bevölkerung dem britischen „Garnisonsarzt“ ernstlich Konkurrenz gemacht habe. „Viele Tibeter kamen und bettelten um Medizin, die sie oft gar nicht brauchten. Nur durch einen vorzeitigen Aufbruch konnte sich der Doktor dem steigenden Andrang dieser Heilungssuchenden entziehen.“655 Nicht zuletzt diese Publikation prägte das Nachkriegsbild Begers: ein Geograph und Mediziner, der menschenfreundlich den rückständigen Tibetern Interesse entgegenbringt und mit den tibetischen Adligen auf Augenhöhe verkehrt und deren Wertschätzung genießt. Da Beger als Geograph nicht weiter in Erscheinung getreten ist und nie eine ärztliche Ausbildung genossen hatte, kann vermutet werden, dass die Hervorhebung dieser Tätigkeiten nach dem Krieg besser beim Publikum ankam, als einen Anthropologen zu schildern, der in Tibet Menschen vermessen wollte, um Rassetheorien zu beweisen. Nach der Rückkehr im August 1939 bearbeitete Beger die Ergebnisse seiner anthropologischen Vermessungen der Tibeter.656 Jedoch wurde Schäfer und Beger bei weitem nicht soviel Aufmerksamkeit zuteil wie zuvor dem Geophysiker Wilhelm Filchner, dessen dritte Tibet-Reise im Jahre 1937 endete und ihm einen hochdotierten Nationalpreis für Kunst und Wissenschaft einbrachte.657 Einer der Gründe mag gewesen sein, dass der Kriegsausbruch die mediale Aufmerksamkeit auf andere Felder lenkte; aber auch die strikte Informationssperre Himmlers zum Thema Tibet, die erst Ende 1942 aufgehoben wurde, wirkte sich entsprechend aus.658 Denn dies führte zusammengenommen offenbar dazu, dass Begers Fehlschlag in der Fachwelt nicht sonderlich bekannt wurde. Schäfer und Himmler kann er jedoch nicht verborgen geblieben sein – also jenen zwei Vorgesetzten, denen er später seinen Besuch in Auschwitz abtrotzen sollte. Ebenfalls im August 1939 legte Schäfer eine Denkschrift für ein Asien­ Institut der SS unter seiner Leitung vor.659 In diesem Institut war auch für die anthropologischen Forschungen Begers an Vorder- und Innerasiaten ein Forschungsbereich vorgesehen. Schäfer legte in diesem Zusammenhang Wert darauf, dass sein Institut vor allem deshalb notwendig sei, damit transdiszipli­ näre Aufgabenstellungen der Innerasienforschung untersucht werden könnten, was bislang in Deutschland nicht möglich gewesen sei.660 Gleichzeitig 655  Ebd.,

S.  29 f. DS G 113 Personalakte Beger, Aktenvermerk Schreiben Sievers’ an Persönlichen Stab vom 23.10.1941. 657  Kaufmann, Tibet, S.  191 ff. 658  Ebd., S. 193. 659  Mierau, Expeditionen, S. 397 f. 660  Ebd., S.  397 f. 656  BArch



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bekundete Schäfer auch noch nach 1945, dass nach den Lehren der klassischen Biologie der Kaukasus schon immer als bio-geographische Brücke zwischen der asiatischen und europäischen Fauna und Flora gegolten habe.661 Doch beim Kriegsausbruch 1939 musste Beger – wie Sievers zwei Jahre später auch – zunächst eine Grundausbildung bei der Leibstandarte-SS Adolf Hitler (LSSAH) ableisten. Diese dauerte entweder sechs oder acht Wochen und fand abseits der regulären Ausbildung in Prag statt.662 Der SS-Schütze Beger war mit Schäfer, Jobst Gösling und Edmund Geer, die als Vertreter der deutschen Agfa in Kalkutta beziehungsweise als technischer Leiter ebenso an der Tibet-Expedition beteiligt waren, auf dem Kasernengelände in Prag gesondert untergebracht. Hintergrund war der von der Amtsgruppe Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht unter Wilhelm Canaris und dem Auswärtigen Amt gemeinsam entwickelte Plan, britische Truppen in einigen von Großbritannien kontrollierten Ländern zu binden. Dazu sollten von Kennern der regionalen Gegebenheiten Aufstände initiiert werden. Die kleine Truppe um Schäfer und Beger war ausgewählt worden, diese Mission in Afghanistan in die Tat umzusetzen, möglicherweise aber auch – wie unten noch gezeigt wird – im Iran. Aufgrund des militärischen Charakters der neuerlichen AsienExpedition erhielt die Wissenschaftlergruppe auf Himmlers persönlichen Wunsch neben der üblichen infanteristischen Ausbildung auch eine Schulung in der Handhabung von Granatwerfern und schweren Maschinengewehren.663 Unter anderem war der Sturz der englandfreundlichen afghanischen Regierung geplant, um den exilierten König Amanullah – einen Gegner der Briten – wieder zu inthronisieren. Eine mit einer Stärke von 30 Teilnehmern geplante Gruppe unter Schäfer sollte mit Waffen und anderen Geschenken die tibetische Armee zum Aufstand gegen die Briten verleiten. Hierzu war die militärische Spezialausbildung bei der Leibstandarte erforderlich.664 Beger selbst gab nach 1945 an, dass der geplante Auftrag darin bestanden habe, mit einem Flugzeug voller Waffen nach Tibet zu fliegen und die dortige Armee gegen die britisch-indischen Truppen aufzuwiegeln.665 Es ist letztlich nicht gerichtsfest zu klären, wie der geplante Einsatzablaufplan im Einzelnen lautete. Insofern kann es letztlich nicht sicher festgestellt werden, ob der Einsatz in Afghanistan oder Tibet oder in beiden Ländern stattfinden sollte. 661  IfZ ZS A 0025 02-107 Sammlung Michael H. Kater („Ahnenerbe“), Schreiben von Schäfer an Kater vom 28.4.1964, S. 367. 662  Kater, Ahnenerbe, S. 212., vgl. HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Beger vom 31.3.1960 – hier werden sechs Wochen angegeben, Kater hat acht Wochen ermittelt (S. 212). 663  Kater, Ahnenerbe, S. 212. 664  Ebd., S.  122 f. 665  IfZ ZS A 0025 01-28 Sammlung Michael H. Kater („Ahnenerbe“), Gedächtnisprotokoll des Gespräches von Kater mit Beger vom 17.4.1964, S. 13.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Der Zweck der Expedition war jedoch unzweifelhaft das Aufwiegeln der autochthonen Bevölkerung gegen die Briten. Während die Teilnehmer auf ihren Einsatz warteten, wurden sie von Himmler ausgezeichnet: Schäfer erhielt den Ehrendegen und den Totenkopfring der SS,666 Beger später ein Buchgeschenk von Himmler, für das er sich in einem Brief im förmlichschwülstigen Stil jener Zeit bedankte.667 Nach der Grundausbildung arbeitete Beger weiter an den anthropologischen Vermessungsergebnissen aus Tibet668. Parallel dazu wurde er projektweise im Rasse- und Siedlungshauptamt eingesetzt.669 Im Januar 1940 rechnete Schäfer damit, dass die in Prag ausgebildete Gruppe im September 1940 in Marsch gesetzt würde.670 Doch das Vorhaben wurde nach langen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Institutionen des NS-Regimes im Frühjahr 1940 zunächst abgesagt, so dass die einzige Aufgabe Begers in der Weiterbearbeitung des Tibetmaterials bestand. Die Tibet-Expeditionsergebnisse versprachen wissenschaftliche Reputation und eine gehörige Nachfrage nach dem gewonnenen know-how seiner Experten durch andere Reichsbehörden, also auch politische Reputation. Dies gilt insbesondere für die Zeit nach dem auf deutscher Seite erhofften Ende der britischen Hegemonialstellung in Asien nach einem gewonnenen Krieg. Daher versuchte Himmler nun erneut Schäfer und die Innerasienforschung in das Ahnenerbe zu inkorporieren. Im Januar 1940671 wurde im Ahnenerbe die Forschungsstätte Innerasien und Expeditionen gegründet.672 Der Sitz der neuen Forschungsstätte befand sich in der Außenstelle Süd-Ost des Ahnenerbes, die aus Salzburg in die Widenmayrstraße 35 in München, verlegt worden war. Das vornehme Mehrfamilienhaus zwischen Isar-Ufer, Residenz und Englischem Garten brachte das Ahnenerbe, ähnlich wie die Liegenschaften ihres Hauptsitzes seit 1939 in Berlin-Dahlem, durch sogenannte Arisierung in seinen Besitz, ohne dass faktisch eigenes Kapital dafür eingesetzt werden musste.673 Mutmaßlich unter Zwang machte der Eigentümer Isidor Feibelmann dem Finanzträger des Ahnenerbes, der Ahnenerbe-Stiftung, ein notari666  Kater,

Ahnenerbe, S. 211. NS 21 / 238, Abschrift Danksagung Beger an Himmler o. Dat. 668  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Beger vom 31.3.1960. 669  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 4. 670  Kater, Ahnenerbe, S. 212. 671  Ebd., S. 213. 672  Mierau, Expeditionen, S. 394. 673  BArch NS 21 / 427, Schreiben von Galke an Reichsfinanzministerium vom 28.3.1939: „Ich weise insbesondere darauf hin, dass die Stiftung die zur Steuer veranlagten Grundstücke nicht aus vorhandenem Vermögen gekauft hat, vielmehr der 667  BArch



VI. Bruno Beger189

elles Kaufangebot über den Erwerb seiner Liegenschaft Widenmayrstraße 35 in München, das diese 1939 annahm.674 Bereits im Jahre 1933 war das Haus des Schwiegervaters von Thomas Mann, Alfred Pringsheim, an der Münchener Arcisstraße abgebrochen worden, um dort den sogenannten Führerbau zu errichten. Daraufhin zog Pringsheim in eine Wohnung im Hause seines Freundes Isidor Feibelmann in der Widenmayrstraße 35. Feibelmann und Pringsheim mussten unmittelbar nach der Übernahme der Liegenschaft ausziehen, da Ahnenerbe-Kurator Walther Wüst die repräsentativen Flächen im Haus als Dienstwohnung beanspruchte.675 Gleichzeitig wurde das Gebäude Sitz der Außenstelle Süd-Ost des Ahnenerbes, der neu errichteten Forschungs­ stätte Innerasien und Expeditionen und weiterer Ahnenerbe-Abteilungen, beispielsweise derjenigen für germanisches Bauwesen oder für Astronomie.676 Der in München ansässige Schäfer leitete die neue Forschungsstätte und bereitete von München aus weitere Expeditionen vor, bis die Forschungsstätte 1943 in das weniger bombengefährdete Schloss Mittersill im Pinzgau verlegt wurde.677 Schäfer hatte offensichtlich seinen Expeditionsgefährten Beger für die neue Forschungsstätte des Ahnenerbes fest eingeplant. Doch dann muss es zu einer zwischenmenschlichen Episode gekommen sein, die eine Beschäftigung Begers bei Schäfer in München unmöglich machte: Am 5.4.1940 teilte Schäfer Sievers schriftlich mit, dass „Expeditionskamerad Beger aus ganz bestimmten, delikaten, Gründen in meinem Institut in München nicht Mitarbeiter werden“ kann. Es ist nicht mehr genau aufzuklären, welche ‚delikaten‘ Verfehlungen Begers Schäfer meinte. Ferner informierte er Sievers über eine Verfügung von Himmlers Stabsführer Ullmann, dass Beger bei Sievers in Berlin-Dahlem einen Arbeitsplatz erhalten und dort büromäßig Sievers und fachlich Schäfer in München unterstehen solle. Dies wurde dann auch so gehandhabt. Beger war zu diesem Zeitpunkt immer noch Angehöriger des Hauptamtes Persönlicher Stab Reichsführer-SS und galt auch im Rasse- und Siedlungshauptamt als Experte in Rassefragen, was immer wieder zu Aufträgen von dort führte, wie unten noch näher gezeigt wird. Sein Arbeitgeber war jedoch das Ahnenerbe, wenngleich der Zeitpunkt des dortigen Vertragsbeginns nicht eindeutig aus den Quellen zu belegen ist. Jedoch kann das erste Quartal 1940 als wahrscheinlich angenommen werden. unumgänglich notwendig gewordene Erwerb erst durch Aufnahme von Hypotheken und sonstigen Krediten möglich geworden ist.“ 674  BArch NS 21 / 427, Schreiben von Klein an Feibelmann vom 25.4.1939. 675  Ebd. 676  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 99a ff., Verzeichnis aller Mitarbeiter im Dienstgebäude Widenmayrstraße 35, Stand: Februar 1943. 677  Schloss Mittersill lag im Pinzgau bei Salzburg. Der zuständige Gauleiter Dr. Friedrich Rainer bot am 9.1.1941 Sievers und Wüst das Schloss für eine wissenschaftliche Nutzung an, wie Sievers in seinem Diensttagebuch festhielt.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Am 20.9.1940 forderte der Leiter des Rasse- und Siedlungshauptamtes, Richard Hildebrandt, Beger bei Himmler für die Position eines Amtsleiters innerhalb des Hauptamtes an.678 Dazu kam es nicht, doch Sievers machte, wie im weiteren Verlauf zu zeigen sein wird, Zugeständnisse an Beger, um ihn als einzigen Rassenexperten im Ahnenerbe an den Verein zu binden. Einige Quellen legen die Vermutung nahe, dass die Karriere Begers sich rascher entwickelte als seine Persönlichkeit: Am 1.6.1940 legte Sievers einen Aktenvermerk über einen Anruf Begers am Tag zuvor an. Dieser habe Schreibkräfte gefordert. Auf den Vorhalt, dass andere junge Wissenschaftler ihre Manuskripte selbst tippten, habe Beger befunden, dass er dann auch nicht ins Büro gehen müsse, denn daheim habe er ebenso einen Arbeitsraum ohne Schreibkräfte.679 Am 2.10.1940 teilte der stellvertretende Reichsgeschäftsführer des Ahnenerbes, Dr. Theodor Komanns,680 Schäfer brieflich mit, dass Beger sich kaum an die Bürozeiten halte und sich häufig ungehörig gegenüber Mitarbeitern benehme, die im Range unter ihm stehen. Ebenso seien seine Mitarbeiteranforderungen überzogen. Offenbar hatte Beger verlangt, mehr als die halbe, ihm mittlerweile zur Verfügung stehende Schreibkraft, Fräulein Droemann, als Dreingabe zur festen Büroausstattung zu erhalten.681 Am 28.2.1941 hielt der Leiter der Registratur des Ahnenerbes, Hans Saßenroth, in einem Aktenvermerk fest, dass sich Beger nicht wie alle anderen Mitarbeiter auch an die Regularien des Briefversandes halte, keine Durchschläge abliefere und auch andere Vorschriften missachte.682 Dennoch schien Begers Einbindung in das Ahnenerbe für Sievers nicht zur Disposition zu stehen: Am 4.4.1941 stellte er Beger dem SD-Hauptamt als AhnenerbeGutachter zur Verfügung, um zu überprüfen, ob der Schriftsteller Theodore Illion, der über Tibet schrieb, unter anderem das Buch „Rätselhaftes Tibet“, wirklich dort gewesen sei.683 Wenige Wochen später erstattete Beger Sievers dann Bericht über die Vernehmung Illions beim SD.684 Am 11.9.1941 hatte Beger sich mit seiner Forderung nach einer Vollzeitschreibkraft doch noch durchsetzen können: Sievers genehmigte die Einstellung der vorher beim 678  HStA

Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34162 Prozessakte Beger, S. 58869 f. Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34164 Prozessakte Beger, S. 46. 680  Dr. iur. Theodor Komanns war Sievers’ Stellvertreter als Reichsgeschäftsführer des Ahnenerbes, nachdem der eigentliche stellvertretende Reichsgeschäftsführer Dr. Friedhelm Kaiser zur Wehrmacht eingezogen worden war. Am 23.7.1941 verunglückte Komanns mit seinem Auto bei Weißenfels tödlich. Seine Position wurde nicht neu besetzt, so dass Sievers als „unabkömmlich“ für die Arbeit des Ahnenerbes eingestuft wurde. Vgl. Reitzenstein, Himmlers Forscher, S. 53 f. 681  BArch NS 21 / 238, Schreiben von Komanns an Schäfer vom 2.10.1940. 682  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34164 Prozessakte Beger, S. 6. 683  BArch NS 21 / 127 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 4.4.1941. 684  Ebd., Eintrag vom 29.4.1941. 679  HStA



VI. Bruno Beger191

Verwaltungs- und Wirtschaftshauptamt beschäftigten Sekretärin Grabow­ ski.685 Beger erreichte, dass Ernst Schäfer sich bei Sievers für sein Anliegen einsetzte. Mit Bezug auf dessen Antrag genehmigte Sievers am 12.12.1941 nun die Einstellung einer Vollzeitsekretärin für Beger. Ein Fräulein Marheine findet sich als dessen Sekretärin und offenbar enge Mitarbeiterin bis 1944 in den Quellen.686 Bruno Beger hatte sich zwischenzeitlich dem Idealbild eines SS-Führers angenähert: Insgesamt wurde er bis Kriegsende Vater von fünf Kindern, vertrat und begründete als Anthropologe die Rasseideale der Nationalsozialisten mit wissenschaftlichem Habitus und kehrte schon bei der Einstellung in die SS seine Sportlichkeit hervor.687 Mit der Tibet-Expedition hatte er seine Reputation in der SS, aber auch in der Öffentlichkeit vergrößert. Nur eines fehlte ihm, um dem Idealbild des weltanschaulichen Kämpfers, wie Himmler ihn oft skizziert hatte, zu entsprechen:688 der Kampf. Bereits am 7.4.1941 notierte Sievers in seinem Diensttagebuch, dass er Beger einen Arbeitsplan für die Fertigstellung seiner Tibetforschungen abverlangt habe, die Ende des Jahres abgeschlossen sein sollten, da dieser bald ein Gesuch um Freigabe für seine Einberufung stellen wolle689 Beger beantragte bei Sievers am 9.4.1941 die Aufhebung der „uk“-Stellung, so dass er an die Front könne. Am 28.4.1941 kündigte Beger bei Sievers eine Denkschrift über die Ergebnisse der Tibetexpedition an.690 Diese sandte er am 3.5.1941 mit der Post an Sievers.691 Sievers antwortete auf den Antrag vom 28.4.1941 am folgenden Tag: „Ihren Antrag vom 9.4.41 habe ich mit Ihrem Abteilungsleiter, SS-Hauptsturmführer Dr. Schäfer, und gleichzeitig mit dem Stabsführer des Persönlichen Stabes RFSS, SS-Standartenführer Ullmann, besprochen. Ihrem Antrag soll grundsätzlich stattgegeben werden, jedoch erst dann, wenn SS-H’ Stuf. Dr. Schäfer sich von dem erreichten Abschluss Ihrer Arbeiten persönlich überzeugt hat. Die Besichtigung bezw. Besprechung wird sobald als möglich erfolgen.“692

Beger teilte Sievers am 9.9.1941 mit: 685  HStA

Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34164 Prozessakte Beger, S. 6d. R 135 / 49, Aktenvermerk von Sievers vom 12.12.1941. 687  BArch NS 21 / 238, Schreiben von Kraut an Personalhauptamt vom 24.2.1945 mit der Mitteilung, dass Begers fünftes Kind am 1.11.1944 geboren worden sei. Beger erhielt abermals eine – auf 300 Reichsmark dotierte – Geburtsbeihilfe, für die er sich bei Sievers am 15.12.1944 handschriftlich bedankte. 688  Longerich, Himmler, S. 621. 689  BArch NS 21 / 127 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 7.4.1941. 690  Ebd., Eintrag vom 28.4.1941. 691  BArch R 135 / 44, Anschreiben Begers an Sievers mit Denkschrift vom 3.5.1941. 692  BArch R 135 / 52, Schreiben von Sievers an Beger vom 29.4.1941. 686  BArch

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

„Hiermit melde ich, dass meine anthropologischen Arbeiten am Tibetmaterial einen Stand erreicht haben, wo sie jederzeit leicht von einem anderen Anthropologen zu dem von mir geplanten Abschluss gebracht werden könnten. Ich bitte nunmehr darum, meine UK-Stellung aufzuheben und mir die Erlaubnis zu erteilen, umgehend zu einer aktiven Einheit der Waffen-SS einrücken zu können.“693

Diese Formulierung löste einige Unruhe im Ahnenerbe aus, die zeigt, welch hohen Stellenwert das Tibet-Material besaß: Sievers und Schäfer verstanden Begers Nachricht so, dass dieser rasch an die Front wolle und derweil ein anderer Anthropologe die Arbeiten abschließen könne. Beger hatte jedoch schon am 8.5.1941 gegenüber Sievers klargestellt, dass er die Arbeiten weitgehend abgeschlossen habe und die Materialien so geordnet seien, dass seine Arbeit im Falle seines Todes von jemand anderem fertiggestellt werden könne. Andernfalls würde er diese Arbeiten nach dem Fronteinsatz selbst zu Ende bringen.694 Es wurde bislang wenig untersucht, welche Arbeiten genau Beger am Tibet-Material durchführte und zu welchem Zweck er dies tat. Während der Tibet-Film Schäfers einige Bekanntheit erlangte und auch nach 1945 noch – umgeschnitten – gezeigt wurde, wie Begers Anwälte im Verfahren vor dem Schwurgericht in Frankfurt am Main darlegten, sind die Dioramen im Salzburger Haus der Natur in diesem Zusammenhang nur selten betrachtet worden. Bei deren Entstehen war Beger stark involviert. Das Salzburger Haus der Natur teilte im Jahre 2015 zur Geschichte des Hauses unter dem Direktorat des Ahnenerbe-Forschungsstättenleiters Eduard Paul Tratz nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im Jahre 1938 in einer Pressemeldung auf seiner Internetseite mit: „Unmittelbar nach dem Anschluss nahm Tratz Änderungen im Schaubereich vor, die unter anderem der Vermittlung NS-ideologischer Inhalte dienten. […] Zehn weitere Abformungen von ‚Rassen und Typen des deutschen Volkes und ihrer Parasiten‘ wurden angekauft. Darunter befanden sich auch zwei Abformungen von jüdischen Männern aus dem KZ Dachau. Sie wurden als dreidimensionale biologistische Belege einer ‚minderwertigen Rasse‘ in die Schau integriert. […] Die ‚Deutsche Tibet Expedition Ernst Schäfer‘ hatte das Ziel, Belege für den Ursprung der ‚arischen Rasse‘ im Hochland Asiens zu finden. Sie brachte Tausende von Tierbälgen und völkerkundlichen Gegenständen sowie 16 Abformungen menschlicher Gesichter nach Deutschland. […] Ernst Schäfer schenkte Tratz allerdings völkerkundliche Objekte, darunter ein Fürstenzelt sowie Gebrauchs- und Kultgegenstände, aus denen unter der Regie Schäfers ein großes Tibet-Diorama entstand. Die Figuren geben lebende Menschen wieder, deren Gesichter vom Expeditionsteilnehmer Bruno Beger in Tibet abgeformt und später vom anthropologischen Präparator Willi Gabel modelliert wurden. […] Zusätzlich wurden zwei Kleindioramen er693  BArch DS G 113 Personalakte Beger, Schreiben von Beger an Sievers vom 9.9.1941. 694  BArch R 135 / 47, Schreiben von Beger an Sievers vom 8.5.1941.



VI. Bruno Beger193 stellt, die das Ritual der Leichenzerschneidung und den Sitz des Dalai-Lama in Lhasa zeigten.“695

Diese Arbeit wurde dann auch von Sievers noch vor ihrer Fertigstellung mehrfach begutachtet,696 bevor der Aufbau abgeschlossen wurde. Für Beger war es sehr wichtig, dass die Dioramen die ausgestellten Vorderasiaten lebensecht darstellten. Daher war nicht nur die Qualität der Plastiken wichtig – Beger reiste ebenfalls persönlich eigens nach Salzburg, um sich an Aufstellung und Arrangement der Dioramen zu beteiligen.697 Noch um 1970 äußerte Beger in Bezug auf die Tibet-Dioramen: „Zugleich wurde im naturkundlichen Museum ‚Haus der Natur‘ in Salzburg eine große Tibetschau eröffnet, mit der ich besonders zu tun hatte und die heute noch eine Hauptattraktion dieses Museums bildet.“

Es ist nicht zu übersehen, welche zentrale Rolle der Bau der Dioramen als dreidimensionale Abbildung der vermessenen Asiaten für Beger spielte. Dabei wurde er in die konkrete Ausstellungs-Planung und -Vorbereitung von Schäfer und Tratz kaum eingebunden. Die Ausstellung eröffnete am 17.1.1943. Noch im Januar 1943 begann Sievers mit großer Akribie, mit Einladungen und persönlichen Kontaktaufnahmen möglichst große Teile der deutschen Wissenschaft zur Teilnahme an der Eröffnung zu bewegen698. Die Mittel für diese Tibet-Ausstellung einschließlich der Dioramen waren im September 1941 von Sievers bewilligt worden.699 Die Kostenüberschreitung durch Schäfer verursachte erhebliche Verstimmungen bei Sievers, so dass dieser der Ausstellungseröffnung demonstrativ fernblieb.700 Die Ausstellung eröffnete am Tag nach dem Festakt aus Anlass der Gründung des – im Kapitel III.6.6. näher geschilderten – Reichsinstituts „Sven Hedin“ mit der Uraufführung von Schäfers Tibet-Film in München am 16.1.1943.701 Unmittelbar nach den Feierlichkeiten in München fuhr Sievers mit dem Nachtzug zurück nach Berlin und blieb der Eröffnung der Ausstellung in Salzburg am 695  Internetfundstelle: https: /  / www.hausdernatur.at / de / pressemeldung / das-hausder-natur-1924-1976.html, abgerufen am 23.10.2017. 696  NARA T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Einträge vom 31.10. und 26.11.1942. 697  Ebd., Eintrag vom 5.3.1942. 698  BArch NS 21 / 127 Diensttagebuch Sievers, u. a. Eintrag vom 6., 9. und 11.1. 1943. 699  Ebd. Eintrag vom 8.9.1941. 700  BArch NS 21 / 330, Schreiben von Sievers an Tratz vom 7.1.1943. Vgl.: Hoffmann, Robert: Ein Museum für Himmler? Das Haus der Natur 1939–1945. In: Ein Museum zwischen Innovation und Ideologie. Das Salzburger „Haus der Natur“ in der Ära von Eduard Paul Tratz, 1913–1976, (erscheint im Frühjahr 2018). 701  BArch NS 21 / 53 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 16.1.1943.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Abb. 19: Blick in das Hauptdiorama der Tibetschau „Steppenlandschaft aus Süd-Tibet“ (Aufnahme ca. 1950) mit dem Nomadenzelt (Quelle: Haus der Natur). Im Impressum konnten die Besucher lesen: „Sämtliche hier ausgestellte Gegenstände wurden von der Schäfer-Expedition 1938 / 39 mitgebracht und von Dr. Bruno Beger gesammelt. Der Hintergrund des Dioramas und sein künstlerischer Ausbau stammt vom Maler Franz Xaver Jung-Ilsenheim, die Plastiken wurden von Walter Kruse und Willi Gabel hergestellt. Aufbauarbeiten leistete Alois Maringer (1941 / 42).“ (Foto: Archiv Haus der Natur in Salzburg. Textquelle: Legende zu den Tibetdioramen Archiv Haus der Natur in Salzburg 2015 / 115 „Ernst Schäfer“ …)

nächsten Tag fern.702 In Gesamtbetrachtung der Handlungsmuster Sievers scheint es so, als habe er notgedrungen das von Schäfer überzogene Budget ausgeglichen und seine Missbilligung des notorisch selbstbewussten Handelns seines Forschungsstättenleiters durch Fernbleiben ausgedrückt. Dies steht nicht im Gegensatz zum intensiven Bemühen Sievers’ für ein gutes Gelingen der Ausstellung. Die Präsentation des Ahnenerbes nach außen hätte er kaum mit internen Querelen belastet. Im fünften Kriegsjahr war der Erfolg der Ausstellung enorm, so dass Sievers bereits kurz nach der Eröffnung weitere Mittel für eine Erweiterung der Ausstellung beschaffte.703 Vor allem dürften jene Dioramen, die plastische Le702  Ebd.,

Eintrag vom 16.1.1943. Eintrag vom 6.4.1943. Es ist festzuhalten, dass die Tibet-Schau bei der Eröffnung noch nicht fertig gestellt war. Es fehlte u. a. ein Diorama der Tierwelt Tibets. Für dieses Diorama hatte das Berliner Naturkundemuseum, wo sich die von 703  Ebd.,



VI. Bruno Beger195

bensszenen aus der Lebenswelt der Tibeter zeigten, ein besonderer Publikumsmagnet gewesen sein. Noch 1944 wurde der Bau weiterer Dioramen für kommende Ausstellungen geplant, wenngleich das Sievers im Diensttagebuch keinen Ausstellungsort vermerkte. Beteiligt waren die Teilnehmer der Tibet­ expedition und unter anderem weitere Mitarbeiter der Forschungsstätte Innerasien und Expeditionen. Da die Salzburger Dioramen die bis dahin einzigen im weitverzweigten Ahnenerbe waren, liegt der Schluss nahe, dass es sich um weitere Abformungen handelte, die die von Beger untersuchte Wanderungsbewegung von Tibet nach Nordeuropa belegen sollten. Für die geplanten Dioramen wurden Anfang 1944 Abformungen benötigt.704 Im Gegensatz zu den beiden bereits ausgestellten Dioramen, die ganz oder teilweise nach Fotografien entstanden sind, sollte nun auf Grundlage von Abformungen gearbeitete werden. Dies bestätigt die Aussage des Präparators Wilhelm Gabel, der sich beklagte, dass die für die ersten Dioramen gewählte Herstellungsmethode sehr mangelhaft sei.705 Interessant dabei ist, dass Sievers die Dioramen ausweislich des vorgenannten Dienstagebucheintrages vom 7.1.1944 von „Häusern der Natur“ sprach. Tatsächlich spricht in der Gesamtschau der Quellen vieles dafür, dass Himmler den Gedanken hegte, nach dem Muster des Salzburger Museums, weitere „Häuser der Natur“ in ganz Deutschland zu eröffnen, um der Bevölkerung naturwissenschaftliche Zusammenhänge – wozu für ihn auch Rassefragen gehörten – plastisch vermitteln zu können. In der Salzburger Ausstellung fand sich jedoch keinerlei Erwähnung von Rassen – weder in Schäfers Legendentexten zu den Dioramen, noch in einem Schularbeitsblatt aus dem Jahre 1944 zu den Dioramen. „Schäfer spricht von der ‚primitiven Nomadenkultur‘ die der ‚hochstehenden Gesittung des tibetischen Adels‘ gegenübergestellt werden soll, ‚Rassentheorien‘ werden nicht erwähnt und waren nach unserem Wissenstand zu keinem Zeitpunkt Thema in der Tibetschau. Es ging um die Präsentation einer exotischen Kultur.“706 Dies bestätigen auch Kaufmanns Erkenntnisse.707 Diese Ausrichtung zeigt, wie wenig Beger in die Ausstellungskonzeption eingebunden war und wie wenig sein Forschungsprojekt, das nicht zuletzt Himmlers Vermutung einer Schäfer aus Tibet mitgebrachten Tierpräparate befanden, bereits konkrete Exponate zugesagt. Weshalb dieses Diorama letztlich nicht gefertigt wurde, liegt im Dunkeln. Insoweit ist offen, ob der Diensttagebucheintrag sich einzig auf dieses Diorama bezieht oder aber weitere Dioramen – Sievers verwendet den Plural – geplant waren. 704  Ebd., Eintrag vom 7.1.1944: Besprechung von Sievers mit Beger, Schäfer, Gabel, Wienert, Geer, Bohmann, Niethammer, Vareschi, Trojan, Lettow und Clauss. 705  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Gabel vom 25.7.1960, S. 50. 706  Mündliche Auskunft von Dr. Robert Lindner, Sammlungsleiter Haus der Natur, vom 10.10.2017. 707  Kaufmann, Tibet, S.  404 f.

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aus nordischen Menschen bestehenden tibetischen Adelsschicht belegen sollte, von Schäfer und Tratz berücksichtigt wurde. Das mag erklären, weshalb er von sich aus die museale Anschaulichmachung seiner Therorie anstrebte, aber auch eine eigene Ahnenerbe-Forschungsstätte für Rassekunde. Der spätestens seit Januar 1944 auch bei Sievers belegte Gedanke für „Häuser der Natur“ waren daher möglicherweise Ziel seiner Überlegungen, in denen er als Forschungsstättenleiter eigenständig Ausstellungskonzeptionen zum Beleg seiner These realisieren wollte. Dem dürfte die „typische“ Arbeitsweise Sievers’ entgegengekommen sein. Sievers strebte – das zeigen seine Tagebücher und Korrespondenzen an unzähligen Stellen – stets danach, Kontrolle auszuüben, auch bis hin kleinste Organisationseinheiten hinein. Ob dies orginär geschah oder in Nachahmung Himmlers, muss dahin gestellt bleiben. Insofern wäre es nahe liegend gewesen, dass Sievers anstrebte, ein Projekt „Häuser der Natur“ nach dem Muster der Salzburger Ausstellung zu planen und mit von ihm ausgesuchten Personal auszustatten, statt das Projekt an Tratz und Schäfer zu delegieren. Denn damit wäre es Sievers’ Kontrolle teilweise entzogen gewesen. Die erhebliche Budget-Überschreitung bei der Tibet-Ausstellung durch Tratz und Schäfer und Sievers’ Reaktion darauf zeigen deutlich, dass er allzu autonom agierende Mitarbeiter nicht schätzte. Begers Präparator Gabel war unzufrieden mit den Fotografien, aus denen er die lebensechten Plastiken für die Dioramen im Haus der Natur in Salzburg gestalten sollte. In seiner Aussage vor der Staatsanwaltschaft Frankfurt führte Gabel im Jahre 1960 zu den Gesichtsplastiken der Tibeter aus: „Das wollte mir aufgrund des vorhandenen Materials nicht recht gelingen. Ich war daher immer daran interessiert, selbst Gesichtsmasken von richtigen Asiaten abnehmen zu können und diese Personen beobachten zu können. Herrn Dr. Beger habe ich kennen gelernt, nachdem ich zum Reichsinstitut Sven Hedin gekommen war. Ihm erklärte ich daher, dass solche asiatischen Typen wohl am besten in einem Kriegsgefangenenlager zu finden seien und ich gerne einmal in ein Lager gehen würde. […] Meiner Erinnerung nach war das Dr. Beger, der mir dann eines Tages sagte, dass die Möglichkeit für mich bestehe, in ein Lager zu kommen, in dem asiatische Typen zu finden seien. Dr. Beger sagte mir auch, dass es sich um das Lager Auschwitz handeln würde.“708

Dies mag ein Hinweis sein, dass Beger von Gabel inspiriert wurde, sich mit dem Thema der Abformungen asiatischer Kriegsgefangener zu befassen. Begers Mitarbeiter, der promovierte Anthropologe Rudolf Trojan, schrieb ihm beispielsweise am 23.6.1944: 708  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Gabel vom 25.7.1960, S. 50.



VI. Bruno Beger197

Abb. 20: Ernst Schäfer (links) beim Aufbau eines Dioramas. (Foto: Archiv Haus der Natur in Salzburg) „Eine Abformung ist die Erfassung einer Stellung. Sie kann ja gar nichts anderes sein. Sie eignet sich also niemals zur Darstellung von Typen und Formen in einem Diorama. Sie entbehrt des Lebens. Sie ist Schauobjekt, geeignet die Form drei­ dimensional vorzuführen. An ihr noch zu studieren ist unmöglich.“709

Dieses Beispiel zeigt, auf welche Weise Anthropologen in jener Zeit die Vor- und Nachteile von Abformungen sahen. Beger hatte erkannt, dass seine Forschungen nicht nur im akademischen Bereich und bei den Trägern der nationalsozialistischen Ideologie auf Interesse stießen, sondern auch – in abgewandelter Form – in der breiten Bevölkerung. Daher benötigte er nicht nur für beide Zielgruppen Abformungen von Menschen auf dem von ihm vermuteten Wanderungsweg von Tibet nach Europa, sondern zur anthropologischen Beweisführung seiner These auch die Schädel einiger der abgeformten Menschen. Der Kern von Begers These – und damit auch die wichtigste Region für Abformungen und Schädel – war der Kaukasus. Daher reichte Beger am 1.3.1941 beim Ahnenerbe eine 15-seitige Denkschrift für eine eigene Kaukasus-Expedition unter seiner Leitung ein.710 709  BArch

R 135 / 44, Schreiben von Trojan an Beger vom 23.6.1944. R 135 / 66, Denkschrift von Beger; vgl. HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger. 710  BArch

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Diese enthielt bis hin zu verschiedenen Reiserouten alles, was zur Planung einer solchen Expedition notwendig war, und firmierte unter dem von Beger verfolgten Leitgedanken „Die nordische Rasse (‚Indogermanen‘) in Asien“. Beger betonte, dass es sich um eine Expedition mit anthropologischem Schwerpunkt handeln sollte. Die sechs Expeditionsteilnehmer sollten zwar verschiedene Fachrichtungen haben. Allerdings wurde die Beherrschung eines Faches von allen Teilnehmern erwartet: der Anthropologie. Das wissenschaftliche Programm bildete das wissenschaftliche Interesse Begers ab: „Landschaft und Urheimat der innerasiatischen, bezw. vorderasiatischen Rasse […] Wechselbeziehungen zwischen Indogermanen und Innerasiaten […] Ausbreitung der Innerasiaten, bezw. Vorderasiaten […] Zeugnisse zur Auflösung indogermanischer Weltanschauung durch Rassevermischung […] Welche Ursachen können zu Erbänderungen von Teilen der innerasiatischen, bezw. vorderasiatischen Rasse geführt haben? […] Die leibliche Gestalt der Indogermanen Innerasiens, bezw. Vorderasiens.“ Von 27 Forschungsprogrammpunkten standen 22 in einem direkten Zusammenhang mit der anthropologischen Erforschung von Inner- und Vorderasiaten: „Die Denkschrift war […] Begers persönlicher Versuch, bereits 1941 an Einfluss und Bedeutung in der Forschungsstätte und darüber hinaus im Ahnenerbe zu gewinnen. Rassekundliche Forschungen hatten Konjunktur, auch wenn die Forschungsreise Begers nicht stattfand.“711 Das Vorhaben, eine eigene Expedition ohne seinen Vorgesetzten Schäfer zu lancieren, ist eine von zahlreichen dokumentierten Aktivitäten des ehrgeizigen Bruno Beger, den Aufbau einer eigenen Ahnenerbe-Forschungsstätte für Anthropologie oder Asienwissenschaften zu forcieren. Dies war aus seiner Sicht schlüssig: Schäfer war Ornithologe und nur bedingt Asien-Experte. Nach dem Kriege und vor der Einleitung des Ermittlungsverfahrens gegen ihn bestätigte Beger, dass der Aufbau einer Forschungsstätte für Rassekunde unter seiner Leitung geplant gewesen sei,712 Dabei ist zu beachten, dass Sievers von seinen Forschungsstättenleitern in der Regel die Habilitation erwartete. Begers Projekt und das Verbrechen der Straßburger Schädelsammlung müssen auch in diesem Kontext beleuchtet werden. 3. Krieger Beger und „Rassen im Kampf“ Da Beger einzig und ausdrücklich zur Auswertung der anthropologischen Untersuchungen in Tibet vom Wehrdienst freigestellt war, musste Sievers Begers Wunsch nach Frontverwendung nun entsprechen.713 Dies geschah, 711  Mierau,

Expeditionen, S. 464. ZS A 0025 01-32 Sammlung Michael H. Kater („Ahnenerbe“), Gedächtnisprotokoll des Gespräches von Kater mit Beger vom 17.4.1964, S. 15. 713  Kater, Ahnenerbe, S. 208. 712  IfZ



VI. Bruno Beger199

obwohl Schäfer Beger auf eine Norwegenexpedition mitnehmen wollte und Sievers daher am 30.4.1940 brieflich bat, die Einberufung Begers zurückzustellen.714 Doch Beger plante, zunächst für einen anderen Auftrag nach Norwegen zu reisen: Im Auftrag des RuSHA unterstützte er Hans Holfelder715 bei der Anfertigung röntgenologischer Reihenuntersuchungen der norwegischen Bevölkerung. Dabei machte er sich mit Holfelders Methode röntgenologischer anthropologischer Untersuchungen vertraut, die zur Anfertigung einer Rassenkarte Europas beitragen sollten.716 Diese Erfahrung in der Bedienung von Röntgengeräten kam Beger später bei dem Verbrechen der Schädelsammlung zugute. Holfelders SS-Röntgensturmbann hatte bereits zum Reichsparteitag der NSDAP 1930 röntgenologische Reihenuntersuchungen durchgeführt, um Tuberkulose-Erkrankte zu identifizieren und einer Heilung zuführen zu können. Bis 1944 wurden mehrere Millionen Menschen von Holfelders Truppe untersucht. Holfelder hatte Anfang der vierziger Jahre ein Verfahren entwickelt, auf röntgenologischem Wege anthropologische Untersuchungen ergänzend zur äußerlichen Vermessung durchzuführen. Hieran ist bemerkenswert, dass es nicht der höherrangige SS-Standartenführer Professor Dr. Holfelder war, der den Antrag stellte, das gesamte norwegische Volk binnen eines Jahres röntgenologisch-anthropologisch zu vermessen: Beger unterbreitete diesen Vorschlag Himmler unmittelbar und erst anschließend auch dem RuSHA.717 Dies ist ein abermaliges Indiz, welche Stellung der Rassekundler Beger innerhalb der SS inne hatte und wie unmittelbar seine Verbindung zu Himmler war. Schließlich zeigt diese Begebenheit deutlich, dass Beger seine Karriere nicht nur über das Ahnenerbe vorantrieb: Sofern sich eine Gelegenheit bot, nutzte er die Möglichkeiten des RuSHA und seinen unmittelbaren Kontakt zu Himmler. Die Arbeiten in Norwegen meldete Beger am 14.6.1941 bei Sievers fernmündlich als beendet und stellte einen Bericht in Aussicht.718 Anschließend fasste er seine Beobachtungen 714  BArch

NS 21 / 238, Schreiben von Schäfer an Sievers vom 30.4.1940. Holfelder (geb. 22.4.1891 in Nöschenrode, gest. 15.12.1944 bei Budapest), letzter Rang: SS-Oberführer. Medizinstudium, 1914 Militärarzt, 1916 Examen, 1917 Promotion, 1919 Arzt an der Universitätsklinik Halle an der Saale, Wechsel nach Frankfurt am Main, 1922 Oberarzt, 1923 Habilitation im Bereich Chirurgie und Röntgenologie, 1926 außerordentlicher und 1929 ordentlicher Professor in Frankfurt, 1931 Präsident der Deutschen Röntgengesellschaft, 1933 Eintritt in die NSDAP und SS, 1933 bis 1942 Dekan im Bereich Medizin der Universität Frankfurt am Main,1937 einstimmig zum Ehrenmitglied der Royal Society gewählt, weitere Ehrungen im Inund Ausland, 1943 Wechsel an die Reichsuniversität Posen, Leiter des von ihm initiierten Röntgensturmbanns der Waffen-SS im SS-FHA, als dessen Kommandeur Tod nahe Budapest (u. a. nach: Ebbinghaus, Erschließungsband Ärzteprozeß, S. 106 f.). 716  BArch R 135 / 52, Schreiben von Beger an Himmler vom 30.6.1941. 717  Mierau, Expeditionen, S. 466. 718  BArch NS 21 / 127 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 14.6.1941. 715  Hans

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und einen Vorschlag zur vollständigen rassischen Erfassung der Bevölkerung Norwegens zusammen und sandte diesen am 30.6.1941 – wie in anderen Fällen auch – unter Umgehung seines Vorgesetzten Sievers an Himmler.719 Die in Norwegen gewonnenen anthropologischen Erkenntnisse bildeten geographisch das andere Ende der von ihm vermuteten Wanderungsbewegung der europäischen Rasse von Tibet bis nach Nordeuropa. Das Projekt, eine Rassenkarte zu erstellen, mit der die Wanderungsbewegungen der Indogermanen vom Kaukasus bis Europa und Deutschland abgebildet werden sollte, beschäftigte Beger bereits seit Anfang 1942.720 Das Konzept der Rassenkarte kannte er, wie oben gezeigt, bereits aus dem RuSHA. Die röntgenologischen Untersuchungen sollten allerdings nur ein Element dieses umfassenden Vorhabens sein. Zahlreiche seiner dann folgenden Aktivitäten sind als Teile dieses langfristigen Vorhabens zu betrachten, wie unten noch näher gezeigt wird. Darunter sind die Rasseerhebungen in Rumänien,721 aber auch rassekundliche Spiegelaufnahmen und „Erfassung der Typen mit griechischem Profil“ zu nennen.722 Da Beger vom RuSHA nach Norwegen kommandiert worden war, stand er zu diesem Zeitpunkt zweifelsfrei nicht in den Diensten des Ahnenerbes.723 Vor diesem Einsatz war ihm jedoch von Sievers in Aussicht gestellt worden, anschließend zur Waffen-SS überstellt zu werden.724 Denn Beger wollte an die Front, jedoch weniger, weil ihn der unmittelbare Kampfeinsatz lockte. Der wahre Hintergrund war das Projekt „Rassen im Kampf“. Dieses Projekt stammte nicht von Beger, sondern von seinem akademischen Mentor Professor Dr. Ludwig Ferdinand Clauß.725 Dieser war, weil er das Beschäftigungs719  BArch

R 135 / 52, Schreiben von Beger an Himmler vom 30.6.1941. T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 3.2.1942: „Bericht SS-O’Stuf. Dr. Beger über Rassenerhebung u. Überwachung und Steuerung der Rassenbewegung in Deutschland und Europa.“ 721  Ebd., Eintrag vom 5.3.1942. 722  Ebd., Eintrag vom 12.6.1942. 723  BArch NS 21 / 238, Schreiben vom RuSHA an Beger vom 20.5.1941. 724  BArch NS 21 / 127 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 19.5.1941. 725  Ludwig Ferdinand Clauß (geb. 8.2.1892 in Offenburg / Baden, gest. 13.1.1974 in Huppert im Taunus), Wehrdienst bei der Marine, Weltkriegsfreiwilliger, Studium der Philosophie, Psychologie und Philologie, 1921 Promotion, abgebrochene Habilitation, Tätigkeit als Arbeiter und Matrose, 1927 Reise in den Nahen Osten mit Margarethe Landé, Übertritt zum Islam, 1933 Eintritt in die NSDAP, 1935 Habilitation, Dozentur in Berlin, vorgesehen für eine Rassekunde-Professur in Posen, nach einer Denunziation durch seine zweite Frau wurde ihm ein Verhältnis mit seiner jüdischen Mitarbeiterin Landé unterstellt, was zu einem Parteiausschluss und der Entlassung von der Universität führte. Danach Einberufung zur Standarte „Kurt Eggers“ und Projekte in Kooperation mit Beger. Nach dem Krieg für die DFG Forschungsreisen in den Nahen Osten. 720  NARA



VI. Bruno Beger201

verhältnis seiner jüdischen Mitarbeiterin Margarethe Landé lange Jahre fortgeführt hatte, aus der NSDAP und ihren Gliederungen ausgeschlossen worden. Daraufhin verlor er seine Arbeitsstelle an der Berliner Universität.726 Beger intervenierte und konnte mit dafür sorgen, dass Landé aus der Haft entlassen wurde727 Ebenso versuchte er in der Folgezeit auf verschiedenen Wegen Clauß innerhalb des Ahnenerbes zu beschäftigen. Hierzu gehörte auch, dass er eine Forschungsbeihilfe für Clauß bei Sievers beantragte.728 Um hierfür eine attraktive Option anbieten zu können, machte sich Beger zu diesem Zweck das Projekt „Rassen im Kampf“ zu eigen.729 Die Waffen-SS verfügte über eine eigene Kriegsberichterstatter- und Propaganda-Einheit, die Standarte „Kurt Eggers“. Dort dienten unter dem Chefredakteur des SS-Magazins „Das Schwarze Korps“ Gunther d’Alquen730 unter anderem der spätere „Stern“-Herausgeber Henri Nannen731 und Paul Karl Schmidt.732 Der SS-Obersturmführer und Schütze der Waffen-SS 726  Nach § 3 des Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre (RGBl. I S. 1146) hätte Clauß Landé nicht in seinem Haushalt beschäftigen dürfen, da diese zum fraglichen Zeitpunkt nicht die vom Gesetz vorgesehenen 45 Lebensjahre vollendet hatte. 727  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34171 Prozessakte Beger, Urteil vom 6.4.1971, S. 9. 728  BArch R 135 / 52, Schreiben von Beger an Sievers vom 10.1.1944. 729  Im Beger-Prozess wurde es dem Rasseforscher Beger strafmildernd angerechnet, sich für Clauß und Landé eingesetzt zu haben. 730  Hein, Elite, S. 111: Himmler und der Chef des SS-Amtes, Wittje, warben den 1910 geborenen, 1927 in die NSDAP eingetretenen und als Redakteur der Parteizeitung „Völkischer Beobachter“ arbeitenden d’Alquen Ende 1934, Anfang 1935 ab. Dies gelang, da d’Alquen mit der regierungsoffiziösen Seite des „Völkischen Beobachters“ unzufrieden war und mit der SS-Zeitung „Das Schwarze Korps“ mit viel Freiraum sich nicht nur als SS-Zeitschrift etablieren konnte, sondern durchaus regierungskritische Artikel platzierte. Mit einer Auflage von bis zu 750.000 Exemplaren war „Das Schwarze Korps“ die Zeitung mit der zweitgrößten Auflage im Reich. Chefredakteur d’Alquen wurde bei Kriegsausbruch Kriegsberichterstatter und wechselte dann von der Chefredaktion in die Herausgeberposition, so dass er hauptamtlich die SS-Kriegsberichter-Standarte führen konnte. 731  Henri Nannen (geb. 25.12.1913 in Emden, gest. 13.10.1996 in Hannover), Buchhändlerlehre, 1934 bis 1938 Studium der Kunstgeschichte, Mitarbeit beim NSDAP-nahen Bruckmann-Verlag in München, Sprecher in Leni Riefenstahls OlympiaFilm, seit Kriegsausbruch zunächst Kriegsberichterstatter der Luftwaffe, später als Angehöriger der Waffen-SS in der SS-Standarte „Kurt Eggers“. Nach dem Kriege Herausgeber und Verleger erfolgreicher Zeitungen und Magazine, Stifter des „EgonErwin-Kisch-Preises“, später in „Henri-Nannen-Preis“ umbenannt. Kunstsammler und Stifter der Exponate der Kunsthalle Emden. 732  Paul Carell alias Paul Karl Schmidt (geb. 2.11.1911 in Kelbra, gest. 20.6.1997 in Rottach-Egern), 1931 als Schüler Eintritt in die NSDAP und SA, 1935 komm. Gaustudentenführer in Schleswig-Holstein, 1936 Promotion in Indogermanologie, 1936 Pressechef der Dienststelle Ribbentrop im Auswärtigen Amt, 1938 Eintritt in die

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Dr. Bruno Beger leistete seit dem 23.3.1941 Kriegsdienst in der Ersatzkompanie der SS-Kriegsberichter-Standarte „Kurt Eggers“.733 Er schrieb am 9.9.1941 an Sievers, dass er wieder in Berlin sei, weil er ein Fahrzeug für die Vorbereitung des Projektes „Rassen im Kampf“ benötige und sich andernfalls zu einer Schützenkompanie der Waffen-SS melde.734 Zu diesem Zeitpunkt war Beger bereits als Kriegsberichterstatter der SS-Division Wiking zugeteilt und im Einsatz unter anderem in der Ukraine beim Vormarsch auf Dnjepropetrowsk. Dabei machte er bereits Beobachtungen für das Projekt „Rassen im Kampf“, das er mangels Ausstattung und Auftrag durch die SS nicht so beginnen konnte, wie es ihm vorschwebte.735 Es ist zu vermuten, dass Beger vor seiner Einberufung seine Dissertation abgab. Diese hatte er nach eigenen Angaben bereits vor der Tibet-Expedition fertiggestellt. Nach der Rückkehr aus der Ukraine bereitete er sich in Berlin auf die Disputation vor.736 Sievers hätte in Kenntnis der Erwartungshaltung Himmlers bezüglich einer abgeschlossenen Promotion Begers andernfalls kaum sein Einverständnis zum Fronteinsatz gegeben.737 Die Arbeit wurde nach bestandenem Promotionsverfahren im Februar 1942 veröffentlicht.738 Beger trug jedoch bereits im September 1941 den Doktortitel.739 Es gibt einige Anhaltspunkte, dass er bereits Ende 1940 promoviert wurde.740 Hierbei handelte es sich jedoch nicht um den oft in der Literatur genannten Abschluss des Dr. phil., sondern ausweislich seines Reisepasses um einen

SS, 1940 Pressechef Auswärtiges Amt und Gesandter I. Klasse, 1941 Ministerialdirektor, durch tägliche Pressekonferenzen erheblicher Einfluss auf die Propaganda des Regimes, Rechtfertigung der Deportationen, Propagierung eines Europa unter NSFührung. Nach 1945 Autor für verschiedene bekannte Zeitungen und Magazine, u. a. für den „Spiegel“. Wahrscheinlich Mitarbeit beim BND, Autor erfolgreicher, tendenziell apologetischer Bücher wie „Unternehmen Barbarossa“ oder „Verbrannte Erde“. Bereits vor 1970 Mitarbeit bei Unternehmen Axel Springers, später persönlicher Berater und Sicherheitschef bis zu dessen Tod 1985. 733  BArch NS 21 / 11 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 4.4.1944. 734  BArch DS G 113 Personalakte Sievers, Schreiben von Dr. (!) Beger an Sievers vom 9.9.1941. 735  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34152 Prozessakte Beger, Lebenslauf Beger o. Dat., S. 1342. 736  Ebd., S. 1341. 737  BArch, BDC, DS, G0113 Aktenvermerk Ullmann o. Dat. (unleserlich). 738  Sie lautete: Die Bevölkerung der altmärkischen Wische. Eine rassenkundliche Untersuchung. 1941. 218 Bl., Math.-naturwiss. Fakultät, Dissertation vom 24. Februar 1941. 739  BArch DS G 113 Personalakte Sievers, Schreiben von Beger an Sievers vom 9.9.1941. 740  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968.



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Dr. rer. nat.-Grad.741 Mit Schreiben vom 23.10.1941 beantragte Sievers – Schäfers Wunsch entsprechend – beim Persönlichen Stab die Rückkommandierung Begers von der Front zum Ahnenerbe, um weiter am TibetMaterial zu arbeiten.742 Bereits am 3.12.1941 bat Schäfer Sievers für den mittlerweile zurückgekehrten Beger um eine Gehaltserhöhung, da dieser aufgrund der bevorstehenden Geburt seines vierten Kindes mittlerweile alle Rücklagen aufgebraucht habe.743 In der Forschungsstätte Innerasien und Expeditionen nahm Beger Anfang Dezember,744 spätestens aber am 11.12.1941 seinen Dienst auf.745 Es gelang Beger erst Ende 1943, die Beauftragung Clauß’ mit dem Projekt „Rassen im Kampf“ durch Himmler zu erreichen. Dabei handelte es sich nicht nur darum, wie Beger festhielt, „für Clauß die Rehabilitation durchzusetzen“, aber eben doch auch darum.746 Beger diktierte in einer Vernehmung durch den Frankfurter Untersuchungsrichter Dr. Heinz Düx am 14.12.1961 den Wesen des Unternehmens wie folgt: „Es handelte sich bei diesem Sonderauftrag um eine ganz neue Aufgabe psyichologischer [sic!] Forschung, die ich aufgezogen hatte einmal um Prof. Clausz und seine Mitarbeiterin zu retten und bei der Leitlinien für die Truppe entworfen werden sollten für den Umgang mit dem jeweiligen andersvölkischen Feind. Aufgrund meiner Eindrücke in Rußland hatte ich selbst den Vorschlag gemacht, Leitlinien zu entwerfen, nach denen man die Truppe ausrichten konnte im Umgang mit dem Feind.“747

Beger schrieb am 16.11.1943 – wieder einmal unter Umgehung des Dienstweges – unmittelbar an Himmlers Persönlichen Referenten Brandt: „Obersturmbannführer! Inzwischen habe ich zu meiner größten Freude erfahren, dass der Reichsführer-SS dem Rassenforscher Clauß die Möglichkeit geben will, die Forschungsaufgabe ‚Rassen im Kampf‘ an der Front anzupacken. Ich schrieb daraufhin an SS-Standartenführer Sievers den in Abschrift beigefügten Brief, der den Vorschlag zur Errichtung einer wehrwissenschaftlichen Forschungsabteilung für Rassen- und Volkstumsfragen enthält. Nur in einem solchen Rahmen können m. E. die in diesem Schreiben als vordringlich aufgeführten Forschungsaufgaben gründlich und erfolg741  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Vernehmung Beger vom 31.3.1960. 742  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34164 Prozessakte Beger, S. 9. 743  Ebd., S. 10. 744  Ebd., S. 10, Schreiben von Schäfer an Sievers vom 3.12.1941. 745  BArch NS 21 / 238, Schreiben von Sievers an Persönlichen Stab vom 12.12.1941. 746  BArch R 135 / 44, Schreiben von Beger an Schäfer vom 29.8.1944. 747  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Beger vom 11.10.1961, S.  111 ff.

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reich in Angriff genommen werden. […] Da es sich hier im Wesentlichen um meine eigene Idee handelt und da mich diese Dinge schon seit Jahren beschäftigt haben, möchte ich mit der Sache unter allen Umständen engstens verbunden bleiben, bezw. die Möglichkeit zu einer wissenschaftlichen Steuerung besitzen. Da ich andererseits mit Leib und Seele zu unserer hiesigen Forscherkameradschaft gehöre, wäre es mir am liebsten, wenn sich die Sache so machen ließe, dass ich als Ab­ teilungsleiter der Forschungsstätte für Innerasien im ‚Ahnenerbe‘ mit dem R.u.S. Hauptamt-SS innigst zusammenarbeite. Ich würde, falls der Reichsführer-SS die Durchführung dieser Forschungen im Rahmen des R.u.S. Hauptamtes-SS wünscht, sogar bereit sein, die dafür dort errichtete Abteilung ehrenamtlich zu übernehmen.“748

Das Schreiben unterstreicht nicht nur die Häufigkeit von Begers Anfragen, die er unmittelbar an die Reichsführung der SS richtete, sondern zeigt, mit welcher Vehemenz Beger die Schaffung einer eigenen Abteilung anstrebte und versuchte, eine eigene Forschungsstätte im Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung oder im Ahnenerbe für den Bereich Rassenforschung zu erhalten. Doch bei allen Versuchen Begers, ein Institut zu begründen, war nie von Forschungen an Juden die Rede. Sievers gratulierte Beger nach der Auftragserteilung zu dem Erfolg, Himmler veranlasst zu haben, das bereits 1941 eingereichte Projekt nun realisieren zu können:749 „Lieber Kamerad Beger ! Dass der Reichsführer-SS Ihren alten Plan über Rassen im Kampf von sich aus wieder aufgegriffen und gerade Professor Clauß mit seiner Ausführung beauftragt hat, finde ich sehr erfreulich und ich kann Sie zu diesem Erfolg nur beglückwünschen. Prof. Clauß ist bestimmt die richtige Persönlichkeit dafür, soweit es die wissenschaftliche Durchführung angeht. Um auch die praktische Durchführung zu sichern, wäre es doch wohl möglich, dass Sie eine Zeitlang mit Prof. Clauß zusammenarbeiten.“750

Doch bereits zuvor hatte Ernst Schäfer Zweifel an dem Sinn und Zweck dieses Projektes. Er schrieb am 22.9.1941 an Sievers: „Ich hatte während meines Berliner Aufenthaltes eine längere Unterredung mit SSObersturmführer Beger und konnte ihn von der Wichtigkeit unserer Zusammenarbeit wieder völlig überzeugen. Er selbst schien auch den Wunsch zu haben, nun möglichst bald wieder an seine Tibet-Arbeiten herangehen zu können. […] Was die Beger’schen Arbeiten ‚Rassen im Kampf‘ betrifft, so möchte er diese gerne von einem oder mehreren anderen Anthropologen weiter betreiben lassen. Er brachte dabei wieder seinen Freund Klaus in Vorschlag, doch erklärte ich ihm, dass ich in dieser Angelegenheit nichts tun könne. Als zweiten Mann aber hat er einen jungen Anthropologen im Rasse- und Siedlungsamt, den man dafür ansetzen könnte. Beger hält seine ‚Rassen im Kampf‘ (sicherlich eine Klaus’sche Idee) für sehr wichtig, damit in späteren Kriegen eine bessere Auswahl der einzelnen Kämpfertypen ge748  Ebd.,

Beger an Brandt vom 16.11.1943, S. 191. R 135 / 52, Schreiben von Sievers an Beger vom 23.11.1943.

749  BArch 750  Ebd.



VI. Bruno Beger205 schaffen wird, d. h. mit nüchternen Worten und für jedermann mit gesundem Menschenverstand, der etwas von Rassenkunde versteht, etwa folgendes: für Pionierund Sturmangriffe wird sich eine nordisch-dinarische Mischung am besten eignen, während sich für Artillerie eine fälische bzw. fälisch- ostische Mischung empfehlen wird. Mehr kann meiner Meinung nach bei diesen Untersuchungen nicht herauskommen, nur dass die Sache dann zahlenmässig und statistisch belegt wird. Da eine Auswertung dieser Forschungsaufgaben für diesen Krieg wohl kaum mehr in Frage kommt, wenn sie überhaupt je zweckmässig sein werden, steht Beger besser auf seinem Posten innerhalb der Forschungsstätte, wo er hochwichtige Aufgaben zu leisten hat, die kein anderer kann.“751

Beger setzte sich trotz der Bedenken seines Vorgesetzten persönlich bei Himmler ein, der dem Vorhaben dann später zustimmte. Bei über einer halben Million SS-Angehöriger zu jener Zeit spricht diese unmittelbare Verbindung eines Hauptsturmführers zum SS-Chef für Begers Stellenwert bei Himmler, belegt aber auch abermals dessen unmittelbare Zugangsmöglichkeit zum Reichsführer-SS. Himmler schrieb auf Begers Intervention hin am 1.9.1943 an Martin Bormann. Hitler als Vorsitzender der NSDAP wurde im Tagesgeschäft von Bormann als Leiter der Parteikanzlei vertreten. Da die SS eine Gliederung der NSDAP war, konnte sich auch der mächtige Himmler offenbar nicht einfach über das Ergebnis eines Parteiausschlussverfahrens hinwegsetzen und den Ausgeschlossenen in der SS beschäftigen. Daher ersuchte er Bormann um dessen Erlaubnis, Clauß für das „Rassen im Kampf“Projekt einsetzen zu dürfen. Dem stimmte Bormann zu, so dass Begers Einfluss Clauß wieder in eine wissenschaftliche Beschäftigung brachte.752 Die praktische Umsetzung des Projektes erfolgte nach der Vorbereitung durch Clauß selbst jedoch erst ab 1944.753 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich Bruno Beger seit der Rückkehr aus Tibet im August 1939 – mit Ausnahme des Abschlusses seiner 1936 begonnenen Dissertation zu niederländischstämmigen Bevölkerungsgruppen in der Altmark – bis April 1941 ausschließlich mit der anthropologischen Erforschung von jenen Völkerschaften befasst hatte, die nach seiner Meinung auf dem Wanderungsweg der Indogermanen von Tibet nach Nordeuropa lagen. Auch sämtliche Tätigkeiten Begers nach diesem Zeitpunkt hatten keine andere Zielrichtung, wie unten näher gezeigt wird.

751  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34164 Prozessakte Beger, Schreiben von Schäfer an Sievers vom 22.9.1941, S. 7. 752  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34169 Prozessakte Beger, S. 357. 753  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34171 Prozessakte Beger, Urteil vom 6.4.1971, S. 9.

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4. Der Rassenexperte der SS Beger galt mittlerweile als der Rassenexperte des Ahnenerbes – aber auch der SS. Nachdem Himmler die steinzeitlichen „Venusfiguren“ von Wisternitz und von Willendorf gesehen hatte, vermutete er einen Zusammenhang zwischen der steinzeitlichen Bevölkerung der Wachau im heutigen Österreich, wo im Jahre 1908 die sogenannte Venus von Willendorf gefunden worden war, und „einigen Stämmen wilder Völker“ in Afrika, wie den Hottentotten.754 Er ersuchte das Ahnenerbe, den Zusammenhang anhand des bei Vertreterinnen beider Gruppen von ihm als gleichartig interpretierten „Fettsteißes“ nachzuweisen.755 Diesen Auftrag nahm Sievers am 23.9.1941 entgegen und gab ihn zunächst an den Ahnenerbe-Abteilungsleiter Professor Dr. Viktor Christian756 weiter.757 Dieser blieb jedoch zurückhaltend. Im Dezember 1941 zog Sievers daher Beger hinzu und gab ihm auf, bei diesem Projekt mit Schäfer, Professor Dr. Altheim und den Ahnenerbe-Abteilungsleitern zusammenzuarbeiten.758 Am 16.3.1942 stellte Sievers im Einvernehmen mit Wüst einen Forschungsauftrag zu der offenen Fragestellung zusammen.759 Grundlage war ein „Gutachten“, das Beger am 2.1.1942 angefertigt hatte. Während die meisten Ahnenerbe-Wissenschaftler – nachvollziehbar – zurückhaltend geblieben waren, „bewies“ Rassenexperte Beger als einziger der zahlreichen mit dieser Frage befassen Ahnenerbe-Mitarbeiter in diesem Gutachten die stammesgeschichtliche Verwandtschaft zwischen den seiner Meinung nach rassisch minderwertigen Hottentotten und den Juden.760 Es muss offen blei754  Unter dem heute als rassistisch-abwertend verstandenen Sammelbegriff Hottentotten bezeichneten die Buren in der Kolonialzeit die Völkerfamilie der Khoi Khoi. Zu dieser im heutigen Südafrika und im heutigen Namibia lebenden Volksgruppe gehörten die Korana, die Nama und die Griqua. 755  BArch R 135 / 52, Gutachten von Beger vom 2.1.1942; vgl. Kater, Ahnenerbe, S. 207. 756  Viktor Christian (geb. 30.3.1885 in Wien, gest. 28.5.1963), Studium Geschichte in Wien mit Schwerpunkt Vorderer Orient, Promotion über assyrische Keilschriftzeichen, 1922 Habilitation, 1923 Privatdozent für semitische Sprachen, 1930 ordentlicher Universitätsprofessor für semitische Sprachen und orientalische Archäologie, 1934 einstweiliger Ruhestand wegen Beteiligung am Dollfuß-Putsch, 1938 nach dem Anschluss Eintritt in die NSDAP (Nr. 6.127.801) und Eintritt in die SS als Anwärter, 1938 Vorschlag von Christian an Wüst zur Errichtung einer Ahnenerbe-Forschungsstätte für den Vorderen Orient, Eröffnung 1939, 6.3.1940 Beförderung des Staffel-Scharführers ohne SS-Mitgliedsnummer zum Obersturmführer, 1941 Hauptsturmführer, 1943 Sturmbannführer (vgl. BArch SSO 128 Personalakte Christian unter Berücksichtigung der Online-Chronologie von Gerd Simon, Universität Tübingen, 2006). 757  BArch NS 21 / 127 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 23.9.1941. 758  Ebd., Eintrag vom 29.12.1941. 759  NARA T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 16.3.1942. 760  Kater, Ahnenerbe, S. 208.



VI. Bruno Beger207

ben, ob Beger tatsächlich glaubte, was er als wissenschaftliche Erkenntnis verkündete, oder ob er der wachsenden Gruppe jener angehörte, die verstanden hatten, dass die Bestätigung von Himmlers teilweise skurrilem Weltbild karrierefördernd war. Denn das Interesse von Himmler an der Beantwortung dieser Frage war sehr groß: Mehrfach erkundigte er sich bei Sievers nach den Ergebnissen der Untersuchungen.761 Bei diesem Gutachten handelte es sich – mit Ausnahme der Vermessung der 86 Opfer in Auschwitz – um die einzige nachweisbare rassekundliche Befassung des Anthropologen Beger mit Juden. Daher wird es in der jüngeren Literatur gelegentlich in einen Zusammenhang mit den Auswahlvorgängen in Auschwitz gerückt.762 Die Karriere von Beger wurde tatsächlich gefördert. Am Nachmittag des 10.12.1941 erschien Wolfram Sievers an Begers Arbeitsplatz in der Außenstelle Süd-Ost des Ahnenerbes in der Widenmayrstraße 35 in München.763 Am Folgetag begann Begers Dienst im Ahnenerbe nach der Rückkehr vom Fronteinsatz als Kriegsberichterstatter.764 Deshalb musste Sievers nun eine Aufgabe für den zurückgekehrten Beger finden. Dieser fasste die Begegnung in seinem Diensttagebuch wie folgt zusammen: „SS-O’Stuf. Dr. Beger: Besprechung eines Vorschlags zur Beschaffung von Judenschädeln zur anthropologischen Untersuchung. Zusammenarbeit mit SS-U’Stuf. Prof. Dr. Hirt, Straßburg. Zusammenarbeit mit R.u.S.-Hauptamt-SS. Bericht über Arbeitsbesprechung Beger / Schäfer in München. Genehmigte Einstellung einer Mitarbeiterin.“765

In der Literatur wird dieser Diensttagebucheintrag in der Regel unkritisch als Beweis für die These zitiert, dass August Hirt den Vorschlag zu einer Jüdischen Schädelsammlung machte und Beger aufgefordert wurde, ihn dabei anthropologisch zu unterstützen. Bei hinreichender Beschäftigung mit Wortwahl und Grammatik der Diensttagebücher Sievers’ ist unschwer zu erkennen, was tatsächlich geschehen war: Sievers erschien in Begers Dienststelle in der Widenmayrstraße 35 in München. Beger kündigte an, einen Antrag auf Beschaffung von „Judenschädel[n]“ zu anthropologischen Untersuchungen stellen zu wollen. Entweder hat dann Sievers empfohlen, dabei das Rasse- und Siedlungshauptamt hinzuzuziehen, oder Beger hat dies zur Bekräftigung als ehemaliger Mitarbeiter des RuSHA vorgebracht. Ähnlich verhält es sich mit Hirt, den Sievers erstmals zwei Wochen zuvor kennenge761  BArch

NS 21 / 127 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 28.10.1941. Nummern, S. 109 f. 763  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussageergänzung Beger vom 18.12.1961, S. 125 ff. 764  BArch NS 21 / 238, Schreiben von Sievers an Persönlichen Stab vom 12.12. 1941. 765  BArch NS 21 / 127 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 10.12.1941. 762  Lang,

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lernt hatte. Beger hatte bis dahin wahrscheinlich nie einen persönlichen oder wissenschaftlichen Kontakt zu Hirt. Beger und Sievers muss jedoch klar gewesen sein, dass zwischen dem Kopf einer Leiche und dem Erhalt des Schädelskeletts die Mazeration und die Entfettung stehen, also ausgebildete Präparatoren benötigt werden. Ohne die Klärung einer solchen Frage wäre jeder Antrag Begers unsinnig gewesen. Präparatoren sind in aller Regel in Universitätsanatomien zu finden. Vielleicht ging Sievers davon aus, dass Hirt der einzige Anatom sei, der auch SS-Mitglied war. Zudem hatte Hirt kurz zuvor Interesse an den Forschungsmitteln des Ahnenerbes gezeigt, was ihn empfänglich für Wünsche von dessen Reichsgeschäftsführer gemacht haben könnte. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Sievers, der Hirt kurz zuvor kennengelernt hatte und plante, ihn ins Ahnenerbe einzubinden, diesen Hinweis gab. Dafür spricht insbesondere die Tatsache, dass sich Himmler Sievers’ Tagebücher regelmäßig vorlegen ließ und Sievers die Expansion des Ahnenerbes auf dem Feld der Medizin zu dieser Zeit zahlreich im Diensttagebuch zu belegen trachtete – und er so seine Netzwerkfähigkeiten unterstreichen wollte. Vor allem das über viele Jahre im Diensttagebuch dokumentierte Bemühen Sievers, die Wissenschaftlichkeit des Ahnenerbes durch Einbindung in Hochschulaktivitäten zu unterstreichen, dürfte ein Grund gewesen sein, Hirt zu erwähnen. Es ist jedoch auch zahlreich belegt, dass Sievers bestehende universitäre Forschungseinrichtungen mit finanziellen Mitteln zur Kooperation mit dem Ahnenerbe bringen wollte, wie beispielsweise geschehen beim Tropenmedizinischen Institut in Hamburg oder bei Hirts Anatomie in Straßburg. Hätten also Beger und Sievers die Möglichkeit gehabt, ihrem Reichsführer zu dokumentieren, dass sich abermals eine Universität des ­Ahnenerbes bedient, um wissenschaftliche Projekte – insbesondere auf dem Gebiet der Rassenkunde – umzusetzen, hätte Sievers dies für Himmlers Augen im Diensttagebuch festgehalten. Dass dort eine Schädelsammlung für die Reichsuniversität Straßburg nirgendwo erwähnt, hingegen aber ein Vorschlag Begers zur Beschaffung von Judenschädeln dokumentiert ist, zeigt, dass der Vorschlag nicht von Hirt kam, mit dem bei diesem Vorhaben unter Umständen kooperiert werden sollte. Die Gesamtschau der Diensttagebücher von Sievers belegt, dass dieser stets für den Tagebuchleser Himmler ausdrücklich jede mögliche Zusammenarbeit des Ahnenerbes mit einer Hochschule ausführlich vermerkte und erläuterte. In diesem Falle findet sich kein Hinweis auf die Universität Straßburg. Auch die Einbeziehung des Rasse- und Siedlungshauptamtes, das weder Skelette beschaffen noch herstellen konnte, wäre unsinnig gewesen, wenn der Vorschlag von Hirt gemacht worden wäre. Dabei ist zu bedenken, dass das RuSHA keinerlei unmittelbaren Zugriff auf Häftlinge in Konzentrationslagern und noch weniger auf die Kriegsgefangenen der Wehrmacht besaß. Hätte Hirt einen Plan zur Errichtung einer Schädelsammlung gehabt und den Ahnenerbe-Mitarbeiter Beger um Unterstützung



VI. Bruno Beger209

ersucht, hätte er lediglich einen Anthropologen aus dem Hause seines Forschungsmittelgebers in seiner Projektgruppe gehabt und die Meriten nicht mit einer weiteren Einrichtung teilen müssen. Es ist also unwahrscheinlich, dass Hirt das RuSHA benötigt hätte. Beger jedoch arbeitete eng mit dem RuSHA zusammen. Eine andere, in Anbetracht der späteren Ereignisse weniger wahrscheinliche Interpretation ist noch banaler: Das Ahnenerbe war durch Sievers auch in der Haupttreuhandstelle Ost vertreten.766 Dort wurden Sammlungen von Universitäten aus Osteuropa und der Sowjetunion geraubt und teilweise auch dem Ahnenerbe zur Verfügung gestellt. Dies geschah bei steinzeitlichen Figuren ebenso wie bei Büchern oder Pflanzensammlungen. Schädelsammlungen waren seit dem 19. Jahrhundert eine typische Erscheinung an medizinischen Fakultäten in Europa, somit auch an jenen der osteuropäischen Universitäten. Juden waren in einigen Gebieten Osteuropas stärker vertreten als in Deutschland. Wenn Beger also Judenschädel zur Vermessung gesucht hätte, wäre die Beschaffung über das Ahnenerbe und die Haupttreuhandstelle Ost der einfachste und nach damaligem Recht legalste Weg gewesen. Aus ähnlichen Gründen versuchte Beger auch, die in den besetzten Gebieten vermutete historische Schädelsammlung von Adolf Schlag­ intweit aus dem ehemaligen Besitz der russischen Zaren – die unten näher beschrieben wird – in seinen Besitz zu bringen.767 Zusammenfassend ist festzuhalten: Sievers besprach mit Beger das Vorhaben einer Schädelsammlung und erst danach die Zusammenarbeit mit Hirt und dem RuSHA. Die aus anthropologischer Sicht Begers einzige Notwendigkeit zur Begründung einer Schädelsammlung einschließlich der Ermordung von Menschen lag darin, dass Begers Interesse sich darauf bezog, zunächst einen Kopf zu vermessen und abzuformen, um die Maße des Lebenden einschließlich seiner Weichteile zu haben. Anschließend sollte genau dieser Mensch getötet werden, um dann an seinem Schädel erneut Vermessungen vorzunehmen, was die Errechnung einer Topographie der Weichteile ermöglicht hätte. Begers Mitarbeiter Rudolf Trojan, selbst promovierter Anthropologe, schilderte diese Fragestellung im Jahre 1944 in einem unten noch einmal ausführlich abgebildeten Brief so: „Eine Abformung ist die Erfassung einer Stellung. […]. An ihr noch zu studieren ist unmöglich. […] Zum mongoloiden Backenknochenproblem: Am Lebenden, das wage ich zu behaupten, werden wir nie zu einem brauchbaren Ergebnis kommen. Wir müssten Schädelserien haben, an denen in sorgfältigster Weise, durch die Außerachtlassung der Weichteile, deren Variabilität uns immer noch am meisten zu schaffen macht, den knöchernen Bogen des Jugale zu studieren wäre. […] Bei

766  Vgl. Rosenkötter, Bernhard: Treuhandpolitik. Die „Haupttreuhandstelle Ost“ und der Raub polnischer Vermögen 1939–1945. Essen 2003. 767  Mierau, Expeditionen, S. 465.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Deinem Vorschlag eines neuen Masses darfst Du aber keinesfalls vergessen, dass wir am Lebenden ja gar nicht das Porion messen können.“768

Dieser Forschungsansatz ist nicht nur einer der wichtigsten Belege zum Verständnis von Begers Vorhaben. Er ist auch der Schlüssel zum Verständnis der Frage, warum nach der Ermordung der Opfer niemand – weder Beger noch Hirt – irgendwelche Skelettierungsarbeiten an diesen ausführte, wie unten gezeigt wird. Am 29.12.1941 stellte Beger von 10 bis 11:45 Uhr Sievers ein neues Projekt vor, das mit seiner Denkschrift bezüglich einer Kaukasusexpedition vom 1.3.1941 korrespondierte.769 Sievers hielt im Diensttagebuch fest: „SS-O’Stuf. Dr. Beger: Forschungsauftrag und Forschungsbeihilfe ‚Die Wanderungswege der Indogermanen auf Grund nordrassiger Restbestandteile‘  /  Untersuchungen zu den steinzeitlichen Venusidolen  /  Zusammenarbeit mit Prof. Altheim bezw. den Abteilungsleitern des ‚Ahnenerbes‘ und Stellungnahme von SS-H’Stuf. Dr. Schäfer dazu.“770

Die Notiz zeigt, dass Beger auch zu diesem Zeitpunkt von sich aus Vorschläge zu Forschungsaufträgen machte, die seinem Fachgebiet entsprachen. Am Anfang eines jeden Forschungsvorhabens im Ahnenerbe – wie auch in anderen Einrichtungen – verlangte Sievers eine Vorhabensbeschreibung. Diese wurde zumeist in Form einer Denkschrift eingereicht. Daraufhin entschied Sievers über die Genehmigung des Vorhabens und gegebenenfalls auch über eine Forschungsbeihilfe. In diesem Falle erhielt Beger mit Datum vom 5.1.1942 für Forschungen zum Thema „Die Wanderungswege der Indogermanen auf Grund nordischer Restbestandteile“ eine monatliche Forschungsbeihilfe in Höhe von 150 Reichsmark, die bis kurz vor Kriegsende gezahlt wurde.771 Daraus geht unzweifelhaft hervor, dass Beger über vier Jahre lang ein konstantes Forschungsgebiet bearbeitete und die Untersuchungen verschiedener Ethnien zwischen 1940 und 1945 damit einen inneren Zusammenhang hatten.772 Wenn Beger also Sievers am 10.12.1941 vorgeschlagen haben sollte, eine Schädelsammlung anzulegen und Beger oder Sievers die Zusammenarbeit mit dem RuSHA und Hirt suchten, war es zwingende Voraussetzung, alle Beteiligten mittels eines Papiers auf denselben Stand bezüglich der wissenschaftlichen Aufgabenstellung, des Vorgehens und der Aufgabenverteilung zu bringen. Rund drei Monate später ist 768  BArch R 135 / 44, Schreiben von Trojan an Beger vom 23.6.1944 (Hervorhebungen durch den Verfasser). 769  BArch R 135 / 66, Denkschrift von Beger, vgl. HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger. 770  BArch NS 21 / 127 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 29.12.1941. 771  BArch DS G 113 Personalakte Beger, Schreiben von Sievers an Beger vom 5.1.1942. 772  Ebd., Gebührniskarte Beger.



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eine solche Vorhabensskizze in den Quellen verzeichnet, wenngleich Zeugen im Verfahren gegen Beger eine solche bereits lange vor Begers Vorschlag gegenüber Sievers am 10.12.1941 gesehen haben wollen.773 Dabei handelte es sich um die unten näher betrachtete sogenannte Schädelsammlungsdenkschrift. Wie oben gezeigt, hatte Beger auch schon zuvor eine Denkschrift für eine an­thropologische Kaukasus-Expedition unter seiner Leitung zusammengestellt. Beger hatte mutmaßlich Mitte des Jahres 1941 – vor oder während seiner Einberufung – erstmals eine weitere Denkschrift verfasst, in der er ebenfalls eine Sammlung von Schädeln anregte.774 Diese ist nicht erhalten, soll jedoch inhaltlich grundsätzlich jener Denkschrift entsprochen haben, die Sievers Anfang 1942 an Himmler weiterleitete. Der Inhalt dieser Denkschrift wurde im Prozess gegen Beger nach dem Krieg mehrfach thematisiert: Kommissare der Roten Armee, die bestimmten Auswahlkriterien entsprachen, sollten von den anderen zu ermordenden Kommissaren separiert werden. Anschließend sollte vor der Ermordung eine Abformung des Schädels gefertigt und nach der Ermordung eine Enthauptung vorgenommen werden. Sodann sollten Abformungen gemeinsam mit den Köpfen in Konservierungsbehältern zu einem Präparator zur Mazeration geschickt werden. Da die Schädelknochen nach der Vermessung gelagert werden mussten, war ein Kompensationsgeschäft naheliegend: Präparatoren gab es in Universitätsanatomien. Dort befanden sich bereits häufig, wie in Berlin, Paris oder Straßburg, völkerkundliche Schädelsammlungen mit Exemplaren aus aller Welt, die oft aus den außer­ europäischen Kolonien importiert worden waren. Hierbei ist zu beachten, dass die Anthropologen an vielen Universitäten ihre Präparate in den anatomischen Abteilungen aufbewahrten, wie beispielsweise auch in der Berliner Charité. Der Sprachstil der undatierten Denkschrift ähnelte dem der anderen Denkschriften Begers in verblüffender Weise. Die Wortwahl von Begers Schriften sei typisch für einen ehemaligen Angehörigen des Rasse- und Siedlungshauptamtes, meinte Michael Kater.775 Auch die ehemalige Chefsekretärin des Ahnenerbes, Dr. Gisela SchmitzKahlmann, gab am 27.3.1947 in Nürnberg und am 23.11.1960 vor der Staatsanwaltschaft Frankfurt zu Protokoll, dass es nicht die Reichsuniversität Straßburg war, die die Schädelsammlung intendiert hatte, sondern das Ahnenerbe. Damit belastete sie dessen Reichsgeschäftsführer Sievers, mit dem sie ein uneheliches Kind hatte. Wenngleich sie Sievers während der Haft 773  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Schmitz vom 23.11.1960. 774  Ebd., Aussage Schmitz vom 23.11.1960. 775  Kater, Ahnenerbe, S. 208.

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Abb. 21: Denkschrift, o. Dat. (Quelle: HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 46 f.)



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unterstützte,776 konterkarierte sie so seine bisherige Verteidigungsstrategie. Daher hat es erhebliches Gewicht, wenn Schmitz-Kahlmann zu Protokoll gab, dass der Ahnenerbe-Mitarbeiter Beger der Urheber der Denkschrift zur Sicherstellung der Schädel jüdisch-bolschewistischer Kommissare war.777 Kurz nach Begers Einberufung, am 22.6.1941, begann der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Dieser Krieg war als Vernichtungskrieg geplant. In einem Befehl an das Oberkommando der Wehrmacht vom 3.3.1941 forderte Hitler, die Einsatzplanung für diesen Feldzug zu überarbeiten. Dabei betonte er, dass es sich um einen Kampf zweier Weltanschauungen handele, so dass ein rein militärischer Sieg nicht hinreichend sei. Hitler legte in diesem Befehl die Terminologisierung für den weiteren Kriegsverlauf fest. Unter Fortfall jeglicher Evidenzbasierung dekretierte Hitler implizit, dass die Regierenden der Sowjetunion und ihre Funktionäre Juden seien. Er befahl: „Die jüdisch-bolschewistische Intelligenz, als bisheriger Unterdrücker, muß beseitigt werden.“ Es ist offensichtlich, dass die Vermischung der Begrifflichkeiten des Bolschewismus und des Judentums willkürlich war und politischen Zielen folgte. Diese aus politischen Gründen geschaffenen Termini wurden vom Militär weitgehend übernommen. General Erich Hoepner beispielsweise forderte am 4.5.1941 den Kampf gegen den jüdischen Bolschewismus.778 Es dürfte auch für ihn als Soldaten evident gewesen sein, dass nicht alle Angehörigen der Roten Armee Mitglied der Kommunistischen Partei – der Bolschewiki – oder einer jüdischen Gemeinde waren. Kurz vor dem Angriff, am 6.6.1941 erteilte Hitler den Kommissarbefehl, der den Kommissaren der Roten Armee jeden kriegsrechtlichen Schutz absprach und ihre Ermordung vorsah. Wenngleich es in der Vergangenheit immer wieder Spekulationen gab, dass die Wehrmacht diesen verbrecherischen Befehl nur zögerlich umgesetzt oder gar in weiten Teilen verweigert hätte, zeigte die neuere Forschung Gegenteiliges. „Bis in die Gegenwart blieb die Geschichte dieses völkerrechtswidrigen Befehls umstritten. Erst vor kurzem erfolgte die vollständige Auswertung aller diesbezüglichen Wehrmachtsakten. Die quantifizierende Analyse der deutschen Quellen von der Ostfront zeigt: Es gab kaum einen Frontverband, der den Kommissarbefehl nicht befolgte. Obwohl beträchtliche Handlungsspielräume bestanden, nutzten nur wenige Truppenführer sie dazu aus, den Befehl zu umgehen. […] Die zuletzt in der Forschung geäußerte These, dass die Fronttruppen den Kommissarbefehl zurückhaltender umgesetzt hätten als die rückwärtigen Besatzungsformationen, findet dagegen keine Bestätigung.“779 776  Verschiedene mündliche und fernmündliche Auskünfte von Sievers’ jüngerer Tochter und Sievers’ jüngerem Sohn an den Verfasser, Anfang 2012. 777  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Schmitz vom 23.11.1960. 778  Ueberschär, Stauffenberg, S. 75. 779  Siehe: Felix Römer: Die Wehrmacht und der Kommissarbefehl: Neue Forschungsergebnisse http: /  / hsozkult.geschichte.hu-berlin.de / zeitschriften / ausgabe=6282.

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Die erfolgte Gleichsetzung der Intelligenz des Landes und der politischen Kommissare der Roten Armee, die aus den verschiedensten Völkerschaften der Sowjetunion stammten, mit den Juden lässt einen einfachen Umkehrschluss zu: Wer vorhatte, Angehörige bestimmter Völkerschaften der Sowjet­ union zu töten, brauchte diese lediglich in den Reihen der kriegsgefangenen Kommissare der Roten Armee zu identifizieren. Um den strafbaren Mord von der nicht strafbaren Umsetzung des Kommissarbefehls zu differenzieren, war die Benennung der Opfer als „jüdisch-bolschewistische Kommissare“ ein einfacher Weg, die straffreie Ermordung von größeren Bevölkerungsgruppen vorzuschlagen. Es ist zusammenfassend festzuhalten, dass es sich bei der Begrifflichkeit „jüdisch-bolschewistisch“ um einen politischen Opportunitätsbegriff handelt, der losgelöst von der Religionszugehörigkeit oder Abstammung von Juden zu betrachten ist. Die Chefsekretärin des Ahnenerbes, Gisela Schmitz-Kahlmann, äußerte sich nach dem Kriege gegenüber Michael Kater sehr ausführlich zum Jargon von Schriftstücken aus dem Apparat der NS- Diktatur, wobei sie unterstrich, dass die Verwendung von Opportunitätsbegriffen zum Erreichen eines bestimmten Ziels allgemein üblich war.780 In diesem Zusammenhang ist auf die große Bedeutung des „Einsatzbefehls Nr. 8“ vom 17.7.1941 hinzuweisen, den Reinhard Heydrich als Chef der Sicherheitspolizei und des SD (RSHA) erlassen hatte. In dessen Anlage 2 waren all jene Angehörigen der Roten Armee aufgeführt, die – gedeckt vom Kommissarbefehl – exekutiert werden sollten. Dies galt ausdrücklich auch für im Reichsgebiet liegende Kriegsgefangenenlager. Die Delinquenten sollten von dort aus in das nächstgelegene Konzentrationslager gebracht werden, um dort getötet zu werden. Diesen Befehl Heydrichs übermittelte das OKW allen betroffenen Kriegsgefangenenlagern, um eine Grundlage für die dort die Kriegsgefangenen überprüfenden Einsatzkommandos des RSHA zu schaffen.781 Zu den zu exekutierenden Kriegsgefangenen gehörten Funktionäre der Komintern, Parteifunktionäre der KPdSU, Volkskommissare und ihre Stellvertreter, führende Persönlichkeiten des Wirtschaftslebens – und neben zahlreichen anderen Opfergruppen auch die gefangenen Politkommissare der Roten Armee. Allein diese Ausführungsbestimmungen zeigen, dass die im Kommissarbefehl genannten „jüdisch-bolschewistischen“ Menschen keinesfalls aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit oder Herkunft so genannt wurden. „Jüdisch“ war im Zusammenhang mit dem Kommissarbefehl schlichtweg ein politischer Kampfbegriff, der ganz offensichtlich in keinem Zusammenhang mit tatsächlichen oder vermeintlichen anthropologischen 780  IfZ ZS A 0025 02-121 Sammlung Michael H. Kater („Ahnenerbe“), Schreiben von Schmitz-Kahlmann an Kater vom 7.8.1963, S. 379. 781  Otto, Kriegsgefangene, S. 52 ff.



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Eigenschaften von Juden und ihren Schädeln stand. Es ist anzunehmen, dass Beger diesen Einsatzbefehl Nr. 8 kannte. Da die anthropologisch breite Gruppe der möglichen Opfer aus den Reihen der Politkommissare der Roten Armee seine Optionen zum Erfassen von Opfern asiatischer Herkunft erweiterte, erscheint der Widerspruch zwischen der Fokussierung der erhaltenen – und mutmaßlich auch der nicht erhaltenen vorherigen – Schädelsammlungsdenkschrift auf „jüdisch-bolschewistische Kommissare“ und dem hauptsächlichen Forschungsgebiet Begers (den Asiaten) als aufgelöst. Denn Bruno Beger hat seit seinem Eintritt in die SS bis zum Ende des Krieges – genauso wie August Hirt – nie irgendein wissenschaftliches Interesse an der Ermordung oder Erforschung von Juden gezeigt. Zudem ist es unzweifelhaft, dass nicht nur Kommissare der Roten Armee als „jüdisch-bolschewistisch“ galten, sondern auch die genannten Gruppen der Funktionäre der Komintern, der Parteifunktionäre der KPdSU, der Volkskommissare und der führenden Persönlichkeiten des Wirtschaftslebens. Die Schädelsammlungsdenkschrift weist ihren Autor als Unkundigen über die Zuständigkeiten bei der Wehrmacht aus. Dort heißt es: „Die praktische Durchführung der reibungslosen Beschaffung und Sicherstellung dieses Schädelmaterials geschieht am zweckmäßigsten in Form einer Anweisung an die Wehrmacht, sämtliche jüdisch-bolschewistischen Kommissare in Zukunft lebend sofort der Feldpolizei zu übergeben.“ Es muss offen bleiben, ob der Wehrmachtsarzt Hirt oder der Waffen-SS-Angehörige Beger als potentielle Autoren die Grundregel von Armeen und Behörden – die der Zuständigkeit – nicht kannten oder sie schlicht übersahen. Ebenso schien Unkenntnis darüber zu herrschen, dass der Chef des Wehrmachtsführungsstabes, Alfred Jodl, zur Vollstreckung des Kommissarbefehls eigens eine Vereinbarung mit Himmler treffen musste, die in den vorgenannten Befehl Nr. 8 mündete. Dies war zwingende Voraussetzung, um dessen Apparat mit den Erschießungen zu befassen, wie Irmtrud Wojak festhielt, bevor sie über die Schädelsammlungsdenkschrift urteilte: „Der Geheimen Feldpolizei fiel die schon früher festgelegte Aufgabe zu, die Sicherheit der Truppe zu gewährleisten. Hätte man sie für die Bewachung aller gefangengenommenen ‚jüdisch-kommunistischen Kommissare‘ auch nur vorübergehend vorgesehen, so ist ebenso sicher, dass dies nicht geschehen wäre, um diese anthropologisch vermessen zu lassen und ihre Köpfe nach Straßburg zu schicken. Sollten sich Hirt und Beger ernsthaft Hoffnungen auf den Kommissarbefehl gemacht haben, so gingen sie von falschen Voraussetzungen aus. […] In seiner ursprünglichen Fassung war der Vorschlag unrealistisch.“782 Damit erwähnt Wojak einen springenden Punkt, der bisher in der Literatur nicht näher diskutiert wurde: Wenn die urspüngliche Fassung des Plans nicht umsetzbar 782  Wojak,

Die „jüdische Skelettsammlung“, S. 107.

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gewesen war, wäre eine Abwandlung des Plans naheliegend gewesen. In der Denkschrift heißt es: „Nahezu von allen Rassen und Völkern sind umfangreiche Schädelsammlungen vorhanden. Nur von den Juden stehen der Wissenschaft so wenige Schädel zur Verfügung, dass ihre Bearbeitung keine gesicherten Erkenntnisse zuläßt.“ Offenbar kannte der Autor der Denkschrift nicht die jüngsten Entwicklungen auf diesem Gebiet: In Wien eröffnete im Mai 1939 die Dauerausstellung „Das körperliche und seelische Erscheinungsbild der Juden“. Dort wurden unter anderen Exponaten 22 Schädel von Juden gezeigt, die auf einem Friedhof ausgegraben worden sein sollen.783 Ebenso wurden in Posen Schädel hingerichteter Polen jüdischen Glaubens in der Anatomie präpariert.784 Dabei dürfte es sich um die oben erwähnten, von Hermann Voss gefertigten Versand-Präparate gehandelt haben.785 Dies führt zu folgender Frage: Wenn Beger tatsächlich die Schädel oder Skelette von Juden haben wollte, wäre es recht einfach gewesen, angesichts des Grauens, das die deutschen Truppen in Osteuropa anrichteten, dort einfach ebenfalls einige jüdische Friedhöfe zu schänden und die Schädel auszugraben. Auch dies spricht dagegen, dass Beger an Juden interessiert war, und dafür, dass „Juden“ nur ein Metonym war. 5. Die Vorbereitung des Beutezuges in den Kaukasus Kurz nachdem der Angriff auf die Sowjetunion begonnen hatte, wurde die Attackierung britischer Truppen durch das Aufwiegeln der Bevölkerung in Indien und im Kaukasus erwogen.786 Diese Pläne sind von Peter Mierau detailliert dargestellt worden.787 Es zeigte sich jedoch, dass der Vormarsch in der Sowjetunion nicht nur verschiedensten Dienststellen des Reiches Planungen zur Ausbeutung des eroberten Gebietes ermöglichte. Auch Bruno Beger versuchte als Wissenschaftler im Dienste der SS, seinen Arbeitsbereich in der Forschungsstätte Innerasien und Expeditionen des Ahnenerbes auf Kosten des Gegners zu erweitern, denn auch in der Sowjetunion war Innerasienkunde betrieben worden. Beger fertigte eine Liste von allen sowjetischen Einrichtungen, die für ihn Beute vermuten ließen. Er ließ sich von Schäfer als Leiter dieser in Konkurrenz zum Ostministerium geplanten Beschlagnahmungsaktion vorschlagen.788 Ähnlich verfuhr das Ahnenerbe auch für den 783  Es muss offen bleiben, ob Lang eine falsche Zahl angab oder ob Wastl nicht alle bei Voss erworbenen Schädel ausstellte. 784  Lang, Nummern, S. 140 ff. 785  Heimann-Jelinek, Masken, S. 135. 786  Thies, Weltherrschaft, S.  149 ff. 787  Mierau, Expeditionen. 788  Ebd., S.  464 f.



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Fachbereich Archäologie. Dessen Leiter, Herbert Jankuhn, reiste schon im Dezember 1942 in den Kaukasus,789 um Felsbilder zu begutachten.790 Beger verfolgte seinen Plan für einen Raubzug über einen langen Zeitraum. Im August 1942 benannte er noch einmal seine begehrteste Beute: Auf Vermittlung von Alexander von Humboldt waren die Brüder Hermann, Robert und Adolf Schlagintweit im Auftrag von König Friedrich Wilhelm IV. und der britischen Ostindienkompanie 1855 nach Indien und in den Himalaya gereist. Hier legte Adolf Schlagintweit eine Schädelsammlung an, die auch Schädel von Innerasiaten enthielt. Diese Sammlung schenkte er dem russischen Zaren, bevor er 1857 auf turkmenischer Seite des Himalayas als vermeintlicher Spion hingerichtet wurde.791 Eine makabre Ironie lag in der Art der Exekution, denn Adolf Schlagintweit starb durch Enthauptung. Die von ihm begründete Sammlung lag beim deutschen Angriff auf die Sowjetunion in St. Petersburg. Beger machte Schäfer am 4.8.1942 brieflich darauf aufmerksam, wie wichtig es sei, „die Sammlung von 253 Köpfen aus Hochasien“ zu beschlagnahmen.792 Für eine Expedition über den Kaukasus bis nach Indien wären die Spezialisten Schäfers fachlich prädestiniert gewesen. Das politische Zusammenwirken der mittlerweile in Amt Ausland / Abwehr umbenannten SpionageDienststelle des OKW, des Auswärtigen Amtes und der SS führte am 10.8.1942 zu einem Befehl Himmlers, der den Arbeitsschwerpunkt der Forschungsstätte Innerasien und Expeditionen für die kommenden Jahre dominieren sollte: das Sonderkommando „K“. Am 8.10.1942 hatten deutsche Truppen die Ölfelder von Maikop erobert, die zwischen den Ausläufern des Kaukasus und den Kubanniederungen liegen. Der Weg in den Kaukasus mit seiner multiethnischen Bevölkerung war nun frei. Himmlers Befehl vom 10.10.1942 sah vor, dass das Sonderkommando mit 150 Personen in 40 Pkw und 17 Lkw, sowie einem Kurierflugzeug, durch den Kaukasus reisen sollte.793 Die Dimensionen waren für eine Expedition sehr groß, doch groß waren auch die Erwartungen Himmlers. Im Befehl sprach er von der „Total­ erforschung“ des Kaukasus durch eine „wehrwissenschaftliche“ Expedition. Diese Wortwahl steht in zeitlichem Zusammenhang mit dem Gründungsbefehl zur Errichtung des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung im Ahnenerbe vom 13.7.1942.794 Der Begriff Sonderkommando wurde in der 789  NARA

T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 8.12.1942. Eintrag vom 9.12.1942. 791  Als Todestag wird der 26.8.1857 genannt. Nach ihrer Rückkehr wurden jedoch dessen Brüder Hermann und Robert geadelt. 792  Mierau, Expeditionen, S. 465. 793  Kater, Ahnenerbe, S. 214. 794  BArch NS 19 / 1209, Befehl Himmlers vom 13.7.1942. 790  Ebd.,

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Regel für vom Auswärtigen Amt initiierte bewaffnete Missionen verwendet, wie beispielsweise den Kunst- und Kulturgutraub.795 „Nach Meinung Schäfers und Begers war der Kaukasus der rassebiologische Brückenkopf zwischen Europa und Zentralasien […] so dass es für Himmler nahelag, […] Wissenschaftler zu hauptsächlich rassekundlichen Untersuchungen in den Kaukasus zu schicken.“796 Es zeigt sich jedoch bei vergleichbaren Projekten im Ahnenerbe, wie der Gründung des Entomologischen Instituts oder des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung, dass nicht der Gründungsbefehl Himmlers der Auslöser zu den Vorbereitungen war, sondern ein konkreter Plan, dessen Umsetzung im Nachhinein von Himmler autorisiert wurde. Daher ist es nicht verwunderlich, dass bereits am 17.7.1942 ein detaillierter Plan zur Expeditionsgestaltung an Himmler gesandt werden konnte, auf dem dessen Einsatzbefehl fußte.797 Beger, der zwischenzeitlich nach München umgezogen war,798 sollte als designierter stellvertretender Leiter der Expedition deren anthropologische Abteilung führen, mit dem Ziel der „rassekundlichen Durchforschung der kaukasischen Stämme“.799 Dies entsprach Begers Vorhaben, die Wanderungsbewegungen der Indogermanen aus Innerasien nach Europa über den Kaukasus zu belegen. Dabei hatte Beger den Rang eines Obersturmführers (F) der Waffen-SS inne, während er zu diesem Zeitpunkt in der Allgemeinen SS bereits zum Hauptsturmführer avanciert war.800 Zur Erklärung sei festgehalten, dass die Allgemeine SS ihre Beförderungen unabhängig von der WaffenSS vornahm. In der Waffen-SS hingegen bekleidete Beger zum damaligen Zeitpunkt den Rang eines Schützen und stieg bis Kriegsende zum Unterscharführer – also einem Unteroffiziersdienstgrad – auf. Da er im Rahmen der Kaukasus-Expedition fachliche Vorgesetztenfunktionen gegenüber höherrangigen Waffen-SS-Angehörigen hatte, wurde er zum Obersturmführer (F) der Waffen-SS ernannt. Der Fachführerrang stellte die Qualifikation des Inhabers heraus, war jedoch nicht mit militärischer Befehls- und Kommandogewalt verbunden. Beger hatte also als Fachführer einen Offiziersrang inne, wurde jedoch nicht im militärischen Sinne als Offizier eingesetzt und besaß auch nicht die Befugnisse eines solchen. Zu den zahlreichen Stämmen des Kaukasus zählten auch autochthone sogenannte Bergjuden, die laut Kater zu den Innerasiaten zählten und sich ei795  Mierau,

Expeditionen, S. 459. S. 459. 797  IfZ HF 10 / 107, Plan von Schäfer vom 18.8.1942. 798  NARA T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers vom 12.6.1942. 799  Kater, Ahnenerbe, S.  251 f. 800  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Beger vom 11.12.1961, S. 111. 796  Ebd.,



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nen jüdischen Glauben angeeignet oder bewahrt hatten. Kater verweist in diesem Zusammenhang auf die jüdischgläubigen Karaimen auf der Krim, die von den Deutschen unbehelligt blieben, während die benachbarten Krim­ tschaken, die ihren jüdischen Glauben abgelegt hatten, als „Rassejuden“ ermordet wurden.801 Die anthropologisch-wissenschaftlichen Fragen Begers bei der Erforschung des Kaukasus waren jedoch nicht auf Juden fokussiert. Für das Sonderkommando „K“ waren unter anderem Dr. Hans Endres für Psychologie, Dr. Hans Fleischhacker802 für exakte Anthropologie, Dr. Heinz Rübel803 für Rassengeschichte und Dr. Helmuth Hoffmann für Orientalistik verpflichtet worden.804 Fleischhacker und Beger kannten sich bereits aus dem Studium in Jena. Beide hörten Vorlesungen bei Hans F. K. Günther.805 Rübel und Beger kannten sich aus dem RuSHA, wo beide im Jahre 1934 mit zwei anderen jungen SS-Aspiranten ihre Tätigkeit aufnahmen. Während Beger nach Tibet ging, blieb Rübel im RuSHA. Beide trafen sich wieder, nachdem Rübel im Oktober 1942 dem Sonderkommando „K“ zugeordnet worden war und beide sich auf die Reise in die kaukasischen Sowjetrepubliken vorbereiteten. Die Kommandierung Rübels war zunächst unsicher, da offenbar ein Hinderungsgrund aufgetreten war. Kurzerhand wurde darum die Expedition als Gelegenheit zur Bewährung des SS-Angehörigen Rübel deklariert. Beger schrieb am 28.8.1942 an Rübel:

801  Kater,

Ahnenerbe, S. 252. Fleischhacker (geb. 10.3.1912 in Töttleben bei Weimar), letzter Rang: SS-Obersturmführer. Studium der Anthropologie, 1935 Promotion bei Theodor Mollison, 1937 Rassebiologisches Inst. Universität Tübingen, 1937 Eintritt SS, 1940 Waffen-SS und Eintritt NSDAP, Eignungsprüfer für Eindeutschungen in Polen, Mitarbeit RuSHA, 1943 Habilitation in Tübingen, 1950 Vaterschaftssachverständiger, 1960 Dozent in Tübingen, danach Privatdozent in Frankfurt. 803  Heinrich Rübel (geb. 17.6.1910 in Dillingen / Donau), Studium Geschichte, Germanistik und Englisch in München, 1933 1. und 1934 2. Staatsexamen, 1933 Eintritt SS, 1934 wiss. Hilfsarbeiter im RuSHA, parallel 1936–1945 Assistent am Institut für Sozialpolitik der Universität Köln. 1935 Unterscharführer, 1938 Untersturmführer, 1940 Einberufung zunächst zur Luftwaffe, 1940 dann überstellt zur Waffen-SS, 1940 bis 1942 kommandiert zum RuSHA, dort Ausbildung von Kriegsversehrten zu Eignungsprüfern für anthropologische Eignungsprüfungen volksdeutscher Umsiedler, am 1.10.1942 kommandiert zur Expedition „K“, danach Frontverwendung, u. a. in der Leibstandarte, Division Wiking, Estnische SS-Division, Internierung nach Kriegsende bis Ende 1948, danach Tätigkeit in der Versicherungswirtschaft. Vorstehende Informationen aus einer Aussage Rübels vor Staatsanwalt Joachim Kügler am Landgericht Frankfurt am Main am 25.7.1960 als Leiter des Ausbildungswesens bei den FriedrichWilhelms-Magdeburger-Versicherungsgesellschaften. Vgl. HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Rübel vom 25.7.1960, S. 44 ff. 804  Ebd., Protokoll Beger, S. 1346. 805  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Fleisch­ hacker vom 1.11.1962, S. 174. 802  Hans

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

„Beim RF-SS bist Du durch diese Syphilisangelegenheit sehr im Verschiß. Die Beteiligung an dieser Sache soll Dir gewissermaßen eine Chance geben.“806

Da mehr als 100 Teilnehmer für die Expedition vorgesehen waren, die nicht alle eine „Chance“ brauchten, kann der Brief auch anders verstanden werden: Beger, der Rübel seinem unten näher beschriebenen Vorauskommando zuordnete, könnte als Bewährung für Rübel die Teilnahme an Mordaktionen vorgeschlagen haben. Rübel berichtete nach dem Krieg, dass Beger ihm unabhängig von der geplanten Expedition im Herbst 1942 bezüglich seiner kurz bevorstehenden Fahrt nach Auschwitz erklärte, „es bestehe eine Möglichkeit anthropologische Reihenuntersuchungen wahrscheinlich an russischen Kriegsgefangenen innerasiatischer Herkunft durchzuführen“.807 Dies belegt, dass Beger bereits 1942 kurz vor seinem ersten geplanten Aufenthalt in Auschwitz innerasia­ tische Kriegsgefangene anthropologisch untersuchen wollte, jedoch keine Juden. Begers zunehmende Bedeutung beschreibt Peter Mierau wie folgt: „Das Rasse- und Siedlungsamt war an den rassenkundlichen Untersuchungen seines ehemaligen Mitarbeiters Beger sehr interessiert, und so musste Schäfer dafür sorgen, dass er die Eigenständigkeit dieser Forschungsstätte gegenüber diesem SS-Amt nicht gefährdete. […] Dass Beger aber bei der Planung des Sonderkommandos für die personelle Ausstattung unentbehrlich geworden war, illustriert erneut seine steigende Dominanz.“808 Für die anthropologische Abteilung der Expedition K unter ihrem Leiter Beger bestellte Schäfer 20 Skalpelle verschiedener Größen, sechs starke Skalpelle, sechs große „Dampfgefäße“ und fünf große „Fleischmaschinen“.809 Beim anatomisch korrekten Herstellen eines Schädelpräparates wird der abgetrennte Kopf nach der Grobentfleischung mazeriert, das heißt mit heißem Wasser oder Dampf das Fleisch vom Knochen gelöst. Anschließend werden die Knochen in einem Entfettungsapparat, damals mittels Benzin oder Leichtbenzin, entfettet. Der Knochensubstanz werden so die Fette entzogen, um einen Zersetzungsprozess zu unterbinden. Es muss offen bleiben, ob der medizinische Laie Bruno Beger die korrekten medizinischen Fachtermini nicht kannte oder aus Tarnungsgründen darauf verzichtete, wenn er Dampfgefäße und „Fleischmaschinen“ für die anthropologische Untersuchung der Kaukasusbewohner bestellte. Mit den aufgeführten Gegenständen wäre die vorbereitende Herstellung einer Schädelsammlung während der Expedition 806  BArch

R 135 / 49, Schreiben von Beger an Rübel vom 28.8.1942. Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Rübel vom 25.7.1960, S. 46. 808  Mierau, Expeditionen, S. 477. 809  BArch R 135 / 44 Dokumente 164296–164310, Aufstellung der Anforderungsliste für die Expedition K. 807  HStA



VI. Bruno Beger221

in einer Weise möglich gewesen, dass jeder anatomische Präparator diese hätte in Deutschland zu Ende führen können.810 Wolfang Kaufmann interpretiert den Sachverhalt anders: Kater habe falsch gelegen, wenn er die vorgenannte Ausrüstung mit Mordplänen in Verbindung bringe. Die Fleischmaschinen hätten die Abformmasse anrühren und die Skalpelle die Stoffbahnen schneiden sollen.811 Jedoch ist zu bedenken, dass die Stoff- und Mullbandagen, mit denen die Köpfe lebender Versuchspersonen vor dem Auftragen der Abformmasse eingewickelt werden, auch mit einer harmlosen Schere geschnitten werden können und die Masse, sofern sie denn der Anrührung bedurft hätte, auch mit einer Rührmaschine vorzubereiten gewesen wäre. Wenngleich der ergänzende Gedanke im Raume steht, dass die Skalpelle genutzt worden sein könnten, um die ausgehärteten Abformungen wieder abzunehmen, steht die Verletzungsgefahr gegenüber anderen Werkzeugen ebenso im Raum wie die Frage, weshalb Beger oder Schäfer eine banale Rührmaschine mit dem brachialen Terminus der „Fleischmaschine“ bezeichnet haben sollten. Seit 1936 befasste sich Bruno Beger mit der Vermessung von Menschen, seit 1938 mit Innerasiaten und deren Vermessung, ergänzt um weitere Volksgruppen wie Norweger. Weder sind während der Vermessung noch während der Auswertung Geräte zur Zerlegung von Körpern oder zur Mazeration notwendig gewesen. Jedoch war laut Expeditionsplan festgehalten, dass in Begers Expeditionsabteilung „Mensch“ 14 Wissenschaftler und deren Hilfskräfte nicht nur vermessen, sondern auch Abformungen vornehmen sollten.812 Dies deutet darauf hin, dass hier bereits geplant war, was später in Auschwitz und Natzweiler an anderen Opfern vollendet wurde: zunächst die Vermessung und die Abformung der lebenden Opfer mit Negocoll – zur Fertigung eines Negativs –, anschließend die Fertigung eines Positivs aus Celerit bzw. Hominit.813 Der Alleinimporteur dieser Substanzen war die Firma F. Picknes in Berlin. Hilmar Teuber war um 1933 deren Inhaber geworden, wie seine Frau Erna nach dem Krieg festhielt.814 Das Unternehmen nannte sich „Das 810  Dieser

Sachverhalt war für alle für diese Arbeit befragen Anatomen evident. Tibet, 259. 812  Mierau, Expeditionen, S. 470. 813  BArch NS 21 / 908, Schreiben des Importeurs der Massen, Firma Picknes, an das Ahnenerbe vom 9.6.1944: Auf dem Briefbogen sind die Produktmerkmale und die Zusammenhänge aufgedruckt: „Generalrepräsentant der Apotela A.G. Zürich. Autorisierte Alleinverkaufsstelle für Deutschland der Abformmassen nach Dr. A. Poller, Wien. Patentiert in allen Kulturstaaten. Dr. A. Pollers ‚Negocoll‘ Wortzeichen ges. gesch. die hydrokolloide Negativmasse für das Abformen am lebenden, gesunden u. kranken Menschen, sowie an Toten und leblosen Gegenständen aller Art sowie Wunden. ‚Hominit‘ u. ‚Celerit‘ die harten tropensicheren Positivmassen machen Gips entbehrlich und sind fester und besser als Wachs etc.“. 814  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, S. 362, Aussage von Erna Teuber vom 23.1.1963. 811  Kaufmann,

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Fachgeschäft für Mal- und Zeichenbedarf“ und war zudem Generalrepräsentant der Schweizer Apotela A.G und somit deutscher Monopolist für den Import der Abformmassen Negocoll, Zellerit und Hominit aus der Schweiz.815 Diese Abformmassen wurden in der Regel von Ärzten und Anatomen bestellt.816 Bereits am 3.10.1942 schrieb Teuber an Beger und bedankte sich für dessen Bestellung. Dabei sagte er nicht nur die Lieferung für den November 1942 zu, sobald alle amtlichen Papiere vorlägen, sondern teilte auch mit, was auf den Papieren exakt zu stehen habe, so dass die Bestellung Begers dokumentiert ist. Die zuvor von Teuber formulierten Fragen zeigen, dass Beger unerfahren in der Bestellung dieser Materialien war. Teuber fragte nach, ob das Hominit in hell, creme- oder fleischfarben geliefert werden solle bzw. das Celerit in bräunlich, schwarz oder weiß, wobei üblicherweise bräunlich verwendet würde. Teuber fragte weiter, was mit den von Beger bestellten Sieben gesiebt werden solle. Neben den feueremaillierten Kochgefäßen mit Ausguss und Feuerbock zum Erhitzen der Massen sollten unter anderem 100 Kilogramm Negocoll und 50 Kilogramm Hominit geliefert werden.817 Eine Rührmaschine bot Teuber hingegen nicht an. In der Ausrüstungsliste der Expedition wurden später noch größere Mengen unter dem Punkt „Abformungen“ vermerkt: 30 Kilogramm Negocoll, 250 Kilogramm Hominit und 100 Kilogramm Celerit.818 Auf dem von Beger unterschriebenen Lieferschein vom 11.11.1942 war jedoch – ausdrücklich als Teillieferung ausgewiesen – zunächst nur die Lieferung von zwei Paketen Hominit und drei Paketen Celerit bestätigt.819 Diese wenige Kilogramm umfassende Teillieferung war zu Versuchszwecken an Gabel geliefert worden.820 Am 7.1.1943 schrieb Teuber erneut an Beger und fragte verwundert nach, warum dessen Kollege Dr. Konrad von Rauch die Abformmassen in Zürich noch nicht abgeholt habe. Zudem bestätigte er, dass die sonstigen Ausstattungsgegenstände einige Tage später geliefert würden.821 Beger wäre also bei erfolgter Lieferung aller bestellten Waren im Kaukasus in der Lage gewesen, sowohl die Köpfe der lebenden Probanden als auch 815  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 176 f., Schreiben von Picknes an Beger vom 28.8.1943. 816  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, S. 362, Aussage von Erna Teuber vom 23.1.1963. 817  BArch R 135 / 49, Schreiben von Teuber an Beger vom 3.10.1942. 818  BArch R 135 / 44 Dokumente 164296–164310, Aufstellung der Anforderungsliste für die Expedition K. 819  BArch R 135 / 49, Lieferschein von Teuber an Beger vom 11.11.1942. 820  Ebd., Schreiben von Forschungsstätte Innerasien und Expeditionen an Picknes vom 6.11.1942 mit Anforderung von „einigen Kg. Hominit und Cellerith“ (!) für „einige Arbeiten und Versuchszwecke“ für den „Bildhauer des Sonderkommandos“. 821  Ebd., Schreiben von Teuber an Beger vom 7.1.1943.



VI. Bruno Beger223

deren mazerierte Schädel abzuformen, um so die anthropologisch relevanten Arbeiten durchzuführen: Nach der Abformung des Kopfes sollten die Opfer wahrscheinlich ermordet, die Köpfe mazeriert und der verbleibende Schädelknochen entfettet werden. Dieser reine Schädel sollte dann erneut abgeformt und über ein Negativ zu einem Positivmodell führen. So wäre eine jederzeit wiederholbare Messung der anthropologischen Merkmale des lebenden Menschen einschließlich der Gesichtsweichteile und der Knochensubstanz möglich gewesen, verbunden mit der genauen Errechenbarkeit der Menge und Masse der Weichteilsubstanz. Es ist bemerkenswert, dass Beger bei der Expedition einen Teil der ihm unterstehenden Wissenschaftler einem separat arbeitenden Vorauskommando zuordnete, das er selbst anführen wollte. Diesem sollte jedoch keiner der der Expedition angehörenden Ethnologen zugeteilt werden. Jeder der in diesem Vorauskommando eingesetzten Wissenschaftler sollte anthropologische Messungen vornehmen und hierfür eine Hilfskraft zugeteilt bekommen. Für sich selbst jedoch hatte Beger an zwei Hilfskräfte gedacht: eine zum Messen, die andere „zur Betreuung der ethnologischen Sammlung“. In Begers schriftlichen Planungen für die Aufgaben seiner Abteilung bei der Expedition sind verschiedenste Teilaufgaben zu finden, doch keine hat mit einer auch so bezeichneten ethnologischen Sammlung zu tun. Das Vorauskommando sollte ausschließlich Menschen untersuchen. Es kann nur gemutmaßt werden, warum eine von Begers Hilfskräften im Vorauskommando beim Messen helfen und die andere eine Sammlung betreuen sollte. In eth-

Abb. 22: Handschriftliche Personalanforderung Begers als Anlage zu seiner Anforderungsliste vom 18.8.1942. Beger vermerkte sich selbst und seine beiden Hilfskräfte an erster Stelle. (Quelle: BArch NS 135 / 44)

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

nologischen Sammlungen von Museen waren auch zum damaligen Zeitpunkt Skelette, Schädel oder Mumien enthalten. Noch heute sind beispielsweise in Völkerkundemuseen Überreste von Verstorbenen anderer Weltregionen ausgestellt. Insofern war die Bezeichnung unverdächtig. Ausweislich des Expe­ ditionsplans sollte Beger von Anthropologen des Rasse- und Siedlungshauptamtes und aus den universitären Anthropologie-Instituten bei der wissenschaftlichen Bearbeitung seines Aufgabenfeldes unterstützt werden.822 Bezüglich des Sonderkommandos „K“ sind zahlreiche Besprechungen von Sievers mit Schäfer und Beger zu diesem Thema in Sievers’ Diensttagebuch festgehalten, so am 18.8., 19.8., 20.8. und 24.8.1942 sowie am 9.9.1942, am 30.9. und am 20.10.1943. Bemerkenswert ist der Tagebucheintrag vom 21.10.1942: Von 13:30 bis 14:40 Uhr besprach sich Sievers im Archäologischen Institut des Deutschen Reiches mit dessen Präsidenten Professor Dr. Martin Schede. Schede war später federführend an der Ausbildung von Militär-Mullahs für die moslemischen Hilfstruppen der Waffen-SS und Wehrmacht beteiligt. Nach der Besprechung mit Sievers notierte dieser in sein Tagebuch, dass das Archäologische Institut und das Ahnenerbe künftig zusammenarbeiten werden, „insbesondere bei kommenden Einsatzaufgaben im Iran, Kaukasus und Aegypten“.823 Dieser Eintrag verrät die Ambitionen Sievers’ und des Ahnenerbes und stellt das Kommando „K“ zudem in einen Kontext verschiedener anderer wehrwissenschaftlicher Expeditionen. Eine davon sollte offensichtlich in den Iran führen. Wenngleich die Zeugnisse zu dieser Expedition rar sind, so ist dennoch zu rekonstruieren, dass das Einsatzkommando Iran ähnlich umfassend wie das Einsatzkommando Kaukasus ausgerüstet werden sollte. Bereits Mitte 1942 hatte Sievers versucht, den in Teheran geborenen Dr. Davoud Monchi-Zahdeh824 der Einberufung in die Wehrmacht zu entziehen und in die Waffen-SS einberufen zu lassen, um ihn für das Einsatzkommando Iran verfügbar zu haben,825 was ihm kurz darauf auch gelang.826 Ein anderer Mitarbeiter, den Sievers für dieses Vorhaben gewann, war der Polizeipräsident von Litzmannstadt, Brigadeführer Dr.-Ing. Wilhelm Albert,827 der Anfang 1945 Regierungspräsident in Potsdam wur822  IfZ

HF 10 / 107, Plan von Schäfer vom 18.8.1942. T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 21.10.1942. 824  Davoud Monchi-Zahdeh (geb. 1914 in Teheran / Persien, gest. 1989 in Uppsala /  Schweden), Studium in Frankreich und Deutschland, Promotion und Tätigkeit als Dozent, Wehrdienst, nach dem Kriege Übersiedlung nach Schweden, Dozent und später Professor für Iranistik in Uppsala. 825  NARA T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 10.6.1942. 826  Ebd., Eintrag vom 22.6.1942. 827  Karl Wilhelm Albert (geb. 8.9.1898 in Hessenthal, gest. 21.4.1960 in Erndtebrück), letzter Rang: SS-Brigadeführer. Studium der Elektrotechnik, Promotion zum Dr.-Ing., 1932 Eintritt in die NSDAP und die SS, Mitarbeiter beim SD, 1933 Oberabschnittsleiter West, dann Rhein, 1935 Personalchef im SD-Hauptamt, 1936 Leitung 823  NARA



VI. Bruno Beger225

de.828 Es gibt zudem verschiedene Hinweise, dass die „Einsätze Kaukasus und Iran“ von Sievers gleichberechtigt verfolgt wurden.829 Während die Kaukasus-Expedition unter der Leitung von Schäfer stehen sollte, war Wüst für die Leitung der Iran-Expedition vorgesehen830. Die weitere Planung der Iran-Expedition beschäftigte Sievers – wie auch die der Kaukasus-Expedition – noch viele Monate.831 Am 23.10.1942 wurde Schäfer in Himmlers Feldkommandostelle befohlen. Himmler teilte ihm mit, dass das Sonderkommando „K“ noch im Dezember 1942 in Marsch gesetzt werde, worüber Schäfer sofort Beger informierte.832 Dann warteten die Wissenschaftler jedoch noch lange auf den Marschbefehl. Am 3.2.1943 wurde die Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad von den deutschen Rundfunksendern verbreitet. Nun musste auch jedem militärisch unerfahrenen Wissenschaftler klar gewesen sein, dass der Zugang zum Kaukasus zumindest für längere Zeit ausgeschlossen war. Am 4.2.1943 informierte Himmler dann auch Schäfer mit dem Hinweis auf den Wehrmachtsbericht darüber, dass er das SS-Führungshauptamt833 angewiesen habe, die Kommandierungen der Mannschaften für das Sonderkommando „K“ aufzuheben und diese anderweitig zu verwenden. Nur noch vage machte Himmler Hoffnung auf einen späteren Expeditionszeitpunkt.834 Da nur die Kommandierung der Mannschaften, nicht jedoch die der Wissenschaftler aufgehoben war, bot sich so die Möglichkeit für Himmler, Optimismus bezüglich der militärischen Lage zu verbreiten. Beger erklärte den zur Truppe zurückkehrenden Wissenschaftlern, dass diese Rückkommandierung ausschließlich aufgrund der militärischen Lage erfolgt sei, und stellte eine erneute Beteiligung am Sonderkommando für die Zukunft in Aussicht.835 Den nicht zurückAmt I des SD-Hauptamtes, 1939 Leiter Zentralabteilung I des RSHA, später Polizeipräsident in Litzmannstadt (vgl. BArch SSO A 1 Personalakte Albert), vgl. Wildt, Generation des Unbedingten. 828  NARA T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 26.6.1942. 829  Ebd., Eintrag vom 13.8.1942. 830  Ebd., Eintrag vom 19.8.1942 ff. 831  Ebd., Eintrag vom 30.1.1943. 832  BArch R 135 / 47, Schreiben Begers an Machan vom 24.10.1942. 833  Das SS-Führungshauptamt (FHA) wurde 1940 aus dem SS-Hauptamt ausgegründet als Hauptquartier der Waffen-SS (Leitung zunächst durch Himmler, 1943 durch Hans Jüttner). Es bestanden Ämter für Besoldung, Ausrüstung und Versorgung sowie die Kommandoämter der Allgemeinen SS, der Totenkopfverbände und der Waffen-SS, ebenso für das Sanitätswesen, die Ausbildung und die Inspektion der Truppen. Gegen Kriegsende hatte das FHA rund 500 Mitarbeiter (u. a. BArch R 8 /  52). 834  BArch NS 19 / 1681 Band 2, Schreiben Himmlers an Schäfer vom 4.2.1943. 835  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 99, Schreiben von Beger an Vornauer vom 29.1.1943.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

kommandierten Wissenschaftlern bot sich die Möglichkeit, sich dem Front­ einsatz zu entziehen und mit Hinweis auf den Geheimbefehl des Reichsführers-SS für das Sonderkommando „K“ weiter auf jenen Feldern „vorbereitend“ zu forschen, die auch auf der Expedition Gegenstand gewesen wären. Erst am Samstag, den 29.1.1944, trug Sievers, der an jenem Tage in seinem Büro im Reichsforschungsrat arbeitete, nach einem Gespräch mit Himmlers Stabsführer Paul Baumert836 und Schäfer in sein Diensttagebuch ein: „1. Still­ legung von Arbeiten, 2. Auflösung des Sonderkommandos K, 3. Abgabe von Mitarbeitern an die Front.“837 Damit war das Sonderkommando „K“ offiziell aufgelöst. Zu diesem Zeitpunkt war Himmler klar, dass er kaum die Illusion aufrechterhalten konnte, in absehbarer Zeit eine SS-Expedition in den Kaukasus entsenden zu können. Einige Wochen später wurde Teuber für das Beschaffen der Augen- und Haarfarbe-Tafeln gedankt und mitgeteilt, dass „durch die militärische Sachlage der K-Einsatz etwas in weitere Ferne gerückt“ sei, aber der Auftrag bestehe, „die dafür notwendige Ausrüstung auf jeden Fall und möglichst bald zusammenzubringen“.838 6. Die SS reist nicht zu den Asiaten – die Asiaten kommen in SS-Lager Zunächst einmal bedeutete die Aufhebung der Kommandierung für einen Teil der vorgesehenen Expeditionsteilnehmer für Beger am 4.2.1943 die Gefahr, ebenfalls in absehbarer Zeit einberufen zu werden. Dies versuchte er zu verhindern, indem er am 10.2.1943 bei Sievers in Berlin-Dahlem vorsprach und erklärte, eine Einberufung seiner Person verhindere dann die „anthropologischen Aufnahmearbeiten in Auschwitz“.839 Es ist bemerkenswert, dass Beger nicht darauf hinwies, dass dieser Umstand eine Verzögerung für das Vorhaben des von Himmler so sehr unterstützten Hirt bedeuten würde. Dies 836  Paul Baumert (geb. 20.5.1904 in Breslau), letzter Rang: SS-Standartenführer. Als Sohn eines Hoteliers Realschulabschluss in Berlin mit Reifeprüfung und anschließend dreijähriger kaufmännischer Lehre in einer Holzgroßhandlung, ein Jahr Berufserfahrung, dann Sägewerksverwalter, 1931–1933 SA, 1937 Referent im Persönlichen Stab im Range eines SS-Untersturmführers, 1938 Obersturmführer, 1939 Hauptsturmführer, 1940 Übernahme in die Waffen-SS und Kommandierung in den Persönlichen Stab, 1941 Hauptsturmführer der Waffen-SS und 1942 als Sturmbannführer – trotz fehlender technischer Ausbildung – Abteilungsleiter und Technischer Führer im Amt Stabsführung im Persönlichen Stab, 1943 Obersturmbannführer und seit dem 15.5.1943 Chef des Amtes Stabsführung im Persönlichen Stab. 1944 Standartenführer (vgl. BArch SSO 43 Personalakte Baumert). 837  BArch NS 21 / 11 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 29.1.1944. 838  BArch R 135 / 49, Schreiben unbekannter Absender  – vermutlich Beger  – an Teuber vom 19.2.1943. 839  BArch NS 21 / 53 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 10.2.1943.



VI. Bruno Beger227

deutet darauf hin, dass sich Beger nicht als Dienstleister Hirts verstand. Gleichzeitig ist bemerkenswert, dass Beger sich – wie gezeigt – regelmäßig persönlich an Himmler wandte, um Unterstützung für seine Forschungen zu erwirken, aber die Beschwerde über eine mögliche Einberufung an Sievers richtete. Für Beger stellte sich nun erneut die Karrierefrage. Innerhalb des Sonderkommandos „K“ hatte er die zweitwichtigste Position in der Hierarchie, von der Breite des bearbeiteten Feldes jedoch die wichtigste – gerade bei einer Expedition auf Rechnung einer Gliederung einer Partei, die wissenschaftliche Bestätigungen für ihr rassistisches Weltbild belohnen würde. Die Rivalität Begers zu Schäfer war nicht mehr zu übersehen. Da die Expedition „K“ erst einmal ausgesetzt war, benötigte Beger ein neues Projekt, um sich als der exponierte Experte für Rassekunde in der SS zu profilieren. Beger griff ein Projekt auf, das er bereits einmal vorgeschlagen hatte: die Herstellung von Plastiken verschiedener Rassen. Bereits in seiner Denkschrift hatte er Plastiken vorgesehen, und für die Expedition „K“ hatte er abermals Abformungen eingeplant. Wenn Bruno Beger keine Möglichkeit besaß, zu den Völkern des Kaukasus zu gelangen, orientierte er sich nun um, denn die Völker des Kaukasus waren bereits zu ihm gekommen. Da die Wehrmacht die Genfer Konvention und die Haager Landkriegsordnung in der Regel nicht auf Angehörige der Roten Armee anwendete, waren die Kriegsgefangenen in großer Zahl als Arbeitssklaven in Konzentrationslagern interniert worden. Unter diesen war ein – im Verhältnis aller Sowjetrepubliken zueinander – proportionaler Anteil aus den Völkerschaften des Kaukasus. Oberster Herr über die Konzentrationslager war Begers Vorgesetzter, der AhnenerbePräsident Heinrich Himmler. Inzwischen war der Kommissarbefehl bei den Streitkräften bekannt. Wahrscheinlich hatte Beger in seiner Zeit an der Ostfront Kenntnis von diesem Befehl erlangt. Voraussetzung für die Tötung geeigneter Probanden nach dem Erlass des Kommissarbefehls war jedoch, dass diese als „jüdisch-bolschewistische“ Personen qualifiziert wurden – unabhängig von Glauben und Herkunft. Somit waren in der Terminologie der damaligen Zeit auch Vorder- und Innerasiaten jüdisch-bolschewistische Probanden, sofern sie der Roten Armee zugerechnet werden konnten. Es bestand also aus Begers Sicht dem Grunde nach die Möglichkeit, Kriegsgefangene zunächst abzuformen, sie anschließend zu ermorden und zu skelettieren. Es gab damit zwei mögliche Arbeitsgebiete des Anthropologen pro Proband: die äußere Gestalt des Menschen und die Skelettstruktur. Während die Expedition in den Kaukasus zunächst vorbereitet und dann ausgesetzt worden war, befasste sich Beger weiter intensiv mit den dortigen Völkerschaften. Beger arbeitete sich hierzu in ausländische Fachliteratur ein. Dabei ging es beispielsweise um die anthropologischen Merkmale der Bevölkerungsgruppe der Grusiner in den Provinzen Kartalinien, Kachetien, Imere-

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

tiens, Guriens und des Ratsch. Die verschiedenen Texte ließ er sich von Fachwissenschaftlern übersetzen.840 Am 16.1.1943 fand der Festakt zum 470-jährigen Bestehen der Universität München statt. Zu diesem Anlass erhielt der in Deutschland populäre Asienforscher Sven Hedin die Ehrendoktorwürde der Universität München. Ernst Schäfer erhielt hingegen eine einmalige Position in der SS. Am selben Tage wurde mit Himmlers Genehmigung841 die Forschungsstätte Innerasien und Expeditionen des Vereins „Das Ahnenerbe e. V.“ gleichzeitig zum „Reichsinstitut Sven Hedin für Innerasien und Expeditionen“ erhoben.842 Damit blieb es nach wie vor eine Forschungsstätte des Ahnenerbes, doch war sie fortan durch die Umwandlung in ein An-Institut der Universität München in den akademischen Betrieb eingebunden. Durch Finanzierung aller Planstellen der zum Reichsinstitut gewandelten Forschungseinrichtung durch das Reichserziehungsministerium war Schäfer fortan unabhängig von der Budgetierung durch Himmler und Sievers. In das Institut wurden ab 1.4.1943 folgende, zukünftig mit Reichsmitteln bezahlte Mitarbeiter Schäfers übernommen: „1. SS-H’stuf. Dr. Bruno Beger 2. SS-H’stuf. Dr. K.von Rauch 3. SS-H’stuf. Dr. Karl Wienert 4. SS-H’stuf. Ernst Krause 5. SS-U’stuf. Dr. Ludwig Bohmann 6. SS-U’stuf. Dr. Günther Niethammer 7. Dr. Helmuth Hoffmann 8. Willy Gabel 9. Frau Anna Kourik“.843

Doch noch Anfang 1944 war nicht klar, welche Aufgaben das Reichsinstitut wahrnehmen sollte. Der Satzungsentwurf Schäfers wurde von Sievers noch ein Jahr nach der Gründung abgelehnt.844 Nach Aussetzung des Sonderkommandos „K“ Anfang Februar 1943 brauchte Beger zunächst Zeit, um neue eigene wissenschaftliche Akzente setzen zu können. Der aus Österreich stammende und an der Universität Berlin lehrende Anthropologe Professor 840  BArch R 135 / 44, Schriftwechsel Begers mit Dr. Gerd May in der Dienststelle des Reichskommissariats Norwegen, u. a. vom 11.2.1943, 19.2.1943 und 1.3.1943. 841  NARA T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 18.5.1942: „Genehmigung RFSS zur Errichtung des Hedin-Institutes“. 842  Kater, Ahnenerbe, S. 213. 843  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34164 Prozessakte Beger, S. 13c. 844  BArch NS 21 / 11 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 8.1.1944.



VI. Bruno Beger229

Dr. Wolfgang Abel845 erarbeitete unter der Leitung des OKW Maßnahmen, um die slawische Rasse durch „fortschreitende Ausschaltung“ als Gefahr für Deutschland zu verringern.846 Um einen gangbaren Weg zu diesem Ziel skizzieren zu können, hatte er mehr als 7.000 sowjetische Kriegsgefangene anthropologisch untersucht. Zur Auswertung der Untersuchungsergebnisse forderte er bei Schäfer die Unterstützung Begers an, die Schäfer angesichts der Konkurrenzsituation zu Beger im eigenen Hause gern gewährte. Sievers nahm die Anfrage zum Anlass, um in bewährter Manier zu versuchen, bestehende Forschungsprojekte in das Ahnenerbe zu inkorporieren.847 Beger konnte auch hier erwarten, weitere Erkenntnisse zu Vorder- und Innerasiaten zu erlangen. Gleichzeitig versuchte Sievers, nicht nur Abels Forschungsergebnisse für das Ahnenerbe zu sichern, sondern diese auch mit dem Inspekteur für Statistik der SS, Dr. Richard Korherr,848 bezüglich der Auswertung abzustimmen.849 In diesem Zusammenhang auch steht die Eingliederung des Grenz- und Auslandswissenschaftlichen Instituts von Professor Dr. Karl Christian v. Loesch in das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung des Ahnenerbes, nachdem dieses Institut zunächst Schäfers Forschungsstätte im Ahnenerbe zugeschlagen werden sollte.850 Bei der Vorbereitung dieses Vorhabens wurde in Schäfers Forschungsstätte eine präzise Analyse des dortigen Personalstandes mitsamt der Fähigkeiten und Kompetenzen der einzelnen Mitarbeiter verfasst. Auch über deren Eingliederungsfähigkeit in die Expedition K wurden Berichte angefertigt.851 Ohne der Chronologie der Entstehung der Schädelsammlung vorgreifen zu wollen, sei im Sinne einer lückenlosen Darstellung der beruflichen Aufgaben Begers die folgende Episode aus dem Sommer 1943 angeführt: Am 22.5.1943 schrieb Sievers unter dem Betreff „Untersuchung von russischen Kriegsgefangenen“ an Brandt, Adolf Eichmann habe mitgeteilt, dass im Konzentra­ tionslager Auschwitz nun „besonders geeignetes Material“ vorhanden sei, so 845  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Abel vom 20.11.1962. 846  Kater, Ahnenerbe, S. 208. 847  Ebd., S. 208. 848  Richard Korherr (geb. 30.10.1903 in Regensburg, gest. 24.11.1989), Studium Volkswirtschaft und Rechtswissenschaft, 1926 Promotion über Geburtenrückgang, Tätigkeit im Statistischen Reichsamt, 1935 bis 1940 Direktor des Statistischen Amts der Stadt Würzburg. 1940 Inspekteur für Statistik beim Reichsführer-SS, nach dem Kriegsende Internierung, danach im Bundesfinanzministerium, nach Bekanntwerden seiner Involvierung in die Berechnung der Endlösungspläne Entlassung. 849  BArch NS 21 / 53 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 7.4.1943. 850  Ebd. 851  BArch R 135 / 52, „Aufzeichnung über das Institut für Grenz- und Auslandsstudien“ o. Dat.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

dass „der Zeitpunkt für diese Untersuchungen besonders günstig“ sei.852 In Auschwitz trafen zu jener Zeit monatlich viele tausend Juden aus ganz Europa ein. Es stellt sich daher die Frage, welches „Material“, welche Art von „besonders geeigneten“ Menschen gerade „zu diesem Zeitpunkt“ in Auschwitz „verfügbar“ waren und im Umkehrschluss zu einem anderen Zeitpunkt nicht. Um Juden dürfte es sich folglich kaum gehandelt haben, da diese in Auschwitz immer „vorhanden“ waren. Da Sievers Beger in Marsch setzte, um Vermessungen vorzunehmen, assistiert von seinen Mitarbeitern des Sonderkommandos „K“, Gabel und Fleischhacker, darf angenommen werden, dass es sich um Inner- und Vorderasiaten handelte, die Eichmann für Beger unter den noch in Lager befindlichen sowjetischen Kriegsgefangenen ermittelt haben wollte. Beger reiste nach Auschwitz und stellte fest, dass dort kaum Innerasiaten vorhanden waren. „Zusammen mit Dr. Beger habe ich mich dann im Lager nach asiatischen Typen umgesehen. Ich erkannte bald, dass ich in dem Lager kaum finden würde, was ich suchte. Auch Dr. Beger war sichtlich überrascht.“853 Beger wählte insgesamt 115 Gefangene aus, ordnete Abformungen an und forderte nach dem epidemiebedingten Abbruch der Aktion für 110 Gefangene gereinigte Kleidung an, um diese nach Natzweiler verbringen zu lassen. Beger zeigte sich in verschiedenen Schreiben enttäuscht, statt 150 nur vier Innerasiaten gefunden zu haben, sowie zwei Polen, die innerasiatische Züge aufwiesen. Auch dies spricht dafür, dass Beger nicht spontan das Forschungsfeld geändert hatte, sondern unter den Kriegsgefangenen zunächst gezielt nach Vorder- und Innerasiaten suchte. Am August 1943 zog das Reichsinstitut Sven Hedin nach Schloss Mittersill im Pinzgau um. Dort bearbeitete Beger weiter die Ergebnisse der TibetExpedition. Gleichzeitig koordinierte er das Schädelsammlungsprojekt, wie unten gezeigt wird. Begers Bruder Horst musste sich im August 1943 einem Gerichtsverfahren wegen Befehlsverweigerung stellen. Dabei hatte der Ankläger die Verhängung der Todesstrafe beantragt. Die Betreuung seines Bruders im Gefängnis während des Verfahrens beanspruchte viel von Bruno Begers Zeit. Am Ende des Verfahrens wurde Horst Beger zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt.854 Nach seinen Erfahrungen in Auschwitz scheint das Selbstbewusstsein Begers noch einmal eine Steigerung erfahren zu haben: Er forderte nicht nur die Beauftragung von Clauß unter seiner Leitung, sondern erneut eine eigene Forschungsstätte im Ahnenerbe, für deren Leitung er sich selbst vorsah. Be852  HStA

Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34164 Prozessakte Beger, S. 12a und 12b. Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Gabel vom 25.7.1960, S. 50. 854  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Urteil vom 6.4.1971, S. 9. 853  HStA



VI. Bruno Beger231

merkenswert ist dabei nicht nur die Anspruchshaltung Begers. In einem bislang von der Forschung im Zusammenhang mit der Skelettsammlung nicht diskutierten Dokument nennt er den unzweifelhaften Grund für seinen Aufenthalt in Auschwitz: Er war keinesfalls dort, um für den Ahnenerbe-Kollegen Hirt tätig zu werden oder sich mit Juden zu befassen: „Entwurf! Waffen-SS Wehrwissenschaftliche Forschungen des ‚Ahnenerbes‘ Forschungsabteilung für Rassen- und Volkstumsfragen Leiter: SS-Hauptsturmführer Dr. B. Beger 1. ,Rassen im Kampf-Forschung‘ (erste Einzelheiten ausgeführt in einer kurzen Denkschrift, die SS-Hauptsturmführer Dr.Beger im September 1941 dem Obersturmbannführer G. d’Alquen zur Vorlage beim Reichsführer-SS übergab). Ziel: Herausarbeitung der Unterschiede in der Verhaltensweise der einzelnen Rassen im Kampf und der praktischen Folgerungen und Anwendungsmöglichkeiten daraus zur Erhöhung der Wehrkraft unseres Volkes und zur wirksamen Bekämpfung eines fremdrassigen Gegners. 2. Fremdvölker-Forschung Ziel: Herausarbeitung der charakterlichen und seelischen Grundlagen der einzelnen Fremdvölker der von uns besetzten Gebiete zur Schaffung einheitlicher Richtlinien für deren Behandlung und den Umgang mit ihnen. 3. ‚Mongolen‘-forschung (begonnen im Juni 1943 im Kl-Auschwitz) Ziel: Vertiefung und Erweiterung unserer rassenkundlichen Kenntnisse von den innerund ostasiatischen Völkern unter Ausnutzung des uns durch diesen Krieg in den Gefangenen aus Inner- und Ostasien in die Hand gegebenen Materials. Maßgeblicher Bearbeiter für 1. und 2. Dr. L. F. Clauß in Verbindung mit SSHauptsturmführer Dr. Beger. Tarnung als Kriegsberichter. Maßgeblicher Bearbeiter für 3. Dr. R. Trojan (?) in Verbindung mit SS-Hauptsturmführer Dr. Beger.“855

Diese undatierten Ausführungen Begers – vermutlich vom 25.10.1943 – offenbaren zweifelsfrei, wie er selbst seinen Einsatz in Auschwitz wahrnahm: als „Mongolen-Forschung“. Es ist anzunehmen, dass das Dokument eine Anlage zu Begers schriftlichen Forderungen an Sievers nach einer eigenen 855  BArch R 135 / 52, Entwurf o. Dat., s. Anhang; vgl. BArch DS G 113 Personalakte Beger mit Durchschlag dieses Vorschlages. Der Vorschlag musste also so prägnant gewesen sein, dass er auch auf diesem Weg Beger zugeordnet wurde.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Forschungsstätte im Ahnenerbe war.856 Sievers reagierte nicht auf das Drängen Begers hinsichtlich höherer Aufgaben und einer eigenen Forschungseinrichtung. Die Schädelsammlung war von Himmler befohlen worden und Sievers hatte keine Anstalten gemacht, das Vorhaben zu verlangsamen oder gar zu stoppen. Jedoch bremste Sievers auch in anderen Zusammenhängen oft Vorschläge, die nicht von Himmler, sondern von Wissenschaftlern kamen, sofern damit potentiell Mordaktionen verbunden waren.857 Nachdem Sievers nicht reagierte, wandte sich Beger mit seinem Antrag auf eine eigene Forschungsstätte unmittelbar an Rudolf Brandt. Himmlers Persönlicher Referent war der richtige Ansprechpartner für jede Form von Tötungsfreigaben,858 da diese ausschließlich durch Himmler persönlich erteilt wurden. Für die Organisation der Tötungsfreigaben Himmlers bezahlte Rudolf Brandt im späteren Ärzteprozess mit seinem Leben. Bemerkenswert ist jedoch, dass Beger darüber hinaus auch Kontakt zu Gruppenführer Richard Hildebrandt aufnahm, dem Chef des Rasse- und Siedlungshauptamtes. Dieser Dialog gipfelte in dem erneuten Angebot Hildebrandts, dem unzufriedenen Beger im RuSHA eine wehrwissenschaftliche Abteilung für Rassen- und Volkstumsfragen aufzubauen. Sievers lehnte eine konkurrierende wissenschaftliche Einrichtung in der SS brüsk ab. Er machte jedoch das Zugeständnis, die eingeengte Stellung von Begers Forschungsgebiet Innerasien in der Ahnenerbe-Forschungsstätte aufzuheben.859 Ende 1943 entschloss sich Sievers, auf Begers Forderungen zu antworten: „Lieber Kamerad Beger ! Dass der Reichsführer-SS Ihren alten Plan über Rassen im Kampf von sich aus wieder aufgegriffen und gerade Professor Clauß mit seiner Ausführung beauftragt hat, finde ich sehr erfreulich und ich kann Sie zu diesem Erfolg nur beglückwünschen. […] Von der Gründung einer besonderen Abteilung für diese Fragen halte ich nichts, warum denn eine gute Idee immer gleich in eine organisatorische Form pressen? Schließlich kommen wir dann auf ebenso viele Abteilungen, wie wir I­deen haben und vor lauter Abteilungen nicht mehr zur Ausführung dieser Ideen. Ich habe die Aufgabe Ihrer Abteilung im Rahmen der Lehr- und Forschungsstätte für Innerasien und Expeditionen eigentlich immer so aufgefasst – und glaube damit sowohl des Kurators als auch Dr. Schäfers Meinung zu teilen – dass Sie sich nicht speziell auf die Anthropologie Innerasiens beschränken, sondern Ihre Tätigkeit auf

856  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S.  33 ff. 857  Mierau, Expeditionen, S. 495. 858  Es war seitens der SS gewollt, „Vernichtung durch Arbeit“ zu betreiben, gegen Regeln verstoßende Häftlinge vor Ort hinzurichten oder auf der Flucht zu erschießen. Über potentiell tödliche Medizinversuche und ähnliche Dinge wurde jedoch stets im Vorhinein von Himmler oder den von ihm Beauftragten entschieden. 859  Mierau, Expeditionen, S. 496.



VI. Bruno Beger233 Rassen- und Volkstumsfragen mit der besonderen Betonung der Fremdvölkerforschung überhaupt ausdehnen. Das gilt doch in entsprechender Weise für alle Abteilungen der Lehr- und Forschungsstätte. Ich bin also der Ansicht, dass sich die Fragen die Sie in Ihrer Ausarbeitung vom 25.10.43 vorschlagen, von Ihrer Abteilung durchführen lassen, ohne dass eine neue Abteilung gegründet wird. Selbstverständlich wird dann eine Erweiterung der Mitarbeiterschaft möglich sein, über die sich gemäss den heutigen Möglichkeiten immer reden lässt. Ich sehe deshalb auch nicht ein, weshalb Sie diesen Teil Ihrer Arbeiten auf das RuS-Hauptamt verlegen wollen.“860

Kurz darauf schlug Schäfer Beger zur Beförderung zum Sturmbannführer mit der Begründung vor, dieser habe die rassekundliche Abteilung in der Forschungsstätte Innerasien und Expeditionen und den Sektor Mensch innerhalb des Sven-Hedin-Instituts aufgebaut. Zudem habe er „die mannigfaltigen ihm vom Reichsführer-SS übertragenen kriegsbedingten und kriegswichtigen Aufgaben zu seiner größten Zufriedenheit aufgebaut und geleitet“.861 Im Vergleich zum Beförderungsvorschlag Hirts zum Sturmbannführer bestehen im Falle Begers Interpretationsspielräume bezüglich der zunächst nachdrücklich geforderten Genehmigung zum Aufbau einer Schädelsammlung von 150 Asiaten und der Erkenntnis, dass weder geeignete Opfer gefunden noch eine Sammlung aufgebaut wurde.862 Weshalb die Beförderung letztendlich nicht durchgeführt wurde, liegt jedoch im Dunkeln. Auch Beger selbst hielt sich zu den Gründen nach dem Kriege bedeckt.863 Nachdem Beger am 25.10.1943 eine eigene Forschungsstätte gefordert hatte, war er bald wieder zum Wehrdienst eingezogen worden. Am 18.1.1944 schrieb das SS-Personalhauptamt an Beger, dass er mit Wirkung vom 23.2.1944 und mit Beendigung seines Dienstes beim Persönlichen Stab Reichsführer-SS seines Ranges als Fachführer enthoben und wieder zur Truppe – der Standarte „Kurt Eggers“ – kommandiert sei.864 In dieser Einheit widmete sich Beger mit seinem ehemaligen Lehrer Clauß weiter dem Projekt „Rassen im Kampf“. Die Vorbereitungen hatte er bereits Ende April 1944 gemeinsam mit Clauß begonnen.865 Offensichtlich war Beger auch im Einsatz in der Lage, seinen Fachbereich in der Forschungsstätte Innerasien und Expeditionen in Mittersill zu koordinieren. Was in Auschwitz begann und sich in 860  BArch

R 135 / 52, Schreiben von Sievers an Beger vom 23.11.1943. DS G 113 Personalakte Beger, Schreiben von Schäfer an Ahnenerbe vom 27.11.1943. 862  Ebd. 863  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Beger vom 31.3.1960, S. 12. 864  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 210, Schreiben von Katz an Beger vom 18.1.1944. 865  BArch NS 21 / 11 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 4.4.1944. 861  BArch

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

seinem Antrag an Sievers, Brandt und Hildebrandt manifestierte, wurde ab dem Frühjahr 1944 umgesetzt. Nachdem zu Beginn des Jahres das Sonderkommando „K“ offiziell aufgelöst war und die Grenzen des deutschen Einflussgebietes immer enger wurden, verminderte sich auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Forschungsstätte Innerasien und Expeditionen des Amtes A des Hauptamtes Persönlicher Stab Reichsführer-SS noch jemals das würde tun können, was laut Bezeichnung ihr Auftrag war: Expeditionen mit Schwerpunkt Innerasien. Um nun dem Schicksal anderer Forschungsstätten des ­Ahnenerbes zu entgehen, die kriegsbedingt stillgelegt wurden und auf diese Weise die Wissenschaftler zum Fronteinsatz freigab – wie die Forschungsstätten für Biologie und einige geisteswissenschaftliche Abteilungen –, musste ein Auftrag gefunden werden, der die Existenz der Einrichtung sicherte. Nachdem Beger in Auschwitz nur vier Innerasiaten gefunden und sein Alternativprogramm absolviert hatte, schien ihn der Misserfolg nur bedingt zu bekümmern. Ihm muss jedoch klar gewesen sein, dass die Nachricht Eichmanns, dass im Mai 1943 „besonders geeignetes Material“ für sein Forschungsfeld – also Kriegsgefangene aus Vorder- und Innerasien – vorhanden sei, wahrscheinlich nur mit schlechtem ‚Timing‘ begründet war.866 Die Grundannahme, dass es in deutschen Lagern zahlreiche kriegsgefangene Asia­ten geben müsse, war aus seiner Sicht ebenso richtig wie der Ansatz, diese aus organisatorischen Gründen zunächst in der Einflusssphäre seines Arbeitgebers SS zu suchen. Nachdem dies in Auschwitz misslungen war, versuchte er es abermals, jedoch auf breiterer Basis: Beger wandte sich Anfang 1944 an die Leitung der Kriegsgefangenenlager in Torgau. Dort ­ ­beschrieb Beger seinen Forschungsschwerpunkt und das Vorhaben: „Es handelt sich dabei um seit langem geplante Untersuchungen zur Erforschung der Völker Innerasiens und des europäischen Grenzbereiches, der sich lediglich auf russische Kriegsgefangene aus diesen Räumen erstrecken soll. Die Inangriffnahme dieser Aufgabe wird unter dem Titel ‚Mongolenforschung‘ bearbeitet und kann gerade jetzt im Kriege ein gutes Stück vorangetrieben werden, stehen uns doch unter den russischen Kriegsgefangenen geeignete Forschungsobjekte zur Verfügung, wie wir sie in Friedenszeiten nicht mehr so einfach und so billig erhalten können. Die Mongolenforschung ist dabei nicht nur im Sinne der Wissenschaft, in dem unseres Volkes und des neuen Europas. Ihre Bedeutung liegt dabei in einer Zeit, in der die Vorfelder und Einflussgebiete des europäischen und asiatischen Großraums politisch abgegrenzt werden müssen.“867

„Mongolenforschung“, „begonnen im Juni 1943 im Kl Auschwitz“, war auch schon Gegenstand der von Beger skizzierten Forschungsstätte unter seiner Leitung. Beger hatte zu diesem Zeitpunkt bereits damit begonnen, seinen Mitarbeiter Dr. Rudolf Trojan mongolische Kriegsgefangene vermes866  HStA

Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34164 Prozessakte Beger, S. 12a und 12b. R 135 / 44, Antrag von Beger vom 10.2.1944.

867  BArch



VI. Bruno Beger235

sen zu lassen. Trojan war erst Anfang 1943 zum Ahnenerbe gestoßen. Am 16.12.1942 hatte Schäfer in einem Schreiben an Sievers Trojan empfohlen, der zuvor Assistent am Berliner Lehrstuhl des bekannten Anthropologen Theodor Mollison868 gewesen war: „Dr. Trojan wäre vielleicht der geeignete Mann für die Schaffung der künftigen großen Rassenkarte von Europa, die für meine Asienforschung so ungemein wichtig ist, weil sie bei engster Zusammenarbeit mit uns den Anschluß Europas an unsere Erforschung der innerasiatischen Rassenverhältnisse bilden wird.“869

Dieser Brief zeigt deutlich, dass das Projekt der Rassenkarte Europas in Verbindung mit Asien kein unbekanntes oder vages Forschungsvorhaben Begers war. Der Kontakt zu Beger war nach Auskunft Trojans nach dem Kriege über einen anderen Assistenten Mollisons, Kramp, hergestellt worden, der Trojan darauf aufmerksam machte, dass Beger noch einen Anthropologen für eine Expedition suche. Daraufhin sei er mit der Kaukasus-Expedition sowie mit der Teilnahmebedingung vertraut gemacht worden, in die SS einzutreten. Da Trojan aufgrund einer Kontroverse mit Mollison seine dortige Stellung aufgeben musste, sei er zur SS gewechselt und Beger dann noch zwei oder drei Mal begegnet.870 Diese Aussage ist ein gutes Beispiel für die vielen Nachkriegsbehauptungen, man sei nur durch Zufall in die SS hineingeraten und habe mit den nach dem Kriege übel beleumundeten Individuen dort kaum Kontakt gehabt. Gerade im Fall Trojan widerlegen der tatsächliche Ablauf und die jahrelange enge Zusammenarbeit mit Beger seine Nachkriegsbehauptungen. In Trojans Fall ist es jedoch sehr naheliegend, dass er den Gegenstand seiner Tätigkeit im Ahnenerbe verbergen wollte, da er selbst die Publikation einer „Skelettarbeit“ vorbereitete.871 Sievers empfahl, bei der Vermessung der Kriegsgefangenen den in dieser Arbeit erfahrenen Professor Dr. Wolfgang Abel hinzuzuziehen.872 Peter Mierau schreibt hierzu: „Hier zeigt sich zunächst, wie sehr der Rassismus Begers sein politisches Verständnis überlagerte. Eine Auseinandersetzung mit den zentralasiatischen Völkern nach einem deutschen Sieg über die Sow­ jetunion war nach seiner Meinung durchaus denkbar, und so bedeutete die rassekundliche Erforschung dieser Ethnien eine Art rechtzeitiger Rüstung für diesen Krieg. Beger wollte demnach eine rassekundliche Grundlagenforschung betreiben, die allein dadurch besonders fragwürdig war, da sie dabei 868  Theodor Mollison (geb. 31.1.1874 in Stuttgart, gest. 1.3.1952), 1910 Habilitation in Zürich, 1926 Lehrstuhl für Anthropologie in München, dann Wechsel nach Berlin; Doktorvater von Josef Mengele. 869  BArch R 135 / 52, Schreiben von Schäfer an Sievers vom 16.12.1942. 870  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34147 Prozessakte Beger, S. 452, Aussage Trojan vom 13.3.1963. 871  BArch R135 / 44, S. 164353. 872  BArch NS 21 / 11 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 4.4.1944.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

helfen konnte, nach dem Sieg über die Sowjetunion Bevölkerungsverschiebungen in Osteuropa nach rassischen Gesichtspunkten durch­zuführen.“873 Die Wehrmacht gab Beger und seinen Mitarbeitern auf dessen Bemühungen hin ab 1944 die Gelegenheit, Forschungen in Kriegsgefangenenlagern durchzuführen. Offenbar wurde dafür von Beger nicht nur eigenmächtig die Begrifflichkeit des Sonderkommandos K zur Durchsetzung von Forderungen gegenüber der Wehrmacht benutzt, obwohl das Kommando zu diesem Zeitpunkt faktisch nicht mehr existierte. Zwar sprach Sievers Anfang 1944 mit Himmler noch über die Zukunft des Sonderkommandos,874 das Himmler jedoch kurz darauf am 29.1.1944 offiziell auflöste.875 Bei diesen Arbeiten wurde – wie auch in Auschwitz – der Präparator Wilhelm Gabel eingesetzt, ergänzt durch Dr. Rudolf Trojan, den engsten Mitarbeiter Begers. Trojan war faktischer Verteter Begers während seines Fronteinsatzes. Dies ist nicht nur dadurch belegt, dass Trojan während Begers Fronteinsatz seit April 1944876 damit befasst war, weitere Abformmasse zu beschaffen, sondern dass er es war, den Sievers’ Persönlicher Referent Wolff nach einer entsprechenden Weisung Himmlers vom 19.2.1945 anwies, alle Unterlagen zu den Morden von Auschwitz und Natzweiler vor Zeugen zu vernichten und diese Vernichtung in einer eigens gefertigten Urkunde zu beglaubigen.877 In den Kriegsgefangenenlagern Marienburg, Memmingen, Markt Pongau,878 Thorn und Moosburg879 nahmen Gabel und Trojan in Begers Auftrag zudem Vermessungen und Abformungen von Asiaten vor.880 Da die Lager selbst ihre asiatischen Kriegsgefangenen an Begers anthropologische Abteilung in der Forschungsstätte Innerasien und Expeditionen nach Mittersill meldeten und die Ergebnisse der Messungen nicht überliefert sind, kann nur geschätzt werden, dass weit mehr als 1.000 Männer aus Vorder- und Innerasien von Begers Mitarbeitern vermessen wurden.881 Wie zahlreiche Briefe Begers belegen, steuerte er diese Arbeiten von seinem Fronteinsatz heraus auf schriftlichem Wege. Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie Beger Sievers gegenüber erklärte, was Trojans Aufgabe sei: 873  Mierau,

Expeditionen, S. 499 f. NS 21 / 11 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 22.1.1944. 875  Ebd., Eintrag vom 29.1.1944. 876  BArch R 135 / 52, Schreiben von Rothmann (Sekretärin Forschungsstätte Innerasien und Expeditionen) an Schubert vom 15.4.1944: Beger war unlängst eingezogen worden. 877  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 158. 878  Vor 1939 und nach 1945 hieß die Gemeinde St. Johann im Pongau. 879  Gemeint ist Moosburg an der Isar – an den anderen Orten mit Namen Moosburg gab es keine Kriegsgefangenenlager. 880  Mierau, Expeditionen, S. 500. 881  BArch R 135 / 44, Schreiben von Trojan an das Kriegsgefangenenlager Marienburg vom 2.5.1944. 874  BArch



VI. Bruno Beger237 „Im Rahmen meiner [sic!] Abteilung führt Dr. R. Trojan, der dem Sven-Hedin-In­ stitut angehört, z.  Zt. anthropologische Untersuchungen an bolschewistischen Kriegsgefangenen aus Innerasien durch (Turkmenen, Usbeken, Kasachen, Kirgisen, Kalmücken, Tadschiken u. a.). Erst vor kurzem sah ich hier in Berlin einige innerasiatische‘ SS-Männer und hörte von diesen, dass einige aus Usbeken, Kasachen u. a. innerasiatischen Kriegsgefangenen gebildeten SS-Einheiten beständen. Dies brachte mich auf den Gedanken, bei unserer anthropologischen Untersuchung auch diese Männer der Waffen-(SS) zur Vergrößerung des Materials und zur besseren Fundierung der Arbeit erfassen zu lassen.“882

Beger stimmte seine Ideen mit Trojan ab, der daraufhin antwortete: „Ich habe daran gedacht, einfach und schlicht eine Anthropologie der Kasachen und der Usbeken zu schreiben. […] Deine Nachricht von den SS-Rekruten überrascht mich. Natürlich ist das eine Gelegenheit, die günstiger nicht sein könnte. Allerdings möchte ich derartige Unternehmen nur starten, wenn ich in einer Uniform stecke, denn anders ist der Nachdruck zu gering.“883 […] „Die Rekruten würden natürlich eine schöne Vervollständigung unseres statistischen Materials bedeuten. Mitnehmen würde ich sie auf alle Fälle.“884

Neben zahlreichen anderen Beispielen in den Quellen weist hier ein Anthropologe abermals darauf hin, dass Voraussetzung einer statistisch hinreichenden Ergebnisbeurteilung eine hinreichende Anzahl an Probanden ist. Eben diese Anzahl konnte Beger in Tibet weder bei den Abformungen der Tibeter, noch bei der Vermessung der Adligen erzielen. Daher war die TibetExpedition in dieser Hinsicht eine Blamage für Beger. Am 1.7.1944 schrieb das Kriegsgefangenenlager Memmingen an das „Reichsinstitut Sven Hedin, Sonderkommando K, Mittersill“ – offenbar hatte der Absender den Briefkopf Trojans für das Adressfeld übernommen. Diese Adressierung enthielt keinerlei Hinweise auf das Ahnenerbe. Das Lager Memmingen meldete „z. Zt. etwa 200 sowj. Kgf. aus asiatischen Ländern“.885 Nach Abschluss der Arbeiten in Markt Pongau, also in der Nähe von Mittersill, schrieb Trojan an Beger: „Wir haben die ganzen Asiaten der Salzburger Gegend gemessen.“

Es folgt ein Satz, der aufhorchen lässt: „Dazu kam, dass ich diesmal selbst alle Angelegenheiten erledigte und Gabel nicht vorher in einem Lager zeigen ließ. Wir konnten in den einzelnen Lagern den ganzen Tag über arbeiten. Die Gefangenen standen uns ganz selbstverständlicherweise zur Verfügung, von Schwierigkeiten war überhaupt keine Rede. Die Zuvorkommenheit der entsprechenden Stellen war überall ausgezeichnet. Ich unterliess es allerdings auch nicht, gewisse Andeutungen über den geheimen Charakter des Unternehmens fallen zu lassen. Die Leute wollen eben betrogen sein. […] Nun will 882  BArch

R 135 / 52, Schreiben von Beger an Sievers vom 20.6.1944. R 135 / 44, Schreiben von Trojan an Beger vom 9.6.1944. 884  Ebd., Schreiben von Trojan an Beger vom 23.6.1944. 885  Ebd., Schreiben von Trojan an Beger vom 16.6.1944. 883  BArch

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ich noch in der Innsbrucker Gegend und dann in der Mittersiller-Pinzgauer Gegend einige Leute messen. Insgesamt sind das für diesen Bereich dann auch wieder etwa 300 Leute. […] Ich habe das OKW um Verlängerung der Ausweise gebeten und gleichzeitig um Angabe der übrigen Lager, in denen sich Asiaten befinden.“886

In dem Schreiben ließ Trojan mehrfach durchblicken, dass dieser gegenüber dem Lagerpersonal auf den Geheimauftrag des Reichsführers-SS verwies und sich so Autorität verschaffte.887 Bemerkenswert ist jedoch der Hinweis auf das Verhalten Gabels: Schon in Auschwitz war dieser verblüffend redselig gegenüber Häftlingen gewesen, wie unten noch gezeigt wird. Das Vorgehen Trojans und Begers bei diesen Arbeiten in Einrichtungen der Wehrmacht ist bemerkenswert. Trojan schrieb am 9.6.1944 an Beger:

„Von meinem Münchener Coup habe ich Dir vielleicht noch gar nicht erzählt, nämlich, dass ich beim Kommandeur für die Kriegsgefangenen war und mich beschwert habe, und dann von oben der Segen kam, sodass der Herr Hauptmann selbst erschien in der Schulstraße und für Ordnung sorgte. Ich reise seither auf Geheimtour, und kann Dir nur für alle Fälle Deiner künftigen Fahrt das gleiche anraten: lasse Dich nie auf Erklärungen ein! Ich sagte, ich handle nur im Auftrag, ich hätte bestimmte Ergebnisse abzuliefern. Meistens überlegte man dann und kam zu der Erkenntnis, dass das zweifellos politische Hintergründe haben müsste, worauf man selbstverständlich für die Arbeit sofort das notwendige Verständnis hatte. Es ist richtig traurig.“888

Auch im Münchener Kriegsgefangenenlager Schulstraße nahm Gabel Abformungen von Kriegsgefangenen aus Innerasien vor.889 Während Trojan einerseits bei Beger anregte, die Untersuchungen nicht endlos auszudehnen, sondern sie nach dem Vorliegen einer statistisch relevanten Masse an Probanden einzustellen, regte er andererseits bei Beger an, sich nach weiblichen Angehörigen der Roten Armee aus Innerasien zwecks Vergleichsstudien umzusehen. Auch hier erfolgt wieder der Hinweis auf die statistisch relevante Masse, deren Fehlen in Tibet den Erfolgsdruck auf Beger nach seiner Rückkehr nicht gemindert haben dürfte. Trojan teilt weiter mit, er habe keine Vorstellung, wo weibliche Angehörige der Roten Armee zu finden seien. „Ob in einem KZ?“890 Beger vermerkte auf Trojans Brief, wo diese zu finden sind: in sowjetischen Frauenbataillonen und in Konzentrationslagern.891 Die Faszination von Begers „Abteilung Mensch“ des Sonderkommandos „K“ – also von Beger, Trojan, Fleischhacker und Gabel – für Innerasiaten wurde durch die auch für damalige Verhältnisse sehr große Zahl an Proban886  Ebd.

887  Mierau,

Expeditionen, S. 502. R 135 / 44, Schreiben von Trojan an Beger vom 9.6.1944. 889  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Gabel vom 25.7.1960, S. 53. 890  BArch R 135 / 44, Schreiben von Trojan an Beger vom 16.6.1944. 891  Mierau, Expeditionen, S. 503. 888  BArch



VI. Bruno Beger239

den nicht gemindert, wie Peter Mierau festgestellt hat. Auf der Suche nach neuen Innerasiaten verfiel Beger auf die Idee, diese unter den Freiwilligen der Wlassow-Armee zu suchen.892 Wieder richtete er an Sievers diverse Anträge, und erneut entsprach der Sprachstil jenem der Expeditionsdenkschrift, der Schädelsammlungs-Denkschrift, den Wehrmachtskriegsgefangenen-Anträgen und allen anderen Vorhabensbeschreibungen Begers. All diese Dokumente bilden in fachlicher, sprachlicher und stilistischer Hinsicht eine Serie.893 In seinem letzten Antrag an Sievers verlangte Beger die Vermessung der Innerasiaten der Ersatzabteilungen der sogenannten Wlassow-Armee.894 Für den 21.7.1944 hatte Standartenführer Gunther d’Alquen, der Kommandeur der SS-Standarte Kurt Eggers und damit Begers Vorgesetzter, einen Gesprächstermin zwischen Himmler und dem Gründer der neuen Formation, Andrei Andrejewitsch Wlassow, arrangiert.895 Dies wurde jedoch wegen des Hitler-Attentats vom 20.7.1944 auf den 16.9.1944 verschoben.896 Es konnte seit Kriegsausbruch beobachtet werden, wie sich Himmler vom ideologischen Fanatiker zum Pragmatiker entwickelte: Beispielsweise wurde der Heiratsbefehl der SS faktisch ausgesetzt. Ein anderes Beispiel ist SS-OberstGruppenführer Sepp Dietrich, von dem berichtet wird, dass er als einer der 892  Die nach ihrem Initiator und ersten Kommandeur der Wlassow-Armee benannte Einheit setzte sich aus sowjetischen Kriegsgefangenen zusammen, die bereit waren, gegen Stalin zu kämpfen. Nachdem es schon einige Jahre Hilfswillige aus der Sowjetunion zur Unterstützung der rückwärtigen Verbände der Wehrmacht gab, stellte die Waffen-SS ab Anfang 1944 auch Freiwilligen-Kampfverbände aus sowjetischen Kriegsgefangenen auf. Der gefangene Generalleutnant Andrej Andrejewitsch Wlassow schuf eine Organisation, die alle Sowjetbürger im Kampf gegen Stalin vereinen sollte, darunter Kriegsgefangene, Emigranten und Zwangsarbeiter. Diese Einheit war der Wehrmacht unterstellt. Ende 1944 führte Himmler als Chef des Ersatzheeres die Vorhaben zusammen und plante zehn Divisionen aus Sowjetbürgern zuzüglich weiterer Einheiten, beispielsweise Panzerabteilungen und Luftwaffen-Einheiten. Nach einem Treffen Himmlers mit Wlassow im September 1944 wurde die erste Division der Wlassow-Armee aus SS-Freiwilligen-Einheiten aufgestellt. Göring forderte Ende 1944 die Aufstellung von Luftwaffeneinheiten innerhalb der Wlassow-Armee. Im Januar 1945 wurde die zweite Division aufgestellt. Es folgten noch drei weitere Brigaden – nach Friedensstärke wären dies zwei Divisionen gewesen. Der frühere Militärattaché an der Deutschen Botschaft in Moskau Ernst Köstring – nach dem Einmarsch in die UdSSR in den Ruhestand versetzt – übergab als reaktivierter General der Freiwilligenverbände im OKH an Wlassow im Februar 1945 die erste ausgebildete Division. Die Reste der Wlassow-Armee wechselten am 6.5.1945 beim Prager Aufstand die Seiten. Nach dem Krieg wurden die Angehörigen der Wlassow-Armee an die UdSSR ausgeliefert. Wlassow und einige seiner Generäle wurden bereits 1946 hingerichtet, viele andere Angehörige seiner Armee sollen gefolgt sein, die anderen erwartete pauschal sechs Jahre Verbannung in Zwangsarbeiterlagern. 893  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, S. 34. 894  BArch NS 21 / 135, Schreiben von Beger an Sievers vom 20.6.1944. 895  Mierau, Expeditionen, S. 504. 896  Hoffmann, Wlassow, S. 20.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

vier ranghöchsten SS-Führer – und gewiss der populärste – bei Aufenthalten auf dem Obersalzberg in Waffen-SS-Uniform in die katholische Messe ging. Selbst im geheimsten Teil des Ahnenerbes, dem Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung, wurde nicht nach SS-Zugehörigkeit gefragt. Der vom Parteigericht der NSDAP wegen einer möglichen Beziehung mit einer Jüdin angeklagte Mentor Begers, Clauß, erhielt Spezialaufträge wie „Rassen im Kampf“ von der SS. Ab 1944 verhandelten Himmlers Bevollmächtigte sogar mit ausländischen Juden über Häftlingsfreikäufe.897 Als Himmler nach dem auf Hitler am 20.7.1944 verübten Attentat Befehlshaber des Ersatzheeres wurde, dürfte er keine ideologischen Hemmnisse gehabt haben, durch eine Kooperation mit Andrei Wlassow oder die Eingliederung von Kosaken-Verbänden in die Waffen-SS die politisch-militärische Bedeutung der SS zu steigern.898 Da dies nicht die erste SS-Einheit aus sogenannten sowjetischen „Untermenschen“ war, ging Himmler nach Pilotprojekten, wie der Kaminski-Brigade, den eingeschlagenen Weg nach dem Motto „Kampfkraft vor Ideologie“ weiter.899 Doch auch die SS-Freiwilligen-Verbände auf dem Balkan waren für Beger von Interesse. Ende Juli 1944 fuhr er mit Clauß zur „Muselmanen-Division“ nach Bosnien.900 Sievers hatte Beger den notwendigen Ausweis für diese Forschungen an der Front beschafft.901 An der Front plante Beger, „dem Dinarierproblem und dem „alpinen Gürtel“ nachzugehen. Beger hielt einen für 897  Vgl. u. a.: Bauer, Yehuda: Freikauf von Juden? Verhandlungen zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und jüdischen Repräsentanten von 1933 bis 1945. Frankfurt 1996. 898  Vgl. u. a.: Schröder, Matthias: Deutschbaltische SS-Führer und Andrej Vlasov 1942–1945: „Rußland kann nur von Russen besiegt werden“: Erhard Kroeger, Friedrich Buchardt und die „Russische Befreiungsarmee“, Paderborn 2003. Ebenso: Hoffmann, Joachim: Die Tragödie der Russischen Befreiungsarmee 1944 / 45. Wlassow gegen Stalin. München 2003. 899  Vgl.: Dallin, Alexander: The Kaminsky Brigade. A Case-Study of Soviet Disaffection. In: Revolution and Politics in Russia (= Russian and East European Series, 41), S. 243–280, Indiana 1972. 900  BArch R 135 / 44, Schreiben von Beger an Sievers vom 26.7.1944. Die sogenannte Muselmanen-Division der SS – eine Einheit, die als Ostmuselmanische SSDivision gegründet wurde und dann die Bezeichnungen Turkmuselmanische Division und ab dem Mai 1944 Muselmanische SS-Division Neu-Turkestan führte, bevor sie seit dem 1.10.1944 unter der Bezeichnung Osttürkischer Waffen-Verband der SS (Harun al-Raschid) geführt wurde – war im fraglichen Zeitraum jedoch innerhalb des Verbandes Dirlewanger in der Ukraine eingesetzt. Wenngleich deren Freiwillige, überwiegend Angehörige von Turkvölkern und aus dem Kaukasus, in Begers Interessenlage passten, handelte es sich bei der gegenständlichen Einheit wohl um die 13. Waffen-Gebirgs-Division der SS „Handschar“ (kroatische Nr. 1), die zu jenem Zeitpunkt dort eingesetzt war und zahlreiche muslimische Freiwillige in ihren Reihen hatte, die zu jener Zeit auf dem Balkan eingesetzt waren. 901  BArch NS 21 / 238, Schreiben von Beger an Sievers vom 7.6.1944.



VI. Bruno Beger241

den Fall wichtigen Sachverhalt fest: „Dieser Übergangsraum zur vorderasisatischen Rasse hat mich schon immer gereizt.“902 Trojan gab Beger mit auf den Weg: „Ich wünsche Dir jedenfalls recht viel Erfolg bei den Muselmanen. Schade, dass Ihr wahrscheinlich kein anthropometrisches Material werdet sammeln können. Es gäbe eine gute Vergleichsbasis für spätere Kaukasus­ geschichten.“903 Beger gab nach dem Kriege an: „Wir landeten schließlich bei der 13. Handschar – einer Waffen-SS Division aus Bosniaken. Der Zusammenbruch dort, eine Gesichtsverwundung Professor Clauß’ und der Verlust eines großen Teils unserer Ausrüstung […] führte zu unserer Rück­ reise.“904 Am 1.12.1944 teilte Sievers Beger als Antwort auf dessen Schreiben vom 20.6.1944 mit, dass zwar ein neuer Verband der Waffen-SS aufgestellt sei – der „osttürkische Waffenverband der SS“ unter Führung von Oberst Harun al Raschid (Wilhelm Hintersatz) – die Vermessung dieser Asiaten jedoch aus politischen Gründen noch bis zu einem günstigeren Zeitpunkt zurückgestellt werden müsse.905 Dies hielt Beger nicht davon ab, sich brieflich an seinen Freund Dr. Herbert Grau, der bei diesem Verband diente, sich wegen Vermessungen von Angehörigen dieser SS-Einheit zu wenden.906 Trojan war von Begers Vorhaben, die Innerasiaten der Wlassow-Armee untersuchen zu wollen, angetan.907 Doch wieder reagierte Sievers zögerlich und lehnte Begers Plan ab.908 Es ist bezeichnend, dass Sievers seit Begers Aktivitäten in Auschwitz alle ähnlichen Vorhaben Begers im Ahnenerbe bremste. Seit der Verhaftung Raschers am 30.3.1944, dem seine Humanversuche unmittelbar von Himmler befohlen worden waren, und dem Auslaufen der Anfang 1943 beendeten Lost-Versuchsreihe Hirts in Natzweiler – dem Preis für dessen Beitritt zum Ahnenerbe – setzte Sievers alle Versuche aus, die mit Humanversuchen in Zusammenhang standen. Dabei ist ausdrücklich festzuhalten, dass es zutreffend ist, dass Himmler am 15.5.1944 verfügte, dass ärztliche Versuche in Konzentrationslagern nunmehr ausnahmslos seiner persönlichen Genehmigung bedürften. Da Himmler jedoch ausdrücklich die Fortführung von Raschers (Human-)Versuchen durch Kurt Plötner befohlen hatte, aber auch stets die Versuche von und unter der Leitung von Hirt, dürfte dies kaum ein Hemmnis für Sievers gewesen sein. Vor allem in Bezug auf Beger ist Sievers’ Briefstil bemerkenswert distanziert, und seine in diesem 902  BArch

R 135 / 44, Schreiben von Beger an Schäfer vom 26.7.1944. Schreiben von Trojan an Beger vom 8.8.1944. 904  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34152 Prozessakte Beger, Lebenslauf Beger o. Dat., S. 1355. 905  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 245a. 906  Ebd., S. 246a. 907  BArch R 135 / 44, Schreiben von Trojan an Beger vom 23.6.1944. 908  Ebd., Schreiben von Sievers an Beger vom 26.7.1944. 903  Ebd.,

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Falle sehr zögerliche Bearbeitung der Korrespondenz darf als Verschleppung interpretiert werden. Während er noch formal Kriegsdienst bei der SS-Kriegsberichterstandarte „Kurt Eggers“ leistete, reiste Beger mit Clauß nicht nur auf den Balkan, sondern – ebenso wie sein Mitarbeiter Trojan – auch in Kriegsgefangenenlager, um dort Gefangene zu vermessen. Dabei wurde Beger allerdings weiter vom Reichsinstitut Sven Hedin bezahlt.909 Er reiste im September 1944 unter anderem nach Moosburg bei München, um im dortigen Kriegsgefangenenlager jugoslawische Partisanen zu vermessen.910 Die Vermessung und Abformung von Menschen der „Brücke“ Asien – Europa stellte (wie erläutert) von 1938 bis kurz vor Kriegsende das Hauptinteressengebiet Begers dar. Die aus vorderasiatischen Sowjetrepubliken stammenden Angehörigen der Roten Armee wurden in den Kriegsgefangenenlagern immer zahlreicher. Längst war es nicht mehr notwendig, dass Beger in die Heimat dieser Menschen reiste. Anfang 1945 war jedoch abzusehen, dass der Anteil der Vorderasiaten, die als Kriegsgefangene nach Deutschland kamen, immer geringer wurde. Der Anteil der vorderasiatischen Angehörigen der Roten Armee, die mit der Waffe in der Hand dem Standort der Ahnenerbe-Dienststelle des Unterscharführers der Waffen-SS Dr. Bruno Beger unaufhaltsam näher rückten, wurde indes immer größer. Der Raum für Rassenforschung schwand. Bruno Beger wurde Anfang 1945 in seiner Gebührniskarte als SS-Hauptsturmführer und Abteilungsleiter, sowie als Unterscharführer der Waffen-SS geführt.911 Somit ist belegt, dass die Abteilung „Mensch“ des Sonderkommandos „K“ keine hypothetische Skizze war, sondern faktisch als bestehende Institution behandelt wurde. Im Ergebnis heißt dies, dass es innerhalb der Forschungsstätte Innerasien und Expeditionen des Ahnenerbes – wenngleich nicht formal, so doch faktisch – zwei Abteilungsleiter gab: Schäfer und Beger, den Sievers wie gezeigt auch als Abteilungsleiter ansprach. Dies mag die in den Quellen immer wieder deutlich werdende Konkurrenzsituation erklären. Die Gebührniskarte weist auch die Entlassung Begers als Abteilungsleiter und dessen endgültige Überstellung an die Waffen-SS aus. Sie spiegelt zudem die Entscheidungen Sievers vom 16.3.1945 darüber wider, welche Forschungsbeihilfen ab sofort fortfallen sollten. Die Entlassung Begers aus dem Ahnenerbe entsprach den Personaldispositionen, die Sievers

909  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34164 Prozessakte Beger, S. 13j ff., Gehaltsabrechnungen Sven Hedin-Institut für September 1944, für Beger von April 1943 bis September 1944. 910  BArch, R 135 / 44, Schreiben von Beger an Trojan vom 3.9.1944, vgl. ebd. Schreiben von Beger an Trojan vom 5.9.1944. 911  BArch DS G 113 Personalakte Beger, Gebührniskarte Beger.



VII. Die deutschen Tatbeteiligten und Zeugen243

am 17.3.1945 mit Ahnenerbe-Personalchef Dr. Dr. Alfred Kraut912 besprach, bevor er diesen am 19.3.1945 damit zur Genehmigung in Himmlers Hauptquartier Frankenwald in Bad Frankenhausen – gelegen im Südharz im Kreis Sondershausen – entsandte, von wo dieser am 24.3.1945 an den AhnenerbeSitz nach Waischenfeld zurückkehrte.913 Die letzte und endgültige Überstellung Begers an die Waffen-SS unter Entlassung aus dem Abteilungsleiter-Arbeitsverhältnis beim Ahnenerbe – und vermutlich auch aus dem Reichsinstitut Sven Hedin – erfolgte formal zum 1.5.1945. An diesem Tag wurde Wolfram Sievers in Waischenfeld verhaftet, nachdem die Amerikaner den Ort am 14.4.1945 eingenommen hatten. Beger rückte jedoch gemeinsam mit einem Schüler Clauß’, dem Psychologen Dr. Reinhard Walz, bereits im März 1945 beim osttürkischen Waffenverband der Waffen-SS in Italien ein.914 Seine „Aufgabe bestand darin, […] dem deutschen Rahmenpersonal das Verständnis für die Mentalität der dem Waffenverband angehörenden Innerasiaten zu vermitteln“.915 So konnte er trotz der verweigerten Zustimmung Sievers’ noch anthropologische Untersuchungen an diesem Verband vornehmen. In Italien geriet Beger als Angehöriger dieser Einheit bei Kriegsende in Gefangenschaft.916

VII. Die deutschen Tatbeteiligten und Zeugen Die vorstehenden biographischen Kapitel zu Sievers, Hirt und Beger hatten das Ziel, die Hintergründe zur Person jedes der Haupttäter an dem Verbrechen der Straßburger Schädelsammlung aufzuklären und ihren beruflichen Werdegang abzubilden, um die Interessenlage und somit auch mögliche Motive für die Tatbeteiligung zu erhellen. Die nachfolgenden Kapitel haben hingegen die Aufgabe, jene Personen, die Beihilfe und Unterstützung leisteten, in gebotener Kürze biographisch vorzustellen. Vor allem soll gezeigt werden, welche Motive vorhanden waren, nach dem Kriege der Öffentlich912  Alfred Kraut (geb. 8.7.1900 in Haida / Sudetenland), letzter Rang: SS-Hauptsturmführer. Abitur, Studium der Volkswirtschaft und Geschichte, Dr. phil., Dr. rer. pol., Sprachkenntnisse: französisch, englisch, russisch, tschechisch, Dolmetscherprüfung russisch und tschechisch, Heirat mit Dr. Edith Schlosser, Eintritt in die NSDAP 1938 (Nr. 6.428.060), Eintritt in die SS (Nr. 357.258) und als Referent ins Ahnenerbe am 1.7.1940 im Range eines Obersturmführers, 1943 Hauptsturmführer und Fachführer „Presse- und Kriegswirtschaft“ (vgl. BArch SSO 209 A Personalakte Kraut). 913  BArch NS 21 / 794 Diensttagebuch Sievers, Einträge vom 9.2. bis 31.3.1945. 914  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34152 Prozessakte Beger, Lebenslauf Beger o. Dat., S. 1355. 915  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Vernehmung Beger vom 31.3.1960, S. 10. 916  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 6.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

keit sowie den Ermittlungsbehörden und Gerichten genau jene Erinnerungen zu präsentieren, die dann schließlich vorgetragen wurden. Grundsätzlich drohte allen nachfolgend genannten Personen eine Anklage wegen Beihilfe zum Mord. Der amerikanische Hauptankläger im Ärzteprozess, Telford Taylor, schilderte im Jahre 1964 recht freimütig, dass die Auswahl der Angeklagten im Ärzteprozess mit erheblicher Willkür geschah. Das Ziel sei es gewesen, einige Verantwortliche für die Verbrechen repräsentativ zu bestrafen und eben nicht jeden anzuklagen, gegen den genügend Beweismaterial vorlag. Einer der Faktoren, „der unter Umständen dazu führte, gewisse Leute nicht in Nürnberg anzuklagen war ganz einfach die Größe des größten verfügbaren Gerichtssaals. Er konnte nur 24 Angeklagte aufnehmen.“917 Durch den Überleitungsvertrag gingen Strafverfolgungsansprüche, insbesondere bei Straftaten wie Mord, auf die Strafverfolgungsbehörden der Bundesrepublik Deutschland über.918 Davon unberührt war die Strafverfolgung in Frankreich gegen französische Staatsangehörige, zu denen auch vormals elsässische Bürger gehörten. Auch ohne ein mögliches Strafverfahren oder gar ein Urteil hätte ein Ermittlungsverfahren wegen Verwicklung in eines der bekanntesten Verbrechen der NS-Diktatur einen erheblichen persönlichen und beruflichen Reputationsverlust für die Betroffenen bedeutet. Dies wird am Beispiel von Hans Fleischhacker deutlich. Nach Bekanntwerden seiner Verwicklung in das Verbrechen wurde er noch während des Ermittlungsverfahrens vom Universitätsdienst suspendiert und war besonders unter der Studentenschaft der späten 1960er und der 1970er Jahre einem erheblichen Ansehensverlust ausgesetzt, die seine Berufung zum Professor verzögerte.919 Bei den elsässischen Beteiligten war – unabhängig von einer möglichen Verurteilung – die Gefahr der gesellschaftlichen Ächtung als Kollaborateur noch größer. Die betroffenen französischen Staatsbürger hätten sich fragen lassen müssen, warum sie sich freiwillig bei einer deutschen staatlichen Einrichtung wie der vormaligen Reichsuniversität bewarben – insbesondere, wenn es sich um ein Institut handelte, das unter der Leitung eines SS-Offiziers stand. Die Tatsache, dass sich dort ein weithin bekanntes Verbrechen abgespielt hatte, hätte den Druck noch erheblich verschärft. Daher gab es für jeden Zeugen einen ähnlichen, aber individuell unterschiedlichen Grund, bei den Aussagen nach dem Krieg die eigene Rolle „klein zu reden“ und die Verantwortung auf jene abzuwäl917  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34150, Aussage Taylor vom 23.1.1964 in der Vorermittlungssache gegen Karl Wolff, S. 745 / 865. 918  Bundesgesetzblatt 1954 II S. 202; 1955 II S. 405: Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen. 919  Vgl. Richard Kühl / Jens Kolata: Zwischen Hörsaal und Gerichtssaal. Hans Fleischhackers zweite Karriere nach 1945, in: Jens Kolata / Richard Kühl / Henning Tümmers / Urban Wiesing (Hrsg.): In Fleischhackers Händen. Wissenschaft, Politik und das 20. Jahrhundert, Tübingen 2015, S. 225–251, hier S. 236 f. u. 243 ff.



VII. Die deutschen Tatbeteiligten und Zeugen245

zen, die diesen Darstellungen qua vorherigem Todeseintritt nicht mehr widersprechen konnten: Himmler, Hirt und Sievers. Es ist unerlässlich, bei der Bewertung der Zeugenaussagen von nationalsozialistischen Verbrechen eine aussagepsychologische Einordnung zumindest implizit vorzunehmen. Die eine Zeugengruppe gehörte zu den Opfern, die in der Regel schwer traumatisiert waren. Andere waren Täter oder Mittäter, die ihre Vergangenheit und Motive zu verschleiern suchten, um sich der Strafverfolgung zu entziehen. Viele von letzteren hatten Beruf, Stellung und soziale Bindungen verloren, als sie zunächst untertauchten und es häufig auch nicht verwanden, auf der Seite der Verlierer des Krieges zu stehen. Auch hier kann häufig eine Traumatisierung angenommen werden. Ein prägnantes Beispiel ist der oben erwähnte Ferdinand Holl. Als Kapo – er bezeichnete sich als Zeuge im Ärzteprozess selbst mit diesem Begriff – im Konzentrationslager Natzweiler genoss er Privilegien auf Kosten der anderen Häftlinge und arbeitete dafür der Lagerleitung zu. Zudem gehörte er vor deren Verbot der Kommunistischen Partei im Saarland an, die – wie an zahlreichen Beispielen, unter anderem jenem des saarländischen Kommunisten und späteren SED-Chefs Erich Honecker, im Detail bekannt wurde – den Nationalsozialismus von jeher erbittert bekämpfte. Holl erinnerte sich – wie gezeigt – bei jeder Vernehmung an andere Opferzahlen der Versuche in Natzweiler, was bemerkenswerterweise weder vom Gericht noch von der Verteidigung in den jeweiligen Fällen hinterfragt wurde. Vor allem aber schilderte Holl Details des Verbrechens der Schädelsammlung, die frei erfunden waren, wie beispielsweise die Behauptung, dass einige der mit Gas vergifteten Opfer nach der Tortur noch lebten und lebendig verbrannt worden seien.920 Dies schilderte er nicht nur – wie in seiner unten zitierten Aussage gezeigt – selbst, sondern teilte dies auch anderen Zeugen mit, die dies wiederum als vermeintliche Wahrheit den Ermittlungsbehörden zu Protokoll gaben. Ein anderes Beispiel ist der französische Arzt Dr. Henri Chretien, der nach seiner Befreiung noch im Konzentrationslager Dachau eine beeindruckende Aussage zu Protokoll gab („contre la barbarie nazie“). In dieser schilderte er die Ankunft der 30 weiblichen Opfer Hirts und Begers und gab an, dass an diesen Experimente vorgenommen wurden, nach denen sie vergast und dann verbrannt wurden, um Spuren zu verwischen. Dabei betonte er ausdrücklich, dass Ferdinand Holl ihm dies berichtet habe.921 Aus den genannten Gründen scheint es sinnvoll, nachfolgend die jeweiligen Biographien zur Überprüfung von Motiven und Glaubwürdigkeit der Zeugen, 920  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Holl vom 3.11.1946, S.  373 ff. 921  USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020, Vernehmungsprotokoll Chretien o. Dat., S. 209 f.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

besonders jener im Beger-Prozess, kurz vorzustellen. Aus diesem Anliegen wurden für die biographischen Angaben weitgehend deren eigene Aussagen herangezogen. Da diese im Gegensatz zu den Haupttätern nicht Gegenstand einer vertieften historischen Erkundung sind, erschien das hinreichend. Mitarbeiter August Hirts und Bruno Begers, die zwar schwerste Verbrechen begangen haben, wie Karl Kaspar Wimmer, aber nicht unmittelbare Mittäter des Verbrechens der Schädelsammlung waren, werden hier nicht behandelt. 1. Wolf-Dietrich Wolff Neben Bruno Beger wurde Wolf-Dietrich Wolff in Zusammenhang mit der Straßburger Schädelsammlung am 8.5.1965 von Fritz Bauer als Generalstaatsanwalt angeklagt. Obgleich Wolff freigesprochen wurde, soll sein Werdegang hier geschildert werden, da seine Person immer wieder „am Rande“ in der Literatur erscheint. Doch dort bleibt sein Bild unscharf und findet manchmal als angeblicher, entfernter Verwandter von Karl Wolff Erwähnung, dem mächtigen Chef des Hauptamtes Persönlicher Stab Reichsführer-SS. Auch weil er ein typischer Vertreter seiner Generation ist, soll er hier vorgestellt werden: Wolf-Dietrich Wolff wurde am 21.5.1913 als einer von zwei unehelichen Zwillingsbrüdern in Berlin-Adlershof geboren.922 Seine Mutter Dora Klara, geborene Wolff, war mit Wilhelm Sawatzki verheiratet, der jedoch nicht der Vater von Wolf-Dietrich Wolff war.923 Deshalb trennte dieser sich von Wolffs Mutter vor der Geburt.924 Am 1.5.1914 stellte das Landgericht Danzig rechtskräftig fest, dass Sawatzki nicht der Vater der Jungen sei.925 Vom sechsten bis zum zehnten Lebensjahr war Wolff an Malaria erkrankt. Er besuchte zunächst im Jahre 1919 die Volksschule in Danzig und dann von 1920 bis 1928 die Volksschule in Berlin.926 Anschließend war Wolff Inter922  BArch NS 21 / 944, Personalakte Wolff: Wolffs Geburtsurkunde Nr. 161 vom 21.6.1913 trägt den Vermerk, dass ein Zwilling zur Geburtsurkunde Nr. 160 eingetragen sei. Folglich war dieser älter. Zudem hatte er eine im Jahre 1908 geborene Schwester; vgl. HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34148 Prozessakte Beger, Aussage Wolff vom 5.11.1963, S. 233 / 10. 923  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34148 Prozessakte Beger, Aussage Wolff vom 5.11.1963, S. 233 / 10. 924  In der Geburtsurkunde heißt es: „Dora Klara Sawatzki, geb. Wolff, ohne Beruf, Adlershof Waldstr. 51, Ehefrau des Kaufm. Wilhelm Hermann Bruno Sawatzki ev., unbek. Aufenthalts“. 925  BArch NS 21 / 944, Personalakte Wolff, Urteil des Amtsgerichtes Danzig vom 1.5.1914. 926  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34148 Prozessakte Beger, Aussage Wolff vom 5.11.1963, S. 233 / 10.



VII. Die deutschen Tatbeteiligten und Zeugen247

natsschüler der Aufbauschule Scharfenberg auf der gleichnamigen Insel im Berliner Tegeler See, von der er wegen Geldmangels in der Untersekunda abging, um vier Semester an der Städtischen Handelsschule Berlin zu studieren.927 Anschließend begann er eine kaufmännische Lehre als Buchhalter bei der Fulgo Export GmbH.928 Da jedoch seinem jüdischen Lehrherrn im Zuge der Machtübernahme der Ausbildereignungsschein aberkannt wurde, musste Wolff seine Lehre vorzeitig ohne Abschluss beenden.929 Im Juni 1934 trat er in die SA ein, um ab 1935 im Reichsarbeitsdienst sein Arbeitspflichtjahr sowie zudem Freiwilligendienst und anschließend den Wehrdienst am Westwall abzuleisten. Erst beim Eintritt in den Reichsarbeitsdienst will Wolff festgestellt haben, dass sein Name Wolff sei, während er bis dahin im festen Glauben war, amtlich Sawatzki zu heißen.930 Als Gefreiter der Reserve und Unteroffiziersanwärter entlassen, kehrte er als Obertruppführer zum Reichsarbeitsdienst zurück und absolvierte von Herbst 1938 bis Frühjahr 1939 einen Unterführerlehrgang beim Reichsarbeitsdienst.931 Wolff lernte seine spätere Ehefrau Hildegard Gardey während der Lehre kennen. Sie wechselte aus dem Lehrbetrieb als Sekretärin zum Ahnenerbe in Berlin. Laut der Quellenlage kam Wolff über Gardey in Kontakt zum Ahnenerbe.932 Wolff gab nach dem Krieg an, dass seine spätere Frau sich für ihn bei Sievers eingesetzt habe, der ihn daraufhin aufgefordert habe, sich zu bewerben.933 Sie wusste, dass Sievers in seinem Vorzimmer keine männliche Arbeitskraft hatte und für den dienstlichen Verkehr mit vorgesetzten Dienststellen nach einem Sekretär suchte.934 Am 20.1.1939 bewarb sich der 26-jährige Wolff handschriftlich bei Sievers im Ahnenerbe als Buchhalter. Unter den drei Referenzen finden sich der NSDAP-Blockwart seiner Wohnung und ein SS-Oberscharführer aus dem Ahnenerbe, dessen Name nicht eindeutig zu

927  HStA

S. 11.

Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34171 Prozessakte Beger, Urteil vom 6.4.1971,

928  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34148 Prozessakte Beger, Aussage Wolff vom 5.11.1963, S. 234 / 11. 929  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34171 Prozessakte Beger, Urteil vom 6.4.1971, S. 11. 930  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34148 Prozessakte Beger, Aussage Wolff vom 5.11.1963, S. 233 / 10. 931  BArch NS 21 / 944, Personalakte Wolff, Lebenslauf o. Dat. 932  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Wolff vom 14.12.1960, S. 74. 933  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Wolff vom 7.11.1962, S. 210. 934  IfZ ZS A 0025 03-77 Sammlung Michael H. Kater („Ahnenerbe“), Schreiben von Wolffs Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Achim v. Winterfeldt an Kater vom 21.12. 1967, S. 593.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

identifizieren ist.935 Es kann jedoch ausgeschlossen werden, dass unter den Referenzen die mächtige „rechte Hand“ Himmlers, Karl Wolff, war. Am 3.2.1939 bot Sievers ihm eine Stelle an, sofern er unverzüglich anfangen könne, dies bei einem Gehalt von 265 Reichsmark.936 Dazu wurde Wolff im Range eines Oberscharführers in die SS aufgenommen.937 Am 19.12.1939 reichte der von der Wehrmacht beurlaubte Wolff ein Heiratsgesuch ein, um die Ahnenerbe-Sekretärin Hildegard Gardey zu heiraten.938 Sievers organisierte die kurzfristige Genehmigung, so dass Wolff am 23.12.1939 heiratete und dann zur Wehrmacht zurückkam.939 Der Kriegsdienst Wolffs endete am 31.7.1941 aufgrund einer schweren Verwundung. Mit seiner Frau Hildegard wohnte er bis zur Übersiedlung des Ahnenerbes nach Waischenfeld in der Davoser Straße 11 in Berlin-Schmargendorf. Die noch kinderlose SS-Familie verfügte 1944 über ein gutes monatliches Einkommen von 760 Reichsmark brutto. Am 30.1.1944 wurde Wolff zum SS-Obersturmführer (F) befördert. Als Adresse gab er zu dieser Zeit an: „kriegsbedingte Anschrift Waischenfeld / Oberfranken Nr. 135, SS-Lager“. Am 6.4.1944 wurde im Lebensbornheim Steinhöring die erste Tochter des Paares geboren. Während seiner Zeit im Ahnenerbe war es Wolffs Aufgabe, den Betrieb der Ahnenerbe-Leitung in Sievers’ Abwesenheit zu koordinieren und dessen Termine und Projekte zu disponieren sowie laufende Projekte in der von Sievers befohlenen Weise ohne abwesenheitsbedingte Verzögerungen kontinuierlich zu betreuen.940 Wolf-Dietrich Wolff hatte zahlreiche Schreiben in Bezug auf die Schädelsammlung unterzeichnet und das Tötungsmittel als Kurier nach Straßburg gebracht. Daher wurde er vor dem Landgericht Frankfurt am Main angeklagt. Das Verfahren wurde im Oktober 1970 eröffnet. Das Gericht erhielt einen Hinweis von Gisela Schmitz-Kahlmann, dass Michael Kater kurz zuvor über das Ahnenerbe promoviert habe und somit als Experte gelte, wenn es um die Beurteilung der Position Wolffs im Ahnenerbe gehe.941 Sie hatte Kater kennengelernt, als dieser sie für seine Dissertation interviewte. Später 935  BArch NS 21 / 944, Personalakte Wolff, Schreiben von Wolff an Sievers vom 20.1.1939. 936  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34148 Prozessakte Beger, Aussage Wolff vom 5.11.1963, S. 235 / 12: Wolff hingegen gab in Nürnberg an, dass er ein monatliches Anfangsgehalt von 280 Reichsmark bezog. Vgl. BArch NS 21 / 944, Personalakte Wolff, Schreiben von Sievers an Wolff vom 3.2.1939. 937  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Wolff vom 14.12.1960, S. 74. 938  BArch NS 21 / 944, Personalakte Wolff, Heiratsgesuch vom 19.12.1939. 939  Ebd., Heiratsgenehmigung von Sievers für den 23.12.1939. 940  BArch NS 21 / 238 Personalakte Wolff, Übernahme des gesamten Kapitels aus der Personalakte, sofern nicht separat kenntlich gemacht. 941  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34151, Aussage Schmitz-Kahlmann vom 12.6. 1967, S. 1195.



VII. Die deutschen Tatbeteiligten und Zeugen249

bat sie Kater, der in Heidelberg promovierte, ein Auge auf ihren dort studierenden Sohn zu haben.942 Das Landgericht Frankfurt am Main ersuchte Kater, der mittlerweile bereits als Professor in Toronto wirkte, um ein Gutachten.943 Kater befand, dass Wolff weder befugt war, eigenmächtige Entscheidungen zu treffen, noch Ermessensspielraum gehabt habe, das Verbrechen der Schädelsammlung zu hemmen.944 Aufgrund dieses Gutachtens wurde das Verfahren gegen Wolff eingestellt.945 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Wolff in allen Vernehmungen stets bestritten, nähere Kenntnis über die Vorfälle gehabt zu haben. Dabei gab er immer nur so viel zu, wie ihm gerade bewiesen werden konnte. Die Verantwortung schob er auf Sievers, Hirt und Beger.946 Ein Motiv, Beger vorsätzlich oder fälschlich zu belasten, hatte Wolff nicht, abgesehen von der Tatsache, dass er ohne das Beger-Hirt-Sievers-Projekt nicht vernommen worden wäre und eine Anklage drohte. Bemerkenswert ist jedoch, dass sich Wolff in den Vernehmungen nie auf Kosten von Beger, sondern stets auf Kosten von Sievers und Himmler zu exkulpieren versuchte. Seit 1949 arbeitete Wolff bei der Schokoladenfabrik Sprengel, wo er es zum Leiter der IT-Abteilung brachte, die damals Lochkartenabteilung hieß.947 2. Anton Kiesselbach Anton Kiesselbach wurde am 13.6.1907 in Kempenich bei Mayen als Sohn eines Volksschullehrers geboren.948 Er gehörte zu den Jahrgängen, die aufgrund des Vertrages von Versailles keinen Wehrdienst ableisten mussten. Also konnte er unmittelbar nach dem Abitur studieren. Kiesselbach entschied sich für ein Studium der Zoologie. Im Alter von 27 Jahren wurde er in diesem Fach im Jahre 1934 an der Universität Köln zum Dr. phil. promoviert. Kurz zuvor war er in die SA eingetreten. Das Thema seiner Arbeit lautete: „Untersuchungen über den Descensus testiculorum bei Didelphis“.949 Dort 942  Mündliche Auskunft von Sievers’ jüngerem Sohn gegenüber dem Verfasser am 16.1.2013. 943  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34150 Prozessakte Beger, Schreiben von Staatsanwaltschaft Frankfurt an Kater vom 1.8.1968, S. 762. 944  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34150 Prozessakte Beger, Gutachten Kater, S.  764 ff. 945  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Urteil vom 6.4.1971. 946  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34148 Prozessakte Beger, Vernehmung Wolff vom 5.11.1963, S. 233 / 10 ff. Dies trifft auch auf alle in der Prozessakte befindlichen Folgevernehmungen zu. 947  Ebd., Vernehmung Wolff vom 5.11.1963, S. 236 / 13. 948  Klee, Auschwitz, S. 374. 949  Kiesselbach, Anton: Untersuchungen über den Descensus testiculorum bei ­Didelphis, in: Zeitschrift für Anatomie und Entwicklungsgeschichte 103 (1934), H. 4, S. 438–471.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

beschrieb Kiesselbach das Herabsteigen der sich bildenden Hoden in den sich bildenden Hodensack während der Embryonalphase. Diesen Entwicklungsmechanismus untersuchte er am Beispiel der Beutelratte. Nach einem Auslandsaufenthalt im Jahre 1935, der am Deutsch-Italienischen Institut für Meeresbiologie zur Untersuchung von Wimperntierchen im Auftrag der DFG stattfand, kehrte Kiesselbach kurz zur Universität Köln zurück, um sich dort zu habilitieren.950 Doch sein Habilitationsvater, Professor Dr. Breslau, musste als Jude die Universität verlassen und emigrierte.951 Noch 1935 gelang Kiesselbach der Sprung nach Greifswald, wo er 1937 Assistent am Anatomischen Institut wurde. Der hier lehrende August Hirt war in der Fachwelt durch zahlreiche Publikationen zum sympathischen Nervensystem und zur Intravitalmikroskopie bereits bekannt. Hirt betreute Kiesselbachs Habilitation über „Das Verhalten einiger mariner hypotricher Ciliaten bei normalen und veränderten Umweltbedingungen unter besonderer Berücksichtigung der Großkern­ verhältnisse“.952 In dieser im Jahre 1939 veröffentlichten Arbeit über Wimperntierchen verarbeitete Kiesselbach auf 71 Seiten die an der Adria gewonnenen Forschungsergebnisse. Das Manuskript beruhte auf zahlreichen durch Mikroskopie erlangten Ergebnissen. Aufgrund von Hirts Kompetenz auf diesem Gebiet wollte Kiesselbach bei Hirt arbeiten.953 Zudem war er ab 1939 auch als an der Medizinischen Fakultät als Dozent tätig. Sein Lehrgebiet war die Embryologie. Hirt ließ seinem außerplanmäßigen Assistenten Kiesselbach genug Raum, damit dieser nebenbei das Medizinstudium absolvieren konnte.954 Mit Hirt wechselte Kiesselbach Jahre 1939 von Greifswald nach Frankfurt am Main, wo er zunächst Hirts planmäßiger Assistent wurde.955 Nach dem Ausbruch des Krieges vertrat er Hirt möglicherweise in Frankfurt, als dieser seinen Wehrdienst leistete. Kiesselbach, der im Jahre 1937 in die NSDAP eingetreten war, wurde im Jahre 1941 eingezogen. Er leistete den Quellen zufolge seinen Wehrdienst als Unterarzt in einem Versehrten-Lazarett in Oberhof in Thüringen.956 Kiesselbach wurde aufgrund eines Nierenleidens nicht an der Front eingesetzt.957 Nachdem Hirt und Sievers die oben genann950  BArch

R 73 / 16705 DFG-Forschungsunterlagen Kiesselbach. Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Kiesselbach vom 31.1.1963, S. 381. 952  Kiesselbach, Anton: Das Verhalten einiger mariner hypotricher Ciliaten bei normalen und veränderten Umweltbedingungen unter besonderer Berücksichtigung der Großkernverhältnisse, Habil. Univ. Greifswald 1938. 953  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Kiesselbach vom 31.1.1963, S. 381. 954  Ebd., S. 382. 955  Ebd., S. 381. 956  Klee, Auschwitz, S. 375. 957  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Kiesselbach vom 31.1.1963, S. 382. 951  HStA



VII. Die deutschen Tatbeteiligten und Zeugen251

ten diesbezüglichen Anstrengungen unternommen hatten, gelang zum Jahreswechsel die Kommandierung Kiesselbachs nach Straßburg.958 Dort arbeitete er vormittags bei der Heeressanitätsstaffel im Heimatkraftfahrpark in Lingolsheim bei Straßburg, um am Nachmittag als Hirts Assistent im Anatomischen Institut der Universität Straßburg tätig zu sein.959 Dort war Kiesselbach an den Tierversuchen mit Lost beteiligt, wodurch er eine schwere Kampfstoffverletzung erlitt 960 Nach der Flucht aus Straßburg beendete Hirt die Zusammenarbeit mit Kiesselbach, offensichtlich, da er diesen nicht mehr für loyal hielt.961 Die Quellen legen nahe, dass es Kiesselbach war, der 1943 von 30 männlichen Opfern nach deren Anlieferung in der Anatomie je einen Hoden entfernte.962 Er wurde 1943 zum Dr. med. promoviert. Seine medizinische Dissertation soll er über den menschlichen Hoden verfasst haben.963 Nach dem Krieg verfasste Kiesselbach im „Handbuch der medizinischen Sexualforschung“ einen Aufsatz mit dem Titel „Anatomie und Physiologie der Sexualorgane“, in dem er festhielt, dass die Spermienproduktion durch den Einfluss des Nervensystems auf die Keimdrüsen bei Todesangst eingestellt werde.964 Kiesselbach wurde 1955 außerordentlicher Professor für topographische Anatomie in Düsseldorf und im Jahre 1961 dort Ordinarius für dieses Gebiet. Der Theologe und Sozialpädagoge Ernst Klee berichtete später in seinen Arbeiten zur NS-Medizin von einem Brief des Kopenhagener Neurophysiologen Henning Schmalbruch, den er 1987 erhalten habe. Dieser habe mitgeteilt, dass Kiesselbach in Vorlesungen histologische Schnitte von Hoden zeige, bei denen die Spermienbildung aufgrund von Todesangst aufgehört habe. Klee mutmaßt, dass diese Präparate von den Opfern aus Natzweiler stammten und Gegenstand der medizinischen Dissertationsschrift Kiesselbachs gewesen seien.965 Auch wenn Kiesselbach bekanntermaßen über viele Jahre unzählige Hodenschnitte von verschiedensten Tieren und Menschen gefertigt hatte, muss es bei Mutmaßungen bleiben, ob die aufgefundenen Schnitte von einigen der 57 Männern aus Natzweiler stammten, wenngleich viel dafür spricht. 958  BArch

NS 21 / 904, Schreiben von Hirt an Sievers vom 10.10.1942. HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Kiesselbach vom 31.1.1963, S. 382. 960  Klee, Auschwitz, S. 362. 961  BArch NS 19 / 2281, Schreiben von Sievers an Brandt vom 21.2.1945. 962  Ebbinghaus / Dörner / Linne u.  a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Aussage Henripierre vom 18.12.1946, S. 756. 963  Klee, Auschwitz, S. 376. 964  Ebd., S. 376. 965  Ebd., S.  376 f. 959 

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Es gibt in den Quellen keinen Beleg, dass Hirts 1. Assistent Kiesselbach in Natzweiler war oder dort an Versuchen teilnahm. Hingegen sind die Anwesenheit und die Versuchsteilnahme von Hirts 2. Assistenten Wimmer gut belegt. Dennoch ist die Involvierung Kiesselbachs in die Lost-Versuche Hirts evident. Der Verdacht, von der Ermordung der Opfer der Schädelsammlung durch Hodenektomien profitiert zu haben, steht – zwar nicht endgültig belegt – aber als naheliegend im Raum. Es ist zwar denkbar, dass die Orchiektomien nach der Anlieferung in Straßburg erfolgten, aber wenig wahrscheinlich. Da im Leichenkeller jedoch bereits Leichen ohne Hoden ankamen, müsste Kiesselbach die Ektomien nach der Anlieferung beispielsweise im Erdgeschoss coram publico vorgenommen haben, so dass sie bei der Ankunft bei Henripierre im Keller bereits erfolgt waren. Am 31.1.1963 machte Kiesselbach seine wesentliche Aussage im Verfahren gegen Beger. Er gab an, Direktor des Topographisch-Anatomischen Instituts Düsseldorf zu sein und sowohl den Grad des Dr. med. als auch den des Dr. phil. zu tragen. Da keine Anhaltspunkte über eine weitere Dissertationsschrift vorlagen, stand der Verdacht im Raume, dass Kiesselbach tatsächlich bei Hirt im Fachbereich Medizin mit jener Arbeit über den menschlichen Hoden promoviert wurde. Der Frage einer möglichen zweiten Dissertationsschrift zu Hoden von Opfern aus Natzweiler, Kiesselbachs muss die Forschung zu seiner Person und der Universität Düsseldorf weiter nachgehen. Kiesselbach berichtete, dass er auf der Gehaltsliste des Ahnenerbes gestanden habe. Auf Vorhalt des Untersuchungsrichters Dr. Düx gab Kiesselbach zu, die Anlieferung von „20–80“ Leichen aus Natzweiler zur Kenntnis genommen zu haben, zudem dass die für die Nacht geplante Anlieferung erst am Morgen erfolgt sei. Jedoch stritt Kiesselbach ab, jemals mit Hirt über den Sinn und das Ziel dieser Aktion gesprochen zu haben. Es sei ihm dienstlich nicht bekannt gegeben worden, dass überhaupt Leichen vor Ort waren. Auf den Vorhalt, dass er als 1. Assistent, der zudem von Hirt besonders geschätzt wurde, doch gewiss nähere Kenntnisse erlangt haben müsse, ließ sich Kiesselbach nur zu der Feststellung hinreißen, dass ihm klar gewesen sei, dass es mit diesen Leichen eine besondere Bewandnis gehabt haben müsse. Aber genau deswegen habe er nie weiter nachgefragt. Auch die Frage, ob das Institut über eine Mazerationseinrichtung verfügt habe, bejahte er, schloss sich dann aber auf Nachfrage der Aussage Bongs an, der angegeben hatte, dass keine Einrichtung vorhanden gewesen sei. Kiesselbach versuchte in der Vernehmung Distanz zum Verbrechen dadurch aufzubauen, dass er aussagte, selbst fast nie in den Leichenkeller gegangen sei. Wenn eine Leiche für den Lehrbetrieb benötigt worden sei, so habe der Sektionsgehilfe diese ausgewählt und „aufgelegt“. Kiesselbach hielt fest, dass Bong einmal eine Abformung vom Kopf Wimmers gemacht habe, woraus er schließen könne, dass Abformmasse vorhanden gewesen sei, jedoch wisse er nichts Näheres. Kiesselbach führte weiter aus, dass er nicht



VII. Die deutschen Tatbeteiligten und Zeugen253

wusste, dass ein Lehrstuhl für Anthropologie für Straßburg geplant war. Er könne sich aber vorstellen, dass Hirt angesichts seines großen Ehrgeizes eine solche Einrichtung an sein Institut anhängen wollte. Auf Nachfrage des Untersuchungsrichters nahm Kiesselbach die Vermutung wieder zurück und erklärte, dass dies nur hypothetische Erwägungen seien und er keine Kenntnis hatte, dass Hirt solche Pläne verfolgt habe.966 Anton Kiesselbach war Zeuge eines Verbrechens gewesen und an einem anderen – der Lost-Forschung – beteiligt worden. Er wusste, weshalb Hirt nach dem Kriege gesucht wurde und mutmaßlich auch, warum Wimmer sich das Leben genommen hatte. Nun war er als Zeuge gegen Beger wegen des Verbrechens der Schädelsammlung vernommen worden. Möglicherweise war ihm bekannt, dass zunächst nur gegen Beger ermittelt worden war und die Ermittlungen – und später auch die Anklage – auf Fleischhacker und Wolff ausgeweitet wurden. Kiesselbach musste also damit rechnen, sich als Hirts Assistent ebenfalls strafrechtlich verantworten zu müssen. Insoweit ist es nachvollziehbar, dass er zunächst einmal alle Verantwortung auf Hirt schob, der ihn nicht über das Verbrechen informiert habe, und gleichzeitig zu spekulieren, dass Hirt mit dem Verbrechen seinen Ehrgeiz befriedigen wollte. Damit befand er sich auf einer Argumentationslinie mit Sievers und Henripierre. Auch Kiesselbach schob als Angehöriger des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung die Verantwortung auf Hirt und die Universität Straßburg.967 3. Otto Bong Otto Konrad Johann Bong wurde im Jahre 1911 in Frankfurt am Main geboren. Seine Eltern stammten aus Königsberg.968 Er begann nach einer Fachausbildung am 1.10.1938 eine Tätigkeit als Präparator unter August Hirt an der Dr. Senckenbergischen Anatomie in Frankfurt. Dort machte er in seiner Funktion als Oberpräparator im Sommer 1941 den Elsässer René Colombin Wagner mit dem neuesten Stand der Technik in der Anatomie vertraut. Wagner war von Hirt für dessen neues Anatomisches Institut an der Reichsuniversität Straßburg als Zeichner eingestellt worden. Daher eignete er sich vor der Aufnahme des Lehrbetriebes in Straßburg entsprechende Kenntnisse

966  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Kiesselbach vom 31.1.1963, S. 383 ff. 967  Vgl. Woelk, Wolfgang (Hrsg.): Nach der Diktatur: die Medizinische Akademie Düsseldorf vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 1960er Jahre. Essen 2013. 968  USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020, Bericht von Inspektor Robert Mauerhan über Bong vom 14.1.1949, S. 66.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

in Frankfurt an.969 Bong traf erst nach Semesterbeginn am 30.10.1942 in Straßburg ein.970 In seiner entscheidenden Vernehmung im Verfahren gegen Beger sagte Bong in der Nachkriegszeit aus, dass bis zur Evakuierung von Straßburg keine Mazerationseinrichtung geliefert worden sei. Der Untersuchungsrichter Düx hatte es jedoch – offenbar auch hier in Unkenntnis wichtiger Quellen – versäumt nachzufragen, ob das Anatomische Institut die Mazerationseinrichtung des im selben Gebäude befindlichen Pathologischen Instituts genutzt hatte. Bong gab in der Vernehmung an, dass etwa 80 Personen aus dem Konzentrationslager Natzweiler zum Aufbau einer Skelettsammlung in die Anatomie nach Natzweiler überstellt wurden. Unmittelbar danach berichtigte sich Bong und sagte aus, dass er erst während seiner Haft in Paris erfahren habe, dass die Leichen für eine Skelettsammlung bestimmt gewesen seien. Bong bemerkte, dass die Leichen eine ungewöhnliche Färbung hatten, und will Hirt daraufhin nach der Todesursache gefragt haben. Dieser habe Bong jedoch beschieden, dass ihn dies nichts anginge. Erst ein halbes Jahr nach der Anlieferung habe Bong, der auf der Gehaltsliste des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung stand, erfahren, dass es sich um eine Ahnenerbe-Aktion gehandelt habe. Ferner gab Bong an: „Die Leichen sind zunächst fixiert worden. Sie wurden danach in Becken aufbewahrt.“ Dann sei nichts mehr mit den Leichen geschehen, bis er die Anordnung erhielt, sie zu zerlegen, damit sie kremiert werden könnten. Bong gab auf Vorhalt an, dass eine größere Menge Abformmasse geliefert worden sei. Jedoch seien keinerlei Abformungen der Schädel der Leichen aus Natzweiler vorgenommen, sondern lediglich ein Schädel eines Paracelsus-Modells abgeformt worden. Die restliche Abformmasse sei nach Tübingen verbracht worden. Bong teilte dann noch einmal ausdrücklich mit: „Zur Anfertigung von Abformungen an den Natzweiler Leichen bin ich nicht gekommen.“ Der Frage, wer außer Hirt sich noch um die Leichen aus Natzweiler gekümmert habe, wich Bong erkennbar aus und gab keinerlei Auskünfte. Er gab allerdings den Hinweis, dass er keine Akten zu den Leichen erhalten habe, wie das sonst üblich war. Weil jegliche Zuordnung der gefertigten Vermessungsbögen, Fotos, Blutgruppenbestimmungen und Schädel-Röntgenaufnahmen sowie die geplanten Abformungen ohne eindeutige Zuordnung zu den Leichen sinnlos gewesen wäre, muss es solche Akten gegeben haben.971 Es mag stimmen, dass Bong diese nicht erhielt, sondern sie bei Hirt aufbewahrt wurden. Bong war schließlich bei der Eroberung von Straßburg verhaftet 969  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Bong vom 10.1.1963, S.  329 ff. 970  USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020, Bericht von Inspektor Robert Mauerhan über Bong vom 14.1.1949, S. 66. 971  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Bong vom 10.1.1963, S.  329 ff.



VII. Die deutschen Tatbeteiligten und Zeugen255

worden. Er gab der französischen Untersuchungskommission in der Anatomie Straßburg Auskünfte über die Ereignisse und die Rolle Hirts. Folglich war Bong zu diesem Zeitpunkt noch in Straßburg. Wenn er mitteilte, in Paris inhaftiert worden zu sein, so muss dies danach stattgefunden haben. Von der deutschen Justiz wurde Bong nicht belangt. Dann jedoch wurde er im Verfahren gegen Beger vernommen. Zu diesem Zeitpunkt war er als Oberpräparator in der Anatomie in Mainz beschäftigt und lief Gefahr, wegen Beihilfe belangt zu werden. Folglich stritt er jede Beteiligung an dem Verbrechen ab. Darum will er nicht an den Leichen aus Natzweiler gearbeitet haben. Der Untersuchungsrichter befragte ihn jedoch bedauerlicherweise nicht, woher die anderen Leichen für den Unterrichtsbetrieb kamen und ob Schädel aus Auschwitz oder Mittersill nach Straßburg gebracht wurden. Otto Bong schloss sich dem Vorgehen der meisten Beteiligten an: Er wollte kaum etwas mitbekommen haben, habe den Namen Beger nie gehört und hielt den toten Hirt für den alleinigen Verantwortlichen für das Verbrechen, der dieses mit dem ebenfalls verstorbenen Sievers geplant habe. 4. Hans Fleischhacker Hans Fleischhacker wurde am 10.3.1912 in Töttleben bei Weimar als Sohn eines Lehrers geboren. Der Vater starb 1915, die Mutter 1921, so dass er als Waise bei den Großeltern aufwuchs. Nach dem Abitur mit Bestnote studierte er nach eigenen Angaben in Jena Chemie, Physik und Biologie. Dann habe er sein Studium in München fortgeführt, mit dem Hauptfach Anthropologie sowie den Nebenfächern Zoologie und Paläontologie.972 Doch schon in Jena muss Fleischhacker Vorlesungen in Anthropologie besucht haben, da er in einer früheren Vernehmung behauptet hatte, Beger in Vorlesungen bei Hans F. K. Günther in Jena kennengelernt zu haben.973 Günther lehrte von 1930 bis 1935 in Jena, danach in Berlin. Fleischhacker wurde im Jahre 1935 bei Theodor Mollison in München mit „summa cum laude“ promoviert.974 Das Thema seiner Arbeit war die Vererbung der Augenfarbe.975 Nachdem er zunächst als Anthropologe für Ernst Schäfers Tibet-Expedition ausgewählt worden war, wurde ihm Beger dann – sehr zu seinem Ärger – schließlich vorgezogen. Im Jahre 1937 begann Fleischhacker eine akademische Laufbahn als Assistent am Rassebiologischen Institut der Universität Tübingen 972  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr.  34148 Prozessakte Beger, Vernehmung Fleischhacker vom 6.11.1963, S. 257 / 34. 973  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Fleischhacker vom 1.11.1962, S. 174. 974  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr.  34148 Prozessakte Beger, Vernehmung Fleischhacker vom 6.11.1963, S. 257 / 34. 975  Fleischhacker, Hans: Über die Vererbung der Augenfarbe, Würzburg 1936.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

mit dem Ziel, sich zu habilitieren. Im selben Jahr trat Fleischhacker in die SS ein und wurde beim SS-Rasse- und Siedlungs-Hauptamt geführt. Nach Kriegsausbruch meldete sich Fleischhacker 1940 freiwillig zur WaffenSS. Nach eigenen Angaben wurde er 1940 oder 1941 auch in die NSDAP aufgenommen. Nach der Grundausbildung wurde er bis 1941 oder 1942 „u.K.“ gestellt. Danach wurde er eingezogen und als Eignungsprüfer des RuSHA in Litzmannstadt eingesetzt. Dabei war er für die Feinschleusungen und Schlussuntersuchungen bei sogenannten Eindeutschungsverfahren von Personen aus dem ehemaligen Polen zuständig. In der Rassenhygienischen und Bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle des Reichsgesundheitsamtes in Lodz wurden von Hella Pöch und Sophie Ehrhardt Handabdrücke der Untersuchten abgenommen. Diese wurden von Ehrhardt später ihrem Tübinger Kollegen Fleischhacker zur Verfügung gestellt.976 Auf der Basis seiner „wissenschaftlichen“ Erkenntnisse und den ihm zur Verfügung stehenden Handabdrücke verfasste Fleischhacker später seine Habilitation977. Er erklärte dies nach 1945 so, dass er immer dann zu entscheiden hatte, wenn die regulären Prüfer unschlüssig waren, ob jemand eingedeutscht werden könne. Er war demnach die Kontrollinstanz bei Eindeutschungen. Im September 1942 wurde Fleischhacker zur Expedition „K“ kommandiert. Bei den Vorbereitungen traf er Beger wieder. Schäfer gestattete Fleischhacker, sich in Tübingen auf die Expedition vorzubereiten, so dass dieser seine Habilitations­ schrift fertigstellen konnte. Fleischhacker stellte in der Vernehmung durch den Untersuchungsrichter im Beger-Prozess den weiteren Ablauf so dar, dass für die Kaukasus-Expedition neue Messbögen zur Eintragung der von den untersuchten Personen abgenommenen Maße auf ihre Praxistauglichkeit getestet werden sollte. Nur deshalb sei er nach Auschwitz kommandiert worden. Daher habe er nicht wissen können, dass die von Beger ausgewählten Opfer ermordet werden sollten. Da ihm Gegenteiliges nicht nachgewiesen werden konnte, wurde sein Verfahren vom Beger-Prozess abgetrennt und dann durch Freispruch beendet. Bemerkenswerterweise hat das Gericht nie thematisiert, warum Probevermessungen nicht auch an Bürokollegen vorgenommen werden konnten. Äußerlich unterscheidet sich ein Kaukasusbewohner nicht durch abnorm bemessene Nasen oder Ohren von einem Mitteleuro976  Vgl. Lang, Hans-Joachim: Fleischhackers (un)vergessene Opfer, in: Jens Kolata / Richard Kühl / Henning Tümmers / Urban Wiesing (Hrsg.): In Fleischhackers Händen. Wissenschaft, Politik und das 20. Jahrhundert, Tübingen 2015, S. 185–199, hier S. 186 f.; siehe auch Paul Weindling: Rassenkundliche Forschung zwischen dem Getto Litzmannstadt und Auschwitz. Hans Fleischhackers Tübinger Habilitation, Juni 1943, in: ebd.,S. 141–161, hier S. 145 f. 977  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34148 Prozessakte Beger, Vernehmung Fleischhacker vom 6.11.1963, S. 257 / 34: Fleischhacker gab an, dass die Habilita­tionsschrift erst 1951 veröffentlicht wurde. Diese ist jedoch in der Deutschen Nationalbibliothek nicht zu finden, im Gegensatz zu seiner Dissertation von 1936.



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päer. Allerdings hat Fleischhacker diesen Punkt selbst angesprochen und zu entkräften versucht. Er sei davon ausgegangen, dass er zur Erprobung der Papierblöcke mit der Tabelle, in der die Maße eingetragen wurden, in das Konzentrationslager Auschwitz gesandt worden sei, da die dort inhaftierten Juden den Kaukasusbewohnern ähnlich seien. Die Absurdität dieses Vortrages wurde vom Untersuchungsrichter nicht hinterfragt. Ansonsten gab auch Fleischhacker immer nur gerade so viel zu, wie ihm nachgewiesen werden konnte. Er konnte sich nicht erinnern, jemals in Straßburg gewesen zu sein, und wusste auch nicht, wo die Messbögen verblieben waren, bis ihm nachgewiesen wurde, dass er diese selbst zu Hirt nach Straßburg gebracht hatte.978 Nach dem Einsatz in Auschwitz kam Fleischhacker zur SS-Division „Das Reich“, wo er bis Anfang 1945 zum Untersturmführer der Waffen-SS aufstieg. Bei Kriegsende wurde er bei Karlsbad von US-Truppen gefangengenommen und nach der Kriegsgefangenschaft interniert. Die Universitätsspruchkammer in Tübingen stufte ihn als Mitläufer ein.979 Fleischhacker war seit 1950 als Vaterschaftssachverständiger tätig, seit 1960 wieder im Hochschuldienst in Tübingen, wo seine durch die kriegsbedingte Unterbrechung der Lehrtätigkeit erloschene „venia legendi“ erneuert wurde. Von dort habilitierte er sich nach Frankfurt um.980 Auch er hatte sich eine bürgerliche Existenz aufgebaut, nachdem er nie für seine Beihilfe zu dem Verbrechen belangt wurde. Auch er versuchte, als Zeuge implizit Sievers und Hirt zu belasten, ohne Beger zu belasten, außer dass er diesen als Anführer der Dreiergruppe in Auschwitz identifizierte, was aber ohnehin offensichtlich war.981 Fleischhacker hatte ein vitales Eigeninteresse daran, seine eigene Rolle „kleinzureden“ und sich an die wichtigen Details auf Vorhalt nicht erinnern zu können. Dies gilt insbesondere für die ihm erteilte Weisung, Hirt über das weitere Vorgehen zu informieren. In den Vernehmungen gab Fleischhacker – wie dargelegt – immer nur so viel zu, wie ihm gerade vorgehalten wurde. Daher erweiterte sich der Umfang seiner Beteiligung an dem Verbrechen von Vernehmung zu Vernehmung und in diesen von Satz zu Satz, was besonders in der Vernehmung vom 6.11.1963 deutlich wurde.982 Trotz allen Abstreitens und Nichterinnernkönnens wurde Fleischhacker in den Kreis der Angeklagten aufgenommen. Ihm war damit nicht gelungen, was Wüst, Schäfer, Bong, 978  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Fleischhacker vom 1.11.1962, S. 174 ff. 979  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr.  34148 Prozessakte Beger, Vernehmung Fleischhacker vom 6.11.1963, S. 258 / 35 f. 980  Ebd., Vernehmung Fleischhacker vom 6.11.1963, S. 257 ff. 981  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Fleischhacker vom 1.11.1962, S. 181. 982  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr.  34148 Prozessakte Beger, Vernehmung Fleischhacker vom 6.11.1963, S. 250 ff.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Kiesselbach, Seepe und anderen Beteiligten geglückt war. Er konnte sich zunächst nicht herausreden. Erst als sich die Beweise gegen Beger verdichten ließen, gegen ihn selbst aber nicht genug Beweise vorlagen und er zudem eine Verfassungsbeschwerde eingereicht hatte, wurde er am 5.3.1971 freigesprochen. Doch dieser Gefahr einer Anklage und damit einer öffentlichen Thematisierung wollten sich auch die anderen Zeugen des Beger-Prozesses nicht aussetzen. 5. Wilhelm Gabel Wilhelm Gabel wurde im Jahre 1904 geboren. Nach der Schulzeit war er seit 1921 als – später beamteter – Präparator am Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität München tätig. Nach Kriegsausbruch im Jahre 1939 konnte Gabel aufgrund einer Beinverletzung nicht zur Wehrmacht eingezogen werden.983 Ernst Schäfer warb ihn zum 1.2.1942 zur Forschungsstätte Innerasien und Expeditionen ab und übernahm ihn später in das Reichsinstitut Sven Hedin. Dort wurde er als Zivilangestellter geführt.984 Mit der Übernahme durch Schäfer musste Gabel seine Beamtenstellung an der Universität aufgeben. Schäfer lockte mit besserer Bezahlung und der Aussicht auf mögliche Wiedererlangung der Beamtenstellung im Rahmen des Ahnenerbes. Schäfer wurde bei seinem Bemühen, Gabel in seine Ahnenerbe-Forschungsstätte Innerasien und Expeditionen zu übernehmen, vom Leiter der Forschungsstätte „Haus der Natur“, Eduard Paul Tratz, unterstützt. Dieser hatte im „Haus der Natur“, dem allgemeinen Trend folgend, eine rassekundliche Ausstellung integriert. Gabel hatte die dort ausgestellten „Rasseköpfe“ angefertigt.985 Tratz und Schäfer beantragten gemeinsam Gabels Anstellung in Schäfers Forschungsstätte, von wo Gabel dann zur Dienstleistung zu Tratz entsandt wurde.986 Später wurde, wie gezeigt, Gabels Stelle, die der anderen Mitarbeiter der Forschungsstelle Innerasien und Expeditionen, in das Reichsinstitut Sven Hedin überführt. Gabel selbst behauptete in seiner Vernehmung im Rahmen des BegerProzesses, nie Mitglied von NSDAP oder SS gewesen zu sein, was für Ahnenerbe-Mitarbeiter jedoch auch nicht ausgesprochen ungewöhnlich gewesen wäre.987 Selbst der Abteilungsleiter im Institut für wehrwissenschaftliche 983  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Gabel vom 25.7.1960, S. 49. 984  BArch NS 21 / 22, Schreiben der Verwaltung Persönlicher Stab an das WVHA vom 14.3.1944. 985  BArch NS 21 / 48, Tratz an Sievers, 20.10.1941. 986  BArch NS 21 / 48, Anordnung Sievers betr. Einstellung des Präparators Gabel, 3.1.1942; Sievers an Gabel v. 12.2.1942.



VII. Die deutschen Tatbeteiligten und Zeugen259

Zweckforschung, Eduard May, war nie Mitglied der NSDAP oder der SS. Zu Gabels Aufgaben im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Tibet-Ausstellung gehörte auch, dass er Gesichtsplastiken von Tibetern aufgrund des mitgebrachten Fotomaterials anfertigen sollte.988 Nachdem das Personal der Forschungsstätte Innerasien in das Reichsinstitut Sven Hedin übernommen wurde, wurde Gabel über die Universität vom Reichserziehungsministerium bezahlt. Faktisch war er jedoch für das Ahnenerbe tätig, denn seine Aufgabe lautete, Material der Tibet-Expeditionen – also der Ahnenerbe-Forschungsstätte Innerasien und Expeditionen – für das Salzburger Haus der Natur – ebenfalls eine der Ahnenerbe-Forschungsstätten – in sogenannten Großdioramen für eine Tibet-Ausstellung einzufügen.989 In seiner Aussage vor der Staatsanwaltschaft Frankfurt führte Gabel in Bezug auf die Gesichtsplastiken der Tibeter wie oben bereits erwähnt aus: „Das wollte mir aufgrund des vorhandenen Materials nicht recht gelingen. Ich war daher immer daran interessiert, selbst Gesichtsmasken von richtigen Asiaten abnehmen zu können und diese Personen beobachten zu können. Herrn Dr. Beger habe ich kennen gelernt, nachdem ich zum Reichsinstitut Sven Hedin gekommen war. Ihm erklärte ich daher, dass solche asiatischen Typen wohl am besten in einem Kriegsgefangenenlager zu finden seien und ich gerne einmal in ein Lager gehen würde. […] Meiner Erinnerung nach war das Dr. Beger, der mir dann eines Tages sagte, dass die Möglichkeit für mich bestehe, in ein Lager zu kommen, in dem asiatische Typen zu finden seien. Dr. Beger sagte mir auch, dass es sich um das Lager Auschwitz handeln würde.“990

Dies mag ein Hinweis sein, dass Beger von Gabel inspiriert wurde, sich mit dem Thema der Abformungen asiatischer Kriegsgefangener zu befassen. Weiter gab Gabel an, dass er in Auschwitz von Beger den maßgeblichen Personen im Konzentrationslager vorgestellt worden sei. Gabel wollte sich nicht erinnern, ob er bei den Messungen geholfen habe oder nur mit Abformungen befasst war. Auch Gabel will nie etwas von einer Skelettsammlung erfahren haben. Auf den Vorhalt des Untersuchungsrichters – „Die früheren Häftlinge Prof. Fejkiel, Reineck und Toch haben über den Sinn der Aktion Beger mehr in Erfahrung gebracht als Sie in Ihrer Eigenschaft als Begleiter Dr. Begers. Wie ist das zu erklären?“ – antwortete Gabel: „Diese Häftlinge haben selbst mitgemessen. Ich habe mich nur um die Abformungen gekümmert. Ich glaube, ich war bei den Vermessungen gar nicht dabei.“ Nachdem Gabel immer mehr in die Enge getrieben worden war, gab er zu, noch während des Krieges von einer Skelettsammlung gehört zu haben, ohne sich je987  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Gabel vom 23.11.1962, S. 251. 988  Ebd., Aussage Gabel vom 25.7.1960, S. 49. 989  Ebd., Aussage Schäfer vom 2.5.1960, S. 43. 990  Ebd., Aussage Gabel vom 25.7.1960, S. 50.

260

C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

doch daran zu erinnern, von wem. Nach und nach engte er den in Frage kommenden Kreis auf Fleischhacker und Beger ein sowie den in Frage kommenden Zeitraum auf kurz nach oder während des Aufenthaltes in Auschwitz. Wenn er letzteres zugegeben hätte, wäre ihm Beihilfe zum Mord nachgewiesen worden. Ansonsten ähnelt die Aussage Gabels jenen der anderen Zeugen: Er will von nichts gewusst haben und an nichts beteiligt gewesen sein. Er bestritt sogar, dass Abformmasse von Mittersill nach Straßburg geschickt worden sei. Wenn dies der Fall gewesen sei, hätte er davon erfahren. Gabel gab weiter an, dass er ohne nachzufragen seine Arbeit in Auschwitz tat, weil er sich von dem Gedanken leiten ließ, dass diese Leute – die Häftlinge im Lager – mit hoher Wahrscheinlichkeit ohnehin gestorben wären. Nach dieser zynischen Ausflucht spottete Gabel noch über das Ahnenerbe, bei dem er keine Wissenschaftlichkeit erkannt habe, und über Beger, dem er empfohlen habe, sich an den bekannten Anthropologen Professor Dr. Mollison zu wenden, damit er dort noch lernen könne.991 Wilhelm Gabel war stark in das Verbrechen verstrickt. Ohne seine Abformungen wäre Begers Aufenthalt in Auschwitz weitgehend sinnlos gewesen. Die Abformungen waren zentraler Bestandteil des Verbrechens. Dies wusste auch Gabel. Ebenso war ihm bekannt, dass er kurz vor einer Anklage wegen Beihilfe zu Mord stand, ähnlich wie Wolff. Daher legte er großen Wert darauf, dass er von nichts irgendetwas gewusst habe. In der Sache jedoch hielt er fest, dass Beger nach Auschwitz gereist sei, weil er dort Innerasiaten suchte und unruhig wurde, als er keine fand. Es ist in allen Auskünften Gabels deutlich, dass er einerseits versuchte, sich als willenloses Werkzeug im juristischern Sinne und als Unwissenden zu präsentieren, andererseits es zu vermeiden suchte, seinen langjährigen Vorgesetzten Beger zu belasten. 6. Lieselotte Seepe Die Quellenlage zu Lieselotte Seepe992 ist dünn. Die im Jahre 1907 oder 1908 geborene Seepe war bereits in Frankfurt am Main Sekretärin bei Hirt. Im Oktober oder November 1941 begann sie ihre Tätigkeit an der Anatomie in Straßburg als Hirts Sekretärin. Bei der Besetzung Straßburgs durch die Alliierten wurde sie gefangengenommen und kurz darauf über die Schweiz ausgetauscht. Seepe erscheint in den Quellen als besonders loyale Mitarbei991  Ebd.

992  BArch NS 21 / 29, Schreiben vom Persönlichen Stab Reichsführer SS an Verwaltung Ahnenerbe vom 23.3.1944: Seepe wird in Bezug auf ihre Steuerkarte als Elisabeth Seepe benannt. Daher mag Lieselotte nur ein Diminutiv sein. Andererseits wurde in den unten genannten Vernehmungen im Beger-Prozess stets Lieselotte Seepe als Name angegeben, während der Präparator Willi Gabel nur mit seinem amtlichen Namen Wilhelm Gabel bezeichnet wurde.



VII. Die deutschen Tatbeteiligten und Zeugen261

terin Hirts. Nach dem Einmarsch der Alliierten wurde sie verhaftet und unter Hausarrest gestellt993. Nachts schlich sie sich in die Anatomie und verbrannte die Geheimakten Hirts, die vermutlich Angaben zu den Lost-Versuchen und den 86 Opfern aus Natzweiler enthielten.994 Dafür erhielt sie das Kriegsverdienstkreuz.995 Bei dem alliierten Bombenangriff vom 25.9.1944 wurde nicht nur Hirts Haus in der Karl-Bernhard-Straße 7 in Straßburg ausgebombt,996 sondern auch die Wohnung von Seepe.997 Hirts Laborant August Mayer kam durch die Folgen eines Luftangriffs ums Leben. Ob es der Angriff vom 25.9.1944 war, ist in den untersuchten Quellen nicht eindeutig festzustellen. Ob Seepes Wohnung im Hause Hirts war, bedarf noch weiterer Recherchen. Gewiss ist aber, dass Hirt, seine Tochter und Seepe ins Anatomische Institut zogen und versuchten, sich dort mit Möbeln aus SSBeständen einzurichten.998 Nach dem Kriege suchte Seepe gemeinsam mit Hirts Tochter Renate dessen Grab.999 Sie arbeitete zum Zeitpunkt ihrer Aussage vor dem Untersuchungsrichter im Verfahren gegen Beger als Sekretärin in der Anatomie in Mainz, wo auch Bong beschäftigt war. Lieselotte Seepe war eine loyale Mitarbeiterin, der man unterstellen kann, dass sie „ihren“ Professor verehrte. Der nächtliche Einsatz zur Vernichtung der Geheimakten belegt dies ebenso wie ihre Suche nach dem Grab. Sie gab zwar zu, dass sie den Inhalt der Schädelsammlungs-Denkschrift kannte und im Institut über den Aufbau einer Sammlung gesprochen worden sei. Doch ohne Hirt zu belasten gab sie vor, sich an Beger überhaupt nicht erinnern zu können, obschon sie die Briefe Hirts an Beger als von ihr selbst geschrieben identifizierte.1000 Seepe versuchte erkennbar, weder Hirt noch dessen SS-Kameraden Beger zu belasten, und gab immer nur so viel zu, wie ihr nachgewiesen werden konnte.

993  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34169 Prozessakte Beger, Vermerk Wolff vom 26.2.1945; vgl. Lang, Nummern, S. 191. 994  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Seepe vom 10.1.1963, S.  324 f. 995  BArch NS 21 / 238, Schreiben von Sievers an Hirt und an Seepe, jeweils vom 8.4.1945. Die Begründung findet sich auch im Schreiben von Sievers an Fitzner vom 4.4.1945. 996  Die Karl-Bernhard-Straße heißt heute rue Schiffmatt, im Stadtteil Orangerie. 997  BArch NS 21 / 908, Schreiben von Sievers an Berg vom 11.11.1944. 998  Ebd., Schreiben von Hirt an Sievers vom 12.10.1944. 999  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Seepe vom 10.1.1963, S. 323. 1000  Ebd., S.  323 ff.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

VIII. Die elsässischen Tatbeteiligten und Zeugen Nach Kriegsende sind verschiedenste Darstellungen der Ereignisse in der Anatomie in Straßburg in Umlauf gekommen. Einige davon stammen – wie oben gezeigt – von ehemaligen Mitarbeitern Hirts. Zwei ehemalige Mitarbeiter Hirts waren jedoch Elsässer, die nach dem Kriege Bürger der Französischen Republik waren. Diese Aussagen sind aufgrund der veränderten Perspektive wertvoll. Insbesondere die zahlreichen Aussagen von Henri Henripierre prägen die Lesart von einer „Jüdischen Skelettsammlung für die Reichsuniversität Straßburg“ bis heute. Daher ist die Glaubwürdigkeit dieser Zeugen von hoher Bedeutung für den Aussagewert ihrer Nachkriegsangaben. 1. René Colombin Wagner René Colombin Wagner wurde am 30.7.1899 in Sennheim – heute Cernay – im damals deutschen Oberelsass geboren. Er besuchte die Oberschule in Straßburg und Mülhausen. Anschließend erlernte er den Beruf des wissenschaftlichen Zeichners und arbeitete für verschiedene Ärzte. Nachdem das Elsass im Jahre 1940 nach 21 Jahren wieder deutsch wurde, bewarb sich Wagner um eine Stelle an der neugegründeten Reichsuniversität Straßburg. Zur Vorbereitung auf die neue Stelle begann er am 1.5.1941 seine Tätigkeit für August Hirt an dessen Dr. Senckenbergischen Anatomie in Frankfurt. Dort gehörte es zu seinen Aufgaben, Präparate aus Leichen zu fertigen, zu dem „Zweck, unter der Leitung des Professors nach dem neuesten Stand der Technik zu präparieren und zu reproduzieren, um ein Anfangsmaterial für Strasbourg zum Beginn des W-Semesters zu haben“, wie Wagner in einem Schreiben an das Landgericht Frankfurt am Main vom 18.11.1970 berichtete. Er teilte weiter mit: „In Strasbourg allerdings war aufgrund der veränderten Verhältnisse die mir zustehende Arbeitseinteilung viel größer, denn ein Programm für 2000 Objecte und Unterrichtsmaterial wurde angefordert, wovon ich etwa 600 bis 700 vertigen [sic!] konnte (nov. 44).“1001

Diese Auskunft demonstriert die Arbeitsüberlastung der Mitarbeiter Hirts und wirft die Frage auf, wie angesichts der offensichtlichen Personalknappheit noch 150 Skelette oder auch nur Schädel hätten vollständig präpariert werden können. Im Oktober 1941 wechselte Wagner mit Hirt, Kiesselbach, Wimmer, Bong, Mayer und Seepe nach Straßburg. Dort ging er seiner Arbeit als Präparator, Zeichner und Sektionsgehilfe nach und wird in den 1001  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34151, Schreiben von Wagner an Landgericht Frankfurt am Main vom 18.11.1970, S. 1136. Die Rechtschreibfehler wurden – wie bei allen anderen Zitatwiedergaben auch – aus dem Original übernommen.



VIII. Die elsässischen Tatbeteiligten und Zeugen263

Quellen fortan nicht mehr näher erwähnt. Nach der Eroberung Straßburgs durch die Alliierten gab er der eingesetzten Untersuchungskommission Auskünfte.1002 In Nürnberg wurde Wagner nicht als Zeuge vernommen. Erst im Beger-Prozess sollte er als Zeuge geladen werden als „der frühere technische Zeichner beim Anatomischen Institut der Universität Straßburg, René Colombin Wagner, geboren am 30.7.1899 in Cernay / Oberelsaß; Wagner war seit dem 1.8.1941 beim Anatomischen Institut angestellt.“1003 Die französische Behörde teilte die Meldedaten des Gesuchten mit: „WAGNER René Colombin, né le 30 JUILLET 1899 à Cernay (Haut-Rhin) domicilié à Strasbourg, (Bas-Rhin), 8 rue de Genève.“1004 Wagner schrieb einen handschriftlichen Brief an die Staatsanwaltschaft nach Frankfurt, dass er krankheitsbedingt nicht zum Prozess kommen könne, jedoch gab er brieflich weitere Auskünfte zu seiner Arbeit in Frankfurt und seinen Arbeitsaufgaben in Straßburg. Dabei betonte er, dass er alle Aussagen in Zusammenhang mit der Skelettsammlung bereits in der Vernehmung am 17.11.1946 getätigt und er dem nichts hinzuzufügen habe.1005 Daher erschien er auch nicht als Zeuge in Frankfurt und sandte stattdessen ein ärztliches Attest.1006 Die brieflichen Angaben ebenso wie Wagners Hauptaussage vom 17.11.1946 wirken sachlich. Er versuchte, möglichst niemanden zu belasten, und erweckte auch bei den Auskünften zu Lasten Hirts den Eindruck einer objektiven Widergabe der Geschehnisse.1007 Dies zeigt, dass es möglich war, sachlich und ohne die eigene Person anklagend in den Mittelpunkt zu stellen unbehelligt im Dunkel der Geschichte zu verschwinden. Sein unmittelbarer Kollege handhabte dies anders. 2. Henri Henripierre Eine der Schlüsselpersonen bei der Nachkriegsperspektive auf das Verbrechen der Schädelsammlung ist ein Mitarbeiter der Anatomie in Straßburg: 1002  BArch B 162 / 20260, Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade, S. 9. 1003  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34148 Prozessakte Beger, Schreiben von Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main an Tribunal Grande Instance de Strasbourg vom 20.4.1967, S. 448. 1004  Ebd., Schreiben von Tribunal Grande Instance de Strasbourg an Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main an vom 11.5.1967, S. 446. 1005  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34151, Schreiben von Wagner an Landgericht Frankfurt am Main vom 18.11.1970, S. 1136. 1006  Ebd., Attest von Dr. Muller an Landgericht Frankfurt am Main vom 18.11.1970, S. 1137. 1007  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34160 Prozessakte Beger, Aussage Wagner vom 17.11.1946, S. 131 ff.

264

C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Henri Henripierre.1008 Beinahe alle heute erhaltenen Auskünfte über die Ereignisse in der Anatomie gehen entweder auf Angeklagte wie Sievers und Wolff oder von der Anklage Bedrohte wie Bong, Seepe und Kiesselbach zurück. Henripierre wurde und wird hingegen als neutraler Zeuge gesehen, dessen Aussagen der Referenzrahmen für die Glaubwürdigkeit der Aussagen der anderen Zeugen waren. Daher ist es erforderlich zu prüfen, inwieweit Henripierres Aussagen tatsächliche Ereignisse neutral wiedergaben oder ob er möglicherweise doch eigene Interessen verfolgte und seine Rolle in Bezug auf das Verbrechen und seine Tätigkeit für Hirt durch Falschinformationen über die Ereignisse nicht wahrheitsgemäß darstellte. Die Person, die unter dem Namen Henri Henripierre durch ihre Aussage im Nürnberger Ärzteprozess am 18.12.1946 erstmals einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde, kam in Leberau im deutschen Reichsland Elsass-Lothringen zur Welt. In dieser Stadt im sogenannten Silbertal im Oberelsass, die heute Lièpvre heißt, wurde er am 23.8.1905 unter dem Namen Heinrich Sigrist als unehelicher Sohn von Rosalie Sigrist geboren. Erst später bekannte sich der Elektrizitätsarbeiter Heinrich Henrypierre vor seinem örtlichen Standesamt in Leberau zur Vaterschaft. Dies bekräftigte Heinrich Henrypierre mit seiner Unterschrift. Diese lautete jedoch Henri Henrypierre – ein Umstand, der im weiteren Verlauf noch wichtig werden sollte. Daraufhin wurde die Namensänderung in die Geburtsurkunde eingetragen, und Heinrich Sigrist hieß fortan Heinrich Henripierre.1009 Im Jahre 1908 zog Henripierre nach Markirch im Elsass, das heutige Sainte-Marie-aux-Mines. Der Ort liegt nur wenige Kilometer von Leberau entfernt. In seiner späteren Heiratsurkunde gab Henripierre zudem als Wohnort seines Vaters Sainte-Marie-aux-Mines an.1010 Dort ging Henripierre zur Volksschule, wo er die spätere Köchin Augustine Renée Germaine Lirot1011 kennenlernte. Auf der Suche nach Arbeit zogen die beiden 1928 nach Paris. Henripierre arbeitete im Jahre 1930 bei der „Assistance Publique“, der 1849 geschaffenen Einrichtung, die die Krankenhäuser von Paris betrieb.1012 Er war „agent de service hospitalier (A. S. H.)“ in der Apotheke des Bretonneau-Krankenhauses. Am 5.5.1939 heirateten Augustine Lirot und Henri Henripierre in Paris.1013 Sie wohnten zu diesem Zeitpunkt in der rue de 1008  Da dieser sich selbst sowohl Henripierre als auch Henrypierre schrieb, laut Geburtsurkunde Henrypierre hieß und nach dem Kriege in Frankreich und Deutschland behördlich als Henripierre geführt wurde, ist die Entscheidung getroffen worden, ihn hier durchgehend als Henripierre zu bezeichnen. 1009  Archiv Mairie Lièpvre, Geburtsurkunde Nr. 36 vom 24.8.1905 mit Folgeeintragungen. 1010  Archiv Mairie 18. Arrondissement von Paris, Heiratsurkunde Henripierre mit Scheidungsvermerk vom 22.8.1946. 1011  Ebd. 1012  Ebd. Vgl.: Toledano, Henrypierre, S. 3.



VIII. Die elsässischen Tatbeteiligten und Zeugen265

Carpeaux, 2.1014 Das Paar hatte einen Sohn, der im Jahre 1941 jedoch bereits zur Schule ging, was vermuten lässt, dass er vor der Hochzeit im Jahre 1939 geboren worden war. Während das Paar gut deutsch und französisch sprach, wuchs der Sohn nur französischsprachig auf.1015 Die Aussage von Henripierre im Nürnberger Ärzteprozess ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert.1016 Nach der Nennung seines Namens und seiner Adresse erklärte Henripierre ungefragt und unter den Zeugen beispiellos, dass er nicht nach Nürnberg gekommen sei „mit einem Gefühl des Hasses und der Rache“, sondern „einzig und allein von dem Wunsch beseelt, meine Pflicht und Schuldigkeit zu erfuellen und der Gerechtigkeit zu dienen. Ich schulde dies den 86 Opfern, die wir im August 1943 erhielten.“ Während der zunächst andere Sachverhalte betreffenden Befragung wies Henripierre immer wieder auf diese 86 Opfer hin, auch wenn nach anderen Dingen gefragt wurde. Dies führte dazu, dass der Anklagevertreter ausdrücklich darauf hinweisen musste, dass man nachher noch auf die 86 Opfer zu sprechen komme. Henripierre gab zunächst an, in Straßburg zu wohnen. Er sei von den Deutschen in Paris verhaftet worden und ins Konzentrationslager Compiègne verbracht worden. Mutmaßlich meinte er das in der Nähe von Compiègne gelegene Kriegsgefangenenlager, später Durchgangslager Royallieu. Dann habe er vor einer Kommission höherer SS-Offiziere erscheinen müssen, die ihm erklärten, er müsse bis zum 6.6.1942 in seine Heimat zurückgehen, wenn er nicht wolle, dass seine Angehörigen vertrieben würden. Auch auf dezidierte Rückfrage gab Henripierre an, dass er überhaupt nicht wisse, warum ihn die Deutschen verhaftet hätten. Wenn Henripierre als Widerstandskämpfer verhaftet worden wäre, hätte er dies in Anbetracht des Heldenstatus der Résistance in Nürnberg gewiss angegeben. Dies ist in Anbetracht der bekannten Quellen wenig glaubhaft. Ein unverhoffter Archivfund klärte den wahren Sachverhalt auf: Die Außenstelle Paris der von der SS geführten Einwanderungszentrale (EWZ) entschied, welche französischen Staatsangehörigen „deutschen Blutes“ waren, nach Deutschland umsiedeln durften und Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten. Dies geschah allerdings nur, wenn dies ausdrücklich beantragt wurde. Die Antragsteller mussten hierzu ein Formular ausfüllen und sich anschließend einer Prüfung auf vier Feldern unterziehen: 1013  Archiv Mairie Lièpvre, Geburtsurkunde Nr. 36 vom 24.8.1905 mit Folgeeintragungen. 1014  Archiv Mairie 18. Arrondissement von Paris, Heiratsurkunde Henripierre mit Scheidungsvermerk vom 22.8.1946. 1015  BArch R 9361 IV-751, Umsiedlungsantrag Henripierre vom 17.7.1941, S. 2. 1016  Ebbinghaus / Dörner / Linne u.  a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Aussage Henripierre vom 18.12.1946, S. 752 ff.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Abb. 23: Umsiedlungsantrag Henri Henripierre vom 17.7.1941, S. 2 (Ausschnitt). (Quelle: BArch R 9361 IV-751)

einer gesundheitlichen und erbbiologischen Prüfung, einer Eignungsprüfung, einer Prüfung durch einen Volkstumssachverständigen und einer sicherheitspolizeilichen Prüfung. Am 17.7.1941 gab Henri Henripierre – der seinen Namen handschriftlich in dieser Schreibweise durch Unterschrift bestätigte – das Antragsformular bei der EWZ in Paris ab. Damals wohnte er in Paris im XVIII. Arrondissement, 221, rue Championnet. Er wies sich allein mit seinem französischen Militärentlassungsschein aus und beantragte, nach Straßburg ziehen zu dürfen. Ein anderes Ausweispapier legte er nicht vor. Er gab an, väterlicherseits und mütterlicherseits deutscher Abstammung zu sein und sich zum Deutschtum zu bekennen. Diese Erklärung gab er auch für seine Frau ab.1017 Weiter 1017  BArch

R 9361 IV-751, Umsiedlungsantrag Henripierre vom 17.7.1941, S. 2.



VIII. Die elsässischen Tatbeteiligten und Zeugen267

Abb. 24: Ausschnitt aus der Schlussverfügung mit dem Hinweis auf die deutsche Staatsbürgerschaft vom 10.9.1941. (Quelle: BArch R 9361 IV-751)

gab er an, vom April bis August 1940 als Infanterie-Soldat der französischen Armee in Montluçon in der Auvergne gedient zu haben. Der den Antrag aufnehmende Mitarbeiter der EWZ vermerkte weiter: „Antragsteller und Ehefrau sprechen gut deutsch. Sohn spricht nur französisch. Eltern des Antragsstellers leben im Elsaß, siehe Meldeblatt. Mutter und Schwester der Ehefrau leben im Elsaß, siehe Meldeblatt.“ Den Antrag unterschrieb der Antragsteller – nachdem er im Formular als Namen Henri Henripierre angegeben hatte – mit „Heinrich Henripierre“.1018 1018  Ebd.,

S. 3.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Anschließend erschien Henripierre tatsächlich – wie in Nürnberg geschildert – vor einer „Kommission von höheren SS-Offizieren“. Diese Prüfer bezüglich der vorgenannten vier Felder bewilligten ihm in der EWZ mit der Ausstellung der „Schlussverfügung I“ den Zuzug nach Deutschland und stellten die deutsche Staatsbürgerschaft schriftlich in Aussicht.1019 Hierüber erhielt Henripierre am 10.9.1941 den entsprechenden Bescheid. Dieser gestattete ihm – unter dem Namen Heinrich Henrypierre – den Zuzug in das deutsche Elsass, wo er von den dortigen Behörden wegen der Erteilung der deutschen Staatsbürgerschaft Bescheid erhalten würde. Ausdrücklich wurde vermerkt, dass ihm der Zeitpunkt, an dem er umsiedeln dürfe, noch bekanntgegeben würde.1020 Die Quellen zeigen nicht eindeutig, ob und wann Henripierre den im unten genannten Dokument avisierten Bescheid über den ­Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft erhielt. Sie zeigen jedoch unzweifelhaft, dass Henripierre die deutsche Staatsbürgerschaft anstrebte. Dieser Umstand war geeignet, ihn bei Bekanntwerden nach dem Kriege in Schwierigkeiten zu bringen. Da die spätere Beschäftigung im öffentlichen Dienst des Deutschen Reiches die Staatsbürgerschaft in der Regel voraussetzte, darf deren erfolgte Erteilung als sehr wahrscheinlich gelten. Da Henripierre bei der Antragstellung offenkundig nur den französischen Militärentlassungsschein vorgelegt hatte, nicht jedoch seine Identitätskarte oder – so vorhanden – seinen Reisepass, steht die Frage im Raume, ob er im Jahre 1944 oder 1945 seine Staatsbürgerschaft abermals wechselte oder den französischen Behörden verschwieg, dass er Deutscher geworden war. Henripierre gab als Zeuge im Ärzteprozess weiter an, er sei im Juni 1942 nach Straßburg gegangen, um sich dort eine Arbeit als Apotheker zu suchen. Henripierre war im Jahre 1928 im Alter von 23 Jahren nach Paris gezogen und hatte nach eigenen Angaben nie woanders gelebt hatte als in Leberau, Markirch und Paris. Im Jahre 1930 war er bereits in einem Klinikum in Paris angestellt. Daher muss offen bleiben, wo und wann er das mehrjährige Studium zum Apotheker absolviert haben kann, das Voraussetzung zum Berufstätigkeit des Apothekers gewesen wäre, die er im Ärzteprozess angab. Im Prozess berichtete Henripierre weiter, er habe sich an das Städtische Krankenhaus – wohl das Bürgerspital – gewandt, um dort eine Tätigkeit in der Apotheke zu finden. Da dort keine Stelle frei gewesen sei, habe man von Seiten der Apotheke bei Hirt angerufen und gefragt, ob er noch immer einen Angestellten benötige. Henripierre habe sich dann bei Hirt beworben, der ihn zum 20.6.1942 als Sektionsgehilfen angestellt habe.1021 Ungeklärt ist, ob sich 1019  Ebd.,

S. 4. Einbürgerungsbewilligung vom 10.9.1941. 1021  Ebbinghaus / Dörner / Linne u.  a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Aussage Henripierre vom 18.12.1946, S. 752 ff. 1020  Ebd.,



VIII. Die elsässischen Tatbeteiligten und Zeugen269

Abb. 25: Namensänderungseintrag vom 17.3.1943 in der Geburtsurkunde von Henripierre vom 24.8.1905. (Quelle: Archiv Mairie Lièpvre, Geburtsurkunde Nr. 36)

die plötzliche Einstellung Henripierres wie geschildert ereignet hat oder er sich – ähnlich wie Wagner – gezielt beworben hat und dies vor dem Nürnberger Gericht mit der Angabe von dem sich zufällig ergebenden Arbeitsverhältnis verschleiern wollte. Im Rahmen der Germanisierungsmaßnahmen des Gauleiters Robert Wagner wurde die „Verordnung über die deutsche Namensgebung vom 15.1.1943“ für die Bewohner des Elsass erlassen. Träger französisch klingender Namen wurden gezwungen, diese in deutsch klingende Namen zu ändern.1022 Doch noch weit vor dem Erlass dieser Verordnung beantragte Henripierre eine Namensänderung. Daraufhin verfügte der Polizeipräsident von Straßburg am 21.12.1942, dass der Nachname Henripierres in Heinzpeter geändert werde. Dies wurde am 17.3.1943 in die Geburtsurkunde Henripierres im Standesamt von Leberau eingetragen. Es kann daher keinen Zweifel geben, dass der Zeuge, der im Nürnberger Ärzteprozess als Henri Henrypierre im Protokoll steht, identisch ist mit Heinrich Heinzpeter.1023 Die Quellen liefern keinen Hinweis, dass Henripierre sich nach dem Krieg mit Hinweisen oder gar Belegen bezüglich einer Zwangseinbürgerung zu entlasten suchte. Es steht daher die Annahme im Raume, dass er freiwillig und ohne Zwang den Ent1022  Zu den Germanisierungsmaßnahmen vgl.: Stiller, Alexa: Germanisierung und Gewalt. Nationalsozialistische Volkstumspolitik in den polnischen, französischen und slowenischen Annexionsgebieten, 1939−1945, Diss. Univ. Bern 2015. 1023  Archiv Mairie Lièpvre, Geburtsurkunde Nr. 36 vom 24.8.1905 mit Folgeeintragungen.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

schluss fasste, Staatsbürger des Deutschen Reiches unter seinem „Führer und Reichskanzler“ Adolf Hitler werden zu wollen. Es ist in den Quellen nicht genau nachzuvollziehen, ab wann Henripierre auf der Gehaltsliste des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung stand. In der Korrespondenz des Ahnenerbes mit der Verwaltung des Persön­ lichen Stabes über die Forschungsbeihilfenempfänger in der Abteilung H wurde der Name Heinrich Heinzpeter am 29.1.1944 nicht erwähnt.1024 Ebenso wenig geschah dies in der Korrespondenz zu den Steuerkarten von Hirts Mitarbeitern im März 1944. In diesem Zusammenhang wurden nur August Hirt, Anton Kiesselbach, Karl Wimmer, Otto Bong, Elisabeth Seepe, Irmgard Schmitt und Else Bennemann erwähnt.1025 Es war nach der Eroberung Straßburgs durch die Alliierten für die Verwaltung des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung unklar, wie mit den Forschungsbeihilfen für jene Mitarbeiter Hirts verfahren werden sollte, die in Straßburg in Gefangenschaft gerieten: Seepe, Bong und Heinzpeter.1026 Während Seepe kurz nach der Gefangennahme über die Schweiz ausgetauscht wurde und nach einem Urlaub weiter für Hirt arbeitete, befanden sich Henripierre und Bong weiter im Gewahrsam der Alliierten. Am 21.12.1944 fragte das Ahnenerbe beim Persönlichen Stab Himmlers an, ob die eingegangenen Forschungs­beihilfen für Seepe, Wimmer, Heinzpeter, Mayer und Bong aufbewahrt werden sollten, bis deren Verbleib geklärt sei.1027 Am 1.2.1945 teilte die Ahnenerbe-Verwaltung mit, dass die Forschungsbeihilfen für die verschollenen Mitarbeiter versehentlich an Hirt nach Tübingen überwiesen worden seien.1028 Am 19.2.1945 schrieb die Verwaltungsführerin des Ahnenerbes an den Persönlichen Stab, dass Seepe nach zweieinhalb Monaten Gefangenschaft über die Schweiz ausgetauscht worden sei und nach einem Urlaub wieder für Hirt in Tübingen arbeite. Die Forschungsbeihilfe für Wimmer und Kiesselbach entfiele zukünftig, da beide bei der Wehrmacht seien. Weiter schrieb sie: „Die Herren Otto Bong und Heinrich Heinzpeter sind in Gefangenschaft geraten, so dass auch hier die Stornierung der Forschungsbeihilfen vorzunehmen ist.“1029

Die Forschungsbeihilfen für die gefangenen und bei der Wehrmacht stehenden Mitarbeiter des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung wurden storniert, nicht jedoch widerrufen. In der Buchführung des Ahnener1024  BArch NS 21 / 29, Schreiben von Verwaltung PSRFSS an Ahnenerbe vom 29.1.1944. 1025  Ebd., Schreiben von Verwaltung PSRFSS an Ahnenerbe vom 21.3.1944. 1026  Ebd., Schreiben von Deutschmann an Persönlichen Stab vom 1.2.1945. 1027  Ebd., Schreiben von Deutschmann an Persönlichen Stab vom 21.12.1944; vgl. BArch NS 21 / 908: Dort ist das Schreiben ebenfalls erhalten. 1028  BArch NS 21 / 29, Schreiben von Deutschmann an Persönlichen Stab vom 1.2.1945. 1029  Ebd., Schreiben von Deutschmann an Persönlichen Stab vom 19.2.1945.



VIII. Die elsässischen Tatbeteiligten und Zeugen271

bes bedeutete dies, dass die Auszahlung so lange nicht vorgenommen wurde, bis diese wieder zur Arbeit erschienen. Beispielsweise wurde die Forschungsbeihilfe für Wimmer und Kiesselbach nur für jenen Zeitraum nicht gezahlt, in dem sie bei der Wehrmacht standen, so dass sie anschließend weiter gezahlt werden konnte. Für Seepe wurde die Beihilfe für den Zeitraum der Gefangenschaft nicht ausgezahlt, um danach jedoch wieder aufgenommen zu werden. So wurde auch abgewartet, ob und wann Bong und Henripierre aus der Gefangenschaft entlassen werden würden. Zu diesem Zeitpunkt rechnete – dies ergibt sich aus vielen Anzeichen, nicht zuletzt aus dem Diensttagebuch Sievers, der zu jener Zeit Ahnenerbe-

Abb. 26: Schreiben des Ahnenerbes vom 21.12.1944, das keine Zweifel daran lässt, dass Heinzpeter / Henripierre Mitarbeiter des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung war. Auf den maschinengeschriebenen Bogen wurde handschriftlich in Kürzeln notiert: „Termin 10.2.1945 Wiedervorlage“ mit Handzeichen Charlotte Heydel. „G / H / 6“ Archivierungsnummer beim Ahnenerbe: G=Geheimsachen, H=Abteilung Hirt, 6 Ablagegruppe 6. Das Kreuz vor dem Namen Wimmers mit dem Fortsetzungskreuz über dem Text bedeutet: „Dr. Wimmer ist doch zur Zeit bei der Luftwaffe. Gez. Sievers.“ (Es ist zu beachten, dass Henripierre als ungelernte Kraft eingestellt war und die damaligen Gehaltsunterschiede zur „einfachen“ Tätigkeit der jungen Sekretärin Seepe oder zum Oberpräparator Bong mit langer Berufserfahrung, insbesondere aber zu Akademikern wie Wimmer in dieser Weise üblich waren.) (Quelle: BArch NS 21 / 29, Schreiben von Deutschmann an Persönlichen Stab vom 21.12.1944)

272

C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

Publikationen für das Jahr 1946 vorbereitete – niemand damit, dass eine Niederlage Deutschlands die Auflösung des Ahnenerbe und des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung zur Folge haben könnte. Daher wurden die Zahlungen für die nicht eingesetzten Mitarbeiter des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung nur storniert. Forschungsbeihilfen für stillgelegte Abteilungen des Ahnenerbes hingegen wurden eingestellt. Dies stellt verwaltungsrechtlich einen großen Unterschied dar, der in Bezug auf Henripierre wichtig ist. Am 13.3.1945 listete die Verwaltungsleiterin des Ahnenerbes, Anneliese Deutschmann, alle Mitarbeiter des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung auf, die noch Anspruch auf eine Forschungsbeihilfe hatten (Abb. 27). Da Henripierre frühestens wenige Monate vor dem Fall Straßburgs in den Genuss eines zweiten Gehalts seitens der SS kam, kann es nicht ausgeschlossen werden, dass es sich um eine Art Schweigegeld handelte, damit Henripierre die Projekte Hirts nicht an die Alliierten verriet. Letztendlich kommt es aber auch nicht darauf an, seit wann und warum Henripierre auf der Gehaltsliste des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung stand. Der Umstand an sich machte ihn nicht zu einem neutralen Zeugen, da er massive Eigeninteressen dergestalt hatte, nach dem Krieg seine eigene Rolle in Hirts Institut zu verschleiern. Zahlreiche Elsässer zogen nach der deutschen Besetzung Frankreichs in den unbesetzten Teil des Landes, auch Zwangseinbürgerungen kamen vor.1030 Henripierre hingegen stellte einen Einbürgerungsantrag ins Deutsche Reich, strebte die Anerkennung als Deutscher an und bekannte sich dabei zum deutschen Volkstum. Er zog von Paris nach Straßburg – und damit in das Gebiet des Deutschen Reiches – und schloss dort einen Arbeitsvertrag. Er war nicht nur ziviler und freiwilliger Mitarbeiter des SS-Offiziers Hirt, sondern leistete einen erheblichen Tatbeitrag zum Verbrechen der Schädelsammlung, unter anderem durch Fixierung der Leichen und deren spätere Vernichtung. Er bezog zudem nach einiger Zeit der Betriebszugehörigkeit eine monatliche Forschungsbeihilfe vom Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung und somit von der SS. Noch ein halbes Jahr nach der Eroberung Straßburgs durch die Alliierten Ende November 1944 wurde er auf den Gehaltslisten der SS geführt. Henripierre hatte nach der Befreiung Frankreichs erlebt, in welch aufgeheizter Stimmung Kollaborateure gejagt und teilweise von Lynchmobs hingerichtet wurden. Nach dem Kriege stand er als freiwilliger Mitarbeiter des mörderischen Naziarztes Hirt in Straßburg im Jahre 1945 vor der Untersuchungskommission des Richters am Ständigen Militärgerichtshof des

1030  Vgl. Kettenacker, Lothar: Nationalsozialistische Volkstumspolitik im Elsass, Stuttgart 1973.



VIII. Die elsässischen Tatbeteiligten und Zeugen273

Abb. 27: Aufstellung aller Mitarbeiter,1031 die am 13.3.1945 noch Forschungsbeihilfen bezogen, mit handschriftlichen Vermerken der Verwaltungsführerin des Ahnenerbes, Anneliese Deutschmann. (Quelle: BArch NS 21 / 29)

10. Militärbezirks in Straßburg, Major Jadin.1032 Dieser hatte am 9.7.1945 eine Untersuchung der Vorgänge in der Anatomie Straßburg beauftragt.1033 In diesem Bericht, der am 15.1.1946 fertiggestellt wurde, ist erstmals die Be-

1031  SS-Standartenführer Prof. Dr. Hans Brand war Leiter der Karstwehrwissenschaftlichen Abteilung des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung, SSUntersturmführer Dipl.-Mathematiker Karl-Heinz Boseck Leiter der Mathematischen Abteilung und SS-Hauptsturmführer Dr. habil. Kurt Plötner Leiter der Abteilung P. Alle anderen Mitarbeiter waren bei der Abteilung H beschäftigt. Vgl. Reitzenstein, Himmlers Forscher. 1032  Lang, Nummern, S. 198: Lang nennt den französischen Offizier „Jardin“. Möglicherweise hat er den zitierten Untersuchungsbericht nicht selbst bearbeitet, sondern sich auf den von Klarsfeld edierten Bericht von Pressac bezogen, der wiederum den Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade zitierte. 1033  BArch B 162 / 20260, Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade, S.  1 ff.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

hauptung festgehalten worden, dass die 86 Opfer für ein Museum bestimmt gewesen seien: „Des soins particuliers furent pris pour leur conservation, car ils devaient être transformés en pièces anatomiques destinées à enrichir le musée d’anatomie (Henrypierre).“1034

Die französischen Ermittler waren demnach unzweifelhaft von Henripierre über den angeblichen Museumsplan informiert worden. Dies ergibt sich aus dem Eintrag aus der Ermittlungsakte vom 23.12.1945, ausweislich derer – in der nachstehenden Reihenfolge – gegen Henripierre, Hirt, Bong und Seepe ermittelt wurde. In dieser Akte ist auch festgehalten, dass Henripierre alle Häftlingsnummern der 86 Opfer preisgegeben hatte.1035 Der weitere Verlauf zeigte, dass sich Henripierre offensichtlich in die Position eines Kronzeugen begeben hatte. Insofern ist die erstmalige Erwähnung eines so monströsen Projekts wie jenem eines Museums zur öffentlichen Zurschaustellung von sterblichen Überresten von Juden in diesem Vernehmungszusammenhang bemerkenswert. Auch Sievers hatte in Nürnberg angegeben, bei dem Projekt sei es um den „Neuausbau des sogenannten Anatomischen Museums, wie es an allen Anatomien der Universitäten besteht“, gegangen.1036 Auffällig ist dabei, dass Henripierre von einer Erweiterung des Anatomischen Museums sprach. Jedoch gab es in Straßburg kein solches Museum und bis heute keinen Beleg, wo ein solches entstehen sollte. Seit der Zeit Gustav Schwalbes gibt es lediglich die Anatomische Sammlung, die in französischer Zeit Musée d’Anatomie hieß, für die medizinische Ausbildung. Sievers hingegen sprach im Ärzteprozess nicht von einer Erweiterung, sondern vom Aufbau eines Museums, also einer Neugründung. Es wäre ebenso interessant zu erfahren, ob der Bericht Henripierres zu dem geplanten Museum der Universität mit dem Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung abgesprochen war, nachdem die Alliierten das Verbrechen am 3.1.1945 bekannt gemacht und Hirt kurz darauf Stellung bezogen hatte.1037 Denn zu diesem Zeitpunkt stand Henripierre immer noch auf der Gehaltsliste dieses Instituts. Im Mai 1945 hielt sich Henripierre mit Gewissheit wieder in Straßburg auf: Der zuständige Standesbeamte trug ein, dass Augustine Lirot und Henri Henrypierre am 4.5.1945 in Straßburg geschieden wurden. Die Scheidung war bereits zwischen dem 14.3. und 6.7.1944 verhandelt worden und wurde nun von dem 1034  BArch B 162 / 20260, Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade, S. 9. 1035  USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020, Ermittlungsakte, Eintrag vom 23.12.1944, S. 258 f. 1036  IMT, Aussage Sievers vom 8.8.1946. 1037  BArch R 4901 / 12877, Schnellbrief vom Auswärtigen Amt an REM vom 6.1.1945.



VIII. Die elsässischen Tatbeteiligten und Zeugen275

französischen Gericht bestätigt.1038 Am darauf folgenden Tage, dem 5.5.1944, heiratete Henri Henripierre Anne-Marie Dollet. Seinen Geburtsvornamen Heinrich hatte Henripierre laut Geburtsurkunde nie geändert, beispielsweise in Henri oder Henry.1039 Henripierres Aussagetendenz seit 1945 war insgesamt dazu geeignet, den Verdacht von der SS auf die Universität zu lenken. Diese mögliche Intention mag seine Eigeninteressen bei seiner Aussage gegenüber der Untersuchungskommission von Major Jadin ebenso unterstreichen wie im Ärzteprozess oder im Beger-Prozess. Es muss Spekulation bleiben, ob die Forschungsbeihilfe als Schweigegeld gezahlt wurde oder Henripierre – im Gegensatz zu dem vom Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung nicht mit einer Forschungsbeihilfe bedachten Mitarbeiter Wagner – zu einem festen Teil des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung geworden war. In den Akten des Ahnenerbes wurde Henri Henripierre als Heinrich Heinzpeter geführt. Es mag eingewendet werden, dass diese Person trotz der „Verordnung über die deutsche Namensgebung vom 15.1.1943“, trotz der Abänderung des Nachnamens Heinzpeter in der Geburtsurkunde und trotz des Nachweises des Vornamens Heinrich im Einwanderungsantrag nicht identisch mit Henri Henripierre sei. Dies kann jedoch durch die nachfolgend aufgeführten Belege ausgeschlossen werden: In der Vernehmung im Ärzteprozess wurden augenscheinlich einzelne Silben nicht korrekt mitstenographiert. So heißt es beispielsweise im Protokoll, Henripierre habe angegeben, in Lievres geboren zu sein statt in Lièpvre.1040 Die Möglichkeit, dass sich bei der Stenographierung Fehler eingeschlichen haben könnten, wird durch die Aussage des Vorsitzenden Richters erhärtet, Henripierre möchte langsamer sprechen.1041 Kurz darauf schilderte der Zeuge Henripierre eine Begegnung mit Hirt während der Anlieferung der 30 Frauenleichen. Spontan soll Hirt gesagt haben: „Peter, wenn Du die Schnauze nicht halten kannst, kommst Du auch dazu.“1042 Damit drängt sich die Frage auf, warum vor einem alliierten Gericht der Zeuge mit dem zuvor angegebenen Namen Henri Henripierre selbst aussagte, dass Hirt ihn mit „Peter“ angesprochen habe. Ein Stenographiefeh1038  Archiv Mairie 18. Arrondissement von Paris, Heiratsurkunde Henripierre mit Scheidungsvermerk vom 22.8.1946. 1039  Archiv Mairie Lièpvre, Geburtsurkunde Nr. 36 vom 24.8.1905 mit Folgeeintragungen. 1040  Ebbinghaus / Dörner / Linne u.  a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Aussage Henripierre vom 18.12.1946, S. 752. 1041  Ebd., Aussage Henripierre vom 18.12.1946, S. 753. 1042  Ebd., Aussage Henripierre vom 18.12.1946, S. 756. Vgl.: BArch B 162 / 20260, Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade vom 15.1.1946, S. 70: Henripierre hatte den Rechtsmedizinern diese Drohung Hirts auch bereits zu Protokoll gegeben.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

ler mag das ungewöhnliche Wort „Heinzpeter“ sein, das nur als „Peter“ verstanden wurde. Die Tatsache, dass Henri Henripierre bekanntermaßen unter den Namen Heinzpeter für die SS arbeitete, wird weiter erhärtet durch ein Schreiben des Generalstaatsanwalts beim Landgericht Frankfurt an das Tribunal Grande Instance de Strasbourg vom 20.4.1967. Dieser wollte Henripierre als Zeugen im Strafverfahren gegen Bruno Beger laden. Gesucht wurde: „Der frühere Anatomist Henri Henripierre (Heinzpeter), geboren am 28.8.1905 in Lievres, letzte hier bekannte Anschrift: Straßburg, 14, Rue des Lail; Henripierre war seit 20.6.1942 Angestellter beim Anatomischen Institut in Strasbourg.“1043 Die französische Behörde stellte keinerlei Fragen zur Benennung des Zeugen mit zwei Namen durch die deutsche Behörde und teilte die Adresse des Gesuchten mit. Dabei ist die amtliche Schreibweise des Namens festzuhalten, die nicht Henry Henrypierre lautete: „Henripierre Henri, né le 23 AOUT 1905 á Lièpvre (Haut-Rhin) domicilié au STRASBOURG (Bas-Rhin), 11, rue de Rotterdam.“1044 Es bestehen auch aus diesem weiteren Grunde keine Zweifel daran, dass Henri Henripierre – auch Henrypierre – identisch mit Heinrich Heinzpeter war, der Mitarbeiter und Forschungsbeihilfenempfänger des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung des Amtes A des Persönlichen Stabes Reichsführer-SS war, wie das Ahnenerbe seit dem 17.3.1942 offiziell hieß.1045 Henripierre war vom Leiter des für ihn in Straßburg zuständigen Kommissariats vorgeladen worden, um die Ladung des Landgerichts Frankfurt am Main als Zeuge im Beger-Prozess zu übergeben. Sowohl der Procureur de la République als auch das zuständige Kommissariat schrieben den Namen „Henripierre“, was dafür spricht, dass diese amtliche Schreibweise zwischenzeitlich korrekt war. Diese Angaben unterschrieb Henripierre eigenhändig. Doch Henripierre unterschrieb mit „Henrypierre“, so wie es in seiner Geburtsurkunde stand. Diese Unterschrift auf der Empfangsbestätigung der Vorladung aus dem Jahre 1970 war identisch mit jener auf dem Einwanderungsantrag aus dem Jahre 1941, mittels dessen Henripierre Deutscher werden wollte. Bei Henri Henripierre, Heinrich Henrypierre und Heinrich Heinzpeter handelt es sich zweifelsfrei um dieselbe Person. 1043  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34148 Prozessakte Beger, Schreiben von Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main an Tribunal Grande Instance de Strasbourg vom 20.4.1967, S. 448. 1044  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34148 Prozessakte Beger, Schreiben von Tribunal Grande Instance de Strasbourg an Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main vom 11.5.1967, S. 446. 1045  NARA T-580 Roll 462 / 463, Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 2.4.1942. In der Literatur findet sich häufig die Angabe, dass das Ahnenerbe „im April 1942“ zum Amt A wurde; vgl. Kater, Ahnenerbe, S. 302.



VIII. Die elsässischen Tatbeteiligten und Zeugen277

Abb. 28: Protokoll der Vorladung zum Beger-Prozess vom 27.10.1970. (Quelle: HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34160 Prozessakte Beger )

Einen weiteren Hinweis auf die belegte Tatsache, dass Henripierre auf der Gehaltsliste der SS stand, lieferte der französische Medizinprofessor Christian Champy in einer eidesstattlichen Aussage am 25.5.1945: „Als die Franzosen nach dem Abzug der Deutschen in Strassburg einzogen, erfuhren sie, dass es eine wissenschaftliche Organisation an der Fakultät in Strassburg gab, die ständig mit dem Lager Struthof in Verbindung stand. Alle Mitglieder dieser Organisation, vom Doktor HIRTH, der die Leitung hatte, bis zum Jungen des Laboratoriums, gehörten den Formationen der SS an.“1046

Dabei handelte es sich um eine Übersetzung, die naturgemäß auch Übersetzungsfehler beinhalten kann. Dies bezieht sich einerseits auf die Begrifflichkeit des Angehörens. Es ist anzunehmen, dass ein französischer Mediziner nicht mit den Feinheiten der Mitgliedschaft, der fördernden Mitgliedschaft, der Ehrenführerschaft, dem Sold der Waffen-SS, der Festanstellung bei der SS 1046  HStA

Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34160 Prozessakte Beger, S. 67 ff.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

und dem Empfang einer Forschungsbeihilfe von der SS, vertraut war. Es ist daher naheliegend, dass Champy annahm, dass eine monatliche Zahlung von der SS an einen Institutsangehörigen von Hirt bedeutete, dass dieser „den Formationen der SS“ angehört. Ein weiteres Beispiel für nachvollziehbare Unschärfen ist der französische Begriff „Garçon“. Dieser bedeutet nicht nur Junge – über einen solchen Laborjungen verfügte Hirt nicht. Das Wort kann auch mit „Gehilfe“ übersetzt werden. Da Henripierre als ungelernter Mitarbeiter in der Sektion häufig als Sektionsgehilfe bezeichnet wurde, ist davon auszugehen, dass er es war, den Champy als „garçon de l’Institut d’Anatomie“ bezeichnet hatte. Dies wird bestätigt durch den „Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade“ vom 15.1.1946, in dem Henripierre als „garçon de l’Institut d’Anatomie“ bezeichnet wird.1047 In den Ermittlungsakten der französischen Behörden nach 1945 wurde Henripierre mit einer Ausnahme, wo er als „Préparateur“ bezeichnet wird, durchgehend als „garçon de l’Institut d’Anatomie“ geführt.1048 Es bliebe zu diskutieren, woher Champy wusste, dass beinahe alle Angehörigen von Hirts Institut auf der Gehaltsliste der SS standen und weshalb diese Erkenntnis ansonsten kaum Eingang in die Untersuchungen fand. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt fahndete im Zuge der Ermittlungen gegen Bruno Beger nach möglichen Zeugen, nach deren bisherigen Aussagen und auch nach weiteren Dokumenten. In dem unten abgebildeten Anforderungsschreiben an das Staatsarchiv Nürnberg wurde Henripierre ebenfalls als Heinrich Heinzpeter benannt. Es ist auch deswegen als sicher anzunehmen, dass Henri Henripierre identisch mit Heinrich Heinzpeter ist. Henripierres Kollege René Colombin Wagner gab am 17.11.1946 eine Eidesstattliche Versicherung über die Vorgänge in der Anatomie in Straßburg ab. Dabei belastete er hauptsächlich Sievers und Hirt. Er nannte viele Details der Versuche von Hirt, Bickenbach und Haagen. Allerdings gab er ausdrücklich als belastendes Faktum zu Protokoll, dass Hirts Mitarbeiterinnen Bennemann und Schmitt „direkt vom Persönlichen Stab Reichsführer-SS, Verwaltung Berlin, bezahlt“ worden seien.1049 Dieses Detail zeigt, als wie belastend der Geldempfang vom Persönlichen Stab Reichführer-SS kurz nach Kriegsende betrachtet wurde. Henripierre hatte also individuelle und von jenen der anderen Zeugen abweichende Gründe, in seinen Aussagen von sich abzulenken, indem er Hirt belastete und sich als ein Opfer der Verhältnisse präsen-

1047  BArch B 162 / 20260, Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade vom 15.1.1946, S. 9. 1048  USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020. 1049  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34160 Prozessakte Beger, Eidesstattliche Versicherung Wagner vom 17.11.1946, S. 132.



VIII. Die elsässischen Tatbeteiligten und Zeugen279

Abb. 29: Auszug aus dem Schreiben der Staatsanwaltschaft Frankfurt an das Staatsarchiv Nürnberg vom 24.6.1966. (Quelle: HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34148 Prozessakte Beger, S. 289 / 68)

tierte. Henripierre hielt diese Darstellung bei allen Vernehmungen bis zu seinem Tod am 14.5.1982 aufrecht.1050 Henri Henripierre ist – betrachtet man den tatsächlichen Ablauf des Verbrechens und seinen Lebensweg – keinesfalls der neutrale Zeuge, als der er heute in der Literatur häufig gesehen wird.1051 Dies sollte dafür sensibilisie1050  Archiv Mairie Lièpvre, Geburtsurkunde Nr. 36 vom 24.8.1905 mit Folgeeintragungen. 1051  E-Mail-Auskunft von Raphael Toledano an den Verfasser vom 28.1.2013: Raphael Toledano, ein Angehöriger des Cercle Menachem Taffel, einer Straßburger Vereinigung, die an die Verbrechen Hirts erinnert, hat über Niels Eugen Haagen und dessen Verbrechen in Straßburg promoviert (Toledano, Les Expériences Médicales). Er gibt an, ein privates Archiv Henripierres zu besitzen, das zeige, dass Henripierre in seinen Aussagen in Nürnberg und gegenüber der Untersuchungskommission in der Anatomie 1945 / 46 falsche Angaben gemacht habe, beispielsweise bezüglich der Konservierungsart. Die diesbezügliche Publikation bleibt abzuwarten.

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C. Der Rahmen des Verbrechens, die Täter und die Zeugen

ren, dass sowohl Täter als auch Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen aus Gründen von Traumatisierung, Kalkül oder einer undifferenzierten psychologischen Melange nicht von vornherein als neutrale Zeugen betrachtet werden dürfen, die Ereignisse mit der Schärfe einer Dokumentarfilmkamera wiedergeben können. Die Subjektivität im Sinne Kants, die bei jeder Zeugenaussage vor Gericht als selbstverständlich gilt, darf bei nationalsozialistischen Verbrechen nicht in Abrede gestellt werden. Das Strafrecht und die historische Darstellung dürfen sich keinesfalls der Maßstäbe der Moral im Sinne Hannah Arendts bedienen.1052 Für die Bewertung der ermittelten Ereignisse sind diese Maßstäbe der Moral jedoch zwingende Grundlage, auch um aus diesen Ereignissen zu lernen. Diese Überlegungen werden am Beginn der Zusammenfassung im Kapitel VI spezifiziert. Es bedarf keines sehr ausgeprägten Wertesystems, um am Ende dieses Buches Hirt, Sievers und Beger gleichermaßen als Verbrecher zu qualifizieren. Es bleibt jedoch offen, wie die Rolle von Menschen einzuschätzen ist, die keinen Vorteil aus dem Verbrechen der Skelettsammlung zogen, aber dennoch freiwillig – und teilweise sehr eifrig – für das Verbrechen oder die Verbrecher tätig wurden, beispielsweise Wolff, Bong, Seepe oder Henripierre. Hannah Arendt urteilte: „Das Nazi-Regime […] hat darüber hinaus den Beweis erbracht, dass niemand ein überzeugter Nazi sein musste, um sich anzupassen […]. Es […] wird fast immer übersehen, daß das, was moralisch wirklich zur Debatte steht, nicht beim Verhalten von Nazis, sondern bei denjenigen auftrat, die sich nur ‚gleichschalteten‘ und nicht aus Überzeugung handelten.“1053

1052  Arendt, 1053  Ebd.,

Über das Böse, S. 7–45. S.  16 f.

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“ I. Der Vorschlag zur Begründung einer Schädelsammlung Bei Sichtung aller Quellen, und zwar sowohl der Unterlagen des Ahnen­ erbes als auch des Persönlichen Stabes, der Pre-Trial-Interrogations Sievers und dessen Aussagen im Nürnberger Ärzteprozess, führt der zeitlich früheste Hinweis im Zusammenhang mit der Schädelsammlung auf die Studienzeit Begers zurück. Am 10.4.1947 sagte Sievers im Ärzteprozess auf die Frage „Hat denn Dr. Beger nicht mit Hirth in Strassburg zusammengearbeitet?“: „Nein, Beger1 war nicht in Strassburg selber, er arbeitete in München. Beger war früher im Rasseamt tätig und kannte von dort aus seiner Studienzeit Hirth.“2

Die Formulierung, dass Beger aus seiner Zeit im Rasseamt und Hirt „von dort“ aus seiner Studienzeit kannte, ist so widersprüchlich und unpräzise, dass ihr keine hohe Glaubwürdigkeit beizumessen ist. Die geringe Wahrscheinlichkeit der Bekanntschaft zwischen Beger und Hirt im Jahre 1934 wird unten näher betrachtet. Es gibt keinen Beleg dafür, dass Hirt jemals anthropologische Forschungsprojekte durchführte oder beantragte oder gar mit dem Rasseamt der SS, dem Arbeitgeber Begers vor seiner Tibetreise, zusammenarbeitete. Sievers wob in Nürnberg dennoch weiter an dem Bild des Netzwerkes der Beteiligten. Am Nachmittag des 10.4.1947 bekräftigte er in seiner Aussage die vorherige Information: „Wie schon heute Vormittag ausgeführt, war Dr. Beger ein alter Bekannter von Prof. Hirth.“3

Am selben Tage beantwortete Sievers die Frage, ob er Hirt vor 1942 schon einmal gesehen habe, folgerichtig: „Ja ich habe ihn zweimal kurz bei offiziellen Anlässen gesehen. Das erste Mal 1936 in Quedlinburg und das zweite Mal im Frühjahr 1941 bei der Eröffnung der Straßburger Universität. […] Wie ich später erfahren habe, war Hirth seit 1931 SS-Angehöriger. Seine nähere Bekanntschaft mit Himmler habe ich 1936 in Qued1  Im Originalprotokoll steht „Hirth“ statt Beger. Da jedoch Beger in München arbeitete und Hirt in Straßburg, liegt offensichtlich ein Transkriptionsfehler vor. 2  Ebbinghaus / Dörner / Linne u.  a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, 10.4.1947, S. 05788. 3  Ebd., S. 05786.

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D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

linburg festgestellt. In der Folgezeit hat sich mir aber keine Gelegenheit geboten, die Beziehungen zwischen Hirth und Himmler zu beobachten.“4

Dass Hirt nicht in Quedlinburg war, hat Kater belegt5 und darüber den begründeten Verdacht geäußert, dass Beger die Untersuchung des vermeint­ lichen Heinrich-Schädels 1937 vornahm.6 Ebenso ist unzweifelhaft, dass Hirt kein „Alter Kämpfer“ war, also vor 1933 der NSDAP oder der SS angehörte. In den Briefbüchern des Persönlichen Stabes finden sich unzählige Korrespondenzen Himmlers mit Medizinern. Ein Kontakt mit Hirt ist auch hier nicht belegt und kann bis Ende 1941 weitgehend ausgeschlossen werden. Es muss aber offen bleiben, ob Sievers die Universitätseröffnung am 25.11.1941 aus taktischen Gründen in der Vernehmung mit „Frühjahr 1941“ angab, um einen zeitlichen Puffer zu den nachfolgenden Ereignissen zu schaffen, oder ob er sich nur unpräzise erinnerte. Es entspricht jedoch der Quellenlage, dass die früheste nachweisbare Begegnung Sievers’ mit Hirt sich zufällig auf einem Empfang des Rektors der Universität Straßburg ereignete, am Sonntag, den 23.11.1941. Sievers war am Freitag, den 21.11.1941, in Straßburg eingetroffen und verbrachte den Rest jenes Tages mit einer Besprechung mit SS-Untersturmführer Dr. Albert Schmitt-Claden über vorgeschichtliche Fundstätten im Elsass.7 Schmitt-Claden war vormals Bibliotheksdirektor in Colmar und seit dem deutschen Einmarsch ins Elsass bis zum April 1941 Leiter der Straßburger National- und Universitätsbibliothek gewesen.8 Aufgrund des hohen Symbolwerts der Einrichtung für die deutsch-französische Geschichte war dies keine gewöhnliche Verwaltungsposition. Er wirkte dann als kommissarischer Direktor des Goethe-Hauses und im Nebenamt als Direktor der Städtischen Museumsbibliothek im Palais Rohan.9 Am folgenden Tag fuhr Sievers mit Schmitt-Claden zu verschiedenen Ausgrabungsstätten im Elsass. Am Abend traf er sich in seinem Hotel „Rotes Haus“ mit dem Vorsitzenden des Geschäftsführenden Beirates des Reichsforschungsrates, SS-Oberführer Professor Dr. Rudolf Mentzel,10 dem 4  Ebd.,

S. 05773. Ahnenerbe, S. 254. 6  Ebd., S. 254. 7  BArch NS 21 / 127 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 21.11.1942. 8  http: /  / www.bnu.fr / de / node / 201. 9  Rosebrock, Tessa Friederike: Kurt Martin und das Musée des Beaux-Arts in Strasbourg, Berlin 2012, S. 211 ff. 10  Rudolf Mentzel (geb. 28.4.1900 in Bremen, gest. 4.12.1987 in Twistringen), Kriegsteilnehmer, Freikorpsangehöriger, 1921 / 22 Eintritt in die SA und vermutlich auch in die NSDAP, 1925 Promotion als einzige wissenschaftliche Publikation, 1928 Wiedereintritt in die NSDAP unter der alten Nummer 2.937, 1932 Eintritt in die SS, letzter Dienstgrad: SS-Brigadeführer. 1933 habilitiert mit politischer Einflussnahme und einer auf „angewandte Chemie unter besonderer Berücksichtigung des Luftschutzes“ beschränkten venia legendi. 1933 Tätigkeit am Kaiser-Wilhelm-Institut für phy5  Kater,



I. Der Vorschlag zur Begründung einer Schädelsammlung283

Frankfurter Ordinarius für Volksforschung, Referenten des Reichserziehungsministers und zugleich Leiter der Forschungsstätte Volksforschung und Volkskunde im Ahnenerbe, SS-Obersturmbannführer Professor Dr. Heinrich Harmjanz,11 dem Berliner Staatsrechtler Professor Dr. Paul Ritterbusch12 und dem Rektor der Berliner Universität, dem Historiker Professor Dr. Willy Hoppe.13 Ritterbusch hatte kurz zuvor in Abstimmung mit Mentzel die Wichtigkeit der Geisteswissenschaften für die Kriegführung proklamiert, womit er dazu beigetragen hatte, große Teile des deutschen Wissenschaftsbetriebes trotz des Krieges aufrecht zu erhalten.14 Wenn ein enger Bekannter Himmlers in der Nähe gewesen wäre oder der später immer wieder betonte Wunsch Himmlers, Hirt eng an SS und Ahnenerbe zu binden, Sievers zu diesem Zeitpunkt bekannt gewesen wäre, wäre die Einbindung Hirts in diese Runde in Sievers’ Hotel Hirt gegenüber eine Demonstration gewesen, mit welchen mächtigen Funktionären Sievers sonst noch auf gutem Fuße stand. Doch Sievers ließ die Chance einer Positionierung als einflussreicher Wissenschaftsmanager ungenutzt, denn es ist nicht belegt, dass er Hirt auch nur eingeladen oder auch nur mit ihm in Kontakt gestanden hatte. Dies lässt vermuten, dass er Hirt zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte. Am folgenden Tag, dem 23.11.1941, fand von 10 bis 13 Uhr der „Akademische Festakt aus Anlass der feierlichen Wiederaufnahme der Vorlesungs- und Forschungs­

sikalische Chemie, 1934 Referent im Amt Wissenschaft im Reichserziehungsministerium, letzter Rang: Ministerialdirektor. 1936 kommissarischer, 1938 fester Präsident der DFG, 1939 Zweiter Vizepräsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, 1942 Leiter des Geschäftsführenden Beirates des Reichsforschungsrates. 1945 interniert, als Minderbelasteter entnazifiziert und Tätigkeiten in der Industrie. 11  Heinrich Harmjanz (geb. 22.5.1904 in Neuruppin, gest. 2.3.1994 in Burgwedel), 1930 Eintritt in SS und NSDAP, 1935 Privatdozent für Volkskunde in Königsberg, 1939 Professor für Volkskunde und Soziologie in Königsberg, 1938 Ordinarius in Frankfurt am Main, 1939 Leiter der Forschungsstätte für Volksforschung und Volkskunde im Ahnenerbe, parallel 1937 bis 1943 im Reichswissenschaftsministerium, 1942 Persönlicher Referent und Leiter des Ministeramtes von Reichserziehungsminister Bernhard Rust im Range eines Ministerialdirektors. 1944 Entmachtung aufgrund von Plagiatsvorwürfen. 12  Paul Ritterbusch (geb. 25.3.1900 in Werdau, gest. 26.4.1945 in Bad Düben durch Suizid), Weltkriegsteilnehmer, Jurastudium in Leipzig in Halle, 1925 Promotion, 1928 Habilitation, 1929 Eintritt NSDAP, 1933 Professor in Königsberg, 1935 Professor in Kiel mit Schwerpunkt Verfassungs- und Völkerrecht, 1937 Rektor der Universität Kiel, 1941 Ministerialdirigent im Reichswissenschaftsministerium und Wechsel an die Universität Berlin, verschiedene prominente Ämter und Ehrenämter als Jurist, Herausgeber und Wissenschaftler. Vgl. u. a.: Hausmann, Frank-Rutger: „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg: die „Aktion Ritterbusch“ (1940–1945), Heidelberg 2007. 13  BArch NS 21 / 127 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 22.11.1941. 14  Kater, Ahnenerbe, S. 219.

284

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

tätigkeit der Reichsuniversität Straßburg“15 statt. Von 13 bis 15 Uhr besprach sich Sievers mit Wüst. Anschließend nahm er von 17 bis 19 Uhr an der Feierstunde des NS-Studentenbundes teil. Um 19:30 Uhr begann der Empfang des Rektors. Dort begegnete Sievers verschiedenen Wissenschaftlern, mit denen er teilweise konkret neue Projekte initiierte: Mit dem Rektor der Technischen Hochschule Braunschweig, Professor Dr. Emil Herzig, vereinbarte er eine Zusammenarbeit des Ahnenerbes auf dem Gebiet der Bauforschung. Mit dem Höheren SS- und Polizeiführer SS-Gruppenführer Kurt Kaul verabredete Sievers ein taktisches Vorgehen bei der Erfassung der Kulturgüter des Elsass.16 Mit dem an der Universität Straßburg tätigen Religionswissenschaftler und Ahnenerbe-Abteilungsleiter „Indogermanische Glaubensgeschichte“, Dr. Otto Huth, sprach Sievers über dessen Forschungstätigkeit in Straßburg.17 Sofern die anwesenden SS-Angehörigen keine Uniform trugen, hefteten sie üblicherweise das SS-Zivilabzeichen, das sie als SS-Mitglieder auswies, an das Revers. Es wäre lebensfremd zu unterstellen, dass die „sichtbaren Mitglieder“ einer Organisation, die im Vergleich zur NSDAP im November 1941 wenige Mitglieder aufwies, sich einander nicht vorgestellt hätten. Sievers wurde

Abb. 30: SS-Abzeichen für den Zivilanzug. (Quelle: Organisationsbuch der NSDAP, Tafel 17, S. 43)

15  BArch 16  Ebd.

NS 21 / 127 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 23.11.1941.

17  IfZ ZS A 0025 02-12 Sammlung Michael H. Kater („Ahnenerbe“), Schreiben von Plassmann an Kater vom 3.11.1963, S. 265. Otto Huth kam zum Ahnenerbe als Vertreter von Joseph Otto Plassmann als Leiter der Forschungsstätte für Sagen- und Märchenkunde. Er habilitierte sich in Tübingen und erhielt dann eine eigene Ahnenerbe-Forschungsstätte für Indogermanische Religionswissenschaft und parallel eine Anstellung an der Reichsuniversität Straßburg.



I. Der Vorschlag zur Begründung einer Schädelsammlung285

ausweislich seines Tagebuches auch auf „SS-U’Stuf. Prof. Dr. Hirt“ aufmerksam.18 Hirt war, wie oben gezeigt, Sievers’ Tischnachbar und wurde, wie andere Professoren auch, in Sievers’ Sitzordnungsheft markiert. Die kurze Begegnung hatte offenbar auf beiden Seiten einen guten Eindruck hinterlassen, wie sich später zeigen sollte. Es ist anzunehmen, dass der Reichsgeschäftsführer des Ahnenerbes für seinen Aufenthalt in Straßburg terminlich derart in Anspruch genommen war, dass er spontan keine freien Termine mehr verfügbar hatte: Am folgenden Tag, dem 24.11.1941, besprach sich Sievers mit Professor Dr. Erich Jung aus Marburg bezüglich einer Kooperation, und um 16:30 Uhr ging er mit Wüst zur „Stunde der Wissenschaft“ der Reichsstudentenführung, an die sich um 19:30 Uhr eine „Kameradschaftliche Veranstaltung“ anschloss, während derer Sievers mit Mentzel und Wüst eine Besprechung abhielt.19 Am nachfolgenden, Dienstag, den 25.11.1941, hatte Sievers zehn Besprechungen. Die letzte, von 19 bis 23 Uhr mit Wüst, umfasste allein 28 Besprechungspunkte. Daran anschließend, von 23 bis 1 Uhr nachts, hielt Sievers eine Besprechung mit Hirt ab.20 Neben einer kurzen ersten Begegnung auf einem großen Empfang am 23.11.1941 war diese zweistündige Begegnung am 25. / 26.11.1941 der erste in den Quellen belegte Kontakt zwischen Sievers und Hirt. Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main fasste diese Vorgänge, bei denen sie sich explizit und mehrfach auf das seit 1949 in vielfacher Auflage erschienene Buch „Medizin ohne Menschlichkeit“ von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke berief, deren Primärquelle der Ärzteprozess war, wie folgt zusammen:21 „Die Pläne und Vorarbeiten zum Aufbau einer Schädel- und Skelettsammlung beim ‚Anatomischen Institut der Reichsuniversität Straßburg‘ reichen bis in das Jahr 1941 zurück. Grundlegende Erörterungen fanden offenbar anlässlich der Wiedereröffnungsfeierlichkeiten der Reichsuniversität Strassburg zwischen dem Geschäftsführer des ‚Ahnenerbe‘, Sievers, und dem Strassburger Ordinarius für Anatomie und Direktor der Anatomischen Instituts, Prof. Dr. August Hirt, […] statt.“22

Im Gegensatz zu den anderen, konkret belegten, Ermittlungsergebnissen offenbart das „offenbar“, dass es auch den Ermittlungsbehörden nicht gelungen war, irgend eine sonstige Begegnung zwischen Sievers und Hirt zu finden, die zeitlich vor dem unten behandelten Vorschlag Begers vom 10.12.1941 zum Aufbau einer Schädelsammlung lag. Es muss wohl ebenso offenbar ge18  IfZ

MA 1406 Diensttagebuch Sievers. NS 21 / 127 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 24.11.1941. 20  Ebd., Eintrag vom 25.11.1941. 21  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 9 und S. 24. 22  Ebd., S. 28. 19  BArch

286

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

wesen sein, dass zwei angesehene Vertreter grundverschiedener Einrichtungen und mit völlig verschiedener Sozialisation, die einander erstmals begegnen, kaum spontan die Möglichkeit eines Massenmords bereden oder diesen gar beschließen dürften. Es gibt keine Belege, dass Hirt vor dem Herbst 1941 solche Pläne entwickelt haben könnte – auch nicht von der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main. Im Verlauf der Ermittlungen ergaben sich jedoch starke – und dargelegte – Anhaltspunkte dafür, dass Beger vor dem Herbst 1941 solche Pläne verschriftlicht hatte. Rund zwei Wochen nach der ersten Besprechung zwischen Sievers und Hirt, die am 10.12.1941 stattgefunden hatte, erschien Beger bei Sievers. Dieser notierte – wie oben bereits erwähnt – in seinem Tagebuch: „SS-O’Stuf. Dr. Beger: Besprechung eines Vorschlags zur Beschaffung von Judenschädeln zur anthropologischen Untersuchung. Zusammenarbeit mit SS-U’Stuf. Prof. Dr. Hirt, Straßburg. Zusammenarbeit mit R.u.S.-Hauptamt-SS. Bericht über Arbeitsbesprechung Beger / Schäfer in München. Genehmigte Einstellung einer Mitarbeiterin.“23

Es zieht sich ein roter Faden durch Sievers’ Diensttagebuch: Wann immer er mit einem neuen Projekt konfrontiert wurde, suchte er nach Vernetzungen innerhalb des Ahnenerbes und zu externen Wissenschaftlern. Für die Skelettierung von Köpfen zu Schädeln wird die Infrastruktur einer Anatomie benötigt. Wie bereits gezeigt, arbeitete Beger immer wieder neben seiner Position im Ahnenerbe auch für das RuSHA. Daher empfahl Sievers Beger, mit beiden potentiellen Unterstützern – Hirt und dem RuSHA – bei diesem Projekt zusammenzuarbeiten. So war einerseits gewährleistet, dass das Projekt im Einflussbereich der SS blieb. Andererseits wurde damit aber auch die Ma­ trixfunktion des Ahnenerbes als Wissenschaftseinrichtung der gesamten SS bestätigt. Es ist dabei – wie bereits erwähnt – zu beachten, dass Heydrichs „Einsatzbefehl Nr. 8“ vom 17.7.1941 ausdrücklich auf Grundlage des Kommissarbefehls eine sehr viel größere Gruppe von kriegsgefangenen Funktionären aus den Reihen der Roten Armee zur Ermordung in den Konzentra­ tionslagern vorsah als nur die Politkommissare. Diese Gesamtopfergruppe wurde mit dem Oberbegriff der „jüdisch-bolschewistischen Kommissare“ belegt. So wurde diese Benennung ein Sammelbegriff für die große Gruppe von Menschen aus den Sowjetrepubliken, die straffrei ermordet werden durften. Diese Gruppe enthielt statistisch auch eine bestimmte Anzahl von Menschen aus den asiatischen Sowjetrepubliken. Die Schädel dieser Gruppe waren wahrscheinlich im Blick Begers, als er Sievers am 10.12.1941 den Vorschlag zur Begründung einer Schädelsammlung unterbreitete.24

23  BArch 24  Otto,

NS 21 / 127 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 10.12.1941. Kriegsgefangene, S. 52 ff.



I. Der Vorschlag zur Begründung einer Schädelsammlung287

Abb. 31: Die Zentrale des Ahnenerbes und des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung in der Pücklerstraße 14 in Berlin-Dahlem (Südseite). (Foto: Nachlass Sievers, in Privatbesitz)

Sievers hatte Himmler über die Bekanntschaft mit Hirt unterrichtet und auch das übergebene Material Niemeiers zur Kernforschung weitergegeben. Mit dem Datum des 29.12.1941 schrieb Himmlers Referent Brandt an Sievers und teilte diesem mit, dass Himmler an allen Forschungsarbeiten Hirts sehr interessiert sei und er diesem gestatte, an Gefangenen und an sogenannten „Berufsverbrechern“ all jene Versuche anzustellen, die er durchführen wolle.25 Ebenfalls am 29.12.1941 erschien Beger abermals bei Sievers. Dieses Mal erhielt er einen Forschungsauftrag zu indogermanischen Wanderwegen, einem Thema, das er im Zusammenhang mit dem Sonderkommando „K“ intensiv bearbeiten sollte, sowie zu der bereits erwähnten Begutachtung der Venusfiguren. Hirt bedankte sich am 1.1.1942 brieflich für Sievers’ ­Schreiben zum Julfest.26 Da am 1.1.1941 Neujahrstag war, wurde der Brief erst am 2.1.1942 befördert und kann frühestens am 3.1.1942 in Berlin-Dahlem bei Sievers eingetroffen sein. Schon am 3.1.1942 schrieb Sievers zurück 25  HStA

Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34168 Prozessakte Beger, S. 8 f. NS 21 / 50 Personalakte Hirt, Schreiben von Hirt an Sievers vom

26  BArch

1.1.1942.

288

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

und mahnte vermutlich die Forschungsberichte für Himmler an,27 denn Hirt antwortete in seinem ersten Schreiben vom 20.1.1942 unter Bezugnahme auf Sievers’ Brief vom 3.1.194228. Die nun folgende Episode gehört zu den wenigen verbliebenen Unschärfen im Gesamtablauf des gegenständlichen Verbrechens. Hirt verwies in seinem Schreiben vom 20.1.1942 nur auf eine Anlage. Diese war sein Forschungs­ bericht mit den beiden Forschungsfeldern Nervensystem und Mikroskopie. Sievers beantwortete Briefe in der Regel sehr zügig. Himmler hatte über Brandt zu diesem Zeitpunkt bereits mehrfach nachfassen lassen, wo der Forschungsbericht bliebe, wie Sievers in Nürnberg bestätigte.29 Dennoch ließ sich Sievers nun Zeit vom – je nach Briefeingang – Dienstag, den 21.1.1942, oder Mittwoch, den 22.1.1942, bis zum Montag, den 9.2.1942, um den dringend angeforderten Bericht an Himmler zu senden. Diese Verzögerung ist in der Gesamtbetrachtung der Arbeitsweise Sievers’ eine bemerkenswerte Anomalie. Selbst in den Folgejahren, in denen Sievers oft wochenlang in Südtirol war, wurden Briefe an ihn sehr rasch beantwortet, zumeist von Wolff, der ausweislich der Diensttagebücher Sievers’ mit diesem in laufendem telefonischen Kontakt war. Wolff hätte von dem für Himmler bestimmten Bericht im Falle einer Verhinderung von Sievers zwischen dem 20.1. und 9.2.1942 – wie in anderen Fällen auch – eine Abschrift für Sievers fertigen und den Bericht an Himmler beziehungsweise Brandt weiterreichen können. Es ist bemerkenswert, dass dies nicht geschah. Ebenso ist bemerkenswert, dass Hirt den Bericht am 20.1.1942 absandte und Sievers drei Wochen später Himmler gegenüber log und die Absendung des Schreibens am 9.2.1942 ausdrücklich damit begründete, dass Hirt lange krank gewesen sei und der Bericht daher nicht früher übermittelt werden konnte. Deshalb ist anzunehmen, dass es einen Grund gab, warum Sievers den Bericht Hirts drei Wochen zurückhielt. Ungewöhnlich ist dies besonders angesichts des Drängens Himmlers in Bezug auf die Person Hirt. Es muss dahingestellt bleiben, worin dieses Drängen seine Ursache besaß – in Himmlers großem Erwartungsdruck, belastbare Ergebnissen in der Entomologie zu erzielen, bei der er Hirt glaubte einsetzen zu können; oder im politischen Erfolg gegenüber der Wehrmacht bei einer möglichen Immunisierung gegen Lost durch einen SS-Wissenschaftler; oder in seinem möglichen persönlichen Erfolg, an dem von ihm ungeliebten Reichsarzt-SS vorbei eine Koryphäe der Medizin an das Ahnenerbe binden zu können. In diesem Zusammenhang hatte Sievers durch Brandt fernmünd27  BArch SSO G 120 Personalakte Hirt, Schreiben von Sievers an Hirt vom 3.1.1942. 28  BArch NS 21 / 904, Schreiben von Hirt an Sievers vom 20.1.1942; vgl. BArch SSO G 120 Personalakte Hirt, Schreiben von Hirt an Sievers vom 20.1.1942. 29  Ebbinghaus / Dörner / Linne u. a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Zeugenaussage von Sievers vom 10.4.1947, S. 05774.



I. Der Vorschlag zur Begründung einer Schädelsammlung289

lich eine Blankovollmacht erhalten, Hirt alles zuzugestehen, was dieser für seine Forschungen benötigte.30 Gleichzeitig kannte Sievers Begers Ambitionen hinsichtlich einer eigenen Forschungsstätte im Ahnenerbe.31 Wie bei allen anderen – und zahlreich dokumentierten – Vorhaben des Ahnenerbes wird Sievers von Beger am 10.12.1941 eine Denkschrift angefordert haben, um die Voraussetzungen, Anforderungen und Zielsetzungen des Projektes Schädelsammlung zu verstehen und zu dokumentieren, aber auch um anderen involvierten Dienststellen darlegen zu können, wie genau diese Schädelgewinnung umgesetzt werden sollte. Nachdem die Denkschrift Begers eingetroffen war, die das wiederholte, was er am 10.12.1941 gefordert hatte, stellte Sievers fest, dass einige rechtliche und organisatorische Voraussetzungen existierten, die er selbst nicht befehlen konnte. Er hatte jedoch von Brandt fernmündlich erfahren, dass Himmler bereit war, sehr weitreichende Zusagen zu geben, um Hirt zu einer Kooperation zu bewegen. Der vorläufige Forschungsbericht Hirts vom 9.2.1942 wurde von diesem in seinem Anschreiben als eine Anlage bezeichnet. Diesen Bericht trennte Sievers vom Anschreiben Hirts und fügte ihn einem Anschreiben an Himmler mit einer Zusammenfassung über Hirts wissenschaftliche Vorhaben bei. Der für Himmler bestimmte Bericht Hirts skizziert dessen Forschungen präzise: „Die von mir bearbeiteten Forschungsgebiete sind einmal das sympathische Nervensystem und der Einfluss dieses Nervensystems auf die Organfunktion, zum ­anderen als zweites größeres Gebiet die Intravitalmikroskopie (mikroskopische Un­ tersuchungen lebender Organe im Fluoreszenzlicht).“32 (Hervorhebungen durch Hirt)

Auf den drei Seiten dieser einen Anlage stellte Hirt dann seine Forschungen und die daran geknüpften Ziele für die Zukunft vor. Die geschilderten Interessen- und Forschungsgebiete hatten keinerlei Bezug zu Anthropologie oder der Vermessung von Körperteilen. Bemerkenswert ist auch, dass im Anschreiben Hirts und im Text des Forschungsberichts kein Hinweis auf eine zweite Anlage zu finden ist. Dem Brief von Sievers an Brandt vom 9.2.1942 waren jedoch zwei Anlagen beigefügt: 1. Der dreiseitige Forschungsbericht von Hirt, auf Hirts persönlichem Briefpapier und in der Ich-Form geschrieben im wissenschaftlichen Sprachstil eines Mediziners, datiert, paginiert und unterschrieben.33 30  Ebbinghaus / Dörner / Linne u. a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Zeugenaussage von Sievers vom 10.4.1947, S. 05774. 31  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S.  33 ff. 32  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159, Prozessakte Beger, S. 43–45. 33  Ebd., S. 43–45.

290

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

2. Ein weiteres Forschungsvorhaben – die Schädelsammlung – auf knapp zwei Seiten, jedoch ohne Hirts Briefkopf auf einer anderen Papiersorte, undatiert und unpaginiert, in wissenschaftlichem Duktus gehalten, aber im Sprachstil eines Anthropologen mit sprachlichen Wendungen, wie sie auch in Gutachten des SS-Rasseamtes oder Begers anderen Denkschriften verwandt wurden. Diese beiden Seiten sind zudem nicht in der Ich-Form geschrieben und auch nicht unterschrieben.34 Bemerkenswert ist jedoch die Tatsache, dass die Denkschrift zur Schädelsammlung eine stringente Vorhabensbeschreibung darstellt, die jedoch keinerlei geographische oder institutionelle Hinweise enthält – abgesehen vom ersten und letzten Satz, in dem ein Hinweis auf die Universität Straßburg gegeben wird: „Betr.: Sicherstellung der Schädel von jüdisch-bolschewistischen Kommissaren zu wissenschaftlichen Forschungen in der Reichsuniversität Straßburg“

und „Für die Aufbewahrung und Erforschung des so gewonnenen Schädelmaterials wäre die neue Reichsuniversität Straßburg ihrer Bestimmung und ihrer Aufgabe gemäß die geeignetste Stätte.“

Es ist festzuhalten, dass die Denkschrift nicht formulierte, was mit den erworbenen Schädeln geschehen sollte oder welcher Art die in der Überschrift genannten „wissenschaftlichen Forschungen“ sein sollten. Es gibt keinen Hinweis auf die Absicht einer Eingliederung in die bestehende Sammlung von Gustav Schwalbe. Da bei der Gründung der Reichsuniversität Straßburg der geplante Lehrstuhl für Anthropologie noch unbesetzt war – und dies bis Kriegsende auch blieb –, verwahrte das Anatomische Institut von Amts wegen diese Sammlung Schwalbes, wie es Hirt in einem für die Alliierten bestimmten Bericht später selbst festhielt.35 Allerdings gibt es keinen Beleg, dass Hirt an dieser Sammlung forschte. Sollte der Direktor der Anatomie der Reichsuniversität Straßburg den Wunsch gehabt haben, die Mittel seines Lehrstuhls zur Erweiterung der Sammlung eines anderen Lehrstuhls auszugeben – was kameralistisch gewagt und eher lebensfremd gewesen wäre –, so hätte er entsprechende Bestellungen bei seinem ihm gewiss nicht unbekannten Kollegen, dem Direktor der Anatomie der Reichsuniversität Posen, Hermann Voss, aufgeben können. Es war eine in Fachkreisen allgemein bekannte Tatsache, dass Voss Präparate aus verstorbenen Häftlingen fertigte und an Facheinrichtungen verkaufte, wie die oben genannten Erkenntnisse von Götz Aly zeigen. Auch der Verkauf von Schädeln ermordeter Juden aus Konzentrationslagern war dort nicht mit besonderer Geheimhal34  Ebd.,

S.  46 f. R 4901, Stellungnahme Hirts vom 25.1.1945.

35  BArch



I. Der Vorschlag zur Begründung einer Schädelsammlung291

tung belegt. Das Fertigen von Anatomie-Präparaten aus den Leichen verstorbener oder ermordeter Häftlinge in Konzentrationslagern war nicht nur eine in Posen geprägte Praxis. Das Französische Büro des Informationsdienstes über Kriegsverbrechen gab im Jahre 1945 das Buch „Konzentrationslager Dokument F 321 für den Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg“ he­ raus. In diesem Buch wurde eine Vielzahl von Grausamkeiten in den Konzentrationslagern für die Ankläger dokumentiert, die oft aus Augenzeugen­ berichten beruhten. Darin heißt es: „Ende Oktober 1943 bekommt unsere pathologische Abteilung den Befehl, möglichst rasch sehr schöne anatomische Präparate an die wichtigsten deutschen Universitäten zu schicken. […] Gleichzeitig musste eine vollständige Sammlung von Präparaten gesunder Organe, die mehr als 2000 Präparate umfasste, an die Universität Innsbruck geschickt werden. Diese Präparate waren kostbar, weil sie von absolut gesunden Leuten stammten, die man später entweder gehängt oder in den Verbrennungsofen geschickt hat.“36

Insoweit hätte Hirt zum Aufbau einer Sammlung jüdischer Schädel keinesfalls den aufwendigen Weg der Ermordung von Kommissaren der Roten Armee mit zahlreichen Beteiligten und hohem Kostenaufwand wählen müssen – insbesondere, da bei Voss der präparierte Schädel eines Juden nur die erstaunlich geringe Summe von 25 Reichsmark kostete.37 Für den Fall, dass Beger als Autor der Denkschrift vermutet wird, wäre es – unter der Annahme, dass er nach der erfolgreichen Habilitation den vakanten Lehrstuhl für Anthropologie anstrebte – naheliegend, dass er das Material zum Beweis seiner These von der Wanderungsbewegung der europäischen Rasse von ­Tibet nach Nordeuropa an seinem zukünftigen Lehrstuhl aufbewahrt sehen wollte.38 Die ehemalige Chefsekretärin des Ahnenerbes, Dr. Gisela SchmitzKahlmann, konterkarierte im Rahmen des Ärzteprozesses die Verteidigungsstrategie Sievers’, dass es sich bei der Schädelsammlung nicht um ein von Sievers verantwortetes Ahnenerbe-Projekt gehandelt habe. Schmitz-Kahlmann sagte aus, dass es sich nicht um ein Vorhaben der Reichsuniversität Straßburg gehandelt habe, bei dem das Ahnenerbe allenfalls nur am Rande eine Rolle spielte. Dies geschah gewiss nicht aus Boshaftigkeit, da SchmitzKahlmann sich im Verfahren ansonsten sehr für Sievers, als dem Vater ihres Sohnes, einsetzte. Im Rahmen des Ärzteprozesses gab sie unter Eid am 27.3.1947 zu Protokoll: „Mir ist das Dokument NO-085 exhibit Nr. 175 im Dokumentenbuch Nr. 9 der Anklage betr. juedische Skelettsammlung vorgelegt worden. Der Bericht wurde mit Ausnahme des letzten Absatzes, der mit den Worten „fuer die Aufbewahrung …“ beginnt, – soweit ich mich erinnere – von Dr. Bruno Beger, der aus dem Rasse36  Dokument

321, S. 141 f. Masken, S. 134 f. 38  BArch NS 21 / 127, Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 29.12.1941. 37  Heimann-Jelinek,

292

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

und Siedlungshauptamt der SS hervorgegangen war, entworfen. Mir kam der Bericht im Herbst 1941 zum ersten Male zu Gesicht. Der Bericht hatte bereits alle moeglichen Aemter durchlaufen und war u. a. in einem Exemplar auch zum ‚Ahnenerbe‘ gekommen. […] Eines Tages erzaehlte mir Sievers, Himmler habe ihn im persoenlichen Gespraech – ich glaube es war in Zusammenhang mit Prof. Hirt – auf diese Angelegenheit angesprochen und die Vorlage des Berichts nach Stellungnahme durch Prof. Hirt befohlen. Hirt fuegte dann den letzten Absatz hinzu. Mit dieser Ergaenzung wurde dann der Bericht an den Persoenlichen Stab des Reichsfuehrers-SS, bezw. an Dr. Rudolf Brandt weiter geleitet.“39

Diese Variante scheint von allen denkbaren die glaubwürdigste, da in Nürnberg bei der Sichtung der Akten des Ahnenerbes und des Persönlichen Stabes häufig Fachleute zu einer Stellungnahme zu eingereichten Anträgen aufgefordert wurden. Da es sich bei der Schädelsammlung um ein anthropologisches, nicht um ein anatomisches Vorhaben handelte, aber zur Verwirk­ lichung die Bearbeitung der Schädel durch einen Anatomen gesichert sein musste, wäre die Einholung einer Machbarkeitsstellungnahme seitens eines Anatomen folgerichtig gewesen. Inhaltlich bestätigte Schmitz-Kahlmann ihre Eidesstattliche Versicherung aus Nürnberg vom 27.3.1947 am 23.11.1960 vor der Staatsanwaltschaft Frankfurt: „Aber ich weiß mit Sicherheit, dass sich der Name des Herrn Dr. Beger bei mir mit dem Dokument NO – 085 (betr.: Sicherstellung der Schädel von jüdisch-bolschewistischen Kommissaren …) unmittelbar verbunden hat. […] Wenn ich mich recht erinnere, wurde die Aktion, die schließlich zur der Auswahl von 115 Personen im KL.Auschwitz führte ursprünglich durch einen Aktenvermerk von Herrn Dr. Beger eingeleitet, der zeitlich noch vor dem Bericht: „Betrifft Sicherstellung der Schädel von jüdisch-bolschewistischen Kommissaren …“ liegt. Dieser Vermerk enthielt ungefähr dieselben Ideen, wie sie in dem vorgenannten Bericht (Dokument NO – 085) enthalten sind. Ich vermute sogar, dass es sich hierbei um eine wörtliche Übernahme des von Herrn Dr. Beger angefertigten Vermerks handelt.“40

Auch in einem späteren Stadium der Ermittlungen bestätigte sie in einer richterlichen Vernehmung ihre Erinnerungen wie folgt: „Die Aktion auf Sicherstellung von Schädeln jüdisch-bolschewistischer Kommissare ist mir noch in Erinnerung. Im Frühjahr 1941 habe ich zum ersten Mal von diesen Dingen gehört. Ich war damals von Bozen zu einem Besuch nach Berlin gekommen. Sievers zeigte mir einen schriftlich formulierten Vorschlag, der dahin ging, die Schädel von russischen Kommissaren jüdischer Abstammung zu sammeln. […] Für die anthropologische Seite der Aktion war Dr. Beger vorgesehen. Sein Name verbindet sich bei mir von Anfang an mit dem beschriebenen Projekt.“41 39  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34161, S. 46  ff., Eidesstattliche Versicherung Schmitz-Kahlmann vom 27.3.1947. 40  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Schmitz vom 23.11.1960, S. 69 (Hervorhebungen durch den Verfasser). 41  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Schmitz vom 8.11.1962, S. 218 f. (Hervorhebungen durch den Verfasser).



I. Der Vorschlag zur Begründung einer Schädelsammlung293

Dieser Aktenvermerk beziehungsweise Vorschlag, der ein knappes Jahr vor der Erstellung der Denkschrift zur Schädelsammlung vom 9.2.1942 gemacht wurde, liegt in den Quellen nicht vor. Da jedoch ein nicht unerheblicher Teil der Ahnenerbe-Akten verloren ging – auf dem Weg von der Ahnenerbe-Zentrale42 über die US-Truppen, den Internationalen Militärgerichtshof, den Ärzteprozess, die National Archives bis hin zum Bundesarchiv –, kann daraus nicht geschlossen werden, dass diese erste Schädelsammlungs-Denkschrift nie existierte. Daher sind die Zeugenberichte der einzige Anhaltspunkt für deren mögliche Existenz. Bei Zeugenberichten ist üblicherweise deren Interessenlage zu beachten, um die Glaubwürdigkeit der jeweiligen Aussage zu qualifizieren. Die Konterkarierung der Verteidigungsstrategie Sievers’ durch Schmitz wurde auch vom Untersuchungsrichter Düx gegenüber Beger am 11.10.1961 angesprochen. Nachdem Beger mehrfach in recht eindeutiger Weise moralisierend darauf hingewiesen hatte, dass Schmitz unglaubwürdig sei, da sie mit Sievers ein uneheliches Kind habe, dessen Vater sie mit ihrer Aussage schützen wolle, hielt Düx Beger vor: „Dieses Motiv wäre doch viel besser zu verwirklichen gewesen, wenn sie die Verantwortung für Vorfälle mit der Schädelsammlung auf Prof. Hirt abgewälzt hätte?“

Beger wich dieser Logik aus, indem er wenig plausibel entgegnete: „Vielleicht ist sie mir nicht wohlgesonnen und hat mich deshalb belastet.“43 Am 8.11.1962 präzisierte und plausibilisierte Schmitz ihre vorherige Aussage. Sie wies darauf hin, dass Hirt ein Vorhaben wie den Aufbau einer anthropologischen Skelettsammlung nicht allein hätte durchführen können, da er Anatom und nicht Anthropologe war. Sie bekräftigte weiter, dass sich Begers Name bei ihr von Anfang an mit dem Vorhaben Schädelsammlung verbunden habe.44 Im Begleitschreiben von Sievers an Brandt zu den Forschungsunterlagen Hirts vom 9.2.1942 heißt es: „Es handelt sich 1.) um seine Forschungen auf dem Gebiet der Intravitalmikroskopie, die Ent­ deckung einer neuartigen Untersuchungsmethodik und die Konstruktion eines neuen Forschungsmikroskops, 2.) um einen Vorschlag zur Sicherstellung der Schädel von jüdisch-bolschewistischen Kommissaren. 42  Gesprächsprotokoll Katharina Görlitz vom 18.1.2012. Frau Görlitz berichtete, dass die US-Einheiten, die die Ahnenerbe-Zentrale besetzten, die meisten vorgefundenen – nicht in der Tropfsteinhöhle Pottenstein eingelagerten – Akten und Papiere aus den Fenstern in den Fluss Wiesent, der am Ahnenerbe-Gebäude entlang fließt, geworfen hatten. 43  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Beger vom 11.10.1961, S. 123. 44  Ebd., Aussage Schmitz vom 8.11.1962, S. 218.

294

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

Als Ergänzung zum Bericht 1.) sind einige Sonderdrucke beigefügt, von denen die beiden Artikel in den Zeiss-Nachrichten – Nr. 10 (2. Folge) und Nr. 1–5 (3. Folge) die raschere Orientierung ermöglichen, während es sich bei den anderen Veröffentlichungen um schwierige wissenschaftliche Einzelarbeiten handelt.“45

Es ist bemerkenswert, dass Sievers in Anschreiben eigenintitativ jenes Forschungsfeld Hirts unterschlug, das dieser bis dahin am längsten bearbeitet hatte und im beigefügten Forschungsbericht ausführlich darstellte – das sympathische Nervensystem – und stattdessen jenes hervorhob, das für die Interessen Himmlers – Entomologie und Onkologie – das größte Potential versprach: Intravitalmikroskopie. Ebenfalls ist es aufschlussreich, dass zum Aspekt der Mikroskopie auf zahlreiche Sonderdrucke verwiesen wird, jedoch der Hinweis auf die Schädelsammlungs-Denkschrift im Brief zwischen beide Sachverhalte eingefügt wurde, während Hirts beigefügter Bericht einen deutlich anderen Schwerpunkt hatte. Brandt antwortete auf Sievers’ Schreiben am 21.2.1942 und teilte mit: „Ich habe dem Reichsführer-SS heute die Ausführungen des Prof. Dr. Hirt zur Kenntnis bringen können. Der Reichsführer-SS interessiert sich – wie ich Ihnen schon einmal sagte – sehr für die Arbeit des Prof. Dr. Hirt. Vielleicht können Sie Hirt in der nächsten Zeit einmal aufsuchen und ihm noch einmal sagen, dass der Reichsführer-SS ihm für seine Versuche alles zur Verfügung stellt, was er benötigt. Zunächst aber müsste von uns einmal alles getan werden, was dazu beitragen kann, Prof. Dr. Hirt wieder gesund zu machen. […] Vielleicht kann auch eine kleine Obstsendung schon wesentlich zu einer Besserung beitragen.“46

Mit keinem Wort ging Brandt auf die die Denkschrift zur Schädelsammlung ein und betonte hingegen, dass sich Himmler für die Forschungen Hirts interessiere und dafür alle Mittel bereitstelle. Nach diesem Brief herrscht in den Quellen mehrere Monate lang Schweigen zum Thema der Schädelsammlung. In der Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main wurde mit großer Festigkeit formuliert, was sie für tatsächlich von der dem Forschungsbericht angefügten Denkschrift zur Schädelsammlung hielt: „Dieser Vorschlag, der in Form, Aufbau und Inhalt von den übrigen Ausführungen Professor Hirts deutlich absticht, stammt in Wahrheit aus der Feder des Angeschuldigten Dr. Beger.“47

In den nachfolgenden Zeilen der Anklage wurde die von Sievers übernommene Darstellung Mitscherlichs und Mielkes zur Tatsachenfeststellung befördert: 45  Ebbinghaus / Dörner / Linne u. a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Anklagedokumentenband 9, S. 01245 NO-085. 46  Ebd., Anklagedokumentenband 9, S. 01246 NO-090. 47  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 33.



I. Der Vorschlag zur Begründung einer Schädelsammlung295 „Dr. Beger, seit Jahren mit Professor Dr. Hirt bekannt und auf ‚Du‘, beschäftigte sich seit Jahren als Anthropologe mit fremdrassigen Typen und glaubte nun – dem Zuge der Zeit entsprechend und in Übereinstimmung mit den damaligen Parolen vom bolschewistischen Untermenschentum – dass sich ihm nun die günstige Gelegenheit bot, seine anthropologischen Arbeiten zu intensivieren und gleichzeitig den politischen Tagesparolen auf besonders eindringlicher Form zu ent­sprechen.“48

Die Staatsanwaltschaft kam zu der Auffassung, dass Beger die von ihm verfasste Denkschrift Hirt zur Billigung vorgelegt hatte. Gisela SchmitzKahlmann sagte während des Nürnberger Ärzteprozesses als Zeugin deutlich tendenziell zugunsten von Sievers aus. Sie bezeugte dort jedoch, dass Beger die Denkschrift verfasst und an Hirt geschickt habe. Dieser habe lediglich den Aufbewahrungsort der Sammlung in Straßburg – wohl als Gegenleistung für seine präparatorische Unterstützung – angefügt und die Denkschrift auf diese Weise billigend mit dem Forschungsbericht an Sievers weitergeleitet.49 Letztlich kommt es aber gar nicht darauf an, ob Hirt die Schädelsammlungs-Denkschrift zur Billigung bekommen hatte und diese – im Anschreiben unerwähnt – mit der Einfügung des Hinweises auf Straßburg an Sievers gesandt hatte oder ob Sievers diese Einfügungen vornahm und ohne Wissen Hirts die Denkschrift einfügte: In beiden Fällen wäre klar, dass Hirt nicht der Urheber der Denkschrift war. Da diese Aussage mehr als ein Jahrzehnt vor dem Beger-Prozess entstand und Sievers’ Aussage widerspricht, dass der Plan der Schädelsammlung nicht von einem seiner Ahnenerbe-Mitarbeiter stammt, darf ihr eine hohe Glaubwürdigkeit beigemessen werden. Die Angaben wurden auch von der Staatsanwaltschaft Frankfurt als glaubwürdig angesehen, die dazu noch die Autorenschaft Begers in Bezug auf die Denkschrift mit dem Vorschlag des Aufbaus einer Schädelsammlung für unzweifelhaft hielt: „Diese Angaben werden erhärtet durch einen stilistischen Vergleich mit den übrigen Arbeiten des Angeschuldigten Dr. Beger. Der Stil dieses Vorschlages entspricht demjenigen Dr. Begers, wie er sich beispielsweise aus seiner Denkschrift über die erste SS-Tibet-Expedition vom 1.3.1941, insbesondere aber auch seinem Schreiben vom 30.6.1941 an den RFSS betreffend rassenkundlicher Untersuchungen […], sowie dem Schreiben Begers vom 25.10.1943 an Sievers (Vorschlag zur Errichtung einer Forschungsabteilung für Rassen- und Forschungsfragen beim ‚Ahnenerbe‘) ergibt. Die Aussagen der Zeugin Dr. Schmitz findet auch eine Bestätigung in einem Tagebucheintrag Sievers’ vom 10.12.1941.“50

48  Ebd.,

S. 33. S. 33, Bezug nehmend auf die Eidesstattliche Versicherung von Dr. Gisela Schmitz-Kahlmann vom 27.3.1947. 50  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S.  33 ff. 49  Ebd.,

296

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

Es gibt verschiedene Hinweise und Zeugenaussagen, die zeigen, dass der Auftrag zum Aufbau einer Schädelsammlung auf die erste – nicht erhaltene – Denkschrift Begers hin unmittelbar von Himmler ausging und Sievers fernmündlich oder per (nicht überliefertem) Geheimschreiben befohlen wurde. Sievers habe diesen Befehl an Beger und Hirt weitergeben. Dies wird erhärtet durch die Aussagen von Gisela Schmitz-Kahlmann, Wolf-Dietrich Wolff, Bruno Beger sowie den nachfolgend erörterten Schreiben von Sievers an Brandt vom 2.11.1942,51 von Brandt an Eichmann vom 6.11.194252 und von Sievers an das SS-Führungshauptamt vom 22.5.1943.53 Wie unten noch gezeigt wird, war innerhalb des Ahnenerbes für das Vorhaben der Begriff „Auftrag Beger“ üblich, was dafür spricht, dass alle Beteiligten den Urheber und künftigen Nutznießer des Plans auch während dessen Durchführung klar identifizierten und keine diesbezüglichen Zweifel bestanden. Hans-Joachim Lang argumentierte davon abweichend, dass Beger aufgrund seines im Verhältnis zu Hirt deutlich niedrigeren Dienstranges keine Möglichkeit besessen habe, einen solchen Plan zu betreiben.54 Dies entspricht nicht den Tatsachen, da beide seit 1942 SS-Hauptsturmführer waren. Zum Zeitpunkt der Übersendung der Schädelsammlungs-Denkschrift stand Hirt als SS-Untersturmführer sogar zwei Ränge unter Beger. WolffDietrich Wolff äußerte sich nach 1945:

51  Ebbinghaus / Dörner / Linne u.  a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Anklage­ dokumentenband 9, S. 01252, NO-086. 52  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159, S. 87, Schreiben vom Brandt an Eichmann vom 6.11.1942; vgl. Steegmann, Natzweiler, S. 427: Steegmann hält fest, dass Brandt Eichmann über eine geplante anatomische Sammlung an der Reichuniversität informierte. Im Betreff des wiedergegebenen Schreibens steht jedoch: „Aufbau einer Sammlung von Skeletten in der Anatomie Straßburg“. Die sehr präzise Verwaltungssprache jener Zeit und der Jurist Brandt wussten zu unterscheiden zwischen einer Sammlung, die der Anatomie gehören sollte, und einer Sammlung, die am Ort der Anatomie entstehen sollte, was einen Fremdeigentümer ausdrücklich nicht ausschloss. 53  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 37. 54  Lang, Nummern, S. 149: „Bruno Beger war dennoch nicht die treibende Kraft des Unternehmens, auch wenn es im internen Sprachgebrauch des ‚Ahnenerbes‘ nach ihm ‚Auftrag Beger‘ genannt wurde. Beger hatte weder den Rang dazu noch überhaupt Interesse, sich aus seinem Spezialgebiet, der Rassenkunde Zentralasiens, he­ rausziehen zu lassen.“ In Bezug auf die letztere – unbelegte und daher spekulative – Behauptung geht Lang davon aus, dass von Beginn an der Plan bestanden habe, Juden zu ermorden. Wenn man den Begriff der Schädelsammlungs-Denkschrift „jüdischbolschewistische Kommissare“ nicht als Synonym für straffrei zu ermordende Opfer versteht, sondern als fest definierte Zielgruppe, so ist festzuhalten, dass nicht alle Kommissare der Roten Armee jüdisch waren – und keines der 86 von Lang identifizierten Opfer ein Kommissar.



I. Der Vorschlag zur Begründung einer Schädelsammlung297 „[Ich] wusste, dass eine Skelettsammlung hergestellt werden sollte, und dass diese Aktion unter dem Auftrag ‚Beger‘ lief. […] Die Bezeichnung ‚Auftrag Beger‘ ist sicherlich der Einfachheit halber, so verwendet worden. Gemeint war damit die Skelettsammlung.“55

Am 9.3.1942 benötigte Sievers offenbar immer noch ein größeres Projekt für Beger, da es auf die Schädelsammlungs-Denkschrift keine Reaktion Himmlers oder Brandts gab. Er teilte Brandt brieflich mit, dass Beger ihm „neulich eine Denkschrift über Rassenerhebung und Steuerung der Rassenbewegungen in Deutschland und darüber hinaus in Europa gegeben [hat]. Einen ähnlichen Vorschlag hatte er schon Ende Juni […] gemacht.“56 Dies zeigt, womit sich Beger vor seiner Rückkehr von der Front zum Ahnenerbe befasst hatte und wo sein wissenschaftliches Hauptinteresse lag. Vor allem aber zeigt dieses Schreiben Sievers’, dass es neben ihm andere Kommunikationskanäle zwischen Beger und Himmler gab: „Dieser Vorschlag war damals, vermutlich im Juli 1941, vom RuS.-Hauptamt an den Reichsführer-SS weitergereicht worden.“57

Bei diesem Vorhaben dürfte es sich um das Projekt der Wanderungsbewegungen von Tibet nach Europa gehandelt haben, das Beger Sievers am 29.12.1941 in dessen Büro vorstellte.58 Offenbar war auch hier zwischen dem Vorschlag Begers am 29.12.1941 und der Abgabe der Denkschrift hierzu am 3.2.1942 viel Zeit vergangen.59 Zwischenzeitlich hatte Sievers den Vorschlag Begers am 9.2.1942 mit Wüst besprochen.60 Nachdem Beger am 5.3.1942 noch einmal bei Sievers nachfragte, schrieb dieser am 9.3.1942 an Brandt,61 Himmler habe sich bislang nicht positioniert, weshalb Sievers sich nun noch einmal erkundige.62 Außerordentlich bemerkenswert ist in diesem Schreiben der auf diese Weise abermals belegte Kommunikationsweg. Beger war in der Lage, eigene Projektvorschläge über das Rasse- und Siedlungshauptamt unmittelbar an Himmler zu übermitteln. Dies sollte zu einem späteren Zeitpunkt entscheidend sein, denn Sievers behauptete in Nürnberg, Himmler habe ihm Ostern 1942 erklärt, dass der Antrag zum Aufbau einer Skelettsammlung vor 1941 55  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34148 Prozessakte Beger, Vernehmung Wolff vom 5.11.1963, S. 239 / 16 f. 56  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159, S. 49a. 57  Ebd. 58  BArch NS 21 / 127 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 29.12.1941. 59  NARA T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 3.2.1942. 60  Ebd., Eintrag vom 9.2.1942. 61  Ebd., Eintrag vom 5.3.1942. 62  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159, S. 49a.

298

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

vom Rasse- und Siedlungshauptamt bereits schon einmal an ihn gerichtet worden sei.63 An anderer Stelle teilte Sievers in den Vernehmungen mit, dass Himmler bei dieser Besprechung während der Ostertage angeordnet habe, dass die Opfer für die Sammlung nicht an der Front, sondern in einem Konzentrationslager ausgewählt werden sollten.64 Dies hing offenbar damit zusammen, dass die SS eigene Kriegsgefangenenlager eingerichtet hatte. Da jedoch auch Schmitz-Kahlmann aussagte, dass sie bereits vor der Schädelsammlungs-Denkschrift einen gleichlautenden Vorschlag in den Händen hatte, spricht hier einiges für die folgende Lesart: Beger hatte über das Rasse- und Siedlungshauptamt – das in Bezug auf Rassekunde eher zuständig war als Begers Arbeitgeber, die Forschungsstätte für Innerasien und Expeditionen – neben der Denkschrift zur Rassenkarte Europas auch den Vorschlag zum Aufbau einer Schädelsammlung an Himmler gerichtet. Dieser hatte ihn an Sievers im Ahnenerbe weitergeleitet und Beger parallel empfohlen, sich an seinen dortigen Vorgesetzten Sievers zu wenden. Als Sievers’ Chefsekretärin hatte Schmitz-Kahlmann den Vorgang dann ebenfalls vorliegen und konnte sich folglich nach dem Kriege erinnern. Dieses Vorgehen Himmlers war nicht ungewöhnlich und ist auch in anderen Fällen in den Unterlagen des Ahnenerbes belegt. Bei Sievers wurde Beger daher nach seinem zwischenzeitlichen Fronteinsatz am 10.12.1941 vorstellig und präsentierte ihm nun als dem richtigen – von Himmler als zuständig genannten – Ansprechpartner offiziell seinen Plan der Schädelsammlung, was Sievers im Diensttagebuch vermerkte. Diese Lesart, dass die bereits Mitte 1941 an Himmler gelangte Denkschrift aus dem RuSHA heraus eingereicht worden war, ist in Anbetracht des anthropologischen Arbeits­ schwerpunktes des RuSHA plausibel, erklärt den sprachlichen Duktus der Denkschrift und war offenbar ein erprobter und den Zuständigkeiten entsprechender Kommunikationsweg. Das Vorgehen erinnert zudem an die oben geschilderten Abläufe zum Projekt „Rassen im Kampf“: Beger hatte die ent­sprechende Denkschrift über das RuSHA an Himmler geschickt, und dieser hatte nach einer Zeit des Zuwartens den Auftrag erteilt und die operative Betreuung des Projektes dem Ahnenerbe zugewiesen. Brandt antwortete auf Sievers’ Schreiben vom 9.3.1942 am 21.3.1942 und teilte mit, dass Beger sich im Herbst 1941 mit einer ähnlichen Anfrage bezüglich der Wanderungswege der Rassen unmittelbar an Himmler gewandt habe.65 Dies zeigt, dass es sich – sofern Beger tatsächlich im Som63  Ebbinghaus / Dörner / Linne u. a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Zeugenaussage von Sievers vom 10.4.1947, S. 05771. 64  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34150, Aussage Taylor über Sievers vom 9.12.1946, S. 281 / 60. 65  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159, S. 49b.



I. Der Vorschlag zur Begründung einer Schädelsammlung299

mer 1941 die Schädelsammlungs-Denkschrift aus dem RuSHA an Himmler gab, bevor dieser ihn an Sievers verwies – nicht um einen Einzelfall handelte. Himmler habe die Gedanken der Denkschrift bezüglich der Wanderungswege für gut und richtig erachtet, teilte Brandt mit, halte jedoch derzeit ein solches Projekt in seiner Gesamtheit während des Krieges – wohl insbesondere bezüglich der Arbeiten in Deutschland – für nicht durchführbar.66 Am 8.4.1942 teilte Sievers Beger die Antwort Brandts mit: Da das Vorhaben nicht durchzuführen sei, beauftrage er ihn, stattdessen einen Arbeitsplan für eine Zentralstelle für anthropologische Forschungen bei künftigen Expeditionen auszuarbeiten.67 Daraufhin bezeichnete Beger sich fortan als Abteilungsleiter in der Forschungsstätte Innerasien und Expeditionen und ging offenbar davon aus, seine Abteilung später ausgründen und zu einer eigenen Forschungsstätte für Anthropologie umwandeln zu können.68 Bemerkenswert ist jedoch an Sievers’ Tagebucheintrag, dass er festhielt, dass Himmler das Projekt der Rassenkarte grundsätzlich für sinnvoll hielt. Anstelle der aufgrund der Kriegslage nicht durchführbaren Arbeit in Deutschland beauftragte Sievers zunächst, Rassenforschung im Kaukasus zu betreiben. Damit war die Abteilung „Mensch“ in der späteren Expedition des Sonderkommandos „K“ ins Leben gerufen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Beger sich sowohl bezüglich des Vorhabens der Rassenkarte als auch des Projektes „Rassen im Kampf“ über das RuSHA unmittelbar an Himmler wandte und dieser dann entweder die Umsetzung dem Ahnenerbe zuwies oder diese zurückstellte. Insoweit ist es schlüssig, wenn unabhängig voneinander sowohl Sievers als auch Schmitz-Kahlmann aussagten, dass auch die Denkschrift zur Schädelsammlung bereits vor 1941 von Beger über das RuSHA an Himmler geleitet und sie dann 1942 abermals vorgelegt wurde. Am 9.4.1942 teilte Hirt Sievers brieflich mit, dass er bald wieder arbeiten und dann einen Geheimbericht für Himmler über die Lost-Forschung anfertigen würde. Auch sei er bereit, im Entomologischen Institut mitzuarbeiten.69 Hirt erklärte also explizit, dass er sowohl seine eigenen Projekte mit der SS fortführen wolle, als auch seine Bereitschaft, aus Gefälligkeit fachfremde Kooperationsprojekte wie die Entomologie im Ahnenerbe zu unterstützen. Von Schädeln erwähnte Hirt abermals nichts, so dass die berechtigte Vermutung im Raum steht, dass er immer noch nichts von dem Vorhaben wusste. 66  Ebd.

67  NARA

T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 8.4.1942. Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S.  33 ff. 69  BArch NS 21 / 904, Schreiben von Hirt an Sievers vom 9.4.1942. 68  HStA

300

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

Der Sommer 1942 verlief in Straßburg ohne Ereignisse bezüglich der Schädelsammlung. Die Anatomie der Reichsuniversität Straßburg war baulich immer noch nicht in einem fertigen Zustand. Die von der Universität Mitte 1941 bestellten neuen Leichenkühlanlagen der Firma Brown Boveri fehlten ebenso wie die Leichenaufzüge von der Firma Otis, die vom Keller in den Präparationssaal führen sollten; ebenso die Mazerationseinrichtung und der Entfettungsofen. Doch Sievers hatte hier Abhilfe versprochen. Am 28.8.1942 traf Sievers in Straßburg ein. Nach verschiedenen Besprechungen zu den Einzelvorhaben und dem Haushaltsplan für die zukünftige Abteilung H des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung wurde am 29.8.1942 von 14 bis 17 Uhr die Besprechung in der Privatwohnung Hirts in der Karl-Bernhard-Straße 7 fortgesetzt. In dieser privaten Umgebung forderte nun Sievers die Gegenleistungen für die in Aussicht gestellten großzügigen Unterstützungen von Hirts Forschungen durch das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung: Er berichtete von den Unterkühlungsversuchen Raschers und forderte Hirt zur Mitarbeit auf:70 „1. Beteiligung von SS-H’Stuf. Prof. Dr. Hirt bei Unterkühlungsversuchen“.71

Dann folgt laut Sievers’ Diensttagebuch die erste belegte Information Hirts über das Vorhaben einer Sammlung: „2. Aufstellung einer Sammlung von Schädeln und Skeletten Fremdrassiger“.72

Es ist bemerkenswert, dass die erwartete Beteiligung Hirts bei den Unterkühlungsversuchen ausdrücklich mit diesem Wort bezeichnet ist, bei der Sammlung dagegen nicht – insbesondere deshalb, weil die Gesamtschau auf die Diensttagebücher Sievers’ zeigt, dass dieser derartige Details sehr präzise zu formulieren wusste. Ebenso bemerkenswert ist, dass in der Kommunikation zwischen Sievers und Hirt fortan in der Regel von „Fremdrassigen“ gesprochen wurde. In der Kommunikation mit Beger und allen anderen Beteiligten wurde bei der Benennung zwischen „Fremdrassigen“, „Fremdrassigen und Juden“, „Juden“ und „jüdisch-bolschewistischen Kommissaren“ nach Belieben gewechselt. Der Eintrag in Sievers’ Diensttagebuch gibt zugleich einen Hinweis auf die auch im Beger-Prozess offen bleibende Frage, ob nun das Projekt einer Schädelsammlung auf das einer Skelettsammlung erweitert werden solle. Offenbar wurden aber beide Begriffe von Sievers synonym verwendet. Hirts Sekretärin Lieselotte Seepe gebrauchte in ihrer Nachkriegsaussage den Terminus „Schädel- oder Skelettsammlung“.73 70  NARA 71  Ebd. 72  Ebd.

T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 29.8.1942.

73  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Seepe vom 10.1.1963, S. 326.



II. Die Umsetzung des Plans beginnt301

II. Die Umsetzung des Plans beginnt Eine Woche nach seiner Rückkehr aus Straßburg schrieb Sievers am 8.9.1942 an Hirt: „Lieber Kamerad Hirt! Ich habe mit Kamerad Beger in München kurz die Frage der Zusammenstellung einer anthropologischen Sammlung Fremdrassiger besprochen. In diesen Tagen werde ich die Durchführung der Erfassung mit SS-Brigadeführer Glücks bereden. Kamerad Beger wollte es Ihnen gleich schreiben. Sollte er es doch wieder vergessen, so teile ich Ihnen seine Anschrift mit: SS-Hauptsturmführer Dr. Bruno Beger Forschungsstätte für Innerasien und Expeditionen München 22 Widenmayrstr. 35. Mit kameradschaftlichem Gruß“74

Dieses Schreiben zeigt deutlich: Wenn Beger, wie von Sievers in Nürnberg behauptet, ein alter Bekannter Hirts gewesen wäre, hätte Sievers den Kontakt kaum auf diese Weise hergestellt.75 Eine vage Möglichkeit für eine frühere, flüchtige Bekanntschaft zwischen Hirt und Beger könnte im Jahre 1934 liegen. Dabei wäre es möglich, dass sich der Sportstudent Beger und der Anatomieprofessor Hirt durch den Besuch der gleichen – bereits erwähnten – SS-Sportveranstaltungen in Heidelberg flüchtig kannten und auf dieser Ebene das „Du“ üblich war.76 Hirt war nacheinander als Hochschullehrer in Heidelberg, Frankfurt und Greifswald tätig gewesen, Beger studierte in Jena, Heidelberg und Berlin. In den zwei Semestern, die Beger in Heidelberg war und Naturwissenschaften studierte, war Hirt Professor an der Medizinischen Fakultät. Die Medizinische Fakultät lag bereits seit 1915 auf dem Neuenheimer Feld, wohin die Naturwissenschaftliche Fakultät erst nach dem Krieg verlegt wurde. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der 22-jährige Student Beger mit dem 35-jährigen Professor Hirt beim Sport eine so enge Bekanntschaft schloss, dass sie auch rund zehn Jahre später noch beim vertrauten „Du“ waren, was im Beger-Prozess thematisiert wurde. Allerdings gibt es keine konkreten Hinweise oder Belege bezüglich dieser Behauptung. Allenfalls zwischen dem vom Gericht vermuteten Eintritt Begers in die SS am 17.2.1934 und dessen Arbeitsaufnahme bei der SS in Stuttgart am 74  BArch

NS 21 / 904, Schreiben von Sievers an Hirt vom 8.9.1942. u. a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Zeugenaussage Sievers vom 10.4.1947, S. 05786. 76  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Beger vom 11.10.1961, S.  111 ff. 75  Ebbinghaus / Dörner / Linne

302

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

24.4.1934 mochten sich Beger und Hirt bei SS-Sportveranstaltungen in ­Heidelberg kennengelernt haben, falls der schwer kriegsverletzte Hirt dazu fähig war. Es mag aus heutiger Sicht bemerkenswert erscheinen, dass zwei Wissenschaftler, die sich nie zuvor persönlich kennengelernt haben, so rasch duzten. Jedoch muss hier ergänzend der Korpsgeist der SS betrachtet werden: Es war nach Auskunft von Zeitzeugen üblich, dass sich Angehörige eines Dienstgrades auch als Fremde duzten und dennoch mit Nachnamen ansprachen, jedoch war in der Regel das „Du“ ein Metonym, das in Verbindung mit „Kamerad“ gebraucht wurde. Hierbei ist ausdrücklich nicht das freundschaftliche „Du“ gemeint, in Verbindung mit der Anrede beim Vornamen, sondern das kameradschaftliche „Du“ mit Anrede beim Nachnamen.77 Die Anrede mit Vornamen war nur unter Freunden üblich, nicht jedoch bei allen gleichrangigen Kameraden.78 Bei Betrachtung der Umgangsformen in der SS scheint es jedoch nicht ungewöhnlich, wenn zwei Hauptsturmführer einer SS-Dienststelle sich kameradschaftlich duzten. Dabei ist es nachvollziehbar, dass der an Lebensjahren Ältere, Ranggleiche dieses Duzen beim ersten Kontakt einführt, wie Hirt es in seinem unten wiedergegebenen Schreiben vom 5.9.1942 tat. Daraus lässt sich keinesfalls eine jahrelange Verbindung oder gar enge Freundschaft ableiten. Erst seit den diesbezüglichen Behauptungen durch Sievers in Nürnberg, die über die Dokumentation von Mitscherlich und Mielke den Weg in die Anklage gegen Beger 1965 fand, gilt dieser Umstand belegt: „Dr. Beger, seit Jahren mit Professor Hirt bekannt und auf ‚Du‘ “.79 Die von Sievers konstruierte langjährige Freundschaft war ein Versuch, auch hier seine eigene Person außerhalb von Abläufen zu stellen, um damit zu belegen, dass sich alle Beteiligten – Himmler, Hirt und Beger – schon vorher kannten und allein Sievers als Adminis­trator ein Außenstehender war. Dass ein Student einen habilitierten Professor duzt und beim Vornamen ruft, wäre selbst heute ungewöhnlich – in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts wäre dies jedoch nahezu undenkbar gewesen. Auch der das Verbrechen der Schädelsammlung koordinierende Wolf-Dietrich Wolff gab nach dem Kriege an, dass Beger und Hirt sich erst im Zuge 77  Im konkreten Fall würde das bedeuten, dass der ältere Hauptsturmführer Hirt fragen mochte: „Kamerad Beger, reichst Du mir den Tee?“, der jüngere Hauptsturmführer Beger jedoch keinesfalls antwortete: „Gern, lieber August“, sondern „Gern, Kamerad Hirt, möchtest Du auch Zucker?“. 78  Vgl. verschiedene Schreiben zwischen den gleichrangigen Sievers und Brandt, die auch mit „lieber Kamerad“ und Nachnamen beginnen sowie Briefe Wolffs an Brandt, die mit „Standartenführer!“ begannen. Vgl. auch die heutige akademische Praxis, dass der Höherrangige vom Niederrangigen mit akademischem Grad und „sehr geehrte / r“ angesprochen wird und es dem Höherrangingen zusteht, umgekehrt umgekehrt mit „Lieber Herr / Frau“ oder „Sehr geehrte / r“ zu antworten. 79  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 33.



II. Die Umsetzung des Plans beginnt303

der Schädelsammlung kennenlernten.80 Es gibt in den Nachlässen von unzähligen Angehörigen von Militär und SS umfängliche Beispiele für die Praxis, jemanden, der mit „Kamerad“ angesprochen wurde, mit Nachnamen und „Du“ zu benennen. Stellvertretend sei hier die umfangreich überlieferte Korrespondenz des Stabsarztes Otto Bickenbach genannt, dessen Zusammenarbeit mit August Hirt und dem Ahnenerbe bereits beschrieben wurde: Freunde und Familienangehörigen schrieben Bickenbach mit „Lieber Otto“ oder „Lieber Bicki“ und „Du“ an. Bei Militärangehörigen niedrigeren Ranges wurde Bickenbach mit „Sehr geehrter Herr Dr. Bickenbach“ oder „Sehr geehrter Herr Professor“ und „Sie“ angesprochen. Eines jener Beispiele, das am nächsten an die Konstellation von Hirt und Beger heranreicht und zudem im akademischen Milieu der Universität Straßburg verankert ist, ist die Korrespondenz zwischen dem Mediziner Professor Dr. med. Otto Bickenbach und dem bereits erwähnten Kurator – also Verwaltungs-Chef – der Universität Straßburg, Dr. iur. Richard Scherberger: Dieser schrieb „Lieber Kamerad Bickenbach“ und „Du“.81 Am 5.9.1942 lud Hirt mit der in der SS üblichen Anrede unter Gleichrangigen den „lieben Kameraden Beger“ nach Straßburg ein:82 „Lieber Kamerad Beger! Ich erwarte dich hier in Strassburg Tag ist mir gleichgültig, ich bin auf jeden Fall hier. Gib mir am besten telegraphisch Nachricht wann du kommst. Herzl. Gruss dein A. Hirt“.83

Beger befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf einer Dienstreise, die üblicherweise vor der Abfahrt beim Ahnenerbe zu beantragen war. Die Reise führte Beger vom 3. bis 9.9.1942 von München über Berlin, Frankfurt, Aschaffenburg, erneut Frankfurt und Straßburg wieder nach München. Offenbar hatte Beger die Reise bereits geplant, bevor Hirt ihn einlud, da Straßburg zunächst nicht auf der beim Ahnenerbe angemeldeten Reiseroute stand. Ein handschriftlicher Brief Hirts an Sievers vom 9.9.1942 berichtet jedoch, dass das Treffen stattfand.84 Aus den unten geschilderten Zusammenhängen 80  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Wolff vom 7.11.1962, S. 214. 81  BArch R 26 III / 690, Schreiben von Scherberger an Bickenbach vom 4.6.1943. 82  BArch R 135 / 49, Schreiben von Hirt an Beger vom 5.9.1942; vgl. Kater, Ahnenerbe, S. 249. 83  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift S. 30. 84  BArch NS 21 / 904, Schreiben von Hirt an Sievers vom 9.9.1942.

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D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

ergibt sich, dass Hirt offenbar bei diesem Besuch in Kenntnis gesetzt wurde, wie viele Skelette gefertigt und wo die Opfer ausgewählt werden sollten. In diesem Brief informierte Hirt Sievers, dass Beger mit ihm „die anderen Pläne besprochen“ habe. Er teilte weiter mit, diese gingen „in Ordnung“.85 Der Tenor des Briefes zeigt, dass Hirt Beger und Sievers mit „den anderen Plänen“, die für Hirt „in Ordnung“ gingen, einen Gefallen erwies und nicht diese ihm. Am 22.9.1942 wird das Thema erstmals in Sievers’ Diensttagebuch im Zusammenhang mit Wüst erwähnt. Üblicherweise notierte Sievers hier sämtliche Besprechungspunkte mit dem Ahnenerbe-Amtschef. In Bezug auf die Schädelsammlung geschah dies bei der Besprechung zwischen 13 und 16 Uhr erstmals. Der Tagesordnungspunkt 4 lautete: „Aufbau einer Sammlung von Skeletten von Juden und Fremdrassigen“.86 Bemerkenswert ist, dass keinerlei Bezug auf die Reichsuniversität Straßburg genommen wurde – während Nicht-Ahnenerbe-Einrichtungen in diesen Besprechungen immer explizit erwähnt und voll ausgeschrieben wurden. Ebenso dürfte den Rektor der Universität München, Wüst, ein solches Projekt einer anderen Hochschule interessiert haben, was dafür spricht, dass diese Sammlung von Sievers nicht als Projekt der Universität Straßburg, sondern des Ahnenerbes vorgestellt wurde. Bemerkenswert ist auch, dass mittlerweile die dritte Formulierung bezüglich der Opfergruppe verwendet wurde: nach „jüdisch-bolschewistischen Kommissaren“ und „Fremdrassigen“ nun „Juden und Fremdrassige“. Gerade diese Unterscheidung deutet darauf hin, dass zuvor mit „Fremdrassige“ nicht spezifisch Juden, sondern tatsächlich metonym Innerasiaten gemeint gewesen sein dürften. Am 3.10.1942 legte Beger einen Aktenvermerk für Sievers an: „Obersturmbannführer! Ich habe nun von zwei Seiten gehört, dass im Gefangenenlager Auschwitz Typhus herrsche. Das vor der befohlenen rassenkundlichen Untersuchung und Auslese herauszubekommen ist natürlich sehr wichtig, da sonst die Gefahr besteht, dass Typhus ins Reich geschleppt wird. Besonders Prof. Hirth (!) machte mich darauf aufmerksam.“87

Nach dem Gespräch mit Beger in Straßburg schien Hirt offenkundig überrascht, wie rasch die Angelegenheit erledigt werden sollte. Zur Umsetzung war er jedoch aufgrund der von der Universität bestellten, aber immer noch nicht gelieferten Mazerationseinrichtung noch nicht in der Lage. Er schrieb am 5.10.1942 an Sievers neben der Beantwortung zweier technischer Anfragen – zu einem Doppelrohr-Stativ der Firma Linhof und zum Hochbauamt Nord im Zusammenhang mit seinem baulich immer noch nicht abschließend eingerichteten Institut – in Punkt 3: 85  HStA

Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34176 Prozessakte Beger, S. 52. T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 22.9.1942. 87  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 64. 86  NARA



II. Die Umsetzung des Plans beginnt305 „3. Für den Auftrag Beger benötigen wir hier nach Eingang des Materials unsere Mazerationseinrichtung […] zur Herstellung der Skelette. Dieselbe ist von mir durch das Kuratorium am 6. Sept. 1941 – Nr. 789 – bestellt worden bei der Firma Altmann & Bergmann, Berlin NW 7, Luisenstraße 46. Trotz verschiedener Reklamationen habe ich von der Firma keine Antwort bekommen. Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie vielleicht von dort aus bei Bergmann & Altmann nach­ stossen wollten.“88

Das Schreiben ist eines der Schlüsseldokumente zur Beurteilung der Abläufe: Hirt qualifizierte die Aktion Schädelsammlung als „Auftrag Beger“. Der Auftrag bestand demnach in der Herstellung von Skeletten durch Mazeration. Es ist offensichtlich, dass Hirt wegen des fehlenden Ofens nicht ein eigenes Vorhaben gefährdet sah, sondern eine Dienstleistung der Anatomie für Beger. Denn er beklagte nicht – wie in anderen Fällen,89 beispielsweise bei dem qualitativ schlechten Lost90 – die Gefährdung eines eigenen Forschungserfolges, sondern stellte eher beiläufig die Folgen für den „Auftrag Beger“ in den Raum, falls die technische Ausstattung zur Umsetzung nicht zu beschaffen sei. Doch Beger wusste offenbar ausweislich des oben genannten Aktenvermerks vom 3.10.1942 nichts von dem fehlenden Ofen. Am 8.10.1942 antwortete der Persönliche Referent des auf einer Dienstreise befindlichen Sievers, Wolf-Dietrich Wolff, Hirt in einem Brief, dass Sievers bereits in den nächsten Tagen mit dem zuständigen Mitarbeiter im Reichs­ sicherheitshauptamt eine Besprechung habe und Hirt antworten möge, ob er mit den beiliegend genannten Bedingungen einverstanden sei. Offenbar ging es bei diesen Bedingungen um die Bereitstellung der Leichen Verstorbener aus Natzweiler, denn Hirt nahm in seinem oben genannten Schreiben vom 12.10.1942 bezüglich der Leichenlieferungen ausdrücklich auf dieses Schreiben Wolffs vom 8.10.1942 Bezug. Zudem verwendete Wolff das Diktatzeichen „G / H / 6 / Wo / 1“, was ausgeschrieben „Geheimkorrespondenz / Hirt / Band 6 /  Sachbearbeiter Wolff / Im Auftrag von Sievers“ bedeutet. Bei eigenständig verfassten Schreiben hieß es stets „Wo / 2“, während bei Schreiben, die Sievers als Sachbearbeiter diktierte, das Diktatzeichen „S1“ lautete. Bei Schreiben, die Wolff im Auftrage Sievers diktierte und von diesem anschließend persönlich unterschreiben ließ, lautete das Diktatzeichen dagegen „S2“.91 In dem Schreiben vom 8.10.1942 kam Wolff nach der Frage, ob Hirt mit den

88  Ebd.,

S. 65. Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S.  44 f. 90  BArch NS 21 / 905, Vermerk von Saßenroth vom 7.12.1942 über Anruf von Hirt am 4.12.1942. 91  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Wolff vom 14.12.1960, S. 75; vgl. ebd., Aussage Heydel vom 6.2.1961, S. 82 ff. 89  HStA

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D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

Bedingungen der Leichenüberlassung einverstanden sei, auf einen wichtigen Punkt zu sprechen: „Nicht berührt von diesen Bedingungen sind ja die Objekte, aus denen die bekannte Sammlung zusammengestellt werden soll.“92

Daraus folgt, dass die Schädelsammlung ganz bewusst nicht aus Menschen zusammengesellt werden sollte, die in Natzweiler verstarben, sondern aus speziell ausgewählten Opfern, die in Natzweiler nicht vorhanden waren. Daher ist auch die in der jüngeren Forschung zu findende Interpretation nicht zutreffend, dass Beger nun nach Auschwitz kommen „und sich dort frei und kostenlos bedienen“ konnte.93 Dabei handelt es sich um eine sachlich unzusammenhängende Vermischung der Häftlingskosten bei den Lostversuchen in Natzweiler und der Auswahl der Häftlinge in Auschwitz. Am 17.10.1942 schrieb Sievers selbst an Hirt und teilte mit, dass der Auftrag für den Ofen seit dem 6.9.1941 unbearbeitet bei Bergmann & Altmann liege, da die Bedarfsdeckungsscheine, also die Bezugsscheine für Metall, nicht ausreichend gewesen seien. Nun wolle man versuchen, diese über das Ahnenerbe zu beschaffen. Zugleich wies er darauf hin, dass ein ähnlicher Mazerationsofen im März 1943 an Professor Dr. Friedrich Klinge an der Medizinischen Fakultät der Universität Straßburg geliefert werde, so dass Hirt diesen dort eventuell ausleihen könne.94 Klinge war der Direktor des Pathologischen Instituts der Reichsuniversität Straßburg. Beide Institute teilten sich ein Gebäude, das auf drei Etagen plus Mezzaningeschoss jeweils hälftig geteilt war.95 Die Grundrisse beider Seiten waren einander sehr ähnlich. Bei dem Gebäude handelte sich um ein Fünfeck, dessen Hauptgebäude parallel zur Mittelallee des Bürgerspitals verlief. In diesem Hauptgebäude befand sich auch das Hauptportal für beide Einrichtungen. Die Altmann und Bergmann KG teilte dem „Amt für Staatsahnenerbe“ (!) am 2.11.1942 mit, dass Versuche mit Metall-Ersatzstoffen vorgenommen wurden, diese aber bei starker Beanspruchung sehr leicht brechen würden. Daher sei für die Fertigung der Mazerationseinrichtung die Freigabe von Metallkontingenten zwingend erforderlich. In seinem Schreiben diskutierte das Unternehmen auch über Ersatzstoffe sowohl für die Mazerationseinrichtung als auch für den Entfettungsofen. Beide Geräte zusammen waren unter dem Begriff Knochenpräparieranlage zusammengefasst worden.96 Da92  HStA

Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159, S. 66. Nummern, S. 153. 94  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159, S. 70. 95  BArch R 2 / 29536, Bauunterlagen der Reichsuniversität Straßburg einschließlich Grundrissen in den Unterlagen des Reichsfinanzministeriums. 96  BArch NS 21 / 905, Schreiben von Altmann und Bergmann KG an „Amt für Staatsahnenerbe“ vom 2.11.1942. 93  Lang,



II. Die Umsetzung des Plans beginnt307

Abb. 32: Eingang zur Wirkungsstätte Hirts: Über der linken Tür mit Bezug auf die linke Gebäudehälfte ist der Schriftzug der Anatomie und rechts mit Bezug auf die rechte Gebäudehälfte der Schriftzug der Pathologie zu erkennen. (Foto: Aufnahme des Verfassers).

her schrieb Sievers zwei Tage später an das Rohstoffamt im Persönlichen Stab und legte dar, warum die ursprünglich bewilligten und dann mit dem Hinweis auf die Möglichkeit, Ersatzstoffe zu verwenden, wieder zurück­ gezogene Menge von 14,5 Kilogramm Chromstahl zwingend benötigt würden.97 Bemerkenswert ist die Tatsache, dass das Ahnenerbe offenbar davon ausging, dass die im Oktober oder November zu ermordenden Opfer für die Sammlung bis zum März des Folgejahres konserviert und erst dann mazeriert werden könnten. In einem weiteren Schreiben an den Herstellerbetrieb des Gerätes vom 4.11.1942 wies das Ahnenerbe darauf hin, dass auch das Anatomische Institut eine „Knochenpräparieranlage“ bestellt habe. „Da das pathologische Institut die im März zu liefernde Anlage ebenso dringend benötigt wie das anatomische Institut, ist eine gleichzeitige Verwendung in beiden Instituten nicht möglich.“98 97  BArch

R 26 III / 29, Schreiben von Sievers an Pietschmann vom 4.11.1942. Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159, Schreiben von Wolff an Bergmann und Altmann KG vom 4.11.1942. 98  HStA

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D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

Abb. 33: Das gemeinsame Gebäude von Anatomie und Pathologie in Straßburg. In der Mitte befindet sich das Eingangsportal, links der Anatomieflügel. Auf dem rechts und links aus der Fassade vorspringenden „Turm“-Erdgeschoss ist jeweils ein Mezzaninegeschoss aufgesetzt. In jenem des linken Turms befand sich die Anatomische Sammlung von Gutstav Schwalbe. Die Ungeeignetheit der Nutzung dieses niedrigen Geschosses für ein öffentliches Museum ist augenscheinlich. (Foto: Aufnahme des Verfassers).

Wie unten dargelegt wird, lässt es sich bis heute nicht belegen, ob nun eine Mazerationseinrichtung an die Anatomie geliefert wurde oder nicht. Allerdings wäre es in kleinem Ausmaß – wozu keinesfalls 150 Ganzkörperskelette oder 150 Schädel zählen – möglich gewesen, die Mazerationseinrichtung der Pathologie zu nutzen. Hirt schrieb am 20.10.1942 an Sievers: „Ich werde mich also mit Prof. Klinge in Verbindung setzen und hoffe auch, dass wir gelegentlich mal sein Gerät benutzen können, obwohl die Pathologie in der selben Lage ist wie wir, dass sie eine völlig neue Skelettdemonstration zusammenstellen muss. Das wird natürlich einige Schwierigkeiten ergeben.“99

Anfang Oktober 1942 wurde das Sonderkommando „K“ aufgestellt. Beger hatte seinem Expeditionskameraden Rübel berichtet, dass es die Möglichkeit anthropologischer Reihenuntersuchungen an Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion gebe, die aus Innerasien stammten.100 Beger war offensichtlich auf eine baldige Abreise nach Auschwitz vorbereitet, aber nicht darauf, dort Ju99  BArch

NS 21 / 903, Schreiben von Hirt an Sievers vom 20.10.1942. Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Rübel vom 25.7.1960, S. 46. 100  HStA



II. Die Umsetzung des Plans beginnt309

den zu vermessen.101 Rübel „wußte seit langem, dass Dr. Beger an asiatischen Typen anthropologisch interessiert war“.102 Nun musste Sievers die Zugangsgenehmigungen zum Konzentrationslager Auschwitz ebenso organisieren wie die Freigabe der 150 Opfer zum Zwecke der Ermordung. Doch es traten Verzögerungen auf. Am 28.10.1942 teilte Sievers Hirt brieflich mit, dass er Beger bereits am 24.10.1942 in München informiert habe, dass aufgrund einer Fleckfieberepidemie in Auschwitz keine Untersuchungen hätten stattfinden können und Sievers gebeten wurde, das Unterfangen bis Mitte November 1942 zurückzustellen.103 Dies sei, so teilte Sievers mit, möglich, da Beger auch dann noch die „Untersuchungen und die erforderliche Auslese“ durchführen könne.104 Die Verzögerung durch die Epidemie trat offenbar kurzfristig ein. Nach einem Schreiben Eichmanns an Sievers vom 29.9.1942 mit dem Aktenzeichen IV B 4 3576 / 42 g 1488 zum Vorhaben der Skelettsammlung105 sprach Sievers am 10.10.1942 bei Eichmann in dessen Dienststelle in der Kurfürstenstraße 116 in Berlin persönlich „wegen Aufstellung einer Skelettsammlung Fremdrassiger“ vor.106 Es ist unklar, weshalb sich Sievers an Eichmann und das RSHA gewandt haben sollte, außer auf den vorerwähnten, sachlich wenig nachvollziehbaren Befehls Himmlers hin. Während das WVHA für die KZ zuständig war, verantwortete Eichmann die Deportationen und Transporte. Sievers informierte Beger am 24.10.1942 über die „Rückstellung der Arbeiten in Auschwitz bis Ende November.107 Dabei mögen sowohl die Fleckfieberepidemie als auch die Geschwindigkeit der SS-Bürokratie eine Rolle gespielt haben. Nach dem Kriege lebte Eichmann in Buenos Aires unter dem Pseudonym Ricardo Clement. Er gab von 1956 bis 1960 dem ehemaligen SS-Kriegsberichterstatter Willem Sassen lange Interviews. Diese wurden auf insgesamt 73 Tonbändern aufgezeichnet und später abgetippt.108 Dabei ist aufgrund der schlechten akustischen Qualität der Aufzeichnungen der Text oft lückenhaft und unvollständig. Sassen lagen offensichtlich die in den sechziger Jahren bekannten Quellen aus dem Ärzteprozess vor, da er diese Eichmann gegenüber zitierte. Eichmann hingegen schien ebenfalls das durch das mediale Aufsehen bekannte Projekt „Skelettsammlung“ gekannt zu haben. Wie bei allen anderen Stellen im Sassen-Interview, die die Möglichkeit einer persönlichen Verantwortung an101  Ebd.

102  Ebd.,

Aussage Rübel vom 4.1.1963, S. 311. T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers vom 24.10.1942. 104  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159, S. 72. 105  Ebbinghaus / Dörner / Linne u. a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Anklagedokumentenband 9, S. 1256 (Dok. NO-087). 106  NARA T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 10.10.1942. 107  Ebd., Eintrag vom 24.10.1942. 108  Vgl. Stangneth, Eichmann vor Jerusalem. 103  NARA

310

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

stelle des von Eichmann reklamierten Befehlsnotstandes eröffneten, stritt Eichmann die Kenntnis und Involvierung in dieses Verbrechen ab. In den Fragen und Antworten Sassens und Eichmanns ist dies deutlich zu erkennen. Da bekanntermaßen die Transkripte der Tonbänder jeweils kurz nach den Aufnahmen gefertigt wurden – um die Bänder erneut bespielen zu können – und der Verfasser der Transkripte weder mit den Sachverhalten vertraut war noch die Bänder exakt transkribierte, gibt es zwischen dem gesprochenen Wort Eichmanns und den Transkripten oft erhebliche Differenzen.109 Aus diesem Grunde wurden nun die Transkripte gesichtet und zudem die erhaltenen Tonaufnahmen abgehört und exakt transkribiert. Dabei wurden die Worte Sassens zur besseren Unterscheidung hier kursiv gesetzt: „… um mitzuhelfen beim Aufbau einer Sammlung von Skeletten. Erinnern Sie sich daran? Wann war das? Juni 1942 Ja, ja. Folgendes: Aufbau Sammlung von Skeletten natürlich nicht, daran entsinne ich mich nicht. Es kam zu mir in irgend einem Jahr ein Professor natürlich ein Mediziner, ja, der Universität Straßburg … Prof. Dr. Hirt … oder kam der nicht sondern es kam ein Mediziner, auch ein Professor, vom könnte das sein Anthropologischen Institut oder Ahnenerbe oder irgendetwas und hat mir gesagt und hat mir gesagt, er brauche für die Universität Straßburg etwas auf das ich gleich zu sprechen komme. Ich will das nur mal, der stellt, also der war bei mir, es war also nicht der Professor, wenn Sie mir sagen der hieß Hirt, dann war der nicht bei mir gewesen oder ist zumindest als Zweitperson zumindest in Erscheinung gewesen, die ich weiter nicht beachtete. Beachtet habe ich den Sprecher, das war ein Mann gewesen … … ein SS-Hauptsturmführer Dr. Bruno Beger … … der war doch Sturmbannführer, der bei mir der zu mir kam, ein Obersturmbannführer, ein Obersturmbannführer war das gewesen, das war ein Obersturmbannführer gewesen, der muss ob der nicht vom Ahnenerbe kam oder vom ja, vom Ahnenerbe, vom Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung Ja, sehen Sie, jetzt dämmert’s mir schon etwas mehr, wie kann der geheißen haben der Obersturmbannführer? Also hier werden nur erwähnt der Hauptsturmführer Dr. Bruno Beger … … ich glaube der wars nicht … … dann der Professor August Hirt, Ordinarius für Anatomie an der Universität Straßburg. 109  BArch

AllProz 6 / 110 Transkript Tonbandaufzeichnung, S. 36–38.



II. Die Umsetzung des Plans beginnt311 Nein. Jetzt war folgendes gewesen. Jetzt muss ich sagen, wie was mir da erzählt wurde. Das war neu für mich. Völliges Neuland und deswegen weiß ich es auch heut’ noch. Und zwar ein ungeheuerlich interessantes Neuland. Da sagte mir der Onkel doch, der Reichsführer habe angeordnet, dass der Universität Straßburg zu Forschungszwecken, 10 oder 12 das weiß [ich] jetzt nicht genau Totenschädel zu überantworten seien und er wird dann, der Ahnenerbe-Onkel oder wie er heißt, man möchte den Namen noch feststellen, er wär nun zu mir gekommen, weil er sich gesagt hat, er möchte Judenschädeln haben und zwar hätte er eine bestimmte Vorstellung und hat mir hier eine spezialisierte Aufstellung gemacht, in welchen Altersgruppen und welchen Berufszugehörigkeiten ich weiß es nicht mehr genau. Und da habe ich ihm gesagt, im Grunde ja ich habe ja gar keine Totenschädeln hier, die können Sie von mir nicht haben, denn ich sammele doch keine Totenschädeln, da müssen Sie sich an das V und W Hauptamt wenden und vielleicht können Sie sich aus dem Konzentrationslager irgendwelche Totenschädeln heraus, und wenn es der Reichsführer befohlen hat, werden Sie sie auch kriegen. Und bei dieser Gelegenheit, und deswegen jetzt erzähle ich weiter, warum ich mich noch erinnern kann, hat er mir gesagt, ja das seien so ungeheuer wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse die hier zu sammeln wären auf diesem Gebiete, zum Beispiel unter anderem hätte man Versuche gemacht, mit Häftlingen, die sich freiwillig gemeldet hätten, mit Unterkühlung. (Eichmann referiert die Ergebnisse der Versuche Sigmund Raschers mit Unterkühlung im Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung und die daraus hervorgegangenen Präventivmaßnahmen für im Ärmelkanal abstürzende Flugzeugbesatzungen und wie viele durch die Ergebnisse des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung gerettet werden können. Die Ausführungen belegen, dass Sievers Eichmann sehr detailliert informierte und ihn damit bezüglich der Arbeit des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung tief beeindruckte.) Und da habe ich ihm gesagt, ja jetzt werde ich Ihnen sagen, gehen Sie hin, zum Gruppenführer Glücks oder Brigadeführer Glücks, das ist der zuständige Onkel dafür, der ist der Inspekteur für das KL-Wesen, ich kann Ihnen da nichts geben. Wenn der Reichsführer Ihnen die die Genehmigung erteilt hat, sich 10 Totenschädeln zu holen, dann müssen Sie sich die von dort holen, wir als Reichssicherheitshauptamt verfügen über keine Totenschädel. Das ist die Sache, die mir dazu noch in Erinnerung ist. Ja, nun ist das Merkwürdige hier: ‚der mit der Ausführung obigen Sonderauftrages beauftragte Mitarbeiter der hiesigen Dienststelle, SS-Hauptsturmführer Dr. Bruno Beger, die Arbeiten am 15.6.1943 im KL Auschwitz wegen der bestehenden Seuchengefahr beendet hat. Insgesamt wurden 115 Personen, davon 79 Juden, 2 Polen, 4 Innerasiaten und 30 Jüdinnen bearbeitet. Diese Häftlinge sind z. Zt. getrennt nach Männern und Frauen in je einem Krankenbau des MKL Auschwitz untergebracht und befinden sich in Quarantäne. Zur weiteren Bearbeitung der ausgesuchten Personen ist nunmehr eine sofortige Überweisung an das KL Natzweiler erforderlich, was mit Rücksicht auf die Seuchengefahr in Auschwitz beschleunigt durchgeführt werden müsste. Ein namentliches Verzeichnis der ausgesuchten Personen ist beigefügt. Es wird gebeten, die entsprechenden Anweisungen zu erteilen.‘

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D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

An wen ist es gerichtet das Schreiben? An Sie. Zu Händen. Amt IV B4. Zu Händen Darf ich mal sehen dieses Schreiben? ,Da bei der Überweisung der Häftlinge nach Natzweiler die Gefahr der Seucheneinschleppung besteht, wird gebeten, umgehend zu veranlassen, dass seuchenfreie und saubere Häftlingskleidung für 80 Männer und 30 Frauen von Natzweiler nach Auschwitz gesandt wird. Sievers, SS-Standartenführer‘ War das der Name, den Sie meinten? Ja, ich glaube nicht, dass es der Sievers, ich weiß es nicht. S. 78: Zu Händen von Obersturmbannführer Eichmann, geheime Reichssache, Skelette, MKL Auschwitz, das ist möglich, dass es der Sievers gewesen ist, der sich bei mir (Wort unverständlich) wollte, aber hier war doch nur von Straßburg die Rede gewesen. Ahnenerbe, jaja. Sehen Sie, da will ich Ihnen folgendes sagen. Eine merkwürdige Sache. Sehen Sie, hier steht am Datum 21. Juni 42, Kurfürstenstraße 116. Unter Bezugnahme auf dortiges Schreiben vom 25. September 42. Das gibt’s gar nicht. Und hier wieder: Hat die Arbeit am 15. Juli 43 beendet und das auch unter dem Datum 21. Juni 42. Das ist verschrieben sicherlich, das muss heißen, 21. Juni 1943, aber das ist jedenfalls zu bemängeln natürlich. Mmh, Anweisung zu erteilen … Jetzt will ich Ihnen folgendes sagen dazu, jetzt will ich Ihnen folgendes sagen. Hier was ist das? Schädel? Ja das sind Schädel. Hier ist ein Schädel. Ah das ist etwas anderes, das ist ein Skelett. Ja wissen Sie was ich da gesagt haben werde? Unter Bezugnahme auf dortiges Schreiben – ich muss also schon einmal geschrieben haben in dieser Sache, ja, das heißt geantwortet haben auf ihre Anfrage, muss ich schon mal geantwortet haben. Ja, aber trotz dieser Antwort werden Sie darum gebeten, die Leute anzuweisen, werden Sie darum gebeten anzuweisen, dass die … … ja, da will ich ja drauf reagieren, da bin ich gar nicht zuständig gewesen ich werde dieses Schreiben wahrscheinlich so beantwortet haben, wenn ich es selbst beantwortet habe, oder das hat mein ständiger Vertreter gemacht nicht wahr und hat es dann dem zuständigen Sachbearbeiter gegeben oder auch er selber und wird diese Sache hier zuständigkeitshalber an das V und W Hauptamt abgetreten haben, denn dazu bin ich nicht verantwortlich gewesen. Ja, ich meine wie, wenn Sie schon seit einem Jahr mit den Leuten in mündlichem und Schriftverkehr stehen, dann ist es doch unlogisch anzunehmen, dass Sie in der Zeit keine Möglichkeit gefunden haben, denen klar zu machen, dass alles was be-



II. Die Umsetzung des Plans beginnt313 trifft Zurverfügungstellung von Skeletten, Überweisen von KZ-Häftlingen vom einen Lager ins andere, Bereitstellung von Unterbringungsraum, Raum in einem KZ Natzweiler und so weiter, dass das alles nicht in Ihrer Zuständigkeit ist. Sehen Sie mal, dem kann ich entgegenhalten, ich weiß nicht, was mein Schreiben, das Schreiben also meines Referates vom 25.  September 42, IV B 4,3576 / 72 G 1488, was dieses Schreiben beinhaltet hat, das weiß ich nicht. Die zwischenzeitlich in obiger Angelegenheit geführten persönlichen Besprechungen, das ist das was ich Ihnen sagte von den Schädeln was ich weiß, von Skeletten ist mir nichts bekannt. Das besagt nicht und kann es gar nicht besagen, dass ich irgendwie eine Anweisung zu erteilen hätte, dass diese Leute nach Natzweiler zu überstellen sind, weil ich dafür überhaupt gar nicht zuständig bin und deswegen sage ich Ihnen, werde ich dieses Schreiben hier wo jetzt nun die Anweisungen erbeten werden, (Wort unverständlich) erbeten wird, Sachen für die ich gar nicht zuständig bin, dem V und W Hauptamt weiter geleitet haben mit der Bitte um Kenntnisnahme und gegebenenfalls weitere Veranlassung. Ja, aber sagen Sie mir mal… Ja, da bin ich ja nicht zuständig, das kann, darf ich ja nicht machen. Nein nein, aber alles schön und gut aber Tatsache ist, dass diese (Wort unverständlich) nachdem sie schon über ein Jahr mit Ihnen in Verbindung stehen, doch immer wieder zurückkommen mit Zuständigkeiten, die Ihnen anscheinend doch gar nicht gar nicht oblagen. Und das wundert mich. Na sehen Sie mal, sehen Sie mal, dieser Mann Sievers hat sich mit mir, wenn es denn Sievers war, der hat sich mit mir ja auch über die über die, wie soll ich jetzt mal sagen, über den Sektor und deswegen sprach er ja sicherlich auch mit mir abgesehen davon, dass er zuerst an die falsche Stelle gekommen ist mit dem Reichsführerbefehl, ich sagte ich kann ihm keine Totenschädeln geben, unterhalten darüber über die Charakteristiken, sicherlich, der Leute, die er sich, die ihm vorschwebten, also jetzt charakteristischen Charakteristiken aus dem aus der jüdisch, wie soll ich mal sagen aus dem was ich wußte über jüdische, wie nennt man dieses einschlägige Fachwort hier für diese Onkel, die das bearbeiten, biologische, anthropologische, nicht wahr, also das sprachen wir. Ja gut, aber ich meine es bleibt immer noch die die Tatsache, dass sie nach einem Jahr noch ankommen und sagen wollen Sie bitte überweisen. Ja, das ist eine Fehlsache gewesen, da kennen sich die Leute vom Ahnenerbe in den Zuständigkeitsbereichen nicht aus. Wie … Wieso warum kommt er zuerst zu mir? Eben! Ich weiß doch, dass ich ihn weggeschickt habe, den Dummschädel, weil ich kann das doch keine Totenschädeln vermitteln. Genauso, dasselbe gilt für Skelette, dasselbe gilt für lebende Personen. Aber Sie verstehen natürlich, was daraus für ein Bild entsteht … (unverständlich)

314

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

Aber sehen Sie sehen Sie, das kommt, das entsteht daraus, dass die Leute sich vom Ahnenerbe sich natürlich in keinster Weise eine Vorstellung von den über die Zuständigkeit, die Zuständigkeitsbereiche machen konnte[n]. Nein, aber nachdem er mit Ihnen schon eine Verbindung hatte, von mehr als einem Jahr, angeknüpft, dürfte ihm inzwischen doch klar gewesen sein, dass Sie dafür eben nicht zuständig sind. Trotzdem kommt er wieder mit derselben Sache. Schauen Sie mal, die Leute sind Wissenschaftler gewesen, das sind Leute gewesen, die in Wolkenkuckucksheim lebten, aber nicht in der Gegenwart, nicht wahr. Diesen Leuten können Sie alles unterstellen und auch alles zutrauen, das sind ja keine Leute gewesen, die in der praktischen Tagesarbeit drin standen, sondern die in ihrem wissenschaftlichen Ding lebten und dachten, das waren ja keine Menschen gewesen, das waren die bestanden ja nur aus Geist. Bei denen können Sie ruhig unterstellen, dass die über den Zuständigkeitsbereich nicht klar waren und dass die auch nun einmal, nun haben sie einmal mit mir gesprochen, sicherlich hat der Sievers, der überall aneckte bei seiner komischen Sache, bei mir ein williges Ohr gefunden und ein – ich unterstelle immer dass es Sievers gewesen ist, der (Wort unverständlich) der Name ist mir bekannt – wird er sich gesagt haben, das ist ein Mensch, der ist aufgeschlossen, der interessiert sich, ich habe hier einen Mann gefunden in einem mir unbekannten Hauptamt, der sich für unsere schwere Arbeit und interessante Arbeit interessiert und der ein offenes Ohr hat, der aufgeschlossen ist, der dieser Sache nicht nicht nicht nicht skeptisch gegenübersteht, der, mit dem man sprechen kann, der muss damit wieder (Wort unverständlich). Vielleicht aus dem Gebiet heraus nicht wahr, jedenfalls wir waren weder zuständig für eine Verlagerung nach Natzweiler oder nach Theresienstadt, ah nach nach Dachau oder nach Auschwitz oder irgendwie, ging mich gar nichts an, hatte ich gar keine Befugnisse gehabt, gar keine Zuständigkeiten gehabt, es ging mich gar nichts an und hatte keine (Wort unverständlich) die Leute herauszunehmen, ich hatte (Wort unverständlich) diese Sachen zu geben. Denn sehen Sie, wenn Sie vom Reichsführer kommen und der Reichsführer hat das genehmigt, dann müssen die allein an die Stelle gehen, die alleine diese Sache durchführt und das ist das V und W Hauptamt, aber nicht das Reichssicherheitshauptamt. Dann wird hier noch eine Sache angesprochen von Schädeln angesprochen, also die Sicherstellung von Schädeln von jüdisch-bolschewistischen Kommissaren. Ach die geht mich nichts an. Zu wissenschaftlichen Forschungen in der Reichsuniversität Straßburg, andererseits das MKL, kann das nicht heißen Massen-Konzentrationslager oder Musterkonzentrationslager? Nein, beide Begriffe habe ich nie gehört. Weiß ich nicht. Wenn ich hier so sehe, dieses Dokument vom Professor Hirt vom Reichsführer, das ist gar nicht so wissenschaftlich in den Worten. […] Das sind harte Burschen gewesen unsere unsere Herren Wissenschaftler, ja? Das muss man sagen.“110 110  BArch

ALLPROZ6 / N1497 TON-10-C.



II. Die Umsetzung des Plans beginnt315

Es ist bezeichnend, dass Eichmann sich bezüglich seiner persönlichen Involvierung nicht genau erinnern wollte oder konnte und behauptete, er habe sich Sievers gegenüber – zutreffend – für unzuständig erklärt. Dabei ist bemerkenswert, dass Eichmann das Verbrechen an sich nicht bestritt oder relativierte, aber ausdrücklich betonte, dass nur von Schädeln, nicht aber von Skeletten die Rede gewesen sei. Aber auch weitere Elemente des Dialoges sind bemerkenswert. Dem Journalisten Sassen entgleitet hörbar verblüfft am Ende des transkribierten Textes der Eindruck, den er hatte, als er die Schädelsammlungs-Denkschrift überflog: Ihm schien der Text, dem ein Professor als Urheber zugeschrieben wurde, gar nicht entsprechend wissenschaftlich gehalten zu sein. Ebenfalls ist es aufschlussreich, wie Eichmann den durch den Zuständigkeitsparcours des NS-Behördenapparats irrenden Sievers schildert. Dies ist nicht zuletzt bemerkenswert, da Sievers in allen Quellen als ausgesprochen versierter Organisator erscheint, der präzise verschiedenste Dienststellen einzubinden, aber auch gegeneinander auszuspielen vermag. Einer der wichtigsten Sätze Eichmanns ist jedoch, dass es eine zweite Person bei Sievers gab, die nicht im Vordergrund stand. Üblicherweise nahm Sievers Wolff nicht mit zu Terminen, wohl aber bei wissenschaftlichen Projekten die betroffenen Fachwissenschaftler des Ahnenerbes, für die er sich einsetzte. Es muss offen bleiben, ob der Begleiter Sievers’ beim Gesprächstermin mit Eichmann Bruno Beger war. Eichmann hat nur definitiv ausgeschlossen, dass Hirt bei ihm war. Bettina Stangneth gilt als Expertin für Adolf Eichmann und hat einen großen Teil der „Argentinien-Papiere“ für die Forschung erschlossen111. Aufgrund ihrer Vertrautheit mit den Tonbändern der Sassen-Gespräche vermag sie anhand der Sprechweise und Klangfarbe der Stimme Eichmanns die hier zitierte Sitzung einzuschätzen und einzuordnen, wie Eichmann sich verhielt. Stangneth schrieb hierzu: „An diesem Tag ist Eichmann hörbar konzentriert und auch am Gespräch interessiert. Das ist nicht immer so. Er ist aufgeschlossen, auch für seine Verhältnisse halbwegs ehrlich. Seine so große Vorsicht, den Namen ‚Sievers‘ vorschnell zu verwenden, ist ernstzunehmen. Er hat offensichtlich echte Zweifel, ob der Mann, an der er sich erinnert, Sievers war. Seine Betonung, dass ihm der Name Sievers durchaus etwas sagt, aber eben nicht in dem Zusammenhang, spricht für Aufrichtigkeit, was bei Eichmann nicht oft vorkommt. Er versucht nicht einen Moment, sich von den Vorgängen zu distanzieren, sondern legt Wert auf die eigene Kundigkeit. Heruntergeredet wird nur die eigene Verantwortlichkeit und Zuständigkeit. Eichmanns Interesse an dieser Art anthropologischer ‚Forschung‘ und an Menschenversuchen ist echt. Ihm wurde zwar bei dem Anblick von Blut schlecht und er konnte schon Zeichnungen von Autopsien nicht anschauen, aber er war begeistert von der neuen nationalsozialistischen Wissenschaft und hielt sich für einen Teil davon. Eichmann war auch ein Befürworter der ‚Vernichtung unwerten Lebens‘, also der sogenannten 111  Stangneth,

Argentinien-Papiere.

316

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

‚Euthanasie‘ im Rahmen nationalsozialistischer Rassenhygiene und bewunderte die Menschenquälereien eines Josef Mengele als Arbeit am Fortschritt. Es ist auch tatsächlich wahrscheinlich, dass man sich an Eichmann wandte, wenn es um derart ungewöhnliche Wünsche ging. Er war schließlich der ‚anerkannte Spezialist‘ für das Judentum, seine Adresse war kein Geheimnis. Er war bekannt für seine Eitelkeit, denn er redete gern über ‚seine Arbeit‘ und es war leicht, ihn zu begeistern, wenn es um etwas Neues ging. Es ist deshalb auch glaubhaft, dass jemand, der Zugang zum ‚Vernichtungsapparat‘ suchte, es bei ihm versuchte und mit allerlei Detailgeschichten sein Interesse an solchen Fragen gezielt bediente. Eichmann war berühmt geworden, weil er bürokratische Hürden einfach niederwalzte, sich nicht um Regeln und Zuständigkeiten scherte und über weite Strecken improvisierte. Wer einen kurzen Dienstweg suchte, weil der lange nicht funktionierte, war bei Eichmann ohne Frage nicht falsch.“112

Es dauerte bis zum 18.7.1960, bis Eichmann seine Tatbeteiligung gegenüber seinem Vernehmer, dem israelischen Polizei-Hauptmann Avner Werner Less, gestand. Dieser notierte in seinem Tagebuch: „Im Grunde gesteht hier E. die furchtbare Mithilfe zur Skelettsammlung ein. Nur verschanzt er sich hinter dem alten, abgedroschenen und nicht zutreffenden Argument, jedem Befehl Folge leisten zu müssen, da er ja nun einmal einen Treue- und Gehorsamseid (!) auf den ‚Führer‘ abgelegt hat. Zwar schwor ein jeder SS-Mann Treue und Tapferkeit und gelobte Gehorsam ‚bis in den Tod‘, aber sogar diese schwülstige, an Verschwörung erinnernde Eidformel spricht nicht von Mittäterschaft am Meuchelmord und Massenabschlachten.“113

Die Behauptung, dass sich Eichmann zunächst für unzuständig erklärt ­ aben will, deckt sich mit den oben genannten zeitlichen Abläufen: Nach h Sievers’ Besuch bei Eichmann am 10.10.1942 und der Mitteilung vom 24.10.1942, dass sich die Angelegenheit bis November verzögern werde, schrieb Sievers am 2.11.1942 geheim an Brandt, um Eichmann befehlen zu lassen, an dem Verbrechen mitzuwirken: „Lieber Kamerad Brandt! Wie Sie wissen, hat der Reichsführer-SS seinerzeit angeordnet, dass SS-Hauptsturmführer Prof. Dr. Hirt für seine Forschungen alles bekommen soll, was er braucht. Für bestimmte anthropologische Untersuchungen – ich berichtete bereits dem Reichsführer-SS darüber – sind nun 150 Skelette von Häftlingen, bezw. Juden notwendig, die vom KL Auschwitz zur Verfügung gestellt werden sollen. Es ist dann nur noch erforderlich, dass das Reichssicherheitshauptamt eine offizielle Anweisung Reichsführer-SS erhält, die aber auch Sie im Auftrage des Reichsführers-SS erteilen können […] Anlage: Entwurf eines Schreibens an das Reichssicherheitshauptamt.“114 112  Korrespondenz und Gespräche des Autors mit Bettina Stangneth zwischen April 2013 und August 2014. 113  Stangneth, Lüge, S. 137. 114  Ebbinghaus / Dörner / Linne u.  a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Anklage­ dokumentenband 9, S. 01252, NO-086.



II. Die Umsetzung des Plans beginnt317

Die Eingangsformulierung stützt abermals die Vermutung, dass Sievers die Denkschrift aufgrund der Blankovollmacht Himmlers für Hirt dem Forschungsbericht vom 9.2.1942 beigefügt hat: Denn weder brauchte Hirt für seine Forschungen Juden, noch führte er „bestimmte anthropologische Untersuchungen durch“. Jedoch zeigt das Schreiben eindeutig, dass die 150 Skelette für anthropologische und nicht für anatomische Zwecke vorgesehen waren. Ferner ist bemerkenswert, dass Sievers zwischen Häftlingen und Juden differenzierte. Möglicherweise meinte er zu ermordende Kriegsgefangene beziehungsweise das Synonym der legal zu tötenden Juden. Es ist festzuhalten, dass Himmler persönlich Medizinversuche und Häftlingstötungen autorisierte oder auch ablehnte.115 Dem Schreiben war ein auf den 1.11.1942 datierter Entwurf für eine Anordnung der Reichsführung-SS an das Reichssicherheitshauptamt, Amt IV B 4, z. Hd. SS-Obersturmbannführer Eichmann, beigefügt, der erstmals nach der Schädelsammlungs-Denkschrift zwei Jahre zuvor konkret die Anatomie Straßburg – wieder in Verbindung mit dem „Blanko“-Befehl – als Bestimmungsort für die Überreste der Opfer nannte: „Betr.: Aufbau einer Sammlung von Skeletten in der Anatomie Straßburg Der Reichsführer-SS hat angeordnet, dass dem Direktor der Anatomie Straßburg, SS-Hauptsturmführer Prof. Dr. Hirt, der zugleich Leiter einer Abteilung des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung ist, für seine Forschungen alles Notwendige zur Verfügung gestellt wird. Im Auftrage des Reichsführers-SS bitte ich deshalb, den Aufbau der geplanten Skelettsammlung zu ermöglichen. Wegen Einzelheiten wird sich SS-Obersturmbannführer Sievers mit Ihnen in Verbindung setzen.“116

Der Befehl wurde am 6.12.1942 in wörtlicher Abschrift von Brandt geheim an Eichmann weitergeschickt; Sievers erhielt eine Durchschrift.117 Dabei ist bemerkenswert, dass zu jenem Zeitpunkt noch nicht einmal ein Laborraum für Hirt in Natzweiler vorbereitet war, da sich die Lager- und die Bauleitung offenkundig desinteressiert zeigten.118 Bis zum Bau einer Gaskammer sollte noch mehr als ein halbes Jahr vergehen. Die oben angeführten Einzelinformationen zu verschiedenen Sachverhalten ergeben bei einer Zusammenführung gehörige Zweifel daran, dass August Hirt von Beginn an einen Plan hatte, von einem Dritten in Auschwitz jüdische Opfer auswählen und diese in Natzweiler ermorden zu lassen: 115  Klee,

Auschwitz, S. 179.

116  Ebbinghaus / Dörner / Linne

u.  a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Anklage­ dokumentenband 9, S. 01253, NO-116. 117  Ebd., Anklagedokumentenband 9, S. 01254, NO-089. 118  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 79 ff., Vermerk von Sievers vom 3.11.1942.

318

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

1.  Jüdische Opfer hätte er bis Ende 1942 auch in Dachau und in geringem Maße auch in Natzweiler finden können. 2.  Hirt hatte in Natzweiler nur mit flüssigem Lost experimentiert, nie mit gasförmigem.119 3. Erst mit dem Beginn der Phosgen-Gas-Experimente Bickenbachs im Juni 1943 wurde der Gasmaskenübungsraum des Konzentrationslagers Natzweiler umgebaut und konnte für die Ermordung der 86 Opfer des Schädelsammlungsvorhabens dienen. Dies zeigt zusammengefasst: Am 10.10.1942 war Sievers bei Eichmann, und bereits am 24.10.1942 wurde der Einsatz Begers in Auschwitz wegen einer dortigen Epidemie zurückgestellt. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Bruno Beger ohne diese Epidemie im Oktober 1942 150 Menschen zur Ermordung ausgewählt hätte, deren Ermordung in Natzweiler mangels geeigneter Tötungseinrichtungen nicht möglich gewesen wäre. Folglich muss es zunächst einen anderen Plan gegeben haben. Hirt wirkte auch an anderen Verbrechen des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung mit, wie den Erfrierungsversuchen Raschers im Konzentrationslager Dachau.120 Es ist unzweifelhaft, dass Hirt eine wesentliche Beihilfe zu den 86 Morden leistete. Wenn er jedoch einen Plan gehabt hätte, dessen Elemente die Tötung in Natzweiler, das Abnehmen von Abdrücken und die spätere Fertigung von Skeletten war, bleibt die Frage, weshalb Hirt zum geplanten Zeitpunkt der Opferauswahl weder den Mordmechanismus in Natzweiler vorbereitet hatte, noch Abformmasse bestellt war und nach der Ermordung die Leichen der Opfer in einer Weise präpariert wurden, die nicht geeignet war, Skelette zu fertigen (wie unten gezeigt werden wird). Rund zwei Wochen, nachdem die Anforderung an Eichmann verschickt worden war (am 1.11.1942), schrieb Hirt einen längeren Brief an Sievers. Darin bedankte er sich am 13.11.1942 zunächst für eine Sendung mit Mehl und Eiern von Himmler, der dem Paket eine Visitenkarte beigelegt hatte. Hirt zeigte sich dahingehend verunsichert, dass er nicht wisse, ob er sich bei 119  Schmaltz, Natzweiler, S. 314: Schmaltz zeigt, dass anders als lange Zeit angenommen, die Gaskammer in Natzweiler zunächst nicht gebaut wurde, um diejenigen Häftlinge zu vergasen, die der SS-Arzt Hirt für seine Skelettsammlung im August 1943 ermorden ließ. Sowohl die Rekonstruktion der ereignisgeschichtlichen Chronologie als auch die wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung des Verwendungskontextes der Gaskammer in Natzweiler spricht dafür, dass deren Einrichtung auch nicht zur Durchführung der Lost-Experimente Hirts, bei denen die Versuchsopfer die ölige Flüssigkeit auf die Haut gestrichen bekamen, dienen sollte. Allein für die Experimente mit dem gasförmigen, lungenschädigenden Kampfstoff Phosgen, die Otto Bickenbach durchführte, war die Einrichtung der Gaskammer notwendig. 120  BArch NS 21 / 905, Schreiben von Hirt an Sievers vom 22.12.1942; vgl. NARA T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 21.9.1942.



II. Die Umsetzung des Plans beginnt319

Himmler persönlich bedanken dürfe, und bat Sievers um Hinweis, wie in einem solchen Falle zu verfahren sei. Hieraus ergibt sich ein erneuter Beleg dafür, dass Sievers’ Behauptung in Nürnberg, dass Himmler und Hirt schon lange gut miteinander bekannt waren, nur eine Schutzbehauptung darstellte. In diesem Falle hätte sich SS-Hauptsturmführer Hirt kaum bei Sievers für ein Geschenk des Reichsführers-SS Himmler bedankt und gefragt, in welcher protokollarisch richtigen Form er sich beim mächtigen SS-Chef unmittelbar bedanken dürfe. Nach erneuten Klagen – darüber, dass in Natzweiler die Vorbereitungen für die Lost-Versuche nicht so rasch umgesetzt wurden wie von Hirt gewünscht, über die ausgebliebene Lieferung eines weiteren Fluoreszenzmikroskops bei Zeiss, das frühestens in zwei Jahren erhältlich sei – berichtete Hirt sodann von den Versuchsvorbereitungen bezüglich des Gasteiner Wassers, wegen dessen er mit Professor Kirsch und auch mit Grawitz in Verbindung stehe. Hirt lamentierte weiter, dass er als Vertreter des einberufenen Dekans Professor Dr. Hans Stein dessen Arbeit in den Universitätsgremien zusätzlich mit übernehmen müsse. Er fuhr fort: „Dazu hat das Anatomenlager121 in Tübingen wieder weitere Arbeitsbelastung gebracht. Es ist von dort plötzlich der Vorschlag aufgetaucht, dass die Anatomen Material sammeln und verarbeiten sollen, wie wir es im Auftrag Beger schon festgelegt haben. […] Gieseler,122 den Sie ja auch kennen, meinte, es sei von Seiten der Anthropologen schon angefangen worden, aber es fehle an Nachwuchs.“ Handschriftlich notierte Hirt daneben: „Ich bin beauftragt, für alle deutschen Anatomen Richtlinien zur Materialsammlung aufzustellen.“123

Von dem vorstehenden Teil des dreiseitigen Briefes Hirts ließ Wolff eine Abschrift anfertigen. Diese am 16.1.1943 von Wolff unterschriebene Abschrift wurde von Sievers mit einem handschriftlichen Vermerk versehen: „lt. R / Hirt am 24. / I. in Strassburg betrifft das Russenleichen in Lagern verstorbener R.“

Offenbar war also das Ergebnis des Kongresses die Erkenntnis, dass eine synergetische Kooperationsmöglichkeit der deutschen Anatomen mit den Anthropologen bei der Herstellung von Sammlungen bestand und diese bereits damit begonnen hatten, „Russenleichen“ zu sammeln. Auch andere An121  Hierbei

handelte es sich um eine jährliche Konferenz der deutschen Anatomen. Gieseler (geb. 11.10.1900 in Hannover, gest. 26.9.1976 in Terracina), letzter Dienstgrad: SS-Hauptsturmführer. 1918 Notabitur, dann Anthropologie- und Medizinstudium in Heidelberg, Freiburg und München, dort 1924 Promotion zum Dr. phil., 1925 Habilitation in Anthropologie, 1933 NSDAP (Nr. 2.872.638), 1934 außerordentlicher, 1938 ordentlicher Professor für Anthropologie in Tübingen, 1945 interniert und amtsenthoben, 1955 zunächst kommissarisch wieder eingesetzt, 1962 erneut ordentlicher Professor in Tübingen. 123  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S.  44 f. 122  Wilhelm

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D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

thropologen als Beger hegten offenbar ähnliche Vorhaben und waren ebenfalls auf die Mithilfe von Anatomen angewiesen. Anatomen besaßen andererseits auch ein Interesse daran, ergänzendes Untersuchungsmaterial für die medizinische Ausbildung auf diesem Wege zu erhalten. Im Kern bestand das allgemeine Interesse also darin, die Leichen von in Lagern verstorbenen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion für anthropologische Untersuchungen und für Präparationen in Anatomien nutzen zu können. Dies konnte Hirt jedoch nicht nur im Zusammenhang mit dem „Auftrag Beger“ oder anderen Anthropologen tun. Seit der Freigabe der Leichen von kriegsgefangenen Rotarmisten verfügte er bereits über eine bequeme Möglichkeit, „Russenleichen“ zu sammeln. Somit war der Vorgang, dass der Anatom Hirt als Dienstleister den „Auftrag Beger“ abarbeitete und die entstehenden „Restprodukte“ zu Präparatesammlungen umarbeitete, keinesfalls singulär. Da jedoch nur wenige Anthropologen das Privileg genossen, so wie Beger während des Krieges forschen zu können, fehlte der Nachwuchs, um die begonnenen Projekte an anderen Orten umzusetzen, wie Hirt im vorgenannten Schreiben mitteilte. Der handschriftliche Vermerk Sievers’ auf dem Briefauszug wurde von ihm durch eine weitere handschriftliche Notiz ergänzt: „an Ostubaf. Höß124, Auschwitz, schreiben ob Sache jetzt durchgeführt? mit Beger sprechen mit Eichmann sprechen erl. 28. / 4.43“125

Diese Vermerke sollten im Sommer 1943 wichtig werden. Doch nach dem Brief Brandts an Eichmann vom 6.12.1942 geschah in dieser Angelegenheit sehr lange erst einmal nichts. Sievers, Beger und Schäfer planten derweil weiter das Sonderkommando „K“. Hirt forschte in Straßburg, hatte weder Gaskammer, noch Abformmasse, noch eine Mazerationseinrichtung oder ei124  Rudolf Franz Ferdinand Höß (geb. 25.11.1900 in Baden-Baden, gest. 16.4.1947 in Auschwitz), letzter SS-Rang Obersturmbannführer. Weltkriegsteilnehmer, Freikorpsangehöriger im Baltikum, im Ruhrgebiet und in Oberschlesien, 1922 Eintritt in die NSDAP, 1924 bis 1928 Zuchthaus wegen Beteiligung an dem Mord am mutmaßlichen Denunzianten Albert Leo Schlageters, danach Artamane, dabei erstmals Kontakt zu Himmler, 1933 Eintritt in die SS, 1936 Rapportführer KZ Dachau, 1938 Adjutant des Kommandanten KZ Sachsenhausen, 1939 Schutzhaftlagerführer KZ  Sachsenhausen, 1940 Kommandant KZ  Auschwitz, 1943 / 44 Verwaltungsaufgaben im Amt D des WVHA, Rückkehr nach Auschwitz zur Vernichtung der ungarischen Juden Mai bis Juli 1944, 1946 Verhaftung durch die Briten, Auslieferung an Polen, 1947 Hinrichtung am Galgen. 125  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 45.



II. Die Umsetzung des Plans beginnt321

nen Entfettungsofen – und wies in der Folgezeit auch niemanden darauf hin, dass ohne all diese Dinge weder der „Auftrag Beger“ umgesetzt, noch die Schädelsammlung angelegt werden könne. Erst am 12.4.1943 teilte der Kommandant des Konzentrationslagers Natzweiler, Josef Kramer, dem Ahnenerbe mit, dass die „G-Zelle“ fertig gestellt sei. In der Anklage gegen Beger wurde unterstellt, dass der Umbau der Kühlzelle des Hotels Struthof in eine Gaskammer für die Gewinnung der Schädelsammlung vorgenommen wurde.126 Dies ist so nicht zutreffend. Die Zusammenarbeit zwischen Hirt und dem Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung wurde durch die Aussicht auf Humanversuche bei dessen LostExperimenten einerseits und auf eine Steigerung der Attraktivität des Ahnenerbes für weitere Mediziner begründet. So ist es auch falsch, wenn die Frankfurter Anklageschrift in der Nachkriegszeit davon ausgeht, dass Hirt selbst Lost- und Phosgen-Versuche in Natzweiler durchführte. Die PhosgenVersuche führte Bickenbach durch, der hierfür definitiv eine Gaskammer benötigte, während die Versuchsreihen Hirts mit Lost durch Aufbringen des flüssigen Losts auf die Haut durch Wimmer stattfanden. Es mag also sein, dass Josef Kramer nach dem Krieg – zumeist ungenau und tendenziös – aussagte, dass die Zelle für den „Auftrag Beger“ gebaut worden sei. Jedoch gab es zu diesem Zeitpunkt noch keine Anzeichen dafür, dass geplant war, dass die Morde nicht in Auschwitz, sondern in Natzweiler stattfinden sollten. Hingegen waren die Gasversuche Bickenbachs zu diesem Zeitpunkt bereits geplant.127 Aus diesem Grunde war der Gasraum für Bickenbach bereits im April 1943 fertiggestellt. Zudem mag diese Verwechslung Kramers darauf beruhen, dass Bickenbach seine Versuche in Natzweiler im Jahre 1943 noch nominell unter dem Dach des Ahnenerbes und seines lokalen Vertreters Hirt durchführte. Einen Beleg für den Zusammenhang zwischen Bickenbach und der Ertüchtigung des Gasmasken-Übungsraumes zur G-Zelle liefert ein Schreiben von Wolff an Hirt vom 17.4.1943: „Auf Anordnung des Reichsgeschäftsführers, SS-Standartenführer Sievers, wird mitgeteilt, dass der Kommandeur des KL. Natzweiler in diesen Tagen die Fertigstellung der G.-Zelle im KL. Natzweiler meldete. SS-Standartenführer Sievers bittet Sie, Herrn Professor Dr. Bickenbach hiervon in Kenntnis zu setzen und ihm gleichzeitig mitzuteilen, dass die Zelle einen Rauminhalt von 20 cbm. hat.“128

Der Lagerkommandant Kramer hatte dem Ahnenerbe am 12.4.1943 den Abschluss der Bauarbeiten gemeldet und gab als Referenz ein Schreiben des 126  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 45. 127  Schmaltz, Natzweiler, S. 309 ff. 128  BArch NS 21 / 906, Schreiben von Wolff an Hirt vom 17.4.1943.

322

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

Ahnenerbes vom 5.4.1943 an.129 Dabei ist festzuhalten, dass die Gaszelle zu jenem Zeitpunkt ausschließlich für die Versuche Bickenbachs hergestellt wurde. Zwischenzeitlich ging Sievers dem Schreiben Brandts an Eichmann vom 6.12.1942 nach, auf das Eichmann nach der Quellenlage zu urteilen nicht reagiert hatte. Laut Diensttagebuch war Sievers am 28.4.1943 erneut im Reichssicherheitshauptamt. Dort verhandelte er in Eichmanns Referat mit dessen damals 30-jährigem Stellvertreter Rolf Günther: „10:45 RSHA, IV B 4, SS-Stubaf. Günther 1. Untersuchungen im KL Auschwitz jetzt möglich. Besprechung der Durchführung.“130

Ab etwa Oktober 1941 wurden rund 10.000 sowjetische Kriegsgefangene von der Wehrmacht nach Auschwitz überstellt, um dort ein Kriegsgefangenenlager für eine erheblich größere Zahl sowjetischer Kriegsgefangener zu errichten. Dieses Lager wurde später unter der Bezeichnung Auschwitz-Birkenau bekannt. In Kriegsgefangenenlagern wurden zunächst keine deportierten Juden inhaftiert, wohl aber wurden Kriegsgefangene im Stammlager Auschwitz I und in Auschwitz-Monowitz als Zwangsarbeiter eingesetzt. Später jedoch waren verschiedene Häftlingskategorien in allen Teil-Lagern von Auschwitz anzutreffen. Die sowjetischen Häftlinge im Konzentrations­lager Auschwitz wurden nach ihrer Ankunft in vier verschiedene Kategorien eingeteilt, darunter „fanatische Kommunisten“ und „politisch untragbare“. Diese beiden Gruppen wurden aufgrund des Kommissarbefehls hingerichtet.131 Dies geschah also nicht nur – wie in der Schädelsammlungs-Denkschrift intendiert – hinter der Front in Zusammenarbeit zwischen Wehrmacht und Waffen-SS, sondern im von außen unkontrollierten Raum eines Konzentra­tionslagers der SS. Insoweit gibt dies einen Hinweis, weshalb die Opfer des Verbrechens in Auschwitz ausgewählt wurden und nicht beispielsweise in Natzweiler oder Dachau. Die Verhandlungen zwischen Sievers und Günther verliefen offenbar wie vom Ahnenerbe gewünscht. Am 22.5.1943 stellte Sievers die Auswahl der Opfer in Auschwitz gegenüber Brandt in einen sachlichen Zusammenhang: „Betr.:  Auswertung der anthropologischen Untersuchung von russischen Kriegs­gefangenen. Bezug: Dort. Schr. v. 16.3.43 – 32 / 133 / 43 Bra / V.  – Unsere Unterredung vom 7.4.43 129  Ebd.,

Schreiben von Kramer an Ahnenerbe vom 12.4.1943. NS 21 / 53 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 28.4.1943. 131  Smolen, Auschwitz, S. 144. 130  BArch



II. Die Umsetzung des Plans beginnt323 Lieber Kamerad Brandt! Ich habe mich mit dem Inspekteur für Statistik, Oberregierungsrat Dr. Korherr, deswegen in Verbindung gesetzt. Er hielt die Auswertung des Untersuchungsmaterials auch für außerordentlich wichtig, sowohl aus Gründen des Arbeitseinsatzes, wie aus bevölkerungspolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Gründen. […] Da es sich jedoch günstig trifft, daß wir für das Kaukasus-Unternehmen vorgesehenen Anthropologen Dr. Rübel, Dr. Endres und Dr. Fleischhacker, die gegenwärtig beim Rasse- und Siedlungshauptamt arbeiten, zur Verfügung haben, möchte ich dennoch vorschlagen, die Arbeit durchzuführen. Dabei sollte allerdings Prof. Dr. Abel veranlaßt werden, sich vor allem auf die Frage der Behandlung und der arbeitsmäßigen Einsatzfähigkeit der einzelnen Gruppen im Kriege zu konzentrieren und seine Arbeit auf die Lösung dieser Frage auszurichten. Die anderen grundsätzlichen Untersuchungen könnten ja wirklich später gemacht werden. Die Arbeit dürfte auch nicht zu lange dauern. Auch in dieser Hinsicht sollte sich Prof. Abel wenn möglich verbindlich erklären. Wenn der Reichsführer-SS dem Antrag zustimmt, müßten die obengenannten Anthropologen Rübel, Endres und Fleischhacker vom Rasse- und Siedlungshauptamt wieder befristet zur Verfügung gestellt werden. Mit Prof. Abel müsste vereinbart werden, wie lange die Anthropologen eingesetzt werden müssen. Nachdem jetzt der Zutritt im Lager Auschwitz wieder möglich ist, könnten diese Anthropologen außerdem noch die Untersuchungen dort für die Ihnen bekannte Sammlung an 150 Personen durchführen. Da jetzt in Auschwitz, wie mir SS-Obersturmbannführer Eichmann mitteilte, zur Zeit besonders geeignetes Material vorhanden ist, wäre der Zeitpunkt für diese Untersuchungen besonders günstig.“132

Dieses Schreiben Sievers zeigt abermals, dass die in Auschwitz auszuwählenden 150 Opfer in Zusammenhang mit den im Betreff genannten anthropologischen Untersuchungen an russischen Kriegsgefangenen stehen und – neben den Reihenuntersuchungen von Beger, Abel und anderen – Teil eines übergreifenden Forschungsvorhabens waren. Unter den sowjetischen Kriegsgefangenen in Auschwitz befand sich offenbar zum Zeitpunkt, als der Brief verfasst wurde, „besonders geeignetes Material“. In Auschwitz trafen regelmäßig und dauerhaft in kurzen Abständen jüdische Deportierte ein. Sowjetische Gefangene wurden jedoch nicht regelmäßig überstellt. Daher ist die Benennung eines bestimmten Zeitpunktes für „besonders geeignetes Material“ ein weiteres Indiz dafür, dass es nicht darum ging, in Auschwitz Menschen mit jüdischem Hintergrund für die Anfertigung einer Schädelsammlung auszuwählen – sondern sowjetische Kriegsgefangene. Sievers erwähnte im Schreiben, dass Rübel und Fleischhacker als Mitarbeiter zur Verfügung stünden. Daran ist bemerkenswert, dass die Freigabe Rübels und Fleischhackers für das Vorhaben bereits am 25.1.1943 bestätigt wurde, noch lange bevor Eichmann die vorgenannte Mitteilung machte.133 132  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34164 Prozessakte Beger, S. 12a und 12b (Hervorhebungen durch den Verfasser). 133  BArch R 135 / 49, Schreiben vom Kommando K an Chef RuSHA vom 25.1.1943.

324

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

Am 3.5.1943 informierte Sievers Beger, dass die Sperrung des Lagers Auschwitz wegen der bisherigen Seuchengefahr aufgehoben sei und die Arbeiten dort beginnen könnten.134 Sievers hatte Beger bereits am Vortag (2.5.1943) über das Ergebnis der Besprechung mit Rolf Günther vom 28.4.1943 in Eichmanns Referat IV B 4 („Judenangelegenheiten, Räumungsangelegenheiten“) des RSHA informiert, denn Beger beantragte daraufhin bei Sievers, dass dieser zwei weitere Anthropologen für den bevorstehenden Einsatz vom regulären Dienst bei der Truppe beurlauben lassen solle. Dieser Antrag Begers an Sievers wurde mit dem Bezug „Ihr Schreiben vom 2.5.1943“135 am 10.5.1943 gestellt: „Zur Durchführung der Untersuchungen wäre die Beteiligung von SS-Hauptsturmführer Dr. Rübel und SS-Obersturmführer Dr. Fleischhacker sehr erwünscht. Ich möchte Sie deshalb darum bitten, sich wegen der Freigabe derselben mit dem RuSHauptamt-SS in Verbindung zu setzen.“136

Sievers beantragte die Beurlaubungen der von Beger genannten WunschMitarbeiter. Es muss offen bleiben, in welcher Form Beger und Fleisch­ hacker seit dem Studium in Kontakt waren und wie sich der Kontakt während der Zeit gestaltete, in der beide im RuSHA arbeiteten, bevor sie sich beim Sonderkommando „K“ erneut trafen.137 Der Anthropologe Fleischhacker schloss zum Zeitpunkt der Beantragung sein Habilitationsverfahrens an der Universität Tübingen bei Wilhelm Gieseler ab. Auch den für den Einsatz in Auschwitz ausgewählten Präparator Wilhelm Gabel kannte Fleischhacker noch aus seinem Studium in München, wo dieser damals beamteter Präparator138 am Institut für Ur- und Frühgeschichte war. Heinrich Rübel war Historiker mit anthropologischen Kenntnissen139 und auch Teil des Sonderkommandos „K“.140 Im Frühjahr 1943 wurde er von dort zur Leibstandarte zurückversetzt, wo er bereits zuvor gedient hatte. Von dort wurde er zu einem Panzerlehrgang nach Bitsch141 abkommandiert.142 Da er somit der Waffen134  HStA

S. 25.

135  Ebd.,

Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Urteil vom 6.4.1971,

Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 45. Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 47. 137  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Fleisch­ hacker vom 1.11.1962, S. 174. 138  Ebd., Aussage Gabel vom 23.11.1962, S. 251. 139  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Aussage Rübel vom 4.1.1963, S. 310: „Promoviert habe ich über ein Thema der Grenzwissenschaft zwischen Geschichte und Anthropologie.“ 140  Ebd., Aussage Fleischhacker vom 1.11.1962, S. 176. 141  Deutscher Name für die Stadt Bitche im Département Moselle in Lothringen. 142  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Aussage Rübel vom 4.1.1963, S. 311. 136  Ebd.,



III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf325

SS unterstand, beantragte Sievers bezüglich Rübels am 22.5.1943 beim für diese Angelegenheiten zuständigen SS-Führungshauptamt das Folgende: „Der Reichsführer-SS hat dem Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung im Amt ‚Ahnenerbe‘ den Auftrag erteilt, im KL. Auschwitz eine anthropologische Sonderuntersuchung durchzuführen, die aus bestimmten Gründen nicht aufgeschoben werden kann.“143

Sievers beantragte die Freistellung Rübels ab dem 1.6.1943. Der Einsatz sollte bis zum 30.6.1943 abgeschlossen sein, wie der Freistellungsantrag Sievers’ für Fleischhacker belegt.144 Der Einsatz stand folglich zum Zeitpunkt der Antragstellung unmittelbar bevor: Für den 21.5.1943 sind zwei Tagebucheintragungen Sievers’ bemerkenswert. Für 22 Uhr verzeichnete Sievers zuerst ein Telefonat mit Beger „wegen Aufnahme der anthropologischen Untersuchungen in Auschwitz“. Anschließend, um 22:45 Uhr, telefonierte Sievers mit Hirt wegen „Durchführung der Untersuchungen in Auschwitz“.145 Schon am folgenden Tag um 15 Uhr telefonierte Sievers erneut mit Beger, wie er im Tagebuch festhielt: „wegen Untersuchungen in Auschwitz“.

III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf Bruno Beger erhielt seine Reiseanordnung am 28.5.1943146 und reiste am 31.5.1943 um 11:55 Uhr von Mittersill nach Berlin zur Ahnenerbe-Zentrale, wo er mutmaßlich den bevorstehenden Einsatz besprach. Am 6.6.1943 wurde Beger von dort nach Auschwitz in Marsch gesetzt.147 Es darf – insbesondere mit Blick auf die dokumentierte Reisezeit des kurz darauf ebenfalls aus Berlin anreisenden Fleischhacker – davon ausgegangen werden, dass Beger ebenfalls am selben Tag im rund 550 Kilometer von Berlin entfernten Auschwitz eintraf.148 Dabei ist es bis heute nicht eindeutig aus den Quellen nach143  Ebd.,

Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 48. S. 49. 145  BArch NS 21 / 53 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 21.5.1943. 146  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 135a, Reiseanordnung vom 28.5.1943. 147  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 49. 148  Lang, Nummern, S. 105: Lang schreibt, dass Beger am 6.6.1943 um 21:42 Uhr in Berlin den Zug nach Krakau bestiegen habe und am 7.6.1943 um 8:40 Uhr in Auschwitz eingetroffen sei. Dies wird allerdings nicht belegt. Exakt diese Zugverbindung hat einige Tage später, wie unten gezeigt, Hans Fleischhacker genommen. Daher muss offen bleiben, ob Lang Begers Reisedaten mit denen von Fleischhacker verwechselt oder ob er tatsächlich Hinweise auf Begers Reisedaten hat, ohne diese zu belegen. Nach derzeitigem Sachstand ist jedoch davon auszugehen, dass Beger am 6.6.1943 früh in Rüthnick zum rund 67 Kilometer entfernten Dah144  Ebd.,

326

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

vollziehbar, in welchem Teil des sogenannten „Interessengebiets“ des Konzentrationslagers Auschwitz Beger sich wann aufgehalten hat. Es ist lediglich zu vermuten, dass er in Auschwitz-Birkenau, rund drei Kilometer entfernt vom Stammlager Auschwitz I, seinen Plänen nachging. Sievers’ Persönlicher Referent Wolff führte nicht nur dessen Diensttagebuch, sondern legte über viele Jahre bei allen wichtigen Ereignissen Aktenvermerke zu Dokumentationszwecken an. Am 11.6.1943 hielt er in einem Aktenvermerk fest, der von Sievers abgezeichnet wurde: „Betr.: Anthropologische Untersuchungen von russischen Kriegsgefangenen. Am 6. Juni 1943 ist SS-Hauptsturmführer Dr. Bruno Beger nach Auschwitz in Marsch gesetzt worden. Seine Ankunft wurde durch SS-Obersturmbannführer Mihlhenzel, KL-Verwaltung Oranienburg, in Auschwitz angekündigt. SS-Obersturmführer Dr. Fleischhacker meldete sich erst am 10. Juni 1943 vormittags im ‚Ahnenerbe‘. Da seine Beurlaubung ursprünglich für die Zeit vom 1. bis 21. Juni 1943 beantragt war, die am 10. Juni 1943 zur Verfügung stehende Zeit für eine ordnungsgemäße Durchführung des Auftrages aber nicht ausreichend ist, ist beim Stab General von Unruh Urlaubsverlängerung bis 1. Juli 1943 beantragt und genehmigt worden. Da Fleischhacker auf Grund dieses Antrages bis 1. Juli 1943 dem Rasse- und Siedlungshauptamt-SS untersteht und lediglich zum ‚Ahnenerbe‘ kommandiert wurde, ist er durch das RuS. mit den notwendigen Reisepapieren ausgestattet und von dort am 10.6.43 nach Auschwitz, nach vorheriger von hier aus veranlaßter Benachrichtigung des KL. Auschwitz durch SS-Obersturmbannführer Mihlhenzel, KL-Verwaltung Oranienburg, in Marsch gesetzt worden. Das SS-Führungshauptamt hat bisher den vom ‚Ahnenerbe‘ gestellten Anträgen auf Beurlaubung des SS-Unterscharführers Dr. Rübel noch nicht entsprechen können. Dr. Rübel befindet sich z. Zt. im Lazarett, aus dem er vermutlich am 12.6.1943 entlassen wird. Es ist beim SS-Führungshauptamt, SS-Hauptsturmführer Strauß, beantragt worden, daß gegebenenfalls Dr. Rübel ab Tag seiner Meldung in Berlin für drei Wochen zur Verfügung gestellt wird. Der vom ‚Ahnenerbe‘ ursprünglich gestellte Antrag auf Beurlaubung für die Zeit vom 1. bis 21. Juni 1943 ist damit hinfällig.“149

lem aufbrach, wo er seinen Reisekostenvorschuss abholte und sich besprach. Es gibt keine Veranlassung anzunehmen, dass sich dies über den ganzen Tag bis in den Abend gezogen hat. Daher ist es realistisch, dass Beger nicht den langsamen Nachtzug, sondern eine schnellere Verbindung am selben Tage nahm. Da Fleischhacker aus dem rund 770 Kilometer entfernten Tübingen nach Berlin kam und am gleichen Tag weiterreiste, ist nachvollziehbar, dass er nur noch den Nachtzug erreichte, wie unten belegt wird. 149  BArch NS 21 / 901, Aktenvermerk von Sievers vom 11.6.1943 (Hervorhebungen durch den Verfasser).



III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf327

Das Schreiben zeigt ein kameralistisch wichtiges Detail: Die Anforderung erfolgt für das Ahnenerbe, nicht für das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung der Waffen-SS. Sievers verantwortete mit seinem Führungsstab beide Einrichtungen, doch Hirt war Abteilungsleiter im Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung und Beger im Ahnenerbe. Aus dem Betreff geht eindeutig hervor, dass auch Sievers und Wolff nicht annahmen, dass Beger deportierte Juden in Auschwitz auswählen werde, sondern russische Kriegsgefangene – wahrscheinlich Innerasiaten. In diesem Zusammenhang muss die Untersuchungstiefe der genauen Abläufe in der Sekundärliteratur erneut thematisiert werden: In einer Vielzahl von Publikationen zum Verlauf des Verbrechens wird wiedergegeben, dass SS-Obersturmbannführer Mihlhenzel in das Verbrechen verstrickt war, indem er Beger den Zugang zum Konzentrationslager Auschwitz eröffnete. Bei genauer Betrachtung ergibt sich jedoch die Tatsache, dass in der Dienstaltersliste der SS kein Obersturmbannführer dieses Namens verzeichnet ist. Auch in den SS-Personalakten und anderen Beständen des Bundesarchivs ist kein SSAngehöriger jeglichen Ranges mit diesem oder einem ähnlich lautenden Namen zu finden. Da es in der Verwaltung der Konzentrationslager in Ora­ nienburg nicht allzu viele Inhaber des vergleichsweise hohen Ranges Obersturmbannführer gab, ist es sehr wahrscheinlich, dass Sievers den dort tätigen Arthur Liebehenschel meinte und er oder die Schreibkraft seines Diktats den Namen falsch verstanden hatte. Liebehenschel war von März bis November 1943 Leiter der Abteilung „D1 / Zentralamt“ in der KZ-Verwaltung in Ora­ nienburg und arbeitete damit in jenem Bereich der Verwaltung, die für die gegenständliche Entscheidung zuständig war, anders als Eichmann, der Deportationen verantwortete. Schließlich ergaben die Umstände, dass die in Auschwitz zum Einsatz kommende Gruppe aus insgesamt nur drei Personen bestehen würde: Bruno Beger, Hans Fleischhacker und Wilhelm Gabel. Gabel traf vor Beger in Auschwitz ein.150 Beger folgte am 6.6.1943.151 Er quartierte sich in einem Hotel gegenüber dem Bahnhof in Auschwitz ein.152 Anschließend besprach er die bevorstehenden Aufgaben mit dem Adjudanten des Lagerkommandanten Rudolf Höß.153 Danach traf er Gabel und machte diesen mit allen rele150  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Gabel vom 23.11.1962, S. 252. 151  Pringle, Masterplan, S. 258: Hier wird irrigerweise der 7.6.1943 als Ankunftstag Begers genannt, gestützt auf die Annahme, dass Beger am 6.6.1943 in Berlin abreiste und die Zugfahrt mehr als einen Tag dauern würde. Dies wird jedoch nicht belegt. 152  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Beger vom 31.3.1960, S. 13. 153  Ebd., Aussageergänzung Beger vom 18.12.1961, S. 128.

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D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

vanten Personen bekannt154. Nachdem Fleischhacker sich nach seiner Probevorlesung im Rahmen seines Habilitationsverfahrens in Tübingen am 10.6.1943 beim Ahnenerbe in Berlin-Dahlem gemeldet hatte und über seinen Auftrag orientiert worden war, fuhr er nach Auschwitz weiter, wo er am folgenden Morgen eintraf.155 Er betrachtete Beger als Leiter der Gruppe, da dieser Arbeitsaufgaben verteilte.156 Noch vor Fleischhackers Eintreffen hatten sich Gabel und Beger auf die Suche nach Innerasiaten gemacht, wie sich Gabel erinnerte: „Ich dachte damals, dass in dem Lager viele Mongolen zu finden seien. […] Zusammen mit Dr. Beger habe ich mich dann im Lager nach asiatischen Typen umgesehen. Ich erkannte bald, dass ich in dem Lager kaum finden würde, was ich suchte. Auch Dr. Beger war sichtlich überrascht. Ich glaube nicht, dass er mir irgendeine Überraschung vorgespielt hat.“157

Offensichtlich befand sich Beger in einer ausgesprochen unangenehmen Situation. Auf der Suche nach Innerasiaten zur Umsetzung der von Himmler persönlich erteilten Genehmigung, 150 Menschen aus Innerasien für eine anthropologische Sammlung töten zu lassen, fand er nun kaum Innerasiaten vor.158 Eichmanns Ankündigung, dass aufgrund der Verlegung von Kriegsgefangenen nach Auschwitz derzeit „besonders geeignetes Material“ in Auschwitz zu finden sei, war offenbar unzutreffend. Mit großem Aufwand hatte sich Beger um die Angelegenheit bemüht. Das SS-Führungshauptamt war wegen der Kommandierung Fleischhackers ebenso befasst wie das SvenHedin-Reichsinstitut im Fall Gabel. Eichmann wurde ebenso eingebunden wie Kramer in Natzweiler – und nicht zuletzt Himmler selbst und dessen Referent Brandt. Alle durften eine reibungslose Umsetzung des Vorhabens erwarten. Nachdem mehrere Denkschriften Begers für gewünschte Projekte nicht angenommen wurden, hatte er nun erstmals wieder die Gelegenheit, zu beweisen, dass er in der Lage war, sein seit Jahren verfolgtes Thema der Anthropologie von Innerasiaten umfassend zu bearbeiten. Bruno Beger hatte 154  Ebd.,

Aussage Gabel vom 23.11.1962, S. 252. Aussage Fleischhacker vom 1.11.1962, S. 180 f. Vgl. „Zeittafel zur Vita von Hans Fleischhacker“, in: Jens Kolata / Richard Kühl / Henning Tümmers / Urban Wiesing (Hrsg.): In Fleischhackers Händen. Wissenschaft, Politik und das 20. Jahrhundert, Tübingen 2015, S. 255–259, hier S. 257 f.; zu den Hintergründen auch Paul Weindling: Rassenkundliche Forschung zwischen dem Getto Litzmannstadt und Auschwitz. Hans Fleischhackers Tübinger Habilitation, Juni 1943, in ebd., S. 141– 161. 156  Ebd., Aussage Fleischhacker vom 1.11.1962, S. 180 f., mit Bezugnahme auf ebd., Aussageergänzung Beger vom 18.12.1961, S. 127 f. 157  Ebd., Aussage Gabel vom 25.7.1960, S. 50 (Hervorhebungen durch den Verfasser). 158  Himmler behielt sich stets persönlich vor, Häftlingstötungen zu genehmigen oder abzulehnen. Vgl. Klee, Auschwitz, S. 179. 155  Ebd.,



III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf329

damit die Möglichkeit, Anthropologiegeschichte im Sinne der nationalsozialistischen Rassenideologie zu schreiben und auf diesem Wege gegenüber seinen Vorgesetzten und der Fachwelt seinen Anspruch auf eine eigene Forschungsstätte zu untermauern. Unter dem hohen Erwartungsdruck zahlreicher Dienststellen, Vorgesetzter und nicht zuletzt Himmlers selbst musste Beger eine Entscheidung treffen. Entweder brach Beger die Aktion ab – oder er fand kurzfristig ein anderes Forschungsvorhaben, das den Beifall all jener finden würde, an deren Erwartungen er gemessen würde. Gabel berichtete, wie Beger auf die Überraschung reagierte, nicht auf eine große Anzahl von Innerasiaten zu stoßen, aus denen beide diejenigen Opfer auswählen wollten, die sie für interessant hielten: „In dem Lager waren zumeist Juden aus verschiedenen Ländern. Andererseits fanden wir aber auch die jüdischen Typen vom anthropologischen Standpunkt aus sehr interessant. Wir fanden dort Juden aus Griechenland, aus Ungarn, aus Polen, aus Holland, aus Frankreich, aus Vorderasien. Schließlich fanden wir auch einige Russen, die in geringem Umfang mongolische Züge aufwiesen. […] Dr. Beger hat eine kleine Anzahl von Personen (jüdische Häftlinge und Russen) anthropologisch vermessen. Wie viele es waren, weiß ich nicht. […] Ich glaube ich habe einmal einen Tag bei den Vermessungen geholfen. Sonst beschäftigte ich mich lediglich mit dem Abnehmen von Gesichtsmasken.“159

Nachdem Fleischhacker am 10.6.1943 um 8:40 Uhr in Auschwitz eingetroffen war, begannen Beger und er damit, einige Tage lang 115 zuvor von Beger ausgewählte Häftlinge zu vermessen.160 Es gehört zu den Rätseln dieses Verbrechens, warum Beger plötzlich von Asiaten auf Juden als Opfer umstellte. Vielleicht geschah dies, da kaum Asiaten zu finden waren. Sicher ist jedoch, dass weder in der Vorbereitung des Verbrechens noch bei der Auswahl in Auschwitz oder in den Nachkriegsaussagen irgendwelche Aktivitäten belegt sind, nach Auschwitz zu reisen, um „jüdisch-bolschewistische Kommissare“ der Roten Armee zu finden. Jean-Claude Pressac hält hierzu fest: „Of 115 prisoners selected, 109 were Jews. Beger was assisted in his mission by another anthropologist, Dr. Hans Fleischhacker, and by a specimen preparer, Willi Gabel, who made 26 head castings among the 115 chosen prisoners (depositions by Fleischhacker of the 18 January 1963 and 6 November 1963, by Gabel of the 25 July 1960 and 23 November 1962).“161

Die Zahl der 26 abgeformten Köpfe ist ein wichtiges Detail, das unten näher erläutert wird. Bei den Vermessungen waren Beger und Fleischhacker 159  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Gabel vom 25.7.1960, S.  50 ff. 160  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 154. 161  Pressac, Struthof, S. 14.

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D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

Funktionshäftlinge der Krankenstation des Konzentrationslagers Auschwitz behilflich. Hierzu zählten unter anderen der polnische Arzt Professor Dr. Waschylewsky, der als Hals-Nasen-Ohren-Arzt162 auf der Krankenstation arbeitete,163 und Hermann Reineck, der die Vorgänge von der Schreibstube in Block 21 gut beobachten konnte. Letzterer berichtete in einer Vernehmung im Verfahren gegen Beger vor dem Landgericht Frankfurt, dass alle ausgewählten Häftlinge vor Block 28 versammelt wurden, wo Fleischhacker und Beger gemeinsam mit Funktionshäftlingen Messungen vornahmen.164 Der 1919 geborene Reineck erwähnte in einer anderen Vernehmung in Wien am 16.4.1960: „Sie führten an den angetretenen Häftlingen Messungen durch, vor allem am Kopf. Dazu hatten sie Geräte, die grossen Zirkeln ähnlich waren, mitgebracht. Wir haben erfahren, dass es Anthropologen sind, die Forschungen durchgeführt hatten.“165

Verschiedene Funktionshäftlinge notierten die Namen der Ausgewählten auf Listen. Einer der Schreiber war der Funktionshäftling Ernst Toch,166 der mit Bleistift eine Liste aller zur Überstellung nach Natzweiler ausgewählten Häftlinge nach deren Vermessung führte. Diese wurden mutmaßlich von Beger oder Fleischhacker benannt. Anschließend fertigte Toch eine maschinenschriftliche Reinschrift an.167 Diese Häftlingslisten seien einige Tage später vom RSHA angefordert worden, woraufhin dann Transportlisten aufgestellt wurden.168 Gleichzeitig wurden im Ahnenerbe mindestens alle überstellten, möglicherweise auch alle ausgewählten Häftlinge in eine Liste ­eingetragen.169 Das Ausfüllen der vorbereiteten Formulare für die Vermessungsergebnisse wurde nach Fleischhackers Erinnerung ebenfalls von Häftlingen erledigt.170 Gabel erinnerte sich weiter an seinen Einsatz in Ausch­­ witz: „Ich selbst bin etwa drei bis vier Wochen in Auschwitz geblieben und habe mich während dieser Zeit mit der Anfertigung von Gesichtsabdrücken beschäftigt. Insgesamt habe ich etwa 20 bis 30 Abdrücke gemacht, davon etwa 6 russische Kriegsgefangene, der Rest Juden. Um einen Gesichtsabdruck zu machen, brauchte ich 162  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Gabel vom 25.7.1960, S. 51. 163  Ebd., Aussage Gabel vom 23.11.1962, S. 252 f. 164  Ebd., Aussage Reineck vom 15.1.1962, S. 130. 165  BArch B 162 / 2775, S. 4978, Aussage Hermann Reineck vom 16.6.1960. 166  Ernst Toch, Schildermacher aus der Floßgasse 8 in Wien, geboren 1906 oder 1912 in Wien. 167  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Toch vom 19.1.1962, S. 132. 168  Ebd., Aussage Reineck vom 15.1.1962, S. 130. 169  Ebd., Aussage Heydel vom 21.2.1962, S. 143. 170  Ebd., Aussage Fleischhacker vom 1.11.1962, S. 78.



III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf331 etwa einen Tag. Meiner Erinnerung nach haben Dr. Beger und ich die Personen, von denen ich Gesichtsabdrücke gemacht habe, zusammen heraus gesucht […] Ich bin in der Hoffnung nach Auschwitz gekommen, dass ich dort Mongolen treffen würde. Dies war nicht der Fall. Andererseits war es aber für mich als anthropologisch geschulter Präparator außerordentlich interessant, welche verschiedenen Menschentypen insbesondere jüdische Typen, ich in Auschwitz zu sehen bekam, so dass ich natürlich daran interessiert war, von diesen Typen Gesichtsabdrücke zu machen. Ich habe mir gedacht, dass man die von mir in Auschwitz genommenen Gesichtsmasken später bei der Ausdehnung der anthropologischen Abteilung des Sven Hedin-Instituts verwenden könne. […] Ich selbst habe später in München in einem Kriegsgefangenenlager, das in der Schule an der Schulstraße untergebracht war, russische Kriegsgefangene gefunden, die regelrechte Mongolen waren. Von denen habe ich dann eine ganze Reihe von Masken gemacht. Dies war kurz vor Kriegsende. Diese Masken sind auch nach Mittersill gebracht worden und wurden ebenfalls, zusammen mit den Masken aus Auschwitz, eingeschmolzen.“171

Hier ist beachtenswert, dass offensichtlich auch Gabel bereits von der Vergrößerung von Begers Abteilung innerhalb des Reichsinstituts Sven Hedin aufgrund dieser Aktion ausging. Ein reiner Dienstleistungsauftrag für die Reichsuniversität Straßburg hätte kaum diese Sichtweise ermöglicht. Bemerkenswert ist auch der Kommentar der Anklageschrift zur Zusammensetzung der Delegation nach Auschwitz bezüglich des Präparators Wilhelm Gabel, der ebenfalls für das Sonderkommando „K“ vorgesehen war: „Die Untersuchungen in Auschwitz wurden von den Anschuldigten Dr. Beger, Dr. Fleischhacker, sowie dem Zeugen Gabel, der als Präparator beim ‚Ahnenerbe‘ tätig war, vorgenommen, wobei Gabel hauptsächlich für die speziellen Interessen Dr. Begers im Hinblick auf dessen Vorliebe für mongoloide Typen mitgenommen wurde, um an Ort und Stelle Abformungen vorzunehmen. Dr. Beger war der Leiter dieser Gruppe.“172

Am 23.11.1962 erklärte Wilhelm Gabel noch einmal den Charakter der Mission vor dem Untersuchungsrichter: „Ich bin mit Dr. Beger im Lager herumgegangen, um mongoloide Typen zu suchen. Wir haben aber nur ganz wenige gefunden. Es waren nach meiner Erinnerung nur 6–8 Personen. Im Übrigen hat Dr. Beger dann eine größere Anzahl von Juden ausgesucht. Diese sind dann anthropologisch vermessen worden. Wenn ich einen der Juden als besonders interessant oder markant bezeichnete, war Dr. Beger damit einverstanden, dass ich auch eine Abformung von diesem Juden fertige. Ich habe aber keineswegs alle Juden abgeformt. […] Ich habe etwa 20 Abformungen vorgenommen.“

171  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Gabel vom 25.7.1960, S. 50 ff. (Hervorhebungen durch den Verfasser). 172  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S.  51 f.

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D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

Auf die Frage des Untersuchungsrichters, ob es Gabel nicht merkwürdig vorgekommen sei, dass zunächst von mongolischen Menschen die Rede gewesen sei und dann in Auschwitz nach dem Auffinden von nur wenigen derartigen Menschen plötzlich Juden ausgewählt wurden, entgegnete Gabel offenbar ratlos: „Natürlich ist es mir aufgefallen, dass Dr. Beger plötzlich so viele Juden vermaß. Andererseits habe ich mir gedacht, bei einem Anthropologen sei das nichts Außergewöhnliches.“173

Beger selbst erklärte gegenüber dem Untersuchungsrichter Dr. Düx am 11.12.1961: „Die anthropologischen Untersuchungen in Bezug auf jüdische Typen erregten nicht mein primäres Interesse. Ich hatte davon gehört, dass in Auschwitz auch russische Kriegsgefangene waren. Ich hoffte deshalb, dort innerasiatische Typen zu finden, denen mein besonderes Fachinteresse galt. Meines Erachtens habe ich besonders aus diesem Grunde Herrn Gabel mitgenommen, damit er von diesen Innerasiaten Gesichtsabdrücke fertigen konnte. Ich hatte mir von der Lagerleitung eine besondere Genehmigung geben lassen, um nach solchen innerasiatischen Typen zu forschen. Ich weiß zwar nicht mehr mit Sicherheit, ob ich eine solche Genehmigung eingeholt habe, aber wahrscheinlich wird es so gewesen sein, denn in den beiden mir zur Verfügung gestellten Blöcken waren solche innerasiatischen Typen nicht zu finden. […] Ich nehme an, dass 20 Abdrücke genommen worden sind. Die vier Innerasiaten haben Gesichtsabdrücke abgenommen bekommen. Bei den Juden beschränkten wir uns auf besonders markante Typen.“174

Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Gabel ausschließlich die Köpfe abformte, aber keine ganzen Körper, wie der Lagerälteste im Krankenbau von Auschwitz, Wörl, bezeugte: „Gabel fertigte in Auschwitz Gesichtsplastiken an.“175 Der Häftlingsschreiber im Krankenbau, Reineck sagte über die Untersuchungen von Beger, Fleischhacker und Gabel aus: „Sie führten im Freien an den Häftlingen mit zirkelartigen Instrumenten Kopfmessungen durch. […] Häftlingsärzte haben erzählt, es habe sich bei der Kommission um Anthropologen gehandelt, die rassenkundliche Messungen vorgenommen hätten. […] Nachdem der Transport nach Natzweiler bereits abgegangen war, haben wir durch irgendeine Verbindung erfahren, dass die Häftlinge für eine Skelettsammlung in Straßburg verwendet werden sollten.“176

An dieser Aussage sind zwei Dinge bemerkenswert: Einerseits wurde abermals bezeugt, dass sich Beger nicht mit den ganzen Skeletten befasste, 173  Ebd.,

S. 52 ff. (Hervorhebung durch den Verfasser). Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Beger vom 11.10.1961, S. 114 (Hervorhebungen durch den Verfasser). 175  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 54. 176  Ebd., S. 55. 174  HStA



III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf333

sondern nur mit den Schädeln. Dies haben auch andere Zeugen übereinstimmend ausgesagt. Andererseits will der Zeuge von einer Skelettsammlung erfahren haben. An dieser Stelle sei eingefügt, dass die Medienberichterstattung über die Schädelsammlung nach dem Kriege viele Menschen erreichte, so dass nach rund 20 Jahren derartige aussagepsychologische Unschärfen bei Zeugen auftreten können. Auch wenn das Gericht Beger nicht nachweisen konnte, dass er zu diesem Zeitpunkt schon wusste, dass die von ihm ausgewählten Häftlinge ermordet werden sollten, so ist es doch bemerkenswert, dass Beger im Nachhinein behauptete, dies nicht gewusst zu haben, obschon dies trotz Geheimhaltung sogar die Häftlinge wussten. Reineck sagte weiter aus, dass die ausgewählten Häftlinge nicht aus dem Krankenbau stammten, sondern aus dem ganzen Lager zusammengesucht wurden.177 Fleischhacker beschrieb, wie die Arbeit vonstatten ging: „In Auschwitz traf ich Dr. Beger und Herrn Gabel an, die bereits vor mir dort eingetroffen waren. Ich habe mit ihnen zusammen in dem Hotel gegenüber dem Bahnhof gewohnt. In den nächsten Tagen haben wir in einem Raum in einer Baracke etwa 100 Personen, nach den Akten sollen es 115 gewesen sein, anthropologisch untersucht. Bei diesen Untersuchungen war meiner Erinnerung nach auch ein Häftling zugegen, der die zu untersuchenden Personen aus einem Nebenraum zugeführt und dann laufend ausgetauscht hat. Diese Untersuchungen umfaßten Messungen an Kopf und Gesicht, wichtige Körpermaße wie Größe und Spannweite usw., aber auch die Bestimmung der Haut-, Haar- und Augenfarbe mit Hilfe von Bestimmungstafeln und die Bestimmung von zahlreichen morphologischen, also Formmerkmalen, wie etwa Kopfform, Stirnform, Hinterhauptform, Nasenform, Mund, Ohr, usw. Es handelte sich dabei um ein normales anthropologisches Untersuchungsprogramm, wie es üblicherweise bei Reihenuntersuchungen angewandt wird und wie es auch für die geplante Kaukasusexpedition vorgesehen war, und in den Untersuchungsbögen festgelegt war. Die Untersuchungen habe ich gemeinsam mit Dr. Beger durchgeführt. Wir haben dabei fortlaufend diskutiert und unsere Ergebnisse verglichen, uns auch über mögliche Verbesserungen der Untersuchungsbögen unterhalten. Durch dieses Verfahren und nur dadurch ist der große Zeitaufwand erklärbar, der für die Untersuchung von nur 115 Personen nötig war. Bei normalen Reihenuntersuchungen rechnet man etwa mit 10 Minuten für die Untersuchung einer Person. […] Es hätte also, wenn es sich dort in Auschwitz nur darum gehandelt hätte, eine solche Reihenuntersuchung anzustellen, ein einziger Anthropologe in der aufgewandten Zeit bequem erheblich mehr Personen untersuchen können.“178

177  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Reineck vom 15.1.1962, S. 131. 178  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34152 Prozessakte Beger, Protokoll Fleischhacker, S.  1376 ff.

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D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

Aufgrund der Gefahr einer neuen Fleckfieberepidemie kürzte Beger seinen Aufenthalt ab und ließ Gabel und Fleischhacker allein zurück. Als er Auschwitz am 15.6.1943 verließ,179 reiste Beger zu seiner Familie, die seit März 1943180 – nach einem Bombenschaden an ihrem Wohnhaus in der Gräfstraße 28181 in München-Pasing – nach Rüthnick in der Mark evakuiert war und dort bei Begers Mentor Clauß lebte.182 Beger war also vom 6. bis zum 15.6.1943 in Auschwitz gewesen und hatte dort vom 10. bis 15.6.1943 gemeinsam mit Fleischhacker Vermessungen vorgenommen. Am 16.6.1943 erstattete Beger Sievers persönlich beim Ahnenerbe in Berlin-Dahlem Bericht über den Stand des Vorhabens,183 wie dessen Diensttagebuch zeigt184 und Sievers auch in Nürnberg bestätigte.185 Von Rüthnick aus fuhr Beger weiter in Richtung München.186 Dabei besuchte er am 18.6.1943 die Kassenverwaltung des Ahnenerbes, wo ihm laut handschriftlicher Quittierung auf der Reisekostenabrechnung Geld ausbezahlt wurde. Wolf-Dietrich Wolff nahm in einer Vernehmung nach dem Krieg an, dass Beger bei diesem Besuch die Liste mit den Namen und Nummern der zur Verlegung nach Natzweiler anzufordernden Häftlinge aus Auschwitz mitgebracht habe. Diese habe er dann der Sekretärin Heydel zur Abschrift übergeben – was diese im Beger-Verfahren bestätigte –, so dass die Häftlinge damit bei Eichmann angefordert werden konnten.187 Das Landgericht Frankfurt am Main sah es als erwiesen an, dass Beger mittels eines nicht überlieferten Berichtes „von Berlin aus“ am 16.6.1943 Hirt über die Ereignisse in Auschwitz und die nächsten Schritte 179  HStA

S. 15.

Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Urteil vom 6.4.1941,

180  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34152 Prozessakte Beger, Protokoll Beger, S. 1354. 181  BArch NS 21 / 238, Schreiben vom Ahnenerbe an die Kasse Persönlicher Stab vom 30.9.1942. 182  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Beger vom 11.10.1961, S. 115. 183  Lang, Nummern, S. 118: Hier wird festgestellt, Beger sei am 16.6.1943 in Berlin eingetroffen. Fest steht, dass seine Bahnreise am 15.6.1943 auch über Berlin führte. Für einen Aufenthalt gibt es keinen Beleg, und auch die telefonische Meldung an Sievers am 16.6.1943 spricht gegen einen persönlichen Vortrag in Berlin. Das Diensttagebuch hingegen verzeichnet keinen Zusatz „fernmündlich“, so dass hier zwar der Eindruck des persönlichen Vorsprechens nahe liegt, es jedoch aufgrund der Gesamtumstände nicht wahrscheinlich ist. 184  BArch NS 21 / 53 Diensttagebuch Sievers vom 16.6.1943. 185  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34150, Aussage Taylor über Sievers vom 9.12.1946, S. 789. 186  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussageergänzung Beger vom 18.12.1961, S. 128. 187  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34148 Prozessakte Beger, Vernehmung Wolff vom 5.11.1963, S. 243 / 20.



III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf335

informierte. Es ist daher unklar, ob Beger Hirt am 16.6.1943 von Rüthnick aus informierte oder er dies erst am 18.6.1943 von Berlin aus tat. Als voraussichtliches Ende der Reise wurde auf der Reisekostenabrechnung vom 18.6.1943 der 19.6.1943, 23 Uhr, angegeben.188 Auf dem Weg nach München am nächsten Tag, dem 19.6.1943, unterbrach Beger seine Reise in Leipzig, wo er laut Abrechnung mit „Schubert und Beckstädt189“ sprechen wollte.190 Johannes Schubert war Bibliothekar an der Universitätsbibliothek Leipzig. Sein wissenschaftliches Spezialgebiet war die Tibetologie. Nachdem der über tibetische Grammatik promovierte Schubert sich als einziger europäischer Tibetologe neben dem Italiener Tucci im Jahre 1940 angeboten hatte, in der Forschungsstätte Innerasien und Expeditonen Schriftzeugnisse der Tibet-Expedition auszuwerten, begann ein langwieriges Procedere:191 Sievers, Schäfer, Beger und Schubert versuchten in langen – von Hartmut Walravens kommentiert herausgegebenen – Briefwechseln, Schubert für das Reichsinstitut Sven Hedin und das Sonderkommando „K“ von der Universität Leipzig loszueisen.192 Trotz aller Bemühungen Schuberts, einschließlich einer freiwilligen Meldung zur Waffen-SS, gelang es Sievers nicht, dass Schubert von seiner Tätigkeit freigestellt oder von der Universität entlassen wurde.193 Anfang 1944 berichtete Sievers Beger, welche neuerlichen Wege er gegangen sei, um die Überstellung Schuberts zur Waffen-SS zu erreichen.194 Auch Sievers’ Versuche, Schubert beurlauben zu lassen, waren nicht erfolgreich.195 Noch im Sommer 1944 unternahm Sievers ohne Erfolg weitere Versuche, den Tibetologen Schubert für das Ahnenerbe zu gewinnen.196 Schubert half von Leipzig aus Beger und Schäfer bei vielen Übersetzungen aus dem Tibetischen, so auch eines Briefes des Regenten von Tibet an Hitler. Schäfer behauptete allerdings nach 1945, die SS habe die Weitergabe des Briefes unter-

188  HStA

Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 135a. der Reisekostenabrechnung ist der Name „Bechstätt“ geschrieben. Es dürfte sich um den Philatelisten Alfred Beckstädt gehandelt haben, der zu dieser Zeit eine Ausstellung vorbereitete, in der unter anderem bislang nie gezeigte Briefmarken aus Tibet ausgestellt werden sollten. 190  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 135a. 191  Kaufmann, Tibet, S. 336. 192  Walravens, Schubert, S.  165 f. 193  BArch R 135 / 52, Schreiben von Wolff an SS-Oberabschnitt Elbe vom 4.3.1943. 194  Ebd., Schreiben von Sievers an Beger ohne Datum, mit Bezugnahme auf Begers Schreiben vom 30.12.1943. 195  NARA T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Einträge vom 23.7.1942, 30.9.1942, 31.10.1942 und BArch NS 21 / 53 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 5.4.1943. 196  BArch NS 21 / 238, Schreiben von Sievers an Beger vom 7.6.1944. 189  In

336

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

bunden.197 Walravens geht davon aus, dass Beger Schubert am 22.6.1943 auf der Rückreise von Auschwitz besucht hat.198 Dies ist jedoch ausweislich der Reisekostenabrechnung Begers und des Briefwechsels Begers mit Schubert nicht der Fall. Beger schrieb am 23.6.1943 an Schubert, dass er diesen in Leipzig nicht angetroffen habe,199 was dieser in einem Brief am 1.7.1943 bestätigte.200 Gegenstand dieses Briefwechsels waren Tibeter, insbesondere ein in Tibet geborener und nach Deutschland „ausgewanderter“ Tibeter, den Beger an dessen Wohnort Asperg besucht hatte, was er auch Schubert empfahl. Dabei dürfte es sich um den Hühnerzüchter und Kolonialwarenhändler August Langgo gehandelt haben, den der Forschungsreisende Albert Tafel im Jahre 1908 unter dem Namen sPu rgyal mit nach Deutschland gebracht hatte.201 Es darf aufgrund aller zeitlichen Dispositionen angenommen werden, dass Beger am Samstag, den 19.6.1943, den Zug Berlin–München am Hauptbahnhof in Leipzig verließ, um zur rund 15 Minuten entfernten Universitätsbibliothek zu gehen und mit einem der nächsten Züge weiter nach München zu reisen. Fleischhacker reiste am 17.6.1943 aus Auschwitz ab.202 Gabel reiste etwa drei Wochen nach seiner Ankunft in Auschwitz von dort ab. Es war ihm aufgrund des Ausbruchs der Fleckfieberepidemie nicht gelungen, Abformungen von allen ausgewählten Häftlingen, sondern nur von etwa 20 Personen zu nehmen. Den Rest ließ er zurück, ohne die Arbeiten in Auschwitz zu Ende zu bringen.203 Beger selbst schilderte seine Tätigkeit in Auschwitz gegenüber dem Leiter seiner Forschungsstätte, Ernst Schäfer, am Donnerstag, dem 24.6.1943, wie folgt: „Lieber Ernst, ich bin seit Sonnabend vergangener Woche zurück. Über meine Auschwitz-Ein­ drücke muss ich Dir noch mündlich im Einzelnen berichten. […] Gabel wird jeden Tag zurückkommen. Ich bin gespannt, ob er alle 26 Köpfe in der kurzen Zeit abformen konnte. Außerdem haben wir zwei Usbeken, einen usbekisch-tadschikischen Mischling und einen Tschuwaschen aus der Gegend von Kasan vermessen und abgeformt. So ganz nebenbei für unser Institut. Es handelt sich um gute Typen, Übergangsglieder von Inner- nach Ostasien. Der eine Usbeke, ein großer, gesunder 197  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr.  34151, Aussage Schäfer vom 26.7.1967, S. 1160. 198  Walravens, Schubert, S. 198. 199  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 146. 200  BArch R 135 / 44, Schreiben von Schubert an Beger vom 1.7.1943. 201  Kaufmann, Tibet, S. 29. 202  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 154, Reisekostenabrechnung Fleischhacker. 203  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Gabel vom 23.11.1962, S. 253.



III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf337 Naturbursche, hätte ein Tibeter sein können. Seine Sprechweise, seine Bewegungen und seine Art sich zu geben, waren einfach entzückend, mit einem Wort: Inner­ asiatisch.“204

An dem Schreiben fällt auf, dass Beger üblicherweise davon sprach, bestimmte Personen oder Typen abzuformen. Hier aber schrieb er, dass Gabel 26 Köpfe abformen sollte. Es bleibt unklar, ob es sich um Abformungen von lebenden Personen oder um Abformungen von deren abgetrennten Köpfen, wie in der Schädelsammlungs-Denkschrift beschrieben, handelte. In der Literatur sind viele Zahlen in Umlauf, wo die 115 ausgewählten Opfer verblieben sind und wie viele Abformungen gemacht wurden. Dieser zeitlich am nächsten zum Tathergang liegende Brief ist ein weiterer Schlüssel zur Ermittlung des Tatherganges: Beger wusste nicht, ob Gabel „alle 26 Köpfe“ würde abformen können. Offensichtlich waren 26 der Opfer für eine Abformung in Auschwitz ausgewählt worden. Es kann nur – wie sich im weiteren Zusammenhang zeigt – vermutet werden, dass diese Opfer in Auschwitz ermordet und die Köpfe nach einer Grobentfleischung zu Beger nach Mittersill gesendet wurden. Dies geschah dann wahrscheinlich in der Weise, die in der Schädelsammlungs-Denkschrift beschrieben wurde. Abzüglich dieser von Beger präzise genannten 26 Häftlinge verblieben 89 Häftlinge, die aufgrund des Abbruchs von Begers Arbeiten in Auschwitz nicht mehr bearbeitet werden konnten. Hans-Joachim Lang wies nicht nur die Namen der 86 nach Natzweiler verbrachten Opfer nach, sondern auch die Namen von drei Häftlingen, die während der Quarantäne in Auschwitz verstarben.205 Nur diese eine Kombination ist arithmetisch korrekt: 26 in Auschwitz Ermordete, 86 in Natzweiler Ermordete und drei zwischen der Auswahl durch Beger und dem Eintreffen in Natzweiler verstorbene Häftlinge ergeben eine Gesamtzahl von 115. Gabel bestätigte ungefähr die Anzahl dieser Abformungen in Auschwitz, die – wie Beger schrieb – noch nicht beendet waren, als dieser abreiste. Es fehlt zwar derzeit noch der Beleg, wie genau diese 26 von Beger separierten Opfer ermordet wurden, doch ist es wahrscheinlich, dass der Leiter der Auswahlgruppe in Auschwitz, Bruno Beger, genau 26 Häftlingen das Schicksal einer Ermordung in Auschwitz zugedacht hatte, die anderen jedoch für eine Verbringung nach Natzweiler disponierte. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass keiner der vier von Beger ausgesuchten Innerasiaten zur Ermordung nach Natzweiler gebracht wurde. Es gibt in Anbetracht der Quellenlage keinen Zweifel daran, dass Begers Interesse ausschließlich auf die Gewinnung von Schädeln dieser Bevölkerungsgruppe abzielte. Nachdem er 204  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 57 f. (Hervorhebungen durch den Verfasser). 205  Lang, Nummern, S. 242.

338

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

in Auschwitz nur vier statt 150 Innerasiaten zur Schädelgewinnung fand, wäre es schlüssig, dass er zunächst diese abformte, ermordete und dann bei Abbruch der Aktion halbherzig die zufälligen jüdischen Opfer zum Transport nach Natzweiler disponierte. Es wäre hingegen unwahrscheinlich, dass Beger die von ihm ausgesuchten Opfer in Auschwitz zurückgelassen hat und sie nach der Abformung wieder ins Lager integriert wurden. Doch mit den Abformungen aus Auschwitz hatte Beger noch keine Schädelsammlung in der Hand. Er schickte am 16.6.1943 ein Telegramm an Fleischhacker, in dem er diesen zu Hirt nach Straßburg befahl. Nicht nur das Telegramm ist erhalten, sondern auch der handschriftliche Entwurf Begers. Bemerkenswert ist nicht nur die Tatsache, dass es offenbar Beger war, der den Prozess und die Handelnden steuerte, sondern auch der Grund, weshalb Fleischhacker zu Hirt reisen sollte: „Sie erhalten den Auftrag […] nach Straßburg zu SS-HStuf. Prof. Hirt zu reisen, um diesen in dem bereits besprochenen Sinne über Art und Umfang der Untersuchungen zu unterrichten und ihm gegebenenfalls bei der weiteren Organisation zu helfen.“206

Es wäre lebensfremd anzunehmen, dass Hirt von einem im Rang unter ihm stehenden SS-Angehörigen über die anstehenden Untersuchungen hätte informiert werden müssen, wenn Hirt selbst diesen Plan entwickelt hätte. Ebenso lebensfremd ist die Vorstellung, dass ein rein anthropologischer Dienstleister Beger einen Untergebenen zu seinem Auftraggeber Hirt mit der Anordnung sandte, diesen über dessen eigenes Vorhaben zu unterrichten. Umgekehrt ergibt die Situation jedoch durchaus einen Sinn: Hirt als Dienstleister wird über die mit dem „Auftrag Beger“ zusammenhängenden Untersuchungen informiert, die – wie sich später zeigt – von Beger durchgeführt werden sollten. Für diese Untersuchungen mussten – ebenso wie für die Unterbringung und Verpflegung der Häftlinge – Vorbereitungen getroffen werden, bei denen Hirt möglicherweise als Kenner der lokalen Situation Unterstützung organisieren konnte. Sofern diese genannten Organisationsleistungen ein Entgegenkommen des anatomisch-präparatorischen Dienstleisters Hirt darstellten, wäre es für Beger sehr angezeigt gewesen, seine eigenen Kapazitäten zu nutzen, um Hirt dabei zu helfen. Also befahl Beger Fleischhacker, zu diesem Zweck nach Straßburg zu reisen. Fleischhacker selbst gab nach dem Krieg an, dass er mutmaßte, das von ihm übergebene Material, darunter die Messkarten, hätten zum Aufbau des Anthropologischen Instituts der Universität Straßburg dienen sollen.207 Es ist im Rahmen der Zeugenver206  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 58 (Hervorhebungen durch den Verfasser). 207  Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Fleischhacker vom 18.1.1963, S. 348.



III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf339

nehmung nicht immer klar gewesen, was Fleischhacker zugab, verschwieg oder falsch erinnerte. Allerdings ist seine Überzeugung, dass in Straßburg ein Anthropologisches Institut aufgebaut werden sollte, ein roter Faden in seinen Aussagen. Ausweislich des Vorlesungsverzeichnisses war ein solches Institut für die Reichsuniversität Straßburg tatsächlich vorgesehen.208 Fleischhacker war – wie seine Reisekostenabrechnung zeigt – vom 11. bis zum 17.6.1943 in Auschwitz, fuhr von dort nach Tübingen, von wo er am 22.6.1943 nach Straßburg reiste, wo er um 14:14 Uhr ankam. Am folgenden Tag reiste er um 14:40 Uhr aus Straßburg ab: „Ich bin in Straßburg zur Anatomie gegangen und habe dort die Unterlagen (Untersuchungsbögen) abgegeben, vermutlich bei einer Sekretärin oder sonstigen Angestellten der Anatomie. Diese wird mich zweifellos gefragt haben, wie ich erreichbar bin und wie lange ich in Straßburg bleibe. Ich habe geantwortet, daß ich nach Tübingen zurückfahre und am folgenden Montag mich in Berlin melden müsse. Ich habe dann in Straßburg übernachtet, vermutlich im Soldatenheim, und bin am nächsten Tag mittags nach Tübingen zurückgefahren.“209

Die Glaubwürdigkeit des zwischenzeitlich mitangeklagten Fleischhacker in Bezug auf seine Beteiligung in Straßburg ist mit Vorsicht zu betrachten. Der für Auschwitz beantragte – doch aus organisatorischen Gründen zu spät freigestellte – Rübel wurde ebenfalls zu diesem Termin nach Straßburg beordert, wie dessen Dienstreisebescheinigung zeigt.210 Erst eine Woche später, am 23.6.1943, rief Sievers Hirt an, und zwar „wegen Bearbeitung der Auschwitzer Ergebnisse und Durchführung der Schädel-Röntgenaufnahmen in Natzweiler“.211 Es ging also auch zu diesem Zeitpunkt immer noch um Schädel. Die hierfür notwendigen Röntgenfilme wurden aufgrund der Kurzfristigkeit vom Bürgerspital leihweise zur Verfügung gestellt, bis die von Wolff bei der Firma Aders beschafften Röntgenfilme als Ersatz eintrafen.212 Es wäre ungewöhnlich, wenn der Universitätsmitarbeiter Hirt eine Sammlung für und in der Universität anlegen wollte und dann die Universität nicht die dazugehörenden Verbrauchsmaterialien zahlte, sondern dies durch eine Abteilung einer Gliederung der NSDAP geschehen wäre. Wenige Tage nach Beendigung der Arbeiten in Auschwitz, am 21.6.1943, schrieb das Ahnenerbe an Eichmann: 208  Ebd., Vorlesungsverzeichnis Universität Straßburg vom Wintersemester 1944 / 45, S. 280 ff. 209  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34152 Prozessakte Beger, Protokoll Fleischhacker, S.  1376 ff. 210  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 59. 211  BArch NS 21 / 53 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 23.6.1943. 212  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34148 Prozessakte Beger, Vernehmung Wolff vom 5.11.1963, S. 247 / 24.

340

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

„Betrifft: Aufbau einer Sammlung von Skeletten Unter Bezugnahme auf dortiges Schreiben vom 29.9.1942 IV B 4 3576 / 42 g 1488 und die zwischenzeitlich in dieser Angelegenheit geführten persönlichen Besprechungen wird mitgeteilt, dass der mit der Ausführung obigen Sonderauftrages beauftragte Mitarbeiter der hiesigen Dienststelle, SS-Hauptsturmführer Dr. Bruno Beger, die Arbeiten am 15.6.1943 im KL Auschwitz wegen der bestehenden Seuchengefahr beendet hat. Insgesamt wurden 115 Personen, davon 79 Juden, 2 Polen, 4 Innerasiaten und 30 Jüdinnen bearbeitet. Diese Häftlinge sind z. Zt. getrennt nach Männern und Frauen in je einem Krankenbau des MKL213 Auschwitz untergebracht und befinden sich in Quarantäne. Zur weiteren Bearbeitung der ausgesuchten Personen ist nunmehr eine sofortige Überweisung an das KL Natzweiler erforderlich, was mit Rücksicht auf die Seuchengefahr in Auschwitz beschleunigt durchgeführt werden müsste. Ein namentliches Verzeichnis der ausgesuchten Personen ist beigefügt. Es wird gebeten, die entsprechenden Anweisungen zu erteilen. Da bei der Überweisung der Häftlinge nach Natzweiler die Gefahr der Seucheneinschleppung besteht, wird gebeten, umgehend zu veranlassen, dass seuchenfreie und saubere Häftlingskleidung für 80 Männer und 30 Frauen von Natzweiler nach Auschwitz gesandt wird.“214

An diesem Schreiben sind verschiedene Aspekte bemerkenswert. Zunächst einmal gibt es die Gewissheit wieder, dass von den 115 ausgewählten Opfern nur noch rund 110 für den Transport nach Natzweiler disponiert waren. Der „Aufbau einer Sammlung von Skeletten“ wird als Sonderauftrag bezeichnet, mit dem Beger als Mitarbeiter des Ahnenerbes beauftragt war. Weder findet Hirt eine Erwähnung, ebenso wenig wie die Reichsuniversität Straßburg oder deren Anatomie. Das Schreiben an Eichmann ging in Kopie an drei weitere Empfänger. Diese waren nicht nach Dienstgrad, Alter oder akademischem Grad gestaffelt, sondern wie üblich nach Wichtigkeit bei diesem Projekt: „a) SS-H’Stuf. Dr. Beger b) SS-H’Stuf. Prof. Dr. Hirt c) SS-Obersturmbannführer Dr. Brandt“. Ein nur hilfsweise eingesetzter Anthropologe wäre kaum an erster Stelle aufgeführt worden. Der im Schreiben erwähnte Brief Eichmanns an Sievers vom 29.9.1942 IV B 4 3576 / 42 g 1488 dürfte ein Schlüsseldokument zum gegenständlichen Verbrechen sein. Jedoch ist dieser bislang nicht aufzufinden gewesen. In der oben wiedergegebenen Befragung durch Sassen nach konkret diesem Dokument hatte Eichmann ausweichend geantwortet. Beger gab am 10.12.1961 während einer Vernehmung durch den Untersuchungsrichter Dr. Düx an, dass von den vier Innerasiaten mit Gewissheit Abdrücke genommen worden seien.215 In einer anderen Vernehmung sprach Beger davon, dass er die beiden Polen ausgewählt habe, da diese 213  MKL

= Männer-Konzentrationslager, FKL = Frauenkonzentrationslager. u. a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Anklagedokumentenband 9, S. 1256 (Dok. NO-087) (Hervorhebungen durch den Verfasser). 215  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Beger vom 11.10.1961, S.  111 ff. 214  Ebbinghaus / Dörner / Linne



III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf341

Züge von Kalmücken gehabt haben sollen.216 Im Beger-Prozess war der Urheber dieses Schreibens lange umstritten. Wolff stellte klar, dass er oft selbstständig Schreiben verfasste, die dann entweder von Sievers oder ihm selbst unterzeichnet in die Post gingen. Im konkreten Fall stritt Wolff jedoch ab, das Schreiben diktiert zu haben – da er genau deswegen angeklagt war –, räumte jedoch ein, dass auch in seinem Büro Schreiben in seiner Abwesenheit diktiert wurden, die dann auch das Diktatzeichen „SII“ oder „S2“ trugen.217 Schmitz-Kahlmann jedoch gab 1947 und 1960 an, dass Beger in den Räumlichkeiten des Ahnenerbes das Schreiben selbst diktierte.218 Dies hätte sich demzufolge am 18.6.1943 zugetragen, als Beger aus Rüthnick zum Ahnenerbe kam, die Abrechnung erledigte und die weiteren Schritte besprach, nachdem er bereits Fleischhacker nach Straßburg beordert hatte und nun noch Rübel für den Einsatz vor Ort benötigte. Die Sekretärin, die das Diktat aufnahm, Charlotte Heydel, gab im Beger-Prozess an, dass sie sich nicht mehr erinnere, ob Wolff oder Beger ihr diktierten. Sie schloss beide Möglichkeiten nicht aus. „Es kam, wie ich bereits oben erwähnt habe, gelegentlich vor, dass zu Besuch weilende Wissenschaftler mir etwas diktierten; ich weiß aber heute nicht mehr, ob das damals auch bei diesem Schreiben mit Dr. Beger der Fall war.“219 Dies bekräftigte sie später sogar noch einmal.220 Zwischenzeitlich hatte Beger auch Hirt über die bevorstehenden Aufgaben informiert. Dieser schrieb am 22.6.1943 an Sievers: „Heute erhielt ich ein Schreiben von Kamerad Beger über die Auschwitzer Angelegenheit. Danach warte ich auf Ihren Bescheid. Ich selbst kann, wie Sie wissen, z. Z. nicht für einige Tage nach Natzweiler kommen. Es wäre mir daher recht, wenn Obersturmführer Dr. Fleischhacker die Überführung und Beendigung des Verfahrens in Natzweiler überwachen könnte. Hier im Institut werden zur Aufnahme des Materials die entsprechenden Vorkehrungen getroffen. Die Durcharbeitung würde dann Zug um Zug erfolgen und sich vermutlich über die Sommerferien hinziehen. Da wir ja alles entsprechend konservieren können, ist es doch nicht so eilig. Die Skelettmontage221 kann erst erfolgen, wenn die Mazerationseinrichtung da ist. Ich nehme an, dass die Verhandlungen mit Natzweiler besser von Berlin aus 216  Ebd.,

Aussage Beger vom 1.4.1960, S. 21. Aussage Wolff vom 14.12.1960, S. 77. 218  Ebd., Aussage Schmitz vom 23.11.1960, S. 70. 219  Ebd., Aussage Heydel vom 6.2.1961. 220  Ebd., Aussage Heydel vom 21.2.1962, S. 142. 221  Auf den ersten Blick mag dies ein Hinweis sein, dass zwischenzeitlich der Plan von der Gewinnung von Schädelskeletten auf diejenige von Ganzkörperskeletten geändert wurde. Allerdings müssen auch Schädelskelette montiert werden, um alle beweglichen Teile – vom Unterkiefer bis zu den sehr kleinen Knochen im Gehörgang – an ihrem Platz zu halten. Somit ist der verwendete Begriff noch kein definitiver Beleg, dass statt des Skelettes des Kopfes – Schädelskelett – ein Ganzkörperskelett gefertigt werden sollte. 217  Ebd.,

342

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

geschehen, damit alles ordnungsgemäß durchgeführt werden kann. Hauptsturmführer Dr. Rübel und Obersturmführer Dr. Fleischhacker könnten dann in Natzweiler noch die Schädelröntgenaufnahmen anfertigen, falls das in Auschwitz noch nicht geschehen ist. […] Zum Transport hätte ich nur noch die Bitte, uns evtl., sofern möglich, Benzinscheine zu besorgen, da wir hier augenblicklich nur 25 l für den Leichenwagen zur Verfügung haben und damit die neuen Fahrten nicht ausführen können.“222

Dieses Schreiben Hirts enthält viele tatsächliche Hinweise. Hirt wartete auf einen Bescheid seines Vorgesetzten Sievers. Gleichzeitig lehnte er es ab, die „Beendigung des Verfahrens“, also auch den Mord, zu überwachen, und ging davon aus, dass dies Begers Mitarbeiter Fleischhacker erledigen würde. Ebenso war er in Unkenntnis über den Stand der Röntgenuntersuchungen. Wenn August Hirt Herr des Verfahrens und er für die Reichsuniversität Straßburg der Auftraggeber für eine Sammlung gewesen wäre, muss gefragt werden, warum er die „Objekte“ seiner Sammlung nicht selbst aussuchte. Ebenso muss gefragt werden, warum nicht seine Assistenten oder er als ausgebildete Mediziner das in Natzweiler offenbar vorhandene Röntgengerät bedienten und dies stattdessen dem – bis auf die kurze Zeit in Norwegen – röntgenologisch ungeschulten medizinischen Laien Beger und seinem Mit­ arbeiter Fleischhacker überließen. Wäre Hirt Auftraggeber und Herr des Verfahrens gewesen, müsste die Frage gestellt werden, warum er keine Kenntnis von zentralen Bestandteilen des Vorhabens (wie den Röntgenuntersuchungen) hatte und vor allem – weshalb er als auftragsgebende Universität beim Dienstleister Ahnenerbe rechtfertigte, wie lange er für die Bearbeitung und die Anfertigung der Skelette benötigen würde. Auch dieser Brief spricht für die Existenz des „Auftrages Beger“ und gegen eine Urheberschaft sowie eine prospektive Nutznießerschaft Hirts. Insbesondere ist an dieser Stelle auch auf den Umstand hinzuweisen, dass Hirt zehn Mitarbeiter hatte, darunter – im Gegensatz zu ihm selbst gesunde – Fachärzte für Anatomie und einen Präparator. Wer sich ein Denkmal mit einer Sammlung setzen will (wie einst Gustav Schwalbe), überlässt fremden Mitarbeitern kaum die Auswahl der „Ausstellungsstücke“, wenn die eigenen Mitarbeiter binnen weniger als einer Tagesreise Gleiches leisten können. Unklar ist, was Hirt mit „Zug um Zug“ gemeint hat. Unter Umständen war von Beger eine Gegenleistung für die Ausführung des Auftrages versprochen worden, die nach und nach erfolgen sollte. Deren Ausbleiben kann erklären, warum nie Skelette von den Leichen der Ermordeten angefertigt wurden, sondern in der Folgezeit nur von anderen Leichen der Anatomie. Es besteht – wie der weitere Verlauf zeigt – allerdings die Möglichkeit, dass tatsächlich 222  BArch

NS 21 / 901, Schreiben von Hirt an Sievers vom 22.6.1943.



III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf343

von einer kleinen Anzahl von Köpfen Schädelpräparate in Straßburg angefertigt wurden. Am 24.6.1943 richtete Wolff ein Fernschreiben an Beger, in dem es hieß, dass Fleischhacker sich am 30.6.1943 beim RuSHA melden solle, um seine Entlassungspapiere zu holen – die Versetzung zum RuSHA und die Kommandierung von dort zum Ahnenerbe war nur befristet bis zum 30.6.1943 erteilt worden – und die Vorbereitung seiner Versetzung zu melden.223 Fleischhacker wurde zur SS-Division „Das Reich“ versetzt und von dort zu einem Panzerlehrgang nach Bitsch kommandiert, wo auch Rübel bereits angekommen war. Ebenfalls am 24.6.1943 schrieb Schäfer an Beger als Antwort auf dessen Brief vom 11.6.1943: „Hoffentlich bist Du aus A. wieder zurückgekehrt, wenn dieser Brief in München ankommt. Ich würde es Dir jedenfalls wünschen, dass Du die Arbeit, namentlich wo Du noch die Unterstützung von Fleischhacker bekamst, auf schnellstem Wege erledigten könntest. Ich habe mich jedenfalls über Deinen Brief vom 11.6.1943 ganz besonders gefreut, da ich ziemlich viel an Dich dachte, zumal der Auftrag kein allzu angenehmer war. Fein, dass Du auch mongoloide Typen für uns herausgreifen konntest.“224

Nachdem Beger bereits vorher verschiedenste Ethnien vermessen, seine Abteilung in Schäfers Forschungsstätte für die Kaukasusexpedition Skalpelle geordert und er bereits damit begonnen hatte, die Vermessung von russischen Kriegsgefangenen in Lagern vorzubereiten, bleibt die Frage, was Schäfer gemeint haben könnte, wenn er sich sicher war, dass dieser Auftrag in Auschwitz kein allzu angenehmer war. Vielleicht war ihm unwohl bei dem Gedanken an ein Konzentrationslager. Doch auch andere Forschungsstätten des Ahnenerbes waren in Konzentrationslagern angesiedelt und wurden von Schäfer besucht. Er drehte persönlich sogar einen Film über Raschers töd­ liche Unterdruckversuche im Konzentrationslager Dachau, bei dem ihm offenbar nicht unwohl war.225 Demnach ist anzunehmen, dass er wusste, dass Beger nicht nur für Vermessungen in Auschwitz war, sondern um etwas zu tun, was mehr Unwohlsein verursachte als die Anwesenheit und Verfilmung des grausamen Todeskampfes von KZ-Häftlingen. Schäfer selbst gelang es nach 1945, der Beantwortung dieser Frage im Beger-Prozess auszuweichen. Am 4.7.1943 schickte Fleischhacker seine Reisekostenabrechnung an Wolff und dokumentierte hierbei die Zeiten, insbesondere bezüglich des Aufenthaltes in Straßburg. Die Abfahrt in Tübingen 223  BArch

NS 21 / 901, Fernschreiben von Wolff an Beger vom 24.6.1943. Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 150 (Hervorhebung durch den Verfasser). 225  NARA T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 19.6.1942. 224  HStA

344

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

erfolgte erst am Mittag, da Fleischhacker zuvor die Probevorlesung im Rahmen seines Habilitationsverfahrens abhielt:226 „Bezugnehmend auf unser Ferngespräch am vergangenen Dienstag übersende ich Ihnen nachfolgend die für Abrechnung der Reisekosten notwendigen Angaben. Bahnfahrten: Tübingen ab Berlin an

9.6.43 10.6.43

13,34 Uhr 6,09 Uhr

Berlin ab Auschwitz an

10.6.43 11.6.43

21,24 Uhr 8,40 Uhr

Auschwitz ab Tübingen an

17.6.43 18.6.43

9,44 Uhr 14,08 Uhr

Tübingen ab Strassburg an

22.6.43 22.6.43

8,30 Uhr 14,14 Uhr

Strassburg ab Tübingen an

13.6.43 23.6.43

14,40 Uhr 20,55 Uhr

Tübingen ab Berlin an

28.6.43 29.6.43

13,34 Uhr 9,48 Uhr

Ich war also folgende Zeiten für das Ahnenerbe unterwegs 9.6.1943 13,34 Uhr–18.6.43 14,03 Uhr 22.6.1943 8,30 Uhr–23.6.43 20,55 Uhr 28.6.1943 13,34 Uhr–29.6.43 9,48 Uhr“.227

Damit ist belegt, dass Fleischhacker nicht nur in Auschwitz war, sondern auch in Straßburg und vor allem, dass er beide Einsätze auch im eigenen Erleben für das Ahnenerbe absolvierte und nicht für die Universität Straßburg oder das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung der SS. Am 7.7.1943 antwortete Wolff dem erneut erkrankten Hirt – der zuvor mitteilte, zu krank zu sein, um selbst einige Tage nach Natzweiler zu fahren – und teilte diesem mit, dass alle weiteren Arbeiten für die Überführung der Häftlinge von der Ahnenerbe-Zentrale erledigt würden. Der Betreff und die Einleitung des Schreibens wecken abermals Zweifel daran, dass Hirt Planer und steuernde Kraft der Aktion war: „Betreff: Auschwitzer Angelegenheit Bezug: Dort. Schreiben vom 22.6.1943 Anlg.: 50 Liter Brennstoff in Tankscheinen 226  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr.  34152 Prozessakte Beger, Stellungnahme Fleischhacker, S. 1375. 227  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 154.



III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf345 Wie bereits fernmündlich mitgeteilt, werden alle Arbeiten für die Überführung der Häftlinge aus Auschwitz nach Natzweiler von hier aus durchgeführt. Eine beschleunigte Überführung des ausgesuchten Personenkreises ist z. Zt. jedoch nicht möglich, da die Häftlinge noch ca. 2–3 Wochen in Quarantäne bleiben müssen. Bis zu diesem Zeitpunkt wird auch die von Natzweiler angeforderte neue Anstaltskleidung in Auschwitz eingetroffen sein. SS-Hauptsturmführer Dr. Beger wird, sobald die Häftlinge in Natzweiler eingetroffen sind, die Arbeiten Dr. Rübels übernehmen. Darüber hinaus wird versucht, SS-Obersturmführer Dr. Fleischhacker freizubekommen, der dann in Natzweiler noch die Schädelröntgenaufnahmen anfertigen könnte. Für die Überführung von Natzweiler nach Straßburg werden zunächst als Anlage 50 Liter Brennstoff in Tankscheinen überreicht. Um beschleunigte Fertigstellung der bei Firma Bergmann und Altmann in Auftrag gegebenen Mazerationseinrichtung ist nochmals nachgesucht worden. Sie werden über den Fortgang der Angelegenheit auf dem laufenden gehalten.“228

In diesem Schreiben finden sich diesbezüglich zwei wesentliche Hinweise: Die Anträge auf genaue Abfahrts- oder Ankunftstermine der Häftlingstransporte wurden nicht von Hirt verantwortet, sondern von der Ahnenerbe-Zentrale. Diese rechnete alle Aufwendungen des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung und seiner Abteilung H über die Waffen-SS ab. Hierzu stellte Hirt monatlich sämtliche Belege zusammen und sandte sie mit einer Aufstellung zum Ahnenerbe229. Dies wäre auch mit Brennstoffkosten für den Leichenwagen der Universitätsanatomie möglich gewesen, die die Abteilung H der Universität sodann hätte erstatten können. Aber der Brennstoff wurde offenbar weder über die Universität noch über das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung und damit die Waffen-SS abgerechnet. Dies spricht aus buchhaltungstechnischen Gründen dafür, dass es sich bei der Aktion nicht um ein Vorhaben von Hirt und damit des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung handelte, sondern um das Vorhaben einer anderen Ahnenerbe-Abteilung, beispielsweise der Forschungsstätte Innerasien und Expeditionen. Bemerkenswert ist ebenfalls, dass nach Auswahl der Häftlinge in Straßburg immer noch keine Mazerationseinrichtung vorhanden war. Eines der wichtigsten Dokumente bezüglich der Identifikation der Urheberschaft und Interessenlage der Beteiligten ist ein Schreiben von Beger an Sievers vom 9.7.1943: „Betrifft: Sonderauftrag Auschwitz. Standartenführer! Herr Gabel ist nun schon wieder beinahe 14 Tage nach der Untersuchung in Auschwitz in München. Er hat die Köpfe von 20 Häftlingen abgeformt, die ich auswählte und untersuchte. Er berichtete mir, daß sich die Zahl der Untersuchten durch Todesfälle bereits wieder vermindert hat. Die Kopfabformungen von ihm sind 228  BArch 229  BArch

NS 21 / 901, Schreiben von Wolff an Hirt vom 7.7.1943. NS 21 / 507, Abrechnung Abteilung „H“ September 1943.

346

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

ausgezeichnet geworden. Dies ist zuletzt auch auf die gute Unterstützung durch die Kommandantur des KL. Auschwitz und darauf zurückzuführen, daß sich zur Hilfeleistung bei den Abformungen und Messungen Häftlinge fanden, die sich außerordentlich geschickt anstellten. Vielleicht könnten Sie der Kommandantur des KL Auschwitz in einem Schreiben noch einen besonderen Dank abstatten und dabei auch erwähnen, daß sich folgende Häftlinge durch ihre Geschicklichkeit und ihr Verhalten besonders bewährten und um die Sache verdient machten: 1. Häftling Nr. 112118 Adolf Laatsch, Blockältester im Block 28, 2. Häftling Nr. 36028 Kasimir Kott, Orthopäd. 3. Häftling Nr. 60363 Ludwig Wörl, Ältester des Krankenblockes, 4. Häftling Nr. 15586 Josef Weber, polnischer med Student, auch Anthropologie. Die restlose Fertigstellung der Köpfe, die von Herrn Gabel im Lager Auschwitz abgeformt wurden, muß bald zum Abschluß gebracht werden, da das gesamte Material in Straßburg für die weitere Bearbeitung zur Verfügung und griffbereit stehen muß. Wie mir Herr Gabel sagte, braucht er für diese künstlerisch saubere Fertigstellung, wenn er allein daran arbeitet, mindestens ein Jahr und das auch nur, wenn er nur daran arbeitet und an nichts anderem. […] Auf die Bedeutung, fremdrassige Kriegsgefangene jetzt anthropometrisch und durch Abformungen zu erfassen, ist im Laufe dieses Krieges schon von den meisten Anthropologen hingewiesen. […] worden. Von den Anthropologischen Instituten in Berlin, München und Wien ist mir bekannt, daß solche Untersuchungen und Abformungen sogar durchgeführt wurden. Im Interesse unserer Forschungen läge es, besonders Kriegsgefangene aus Inner- und Nordasien, sowie aus Stämmen des europäischen Rußlands, die in ihrer rassischen Zusammensetzung ein Übergangsglied von der europiden zur mongoloiden Rasse bilden, anthropometrisch und durch Messungen und Abformungen jetzt zu erfassen. Bevor aber an die Durchführung einer solchen Arbeit gedacht werden kann, müssen genügend und gute Hilfskräfte dafür herangebildet sein. Ich bitte Sie darum, Ihre grundsätzliche Zustimmung zur Inangriffnahme dieser Arbeiten in Kriegsgefangenenlagern zu geben. Diese Arbeit könnte natürlich erst nach Fertigstellung all der bereits aufgeführten Arbeiten – das bedeutet gleichzeitig nach Ausbildung und Einarbeitung der neugewonnenen Hilfskräfte – in Angriff genommen werden.“230

Dies kommentierte Sievers handschriftlich auf dem Brief mit: „Die Fertigstellung braucht doch jetzt nicht fertiggestellt [sic!] werden.“ Und: „Wäre eigentlich nicht nötig gewesen, bei allem Verständnis.“231

Es zeigt sich also, dass Beger ein Interesse an einem raschen Ergebnis hatte, das Sievers selbst jedoch nicht als so wichtig erachtete. Begers Ausführungen geben zudem einen Hinweis auf die Frage, ob Hirts Mitarbeiter 150 ganze Skelette oder auch nur Schädel neben ihren Dienstaufgaben in der 230  BArch NS 21 / 901, Schreiben von Beger an Sievers vom 9.7.1943 (Hervorhebungen durch den Verfasser). 231  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Sachverständigengutachten Karpenstein vom 12.1.1963, S. 167 f.



III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf347

Universität hätten fertigen können. Begers Augenmerk lag ausweislich seines Schreibens auf der Fertigstellung der Köpfe, von denen Gabel Abformungen gemacht hatte. Was genau an diesen Köpfen fertiggestellt werden sollte, damit das Ergebnis mit den Abformungen korrespondierte, ließ Beger hier noch offen. Abermals wies Beger auf sein vorrangiges Forschungsgebiet der Innerasiaten hin und stellte den unmittelbaren Zusammenhang mit seinem Einsatz in Auschwitz her. Ebenso brachte er die Abformungen in Zusammenhang mit seinem nächsten Vorhaben, das er für weitere Kriegsgefangenenlager plante und dann auch umsetzte. Es ist bemerkenswert, dass dies unter dem Eindruck geschah, dass er mit Bedauern erlebt hatte, dass die zuvor und auch hier beschriebene Forschungszielgruppe in Auschwitz kaum vorhanden war. Die aussagekräftigste Stelle des Briefes ist jedoch der Hinweis Begers, dass die abgeformten Köpfe und Untersuchungsbögen rasch in Straßburg griffbereit sein müssten. Es ist offensichtlich, dass der nach Straßburg reisende Beger dort für etwas Bestimmtes die in Auschwitz gefertigten Mate­ rialien benötigte. Was dies war, verschwieg Beger im Prozess. Die Tatsache, dass er die äußere Abformung der Köpfe benötigte, um die weiteren Arbeiten durchzuführen, spricht für das Vorhaben, dass diese mit den Abformungen der Schädel verglichen werden sollten. Zudem zeigt auch dieser Brief unzweifelhaft, dass das Interesse Begers nach wie vor auf der Gewinnung von Köpfen von Menschen aus Asien lag, um seine Theorie der Wanderungsbewegung von Innerasien nach Europa zu bestätigen. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass Beger in der gesamten Korrespondenz zum Thema Schädelsammlung nicht einen Hinweis gab, was er in Bezug auf Juden an­ thropologisch bearbeiten oder beweisen wollte. Auch im Zusammenhang mit Auschwitz schrieb er nie von Juden. Die einzige von Beger zwischen 1941 und 1945 verfolgte These auf dem Gebiet der Anthropologie war schließlich die Absicht, Wanderungsbewegungen von Tibet nach Europa nachzuweisen. Pressac hat beschrieben, wo die für den Transport nach Natzweiler vorgesehenen Häftlinge in Quarantäne gehalten wurden: „Berger’s (!) mission to Auschwitz lasted from the 7 to the 15 June 1943. After having been selected, the prisoners were measured and photographed; then the 85 men were quarantined in blocks 21 and 28, and the 30 women in block 10, to await their transfer to Struthof, which took place on the 30 July 1943 (bill of indictment, pp 50–58; deposition by Ludwig Wörl of the 3 January 1963).“232

Die Quarantäne in Konzentrationslager Auschwitz bestätigte auch Professor Dr. Wladyslaw Fejkiel, der als Häftling ärztliche Aufgaben im Lager wahrnahm.233 Am 11.7.1943 fragte Wolff per Fernschreiben beim „Komman232  Pressac,

Struthof, S. 14. Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34182 Prozessakte Beger, Aussage Fejkiel vom 26.1.1971, S. 46. 233  HStA

348

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

deur des KL Auschwitz“ an, wann der „Transport nach Natzweiler für ‚Amt Ahnenerbe‘ spätestens erfolgen wird“.234 Auch in diesem Fall ging die Anforderung von Auschwitz nicht von dem kriegswichtigen, von der Waffen-SS finanzierten Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung aus, sondern vom Ahnenerbe, was eine Nutznießerschaft der Abteilung H ausschließt und auf die Forschungsstätte Innerasien als Nutznießerin hinweist. Sievers teilte dem Kommandanten von Auschwitz den Abschluss der Arbeiten am 22.7.1943 mit und führte all jene Beteiligten lobend auf, die Beger auch ihm gegenüber gelobt hatte: „Mein Sachbearbeiter, SS-Hauptsturmführer Dr. Beger, meldet mir den erfolgreichen Abschluss seiner anthropologischen Arbeiten im Konzentrationslager Auschwitz.“235

In Bezug auf den Betreff – Aufbau der Sammlung – ist die Benennung Begers als Sachbearbeiter bemerkenswert. Am 14.7.1943 schrieb Hirt an die Ahnenerbe-Zentrale als Antwort auf ein nicht überliefertes Schreiben von dort, das vom 9.7.1943 datiert: „… habe davon Kenntnis genommen, dass zunächst Hptstf. Dr. Beger für die Durchführung der Versuche anzufordern ist.“236

Auch dieses Schreiben stärkt nicht die These vom Urheber und Leiter des Vorhabens „Schädelsammlung“ August Hirt. Wie in den meisten seiner Briefe in dieser Sache ist zu erkennen, dass Hirt auf kurzfristige Anordnungen reagierte. Es wird an diesen Details immer wieder deutlich, dass Hirt über das Gesamtvorhaben, den Zeitplan und das Vorgehen zumeist im Unklaren war. Nachdem er das Schreiben verschickt hatte, erhielt Hirt Besuch von Josef Kramer, dem Kommandanten des Konzentrationslagers Natzweiler, der ihm mitteilte, dass der ihm vom RSHA erteilte Mordauftrag nicht durchführbar sei. Daraufhin schrieb Hirt am selben Tag erneut an das Ahnenerbe und teilte die Ursache für den zwischenzeitlichen Stillstand mit: „Vom dortigen Schreiben Kenntnis genommen, teile ich mit, dass nach Mitteilung des Lagerkommandanten insofern eine Schwierigkeit aufgetaucht ist, als dass das Material zur Vergasung nicht vorhanden ist. Ich bitte Sie bei den diesbezüglichen Stellen zu veranlassen, dass die entsprechenden Stoffe zur Verfügung gestellt werden, da sonst die Sache nicht durchgeführt werden kann.“237

234  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, S. 162, Fernschreiben von Wolff an KL Auschwitz vom 11.7.1943. 235  BArch NS 21 / 901, Schreiben von Sievers an KZ Auschwitz vom 22.7.1943. 236  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 163. 237  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 65, Schreiben Hirts an Ahnenerbe vom 9.7.1943.



III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf349

August Hirt war erfahren in der Planung und Durchführung wissenschaftlicher Projekte. Es wäre bemerkenswert, wenn er seit Dezember 1941 eine bestimmte Tötungsmethode zur Ermöglichung prä- und postmortaler Abformungen plante und kurz vor dem Ereignis zwei Jahre später von einem Dritten eine Mitteilung erhält, dass versäumt wurde, das Tötungsmittel zu beschaffen. Wichtig für die weitere Beurteilung ist jedoch, dass Hirt weder vorher ein Tötungsmittel bestellt hatte noch selbst eines herstellte, sondern nach Kramers Anforderung für diesen ein solches bei Sievers’ Büro anforderte. Dies forderte er jedoch nicht zu seinen Händen an – er teilte den von Kramer gemeldeten Mangel lediglich dem Ahnenerbe mit und empfahl dort, Abhilfe zu veranlassen. Am 22.7.1943 schrieb Wolff an Hirt: „Betr.:

Aufbau einer Sammlung

Bezug:

Dortiges Schreiben vom 14.7.1943

Die Überführung von Auschwitz nach Natzweiler erfolgt bereits in den nächsten Tagen und wird durch Fernschreiben bezw. fernmündlich bekannt gegeben. Bezüglich der Beschaffung des für die Bearbeitung notwendigen Materials werde ich Sie nächste Woche aufsuchen.“238

Dies bezieht sich auf die fehlende Chemikalie zur Vergasung, für die Wolff eigens 800 Kilometer von Berlin nach Straßburg reiste. Dies geschah zwischen dem 26. und 29.7.1943.239 Es ist offenkundig, dass Wolff die Anregung Hirts aufgriff, bei den „diesbezüglichen Stellen“ der SS in Berlin ein Blausäureprodukt zu beschaffen, und dieses persönlich nach Straßburg brachte.240 Es ist belegt, dass der Transport von Giftstoffen nur durch SS-Führer als Kurier erfolgen durfte.241 Schon wenige Tage später sandte Wolff ein Telegramm an Hirt: „Transport Auschwitz-Natzweiler 30.7. ab. Dr. Beger verständigt.“242

Dieses Telegramm bedeutete, dass Beger nun nach Natzweiler fahren sollte, wie Wolff im Prozess bestätigte.243 Wolff telegraphierte noch am selben Tag an Beger:

238  BArch 239  HStA

S. 19.

NS 21 / 901, Schreiben von Sievers an Hirt vom 22.7.1943. Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Urteil vom 6.4.1971,

240  Pringle,

Masterplan, S. 263. Bad Arolsen: Schreiben Sievers an Löhausen vom 6.7.1944, Doc. No. 82227324#1 (4.2 / 0007 / 0154) Archivnummer: 3786, ITS Digitales Archiv. 242  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34166 Prozessakte Beger, S. 145, Telegramm von Wolff an Hirt vom 30.7.1943. 243  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Wolff vom 7.11.1962, S. 213. 241  ITS

350

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

„Transport ab Auschwitz 30.7. Setzen Sie sich mit Hirt wegen Arbeitsaufnahme in Verbindung. Ankunft Transport Natzweiler vermutlich 2.8.“244

Beide Telegramme offenbaren abermals, wer der federführend handelnde Wissenschaftler war. Danach ist in Bezug auf die weiteren Ereignisse zunächst kein Zeugnis von Hirt mehr erhalten. Er war ausweislich anderer Schriftstücke erkrankt und bereitete sich auf die Abreise zur Kur in St. Lambrecht in der Steiermark vor. Der Aufenthalt war für die gesamten Semesterferien bewilligt, also mindestens für die Monate Juli und August.245 Für die Ermöglichung dieses Genesungsaufenthaltes hatte sich Hirt bereits am 29.6.1943 bedankt, da er im September mit Professor Stein nach Frankreich fahren müsse und sich dabei nicht vertreten lassen könne. Mit keinem Wort erwähnte er, dass seine Abwesenheit erst in der Steiermark und dann in Frankreich mit dem Termin der Ankunft der 86 Opfer kollidiere – ganz offensichtlich kannte Hirt auch zum damaligen Zeitpunkt keine Details des Plans bezüglich des weiteren Vorgehens mit den Opfern. Allerdings erwähnte er, dass er starke Leibschmerzen habe. Ebenso gab er keinen Hinweis, dass diese sein Projekt vor der Abreise nach St. Lambrecht gefährden könnten – sondern verwies nur auf den Einsatz in Frankreich, der gefährdet gewesen wäre, wenn es keine Kur gegeben hätte.246 Es sollen 86 Personen aus Auschwitz mit verschiedenen Transporten nach Natzweiler gelangt sein. Der erste soll am 30.7.1943 Auschwitz verlassen haben, wobei die Transporte jedoch erst in der Woche vom 7. bis 14.8.1943 in Natzweiler eingetroffen sein sollen.247 In Natzweiler wurden zweifelsfrei am 2.8.1943 in nur einer Ankunft 86 Personen im Lager aufgenommen. Hierbei ist zu beachten, dass die Stärkemeldungen des Lagers nach dem Morgenapell stets am Folgetag gemeldet wurden.248 Da der 2.8.1943 ein Sonntag war, spricht viel dafür, dass der am 30.7.1943 in Auschwitz abgefahrene Transport bereits am Sonntag, den 1.8.1943, im Natzweiler eintraf, möglicherweise jedoch auch schon am 31.7.1943. Allerdings finden sich in 244  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 175a, Telegramm von Wolff an Sievers, 30.7.1943. 245  BArch NS 19 / 1209, Schreiben von Pohl an Brandt vom 20.5.1943. 246  BArch NS 21 / 50 Personalakte Hirt, Schreiben von Hirt an Sievers vom 29.6.1943. 247  Wechsler, Faculté, S. 199: „Le premier départ d’Auschwitz date du 30 juillet. Les futures victimes qui arrivent à Natzweiler en plusieurs convois sont toutes rassemblées au Struthof au début de la semaine du 7 au 14 août 1943. Des 115 personnes sélectionnées au départ, seuls 87 Juifs (57 hommes et 30 femmes) arrivent à Natzweiler. Ils seront gazés en trois séries à plusieurs jours d’intervalle, et on commencera par les femmes.“ Diese Feststellung widerspricht den Erkenntnissen Langs, der zweifelsfrei belegt, dass nur 29 Frauen in Natzweiler eintrafen (Lang, Nummern, S. 239). 248  ITS Listen Natzweiler 1.1.29.0 / 0009 / 0065-0092, Stärkemeldungen Natzweiler 1.7.–31.8.1943.



III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf351

den Veränderungszetteln der Lagerkommandantur Einträge über die Verpflegung der SS-Begleitmannschaft, die nach dem Eintreffen des Transportes untergebracht und verpflegt werden mussten: Im Veränderungszettel vom 3.8.1943 – in dem also die Ereignisse des 2.8.1943 beschrieben wurden – findet sich der Eintrag: „zuzüglich 12 Marschverpfl.“. Auf dem Zettel vom 4.8.1943 war für den 3.8.1943 vermerkt: „(+ 12 Zugeteilte – 1 Führer, 11 Männer)“. Am 5.8.1943 ist verzeichnet, dass am 4.8.1943 die Begleitmannschaft nach Auschwitz zurückgereist war: „Abgang von 12 SS-Angehörigen nach Auschwitz – Kommandierte (Häftlingstransport)“.249 Da die Begleitmannschaft über Marschverpflegung zur Beköstigung während der Bahnfahrt verfügte, kann die Ankunft des Transports mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den Abend des 1.8.1943 oder den Morgen des 2.8.1943 eingegrenzt werden. Am 6.8.1943 erhielt Beger abermals ein Telegramm von Wolff nach Rüthnick in der Mark: „Erbitte drahtnachrichtlich, wann Abreise Strassburg erfolgt, da Transport eingetroffen. Hirt erwartet Sie dringlichst.“250

Der Hinweis, dass Hirt Beger „dringlichst“ für die nächsten Schritte – wie sich zeigen wird, handelte es sich dabei um Blutgruppenuntersuchungen und Röntgenaufnahmen – brauchte, ist bemerkenswert. Am Samstag, den 7.8.1943, telegraphierte Beger aus Herzberg, durch das er von Rüthnick aus nach Berlin führe, dass er am selben Sonnabend reise und von unterwegs anrufen werde.251 Um 8:45 Uhr machte sich Beger auf den Weg.252 In Berlin holte sich Beger gegen Quittung einen Reisekostenvorschuss in Höhe von 100 Reichsmark beim Ahnenerbe in bar ab.253 Beger gab später an, dass er mit Hirt nach Natzweiler gefahren sei, wo die Häftlinge bereits eingetroffen sein sollten, er diese jedoch nicht gesehen habe. Es ist naheliegend, dass er in Natzweiler Vorbereitungen für die Röntgenaufnahmen traf. Weiter teilte er mit, dass in Straßburg die anthropologischen Vermessungsbögen, einschließlich der in Auschwitz mit einer Leica gemachten Fotos, sowie die Masken Gabels griffbereit stehen sollten.254 Obwohl Beger sich in den gerichtlichen Vernehmungen nicht mehr an das Fotomaterial erinnerte – wobei zumeist unscharf blieb, ob es sich um Röntgenaufnahmen aus Natzweiler oder um gewöhnliche Fotografien aus Auschwitz handelte –, bestätigte Fleischhacker im Gerichtsverfahren, dass in Auschwitz sowohl Foto- als auch Filmaufnah249  ITS

Copy of Doc.No. 82128710#1 (1.1.29.0 / 0017 / 0067). Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 178. 251  Ebd., S. 179. 252  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Urteil vom 6.4.1971, S. 33. 253  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 175b. 254  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Beger vom 18.1.1963, S. 354. 250  HStA

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D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

men von den Opfern gemacht worden waren.255 Diese Filmaufnahmen hat Fleischhacker an anderer Stelle implizit bestätigt, jedoch eingeschränkt, dass dies nur geschehen sei, um die technische Apparatur auszuprobieren.256 Diese Unterlagen hatte Fleischhacker auf Begers Weisung hin bei seinem Besuch in Hirts Institut hinterlegt.257 In der Urteilsbegründung gegen Beger wurde festgehalten: „Entsprechend seiner Ankündigung brach Dr. Beger am Sonnabend, dem 7. August 1943 – etwa gegen 8.45 Uhr – auf. Vormittags war er im ‚Ahnenerbe‘ in BerlinDahlem und fuhr noch am selben Tag in Richtung Natzweiler weiter. Am 14. August 1943 traf er gegen 11.15 wieder in Rüthnick ein. In seiner Reisekostenabrechnung trug er nach der Rückkehr in der Rubrik ‚Zweck der Reise‘ handschriftlich ein (Urk. Bd. I / A Bl. 179d): Röntgenaufnahmen und Blutgruppenbestimmungen an den Personen des geh. Sonderauftrags in Natzweiler.“258

Die im Urteil festgehaltene Aufenthaltsdauer widerlegte die Behauptung Begers im Prozess, er sei nur eine Nacht in Natzweiler oder Straßburg geblieben.259 Über den weiteren Verlauf gab der damals das Lager Natzweiler leitende Hauptsturmführer Josef Kramer am 26.7.1945 Auskunft. Er war kurz zuvor aufgrund seiner letzten Stellung als Kommandant des Konzentrationslagers Bergen-Belsen von den Alliierten verhört worden, die ihn am 13.12.1945 hinrichteten. Es fällt auf, dass sich Kramer an einige Begebenheiten wie Orte und Daten kaum erinnerte, andere hingegen, wie den Tötungsvorgang, sehr präzise beschrieb. Bemerkenswert sind, neben der Art zu formulieren, die Angaben des von der Todesstrafe bedrohten Kramer zur Anzahl der Häftlinge und zur Herkunft der Blausäurekristalle: „Im August 1943 erhielt ich vom Lager Oranienburg […] den Befehl 80 Insassen von Auschwitz zu empfangen. In dem Begleitbrief hieß es, dass ich sofort mit Prof. Hirt, der medizinischen Fakultät Straßburg in Verbindung treten sollte. Ich ging zum Anatomischen Institut Straßburg, wo Hirt war. Der letztere sagte mir, dass er von einem Insassen-Begleitzug, der von Auschwitz nach Struthof ging, wüsste. Er sagte mir, dass diese Personen in der Gaskammer des Lagers Struthof mit tödlichen Gasen getötet und dann ihre Leichname zum anatomischen Institut gebracht werden sollten, damit er über dieselben verfügen könne. Nach diesem Gespräch gab er mir eine Flasche, die ungefähr ¼ Liter Salze enthielt, die, ich glaube Cyanhydrat255  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr.  34152 Prozessakte Beger, Stellungnahme Fleischhacker, S. 1378. 256  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr.  34148 Prozessakte Beger, Vernehmung Fleischhacker vom 6.11.1963, S. 250 / 27. 257  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Beger vom 19.1.1963, S. 358. 258  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34171 Prozessakte Beger, Urteil vom 6.4.1971, S.  33 f. 259  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Beger vom 18.1.1963, S. 350.



III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf353 salze waren. Der Prof. sagte mir, welche ungefähre Dosis ich zu nehmen hätte, um die Insassen, die von Auschwitz kommen sollten, von denen ich Ihnen bereits gesagt habe, zu vergiften. Zu Beginn des August 43 erhielt ich die 80 Insassen.“260

Bis hierhin fällt auf, dass der Text der Aussage sprachlich sehr unterschiedlich ist. Während der gelernte Elektriker Kramer in der Regel ein sehr einfaches Sprachniveau an den Tag legte, das auch in seiner Aussage streckenweise erkennbar ist, sind andere Wendungen wie „damit er über dieselben verfügen könne“ bemerkenswert. Vor allem ist erstaunlich, dass Kramer sich weder an die korrekte Anzahl der Opfer noch an das Datum erinnerte, wohl aber an den Fachbegriff „Cyanhydratsalze“. Dies mag Spekulationen über die Vernehmungsmethoden und die Vernehmungssprache nähren, die insbesondere durch aus dem Englischen bruchlos übertragene Wendungen wie „von denen ich Ihnen bereits gesagt habe“ verstärkt werden. Es ist grundsätzlich zu hinterfragen, wer warum wen bei den Alliierten belastete. Dass der Elektriker Kramer mit seinem oft als schlicht geschilderten Gemüt den Anatomiedirektor so darstellte, dass ihm selbst nichts anderes übrig blieb, als diesem zu gehorchen, kann nachvollzogen werden. Für den genauen Hergang der Giftübergabe gibt es keine Zeugen, und Hirt konnte nach dem Kriege – da aus dem Leben geschieden – seine Version

Abb. 34: Der heute in der Gedenkstätte Natzweiler ausgestellte Trichter wurde ausweislich der Beschreibung zur Einbringung des letalen Stoffes in die Gaskammer verwendet. (Foto: Aufnahme des Verfassers) 260  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34160 Prozessakte Beger, Aussage Kramer, S.  121a f.

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D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

nicht mehr präsentieren. Daher kann auch weder bewiesen noch widerlegt werden, ob das Gift mit einer Gebrauchsanweisung geliefert wurde oder woher der Anatom die genaue letale Dosierung gekannt haben könnte. Die Vermutung, dass alles, was in ein Bild passt, die uneingeschränkte Wahrheit sein müsse, entspricht kaum kriminologischen Grundsätzen. Dies ist in der Geschichtsschreibung zu dem Fall bisher nur bedingt beachtet worden. Der Wahrheitsgehalt der Aussage eines Mannes, der kurz vor seiner Hinrichtung steht, wurde zumeist nicht ernsthaft in Zweifel gezogen. Jedoch war es bislang wohlfeil, die Angelegenheit verkürzt darzustellen und damit den wahren Hergang zu verfälschen: Kramer wurde von Hirt das Gift für die Tötungen ausgehändigt. Dies ist richtig, doch eben nur ein Teil des Gesamtzusammenhanges. Denn es impliziert, dass Hirt Gift besaß und Kramer es zur Anwendung gab. Dabei darf sogar unterstellt werden, dass es einem Arzt grundsätzlich möglich gewesen wäre, in einer Universitätsklinik geeignetes Gift zu beschaffen bzw. herzustellen, statt auf dessen Fehlen hinzuweisen und als willfähriger Transporthelfer zu fungieren. Kramer beschrieb in seiner weiteren Aussage den Ablauf sehr präzise, bis hin zur Anordnung von technischen Details, den Verlauf der Tötung der ersten Gruppe von Häftlingen, die aus Frauen bestand. Die von ihm geschilderte Tötungsmethode ist jedoch medizinisch-technisch nur sehr bedingt nachvollziehbar: Kramer will die Salze in einen Trichter außerhalb der Kammer geschüttet und diese dann mittels Nachgießen von Wasser durch ein Rohr in das Innere der Zelle geleitet haben. Dadurch seien Gase entstanden, die die Häftlinge getötet hätten. Es ist unstrittig, dass die Häftlinge durch Gas getötet wurden. Hätte sich der Tötungsvorgang mit dem Gift und in der Weise, wie Kramer es schilderte, zugetragen, wären nach Auskunft von Fachleuten zwangsläufig während des Einfüllens des Wassers tödliche Dämpfe auch in Richtung des Einfüllenden entwichen und hätten diesen gefährdet, sofern das Wasser nicht vor dem Gift eingeleitet wurde. Diesen medizinisch begründeten Ausschluss nimmt auch Pressac vor, wenn er bezüglich der Tötungshandlung durch Kramer im „Struthof-Album“ schreibt: „He asphyxiated his victims by causing the release of gaseous prussic acid. According to his first testimony of the 26.7.45, he proceeded by mixing a ‚salt‘ with water, which is a chemically impossible reaction because the formula ‚Acid + Base yields Salt + Water‘ is not reversible. Because of the absurdity of this modus operandi and his ignorance about the substances involved, some quite legitimate historical suspicion has weighed on the procedure and on the very existence of the gas chamber at Struthof.“261 261  Pressac,

Struthof, S. 5.



III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf355 „But what substance would react with water? In ‚Les chambres à gaz, Secret d’Etat‘ (,The Gas Chambers: State Secret‘, Collection Arguments, Les Editions de Minuit, September 1984), Professor Wellers provides two equally valid answers. Either the flask provided by Hirt, with a capacity of about 250 ml, contained an inert combination of sodium or potassium cyanide thoroughly mixed with a crystalline acid, such as citric, oxalic or tartaric acid, these being two agents that react with one another only in an aqueous medium. Or the flask contained calcium cyanide, which has the peculiarity of decomposing in water with hydrocyanic acid release. It would be possible to determine exactly what substance was used by complicated calculations, based on the volume of the gas chamber (approximately 20 m³), the quantity used (1 / 3 or 1 / 4 of 250 ml), and the expected HCN release, as a function of the amount of water added, needed to bring the room’s atmosphere rapidly up to a lethal concentration for man.“262

Jean-Claude Pressac verweist auf eine zweite Aussage Kramers, eine Woche vor seiner Hinrichtung, die erheblich sachlicher war:263 „Extracts from deposition by JOSEF KRAMER made at Luneburg [in the British Occupied Zone] on the 6 December 1945 in the presence of Captain Paul André: (This deposition has been translated into English from the French text, which is itself a translation of Kramer’s German deposition.) In the middle of 1943, I received a written order from Berlin to execute the people who had been sent from Auschwitz, and to deliver their remains to the Institute of Anatomy at the Municipal Hospital of Strasbourg. As to means of execution, the written order instructed me to get in touch with Anatomy Professor Hirt. So I went to see this professor and informed him of the orders I had received. Hirt advised me to execute the people in question by means of gas. I answered that there was neither a gas chamber nor any gas in the camp. Then Hirt gave me a glass bottle closed with wax [and hence with a hydrophilic content]. It contained a substance consisting of small white granules, which looked like soda. Hirt told me that I could produce a toxic gas by adding water to the bottle’s contents. He also gave me specific instructions regarding dosage. I told him that I had at my disposal a construction manager [Bauleiter], Untersturmführer Heider, who had been sent to me from Oranienburg. So then I had the gas chamber built [in fact, simply adapted] by some prisoners. Some time later, a first transport arrived with 26 (or rather with 30) women, 20 to 50 years old. They stayed in the camp for 8 days. During that time, they were not mistreated and they were not fed any better than the other prisoners. I had no special instructions regarding these people. After waiting for 8 days, in the middle of August 1943 [the week from the 7th to the 14th], I had these women taken to the gas chamber at 9 o’clock in the evening. They were stripped in the ante-room. I then placed a handful of the substance in a hole made in the floor [where there was a small porcelain basin]. I made the women enter the gas chamber and I 262  Ebd.,

S. 7. fügt in Klammern eigene Kommentare in den Aussagetext ein.

263  Pressac

356

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

locked the door. It was then that the women started to cry and scream. From the outside, I poured water into a funnel prepared for this purpose. The water flowed through a pipe, equipped with a tap, into the hole containing the small granules. After half a minute, all cries in the chamber ceased. I must state that I did not observe the death process through the window. I only listened. As there was nothing more to hear and as there was no movement, I put the ventilator on. During this time, I was on the outside and I neither inhaled nor smelled the gas. After some fifteen minutes, I opened the door. It would seem that death occurred in the usual manner. Only 3 or 4 had been unable to control their bowel movements. It was about half past nine. The next morning, at 5:30, I had the bodies taken to Strasbourg in a lorry covered with a tarpaulin. This method was chosen in order to keep everyone in the dark as to what had taken place. For I was obliged to maintain the highest level of secrecy.“264

Pressac geht weiter der Frage nach, warum die zweite Aussage Kramers vom 6.12.1945, eine Woche vor seiner Hinrichtung, in der Forschung bis dahin kaum Beachtung fand. Diese relativiert nicht nur die Rolle Hirts, sondern kam nach Meinung Pressacs der Wahrheit auch näher, weil er sich nicht mehr an seinen Eid gebunden fühlte: „The explanation of this double talk is quite simple. At the beginning of his imprisonment, Kramer still considered himself under oath with respect to his superiors, such as SS-Obürgruppenführer [sic!] Oswald Pohl, and constrained not to reveal anything of what he knew. This also explains why, at the Struthof trial, he initially admitted to Major Jardin [sic!] to a false gassing procedure. He did this quite deliberately, thinking perhaps that the gassing technique and the substance involved were really ‚secrets‘ of the Third Reich’s medical ‚science‘. But then, given the behaviour, sometimes to the extent of suicide, of his previous superiors in the docks of Allied tribunals, Kramer, considering himself released from his SS oath, ‚laid his cards on the table‘ and started giving reasonably straightforward answers. Such are the origins of the ‚second‘ versions. It is rather astonishing that French Military Justice paid little or no attention to the second deposition of the 6 December 1945, although it must be praised for having at least recorded this statement.“265

Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die genauen Beweggründe für vorsätzliche oder fahrlässige Unwahrheiten eines jeden Zeugen eingehend zu diskutieren. Daraus ergibt sich die Beschränkung auf die Frage, inwieweit Zeugen unglaubwürdig sein könnten. Dies ist bei vielen Zeugen der Fall, insbesondere wenn sie entweder Mittäter waren, die von der SS oder dem Ahnenerbe bezahlt wurden, wie Sievers, Wolff, Kramer, Henripierre, Nitsch oder Kramer, oder als Kapo Teil des KZ-Systems waren, wie Holl es gewesen sein will. Kramer führte in seiner ersten Vernehmung weiter aus: 264  Pressac, 265  Ebd.,

Struthof, S. 35 f. S. 9.



III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf357 „Am nächsten Morgen sagte ich zu den Krankenpflegern der SS, die Leichname in einen kleinen Wagen zu legen – es war ungefähr um 5:30 Uhr –, damit sie in das Anatomische Institut gebracht werden könnten, so wie mich Prof. Hirt gebeten hatte. […] Einige Tage später ging ich wieder in die Gaskammer und das wiederholte sich ungefähr 2 oder 3 Mal, bis 50 Menschen oder vielleicht auch 55 mit den Salzen, die Hirt mir gegeben hatte, getötet waren.“266

Es ist bemerkenswert, dass andere Zeugen aussagten, dass die Frauen früh morgens in der Anatomie ankamen und dort noch warm gewesen sein sollen, während sie nach Kramers Aussage die ganze Nacht auf dem Boden der Kammer gelegen haben. Ausweislich des Online-Wetterarchivs betrug im Oberrheingraben die Tageshöchsttemperatur am ersten Mordtag, dem 11.8.1943, 28,1 Grad Celsius mit Abkühlung in der Nacht auf 18,1 Grad. Erneut erinnerte Kramer sich weder an die tatsächlichen vier Tötungsaktionen noch an die Opferzahl; jedoch erinnerte er sich an den auf den Fahndungslisten seiner Vernehmer stehenden Hirt und dessen Handlungen. Nach dem Kriege war Ferdinand Holl einer der zum Ablauf der Vergasungen am meisten befragten Zeugen. Der Elsässer wurde als politischer Häftling zunächst in Buchenwald inhaftiert und will laut eigener Aussage im Nürnberger Prozess im März 1941 in das Konzentrationslager Natzweiler verlegt worden sein, das am 21.4.1941 eröffnet wurde und im Mai 1941 die ersten Häftlinge aufnahm.267 Tatsächlich wurde er jedoch erst am 14.3.1942 (!) nach Natzweiler verlegt. Dort wurde er als Funktionshäftling im Sanitätsbereich beschäftigt. Die Funktionshäftlinge waren Häftlinge, die für die SS arbeiteten und so zum Teil des Systems wurden. Nach dem Krieg wurden viele Funktionshäftlinge, die als Kapo eingesetzt waren, aufgrund ihrer Brutalität bei den Alliierten angezeigt und teilweise als mitverantwortliche Akteure des Lagersystems bestraft. Solche Personen hatten ein großes Eigeninteresse daran, dass ihre Taten nicht allzu bekannt wurden und Darstellungen tendenziös ausfielen. Dies ist menschlich und psychologisch nachvollziehbar, erfordert jedoch ein genaues Hinterfragen der Nachkriegsaussagen dieser ehemaligen Funktionshäftlinge. Am 3.11.1946 gab Holl den US-Behörden eidesstattlich zu Protokoll, was er in Natzweiler erlebt hatte. Hierbei lag der Schwerpunkt auf den Kampfstoffversuchen Hirts. Holl erinnerte sich an viele Details, die die rücksichtslose Inkaufnahme von Leid und Tod durch Hirt illustrieren. Auch ging Holl auf die Schädelsammlung ein: „Desweiteren erinnere ich mich an eine besonders brutale Gasvergiftung. Wir bekamen in das Lager 27 jüdische Frauen und 28 jüdische Männer. Es waren alle Na­ tionen darunter vertreten. Griechen, Franzosen, vorwiegend aus den Balkanländern. 266  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34160 Prozessakte Beger, Aussage Kramer, S.  121a f. 267  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Holl vom 3.11.1946, S.  373 ff.

358

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

Dieselben kamen aus dem Lager Auschwitz. Man hatte ihnen gesagt, sie kämen in das Lager Natzweiler, um eine Rassenforschung durchzuführen. Diese Leute wurden von einem Arzt aus Berlin behandelt. Anfänglich hat man bei ihnen Maße an Kopf und Körper genommen. Die Frauen kamen dann in die Versuchsstation, zu diesen Experimenten. Unterdessen kamen die Männer in die Gaskammer und wurden dort vergast. […] Den Frauen hat man gesagt, dass sie entlaust würden. Da sie das Schicksal der Männer wussten, haben sie sich geweigert in die Gaskammer hineinzugehen. Die SS-Wachmannschaft, die zu dieser Exekution bestimmt war, hat dann von dem Gewehrkolben Gebrauch gemacht und die Frauen einfach erschlagen. Nun gingen die Frauen alle nicht in diesen Gasraum. Die SS hat dann einfach die Frauen, auch als sie nur bewusstlos waren, aus der Gaskammer herausgeholt und sofort verbrannt. Also haben die den Tod der Opfer gar nicht abgewartet.“268

Anschließend benannte Holl namentlich alle SS-Angehörigen, die an der Ermordung und anschließenden Verbrennung der Häftlinge aus Auschwitz beteiligt gewesen sein sollen. Es ist bemerkenswert, dass Holl sich bei den Opferzahlen ebenso sehr irrte wie bei der Reihenfolge der Ermordungsgruppen. Die Schwierigkeit, in einen Gasraum von 20 Kubikmeter Inhalt 27 Personen pferchen zu wollen, zeigt, dass er die Gaskammer oder die Vorgänge offenbar nicht selbst gesehen und beobachtet hat. Ebenso muss es als frei erfunden gelten, dass die noch lebenden Opfer in Natzweiler verbrannt wurden. Denn es ist unstrittig, dass alle 86 Opfer durch Gas ermordet und in die Anatomie nach Straßburg gebracht und nicht nach der Ermordung kremiert wurden. Die Krematoriumsbaracke in Natzweiler wurde zudem erst im Oktober 1943, einige Zeit nach der Inbetriebnahme eines provisiorischen Krematoriums, errichtet.269 Eben deshalb stellte Sievers bei der Vermittlung der Anatomieleichen aus Natzweiler Ende 1942 ausdrücklich fest, dass dem Lager keine Kosten entstünden, abgesehen von der ohnehin anfallenden Fahrt nach Straßburg – denn dort wurde bis zur Inbetriebnahme des eigenen Krematoriums kremiert. Die ankommenden weiblichen Häftlinge führten zu erheblicher Unruhe im Konzentrationslager Natzweiler. Da Natzweiler ein reines Männerlager war, hatten die Häftlinge teilweise seit Jahren keine Frauen mehr gesehen. Hans-Joachim Lang schildert die Zeugenaussagen von Betroffenen und bringt dem Leser die persönliche Dimension dieser Isolation eindrucksvoll nahe.270 Ein französischer Häftling, der Arzt Henri Chretien, schilderte nach dem Kriege seine Beobachtungen von der Ankunft der 30 Frauen, die in Block 13 festgehalten wurden: „Après ingestion de diverses préparations, elles passèrant à la chambre à gaz […]. L’ infirmier allemand Ferdinand HOLLE, qui m’a donné en ce temps des détails 268  Ebd.

269  Ausstellung im ehemaligen Konzentrationslager Natzweiler-Struthof, ebenfalls nachzulesen unter www.struthof.fr. 270  Lang, Nummern, S. 167 ff.



III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf359 sur l’expérience en cours (dangereuse indiscretion à l’époque) a vu les victimes folles de douleur et leurs brûlures après l’expérience. Il m’a affirmé qu’elles avaient été schevées de nuit (le 12 ou le 13 août) et incinérées au four crématoire si commode pour fair disparaitre toute trace.“271 

Auch Chretien gab zu Protokoll, dass Holl ihm Details über Abläufe vermittelte, die er selbst nicht erlebt hatte, aber als objektive Abläufe wiedergab. Ein anderer Häftling, Wilhelm Loh, beschrieb die Situation in Natzweiler in einem (orthographisch eigenwilligen) Brief vom 7.12.1970 an das Landgericht Frankfurt am Main, mit dem er zur Sachverhaltsaufklärung im BegerProzess beitragen wollte: „Betrifft Prozess SS. Ahnenerbe. Angeklagte. Fleischhacker – Beger – Wolff. Im Spiegel lese ich den Bericht von dem Prozess. Da ich Jahrelang in Natzweiler eingesessen, ist mir die Ankunft dieses Transportes in das Lager Natzweiler noch in Erinnerung. Nicht wegen der Männer, aber der Jüdischen Frauen. […] Am andern morgen haben wir es dann mit eigenen Augen sehen können, der Block war über Nacht mit Frauen belegt worden. Da wir ja Jahrelang keine Frau gesehen war das ein Ereignis. […] Edliche Tage nach diesem Ereignbis rükten wir mit der Zimmermannskolonne nach dem Struthof runter und hatten den Auftrag am Gasraum einen Vorbau zu machen, dort lagen ein Haufen Gasflaschen rot und blau gestrichen, es lagen ja immer von der Sorte dort, aber so viele selten. […] An einem Morgen waren die Frauen verschwunden. Nun ging das Gerede im Lager los. Die Zivilarbeiter von Schirmeck, es waren 7 Männer die im Steinbruch mit den Häftlingen zusammenarbeiteten brachten es unter die Leute, das die Frauen vergast wurden steht fest. Mit Lastwagen sollten die Leichen nach Strassburg gefahren worden sein. Da kein Stroh vorhanden wurden die Leichen auf dem blanken Boden transportiert. Die Flüssigkeiten wie Blut usw. liefen als Spur aus den Lastwagen bis nach Strassburg. Im Anatomie-Institut hat man die Annahme verweigert. Das 2 Lastwagen voll Frauenleischen ins Lager kamen und im neuen Krematorium ver­ brant wurden steht fest. Die 5 Häftlinge die in meinem Block 3 lagen haben es bestätigt. Diese waren im Krematorium am arbeiten. […] Ich will hiermit klar stellen, das es ungewiss ist das diese Männer die vor Gericht stehen diese 115 Menschen auf dem Gewissen haben, und hier möchte ich auch für SS Hauptsturmführer KZ Arzt Hirth eine menschliche Geste nicht unbekannt lassen, als wir im Steinbruch mit der Zimmermannskolonne, die Stollen in den Granit trieben, überzeugte Er sich von unserer Arbeit, und verordnete für uns 1 Becher Milch und 200 gr Brot zusetzlich, das bedeutete für uns damals Leben.“272

Die Aussagen sind sehr ungenau und schildern Vorgänge, die sich nicht ereignet haben können. Weder verweigerte die Anatomie die Annahme der 30 Frauenleichen, noch wurden diese in Natzweiler verbrannt. Die Opfer wurden auch nicht mit Gas aus Gasflaschen vergast. Das Gas zur Ermordung von 271  USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020, Vernehmungsprotokoll Chretien o. Dat., S. 209 f. 272  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34151, Schreiben von Wilhelm Loh an das Landgericht Frankfurt am Main vom 7.12.1970, S. 1183.

360

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

Häftlingen – auch in Auschwitz – wurde in handlichen Kartuschen; Bickenbachs Phosgen-Gas in Ampullen transportiert. Wahrscheinlich handelte es sich bei der in den Flaschen vorgehaltenen Substanz um Gase zur Nutzung im ­Gasmaskenübungsraum, vermutlich um Tränengas. Ebenso kann ausgeschlossen werden, dass Hirt Häftlingsarbeitern im Steinbruch zusätzliche Rationen verordnet hat, und zwar auch deshalb, weil er kein Lagerarzt war. Wie auch schon bei der Verwechslung der Luftwaffen-Uniform-Träger Wimmer, Bickenbach und Haagen durch Häftlinge nach dem Krieg ist auch hier anzunehmen, dass sich die Lagerärzte den Häftlingen nicht namentlich vorstellten. Wenn sich nun also der Name des Arztes Hirt herumgesprochen hatte und dann ein Arzt in der Uniform eines Hauptsturmführers Milch für Steinbrucharbeiter verordnet haben sollte, ist die Verwechslung zumindest nachvollziehbar. Dieser Brief zeigt exemplarisch, wie sehr eine traumabehaftete Erinnerung tatsächliche Ereignisse zeitlich durcheinanderwerfen kann und aus Gerüchten vermeintlich erinnerte Tatsachen werden, die „feststehen“. Derartige Ausführungen haben deswegen nur einen geringen Wert für die Aufklärung von Sachverhalten bezüglich der Schädelsammlung. Jedoch sind einige Handlungen der Mordaktion von zahlreichen Zeugen übereinstimmend geschildert worden: so beispielsweise von Kramer, Bong und Seepe. Stets stimmten die Grundbegebenheiten überein. Doch die Aussagen des Funktionshäftlings Holl beruhen offenbar auf rudimentären Eigenerfahrungen, Hörensagen und viel verständlichem Zorn auf die SS-Leute, die unvorstellbare Grausamkeiten in Natzweiler vor seinen Augen verübt hatten. Insofern ist Holls verzerrte Aussage menschlich nachvollziehbar. Aber sie macht auch deutlich, wie wenig – bei allem Mitgefühl – eine Aussage eines derart geschundenen Menschen alleinige Grundlage für eine juristische und historische Beurteilung werden darf. Jüngere Historiker, wie Robert Steegmann, differenzieren und diskutieren mittlerweile die Glaubwürdigkeit einzelner Häftlinge als Zeugen.273 Hierfür ist die unter Eid getätigte Aussage von Ferdinand Holl ein gutes Beispiel. Holl war Zeuge der alltäglichen Brutalität der SS-Verbände im Konzentrationslager Natzweiler. Er wusste auch, dass die Alliierten versuchten, die Verbrechen Hirts zu dokumentieren, Beweise zu sichern und Zeugen zu finden. Die Aussage von Holl zeigt, dass er bei den Morden gar nicht anwesend gewesen sein konnte, sondern diese wohl nur vom Hörensagen her kannte. 273  Steegmann, Natzweiler, S. 101. In diesem Beispiel hält Steegmann fest: „Ein damals anwesender Häftling machte Aufzeichnungen über den Aufenthalt der Milizsoldaten. Sein Bericht wurde bereits 1945 veröffentlicht und stellt die einzige und daher häufig zitierte Quelle dar. Jedoch ist es nicht möglich, die dort erwähnten Einzelheiten zu überprüfen. Zudem stuften ehemalige Insassen den Verfasser, den Häftling Franz Kozlik, als wenig glaubhaft ein.“ Vgl. dazu ebd., S. 194: „Willy Heimig zufolge sollen sie weder über den Namen ihrer Einheit informiert worden sein noch ein Soldbuch erhalten haben – doch Heimigs Aussagen sind nicht immer sicher.“



III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf361

Dieses Phänomen findet sich in vielen Nachkriegsaussagen schwer traumatisierter Häftlinge. Doch Holl geht weiter: Er behauptete, mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie weibliche Häftlinge aus Auschwitz lebendig verbrannt wurden, und beschuldigte einige SS-Angehörige, die er namentlich benannte, diese Morde verübt zu haben. Dabei stand Holl unter Eid. Diese SS-Angehörigen hatten gewiss unzählige grausame Straftaten in Natzweiler verübt, für die jedwede harte Bestrafung gerechtfertigt wäre. Aber auch das Handeln von Holl war nach rechtsstaatlichen Maßstäben nach dem Kriege justiziabel: Nach § 164 Strafgesetzbuch wird mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft, „wer einen anderen […] wider besseres Wissen einer rechtswidrigen Tat […] verdächtigt“. Wenn dies unter Eid geschieht, drohen heute dafür zusätzlich bis zu 15 Jahren Haft. Jedoch ist es ein Unterschied, ob jemand nach einem Aufenthalt im Konzentrationslager etwas aussagt, was er nur meint, erlebt zu haben, und dies dann sogar noch beeidet. Hier ist es notwendig, Verständnis für die Traumata der Opfer zu haben und deren Aussagen zu überprüfen, sowie die Vernehmungsmethoden zu hinterfragen. Ferdinand Holl sagte jedoch zu den verschiedensten Sachverhalten unter Eid aus – oft jedoch mit einander widersprechenden Tatsachen. Ebenfalls unter Eid gab Holl in Nürnberg innerhalb von zwei Monaten die Opferzahlen von Hirts erster LostVersuchsreihe einmal mit mindestens sieben Personen und einmal mit etwa 50 Personen an.274 Die Gesamtzahl der Probanden bei den Phosgen-Versuchen gab er mal mit 90 und mal mit 150 an.275 An diesem Referenzbeispiel mag auch die Aussage von Hirts französischen Sektionsgehilfen Henri Henripierres gemessen werden. Dies gilt besonders deswegen, wenn dieser dem zu diesem Zeitpunkt bereits weltweit als Massenmörder bekannten Hirt in den Mund legte, er habe im Verlauf der Anlieferung der ersten Leichen – im Rahmen einer zufälligen Begegnung – zu Henripierre gesagt: „Peter, wenn Du die Schnauze nicht halten kannst, kommst Du auch dazu.“276 Diese Begebenheit zwischen dem „patriotischen Zwangsarbeiter“ und dem körperlich behinderten Professor kann sich durchaus zugetragen haben, aber die Aussage Henripierres bietet hier keine Gewähr für historische Korrektheit. Im Übrigen darf angenommen werden, dass Hirt – wie auch alle anderen Deutschen im Elsass im Jahre 1943 – gewusst hat, dass Geheimsachen, die Dritten zur Kenntnis gelangen, recht schnell in Umlauf kamen. Nähme man jedoch die Aussage Henripierres vollständig als 274  Schmaltz,

Kampfstoff-Forschung, S. 561. Natzweiler, S. 310. 276  Ebbinghaus / Dörner / Linne u.  a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Aussage Henripierre vom 18.12.1946, S. 756; vgl.: BArch B 162 / 20260, Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade vom 15.1.1946, S. 70: Henripierre hatte den Rechtsmedizinern diese Drohung Hirts auch bereits zu Protokoll gegeben. 275  Schmaltz,

362

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

Abbild der Realität, so stellte sich erneut die Frage, warum Hirt sich auf diese Weise in ein Verbrechen verstrickte, bei denen ihm persönlich sogar von Zwangsarbeitern so große Gefahr drohte, dass er sie zur Erzwingung der Verschwiegenheit mit dem Tode bedrohen musste, während er eine jüdische Schädelsammlung auch ohne Gefahr hätte anlegen können, nämlich durch die laufend in Natzweiler verfügbaren Anatomieleichen, durch Einkauf im Versandhandel und weitere Optionen. Im Nürnberger Ärzteprozess gehörte Henripierre zu den wenigen Zeugen, die zum Anklagekomplex der Schädelsammlung gehört wurden. Dies mag aufgrund der Prozessökonomie einen Sinn gehabt haben, jedoch wäre es zur Aufklärung des Sachverhaltes gewiss hilfreich gewesen, auch Bong, Seepe, Wimmer, Kiesselbach oder Mayer zu vernehmen. Als Zeuge gab Henripierre richtig an, dass er für die Abholung der Leichen zuständig war, diese jedoch aus dem Kriegsgefangenenlager Mutzig geholt habe.277 Offenbar hatte er kein Interesse daran, seine tätige Beihilfe zur „Verwertung“ der Opfer aus dem Konzentrationslager Natzweiler deutlich werden zu lassen. Henripierre wurde nach seiner Einstellung am Straßburger Institut von Otto Bong in der Leichenpräparierung geschult. Seine Tätigkeit bestand nach eigenem Bekunden darin, die Leichen zu konservieren und in die Säle zu bringen, in denen die Studenten mit den Leichen arbeiteten. Darüber hinaus sei es seine Aufgabe gewesen, Leichen aus der Festung Mutzig zu holen. Dort wollte er die Leichen von 250 oder 300 russischen und polnischen Kriegsgefangenen abgeholt haben, was Toledanos Ergebnissen entspricht. Henripierre berichtete weiter, dass Bong mit ihm sechs Aufbewahrungsbecken für 120 Leichen vorbereitet habe und anschließend drei Lieferungen von Leichen angekommen seien: erst 30 Frauen, dann 30 Männer und dann noch einmal 26 Männer. Dies deckt sich allerdings nicht mit seiner eigenen Liste der Häftlingsnummern, auf der er 29 Nummern von Frauen und 57 Nummern von Männern notiert hatte.278 Die erste Lieferung sei in den Morgenstunden angekommen, die Leichen seien noch warm und ohne Totenstarre gewesen, was den Schluss nahe legt, dass diese in der Nacht zuvor ermordet wurden. Den Männern habe „man“ bei der Anlieferung den linken Hoden abgenommen. Anschließend seien die Leichen alle in den sechs Becken mit künstlichem Alkohol in einer Konzentration von 55 Prozent konserviert worden. Ausdrücklich wurden sie nicht in Formaldehyd gelegt, wie es in der Literatur häufig fälschlicherweise zu lesen ist.279 Daraus ergibt sich ein Widerspruch 277  Ebbinghaus / Dörner / Linne

u. a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, S. 754. Nummern, S. 239 f. 279  Pressac, Struthof, S. 8: Pressac weist darauf hin, dass diese Fakten seit dem Ärzteprozess bekannt sein müssten, jedoch in der Literatur immer wieder falsch aufgeführt werden. 278  Lang,



III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf363

zu der französischen Kommission, die nach dem Krieg bei einigen der aufgefundenen Leichen Vertrocknungen an den Extremitäten feststellte, was bei diesen auf eine längere Kühlung vor der Konservierung hindeutet. Ende April 1943 steckte Sievers noch immer in Verhandlungen, um Monteure zur Fertigstellung der halb eingebauten Leichenkühlanlage zu finden.280 Am 19.12.1946 bezeugte der Elektroingenieur Paul Hickel gegenüber den französischen Ermittlungsbehörden, dass er von 1941 bis 1945 bei der Bauleitung der Universität für die elektrischen Anlagen – und damit auch jene der Anatomie – zuständig gewesen sei. Er gab an, dass die Anatomie insgesamt nur drei Leichenkühlfächer erhalten habe. Eines der drei im Jahre 1943 eingebauten Fächer habe nicht nur kühlen, sondern bis minus zwanzig Grad gefrieren können.281 Danach sei laut Henripierre mit den Leichen nichts mehr geschehen, bis die Alliierten vor Belfort standen und die Anatomie geräumt werden sollte. Bemerkenswerterweise berichtete Henripierre nichts davon, dass Präparate

Abb. 35: Kälteisolierte Eingangstüre zum Leichenkühlraum (links) und Tür zum Kühlaggregatraum (rechts) im Untergeschoss der Anatomie in Straßburg. (Foto: Archiv des Verfasser). 280  BArch NS 21 / 906, Schreiben von Hirt an Sievers vom 25.3.1943, und BArch NS 21 / 906, Schreiben von Sievers an Hirt vom 22.4.1943. 281  USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020, Vernehmungsprotokoll Hickel vom 19.12.1946, S. 126 ff.

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D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

oder Abformungen gefertigt wurden. Die Leichen hätten dann Bong und Mayer zerstückeln und in Särgen in das städtische Krematorium bringen müssen. Da die Särge nicht ausgereicht hätten, seien einige Leichen auf den Behälterböden zurück geblieben. Diese habe er mit Leichenteilen, die wie anatomische Abfälle aussehen sollten, durchmischt und überdeckt. Im BegerProzess hingegen schilderte Henripierre Ende 1970 die Situation in den sechs Becken, deren Inhalt sich durch die Entfernung von bis zu 70 Torsi – es waren nur 16 ganze Leichen zurückgeblieben – reduziert hatte, erheblich dramatischer: Wie die Sardinen sollen die Leichen in den Behältern gelegen haben. Anschließend habe er Bong mit seiner Frau und Lieselotte Seepe mit dem Dienstwagen der Anatomie über den Rhein nach Westen evakuieren sollen. Doch er habe das Auto sabotiert und getan, was seine Pflicht gewesen sei. Deshalb seien Bong und Seepe in Gefangenschaft geraten. Es ist bemerkenswert, dass Henripierre, der andere französische Mitarbeiter, der technische Zeichner Wagner und Bong den französischen Rechtsmedizinern Simonin, Piédelièvre und Fourcade Auskunft über die Ereignisse in der Anatomie gaben – doch nur Henripierre berichtete von den oben genannten Drohungen Hirts.282 Henripierre betonte in seiner Aussage am 18.12.1946, dass es nur drei Leichentransporte gegeben habe.283 Obwohl zweifelsfrei gesichert ist, dass insgesamt vier Transporte von Natzweiler nach Straßburg gingen, wollten sich fast alle Zeugen nur an eine Fahrt erinnern. Anton Kiesselbach war nach eigenem Bekunden nur bei einer Leichenanlieferung zugegen, schätzte jedoch aufgrund der Größe der Räumlichkeiten in der Anatomie, dass er später „mindestens 20 bis höchstens 80“ Leichen gesehen habe. Es spricht vieles dafür, dass die Behauptung Henripierres zutreffend ist, dass Kiesselbach von den männlichen Leichen je einen Hoden abnahm.284 Die Entnahme je eines Hodens wurde nach dem Kriege von der französischen Untersuchungskommission zweifelsfrei festgestellt.285 Doch dies kann aus medizinischen Gründen erst nach der Ermordung geschehen sein und nicht, wie gelegentlich in der Literatur behauptet, vor der Ermordung.286 Es liegen keine Hinweise vor, dass Kiesselbach in Natzweiler anwesend war. Dieser Sachverhalt gab später noch viel Anlass zu Spekula­ tionen, die in Form wissenschaftlich zweifelhafter Belege präsentiert wurden: Ursächlich dafür mag die unten erwähnte Nachkriegsbehauptung des Pariser 282  BArch B 162 / 20260, Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade vom 15.1.1946, S. 70. 283  Ebbinghaus / Dörner / Linne u.  a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Aussage Henripierre vom 18.12.1946, S. 752 ff. 284  Ebd., Aussage Henripierre vom 18.12.1946, S. 756. 285  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 72. 286  Pringle, Masterplan, S. 402.



III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf365

Abb. 36: Das Innere des seinerzeitigen Leichenkühlraumes, das heute als Lager für Präparate genutzt wird. Die Größe des Raumes schloss die Lagerung von 150 Leichen ebenso aus wie die von 86 Leichen (Foto: Archiv des Verfassers)

Mediziners Champy sein, dass Hirt Sterilisationsversuche durchgeführt habe. Heather Pringle interpretierte daraus 2006 die Geschichte, dass bei Sterilisationsversuchen die Opfer mit Stöcken rektal stimuliert wurden, um Spermien abzugeben. Hirt habe diese Versuche modifiziert und den Opfern, die ihm eines nach dem anderen zugeführt wurden – folglich vor der Vergasung –, Trypaflavin gespritzt. Er habe acht Tage abwarten wollen, weshalb die Männer später vergast worden seien als die Frauen. Dabei bezieht Pringle sich sowohl auf den Ärzteprozess als auch auf Lang.287 Belege für diese konkreten Behauptungen bleiben jedoch alle Autoren schuldig. Auch in den verschiedenen Prozessen nach dem Krieg, die sich mit dem Thema Natzweiler und Hirt befassten – der Hauptkriegsverbrecherprozess und der Ärzteprozess in Nürnberg, das Militärgerichtsverfahren gegen Bickenbach in Metz, der Beger-Prozess in Frankfurt – berichtete keiner der Zeugen von Sterilisationen oder Hirts angeblichen Stimulierungen der Häftlinge vor der Hinrichtung. Gegen diese unbelegten Behauptungen spricht auch, dass Hirt zum Beginn der Mordserie bereits so krank war, dass er am 17.8.1943 mit Leibschmerzen in St. Lambrecht eintraf288 und die erste Woche liegend verbrin287  Ebd.,

S. 402. NS 21 / 50, Schreiben von Hirt an Sievers vom 24.9.1943.

288  BArch

366

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

gen musste.289 Doch selbst wenn Hirt gesund gewesen wäre, wäre es lebensfremd anzunehmen, dass ein Wissenschaftler mitten in einer Versuchsserie verreist und seine eigene Mitwirkung abbricht. Diese Behauptungen sind deshalb ein Beleg dafür, wieviele Gerüchte nach dem Kriege im Umlauf waren und wie Hass auf die deutschen Besatzer aus einem Gerücht konkrete Verbrechensbeschreibungen machte – unabhängig von den tatsächlich begangenen Verbrechen. Der SS-Oberscharführer Robert Nitsch gab am 23.8.1962 im Verfahren gegen Beger seine Version des Hergangs zu Protokoll. Zu diesem Zeitpunkt war bereits ein Ermittlungsverfahren gegen ihn selbst aufgrund seiner mutmaßlichen Straftaten in Natzweiler anhängig, was nicht zur Steigerung der Objektivität seiner Aussagen beigetragen haben dürfte.290 Der Sudetendeutsche Nitsch erinnerte sich an den Tatzeitpunkt in seiner Aussage irrtümlich mit Juli 1944: „Bei dem vorliegenden Fall handelte es sich um 60 jüdische Männer und 30 jüdische Frauen, die im Juli 1944 in Natzweiler (Struthof) vergast wurden. Eigentlich wurden nur 57 jüdische Männer vergast, weil drei schon vor der Vergasung starben.291 Die Vergasung der 87 Personen vollzog sich im Juni oder Juli 1944 an vier verschiedenen Tagen. Von der ersten Vergasung überzeugte ich mich selbst, während ich von den übrigen drei Vergasungen nur auf Grund meines Rapportzettels Kenntnis bekam. Auf diesen Zetteln musste ich jeweils das Fehlen einer bestimmten Anzahl von Häftlingen feststellen. Es war mir dann jedes Mal klar, dass diese vergast wurden, weil ich dies im ersten Fall der Frauen, den ich jetzt schildern werde, selbst sah. Eines Abends, gegen 19 Uhr, sah ich von meinem Wohnzimmer aus, von dem ich zum Lagereingang sah, dass die ‚Grüne Minna‘ mit dem Fahrer End aus Kehl und dem Kommandanten Kramer in das Lager hineinfuhr und gleich wieder zurück kam. […] Sofort ging ich los zum Lagerposten (Tordienst), SSRottenführer Wöhler, und fragte ihn, was der Kommandant im Lager getan hat. Dieser gab mir zur Antwort, daß er dies nicht wisse, da er ja schliesslich den Kommandanten nicht fragen kann. Sofort bin ich daraufhin zu seinem Lagerältesten Behnke gegangen, der mir zu berichten wusste, daß der Kommandant jüdische Frauen abholte. Weil ich gleich eine Ahnung hatte, was das bedeuten wird, zumal 289  Ebd.

290  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr.  34146 Prozessakte Beger, Schreiben von Staatsanwaltschaft Hechingen an Staatsanwaltschaft Frankfurt vom 14.7.1961, S. 412. 291  Nitsch war für die Führung der Häftlingsbestandslisten zuständig. Daher ist in Bezug auf technische Details ein gewisses Maß an Glaubwürdigkeit zu unterstellen. Der oben erwähnte Hinweis Nitschs zeigt abermals eindeutig, dass 30 Frauen für die Verlegung nach Natzweiler disponiert waren, für die Wolff Kleidung angefordert hat. Ebenfalls deckt sich Nitschs Aussage mit der Liste Langs, der 60 Männer identifiziert hat, von denen nur 57 vergast worden seien, da drei – Günter Stamm, Erich Markt und Hans Israelski – während des Transports verstorben seien. Dies erklärt jedoch nicht, warum alle Listen 30 Frauen ausweisen, Lang unter Bezug auf Henripierre nur 29 nennt, während Henripierre im Ärzteprozess selbst von 30 Frauen sprach. Zudem führt Lang insgesamt 90 Deportierte auf.



III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf367 ich wusste, daß man einige Tage zuvor die Gaskammer renovierte, ging ich zu Fuß zum Struthof in dem sich die Gaskammer befand. Am Struthof angekommen, sah ich auch, daß der Kommandant, ein Arzt, Name nicht mehr bekannt, der Bauführer Heider und noch einige SS-Angehörige vor der Gaskammer standen. Ich grüsste den Kommandanten, ging jedoch an den SS-Angehörigen vorbei zu dem Landwirt Idoux, der neben dem Struthof eine Landwirtschaft betrieb. Bei diesen habe ich mich etwa bis 21:00 Uhr aufgehalten und begab mich dann wieder zurück ins Lager. Dabei ging ich auch an der Gaskammer vorbei, die zu diesem Zeitpunkt offen war. Einige SS-Angehörige waren schon dabei, vergaste Frauen auf einen Lkw zu laden. Ein Teil der vergasten Frauen lagen noch in der Gaskammer drin. Ich nehme an, daß der Kraftfahrer End die Leichen in das Anatomische Institut nach Straßburg brachte, denn er sagte mir am folgenden Tag, daß er schon in Straßburg gewesen sei. Die übrigen Vergasungen habe ich nicht gesehen. Es war so, wie schon angegeben, daß ich auf Grund meiner Rapportzettel Kenntnis von den drei weiteren Vergasungen bekam. Nach meiner Erinnerung wurden die Frauen am 7. und 9. Juni oder Juli [vergast], während die Männer am 11. und 13. Juni oder Juli vergast worden sind.“292

Unabhängig davon, dass Nitsch als SS-Täter eine tendenzielle Darstellung unterstellt werden muss, wird die Unglaubwürdigkeit in Teilen seiner Aussage ganz einfach bei einem Ortstermin deutlich. Bei einem Gang über das Gelände kann das Gaskammerinnere praktisch nicht eingesehen werden und somit auch nicht festgestellt werden, ob die Türe offenstand. In Bezug auf die Abläufe der Ermordung der 86 Opfer aus Auschwitz293 ist bemerkenswert, dass bei den fünf oben genannten Aussagen die Zahl der Opfer diffus zwischen 50 und 90 schwankt, aber beinahe bei jeder geschilderten Handlung konkret der Hinweis gegeben wurde, dass die jeweils geschilderte Handlung mit Gewissheit auf Hirt zurückgehe – der zum jeweiligen Aussagezeitpunkt von der internationalen Presse und Sievers in Nürnberg bereits als Urheber und Bestimmender der Morde bekannt gemacht worden war. In zahlreichen Schreiben ist dokumentiert, dass Hirt große Schwierigkeiten mit der Lagerleitung in Natzweiler hatte. Diese Klagen bezogen sich auf mangelnde Unterstützung durch den Lagerarzt, mangelnde Ernährung der Versuchshäftlinge, Zahlungswünsche Kramers für die Nutzung der Versuchshäftlinge, mangelhafte Betreuung der Versuchstiere und vieles mehr. In Anbetracht dessen ist der Gedanke an einen Lagerkommandanten Kramer, der willenloses Werkzeug des im selben SS-Rang stehenden Hirt war und ohne Befehle von Vorgesetzten allein nur auf Hirts Anordnung zu Mordaktionen schritt, wenig glaubhaft. Die diesbezügliche Aussage ist nach heutigen Maßstäben nahezu 292  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Robert Nitsch vom 23.8.1962, S. 414. 293  Wechsler, Faculté, S. 199: Wechsler hält fest, dass 87 Opfer in Natzweiler angekommen seien sollen.

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D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

unbrauchbar. Im brauchbaren Kern bestätigt sie lediglich, dass Hirt das Gift, das er von Wolff erhalten hatte, an Kramer weitergegeben hat. Die Morde des Lagerkommandanten Kramer an den nachgewiesenen 86 Personen fanden nach derzeitigem Sachstand am 11., 13., 14. und 18.8.1943 statt. Am 1.8.1943 waren ausweislich der täglichen Stärkemeldungen vier Juden im Lager Natzweiler. Für den 2.8.1943 verzeichnet die Liste den Zugang von 86 Juden. Für den 9.8.1943 wird über einen Todesfall unter der Gesamtzahl von 90 Juden berichtet.294 Am 11.8.1943 verzeichnen die Stärkemeldungen den Abgang von 15 Juden. Am 13.8.1943 wurden abermals nach der Ermordung 14 Juden aus der Bestandsliste genommen. Dabei dürfte es sich zusammen um die fraglichen 29 Frauen gehandelt haben. Für den 14.8.1943 wird ein Abgang von 30 Juden verzeichnet und für den 18.8.1943 einer von 27 Juden.295 Die Fahrten erfolgten nach verschiedenen Zeugenaussagen in der „Grünen Minna“, einem Militär-Lastkraftwagen oder dem Leichenwagen der Anatomie. Dabei ist zu beachten, dass der Leichenwagen der Anatomie für vier Leichen ausgelegt war.296 Jedoch schließen diese Versionen einander nicht aus. Da noch keine Abformmasse vorhanden war, konnten die äußeren Abdrücke der Opfer nicht genommen werden. Am 28.8.1943 schrieb der Inhaber der Berliner Firma F. Picknes, Hilmar Teuber, an Beger. Dieser erhielt auf seine dringenden Nachfragen die Nachricht, dass der zuständige SS-Mitarbeiter, Obersturmführer v. Eggen, die bestellten Abformmassen bei seiner letzten Reise unerwartet nicht aus der Schweiz mitgebracht habe. Zudem sei es zwischenzeitlich erforderlich geworden, Devisengenehmigungen für die Einfuhr der jeweiligen Massen von der Reichsstelle für Chemie bezüglich Negocoll beziehungsweise der Reichsstelle für Mineralöl bezüglich Hominit zu beschaffen, was Beger tun möge. Aus den Zusammenhängen ist zu erkennen, dass Beger bereits für die Kaukasusexpedition Abformmasse bei Picknes bestellt hatte, aber auch Hautfarben-Tabellen.297 Es waren 86 Menschen ermordet worden und Beger hatte ein wissenschaftliches Interesse daran, deren Gesichtszüge mitsamt aller Weichteile lebensecht durch Abformungen zu 294  ITS 1.1.29.0 / 0009 / 0065-0092. Diese Quelle widerlegt Steegmann, der mit Bezug auf eine Aussage Kramers festhält, dass 87 Häftlinge in Auschwitz eingetroffen seien und eine Frau beim Betreten der Gaskammer mit dem Revolver erschossen worden sei (Steegmann, Natzweiler, S. 429). Allerdings wurden alle 29 in Natzweiler eingetroffenen Frauen auch vergast und in die Anatomie verbracht, wo Henripierre ihre Nummern abschrieb (Lang, Nummern, S. 239). 295  ITS 1.1.29.0 / 0009 / 0065-0092. 296  BArch R 2 / 12471, Fahrzeugbestellung des Kurators der Universität Straßburg beim REM vom 13.11.1941 und Bewilligung vom 2.2.1942. 297  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 176 f., Schreiben von Picknes an Beger vom 28.8.1943.



III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf369

konservieren, so wie sein Mitarbeiter Trojan es ein Jahr später beschrieb.298 Doch nun waren 86 Menschen tot, und die Abformmasse war wider Erwarten nicht geliefert worden. Weil die Leichenkühlschränke keine 86 auf lange Sicht freien Fächer aufwiesen, was bei den üblichen Dimensionen einer Anatomie und der benachbarten Pathologie auch überdimensioniert gewesen wäre,299 mussten die Leichen auf andere Weise konserviert werden. Es steht fest, dass erst im Frühjahr 1943 die einzigen drei Leichenkühlfächer eingebaut wurden und daher zum Zeitpunkt von Begers ursprünglich geplanter Reise nach Auschwitz im Herbst 1942 selbst diese nicht vorhanden waren.300 Die Konservierung erfolgte durch die Einspritzung von Formaldehyd- und Aethylalkohol-Lösung in die Oberschenkelarterie.301 Die drei hierzu mutmaßlich verwendeten „Sternalpunktionskanülen nach Klima-Rosegger“ wurden von der Anatomie erst am 18.8.1943 bestellt oder nachgeordert.302 Anschließend wurden die Leichen in Becken mit Alkohol konserviert.303 Es gibt jedoch Anhaltspunkte dafür, dass einige Opfer statt in Becken mit Alkohol zunächst in den wenigen verfügbaren Leichenkühlschränken aufbewahrt wurden.304 Vor der Vergasung hatte Beger persönlich in Natzweiler von den Todeskandidaten weitere Vermessungen angefertigt, ebenso wie Fotografien und Röntgenaufnahmen.305 Hirts Sekretärin, Lieselotte Seepe, konnte oder 298  BArch

R 135 / 44, Schreiben von Trojan an Beger vom 23.6.1944. R 2 / 29536, Bauunterlagen der Reichsuniversität Straßburg einschließlich Grundrissen in den Unterlagen des Reichsfinanzministeriums. 300  BArch NS 21 / 906, Schreiben von Sievers an Hirt vom 22.4.1943; vgl.: USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020, Vernehmungsprotokoll Hickel vom 19.12.1946. S. 126 ff. 301  Lang, Nummern, S. 202: Lang bezieht sich auf den Untersuchungsbericht von Simonin, Piédelièvre und Fourcade und hält fest, dass das erste identifizierte Opfer, Menachem Taffel, einen sieben Zentimeter langen Schnitt in Unterschenkel hatte, über den Formaldehyd- und Aethylalkohol-Lösung eingespritzt worden sein soll. Es handelt sich jedoch um den bekannten Übersetzungsfehler im Bericht: Unterschenkel statt Oberschenkel. Auf allen dem Bericht beigegebenen Fotos ist die Einstichstelle der Kanüle in die Arterie des Oberschenkels in der Leistengegend gut zu sehen. 302  BArch NS 21 / 505, Rechnung der Firma B. Braun in Melsungen vom 28.8.1943, verbucht von Ahnenerbe-Verwaltungsführerin Deutschmann. Es liegt nahe, dass entweder diese Kanülen zur Konservierung der Leichen dienten oder aber die verwendeten Kanülen nach der Benutzung durch drei neue Kanülen ersetzt wurden. Der Stückpreis lag bei 8 Reichsmark. 303  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34160 Prozessakte Beger, Foto von Leichen aus der Straßburger Anatomie mit Herkunftsbezeichnung NO-483; vgl. Pressac, Struthof-Album. Hier sind die Leichen in den Becken mit Alkohol und die Einstichstellen gut zu erkennen. 304  BArch B 162 / 20260, Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade vom 15.1.1946, S. 10–51. 305  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 72. 299  BArch

370

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

wollte sich rund 20 Jahre nach dem Vorfall nur rudimentär an die Ereignisse erinnern, die sie irrtümlich in das Jahr 1944 verlegte: „Wir haben im Jahre 1944 eine große Anzahl Leichen aus dem KL Natzweiler bekommen. Es wurde gesagt, es handle sich um politische Verbrecher. Die Nationalität kann ich nicht angeben. Es werden auch Juden dabei gewesen sein. […] Dass die 1944 aus Natzweiler eingetroffenen Leichen zu einer Schädelsammlung verarbeitet werden sollten, war mir bekannt. Meines Wissens konnte aber diese Schädelsammlung […] nicht abgeschlossen werden. […] Bei der Anlegung der Sammlung hat der Präparator Bong geholfen.“306

Otto Bong gab im Rahmen der Ermittlungen zum Beger-Prozess gegenüber dem Untersuchungsrichter Düx an, er habe erst bei seinem eigenen Prozess in Paris erfahren, dass die Leichen zu einer Schädelsammlung verarbeitet werden sollten. Ihm sei aufgefallen, dass die Leichen noch frisch gewesen seien. Bong will die Anlieferung mit einem Militär-Lastkraftwagen selbst beobachtet haben. Nach der Anlieferung sei die Fixierung der Leichen und danach die Lagerung in Becken mit einer Alkohollösung erfolgt. Später habe er die Leichen zerlegen müssen, damit sie in Särgen ins Krematorium gebracht werden konnten. Bong stritt in der Vernehmung ab, jemals die Namen Beger, Fleischhacker oder Gabel gehört zu haben.307 Bong hatte – vermutlich Ende 1945 – bereits eine ähnliche, allerdings präzisere Aussage vor den französischen Ermittlungsbehörden gemacht. Dabei schilderte er erheblich präziser als in der Vernehmung durch Düx, dass er wusste und woran er erkannte, dass die in vier Anlieferungen in die Anatomie verbrachten Leichen vergast worden waren. Er gab auch an, dass der Laborant Mayer ihm beim Zerstückeln der Leichen geholfen habe und dabei den Leichen das Zahngold herausgebrochen und dies Hirt übergeben habe. Bemerkenswert ist folgender Teil der Aussage Bongs: „Ob alle Juden waren, kann ich nicht sagen, aber meisten [sic!] der Männer waren beschnitten worden. Die Leichen sollen vom Osten sein. Soviel ich weiß, hat Prof. Hirt keine Operation auf [sic!] den Leichen vorgenommen. Seine Spezialität waren mikroskopische Lumineszenz und Fluoreszenz. Bei den Männern ist der rechte Hoden abgenommen worden, und eingetrocknet. Nichts ist bei den Frauen gemacht worden. Ich habe nie gehört, was Prof. Hirt mit den Leichen machen wollte. […] Ich habe zwei Gehilfe gehabt: H. Peter und Schaeffer.“308

Bongs Angabe seines einen Gehilfen wurde mit „H. Peter“ protokolliert, der zweite Gehilfe wurde im Rahmen dieser Studie bislang nicht ermittelt. Der Präparator Bong machte eine weitere Angabe, die vermuten lässt, dass 306  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Seepe vom 10.1.1963, S.  324 ff. 307  Ebd., Aussage Bong vom 1.10.1963, S. 330. 308  USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020, Vernehmungsprotokoll Bong o. Dat., S. 257.



III. Das Verbrechen nimmt seinen Lauf371

einige der Leichen in zwei der im Vorlesungsverzeichnis der Medizinischen Fakultät genannten Veranstaltungen zu Ausbildungszwecken verwendet wurden. Es handelte sich um die Übungen „Muskeln und Gelenke ganztägig, Pflichtstunden: Mo Di Do Fr 14 bis 17“ und „Nerven und Gefäße ganztägig, Pflichtstunden: Mo Di Do Fr 14 bis 17“:309 „Die Leichen sind konserviert worden; die stärkste[n] Männ. Leichen sind für die Muskelkursen benutzt worden, die Schwächeren für die Nervenkursen.“310

Dies würde einerseits erklären, warum die Anzahl der konservierten Leichen nicht mit der Summe der kremierten und den bei Kriegsende aufgefundenen übereinstimmte. Ebenso würde es aus anatomischen Gründen nachvollziehbar sein. Im Gegensatz zu den Leichen der ausgezehrten und an Tuberkulose verstorbenen Kriegsgefangenen oder der entkräfteten Konzentra­ tionslager-Häftlinge aus dem Steinbruch in Natzweiler befanden sich die Toten aus Auschwitz ausweislich der späteren Autopsie in einem guten Ernährungszustand. Dies ist zumindest für den Kurs „Muskeln und Gelenke“ nicht unwichtig. Auch Henripierre bestätigte in Nürnberg, dass es sich „um Leichen die sehr schön waren“ handelte, „Die Leichen die vorher ankamen, waren abgemagert, aber diese Leichen, d. h. diese 86 Leichen waren gesunde Körper, schön, mit guten Muskeln und es sah nicht so aus, dass sie vernachlässigt waren.“311 Hirts seit Mai 1943 an die Straßburger Anatomie dienstverpflichtete medizinisch-technische Assistentin Elisabetha Schmitt konnte sich am 10.4.1963 sehr präzise an die Tätigkeit Bongs erinnern: „Eines Tages setzte uns Professor Hirt davon in Kenntnis, dass eine grosse Sektion stattfinde. Alle verfügbaren Arbeitskräfte mussten sich mit der Ansetzung der Fixierungsflüssigkeit beschäftigen. Ich habe auch mitgeholfen. Auch Frl. Bennemann war dabei tätig. Aus den getroffenen Vorbereitungen konnte man nicht schließen, wieviel Leichen nun dieser grossen Sektion unterworfen werden sollten. Die benötigte Fixierungsflüssigkeit ist in ihrer Menge davon abhängig, ob unmittelbar nach der Anlieferung der Leichen eine Zerkleinerung dieser Leichen in einem erheblichen Masse erfolgen soll oder nicht. Wichtig ist bei den Sektionen, dass Organpräparate körperwarm fixiert werden. Die Leichen sind von dem Leichenwagen der Anatomie abgeholt worden. Ich weiss mit Sicherheit, dass unser Leichenwagen, ein geschlossener Combiwagen, weggefahren ist. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, wo die Leichen abgeholt wurden. Es wurde lediglich darüber gesprochen, dass sie aus Natzweiler kämen. Die Anlieferung der Leichen habe ich nicht beobachtet. Mit der Präparierung habe ich mich auch nicht befasst. Ich war lediglich eingeschaltet 309  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34166 Prozessakte Beger, S. 54, Vorlesungsverzeichnis Universität Straßburg 1944 / 45. 310  USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020, Vernehmungsprotokoll Bong o. Dat., S. 257. 311  Ebbinghaus / Dörner / Linne u. a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, S. 00757.

372

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

bei den beschriebenen Vorbereitungsarbeiten. Mir ist bekannt, dass eine Skelettund Schädelsammlung angelegt worden ist. Ich weiss mit Sicherheit, dass Judenschädel und Judenskelette präpariert worden sind. Die Präparation wurde von Bong durchgeführt. Speziell erinnere ich mich noch an einen Schädel, der mir von Bong deswegen gezeigt wurde, weil man daran erkennen konnte, wie zahntechnische Arbeiten in den osteuropäischen Ländern ausgeführt worden sind.“312

Es muss offen bleiben, ob die Zeugin Schmitt sich an die Präparierung von Skeletten von Leichen verstorbener Juden aus Natzweiler im Rahmen des Unterrichtsbetriebes erinnerte oder ob sich die Erinnerung auf einige der 86 Opfer bezog. Zudem meldete sich Institutsdirektor Hirt erst am 24.9.1943 wieder beim Ahnenerbe aus der Kur zurück.313 Hirt berichtete, dass die Arbeit in Straßburg trotz Bombenangriffen weitergehe; er teilte ferner mit, dass er zwei neue Fluoreszenzmikroskope für das Ahnenerbe kaufen konnte. Ebenso fragt er nach der neuen Adresse der mittlerweile verlagerten Ahnenerbe-Zentrale. Nach seiner Rückkehr fand August Hirt 86 konservierte Leichen in seinen Institutsräumlichkeiten vor. Es waren Morde ermöglicht worden, um eine Schädel- oder Skelettsammlung begründen zu können. Angeblich wollte Hirt eine Sammlung aufbauen, um wissenschaftlichen Ruhm zu ernten. Doch weder jetzt noch irgendwann in der Zukunft bedankte sich Hirt für dieses Entgegenkommen und den großen Aufwand, den das Ahnenerbe und die SS damit gehabt hatten. Hirt, der die geschenkten Orangen lieber bezahlen wollte, der sich verunsichert bei Sievers erkundigte, auf welchem Wege er sich in dienstlich korrekter Weise bei Himmler für eine Geschenksendung mit Eiern und Mehl bedanken könne – dieser höfliche Hirt hätte sich mit großer Wahrscheinlichkeit dafür bedankt, dass andere für seine Forschungen und für sein akademisches Fortkommen 150 Menschen ermordet und die Leichen in sein Institut gebracht hätten. Während Beger nach dem Auschwitz-Aufenthalt einzelne Häftlinge für die Zuarbeit lobte, fand Hirt nur überschwänglichen Dank für die Kur und lobte einzelne Pflegekräfte – aber kein Wort über all die vielen Personen, die es ermöglicht hatten, dass nun 86 zu präparierende Skelette in seinem Institut lagerten. Hirts Oberpräparator Otto Bong gab am 28.12.1944 den französischen Ermittlungsbehörden gegenüber an, dass er sich darüber gewundert habe, wie mit den 86 Leichen umgegangen worden sei: „Es erschien mir seltsam, dass sich der Professor ein Jahr lang gar nicht für die Leichen interessiert hat. Er hat mich nicht einmal aufgefordert, die Goldzähne zu entfernen, wie das sonst bei den Leichen, die wir erhielten, üblich war.“314

312  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34147 Prozessakte Beger, Aussage Schmitt vom 10.4.1963, S. 484 ff. (Hervorhebungen durch den Verfasser). 313  BArch NS 21 / 50, Schreiben von Hirt an Sievers vom 24.9.1943. 314  Steegmann, Natzweiler, S. 429.



IV. Niemand hat die Absicht, eine Skelettsammlung aufzubauen 373

Auch dieses Detail ist ein Indiz, dass Hirt diese 86 Leichen nicht als „seine“ Leichen ansah, sondern sie in Gänze für einen Dritten aufbewahrte. Dies belegt ebenfalls ein Schreiben von Wolff an Beger vom 3.11.1943 in Bezug auf die Anforderung Wolfgang Abels zur Vermessung russischer Kriegsgefangener: „Mit Rücksicht auf die Arbeiten bei Prof.Dr. Hirt (Geheimauftrag) ist bisher davon Abstand genommen worden, Sie um Mitteilung zu bitten, ob eine Mithilfe an Prof. Dr. Abel’s Auftrag jetzt möglich ist.“315

Dieses Schreiben ist in verschiedener Hinsicht aufschlussreich. Wolff schreibt von Arbeiten Begers bei Hirt, aber von einer Mithilfe an einem Auftrag von Abel. Insofern ist es eindeutig, dass die Aktivitäten Begers in den vorangegangenen Monaten eine Arbeit Begers war, die dieser bei Hirt durchgeführt hatte, und nicht ein Projekt Hirts, bei dem Beger geholfen hatte.

IV. Niemand hat die Absicht, eine Skelettsammlung aufzubauen Für die nachfolgenden 13 Monate ist die Quellenlage schlecht. Am 2.2.1944 notierte Sievers nach einem Besuch bei Hirt in sein Diensttagebuch: „Abformungen von den untersuchten Rassetypen. SS-H’Stuf. Beger möge veranlassen, erforderliche Menge Negocoll und Positiv-Masse zu schicken, dann kann Präparator Bong die Abformungen selbst durchführen und Gabel braucht nicht zu kommen. Masse erforderlich für 80 Personen. Soll, falls Masse nicht bereitstellbar, Abformung in Gips erfolgen?“316

Dieser Eintrag zeigt, dass sowohl Sievers als auch Hirt und Beger sich in der Verantwortung sahen, die Abformmasse zu beschaffen. Wenn es sich um ein Vorhaben Hirts gehandelt hätte, hätte dieser oder Sievers sich um die Masse gekümmert, nicht aber der Anthropologe, der lediglich zur Opferauswahl hinzugezogen wurde. Ebenso wäre dann für Hirt und Sievers nicht die Frage ungeklärt gewesen, ob die Abformungen alternativ in Gips gewünscht würden. Beger erklärte, dass eine Abformung in Gips nicht infrage käme.317 Am 21.4.1944 schrieb Hirt an Sievers, dass er die Fotos, die Beger – in Auschwitz und Natzweiler – von den Häftlingen gefertigt habe, an diesen übersendet habe, da Beger verabredungsgemäß diese anthropologischen Dinge bearbeite.318 Wolff schrieb am 3.5.1944 an Schäfer, dass dieser einen Kurier senden möge, damit das Material in Begers Dienststelle in Mittersill 315  BArch

R 135 / 49, Schreiben von Wolff an Beger vom 3.11.1943. NS 21 / 11 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 2.2.1944. 317  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34150, Aussage Taylor über Sievers vom 9.12.1946, S. 790. 318  BArch NS 21 / 908, Schreiben von Hirt an Sievers vom 21.4.1944. 316  BArch

374

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

gebracht werden könne.319 Dies widerspricht der These von einem geplanten Museum, in dem die Abformungen der ganzen Körper, deren Röntgenbilder und die Skelette einander gegenüber gestellt werden sollten.320 Die Fotos hätten didaktisch zwingend dazugehört. Wolff gab gegenüber Michael Kater im Jahre 1964 an, die Lieferung nach Mittersill sei zwischen Mai 1944 und dem Beginn der Invasion in der Normandie am 6.6.1944 erfolgt.321 Der einzige konkrete Hinweis auf die Schädelsammlung in diesen Monaten findet sich in einem Schreiben Wolffs an Himmlers Büro vom 25.4.1944. Darin wurde begründet, dass Beger nicht bei Professor Abel eingesetzt werden konnte, weil dieser „jedoch zwischenzeitlich bei SS-Sturmbannführer Prof. Dr. A. Hirt die vom Reichsführer-SS angeordneten Arbeiten zur Erstellung einer Skelettsammlung besonderer Rassen-Typen ausführte“.322 Dies bestätigte Wolff noch einmal in seinem Brief an Schäfer vom 2.5.1944: „Der Reichsgeschäftsführer, SS-Standartenführer Sievers, dachte daraufhin daran, den Kameraden Beger für die Abel’schen Untersuchungen einzusetzen. B. war ebenfalls verhindert, diese Aufgabe zu übernehmen, da er ja an der Hirt’schen Skelettsammlung zu arbeiten hatte und außerdem seine anderen Aufgaben, die er bis zu seiner Einberufung zur Standarte Kurt Eggers erledigen wollte, abschließen mußte.“323

Wolff kommentierte diesen Brief in einer Vernehmung nach dem Krieg wie folgt: „Ich bin der Verfasser dieses Schreibens. Wenn in diesem Schreiben ausgeführt ist, Dr. Beger habe ständig an der Hirt’schen Skelettsammlung zu arbeiten gehabt, so ist das zutreffend. Solche Formulierungen konnten nur unter der ausdrücklichen Billigung von Sievers gebraucht werden. Die Skelettsammlung war damals die Hauptbeschäftigung von Dr. Beger. Wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätte Sievers widersprochen.“324

Ein Schreiben von Begers Mitarbeiter Trojan an diesen vom 9.6.1944 zeigt, dass Beger noch nicht endgültig entschieden hatte, was mit den Ergebnissen seines Einsatzes in Auschwitz zu geschehen habe. Trojan mahnte deshalb: „Warum ich vorgeschlagen habe, die Abformungen, die ja noch lange nicht fertig sind […] nach Salzburg (leihweise natürlich) zu geben, so nur, weil ich überzeugt 319  Ebd.,

Schreiben von Wolff an Schäfer vom 3.5.1944. Nummern, S. 182. 321  IfZ ZS A 0025 03-30 Sammlung Michael H. Kater („Ahnenerbe“), Schreiben von Wolff an Kater vom 17.10.1964, S. 543. 322  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Urteil vom 6.4.1971, S. 35. 323  Ebd., Urteil vom 6.4.1971, S. 36. 324  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34148 Prozessakte Beger, Vernehmung Wolff vom 5.11.1963, S. 247 / 24 f. 320  Lang,



IV. Niemand hat die Absicht, eine Skelettsammlung aufzubauen 375 bin, dass sie hier in Mittersill vollkommen sinn- und zwecklos herumstehen werden. Und der Sinn einer Abformung kann einzig und allein der sein, Instruktionsmaterial zu sein, also angesehen zu werden. Daher müssen die Sachen in ein Museum. Ob jetzt oder nach dem Krieg ist eine gänzlich andere Sache, die mir auch keinerlei Kopfzerbrechen macht. Deine Ausstellungspläne sind zweifellos berechtigt, nur vermute ich, dass alle Leute die in der Lage sind, überhaupt etwas ausstellen zu können, sich mit diesem Gedanken beschäftigen. Ich habe auch mit Gabel im Laufe unserer Abformungen (es sind 24 geworden)325 viel darüber gesprochen und bin der Meinung, dass wir in einigen Jahren vielleicht tatsächlich, wenn wir die nötigen Räume dazu haben, so etwas hinstellen können. Vorerst aber werden diese Sachen wohl nur Pläne bleiben, die sicherlich noch hundertmal umgestossen werden müssen, bevor sie verwertbar sind.“326

Offensichtlich war es Beger, der überlegte, ein Museum oder eine Kette von Museen mit Exponaten, insbesondere Dioramen zu gründen oder auszustatten. Diese hätten seine These aus seiner Sicht nicht nur Fachwissenschaftlern, sondern auch breiteren Bevölkerungsschichten eindrucksvoll vermitteln können. Begers Überlegungen eines Museumsprojektes zur Ausstellung seiner Abformungen scheinen plausibel und werden durch die dargelegten Belege und Indizien gestützt. Insofern hätte es tatsächlich den Plan gegeben, ein Museum aufzubauen. Allerdings nicht im Rahmen der Universität Straßburg, sondern nach dem Muster der oben erläuterten Tibetschau im „Haus der Natur“ in Salzburg. Bemerkenswert ist zudem der Hinweis, dass es 24 abgeformte Köpfe gebe. Die beabsichtigte leihweise Abgabe der Exponate nach Salzburg ist ebenfalls bemerkenswert. Offenbar dachte Trojan nicht daran, sie dauerhaft dort auszustellen, was die Vermutung nahe legt, dass für diese 24 Köpfe zu einem späteren ein anderer musealer Kontext geplant war. Es existierte parallel eine rege Korrespondenz Hirts mit dem Ahnenerbe, das ihm behilflich war, die Leichenaufzüge einbauen zu lassen. Schlussendlich war dies beinahe vergeblich, da noch 1944 das örtliche Arbeitsamt die Arbeitskräfte zum Einbau der Aufzüge verweigerte.327 Der Ingenieur Hickel von der Bauleitung der Universität bestätigte den letztendlich noch erfolgten Einbau der beiden Leichenaufzüge durch die Firma Widmann in Straßburg im Jahr 1944.328 Auch beriet Hirt Sievers hinsichtlich neuer Publikationsideen aus dem Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung.329 Es ist 325  Dies deckt sich mit den Aussagen aus dem Beger-Prozess, in dem teilweise von 20, teilweise von 24 Abformungen gesprochen wurde. 326  BArch R 135 / 44, Schreiben von Trojan an Beger vom 9.6.1944. 327  BArch NS 21 / 11 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 2.2.1944. 328  USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020, Vernehmungsprotokoll Hickel vom 19.12.1946, S. 126 ff. 329  BArch NS 21 / 908, Schreiben von Hirt an Sievers vom 21.1.1944.

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D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

jedoch keine Aktivität Hirts zu erkennen, die bei ihm eingelagerten Leichen zu präparieren oder Abformmasse von sich aus anzufordern. Auch von Beger sind keine Nachfragen wegen der ausbleibenden Skelettierung erhalten. Auch Himmler, der angeblich auf die Fertigung einer Sammlung gedrängt hatte, schaltete sich nicht mehr ein. Sollte Hirt und nicht Beger tatsächlich ein Museum geplant haben und sich aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen Verzögerungen ergeben haben, so wäre es naheliegend gewesen, diese von Himmler beseitigen zu lassen oder sich zumindest in der bewährten Weise über dieses Ärgernis zu beklagen. Doch auch dies geschah nicht. Nur ein Kontakt zwischen Beger und Hirt in dieser Zeit ist indirekt belegt: WolfDietrich Wolff bestätigte am 17.7.1964 Michael Kater gegenüber, dass Beger und Hirt im Sommer 1944 darüber besprochen haben sollen, die noch nicht fertiggestellten Schädelpräparate ins Reichsinnere zu verlagern.330 Zudem hat Wolff dabei gegenüber Kater bezeugt, dass ein Teil der bereits präparierten Schädelsammlung – von Beger angefordert – in dessen Dienststelle Schloss Mittersill zur weiteren Beforschung und Abdruckfertigung geschickt worden sein soll. Es bliebe noch eine Möglichkeit, warum die Skelettierungen noch nicht begonnen hatten: Zunächst fehlte die Negocoll-Abformasse, um Abdrücke der Leichen zu nehmen, ebenso wie die Hominit-Masse für die Positiv-Modelle. Zwar hatte Bong angeblich Wimmers Kopf abgeformt, was dafür spricht, dass doch eine gewisse Menge dieser Massen in Straßburg vorhanden war. Da die von Beger bestellten insgesamt 450 Kilogramm zunächst aufgrund eines noch nicht erteilten Reisevisums in die Schweiz als Herstellungsort des Produkts für den Inhaber der Firma Picknes, Hilmar Teuber, nicht von Picknes geliefert werden konnten, ist anzunehmen, dass er die für die Kaukasus-Expedition schon bei Picknes beschafften Vorräte an Abformmasse ganz oder teilweise vorab nach Straßburg gesandt hatte. Ein Teil der nach Straßburg gelieferten Masse wurde jedoch in einer der später verlagerten Kisten Hirts in Schwärzloch gefunden. Es ist jedoch in der reichhaltigen Korrespondenz Hirts aus dieser Zeit nicht eine einzige Anforderung nach mehr Abformmasse erhalten, ebenso wenig wie eine Rüge aufgrund zu wenig Masse oder ein Hinweis, dass die Arbeiten nicht umgesetzt werden konnten, weil keine Masse vorhanden gewesen sei. Dass Hirt sich gern und deutlich beklagte, wenn seine Projekte durch von Dritten verursachte Mängel gefährdet waren, hatte er bei der Häftlingsernährung in Natzweiler, der mangelnden Mitarbeit des dortigen Lagerarztes oder des schleppenden Laborbaus in Straßburg und Natzweiler bewiesen. Ebenso bemerkenswert ist die vorab ausgestellte Rechnung von Picknes für die Abformmasse vom 6.8.1944: Als Empfänger von Rechnung und Lieferung war nicht etwa die Straßburger 330  Kater, Ahnenerbe, S. 250 und 426: Bestätigung von Wolff gegenüber Kater vom 17.7.1964.



IV. Niemand hat die Absicht, eine Skelettsammlung aufzubauen 377

Anatomie oder die Abteilung H des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung angegeben, sondern „Titl. Waffen-,SS‘ Sonderkommando ‚K‘ Mittersill Schloss“.331 Der Haushaltstitel des Sonderkommandos „K“ hatte jedoch nichts mit den Forschungsvorhaben Hirts, der Abteilung H des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung oder den Projekten der staatlichen Reichsuniversität Straßburg zu tun. Die Häftlinge waren kurzfristig nach Natzweiler umgeleitet worden. Dort war jedoch – wie auch bereits zum ursprünglichen Termin für Begers Einsatz Ende 1942 – nichts vorbereitet gewesen. Weder war in Natzweiler der Gasmaskenübungsraum so umgebaut worden, dass er sich zur Ermordung mit Blausäurekristallen eignete, noch war das Gift überhaupt beschafft worden. Weder hatte Hirt eine Mazerationseinrichtung noch genug Personal, um die anstehenden Arbeiten effizient durchführen zu können. Vor allem aber fehlte Abformmasse, um von den 86 Opfern vor der Ermordung oder kurz danach, solange die Gesichtszüge noch authentisch waren und die Weichteile sich noch nicht verändert hatten, Abformungen zu nehmen. Nachdem die Leichen eine Weile nach Begers Abreise in der Anatomie lagen, musste mit ihnen etwas geschehen sein. Keine Anatomie jener Zeit dürfte auf die langfristige und außerplanmäßige Belegung von 86 Kühlfächern neben dem regulären Betrieb vorbereitet gewesen sein. Gerade im Bereich des öffentlichen Bauwesens in Zeiten kriegsbedingter Materialknappheit wäre eine solche Überdimensionierung einer Anatomie unwahrscheinlich gewesen. Hirts Assistent Kiesselbach schätzte nach dem Krieg, dass im Zusammenhang mit der Schädelsammlung höchstens 80 Leichen aus Natzweiler angeliefert wurden. Dies begründete er explizit mit dem Fassungsvermögen der Anatomie.332 Diese war der Pathologie in der Ausstattung sehr ähnlich, was auch heute noch gut zu besichtigen ist. In Ermangelung von Grundrissen des Kellers der Anatomie kann aus dem spiegelseitigen Grundriss der Pathologie entnommen werden, dass dort insgesamt nur drei von 20 Leichenkühlfächern von einem Maschinenraum – oben links – gespeist wurden. Die drei Kühlfächer unten rechts waren allerdings nicht wie die anderen 17 Fächer auf natürliche Kühlung im Kellerklima der Nordseite des Gebäudes ausgerichtet, sondern für die Lagerung von in Bearbeitung befindlichen Leichen bei 0 bis plus 2 Grad Celsius gedacht. Die drei Kühlfächer, die über eine eigene Kühlung verfügten, sind mit den Nummern 1–3 gekennzeichnet.333 Auch in der Anatomie gab es, wie oben gezeigt, drei Leichenkühlfächer. 331  BArch NS 21 / 908, Vorab-Rechnung von Picknes an Sonderkommando K vom 6.8.1944. 332  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Kiesselbach vom 31.1.1963, S. 381 ff. 333  USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020, Vernehmungsprotokoll Hickel vom 19.12.1946, S. 126 ff.

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D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

Abb. 37: Grundrisse der Gebäude der Reichsuniversität Straßburg für das Reichsfinanzministerium als Bauherr. (Quelle: BArch R 2 / 29536)

Also entschlossen sich Hirts Mitarbeiter in dessen kurbedingter Abwesenheit – offenbar aufgrund der Begrenztheit der Kühlfächer und zur Aufrechterhaltung des regulären Betriebes in der Anatomie –, die meisten Leichen zu konservieren. Die durch die Sternalpunktionskanülen über die Oberschenkelarterie eingebrachte Konservierungsflüssigkeit bringt es jedoch mit sich, dass der so konservierte Leichnam aufquillt. In jeder Anatomie kursieren Geschichten, wie oft Angehörige auch in der Gegenwart den Verstorbenen gar nicht mehr wiedererkennen, da sich durch die Einspritzungen von Formaldehyd- und Aethylalkohol-Lösung die Gesichtszüge sehr stark verändern und aufschwemmen. Dieser Effekt ist auf den nach dem Kriege gefertigten Fotos von den 16 in der Anatomie verbliebenen Opfern gut zu erkennen. Nach einer solchen Konservierung wäre die Abnahme von Abdrücken zur Kenntlichmachung von typischen anthropologischen Merkmalen von Innerasiaten oder Juden sinnlos gewesen. Damit war das Projekt für Beger durch die gewählte Konservierungsmethode weitgehend zerstört. Dies mag der Grund gewesen sein, warum von Bong zwar einige Abformungen gemacht wurden, diese aber so unbrauchbar waren, dass von der geringen Menge Abformmasse noch ein großes Quantum mit Hirts Kisten verlagert wurde. Bong selbst sagte nach dem Kriege aus, dass tatsächlich im Juni 1944 – also noch während des Schriftwechsels zwischen Beger, Trojan, Wolff und Sievers bezüglich der Umsetzung der Bestellung bei der Firma Picknes – etwas Abformmasse geliefert worden sei. Da Picknes nicht geliefert hatte und dann aus Devisenmangel nicht mehr liefern konnte, ist davon auszugehen, dass es sich um Begers Abformmasse von der Kaukasus-Expe-



IV. Niemand hat die Absicht, eine Skelettsammlung aufzubauen 379

Abb. 38: Fotos von Opfern aus dem „Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade“, die die Einstichstellen der Sternalpunktionskanüle in die Arteria fermoralis gut erkennen lassen. (Quelle: HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34160 Prozessakte Beger, S. 37)

Abb. 39: Der Lagerort der im Rahmen der militärgerichtlichen Untersuchung („Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade“) im Untergeschoss der Anatomie aufgefundenen und fotografierten Leichen. Aus dem hinteren Becken ragen Leichenteile. (Quelle: Pressac, Struthof, S. 74).

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D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

Abb. 40: Derselbe Ort wird auch heute noch zur Lagerung von Leichen und Leichenteilen verwendet. (Foto: Archiv des Verfassers).

Abb. 41: Vier der von Hirt verwendeten Aufbewahrungsbehälter für in Alkohol konservierte Leichen befinden sich sowohl im Untergeschoss der Anatomie im oben abgebildeten Raum neben dem Leichenkühlraum. Zahlreiche weitere befanden und befinden sich im Erdgeschoss, hier im Anatomie-Seminarraum, wo sie bis heute in Betrieb sind. (Fotos: Archiv des Verfassers).

dition handelte. Bong gab an, dass keine Abformungen von den 86 Leichen gemacht wurden, weshalb die Abformmasse mit Hirts Kisten nach Tübingen geschickt worden sei.334 Bei dieser Gelegenheit sagte Bong aus, dass bis zum 334  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Bong vom 10.1.1963, S.  330 ff.



IV. Niemand hat die Absicht, eine Skelettsammlung aufzubauen 381

Fall von Straßburg keine Mazerationseinrichtung an die Anatomie der Universität Straßburg geliefert worden sei. Es ist jedoch unzweifelhaft, dass irgendwelche Abformungen gefertigt wurden, wie Hirt gegenüber Sievers bestätigte.335 Weil die anthropologisch verwertbaren Abformungen nicht mehr genommen werden konnten, ist davon auszugehen, dass es sich dabei um Abformungen von Schädeln handelte, die nach der Enthauptung nur grob­ entfleischt und sodann später bei Friedrich Klinge mazeriert und entfettet wurden. Damit besteht sowohl die Möglichkeit, dass Hirts Mitarbeiter in geringem Umfang an den 86 Opfern gearbeitet haben. Wahrscheinlicher ist aber die Möglichkeit, dass Trojan die in Mittersill lagernden Schädel aus Auschwitz nach Straßburg geschickt hatte, damit „die damit fertig werden“ und dort die Präparierung erfolgen sollte. Offenbar hatte Hirt jedoch versucht, nicht alle Leichen zu konservieren, sondern einige in der Kühleinrichtung gelassen, da er möglicherweise noch auf die Lieferung weiterer Abformmasse hoffte. Dies begründet die Feststellung von Vertrocknungen von Handgewebe im Autopsiebericht zu den 16 Opfern, der nach dem Krieg angefertigt wurde.336 Es muss offen bleiben, ob Hirt Abformungen genommen hat und ob diese dann anthropologisch brauchbar waren. Bemerkenswert ist der umfangreiche Schriftwechsel zwischen Beger und den Mitarbeitern aus seiner Abteilung in der Forschungsstätte Innerasien mit der Ahnenerbe-Zentrale in Sachen Abformmasse. In einem Brief aus dieser Korrespondenz befassten sich Begers engster Mitarbeiter, Trojan, und Wolff damit, die seinerzeit von Beger selbst gegen Devisen aus der Schweiz bestellte Negocoll-Abformmasse endlich zu beschaffen. Am 12.4.1944 schrieb Wolff etwas ratlos an Begers Vorgesetzten Schäfer in Mittersill: „Kamerad Beger hat uns noch kurz vor seiner Einberufung davon unterrichtet, dass er für die Durchführung eines Geheim-Auftrages notwendige Menge von NegocollAbformmasse beschaffen wollte und sich dieserhalb bereits mit einigen Lieferanten in Verbindung gesetzt hat.“337

Darüber hinaus wollte Wolff wissen, wie weit die Bestellung gediehen sein. Offenbar war er nicht über die Abformungspläne Begers informiert. Es ist offensichtlich, dass es nicht Hirt war, der Abformungen nehmen wollte. Dann hätte er entweder selbst die Abformmasse bestellt oder bei seiner vorgesetzten Dienststelle – also Sievers oder Wolff – um Beschaffung gebeten. Schäfer reagierte offenkundig nicht auf die Anfrage Wolffs, denn dieser bat ihn am 8.5.1944 brieflich: 335  BArch NS 21 / 908, Schreiben von Hirt an Sievers vom 19.10.1944: Hirt teilte mit, dass „bereits vorhandenen Abgüsse“ vernichtet wurden. 336  BArch B 162 / 20260, Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade vom 15.1.1946, S. 10–51. 337  BArch NS 21 / 908, Schreiben von Wolff an Trojan vom 12.4.1944.

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D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

„Ich bat mit obigem Schreiben um Mitteilung, wie weit die Bestellung der Negocoll-Abformmasse inzwischen gediehen ist. Da die Masse jetzt sehr dringend benötigt wird, wäre ich Ihnen für eine kurze Antwort sehr dankbar. Vielleicht kann Herr Gabel mal bei den Lieferfirmen monieren, falls diese noch nichts von sich hören ließen.“338

Die Tatsache, dass Begers Präparator Gabel sich um die Beschaffung kümmern sollte, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass Begers Dienststelle federführend war und nicht diejenige Hirts. Am 22.5.1944 schrieb Wolff abermals an Trojan, nachdem ihn Schäfer in Unkenntnis der Zusammenhänge an den im Felde stehenden Beger verwiesen hatte: „Betr.: Lieferung von Negocoll Abformmasse […] SS-Hauptsturmführer Beger schrieb mir dazu am 4. März 44, dass er seine Lieferanten in Berlin gebeten hätte, 50 kg Negocoll, 250 kg Hominit hell und 150 kg Zellerit zu liefern.“339

Es ist bemerkenswert, dass Hirt in der Lage war, eine Gaskammer ausbauen zu lassen, Leichen für die anatomische Ausbildung zu organisieren und zahlreiche Medizinverbrechen in die Tat umzusetzen und dabei alle benötigten Materialien erfolgreich bestellen konnte. Es wäre wenig glaubhaft, dass er zur Bestellung einer legal erhältlichen Abformmasse, die in Anatomien nicht unüblich ist, die Unterstützung von Sievers und Wolff benötigte. Ebenso ist es bemerkenswert, dass Sievers und Wolff problemlos penibel bewachte Gifte wie Lost und Vergasungsgift für 86 Morde bestellen und beschaffen konnten. Es wäre daher ebenso wenig glaubhaft, dass sie bei der Bestellung der Abformmasse bei Picknes die Unterstützung von Beger benötigten. Daher liegt es nahe, dass die Abformmasse für über die KaukasusExpedition hinausgehende Projekte von Beger benötigt wurde. Dabei steht nicht die Frage im Raum, ob es sich bei diesen Projekten allein um die Schädelsammlung gehandelt hat. Es ist unzweifelhaft, dass Begers Mitarbeiter Trojan und Gabel für die Abformungen von Asiaten in Kriegsgefangenenlagern ebenfalls große Mengen Abformmasse benötigten. Von dieser mag ein Teil für die Abformung der Schädel in Straßburg bestimmt gewesen sein. Am 11.5.1944 schrieb Wolff: „Standartenführer! Die Firma Picknes, Berlin SW 68, Kochstr. 19, die uns für unsere Mongolenuntersuchungen die Abformmassen liefert, die nur aus der Schweiz bezogen werden können, trat an uns wegen der Beschaffung der notwendigen Devisen heran.“340

Dieses Schreiben hält ausdrücklich fest, dass es nicht darum ging, getötete Juden abzuformen, sondern die Abformmassenanforderung zu Begers Mon338  Ebd.,

Schreiben von Wolff an Schäfer vom 8.5.1944. NS 21 / 908, Schreiben von Wolff an Trojan vom 22.5.1944. 340  Ebd, Schreiben von Wolff an Sievers vom 11.5.1944. 339  BArch



IV. Niemand hat die Absicht, eine Skelettsammlung aufzubauen 383

golenforschung gehörte. Am 8.6.1944 teilte Wolff Teuber mit, dass die benötigten Devisen bereitgestellt wurden und abgerufen werden sollten.341 Am 9.6.1944 schrieb Teuber an Wolff und teilte mit, dass er zwar mit Hauptsturmführer Pfeiler von der Devisenstelle des Reichssicherheitshauptamtes in Kontakt stehe, dieser aber nicht bei dem nächsten Hindernis in Zusammenhang mit der Beschaffung helfen könne: Teubers Pass war abgelaufen.342 Einige Wochen später, am 26.6.1944, teilte Trojan Wolff mit, dass er bereits eine Teillieferung Abformungsmasse an Hirt übersandt habe.343 Es kann sich dabei nicht um einen Teil der von Beger bestellten 450 Kilogramm Abformmasse gehandelt haben, sondern um Lagerbestände, denn diese war zu diesem Zeitpunkt in Ermangelung eines Visums noch nicht zu beschaffen. Einige Wochen später, am 5.7.1944, schrieb Wolff an Trojan: „Ihr obiges Schreiben hat mich einigermaßen in Verwunderung versetzt. Wir haben bei der Firma Picknes, dem Generalrepräsentanten der Apotela AG, Zürich, für einen größeren Betrag Abformmassen verschiedener Art bestellt. Der Vertreter der Firma Picknes, mit dem ich mehrere Male fernmündlich verhandelte, gab zu verstehen, daß es außerordentlich schwierig sein dürfte, die Abformmassen aus der Schweiz zu beschaffen, es wäre daher unbedingt seine persönliche Anwesenheit in Zürich erforderlich. Ich habe Herrn Teuber aufgefordert, seinen Paß hierher einzureichen und bereits einen Antrag auf Visaerteilung gestellt. Nachdem Sie mir nunmehr berichten, dass Sie bereits eine Teillieferung Herrn Prof. Hirt zur Verfügung stellten, nehme ich an, dass noch weitere Teillieferungen folgen werden und die Reise des Herrn Teubner nach Zürich nicht unterstützt zu werden braucht. Darf ich Sie recht bald zu Ihrer Stellungnahme zu der Angelegenheit bitten, damit ich gegebenenfalls den Antrag auf Visaerteilung zurückziehen kann.“344

Auf dem Schreiben hatte Wolff handschriftlich einen Wiedervorlagevermerk für den 30.7.1944 notiert. Offenbar war auch ihm nicht klar, wie weiter entschieden werden sollte. Trojan antwortete am 8.7.1944: „Sehr geehrter Herr Wolff! Auf Ihr Schreiben vom 05.07.1944 teile ich Ihnen folgendes mit: Kamerad Beger hat mit Schreiben vom 4.3.44 bei der Firma Picknes 50 kg Negocoll, 250 kg Hominit, 150 kg Zellerit bestellt. Im Schreiben vom 5.5.44 gibt uns die Firma Picknes bekannt, dass sie in der Lage ist uns eine größere Lieferung Abformmasse zur Verfügung zu stellen. Jedoch unter der Bedingung, daß wir die Firma unterstützen ihr Lager in entsprechender Weise zu ergänzen. Da die Abformmassen aus der Schweiz bezogen werden können, sollten wir entsprechende Schritte zur Beschaffung der erforderlichen Devisen unternehmen. Nach Rücksprache mit Stubaf. 341  Ebd.,

Schreiben von Wolff an Teuber vom 8.6.1944. Schreiben von Teuber an Wolff vom 9.6.1944. 343  Ebd., Schreiben von Trojan an Wolff vom 26.6.1944. 344  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 228, Schreiben von Wolff an Trojan vom 5.7.1944; vgl. BArch NS 21 / 908. 342  Ebd.,

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D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

Dr. Schäfer habe ich mich entschlossen Sie zu bitten, die notwendigen Maßnahmen zu treffen.“345

Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Trojan ausweislich der Korrespondenz überhaupt nicht orientiert war, zu welchem Zweck die Abformmasse geliefert werden sollte. Am 12.5.1944 schrieb er an Wolff, dass er nicht wisse, welche Abmachungen Beger getroffen habe. Er fragte jedoch ausdrücklich an, wieviel Abformmasse Beger für die Verbringung nach Straßburg zugesagt habe.346 Es dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass Beger die Masse zunächst für die Expedition des Sonderkommandos „K“ bestellt hatte und der Kenntnisstand Trojans noch der der Innerasiaten war. Von dieser Masse hatte Trojan möglicherweise etwas nach Straßburg geschickt und aus diesem Vorrat möglicherweise auch Gabel in Auschwitz Abformungen nehmen lassen. Dann hatte Beger vermutlich weitere Masse für insgesamt 150 Personen nachbestellt, die aber aufgrund des Versehens v. Eggens bei Picknes nicht rechtzeitig vor der Abreise nach Auschwitz, beziehungsweise Straßburg eintraf. Der weitere Schriftwechsel belegt eindeutig, dass der Persönliche Stab ein Jahr nach der Ermordungsaktion die Beschaffung größerer Mengen von Abformmasse aus der Schweiz einstweilen zurückstellte.347 Darüber schien nur niemand den Lieferanten informiert zu haben: Am 6.8.1944 informierte der Inhaber von Picknes, Hilmar Teuber, das Ahnenerbe, dass er seinen Pass mit Reiseerlaubnis noch nicht zurückbekommen und er auch noch keine Nachricht über die Bereitstellung von Devisen erhalten habe. Ebenso wies er darauf hin, dass bislang nur für die Ware, nicht aber für die Reisekosten Devisen beantragt worden seien.348 Offensichtlich hatte niemand darauf reagiert, was darauf hindeutet, dass noch nichts endgültig entschieden war. Am 3.9.1944 hatte Teuber daraufhin erneut an das Ahnenerbe geschrieben und nachgefragt, weshalb er seinen Pass noch nicht zurückerhalten habe.349 Offenbar ging Teuber immer noch davon aus, Abformmassen für die Forschungsstätte Innerasien und Expeditionen beschaffen zu sollen. Am 2.9.1944 schrieb der Persönliche Stab an das Ahnenerbe, dass Himmler angeordnet habe, dass „die Reise des Mitarbeiters Hilmar Teuber350 nach der Schweiz, sowie alle derartigen Dienstreisen nach dem Ausland vor345  BArch

NS 21 / 908, Schreiben von Trojan an Wolff vom 8.7.1944. Schreiben von Trojan an Wolff vom 12.5.1944. 347  Ebd., Schreiben von Wolff an Trojan vom 22.5.1944. 348  Ebd., Schreiben von Teuber an Ahnenerbe vom 6.8.1944. 349  Ebd., Schreiben von Teuber an Ahnenerbe vom 3.9.1944. 350  In den Quellen findet sich die Schreibweise Teuber und Teubner. Da jedoch die Witwe Teubers im Rahmen des Beger-Prozesses vernommen wurde und dort Teubner geschrieben wird, auf dem Briefbogen des Unternehmens der Inhaber als Hilmar Teuber firmierte, muss davon ausgegangen werden, dass die Ermittlungsbehörden im Beger-Fall einen Tippfehler nicht korrigierten. 346  Ebd.,



IV. Niemand hat die Absicht, eine Skelettsammlung aufzubauen 385

erst zurück gestellt werden“.351 Hauptsturmführer Pfeiler von der Devisenstelle des Reichssicherheitshauptamtes fragte am 25.10.1944 beim Ahnenerbe an, warum denn die Firma Picknes die Devisen noch nicht abgeholt habe.352 Offenbar hatte ihn über die neue Situation niemand informiert. Dieses Kommunikations-Chaos lässt die Vermutung zu, dass es keine konkrete Devisenknappheit gab, sondern das Vorhaben eine so niedrige Priorität bei Himmler besaß, der zu diesem Zeitpunkt als Oberbefehlshaber Oberrhein erstmals in seinem Leben ein militärisches Kommando innehatte, dass sich kaum jemand für dessen Umsetzung interessierte.353 Endgültig wurde die Beschaffung jedoch erst mit Wolffs Antwort an Pfeiler am 3.11.1944 eingestellt. Hierbei ist festzuhalten, dass Wolff aufgrund der Tatsache, dass ein Mitarbeiter der Firma Picknes persönlich in der Schweiz die Abformmasse hätte abholen müssen und Himmler Auslandsreisen untersagt hatte, auf die Bereitstellung von Devisen verzichtete.354 Der gesamte Schriftwechsel belegt, dass die Anforderung für die Abformmasse von der Forschungsstätte Innerasien und Expeditionen – gesteuert von Beger – und nicht von Hirt oder der Reichsuniversität Straßburg ausging. Dies wird an verschiedenen Stellen deutlich, beispielsweise in Teubers Brief an das Ahnenerbe vom 9.6.1944. Hierin beklagt sich Teuber, dass es sehr kompliziert sei, seinen Pass verlängern zu lassen, um die für Ende jenes Monats geplante Reise zur Abholung der Abformmassen in der Schweiz anzutreten. In diesem Zusammenhang hält er fest: „Als ich schon einmal vor Jahren für die gleiche Stelle in der Schweiz war, wurde mir der Pass fix und fertig mit Sichtvermerk zusammen mit den Devisen in bar vom SS-Versorgungshauptamt Berlin Kaiserallee (Obersturmführer von Eggen) ausgehändigt.“355

Mit der „gleichen Stelle“ meinte Teuber die Forschungsstätte für Innerasien und Expeditionen, für dessen Expedition „K“ er bereits die oben genannte Abformmasse geliefert hatte. Beger war zum 25.5.1944 wieder für einen Einsatz als Kriegsberichterstatter für das „Rassen im Kampf“-Projekt aus Mittersill abgereist.356 Vorher hatte er noch an den Schädeln gearbeitet, wobei bis heute unklar ist, ob er

351  BArch NS 21 / 908, Schreiben von Persönlicher Stab an Ahnenerbe vom 2.9.1944. 352  Ebd., Schreiben von Pfeiler an Wolff vom 25.10.1944. 353  Kershaw, Ende, S. 483. 354  BArch NS 21 / 908, Schreiben von Wolff an Devisenstelle RSHA vom 3.11.1944. 355  Ebd., Schreiben von Teuber an Ahnenerbe vom 9.6.1944. 356  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 210.

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D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

sich dafür in Straßburg aufhielt.357 Deshalb fragte Trojan von dort brieflich bei Beger am 23.6.1944 nach: „Was soll eigentlich mit den Judenschädeln geschehen? Wir haben sie herumstehen und verlieren nur Platz dadurch. Was war ursprünglich damit geplant? Ich halte es für das Vernünftigste, sie so wie sie sind nach Straßburg zu schicken, die sollen dann sehen, wie sie damit fertig werden.“358

Dieses Schreiben beweist, ebenso wie das Zeugnis Wolffs gegenüber Kater, dass am Dienstsitz Begers Schädel oder Schädelabformungen aus dem Verbrechen lagerten. Dies bestätigte auch Schäfer im Jahre 1967. Nach seinen Angaben habe es sich um „Köpfe von Tibetern und andere Personen“ gehandelt.359 Beger selbst wurde im Jahre 1964 von Michael Kater mit diesem Brief Trojans konfrontiert. Er schrieb an diesen zurück, Trojan habe den Begriff falsch gebraucht: „Der Trojansche Ausdruck ‚Schädel‘ ist von der anthropologischen Terminologie her falsch. Es ist nicht wissenschaftlich, sondern umgangssprachlich zu verstehen.“ Im Übrigen habe es sich um die Kopfabformungen bzw. die Masken aus Auschwitz gehandelt, „nachdem wir dort nicht wie ursprünglich gehofft viele Innerasiaten für Abformungen fanden“.360 Kater insistierte, dass er sich bei Anthropologen erkundigt habe und man sich sicher sei, dass kein Anthropologe Abformungen eines Kopfes als „Judenschädel“ bezeichnen würde. Zudem sei der Hinweis auf Straßburg im Brief ein sicheres Indiz, dass auch Trojan um die Verbindung zwischen Beger und Hirt wusste. Für Kater ist die Angelegenheit deshalb nach wie vor ungeklärt.361 Danach hat Beger sich Kater gegenüber nicht mehr zu diesem Thema genauer geäußert. Die Formulierungen Trojans „so wie sie sind“ und „damit fertig werden“ sind aufschlussreich. Diese legen neben der Annahme, dass es sich nicht um Abformungen, sondern um Schädel handelte, die Vermutung nahe, dass es eben noch keine fertig präparierten Schädelskelette waren, sondern möglicherweise grobentfleischte menschliche Köpfe der 26 Opfer, die bei Abbruch des Aufenthalts in Auschwitz bereits abgeformt und dort bereits ermordet worden waren. Es darf bei der Beurteilung der Sachkundigkeit Trojans nicht unbeachtet bleiben, dass dieser, wie gezeigt, eine eigene Publikation plante, die 357  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Wolff vom 7.11.1962, S. 213. 358  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 72; vgl. BArch R 135 / 44, Schreiben von Trojan an Beger vom 23.6.1944. 359  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr.  34151, Aussage Schäfer vom 26.7.1967, S. 1161. 360  IfZ ZS A 0025 01-25 Sammlung Michael H. Kater („Ahnenerbe“), Brief von Beger an Kater vom 21.5.1964, S. 7. 361  IfZ ZS A 0025 01-28 Sammlung Michael H. Kater („Ahnenerbe“), Brief von Kater an Beger vom 21.5.1964, S. 11.



IV. Niemand hat die Absicht, eine Skelettsammlung aufzubauen 387

Beger als „Skelettarbeit“ bezeichnete. Es ist also eher auszuschließen, dass Trojan Begriffe falsch verwendete.362 Die verschiedenen Angaben zur Opferzahl bereiteten auch der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt Kopfzerbrechen, wie sich unten noch näher zeigen wird. Ohne Zweifel befanden sich auch die 26 Gesichtsplastiken, die Gabel in Auschwitz gefertigt hatte, zu diesem Zeitpunkt in Mittersill: „Nach meiner Rückkehr von Auschwitz wurden die von mir genommenen Gesichtsmasken in Mittersill aufbewahrt, und zwar bis kurz vor Kriegsende.“ Anschließend habe Schäfer den Befehl gegeben, die Masken zu zerstören.363 Dies führte Gabel unter anderem auf die Aufbewahrungsbehältnisse zurück. Es sollen Kistchen gewesen sein, die mit deutlichen Hinweisen auf das Konzentrationslager Auschwitz gekennzeichnet gewesen seien.364 Doch die Köpfe selbst wurden möglicherweise auch aus Mittersill entfernt: „Die Hirtschen Köpfe hat Gabel so weit wie möglich in Ordnung gebracht und verpackt, dass sie unter Umständen weggeschickt werden können. Pickness hat eine weitere Sendung der Abformmasse geschickt. Wenn die Sperre wieder vorüber ist, werden wir Hirt die entsprechende Menge schicken.“365

Dieser Brief belegt unzweifelhaft, dass es sich bei den zu versendenden Köpfen nicht um Abformungen handelte, da Gabel diese kurz vor Kriegsende zerstört hatte.366 Abformungen hätte er auch nicht „so weit wie möglich in Ordnung“ bringen müssen oder können. Daher ist anzunehmen, dass der Präparator Gabel grobentfleischte Köpfe dorthin schickte, wo man wüsste, wie man „damit fertig“ werde. Die Tatsache, dass im Zusammenhang mit den Köpfen Abformmasse an Hirt gesandt werden sollte, zeigt, dass die Köpfe noch nicht in abformfähigen Zustand waren und Trojan, der nicht wußte, was mit den Köpfen geplant war, während er Abformmasse beschaffte, davon ausging, dass Hirt auf Kosten seiner Forschungseinrichtung Abformungen machte. Die in Auschwitz gewonnenen Abformungen standen allerdings nie zur Debatte – diese verblieben bis kurz vor Kriegsende in Mittersill und Trojan fragte nur, was mit den Köpfen geschehen solle, nicht aber, was mit den Abformungen zu tun sei. Dies lässt vermuten, dass auch Trojan nach der ersten Nachfrage bei Beger Hirt als seinen Dienstleister begriff, der für ihn in Verbindung mit menschlichen Körperteilen Abformungen machen ließ. Dabei muss offen bleiben, ob sich in Mittersill unpräparierte Köpfe von in 362  BArch

R135 / 44, S. 164353. Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Gabel vom 25.7.1960, S. 52. 364  Ebd., Aussage Gabel vom 23.11.1962, S. 255. 365  BArch R 135 / 44, Schreiben von Trojan an Beger vom 8.8.1944. 366  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Gabel vom 25.7.1960, S.  50 ff. 363  HStA

388

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

Auschwitz ermordeten Häftlingen befanden, die zur Präparierung an Hirt gesandt werden sollten, oder ob Hirt erste präparierte Schädel bereits nach Mittersill geschickt hatte oder ob beide Varianten parallel zutrafen. Beger meldete sich von Mittersill aus am 24.5.1944 bei Sievers zum Wehrdienst in der SS-Kriegsberichter-Standarte „Kurt Eggers“ ab.367 Er wartete offenbar in der Kaserne auf seine Verlegung an die Front, die zunächst nicht erfolgte, wie er Sievers am 2.6.1944 um 12:15 Uhr fernmündlich mitteilte, nachdem dieser ihn angerufen hatte, um Beger die Verzögerungen bei der Devisenbeschaffung für die Abformmasse für die Schädel auf Schloss Mittersill mitzuteilen. Am 9.7.1944 teilte Beger Sievers dann am Telefon mit, dass er nun an die Front gehe.368 In den folgenden Monaten korrespondierte Trojan mehrfach mit Sievers bezüglich der Abformmasse. Aus diesem Briefwechsel ist erkennbar, dass die rudimentäre Schädelsammlung mit der Endbestimmung Mittersill zunächst von Beger dorthin verbracht wurde und er nach dem Fronteinsatz Abformungen – offensichtlich von Schädeln – selbst vornehmen wollte. Es muss offen bleiben, ob die Köpfe aus Mittersill bei Hirt eintrafen oder er selbst mit geringen Mengen an Abformmasse Abformungen vornahm. Dass ihm auf Veranlassung Begers Abformmasse geschickt wurde, belegt die Korrespondenz mit Beger ebenso wie die Tatsache, dass bei der Verlagerung der Universität Straßburg nach Tübingen noch Hominit in Straßburg vorhanden war.369 Für den an der Front stehenden Beger hatte Sievers das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse mit Schwertern beantragt und begründete diesen Antrag mit Begers anthropologischen Arbeiten. Am 30.8.1944 übersandte Sievers Beger den Orden postalisch.370 Beger bedankte sich in einem Brief und wies darauf hin, dass er mit Clauß noch in derselben Woche nach Bosnien aufbreche.371 Dort versuchte Beger muslimische Waffen-SS-Freiwillige aus dem Kaukasus zu vermessen. Clauß erhielt – nicht zuletzt durch Begers Hilfe – bis 1945 eine für das Ahnenerbe recht üppige monatliche Forschungsbeihilfe in Höhe von 600 Reichsmark.372 Mit der Höhe dürfte berücksichtigt worden sein, dass Clauß im Gegensatz zu den meisten anderen Forschungsbeihilfeempfängern keine sonstigen Einkünfte hatte.

367  BArch

NS 21 / 11 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 24.5.1944. Eintrag vom 9.7.1944. 369  BArch R 76 IV 55, Verlagerungsliste von Breuer zur Anatomie, S. 3. 370  BArch NS 21 / 238 und BArch R 135 / 44, Schreiben von Sievers an Beger vom 30.8.1944. 371  BArch R 135 / 44, Schreiben von Beger an Sievers vom 4.9.1944. 372  BArch NS 21 / 28 Abrechnung der Forschungsbeihilfen für den Monat Januar 1945. 368  Ebd.,



V. Die Spuren des Verbrechens werden vernichtet389

V. Die Spuren des Verbrechens werden vernichtet Nachdem sich die Alliierten Straßburg immer weiter näherten, fragte Sievers über Brandt bei Himmler am 5.9.1944 an, was mit den Spuren des Verbrechens zu geschehen habe: „Gemäß Vorschlag vom 09.02.1942 und dortiger Zustimmung vom 23.02.1942 AR / 492 / 37 wurde von SS-Sturmbannführer Professor Hirt die fehlende Skelettsammlung angelegt. Infolge Umfangs der damit verbundenen wissenschaftlichen Arbeit sind die Skelettierungsarbeiten noch nicht abgeschlossen. Hirt erbittet in Hinblick auf etwa erforderlichen Zeitaufwand für 80 Stück Weisungen, falls mit Bedrohung Straßburgs zu rechnen ist wegen der Behandlung der im Leichenkeller der Anatomie befindlichen Sammlung. Er kann Entfleischung und damit Unkenntlichmachung vornehmen, dann aber Gesamtarbeit teilweise umsonst und großer wissenschaftlicher Verlust für diese einzigartige Sammlung, weil danach Hominitabgüsse nicht mehr möglich wären. Skelettsammlung als solche nicht auffäl­ lig.“373

Dieses Schreiben Sievers zeigt, dass dieser versuchte, Himmler zu verschleiern, dass die befohlenen Arbeiten nur rudimentär ausgeführt worden waren. Ob 80 nun eine konkrete Zahl ist oder eine Rundung, muss dahingestellt bleiben. Bei nahezu allen Opfern war 13 Monate nach den Morden mit der Skelettierung noch nicht begonnen worden, dennoch wird die Ansammlung von Leichen als „Skelettsammlung“ bezeichnet. Der als einziger genannte Grund für die Verzögerung sind offenbar die fehlenden Abformungen gewesen. Diese waren jedoch das Fachgebiet der Anthropologen um Beger, die parallel in Kriegsgefangenenlagern Köpfe von Innerasiaten abformten. Die aus Begers fachlicher Sicht bestehende Notwendigkeit, hinsichtlich einiger anthropologischer Fragestellungen zu verwertbaren Ergebnissen zu gelangen, setzte jedoch nicht die Abformung des Schädels des lebenden Probanden voraus, sondern die Präparierung des Schädels nach dem Ableben. Der promovierte Anthropologe Trojan referierte dies am 23.6.1944: „Eine Abformung ist die Erfassung einer Stellung. Sie kann ja gar nichts anderes sein. Sie eignet sich also niemals zur Darstellung von Typen und Formen in einem Diorama. Sie entbehrt des Lebens. Sie ist Schauobjekt, geeignet die Form dreidimensional vorzuführen. An ihr noch zu studieren ist unmöglich. Sie muss vorher durchstudiert sein in ihrer Form, um überhaupt einen Zweck erfüllen zu können. Darin liegt der wesentlichste Punkt: Sie wird nicht gemacht um Forschungsmate­rial zu erhalten (dazu ist sie viel zu ungenau) sie wird gemacht um das Forschungs­ ergebnis zu erläutern, dreidimensional, also anschaulich zu erläutern. […] Zum mongoloiden Backenknochenproblem: Am Lebenden, das wage ich zu behaupten, werden wir nie zu einem brauchbaren Ergebnis kommen. Wir müssten Schädelserien haben, an denen in sorgfältigster Weise, durch die Außerachtlassung der Weich373  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 73.

390

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

teile, deren Variabilität uns immer noch am meisten zu schaffen macht, den knöchernen Bogen des Jugale zu studieren wäre. Hierin würde ich eine brauchbare Möglichkeit sehen einen Ausdruck für den Bau der Wangenbeingegend zu finden. Bei Deinem Vorschlag eines neuen Masses darfst Du aber keinesfalls vergessen, dass wir am Lebenden ja gar nicht das Porion messen können.“374

Dieses Schreiben Trojans ist eines der Schlüsseldokumente zum Verständnis des Verbrechens: Es ergibt sich aus der Gesamtschau der Quellen, dass Trojan nicht in die Einzelheiten und Hintergründe der Zusammenarbeit Hirts und Beger eingeweiht war. Jedoch schildert der Anthropologe, zu welchem wissenschaftlich-technischen Zweck Beger in Auschwitz Abformungen beauftragte und diese Arbeiten zunächst auch an den Straßburger Leichen plante. Vor allem aber betonte Trojan, dass die von Beger und ihm verfolgten Forschungsfragen nur beantwortet werden könnten, wenn nach der Abformung des lebenden Probanden mitsamt Weichteilen anschließend dessen Schädel mit reiner Knochensubstanz vermessen werden könne. Parallel zum eben genannten Schreiben informierte Sievers am 5.9.1944 auch Hirt darüber, dass er bei Himmler angefragt habe, was mit den gelagerten Leichen zu geschehen habe: „Lieber Kamerad Hirt ! Vielen Dank für Ihre Zeilen vom 30.8.1944. Ich freue mich, daß Sie wenigstens einige Tage in St. Lambrecht verbracht haben.375 Auch dieser kurze Aufenthalt wird Ihnen bestimmt gut getan haben. Da laut Verfügung des Gauleiters, die mir Prof. Huth noch am 2.9.1944 mitteilte, aus Straßburg nichts fortgeschafft werden durfte, haben Sie inzwischen nichts versäumt. Ich glaube aber, daß die nächste Zeit für Sie ziemlich unruhig werden wird. Das Schreiben von Prof. Brandt vom 21.8.1944 gebe ich Ihnen als Anlage wieder zurück. lch halte es für richtig, daß Sie sich auch für eine Zusammenarbeit mit Prof. Bickenbach bereit erklärt haben. Dabei wird sich ja am ehesten herausstellen, was von ihm zu halten ist. Sehr erfreulich ist, daß Sie in St. Lambrecht unmittelbare Verbindung zur SS-ärztlichen Akademie aufnehmen konnten. Ich bin gerne bereit, alle Möglichkeiten gemeinsamer Arbeitsverbindung zu unterstützen. Für alle Fälle lasse ich Ihnen durch SS-Obersturmführer Wolff Wehrmachtsfrachtbriefe zugehen. Sie können selbstverständlich wichtigste Materialien hierher nach Waischenfeld zum Versand bringen. Zum Vortrag beim Reichsführer-SS bin ich noch nicht gewesen.

374  BArch R 135 / 44, Schreiben von Trojan an Beger vom 23.6.1944 (Hervorhebungen durch den Verfasser). 375  Sievers hatte Hirt auch 1944 wieder einen Aufenthalt in St. Lambrecht ermöglicht.



V. Die Spuren des Verbrechens werden vernichtet391 Ich fahre morgen nach Berlin. Wegen der Frage der in Salzburg besprochenen Sammlung habe ich deshalb fernschriftliche Entscheidung erbeten. Sobald ich Antwort erhalte, gebe ich Ihnen fernschriftlich über den SD Straßburg Bescheid. Ich habe zur Entscheidung folgende Vorschläge unterbreitet: 1. Sammlung kann bestehen bleiben. 2. Sammlung ist teilweise aufzulösen. 3. Sammlung ist im ganzen aufzulösen. Die Möglichkeit zu 2 besagt, wie wir in Salzburg besprochen haben, daß Weichteile entfernt werden, wodurch dann allerdings Hominit-Abgüsse nicht mehr möglich sind. Ich hoffe immer noch, daß es dazu nicht zu kommen braucht. Ich wünsche Ihnen für die nächste Zeit Hals- und Beinbruch und grüße Sie immer herzlichst.“376

Der Kommentar zur zweiten Option belegt unzweifelhaft, dass auch Sievers klar war, dass es bei den Abformungen nicht nur um die Erfassung des Schädelknochens ging, sondern das Erfassen der Weichteile durch Abformung ein elementarer Bestandteil von Begers Forschungsvorhaben war. Himmler ließ Sievers über seinen Stabsführer Baumert ausrichten, dass die Sammlung zu vernichten sei. Kurz darauf wurde diese Anweisung teilweise zurückgenommen, wie der von Baumerts Vertreter, dem Juristen und Hauptsturmführer Gustav Berg,377 am 15.10.1944 angelegte Aktenvermerk zeigt: „Am 12.10.1944 habe ich telefonisch mit SS-Standartenführer Sievers gesprochen und ihn gefragt, ob entsprechend der durch SS-Standartenführer Baumert gegebenen Weisung die Straßburger Skelettsammlung bereits ganz aufgelöst worden ist. SS-Standartenführer Sievers konnte mir darüber nichts mitteilen, da er von Prof. Hirt noch nichts Näheres erfahren habe. Ich sagte ihm, daß, falls die Auflösung noch nicht durchgeführt worden sei, ein Teil der Sammlung noch erhalten bleiben solle. Es müsse allerdings die Gewähr geboten sein, daß die völlige Auflösung rechtzeitig erfolgen könne, falls die militärische Lage Straßburg gefährdet. SSStandartenführer Sievers sagte zu, entsprechende Feststellungen treffen zu lassen und darüber zu berichten.“378

Am 19.10.1944 schrieb Hirt an Sievers: „In Ergänzung zu meinem bereits gegebenen Bericht teile ich im Anschluß an das erneute Fernschreiben vom 11. Okt. mit, dass die Sammlung in den wesentlichen Teilen aufgelöst ist. Alle für diagnostische Zwecke wichtigen Teile sind verbrannt. 376  HStA

Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 234 ff. Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Schreiben der Staatsanwaltschaft Hechingen an die Staatsanwaltschaft Frankfurt vom 7.2.1962. Berg taucht in den Quellen recht häufig auf, jedoch in der Regel ohne Vornamen oder Beruf. Gustav Berg lebte nach dem Kriege in Hamburg-Blankenese und arbeitete als Rechtsanwalt, wie aus dem vorgenannten Brief der Staatsanwaltschaft Hechingen hervorgeht. 378  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 238. 377  HStA

392

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

Vorhanden sind noch der größte Teil der Extremitäten, aus denen irgendwelche Rückschlüsse nicht mehr zu ziehen sind. Auch die bereits vorhandenen Abgüsse sind, da ein Abtransport nicht mehr möglich war, zerstört.“379

Dies zeigt, dass erste Abformungen in Straßburg vorhanden waren, und zwar möglicherweise aus Mittersill oder von den gekühlten Leichen, die nicht in Alkohol konserviert waren. Am 26.10.1944 hielt Berg in einem Aktenvermerk für Brandt fest, dass er Sievers am 21.10.1944 in Himmlers Feldkommandostelle auf den Stand der Auflösung der Sammlung angesprochen habe. Sievers habe berichtet, dass die Sammlung bereits restlos vernichtet sei.380 Spätestens am 28.10.1944 hatte Hirt erste Verlagerungen seines Instituts nach Tübingen durchgeführt und wollte selbst nur noch bis Semesterende zu Ausbildungszwecken bleiben.381 Nach der Aussage von Henripierre begannen Bong und Mayer die in der Anatomie befindlichen Leichen der 86 Opfer zu zerlegen und zum städtischen Krematorium zu bringen, was jedoch nur teilweise umgesetzt werden konnte.382 Henripierre gab zudem an, dass Ende September 70 Köpfe und 55 Leichenviertel kremiert wurden. In der Anatomie könnten also maximal 16 Schädelpräparate hergestellt worden sein. Diese Herstellung kann also nicht ausgeschlossen werden. Jedoch würde sie zu der Frage führen, welchen anthropologischen Wert die präparierten Schädel­ skelette ohne vorherige Abformung für Beger gehabt hätten. Da jedoch die französische Untersuchungskommission komplette Leichen untersuchte und Hirt selbst angab, 150 bis 200 ganze Leichen in Straßburg zurückgelassen zu haben, muss offen bleiben, ob Henripierres Aussage hier unpräzise ist oder nicht alle der im Ärzteprozess gezeigten Fotos von Leichen die Opfer aus Auschwitz zeigen. Fest steht nur, falls tatsächlich 16 Schädelpräparate seit der Ermordung gefertigt worden wären, dass sich aus der daraus resultierenden Präparationsgeschwindigkeit ergibt, dass die Herstellung von Schädeln oder ganzen Skeletten der 150 genehmigten Opfer viele Jahre gedauert hätte. Dies konnte aber kaum Teil des ursprünglichen Plans sein. Der soeben genannte Befehl zur Auflösung der Sammlung und Vernichtung allen Materials zum Projekt der Schädelsammlung erreichte auch Mittersill. Gabel äußerte sich nach dem Krieg zu den von ihm in Auschwitz und den Kriegsgefangenenlagern gefertigten Gesichtsplastiken: „… kurz vor Kriegsende. Dann gab mir Dr. Schäfer den Auftrag, die Gesichtsmasken einzuschmelzen. Ich bedauerte das damals sehr. Ich hatte den Eindruck, dass Dr. Schäfer wegen der Masken eine fürchterliche Angst hatte.“383 379  BArch

NS 21 / 908, Schreiben von Hirt an Sievers vom 19.10.1944. Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 239. 381  BArch NS 21 / 11 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 28.10.1944. 382  Ebbinghaus / Dörner / Linne u.  a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Aussage Henripierre vom 18.12.1946, S. 758. 380  HStA



V. Die Spuren des Verbrechens werden vernichtet393

Fleischhacker gab im Beger-Prozess seine Aussage schriftlich zu Protokoll: „Die SS war an der Reichsuniversität Straßburg in höchstem Maße interessiert. Es ist im Rahmen des Sonderkommandos K davon gesprochen worden, daß das wissenschaftliche Kaukasusmaterial dorthin kommen sollte. Die Endstation für das anthropologische Material aus dem Kaukasus wäre dabei natürlicherweise das Anthropologische Institut in Straßburg bzw. der dortige Ordinarius gewesen. Ein Anthropologisches Institut bestand damals bereits auf dem Papier in Straßburg. Der Lehrstuhl war zwar noch nicht besetzt, Verhandlungen darüber liefen aber. In einer solchen Situation gilt allgemein die Anatomie oder der Anatom als Vertreter einer Nachbarwissenschaft als derjenige, der die Interessen der Anthropologie wahrnimmt. Dies ist eine alte Tradition, für die sich viele Beispiele anführen lassen. […] Die Anatomie war für mich also, solange kein Anthropologe da war, die gegebene Stelle, an der anthropologisches Material hinterlegt wurde. Es bestand für mich keinerlei Veranlassung, irgendwelche anderen Zusammenhänge als die geschilderten zu vermuten. Für mich gingen diese Unterlagen zu Prof. Hirt als dem Statthalter der Anthropologie bzw. des Anthropologen. Ich bin in verschiedenen Vernehmungen gefragt worden, was an diesem Material denn wissenschaftlich auszuwerten gewesen sei. Ich habe darauf geantwortet, daß dieses Material schon auf Grund seiner Zusammensetzung für irgendwelche anthropologischen Auswertungen ungeeignet gewesen sei. Es war zweifellos keine geschlossene Bevölkerungsgruppe, wie dies bei solchen Reihenuntersuchungen anzustreben ist. Diese Untersuchungsbögen waren aber immerhin die ersten wissenschaftlichen Dokumente, die im Rahmen der Vorbereitungen der Kaukasusexpedition angefallen waren. Es schien deshalb natürlich, sie dort aufzubewahren, wo später die gesamten Untersuchungsergebnisse hinkommen sollten. Überdies hatten die Untersuchungsbögen insofern einen Wert, als sie der Kontrolle späterer Untersuchungsergebnisse dienen konnten: An ihnen waren Differenzen der Merkmalsbestimmungen zwischen Dr. Beger und mir zu erkennen, Korrekturen der Meßergebnisse oder in der Bestimmung der Formmerkmale. Wären dann später unerklärliche Differenzen in einzelnen Befunden zwischen den Untersuchern aufgetreten, so hätte man in diesen Bögen Anhaltspunkte für entsprechende Korrekturen finden können“.384

Am 23.11.1944 fuhren um 10 Uhr amerikanische Panzer vor dem Bürgerspital vor und nahmen die dort tätigen Mitarbeiter gefangen.385 Sievers schrieb am 7.12.1944 aus Waischenfeld über den SD Bayreuth das oben erwähnte Fernschreiben an Brandt: „Hirt befindet sich z. Zt. in Tübingen. […] Bin nur froh, dass wir die Sammlung und alles was damit zusammenhängt restlos vernichtet haben.“386 383  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Gabel vom 25.7.1960, S. 52. 384  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34152 Prozessakte Beger, Protokoll Fleischhacker, S.  1382 f. 385  Schmaltz, Kampfstoff-Forschung, S. 553. 386  BArch NS 21 / 908, Fernschreiben von Sievers an Brandt vom 7.12.1944.

394

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

Doch offensichtlich waren nicht alle Unterlagen vernichtet worden. Hirts anderer französischer Mitarbeiter neben Henripierre, René Colombin Wagner, berichtete den Alliierten am 17.11.1946, dass er nach Hirts Abreise im November 1944 mit dem Automechaniker Buhler im Kessel der Heizungsanlage halbverbrannte Geheimunterlagen fand.387 Diese waren zuvor von Hirts Sekretärin Lieselotte Seepe in den Kessel geworfen worden, in der Hoffnung, dass sie durch das Feuer vernichtet würden.388 Seepe soll ausweislich eines Aktenvermerks Wolffs nach der Anzeige Henripierres bei den französischen Behörden unter Hausarrest gestanden haben und in der Nacht aus dem Fenster gestiegen und zur Anatomie gelaufen sein und heimlich dort die Unterlagen verbrannt haben.389 Um welche Unterlagen es sich handelte, ist nicht belegt. Ohne Beleg vermutet Pressac jedoch: „Liselotte Seepe, who was Professor Hirt’s secretary. In her deposition of the 10 January 1963, Seepe (born in 1907) admits to having deliberately destroyed all files relating to Professor Hirt’s secret affairs; in particular, she destroyed the files of the skeleton collection, which must have contained measurements, photographs, reports of organ examinations, and perhaps the 26 head casts taken at Auschwitz as well.“390

In diesem Fall bleiben auch Pressacs Überlegungen spekulativ: Seepe äußerte mit Bezug auf den vorgenannten Vermerk Wolffs vom 26.2.1945 zum Verbrennen der Akten, dass sie Akten Hirts in der Heizung verbrannt habe: „Wenn mir nun der Aktenvermerk vom 26.2.1945 vorgelegt wird, so ist hierzu zu erklären: Es ist richtig, dass ich nach dem Einmarsch der Alliierten Truppen in Straßburg Akten von Prof. Hirt vernichtet habe. Ich habe die Akten in die Heizung geworfen. Es war auch Geheimmaterial dabei, das dem Feind nicht in die Hände fallen sollte. Das Geheimmaterial bezog sich auf die Lost-Versuche und die oben bereits erwähnten Leichen. Ich erinnere mich nicht daran, nach dem Einmarsch der alliierten Truppen in Straßburg bereits verhört worden zu sein.“391

Lieselotte Seepe erhielt aufgrund ihres „tapferen Einsatzes und loyalen Verhaltens“ an der Heizung des Anatomischen Instituts am 8.4.1945 von Sievers das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse mit Schwertern, also die Version des Ordens für die an der Front stehenden Angehörigen der deutschen Streit387  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34160 Prozessakte Beger, S. 131 ff.; siehe auch NO-881. 388  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Seepe vom 10.1.1963, S.  323 f. 389  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34169 Prozessakte Beger, Vermerk Wolff vom 26.2.1945; vgl. Lang, Nummern, S. 191. 390  Pressac, Struthof, S. 15. 391  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Seepe vom 10.1.1963, S.  324 f.



V. Die Spuren des Verbrechens werden vernichtet395

kräfte.392 Im Verleihungsvorschlag nahm Sievers explizit Bezug auf Seepes „mutiges und umsichtiges Verhalten, insbesondere wegen ihrer vorsorglichen Maßnahmen in der Anatomie Straßburg nach bereits erfolgter Feindbeset­ zung“.393 Am 23.11.1944 wurde die Evakuierung des Lagers Natzweiler abgeschlossen. Die einrückenden Alliierten fanden sehr rasch heraus, welche Verbrechen dort begangen wurden. Da die Zahl der Opfer mit über 20.000 angegeben wurde, ist anzunehmen, dass die Alliierten konkrete Unterlagen erbeuteten, so auch das Totenbuch von Natzweiler. Dieses heute in der Na­ tional Archives and Records Administration in Washington, D.C. liegende Dokument verzeichnete die Todesfälle im Lager. Hirt war der Gefangennahme durch seine Abwesenheit aus Straßburg während der Besetzung der Stadt entkommen. Doch sehr schnell wurde er zum gesuchten Kriegsverbrecher. Hierzu mag beigetragen haben, dass die Londoner Tageszeitung „Daily Mail“ vom 3.1.1945 einen Artikel von Paul Beshwer über Hirt veröffentlichte, der die Schlagzeile „SS Doctor carried out death tests on 20 000!“ trug. Zügig waren die Alliierten auf die Verbindung zwischen dem Lager Natzweiler und der Reichsuniversität Straßburg gestoßen. Die Namen von Wissenschaftlern wie Bickenbach, Haagen und Hirt waren damit weithin bekannt. Straßburg war eine der ersten historisch bedeutenden deutschen Städte, die die Alliierten eroberten, und Natzweiler das erste Konzentrationslager, das im Westen befreit wurde,394 was große mediale Aufmerksamkeit erregte. In der „Daily Mail“ wurde Hirt in der Schlagzeile attestiert, dass er mehr als 20.000 Menschen mit medizinischen Experimenten ermordet habe. Im Artikel selbst reduzierte sich dies auf die besagten 86 Morde. Grundlage des Artikels waren offenbar amerikanische und französische Ermittlungserkenntnisse, die – vergleicht man die Aussagen – vorwiegend auf den Aussagen ehemaliger Häftlinge aus Natzweiler und französischer Mitarbeiter Hirts fußten, aber auch auf jenen von Otto Bong. Dieser hatte sich in der Gefangenschaft auskunftsfreudig gezeigt und belastete Hirt in einer Weise, die ihn selbst weniger involviert erscheinen ließ. Die Truppen zogen Ärzte zur Einschätzung der vorgefundenen Situation hinzu. Einer dieser Ärzte, der Medizinprofessor Christian Champy, gab am 25.5.1945 zu Protokoll: „Ich habe […] Kenntnis erhalten von den Entdeckungen in Strassburg […]: Als die Franzosen nach dem Abzug der Deutschen in Strassburg einzogen, erfuhren sie, 392  BArch NS 21 / 238, Schreiben von Sievers an Hirt und an Seepe, jeweils vom 8.4.1945. Die Begründung findet sich auch im Schreiben von Sievers an Fitzner vom 4.4.1945. 393  Ebd., Verleihungsvorschlag von Sievers an die Personalabteilung Ahnenerbe vom 16.2.1945. 394  Andere Lager, wie Drancy oder Westerbork, waren als Durchgangslager angelegt und dienten weniger der Zwangsarbeit und / oder der Vernichtung.

396

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

dass es eine wissenschaftliche Organisation an der Fakultät in Strassburg gab, die ständig mit dem Lager Struthof in Verbindung stand. Alle Mitglieder dieser Organisation, vom Doktor HIRTH, der die Leitung hatte, bis zum Jungen des Laboratoriums, gehörten den Formationen der SS an. […]. Die Polizei hatte festgestellt, dass ständig Gefässe zwischen dem Lager und den Laboratorium hin und her geschickt worden sind. Andererseits hatte man in einem Eisbehälter des Laborato­ riums Leichen gefunden, von denen Teile abgenommen waren. Diese Opfer wurden nach den medizinischen Versuchen getötet, für die Autopsie. […] Zu bemerken ist, dass das Institut in Strassburg 50 Personen beschäftigte, die diese Taten nicht ignorieren konnten. Ich bleibe bei der Behauptung, dass das Personal im Institut in Strassburg ausschliesslich aus SS bestand. […] Das Ziel dieser Arbeit scheint gewesen zu sein, eine Substanz zu finden, die die Sterilisation herbei führen kann. Dieses Ziel wurde nicht erreicht in den Präparaten, die wir besitzen. Das Ausmass zweier dieser Präparate zeigt, dass sich es um Gewebe von Kindern handelt (13– 15 Jahre) Dies wird durch den Zustand der Spermatogenese in Gefässen bestätigt, die von dem Gift nicht erreicht wurden. […] Wir haben alle von den Grausamkeiten gehört, die überall von der deutschen Besatzung begangen wurden. Zur Ehre der Menschheit sollte man jedoch glauben, dass es sich um Taten von betrunkenen Kriegsknechten handele, die durch den Kampf gereizt waren, in jedem Falle Bestien, ohne Erziehung. Die Tatsache jedoch, dass ein Intellektueller, ein Arzt, für eine solche Arbeit hergab, die Monate in Anspruch nahm, und die ihm Zeit genug zum Nachdenken gab, ohne dass er zur Menschlichkeit zurückfand, überschreitet jeg­ liche Vorstellung. Weder er, noch ein anderer der vielen Mitarbeiter, und es waren ungefähr 50, alle von der SS hatten in diesem langen Zeitraum Gewissensbisse oder Empörung.“395

Es bedarf keiner Erörterung, dass zwei Wochen nach der Kapitulation Gerüchte – ob vorsätzlich oder fahrlässig kolportiert – rasch in Tatsachen umgedeutet wurden. Daher sollen die Behauptungen nicht einzeln erörtert werden. Es ist nach der Quellenlage gesichert, dass es in Hirts Institut keine 50 Mitarbeiter und keine monatelangen Sterilisationsversuche – auch nicht an Jugendlichen – gegeben hat. Bemerkenswert ist jedoch die zutreffende Aussage, dass auch der Laborjunge – als „Garçon“ wurde gemeinhin Henripierre bezeichnet – wie auch die anderen Mitarbeiter zu Formationen der SS gehörten. Dies ist insoweit richtig, da die meisten Mitarbeiter Hirts einen Teil ihrer Bezüge von der SS erhielten. Die Aussagen über die Kampfgasversuche, die Untersuchungen der Gewebe der so Ermordeten, die entfernten Hoden bei einigen der gelagerten 86 Leichen aus Auschwitz und offenkundige Fehlinformation führten zu derartigen Aussagen, die Professor Champy unter Eid ablegte. Aus wissenschaftlicher Sicht sollte es jedoch nicht um die moralische Beurteilung solcher Eidesinhalte gehen, sondern um das Herausarbeiten von Tatsachen.396 Es ist nachvollziehbar, dass bei Humanversuchen im Um395  HStA

Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34160 Prozessakte Beger, S. 67 ff. sollte zudem beachtet werden, wie Schlagzeilen über Massenmörder und Anatomien die mediale Aufmerksamkeit und das kollektive Gedächtnis bis heute prä396  Es



V. Die Spuren des Verbrechens werden vernichtet397

feld der SS die Verschwiegenheit des beteiligten Personals essentiell war. Hirts französischer Mitarbeiter Henripierre gab im Ärzteprozess an, Hirt habe ihm gesagt, wenn er nicht schweigen könne, werde auch er ermordet. Damit belegt Henripierre, dass Hirt ein Interesse an Geheimhaltung hatte.397 Dies bestätigte auch Hirts französischer Mitarbeiter Wagner unter Eid: „Ich füge hinzu, dass ich einen Revers unterschreiben musste, wonach ich über alles, was ich offiziell und inoffiziell an der Universität von Strassburg sah und hörte, unter Androhung der Todesstrafe, strengstes Stillschweigen zu bewahren hatte. Dieses Schriftstück, (das ich unterschrieb) war von Hirt auf Anordnung Himmlers unterschrieben.“398

In der Sache gab Wagner die gleiche Auskunft wie Henripierre. Diese sachliche Version ist nachvollziehbar und deckt sich mit anderen in den Quellen bekannten Geheimhaltungsregelungen der SS, aber auch jenen der Universität. Allerdings sollte nicht unterschätzt werden, wie rasch seit dem 3.1.1945 die Geschichte vom Massenmörder Hirt in der Weltpresse bekannt war, noch bevor andere Medizinverbrechen bekannt wurden. Es mag eine Erklärung sein, dass nach den Regeln des Massenjournalismus ein sich gruselndes Publikum lieber von einem Nazi-Professor liest, der persönlich Morddrohungen ausstößt, als von einem Institutsdirektor, der ein Formblatt einer Verwaltungsbehörde im Auftrag des Arbeitgebers vom Mitarbeiter unterschreiben lässt und gegenzeichnet. Zudem illustriert auch die Aussage Champys, in welcher Atmosphäre der Reporter der „Daily Mail“ seinen Artikel verfasste. Erheblich nüchterner und sachlicher gestaltete sich der Untersuchungsbericht, den der Richter am Ständigen Militärgerichtshof des 10. Militärbezirks in Straßburg, Major Jadin, am 9.7.1945 beauftragte. Diesen fertigten der Straßburger Rechtsmediziner Professor Dr. Camille Simonin, der Pariser Rechtsmediziner Professor Dr. René Piédelièvre und der Straßburger Gerichtsmediziner Profesgen. Einerseits sorgten Jack the Ripper, Zodiac, Ted Bundy oder Charles Manson durch ihre Entmenschlichung in der Berichterstattung für hohe Nachfrage nach medialer Berichterstattung. Andererseits ist auch in der Gegenwart die Arbeit in der Anatomie und Gerichtsmedizin – von Serienproduzenten gern vermischt – alleiniger Gegenstand oder festes Element in den populärsten Fernsehserien der Welt – von „Navy CIS“ über „Bones“, „Body of Proof“ oder „Autopsie“. Es sollte daher nicht unterschätzt werden, welche Wirkung eine solche Berichterstattung über Hirt im kollektiven Gedächtnis einer Gesellschaft ohne Fernsehen und Internet hinterließ und welche Aufmerksamkeit den Zeugen durch die Presse zuteil wurde. In der Gegenwart machen Zeugen großer Verbrechen teilweise Karrieren als regelmäßige Talkshow-Gäste, gleichzeitig wird jedoch auch ein großes Augenmerk auf die tatsächlichen Abläufe und die Persönlichkeitsrechte der Täter gelegt. 397  Ebbinghaus / Dörner / Linne u.  a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Aussage Henripierre vom 18.12.1946, S. 756. 398  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34160 Prozessakte Beger, Aussage Wagner vom 17.11.1946, S. 131.

398

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

sor Dr. Jacques Fourcade.399 Dieser „Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade“ ist ein Schlüsseldokument zum Verständnis der Situation in der Straßburger Anatomie neun Monate nach der Befreiung. Er hielt unter anderem akribisch fest, welche Leichen und Leichenteile von den 86 Opfern sich noch in Straßburg in der Anatomie befanden und wie sie beschaffen waren. Der Bericht enthält nur geringe Unschärfen und Fehler. Beispielsweise ist stets von crural – also den Unterschenkel betreffend – die Rede,400 wenn es um fermorale – also den Oberschenkel betreffende – Injektionen von Konservierungsflüssigkeit geht. Die fermoralen Einstichstellen sind auf allen Fotos des Berichts deutlich zu sehen, so dass hier von einem Versehen in der Benennung oder schlicht von einem Übersetzungsfehler auszugehen ist. Die Mediziner standen offenbar in Kontakt zu Henripierre, wodurch bekannt war, dass die Leichen aus Natzweiler anders präpariert wurden als die für die medizinische Ausbildung vorhandenen Leichen aus anderen Quellen: Es wurde jeder Leiche eine Infusion von je zwei Litern Formol – es dürfte sich um die handelsübliche Lösung von 37 oder 42 Prozent gehandelt haben – verabreicht, ebenso wie je drei Liter Aethylalkohol in fünf Litern Wasser.401 Die Angaben über die Zusammensetzung der beiden unterschiedlichen Konservierungsflüssigkeiten stammen von Henripierre. Insoweit bedürfen sie einer kritischen Überprüfung. Jedoch gibt es keinen Anlass, grundsätzlich an der jeweiligen Verwendung der – entsprechend dem jeweiligen Zweck plausiblen – Mischungskombination zu zweifeln. Die jeweils große Menge von zehn Litern Flüssigkeit wurde jeder Leiche mit einer ­Sternalpunktionskanüle in die Arteria fermoralis eingebracht. Die beiden in der Anatomie aufgefundenen Leichen von natürlich verstorbenen Kriegsgefangenen aus Natzweiler seien hingegen vor dem Aufbewahren anders konserviert worden. Ihnen seien über eine Infusion ein Liter Ethylalkohol, ein halber Liter Formol, 500 Gramm Chloralhydrat, 250 Gramm Karlsbader Salz und 125 Gramm Phenol („acide phénique“) in zehn Litern Wasser verabreicht worden.402 Die 86 Leichen sollen für eine Sammlung bestimmt gewesen sein. Es wurden Blutgruppen bestimmt, Röntgenaufnahmen angefertigt und Vermessungen durchgeführt. Das gesamte Vorhaben wäre sinnlos gewesen, wenn nicht ununterbrochen sichergestellt worden wäre, dass alle Daten jeder Leiche jederzeit eindeutig zuzuordnen gewesen seien. Zur Identifizierung wären die eintätowierten Häftlingsnummern durchaus geeignet gewesen. Der Bericht 399  BArch B 162 / 20260, Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade vom 15.1.1946, S. 1. 400  Ebd., S. 10. 401  Ebd., S. 9. 402  Ebd., S. 9.



V. Die Spuren des Verbrechens werden vernichtet399

der Untersuchungskommission erwähnt jedoch zwei Leichen von an Tuberkulose verstorbenen Kriegsgefangenen, die im Leichenbuch der Anatomie unter der Jahresnummer 43 für 1943 mit den fortlaufenden Nummern 55 und 77 verzeichnet waren.403 Die 86 Opfer aus Natzweiler wurden jedoch nicht im Leichenbuch eingetragen. Dies zeigt, dass sie nicht – wie die anderen Leichen in der Anatomie – in das Eigentum der Universität übergingen, die damit Rechte und Pflichten bezüglich der Leichen übernahm, wie es auch heute üblich ist. Auch dies ist ein Hinweis, dass die Leichen als Besitz des Ahnenerbes oder Begers angesehen wurden und damit nicht als jener von Hirt und der Anatomie. Bong gab an, dass er das Alter der Leichen den Begleitpapieren entnommen habe.404 Henripierre hingegen sagte in Nürnberg aus, dass es keine Begleitpapiere gegeben habe.405 Die Tatsache, dass Henripierre als einfacher Sektionsgehilfe keine Papiere gesehen hatte, bedeutet nicht, dass Bong als Leiter der Sektion keine Papiere erhalten hatte.406 Die 86 Leichen aus Natzweiler wurden in einer separaten Liste geführt. Die weiblichen waren mit den Nummern 1 bis 29 gekennzeichnet.407 Die männlichen trugen die Nummern 30 bis 86.408 Folglich muss es neben dem offiziellen Leichenbuch eine Liste aller 86 Opfer gegeben haben, möglicherweise jene, die die Ahnenerbe-Sekretärin Charlotte Heydel abgetippt hatte, nachdem in Waischenfeld die Liste aus Auschwitz eingetroffen war. Ohne eine solche Liste hätte das Personal der Anatomie bei der Anlieferung und Konservierung von 86 Leichen binnen weniger Tage leicht den Überblick verloren haben können. Es war damals wie heute üblich, dass nicht nur jede Leiche gekennzeichnet wird – beispielsweise durch ein Etikett am Zeh der Leiche – und sodann in einer Liste geführt wurde, sondern auch, dass vermerkt wurde, wo in der Anatomie welche Leiche aufzufinden war. Es muss folglich einen Belegungsplan der Kühlfächer, aber auch der Konservierungsbecken gegeben haben. Ansonsten hätte die Untersuchungskommission beispielsweise bei ihrer Autopsie Nr. 8 – der Leiche von Menachem Taffel – nicht wissen können, dass es sich um die Nr. 48 auf der Liste handelte. Denn es wurde vermerkt, dass die tätowierte Häftlingsnummer entfernt worden war. 403  Ebd.,

S.  49 f. Nummern, S. 188. 405  Ebbinghaus / Dörner / Linne u.  a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Aussage Henripierre vom 18.12.1946, S. 756. 406  Lang, Nummern, S. 255: Lang kommentierte die Aussage Bongs damit, dass diese „in Widerspruch zu Henrypierres Aussage vor dem Nürnberger Tribunal sowie zu der übrigen Quellenüberlieferung“ stehe. Welche Quellenüberlieferung dies sein könnte, bleibt jedoch offen. 407  BArch B 162 / 20260, Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade vom 15.1.1946, S. 56 ff. 408  Ebd., S. 57. 404  Lang,

400

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

Leider vermerkt der Bericht der Untersuchungskommission keine Details zum Ordnungssystem der Anatomie in Straßburg. Üblicherweise befand und befindet sich ein Belegungsplan an Kühleinrichtungen und Konservierungsbehältern. Insoweit ist es erstaunlich, wenn in der Literatur unkommentiert übernommen wird, dass Henripierre die eintätowierten Nummern heimlich von den Leichen abgeschrieben habe.409 Dabei muss beachtet werden, dass sich jeweils mehrere ganze Leichen in den mit Alkohol gefüllten Becken befanden. Diese durch eine Person so zu bewegen, dass jeweils die Nummer zu finden gewesen wären, wäre nicht nur für eine Person körperlich herausfordernd, sondern zudem auch kaum ohne Aufsehen „heimlich“ möglich gewesen. Es kommt auch noch das Abschreiben während des Einbringens der zehn Liter Konservierungsflüssigkeit in Betracht, da dies bei jeder Leiche einige Zeit in Anspruch nimmt. Es erscheint jedoch sehr plausibel, dass Henripierre die Listen an den Behältern abschrieb oder dies direkt anhand des mitübersandten, zentralen Verzeichnisses tat. Die zwangsläufig vorhanden gewesenen Listen scheinen während der Räumung der Anatomie oder im Zuge der Verbrennungsaktion von Lieselotte Seepe vernichtet worden zu sein. Aus heutiger Sicht ist es zudem bemerkenswert, wie sprachlich unbekümmert die drei Gerichtsmediziner die Opfer nach dem Kriege beschrieben. So bescheinigten sie der männlichen Leiche in der Autopsie Nr. 6 eine große Nase in einem „typisch jüdischen Gesicht“.410 Sehr rasch wurde der Artikel in der „Daily Mail“ auch Hirt bekannt: Er verlangte bereits am 4.1.1945 brieflich von Sievers, sich einer internationalen Untersuchungskommission stellen zu dürfen, um die Angelegenheit aufzuklären.411 Parallel wurde die zuständige kulturpolitische Abteilung des Auswärtigen Amtes auf die Angelegenheit aufmerksam. Diese schrieb das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an: „Englische Pressemeldungen behaupten, daß der Direktor des Anatomischen Instituts in Straßburg, Professor August Hirt, im Struthoflager bei Straßburg experimentelle Untersuchungen an Insassen vorgenommen habe, und zwar in der Weise, daß er Männern und Frauen Spritzen gegeben habe, die tödliche Krankheiten verursachten. Die Leichen wurden dann zu Untersuchungen verwandt. In seinem Laboratorium seien ferner die Leichen von 86, offenbar gesunden, Männern und Frauen gefunden worden, die in Alkohol konserviert waren. Prof. Hirt selbst sei aus Straßburg entkommen, dagegen sein Assistent, Otto Bong, gefaßt worden. Ich habe bei der Universität Tübingen, wohin die Medizinische Fakultät der Universi-

409  Lang,

Nummern, S. 221. B 162 / 20260, Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade vom 15.1.1946, S. 22. 411  BArch NS 21 / 909, Schreiben von Hirt an Sievers vom 4.1.1945. 410  BArch



V. Die Spuren des Verbrechens werden vernichtet401 tät Straßburg verlegt worden ist, drahtlich um die Adresse von Prof. Hirt gebeten.“412

Da der Großteil der 86 Opfer bereits kremiert war und dennoch verbreitet wurde, alle 86 Opfer seien in Alkohol konserviert vorgefunden worden, ergibt sich ein neuer Widerspruch. Dann könnte es weder Präparierungen von Schädeln oder Skeletten noch Kremierungen gegeben haben. Es muss aufgrund der Gesamtumstände angenommen werden, dass insbesondere Henripierre zu den Unschärfen beigetragen hat. Sievers antwortete auf Hirts ­Schreiben vom 4.1.1945 erst am 20.1.1945: „Sowohl Paris wie London beschäftigen sich inzwischen ganz munter mit der Straßburger Anatomie, wobei bedauert wird, Sie nicht gefaßt zu haben. Über das Kultusministerium werden Sie wohl inzwischen eine diesbezügliche Anfrage des Auswärtigen Amtes zur Stellungnahme schon erhalten haben oder demnächst bekommen. Seien wir froh, dass wir alle Arbeitsunterlagen rechtzeitig vernichtet haben. Mit konkreten Angaben konnte die Gegenseite bisher nicht aufwarten.“413

Am 30.1.1945 sandte der Kurator der Reichsuniversität Straßburg, die trotz Evakuierung formal noch bestand, an das Ministerium die angeforderte Stellungnahme Hirts unter dem Betreff im Anschreiben „Englische Presse­ lügen über den Direktor des Anatomischen Instituts der Universität Strassburg, Professor Dr. Hirt“.414 Dabei hatte Hirt seine Stellungnahme gegenüber dem Auswärtigen Amt unter den Verwertungsvorbehalt der Zustimmung Himmlers gestellt,415 die Himmler am 22.2.1945 erteilte.416 Hirt hielt in seiner Stellungnahme fest:417 „Stellungnahme zu der Veröffentlichung der ‚Daily Mail‘ vom 3.1.1945. Der Bericht ist ein typisches Greuelmärchen, zu dem folgendes zu bemerken ist: lch war niemals Leiter des Struthof-Lagers oder, wie sich der Bericht ausdrückt, der ‚Todesfabrik‘, sondern Direktor der Anatomie der Reichsuniversität Strassburg. Als Anatom habe ich den Unterricht für Mediziner auszuführen, der wie in der 412  BArch R 4901 / 12877, Schnellbrief vom Auswärtigen Amt an REM vom 6.1.1945. 413  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, Schreiben von Sievers an Hirt vom 20.1.1945, S. 257. 414  BArch R 4901 / 12877, Schreiben von Breuer an Auswärtiges Amt vom 30.1.1945. 415  BArch NS 19 / 2281, Schreiben von Sievers an Brandt vom 2.2.1945. 416  BArch NS 19 / 2281. 417  Steegmann, Natzweiler, S. 431: Steegmann schreibt, dass Hirt diesen Bericht, „eine unverschämte und bodenlos zynische Erwiderung“, ebenfalls in der „Daily Mail“ veröffentlicht habe, um „die Alliierten lächerlich zu machen“. Unabhängig davon, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein gesuchter Kriegsverbrecher kurz vor Kriegsende in Londoner Zeitungen publizierte, recht gering ist, war Hirts Bericht ausweislich der Quellenlage ausschließlich für das Auswärtige Amt bestimmt.

402

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

ganzen Welt – in Vorlesungen und Sektionsübungen besteht. Zu diesem Zwecke befinden sich in jedem Anatomischen Institut – auch in Paris und London – eine entsprechende Anzahl konservierter Leichen. Diese Leichen werden bei uns wie in der ganzen Welt nach bestimmten vertragsgemäss festgelegten Bedingungen angeliefert. Das Anatomische Institut in Strassburg bezog in deutscher Zeit die Leichen aus denselben Quellen wie die Anatomie in der französischen Zeit. Dazu kamen, wie das ebenfalls in aller Welt üblich ist, die Leichen von Schwerverbrechern, die zum Tode verurteilt wurden. Im Kriege lässt es sich nicht vermeiden, dass gelegentlich nach Ausbruch von kleineren Epidemien usw. größere Leichentransporte auf einmal anfallen. Im Leichenkeller des Anatomischen Instituts dürften sich nach meiner Erinnerung bei der Einnahme Strassburgs durch die Amerikaner etwa 150– 200 Leichen befunden haben, dazu eine Anzahl Einzelpräparate von Armen und Beinen und wohl auch einige Eingeweide-Präparate, wie das in jeder Anatomie der Fall ist. Die Leichen wurden wie überall in Alkohol konserviert. Nach den Sektionen werden die Leichen im Krematorium der Stadt Strassburg verbrannt und die Aschenreste in Urnen beigesetzt. Auch wir fanden bei der Besetzung Strassburgs im Leichenkeller der Anatomie noch etwa 25–30 Leichen aller Geschlechter und ebenso eine grosse Anzahl allerdings meist verwester Eingeweide und sonstiger Präparate. Eine Tatsache, nach der kein Mensch ein Greuelmärchen konstruiert hat, weil das ganz selbstverständlich ist. […] Die vorgefundene anatomische Sammlung von der französischen Seite war zum größten Teil unbrauchbar. Was von diesen Präparaten noch gerettet werden konnte, wurde durch die Arbeit von Bong gerettet. Dazu hat er in den 3 Jahren seiner Tätigkeit etwa 250 neue anatomische Präparate hergestellt, wie sie in jeder Anatomie – auch in Paris und London – vorhanden sind. […] Von der Bearbeitung irgendwelcher Rassefragen bei diesen Präparaten ist mir nichts bekannt. Das Einzige, was in meinem Institut mit Rassefragen zu tun hat, ist die grosse anthropologische Schädelsammlung, die schon vor dem ersten Weltkrieg von dem deutschen Anatomen Schwalbe angelegt wurde und die in der französischen Zeit durch die Hinzufügung weiterer Schädel aus allen Teilen der Welt vervollständigt wurde. Es war meine Pflicht, diese Schädelsammlung zu erhalten und sie der Tradition des Instituts gemäß nach Möglichkeit nach modernen Gesichtspunkten weiter zu führen. […] Die Behauptungen, dass ich den Häftlingen Cholera, Pest, Aussatz und ähnliche Dinge eingespritzt habe, sind so dumm, dass sie einer Widerlegung nicht bedürfen, denn es dürfte wohl niemanden geben, der durch Einspritzungen Cholera oder Aussatz erzeugen kann. Im übrigen befinden sich in meinem Institut keinerlei Einrichtungen für bakteriologische Probleme, denn ich bin Anatom und kein Bakteriologe. Allerdings scheint mir, dass die Amerikaner und Franzosen auf einen witzigen Einfall meines Tierpflegers hereingefallen sind. Um Diebstähle von Versuchstieren – Kaninchen, Hühner, usw. – zu vermeiden und die Diebe vor allen Dingen von dem Genuss der Tiere abzuschrecken hat dieser an die Versuchstierställe mit Kreide die Anschriften der verschiedensten Krankheiten wie Syphillis, Krebs, Pest, usw. angebracht. Dieses Mittel hat anscheinend nicht nur auf die Diebe prompt gewirkt, sondern auch die Kommission, die das Institut besucht hat, auf ihre absurde Theorie gebracht. Das Gleiche dürfte wohl mit der phantastischen Meldung der Fall sein, dass ich das Lager – immerhin beinahe ein kleines Dorf – mit flüssigem Sauerstoff in die Luft sprengen wollte. In meinem Laboratorium befinden sich nämlich 2 oder 3 Transportbehältnisse für Oxydluft. Diese wird von mir aber nicht zu Sprengungen genutzt, sondern […] zur



V. Die Spuren des Verbrechens werden vernichtet403 sofortigen Tiefkühlung von Organen. […] Meine wissenschaftliche Forschungsrichtung ist im Übrigen der Welt durch meine Veröffentlichungen bekannt, sie liegt auf dem Gebiete des autonomen Nervensystems, fluoreszenzmikroskopischer Untersuchungen lebender Organismen und auf dem Gebiet des Nachweises von Vitaminen in Organen. […] Schließlich die Tatsache, dass ich den Amerikanern entkommen bin, ist ihre eigene Schuld. Durch den Terrorangriff am 25.9.1944 wurde nicht nur mein Haus zerstört, sondern auch meine Frau und mein Sohn getötet. Daher befand ich mich für einige Tage bei den Angehörigen meiner Frau, um nach ihrem Tode bestimmte private Angelegenheiten zu regeln.“418

Hirts Bericht zeigt dreierlei: Erstens fühlte Hirt sich zu Unrecht beschuldigt. Er beklagte den Verlust seiner Frau, seines Sohnes, seines Hauses, seiner beruflichen Stellung und versuchte nun, dem Verlust seiner Reputation vorzubeugen. Dabei stellt er zweitens zutreffend fest, dass offenbar nicht viele Menschen einschätzen können, welche Dinge in einer Anatomie üblicherweise vorhanden sind, und stellt diesen Sachverhalt aus seiner Sicht klar. Ebenso deckte er offenkundige Missverständnisse auf, wie angebliche Forschungen an Pest und Cholera, Sprengungsabsichten des viereinhalb Hektar großen Konzentrationslagers mit Sauerstoff oder die Umstände seines Entkommens. Drittens formulierte er frei und ohne Zwang, dass sein Institut die Schädelsammlung Schwalbes in Verwahrung hatte. Dies mag damit in Zusammenhang stehen, dass der Lehrstuhl für Anthropologie bis zur Evakuierung der Universität nicht besetzt wurde. Insoweit bestätigte er bezüglich des Anthropologielehrstuhls und der historischen Schädelsammlung Gustav Schwalbes die von Fleischhacker im Beger-Prozess geäußerte Theorie, dass der Anatomie-Lehrstuhl üblicherweise bei der Errichtung eines Anthropologielehrstuhls Pate stand.419 Weiter gab Hirt ohne Not zu, dass er diese Sammlung weitergeführt habe. Hierbei hatte er seit Ende 1941 Leichen aus verschiedenen Quellen zur Verfügung. Allein in Natzweiler befanden sich Häftlinge aus rund 30 Nationen, von denen rund 22.000 Gefangene starben, auch durch Hinrichtungen. Aufgrund des im Artikel zitierten Otto Bong und eindeutiger Hinweise auf seine angeblichen Absichten bezüglich der 86 Leichen wusste Hirt, dass die Alliierten den Plan der Schädel- oder Skelettsammlung kannten. Dennoch schrieb er aus dem sicheren Tübingen, dass er die Schädelsammlung Schwalbes erweitert habe. Erstaunlicherweise findet sich zu dieser Behauptung der Erweiterung der bestehenden Sammlung weder in den bekannten Quellen noch in der Literatur eine Bestätigung. Es bleibt die Frage, warum Hirt dennoch diesen Umstand so freimütig zugab. Es ist aufgrund des 418  BArch R 4901 / 12877, Schnellbrief des Auswärtigen Amtes an REM vom 6.1.1945. 419  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Fleischhacker vom 18.1.1963, S. 347.

404

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

Tenors von Hirts Stellungnahme zu vermuten, dass diese Auskunft keinesfalls ein Geständnis war, sondern ein Versuch, die Situation so zu versachlichen, damit die von Hirt angestrebte internationale Untersuchungskommission ihn entlasten könne. Oder aber Hirt versuchte kameradschaftlich, den in der „Daily Mail“ nicht erwähnten Beger aus der Angelegenheit herauszuhalten, da auf ihn das Licht der Öffentlichkeit noch gar nicht gefallen war, wie Kater nachvollziehbar mutmaßt.420 Hirts Stellungnahme erwähnte jedoch die Versuche, die in Natzweiler mit Lost, Phosgen, Influenza-Viren und Fleckfieber-Erregern vorgenommen wurden, ausdrücklich nicht. Insoweit stellt die Stellungnahme nicht nur die Rechtfertigung eines über falsche Beschuldigungen empörten Wissenschaftlers dar, sondern auch eine Vertuschung jener Verbrechen, derer man Hirt stattdessen hätte beschuldigen können. Dass Hirt dennoch die Weiterführung der bestehenden Schädelsammlung einräumte, ist bemerkenswert. Die Angelegenheit hatte offenbar große Wellen geschlagen und die Folgeberichterstattung dauerte vermutlich an, denn Wolff schrieb im Auftrag Sievers’ am 19.2.1945 an Beger in Rüthnick und an Trojan in Mittersill: „Lieber Kamerad Beger! Es besteht besondere Veranlassung, den gesamten Schriftverkehr und andere Unterlagen – auch Fotomaterialien usw. –, die mit der Angelegenheit Auschwitz / Hirt in Verbindung stehen, sofort und restlos zu vernichten.“421 „Sehr geehrter Herr Dr. Trojan! Es besteht besondere Veranlassung, den gesagten Schriftverkehr u. a. Unterlagen – auch Fotomaterial  –, die mit der Angelegenheit Auschwitz / Prof. Dr. Hirt, Straßburg, in Verbindung stehen, sofort und restlos zu vernichten. Ich bitte Sie daher im Auftrage des Reichsgeschäftsführers, SS-Standartenführer Sievers, entsprechend zu verfahren. Über die Vernichtung ist eine Vernichtungsverhandlung zu erstellen lt. beiliegendem Muster. Die Verhandlung erbitte ich sofort, unterschriftlich vollzogen durch Sie und die bei der Vernichtung anwesende Hilfsperson, hierher nach Waischenfeld zu übersenden. […] Dienststelle

Ort, Tagesangabe

Vernichtungsverhandlung Heute wurden auf Vollständigkeit geprüft und durch (Vernichtungsart)422 vernichtet:

420  Kater,

Ahnenerbe, S. 427. NS 21 / 909, Schreiben von Wolff an Beger vom 19.2.1945. 422  Klammersetzung und Texte in dieser und den nachfolgenden Klammern wurden aus dem Originaldokument übernommen. 421  BArch



V. Die Spuren des Verbrechens werden vernichtet405 (Benennung der V.S. nach herausgebender Stelle und deren Brieftagebuchnummer, eigene Briefbuchnummer, Zahl der Anlagen, Prüfnummer.) Der Verantwortliche: Dienstgrad, Name

Die Hilfsperson: Dienstgrad, Name“423

Vom 15. bis zum 18.2.1945424 besuchte Hirt Sievers in Waischenfeld. Dabei wurde mutmaßlich auch über die von Hirt geforderte, neutrale Untersuchungskommission gesprochen. Nachdem Sievers sicher war, dass alle Beweise vernichtet wurden, schrieb er am 28.3.1945 an den 36-jährigen Leiter der Kulturpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, den Gesandten I. Klasse SS-Brigadeführer Professor Dr. Franz Alfred Six.425 Darin teilte er den dringenden Wunsch Hirts mit, sich persönlich einer internationalen Untersuchungskommission zu stellen und die Vorwürfe zu entkräften. Himmler habe dazu am 10.3.1945 sein Einverständnis gegeben. Eine Untersuchung fand nicht mehr statt. Hirt tauchte nach Kriegsende von Tübingen aus unter und hat sich, wie oben gezeigt, selbst gerichtet. Dies blieb den französischen Ermittlungsbehörden unbekannt. Am 24.8.1945 (!) erließen sie einen Haftbefehl gegen Hirt, der am 17.1.1949 erneuert wurde. Darin wurde Hirt unter anderem die Verbringung von 90 Opfern nach Natzweiler zur Last gelegt. Bezeichnend ist jedoch, dass dafür als Tatzeitraum angegeben wurde: „Dezember 1942, Juli–August 1943“.426 Auch in der Schweiz wurde lange öffentlich nach Hirt gefahndet.427 Erst im Jahre 1966 wurde angenommen, dass es sich bei dem unbekannten Toten auf dem Friedhof in Grafenhausen tatsächlich um August Hirt handelte, und eine Sterbeurkunde ausgestellt.428 Damit hatte der namenlose Tote seine Identität zurückerhalten. Dies blieb den Opfern von Beger und Hirt lange verwehrt. Bereits 423  HStA

Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 158. Sievers 1945, s. Anhang. 425  Franz Alfred Six (geb. 12.8.1909 in Mannheim, gest. 9.7.1975 in Bozen), 1930 Eintritt in die NSDAP, 1932 in die SA, Studium der Zeitungswissenschaft, 1934 Promotion, 1935 Chef des Presseamtes im SD-Amt, 1937 Professor in Königsberg, 1939 SS-Standartenführer, 1940 Dekan der Auslandswissenschaftlichen Fakultät in Berlin, 1941 Befehlshaber bei den Einsatzgruppen im „Vorauskommando Moskau“, Beteiligung an den Plänen zur „Endlösung“, 1943 Gesandter I. Klasse im Auswärtigen Amt als Chef der Kulturpolitischen Abteilung, später Ministerialdirektor, 1946 Organisation Gehlen, 1948 im Einsatzgruppenprozess zu 20 Jahren Haft verurteilt, 1952 entlassen, seit 1957 als Werbechef bei einem Unternehmen der Porsche-Gruppe tätig. Vgl. Hachmeister, Six. 426  USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020, Haftbefehl des Capitaine Lorich vom 17.1.1949, S. 18. 427  Ebd., Schweizer Polizei-Anzeiger vom 5.2.1948, S. 60. 428  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34148 Prozessakte Beger, Sterbeurkunde Hirt vom 13.12.1966 (!), S. 318. 424  Diensttagebuch

406

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

am 23.12.1944 wurde in der Ermittlungsakte der Behörden gegen Henripierre, Hirt, Bong und Seepe vermerkt, dass Henripierre die Häftlingsnummern der 86 namenlosen Opfer mitgeteilt habe. Jede einzelne Nummer ist in dieser Akte aufgeführt.429 Bis zur Entdeckung der Nummern durch Hans-Joachim Lang – 60 Jahre später – interessierten sich die Behörden nicht näher für die Identität der Opfer. Bruno Beger hingegen kam als Kriegsgefangener an der Italienfront in verschiedene Internierungslager. Danach folgte am 1.5.1946 Spruchkammerhaft bis zum 2.2.1948. Anschließend baute er sich nach der Entlassung aus der Gefangenschaft eine bürgerliche Existenz auf, bis er am 31.3.1960 erstmals von einem Staatsanwalt vernommen wurde.430 Bruno Beger wurde zunächst durch das Verschweigen seiner Tatbeteiligung durch Hirts Stellungnahme zum „Daily Mail“-Artikel und dann durch die Aussagen Sievers’ in Nürnberg vor einer Verurteilung wegen Mordes gerettet. Da im Beger-Prozess aufgrund noch fehlender Belege nicht mit absoluter Sicherheit bewiesen werden konnte, dass er Kenntnis von der Ermordungsabsicht bezüglich der nach Natzweiler disponierten Opfer hatte, konnte Beger nur Beihilfe zum Mord nachgewiesen werden. Der gesetzliche Strafrahmen lag bei drei bis 15 Jahren. Einer sehr wohlwollenden Kammer verdankte Beger, dass sie einerseits die Mindeststrafe verhängte und er andererseits nach dem Urteil durch Verrechnung von Internierungshaft und zudem einen Straferlass nicht einen Tag der Haftstrafe verbüßte.

VI. Die Nummern und die Namen Mit seinem Buch „Die Namen der Nummern“ hat der Germanist HansJoachim Lang den Opfern Begers und Hirts ihre Namen zurückgegeben. Auf diese Weise das Andenken der Ermordeten zu ehren, verdient große Anerkennung. Es gibt verschiedene mögliche methodische Vorgehensweisen und auch eine unterschiedliche Tiefe der Bearbeitung der Quellen. Daher werden nachfolgend die Fakten anhand von Quellen zusammengetragen. Lang wies selbst auf Namensgleichheiten im Sammellager von Thessaloniki hin, und auch sonst sind die Biographien der von ihm vorgestellten Opfer lückenhaft. Dies liegt weniger an Lang, als daran, dass man sich in der Nachkriegszeit – wenn überhaupt – vor allem mit den Tätern befasste und die Opfer, sofern eine Beschäftigung mit ihnen stattfand, in erster Linie als Opfer gesehen wurden, 429  USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020, Ermittlungsakte, Eintrag vom 23.12.1944, S. 258 f. 430  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, S. 7.



VI. Die Nummern und die Namen407

nicht jedoch als Individuum mit eigener Biographie. Dieses Verblassen der Menschen, die die Opfer waren, steht in einer Reihe mit der Behandlung durch die Täter. Dies zeigt sich besonders deutlich, wenn man die unterschiedlichen Verwaltungsabläufe in den verschiedenen Konzentrationslagertypen betrachtet. In Arbeitslagern wie Natzweiler, die zwar eine hohe Mortalitätsrate hatten, aber zumindest bis zur Mitte der Kriegszeit den Anspruch verfolgten, vor allem die Ausbeutung der Häftlinge und weniger deren Vernichtung anzustreben, wurden alle Häftlinge immatrikuliert und zahlreiche persönliche Daten erfasst. Jede Häftlingsnummer wurde nur einmal vergeben. In Vernichtungslagern wie Auschwitz, in denen zwar auch Ausbeutung durch Zwangsarbeit stattfand, hatte die Vernichtung der Häftlinge Vorrang vor der Ausbeutung. Darin mag begründet liegen, dass in Auschwitz erheblich weniger Daten der Häftlinge festgehalten wurden. Selbst das Geburtsdatum wurde nicht immer erfasst. Vor allem aber ist für die Auswertung der Quellen erheblich, dass nach dem Versterben eines Häftlings dessen Häftlingsnummer unter Umständen auch erneut vergeben wurde. Wenn also ein Häftling nach Häftlingsnummer gesucht wird, ist es zwingend erforderlich, den Suchzeitraum exakt zu ermitteln. Dies gilt insbesondere, da in Auschwitz sehr häufig die Geburtsdaten der Häftlinge fehlen. Zur Identifizierung der 86 Opfer Begers und Hirts sind zehn Listen bekannt: Liste 1 – 21.6.1943 Bereits am 21.6.1943 sandte Sievers Eichmann eine Liste mit den Namen aller zu verlegenden Opfer, wobei von insgesamt 110 Namen auszugehen ist, da Sievers gleichzeitig seuchenfreie Kleidung für 80 Männer und 30 Frauen anforderte.431 Es ist jedoch von einem Schreibfehler auszugehen, so dass Sievers 60 Männer meinte und die beigefügte Liste daher 90 Namen hatte oder die jener 89, die dann tatsächlich verlegt werden sollten und die auch auf der zweiten Liste standen: Liste 2 – 15.7.1943 Die zweite Liste wurde am 15.7.1943 im Konzentrationslager Auschwitz angefertigt. Diese ist durchnummeriert. Die Ordnungsnummern 1 bis 60 sind sechzig Männern zugeordnet und die Ordnungsnummern 61 bis 89 neunund-

431  Ebbinghaus / Dörner / Linne u.  a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Anklage­ dokumentenband 9, S. 1256 (Dok. NO-087).

408

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

zwanzig Frauen.432 Diese Liste gibt auch Lang wieder.433 Von diesen 89 Personen starben 86 durch die Hand Josef Kramers in Natzweiler. Diese Liste wurde angelegt, um sie mit Blutproben der 89 genannten Personen in ein Labor des SS-Hygiene-Instituts – vermutlich im Konzentrationslager Auschwitz – zu schicken. Mit dieser Maßnahme sollte ausgeschlossen werden, dass von den Häftlingen ein Fleckfieber-Risiko ausging. Auf der Liste sind die Nummern der Blutproben im Labor vermerkt: von 5883 bis 5971. Dabei handelt es sich keinesfalls um einen Erregernachweis oder einen „Test auf Fleckfieber“.434 Vielmehr handelt es sich um das Ergebnis der – heute aufgrund der geringen Spezifizität ungebräuchlichen – WeilFelix-Reaktion. Fleckfieber wird von Mikroorganismen ausgelöst, den Ricksettsien (Ricksettsia prowazekii). Diese – bzw. das Antigen darauf – sind nicht ohne weiteres nachzuweisen. Einfach nachzuweisen ist hingegen das Antigen auf Proteus, ein Bakterium aus der Gattung gramnegativer Proteobacteria. Weil das Antigen von Proteus-X mit dem Antigen der Ricksettsien identisch ist, wurde den Häftlingen zunächst Blut abgenommen. Aus diesem wurde Serum gewonnen. Dieses Serum wurde – wahrscheinlich auf einer dunklen Glas- oder Keramikplatte – mit abgetöteten Bakterien eines ProteusStammes vermischt. Wenn der Häftling mit dem Fleckfieber-Erreger Ricksettsien infiziert war, kam es zu einer sichtbaren Verklumpung. Dabei handelte es sich um eine Antigen-Antikörper-Reaktion zwischen dem auf der Oberfläche von Proteus befindlichen Antigen und dem im Serum des Häftlingsblutes enthaltenen Antikörper auf Ricksettsien. Diese Reaktion weist nach, dass der Häftling mit dem Fleckfiebererreger infiziert ist, was allein jedoch noch nicht voll aussagekräftig ist. Dies insbesondere deshalb, weil lediglich festgestellt wird, ob der Untersuchte irgendwann in seinem Leben einmal – also auch in weiter zurückliegender Vergangenheit – mit Ricksettsien infiziert war. Um die Ansteckungsgefahr einschätzen zu können, wird ein sogenannter Titer bestimmt. Dabei wird das aus dem Blut des Häftlings gewonnene Serum verdünnt, bis die Verklumpung ausbleibt. Die letzte ver432  ITS

Listen Auschwitz 1.1.2.1 / 0124-0323 / 0217 / 0106-0107. Nummern, S. 161 und 239. Lang schreibt zunächst (S. 161), dass es unklar sei, aus welchen Gründen in Natzweiler nur 29 Frauen ankamen und nicht 30. Auf der auf S. 239 wiedergegebenen Liste waren jedoch von vornherein nur 29 Frauen ausgewählt. Die Listen auf S. 239 (Liste A / B) und S. 240 f. (Liste C) entsprechen exakt der Liste aus Auschwitz (ITS Listen Auschwitz 1.1.2.1 / 0124-0323 /  0217 / 0106-0107), abgesehen von einigen unbedeutenden Schreibfehlern (97928 Gichman, Fjasch; 98869 Geger, Beniamin; 104058 Kahn, Lewei; 119970 Saltich, Albert). Lang hat lediglich die Reihenfolge geändert und in der Liste C nach Häftlingsnummern sortiert. 434  Lang, Nummern, S. 239 und 226. Lang verkürzt die Tatsachen darauf, dass nach dem „Weill(!)-Felix-Verfahren“ der Fleckfieber-Erreger nachgewiesen werden sollte und alle untersuchten Personen nicht infiziert gewesen seien. 433  Lang,



VI. Die Nummern und die Namen409

klumpende Verdünnung entspricht dann der Titerstufe. Diese wird durch das Verdünnungsverhältnis zum Ausdruck gebracht. Die in der Liste hinter den Häftlingsnamen vermerkten Verhältniszahlen – 1:25, 1:100, 1:800 etc. – drücken dieses Verhältnis aus. Dies zeigt, dass bei 45 der 89 Häftlinge auf der Liste definitiv eine Ricksettsien-Infektion vorlag und bei 39 nicht. Bei fünf Häftlingen ist das Ergebnis heute nicht mehr leserlich. Liste 3 – Datum unbekannt Die Häftlinge wurden nicht ohne Begleitpapiere von Auschwitz nach Natzweiler verbracht. Diese Liste der im Zug befindlichen Häftlinge ist derzeit nicht auffindbar und möglicherweise verloren gegangen. Liste 4 – 2.8.1943 Ein Kriminal-Sekretär der Politischen Abteilung des Konzentrationslagers Natzweiler fertigte eine Liste unter der Überschrift „Jüdische Frauenzugänge von K.L.Auschwitz am 2.8.43“. Diese Liste trägt von 1 bis 29 durchnummeriert die Namen der 29 Frauen, die auch auf der zweiten Liste zu finden sind.435 Unten rechts findet sich der Stempel des Kriminal-Sekretärs, dessen Unterschrift unleserlich ist. Es dürfte sich jedoch um den Gestapo-Beamten Magnus Wochner gehandelt haben, der von 1941 bis 1945 Leiter der Politischen Abteilung des Konzentrationslagers Natzweiler war.436 Diese Liste, die Wochner wahrscheinlich als Ankunftsbestätigung aufstellte, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Einerseits immatrikulierte er die Neuankömmlinge nicht im Konzentrationslager Natzweiler. Er vergab also keine neue Häftlingsnummer, wie es bei den anderen Häftlingen in Natzweiler üblich war. Es spricht viel dafür, dass er dies nicht selbst entschied, sondern eine entsprechende Weisung aus Berlin existierte, da die Häftlinge nicht zum dauerhaften Aufenthalt in Natzweiler vorgesehen waren. Zudem vermerkte Wochner Geburtsdatum und Geburtsort der meisten Häftlinge auf dieser Liste mit den 29 Frauen. Allerdings sind nur bei 13 Häftlingen die vollständigen Geburtsdaten angegeben, in einem Falle der Geburtsmonat mit Jahr und bei allen anderen nur das Geburtsjahr. Dies spricht dafür, dass die Häftlinge nicht bei der Ankunft in der Politischen Abteilung befragt wurden, wie 435  ITS

Listen Auschwitz 1.1.2.1 / 00001 – 0123 / 0006 / 0014. Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34147 Prozessakte Beger, Schreiben der Staatsanwaltschaft vom 14.7.1961, S. 412. Das Schreiben hält mit Verweis auf das Buch „The Natzweiler Trial“ fest, dass der „am 29.08.1898 in Dotternhausen, Krs. Balingen, geborene und inzwischen verstorbene SS-Sturmführer Magnus Wochner“ als „Polizeibeamter im KZ-Lager Natzweiler tätig“ war. 436  HStA

410

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

es sonst nicht unüblich war, sondern Wochner diese Daten von der – wahrscheinlich unvollständigen – Transportliste abschrieb oder von derjenigen Liste, die Sievers an Eichmann übermittelt und dieser möglicherweise postalisch nach Natzweiler übersandt hatte. Liste 5 – Datum unbekannt Wochner wird auch eine Liste der 57 eingetroffenen Männer aufgestellt haben. Diese ist nicht auffindbar und möglicherweise verloren gegangen. Liste 6 – Listen aus der Zeit zwischen dem 2.8. und dem 18.8.1943 Obwohl die Häftlinge aus Auschwitz nicht in Natzweiler immatrikuliert worden waren, wurden sie in den täglichen Stärkemeldungen des Konzentrationslagers vermerkt.437 Es kann vermutet werden, dass dies mit dem Nachweis der für das Lager zugeteilten Lebensmittelmarken zusammenhing. Die Stärkemeldungen wurden täglich nach dem Morgenappell von der Politischen Abteilung nach Berlin bzw. Oranienburg gemeldet. Bei der Interpretation ist zu beachten, dass Zu- und Abgänge immer erst am Folgetag vermerkt wurden. Nachdem also am 2.8.1943 86 Häftlinge aus Auschwitz aufgenommen worden waren, wurde diese Zahl am 3.8.1943 vermerkt. Ebenso verhielt es sich mit den Abgängen. Insoweit können die Verlegungen der 86 Opfer Begers und Hirts wie folgt aus diesen Listen nachvollzogen werden: Zugang 86 Juden

2.8.1943

Abgang (Todestag) 15 14 30 27

Frauen (Anatomie-Nummern 1 bis 15) 11.8.1943 Frauen (Anatomie-Nummern 16 bis 29) 13.8.1943 Männer (Anatomie-Nummern 30 bis 59) 16.8.1943 Männer (Anatomie-Nummern 60 bis 86) 18.8.1943

Da nur 86 Personen in Natzweiler eintrafen und 89 in Quarantäne in Auschwitz Blutproben für das Hygiene-Institut der Waffen-SS abgaben, sind drei Personen vor der Ankunft in Natzweiler verstorben. Diese und deren Verbleib wurden von Lang gründlich und nachvollziehbar dokumentiert.438

437  ITS

Listen Natzweiler 1.1.29.0 / 0009 / 0065 – 0092. Nummern, S. 241.

438  Lang,



VI. Die Nummern und die Namen411

Liste 7 – zwischen dem 11.8. und 18.8.1943 oder später Henri Henripierre fertigte heimlich eine Liste mit Häftlingsnummern an, die er vom linken Unterarm der Leiche des jeweiligen Häftlings abgeschrieben haben will. Dies geschah mit hoher Wahrscheinlichkeit unbemerkt während der mehrstündigen Infusion mit dem Fixationsgemisch.439 Es ist eher unwahrscheinlich, dass Henripierre die mit vielen Leichen gefüllten Behälter öffnete, die fixierten Leichen darin allein bewegen konnte und dann von den Unterarmen die Nummern abschrieb. Sehr wahrscheinlichkeit ist allerdings auch die Möglichkeit, dass er die Nummern schlichtweg aus den Begleitpapieren zu den 86 Leichen abgeschrieben hat. Insbesondere die Tatsache, dass nur minimale Fehler bei der Abschrift erkennbar sind, spricht dafür. Henripierre war es als jahrelangem Mitarbeiter der Anatomie eventuell, nach der Eroberung Straßburgs jedoch mit Sicherheit möglich, Unterlagen in der Adminstration der Anatomie einzusehen. Die von ihm gefertigte Liste ist im Original nicht auffindbar. Liste 8 – Sonderliste Anatomie Straßburg 1943 Üblicherweise wurde jede in der Anatomie Straßburg eingelieferte Leiche mit einem Zahlencode versehen. Dieser ist gut nachvollziehbar an den beiden Leichen sowjetischer Kriegsgefangener, die im Autopsie-Bericht von Simonin, Piédelièvre und Fourcade erwähnt sind.440 Die ersten beiden Ziffern beschreiben das Jahr der Einlieferung, die nachfolgenden beiden Ziffern die laufende Nummer der Einlieferung in jenem Jahr. Die Leichen der beiden Kriegsgefangenen trugen daher die Nummern 43 / 55 und 43 / 77. Die aus Natzweiler stammenden Leichen wurden jedoch in einer separaten Liste geführt, auf die sich Simonin, Piédelièvre und Fourcade in ihrem Bericht beziehen und die von 1 bis 86 nummeriert war.441 Diese Liste ist nicht mehr erhalten und wurde in Original möglicherweise von Lieselotte Seepe in der Heizung des Anatomischen Instituts verbrannt, wie wohl auch alle anderen in Straßburg befindlichen Listen und Unterlagen zu diesen 86 Opfern.442 Diese separate Liste unabhängig von den sonstigen Universitätsakten und -listen mag ein Hinweis darauf sein, dass diese Leichen nicht dem Anatomischen Institut gehörten und damit nicht der Verfügungsgewalt von Hirt unterlagen. 439  Ebd.,

S. 177. B 162 / 20260, Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade, S. 49 ff. und 52. 441  Ebd., S. 54. 442  Wiesbaden Abt. 461, Nr.  34146 Prozessakte Beger, Aussage Seepe vom 10.1.1963, S.  324 ff. 440  BArch

412

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

Es spricht daher viel dafür, dass diese 86 Leichen nicht allzu lange in der Anatomie verbleiben sollten. Liste 9 – Angaben von Henripierre gegenüber den französischen Ermittlungsbehörden vom 23.12.1944 Henri Henripierre erwähnte gegenüber den französischen Behörden, dass im August 1943 insgesamt 86 Juden, davon 30 Frauen, ermordet und in die Anatomie nach Straßburg gebracht wurden. Am 23.12.1944 wurde ein Aktenvermerk angefertigt, in dem Henripierre, Hirt, Bong und Seepe als Beschuldigte geführt wurden und der Hinweis Henripierres erwähnt ist.443 Bemerkenswert ist nicht nur, dass am Ende des Vermerks festgehalten ist, dass die weiteren Ermittlungen nur noch gegen Hirt, Bong und Seepe geführt werden sollen, sondern dass 86 Häftlingsnummern, getrennt nach Frauen und Männern, vollständig vermerkt sind. Liste 10 – Autopsie-Liste vom 15.1.1946 Das am 9.7.1945 beauftragte und am 15.1.1946 fertiggestellte Gutachten von Simonin, Piédelièvre und Fourcade enthält eine Liste aller Leichen und Leichenteile der 86 Opfer, die in der Anatomie in Straßburg vorgefunden wurden.444 Die Tatsache, dass keine Anatomie-Nummer – aus der Sonderliste mit den Nummern 1 bis 86 – zwei Mal erscheint, belegt das von mehreren Zeugen beschriebene kurzfristige Zerstückeln der Leichen aufgrund der sich nähernden Truppen der Alliierten. Denn normalerweise muss bei einer Teilung einer Leiche jedes Teil auch wieder eindeutig identifiziert sein. Da die Leichen jedoch zerteilt wurden, um die für das Krematorium bestimmten Särge besser ausfüllen zu können, war eine Inventarisierung nicht mehr notwendig. Von einer weiblichen und acht männlichen Leichen konnten die Gutachter keinerlei Teile mehr auffinden. Dies deutet entweder darauf hin, dass diese Leichen erfolgreich in Gänze kremiert wurden oder aber Otto Bong zutreffend angab, dass aufgrund der Knappheit an Leichen in gutem körperlichen Zustand einige der 86 Leichen für den universitären Lehrbetrieb verwendet wurden.445 Es spricht allerdings viel dafür, dass diese Aussage Bongs eine Schutzbehauptung war, da die Gutachter keinerlei Spuren von 443  USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020, Ermittlungsakte, Eintrag vom 23.12.1944, S. 258 f. 444  BArch B 162 / 20260, Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade, S. 54 ff. 445  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34166 Prozessakte Beger, S. 54, Vorlesungsverzeichnis Universität Straßburg 1944 / 45.



VI. Die Nummern und die Namen413

Präparier-Übungen dokumentieren konnten. Dabei ist zu bedenken, dass im Gutachten auch durchpräparierte und unbeschriftete Thoraxskelette erwähnt wurden, die in den Becken obenauf lagen, möglicherweise, um die Reste der identifizierbaren Opfer aus Natzweiler zu verbergen. Die ermordeten Frauen und Männer Die Leichen der ermordeten Frauen erhielten die Anatomie-Nummern 1 bis 29. In den Stärkemeldungen des Konzentrationslagers Natzweiler sind für den 12.8.1943 Abgänge von 15 Juden verzeichnet.446 Dabei dürfte es sich um jene 15 Frauen handeln, die am Abend des Vortages, dem 11.8.1943, ermordet wurden. Die Leichen dieser Frauen erhielten am nächsten Morgen bei der Ankunft in der Anatomie Straßburg die Nummern 1 bis 15. Ähnlich verhielt es sich mit den restlichen 14 Frauen. Diese wurden am 13.8.1943 ermordet. Am 14.8.1943 wurden die Abgänge in den Stärkemeldungen registriert, und beim Eintreffen in Straßburg erhielten sie die Nummern 16 bis 29. Die 30 männlichen Opfer der Mordaktion vom 16.8.1943 erhielten in Straßburg die Nummern 30 bis 59, die 27 Opfer des 18.8.1943 die Nummern 60 bis 86. Acht Nummern (39, 66, 68, 69, 71, 72, 75 und 82) wurden 1945 allerdings nicht mehr vorgefunden. Eine von diesen könnte zu der einzigen im Jahre 1945 nicht obduzierten Leiche mit der Auschwitzer Häftlingsnummer 105203 (Paul Krotoschiner) gehören. Die Anatomie-Nummer 26 fehlt unter den vorgefundenen Leichen oder Leichenteilen. Die Leichen und Leichenteile sind im Gutachten von Simonin, Piédelièvre und Fourcade auf den Seiten 54–59 beschrieben wie folgt:447 11.8.1943 Anatomie Nr. 1, (S. 56) Anatomie Nr. 2, (S. 56) Anatomie Nr. 3, Autopsie Nr.1, (S. 10) Anatomie Nr. 4, (S. 58) Anatomie Nr. 5, (S. 56) [Anatomie Nr. 6, (S. 54) dürfte versehentlich als männlich bezeichnet worden sein] Anatomie Nr. 7, (S. 54) Anatomie Nr. 8, (S. 54) Anatomie Nr. 9, (S. 54) Anatomie Nr. 10, (S. 54)

446  ITS

Listen Natzweiler 1.1.29.0 / 0009 / 0065 – 0092. B 162 / 20260, Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade, S. 54 ff. 447  BArch

414

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

Anatomie Anatomie Anatomie Anatomie Anatomie

Nr. 11, (S. 58) Nr. 12, (S. 54) Nr. 13, (S. 54) Nr. 14, (S. 55) Nr. 15, (S. 54)

13.8.1943 Anatomie Nr. 16, Autopsie No. 2, (S. 12) Anatomie Nr. 17, Autopsie No. 3, (S. 16) Anatomie Nr. 18, (S. 54) Anatomie Nr. 19, (S. 54) Anatomie Nr. 20, (S. 54) Anatomie Nr. 21, (S. 58) Anatomie Nr. 22, (S. 54) Anatomie Nr. 23, (S. 54) Anatomie Nr. 24, (S. 57) Anatomie Nr. 25, (S. 55) [Anatomie Nr. 26 fehlt] Anatomie Nr. 27, (S. 54) Anatomie Nr. 28, (S. 57) Anatomie Nr. 29, (S. 58) 16.8.1943 Anatomie Nr. 30, (S. 57) Anatomie Nr. 31, Autopsie Anatomie Nr. 32, Autopsie Anatomie Nr. 33, Autopsie Anatomie Nr. 34, Autopsie Anatomie Nr. 35, (S. 58) Anatomie Nr. 36, (S. 57) Anatomie Nr. 37, (S. 57) Anatomie Nr. 38, (S. 57) [Anatomie Nr. 39 fehlt] Anatomie Nr. 40, (S. 57) Anatomie Nr. 41, (S. 56) Anatomie Nr. 42, (S. 57) Anatomie Nr. 43, (S. 57) Anatomie Nr. 44, (S. 57) Anatomie Nr. 45, (S. 57)

No. 4, No. 5 No. 6 No. 34



VI. Die Nummern und die Namen415 Anatomie Anatomie Anatomie Anatomie Anatomie Anatomie Anatomie Anatomie Anatomie Anatomie Anatomie Anatomie Anatomie Anatomie

Nr. 46, (S. 57) Nr. 47, (S. 56) No. 48, Autopsie No. 8, (S. 28) No. 49, Autopsie No. 9, (S. 30) No. 50, Autopsie No. 10, (S. 32) Nr. 51, (S. 57) Nr. 52, (S. 57) Nr. 53, (S. 58) Nr. 54, (S. 57) Nr. 55, (S. 54) Nr. 56, (S. 56) Nr. 57, (S. 55) Nr. 58, (S. 55) Nr. 59, (S. 55)

18.8.1943 Anatomie Nr. 60, Autopsie Anatomie Nr. 61, Autopsie Anatomie Nr. 62, (S. 59) Anatomie Nr. 63, Autopsie Anatomie Nr. 64, Autopsie Anatomie Nr. 65, Autopsie [Anatomie Nr. 66 fehlt] Anatomie Nr. 67, Autopsie [Anatomie Nr. 68 fehlt] [Anatomie Nr. 69 fehlt] Anatomie Nr. 70, (S. 59) [Anatomie Nr. 71 fehlt] [Anatomie Nr. 72 fehlt] Anatomie Nr. 73, (S. 59) Anatomie Nr. 74, (S. 59) [Anatomie Nr. 75 fehlt] Anatomie Nr. 76, (S. 59) Anatomie Nr. 77, (S. 59) Anatomie Nr. 78, (S. 59) Anatomie Nr. 79, (S. 59) Anatomie Nr. 80, (S. 59) Anatomie Nr. 81, (S. 59)

No. 11, (S. 34) No. 12, (S. 35) No. 13 No. 14 No. 15 No. 16

416

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“

[Anatomie Nr. 82 fehlt] Anatomie Nr. 83, (S. 54) Anatomie Nr. 84, (S. 55) Anatomie Nr. 85, (S. 58) Anatomie Nr. 86, (S. 57)

Die Liste vom 15.7.1943 weist die nachfolgend abgebildeten Ergebnisse auf. Um Zuordnungen zu erleichtern, wurden diese mit der vorgenannten Liste in Bezug auf die Nummern, die bei Ankunft in der in der Anatomie vergeben wurden, und die Autopsie-Nummern im Untersuchungsbericht vom 15.1.1946 verknüpft:448 Pos. KZ.-Nr. Name Anatomie- Autopsie- Blutprobe. Ergebnis Nr. Nr. 1 105097 Hayum Alfred 5883 – 2 109469 Franco Abracham 5884 – 3 100064 Stamm Günter 5885 – 4 105894 Steinberg Sigurch 5886 1:480449 5 116126 Marcus Michael 5887 – 6 107881 Bohar Harry 5888 – 7 105638 Herschwelt Jacob 65 15 5889 – 8 104852 Pinkus Herman 5890 1:100 9 119628 Katz Jean 5891 – 10 116456 Cohen Elei 5892 1:100 11 104423 Haarropt Hugo 5893 – 12 98869 Geger Beniamin 31 4 5894 – 13 117246 Bluosilio Samuel 5895 – 14 103648 Polan Jacob 5896 1:100 15 104058 Kahn Lewi 5897 1:25 16 98991 Osepowitz Heinrich 5898 – 17 107790 Basch Joachim 5899 – 18 105737 Wollinski Walter 5900 1:100 19 105611 Cohn Hugo 60 11 5901 1:25 20 105757 Duesen Kurt 5902 1:25 21 104744 Ascher Martin 5903 1:200 448  ITS

Listen Auschwitz 1.1.2.1 / 0124-0323 / 0217 / 0106-0107. Titer-Angaben wurden mit Bleistift eingetragen und sind sehr schwer lesbar. Dort, wo ein Strich vermerkt ist, steht auch im Original ein Strich. Bei den Zahlen kann es aufgrund der Lesbarkeit möglicherweise in Einzelfällen Abweichungen in der Höhe der Verhältniszahl hinter dem Doppelpunkt geben. 449  Die



VI. Die Nummern und die Namen417 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59

105598 107969 105257 106786 101089 117295 106998 107933 79238 105203 107225 119963 115218 119868 119972 119891 119859 119804 119846 119858 119803 119964 119980 119874 119927 119970 119853 119974 119801 119948 100614 106569 109597 115983 99975 106894 117045 104671

Behrent Joachim Taffel Menaelem 63 13 Benjamin Günter Zeelich Gustaw Litzki Ichai Izak Israel Markt Erich Rosenthal Siegbert (Oberkörper) Sachnowotz Frank Krotoschiner Paul (ganze Leiche gefunden) Izraelski Hans Rafael Izrael Buchar Nisin Albert Izrael Saltech Manrice Kapom Sabetajj Francaise Moritz Asser Ezra Hassan Charles Esformes Aron 50 10 Aron Aron 49 9 Rafael Samuel Saul Mordochaim Isaak Albert Menasche Lasas Saltich Albert Eskaloni Aron Saporta Moise Acuhi Dawid 33 6 Nathan Dario 34 7 Bezsmiertny Kalman Sondheim Emil 64 14 Matarass Abracham Decalo Sabi Herman Rudolf Frischler Heinz 67 16 Dannenberg Günter 61 12 Lewy Kurt

5904 1:400 5905 – 5906 1:50 5907 1:100 5908 – 5909 – 5910 1:25 5911 1:50 5912 1:25 5913 1:25 5914 – 5915 1:145 5916 – 5917 1:100 5918 1:25 5919 – 5920 – 5921 1:400 5922 1:400 5923 1:50 5924 – 5925 1:50 5926 – 5927 – 5928 – 5929 1:25 5930 1:200 5931 – 5932 1:25 5933 – 5934 – 5935 unleserl. 5936 unleserl. 5937 unleserl. 5938 1:25 5939 1:100 5940 1:100 5941 –

418 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89

D. Der chronologische Ablauf des Vorhabens „Schädelsammlung“ 97928 41545 41547 45263 42670 45177 42658 45242 44056 40949 41670 42329 38976 38774 43367 39339 38801 38358 38790 41377 40436 41547 43167 42145 39333 42617 42600 42619 42685 42571

Gichman Fajsch 32 5 Arnades Palomba Amra Elwira Simon Alica Samdrichin Marie Soroschak Sophie Passman Jeanette Leibholz Else Susteil Nimie Baruch Ernestine Cally Sarica Nachmintz Siniora 3 1 Attas Allegra Kohen Juli Nisin Sarina Noche Sterina Eskenasi Ester Nachman Redzina Alalouf Bella Berucha Alcave Jesta Marta Arouh Jety Amar Emma Cabeu Rebeca Nadale Maria Kempner Maria Grub Brandel Klein Elisabeth Urstein Maria Bomberg Sara

5942 – 5943 – 5944 1:25 5945 – 5946 – 5947 1:100 5948 1:100 5949 1:170 5950 – 5951 1:800 5952 1:800 5953 1:50 5954 1:100 5955 1:800 5956 1:25 5957 1:800 5958 1:400 5959 – 5960 1:40 5961 unleserl. 5962 – 5963 1:200 5964 unleserl. 5965 1:200 5966 1:25 5967 – 5968 – 5969 – 5970 – 5971 –

E. Beger-Prozess Die Motivation von Hirt und Beger war in der von dem Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer unterzeichneten Anklageschrift wie folgt zusammengefasst: „Der Angeschuldigte Dr. Beger ist zusammen mit Professor Dr. Hirt der eigentliche Initiator der ‚Sammlung‘ gewesen. Er war als Anthropologe, Hirt als Anatom an der Anlegung dieser Schädel- und Skelettsammlung interessiert. […] Er bestreitet, der Urheber des Vorschlages aus dem Jahre 1941 betreffend Sicherstellung der Schädel jüdisch-bolschewistischer Kommissare gewesen zu sein, hat dann aber später eingeräumt, sich dumpf daran erinnern zu können, dass etwa gegen Ende 1941 der Reichsgeschäftsführer des Ahnenerbes Sievers einmal bei uns in München war und ein Ansinnen ähnlicher Art […] vorbrachte. […] Abgesehen davon, dass der Vorschlag stilistisch den Abhandlungen Dr. Begers in allen anderen Fällen entspricht, ist unerfindlich, was für ein Interesse an Schädel Prof. Dr. Hirt als Anatom haben sollte; eine derartige anthropologische Schädelsammlung hatte für ihn keinen Wert. Ihn interessierten Leichen, d. h. Skelette als Anschauungsmaterial für die jungen Mediziner und die übrigen Leichenteile für Sektionszwecke. An einer anthropologischen Sammlung konnte nur ein Anthropologe interessiert sein. […] Wollte man der Einlassung Begers folgen, dann wäre auch unbegreiflich, warum Beger sich nicht an ein anderes, vor allem in der Nähe des ‚Ahnenerbes‘ stationiertes Konzentrationslager wandte, wenn in Auschwitz Fleckfieber herrschte.“1

Der Prozess hatte nicht einen Hinweis darauf ergeben, dass Hirt der Urheber des Plans war, eine Schädelsammlung aufzubauen, oder die Denkschrift hierzu von ihm stammte. Die Urheberschaft konnte auch Beger nicht so zweifelsfrei nachgewiesen werden, dass es für eine Verurteilung zu lebenslanger Haft reichte – sie war schlicht zu kurz für solch weitreichende Fest­ legungen.2 Ebenso wenig konnte erhellt werden, warum keine Skelette präpariert wurden und wo die vier Innerasiaten aus Auschwitz verblieben waren. Die Zeugin Schmitz beeidete nach 1945 drei Mal, dass Beger Urheber der Denkschrift war. Dem schloss sich auch die Staatsanwaltschaft in ihrer Sprachstilanalyse an. Andererseits kam der Gutachter Dr. Schröter von der Gesellschaft für deutsche Sprache zu dem Schluss, dass der Sprachstil der Schädelsammlungs-Denkschrift nicht – wie für eine Verurteilung zwingend erforderlich – eindeutig genug mit dem Sprachstil der anderen Denkschriften 1  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 81 (Hervorhebungen durch den Verfasser). 2  Archiv Gesellschaft für deutsche Sprache DA 8647.

420

E. Beger-Prozess

Begers übereinstimme.3 Diese diffuse Aussage ist nach heutiger Praxis bei forensischem Sprachstilvergleich nur bedingt nachvollziehbar. Allerdings ist es auch heute üblich, dass ein Gutachter, der sich nicht absolut sicher ist und bei Fehlern eine lebenslange Haftstrafe zu Unrecht verursacht, keine eindeutige Festlegung vornimmt. Das verhängte Strafmaß von drei Jahren für Beihilfe zum Mord war das niedrigste, das das Gesetz zuließ. Die nicht zwingend rechtlich vorgegebene Verrechnung mit der Internierung als Kriegsgefangener ermöglichte es Beger, dass mit dem Urteil der Fall für ihn abgeschlossen war. Dies sollte jedoch nicht zu dem Schluss verleiten, dass die Kammer auch in ihrer Urteilsbegründung dem Angeklagten gegenüber eine ähnlich generöse Haltung eingenommen hatte. Die Wahrheit liegt viel näher: Es konnte nie zweifelsfrei bewiesen werden, dass Beger der tatsächliche Autor der Denkschrift war. Da niemand unterschrieben hatte – weder Beger noch Hirt – galt der einfache Rechtsgrundsatz in dubio pro reo. Gleiches galt im Urteil für die Frage, ob Beger vor seinem Besuch in Auschwitz wusste, dass bei der Aktion Morde geschehen sollten. Es ist evident, dass Beger dies wusste. Doch bedarf es in einem Rechtsstaat gerichtsfester Beweise. Es blieb offen, wer der Urheber der Denkschrift war, aber auch wann und von wem sie welchem Satz (Original, verschiedene Durchschläge) des Schreibens von Sievers an Himmler mit Hirts Forschungsbericht beigefügt wurde. Bemerkenswerterweise ging das Gericht dieser Frage nicht nach, sondern ging schlicht davon aus, dass die Denkschrift in jedem Satz den Forschungsberichten Hirts beigegeben war. Hirt und Sievers konnten keine Klarheit mehr in das Verfahren bringen und die Verfahrensbeteiligten thematisierten diesen Punkt ebenfalls nicht. Daher kam das Gericht im Urteil, ohne die Frage abschließend geklärt zu haben, zu der bemerkenswerten Auffassung, dass der Plan zum Aufbau der Schädelsammlung „auf Anregung von Professor Hirt unter der Schirmherrschaft des Himmler’schen Ahnenerbes“ zurückgeht. Dabei ist zu beachten, dass die Kammer bei der Urheberschaft keinesfalls eine historisch und den Tatsachen entsprechende Zuordnung abgeben konnte oder wollte: Ihre Aufgabe bestand allein darin, die Schuldhaftigkeit des Handelns von Beger zu beurteilen, nicht jedoch die des verstorbenen und nicht angeklagten Hirt. Alles, was nicht zur Klärung der Schuldfrage Begers zählte, wurde im Urteil nicht mehr weiter in die Zusammenhänge eingeordnet. Gerade vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass sich die Kammer in ihrem Urteil vom 6.4.1971 nicht genau festlegen wollte und ihre Zweifel sehr pointiert festhielt: „Auf Himmlers Wunsch übersandte Sievers mit Schreiben vom 9. Februar 1942 an Dr. Brandt eine Zusammenstellung der von Hirt beabsichtigten Forschungsvorha3  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34171 Prozessakte Beger, Urteil vom 6.4.1971, S. 46.



E. Beger-Prozess421 ben und fügte als Anlage 2) einen ohne Unterschrift oder sonstige Herkunftsangabe versehenen ‚Vorschlag zur Sicherstellung der Schädel von jüdisch-bolschewistischen Kommissaren‘ bei.“4

Die Kammer hielt fest, dass die Denkschrift Hirts Unterlagen einschließlich Anlagen „beigefügt“ worden war – nicht aber, dass diese ein Teil davon war. Damit schloss die Kammer auch das oben skizzierte mutmaßliche Szenario nicht aus, dass Sievers Hirts Forschungsbericht vom 20.1.1942 so lange zurückhielt, bis Begers zuvor im Sommer 1941 vom RuSHA aus erstmals entworfene Denkschrift, die er am 10.12.1941 Sievers mündlich referiert hatte, aktualisiert in Berlin-Dahlem eintraf, um beides zusammen an Himmler zu senden. Es wäre interessant zu wissen, inwieweit mit modernen forensischen Untersuchungsmethoden ein heutiges Gericht zu einem anderen ­Urteil über die Urheberschaft der Denkschrift kommen würde. Die weitere Begründung ist ein offensichtlicher Versuch der Kammer, recht oberflächlich sowie ohne Belege und Beweise die – bis heute nicht aufgeklärte – Frage zu beantworten, wie es von „Schädeln jüdisch-bolschewistischer Kommissare“ über Begers Auftrag der Auswahl russischer Kriegsgefangener in Auschwitz bis zu einer Tötung von 86 jüdischen Menschen in Natzweiler kam. Dies war für ein Urteil über die Tatbeteiligung Begers auch nicht zwingend erforderlich. Doch dieser Passus zeigt, dass die Kammer auch keine Erklärung für diesen Kurswechsel hatte, denn sie unterlegte die anderen Begründungsteile mit prozessual vorgelegten Beweisen: „In der Folgezeit erfuhr jedoch der Plan […] eine mehrfache Änderung. Zum einen wollte man die ‚Sammlung‘ nicht nur auf Schädel beschränken, sondern vollständige Skelette haben; zum anderen wollte man nicht mehr kriegsgefangene Kommissare töten, sondern im Konzentrationslager befindliche Juden; schließlich beabsichtigte man, neben den Skeletten ein möglichst noch genaueres Abbild der betreffenden Menschen zu ihren Lebzeiten zu erlangen als dies bei der ‚Schädel-Sammlung‘ geplant war. Deshalb war nicht nur vorgesehen, sie vor der Tötung anthropologisch zu vermessen und zu photographieren, sondern auch noch, von ihren Köpfen Abformungen zu nehmen und Röntgenaufnahmen anzufertigen, sowie ihre Blutgruppen festzuhalten; schließlich wollte man sie auch als Leichen noch abformen. Erst dann sollten sie skelettiert werden. Die für die Skelettsammlung vorgesehenen Häftlinge sollten aus dem Lager Auschwitz ausgewählt werden.“5

In der Urteilsbegründung kam die Kammer Beger – in dubio pro reo – weit entgegen: „Was den Straßburg-Aufenthalt Dr. Begers anbetrifft, so geht das Gericht von seiner insoweit glaubhaften Einlassung aus, er habe allein Dr. Putzer besucht und Prof. Hirt nur einmal angerufen, ihn selbst aber nicht gesehen; er habe auch von Hirt keine weitergehenden Hinweise über den wahren Charakter der Untersuchun4  Ebd., 5  Ebd.,

S. 14. S. 15.

422

E. Beger-Prozess

gen in Auschwitz erhalten. Dem steht nicht entgegen, daß Hirt mit Schreiben vom 9. September 1942 Sievers mitteilt, er habe ‚mit Beger … gestern unseren anderen Plan besprochen‘, der wohl auch ‚in Ordnung‘ gehe. Diese Formulierung ergibt nicht zwingend, daß man sich gesehen hat; sie läßt vielmehr auch ein Telephongespräch zu. Damit steht ebenfalls nicht im Widerspruch, daß Hirt noch am 5. September 1942 Beger eigens angeschrieben und dessen Besuch als sehr dringlich dargestellt hatte (vgl. 3. 23: ‚Gib mir am besten telegraphisch Nachricht …‘). Dr. Beger hatte diesen Brief nämlich nicht mehr erhalten, konnte also glauben, die ihm eine Woche zuvor von Sievers aufgetragene Rücksprache bei Hirt auch telephonisch erledigen zu können; und Hirt kann dann darauf verzichtet haben, Dr. Beger nun auch noch zu sich zu bitten, wenn die Besprechung – möglicherweise eine grundsätzliche Instruktion für eine (gewöhnliche) anthropologische Vermessung – auch fernmündlich geführt werden konnte und zufriedenstellend erledigt wurde, wovon das Gericht ausgeht. Die Bemerkung Hirts im Brief an Sievers schließlich, er habe mit Beger den ‚Plan besprochen‘ besagt ebenfalls nicht, daß Hirt Dr. Beger über das Gesamt Vorhaben eingeweiht haben muß.“6

Die Art der Begründung spricht hier für sich selbst, entspricht aber dem rechtlichen Spielraum der Kammer in einem rechtsstaatlichen Verfahren. Allerdings wirft die Kammer an vielen Stellen der Urteilsbegründung mit ihrer Art der Beweiswürdigung mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Warum Hirt als Anatom einem ihm fremden Anthropologen Beger aus Berlin, zu dem er nie zuvor Kontakt hatte, gelegentlich dessen Aufenthalts in Straßburg telefonisch den Auftrag zu einer gewöhnlichen anthropologischen Untersuchung – die dann nie stattfand – gegeben haben soll, führt die Kammer nicht aus. Der Großteil der Urteilsbegründung beruht beinahe ausschließlich darauf, dass Beger (mangels vieler Quellen) nicht nachgewiesen werden kann, dass er von den Morden vor deren Durchführung gewusst habe. Die Urteilsbegründung gipfelt in der Feststellung: „Himmler und Hirt wollten eine Skelettsammlung anlegen, um mit deren Hilfe die von ihnen vertretene Rassenideologie zu untermauern. Zu diesem Zweck sollten zuvor eigens hierfür ausgesuchte jüdische Häftlinge umgebracht werden. Diese Menschen wurden damit nicht nur aus Rassenhaß getötet – dies allein stellt schon einen niedrigen Beweggrund dar (vgl. BGHSt 18, 51) – sondern vor allem deshalb, um möglichst schnell, bequem und billig das ‚Material‘ für eine solche Sammlung zu erhalten. […] Da es sich um in ein Konzentrationslager verschleppte Juden handelte, spricht vielmehr alles dafür, daß sie Opfer der sogenannten ‚Endlösung der Judenfrage‘, also allein ihrer Judenheit wegen vogelfrei und damit grundsätzlich zum Tode bestimmt waren. Die Niedrigkeit des Motivs der Tat wird auch nicht dadurch etwa beseitigt, daß das Vorhaben – vordergründig gesehen – ‚wissenschaftlichen‘ Zwecken dienen sollte. Auch ein solcher Zweck – selbst wenn die Täter hiervon überzeugt gewesen sein sollten – entkleidet die Tat nicht ihrer Niedrigkeit. Das Gebot der Achtung menschlichen Lebens verbietet auch zu wissenschaftlichen 6  Ebd.,

S.  47 f.



E. Beger-Prozess423 Zwecken Eingriffe in die Person gegen den Willen des Betroffenen; dies gilt um so mehr dann, wenn durch solche Eingriffe das Leben selbst ausgelöscht werden soll.“7

Genau an dieser Stelle wäre von der Kammer die Einlassung Gabels vom 25.7.1960 zu diskutieren gewesen: „Heute möchte ich rückschauend sagen, dass man, wenn man lediglich beabsichtigt haben sollte, von jüdischen Häftlingen eine Skelettsammlung zu machen, diese viel einfacher und weniger umständlich im Konzentrationslager Dachau hätte finden können.“8

Die Auslassung dieser Frage ist einer der Gründe für Zweifel am Urteil, da viele weitaus bedenklichere und teilweise absurde Entlastungsgründe Eingang in die Urteilsbegründung gefunden haben. So wurde Beger ausdrücklich nicht verurteilt, weil er 115 Menschen in Auschwitz auswählte oder 86 Menschen in Natzweiler starben, sondern einzig für die in Natzweiler vorgenommenen Untersuchungen: „Dr. Beger hat dadurch, daß er die Blutgruppen an den zur Tötung bestimmten 86 Häftlingen bestimmt und bei der Anfertigung von Röntgenaufnahmen mitgewirkt hat, Beihilfe zum Mord an diesen Menschen geleistet. Nach dem Gesamtplan sollten die Häftlinge erst getötet werden, nachdem die ‚wissenschaftlichen‘ Untersuchungen an ihnen vorgenommen waren. Indem Dr. Beger diese Arbeit ausführte, räumte er ein der Tötung noch entgegenstehendes Hindernis beiseite und trug so dazu bei, daß der Mord an den Häftlingen möglich wurde. […] Nicht feststellen kann das Schwurgericht dagegen, daß er auch die grausamen Einzelumstände der Tötung kannte oder sich vorstellte und sie billigend in Kauf nahm. Er war bei der Tötung offenbar selbst nicht dabei und es steht auch nicht fest, daß ihm die Art der Tötung mitgeteilt worden war oder daß er die Begleitumstände aufgrund eigener, früherer Erlebnisse oder geschilderter Begebenheiten als möglich in Betracht gezogen hat. […] Zu seinen Gunsten ist das Gericht davon ausgegangen, daß er die Arbeiten in Natzweiler innerlich widerstrebend vorgenommen hat und daß nach seiner Vorstellung die geplante Tötung der Häftlinge letztlich nicht mehr aufzuhalten sei. Für ihn spricht weiter, daß er Anfang Juli 1943 seinen Vorgesetzten Sievers bat, vier von ihm namentlich genannte Häftlinge wegen ihres Einsatzes anlässlich seines Aufenthaltes in Auschwitz der Kommandantur gegenüber lobend zu melden. Dies zeigt, daß er jenen Lagerinsassen gegenüber menschliche Regungen aufzubringen bereit war. […] Des weiteren hat es das Gericht nicht unberücksichtigt gelassen, dass die Tatbeteiligung Dr. Begers Züge schicksalhafter Verstrickung trägt: In Auschwitz hatte er maßgeblich, aber unwissend am Aufbau der Skelettsammlung mitgewirkt […]. Schließlich darf nicht übersehen werden, daß die Tat ein halbes Menschenalter zurückliegt. Der jetzt 60 Jahre alte Angeklagte muß sich für ein 28 Jahre zurückliegendes Verhalten verantworten. Sein persön­ 7  Ebd.,

S.  47 f. Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Gabel vom 25.7.1960, S. 53. 8  HStA

424

E. Beger-Prozess

liches Ergehen seit damals, die völlige Veränderung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen und der Wandel der Anschauungen haben ihn anders werden und die Beziehung zu seinem damaligen Verhalten beinahe verlieren lassen.“9

Der Tenor, insbesondere der bezüglich des Rasse-Experten, der nur in „schicksalhafter Verstrickung“ mit „innerem Widerstreben“ „massgeblich, aber unwissend“ an einem Verbrechen beteiligt war und sogar „menschliche Regungen“ gegenüber „Lagerinsassen“ zeigte, spricht für sich selbst.10 Nachdem das Mindeststrafmaß von drei Jahren verhängt und die Verfahren gegen die Mitangeklagten Hans Fleischhacker und Wolf-Dietrich Wolff eingestellt worden waren, hat das Landgericht Frankfurt am Main die Strafe gegen Beger mit seiner Internierungs- und Spruchkammerhaft nach dem Krieg und der kurzen Untersuchungshaft zu Beginn des Verfahrens verrechnet. Das dann noch rechnerisch verbliebene Strafmaß hat das Landgericht Frankfurt am 13.5.1974 zur Bewährung ausgesetzt, nachdem der Bundesgerichtshof unter Verwerfung der weiteren Revision den Fall einzig zur Verrechnung der Strafe an das Landgericht Frankfurt zurücküberwiesen hatte. Bruno Beger hat mit Ausnahme der Internierung und einer kurzen Untersuchungshaft nie eine Bestrafung für seine Mitgliedschaft in der SS und sein dortiges rassenideologisches Wirken erfahren. Ebenso wenig wurde er für das Erlangen von Karrierevorteilen, die einzig auf dem Missbrauch von ­Gefangenen beruhten – Juden und Angehörige der Roten Armee –, bestraft. Bruno Beger starb am 12.10.2009 98-jährig in Königstein (Taunus) bei Frankfurt.

9  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34171 Prozessakte Beger, Urteil vom 6.4.1971, S.  84 ff. 10  Zum Selbstentschuldungs-Diskurs vgl. u. a.: Miquel, Marc v.: Juristen in eigener Sache. In: Frei, Norbert: Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945. Frankfurt 2002. S. 180–237, Frei, Norbert: Hitlers Eliten nach 1945 – eine Bilanz. Ebd. S. 303– 335. Weiterführend: Frei, Norbert: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München 1996.

F. Zusammenfassung „Mit Blick auf die Tatsachen, glaube ich, ist es gerechtfertigt zu behaupten, daß das Nazi-Regime moralisch, nicht gesellschaftlich, extremer gewesen ist, als das StalinRegime in seiner schlimmsten Gestalt. Das Nazi-Regime hat einen neuen WerteKanon angekündigt und ein ihm entsprechendes Rechtssystem eingeführt. Es hat darüber hinaus den Beweis erbracht, dass niemand ein überzeugter Nazi sein musste, um sich anzupassen und nicht seine gesellschaftliche Stellung, wohl aber die moralischen Überzeugungen, die einst mit ihr einhergingen gleichsam über Nacht zu vergessen. Im Zuge der Erörterung dieser Angelegenheiten und besonders der allgemeinen moralischen Verurteilung der Naziverbrechen wird fast immer übersehen, daß das, was moralisch wirklich zur Debatte steht, nicht beim Verhalten von Nazis, sondern bei denjenigen auftrat, die sich nur ‚gleichschalteten‘ und nicht aus Überzeugung handelten. Es ist nicht schwer zu sehen, ja zu verstehen, wie jemand sich entscheiden mag, ‚ein Schurke zu werden‘ und, wo sich die Gelegenheit bietet, eine Umkehrung der Zehn Gebote auszuprobieren – beginnend mit dem Gebot ‚Du sollst töten‘ bis hin zu der Vorschrift ‚Du sollst lügen‘. […] Was diese Menschen taten, war entsetzlich […]. Die Moral zerbrach und wurde zu einem bloßen Kanon von ‚mores‘ – von Manieren, Sitten, Konventionen, die man beliebig ändern kann – nicht bei den Kriminellen, sondern bei den gewöhnlichen Leuten, die sich, solange moralische Normen gesellschaftlich anerkannt waren, niemals hatten träumen lassen, daß sie an dem, was sie zu glauben gelehrt worden waren, hätten zweifeln können.“1

Hannah Arendts hier wiedergegebenes Urteil war wesentlich beeinflusst von ihrer Tätigkeit als Beobachterin des Prozesses gegen Adolf Eichmann in Jerusalem für die Zeitschrift „The New Yorker“, die in den Zeitraum von April bis Juni 1961 fiel. Während sie in ihren Artikeln und dem daraus entstandenen Buch „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ noch der schauspielerischen Leistung Eichmanns auf den Leim ging, der ein kleines Rädchen im Getriebe des Regimes im imitierten Habitus seiner Untergebenen mimte, war Eichmann zur gleichen Zeit bereits durchschaut worden: Der im Jahre 1916 in Berlin geborene und vor dem NS-Regime geflohene israelische Polizeihauptmann Avner Werner Less hatte Eichmann für die Anklage 275 Stunden lang verhört. Die Aufzeichnungen von Less und seine Entwürfe für ein Buch über diese Zeit wurden unlängst von Bettina Stangneth rekonstruiert und sodann in Buchform herausgegeben.2 Less hielt akribisch fest, mit welchen Methoden und offenbar auswendig gelernten 1  Arendt,

Über das Böse, S. 16 f. Lüge.

2  Stangneth,

426

F. Zusammenfassung

Sätzen – er stellte oft Wortgleichheit zu den Sassen-Protokollen fest – Eichmann seine Verantwortung herunterspielen wollte. Less glaubte Eichmann nicht, dass dieser nur ein „Transportoffizier“ war, und hielt in seinen Aufzeichnungen Gedanken fest, die beinahe exakt auch auf die Rolle und Verantwortung von Wolfram Sievers zutreffen: „22. Juni 1961. Less im Interview mit Harry Mulisch: ‚Ein Opportunist. Herr Eichmann ist jemand, der über Leichen geht, um Karriere zu machen. Er ist ein verkrachter Ingenieur mit einem Minderwertigkeitskomplex. Deshalb hat er sich zu einer Art von Judenspezialisten entwickelt: Um bei seinen Vorgesetzten aufzufallen.‘ […] ‚Hätte er, wenn Albert Schweitzer Reichskanzler gewesen wäre, ihm nicht ebenso vortrefflich gedient wie Hitler?‘ ‚Bestimmt nicht. Herrn Eichmanns organistorische Begabungen konnten nur im Zusammenhang mit dem Verbrechen erwachen. Er hat einen deutlich kriminellen Einschlag.‘ “3 „Eichmann war ein Symbol, die Quintessenz des aktiven Schreibtischmörders, einer von den Nazis ausgelösten Kettenreaktion deutscher Erziehung: Denn mit Generationen versagten in Deutschland die beiden wichtigsten Organe, die Lehranstalten und die Justizbehörden. Die ersten lehrten Antisemitismus, die letzteren verwirklichten ihn in ihrer Rechtsprechung. All das, weil mit Zeiten in Deutschland alles der Obrigkeit nacheiferte, im Gehorsam ihr höchstes Ziel sah. Anders ist es nicht zu denken, dass Universitätsprofessoren, Ärzte, Lehrer und ihre Kinder dem Nazismus hinschoben und an die Rassenlehre fest glaubten – und noch glauben!“4 „Und dennoch, Eichmann war ein self-made Mann, er war sehr intelligent, ein genialer Organisator, ein Loki unter den Göttern der Unterwelt, der Prototyp des neuen Schlages der Schreibtischmörder.“5

Es ist auszuschließen, dass Less Sympathie für Eichmann empfand, wenn er ihn „genialen Organisator“ nannte und ihm Intelligenz und Geschick bescheinigte. Daher ist es möglich, den Menschen Wolfram Sievers zu beschreiben, dessen Liebe zu seiner Familie, dessen Fürsorge für seine Mitarbeiter, dessen intelligent-geschicktes Hocharbeiten zum „Spezialisten für Wissenschaftler“ – analog zu Eichmann als „Spezialist für Judenfragen“ –, und das alles, ohne dabei die Schuld zu relativieren, die Sievers auf sich geladen hatte. Sievers war ebenfalls ein Prototyp des „neuen Schlages der Schreibtischmörder“. Insoweit sollte deutlich geworden sein, dass die Monströsität des Wirkens Sievers’ der Eichmanns in keiner Weise nachsteht und die Beschreibungen des Menschen und seines Tuns weder Verbrecher noch Verbrechen relativieren – und das auch nie können werden. Avner Werner Less schrieb einen Gedanken nieder, der gut wiedergibt, wie die Rolle von Hirt und Beger nach dem Krieg von den Beobachtern interpre-

3  Ebd.,

S. 191. S. 201. 5  Ebd., S. 222. 4  Ebd.,



F. Zusammenfassung427

tiert wurde – einzig auf Grundlage der Aussagen des verurteilten Kriegsverbrechers Sievers und des Nazi-Kollaborateurs Henripierre: „Eichmann dagegen erkannte frühzeitig, dass eine eventuelle Rettung vor dem ihn erwartenden Strick nur darin liegen könnte, wenn er seine Richter von der Unwichtigkeit und Geringfügigkeit seiner eigenen Person zu überzeugen vermag. Doch es gelang ihm nicht […]. Umso glänzender gelang es aber Eichmann, eine Hanna [sic!] Arendt und andere von seiner Unbedeutendheit zu überzeugen. Es ist einfach verblüffend, mit wieviel Naivität sie ihm auf den Leim krochen.6 Oder nicht? Sollte Hanna Arendt ihr Buch nur deshalb verfasst haben, um ein kontroverses Buch entstehen zu lassen, welches ihr dank seiner Kontroverse einen sicheren Umsatz und Erfolg sichern würde? Denn wenn Hanna Arendt wirklich diese blendende, geistig scharfe Person ist, wie man von ihr sagt, dann kann sie unmöglich das glauben, was sie über Eichmann […] geschrieben hat.“7

Es ist unbestreitbar, dass sowohl der Angeklagte Sievers als auch der Zeuge Henripierre ein vitales Interesse daran besaßen, ihre wahre Funktion zu verschleiern. Sievers schob die Verantwortung von sich – indem er sich so darstellte, dass er ohnehin mit 50 Forschungsstätten viel zu überlastet war, um an Hirts Verbrechen teilzunehmen – und vom Ahnenerbe auf Hirt und die Universität Straßburg. Nach der oben genannten Absprache der Verteidigung deckte er Beger, dessen Wirken noch nicht im Fokus der Ermittler stand. Sievers vermied es sehr genau, jemals ein Wort mehr zu Beger zu sagen als notwendig. Seither krochen unzählige Autoren Beger auf den Leim. Sie kolportierten das von ihm selbst geschaffene Bild des freundlichen Tibetologen, der offenes Interesse an fremden Kulturen und Völkern zeigte, sich als Freund des Dalai Lama inszenierte und der nur einmal als unbedeutender Befehlsempfänger nach Auschwitz geschickt worden sei, ohne den Hintergrund seines dortigen Aufenthalts zu durchschauen. Wohl einzig Fritz Bauer und Michael Kater widersprachen dieser Darstellung. Es ist aber auch unbestreitbar und bis in die jüngste Vergangenheit zu beobachten, dass Kontroversen den Absatz von Büchern zur Freude der Verleger fördern. Doch dies, wie auch die Motive Hannah Arendts, steht auf einem anderen Blatt. 6  Die nachfolgende Passage hatte Less in seinen Aufzeichnungen wieder gestrichen, dennoch ist sein Gedanke in Anbetracht von Autoren bedenkenswert, die mit einem Satz auch nur den Gedanken an die Urheberschaft Begers für das Verbrechen der Schädelsammlung fortwischen, wie beispielsweise Lang, Nummern, S. 149: „Bruno Beger war dennoch nicht die treibende Kraft des Unternehmens, auch wenn es im internen Sprachgebrauch des „Ahnenerbes“ nach ihm „Auftrag Beger“ genannt wurde. Beger hatte weder den Rang dazu noch überhaupt Interesse, sich aus seinem Spezialgebiet, der Rassenkunde Zentralasiens, herausziehen zu lassen.“ Dabei lässt Lang unerwähnt, dass Hirt im gleichen Rang stand wie er und ebenso wenig jemals zu Juden forschte oder zu Anthropologie oder Rassenfragen – was Beger nachweislich tat. 7  Stangneth, Lüge, S. 222.

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Da die in dieser Untersuchung dargelegten Quellen den vielen Autoren, die über die Straßburger Schädelsammlung, das Ahnenerbe, das Institut für Innerasien und Expeditionen oder Beger und Hirt schrieben, seit Jahrzehnten zugänglich waren, steht die Frage von Avner Werner Less im Raume: Krochen all diese Autoren – von Mitscherlich bis Lang – Beger wirklich auf den Leim? Oder sollten einige ihre Bücher nur deshalb verfasst haben, um ein kontroverses Buch entstehen zu lassen, welches auf diese Weise Umsatz und Erfolg sichern würde? Weil es einfacher war, den – aufgrund seiner grausamen Medizinversuche und Morde ohnehin als eine der grauenvollsten Gestalten der deutschen Geschichte während der NS-Zeit – bekannten Hirt als skelettsägenden Rassenfanatiker zu zeichnen? Weil es zu kompliziert gewesen wäre zu zeigen, dass Hirt nicht nur aus vermeintlichem wissenschaftlichen Erkenntnisdrang Morde ermöglichte und beging, sondern sogar „nur“ aus pervertierter „Kameradschaft“ noch erheblich mehr Morde ermöglichte? Diese Fragen von Avner Werner Less in Bezug auf Eichmann wurden in Bezug auf Sievers, Hirt und Beger nie gestellt. Aber sie sollten dennoch im Raume stehen bleiben und nach akribischer Prüfung der vorgenannten Quellen von der Wissenschaft gestellt werden. Die Justiz urteilt jedoch nicht nach moralischen Maßstäben im Sinne von mores, sondern nach juristischen im Sinne von jus: Nur jenes Wissen und jene Handlungen, die einem Angeklagten ohne Zweifel nachgewiesen werden können und die gleichzeitig ein geltendes Gesetz verletzen, dürfen in einem rechtsstaatlichen Prozess Grundlage einer Verurteilung sein. Daher wurde im Beger-Prozess das Urteil nur für eine Handlung Begers gefällt: Nach dem Zeitpunkt, für den ihm unzweifelhaft nachgewiesen werden konnte, dass er von der beabsichtigten Ermordung Kenntnis hatte, untersuchte er die Opfer in Natzweiler. Weil zwar offenbar war und ihm nicht gerichtsfest nachgewiesen werden konnte, dass er vor der Auswahl in Auschwitz von der beabsichtigten Ermordung wusste, konnten diese vor dem Besuch in Natzweiler stattgefundenen Handlungen ebenso wenig gegen ihn verwendet werden wie die naheliegende Urheberschaft für die Schädelsammlungs-Denkschrift. Die in die Akten gelangte Abschrift unter Hinzufügung des späteren Lagerortes für die Schädel trug keine Unterschrift – im Gegensatz zu Hirts Forschungsbericht, dem sie beigegeben war. Doch ebenso wenig gibt es einen Hinweis darauf, dass August Hirt diese Denkschrift verfasst oder auch nur an Sievers gesandt hat. Der Ursprung der Denkschrift ist ­gerichtsfest erst seit ihrem Auftauchen in der Reichsgeschäftsführung des ­Ahnenerbes nachzuverfolgen. Es wäre lebensfremd, annehmen zu wollen, dass alles, was vor Gericht nicht bewiesen werden kann, nicht stattgefunden hat. Doch in der Geschichtswissenschaft sollte zwar mit juristischen Maßnahmen ermittelt und gemessen werden, doch bei der Wertung gelten andere Maßstäbe als in einem gericht-



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lichen Verfahren, das auch sicherstellen muss, dass keinem Unschuldigen die Freiheit genommen wird. Dies galt für Beger in Frankfurt, auch wenn alle Quellen dafür sprechen, dass er der Urheber und prospektive Nutznießer des Verbrechens an bis zu 115 Menschen war. Die in einem Rechtsstaat jedem Verdächtigen zustehende Unschuldsvermutung hätte bei einer Ermittlung auch für August Hirt gegolten. Hirt können zahlreiche grausame und menschenverachtende Verbrechen, einschließlich der Morde durch Kampfstoffversuche, nachgewiesen werden. Daher bedarf es keiner erfundenen oder gefühlten Beweise, um ihn als Mörder zu bezeichnen. Er war auch ohne Urheberschaft am Plan der Schädelsammlung unzweifelhaft einer der größten Medizinverbrecher der Geschichte. Daher sei hier zusammengefasst, was die Quellen aus geschichtswissenschaftlicher Sicht ergeben: August Hirt befasste sich seit 1921 mit dem menschlichen Nervensystem und seit 1929 mit innovativer Mikroskopie. Bis zum Ende des Zweiten Krieges legte er 29 Publikationen vor, ausschließlich zu diesen beiden Themenbereichen. Darüber hinaus hat Hirt auf diesen aufbauend zu Lost geforscht und war sich sicher, dass hochdosiertes Vitamin A und Trypaflavin den Körper gegen diesen Kampfstoff schützen können. Um dies zu beweisen, ermordete er gemeinsam mit Karl Wimmer drei Menschen. August Hirt war ein Medizinverbrecher, über dessen Aburteilung im Nürnberger Ärzteprozess keine Zweifel bestanden hätte, sofern er zu den Angeklagten gehört hätte. Doch der Mörder Hirt lehnte es ab, sich den Richtern und dem Henker zu stellen, und richtete sich stattdessen selbst. August Hirt ist einer der bekanntesten Täter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Er galt seit der Veröffentlichung in der „Daily Mail“ vom 3.1.1945 im öffentlichen Bewusstsein als Prototyp des gewissenlosen Naziarztes. Daher gibt es kaum einen Medizinverbrecher, zu dem die Quellen seit 1945 so intensiv bearbeitet wurden wie im vorliegenden Falle. Trotzdem konnte nie ein Beleg dafür gefunden werden, dass Hirt jemals anthropologische Forschungen betrieb oder auch nur Interesse an Anthropologie besaß. Gleiches gilt für „Judenfragen“ oder Rasseforschung im Allgemeinen, wodurch sich Hirt von seinen Kollegen an anderen Anatomien unterschied. Bemerkenswert ist ebenfalls, dass als einziger Beleg für Hirts Urheberschaft und Kenntnis des Plans vor dem 30.8.1942 allein die Denkschrift dient, die ihm jedoch ebenso wenig zugeordnet werden kann wie Beger. Jedoch spricht gegen die Autorenschaft Hirts, dass anderes Papier verwendet wurde. Hinzu kommen ein anderer Sprachstil, keine Paginierung und keine Unterschrift, wie es sonst bei Hirt üblich war. Da es bei der Denkschrift um die Schädel jüdischbolschewistischer Kommissare ging, jedoch keine Kommissare und auch keine Bolschewisten ermordet wurden, wirft dies weitere Fragen auf.

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Es ist unbestritten, dass August Hirt von Wolfram Sievers aufgefordert wurde, einen Bericht zu seinen laufenden Forschungsarbeiten für Heinrich Himmler zu übermitteln. Ebenso ist unbestritten, dass dieser Bericht übermittelt wurde – und zwar aus der Sicht Sievers’ zum Zweck der Prüfung, wie Hirt dem Ahnenerbe dienlich sein könne. Hirt hingegen verfasste den Bericht, um die SS für seine Forschungen zu interessieren und Unterstützung zu erhalten. In diesem allgemeinen Bericht vom 20.1.1942 führte Hirt alle seine Forschungsinteressen auf, mit Ausnahme des Losts, da dafür ein Geheimbericht mit den gesetzlichen Erfordernissen hinsichtlich der Geheimhaltung übersandt werden musste. Dieser Geheimbericht wurde erst Monate nach dem ersten Bericht übermittelt. Im Anschreiben zum ersten Bericht wurde eine Anlage erwähnt und deren Inhalt im Schreiben selbst beschrieben. Es ist wenig wahrscheinlich, dass Hirt „aus Versehen“ einen zweiten Bericht angehängt hat, ohne diesen zum ersten in einen Zusammenhang zu setzen oder diesen im Anschreiben zu erwähnen. Dies gilt insbesondere nicht, wenn es um ein derartiges „Forschungsfeld“ wie die Ermordung von Menschen hinter der Front geht. Erst der Bericht von Sievers an Himmler enthielt zwei Anlagen: Hirts Forschungsbericht und die Denkschrift zur Schädelsammlung. Es gibt bis heute keinen Beleg, dass Hirt diese Denkschrift verfasst hat, aber sehr viele Belege, die dagegen sprechen. Da dies offensichtlich aber doch so ist, wurde verschiedentlich spekuliert, dass Beger Hirt die Denkschrift zur Durchsicht oder Genehmigung überlassen habe.8 Abgesehen davon, dass jeder Beweis fehlt, dass Beger und Hirt in den Jahren vor der Denkschrift in Kontakt standen, wäre es ungewöhnlich, wenn der eben erst zum Ahnenerbe gestoßene Hirt eine Denkschrift Begers an dessen langjährigen Vorgesetzten Sievers weitersandte und im Anschreiben zu beiden Anlagen dies weder erwähnte noch eine Stellungnahme zur Denkschrift abgab. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass unklar ist, welche Version von Sievers’ Anschreiben – einschließlich welcher Anlagen – die Alliierten zu den Nürnberger Prozessakten nahmen: das Originalschreiben von Sievers aus dem Archiv Himmlers oder die Abschrift aus dem Archiv des Ahnenerbes. Ebenso ist unklar, ob in einem der beiden Archive jemand versehentlich die Denkschrift in die Unterlagen zwischen die Hirt betreffenden Briefe geheftet hat. Klar ist nur, dass das in der Denkschrift begangene Verbrechen nicht so, wie in der Vorhabensbeschreibung dargestellt, begangen wurde – es wurden keine „jüdisch-bolschewistischen“ Kommissare an der Ostfront ermordet und ihre dort abgetrennten Köpfe zur Skelettierung nach Deutschland geschickt und dann an der Universität Straßburg aufbewahrt. 8  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 33, Bezug nehmend auf die Eidesstattliche Versicherung von Dr. Gisela Schmitz-Kahlmann vom 27.3.1947.



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Ebenso fällt auf, dass an der Aktion bis zur Anlieferung der Leichen in der Anatomie kein einziger Mitarbeiter von Hirts Abteilung „H“ im Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung unter der Leitung von Sievers beteiligt war. Alle Beteiligten waren Kollegen aus Begers gegenwärtiger und früherer Dienststelle. Es fehlt ferner – wie bereits festgehalten – ein Motiv für Hirt. Leichen von Juden und Bolschewisten erhielt er „frei Haus“, und das Ergebnis der üblichen beruflichen Tätigkeit wären präparierte Skelette gewesen. Er hatte jedoch auch hier offensichtlich weder Interesse an jüdischen Opfern noch an deren Skeletten. Hirt hat keinerlei Anstalten unternommen, die bestehende Schädelsammlung der Universität Straßburg auszustellen oder Räumlichkeiten für sie zu suchen. Es gibt keinen Beleg, was mit den Skeletten hätte nach der Präparierung in Straßburg geschehen sollen. Es gibt ebenso wenig einen Beleg, dass Hirt sich nach der Ermordung jemals mit den Leichen oder Skeletten beschäftigt hätte. Schon Michael Kater stellte fest, dass Sievers in Nürnberg bewusst die Verantwortung von Beger, dem Ahnenerbe und sich auf den toten Hirt und die Universität gelenkt habe.9 Friedrich Hielscher, dessen Aussagen stets genau zu prüfen sind, gab gegenüber Kater glaubhaft an, dass sich die Verteidiger der in Nürnberg angeklagten Angehörigen der SS darauf geeinigt hatten, „kein SS-Mann sollte von einem Verteidiger belastet werden, um damit vielleicht einen eigenen Klienten zu retten. Sievers hat dieser Taktik im Prinzip nicht widersprochen.“10 In völlig anderem Zusammenhang bestätigte dies der ehemalige Obersturmbannführer Horst Grell, der als Legationsrat an der deutschen Botschaft in Budapest in die dortigen Mordaktionen Eichmanns involviert war: Er gab an, „dass es in Nürnberg durchaus ‚üblich‘ war, unter dem Eindruck eines einseitigen Siegergerichtes die Angeklagten vor diesem Gericht zum Nachteil von Abwesenden oder von vermutlich Toten zu entlasten.“11 Dieses Vorgehen der Zeugen und Angeklagten würde erklären, warum Sievers immer wieder den Verdacht von Beger auf Hirt lenkte und Begers Rolle bei dem Verbrechen klein redete. Seitdem hat sich jedoch die Lesart des verurteilten Kriegsverbrechers in der Literatur und im öffentlichen Bewusstsein gehalten. Dennoch gibt es Fragen, die bis heute nicht beantwortet sind:

9  Kater,

Ahnenerbe, S. 254. ZS A 0025 01-141 Sammlung Michael H. Kater („Ahnenerbe“), Gedächtnisprotokoll des Gespräches von Kater mit Hielscher vom 26.7.1962, S. 137. 11  Arendt, Über das Böse, S. 154. 10  IfZ

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1. Welches Motiv könnte Hirt gehabt haben, Juden aus Auschwitz ermorden zu lassen? Begers Mitarbeiter Wilhelm Gabel kommentierte dies so: „Heute möchte ich rückschauend sagen, dass man, wenn man lediglich beabsichtigt haben sollte, von jüdischen Häftlingen eine Skelettsammlung zu machen, diese viel einfacher und weniger umständlich im Konzentrationslager Dachau hätte finden können.“12

Diese Frage kann nur damit beantwortet werden, dass der Begriff Jude bei diesem Verbrechen stets metonym oder synonym für asiatische Kriegsgefangene der Roten Armee verwendet wurde. Denn bis 1942 gab es sowohl in Dachau, Buchenwald, Flossenbürg und Neuengamme Juden, die verstarben oder hingerichtet wurden; in Auschwitz bis 1945. Erstaunlicherweise wurde in der Literatur bislang nicht problematisiert, warum Beger – selbst wenn er Inte­resse an Juden und nicht an Asiaten gehabt hätte – keinen einzigen Kommissar oder Militärangehörigen auswählte. Jedoch ist man sich in der Literatur weithin einig, dass das stattgefundene Verbrechen die Umsetzung der Schädelsammlungs-Denkschrift darstellte. Auch in anderen Anatomien, wie in Hamburg oder in Posen, wurden hingerichtete Juden präpariert. Schließlich wäre es ein Leichtes gewesen, gezielt auf einem der zahlreichen jüdischen Friedhöfe in Osteuropa 150 Skelette auszugraben. Allein im Warschauer Ghetto verstarben monatlich Tausende Juden, aus denen jene hätten ausgewählt können, die anthropologisch interessant gewesen wären. Auch der Erwerb von Judenschädeln einschließlich Abformungen war für vergleichsweise geringe Summen auf dem Wege des Versandhandels möglich. All diese Optionen blieben ungenutzt. Bruno Beger wollte keine Sammlung von Schädeln oder Skeletten von Juden aufbauen, sondern von Menschen, die zwischen Innerasien und Europa einen anthropologischen Beweis seiner Theorie der Wanderungsbewegung auf einer Rassenkarte – einem Konzept, das er aus dem RuSHA kannte – hätten erbringen können. Dafür benötigte er nicht nur die Schädel, sondern auch die äußeren Kopfformen. Ein wissenschaftlich begründbares Motiv Hirts oder ein Nutzen für die Universität ist nicht erkennbar. 2. Weshalb wird bis heute immer wieder behauptet, Hirt habe ein Museum zur Ausstellung toter Juden und als Beleg von deren rassischen Eigenheiten geplant? In 70 Jahren ist es nicht gelungen, die immer wieder zitierten Plan-Unterlagen Hirts für ein „Museum mit toten Juden als Exponaten“ (Lang) zu finden und vorzulegen – weder von Begers Anwälten noch von den amerikanischen 12  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Gabel vom 25.7.1960, S. 53.



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oder französischen Ermittlungsbehörden. Es ist auch nie hinterfragt worden, warum die Beschaffung von Exponaten für ein Museum unter so großer Geheimhaltung durchgeführt wurde. Sievers oder Beger dürften kaum ein Museum oder eine universitätsinterne Sammlung, die unzähligen Universitätsangehörigen offensteht, geplant und gleichzeitig die Beschaffung der Exponate zu einer Geheimsache gemacht haben. Spätestens bei der Eröffnung des anvisierten Museums für die Öffentlichkeit oder auch nur einer Ausstellung für ein Fachpublikum wäre offenbar geworden, dass irgendeine strafbare Handlung dessen Grundlage gewesen sein muss – sei es Leichenraub, Mord oder Störung der Totenruhe. Dies muss auch den Besuchern des Naturhistorischen ­Museums in Wien, für das „Judenschädel“ angeschafft worden sind, so gegangen sein – und dennoch erfolgte die Anschaffung ohne Geheimhaltung. Im Gegensatz dazu hätten die von Beger gesuchten Abformungen der Schädel zwecks Erstellung von Gesichtsplastiken für Dioramen in Museen das Verbrechen nicht offenbar werden lassen. Dennoch verbreitete sich diese absurde Legende vom jüdischen Skelettmuseumsplan Hirts sehr schnell. Nachdem Henripierre den gegen ihn ermittelnden französischen Behörden den angeblichen Museumsplan darlegte, bestätigte Sievers am 8.8.1946 im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess dieses Vorhaben: „Es handelte sich hier um eine Angelegenheit der Universität Straßburg. […] Es handelte sich um den Ausbau der Anatomie der damals neu übernommenen Universität Straßburg, und zwar um den Neuausbau des sogenannten Anatomischen Museums, wie es an allen Anatomien der Universitäten besteht.“13

Der vergleichsweise kleine und für den öffentlichen Verkehr eines Museums ungeeignete Raum im Obergeschoss der Anatomie beherbergte unter anderem die Sammlung von Gustav Schwalbe. Wie oben gezeigt, wurde diese Sammlung in der französischen Zeit als Musée d’Anatomie bezeichnet. Hirt und Sievers hatten für diese Räumlichkeiten Heizungen und weitere Regale angeschafft, da die von Hirt übernommene Sammlung die Kapazitäten der kleinen Fläche an ihre Grenzen gebracht hatte und Hirt die Sammlung, wie in seiner Rechtfertigungsschrift vom Januar 1945 beschrieben, weiterführte. Himmler hatte 150 Morde genehmigt. Selbst wenn die Fläche im Obergeschoss der Anatomie leer gewesen wäre, hätte eine adäquate Ausstellung von 150 Skeletten den räumlichen Rahmen gesprengt. Der Museumsplan Hirts für Straßburg war, wie die Urheberschaft der staatlichen Universität, eine offensichtliche Schutzbehauptung Sievers’. Ein Grund mag gewesen sein, dass die Anklage und das Gericht offenkundig das Wirken Begers nicht thematisiert hatten. Insofern ist es naheliegend, dass Sievers seinen Mitarbeiter Beger, dessen Gedanken zu Museumsplänen, „Häusern der Natur“ nach dem Muster des Salzburger „Hauses der Natur“ und daraus fol13  Der

Nürnberger Prozess, Aussage Sievers vom 8.8.1946.

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gende Belastungsmomente gegen sich nicht ohne Not vor Gericht vertieft thematisieren wollte. Diese Argumentation griffen auch Fleischhacker und Beger auf. Fleischhacker äußerte am 18.1.1963: „Im Allgemeinen ist es so, dass im Falle einer Neueinrichtung eines Anthropologischen Instituts der zuständige Anatom zunächst ‚Pate steht‘.“14

Nur einen Tag später gab Beger Ähnliches in einer Vernehmung zu Protokoll: „Es ist häufig so, dass die anthropologischen Institute mit der medizinischen Fakultät gekoppelt sind. Offenbar wollte Hirt ein anthropologisches Institut aufbauen.“15

Für Beger war augenscheinlich, welchen Besuchererfolg das Museum mit den Tibet-Dioramen erreichte. Himmlers Gedanke für eine ganze Kette von „Häusern der Natur“, zu der Sievers mit Beger und anderen schon Besprechungen abhielt, die die Fertigung neuer Dioramen vorsah, war Beger bekannt. Eine Darstellung der „Wanderungsbewegung“ durch Dioramen von Tibet bis nach Nordeuropa wäre museal eindrucksvoll und – durch vorzeigbare anthropologische Veränderungen auf diesem „Wanderungsweg“ – anschaulich gewesen. Eine solche Umsetzung hätte ähnlich dem Hirt zugeschriebenen Museumsplan „rassische Eigenheiten“ der Opfer vermittelt, die für Anthropologen durch die sich verändernden Merkmale an Kopf und Schädel nachvollzogen werden konnten. Es ist also nicht auszuschließen, dass es dem Grunde nach einen Plan für eine museale Auswertung des Verbrechens gab, in den Hirt, wie auch Himmler, Beger und Sievers verwickelt waren. Dass Hirt nach seiner Ankunft in Straßburg den Plan fasste, dort ein Museum auf- oder auszubauen, in dem er die Skelette toter Juden ausstellen wollte (Lang), ist hingegen bis heute ohne juristisch nachvollziehbaren Beleg geblieben. 3. Weshalb wurden die Leichen weder von Beger noch von Hirt nach der Verbringung in die Anatomie untersucht oder bearbeitet? Zum Zeitpunkt des ersten und des zweiten Abreisetermins Begers nach Auschwitz gab es weder eine Tötungseinrichtung noch ein Tötungsmittel oder die Abformmasse in Natzweiler oder Straßburg. Diese wurden erst sehr kurzfristig bestellt. Vor der Ermordung, spätestens nach der Anlieferung der Leichen fehlte die Abformmasse, um die anthropologischen Ergebnisse zu ermitteln und festzuhalten. Danach wurden die so konservierten Leichen unbrauchbar für Abformungen äußerer anthropologischer Merkmale. 4. Neben dem fehlenden forensischen Beweis etwa durch DNA-Analysen und forensischen Sprachstilvergleich nach modernen wissenschaftlichen Me14  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Fleischhacker vom 18.1.1963, S. 347. 15  Ebd., Aussage Beger vom 19.1.1963, S. 317.



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thoden ist noch eine Frage offen: Weshalb wählte Beger in Auschwitz Juden aus, als er keine Asiaten fand? Weder Beger noch Hirt befassten sich jemals mit Juden und waren auch bezüglich der nationalsozialistischen Rassentheorien nie durch Äußerungen zu Juden in Erscheinung getreten. Auch wurden keine Kommissare der Roten Armee in Auschwitz ausgewählt, ebenso wenig sonstige Militärpersonen. Die naheliegende Vermutung, dass Beger – nach dem für ihn unangenehmen Scheitern in Tibet – einfach nur eine neuerliches Blamage vermeiden wollte und am Ende niemand wirklich Interesse an einer Sammlung zeigte, gibt dem Verbrechen in seiner Sinnlosigkeit besondere Tragik. Jean-Claude Pressac schreibt im Struthof-Album: „Henripierre stated quite succinctly: „Once the bodies had been preserved and placed in vats, THEY REMAINED THERE FOR A YEAR WITHOUT BEING DISTURBED BY ANYONE.“ […] One might well wonder why Hirt’s collection was never completed in practice. Was it a „whim“ on his part, quickly forgotten after having cost 87 Jewish women and men their lives for nothing, or did he simply not dare, given the worsening military situation, to finish realizing his project? Hirt could have told us, but he preferred to disappear.“16

Hans-Joachim Lang hielt fest: „Die Erinnerung an einzelne Schicksale gibt nicht, wie es mancher Selbstgerechte gerne sehen möchte, den Opfern ihre Würde zurück. Denn nicht die Opfer haben ihre Würde verloren, sondern diejenigen, die sie ausgrenzten. Die Täter sollen nicht das letzte Wort gehabt haben. […] Menschen wollen Gewissheit, und wenn sie noch schon schrecklich ist. ‚Verschollen in Auschwitz‘ war und bleibt für die meisten Hinterbliebenen die letzte Nachricht von den Ermordeten.“17

In diesem Sinne ist es geboten, dass die Angehörigen nicht nur erfahren, wo und wie ihre Verstorbenen ermordet wurden – sondern auch von wem und mit welchem Motiv. Diese Absicht hat zu dem vorliegenden Buch geführt, das den Opfern und ihren Angehörigen gewidmet ist. Die im Rahmen dieser Studie zusammengetragenen Ereignisstränge und Belege führen zu der unten dargestellten Rekonstruktion der Ereignisse. Unter Einbeziehung aller greifbaren Quellen und Belege sowie bei Abwägung der Wahrscheinlichkeiten in Fällen nicht eindeutigen Belegen ergibt sich folgender Ablauf, der den tatsächlichen Abläufen am nächsten kommen dürfte. Damit hat die wohl letzte verhandelte Anklage, die Fritz Bauer persönlich unterschrieben hat, eine neue Wendung erfahren. Quellen, die Fritz Bauer und seinen Mit­ arbeitern seinerzeit nicht vorlagen, konnten entsprechend 16  Pressac, 17  Lang,

Struthof, S. 12 f. Nummern, S. 234.

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nicht vor Gericht verwertet werden. Darum konnte das Gericht gar nicht anders, als Beger lediglich wegen Beihilfe zu verurteilen, und zwar für die Blutgruppen- und Röntgen-Untersuchungen, die er in Natzweiler vornahm. Fritz Bauer, der den Auschwitz-Prozess gegen zahlreiche Täter durchsetzte und den Prozess gegen die „Euthanasie“-Täter vorbereitete, verwendete viel Zeit seiner Behörde auf die Ermittlungen und die Vorbereitung des Prozesses gegen Bruno Beger. Das Urteil muss eine Enttäuschung nach so intensiver Arbeit gewesen sein, die das Ziel hatte, den Hauptangeklagten Beger wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt zu sehen. Die Unplausibilität der tradierten Lesart säten Zweifel bei Michael Kater, Fritz Bauer und einige Jahrzehnte später beim Verfasser der vorliegenden Studie. Es wäre unbillig anzunehmen, dass ein hervorragender Jurist, erfahrener Strafverfolger und unabhängiger Denker wie Fritz Bauer einer Chimäre nachgejagt ist. Daraus ergab sich das Anliegen dieses Buches: Fritz Bauers Verdacht, dass Bruno Beger Urheber und prospektiver Nutznießer des Verbrechens der Straßburger Schädelsammlung war, zu erhärten. Es bleibt dem Leser überlassen, sich von dem Verdacht Fritz Bauers und den seine Annahme erhärtenden Belegen in dieser Studie überzeugt zu zeigen. Bei der Entscheidung, überzeugt zu sein oder nicht, gilt ein wichtiger Grundsatz vieler Rechtsordnungen: Was immer in Zeitungen und Büchern steht, kann und darf nicht Grundlage oder Einflussfaktor bei der Entscheidung „schuldig“ oder „unschuldig“ sein. Grundlage können einzig die ins Verfahren eingebrachten be- und entlastenden Belege sein. Diese liegen nun vor. Die Geschichte lehrt, dass das Ändern von Überzeugungen, das Ablegen eines Glaubens nie einfach ist und oft Widerstand hervorruft. Über 70 Jahre lang wurde ein Bild des grausamen Medizinverbrechers August Hirt gezeichnet, das ihm den Plan für ein Museum mit toten Juden als Exponaten zum Beweis seiner angeblichen rassekundlichen Forschungen zuschrieb. Es wurden Bücher darüber verfasst, Vorträge gehalten, Museen stellten dazu aus – und nun gibt es neue Belege, verbunden mit der Aufdeckung von Fehlern und Falschaussagen. Es gibt eine Glorifizierung des mutigen Widerstandskämpfers Henri Henripierre, der die Nummern der Häftlinge notierte und sich dabei in große Gefahr seitens des SS-Ahnenerbes begab, für das er ebenso wie für die Anatomie Zwangsarbeit leisten musste. Henripierre, der Widerstandskämpfer, sorgte ab 1944 dafür, dass die Welt – und die Angeklagten in Nürnberg – erfuhren, dass der Rassefanatiker Hirt ein Museum mit toten Juden plante. Willentlich oder unwillentlich gab er damit dem später verurteilten Kriegsverbrecher Wolfram Sievers den vermeintlichen Beweis in die Hand, dass die SS, das Ahnenerbe und Sievers nur am Rande involviert waren, da der eigentlich Schuldige, der Rassenfanatiker, der Universitätsprofessor Hirt gewesen sei.



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Nun stellt sich heraus, dass Henri Henripierre ein Kollaborateur war, der für den SS-Sturmbannführer Hirt arbeitete, keinen erkennbaren Widerstand bei diesem Verbrechen leistete und auf der Gehaltsliste der SS stand. Es zeigt sich, dass ohne Hirts Unterstützung das Verbrechen so nicht hätte stattfinden können, aber es erhebliche Zweifel gibt, dass Hirt Rasseforschungen betrieb, deren Ergebnisse er in einem Museum ausstellen wollte. So viele Bücher, so viele Vorträge, so viel Geld – und nun scheint sich der Verdacht von Michael Kater und Fritz Bauer erhärtet zu haben. Beim Ahnenerbe durften Forschungsergebnisse nicht veröffentlicht werden, wenn deren Ergebnisse „mit den Ansichten des Reichsführers nicht übereinstimmten“.18 Die Ernsthaftigkeit, mit der der große Jurist Fritz Bauer in seinem „letzten Fall“ über Jahre hinweg gegen Bruno Beger ermittelte, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, hat eine sachliche Debatte verdient und eine Auseinandersetzung mit den vorgelegten Dokumenten und Belegen. Es steht der Wissenschaft gut zu Gesicht, ernsthaften Diskussionen den Vorrang gegenüber kurzlebigen Aufgeregtheiten oder gar „Twitter-Debatten“ zu geben. Dabei sollten rechtsstaatliche Beurteilungsmaßstäbe den Vorrang vor „gefühlter Gerechtigkeit“ haben.

18  Kater,

Ahnenerbe, S. 72.

G. Versuch einer Ereignisrekonstruktion Schon früh suchte sich Bruno Beger ein Spezialgebiet, das geeignet war, ihn seit seiner Rückkehr aus Tibet im Jahre 1939 als Anthropologen international auch so bekannt zu machen wie seinen Vorgesetzten und Rivalen Ernst Schäfer: die Erforschung der Innerasiaten und ihrer Wanderungswege nach Europa. Schon Kant sah in Tibet die Ursprungsregion des Menschen, und bis in Begers Zeit hatte sich diese Theorie gehalten.1 Beger suchte in Tibet nach rassekundlichen Belegen für die Theorie, dass der Ursprung der europäi­schen Menschen in Tibet liege und Tibet seinerseits von einem Adel regiert wird, der von nordischen Menschen abstamme. Dies wollte er anthropologisch beweisen. Zu diesem Zwecke reichte er Anfang 1941 eine entsprechende Denkschrift bei Himmler ein, die dieser an das Ahnenerbe weiterleitete, wie sich dessen Chefsekretärin erinnerte. Nach dem Einreichen der Denkschrift und einem Fronteinsatz trug Beger auf Geheiß Himmlers am 10.12.1941 Sievers einen Plan vor, der theoretische Vermessungsergebnisse mit dem praktischen Aufbau einer Sammlung von Schädeln als Beweisen für seine Theorien verband. Das Ergebnis sollte seine Habilitationsschrift sein. Mit dieser wollte sich Beger auf den freien Lehrstuhl in Straßburg bewerben und gleichzeitig eine Ahnenerbe-Abteilung für Rassenlehre leiten. Auch für eine solche hatte er bereits eine Denkschrift ausgearbeitet. Bruno Beger hielt sich nach der Tibet-Expedition selbst für einen angehenden großen Wissenschaftler und hatte schon bei der Arbeitsaufnahme bezüglich der Ausstattung seines Arbeitsbereiches Allüren an den Tag gelegt, die für einen jungen Wissenschaftler bemerkenswert hochfliegend waren.2 Im Sommer 1941 wurde bekannt, dass an der Reichsuniversität Straßburg ein Lehrstuhl für Anthropologie eingerichtet wurde, der bei der Universitätseröffnung zunächst unausgestattet und unbesetzt blieb. Beger hatte noch lange nicht jene akademischen Qualifikationen, um zum Ordinarius berufen werden zu können. Doch er wusste, dass es außer ihm in Deutschland kaum aktiv forschende Anthropologen ohne Lehrstuhl gab, da die meisten als Sol1  Mierau,

Expeditionen, S. 312. Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34164 Prozessakte Beger, S. 46; BArch NS 21 /  238, Schreiben von Komanns an Schäfer vom 2.10.1940. 2  HStA



G. Versuch einer Ereignisrekonstruktion439

daten an der Front standen. Sievers hatte bereits Anfang 1941 die Sitte eingeführt, Ahnenerbe-Mitarbeiter zur Habilitation anzuhalten.3 Diese machte er in der Regel auch zur Voraussetzung für die Leitung einer eigenen Forschungsstätte, so auch für Beger. Ähnliche Maßstäbe legte Sievers innerhalb des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung auch beispielsweise an May, Rascher und Plötner an. Dabei strebte er eine Personalunion von Ordinarien und Forschungsstättenleitern an, wie es an anderer Stelle im Ahnenerbe üblich war. Darum plante auch Beger seine Habilitation „Die Wanderungswege der Indogermanen auf Grund nordischer Restbestandteile“ mit dem angestrebten Beweis der These, dass es eine Wanderungsbewegung der Indogermanen von Innerasien über Vorderasien, den Kaukasus bis nach Nordeuropa gegeben habe. Dafür plante er, einige tausend Menschen zu vermessen. Beger erklärte sein Interesse wie folgt: „Im Interesse unserer Forschungen läge es, besonders Kriegsgefangene aus Inner- und Nordasien, sowie aus Stämmen des europäischen Russlands, die in ihrer rassischen Zusammensetzung ein Übergangsglied von der europiden zur mongolischen Rasse bilden, anthropome­trisch und durch Messungen und Abformungen jetzt zu erfassen.“4 Besonders prägnante Beispiele für Schädel – von Kommissaren aus Innerasien und später Skeletten von innerasiatischen Kriegsgefangenen – wollte Beger als Anschauungsobjekte für eine Sammlung gewinnen, die seine Messergebnisse am lebenden Probanden stützte. Diese sollte durch Abformungen von Köpfen und ganzen Körpern seine Theorien einfach und anschaulich überprüfbar machen, ähnlich der Ausstellung der von ihm in Tibet genommenen Abformungen in Salzburg. Im Ergebnis sollte hieraus eine Rassenkarte angefertigt werden.5 Damit hätte er die Rassekarte Deutschlands, die er aus dem R ­ uSHA kannte, geographisch und inhaltlich um ein Vielfaches übertroffen. Diese wissenschaftliche Publikation wollte Beger kombinieren, mit einer Art von 3D-Show, die auch dem breiten Publikum seine Ergebnisse im Wortsinne anschaulich machen würde, so wie es die von ihm arrangierten Dioramen in Salzburg taten. Das Ahnenerbe hatte keine rassekundliche Tradition.6 Daher war auch Sievers sehr daran interessiert, Beger auf den Lehrstuhl für Anthropologie der Reichsuniversität Straßburg zu bringen und diesen dann durch Personalunion mit einer Forschungsstätte für Rassefragen in das Ahnenerbe zu integrieren. Bruno Beger erhielt seit dem Januar 1942 für sein Projekt „Die 3  Kater,

Ahnenerbe, S. 238. Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, S. 159 ff., Schreiben von Beger an Sievers vom 9.7.1943. 5  BArch DS G 113 Personalakte Beger, Schreiben von Sievers an Beger vom 5.1.1942. 6  Kater, Ahnenerbe, S. 206. 4  HStA

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Wanderungswege der Indogermanen auf Grund nordischer Restbestandteile“ ein Forschungsbeihilfe genanntes Habilitations-Teilstipendium in Höhe von monatlich 150 Reichsmark, das bis kurz vor Kriegsende gezahlt wurde.7 Beger selbst gab nach dem Krieg im Ermittlungsverfahren gegen ihn an, dass er an seiner Habilitation arbeitete. Allerdings behauptete er, das Habilitationsthema sei Polyandrie – also die Vielmännerehe – gewesen.8 In sämtlichen untersuchten Quellen gibt es allerdings keinen Hinweis auf ein solches Vorhaben Begers oder die Bearbeitung eines solchen Themas innerhalb des ­Ahnenerbes. Sämtliche Forschungsvorhaben Begers zwischen 1939 und 1945 lagen auf anderen Feldern. Daher ist die Tatsache, dass Beger sich habilitieren wollte, unzweifelhaft. Zweifelhaft ist allerdings das von Beger behauptete Thema. Dass eine Habilitation Begers fest eingeplant war, beweisen ­Tagebucheinträge von Sievers, beispielsweise am 7.11.1944.9 Ebenso gibt es keine Zweifel daran, dass Beger eine eigene Forschungsstätte im Ahnenerbe für Rassenforschungen unter seiner Leitung forderte.10 Bislang konzentrierte sich die Forschung auf einzelne Forschungsprojekte Begers: die Untersuchung von Einwohnern der Altmark, die Expedition nach Innerasien, die Vermessungen in Norwegen, die von ihm als Expedition des Sonderkommandos „K“ forcierte Untersuchung von Vorderasiaten und Kaukasiern, die Anlage einer ­Tibet-Schau mit Dioramen, die Gewinnung von weiteren Abdrücken von Köpfen und Schädeln in Auschwitz und Natzweiler und schließlich die Untersuchung von Kriegsgefangenen. Diese sind jedoch im Gesamtzusammenhang des Forschungsprojektes der Wanderungswege der Indogermanen einschließlich der Anfertigung einer Rassenkarte zu sehen. Eine solche konnte jedoch nur erstellt werden, wenn der Zugang zu den meisten auf dieser angenommenen Wanderroute liegenden Bevölkerungsgruppen gegeben war. Daher beantragte Beger am 1.3.1941 eine Expedition unter seiner Leitung in den Kaukasus.11 Zuvor hatte Wilhelm Gabel, der die von der TibetExpedition stammenden Fotografien und Abformungen von Tibetern – also Negativen – für die Großdioramen der Tibetschau in Salzburg zu Positiven transformieren musste, Beger darauf hingewiesen, dass dieses Unterfangen nicht gut gelänge. Dabei war die Produktion von Dioramen als dreidimensionale Darstellung der zweidimensionalen Messergebnisse auf Papier zentra7  BArch DS G 113 Personalakte Beger, Schreiben von Sievers an Beger vom 5.1.1942. 8  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34152 Prozessakte Beger, Stellungnahme Beger, S. 1353. 9  BArch NS 21 / 11, Diensttagebuch Sievers vom 7.11.1944. 10  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S.  33 ff. 11  BArch R 135 / 66, Denkschrift von Beger, vgl. HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger.



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les Element im wissenschaft­lichen Vorgehen des Anthropologen Beger.12 Um brauchbare Positive zu schaffen, erklärte Gabel weiter, müsse er den lebendigen Menschen dazu sehen. Daher regte Gabel nach eigener Auskunft an, dass Beger gemeinsam mit ihm in Kriegsgefangenenlagern nach Innerasiaten suchen müsse.13 Um einen Maßstab zu haben, welche anthropologischen Merkmale in den Weichteilen des Gesichtes einerseits und dem Schädelknochen andererseits vorhanden sind, bestand die von Trojan 1944 beschriebene wissenschaftliche Technik darin, zunächst den lebenden Kopf mit Negocoll abzuformen und dann mit Hominit ein Positivmodell herzustellen. Anschließend sollte das Opfer ermordet, der Kopf entfernt, entfleischt, mazeriert und entfettet werden. Der dann präparierte Schädel konnte sodann abermals vermessen werden. Wenn auf Grundlage solcher Untersuchungen die Wanderungsbewegung von Bevölkerungsgruppen von Innerasien nach Europa erforscht werden sollte, mussten von auf dieser Wanderroute liegenden Bevölkerungsgruppen typische Vertreter ausgesucht und ermordet werden. Diese Möglichkeit bot sich nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22.6.1941 und der erstmals legalen Tötung von Menschen in Kriegsgefangenschaft durch den Kommissarbefehl vom 6.6.1941. Daher plante Beger nach dessen Bekanntgabe an die Truppe, an der Ostfront vertiefende Erkenntnisse für ein opus magnum zu gewinnen, in dem er jene Männer, die aus den Sowjetrepubliken des Kaukasus stammten und in der Roten Armee als Politkommissare dienten, töten und vermessen lassen wollte. Daher schlug er im Sommer 1941 Himmler unmittelbar aus dem RuSHA heraus vor, die Schädel von aus Innerasien stammenden und nach dem Kommissarbefehl ohnehin zu tötenden Kriegsgefangenen zu sammeln.14 Diese direkte Ansprache Himmlers pflegte Beger auch bei anderen Forschungsvorhaben, wie jenem zu den Wanderungsbewegungen der Rassen und zur Vermessung von innerasiatischen Kriegsgefangenen.15 Himmler erkannte, dass das Vorhaben als anthropologische Arbeit von einem Anthropologen und mit dem Know-how des RuSHA umgesetzt werden konnte, mit Ausnahme der Skelettierung, die durch einen Anatomen erfolgen musste. Hier, wie auch sonst häufig, wollte Himmler vor einer Entscheidung die Stellungnahme eines Experten auf dem Gebiete der Anatomie vorliegen haben. Daher verwies Himmler Beger an Sievers, dem Beger als stellvertretender Abteilungsleiter 12  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34152 Prozessakte Beger, Lebenslauf Beger o. Dat., S. 1344. 13  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Gabel vom 25.7.1960, S. 50. 14  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Schmitz vom 23.11.1960; und HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Schmitz vom 8.11.1962, S. 218 f. 15  BArch R 135 / 52, Schreiben von Beger an Himmler vom 30.6.1941.

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der Ahnenerbe-Forschungsstätte für Innerasien und Expeditionen ebenso unterstand wie dem RuSHA bei Kommandierungen. Beger sollte von der Wissenschaftsabteilung der SS die Stellungnahme eines Anatomen beschaffen lassen. Es ist anzunehmen, dass zwischen der Bekanntgabe des Kommissarbefehls, dem Absenden einer entsprechenden Denkschrift an Himmler und dessen Antwort mit dem Verweis auf Sievers einige Zeit vergangen war, so dass Beger beim Eintreffen der Antwort Himmlers bereits in Norwegen war. Nach seiner Rückkehr vom Fronteinsatz dort und an der Ostfront erschien Beger bei Sievers und erläuterte ihm am 10.12.1941 den Vorschlag an Himmler bezüglich der Begründung einer Sammlung von Schädeln Fremdrassiger.16 Diese sollten von gefangenen und nach dem Einsatzbefehl Nr. 8 zu tötenden Rotarmisten stammen, die alle unter dem politischen Begriff „jüdisch-bolschewistisch“ des Kommissarbefehls subsummiert wurden. Beger erklärte, dass Himmler das Vorhaben genehmigen würde, womit ein neues Prestige-Projekt auf dem im Ahnenerbe noch nicht eigenständigen Gebiet der Anthropologie entstünde. Dabei untermauerte Beger seinen Anspruch auf eine eigene Ahnenerbe-Forschungsstätte und seinen Wunsch, nach der Habilitation nach Straßburg zu wechseln. Gleichzeitig erklärt dies, weshalb in der Denkschrift zur Schädelsammlung die Reichsuniversität Straßburg als Aufbewahrungsort des zu gewinnenden Anschauungsmaterials vorgeschlagen wurde. Somit wären am dortigen Lehrstuhl für Anthropologie jederzeit Originale vorhanden gewesen, von denen Duplikate für Dioramen hätten gefertigt werden können. Beger erklärte Sievers, dass diese Expansion des Ahnenerbes auf ein neues Gebiet einzig davon abhinge, dass ein Anatom die Machbarkeit eines solchen Vorhabens bescheinige. Prompt schlug Sievers August Hirt vor, dem er drei Wochen zuvor erstmals begegnet war und den er mit Forschungsmitteln hoffte, als Leiter des Entomologischen Instituts gewinnen zu können.17 Da Sievers nach Auskunft seiner Sekretärin bereits Mitte 1941 von Himmler die Denkschrift erhalten hatte, war ihm klar, dass er einen Anatomen finden musste, der bei seinem solchen Verbrechen mitwirkte, bestenfalls sogar SS-Mitglied war. Daher markierte er vor dem Empfang des Rektors den Namen Hirts genauso wie den anderer Gäste, mit denen er „ins Geschäft kommen“ wollte. Es wäre lebensfremd anzunehmen, dass Sievers versucht hätte, dem seinerzeitigen Vorzeige-Akademiker Hirt das Ahnenerbe bei der ersten Begegnung mit der Aussicht auf einen Massenmord schmackhaft zu machen. Offensichtlich bat Sievers Beger nach dieser Be­ gegnung für einen ersten Eindruck bei Hirt, den Gesamtzusammenhang des Forschungsprojektes darzustellen, deren Teil die Schädelsammlung sein sollte. Daher erschien Beger am 29.12.1941 erneut bei Sievers, stellte das 16  HStA

Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159, S. 46 f. SSO G 120, Schreiben von Sievers an Hirt vom 17.1.1942.

17  BArch



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Gesamtprojekt vor und übergab eine erneute Denkschrift.18 Dieses Projekt mit dem Titel „Die Wanderungswege der Indogermanen auf Grund nord­ rassiger Restbestandteile“ förderte Sievers nur wenige Tage später durch die Gewährung einer Forschungsbeihilfe. Die bis dahin – abgesehen vom ethisch-moralisch verwerflichen Charakter des gesamten Vorgehens – einzigen fachlichen Fehler Begers waren die Unterschätzung der Dauer der Schädelpräparierung bzw. der Probleme beim Beschaffen der Abformmasse sowie die kontraproduktiven Auswirkungen bestimmter Konservierungsverfahren. Die einzigartige und „günstige“ Gelegenheit zu Beginn des Krieges gegen die UdSSR und die mangelnde Einbindung von Medizinern mögen hier ursächlich dafür gewesen sein, dass Beger einen Plan verfolgte, der medizinisch-technisch und verwaltungstechnisch unmöglich zu realisieren war. Nachdem Sievers am 10.12.1941 das Vorhaben der Schädelsammlung und am 29.12.1941 das Gesamtforschungsprojekt überblickte, wurde ihm bewusst, dass dieses Vorhaben von Himmler genehmigt werden müsste. Gleichzeitig sah er die politischen Risiken, wenn der Chef der Parteigliederung SS von den Berufssoldaten der Wehrmachtsführung verlangte, dass deren Soldaten Beihilfe zu einem solchen Vorhaben leisten sollten. Daher musste das Vorhaben in den Rahmen eines Gesamtzusammenhanges gestellt werden, das Himmler aufgrund seiner Interessenlagen nicht ablehnen konnte. Dazu dienten Sievers die Forschungsvorhaben Hirts. Einerseits stellte er Hirts intravitalmikroskopischen Forschungen als Unterstützung für Himmlers dringendes Anliegen, die von Insekten übertragenen Krankheiten zu bekämpfen, dar und wies auf die Möglichkeiten dieser Technik für die Krebsforschung hin. Andererseits versprach die Kampfstoff-Forschung Hirts bei einer Nutzung durch die Waffen-SS politische Geländegewinne für Himmler gegenüber der Wehrmacht. Brandt hatte im Auftrage Himmlers bereits am 29.12.1941 mitgeteilt, dass Himmler genehmigen würde, Häftlinge für Hirts Forschungen zur ­Ermordung freizugeben.19 Sievers mag erkannt haben, dass es logistisch einfacher wäre, Kriegsgefangene aus den gesuchten Bevölkerungsgruppen konzentriert in einem Lager zu finden, als diese einzeln entlang der rund 2.000 Kilometer langen Frontlinie zu suchen. Sievers forderte von Hirt und Beger jeweils einen Bericht an. Nachdem – mit einiger Verspätung – Begers Denkschrift zur Schädelsammlung eingetroffen war, wurde sie im Ahnenerbe abgeschrieben und mit je einem Satz zu Beginn und am Ende in Bezug zum Standort Straßburg gesetzt. Dies erklärt, warum nicht nur der Sprachstil der Schädelsammlungs-Denkschrift ein anderer war als der von Hirt, sondern auch weder eine Paginierung noch eine Unterschrift vorhanden waren. Diese 18  BArch R 135 / 66, Denkschrift von Beger; vgl. HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger. 19  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34168 Prozessakte Beger, S. 8 f.

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Denkschrift schickte Sievers vermutlich – integriert in den Forschungsbericht Hirts und mit einem integrierenden Begleitschreiben versehen – am 9.2.1942 an Himmler ab, wodurch der Dienstweg von Beger nun – im Gegensatz zur ersten, unmittelbaren Übersendung, an seinem Vorgesetzten Sievers vorbei – eingehalten wurde. Über die Osterfeiertage des Jahres 1942 reiste Sievers zu Himmler und besprach dabei auch das Vorhaben der Schädelsammlung, das entweder auf dem Wege der Denkschrift als Zusatz zu Hirts Forschungsbericht oder schon zu einem früheren Zeitpunkt von Beger unmittelbar an Himmler übermittelt worden war.20 Dieser entschied, dass die Opfer nicht umständlich – wie in der Schädelsammlungs-Denkschrift vorgeschlagen – hinter der Front ausgewählt werden sollten, sondern unter den Kriegsgefangenen in den Konzentrationslagern.21 Anschließend reiste Sievers zu Hirt und sprach erstmals mit ihm über die Beteiligung an Raschers Unterkühlungsversuchen, aber auch über die Schädelsammlung. Gleichzeitig lockte er Hirt mit großzügigen Forschungsmitteln und der Zurverfügungstellung von Leichen für die medizinische Ausbildung und von Versuchspersonen in Natzweiler sowie damit, ihn bei der Fertigstellung seines Instituts zu unterstützen.22 Die geplante Beteiligung Hirts bestand in der Präparierung der in einem Konzentrationslager grobentfleischten und mazerierten Schädel sowie in deren anschließender fachgerechter Entfettung und Lagerung. Dies sollte möglicherweise um eine Präparierung ergänzt werden, was jedoch in Anbetracht der dünnen Personaldecke in Hirts Anatomie einen sehr langen Zeitraum in Anspruch genommen hätte. Weder beim Besuch in Natzweiler am 31.8.194223 noch am 19.10.194224 oder am 25.1.1943 wurde das Konzentrationslager Natzweiler als Tötungsort der Opfer der Schädelsammlung festgelegt.25 Dies war im ursprünglichen Plan auch gar nicht vorgesehen. Dieser Plan der Tötung in Natzweiler bestand ganz offensichtlich auch noch nicht, als Sievers auf Himmlers Weisung mit Eichmann am 10.10.194226 und dessen Stellvertreter Günther am 28.4.194327 verhandelte – denn es findet sich kein Hinweis auf eine geplante Verlegung der von Beger auszuwählenden Opfer und auch kein Hinweis auf Natzweiler. Zum Zeitpunkt dieser beiden Besprechungstermine gab es in Straßburg und Natzweiler weder eine 20  Ebbinghaus / Dörner / Linne u. a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Zeugenaussage von Sievers vom 10.4.1947, S. 05771. 21  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34150, Aussage Taylor über Sievers vom 9.12.1946, S. 281 / 60. 22  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159, S. 54. 23  NARA T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers vom 31.8.1942. 24  Benzenhöfer, Mengele, S. 30. 25  ITS Bad Arolsen, BArchL B162 / 3969. 26  NARA T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 10.10.1942. 27  IfZ MA 1406 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 28.4.1943.



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geeignete Vergasungsräumlichkeit noch Gas oder Abformmasse, wobei letztere in Form der für die Kaukasus-Expedition bestellten Bestände in Mittersill verfügbar war. All dies sollte in Auschwitz stattfinden, wo seit Ende 1941 Gaskammern in Betrieb waren und in deren Bedienung geschultes Personal ebenso vorhanden war wie das Tötungsgas selbst. In der Anatomie Straßburg fehlte eine Mazerationseinrichtung, so dass Wolff Hirt am 17.10.1942 darauf hinwies, dass die Mazeration auch im März 1943 stattfinden könne, wenn Professor Klinge vom Pathologischen Institut in Straßburg die von ihm bestellte Mazerationseinrichtung erhalten habe und Hirt diese vielleicht ausleihen könne.28 Dies zeigt, dass die Konservierung der Leichen bis zur Aufbereitung für den medizinischen und anthropologischen Laien Wolff offenkundig kein Problem darstellte. Sievers hatte Hirt zudem bereits am 28.10.1942 mitgeteilt, dass aufgrund einer Fleckfieberepidemie in Auschwitz keine Untersuchungen stattfinden könnten und das Unterfangen bis Mitte November 1942 zurückgestellt werde,29 da Beger auch dann noch die „Untersuchungen und die erforderliche Auslese“ durchführen könne.30 Dabei war Sievers bewusst, dass die erforderlichen Einrichtungen zur Ermordung und Mazeration auch im November 1942 nicht in Natzweiler und Straßburg vorhanden sein würden. Dieser Umstand zeigt, dass dies zu diesem Zeitpunkt demnach nicht Teil des Vorhabens war. Die Absicht der anthropologischen Reihenuntersuchungen an Kriegsgefangenen innerasiatischer Herkunft hatte Beger Rübel bereits Anfang Oktober 1942 dargelegt.31 Möglicherweise hatte ihn Gabel dazu inspiriert.32 Allerdings war auch in diesem Zusammenhang nie die Rede von einer Befassung mit Juden in Auschwitz. Nur der dortige Ausbruch einer Epidemie verhinderte, dass Beger im November 1942 nach Auschwitz aufbrach, um dort Opfer auszuwählen. Am 10.10.1942 sprach Sievers bei dem von Brandt diesbezüglich informierten Eichmann in dessen Dienststelle in der Berliner Kurfürstenstraße 116 „wegen Aufstellung einer Skelettsammlung Fremdrassiger“ vor.33 Ebenfalls am 10.10.1942 war dieses Vorhaben jedoch zunächst hinfällig geworden: Himmler hatte den Befehl zum Beginn einer Expedition des Sonderkommandos „K“ erteilt.34 Innerhalb derer wurde Beger Leiter der größten Expeditions-Abteilung. Er plante, im Kaukasus mit einem Vorauskommando unmittelbar Opfer zu vermessen, abzuformen, zu 28  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 70, Schreiben von Wolff an Hirt vom 17.10.1942. 29  NARA T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 24.10.1942. 30  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159, S. 72. 31  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Rübel vom 25.7.1960, S. 46. 32  Ebd., Aussage Gabel vom 25.7.1960, S. 50. 33  NARA T-580 Roll 462 / 463 Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 10.10.1942. 34  Kater, Ahnenerbe, S. 214.

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töten und die Köpfe zu mazerieren. Dafür nahm er geeignete Mazerierungsgefäße ebenso mit wie starke Skalpelle.35 Für diese Vorausabteilung sah Beger für sich einen eigenen Assistenten zur Betreuung dieser Sammlung von Schädeln der verschiedenen Ethnien vor.36 Als nach der Schlacht von Stalingrad das Sonderkommando „K“ teilweise aufgelöst wurde, gingen Beger und Sievers dem ursprünglichen Plan wieder nach.37 Sievers verhandelte daraufhin mit Eichmanns Stellvertreter Günther am 28.4.1943 über den bevorstehenden Einsatz in Auschwitz und teilte diesem die gesuchten Ethnien mit, wobei er Spezifika wie beispielsweise Berufe nannte.38 Am 22.5.1943 schrieb Eichmann an Sievers, dass nun „geeignetes Material“ vorhanden sei39. Da die insgesamt rund 400.000 Häftlinge in Auschwitz überwiegend jüdisch waren, kann Eichmann diese kaum damit gemeint haben. Er bezog sich eher auf die sowjetischen Kriegsgefangenen, die ab 1941 ebenfalls in Auschwitz eingesperrt waren. Doch offenbar wusste Eichmann nicht, dass dies im Mai 1943 nicht mehr der Fall war, so dass Sievers sich auf eine unzutreffende Information verließ. Unmittelbar nach Erhalt dieses Schreibens von Eichmann forderte das Ahnenerbe zur Unterstützung für Beger und Gabel die Anthropologen Fleischhacker und Rübel an, wie Sievers am 11.6.1943 in einem Vermerk festhielt.40 Rübel war aber erkrankt und reiste daher nicht nach Auschwitz. Beger war erschrocken, dass in Auschwitz jedoch kaum Innerasiaten zu finden waren. Noch bevor ein Verfahren gegen ihn eingeleitet wurde, schrieb er ausdrücklich, dass er „dort nicht wie ursprünglich gehofft viele Innerasiaten für Abformungen“ fand.41 Er wählte die vier gefundenen Innerasiaten sowie zwei asiatisch aussehende Polen aus und wich dann auf „interessante Typen“ unter den Juden aus, insgesamt 115 statt der 150 genehmigten Opfer.42 Denn nach all dem Aufwand bei den involvierten Stellen wäre ein Abbruch der Aktion zu diesem Zeitpunkt eine erneute Blamage für den aufstrebenden Nachwuchswissenschaftler Beger gewesen. 35  BArch R 135 / 44 Dokumente 164296–164310, Aufstellung der Anforderungsliste für die Expedition K. 36  BArch NS 135 / 44, handschriftliche Personalanforderung Begers als Anhang zu seiner Anforderungsliste vom 18.8.1942. 37  BArch NS 19 / 1681 Band 2, Schreiben Himmlers an Schäfer vom 4.2.1943. 38  IfZ MA 1406 Diensttagebuch Sievers vom 28.4.1943; vgl. BArch ALLPROZ6 /  N1497 TON-10-C. 39  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34164 Prozessakte Beger, S. 12a und 12b. 40  BArch NS 21 / 901, Aktenvermerk von Sievers vom 11.6.1943. 41  IfZ ZS A 0025 01-25 Sammlung Michael H. Kater („Ahnenerbe“), Brief von Beger an Kater vom 21.5.1964, S. 6 f. 42  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S.  57 f.



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Dabei wäre damit zu rechnen gewesen, dass Beger nach dann zweimaligen Misserfolgen – beim Nachweis der Wanderungswege von Tibetern nach Europa bzw. von nordischen Menschen nach Tibet – Himmlers Unterstützung beim Aufbau einer Karriere, der Habilitation im Rahmen des Ahnenerbes und dem Streben nach einem Lehrstuhl verloren hätte. Rübel berichtete, dass Beger ihm nach der Rückkehr aus Auschwitz eine Karte mit folgendem Inhalt geschrieben habe: „Es war schaurig, sei froh, dass Du nicht dabei warst. Großer Krach.“43 Da in allen anderen Quellen keinerlei Rügen Begers oder sonstiger „Krach“ nachweisbar sind, ist anzunehmen, dass es sich auf die Blamage bezog, mit großem Elan ein Projekt angekündigt zu haben, ohne dies dann umsetzen zu können, weil kaum innerasiatische Opfer vorhanden waren. Die schlussendlich ausgewählten Häftlinge wurden von Beger und Fleischhacker vermessen und die Maße auf Messkarten eingetragen. Dabei wurden auch die Namen der Häftlinge auf den Messkarten eingetragen.44 Diese Messkarten waren wichtig, um die Maße später den Leichenteilen zuordnen zu können, was in der Literatur häufig übersehen wird. Die in Auschwitz gefertigten Listen der ausgewählten Häftlinge wurden anschließend in Waischenfeld im Auftrag von Wolff von der Ahnenerbe-Sekretärin Charlotte Heydel abgetippt.45 Anschließend formte Gabel in Auschwitz die ersten 26 Opfer ab, vermutlich die aus Begers Forschungsinteresse gesehen bemerkenswertesten – die vier Innerasiaten – zuerst. Anschließend wurden die Opfer in Auschwitz vergast, möglicherweise mit jenen Häftlingsgruppen, die fortlaufend in die Gaskammern gezwungen wurden. Die Köpfe wurden abgenommen, grobentfleischt und mittels Erhitzung in Großkochtöpfen – die in den Großküchen des Lagers zweifelsfrei vorhanden waren – in kochendem Wasser mazeriert. Die übrig gebliebenen Leichnamsreste wurden kremiert. Insgesamt wurden so 26 Häftlinge mit dieser Vorgehensweise ermordet. Nach neuerlichem Ausbruch der Epidemie wurden die noch nicht abgeformten Häftlinge in Quarantäne genommen. Drei davon starben kurz darauf. Beger reiste am 15.6.1943 ab46 und wies Gabel an, mit den Abformungen der in Quarantäne befindlichen Häftlinge fortzufahren.47 Nachdem die Gefährdung durch Fleckfieber zu groß wurde, reiste auch Gabel ab. Beger sprach bei Sievers in Berlin-Dahlem am 15. oder 16.6.1943 vor und beide vereinbarten, dass die weiteren Tötungen in Natzweiler stattfinden sollten, da das Ahnenerbe in diesem Lager bereits – wie auch in Dachau – eine Forschungs43  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Rübel vom 25.7.1960, S. 46. 44  Ebd., Aussage Beger vom 31.3.1960, S. 14. 45  Ebd., Aussage Heydel vom 21.2.1962, S. 143. 46  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Urteil vom 6.4.1971, S. 15. 47  Ebd., Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 57 f.

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station unterhielt. Am 21.6.1943 organisierte Sievers die Verlegung der verbliebenen Häftlinge. Er schrieb an Eichmann: „Ein namentliches Verzeichnis der ausgesuchten Personen ist beigefügt. Es wird gebeten, die entsprechenden Anweisungen zu erteilen. Da bei der Überweisung der Häftlinge nach Natzweiler die Gefahr der Seucheneinschleppung besteht, wird gebeten, umgehend zu veranlassen, dass seuchenfreie und saubere Häftlingskleidung für 80 Männer und 30 Frauen von Natzweiler nach Auschwitz gesandt wird.“48 Am 22.6.1943 brachte Fleischhacker die Unterlagen von Auschwitz nach Straßburg und informierte in Begers Auftrag Hirt über das weitere Vorgehen. Am 9.7.1943 schrieb das Ahnenerbe an Hirt und informierte ihn darüber, dass nun die Häftlinge in Natzweiler ermordet würden.49 Ebenfalls am 9.7.1943 teilte Beger Sievers mit, dass Gabel bereits zurück sei, und übermittelte die Belobigungen für die Funktionshäftlinge in Auschwitz.50 Vor allem aber wies er deutlich darauf hin, dass die Abformungen elementar für die weiteren Schritte seien: „Die restlose Fertigstellung der Köpfe, die von Herrn Gabel im Lager Auschwitz abgeformt wurden, muß bald zum Abschluss gebracht werden, da das gesamte Material in Straßburg für die weitere Bearbeitung zur Verfügung und griffbereit stehen muß.“51 Hirt schrieb als Antwort auf dieses Schreiben zurück, dass er Kenntnis genommen habe und dass die Federführung bei Beger liege.52 Jedoch hatte Hirt am 9.7.1943 auch an das Ahnenerbe geschrieben und mitgeteilt, dass ihn Lagerkommandant Kramer darauf hingewiesen habe, dass kein Gas vorhanden sei. Am 22.7.1943 schrieb Sievers an Hirt: „Die Überführung von Auschwitz nach Natzweiler erfolgt bereits in den nächsten Tagen und wird durch Fernschreiben bezw. fernmündlich bekannt gegeben.“53 Ebenfalls am 22.7.1943 schrieb Wolff wegen des Gases an Hirt: „Bezüglich der Beschaffung des für die Bearbeitung notwendigen Materials werde ich sie nächste Woche aufsuchen.“54 Am 30.7.1943 telegraphierte Wolff an Hirt: „Transport Auschwitz-Natzweiler 30.7. ab. Dr. Beger verständigt.“55

48  Ebbinghaus / Dörner / Linne u.  a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Anklage­ dokumentenband 9, S. 1256 (Dok. NO-087). 49  Schreiben nicht erhalten, Inhalt rekonstruierbar durch Hirts Antwortschreiben vom 14.7.1943: HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 163. 50  BArch NS 21 / 901, Schreiben von Beger an Sievers vom 9.7.1943. 51  Ebd. 52  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 163. 53  BArch NS 21 / 901, Schreiben von Sievers an Hirt vom 22.7.1943. 54  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Anklageschrift vom 8.5.1968, S. 66. 55  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34166 Prozessakte Beger, S. 145, Telegramm vom 30.7.1943.



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Am 2.8.1943 sind die verbliebenen 86 Häftlinge in Natzweiler erstmals nachgewiesen.56 Erst am 3.8.1943 und am 12.8.1943 baute die Bauleitung des Lagers Natzweiler den für Bickenbach zur Gaskammer umfunktionierten Gasmaskenübungsraum erneut um, um die erwarteten Opfer ermorden zu können.57 Hirt hatte Sievers bereits am 25.3.1943, kurz nach einer Tagung an der Universität Straßburg, geschrieben, dass er sich aufgrund einer weiteren Verschlechterung seines gesundheitlichen Zustandes erneut in die Klinik begeben müsse.58 Über den Sommer besserte sich Hirts Zustand kaum. Der bettlägerige Hirt bereitete Anfang August 1943 seine Abreise nach St. Lambrecht für die Dauer der gesamten Semesterferien vor,59 damit er anschließend zum Einsatz mit Dekan Stein nach Frankreich ausrücken könne.60 Am 6.8.1943 erhielt Beger abermals ein Telegramm von Wolff nach Rüthnick in der Mark: „Erbitte drahtnachrichtlich, wann Abreise Strassburg erfolgt, da Transport eingetroffen. Hirt erwartet Sie dringlichst.“61 „Entsprechend seiner Ankündigung brach Dr. Beger am Sonnabend, dem 7. August 1943 – etwa gegen 8.45 Uhr – auf. Vormittags war er im ‚Ahnenerbe‘ in BerlinDahlem und fuhr noch am selben Tag in Richtung Natzweiler weiter. Am 14. August 1943 traf er gegen 11.15 wieder in Rüthnick ein. In seiner Reisekostenabrechnung trug er nach der Rückkehr in der Rubrik ‚Zweck der Reise‘ handschriftlich ein (Urk. Bd. I / A Bl. 179d): Röntgenaufnahmen und Blutgruppenbestimmungen an den Personen des geh. Sonderauftrags in Natzweiler.“62

Am 11., 13, 14. und 18.8.1943 wurden die Häftlinge ermordet. Beger war also mindestens bei den ersten beiden Mordserien in Natzweiler anwesend! Dies wurde von der Forschung und vom Schwurgericht in Frankfurt offenbar übersehen. Hirt reiste am 16.8.1943 nach St. Lambrecht ab. Jedwede Untersuchung durch Beger vor dem Mord wäre sinnlos gewesen, wenn nicht jedem Oper ein Messblatt mit den gemessenen anthropologischen Daten eindeutig zuzuordnen gewesen wäre. Diese Unterlagen hatte Fleischhacker nach Straßburg gebracht. Dort vervollständigte Beger diese durch röntgenologische Untersuchungen und Blutgruppenbestimmungen. Doch die Abformungen konnte Beger nicht vornehmen, da keine Abformmasse verfügbar war. Also wurde geplant, die Opfer zuerst zu töten und dann von den Leichen die Abformungen zu nehmen, damit anschließend die Schädel prä56  ITS

1.1.29.0 / 0009 / 0065-0092, Stärkemeldungen Natzweiler 1.7.–31.8.1943. NS 21 / 507, Beleg Nr. 1463 vom 29.9.1943. 58  BArch NS 21 / 50, Schreiben von Hirt an Sievers vom 25.3.1943. 59  BArch NS 19 / 1209, Schreiben von Pohl an Brandt vom 20.5.1943. 60  BArch NS 21 / 50, Schreiben von Hirt an Sievers vom 29.6.1943. 61  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34159 Prozessakte Beger, S. 178. 62  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Urteil vom 6.4.1971, S. 33. 57  BArch

450

G. Versuch einer Ereignisrekonstruktion

pariert und erneut abgeformt werden konnten. Das Landgericht Frankfurt am Main urteilte, dass Beger nach Natzweiler gereist sei, weil Hirt „die medizinischen Untersuchungen erledigt“ wissen wollte. Ihretwegen sei Beger nach Natzweiler gekommen; er sei in der Lage gewesen, die Blutgruppen zu bestimmen.63 Erstaunlicherweise stellte niemand die Frage, warum Hirt zur Bestimmung der Blutgruppen seiner angeblichen Opfer für eine Sammlung einen Anthropologen rund 1.000 Kilometer durch Deutschland reisen ließ – während er selbst und einige seiner Mitarbeiter medizinisch ausgebildet waren und die Sanitätsabteilung von Natzweiler solche einfachen Untersuchungen hätte ebenfalls vornehmen können. Ebenso wurde nicht thematisiert, dass Beger während der Ermordung der ersten beiden Gruppen vor Ort war und in welcher Weise er mitwirkte. Schließlich hatte Holl ausgesagt, dass die Häftlinge vor der Ermordung von einem „Arzt aus Berlin“ behandelt worden waren.64 Nach Auswertung der Quellen war kein Angehöriger einer Berliner Dienststelle zu jener Zeit in Natzweiler, außer Beger. Dieser war zwar kein Arzt, wie Holl aussagte, aber er führte unzweifelhaft medizinische Untersuchungen durch, die üblicherweise Ärzte durchführen, wie das Röntgen und die Blutgruppenbestimmung. Auch in Tibet hatte Beger als „Arzt“ gewirkt. Hirt war zu diesem Zeitpunkt in Straßburg schwer erkrankt. Möglicherweise war er kaum oder überhaupt nicht in Kontakt mit Beger, während in Natzweiler die Morde geschahen. Die Leichen wurden in Straßburg angeliefert und in die Kühlanlagen der Anatomie und möglicherweise auch in jene der im selben Gebäude befindlichen Pathologie verbracht. Noch vor dem letzten Leichentransport reiste Hirt zur Kur ab. Da die Abformmasse noch immer nicht eingetroffen war und die Kühlkapazitäten begrenzt waren, musste eine Entscheidung getroffen werden. Ebenso wenig wie im Herbst 1942 verfügte eine deutsche Universitätsanatomie im Sommer 1943 über 86 freie Langzeitkühlplätze, keinesfalls jedoch über Plätze für die ursprünglich geplanten 150 Opfer. Dies spricht dafür, dass die Verbringung nach Straßburg aus dem plötzlichen Abbruch der Aktion in Auschwitz he­raus durchgeführt wurde und vorher weder geplant noch – mangels Vor­bereitung und Kapazitäten in der Anatomie – planbar war. Um die Opfer skelettieren zu können, wäre es notwendig gewesen, sie kurz nach der Einlieferung zumindest einer Grobentfleischung zu unterziehen. Dies wurde auf Wunsch Begers zunächst unterlassen, da für seine Forschungen die Abformungen essentiell waren. Daher mussten die Leichen bis zum Eintreffen der Abformmasse gekühlt werden. Beger reiste nach den ersten Morden ab. Da der Platz in der Anatomie eng wurde, konnten nur einige der Opfer in den drei Kühlfächern blei63  Ebd.,

Urteil vom 6.4.1971, S. 65. Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Holl vom 3.11.1946, S.  373 ff. 64  HStA



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ben, wo sie aufgrund der langen Lagerungszeit bis Ende 1944 typische Vertrocknungen an den Fingern aufwiesen.65 Als sich die Lieferung der Abformmasse immer weiter verzögerte, wurde ein Großteil der Opfer von Bong mittels Einbringung von Konservierungsflüssigkeit durch die Oberschenkelarterie konserviert und in Becken mit Alkohol gelagert. Die drei dabei verbrauchten Sternalpunktionskanülen wurden unmittelbar beim Hersteller Braun (Melsungen) bestellt. Da – wie jeder Anatom bestätigt – auf diese Weise konservierte Körper so sehr aufschwemmen, dass sie oft sogar von Angehörigen nicht mehr identifiziert werden können, war eine Abformung zur Abbildung anthropologischer Merkmale unmöglich geworden. Allerdings war auch aus biochemischen Gründen eine Skelettierung der Köpfe unmöglich geworden. Als Beger davon erfuhr, war ihm klar, dass er aus den Leichen keine Schädel- oder Skelettsammlung gewinnen konnte und auch keine Abformungen mehr möglich waren. Daher legt er das Projekt zu den Akten und kümmerte sich nicht mehr um die Leichen. Auch Hirt kümmerte sich nicht darum, da es nicht sein Projekt war. Beger war die Situation gegenüber Hirt so unangenehm, dass er ihm die in Mittersill lagernden grobentfleischten Schädel der bereits in Auschwitz abgeformten Opfer nicht zur Präparierung zu übersenden wagte. Hirt fragte dauerhaft nicht nach, da er wusste, dass der „Auftrag Beger“ von Himmler persönlich autorisiert war und er seine Forschungsunterstützungen nicht gefährden wollte. So lange die Becken, in denen die Leichen lagerten, nicht anderweitig benötigt wurden, bedeutete die Aufbewahrung für Hirt keinen Aufwand. Gegen Kriegsende wollte Trojan die Schädel an Hirt senden, damit dieser „damit fertig“ würde. Die Abformungen hatte Gabel in Mittersill vernichtet. Zu Begers Glück wurde Hirt in der „Daily Mail“ Anfang Januar 1945 die Urheberschaft für das Verbrechen angelastet. Nachdem Sievers vom Tode Hirts erfahren hatte, schloss er sich dieser Lesart an, um Beger und sich selbst zu schützen. Die ursprüngliche Bestimmung der Schädel war tatsächlich ein Museum. Doch es handelte sich nicht um ein von Hirt geplantes Museum, in dem die unterstellte Minderwertigkeit der Juden belegt werden sollte, sondern um ein Museum der geplanten Ahnenerbe-Forschungsstätte für Rassenkunde, deren Leiter Beger zugleich als Ordinarius für Anthropologie in Straßburg sein sollte. In diesem Museum sollten Dioramen zur Anschauung für die Laien und Schädel für die Fachleute die Wanderungsbewegung der „arischen“ Rasse von Tibet bis Nordeuropa belegen. Begers Mitarbeiter Wilhelm Gabel arbeitete bereits an den ersten Exponaten, den Dioramen mit Abformungen. Diese dienten zur Veranschaulichung des von Begers zu beweisenden Wanderungsweges und zeigten zunächst Vertreter des Beginns desselben: Tibeter. Ähnliche wur65  BArch B 162 / 20260, Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade vom 15.1.1946.

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G. Versuch einer Ereignisrekonstruktion

den im Salzburger „Haus der Natur“ bereits im Jahre 1943 ausgestellt. An diese Dioramen-Serie sollten sich dann Abformungen von Inner- und Vorderasiaten und kaukasischen Mischlingen bis nach Zentraleuropa hinein anschließen. Da das „Haus der Natur“ in jenen Jahren nicht genug Fläche für solch einen „Dioramenweg“ hatte, mag Beger an eine Auslagerung in Form einer Sonderschau in einem separaten Gebäude gedacht haben. Es war kein Geheimnis, dass es Tratz Mitte 1941 gelungen war, bei Raumknappheit von der Stadt Salzburg weitere Ausstellungsflächen zu erhalten. Möglicherweise plante Beger auch eine Wanderausstellungen in den von Himmler gewünschten „Häusern der Natur“ nach dem Vorbild des Salzburger Hauses. Mit einer solchen Habilitationsschrift und derartig lebensechtem Abformungsmaterial zu den die Habilitationsthese stützenden Dioramen wäre Beger rasch eine Koryphäe seines jungen Fachs im nationalsozialistischen Deutschland geworden. Es ist anzunehmen, dass die Dioramen für ein öffentlich zugängliches Museum bestimmt waren, die verräterischen Schädel jedoch für eine Sammlung für Experten. Da Beger jedoch noch nicht an die Universität Straßburg berufen wurde, waren auch noch keine Räumlichkeiten für ein Anthropologisches Institut und damit auch kein konkreter Museumssaal geplant, so dass ein solcher bis heute nicht nachweisbar ist. Zu dieser Theorie passt die Aussage Sievers’ zu einem musealen Vorhaben: Die Schädelskelette waren als Grundlage der Dioramen für ein Museum bestimmt – das mit der Berufung Begers auf den vakanten Anthropologielehrstuhl an der Universität Straßburg entstehen sollte, mit Blick auf die kriegsbedingte Materialknappheit eher nach Kriegsende. Da keine Sammlung angelegt wurde, liegt es bis heute im Dunkeln, wer was genau sammeln wollte. Das Landgericht Frankfurt am Main konnte diesen Sachverhalt nicht aufklären. Der Erklärungsversuch in der Urteilsbegründung zeigt die Ratlosigkeit des Gerichts bei dieser Frage in Bezug auf die Sammlung: „Dieser Plan fand die volle Zustimmung Himmlers, der abermals Hirt mitteilen ließ, dass er ihm ‚alles, was er für seine Versuche alles zur Verfügung stellt, was er benötigt‘. In der Folgezeit erfuhr jedoch der Plan, den Hirt im Juli 1942 ins neugeschaffene ‚Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung‘ (Abt. H) ‚einbrachte‘, eine mehrfache Änderung. Zum einen wollte man die Sammlung nicht mehr nur auf Schädel beschränken, sondern vollständige Skelette haben; zum anderen wollte man nicht mehr kriegsgefangene Kommissare töten, sondern in Konzentra­ tionslagern befindliche Juden; schließlich beabsichtigte man, neben den Skeletten ein möglichst noch genaueres Abbild der betreffenden Menschen zu ihren Lebzeiten erlangen, als dies bei der ‚Schädelsammlung‘ vorgesehen war.“66

66  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34155 Prozessakte Beger, Urteil vom 6.4.1971, S. 15.



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Dies zeigt deutlich, dass einerseits das Gericht Herleitungen verwendete, die auch erkennbar nicht den Tatsachen entsprachen: Die zitierte Zusage Himmlers bezog sich ausdrücklich nur auf Lost-Forschungen. Vor allem aber wird deutlich, dass die Denkschrift die Gewinnung der Knochensubstanz der Köpfe von Kommissaren der Roten Armee vorschlug, tatsächlich jedoch Skelette benannt wurden und der Schwerpunkt schließlich auf Abformungen lag. Die Unmöglichkeit, angesichts des zur Verfügung stehenden Personals und Zeitraums 150 komplette Skelette zu fertigen, führt zu der Annahme, dass es sich bei einem skelettierten Kopf für medizinische Laien eben um ein Skelett handelt und diese Unstimmigkeit rein sprachlicher Natur war. Zudem wurden auch nie Ganzkörperabformungen geplant oder umgesetzt. Die Änderung der Opfergruppe zeigt, dass Beger als Urheber der Denkschrift Innerasiaten aus den Reihen der Roten Armee suchte und den rechtsfreien Raum des Kommissarbefehls nutzen wollte, um an deren Schädel zu gelangen. In Ermangelung der intendierten Opfergruppe in Auschwitz wechselte Beger diese spontan und möglicherweise irrational. Dies mag die Irritation des Landgerichts erklären. Der Krieg verlief nicht, wie vom nationalsozialistischen Deutschland geplant. Nach der Auflösung des Sonderkommandos „K“ im Januar 1944 hatte sich das Habilitationsthema Begers mit dem bisherigen Fokus zerschlagen. Darum passte Beger seine wissenschaftliche Zielrichtung den neuen Realitäten an und beauftragte seine Mitarbeiter, nur noch innerasiatische Kriegsgefangene zu vermessen. Hirt konnte die Leichen in der anatomischen Ausbildung nicht verwerten, weil diese ihm weder gehörten, noch sie zur anatomischen Ausbildung brauchbar waren. Beger konnte jedoch aufgrund der Konservierungsart keine Abformungen von den 86 Leichen mehr fertigen und hatte auch kein Interesse mehr daran, denn der Vormarsch der Alliierten auf Straßburg und den Westen des „Großdeutschen Reiches“ hatte am 6.6.1944 mit der Landung in der Normandie begonnen. Zu diesem Zeitpunkt war der Besitz von Ermordeten wenig hilfreich. Nach Aussagen des in der Anatomie Straßburg für die Präparierungen grundsätzlich zuständigen Präparators Bong wurden an keiner der 86 Leichen Abformungen vorgenommen.67 Eine anderweitige Besetzung des Lehrstuhls für Anthropologie in Straßburg konnte bis zum Einmarsch der Amerikaner offen bleiben. Es steht fest, dass Beger plante, aus 150 Menschen aus Innerasien eine Schädelsammlung aufzubauen. Ebenso steht fest, dass er nur vier fand und aus den insgesamt 115 Opfern keine Schädelsammlung entstand. Die Motivation Begers ist ebenso nachweisbar: Er strebte eine eigene Forschungsstätte im Ahnenerbe ebenso an wie seine Habilitation als Voraussetzung dazu. Mit 67  Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34145 Prozessakte Beger, Aussage Bong vom 10.1. 1963, S. 330.

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G. Versuch einer Ereignisrekonstruktion

Ausnahme seiner Dissertation war sein einziges Forschungsgebiet bis 1945 die Bearbeitung der These, dass es eine Wanderungsbewegung von Tibet bis nach Nordeuropa gegeben habe, die anthropologisch zu beweisen sei. Allerdings gelang es Beger nicht, 150 Innerasiaten zur Ermordung zu finden, und es gelang ihm auch nicht, aus den tatsächlichen Opfern eine Sammlung anzulegen. Dies war am 27.11.1943 offenkundig, als Schäfer für Beger einen Beförderungsantrag zum SS-Sturmbannführer stellte. Bruno Beger war nach den bisherigen Arbeiten am Tibetmaterial am 20.4.1942 zum SS-Hauptsturmführer befördert worden.68 Seit seiner Rückkehr aus Auschwitz wurde keinem Beförderungsantrag mehr stattgegeben. Beger war nach Quellenlage einer der ganz wenigen – wenn nicht der einzige – SS-Führer im Ahnenerbe, beziehungsweise dem Hauptamt Persönlicher Stab Reichsführer-SS, der über drei Jahre trotz Beantragung keine Beförderung erlebte. Es wäre spekulativ, einen differierenden Verlauf der Ereignisse zu mutmaßen, wenn Eichmanns Ankündigung, dass zum gegenständlichen Zeitpunkt „besonders geeignetes Material“ (also einige hundert Asiaten) im Juni 1943 in Auschwitz anzutreffen gewesen wäre, sich bewahrheitet hätte. Die vorgenommene Ereignisrekonstruktion stellt eine Theorie aufgrund der Faktenlage und der Indizien dar und ist insoweit teilweise spekulativ. Da jedoch die Legende Sievers’ über das von August Hirt geplante Skelettmuseum für die Reichsuniversität Straßburg durch die Quellen widerlegt ist, musste bei sorgsamer Abwägung ein anderes Motiv für dieses Verbrechen hergeleitet werden. Es ist evident, dass August Hirt Mittäter an einem grausamen Verbrechen war, aber kein eigenes Motiv besaß, für die Anlage einer eigenen jüdischen Schädelsammlung Morde begehen zu lassen. Daher war er auch – außer als Begünstigter des „Blanko“-Befehls von Himmler und als dienstleistender Präparationspate von Begers Ambitionen – in keiner Weise involviert. Insbesondere hat weder er selbst noch einer seiner Mitarbeiter an der Auswahl der Sammlung mitgewirkt – die er jedoch im Falle der Urheberschaft für das Verbrechen wissenschaftlich zu verantworten gehabt hätte. Die vorgenannte Theorie ergibt hingegen ein plausibles Motiv für diesen Mord, der eines der dunkelsten Kapitel deutscher Wissenschaftsgesichte darstellt. Beger selbst hat diesen Hinweis auf sein mögliches Motiv am 19.1.1963 gegeben: „Es ist häufig so, dass die anthropologischen Institute mit der medizinischen Fakultät gekoppelt sind. Offenbar wollte Hirt ein anthropologisches Institut aufbauen.“69 68  BArch NS 21 / 238 Personalakte Beger, Schreiben vom Ahnenerbe an Forschungsstätte Innerasien vom 31.8.1942. 69  HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34146 Prozessakte Beger, Aussage Beger vom 19.1.1963, S. 317.



G. Versuch einer Ereignisrekonstruktion455

Insoweit ist es bei Annahme einer Motivlage sowohl seitens Begers als auch seitens Hirts eine denkbare Theorie, dass Hirt als Direktor des Anatomischen Instituts die Schwalbe’sche Sammlung in Verwahrung hatte und für ein Anthropologisches Institut aufgrund des dort noch unbesetzten Lehrstuhls Pate stand und insoweit mit einer Erweiterung der dortigen Sammlung die Institutsgründung vorbereitete. In diesem Zusammenhang ist es ebenso denkbar, dass es Hirt hochschulintern aufgrund des Anthropologenmangels während des Krieges forcierte, den Lehrstuhl für den Ahnenerbe-Kameraden Beger freizuhalten. Insoweit wäre die Unterstützung von Begers Vorhaben, eine Schädelsammlung von Innerasiaten als Grundlage für Abformungen für Dioramen aufzubauen, um so seine These der Wanderungsbewegung zu belegen und an das von ihm angestrebte Institut zu gelangen, folgerichtige Kollegialität gewesen – sowohl in Bezug auf das Ahnenerbe als auch auf die Universität Straßburg. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass bis heute kein Beleg gefunden wurde, wo und in welchem Rahmen ein Museum entstehen sollte oder gar, dass Hirt ein „Museum mit toten Juden“ plante. August Hirt war ein Verbrecher. Die Begutachtung seines Lebensweges und seines beruflichen Wirkens ergibt unzweifelhaft, dass er niemals ein eigenes Interesse an anderen Fachgebieten als dem der Anatomie zeigte. Nie befasste er sich mit Fragen der Anthropologie, mit Juden oder ähnlichen ideologisch motivierten Fragen, wie viele seiner Fachkollegen es taten. Wenn er jedoch diesbezügliche Interessen gehabt hätte, hätte er diesen auch ohne die Verbindung zu Beger nachkommen können. Es ist jedoch ebenso evident, dass Hirt stets sehr darum bemüht war, andere Ahnenerbe-Forscher zu unterstützen und die Diversifizierung des Ahnenerbes und Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung zu fördern. Dies gilt in Bezug auf Rascher, Plötner oder May ebenso wie für Bickenbach, Haagen, Weygand – oder Beger, der über Jahre ein eigenes Rasseforschungs-Institut ebenso anstrebte wie seine Habilitation. Hirt ist also vermutlich aus Korpsgeist Mittäter oder Beihelfer bei einem beispiellosen Verbrechen geworden, obschon er selbst davon nicht unmittelbar profitierte. Die Aufgabe des Frankfurter Landgerichts bestand einzig darin zu prüfen, welcher Anteil an Mitwisserschaft und Mittäterschaft an der Ermordung von 86 der 115 von Beger ausgewählten Personen diesem zweifelsfrei und gerichtsfest nachgewiesen werden konnte. Aufgrund der lückenhaften Quellenlage zu Begers wissenschaftlichen Interessen von 1940 bis 1945 konnte Beger nicht gerichtsfest nachgewiesen werden, dass er bis zu seinem Eintreffen in Natzweiler von der Absicht, die von ihm ausgesuchten Opfer zu ermorden, gewusst hat. Die Aufgabe des Gerichts im Beger-Verfahren bestand nicht darin, die Motivlage und Mittäterschaft Hirts zu qualifizieren sowie dafür im Rahmen der Strafprozessordnung Be- und Entlastendes abzuwägen. Dies war schon deshalb nicht möglich, weil auch die Staatsanwaltschaft hierfür zunächst Be- und Entlastendes hätte ermitteln

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G. Versuch einer Ereignisrekonstruktion

müssen. Dies geschah nicht, da Hirt nicht Beschuldigter war. Aufgrund seines Suizids gab es jedoch nie ein Ermittlungsverfahren gegen Hirt, so dass er nie Beschuldigter hat werden können. Die Gesamtzusammenhänge wurden folglich nie rechtsstaatlich untersucht. Die historische Forschung begnügte sich deshalb mit jener Schutzbehauptung, die Sievers und Henripierre in Nürnberg in die Welt gesetzt hatten. Es konnte gezeigt werden, dass sowohl Hirt als auch Beger an der Ausführung des Verbrechens erheblichen Anteil hatten und dennoch nie adäquat verurteilt wurden. Beide Verbrecher sind mittlerweile verstorben. Das Anliegen dieses Buches ist es jedoch gewesen, sich den in diesem Falle bemerkenswerten kollektiven Pauschalverurteilungen zu verweigern und die tatsächlichen Ereignisse und Tatbeteiligungen möglichst präzise zu rekonstruieren. Hierdurch wird es möglich, neben den bisherigen moralischen und ­unzweifelhaften Urteilen über Beger und Hirt auch zu rechts- und geschichtswissenschaftlich fundierteren Urteilen zu gelangen.

„Was für eine riskante Sache, die Wahrheit auf Tatsachenebene zu sagen ohne theo­ retische und akademische Verbrämung. […] Ich habe daraus einiges über Wahrheit und Politik gelernt.“70 (Hannah Arendt an Mary McCarthy im September 1963)

70  Brightman

(Hrsg.), Arendt / McCarthy-Briefwechsel, S. 232.

H. Wer war wer Im Folgenden sind alle in den bearbeiteten Quellen namentlich genannten Mitarbeiter aus der Abteilung „H“ und deren Leitungsebene des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung aufgeführt. Die Aufstellung ist nicht vollständig, da zahlreiche Mitarbeiter nicht namentlich erwähnt wurden, beispielsweise Mechaniker oder Laboranten der Abteilung „H“. Ebenso sind die unten genannten Mitarbeiter in der Ahnenerbe-Zentrale nicht ausschließlich für das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung tätig gewesen. Sofern sie auch für dieses tätig wurden, sind sie aufgeführt worden. Akad. Grad

SS-Rang1

Name

Vorname

Bennemann

Irmgard

med.-techn. Ass. Abt. „H“

Bong

Otto

Oberpräparator Abt. „H“

Brandner

Frau

Hausmeisterin Abt. „H“

Buchheid

Mitarbeiter / in Abt. „H“

Deutschmann

Anneliese

Eben

Alfons

Henripierre

Henri

Hirt

August

Verwaltungsführerin Ahnen­ erbe U’Stuf.

Buchhalter Ahnenerbe Sektionsgehilfe Abt. „H“

Prof. Dr. Stubaf.

Holtz

Leiter der Abt. „H“ Mitarbeiter / in Abt. „H“

Kiesselbach

Anton

Dr.

Kraut

Alfred

Dr. Dr.

Löhausen

Johann

Mayer

August

Saßenroth

Hans

1  Es

Position im Institut

1. Ass. Abt. „H“ H’Stuf.

Personalchef Ahnenerbe

O’Stuf.

Verbindungsführer Ahnenerbe technischer Assistent Abt. „H“

O’Stuf.

Schriftgutverwalter Ahnenerbe

wurde jeweils der letzte und – damit höchste erreichte – SS-Rang angegeben.

458

H. Wer war wer

Name

Vorname

Akad. Grad

SS-Rang

Schäfer

Emil

Laborant Abt. „H“

Schmidt /  Schmitt

Karl / Charles

Präparator / Laborant Abt. „H“2

Schmitt

Elisabetha

med.-techn. Ass. Abt. „H“

SchmitzKahlmann

Gisela

Seepe

Lieselotte

Sievers

Wolfram

Wagner

René Colombin

Walbert

Erich

Wimmer

Karl

Wolff

WolfDietrich

Dr.

Position im Institut

Chefsekretärin von Wolfram Sievers Sekretärin Abt. „H“ Staf.

informeller Direktor technischer Zeichner Abt. „H“

O’Schaf. Dr.

Tierpfleger Abt. „H“ 2. Ass. Abt. „H“

O’Stuf.

Persönlicher Referent Sievers’

2  USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020, Vernehmungsprotokoll Charles Schmitt vom 19.12.1946.

Quellen- und Literaturverzeichnis I. Quellen und bibliographische Hilfsmittel a) Bundesarchiv (BArch) Koblenz, Berlin, Freiburg und Ludwigsburg BArch

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Findbuch / Einl.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

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84 IV-751 19-XIV / 1 606



I. Quellen und bibliographische Hilfsmittel461

BArch

NS 21

794

Barch

ALLPROZ

6 / 1106 / N1497

Barch

NS 21

820

Barch

ALLPROZ

TON-10-C

Barch

NS 21

822

Barch

B 162

2275

BArch

NS 21

845

Barch

B 162

20260

BArch

NS 21

901

BArch

VBS 283

6055009688

BArch

NS 21

902

BArch

VBS 286

6400042887

BArch

NS 21

903

BArch

VBS 286

6400042888

BArch

NS 21

904

BArch

VBS 286

6400042889

BArch

NS 21

905

BArch

BDC

BArch

NS 21

906

b) Institut für Zeitgeschichte München MA 1562 ZS A 0025 01 Sammlung Michael H. Kater („Ahnenerbe“) ZS A 0025 02 Sammlung Michael H. Kater („Ahnenerbe“) ZS A 0025 03 Sammlung Michael H. Kater („Ahnenerbe“)

c) Landesarchiv Berlin B B B B C

Rep. Rep. Rep. Rep. Rep.

209 Nr. 9173 209-01 Nr. 1404 025-08 Nr. 1848 / JRSO 042 Nr. 57353 105 Nr. 4369

d) Amtsgericht Charlottenburg von Berlin Vereinsregister, Registerakte 95 VR 7996

e) Hauptstaatsarchiv (HStA) Wiesbaden HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt.

461, 461, 461, 461, 461, 461,

Nr. 34145 Nr. 34146 Nr. 34147 Nr. 34148 Nr. 34149 Nr. 34150

div.

462

Quellen- und Literaturverzeichnis

HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt. HStA Wiesbaden Abt.

461, 461, 461, 461, 461, 461, 461, 461, 461, 461, 461, 461, 461, 461, 461, 461, 461, 461, 461, 461, 461, 461, 461, 461, 461, 461,

Nr. 34151 Nr. 34152 Nr. 34153 Nr. 34154 Nr. 34155 Nr. 34156 Nr. 34157 Nr. 34158 Nr. 34159 Nr. 34160 Nr. 34161 Nr. 34162 Nr. 34163 Nr. 34164 Nr. 34165 Nr. 34166 Nr. 34167 Nr. 34168 Nr. 34169 Nr. 34170 Nr. 34171 Nr. 34172 Nr. 34173 Nr. 34174 Nr. 34175 Nr. 34176

f) Internationaler Suchdienst Bad Arolsen Bestände Konzentrationslager Natzweiler Bestände Konzentrationslager Dachau Bestände Konzentrationslager Auschwitz

g) National Archives and Records Administration, Washington, D.C. Bestand T-580 Roll 462 / 463



I. Quellen und bibliographische Hilfsmittel463

h) United States Holocaust Memorial Museum, Washington, D.C. USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P3 USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020

i) Niels Bohr Library & Archives, American Institute of Physics. One Physics Ellipse, College Park, MD 20740 Samuel A. Goudsmit papers. Box 27, Folder 26

j) Sonstiges Archiv Haus der Natur in Salzburg (Archiv HdN) Stadtarchiv Quedlinburg, Akte VII A 107 Bd. XI Staatsarchiv Ludwigsburg 17 Js 145 / 62 (Vorermittlungsverfahren AR-Z 33 / 61 der Zentralen Stelle Ludwigsburg) Archiv Gesellschaft für Deutsche Sprache DA 8647 Stadtarchiv Strasbourg Archiv Mairie des XVIII. Arrondissements von Paris Archiv Mairie von Lièpvre Archiv Hans-Jürg Kuhn Nachlass Wolfram Sievers Protokoll des Gesprächs mit der ehemaligen Ahnenerbe-Sekretärin Katharina Görlitz vom 18.1.2012 Verschiedene Gespräche und Korrespondenz mit Sievers’ jüngerer Tochter 2012 Verschiedene Gespräche und Korrespondenz mit Sievers’ jüngerem Sohn 2012 und 2013 Verschiedene Gespräche und Korrespondenz mit Nachfahren von Prof. Dr. Richard Kuhn.

k) Gedruckte Quellen Adressbuch von Berlin, Jahrgänge 1935 bis 1944, Landesarchiv Berlin. Adressenwerk der Dienststellen der NSDAP, der Deutschen Arbeitsfront, des Reichsnährstandes und der Behörden, Bd. 1: Gesamtadressenwerk der NSDAP-Geschäftsstellen, Berlin 1935. Adressenwerk der Dienststellen der NSDAP mit den angeschlossenen Verbänden, des Staates (Reichsregierung – Behörden) und der Berufsorganisationen in Kultur – Reichsnährstand – Gewerbliche Wirtschaft. Reichsband mit Lexikon-Wegweiser von A–Z, hrsg. unter Aufsicht der Reichsleitung der NSDAP – Hauptorganisationsamt München  – unter Mitarbeit der Gauorganisationsämter, 3. Ausgabe 1941 / 42, Berlin 1942.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

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I. Quellen und bibliographische Hilfsmittel465

l) Faksimilierte Quellen

Kopie aus dem Bundesarchiv, BArch R BArch R 135 / 52

466

Quellen- und Literaturverzeichnis

BArch NS 21 / 794



I. Quellen und bibliographische Hilfsmittel467

BArch NS 21 / 794

468

Quellen- und Literaturverzeichnis



I. Quellen und bibliographische Hilfsmittel469

470

Quellen- und Literaturverzeichnis



I. Quellen und bibliographische Hilfsmittel471

BArch NS 19 / 1582 Behandlungsvorschlag von Hirt und Wimmer aus dem Jahre 1944.

472

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Abkürzungsverzeichnis DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft EWZ Einwanderungszentrale HSSPF Höherer SS- und Polizeiführer Hstuf. SS-Hauptsturmführer Lost nach dessen Entwicklern Wilhelm Lommel und Wilhelm Steinkopf LSSAH Leibstandarte SS „Adolf Hitler“ NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Ostubaf. SS-Obersturmbannführer Ostuf. SS-Obersturmführer REM Reichserziehungsministerium RFR Reichsforschungsrat RFSS Reichsführer-SS RSHA Reichssicherheitshauptamt RuSHA Rasse- und Siedlungshauptamt SA Sturmabteilung(en) SS Schutzstaffel(n) SSFHA SS-Führungshauptamt SSPF SS- und Polizeiführer Staf. SS-Standartenführer Stubaf. SS-Sturmbannführer Ustuf. SS-Untersturmführer VoMi Hauptamt Volksdeutsche Mittelstelle WVHA Wirtschafts-Verwaltungs-Hauptamt Dienstgrade SS Polizei Mannschaften Staffel-Bewerber  – Staffel-Anwärter Anwärter SS-Mann Anwärter (nach 6 Monaten Dienstzeit) SS-Sturmmann Unterwachtmeister SS-Rottenführer Rottwachtmeister

Abkürzungsverzeichnis483 Unteroffiziere SS-Unterscharführer Wachtmeister SS-Scharführer Oberwachtmeister SS-Oberscharführer Revier-Oberwachtmeister SS-Hauptscharführer Hauptwachtmeister SS-Sturmscharführer Meister Offiziere SS-Untersturmführer SS-Obersturmführer SS-Hauptsturmführer SS-Sturmbannführer SS-Obersturmbannführer SS-Standartenführer SS-Oberführer

Leutnant der Polizei Oberleutnant der Polizei Hauptmann der Polizei Major der Polizei Oberstleutnant der Polizei Oberst der Polizei Oberst der Polizei

Generäle SS-Brigadeführer SS-Gruppenführer SS-Obergruppenführer SS-Oberstgruppenführer Reichsführer-SS

Generalmajor der Polizei Generalleutnant der Polizei General der Polizei Generaloberst der Polizei Chef der Deutschen Polizei

Personenregister Die Namen Bruno Beger, Heinrich Himmler, August Hirt und Wolfram Sievers wurden nicht gesondert indexiert. Abel, Wolfgang  18, 229, 235, 323, 373, 374 Ackermann, Josef  20 Acuhi, Dawid  417 Alalouf, Bella  418 Albert, Izrael  417 Albert, Wilhelm  224 Alexander, Leo  54, 55 al-Raschid, Harun  240, 241 Aly, Götz  13, 93, 290 Amanullah  187 Amar, Emma  418 Amra, Elwira  418 Arendt, Hannah  30, 215, 280, 425, 427, 431, 456 Arnades, Palomba  418 Aron, Aron  417 Arouh, Jety  418 Ascher, Martin  416 Asser, Ezra  417 Attas, Allegra  418 Aubry  95 Babel, Adolf  36 Bailly, Jeam-Sylvain  182 Baruch, Ernestine  418 Basch, Joachim  416 Bauer, Bernhard  113 Bauer, Fritz  9, 10, 30, 31, 246, 419, 427, 435–437 Baumert, Paul  76, 226, 391 Beckstädt, Alfred  335 Beger, Albert David  175 Beger, Friedrich Otto  175 Beger, Gertrud  175, 176

Beger, Heinz  175 Beger, Hildegard  178 Beger, Joachim  175 Beger, Karl  175 Beger, Max  175 Beger, Ruth  175 Behrent, Joachim  417 Benjamin, Günter  417 Bennemann, Elisabeth (Else)  83, 164, 270, 278, 371, 457 Benzenhöfer, Udo  22 Berg, Gustav  391, 392 Bernier, Francois  182 Berucha, Alcave  418 Beshwer, Paul  395 Bezsmiertny, Kalman  417 Bickenbach, Otto  11, 26, 28, 29, 35, 64, 70, 83, 108, 109, 119, 123, 125, 129, 137–143, 145, 152–155, 159, 162, 167, 278, 303, 318, 321, 322, 360, 365, 390, 395, 449, 455 Blancke, Max  118, 119, 122, 123, 128, 134 Bloch, Marc  34 Blötner, August  176 Blum, Wilhelm  110, 115, 129 Blumberg, Karl  87 Blumenbach, Johann Friedrich  182 Bluosilio, Samuel  416 Bohar, Harry  416 Bohmann, Ludwig  195, 228 Bomberg, Sara  418 Bonatz, Paul  34 Bong, Otto  66, 82, 83, 94, 133, 252–255, 257, 261, 262, 264, 270,

Personenregister485 271, 274, 280, 360, 362, 364, 370–373, 376, 378, 380, 392, 395, 399, 400, 402, 403, 412, 451, 453, 457 Brand, Hans  47 Brandt, Karl  131, 153, 154, 162 Brandt, Rudolf  16, 37, 38, 43, 47, 68, 72–74, 76–79, 81, 83, 130, 136, 155, 156, 159, 162, 167, 168, 203, 204, 229, 232, 234, 251, 287–289, 292–294, 296–299, 302, 316, 317, 320, 322, 323, 328, 340, 350, 389, 390, 392, 393, 401, 420, 443, 445, 449 Brandt, Willy  38 Braus, Hermann  57 Breuer, Emil  171, 173–175, 388, 401 Brion, Albert  34 Brodersen, Johannes  93 Buchar, Nisin  417 Buchheid  83, 457 Buhler  394 Cabeu, Rebeca  418 Cally, Sarica  418 Canaris, Wilhelm  187 Carell, Paul –– auch Schmidt, Paul Karl  201 Champy, Christian  97, 277, 278, 365, 395, 396 Christian, Viktor  206 Clauß, Ludwig Ferdinand  179, 200, 201, 203–205, 230, 232, 233, 240–243, 334, 388 Cohen, Elei  416 Cohn, Hugo  416 Crodel, Brigitte  156 Custer, George Armstrong  27 d’Alquen, Gunther  201, 231 Dannenberg, Günter  417 Darré, Richard Walther  36, 38, 40–42 Decalo, Sabi  417 Denne, Wilhelm  113, 114 Deutschmann, Anneliese  99, 165, 270–273, 369, 457

Dietrich, Josef (Sepp)  239 Dillmann, Herbert  149 Dollet, Anne-Marie  275 Duesen, Kurt  416 Düx, Heinz  203, 252, 254, 293, 332, 340, 370 Ebbinghaus, Angelika  22, 48, 53, 55, 61, 65, 66, 87, 97, 99, 108, 115, 116, 120, 124, 125, 129, 199, 251, 265, 268, 275, 281, 288, 289, 294, 296, 298, 301, 309, 316, 317, 340, 361, 362, 364, 371, 392, 397, 399, 407, 444, 448 Eben, Alfons  457 Ebrecht, George  36 Eckart, Uwe  23 Eggen, v.  368, 385 Eggert, Hermann  34 Ehrhardt, Hubert  165 Ehrhardt, Sophie  256 Eichmann, Adolf  7, 102, 103, 229, 230, 296, 309–312, 315–318, 320, 322, 323, 328, 334, 339, 340, 407, 410, 425–428, 444–446, 448 Ellinger, Philipp  58, 59 Elze, Kurt  57, 168 Endres, Hans  11, 219, 323 Esau, Abraham  53 Esformes, Aron  417 Eskaloni, Aron  417 Eskenasi, Ester  418 Faschingbauer, Karl  122 Feibelmann, Isidor  188, 189 Fejkiel, Wladyslaw  259, 347 Filchner, Wilhelm  186 Fitzner, Helmuth  161, 163, 395 Flachowsky, Sören  24 Fleischhacker, Hans  11, 219, 230, 238, 244, 253, 255–257, 260, 323–334, 336, 338, 339, 341–345, 351, 352, 359, 370, 393, 403, 424, 434, 446–449 Fleischmann, Rudolf  137

486 Personenregister Flury, Ferdinand  127 Foot, Philippa  133 Fourcade, Jacques  87, 88, 97, 99, 263, 273, 274, 275, 278, 361, 364, 369, 379, 381, 398–400, 411–413, 451, 464 Francaise, Moritz  417 Franco, Abracham  416 Fransecky, Eduard v.  140 Frischler, Heinz  417 Gabel, Wilhelm (Willi)  11, 12, 192, 194–196, 222, 228, 230, 236–238, 258–260, 324, 327–334, 336, 337, 345–347, 351, 370, 373, 375, 382, 384, 387, 392, 393, 423, 432, 440, 441, 445–448, 451 Geer, Edmund  180, 185, 187, 195 Geger, Beniamin  408, 416 Gerlach, Walther  53 Gichman, Fajsch  418 Gieseler, Wilhelm  319, 324 Glücks, Richard  78, 79, 90–92, 105–107, 122, 126, 301, 311 Goethe, Johann Wolfgang v.  3, 33 Göring, Hermann  52, 79, 159, 239 Görlitz, Katharina, geb. Leikam  51, 293, 463 Görnnert, Fritz  159 Gösling, Jobst  187 Grabowski  191 Grawitz, Ernst-Robert  42, 134, 135, 162, 319 Grell, Horst  431 Grub; Brandel  418 Günther, Hans Friedrich Karl  179, 181, 182, 219, 255 Günther, Rolf  322, 324, 444, 446 Gutenberg, Johannes  32 Haagen, Eugen  25, 35, 123, 125, 143, 155, 156, 278, 279, 360, 395, 455 Haarropt, Hugo  416 Handloser, Siegfried  155 Harmjanz, Heinrich  283 Hassan, Charles  417

Hayum, Alfred  416 Hedin, Sven  193, 196, 228, 230 Heider, Robert  143, 149, 355, 367 Heimann-Jelinek, Elisabeth  13 Heinemann, Isabel  13, 99, 216, 291 Heinrich I.  43, 44, 69, 104 Henripierre, Henri –– auch Henrypierre, Henry und Heinzpeter, Heinrich  9, 97, 99, 102, 120, 251–253, 262, 263–272, 274–280, 341, 356, 361–364, 366, 368, 392, 394, 397–399, 401, 406, 411, 412, 427, 433, 435, 437, 456, 457 Henrypierre, Heinrich (Vater)  264 Herman, Rudolf  417 Herschwelt, Jacob  416 Heydel, Charlotte  271, 305, 330, 334, 341, 399, 447 Heydrich, Reinhard  214 Hickel, Paul  363 Hielscher, Friedrich  38, 39, 54, 431 Hildebrandt, Richard  190, 232, 234 Hintmann, Richard  36 Hirt, Charlotte Maria  56 Hirt, Johannes  56 Hirt, Marie Frieda (Friedel)  58, 164, 167 Hirt, Rainer  164 Hirt, Renate  165, 167, 169, 261 Hitler, Adolf  36, 37, 68, 89, 131, 134, 205, 213, 226, 240, 270, 335 Hochhuth, Rolf  121 Hoepke, Hermann  59, 60 Hoepner, Erich  213 Hoffmann, Helmuth  219, 228 Hofmann, Otto  166 Höhne, Heinz  20 Holfelder, Hans  18, 22, 199 Holl, Ferdinand  109, 115, 124, 245, 356–361, 450 Holtz, Peter  137 Hoppe, Willy  283 Hörbiger, Hanns  41

Personenregister487 Höß, Rudolf  320, 327 Huber, Ernst-Rudolf  35 Huth, Otto  284, 390 Idoux, Edouard  89, 142, 367 Illion, Theodore  190 Isaak, Albert  417 Izak, Israel  417 Izraelski, Hans  417 Jadin  97, 273, 275, 397 Jankuhn, Herbert  53, 217 Jenninger, Philipp  17 Jesta, Marta  418 Jodl, Alfred  215 Jung, Erich  285 Kahn, Lewei auch Lewi  416 Kallius, Erich  58, 60 Kant, Horst  71 Kant, Immanuel  182, 438 Kapom, Sabetajj  417 Kater, Michael  16, 20, 21, 24, 36, 38–42, 44, 46, 51, 52, 56, 69, 104, 105, 169, 179–181, 187, 188, 198, 206, 211, 214, 217–219, 221, 228, 229, 247–249, 276, 282–284, 303, 374, 376, 386, 404 Katz, Jean  416 Kaufmann, Wolfgang  180–184, 195, 221, 335, 336 Kaul, Friedrich Karl  24 Kaul, Kurt  284 Kempner, Maria  418 Kiesselbach, Anton  65, 66, 80, 82, 83, 133, 137, 160, 169, 249–253, 258, 262, 270, 271, 362, 364, 377, 457 Kinkelin, Wilhelm  41 Kirn, Karl  113, 115, 119–121 Klee, Ernst  23, 59, 60, 64, 67, 82, 124, 153, 159, 249–251, 317, 328 Klein, Elisabeth  418 Klemperer, Victor  17 Klinge, Friedrich  166, 167, 306, 308, 381, 445

Kloth, Albert  78, 79, 150 Kogon, Eugen  19 Kohen, Juli  418 Komanns, Theodor  190, 438 Königsmarck, Gräfin Aurora v.  33 Köpf, Erich  110, 112 Korherr, Richard  229, 323 Kourik, Anna  228 Kramer, Franz  114 Kramer, Josef  90, 109, 122, 123, 139, 141, 143, 150, 321, 322, 328, 348, 349, 352–357, 360, 366–368, 408, 448 Krause, Ernst  180, 185, 228 Kraut, Alfred  48, 83, 165, 191, 243, 457 Krotoschiner, Paul  413, 417 Kruse, Walter  194 Kruse  171, 172 Kuhn, Hans-Jürg  88, 129, 491 Kuhn, Richard  158, 159, 463 Landé, Margarethe  200, 201 Landen, Peter  110, 112, 113 Lang, Hans-Joachim  22, 28, 29, 56, 58, 59, 97–100, 104, 133, 142, 157, 163, 167, 169, 207, 216, 256, 261, 273, 294, 296, 306, 325, 329, 334, 337, 350, 358, 362, 365, 366, 368, 369, 372, 374, 394, 399, 400, 406, 408, 410, 425, 427, 428, 432, 434, 435 Langgo, Albert alias sPu rgyal  336 Leclerc, George Louis, Comte de Buffon  182 Leibholz, Else  418 Less, Avner Werner  316, 425–428 Levy, Ludwig  34 Lewy, Kurt  417 Liebehenschel, Arthur  327 Lincoln, Abraham  27 Lirot, Augustine  264, 274 Litzki, Ichai  417 Loesch, Karl-Christian v.  229 Loh, Wilhelm  359 Löhausen, Johann  161, 162, 349, 457 Lolling, Enno  118

488 Personenregister Longerich, Peter  20, 51, 191 Ludwig XIV.  32, 95 Ludwig XV.  33 Lullies, Hans  166

Nitsch, Robert  89, 151, 356, 366, 367 Noche, Sterina  418 Nowak, Willy  113, 129 Nühsmann, Theodor  166

Mann, Thomas  189 Marcus, Michael  416 Marheine  191 Markt, Erich  366, 417 Matarass, Abracham  417 May, Eduard  26, 27, 47, 66, 67, 90, 137, 164, 228, 259, 439, 455 May, Gerd  228 Mayer, August  80, 161, 164, 261, 262, 270, 362, 364, 370, 392, 457 Meißner, Otto  70 Menasche, Lasas  417 Mentzel, Rudolf  24, 52, 68, 159, 282, 283, 285 Metzner, Erwin  41 Meyer-Mehlendorf, v.  165 Mezger, Wilhelm  110, 112, 113 Mielke, Fred  104, 285, 294, 302 Mierau, Peter  29, 180, 183, 186, 188, 198, 199, 209, 216–218, 220–222, 232, 235, 236, 238, 239, 438 Mitscherlich, Alexander  104, 285, 294, 302, 428 Mollison, Theodor  219, 235, 255, 260 Monchi-Zahdeh, Davoud  224 Mozart, Wolfgang Amadeus  24 Mühlens, Peter  46, 73 Müllenheim  32 Müssgen, Wilhelm  111, 115, 120, 121

Osepowitz, Heinrich  416

Nachman, Redzina  418 Nachmintz, Siniora  418 Nadale, Maria  418 Nales, Hendrik  108, 120, 125 Nannen, Henri  201 Nathan, Dario  417 Niemeier, Georg  70 Niethammer, Georg  195, 228 Niethammer, Günther  36 Nisin, Sarina  417

Passman, Jeanette  418 Peters, Gerhard  46, 73 Piédelièvre, René  87, 88, 97, 99, 263, 273–275, 278, 361, 364, 369, 379, 381, 397, 398–400, 411–413, 451, 464 Pigalle, Jean-Baptiste  33 Pinkus, Herman  416 Plassmann, Joseph Otto  39 Plötner, Kurt  23, 47, 67, 241, 273, 439, 455 Pöch, Hella  256 Pohl, Oswald  17, 42, 107, 134, 136, 137, 156, 356 Polan, Jacob  416 Poppendick, Helmut  134 Port, Friedrich  111, 115, 129 Pressac, Jean Claude  89, 142, 151, 152, 272, 329, 347, 354–356, 362, 369, 379, 394, 435 Preußen, August Wilhelm Prinz v.  70 Pringsheim, Alfred  189 Rafael, Izrael  417 Rafael, Samuel  417 Rascher, Sigmund  23, 44, 47, 66, 77, 87, 128, 157, 158, 241, 300, 318, 343, 439, 455 Rauch, Konrad v.  222, 228 Reichard, Richard  111, 112 Reichert  173 Reineck, Hermann  259, 330 Reischle, Hermann  36, 41 Ries, Karl  114, 129 Ritterbusch, Paul  283 Rosenthal, Siegbert  417 Rößler, Otto  70 Rostock, Paul  131 Roth, Karl-Heinz  22

Personenregister489 Rouget de Lisle, Claude Joseph  33 Rübel, Heinz  11, 219, 220, 308, 309, 323–326, 339, 341–345, 445–447 Rühl-Stanislaus, Marianne  90 Runge, Hans  60 Rust, Bernhard  35, 70, 283 Sachnowotz, Frank  417 Sachsen, Friedrich August II. Kurfürst v. , König v. Polen, Großfürst v. Litauen  33 Sachsen, Hermann Moritz Graf v., Herzog von Kurland  33 Saltech, Manrice  417 Saltich, Albert  417 Samdrichin, Marie  418 Saporta, Moise  417 Sassen, Willem  309, 315, 340 Saßenroth, Johann (Hans)  106, 120–122, 165, 190, 305, 457 Sauerbruch, Ferdinand  53 Saul, Mordochaim  417 Sawatzki, Dora Klara  246 Sawatzki, Wilhelm  246 Schäfer, Ernst  18, 30, 47, 52, 180, 184–199, 203–207, 210, 216–218, 220, 221, 224–229, 233, 235, 241, 242, 255–259, 286, 320, 335, 336, 343, 373, 374, 381, 382, 386, 387, 392, 438, 446, 454, 458 Schatz, Georg  113 Schede, Martin  224 Scheel, Gustav Adolf  70 Scheepker, Heinrich  112 Schenck, Ernst-Günter  128 Scherberger, Richard  70, 171, 303 Schlagintweit, Adolf  209, 217 Schlagintweit, Hermann v.  217 Schlagintweit, Robert v.  217 Schmaltz, Florian  28, 29, 75, 82, 124, 138, 140–142, 152, 153, 166, 318, 321, 361, 393 Schmidt, Hubert  114, 129 Schmidt, Ina  37

Schmidt, Karl  166 Schmitt, Elisabetha (Else)  23, 67, 83, 101, 160, 164, 270, 278, 282, 371, 372, 458 Schmitt, Karl  120, 121, 123 Schmitt-Claden, Albert  282 Schmitz-Kahlmann, Gisela  51, 165, 211, 214, 248, 291–292, 295, 296, 298, 299, 341, 430, 441, 458 Schrade, Hubert  35 Schubert, Johannes  236, 335, 336 Schwalbe, Gustav  4, 33, 34, 100, 101, 117, 174, 274, 290, 308, 342, 402, 403, 455 Scultetus, Robert  180 Seepe, Lieselotte  15, 48, 66, 82, 83, 124, 153, 154, 168, 169, 170, 258, 260–262, 270, 271, 274, 280, 300, 360, 362, 364, 369, 370, 394, 395, 400, 406, 411, 412, 458 Selig, Karl  170, 171, 172 Sievers, Helene (Hella)  51 Sigrist, Rosalie  264 Silbermann, Johann Andreas  33 Simon, Alica  418 Simonin, Camille  87, 88, 97, 99, 263, 273–275, 278, 361, 364, 369, 379, 381, 397–400, 411–413, 451, 464 Six, Franz  405 Sondheim, Emil  417 Soroschak, Sophie  418 Spaarmann, Erich  177 Speer, Albert  130, 131, 134 Stamm, Günter  366, 416 Stangneth, Bettina  309, 315, 316, 425, 427, 429 Stauffenberg, Alexander Schenk Graf v.  35, 213 Steegmann, Robert  25, 26, 35, 87, 88, 90, 92, 107, 108, 112, 115, 119, 124, 125, 128, 137, 142, 296, 360, 368, 372, 401 Stein, Johannes  28, 65, 137, 153, 166, 319, 350, 449 Steinberg, Sigurch  416

490 Personenregister Stokar, Walter v.  159 Susteil, Nimie  418 Swienty, Willy  115 Tafel, Albert  336 Taffel, Menachem auch Menaelem  16, 336, 369, 399, 417, 492 Taylor, Telford  244, 298, 334, 373, 444 Teuber, Erna  221, 222, 384 Teuber, Hilmar  221, 222, 226, 368, 376, 383, 384, 385 Toch, Ernst  259, 330 Toledano, Raphael  21, 24, 25, 95, 98, 99, 155, 264, 279, 495 Tratz, Eduard Paul  24, 184, 192, 193, 196, 258, 452 Tries, Friedrich Karl  114, 120, 121 Trojan, Rudolf  195–197, 209, 210, 231, 234–238, 241, 242, 369, 374, 375, 378, 381–384, 386–390, 404, 441, 451 Turowski, Ernst  70 Tuscher, Josef  114, 129 Ullmann, Otto  43, 76, 181, 189, 191, 202 Urstein, Maria  418 Vauban, Sébastien Le Pestre, Marquis de  32, 95 Voss, Hermann  13, 93, 216, 290, 291 Wagner, René Colombin  253, 262, 263, 269, 275, 278, 364, 394, 397, 458 Wagner, Robert  35, 68, 70, 166, 269 Walbert, Erich  83, 106, 126, 135, 136, 458 Waldeyer, Gottfried  33, 34 Walravens, Hartmut  335, 336 Walz, Reinhard  243 Wastl, Josef  13, 93 Wechsler, Patrick  23, 24, 61, 82, 350, 367

Weizsäcker, Freiherr Carl-Friedrich v.  35, 65 Weydert, Georg  150 Weygand, Friedrich  137, 138, 455 Wienert, Karl  180, 185, 195, 228 Wildt, Michael  20, 44, 45, 225 Wiligut, Karl Maria alias Weisthor  180 Wilson, Woodrow  34 Wimmer, Josef  41 Wimmer, Karl Kaspar  50, 65, 80, 82, 83, 89, 109, 116–126, 128, 129, 137, 138, 159, 160, 162, 246, 252, 253, 262, 270, 271, 321, 360, 362, 429, 458, 471 Wirth, Herman  36–39, 41, 51, 100 Wirth, Wolfgang  63, 64 Wlassow, Andrei Andrejewitsch  239, 240, 241 Wochner, Magnus  409, 410 Wojak, Irmtrud  30, 78, 179, 215 Wolff, Hildegard  247, 248 Wolff, Karl  42, 244, 246, 248 Wolff, Wolf-Dietrich  42, 47, 64, 69, 72, 78, 87, 117, 118, 133, 139, 149, 150, 154, 162, 165, 171–173, 236, 246–249, 253, 260, 261, 264, 280, 288, 296, 297, 302, 303, 305, 307, 315, 319, 321, 326, 327, 334, 335, 339, 341, 343–345, 347–351, 356, 359, 366, 368, 373, 374, 376, 378, 381–386, 390, 394, 404, 424, 445, 447–449, 458 Wollinski, Walter  416 Wörl, Ludwig  332, 346, 347 Wüst, Walther  21, 37, 39, 41–45, 52, 69, 70, 72, 161, 189, 206, 225, 257, 284, 285, 297, 304 Zeelich, Gustaw  417 Zeiger, Karl  93 Zinhobl, Alfred  111, 112, 115 Zorn  32 Zukschwerdt, Ludwig  166, 167

Danksagung Dieses über Jahre entstandene Buch wäre nicht möglich gewesen ohne die Geduld und Unterstützung meiner Familie, insbesondere meiner Frau. Dies gilt nicht nur für das Verständnis, das sie mir angesichts der zahlreichen und langen Archivaufenthalte entgegengebracht hat, sondern auch für die emotionale Unterstützung angesichts eines grauenvollen Untersuchungsgegenstandes. Meiner Familie gilt daher der größte Dank. Nachdem mein akademischer Mentor, Herr Professor Dr. Bernd-A. Rusinek, bereits während meines Studiums bei Professor Dr. Hans Mommsen und Professor Dr. Norbert Frei mein Forschungsinteresse auf die Heterogenität der SS gelenkt hat, hat er auch zum Gelingen dieser Studie durch wohlwollend-kritische Begleitung erheblich beigetragen. Er hat mein Verständnis vom Berufsbild des forensischen Historikers über viele Jahre maßgeblich geprägt. Ob sein berühmtes Schneider-Schwerte-Gutachten aus der zweiten Hälfte der 1990er Jahre oder zuletzt seine Karlsruhe-Gutachten: Das sachliche, präzise und maßgeblich durch Quellen gestützte Aufklären von Untaten in der Zeit des Nationalsozialismus einerseits und ein hoher Grad an Empathie für die Opfer waren mir oft Vorbild. Vor allem aber hat mich Bernd-A. Rusinek schon im Studium sensibilisiert, welcher Persönlichkeitstyp für eine Karriere in Universitäten geeignet ist und wer universitäre Forschung und Lehre in Kombination mit einem Broterwerb außerhalb von Fakultäten und Instituten wagen sollte. Damit hat er jene Weichen gestellt, die die Forschungen zu dieser Studie ohne Drittmittel ermöglicht haben. Herrn Professor Dr. Hans-Jürg Kuhn gebührt ebenfalls besonderer Dank. Der emeritierte Anatom forscht ebenfalls zu Verbrechen im Konzentrationslager Natzweiler-Struthof. Sein umfangreiches Bestreben, mir die Feinheiten der Skelettpräparierung, der biochemischen und physiologischen Wirkungsmechanismen im Bereich der Kampfstoffforschung, der chemischen Auswirkungen verschiedener Skelettpräparationsarten und der Abläufe in einer Anatomie zu vermitteln, waren essentiell, um Tätigkeit und Taten von August Hirt zu verstehen und zu bewerten. Der laufende Austausch mit ihm war in akademischer, menschlicher und inhaltlicher Hinsicht eine große Bereicherung für das Verfassen dieses Buches. Gleiches gilt für den stets vertrauensvollen Austausch von Quellen und Fundstellen. Ein großer Dank geht auch an Herrn Professor Dr. Patrick Wagner. Über viele Jahre und zahlreiche Lehraufträge hinweg gab er mir immer wieder

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wertvolle neue Perspektiven auf die Welt, die Politik, Denkansätze und Debatten in der Geschichtswissenschaft sowie auf meinen Untersuchungsgegenstand. Seine allseits geschätzte, zugewandte Art ermöglichte es mir manches Mal, von liebgewordenen Gedanken und ganzen Kapiteln Abschied zu nehmen und die Dinge besser zu denken. Bei Herrn Professor Dr. Christoph Nonn bedanke ich mich für das Vertrauen, das er seit Jahren in der Lehre an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf in mich setzt. Das Vermitteln von Forschungsergebnissen in der Lehre führt zu Diskussionen und damit immer neuen Denkanstößen. Meine Lehrveranstaltungen zum Ahnenerbe haben mir gezeigt, dass das Interesse an diesem Thema nach wie vor hoch ist. Herrn Professor Dr. Michael H. Kater gebührt mein Dank für den Austausch und die Anregungen während der Recherchen zu diesem Buch. Die Überlassung seiner Unterlagen zum Ahnenerbe im Institut für Zeitgeschichte, insbesondere der Notizen seiner Interviews mit Zeitzeugen, waren eine wertvolle Hilfe für diese Buch. Bei Herrn Dr. Robert Lindner vom Salzburger Haus der Natur und dem Salzburger Historiker Professor Dr. Robert Hoffmann bedanke ich mich für den regen Austausch, insbesondere über Begers mutmaßlichen Museumsplan für die von ihm angestrebten Forschungsergebnisse einerseits und seine Einbindung in die Tibet-Schau im Haus der Natur andererseits. Es ist bemerkenswert, mit wieviel Akribie die beiden Wissenschaftler jedes Detail zur Geschichte des Hauses der Natur, besonders für den Zeitraum von 1938 bis 1945, aufgreifen. Eine solch intensive Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte eines Museums ist beeindruckend. Der vertrauensvolle Abgleich von Ergebnissen bis kurz vor den anstehenden Veröffentlichungen wurde von Respekt und Wertschätzung getragen. Mein Dank gilt auch Frau Dr. Bettina Stangneth, die umfangreich zu Adolf Eichmann publiziert hat, insbesondere zu seinem Leben nach dem Krieg. Sie machte mich auf die Sassen-Protokolle und die überlieferten Tonbandaufnahmen mit Eichmanns Einlassungen in Buenos Aires zur Schädelsammlung aufmerksam. Mit ihrer Kenntnis des Aussageverhaltens Eichmanns hat sie wichtige Hinweise gegeben. In Strasbourg erhielt ich über Jahre hinweg viel Zuspruch und Unterstützung vom Vorsitzenden des Cercle Menachem Taffel, der Organisation der Angehörigen der Opfer der Schädelsammlung, Herrn Dr. Georges Yoram Federmann und seiner Gattin Anja. Es ist ihm zu verdanken, dass der Quai hinter der Anatomie in Strasbourg nach dem ersten identifizierten Opfer der Schädelsammlung, Max Menachem Taffel, zuletzt wohnhaft in der Elsässer Straße 8 (heute Torstraße) in Berlin, benannt wurde. Die unermüdliche Arbeit des Psychiaters Dr. Federmann hat den Opfern erhebliche öffentliche

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Aufmerksamkeit beschert. Seine Bemühungen, mit Orts- und Sachkenntnis vergessene Orte für dieses Buch wieder greif- und sichtbar zu machen, waren eine große Bereicherung. Gleiches gilt für die Direktorin der Gedenkstätte Natzweiler-Struthof, Frau Dr. Frédérique Neau-Dufour. Die Gespräche mit ihr waren stets bereichernd, vor allem mit Blick auf die französische Perspektive auf deutsche Forschungen zu diesem Verbrechen. Auch für die Unterstützung bei der Vorstellung meiner bisherigen Forschungsergebnisse in Frankreich gilt ihr mein Dank. Zu Dank verpflichtet bin ich auch dem Präsidenten des Bundesarchivs, Herrn Professor Dr. Michael Hollmann, der mir das Archivwesen hinter den Kulissen verständlich machte und der großzügig die Präsentation meiner bisherigen Ergebnisse ermöglichte. Seine Mitarbeiter, Frau Annegret Neupert und Berit Walter, verschafften mir ein beeindruckend-erschreckendes Erlebnis, da sie mir ermöglichten, die auf Tonbändern konservierten Erklärungen von Adolf Eichmann zur Schädelsammlung über Kopfhörer zu ertragen und diese zu transkribieren. Dadurch konnte ich wichtige Erkenntnisse gewinnen. Herr Matthias Meissner von der Bundesarchiv-Abteilung in Berlin-Lichterfelde danke ich für seine jahrelange, geduldige und oft auch kurzfristige Zuarbeit, vor allem aber für sein Vertrauen, mir bei Bedarf auch Originalakten zur Einsicht auszuhändigen, die erhebliche neue Erkenntnisse über die Person Wolfram Sievers und dessen Interesse an der Universität Straßburg ermöglichten. Den vielen hier nicht genannten Mitarbeitern des Bundesarchivs, vor allem dem geduldigen und stets freundlichen Personal im Lesesaal in Lichterfelde, gilt ebenso mein Dank. Herrn Dr. Johann Zilien im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden gilt mein Dank für die fachliche Unterstützung und den unkomplizierten Service. Es ist stets misslich, wenn im Nachhinein eine Kleinigkeit fehlt, und eine große Freude, wenn Archivare dann rasch helfen. Vor allem aber hat mich seine akribische Recherche nach Zweitschriften der Prozessaussage von Henri Henripierre beeindruckt, die offensichtlich aus den Prozessakten entfernt wurde. Abgesehen davon ist es bemerkenswert, dass die Akten über viele tausend Seiten lückenlos sind und genau diese Seiten mit der Aussage eine Lücke in der Paginierung bilden. Den so aufgeworfenen Fragen wird nachzugehen sein. Wichtige Quellen für dieses Buch vermittelte mir Brad Bauer, Chief Archivist des United State Holocaust Memorial Museum. Durch seine gute Vernetzung mit anderen Archiven konnte er in sehr kurzer Zeit einen reichen Fundus an Dokumenten beschaffen, wofür ihm herzlich gedankt sei.

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Den Mitarbeitern des Archivs im Institut für Zeitgeschichte in München gilt ebenfalls mein Dank, insbesondere Frau Petra Mörtl. Die Aufenthalte sind mir trotz des Untersuchungsgegenstandes in angenehmer Erinnerung. Die zahlreichen anderen Mitarbeiter verschiedener Archive – vom Institut für Zeitgeschichte in München über die National Archives and Records Administration und das United States Holocaust Memorial Museum in Washington, D.C. bis zum Archiv der Bürgermeisterei von Lièpvre (Leberau), sowie aller anderen im Quellenverzeichnis genannten Archive – gilt ebenfalls mein Dank. Ohne ihre Unterstützung und oft auch kundigen Rat gäbe es die Erkenntnisse dieses Buches nicht. Der französische Autor und Regisseur Quentin Domart produzierte eine Dokumentation über das Ahnenerbe einschließlich des Verbrechens der Schädelsammlung. In dieser im Sommer 2017 mit großem Erfolg ausgestrahlten Produktion wurden auch die Hintergründe des Verbrechens der Schädelsammlung und die Rolle der Beteiligten einem Publikum näher gebracht, das weit über Fachkreise hinausgeht. Das ehrliche Interesse am Thema, die Aufgeschlossenheit für neue Gedanken und der rege Austausch über Monate bei der Stoffentwicklung waren eine große Freude. Denn es ist angemessen und notwendig, dass Filmschaffende – bei aller Wichtigkeit von Quoten – auch sensibel mit dem Schicksal der Opfer umgehen. Dazu gehört das Darstellen von Fakten zu Lasten der Suche nach Sensationen. Für ein derartiges Gelingen und die Einbindung der vorliegenden Ergebnisse sei Quentin Domart gedankt. Die Offenheit für neue Ergebnisse zeichnet auch Dr. Michael Fahlbusch aus. Der Mitherausgeber der zweiten, erweiterten Auflage des „Handbuchs der Völkischen Wissenschaften“ publizierte einige Ergebnisse dieses Buches in drei Handbuchartikeln. Diese Themen wurden von seinen Mitherausgebern und ihm zur Vorstellung auf einer wissenschaftlichen Tagung ausgewählt, die aus Anlass der Vorstellung des Handbuchs im September 2017 in Berlin stattfand. Michael Fahlbusch hat mir über inhaltliche Aspekte hinaus wichtige Anregungen gegeben, wofür ich ihm danke. Das Verbrechen der Straßburger Schädelsammlung ist ein grausames Verbrechen, vor allem aber ein nationalsozialistisches Verbrechen. Zahlreiche Experten, gerade unter Juristen und Medizinern, gaben mir wertvolle Ratschläge, interpretierten fachliche Sachverhalte und steuerten Erkenntnisse bei. Ich respektiere deren Wunsch, nicht im Zusammenhang mit – so nannten dies nicht wenige – „Nazi-Horror“ namentlich genannt zu werden. Gerade aufgrund dieser Vorbehalte, sich in der Nähe der NS-Geschichte verortet zu sehen, fällt mein Dank für das dennoch gezeigte große Engagement besonders herzlich aus. Dieser Dank schließt auch all jene ein, die hier nicht genannt wurden, deren Unterstützung jedoch nicht vergessen ist – von den

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Mitarbeitern bei Polizei- und Strafverfolgungsbehörden und Ministerien bis zu Probelesern und jenen, die mir wahrend derBefassungmit einem solch grausigen Sujet immer wieder Ablenkung, Zuversicht und Ausgleich boten. Zu den hier nicht genannten Personen gehören auch alljene universitären Rechtwissenschaftler, die zum Gelingen der in Bälde erscheinenden rechtswissenschaftliehen Version der erarbeiteten Erkenntnisse beitragen. ln jener Publikation wird ihr Beitrag umfassend gewürdigt werden. Ein besonderer Dank geht an Dr. Raphael Toledano in Strasbourg, der 2016 einen sehr gut recherchierten Aufsatz veröffentlichte. Dieser hatte zum Gegenstand, wie August Hirt Leichen für den medizinischen Lehrbetrieb aus verschiedensten Quellen beschafft hatte. Die medizinische Ausbildung am Bürgerspital in Straßburg und die dafür benötigten Leichen stehen nicht im Mittelpunkt dieses Buches über die Schädelsammlung. Jedoch vermitteln sie ein Bild von der Art und Weise, wie Hirt die Anatomie führte und finden daher am Rande Erwähnung. Schon zwei Jahre vor seiner Veröffentlichung gab mir Raphael Toledano wertvolle Hinweise unter anderem bezüglich des nahe der Anatomie gelegenen Reservelazarett I des Wehrkreises V und der von dort bezogenen Leichen. Der Abgleich der von uns beiden recherchierten Quellen, die erfreulicherweise nicht immer identisch waren, war ebenso hilfreich, wie bereichernd. Seit dem Erscheinen dieser 2. Auflage ist das Buch vielfach und in für den Autor sehr erfreulicher Weise besprochen worden. Allen Rezensenten sei auf diesem Wege ganz herzlich dafür gedankt, dass sie sich die Zeit genommen haben, sich mit dem Buch, vor allem aber den dargelegten neuen Erkenntnissen zu befassen. Mein ganz besonderer Dank gilt dem Verfasser der ersten Rezension, Herrn Professor Dr. Wolfgang Benz, dessen Besprechung in der Süddeutschen Zeitung Maßstäbe gesetzt hat. Seine Rezension, die mit den Worten „Seriöse Wissenschaft – das zeigt Reitzenstein – kann Augen öffnen“ schließt, findet sich neben allen anderen Rezensionen und weiterführenden Informationen zu Buch und Inhalt auf www.skull-collection.com. Mein besonderer Dank gilt den Rezensenten Sven-Felix Kellerhoff (DIE WELT und Dr. Nikoline Hansen (Jüdische Rundschau). Ihre jeweils ganz eigenen Sichtweisen auf das Buch zeigen, dass auch wissenschaftliche Monographien über dunkelste Kapitel der Geschichte über die Fachwelt hinaus breite Leserkreise zu interessieren vermögen. Das wissenschaftliche Korrektorat verdanke ich Herrn Christoph Roolf in Düsseldorf, der mit großem Engagement, aber auch tiefer Sachkenntnis zur Geschichte des NS-Regimes zum Gelingen dieses Buches beigetragen hat. Die für eine solche Tätigkeit notwendige Akribie und auch Geduld haben mich immer wieder angenehm beeindruckt.

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Zu guter Letzt danke ich meinem Lektor Dr. Andreas Beck vom Verlagshaus Duncker & Humblot, der auch in jenen Phasen von Buch und Autor überzeugt blieb, als nicht absehbar war, dass sich die zwischen Juni 2016 und Februar 2017 entspinnende Kontroverse um mein Buch „Himmlers Forscher“ im August 2017 als das erweisen würde, was sie letztlich nur war. Zwischenzeitlich hat dieses Buch nach gut vier Jahren eine 2. Auflage erhalten und seine Akzeptanz bei Historikern und Geschiehtsexperten ist erfreulich. Als auch für das Buch „Das SS-Ahnenerbe und die ‚Straßburger Schädelsammlung‘ – Fritz Bauers letzter Fall“ die Entscheidung für eine 2. Auflage fiel, war das erfreulich. Dass dies nur zehn Monate nach Erscheinen des Buches notwendig war, war jedoch eine besondere Freude. Dieser Erfolg wäre nicht möglich gewesen ohne das zugewandte und engagierte Team im Hause Duncker & Humblot, das sich unermüdlich um alle Erfordernisse gekümmert hat, die sich durch die zahlreichen Vorträge, Lesungen und Presseanfragen ergaben. Ob im Rahmen der Erstveröffentlichung oder der 2. Auflage – stets konnte ich mich auf die zuverlässige und pragmatische Herangehensweise von Andreas Beck bei Lektorat und Veröffentlichung verlassen.