Das regulierte Gen: Implikationen der Epigenetik für Biophilosophie und Bioethik 9783495813331, 9783495489338


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Table of contents :
Das regulierte Gen
Inhalt
Danksagung
Lesehinweise
Siglen
Einleitung
Teil 1: Zur Erweiterung des Genbegriffes
Kapitel I: Der Genbegriff im Wandel
1 Skizze des „Jahrhunderts des Gens“
1.1 Klassische Genetik – transgenerationale Transmission hypothetischer Gene
1.2 Molekulargenetik – Struktur und Funktion von materialen Genen
2 Krise des Genbegriffs im aktuellen Zeitbezug
2.1 Rekapitulation der Genbegriffe
2.2 Krise des Genbegriffs
2.3 Aktueller Zeitbezug
3 Genbegriffe der Postgenomik
3.1 Aufgabe des klassischen molekularen Gens
3.2 Ersatz des klassischen molekularen Gens
3.3 Entkopplung unterschiedlicher Genbegriffe
3.4 Erweiterung des klassischen molekularen Gens
4 Nach dem „Jahrhundert des Gens“
Kapitel II: Das Gen als Entwicklungseinheit
1 Philosophische Vorbedingungen: Zur Realität des Gens
1.1 Existieren Gene
1.2 Biophilosophische Positionen
1.3 Gene als entwickelte Kulturdinge
2 Prozessperspektive: Das Gen als Entwicklungseinheit
2.1 Prozessperspektive der Postgenomik
2.2 Molekulares Wirkungskontinuum
2.3 Reichweite der Statusverschiebung
2.4 Gen als Entwicklungseinheit
3 Epigenetik: Das regulierte Gen
3.1 Allgemeine Mechanik: Strukturänderungen der DNS
3.2 Spezielle Mechanik: Modifikationen auf DNS-, RNS- und Proteinebene
3.2.1 DNS-Modifizierungen
3.2.2 Histon-Modifizierungen
3.2.3 RNS-Interferenz
3.3 Epigenetische Vererbung als Vererbung von Entwicklungszuständen
3.3.1 Ontogenetische (mitotische) Vererbung
3.3.2 Transgenerationale (meiotische) Vererbung
3.3.3 Epigenetik und die „Vererbung erworbener Eigenschaften“
Kapitel III: Das Gen als Determinante
1 Theoretische Aspekte
1.1 Reduktion und Determination
1.2 Gendeterminismus
1.3 Genfatalismus
2 Historische Aspekte
2.1 Denktraditionen zur Entwicklung
2.1.1 Theorien des Präformismus
2.1.2 Theorien der Epigenesis
2.2 Zwei Epigenetikbegriffe
2.2.1 Waddingtons Synthesekonzept
2.2.2 Molekulares Raumkonzept
3 Epigenetik und Gendeterminismus
3.1 Einfacher Gendeterminismus
3.1.1 Unidirektionaler Informationsfluss
3.1.2 Verschränkte Informationssysteme
3.2 Verdeckter Gendeterminismus
3.2.1 Asymmetrische Informationsinteraktion
3.2.2 Konstruktion von Information
Kapitel IV: Das Gen im Kontext
1 Erweiterter Genbegriff
2 Neuer Umweltdeterminismus?
3 Bedeutung des Organismus
4 Bedeutung der Umwelt
5 Eingebettete Körper
6 Gefährdete Organismen
Teil 2: Zur Ethik der Epigenetik
Kapitel I: Der öffentliche Diskurs zur Epigenetik
1 Vorbedingungen zu einer Diskursanalyse
1.1 Grund der Diskursanalyse und Verortung
1.2 Methodik zur Analyse des öffentlichen Diskurses
1.3 Eingrenzung des Analyseobjekts
2 Einflussbereich der Medienmacher
2.1 Kommunikatoren: Wissenschaftserfahrene Publizisten
2.2 Aussagen: Epochenwandel, Steuerbarkeit und Verantwortung
2.3 Medium: Populärwissenschaftliche Ratgeberliteratur
3 Einflussbereich der Medienrezipienten
3.1 Effekt: Epigenetik ist Eigenverantwortung
3.2 Kontext: Eigenverantwortung im Zeitgeschehen
3.2.1 Kultureller Wertbegriff: Eigenverantwortung als Selbstentfaltung
3.2.2 Politischer Reformbegriff: Eigenverantwortung als Aktivierung
3.2.3 Soziologisches Forschungsobjekt: Eigenverantwortung als Subjektivierung
3.3 Rezipient: Zwischen Aktivierung und Selbstregulierung
Kapitel II: Die theoretischen Verantwortungsbedingungen
1 Historische Entwicklung von Verantwortung in der (Bio-)Ethik
2 Theoretische Aspekte der Zuschreibung von Verantwortung
2.1 Verantwortung als Zuschreibungsbegriff
2.2 Rechtfertigung der Zuschreibung
3 Handlungstheoretische Aspekte von Verantwortung
3.1 Handlungsbedingungen als Verantwortungsbedingungen
3.2 Logisch/temporale Bedingungen: Prospektive und retrospektive Verantwortung
3.3 Psychische Aspekte: Das Risiko als Folge der Verantwortungsübernahme
4 Anwendungsbezogene Auslegung: Das Relationsmodell als Analyseinstrument
4.1 Verantwortungssubjekt: Ein Akteur, mehrere Akteure, oder Institutionen?
4.2 Verantwortungsobjekt: Behandelte Personen oder Handlungen von Personen?
4.3 Verantwortungsinstanz: Gewissen oder Vernunft?
4.4 Verantwortungsnorm: Bestehende Normen oder empirisches Wissen?
5 Worauf bezieht sich Eigenverantwortung?
Kapitel III: Die empirischen Verantwortungsbedingungen
1 Verantwortungsreichweite: Zur Stabilität der epigenetischen Modifizierungen
1.1 Epigenetische Entwicklung beim Menschen
1.2 Epigenetische Vererbung beim Menschen
1.3 Entwicklung vor Vererbung
2 Handlungsbereich: Das Metabolische Syndrom als Fallbeispiel
2.1 Vorverortung: Die Themenbereiche der klinischen Epigenetik
2.2 Verantwortungskontext: Das Metabolische Syndrom
2.3 Denktraditionen: Vom genetischen zum epigenetischen Verursachungsdenken
2.4 Zwei konkurrierende ätiologische Modelle
2.4.1 Adaptionsmodell: Predictive Adaptive Response
2.4.2 Prägungsmodell: Adaptive Predictive Response
Kapitel IV: Das Verantwortungsnetzwerk
1 Überblick und Ausgang
1.1 Für eine frühzeitige Verantwortungsdebatte
1.2 Prävention als Ausgangsbasis
1.3 Faktor Zeit als Präventionskennzeichen
2 Individualethik und Verhaltensprävention: Zur Rolle der Eigenverantwortung
2.1 Handlungsbereiche im Lichte epigenetischer Ätiologien
2.2 Ausgangstheorie und Ausschluss der Eigenverantwortung
2.3 Möglichkeiten und Grenzen der Verantwortung von Schwangeren
3 Sozialethik und Verhältnisprävention: Über ein Verantwortungsnetzwerk
3.1 Akteur/Struktur-Modell als Ermittlungsheuristik
3.2 Verantwortungsakteure universeller Primärprävention
3.3 Verantwortungsakteure zielgruppenspezifischer Primärprävention
Zusammenfassung
Glossar
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
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Das regulierte Gen: Implikationen der Epigenetik für Biophilosophie und Bioethik
 9783495813331, 9783495489338

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Lebenswissenschaften im Dialog

24

Sebastian Schuol

Das regulierte Gen Implikationen der Epigenetik für Biophilosophie und Bioethik

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495813331

.

B

LEBENSWISSENSCHAFTEN IM DIALOG

A

https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

Lebenswissenschaften im Dialog Herausgegeben von Kristian Köchy und Stefan Majetschak Band 24

https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

Sebastian Schuol

Das regulierte Gen Implikationen der Epigenetik für Biophilosophie und Bioethik

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

Sebastian Schuol The regulated gene Implications of epigenetics for biophilosophy and bioethics Epigenetics, a subdiscipline of molecular biology, has brought about a change in thinking about genetic causation. In light of its insights into gene regulation, the understanding of genes is changing form static object-units to dynamic process-units. Given a molecular continuum of cause and effect, the environment, which is now understood to be gene-regulating, is no longer an external factor, but a constitutive element of the concept of the gene. Accordingly, the lifestyle of any individual has considerable influence on its genetic manifestation. In fact, an increasing demand for more personal responsibility is formulated within the public discourse on epigenetics, which takes place alongside the expert discourse. The present study addresses these developments and discusses theoretical and practical implications of this epistemic change.

The Author: Sebastian Schuol (born 1977) studied philosophy and molecular genetics in Erlangen and Tübingen and received a scholarship from the DFG Research Training Group ›Bioethics‹ at the International Centre for Ethics in Sciences (IZEW) in Tübingen. He worked as coordinator of the project group EURAT (Ethical and Legal Aspects of Whole Genome Sequencing) based at the scientific location of Heidelberg and is currently working in the area of philosophy of science for ZiWiS (Center for Applied Philosophy of Science and Key Qualifications) at the University of ErlangenNürnberg. Among his publications are contributions to the theory of biology, in particular to epi-/genetics and evolutionary theory, and their implications for bioethics.

https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

Sebastian Schuol Das regulierte Gen Implikationen der Epigenetik für Biophilosophie und Bioethik Die molekularbiologische Subdisziplin Epigenetik leitet einen Wandel im genetischen Verursachungsdenken ein. Im Lichte des neuen Wissens um die Genregulation ändert sich das Verständnis vom Gen von einer statischen Ding-Einheit zu einer dynamischen Prozess-Einheit. Angesichts eines molekularen Wirkungskontinuums gilt die nun genregulativ verstandene Umwelt nicht mehr als externer Faktor, sondern als konstitutives Element des Genbegriffs. Danach hat die Lebensweise des Individuums einen erheblichen Einfluss auf seine genetische Ausprägung. Tatsächlich wird im den Fachdiskurs begleitenden öffentlichen Epigenetikdiskurs bereits eine Forderung nach mehr Eigenverantwortung laut. Die vorliegende Arbeit greift diese Entwicklungen auf und diskutiert die theoretischen und praktischen Folgen des epistemischen Wandels.

Der Autor: Sebastian Schuol (geb. 1977) studierte Philosophie und Molekulargenetik in Erlangen und Tübingen und war Stipendiat am DFG-Graduiertenkolleg Bioethik am IZEW (Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften) in Tübingen. Er arbeitete als Koordinator der am Wissenschaftsstandort Heidelberg angesiedelten Projektgruppe EURAT (Ethische und rechtliche Aspekte der Genomsequenzierung des menschlichen Genoms) und ist gegenwärtig im Bereich Wissenschaftsreflexion am ZiWiS (Zentralinstitut für Wissenschaftsreflexion und Schlüsselqualifikationen) an der Universität Erlangen-Nürnberg tätig. Zu seinen Veröffentlichungen zählen diverse Beiträge zur Theorie der Biologie, speziell der Epi-/Genetik und Evolutionstheorie, und zu ihren Folgen für die Bioethik.

https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Graduiertenkolleg 889: Bioethik – Zur Selbstgestaltung des Menschen durch Biotechniken.

®

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FSC® C083411

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: Frank Hermenau, Kassel Einbandgestaltung: Ines Franckenberg Kommunikations-Design, Hamburg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-495-48933-8 E-ISBN: 978-3-495-81333-1 https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesehinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 15 16 17

Teil 1: Zur Erweiterung des Genbegriffes Kapitel I: Der Genbegriff im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Skizze des „Jahrhunderts des Gens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Klassische Genetik – transgenerationale Transmission hypothetischer Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Molekulargenetik – Struktur und Funktion von materialen Genen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Krise des Genbegriffs im aktuellen Zeitbezug . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Rekapitulation der Genbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Krise des Genbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Aktueller Zeitbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Genbegriffe der Postgenomik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Aufgabe des klassischen molekularen Gens . . . . . . . . . . . . 3.2 Ersatz des klassischen molekularen Gens . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Entkopplung unterschiedlicher Genbegriffe . . . . . . . . . . . . 3.4 Erweiterung des klassischen molekularen Gens . . . . . . . . 4 Nach dem „Jahrhundert des Gens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40 48 48 51 55 60 61 62 65 66 69

Kapitel II: Das Gen als Entwicklungseinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Philosophische Vorbedingungen: Zur Realität des Gens . . . . 1.1 Existieren Gene? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Biophilosophische Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Gene als entwickelte Kulturdinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Prozessperspektive: Das Gen als Entwicklungseinheit . . . . . . 2.1 Prozessperspektive der Postgenomik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Molekulares Wirkungskontinuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Reichweite der Statusverschiebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Gen als Entwicklungseinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75 75 75 76 82 84 85 87 92 96

https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

31 31 31

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Inhalt

3 Epigenetik: Das regulierte Gen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Allgemeine Mechanik: Strukturänderungen der DNS 3.2 Spezielle Mechanik: Modifikationen auf DNS-, RNSund Proteinebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 DNS-Modifizierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Histon-Modifizierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 RNS-Interferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Epigenetische Vererbung als Vererbung von Entwicklungszuständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Ontogenetische (mitotische) Vererbung . . . . . . . . . 3.3.2 Transgenerationale (meiotische) Vererbung . . . . . . 3.3.3 Epigenetik und die „Vererbung erworbener Eigenschaften“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel III: Das Gen als Determinante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Theoretische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Reduktion und Determination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Gendeterminismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Genfatalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Historische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Denktraditionen zur Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Theorien des Präformismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Theorien der Epigenesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Zwei Epigenetikbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Waddingtons Synthesekonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Molekulares Raumkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Epigenetik und Gendeterminismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Einfacher Gendeterminismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Unidirektionaler Informationsfluss . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Verschränkte Informationssysteme . . . . . . . . . . . . . 3.2 Verdeckter Gendeterminismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Asymmetrische Informationsinteraktion . . . . . . . . 3.2.2 Konstruktion von Information . . . . . . . . . . . . . . . . .

119 119 119 124 131 133 134 134 138 142 142 147 150 150 150 154 161 161 164

Kapitel IV: Das Gen im Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Erweiterter Genbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Neuer Umweltdeterminismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Bedeutung des Organismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Bedeutung der Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Eingebettete Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Gefährdete Organismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

167 167 171 175 182 187 191

https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

99 100 103 103 105 106 109 110 112

Inhalt

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Teil 2: Zur Ethik der Epigenetik Kapitel I: Der öffentliche Diskurs zur Epigenetik . . . . . . . . . . . . 1 Vorbedingungen zu einer Diskursanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Grund der Diskursanalyse und Verortung . . . . . . . . . . . . 1.2 Methodik zur Analyse des öffentlichen Diskurses . . . . . 1.3 Eingrenzung des Analyseobjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Einflussbereich der Medienmacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Kommunikatoren: Wissenschaftserfahrene Publizisten 2.2 Aussagen: Epochenwandel, Steuerbarkeit und Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Medium: Populärwissenschaftliche Ratgeberliteratur . . 3 Einflussbereich der Medienrezipienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Effekt: Epigenetik ist Eigenverantwortung . . . . . . . . . . . . 3.2 Kontext: Eigenverantwortung im Zeitgeschehen . . . . . . 3.2.1 Kultureller Wertbegriff: Eigenverantwortung als Selbstentfaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Politischer Reformbegriff: Eigenverantwortung als Aktivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Soziologisches Forschungsobjekt: Eigenverantwortung als Subjektivierung . . . . . . . . 3.3 Rezipient: Zwischen Aktivierung und Selbstregulierung

197 197 197 200 203 205 205

Kapitel II: Die theoretischen Verantwortungsbedingungen . . . 1 Historische Entwicklung von Verantwortung in der (Bio-)Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Theoretische Aspekte der Zuschreibung von Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Verantwortung als Zuschreibungsbegriff . . . . . . . . . . . . . 2.2 Rechtfertigung der Zuschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Handlungstheoretische Aspekte von Verantwortung . . . . . . 3.1 Handlungsbedingungen als Verantwortungs bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Logisch/temporale Bedingungen: Prospektive und retrospektive Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Psychische Aspekte: Das Risiko als Folge der Verantwortungsübernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Anwendungsbezogene Auslegung: Das Relationsmodell als Analyseinstrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Verantwortungssubjekt: Ein Akteur, mehrere Akteure, oder Institutionen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

4.2 Verantwortungsobjekt: Behandelte Personen oder Handlungen von Personen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Verantwortungsinstanz: Gewissen oder Vernunft? . . . . 4.4 Verantwortungsnorm: Bestehende Normen oder empirisches Wissen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Worauf bezieht sich Eigenverantwortung? . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel III: Die empirischen Verantwortungsbedingungen . . . . 275 1 Verantwortungsreichweite: Zur Stabilität der epigenetischen Modifizierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 1.1 Epigenetische Entwicklung beim Menschen . . . . . . . . . . 276 1.2 Epigenetische Vererbung beim Menschen . . . . . . . . . . . . 284 1.3 Entwicklung vor Vererbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 2 Handlungsbereich: Das Metabolische Syndrom als Fallbeispiel 295 2.1 Vorverortung: Die Themenbereiche der klinischen Epigenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 2.2 Verantwortungskontext: Das Metabolische Syndrom . . 298 2.3 Denktraditionen: Vom genetischen zum epigenetischen Verursachungsdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 2.4 Zwei konkurrierende ätiologische Modelle . . . . . . . . . . . 308 2.4.1 Adaptionsmodell: Predictive Adaptive Response . . 308 2.4.2 Prägungsmodell: Adaptive Predictive Response . . 311 Kapitel IV: Das Verantwortungsnetzwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Überblick und Ausgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Für eine frühzeitige Verantwortungsdebatte . . . . . . . . . . 1.2 Prävention als Ausgangsbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Faktor Zeit als Präventionskennzeichen . . . . . . . . . . . . . . 2 Individualethik und Verhaltensprävention: Zur Rolle der Eigenverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Handlungsbereiche im Lichte epigenetischer Ätiologien 2.2 Ausgangstheorie und Ausschluss der Eigenverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Möglichkeiten und Grenzen der Verantwortung von Schwangeren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Sozialethik und Verhältnisprävention: Über ein Verantwortungsnetzwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Akteur/Struktur-Modell als Ermittlungsheuristik . . . . . 3.2 Verantwortungsakteure universeller Primärprävention 3.3 Verantwortungsakteure zielgruppenspezifischer Primärprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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Inhalt

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Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414

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Danksagung

Mein herzlicher Dank geht an meine Doktormutter, Frau Prof. Dr. Eve-Marie Engels, welche mich bestärkt hat, meinen eigenen Forschungsfragen nachzugehen und mir bei deren Ausarbeitung sämtliche Freiheiten gelassen hat. Die Gespräche mit ihr waren äußerst fruchtbar und wichtige Marksteine auf dem langen Weg. Sie hat diese Arbeit von Beginn an ermöglicht und für ihre anhaltende Unterstützung fühle ich mich zu tiefem Dank verpflichtet. Auch möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Thomas Potthast herzlich bedanken, welcher stets ein offenes Ohr für meine Fragen hatte und als zweiter Betreuer entscheidend zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen hat. Frau Prof. Dr. Vera Hemleben bin ich zutiefst dankbar, da sie mir stets interessiert und hilfsbereit beim Abschluss der Arbeit mit großer Kompetenz bei Fachfragen und Korrekturarbeiten zur Seite stand. Weiterhin danke ich Herrn Prof. Dr. Reiner Wimmer für seine hilfreiche Unterstützung und für wesentliche Hinweise zu dieser Arbeit. Für das sorgfältige Lektorat möchte ich Barbara Hallmann danken, für weitere Korrekturarbeiten Dr. Mone Spindler und für ihre ausdauernde Aufmunterung und Unterstützung Eva Nerreter. Ich danke der DFG, die mich als Stipendiat des Graduiertenkollegs Bioethik am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften in Tübingen förderte. Mein größter Dank geht an meine Familie, meine Mutter und meinen Bruder, welche mir beide viel Kraft gegeben haben, in einer für sie sehr schweren Zeit. Ihnen möchte ich dieses Buch widmen.

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Lesehinweise

Der Gesamtzusammenhang der einzelnen Kapitel wird zu Anfang in der Einleitung dargestellt. Um Redundanzen zu vermeiden, wird in den einzelnen Kapiteln nur auf die Teilschritte eingegangen. Die Argumentationsziele werden am Anfang des Gliederungspunktes in einem einleitenden Absatz dargestellt – dies gilt des Weiteren für jeden Teil- und Gliederungspunkt. Um Missverständnissen vorzubeugen, wurde – von abweichenden Zitaten ausgeschlossen – einheitlich der Begriff DNS statt DNA und RNS statt RNA verwendet. Die Zitate wurden soweit möglich auf Deutsch übernommen. Um den Lesefluss nicht unnötig zu behindern wurden die zum Teil deutlich von der aktuellen Schreibweise abweichenden Begriffe angeglichen. Hinweise zur Literatur erfolgen durch die Angabe von Autor, Erscheinungsjahr und Seitenzahl (Müller 2000, 66). Interne Textverweise erfolgen durch Angabe des Teils, Kapitels und Gliederungspunktes (2, III, 2.1).

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Siglen

APR CpG DNS DOHAD dsRNS DST DT2 eGD EIS Gene D Gene P GG GKV HGP KG KMG MBS ORF PAR PMG PrävG PTGS RNS RNSi S. Sch. SGB SGP siRNS TGS VeE vGD

Adaptive Predictive Response Cytosin-phosphatidyl-Guanosin Desoxyribonukleinsäure Developmental Origins of Health and Disease doppelsträngige RNS Developmental Systems Theory Diabetes Typ 2 einfacher Gendeterminismus epigenetic inheritance systems Gene Development Gene Preformation Grundgesetz Gesetzliche Krankenversicherung Humangenomprojekt Klassisches Gen Klassisch Molekulares Gen Metabolisches Syndrom open reading frame Predictive Adaptive Response Process Molecular Gene Präventionsgesetz posttranscriptional gene silencing Ribonukleinsäure RNS-Interferenz Sebastian Schuol Sozialgesetzbuch slow growth period small interfering RNS transcriptional gene silencing Vererbung erworbener Eigenschaften verdeckter Gendeterminismus

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Einleitung

Die Genetik und ihre Begriffe, allen voran das Gen, prägen seit über einem Jahrhundert das biologische Denken in Wissenschaft und Öffentlichkeit und es ist davon auszugehen, dass ihre Bedeutung im gegenwärtigen „Jahrhundert der Lebenswissenschaften“ (Bauer et al. 2013) zunehmen wird. Gleich dem Atom in der Physik kommt dem Gen in den Lebenswissenschaften (Biologie, Medizin, Biochemie, -physik, Neurowissenschaften etc.) eine fundamentale Bedeutung zu. Beide stellen Grundeinheiten des jeweiligen Denkens dar, beide teilen etwa im Hinblick auf ihre technische Modifizierbarkeit das Schicksal einer unruhigen Vergangenheit, beide prägten die Forschung, sowohl als Ausgangsbasis als auch als Forschungsobjekt. Als Ausgangsbasis steht das Gen gegenwärtig z. B. im Rahmen eines molekularen Medizinverständnisses im Fokus, wenn in der Krebsforschung Genmutationen mit Tumorerkrankungen assoziiert werden und individuelle Abweichungen in der Basensequenz der DNS die Diagnose, Prognose und Therapie bestimmen (personalisierte Medizin). Die Lebenswissenschaften insgesamt teilen eine molekulare Sichtweise, und auf der untersten Ebene steht das auf der DNS lokalisierte Gen. Das Gen war aber stets auch Objekt der Forschung. Mit dem fortschreitenden Wissen ändert sich sein Verständnis und daher muss immer wieder aufs Neue gefragt werden, was genau unter einem Gen verstanden wird. Besonders eindrücklich verdeutlicht dies eine Datenbank der biologischen Grundbegriffe, welche gegenwärtig 49 verschiedene Definitionen zum Gen aufführt.1 Aus historischer Perspektive ist das Gen ein „Konzept in Spannung“ (Falk 2000) und befindet sich seit seiner Einführung im Jahre 1909 durch den dänischen Botaniker Wilhelm Johannsen in einem Transformationsprozess. Diese Arbeit wendet sich einer neuen, tiefgreifenden

1

http://www.biological-concepts.com/views/search.php?term=593 (Abruf: 31.03. 2017).

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Veränderung des Genbegriffes zu. Ähnlich dem Atombegriff führen Erkenntnisse auf tieferliegender Ebene zu einer neuen Debatte. Eine kurze Übersicht soll diesen Wandel verdeutlichen. Die Geschichte der Genetik lässt sich in Epochen einteilen, wobei jede Epoche ihre Begriffe vom Gen hat (Müller-Wille & Rheinberger 2009b, 167-279). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts und nach Ablauf des Humangenomprojekts spricht man von der Epoche der Postgenomik (Müller-Wille & Rheinberger 2009a). Nach diesem letzten die Biologie ausrichtenden Forschungsprogramm und seinem erreichten Ziel, der Sequenzierung des Humangenoms, stellt die Entschlüsselung der Basensequenz keine offene Forschungsfrage mehr dar. Doch werden diese Erkenntnisse zur Ausgangsbasis für neue Fragen und Forschungsthemen: Im nun folgenden Forschungsprogramm der Systembiologie interessiert sich die Forschung entsprechend nicht mehr für die Struktur, sondern für die Funktion der Basensequenz.2 Hier steht die Frage im Zentrum, wie die DNS im physiologischen Gesamtzusammenhang des Organismus verstanden werden kann, d. h. wie sie „funktioniert“, einerseits im Hinblick auf ihre Wirkung auf den Organismus, andererseits – und das ist neu – im Hinblick auf die reziproke Wirkung des Organismus und dessen Umweltbezüge. Neben solchen Rückkopplungen steht die Interaktion der DNS mit den übrigen molekularen Entitäten im Fokus und prägt den Genbegriff. Indem sich die Systembiologie der systematischen Untersuchung der verschiedenen molekularen Funktionsebenen einer Zelle zuwendet (entlang der „Omics“ als neuer Disziplinen: Proteom, Genom, etc.), ändert sich das Verursachungsdenken von einem linearen Kausalprozess zu einem Netzwerkdenken. Letzteres wirkt in gewisser Hinsicht nivellierend: Im Hinblick auf die untersuchten Interaktionen stellt die DNS nicht mehr die zentrale, sondern nur noch eine von vielen Funktionsebenen dar und ist mit diesen in einem gesamtorganismischen Funktionskontext verbunden. Das Besondere an dieser physiologischen Sicht ist, dass nun alle molekularen Faktoren in einem Interaktionsprozess zusammenhängend verstanden werden, wobei Änderungen auf einer Ebene Folgeän2 Die Systembiologie wurde früh von dem Systemtheoretiker Ludwig von Ber­ talanffy (1968) entwickelt. Hier ist aber die molekulare Systembiologie gemeint, welche gegenwärtig die meisten biologischen Forschungsbereiche durchdringt und das Humangenomprojekt sowohl im Ausmaß als auch in seiner Bedeutung als Forschungsprogramm ablöst.

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derungen auf einer anderen Ebene nach sich ziehen und somit das gesamte System beeinflussen. Die Systembiologie leitet also einen epistemischen Wandel ein und lenkt die Aufmerksamkeit auf ein Wirkungskontinuum. Zu diesem Wandel hat insbesondere die Epigenetik beigetragen, deren disziplinäre Entwicklung den Übergang in die Postgenomik eindrücklich demonstriert. Zwar wurden der Begriff Epigenetik und ein Forschungsprogramm bereits in den 1940er Jahren durch den britischen Genetiker und Embryologen Conrad Waddington zur Erforschung der genetischen Wechselwirkungen, welche die Entwicklung des Phänotyps bestimmen, in die Biologie eingeführt und auch danach gab es einzelne Forschungsprojekte ähnlicher Ausrichtung, doch entfalteten diese keine Breitenwirkung. Der Durchbruch der Epigenetik zu einem eigenständigen Forschungsfeld gelang erst nach der Jahrtausendwende. Seitdem erlebt die Epigenetik einen erstaunlichen Aufstieg und zugleich geht damit ein grundsätzlicher Denkwandel in den Lebenswissenschaften einher (Weinhold 2006). Das gegenwärtig neu entstehende Forschungsfeld der Epigenetik ist ein Teilbereich der Molekulargenetik und widmet sich der Erforschung der langfristigen Genregulation. Bisher wurden bereits grundlegende molekulargenetische Regelmechanismen auf den Wirkebenen DNS (Methylierung), RNS (RNS-Interferenz) und Protein (Histonmodifizierung) erkannt (Youngson & Whitelaw 2008). Die vielfachen Zuwendungen zur Erforschung ihrer Interaktion verdeutlichen einmal mehr das systembiologische Paradigma. Neu an diesem Wissen ist, dass Gene im Hinblick auf ihre Funktion (Biosynthese von Protein) in zwei Modi vorkommen, aktiv oder inaktiv. Das davor primär durch die Basensequenz bestimmte Verständnis eines Gens wird dadurch erweitert, aber auch relativiert: Sofern nämlich ein DNS-Abschnitt inaktiv vorliegt, kann er keine phänotypische Wirkung entfalten.3 Die in der DNS gespeicherte Information stellt nur eine Seite der Medaille dar und wird durch die epigenetische Genregulation komplettiert. Eine Vielzahl von Forschungsfeldern aus den Lebenswissenschaften erhofft sich tiefere Einsichten durch die Erkenntnisse in der Epigenetik. Zu ihnen gehören etwa die Stammzell- und Krebsforschung, Reproduktionsmedizin, Human- und Entwicklungsgenetik, Evolutions3 Liegen Gene, deren Produkte z. B. bei der Herstellung von Melanin beteiligt sind, inaktiv vor, kann letzteres trotz genetischer Veranlagung nicht aufgebaut werden. Das hat phänotypische Folgen (helle Haare, Haut, Augenfarbe).

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biologie, Ernährungsepidemiologie, Psychiatrie und Neurologie. Im Zentrum all dieser Unternehmungen steht die Frage, wie Umwelteinflüsse Genaktivität regulieren.4 Die Epigenetik widmet sich der Schnittstelle zwischen externen Umweltfaktoren und internen genregulativen Wirkungen auf die DNS und erweitert auf diese Weise das Verständnis der genetischen Prozesse. Dieser durch die Epigenetik eingeleitete „Außenbezug“ des Gens hat eine Bedeutung, welche über die Biologie hinausgeht. Von Ethikern wurde an diversen früheren Gendiskursen kritisiert, dass die Kontextbezüge außer Acht gelassen würden. Damit wird behauptet, wesentliche Schwierigkeiten lösten sich auf, wenn erst der Kontext, also die biologische Eingebundenheit in eine Umwelt, in die Betrachtung einfließen würde. Eine zentrale Schwierigkeit in der Gentechnik (Beckmann 2009), Gentherapie (Graumann 2000) oder Pharmakogenetik (Marx-Stölting 2007) wurde entsprechend in der Reduktion der biologischen Bezüge auf die DNS, bzw. der Ausblendung der epigenetischen Zusammenhänge erkannt. Früh wurde die Epigenetik, über die zu diesem Zeitpunkt übrigens noch wenig bekannt war, als Inbegriff für eine die Komplexität der Bezüge erfassende und daher angemessene biologische Beschreibungsweise erhofft und mit ihr wurde ein Paradigmenwechsel vorausgesagt, der die bestehenden Schwierigkeiten lösen würde (Strohman 1997). Die Epigenetik nimmt bereits im Vorfeld die Rolle eines „Problemlösers“ ein und droht damit überfrachtet zu werden. Ein ähnliches Verständnis findet sich gegenwärtig, in der Etablierungsphase der Epigenetik, auch im öffentlichen Diskurs, sodass die Epigenetik insgesamt positiv konnotiert ist (Seitz & Schuol 2016). Auch in den Medien wird die Epigenetik zumeist im Kontrast zu genetischen Reduktionen dargestellt und euphorisch gefeiert; die Erweiterung des Genbegriffs durch die Epigenetik wird als Chance gesehen. Umso mehr, da – mag man aktuellen Schlagzeilen glauben – ein vormals vor allem gendeterministisches Verständnis durch das neue Wissen der Epigenetik aufgehoben wird und aus einem tief verwurzelten genetischen Fatalismus führt. Die Erkenntnisse

4 Diese erforschen die sog. environmental epigenetics: Zentral sind die Publika­ tionen von Waterland & Jirtle (2003; 2004) zu sog. Agouty-Mäusen: Mittels Ernährungsdiät (folatreiche Kost) wurden bei diesen spezifische Gene aktiviert und transgenerational stabile phänotypische Änderungen (Fellfarbe, Gewicht) induziert. Michael Meany und Moshe Szyf zeigten, dass das Brutpflegeverhalten von Ratten das spätere Sozialverhalten ihrer Brut festlegt. (Weaver et al. 2004)

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der Epigenetik wirkten mobilisierend. „Nicht die Gene sind unser Schicksal – jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“, lautet hier das Motto der Epigenetik; danach wird ein genetischer Fatalismus durch die Erkenntnisse der Epigenetik widerlegt und dies ermöglicht eine neuartige Handlungsfreiheit. Ungeprüft genießt die Epigenetik bislang einen Vertrauensvorschuss. Natürlich stellt sie zunächst einen Wissensbereich dar, der in seiner theoretischen Dimension nicht ethisch problematisch sein kann. Dies können erst ihre praktischen Anwendungen, die aber in den Anfängen stehen. Doch bewirken die dargestellte Gegenbewegung und die Bewertungen (Reduktion: negativ/Extension: positiv) ein Klima der Kritiklosigkeit gegenüber der Epigenetik. Diese einseitige Betrachtung war der Anlass für diese Arbeit. Die euphorischen Hoffnungen und die positive Konnotation der Epigenetik bewirkten ein Forschungsvakuum. Obgleich viele Forschungsgebiete der Epigenetik zu Beginn der vorliegenden Arbeit bereits etabliert waren, fanden sich keine Untersuchungen zu ethischen Themenbereichen.5 Tatsächlich ist es denkbar, dass die Erkenntnisse der Epigenetik keine ethischen Herausforderungen in sich bergen, jedoch wurde dies nicht geprüft. Daher sollte dieser „blinde Fleck“ als solcher erkannt und die Forschungslücke geschlossen werden. Eine Forschungslücke besteht auch auf dem Gebiet der Theorie der Biologie. Gegenwärtig, in der Epoche der Postgenomik und im Zeichen der Systembiologie, erfordert eine genetische Verursachungstheorie die Berücksichtigung der epigenetischen Bezüge. Tatsächlich wurde dies bereits von Anderen erkannt und erste Erweiterungen des Genbegriffes wurden vorgenommen.6 Jedoch ist diese Arbeit aus zwei Gründen unzureichend: Erstens beziehen sich die Ausarbeitungen weitgehend auf die molekulare Ebene. D. h. die Notwendigkeit der Erweiterung des Genbegriffes wird gesehen, aber die Konsequenzen solcher Erweiterung, etwa im Hinblick auf ein verändertes Verständnis des Organismus bzw. dessen ökologi5

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Die Wirkung der beschriebenen Zusammenhänge scheint anzuhalten. Gegen­ wärtig liegen immer noch wenige ethische Arbeiten zum Thema vor. Eine er­ wähnenswerte Ausnahme ist die Untersuchung von Rothstein et al. (2009). Doch wurde dabei wenig auf die biologischen Bezüge eingegangen, es handelt sich um eine Sondierung, ohne dass Lösungen entwickelt wurden. Ein weiteres Problem ist der Spekulationsgrad – unsichere Forschungserkenntnisse werden im Rahmen eines prospektiven Bioethik-Verständnisses ausgedehnt und Pro­ blemszenarien entworfen. Einen sehr guten Überblick bietet Schmidt (2014).

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sche Einbindung, wurden nicht ausformuliert. Zweitens beschränkte sich die Debatte zur Erweiterung des Genbegriffes weitgehend auf den biologischen Fachdiskurs. Bisher wurde nicht erkannt, dass eine Erweiterung des Genbegriffes zu einer veränderten Debatte in der Ethik der Genetik führen könnte. Kurz: Die Konsequenzen des um die Epigenetik erweiterten Genbegriffes blieben unbeachtet. Dem Thema wendet sich diese Arbeit zu. Dabei wird nicht bezweifelt, dass der um die Epigenetik erweiterte Genbegriff auch ethische Probleme lösen kann – auf sie wird auch eingegangen (1, III, 3). Das spezifische Interesse der Arbeit liegt aber in den durch die Epigenetik aufgeworfenen ethischen Problembereichen.7 Diese Arbeit ist einerseits der Theorie der Biologie und andererseits der Bioethik zuzuordnen. Damit geht die Schwierigkeit einher, zwischen Disziplinen und entsprechenden Denktraditionen – vor allem aus den Geistes- und Naturwissenschaften – zu vermitteln. In diesem intermediären Raum treffen disziplinäre Fachleute beider Seiten jeweils auf Laien der anderen Seite: Während die biologischen Zusammenhänge den in der Biologie Bewanderten leichter fallen, fordern sie eventuell den Ethiker heraus. Dies gilt vice versa für die ethischen Zusammenhänge. Daher ist es wichtig, eine Herangehensweise zu finden, die zwischen verschiedenen Leserkreisen vermittelt. Die Schwierigkeiten wurden auf mehreren Ebenen angegangen: Grundsätzlich ist die Arbeit in zwei Teile geteilt, wobei der erste Teil Zur Erweiterung des Genbegriffes sich an den an der Theorie interessierten Biologen bzw. entsprechenden Fachmann richtet. Hier ist es das übergeordnete Ziel, den Forschungsfortschritt in der Molekulargenetik reflexiv zu erfassen, die Erkenntnisse der noch 7 Eine solche Untersuchung stößt auch auf Schwierigkeiten. Der Forschungsbe­­ reich Epigenetik ist das, was man ein „moving target“ nennt: Der Gegenstand der Reflexion ändert sich während seiner Betrachtung. Dies zeigt nicht nur der enorme Publikationsanstieg in letzten Jahren, sondern das neue Wissen. Wäh­ rend der Themenbereich Epigenetik in der 2008 herausgegebenen 9. Auf­lage des Standardlehrbuchs Molekulare Genetik ein Randgebiet darstellte, nimmt er in der 10. Auflage (Nordheim & Knippers 2015) einen von sechs Teilen ein. Paral­­ lel zur vorliegenden Arbeit entstanden in Deutschland erste wissenschaftli­che Sammelbände. Um diese Entwicklungen noch vor Abschluss der Arbeit auf ethi­ scher Ebene begleiten zu können, habe ich darin Aufsätze publi­ziert, wobei erste Teilergebnisse dieser Arbeit mit einflossen (Schuol 2014; 2015; 2016; Seitz & Schuol 2016). Sie greifen dem Ergebnis dieser Arbeit nicht vor. Die vorliegende Arbeit möchte die biologi­schen und ethischen Aspekte des durch die Epigenetik erweiterten Genbegriffes behandeln.

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jungen Subdisziplin Epigenetik in ihrer Komplexität auszuformulieren und ihre Konsequenzen für die Theorie der Biologie aufzuzeigen. Dabei geht es darum, den vor allem auf die Struktur (DNS) bezogenen Genbegriff um seine funktionellen Aspekte – und dies bedeutet in diesem Zusammenhang, die genregulatorischen Bezüge – zu erweitern. Der zweite Teil der Arbeit wendet sich den praktischen Bezügen zu und hier ist es das Ziel, die in der Theorie der Biologie aufgezeigten Konsequenzen des um die epigenetischen Bezüge erweiterten Genbegriffes hinsichtlich lebensweltlicher Schwierigkeiten zu hinterfragen. Dieser zweite Teil bleibt exemplarisch, da nicht alle ethikrelevanten Szenarien der Epigenetik im Rahmen dieser Arbeit bearbeitet werden können – auf die Auswahlmethode für das verhandelte Beispiel komme ich gleich zu sprechen. Dieser zweite Teil Zur Ethik der Epigenetik ist ethisch ausgerichtet, wobei im bearbeiteten Problemkontext auch auf die naturwissenschaftlichen Grundbedingungen eingegangen wird. Die beiden Teilhälften dieser Arbeit sind als eigenständige Sinneinheiten konzipiert und können unabhängig voneinander gelesen und für sich genommen verstanden werden. Beide hängen aber miteinander zusammen, da erst der verbleibende Part den gesamten Zusammenhang erschließt und das Szenario im umfassenden Sinne vervollständigt. Einerseits im Hinblick auf biologische Vorbedingungen der Ethik der Epigenetik, andererseits im Hinblick auf die ethischen Folgen dieses epistemischen Wandels in der Theorie der Biologie. In aller Kürze soll auf den systematischen Aufbau der Arbeit eingegangen werden. Die beiden übergeordneten Teilhälften sind parallel aufgebaut und in jeweils vier Kapitel unterteilt. Beide beginnen mit einer Sondierung der Ausgangslage: Im ersten Teil erfolgt diese mittels eines Überblicks über die historischen Bezüge und den aktuellen Stand der Forschung zum Genbegriff, im zweiten Teil mittels einer Analyse, die den Stand des öffentlichen Diskurses zur Epigenetik erfasst. In den beiden darauf folgenden Kapiteln werden jeweils die Bedingungen eines Wandels herausgearbeitet, um schließlich im vierten Kapitel die Konsequenzen des um die Epigenetik erweiterten Genbegriffes abzuleiten; im ersten Teil jene für die Biologie, im zweiten Teil jene für die Ethik. Der parallele Aufbau und das Einteilen der Teile in je vier Kapitel zu entsprechenden Sinneinheiten soll eine bessere Trennschärfe ermöglichen, einen einfachen Überblick über die Arbeit geben und somit das Verständnis erleichtern. Auch wird jedem Gliederungspunkt ein Absatz vorangestellt, in dem das Argumentationsziel des Folgeabschnitts erläuhttps://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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tert wird. Da es sich nicht umgehen lässt, dass der fachfremde Leser an manchen Stellen herausgefordert wird, werden die Fachbegriffe im Fließtext eingeführt und zusätzlich in einem Glossar erläutert. Schließlich soll ein Überblick den Leser auf die einzelnen Kapitel vorbereiten und ihr Verständnis erleichtern. Für einen besseren Zugang werden nun die Ziele der acht Kapitel vorgestellt: Das erste Kapitel Der Genbegriff im Wandel wendet sich den historischen Bezügen der Genetik zu. Auf der Grundlage zentraler Forschungserkenntnisse in der Biologie werden die wesentlichen Veränderungen des Genbegriffs im Verlauf der mehr als hundertjährigen Genetik dargestellt. Das übergeordnete Ziel ist es, eine begriffliche Ausgangsbasis für die nachfolgende Arbeit sowie ein grundsätzliches Problemverständnis der Situation zu schaffen, um welche sich die gegenwärtige Debatte zum Genbegriff dreht. Zunächst wird gezeigt, dass das Verständnis des Gens sich in der Klassischen Genetik wesentlich von dem der späteren Molekulargenetik unterscheidet und es gilt, die Ursachen für diesen ersten radikalen Wandel auszumachen. Danach soll gezeigt werden, dass der Genbegriff der Molekulargenetik sich in der Postgenomik in einer ähnlichen Krise befindet und im Lichte des gegenwärtigen Wissens nicht unverändert aufrechterhalten werden kann. Die Bedingungen dieser Krise sind herauszuarbeiten. Da es bereits einen wissenschaftlichen Diskurs über diesen Spannungszustand im Genbegriff gibt, ist auf die bestehenden Positionen einzugehen und ihre Gemeinsamkeiten und Abweichungen sind herauszuarbeiten. Schließlich sollen die Positionen in ein Verhältnis gesetzt werden, sodass übergeordnete Bewegungsmuster im Diskurs zum Genbegriff erkennbar werden und somit eine Verortung dieser Arbeit möglich wird. Das zweite Kapitel Das Gen als Entwicklungseinheit hat einen ontologischen Schwerpunkt und darin werden die wesentlichen Veränderungen im Genbegriff herausgearbeitet. Entgegen seinem ursprünglichen Verständnis als Vererbungseinheit wird hier der These nachgegangen, das Gen der Postgenomik stelle eine Entwicklungseinheit dar. Die Begründung dieser These soll auf drei Ebenen erfolgen. 1. wird ein wissenschaftshistorischer Rückblick klären, ob das Gen als eine natürlich gegebene Entität entdeckt oder entwickelt wurde. Zu klären ist also, auf welche Weise Gene existieren. 2. soll gezeigt werden, dass das Gen gemäß den neuesten Forschungserkenntnissen erst im Entwicklungsbezug vollständig verstanden, d. h. aus einer Prozessperspektive umfassend erfasst werden kann. https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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Zu klären ist, ob und inwieweit ein Wandel vom substanzontologischen zum prozessontologischen Denken stattfindet. 3. wird die obere Behauptung auf Grundlage der Epigenetik erläutert und gezeigt, dass das Gen nicht als eine statische Einheit feststeht, sondern in entwickelten Aktivitätsmodi vorkommt. Die Mechanismen der epigenetischen Genregulierung werden dargestellt. Es ist u. a. zu klären, inwieweit derart entwickelte Zustände übertragen werden können und ob es einen Bezug zum historischen Begriff der Vererbung erworbener Eigenschaften gibt. Im dritten Kapitel Das Gen als Determinante wird auf die Individualentwicklung eingegangen, wobei die genetische Verursachung untersucht wird. Die wissenschaftlichen Begriffe Reduktion und Determination sind von den nichtwissenschaftlichen Bezeichnungen Genreduktionismus und -determinismus abzugrenzen und deren ethisches Problempotential ist zu erklären. Da der ursprüngliche Epigenetikbegriff auf ein Syntheseprojekt referiert, wonach die zwei weitgehend konträren Theorien zur Erklärung der Individualentwicklung, Epigenesis und Präformation, zusammengeführt werden sollten, werden diese bis heute das biologische Denken prägenden Denktraditionen untersucht. Aufbauend darauf wird der ursprüngliche dem gegenwärtigen, molekularen Epigenetikbegriff gegenübergestellt und die Unterschiede im Hinblick auf ein präziseres Begriffsverständnis herausgearbeitet. Schließlich wird die populäre These untersucht, wonach die Epigenetik den Gendeterminismus widerlegt. Als Gegenthese wird behauptet, dass die Epigenetik lediglich eine einfache Form des Gendeterminismus widerlegt, unter Umständen aber einen verdeckten Gendeterminismus sogar fördern kann. Die Ursachen für beide Formen des Gendeterminismus werden ermittelt und Lösungsvorschläge entwickelt. Im vierten Kapitel Das Gen im Kontext sollen die ersten Konsequenzen des um die Epigenetik erweiterten Genbegriffes herausgearbeitet werden. Dem Natur/Kultur-Dualismus folgend wird die Frage nach dem Determinismus erneut aufgegriffen und gefragt, ob aus der neuen Sichtweise nun die Umwelt als zentrale Determinante verstanden werden müsste. Infolge des prozessualen Verständnisses erscheint nämlich eine genregulativ wirkende Umwelt als unverzichtbarer Part des Genbegriffes. Doch was bedeutet dies genau? Um ein besseres Verständnis vom epigenetischen Umweltbegriff zu erhalten, ist der Begriff des Organismus zu untersuchen und zu zeigen, dass nicht alle Außenreize auf die genregulative Ebene übertragen werden. Auf der Grundlage eines derart vermittelnhttps://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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den Organismus ist zwischen einer epigenetisch bedeutungsvollen Umwelt und einer bedeutungslosen Umgebung zu unterscheiden. Um die Frage zu klären, welche Folgen ein solches Verständnis von in eine Umwelt eingebetteten Organismen hat, wird der Umweltbegriff der Epigenetik in ein Verhältnis zu früheren „genetischen“ Umweltbegriffen und den daraus abgeleiteten Handlungs- und Verantwortungsbereichen gesetzt. Da der Mensch seine Umwelt im Prinzip gestalten kann, scheint sich sein Handlungs- und Verantwortungsbereich auszudehnen. Im Übergang zum zweiten Teil der Arbeit Zur Ethik der Epigenetik ist auf eine Schwierigkeit hinzuweisen. Es muss entschieden werden, ob alle auf der Erkenntnisgrundlage der Epigenetik denkmöglichen ethischen Themenbereiche ermittelt werden sollen, welche aber im Rahmen der verbleibenden Arbeit nicht in der notwendigen Tiefe bearbeitet werden könnten, oder ein für den Wandel besonders exemplarisches Thema bearbeitet werden soll. Hier wird letztere Möglichkeit gewählt. Damit ist die Schwierigkeit verbunden, ein gleichwohl exemplarisches als auch ethisch besonders dringliches Thema zu finden. Dem wendet sich das erste Kapitel des zweiten Teils zu. Das erste Kapitel Der öffentliche Diskurs zur Epigenetik dient der Sondierung. Angesichts der noch jungen Epigenetikforschung und ihres hohen Spekulationspotentials sind viele Einsatzbereiche des epigenetischen Wissens denkbar und entsprechend viele Themenbereiche scheinen ethisch relevant. Daher werden die besonders drängenden Themen im öffentlichen Diskurs zur Epigenetik erfasst, um ein möglichst reales ethisches Problemszenario herauszuarbeiten. Bei dieser Diskursanalyse wird auf gängige Methoden der Medienanalyse und Informationsverarbeitung zurückgegriffen. Ausgehend von einer Serie populärwissenschaftlicher Ratgeber zur Epigenetik wird zunächst der Einflussbereich der Medienmacher im Hinblick auf die Besonderheiten der Kommunikatoren, ihre Aussage und das verwendete Medium untersucht. Um einen Fehlschluss zu vermeiden (Mediendeterminismus), ist auch die Gegenseite als aktiver Part zu beachten. Daher wird im zweiten Schritt auf den Einflussbereich der Medienrezipienten im Hinblick auf den Effekt der Kommunikation, ihren Kontext und den Rezipienten selbst eingegangen. Durch die Beachtung beider Einflussbereiche sowie ihres Vergleichs können die Hauptthemen des Epigenetikdiskurses präziser erfasst und durch diese Verortungen ein höherer Differenzierungsgrad erreicht werden. https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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Im zweiten Kapitel Die theoretischen Verantwortungsbedingungen wird der Begriff der Verantwortung untersucht. Ausgehend von einem Hauptthema im öffentlichen Epigenetikdiskurs, wonach mit dem Wissen der Epigenetik der Handlungsraum ausgeweitet wird und die Eigenverantwortung ansteigt, sind die theoretischen Bedingungen der Verantwortung sowie der Eigenverantwortung zu klären. Zunächst wird Verantwortung als ein Zuschreibungsbegriff präzisiert. Im Hinblick auf Verantwortungszuschreibungen ist es notwendig, zu verstehen, wie diese gerechtfertigt werden können. Weil Handlungsfähigkeit eine der zentralen Voraussetzungen der Verantwortung darstellt und jede Handlungs- in eine Verantwortungszuschreibung umgewandelt werden kann, erfolgt anschließend die Klärung der Handlungsbedingungen. Neben der Erläuterung der temporalen Bedingungen – Verantwortung hat eine prospektive und retrospektive Dimension und es gilt, deren Verhältnis zu ermitteln – soll auch untersucht werden, welche (epistemischen, psychischen) Folgen mit einer bewussten Übernahme von Verantwortung verbunden sind. Schließlich ist auf das Relationsmodell der Verantwortung einzugehen, das später als Analyseinstrument dienen soll. Auf der Basis der Verantwortungsrelata Verantwortungssubjekt, -objekt, -instanz und -norm und deren Beziehung zueinander wird schließlich geklärt, was Eigenverantwortung genau bedeutet. Im dritten Kapitel Die empirischen Verantwortungsbedingungen wird auf biologische/medizinische Aspekte der Epigenetik eingegangen und die Zusammenhänge werden herausgearbeitet, die für eine Verantwortungsdiskussion zur Epigenetik zentral sind. Im ersten Schritt wird die Reichweite einer „epigenetischen“ Verantwortung thematisiert. Weil im öffentlichen Diskurs zur Epigenetik des Öfteren eine transgenerationale Verantwortung behauptet wird, werden die Zeitbezüge anhand der Stabilität der epigenetischen Modifikationen beim Menschen untersucht. Das ist wichtig, da nur wenige epigenetische Humanstudien vorliegen und die Beständigkeit der epigenetischen Marker sich zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen stark unterscheiden, sodass Ergebnisse aus Pflanzenbzw. Tierstudien nicht übertragbar sind. Im zweiten Schritt wird das Metabolische Syndrom als konkretes Fallbeispiel vorgestellt. Diese lebensstilbedingte Stoffwechselkrankheit wird im öffentlichen Epigenetikdiskurs häufig mit dem Thema Epigenetik und Eigenverantwortung in Verbindung gebracht und dieser Zusammenhang spielt im Fachdiskurs zunehmend eine Rolle. Hier wird auf ein verändertes Erkrankungsverständnis eingegangen und der sich vollziehende https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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Wandel von genetischen zu epigenetischen Ursachen untersucht; zwei epigenetische Ätiologien bilden den empirischen Startpunkt der Verantwortungsanalyse zum Metabolischen Syndrom. Im vierten Kapitel Das Verantwortungsnetzwerk werden die entwickelten Stränge zusammengeführt. Zunächst wird der Zweck einer frühzeitigen Verantwortungsanalyse geklärt. Da dieser Diskurs bereits stattfindet, ist es notwendig, orientierend einzugreifen. Im Hinblick darauf hat das Kapitel zwei Ziele. Erstens wird der Diskursfokus auf die Eigenverantwortung kritisiert. Zweitens wird geklärt, wie die neuen Erkenntnisse der Epigenetik gegen das Metabolische Syndrom genutzt werden können. Die Analyse der Verantwortung findet im Kontext der Prävention statt. Aus einer individualethischen Sicht wird geprüft, welche Handlungsräume sich gemäß der epigenetischen Ätiologien für unmittelbar Betroffene ergeben und ob die Eigenverantwortung behauptet werden kann. Danach wird die Verantwortungssituation von Schwangeren untersucht. Angesichts einer drohenden Überforderung des Einzelnen wird aus sozialethischer Sicht auf Handlungsgrenzen der Betroffenen eingegangen und gezeigt, dass nur ein umfassendes Verantwortungsnetzwerk diese aufheben und die Prävention vor dem Metabolischen Syndrom ermöglichen kann. In einem universellen Präventionsansatz werden Akteure ermittelt, die nur die allgemeinen Handlungsgrenzen beeinflussen. Da sozioökonomisch schwache Bevölkerungsschichten von der transgenerationalen Übertragung des Metabolischen Syndroms besonders gefährdet sind, ermittelt ein zielgruppenspezifischer Präventionsansatz weitere Verantwortungsakteure und komplettiert das Verantwortungsnetzwerk. So zeigt die Argumentationslinie Folgendes: Die Epigenetik erfordert einen Wandel im genetischen Verursachungsdenken. Der Einbezug der Genregulation verändert das Gen von einem abgrenzbaren Ding zu einem Prozess. Dies führt zu einem neuen Umweltverständnis. Danach ist die Umwelt nicht mehr passives Substrat oder – im anderen Extrem – mutagenes Agens, sondern regulatives Element, und die individuelle Lebensweise beeinflusst die genetische Ausprägung. Davon wird im Diskurs zur Epigenetik die Forderung nach mehr Eigenverantwortung abgeleitet. Bezugnehmend darauf wird nach einer Ermittlung der neuen Verantwortungsbedingungen im Präventionskontext zum Metabolischen Syndrom gezeigt, dass der Fokus auf Individuen zu eng ist und der Kreis der Verantwortungsakteure gerade wegen der Epigenetik erweitert werden sollte.

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Teil 1: Zur Erweiterung des Genbegriffes

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Kapitel I: Der Genbegriff im Wandel

„Jede experimentell verfahrende Wissenschaft schreitet über die Konstruktion verschiedener, möglichst erfolgreicher – aber notwendig unvollständiger – Modelle voran. Ihre Dynamik gewinnen die empirischen Wissenschaften nicht daraus, dass sie das ‚eine‘ richtige Modell propagieren, sondern indem sie vorhandene Modelle vergleichen und verschränken. Aus deren Deckungsungleichheit entstehen dann jeweils vielfältige, neue Forschungsgegenstände. So gesehen hat sich das ‚Jahrhundert des Gens‘ auch nicht in einer Folge sich gegenseitig ausschließender und einander ablösender Genbegriffe abgespielt, sondern in der sukzessiven semantischen Aufladung und Artikulation eines nie vollständig determinierten Genbegriffs. Ob und wie lange die Modelle der Biologie Gen-zentriert bleiben werden, ist offen: es gibt Anzeichen für einen nachhaltigen Perspektivenwandel. Die endgültige Antwort hängt allerdings von zukünftigen Forschungsergebnissen ab. Sie kann nicht ontologisch vorweggenommen werden.“ (Müller-Wille & Rheinberger 2009a, 135f)

1 Skizze des „Jahrhunderts des Gens“ Im Folgenden werden die wichtigsten Entwicklungsetappen der Genetik des 20. Jahrhunderts dargestellt und ein historisches Verständnis des Gens wird als Ausgangsbasis vermittelt.1 1.1 Klassische Genetik – transgenerationale Transmission hypothetischer Gene Die erste Epoche der Genetik, die klassische Genetik, erstreckt sich von 1900 bis 1953. Entlang Mendels Vererbungsgesetze gelten Gene als Erbeinheiten; ihre materiale Basis ist nicht bekannt. 1

Der Titel bezieht sich auf Evelyn Fox Kellers (2001) gleichnamiges Buch. Siehe auch: (Mayr 1984; Müller-Wille & Rheinberger 2009a/b; Griffith & Stotz 2013; Kay (2001); Knippers 2012; Judson 1980.

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Das moderne Denken über Vererbung beginnt mit der Forschungsarbeit des Augustinermönchs Gregor Mendel. Im Aufsatz Versuche über Pflanzenhybriden (1866) fasst Mendel die Ergebnisse von Kreuzungsexperimenten mit Erbsen (Pisum sativum) zusammen, die er seit 1856 im Garten seines Klosters durchführte, und weist nach, dass die Anlagen der Hybriden sich in einem regelmäßigen Verhältnis auf die Nachkommen verteilen. Seine Ausgangsfrage ist zweigleisig – er fragt: „Wie und was wird vererbt?“ (Löther 1990, 25). Obwohl beide Fragen in ein Forschungsprojekt eingebettet sind, wird das Vererbungsobjekt getrennt vom Vererbungsvorgang betrachtet. Vorerst ist es wichtig, das Vererbungsobjekt abzugrenzen. Nach der damals gängigen Theorie der Mischvererbung (blending inheritance) ging man von der Verschmelzung elterlicher Erbanlagen aus. Dass Erbinformationen aber bei der Vererbung nicht verschmelzen, sondern in Form diskreter Einheiten stabil vererbt werden, stellt im Hinblick auf die spätere Genetik die zentrale Erkenntnis dar. Diese Einheiten können bezüglich ihrer Funktion präzisiert werden. Der Biophilosoph Ernst Mayr zeigt, dass zu Mendels Zeit drei Arten von Erbeinheiten diskutiert wurden. Danach gilt: „1. Jede Einheit besitzt alle Artmerkmale; sie ist sozusagen ein ganzer Art-Homunkulus (Spencer, Weismanns Ide, Nägelis Idioplasma). 2. Jede Einheit hat die Merkmale einer einzigen Zelle (Darwins Gemmulae, Weismanns Determinante). 3. Jede Einheit repräsentiert ein einziges Artmerkmal oder ein einziges Merkmal (de Vries’ Pangen, Weismanns Biophore)“ (Mayr 1984, 567). Mendels Einheiten entsprechen letzterer Art – sie repräsentieren Merkmale. Dennoch gibt es einen Stabilitätsunterschied zwischen der Vererbung der Einheiten und der Ausprägung der Erbinformationen – dies betrifft den Vererbungsvorgang. Bei der geschlechtlichen Fortpflanzung der Erbsenpflanze, Mendels Modellorganismus, werden die Anlagen beider Stammpflanzen vererbt. Diese stehen in einem Verhältnis zueinander. Die Vererbungseinheiten kommen in zwei Ausprägungsformen vor und verhalten sich entweder dominant oder rezessiv hinsichtlich der vererbten Merkmale. Die rezessive Einheit (d) wird bei Anwesenheit der dominanten (D) überspielt und tritt in der Merkmalsausprägung nur in der Kombination (dd) in Erscheinung. Anders als seitens der Mischvererbung gedacht bedeutet diese Lücke im Ausprägungsprozess aber keinen Verlust der Einheit, sondern lediglich das temporäre „Überdecken“ durch den dominanten Part. Die rezessive Erbeinheit bleibt dabei stets erhalten. Obzwar Mendel die materiale Basis der Erbanlangen https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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nicht kennt, erlauben ihm seine Kenntnisse über das Objekt und den Vorgang der Vererbung Gesetzmäßigkeiten der Vererbung abzuleiten.2 Indem Mendels Aufklärung des Vererbungsprozeses die Mischvererbung endgültig widerlegt, leitet er eine neue Epoche im Vererbungsdenken ein. Allerdings geschieht dies stark verzögert – vorerst wurde Mendels Arbeit von der wissenschaftlichen Gemeinschaft nicht wahrgenommen.3 Der Entstehungsprozess der Genetik als Disziplin beginnt erst im Jahr 1900 mit der Wiederentdeckung von Mendels Vererbungsgesetzen. Unabhängig voneinander stießen in diesem Jahr die drei Botaniker Hugo de Vries, Carl Correns und Erich von Tschermak entlang ihren Forschungsergebnissen auf Mendels Arbeit und machen sie einem weiteren Publikum bekannt. Im Hinblick auf die plötzliche Popularität der Vererbungsgesetze ist eine Änderung von entscheidender Bedeutung. In ihren Publikationen (Correns 1900; de Vries 1900b; Tschermak 1900) nehmen die Autoren eine Verallgemeinerung von Mendels Gesetzen vor. Hatte Mendel die Gültigkeit seiner Vererbungsgesetze vorsichtshalber auf die Hybridenforschung beschränkt, so wurden diese bei ihrer Wiederentdeckung als allgemeine Gesetzmäßigkeiten der Vererbung ausgelegt (Olby 1979). Erst diese Allgemeingültigkeit macht sie als Fundament einer neuen Disziplin interessant.4 Im Prozess der Wieder2

Sofern die Eltern reinerbig (dd) sind, sich aber hinsichtlich der Dominanz des Merkmals unterscheiden (dd/DD) lässt sich aufgrund ihrer vererbten Anlagen für die Folgegeneration eine Prognose formulieren. Das dominante Merkmal eines Elters prägt den Phänotyp des Nachfolgers (Dd) und führt zur Uniformität aller Nachkommen (alle Dd) in Bezug auf dieses Merkmal. Das rezessive Merkmal scheint zunächst verloren. Erst ihre (Dd) Kreuzung untereinander führt zur Ausprägung beider Dominanzstufen nach einem bestimmten Verhältnis (1  : 3). Phänotypisch zeigt sich erst hier, dass der rezessive Erbfaktor sich weder ver­ mischt noch verloren geht, sondern verdeckt vererbt wird. Mendels drei Ver­ erbungsgesetze bestehen aus dem Gesetz der Uniformität der Merkmale in der ersten Generation (F1), dem Gesetz der Aufspaltung der Merkmale in der zwei­ ten Generation (F2) und dem Gesetz der Unabhängigkeit der Merkmale, welche die unabhängige Vererbung der Merkmale als Einheiten entlang dem Spaltungs­ gesetz garantiert 3 Olby & Gautry (1968) weisen auf, dass sich in dieser Zeit lediglich 11 Autoren auf Mendels Arbeit beziehen. Dabei ging keiner auf Mendels Vererbungsgesetze ein, sondern sie verweisen bloß auf Mendels Hybridisierungsexperimente. 4 Mayr (1984, 578f) betont einen anderen Aspekt. Mendel schickte seine Publi­ kation dem Hybridenforscher Carl Wilhelm von Nägeli und dieser empfahl, die Ergebnisse mit Hieracium (Habichtskraut) zu wiederholen. Bei diesen späteren Forschungsarbeiten gelang es Mendel nicht, die Erbregelmäßigkeiten zu repro­ duzieren. Heute weiß man, dass Hieracium sich eingeschlechtlich vermehrt und

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entdeckung nimmt de Vries die zentrale Stelle ein.5 Seine Hervorhebung von Mendels Erbeinheiten ist allerdings problematisch für die Darwinsche Evolutionstheorie. Stabile Vererbungseinheiten stellen ein fundamentales Problem für die Erklärung der Variati­ on dar, da durch die bloße Rekombination der Erbeinheiten gemäß den Mendelschen Gesetzen keine neuen Merkmale entstehen. Das Ausbleiben der Variation würde in Folge auch die natürliche Se­ lektion ausschalten und damit den gesamten Evolutionsprozess in Frage stellen. De Vries hält an Mendels stabilen Erbeinheiten fest, sieht sich aber genötigt, auf das dynamische Moment der Mutation zurückzugreifen, um die statischen Gesetze mit dem Evolutionsgedanken zu versöhnen.6 Obgleich sich de Vries über das Wesen der Mutation täuscht – er geht vom sprunghaften Entstehen neuer Merkmale aus – prägt der Mutationsgedanke die Genetik von Anfang an. Mendels Gesetze geraten durch de Vries’ Interpretation ins Fahrwasser des Saltationismus und provozieren eine Rivalität zwischen Mendelisten und gradualistisch denkenden Darwinisten. Das erste Forschungsjahrzehnt wurde des Weiteren durch die beiden Botaniker William Bateson und Wilhelm Johannsen geprägt. Neben den evolutionären Kontroversen beschäftigt sich diese Phase, der sogenannte Mendelismus, mit der Prüfung der Allgemeingültigkeit der Mendelschen Gesetze, wobei die partikuläre Vererbung und die Unveränderlichkeit der Erbanlagen endgültig fundiert werden. Bei der Etablierung der Genetik legt Bateson die begrifflichen Weichen.7 Bezugnehmend auf die Gründung eines neuen Lehrstuhls schlägt er 1905 in einem Brief an seinen Vorgesetzten Adam dies der erwarteten Aufspaltung entgegenwirkt. Entmutigt von diesem späte­ ren Misserfolg gewann Mendel den Eindruck, seine Gesetze seien nicht für alle Pflanzenarten gültig. 5 Siehe dazu Bowler (1989). Zwar haben die übrigen „Wiederentdecker“ der Men­ delschen Gesetze eigene Ergebnisse vorliegen, sie legen diese aber nach der Lek­ türe von de Vries’ Erstpublikation gemäß dessen Schwerpunktsetzung aus und verfestigen so zu Beginn der modernen Vererbungsforschung das Verständnis der Vererbungsfaktoren als Einheiten. 6 Der seit dem 17. Jh. bekannte Begriff Mutation bezieht sich auf drastische Form­änderungen (Mayr 1984, 594; 1963, 168). De Vries belegt die Seltenheit der Mutation durch Oenothera lamarckiana, eine Nachtkerzenart, von der er glaubt, dass sie im seltenen Mutationszustand vorliege. Ihre Mutablilität wurde später aber widerlegt. De Vries’ Mutationstheorie hat den Anspruch einer Evo­ lutionstheorie, wie der Untertitel des ersten Bandes Entstehung der Arten durch Mutation klar macht. 7 Bateson war durch de Vries’ Veröffentlichungen mit Mendels Erbgesetzen in Kontakt gekommen. (Olby 1987)

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Sedgwick den Begriff Genetik für die neue Vererbungslehre vor.8 Öffentlich fällt der Begriff erst 1907 – in einem Vortrag definiert Bateson Genetik als das Forschungsfeld, das sich „den Phänomenen der Vererbung und Variation, mit anderen Worten der Physiologie der Abstammung widmet“ (Bateson 1907, 91 – eigene Übersetzung). Obgleich viele weitere Definitionen folgten, ist diese Eingrenzung für das gesamte Verständnis der klassischen Genetik charakteristisch. Ihr Fokus auf die Vererbung geht nämlich mit einem Ausschluss einher. Als Abstammungslehre widmete sich die Genetik der Erforschung transgenerational auftretender Phänomene, wobei die Ontogenese, d. h. die Entwicklung des Organismus, davon definitorisch ausgeblendet wird. Diese disziplinäre Ablösung wird durch eine weitere begriffliche Unterscheidung bestärkt. Wilhelm Johannsen erkannte durch seine Arbeit mit reinerbigen Stämmen, dass Merkmale variieren. Ihre Variation kann wegen deren Reinerbigkeit nicht auf die Erbanlagen zurückgeführt werden – sie ist auch umweltbedingt.9 Daher schlägt Johannsen 1909 in seinem vielgelesenen Buch Elemente der exakten Erblichkeitslehre vor, phänoty­ pische Variationsformen von genotypischen zu unterscheiden. Da der Genotyp aufgrund der Umweltwirkungen nicht unmittelbar am Merkmal abgelesen werden kann, sondern auf statistischem Weg erschlossen werden muss, fällt die Entwicklung des Phänotyps aus dem Forschungsbereich der Genetik. Die klassische Entwicklungsdisziplin Embryologie trennt sich damit endgültig von der Genetik, die aufgrund ihres Forschungsfokus auf transgenerational übertragbare Merkmale auch als Transmissionsgenetik bezeichnet wird. Zur Kennzeichnung der genotypischen Variationseinheit wählt Johannsen den Begriff „Gen“.10 Seine Auffassung über diese Erbein8 „If the Quick fund were used for the foundation of a Professorship relating to Heredity and Variation the best title would, I think, be ‚The Quick Professorship of the Study of Heredity‘. No single word in common use quite gives this meaning. Such a word is badly wanted, and if it were desirable to coin one, ‚Genetics‘ might do.“ (Bateson 1928) 9 So hält Johannsen fest: „Die Inspektion der fertigen Organismen kann demnach nicht ohne weiteres aussagen, ob gefundene phänotypische Unterschiede durch Verschiedenheiten im Milieu oder im Genotypus – oder vielleicht in beiden – bedingt sind“ (Johannsen 1909, 146). Zwischen Genen und Merkmalen besteht kein einfaches Verhältnis. 10 Johannsen knüpft damit an de Vries‘ Vererbungseinheit „Pangen“ an. Da aber das Präfix „Pan-“ durch Darwins „Pangenesis-Hypothese“ vorbelastet ist, ver­ fehlte es Johannsens Anliegen und er entscheidet sich für das Suffix „Gen“. In Distanzierung von einem Präformismus betont er: „Das Wort Gen ist also völlig

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heit ist entscheidend für den Genbegriff. Johannsen bezweifelt die reale Existenz von Genen. Der Begriff dient ihm als ein rein theoretisches Arbeitskonzept zur Strukturierung der empirisch beobachtbaren Vererbungsphänomene. Daher ist es wichtig hier festzuhalten, dass das Gen bei seiner begrifflichen Einführung lediglich eine hypothetische Einheit darstellt. Die Transmissionsgenetik ist durch den Ausschluss der Entwicklung zugunsten der Merkmalsvererbung und das Wissen, dass die Erbeinheit „Gen“ möglicherweise eine Konstruktion ist, gekennzeichnet. Zwar schreiten die Erkenntnisse auch auf materialer Ebene fort, aber während der gesamten klassischen Genetik bleibt es unklar, ob Gene bloß hypothetische Einheiten oder materiale Partikel sind. Die Folgeentwicklung der Transmissionsgenetik findet in der US-amerikanischen Forschung statt. In Europa behindern Rivalenkämpfe zwischen Saltationisten und Gradualisten sowie das Beharren auf alten Forschungstraditionen den Fortschritt der Genetik.11 Die konsequente Konzentration auf das Vererbungsgeschehen und die Umstellung auf Modellsysteme mit kurzer Generationsfolge bei praktischer Handhabbarkeit im Laboralltag erweist sich in den USA bald als äußerst fruchtbar. Hier nimmt der frühere Morphologe und Embryologe Thomas Hunt Morgan eine Schlüsselstelle ein. In seiner Arbeit mit dem neuen Modellorganismus Drosophila melanogaster (Taufliege) stellen zunächst Unregelmäßigkeiten bei frei von jeder Hypothese. Es drückt nur die Tatsache aus, dass Eigenschaften des Organismus durch besondere, jedenfalls teilweise trennbare und somit gewis­ sermaßen selbständige ‚Zustände‘, ‚Faktoren‘, ‚Einheiten oder ‚Elemente in der Konstitution der Gameten und Zygoten – kurz, durch das was wir eben Gene nennen wollen – bedingt sind. Der Unterschied zwischen der Rose und Lilie, zwischen dem Hund und der Katze usw. ist jedenfalls teilweise dadurch bedingt, dass die betreffenden Gameten bzw. Zygoten verschiedene Gene haben (Welches durchaus nicht sagen soll, dass ähnliche oder gar identische Gene nicht auch dabei vorhanden sein könnten.)“ (Johannsen 1909, 124) 11 Marcel Weber (1998) erkennt die Kämpfe zwischen Saltationisten und Gradua­ listen als Ursache der geographischen Verlagerung von Europa in die USA. Jonathan Harwood (1993) weist auf unterschiedliche Gelehrtenkulturen mit eigenen Denkstilen hin. Während die dem Bildungsbürgertum entstammen­ den deutschen Professoren (er nennt sie Bildungsmandarine) sich gemäß der Denktradition der romantischen Naturphilosophie für die Wissensintegration interessieren und hier genetische (Vererbung) mit embryologischen Erkennt­ nissen (Entwicklung) zusammenführen wollen – wofür keine Methoden vor­ lagen – konzentrieren sich die US-amerikanischen Kollegen auf die Vererbung. Diese pragmatische Selbstbeschränkung und die Entwicklung neuer Methoden ermöglichen ihre schnellen Erfolge.

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der Merkmalsvererbung die Integrität von Mendels Erbeinheiten in Frage. Die Ausprägung neuer Merkmale ist problematisch und scheint Mendels stabile Erbeinheit zu widerlegen. Auch weicht ihre Vererbungsweise von Mendels Vererbungsgesetzen ab. So verhält sich etwa das rezessive Merkmal weiße Augen (w) in der ersten Generation (F1) zunächst regelkonform; keine Fliege weist weiße Augen auf (Uniformitätsregel). Die Ausprägungsweise der Folgegeneration (F2) widerspricht allerdings Mendels Unabhängigkeitsregel; das Merkmal tritt nämlich ausschließlich bei männlichen Organismen auf. Da das neue Merkmal (w) an die geschlechtsinduzierenden Anlagen gekoppelt ist, erkennt Morgan die Erbanlagen als Komplex und das Chromosom als materiellen Träger dieser Kopplungen. Der Kopplungslogik folgend müssen Chromosomen stabil, d. h. die Vererbungseinheiten verbindend, gedacht werden. Tatsächlich treten aber auch „unvollständige Kopplungen“ auf – dies verlangt nach Erklärung. Von histologischen Befunden weiß der Embryologe Morgan, dass kurz vor der Zellteilung die Chromosomen als Überkreuzungen auftreten. Diese Chiasmata erklären die Abweichungen.12 Zwar kommen die Vererbungseinheiten gekoppelt vor, aber Chromosomenbrüche und Fragmentaustausche können die ursprünglich lineare Verbindung aufheben; Deletionen, Inversionen und Transversionen sind die Folge. Morgan erklärt mit der Cros­ sing-Over Theorie transchromosomale Kopplungsabweichungen und präzisiert das Vererbungsverständnis: Die Vererbungseinheit ist nicht das Chromosom, sondern Johannsens Gen.13 Stabile Gene können auf diesem Weg die Chromosomen „wechseln“ und bewirken eine Rekombination der Erbanlagen. Morgans Erkenntnisse erklären die Regelabweichungen ohne Mendels Vererbungsgesetze zu widerrufen. Seine erfolgreiche Synthese der Chromosomentheorie mit Mendels Vererbungsgesetzen bewirkt eine „Materialisierung“ 12 Nach Weber (1998, 56) entwickelte Morgan den Begriff des Crossing-Over ent­ lang der Chiasmatafunde des Cytologen F.A. Jannssen. Dabei kommt es zu einem Stückaustausch der sich überkreuzenden Chromosomen. 13 Eine weitere Erkenntnis unterstreicht den materiellen Charakter der Gene. Dass die Häufigkeit des Crossing-Over mit der Entfernung der Genloci zusammen­ hängen ist wichtig. Die Wahrscheinlichkeit des Crossing-Overs ist direkt pro­ portional zu der Entfernung der betrachteten Merkmale auf der Vererbungs­ einheit, dem Chromosom. Damit war der Grundstein der Genkartierung gelegt. Einzelne Gene liegen linear aneinandergereiht auf Chromosomen vor und „springen“ proportional zu ihrer Entfernung. Wegen dieser Proportionalität können die verzeichneten Häufigkeiten zur Kartographierung der Chromoso­ men verwendet werden und so die relativen Genpositionen ermittelt werden.

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der Genetik.14 Doch muss dies recht verstanden werden. Nicht Gene, sondern ihre Träger, die Chromosomen, werden erkannt. Die damals gängige Forschungstechnik der Mikroskopie erlaubt darüber hinaus keine Aussagen. Obgleich theoretisch nachgewiesen, blieben Gene auf materialer Ebene bloß hypothetische Einheiten – dieses Problem konnte erst die Molekulargenetik lösen. Seit erkannt wurde, dass Gene nicht frei im Keimplasma flottieren, sondern auf Chromosomen gebunden vorliegen, ist es möglich, neue Schlüsse über das Vererbungsverhalten zu ziehen. Gene stellen Einheiten dar und lassen sich entlang ihrem „Transportmittel“, den Chromosomen, transgenerational übertragen. Durch Morgans Drosophila-Forschung wird der Fokus der Genetik weiterhin auf die Vererbung gelegt – die erfolgreiche Transmission wird indirekt am exprimierten Körpermerkmal erkannt. Für die Genetik verliert die Entwicklung vollends an Bedeutung und der Organismus wird methodisch auf die Merkmalsansammlung der zu untersuchenden Gene reduziert. Es ist erstaunlich, dass gerade ein Entwicklungsbiologe (Morgan) die Ausblendung der Entwicklung forcierte. Merkmale dienen ihm nur als Indikatoren der gelungenen Vererbung.15 Morgans Transmissionsgenetik reicht aber nicht aus, um alle Phänomene zu klären. Zwar zeigt er, wie sich die neuen Merkmale verhalten und erkennt die materielle Grundlage der Genetik im Chromosom; wie neue genetische Information entsteht, weiß Morgan jedoch nicht. Erst Mutationen erklären neue Merkmale. Gene entsprechen zwar stabilen Vererbungseinheiten, sie sind aber aufgrund der materiellen Verfassung der Chromosomen anfällig für Veränderungen. Der spätere Nobelpreisträger Hermann Joseph Muller arbeitet in Morgans Transmissionsgenetik und knüpft mit seiner Mutationsforschung an deren Erkenntnisse um die materielle Grundlage der Vererbung an. Morgan hoffte ursprünglich, die von de Vries postulierte Mutabilität künstlich induzieren zu können und experimentierte mit Chemikalien und radioaktiver Strahlung, welche den mutablen Ausnahmezustand hervorrufen sollten. Doch 14 Bowler (1989, 135f) zeigt, dass Morgan in der Rückführung der Vererbung auf die materielle Basis des Chromosoms keine Rolle gespielt hat. Im „Materialisie­ rungsprozess“ hatte Muller die entscheidende Bedeutung. 15 Diese Abwendung vom komplexeren Entwicklungszusammenhang ist nach Bowler forschungspolitisch motiviert: „Definig heredity in the narrow sense of transmission was a crucial part of the geneticists campaign to stake out a terri­ tory within which their science would be recognized as the sole source of author­ ity.“ (Bowler 1989, 139f)

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erst Muller entdeckt 1927, dass Mutationen durch ionisierende Strahlung sowohl induziert als auch intensiviert werden können.16 Auf die Chromosomentheorie zurückgreifend, interpretierte er die Mutationen als physikalische Veränderungen der Chromosomen. Darüber hinaus ordnet Muller als Erster Merkmalsabweichungen einzelnen Genen zu, indem er die Topologie der Mutationen durch ihre Lokalisierung nachweist. In diesem Sinne werden Mutationen nun von ihm als „permanente Änderungen in einem einzelnen Gen“ (Weber 1998, 63) definiert.17 In der Forschungstradition der Transmissionsgenetik stehend, spezifiziert Muller die Mutationen genauer als Genmutationen. Trotz der Verdichtung des genetischen Wissens blieb die Struktur und Funktion des Gens in der klassischen Genetik unbekannt. Dies galt vor allem für die Autokatalysis und Heterokatalysis, den zwei von Muller postulierten Prozessen. Danach galt das Gen im Sinne eines Katalysators als unveränderlich und diente zu seiner Duplizierung (Autokatalysis) im Rahmen der Zellteilung und zur Produktion funktionaler Genprodukte (Heterokatalysis). Für beide erachtete Muller die Kenntnis der materialen Struktur des Gens als unerlässlich. Und so bedauerte er 1950 anlässlich einer Rede zum 50. Jahrestag der Wiederentdeckung von Mendels Vererbungsgesetzen: „Wir haben bis heute kein wirkliches Wissen über den Mechanismus, der jener einzigartigen Eigenschaft zugrunde liegt, die ein Gen zu einem Gen macht – nämlich seine Fähigkeit, die Synthese einer ihm ähnlichen Struktur zu veranlassen, in welche auch die Mutationen des ursprünglichen Gens kopiert werden. Solche Dinge kennen wir in der Chemie bislang nicht“ (Muller 1951, 95f). Die materiale Ebene der Heterokatalyse, Autokatalyse und Mutation klärte erst die Molekulargenetik. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Genetik der ersten Hälfte des 20. Jh. zum einen die Entwicklung ausblendet. Zum anderen bleibt die strukturelle Basis des Gens unbekannt. Es stellt eine hypothetische Einheit dar. Die klassische Genetik ist eine Vererbungsgenetik ohne materiale Gene.

16 Für diese Entdeckung erhielt Muller 1946 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. 17 Diese Übersetzung liefert Weber – im Original heißt es „variation due to change in the individual gene“ (Muller 1922). Die Übersetzung ist aber nicht falsch, da sie die Vererbbarkeit, welche Muller im Artikel betont, hervorhebt.

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1.2 Molekulargenetik – Struktur und Funktion von materialen Genen Die zweite Epoche der Genetik, die Molekulargenetik, erstreckt sich von 1953 bis 2003. Dabei wird neben der molekularen Struktur auch die Funktion des Gens aufgeklärt. Spielte bisher vor allem die Vererbung eine Rolle für die Genetik, so gerät auch der Entwicklungsbezug in den Fokus. Bahnte sich bereits zum Ende der ersten Jahrhunderthälfte ein Materialisierungsprozess in der Genetik an, so wurde sowohl die Struktur als auch die Funktion des Gens erst in der zweiten Jahrhunderthälfte erkannt. Diese Molekulargenetik weicht damit von der klassischen Genetik ab. Vor der Erkenntnis der Struktur der Gene mussten diese allerdings lokalisiert werden. Zwar war seit Morgans Synthese der Chromosomentheorie und Genetik klar, dass Gene sich auf den Chromosomen befinden. Unklar war aber, woraus Gene bestehen. In Frage kamen entweder die im Chromosom vorkommenden komplexen Proteine oder die bereits 1869 in Tübingen isolierte Desoxyribonukleinsäure (DNS).18 Während die in den Chromosomen auftretenden Proteine in vielfältigen Formen vorkommen und aufgrund dieser Komplexität die Ableitung der unterschiedlichen Genprodukte schlüssig erschien, sprach die Uniformität der DNS gegen das Makromolekül.19 Die Ableitung vielfältiger Genwirkungen aus einem dermaßen gleichförmigen Molekül erschien unmöglich. Erst 1944 wies der Arzt Oswald Avery durch ein Experiment mit gereinigten zellulären Bestandteilen nach, dass die Erbinformation der Gene in der DNS liegt.20 18 Es ist beachtlich, dass bereits ihr Entdecker Friedrich Miescher die Nukleinsäure mit der Vererbung in Verbindung brachte: „Sofern wir [...] annehmen wollten, dass eine einzelne Substanz [...] auf irgendeine Art [...] die spezifische Ursache der Befruchtung sei, so müsste man ohne Zweifel vor allem an das Nuclein denken“ (Dahm 2008, 768). Miescher konnte sich aber nicht erklären, wie eine einzige und zudem so gleichförmige Substanz die Vererbung bedingen und die biologische Vielfalt in der Natur hervorbringen kann und verwarf daraufhin sei­nen Gedanken. 19 Aus heutiger Perspektive erscheint es befremdlich, aber bis Ende der 40er Jahre des 20. Jh. galten die Proteine und nicht die DNS als materiale Basis der Gene und ein „Proteindogma“ (Kay 1993) beherrschte das genetische Denken. 20 Früh war bekannt, dass Bakterien über ein sog. transformierendes Potential ver­ fügen. Der Bakteriologe Frederick Griffith (1928) zeigte, dass von zwei Pneumo­ kokkenstämmen nur einer eine letale Lungenentzündung hervorrief. Setzte man nichtvirulente Bakterien einer Lösung aus abgetöteten virulenten Bakterien aus, die selbst nicht mehr infektiös waren, so übertrug sich ihre Virulenz und damit in­

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Diese entscheidende Erkenntnis erfuhr aufgrund des vorherrschenden Proteindogmas zunächst geringe Beachtung (Rheinberger 1998; 2009, 77). Das Interesse an der DNS änderte sich aber, als der Physiker Francis Crick und der Biologe James Watson 1953 die molekulare Struktur der DNS aufklärten. Dabei zeigen sie, dass die DNS ein doppelsträngiges Kettenmolekül aus repetitiven Bausteinen ist und die Form einer Doppelhelix hat.21 Die DNS erinnert an eine verwinkelte Leiter. Deren Bausteine, die Nukleotide, bestehen aus den Elementen Phosphat, Zucker und einer Base. In der DNS-Längsachse sind die Nukleotide durch den Zucker-Phosphat-Komplex verbunden, linear angeordnet und bilden die Holmen der Leiter. In der Querachse sind zwei Nukleotidbasen paarig gebunden und bilden die Leitersprossen. Da die Basen Adenin/Thy­ min und Guanin/Cytosin komplementär sind, verhalten sich die Basensequenzen beider Stränge antiparallel zueinander. Obgleich dieses Wissen Einsicht in die chemischen Eigenschaften des Makromoleküls gibt und dadurch verrät, wie sich die DNS im zellulären Milieu verhält, somit einen entscheidenden Fortschritt bei der Erforschung der Struktur der Gene darstellt, wird dieser Moment aber oft überhöht. Die molekulare Struktur der Nukleinsäure sagt über die Struktur des Gens oder das Verhältnis zwischen Gen und Genprodukt, also die Funktion, nichts aus. Jedoch konnte die Suche nach der materialen Basis der Gene in Kenntnis um den Aufbau der DNS auf biochemischer Basis ansetzen. Es handelt sich daher um die Geburtsstunde der Molekulargenetik. Das für die Entwicklung der Molekulargenetik wichtigste Anschlussprojekt bezieht sich auf die Aufklärung des genetischen Codes, der das Verhältnis zwischen der DNS und dem Protein beschreibt. Allerdings behinderte auf dem Weg dahin eine epistemische Hürde die Aufklärung. Es ist beachtenswert, dass der anfäng-

fizierte Testorganismen erkrankten. Avery verfeinerte diese Experimente, indem er die chemischen Bestandteile Protein, DNS, RNS, Fette und Kohlenhydrate des letalen Stammes trennte und die einzelnen Fraktionen nichtletalen Pneumo­ kokken zugab. Da ausschließlich mit der DNS-Lösung geimpfte Versuchstiere erkrankten, konnte einzig die DNS die krankheitsauslösenden Gene enthalten. 21 Crick und Watson führten die Forschungsergebnisse des Biochemikers Erwin Chargaff (Adenin/Thymin, sowie Guanin/Cytosin treten im 1 : 1 Verhältnis auf), der Biophysiker Rosalind Franklin und Maurice Wilkins (erstes interpre­ tierbares Röntgenstrukturmuster aus kristallisierter DNS) und des Biochemi­ kers Linus Pauling (Proteine haben Helixstruktur) zusammen. Erst auf dieser Grundlage konnte die Molekülstruktur der DNS erkannt werden.

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liche Fokus auf das dreidimensionale Gebilde der DNS den Aufklärungsprozess nicht beschleunigte, sondern vorerst behinderte. Zunächst wurde nämlich an „falscher“ Stelle gesucht. Im Anschluss an Watson und Cricks Aufklärung der molekularen Struktur der DNS wurde ihre stereometrische Struktur, also die Dreidimensionalität des Makromoleküls, als Informationsträger vermutet. In diesem Zusammenhang spielt Crick ein weiteres Mal eine entscheidende Rolle, indem er diese gedankliche Engführung als eine Sackgasse erkennt (Griffith & Stotz 2013). In seinem Aufsatz On Protein Syn­ thesis (1958) postuliert Crick zwei Forschungsheuristiken und lenkt damit den Aufklärungsprozess in die richtige Richtung. Während seine Sequenz-Hypothese das entscheidende Merkmal der DNS in der Basensequenz der Nukleinsäure erkennt, bezieht sich das zen­ trale Dogma auf die Unidirektionalität der Information (1, III, 3.1.1). Diese fließt von der DNS über die RNS zum Protein, d. h. somatische Änderungen auf Protein- oder RNS-Ebene können die genetische Information nicht beeinflussen.22 Dabei definiert Crick: „Information means here the precise determination of sequence, either of bases in the nucleic acid or of amino acid residues in the protein“ (Crick 1958, 153). Erst Cricks Abstraktion von der dreidimensionalen Raumstruktur auf die eindimensionale der Basenabfolge der DNS ermöglichte die Dechiffrierung des sogenannten genetischen Codes und damit die Aufklärung der Genstruktur.23 Davor wurde jedoch die Funktion des Gens aufgeklärt und der von Muller als Heterokatalysis bezeichnete Prozess der Proteinsynthese verstanden. Ursprünglich wurde angenommen, dass die Übertragung der genetischen Information, von der DNS bis zum Protein, durch Ribosomen vermittelt würde. Da die Ribosomen bei 22 Aus historischer Perspektive verwundert es, dass gegenwärtig oft nur noch vom zentralen Dogma die Rede ist, d. h. dass die im Aufklärungsprozess des genetischen Codes entscheidende Sequenzhypothese in Vergessenheit geraten ist. Das Ausblenden der Entstehungsgeschichte führt dabei leider zu dem Miss­ verständnis, Crick hätte mit seinem zentralen Dogma einen Gendeterminismus begründet. Tatsächlich verleitet die Begriffswahl „Dogma“ zu voreiligen Speku­ lationen. Judson (1980) zeigt aber, dass Crick bei der Namenswahl die spezifische Begriffsbedeutung eines Dogmas nicht kannte und er seine Hypothese lediglich aufgrund der alltäglichen Verwendungsweise Dogma nannte. 23 Die Dreidimensionalität der DNS ist durchaus von Bedeutung. Sie spielt z. B. beim Kondensationsprozess der DNS zu Chromosomen während der Interphase des Zellzyklus, oder bei der Regulation der Transkription bzw. der Genaktivität (1, II, 3) eine zentrale Rolle. Aber im Dechiffrierungsprozess lenkte sie den Blick in die falsche Richtung.

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allen Lebewesen gleich sind, die Proteine sich dagegen aber unterscheiden, werden sie als die Überträger der genetischen Information ausgeschlossen. Erst die Entdeckung einer besonderen RNS-Klasse durch die beiden Genetiker Francois Jacob und Jacques Monod (1961) trägt zur richtigen Erklärung bei. Sie weisen nach, dass die Proteinsynthese aus zwei Teilschritten besteht, wobei die von ihnen entdeckte mRNS als eine Art Bote (messengerRNS) die genetische Information vermittelt. Im ersten Schritt, der Transkription, wird danach die Basensequenz eines Gens in die Basensequenz der RNS transkribiert, welche im Unterschied zur DNS nur einsträngig ist und statt der Base Thymin (DNS) die strukturähnliche Base Uracil (RNS) beinhaltet. Der anschließende Syntheseprozess geht mit einer räumlichen Bewegung einher. In eukaryotischen Zellen befindet sich die DNS in einem Zellkern – diesen verlässt nun die einsträngige mRNS. Der zweite Syntheseschritt, die Translation der Basensequenz der mRNS in die Aminosäuresequenz des Proteins, findet außerhalb des Kerns im Cytoplasma statt.24 Die Proteinsynthese stellt eine Heterokatalyse dar, insofern sie die Übertragung molekularer Ordnung von einer Molekülklasse auf eine andere bezeichnet. Dabei bleibt die Ordnung in erster (DNS) erhalten und diese wird in die der anderen (Protein) umgesetzt, d. h. translatiert.25 24 Zeitlich betrachtet ist der genetische Code, d. h. die Entsprechung eines Basentri­ pletts zu einer Aminosäure, erst im Rahmen der Translation von Bedeutung. Die Aminosäuresequenz des Proteins entspricht der Basensequenz des Gens. Mit der Translation ist die Proteinsynthese abgeschlossen. Die linear vorliegende Ami­ nosäuresequenz wird aber weiter modifiziert. Erst durch die posttranslationale Erzeugung der Raumstruktur wird das Protein funktional. 25 Auch die molekulare Grundlage der übrigen beiden Aspekte des Gens – Autoka­ talyse und Mutation – wurde früh aufgedeckt. Das Grundprinzip der Autokata­ lyse, d. h. der DNS-Replikation während der Zellteilung, erkannten die Biologen Matthew Messelson und Franklin Stahl (1958) in der semikonservativen Repli­ kation. Der Replikationsprozess beginnt mit der Auftrennung des DNS-Doppel­ strangs, wobei eine Stranghälfte dem Replikationsenzym DNS-Polymerase als Matrize dient. Diese vervollständigt den Doppelstrang durch Einbau komple­ mentärer Nukleotide. Die Aufklärung der Mutationsprozesse fällt mit der Entdeckung der DNSReparaturmechanismen zusammen. Verwies Muller auf die Stabilität der Gen­ mutationen, so zeigte sich aber, dass Mutationen oft reversibel sind. Die z. B. durch radioaktive Strahlung bedingte Veränderung der Basensequenz wird er­ kannt und ausgebessert. Dieser Reparaturmechanismus wurde spät aufgedeckt (Radman 1973). Die DNS ist nicht an sich stabil – sie wird stabilisiert. Mutationen lassen sich heute auf mindestens zwei Ebenen spezifizieren (Chromosomenmutation: Amplifikation, Inversion, Deletion, Insertion, Trans­ lokation. Genmutation: Punkt-, Rastermutation, reparaturbedingte Mutation,

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Erst nach dieser Aufklärung der Funktion des Gens wurde seine Struktur genauer verstanden. 1961 gelingt den Biochemikern Heinrich Matthaei und Marshall Nirenberg die Identifizierung des ersten Codes und damit die Bestimmung der kleinsten Informationseinheit als ein Triplett aus den DNS-Basen. Das Basentriplett UUU der RNS codiert für die Aminosäure Phenylalanin. Die endgültige Entschlüsselung dauert allerdings noch an. Erst weitere fünf Jahren später können alle 64 Triplettkombinationen der vier DNSBasen den 20 Aminosäuren zugeordnet werden und der genetische Code gilt als dechiffriert.26 Da dieser über die bloße Bestimmung der Aminosäuren hinaus auch Start-, bzw. Stop-Codes beinhaltet, kristallisiert sich das molekulare Gen nun als eine abgrenzbare Einheit heraus, die aus den drei Strukturmomenten Start, Leseraster und Stopp besteht. Auch die Entwicklungsbezüge des Gens werden aufgedeckt. Zu dem Zeitpunkt ist klar, dass hierbei die Proteine die Funktionseinheiten darstellen – nicht aber, wie der Entwicklungsprozess reguliert wird. Diese Frage wird durch die Entdeckung des Operons durch Jacob und Monod (1961) angegangen. Unter einem Operon wird eine Regulationseinheit auf der Ebene der DNS verstanden, die aus den Abschnitten Promotor, Operator und mehreren Genen besteht. Der Promotor ist die Bindungsstelle der Transkriptionseinheit Polymerase, die anschließend die DNS genabwärts entlangwandert und die hier vorkommende Genbatterien in mRNS transkribiert. Der Operator ist eine Bindestelle für inhibierende Proteine, d. h. diese blockieren die Polymerase und verhindern somit die Transkription. Im Operon kommen zwei unterschiedliche Genklassen vor: Regu­ latorgene kodieren für Repressoren und Aktivatoren, die anschließend die Transkription der Strukturgene regulieren.27 Letztere wirken dann beim Auf-/Abbau von Stoffwechselprodukten mit. Reversion und Inversion – wobei diese weiter in spontane und induzierbare Mu­ tationen unterteilt werden.) 26 Der genetische Code ist degeneriert, d. h. mehrere Basentripletts kodieren für eine Aminosäure. 27 Im Rahmen von Jacobs & Monods Aufklärung des Lac-Operons spielt das Struk­ turgen lacZ eine wichtige Rolle. Dieses codiert für das Enzym ß-Galaktosidase, das den Milchzucker Lactose in einfachere Zucker abbaut. Seine Transkription ist substratabhängig. Im Falle von Lactosemangel binden Repressoren am Operator und behindern die Transkription (negative Rückkopplung). Ist Lactose anwe­ send, bewirkt diese eine räumliche Veränderung des Repressors, wodurch dieser sich vom Operator löst und die Transkription ermöglicht (positive Rückkopp­ lung). Dabei bindet der Aktivator (CAP) an den Promotor und beschleunigt so

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Das Operon-Modell stellt einen Meilenstein in der Aufklärung des Entwicklungsprozesses dar, da es die Interaktion von Genstruktur (DNS) und Funktion (Proteinsynthese) erklärt. Zunächst glaubt man damit alle übrigen Entwicklungsprozesse verstehen zu können, doch dies stellt sich als ein Irrtum heraus (Griffith & Stotz 2013, 49). Der anfängliche Fokus der Molekulargenetik lag in der Bakterienforschung. Wie sich aber bald zeigt, ist die genetische Regulation bei höheren Organismen komplizierter und es kommen andere Mechanismen vor. Die Forschung richtet sich daher auf die Untersuchung von Eukaryonten aus. Mit dieser Forschungszuwendung zu höheren Tieren gerät die Frage nach der genetischen Regulation der Entwicklung in den Fokus. Anders als Bakterien erfahren mehrzellig organisierte Lebewesen eine morphologische Entwicklung. Nach dem Grundmuster des Operon-Modells werden hier Entwicklungsvorgänge wie Segmentierung oder Ausbildung von z. B. Augen­anlagen durch Regulatorgene gesteuert. Anders jedoch als im Falle der Regulation im Operon-Modell setzen sie irreversible Differenzierungsprozesse in Gang. Entwicklungsgene, oder auch homöotische Gene (gr. homeosis = Wechsel, Umwandlung) wie pax6 oder die Hox-Gene codieren für Transkriptionsfaktoren, welche die Transkription funktional zusammengehöriger Gene regulieren und dadurch den Entwicklungsprozess koordinieren. Für die zeitgleiche In-/Aktivierung ist eine bestimmte Region der Entwicklungsgene verantwortlich.28 Diese Homöobox kodiert für einen Abschnitt des Regulatorproteins, die sogenannte Homöodomäne. Dabei handelt sich um eine Bindestelle, welche an einem definierten DNS-Bereich bindet und dadurch, analog zum Operator im Operon-Modell, die Transkription des Abschnitts verhindert. Aufgrunddessen ist es möglich, die Aktivität aller Gene mit dieser Erkennungssequenz zu regulieren und so Entwicklungsschritte zu koordinieren. Aber nicht nur Strukturgene, sondern auch Entwicklungsgene werden reguliert. Ihre Regulation erfolgt anhand von Rückkopplungen aus dem sich entwickelnden Gewebe anhand von Konzentrationsgradienten, die Transkription. Diese substratinduzierte Regulation ermöglicht eine effiziente Stoffwechselregulation, da lactoseabbauende Enzyme nur synthetisiert werden wenn sie gebraucht werden. 28 Die Entwicklungsgene wurden durch gezielte Mutation einzelner Gene (Knock­ out-Experimente) ermittelt. (u. a. Nüsslein-Volhard & Wieschaus 1980). Für die Aufklärung dieses Entwicklungsprozesses erhielten die drei Forscher Edward B. Lewis, Eric F. Wieschaus und Christiane Nüsslein-Volhard 1995 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin.

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die Auskunft über den Entwicklungszustand geben und dadurch die Aktivität der Entwicklungsgene festlegen. Das Ineinandergreifen von Regulationsschleifen bestimmt so die linear fortschreitende Entwicklung. Diese genetischen „Entwicklungsprogramme“ beziehen sich aber nur auf die Artentwicklung29 – die Individualentwicklung wird erst später zu einem übergreifenden Forschungsthema (1, III, 2). In Bezug auf die öffentliche Wahrnehmung des Gens sind zwei weitere Entwicklungsrichtungen der Molekulargenetik wichtig. Obgleich aufgrund der komplexen Wirkungsweise von Genen höherer Organismen aus fachlicher Perspektive wenig für den Gendeterminismus spricht, verfestigt sich ein solches Bild zum Ende des 20. Jh. in der Öffentlichkeit. Aus wissenschaftshistorischer Perspektive wird dafür das Aufkommen der Gentechnologie und das Humangenomprojekt (HGP) als maßgeblich verantwortlich erachtet (Müller-Wille & Rheinberger 2009, 89-103). Für die Entwicklung der Gentechnik sind zwei Entdeckungen von entscheidender Bedeutung. Bereits in den 60ern wurden Restriktionsenzyme entdeckt, d. h. Enzyme mit der Fähigkeit DNS an bestimmten Stellen (Palindrome) zu schneiden.30 Eine weitere Enzymklasse, sogenannte Ligasen, können die DNS-Fragmente mit komplementären endständigen Bereichen verbinden. Die beiden Enzyme stellen die Grundelemente des gentechnologischen „Werkzeugkastens“ dar, wonach es möglich ist, definierte DNS-Abschnitte aus Genomen heraus zu präparieren und entlang von Transfertechnologien in andere Genome einzuschleusen. Die Anwendungsziele der Gentechnik sind u. a. die Resistenzveränderung von Kulturpflanzen, Herstellung von Medikamenten und Gentherapie, wobei der universelle genetische Code es erlaubt, selbst Artgrenzen zu überwinden (transgene Lebewesen).31 Im Rahmen der Gentechnologie und 29 Da viele dieser regulatoriven Elemente artübergreifend bestehen (Konservie­ rung), nimmt man einen gemeinsamen Ursprung an. Der artübergreifenden Entwicklung von Homologien und deren Entwicklung widmet sich die Evo-Devo Forschung. Gemäß dieser Bezeichnung gilt die Entwicklung als Evolutionsfolge (Gilbert & Epel 2009). 30 Die beiden Mikrobiologen Werner Arber, Daniel Nathans sowie der Biochemiker Hamilton Othanel Smith erhielten für ihre Leistungen im Rahmen der Entde­ ckung der Restriktionsenzyme und ihrer Anwendung in der Molekulargenetik 1978 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. 31 Die Gentechnik wird weiter in die grüne (Agrartechnik), die rote (Organismen mit rotem Blut), die weiße (industrielle Anwendungen) und die graue (Anwendungen im Rahmen der Abfallwirtschaft) Gentechnik eingeteilt.

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dem erwachenden ökonomischen Interesse daran werden Gene zu manipulierbaren Entitäten, nehmen entlang Patentierungen Warencharakter an, werden verstärkt mit Krankheiten assoziiert und Gendatenbanken werden erstellt. Parallel dazu geht eine Veränderung der Technologien einher. Während im Rahmen der Gentechnik sich die neuen Nukleinsäuretechniken etablieren und sich die Laborarbeit anhand der technisch eingesetzten Biomoleküle miniaturisiert, verändern sich auch die Gerätetechniken. Die Entwicklung der Sequenzierungstechnologie zur Erfassung der Basensequenz der DNS schreitet voran.32 Es ist der Anwendungsbezug, der die beiden eigentlich unabhängigen Entwicklungen verbindet. Dabei gehen beide Entwicklungslinien in ihrer Außenwirkung mit einer spezifischen Wahrnehmung einher. Die zwei Ebenen des Gens, die strukturelle als distinkt abgrenzbarer DNS-Abschnitt und die funk­ tionale molekularer Regulationsprozesse werden im öffentlichen Diskurs zu Gentechnologie und Sequenzierung auf die Strukturebene des Gens eng geführt. Ein öffentlicher gene talk etabliert sich. Wurden Metaphern aus der Informatik wie genetische Information, Code und Decodierung zu Beginn der Molekulargenetik in die Forschung eingeführt, wobei ihre Verwendung als Behelfskonstrukte aber bewusst war, verblasst dieses Wissen um deren begrenzte Geltung im Zuge der zunehmenden Medienpräsenz des Gens, und die Metaphern verfestigen sich in der öffentlichen Wahrnehmung zu eigenständigen Begriffen.33 In verkürzter Rede werden Gene in der Außendarstellung als Information für Merkmale präsentiert. Die Mischung ökonomischer, politischer und öffentlicher Interessen verdichten das Gen als eine strukturelle Einheit, wobei das Wissen um seine komplexe Regulation, die Funktion, in den Hintergrund gerät.34 Wie zu Beginn des Jahrhunderts des Gens gilt das Gen auch 32 Die drei Biochemiker Walter Gilbert, Frederick Sanger und Paul Berg erhielten für ihre unabhängigen Arbeiten bei der Entwicklung effizienter Methoden der DNS-Sequenzierung 1980 den Nobelpreis für Chemie. 33 Zur Bedeutung sowie zur Kritik von Metaphern im Rahmen der Molekulargenetik finden sich zahlreiche Arbeiten. Siehe u. a. Keller (2001), Griffith (2001), Kay (2001), Brandt (2004), Kovács (2009), Gutmann et al. (2010). 34 Eine Umfrage unter Biologen (Stotz et al. 2004) weist nach, dass der Genbegriff in der empirischen Genforschung forschungsspezifisch ausgelegt wird. Deterministische Konzepte finden hier allerdings nur sehr selten Anwendung. In diesem Zusammenhang erinnern die beiden Wissenschaftshistoriker Müller-Wille und Rheinberger, dass Gene ursprünglich als investigative Entitäten verstanden wurden und grenzen den Genzentrismus folgendermaßen ein: „Aus dieser Perspektive ist der Genozentrismus nicht ontologisch, sondern klar

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zu seinem Ende als eine Determinante. Im Unterschied zu ersterem betrifft dieses deterministische Denken allerdings nur die öffentliche Wahrnehmung. Nach dieser Skizze der wichtigsten Entwicklungsphasen der Genetik und ihrer zentralen Begriffe werden diese im Folgenden sowohl als begriffliche Ausgangsbasis als auch als Kontrastmittel zum Verständnis der neuen Veränderungen verwendet. Die ursprüngliche Vererbungseinheit Gen sowie die genetische Forschung im Allgemeinen unterliegt einem fortwährenden Wandel.

2 Krise des Genbegriffs im aktuellen Zeitbezug In dieser Darstellung des Jahrhundert des Gens wurden die Probleme des Genbegriffs ausgeblendet. Diese werden nun gesondert behandelt. Bereits zur Hochphase der Molekulargenetik wird eine Krise des Genbegriffs behauptet. Allerdings wird diese erst gegenwärtig als besonders problematisch empfunden. Im Folgenden werden die Ursachen der Krise dargestellt, und es wird darauf eingegangen, warum die theoretischen Probleme erst so spät nach einer Lösung verlangen. Vorbereitend darauf ist es zunächst wichtig, auf die Unterschiede der Genbegriffe einzugehen. 2.1 Rekapitulation der Genbegriffe Im Rückblick auf das Jahrhundert des Gens ist es wichtig zu sehen, dass zwischen den beiden Jahrhunderthälften ein Denkwandel stattfindet, somit nicht von einer linearen Entwicklung, sondern zwei unabhängigen Forschungsprogrammen mit eigenständigen Begrifflichkeiten auszugehen ist. Dieser Bruch kann anhand der verwendeten Genbegriffe verdeutlicht werden. Hierbei ist aber zunächst Vorsicht geboten. Wissenschaftshistoriker weisen darauf hin, dass der Genbegriff kontextabhängig ausgelegt wird und weder in der Vergangenheit noch epistemologisch und pragmatisch zu begründen. Es ist, anders gesagt, die Verfügungsmacht über das Leben, die auf dem Weg der Gene gewonnen wurde und wird, die diese zugleich so unhintergehbar wirklich erscheinen lässt.“ (MüllerWille & Rheinberger 2009a, 133)

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in der Gegenwart eine einheitliche Definition des Gens bestand (u. a. Müller-Wille & Rheinberger 2009a/b).35 So wird der Genbegriff in der Praxis des Laboralltags pragmatisch, d. h. im konkreten Forschungskontext definiert, was zu einem Begriffspluralismus in der empirischen Forschung führt.36 Allerdings lassen sich diese im Detail voneinander abweichenden Begriffe durchaus unter Oberbegriffe fassen. Im Wesentlichen prägten danach zwei Leitbegriffe das vergangene Jahrhundert des Gens. Das klassische Gen (KG) der Transmissionsgenetik bestimmt in der ersten Hälfte des 20. Jh. das genetische Denken. Es wurde gezeigt, dass hier Gene formale, d. h. hypothetische Einheiten ohne materiale Entsprechung darstellen und diese auf phänomenaler Ebene erfasst werden. Mangels Kenntnis ihrer materialen Grundlagen bezieht sich das KG ausschließlich auf Merkmale, die nach den Mendelschen Regeln vererbbar sind. Dagegen wurde die materiale Basis des informationellen Gens der Molekulargenetik lokalisiert und seine Funktionsweise mechanistisch geklärt. Aufgrund dieses Perspektivenwechsels wurde das KG in der zweiten Hälfte des 20. Jh. vom klassisch molekularen Gen (KMG) abgelöst (Portin 2002; Gerstein et al. 2007). Waren die vormaligen Transmissionsgene bloß indirekt zugänglich, so materialisierte sich das Gen nun auf der Ebene der DNS. Entsprechend definiert Collins (2001) diese molekularen Gene als: „A stretch of DNA sequence that codes for a particular protein that has a particular function.“37 Dieser schlichte KMG-Begriff kann als Repräsentant aller übrigen molekularen Genbegriffe aufgefasst werden.38 35 http://www.biological-concepts.com/views/search.php?term=593 (Abruf: 31.03. 2017) führt 49 Genbegriffe auf, die seit der Begriffseinführung 1909 durch Jo­ hannsen Verwendung finden – lediglich 7 davon entstanden nach 2000. 36 Zur Begriffsverwendung in der Forschungspraxis siehe Rheinberger (2000) so­ wie Müller-Wille & Rheinberger (2009a/b). 37 Diese Definition stammt vom „Glossary of Genetic Terms: Gene“ von der Web­ site des National Human Genome Research Institute (US-amerikanische HGPOrganisation). (Abrufdatum nach Griffith (2002) 02.08.2001). Obgleich die Seite nicht mehr aktiv geführt wird, hat sie die Diskurs-Geschichte geprägt und wird daher hier übernommen. 38 Schmidt (2014): „Ich verstehe das klassisch molekulare Genkonzept im Folgen­ den als die bisher einflussreichste Variante des molekularen Genkonzeptes. Der Oberbegriff „molekulares Gen“ umfasst neben der klassisch-molekularen In­ terpretation alle Genkonzepte, bei denen (anders als in Johannsens klassischem Konzept) die DNS als materielle bzw. strukturelle Grundlage des Gens ein wesentlicher Bestandteil des Genbegriffs ist.“ (27)

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Insofern dem KG eine materiale Grundlage fehlt, das KMG sich dagegen aber gerade auf diese bezieht, liegt die Annahme nahe, beide Genbegriffe könnten sich komplementär ergänzen. Aus einer wissenschaftstheoretischen Perspektive stellt sich damit die entscheidende Frage, ob die historisch aufeinanderfolgenden Genetiken sich ineinander überführen lassen, wonach die Reduzierung des KG auf das KMG möglich wäre, oder ob sie sich unterschiedlich zueinander verhalten. Die Frage prägte einen brisanten wissenschaftstheoretischen Diskurs, dessen Ergebnisse hier allerdings nur skizziert werden können. Wurde anfänglich, d. h. zum Ende der 60.er Jahre, die Reduktion der Gesetze der klassischen Genetik auf die Gesetze physikalischer und chemischer Ebene als erfolgreich angesehen (Schaffner 1969, 342), so zeigte sich aber später (Hull 1974), dass das Verhältnis zwischen den Mendelschen und molekularen Vererbungsbegriffen keineswegs eine „Eins-zu-Eins-“ oder „Viele-zuEins-Relation“, sondern eine „Viele-zu-Viele-Relation“ darstellt (Müller-Wille & Rheinberger 2009, 128).39 Da beide Genbegriffe offensichtlich Unterschiedliches meinen, ist also eine verlustfreie Reduktion der beiden Theorien unmöglich (Waters 2007).40 In der späten Wiederaufflammung der Debatte fordert der Wissenschaftsphilosoph Lenny Moss (2003) daher, von zwei unabhängigen Genbegriffen zu sprechen. Beide Begriffe haben zwar ihre Berechtigung, allerdings ist es absolut notwendig, ihre Anwendungsbereiche auseinanderzuhalten. Während sich der Genbegriff der klassischen Genetik auf die Transmission der phänotypischen Merkmale bezieht und prädiktiv eingesetzt werden kann – Moss nennt ihn daher Gene P (Preformation) – fehlt dem vor allem im Aufklärungsrahmen der molekularen Entwicklungsbezüge entwickelten Begriff diese Entsprechung – Moss nennt ihn Gene D (Development). Er zieht daher den Schluss, Gene D könne über die molekulare Ebene hinaus etwa 39 Zu Recht weisen die beiden Autoren aber auf historische Kontinuitäten hin, sodass ein Paradigmenwechsel – zumindest im strengen Sinn – bezweifelt werden muss. Ungeachtet dessen handelt es sich aber um zwei Denkstile. 40 Ging Muller 1947 in der Denktradition der klassischen Genetik stehend von drei Hauptaspekten (Autokatalyse-, Heterokatalyse-, Mutationseinheit) des Gen aus, so erwies sich nur einer im Lichte der Molekulargenetik richtig. „The classical molecular gene, however, ist not the unit of replication, which is the whole DNA molecule of which it is a part. Nor is it the unit of mutation, which is a single DNA nucleotide. The only role with respect to which the molecular gene is the unit of function is that of producing a product. So the functional role of the gene was reduced to this alone in order to fit the molecular structures that had been uncovered.“ (Griffith & Stotz 2013, 44)

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im Prädiktionsrahmen nichts aussagen. Das Gen der klassischen Genetik beziehe sich auf die Vererbung, das der Molekulargenetik auf die Entwicklung. Zwar ähneln Moss’ Gene P und Gene D dem KG und KMG, aber aufgrund noch durchzuführender Differenzierungen werden im Folgenden nur letztere verwendet. Festzuhalten ist, dass beide Genbegriffe (KG/KMG) sich unabhängig zueinander verhalten. Bei der folgenden Darstellung der Kri­ se des Genbegriffs wird ausschließlich auf das KMG eingegangen. 2.2 Krise des Genbegriffs Die Krise des Genbegriffs stellt ein Hauptthema des wissenschaftstheoretischen Gendiskurses dar.41 Über die Ursachen der Krise ist man sich dabei einig. Sie werden im Folgenden dargestellt. Das KMG wird vielerorts als besonders problematisch erkannt (u. a. Neumann-Held 1999, Griffith 2002; Stotz et al 2004; Schmidt 2014). Für ein differenziertes Begriffsverständnis ist es wichtig, an die beiden Hauptaspekte des KMG, die Struktur- und Funktionsebene, zu erinnern: „The intention of the CMG is to define a structural unit of DNA that is also unit of developmental function. Structurally a gen is an open reading frame: a sequence that can be recognized because it begins with a promoter sequence and is not interrupted by a stop codon. Functionally, a gene determines the sequence of a protein or more accurately, the sequence of a polypeptide, one or several of which make up a protein.“ (Griffith 2002, 271f) Die Definition des KMG ist eine zweiseitige. Auf der Strukturebene der DNS wird das Gen durch den Promotor und das StopCodon begrenzt – es bezieht sich auf das offene Leseraster (ORF). Auf der Funktionsebene bestimmt diese Struktur die Aminosäuresequenz des Proteins.42 Ausgehend von dieser Zweiteilung wird also mit dem KMG implizit mitbehauptet, dass zwischen der struktu41 Frühe Kritiker: Burian (1986), Carlson (1991), Falk (1984); Keller (2001), Kitcher (1982/1992), Portin (1993). 42 Oft wird die funktionale Ebene überdehnt, etwa wenn behauptet wird, dass zen­ trales Dogma der Molekularbiologie könne durch phänotypbezogene Beispiele widerlegt werden. Die KMG-Definition beschränkt sich aber auf den moleku­ laren Bereich auf subzellulärer Ebene. Die funktionelle Ebene des Gens (determiniert Polypeptid) darf nicht mit der funktionellen Ebene des Genproduktes (determiniert Zellfunktion) und schon gar nicht mit jener Ebene des Phänotyps

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rellen Ebene der DNS und der funktionalen Ebene des Proteins ein eineindeutiges Verhältnis vorliegt, also dass ein bestimmter DNSAbschnitt für ein einziges Genprodukt codiert. Darüber hinaus wird oft behauptet, dass die Strukturebene der Funktionsebene vorgeordnet ist. Dieser einfache Genbegriff kann nicht aufrechterhalten werden. Die Forschungserkenntnisse der Molekulargenetik führten das KMG ironischerweise bereits zu seiner Hochphase in den 60er Jahren in Erklärungsnot (Müller-Wille & Rheinberger 2009, 83ff). Nach Griffith (2002) leiten vor allem folgende drei Stationen die Problematisierung des KMG ein: Erstens sind Gene nicht autonom tätig, sondern sie werden durch Operon-Komplexe reguliert. Dass die Genregulation sich nicht auf einzelne ORFs beschränkt, sondern ganze ORF-Cluster betrifft, wurde bereits gezeigt (1, I, 1.2). Die übergeordneten Regulationseinheiten werden Operons genannt und in diesen wirken vorgeschaltete Promoter-Regionen regulativ auf die Transkription der DNS. Sogenannte Aktivatoren bzw. Repressoren binden daran entlang von Rückkopplungen aus dem Entwicklungsmedium und regeln die Transkription der im Operon vorkommenden Strukturgene dynamisch. Aus dieser Sicht ist das Denken über Gene im Sinne autonomer Einheiten unmöglich. Hier sind die zellulär vermittelten Umwelt- bzw. Entwicklungsinformationen der genetischen Information auf Strukturebene vorgeordnet, insofern letztere erst nach der Aktivierung wirksam wird. Auch ist es wichtig zu sehen, dass die hierbei abgelesene Basensequenz eben nicht nur für Proteine, sondern auch für andere Produkte codiert (mRNS, cnRNS). Dieser erste Kritikpunkt ist weitreichend, insofern er alle Lebewesen betrifft. Aufgrund ihrer entscheidenden Bedeutung bei der Entwicklung oder bei Umweltreaktionen wurden regulatorisch wirksame Gencluster wie das Operon im Laufe der Evolution konserviert. Zwar weichen diese Regulationsmechanismen teilweise voneinander ab – anders als bei Jacob und Monods lac-Operon können Regulatorgene in erheblicher Entfernung zu den zu regulierenden Bereichen liegen –, das Grundprinzip der regulatorisch wirksamen Rückkopplungen und der Gen/Umwelt-Interaktion ist aber das gleiche. Zweitens müssen Gene keine lineare Basensequenz sein, die Genbereiche können sich auch überlappen. Ein bestimmter Abgleichgesetzt werden. Für ein solches Determinationsverhältnis fehlen bislang wissenschaftliche Belege.

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schnitt der Basensequenz kann als ORF für ein Protein gelten – innerhalb dieses Gens können aber darüber hinaus auch Promotoren für weitere Gene liegen. Da einzelne Gene bereits auf struktureller Ebene der DNS nicht eindeutig voneinander abgegrenzt werden können, besteht auf einer ontologischen Ebene ein Identifikationsproblem für das KMG. Bei genauerer Betrachtung stellen die räumlich abgrenzbaren molekularen DNS-Einheiten keine Geneinheiten, sondern -vielheiten dar. Ganz andere Probleme bestehen auf funktioneller Ebene. Drittens besteht kein eindeutiges Gen/Protein-Verhältnis, vielmehr herrscht ein Viele-zu-Viele Verhältnis vor. Das Verhältnis zwischen Genen und Proteinen ist vieldeutig und diese Mehrdeutigkeit wird daher als One Locus Multiple Product Dilemma (Fogle 2000, 8) bezeichnet. Dieser Punkt wird von den meisten Theoretikern der Genetik als Hauptursache der Genkrise erachtet und wird daher im Folgenden ausführlicher erläutert. Zwar gilt der genetische Code universell, allerdings gibt es artspezifische Abweichungen in der Genexpression. Höhere Organismen, sog. Eukaryoten, unterscheiden sich von Prokaryoten im Hinblick auf die genetische Funktion. Davon ist vor allem der Prozess der Proteingenese betroffen. Während die Basensequenz eines Gens bei Prokaryoten linear in die Aminosäuresequenz umgesetzt wird, fehlt eine solche Linearität bei den Eukaryoten. Das eukaryotische ORF ist in Exons und Introns unterteilt, d. h. spezifische Sequenzabschnitte, die stark vereinfacht wie aneinander gereihte Bahnwagons vorgestellt werden können.

Abb. 1: Phasen im Prozess des Spleißens – von der DNS bis zum Protein

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Verantwortlich für die Vieldeutigkeit im Gen/Protein-Verhältnis ist der Prozess des Spleißens – die oben dargestellten Abschnitte spielen dabei die zentrale Rolle. Nach der Transkription der DNS in die mRNS werden zwei RNS-Zustände unterschieden. Zunächst liegt die sogenannte prä mRNS vor – diese wird in einem Modifikationsprozess des Spleißens in die reife mRNS umgesetzt. Dabei werden die Introns entfernt (herausgeschnitten). Diese haben keine weitere Bedeutung bei der Proteingenese – lediglich die zurückbleibenden Exons werden verknüpft bei der anschließenden Translation verwendet und stehen als Information für die Aminosäuresequenz des Proteins zur Verfügung. Aber auch die verbleibenden Exons determinieren die Aminosäuresequenz des Proteins nicht. Das RNS/ Aminosäuresequenz Verhältnis ist nicht eindeutig, sondern komplex – zwischen zwei Spleißformen ist weiter zu unterscheiden. Im einfachen Falle des konstitutiven Spleißens bleibt die lineare Reihenfolge der Exons erhalten und nur die Introns werden entfernt. Im komplizierteren Falle des alternativen Spleißens wird zusätzlich auch die Anordnung der Exons verändert. Dabei können Exons ganz oder teilweise herausgespleißt werden (exon skipping), Introns beibehalten werden (intron retention), oder die Exonfragmente spiegelverkehrt eingebaut werden (alternative 3’, bzw. 5’ splice site).43 Die lineare Basensequenz eines Gens kann dadurch zu unterschiedlichen (reifen) mRNS-Sequenzen führen und somit in ganz unterschiedliche Proteine umgesetzt werden. Numerisch wird das Gen/ Protein-Verhältnis durch die Zahl und die Kombination der Exons eingegrenzt. Von entscheidender Bedeutung ist hierbei, dass es nicht die DNS, sondern das Entwicklungsmilieu ist, das die konkrete Spleißform bestimmt. Dieser Punkt trägt entscheidend zur Krise des Genbegriffs bei. Wenn es nicht die Gene sind, welche die Proteine festlegen, stellt sich die Frage nach der genetischen Funktion neu. Beim Vorgang des alternativen Spleißens dient die DNS als bloße Ressource. Der zelluläre Kontext dagegen erfährt durch seine Hauptrolle beim Vorgang der Proteindetermination eine Aufwertung. Da aber das strukturelle Gen (DNS) nicht im ein-eindeutigen Verhältnis zur funktionellen Ebene (Protein) steht, verliert die Ein­ heit Gen hinsichtlich ihrer Singularität ihre Bedeutung. Die Priorität des Gens vor dem Protein scheint hier umgekehrt. Dieser Punkt 43 Erschwerend kommt hinzu, dass dieser Vorgang nicht nur in cis sondern auch in trans stattfinden kann; parallel transkribierte ORF’s unterschiedlicher Gene können Exons austauschen, somit mehrere Gene ein Protein festlegen.

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reicht bereits zur Widerlegung des Gendeterminismus aus. Erst die Interaktion des Zellmilieus mit den Genprodukten legt die Proteinausformung fest. Daher lassen sich allein auf genetischer Wissensbasis keine Aussagen über die Proteingenese treffen. Neben diesen drei Hauptgründen befördern noch weitere Wissensaspekte die Krise des KMG.44 2.3 Aktueller Zeitbezug Die Krise des Genbegriffes störte die empirische Forschung zunächst nicht und betraf bloß den theoretischen Diskurs – erst in der Postgenomik wird eine Neudefinition des Gens erforderlich. Die Krise des KMG-Begriffs wird innerhalb des Gendiskurses unterschiedlich bewertet. So weist etwa der Wissenschaftshistoriker Rheinberger darauf hin, dass eine präzise Definition des Gens im Rahmen der empirischen Forschung kontraproduktiv wäre – sie würde die Forschung behindern. Diese Ansicht ist ungewöhnlich und muss kurz erklärt werden. Für Rheinberger stellt das Gen den Idealtyp eines sogenannten „boundary objects“ dar. Diese Objekte zeichnen sich durch ihr Vermögen aus, unterschiedlichste Forschungsdisziplinen miteinander zu verbinden. Um diese Anschlussfähigkeit zu gewähren, bedürfen sie gerade nicht der Begriffsschärfe, sondern vielmehr einer konzeptuellen Vagheit. Im Forschungsausschnitt wird pragmatisch mit dem Genbegriff umgegangen. Er steht im Vorfeld nicht fest, sondern wird relativ zum Forschungsziel ausgelegt. Rheinberger konstatiert: „As long as the objects of research are in flux, the corresponding concepts must remain in flux, too“. (Rheinberger 2000, 221) Aufgrund der Forschungsdynamik ist es kontraproduktiv, die Vielzahl der Genbegriffe definitorisch zu vereinheitlichen. Die Krise des Genbegriffs impliziert das Miss44 Fogle (2000) gibt diese Probleme sehr ausführlich wieder. El-Hani & Charbel (2007) weisen über die oberen Punkte hinaus auf eine räumliche Ursache hin. Die Grenzen des Gens verändern sich zugunsten eines Kontinuums, sodass das strukturbezogene Verständnis des KMGs im prozessualen Sinne erweitert wer­ den muss. Auf diesen Punkt wird an anderer Stelle ausführlich eingegangen (1, II, 2). Gerstein et al. (2007) führen neben den oberen Hauptgründen zwei weitere Problembereiche an; Parasitäre DNS, sogenannte mobile Gene (Transposons) sowie nichtkodierende und damit nichtfunktional scheinende Bereiche der DNS (junk-DNA) erfüllen eine regulative Funktion und müssten daher dem KMG zugerechnet werden. Portin (2002) führt acht Einzelgründe auf – siehe hierzu auch Portin (2009).

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verständnis, epistemische Einheiten ontologisch auszulegen. Für die empirische Forschung war der unscharfe Genbegriff daher bislang nicht problematisch. Dagegen wird von Seiten der Wissenschaftstheorie eine trennscharfe Definition des Genbegriffs verlangt. Dies ist notwendig, da hier wissenschaftliche Begriffe systematisch im Zusammenhang erfasst werden. Am deutlichsten wird diese Forderung im Kontext der Evolutionstheorie, die den theoretischen Integrationsrahmen aller biologischen Theorien bildet. Weder darf hier Vagheit vorherrschen, noch eine Vielzahl von Genbegriffen nebeneinander bestehen. An den Genbegriff werden konkrete Forderungen gestellt. Er muss zur Evolutionserklärung beitragen und den Konsistenzforderungen der Wissenschaftstheorie genügen, d. h. mit übrigen Theorien im Einklang sein. Hier bedarf es aus systematischen Gründen genau eines Genbegriffs. Daher ist es wenig verwunderlich, dass die Krise des Genbegriffs zunächst in diesem wissenschaftstheoretischen Rahmen erkannt wurde und hier die Probleme des KMG seit Jahrzehnten bekannt sind. Da die Krise des Genbegriffs in der empirischen Forschung keine gravierende Rolle spielte, stellt sich die Frage, warum sie nun, d. h. zu so „später Stunde“ plötzlich als besonders dringlich gilt. Die Brisanz der Krise erklärt sich durch neue Veränderungen in der Biologie. Die vormals bloß theoretische Erklärungsnot wird gegenwärtig durch eine einheitliche Bewegung aus der Grundlagenforschung erheblich verstärkt. Der Abschluss des HGPs nimmt dabei eine Schlüsselrolle ein. 2003 wurde dessen deklariertes Forschungsziel, die Sequenzierung des Humangenoms, erreicht und das Forschungsprogramm offiziell beendet. Dieser Abschluss stellt allerdings auch in anderer Hinsicht ein Ende dar. Forschungsstrategisch betrachtet verliert das KMG mit der Ermittlung der Basensequenz einen wichtigen Legitimationsgrund. Da die Basensequenz der DNS nun bekannt ist, ist auf dieser Strukturebene des Gens keine weitere Forschungszuwendung mehr notwendig. Die biologische Grundlagenforschung tritt damit in eine neue Phase. Zur Verdeutlichung dieses Wechsels unterscheiden Wissenschaftshistoriker begrifflich zwischen zwei Phasen. Während in der Genomik die „Abfolge oder ‚Sequenz‘ von Basenpaaren, aus denen sich die Kettenmoleküle der DNS zusammensetzen“, untersucht wurde, bezieht sich der Ausdruck Postgenomik auf „die Phase, in der sich die Lebenswissenschaften befinden, seit es Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts gelang, über einzelne Chromosomenabschnitte hinaus https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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ganze Chromosomensätze vollständig zu sequenzieren“ (MüllerWille & Rheinberger 2009a, 9). Zunächst ist der Begriff Postge­ nomik als reiner Epochenbegriff zur bloßen zeitlichen Verortung hilfreich.45 Allerdings hat der Wandel auch auf inhaltlicher Ebene Konsequenzen. Wurde das Gen im Rahmen des HGPs hauptsächlich auf struktureller Ebene (DNS) erfasst, so ändert sich dies aufgrund einer neuen wissenschaftlichen Fragestellung. Gegenwärtig gerät der im Sequenzierungsprojekt programmatisch ausgeblendete Funktionszusammenhang in den Fokus. Ein neues Forschungsprogramm bestimmt das Denken. Die Systembiologie stellt das wichtigste Nachfolgeprojekt des HGPs dar (vgl. Ideker et al. 2001). Als solche stellt sie aber entgegen dem zentral koordinierten HGP kein definiertes Projekt dar, sondern der Name dient als Sammelbegriff für postgenomische Projekte ähnlicher Ausrichtung (Keller 2005). Da die im Rahmen reduktionistischer Forschungsprojekte generierten Daten hier im physiologischen Kontext zusammengeführt werden, gilt ihre Vorgehensweise als eine ganzheitliche. Im Wesentlichen geht es in der Systembiologie darum, die dynamischen Abläufe in einer Zelle, oder sogar in Organen auf molekularer Ebene zu erfassen, ihre Mechanismen zu verstehen und darauf aufbauend Simulationsmodelle zu erstellen. Ihr Vorgehen ist integrativ. Die Wissensbereiche der Biologie, aber auch der Informatik und Mathematik werden im Hinblick auf das Forschungsziel, die Erklärung der physiologischen Stoffwechselwege, zusammengeführt. 46 Die im Rahmen der Systembiologie wiederaufgeflammte Krise des Gens ist erklärungsbedürftig.47 Die Systembiologie stellt zwar ein eigenständiges Forschungsprogramm dar. Die anleitende Idee dahinter bleibt dabei aber reduktionistisch. Hier wird der Grundgedanke der Molekularbiologie, Lebensprozesse von molekularer 45 Darüber hinaus weist Kirsten Schmidt (2014, 30) auf Parallelen zwischen den Begriffen Postgenomik und Postmoderne hin. Michel Morange (2006) unter­ sucht die Postgenomik hinsichtlich des Gegensatzpaares Reduktion und Emergenz. 46 Der Begriff Systembiologie geht auf den Biologen und Philosophen Karl Ludwig von Bertalanfy (1968) zurück. Die ganzheitliche Erfassung kompletter Systeme ist zwar seit Beginn der Molekularbiologie das Ziel. Es wurde aber erst durch die jüngsten Innovationen technisch umsetzbar. Erst der Fortschritt der Computerund vor allem der Speichertechnologien zu Beginn des 20. Jh. ermöglichten den Umgang mit den hohen Mengen biologischer Daten. 47 Eine gute kurze Übersicht über die Systembiologie bietet Kitano (2002). Für Detailfragen siehe auch Alon (2007).

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Ebene mechanistisch zu erklären, weitergeführt.48 Soweit deckt sich dies mit dem HGP. In anderer Hinsicht unterscheidet sich der neue Forschungsbereich aber erheblich. Ihr zentrales Merkmal ist die „Wiedereinführung“ der Zeitkomponente in die Biologie. Widmete sich die Genomik statischen Forschungsobjekten, der stabilen Basensequenz, stehen im physiologischen Zusammenhang dynamische Prozesse im Vordergrund. Dies wird kurz erläutert. Ein wesentliches Kennzeichen der systembiologischen Forschungsarbeit ist die sogenannte top down Methode. Aufgrund ihrer Vorgehensweise wird diese auch datengeleitete Forschung genannt.49 Dabei wird das „normale“ Vorgehen der Naturwissenschaften, wonach erst Theorien entworfen werden und diese dann in der Empirie getestet werden, gewissermaßen umgekehrt. Hier werden zunächst empirische Daten gesammelt und auf deren Grundlage werden dann Theorien gesucht. Dieser Logik folgend werden in der Systembiologie entlang von Teilprojekten, den sogenannten Omics, Rohdaten generiert. Das Suffix bezieht sich auf ähnlich geartete Forschungsprojekte. So ermittelt die Proteomic die Gesamtheit aller Proteine (Proteom) in einer Zelle. Ähnlich beziehen sich das Metabolom auf alle Stoffwechselprodukte, und das Transkriptom auf die Erfassung aller mRNS. Anders allerdings als bei dem ursprünglichen Vorgehen der klassischen Omics erfolgen im Rahmen der Systembiologie mehrere Messungen hintereinander, sodass nun auch dynamische Veränderungen abgebildet werden können. Aufgrund dieser zeitlichen Erfassung können somit die Einzelprozesse einer Zelle aufeinander bezogen, in ein Korrelationsverhältnis gesetzt, und Verhaltensmuster erkannt werden. Davon werden schließlich Wirkmechanis48 Daher handelt sich nicht wie oft behauptet wird um einen Paradigmenwechsel, sondern um die Fortsetzung der molekularbiologischen Forschung. In anderer Hinsicht allerdings liegt tatsächlich ein Wandel vor. Spielten vormals die Chemie und Physik die Hauptrolle, gewinnen nun die Informatik und Mathematik an Bedeutung (Keller 2005). 49 Dieses methodische Umdenken zugunsten datengeleiteter Forschung hat eine neue Debatte in der Theorie der Biologie hervorgerufen. Beachtenswert ist hier die Sonderausgabe zu Data-driven research in the biological and biomedical sci­ ences der Zeitschrift Studies in History and Philosophy of Biological and Bio­ medical Sciences (Leonelli et al. 2012) Zu dem Unterschied zwischen der datenund hypothesengeleiteten Vorgehensweise in der Biologie siehe Krohs (2012) In der Systembiologie wird aber auch der bottom-up Ansatz verwendet. Danach wird auf bekannte Mechanismen zurückgegriffen und diese werden extrapoliert, d. h. sie werden zur Voraussage anderer Verhältnisse herangezogen.

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men abgeleitet. Ziel dieser datengetriebenen Forschung ist es, die Regeln der Stoffwechselprozesse zu ermitteln. In diesem Rahmen spielt natürlich auch das jeweilige Genom als Gesamtheit aller Gene eine Rolle. Allerdings wird hier der Fokus auf einen bestimmten Aspekt gelegt. Stellte die Struktur des Gens, die Basensequenz, das Forschungsziel des HGPs dar, gerät nun bei der zeitlichen Auflösung der molekularen Prozesse die Funktion des Gens in den Vordergrund. Die Basensequenz interessiert hier weniger, und das Augenmerk liegt auf den tatsächlich auch vorhandenen Genprodukten und deren Wechselwirkungen. Das Gen wird hier also aus einer Prozessperspektive betrachtet. Des Weiteren kommt dem Gen im Rahmen der Systembiologie keine bevorzugte Rolle mehr zu. Das Ziel der Systembiologie ist es, die Datensätze unterschiedlicher Funktionsebenen (multiscale, multilevel approach) zusammenzuführen und zu integrieren. Die Bioinformatik nimmt dabei eine zentrale Rolle ein und aus dieser Sicht wird die Biologie insgesamt als Informationswissenschaft interpretiert. Damit geht eine epistemische Verschiebung einher. Beachtenswert ist, dass nicht wie bisher einzig die genetischen Daten als Information gelten, sondern alle generieten Daten einen Informationsstatus erhalten. Entlang dem Netzwerk als Leitmotiv werden die untersuchten biologischen Prozesse als multikausal verursacht verstanden und die Wechselwirkungen zwischen Genen und Umwelt, die nun ebenfalls als Informationsträger formalisiert wird, geraten in den Fokus. Aus dieser informationsbezogenen Sicht der Systembiologie ist der Sonderstatus von Genen hinfällig. Gene werden in einem übergeordneten Funktionszusammenhang, und damit in Abhängigkeit von den regulierenden Faktoren erfasst. Das Bild des Gens als autonomer Einheit gerät in den Hintergrund und das Gen wird nun in Interaktion, d. h. relational, verstanden. Das übergeordnete Ziel der Systembiologie ist es, alle Stoffwechselwege systematisch zu erfassen, um auf dieser Basis Prognosen etwa über Krankheitsverläufe fertigen zu können. Das in silico Modell einer menschlichen Zelle wäre ein erstes Etappenziel.50 Da50 Der Name spielt auf die Forschungsmethoden in vivo, in vitro an und verdeutlicht den zentralen Stellenwert der Computerwissenschaften – er bezieht sich auf das chemische Element Silizium, aus dem Computerchips bestehen. Die besondere Bedeutung der Bioinformatik lässt sich im praktischen Forschungsalltag bereits auf räumlicher Ebene erkennen – hier unterscheidet man zwischen wet-lab und dry-lab. Im wet-lab werden die biologischen Daten extrahiert. Im dry-lab werten Bioinformatiker die Daten aus. Die Auslegung der Biologie als

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mit ist ein computergestütztes Simulationsmodell zur Darstellung der Regelprozesse gemeint. Diese „gläserne Zelle“ stellt nur den Anfang des Forschungsprojekts Systembiologie dar. Nach einzelnen Zellen sollen die weit komplexeren Stoffwechselprozesse von Organen und schließlich Organismen auf gleichem Wege systematisch erfasst werden. Die Systembiologie ändert also als langfristig angelegtes Forschungsprogramm das biologische Denken.51 Obgleich das in silico Modell noch nicht erreicht wurde, somit forschungsleitend bleibt, sind die Folgeentwicklungen im Lichte dieser wirkmächtigen Systembiologie zu verstehen. Die vormals hauptsächlich von Wissenschaftstheoretikern empfundene Krise des Genbegriffs gewinnt nun auch in der empirischen Grundlagenforschung an Dringlichkeit. Im Rahmen systembiologischer Forschung reicht die Definition des KMG als eine atomare, d. h. abgrenzbare, Einheit und ihr Fokus auf die Struktur des Gens nicht mehr aus und sie muss funktional erweitert werden. Und in der Tat lässt sich seit dem Abschluss des HGPs und ab dem Beginn der Systembiologie eine systematische Veränderung der Debatte über Gene feststellen. Indem der systembiologische Leitgedanke sich auf physiologische Vorgänge, also auf zeitliche Prozesse, bezieht und dabei die Inter­ aktion der molekularen Wirkfaktoren in den Fokus geraten, stellen sich gänzlich neue Anforderungen in der Postgenomik. Die Begriffe werden zunehmend dynamisch gedacht.

3 Genbegriffe der Postgenomik Im Folgenden werden die wichtigsten Positionen des postgenomischen Gendiskurses dargestellt. Ihre ausführliche Ausarbeitung wurde bereits durch die Biophilosophin Kirsten Schmidt (2014) vorgenommen. Sie werden werden hier nur kurz vorgestellt.52 Alle eine Informationswissenschaft leitet eine neue Hierarchie zwischen dem molekularbiologischen Praxis- und informationsorientierten Theoriebereich ein. 51 Der systematische Ansatz schließt nichtmolekulare Gebiete, wie etwa Verhaltensforschung, Morphologie, etc., nicht aus. Ihre Ergebnisse können von übrigen molekularen Ansätzen unterstützt und bestätigt werden. Wenngleich es de facto einzelne Forschungsinteressen hierfür gibt widmet sich das gros der Systembiologie der molekularen Ebene. 52 Weitere Arbeiten über die Vielfalt des Genbegriffs finden sich in Beurton et al. (2000). Einen guten Überblick geben auch Griffith (2002) und Moss (2003). Da

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Konzepte wurden nach, bzw. zum Ende des HGP entwickelt und beziehen sich auf dessen Erkenntnisse. Im Diskurs werden die Aufga­ be, Ersetzung, Entkopplung und Erweiterung des KMG diskutiert. 3.1 Aufgabe des klassischen molekularen Gens Die These der Aufgabe des KMG wird auf zwei unterschiedlichen Ebenen diskutiert. Zum einen wird die Eliminierung des Genbe­ griffs verlangt. Zum anderen wird am KMG festgehalten, aber es wird nun lediglich im heuristischen Sinne verwendet, d. h. sein ontologischer Status wird aufgegeben. a. Die Eliminierungsthese ist streng genommen keine eigenständige Position der Postgenomik, sondern wird seit Beginn der Molekulargenetik vertreten. Im Wesentlichen behauptet sie die molekularbiologische Reduzierbarkeit der biologischen auf physiko-chemische Begriffe. Diese Position gewinnt aufgrund der Krise des Genbegriffes einerseits und des Forschungsfortschrittes andererseits an neuer Brisanz. Gegenwärtig fordern der Philosoph Richard Burian sowie die Bioinformatiker Sonja Prohaska und Peter Stadler die aktive Aufgabe des Genbegriffs.53 Burian (vgl. 2005, 175ff) erinnert an die Kontextrelativität jeglicher Gendefinition und empfindet die damit verbundene Vielzahl der Genbegriffe sowie ihre Limitationen als störend. Sollten die zugrundeliegenden molekularen Prozesse bekannt sein, wäre es besser, auf den Genbegriff zu verzichten. Ähnlich stellen Prohaska und Stadler (vgl. 2008, 215ff) fest, dass der Begriff Gen zur Erfassung der zellulären Prozesse weder notwendig noch hilfreich sei, sondern die Kenntnis des genetischen Materials (Chromosomen, Transkripte, Proteine) hier ausreiche. Dieses Umdenken käme dem postgenomischen Interesse am Genom als Ganzem entgegen (Schmidt 2014, 171).

diese Autoren andere Schwerpunkte (Entwicklung/Evolution) setzen, folge ich Schmidts Vorarbeit zum postgenomischen Diskurs.. 53 Die These der Aufgabe des Genbegriffs wird auch anderenorts vertreten (vgl. Keller 2001, Müller-Wille & Rheinberger 2009a/b). Jedoch fordern die Wissenschaftshistoriker Keller, Müller-Wille und Hans-Jörg Rheinberger nicht die aktive Aufgabe des Gens, sondern stellen als Analytiker des Zeitgeschehens deskriptiv fest, dass das Gen nach einem Jahrhundert der erfolgreichen Anwendung gegenwärtig durch neue Forschungskonzepte abgelöst wird.

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b. Für ein pragmatisches Genkonzept plädieren u. a. Rheinberger (2000) sowie Müller-Wille & Rheinberger (2009a/b). In diesem Zusammenhang weist Schmidt auf die bereits erwähnte Diskrepanz zwischen der empirischen und theoretischen Diskussion hin. Eine Umfrage unter praktizierenden Molekularbiologen zeigt, dass die theoretischen Schwierigkeiten des Genbegriffs in der Praxis fast keine Relevanz haben und die problematischen Genbegriffe weiter in der empirischen Forschung eingesetzt werden (Stotz et al. 2004).54 Dabei greifen die Forscher aus rein methodischen Gründen auf die Begriffe zurück. Ihre Verwendung in der Forschungspraxis zeugt eben nicht von einer realen Existenz des Gens, sondern geschieht aus pragmatischen Gründen. Gene sind demnach menschengemachte Begriffskonstrukte. Als konzeptuelle Werkzeuge dienen sie zur Strukturierung des jeweiligen Forschungsgebiets, ohne dass sie eine eindeutige Entsprechung auf ontologischer Ebene hätten. Da erst eine gewisse Unschärfe des Genbegriffs die multidisziplinäre Forschung ermöglicht (boundary objects – 1, I, 2.3), bedürfen diese epistemischen Objekte zudem einer begrifflichen Vagheit.55 So plädieren Rheinberger und Müller-Wille für eine Begriffspluralität in den Biowissenschaften, die durch enge Definitionen nicht eingeschränkt werden dürfe. In der Forschungspraxis wird also aufgrund seines methodologischen Werts am Gen festgehalten. 3.2 Ersatz des klassischen molekularen Gens Es finden sich drei unterschiedliche Positionen zur Modifikation des KMG. Bei allen tritt die Funktion des Gens gegenüber seiner Struktur in den Vordergrund. Diese Verschiebung ist ein Kennzeichen aller nun folgenden Positionen im Gendiskurs.

54 Die Studie ist beispielhaft für die gute interdisziplinäre Zusammenarbeit. Die von den Wissenschaftstheoretikern entworfenen Gen-Begriffe werden hier in der Forschungspraxis auf ihre Gültigkeit getestet. Die Studie untersucht die Verwendung unterschiedlicher Genkonzepte in der a) Molekular-, b) Entwicklungs-, und c) Evolutionsbiologie. 55 Würde dem Gen diese Vagheit genommen, verhinderte das die Forschung. Zu erforschende Dinge müssen im Vorfeld notwendigerweise unbestimmt sein. „Solche Vorläufigkeit ist unvermeidlich, denn epistemische Dinge verkörpern, paradox gesagt, das, was man noch nicht weiß. Sie haben den prekären Staus, in ihrer ex­perimentellen Präsenz abwesend zu sein.“ (Rheinberger 2002, 25)

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a. Das gemischt funktionale Genkonzept des Philosophen Kenneth Waters (2000) orientiert sich am zentralen Dogma der Mole­ kularbiologie (1, III, 3.1), wonach die Strukturebene des Gens (Basensequenz) die des Genproduktes (Aminosäuresequenz) festlegt. Dass hier keine einfache Beziehung besteht wurde bereits gezeigt (1, I, 2.2); posttranskriptionale Modifikationen, wie das Splicing, verhindern die Vorhersagbarkeit des Genproduktes. Laut Waters müssen zur Voraussage dem Gen weitere Dinge mit zugerechnet werden.56 So differenziert er unterschiedliche Aspekte im Genbegriff: „a gene g for linear sequence l in product p synthesized in cellular context c is a potentially replicating nucleotide sequence, n, usually contained in DNA, that determines the linear sequence l in product p at some stage of DNA expression. When I say that a nucleotide sequence, n, is a gene I mean that the sequence is a gene for l in p synthesized in c.“ (Waters 2000, 544) Die Definition des Genbegriffs erfolgt prozessual, wobei in distinkte Stufen der DNS-Expression untergliedert wird. Stufenrelativ ist es möglich, die bereits dargestellten Introns entweder dem Gen zugehörig (vor Spleißen) oder eben nicht zugehörig (nach Spleißen) zuzuordnen. Neben dem „normalen“ Expressions-Produkt, dem Polypeptid (Protein) gilt auch die nichtkodierende RNS (ncRNA) als funktionales Genprodukt, da die lineare Struktur der DNS (Basensequenz) sich im Produkt (Aminosäuresequenz des Polypeptids) wieder findet. Hier erhalten die (nukleären und zellulären) Kontextbezüge eine konstitutive Rolle für den Genbegriff. Diese Betonung der Funktionsaspekte ist die wichtigste Abweichung zum KMG-Begriff. Waters Bezeichnung gemischt funk­ tional möchte darauf hinweisen, dass die materiale DNS-Struktur weiterhin eine notwendige Komponente des Gens bleibt, aber seine Funktion erst durch die extragenomischen Kontextbezüge festgelegt wird. b. Der post-ENCODE Genbegriff von Gerstein et al (2007) wurde in der Forschungspraxis entwickelt. Er gilt als Antwort auf das ENCODE-Projekt, das entgegen dem gängigen Fokus auf Proteine

56 Waters behauptet aber nicht die reale Existenz von Genen. Seine Arbeit gilt als ein „Versuch einer Analyse des einheitlichen Genkonzeptes, das dem Denken der Molekularbiologen faktisch zugrunde liegt. […] Es handelt sich also nicht um ein Konzept des vereinheitlichten Gens als realem Objekt der Konzeptuali­ sierung auf ontologischer Ebene, sondern um ein vereinheitlichtes Genkonzept auf der methodologischen Ebene.“ (Schmidt 2014, 176)

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die RNS als Genprodukt analysiert. Der Perspektivenwechsel ist bedeutsam. Da die RNS abseits der bloßen Proteinproduktion weitere Funktionen erfüllt, muss sie im Gendiskurs beachtet werden. In diesem Sinne definieren Gerstein et al. (2007, 677) „A gene is a union of genomic sequences encoding a coherent set of potentially overlapping functional products.“ Schmidt erkennt einen entscheidenden Vorteil der neuen Definition. „Die Sequenzen der finalen funktionalen Produkte derselben Klasse (also entweder Proteine oder RNS-Moleküle) können auf die primäre genomische Sequenz zurück projiziert und somit zu einem einzigen Gen zusammengefasst werden.“ Der Rückbezug ist zentral, „weil sich mehrere funktionale Produkte aufgrund alternativen Spleißens oder überlappender Gene eine DNS-Region ‚teilen‘“ (ebd., 181). Wie bei Waters wird auch hier „rückwärts“ gedacht. Als Ausgangsbasis gilt aber statt der Stufen das funktionale Produkt RNS. Da die Definition für die zunehmend an Bedeutung gewinnenden Hochdurchsatzverfahren operationalsiert werden kann, spielt sie gegenwärtig eine wichtige Rolle. c. Der Genetiker Raphael Falk (2004) geht von der epistemi­ schen Repräsentation selektierter Zellfunktionen als Genbegriff aus. Schmidt erkennt in ihm einen „Extremfall der Stärkung der Funktionskomponente“ (2014, 184), da das Gen aus einer evolutionären Selektionsperspektive als „invariante Einheit der Vererbung und Entwicklung“ erfasst wird. Zwar besteht auch in der Ontogenese ein Kausalverhältnis zwischen Genotyp und Phänotyp – dieses entstand aber in der Phylogenese. Analog zu Johannsens Einführung des Genotyps gelten Gene als Abstraktionen phänotypischer Merkmale. Sie haben zwar auf der DNS den Ursprung, können aber hier nicht auf diskrete Abschnitte reduziert werden. Somit gibt es auf materialer Ebene nur das Genom, das als Ensemble aller selektierten Zellfunktionen verstanden wird: „Das Gen (eine abstrakte, invariante Einheit der Vererbung) prägt dem materiellen Genom eine Struktur auf, die es diesem ermöglicht, eine bestimmte, evolutionär vorteilhafte Funktion zu erfüllen“ (Schmidt 2014, 186). Gene wurden wegen ihres funktionalen Mehrwerts für den Phänotyp selektiert und werden daher relativ definiert. Als Abstrakta bilden sie allerdings nur auf phänotypischer Ebene eine Einheit. Als historisch-kausale Funktionskonzepte werden diese Gene durch ihre Funktion determiniert.

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3.3 Entkopplung unterschiedlicher Genbegriffe Manche Autoren betonen unterschiedliche Komponenten im KMGBegriff.57 Die Komponenten werden voneinander entkoppelt und können als eigenständige Genbegriffe verstanden werden. a. Lenny Moss (2003) unterscheidet das Gene D vom Gene P. Diese stellen keine neuen Begriffe dar, sondern entstanden nach einer Begriffsbereinigung. Nach Moss ist nicht der Genbegriff an sich problematisch, sondern die Vermischung zweier unabhängiger Genkonzepte. Da sie in verschiedenen Kontexten entwickelt wurden, haben sie unterschiedliche Einsatzbereiche. Das Gene P geht historisch auf die Vererbungsforschung der klassischen Genetik zurück, wobei das P sich auf den Präformismus (1, III, 2.1.1) bezieht; analog zu Mendels Erbeinheiten wird das Gene P vom Phänotyp abgeleitet und kann – anders als das Gene D – entlang der Vererbungsgesetze prognostisch eingesetzt werden. Es findet gegenwärtig in der genetischen Beratung Verwendung. Hier muss allerdings mitbedacht werden, dass das Gene P kein Korrelat auf materialer Ebene hat. Das D des Gene D bezieht sich dagegen nicht auf Vererbungsphänomene, sondern auf molekulare Entwicklungsprozesse (development). Historisch geht es auf die Molekulargenetik der zweiten Hälfte des 20. Jh. zurück. Da dieses Gen ausschließlich von der molekularen Ebene bestimmt wird und zwischen Genotyp und Phänotyp keine lineare Beziehung besteht, hat Gene D keine prognostische Bedeutung. Auf seiner Grundlage können keine Vorhersagen über phänotypische Merkmale getroffen werden. Da es keine phänotypische Information enthält, gilt das Gene D als eine bloße Entwicklungsressource. Im molekularen Entwicklungsbezug steht die zelluläre Funktion der Genprodukte nicht fest, sondern sie wird abhängig zum Entwicklungskontext aktuell ausgelegt. Laut Moss führte die Vermischung der unabhängigen Konzepte zu der Krise des Genbegriffs. Sie können weiter gebraucht werden, doch ist auf die begrenzten Einsatzbereiche Acht zu geben. b. Der Molekularbiologe Klaus Scherrer und der Mathematiker 57 Anders als Schmidt (2014, 187-195) führe ich nur zwei Positionen auf. Die Tren­­ nung der Molekularbiologin Eva Neumann-Held (2006) in evolutionäre und molekulare Gene wird hier ausgelassen, da Neumann-Held das evolutionäre Gen nicht als eigenständigen Begriff, sondern bloß als Kontrastfolie für das mo­ lekulare Prozessgen (1, I, 3.4) verwendet.

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Jürgen Jost (2007 a/b; 2009) unterscheiden das kodierende Gen von dem regulatorischen Genon. Ähnlich Moss verstehen sie das KMG als ein hybrides Genkonzept, dessen Begriffsverschmelzungen Probleme aufwerfen. Auch hier soll eine Differenzierung weiter helfen. Im Unterschied zu Moss stellt ihr Konzept aber keine getrennten Genbegriffe dar, sondern zwei in ihrer Funktion verschiedene und in ihrer Funktionsausführung sich reziprok bedingende Komponenten. Auch sie denken von der funktionellen Ebene der RNS aus, da vom KMG verschiedene Genprodukte generiert werden können und der Genbegriff mehrdeutig verstanden wird. Dagegen gewährleistet die begriffliche Rückführung von der RNS auf die DNS die eindeutige Zuordnung. Das (kodierende) Gen wird auf der Ebene der mRNS definiert als „uninterrupted nucleic acid stretch of the coding sequence in the mRNS that corresponds to a polypeptide or another functional product“ (Scherrer & Jost 2007a, 106). Das Genon bezeichnet die regulativen Faktoren, welche die Sequenzinformationen in konkrete Genprodukte umsetzen. Es ist weiter zu unterscheiden in ein cisund ein trans-Genon. Das cis-Genon beinhaltet alle regulatorischen Elemente auf der Ebene der mRNS. Das trans-Genon stellt alle regulatorischen Elemente jenseits der mRNS dar, wobei sie ebenfalls aus RNS (siRNS) bestehen können, aber nicht müssen (wie z. B. Proteine, Vitamine). Darüber hinaus unterscheiden sie zwei Vorgängerstufen des Genons. Das Proto-Genon meint regulatorische Signale auf der DNS-Ebene. Das Prä-Genon bezieht sich auf den Vorläufer des Genons auf der Ebene der prä-mRNS. 3.4 Erweiterung des klassischen molekularen Gens Die Positionen zur Erweiterung des KMG beziehen sich auf einen Perspektivenwechsel, wobei neben der DNS auch der genregulative Kontext als konstitutiv für den Genbegriff erachtet wird. a. Unter dem Begriff postgenomisches molekulares Gen führt Schmidt (2014, 195-200) zwei Konzepte auf (Stotz 2006 a/b; Portin 2009). Da sie sich unterscheiden, werden sie hier getrennt behandelt. a1. Die Philosophin Karola Stotz (2006a/b) erfasst ihr epigeneti­ sches Gen aus einer organismischen Makroperspektive. Gene gelten danach als Entwicklungsressourcen im Sinne von Moss’ Gene D. Sie sind „things an organism can do with its genome“ (2006a, 905). In Gegenposition zum Präformismus benennt Stotz ihren Ansatz https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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als molekulare Epigenesis. Diese Gene werden erst durch die Produktebene, d. h. retrospektiv als Ensemble der am Expressionsprozess beteiligten Elemente (incl. regulativer Sequenzen) erkennbar. Stotz’ epigenetisches Gen steht dabei in einer Abhängigkeit: „What a ‚gene‘ is and what it does depend on the cellular environment, on interactions with other genomic elements, gene products and other factors present in the cell.“ Die Reziprozität zwischen Teilen und Ganzem wird dabei als zentral erachtet. „Even at the level of the ‚gene‘, we may find that wholes determine parts as well as parts determine wholes“ (Stotz et al. 2006, 165). Ein essentialistisches Verständnis des Gens wird von ihr ausgeschlossen und die Genstruktur wird durch Netzwerkinteraktionen verursacht verstanden.58 Genau genommen zählt der regulative Kontext hier aber nicht zum Gen – er bringt das Gen lediglich hervor. Stotz’ postgenomischer molekularer Genbegriff liegt auf der DNS-Ebene. Sein Verständnis wird aber um regulatorische DNS-Elemente erweitert. Ihre Bezüge reichen bis zur organismischen Ebene. a2. Das relationale Gen des Philosophen Petter Portin (2009) ist eine Erweiterung von Stotz’ Konzept, wobei nun auch nicht genomische Faktoren mit in die Definition einfließen. Für Portins Begriff ist der Begriff Reaktionsnorm entscheidend.59 Sie stellt die Gesamtheit aller potentiell möglichen genetischen Reaktionen eines Genotyps dar. Danach steht ein Phänotyp nicht genetisch fest, sondern ist Produkt einer bidirektionalen Interaktion aus der Reaktionsnorm einerseits und der Umwelt des Organismus andererseits. Die Aktivität des Organismus ist entscheidend. Erst der konkrete 58 „Networks of genome regulation made up of cis-reguatory sequence, trans-ac­ tivating factors and environmental signals causally specifiy the physical struc­ ture of a gene and the range of its products through the activation, the selective use, and more radically, the creation of nucleotide sequence information.“ (Stotz 2006b, 536) 59 Ursprünglich wurde die Reaktionsnorm unter folgender Definition eingeführt: „The term reaction norm refers to the set of phenotypes that can be produced by an individual genotype that is exposed to different environmental conditions.“ Dabei gilt es den Unterschied zur phänotypischen Plastizität zu beachten. „Re­ action norms may be plastic or non-plastic, that is, the phenotype may either change or remain fixed in response to environmental change [...]. Although phe­ notypic plasticity and reaction norm are often used interchangeably, plasticity always refers to a reaction norm, but a reaction norm is not necessarily plastic.” (Schlichting & Pigliucci 1998, 51) Entgegen Schmidts Annahme geht Portins Idee der Reaktionsnorm nicht auf Stotz, sondern auf Falk (2001) zurück.

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Umweltbezug des Individuums legt aus dem Set aller potentiell möglichen genetischen Reaktionen die aktuell wirksame fest, die den Phänotyp bestimmt. Entsprechend definiert Portin: „The gene is a union of genomic sequences and the regulatory factors associated structurally or functionally with them. The gene, together with other genes, and being part of the genotype, residing in the DNA (or RNA) sequence of the genome, or inherited in extragenomic fashion, determines the norm of reaction. The norm of reaction affects, in collaboration with the environment in which the organism at a given time finds itself, the phenotype of the organism. Moreover, the activity of the individual itself plays a part in the development of the phenotype, as if the individual is part of the environment of the genotype.“ (Portin 2009, 115) Portin nennt sein relationales Genkonzept auch systemisches, bzw. kybernetisches Genkonzept. Es ist systemisch, da es neben transkriptionsaktiven Sequenzen jene im Genom und in der Umwelt verorteten Entwicklungsfaktoren definitorisch mit einbezieht. Als kybernetisches System zeichnet es sich zusätzlich aus, indem es die Interaktion von Teilbereichen des Genotyps einerseits und zwischen dem Genotyp und der Umwelt andererseits als genregulativ versteht und hervorhebt. b. Mit dem molekularen Prozessgen (PMG) der Molekularbiologin Eva Neumann-Held (1999/2001) wird die Prozessperspektive der Systembiologie konsequent umgesetzt. Es stellt die radikalste Ausprägung der postgenomischen Genbegriffe dar. Auch hier wird „rückwärts“ gedacht, d. h. ein Polypeptid gilt als Ausgangspunkt und das PMG wird als ein Hervorbringungsprozess definiert: „Gene is the process (i.e., the course of events) that binds together DNA and all other relevant non-DNA entities in the production of a particular polypeptide. The term gene in this sense stands for processes which are specified by (1) specific interactions between specific DNA segments and specific non-DNA located entities, (2) specific processing mechanisms of resulting mRNAs in interactions with additional non-DNA located entities. These processes, in their specific temporal order, result (3) in the synthesis of a specific polypeptide.“ (Neumann-Held 2001, 74) Hier wird der Fokus des KMG auf die strukturelle Ebene der DNS gänzlich aufgegeben. Auch unterscheidet das PMG nicht mehr in distinkte Funktionskomponenten, sondern bezieht sich auf den gesamten Prozess der Proteingenese. Ein Punkt muss hier genauer dargestellt werden. Neumann-Held nennt ihren Ansatz konstruk­ https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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tivistisch. Damit meint sie keine Begriffskonstruktion, sondern das Gen selbst wird in einem Entwicklungsprozess konstruiert.60 Vor der Expression gibt es also keine Gene – sie liegen nicht präexistent vor, sondern erschließen sich erst a posteriori. Ihr Perspektivenwechsel von der Struktur- zur Prozessebene des Gens hat Konsequenzen für die Bedeutung der DNS. Die wird zwar weiterhin als unverzichtbare Komponente des PMG-Begriffs verstanden. Dennoch relativiert sich ihre Bedeutung, wenn das Makromolekül DNS mit den übrigen Prozesskomponenten, die ebenfalls unverzichtbar sind, gleichgesetzt wird. Das Gen wechselt hier seinen ontologischen Status von einer substanziellen Entität hin zu einem Prozess. Dabei bleibt eine Grenze bestehen. Jenseits der subzellulären Bezüge sagt der PMG nichts über die phänotypische Entwicklung aus. Diese molekulare Perspektive spart den Lebensbereich aus.61

4 Nach dem „Jahrhundert des Gens“ Die postgenomischen Genbegriffe weichen deutlich von den Genbegriffen des zurückliegenden Jahrhunderts des Gens ab. Im Folgenden werden ihre Merkmale in einer Überschau dargestellt. In der klassischen Genetik der ersten Hälfte des 20. Jh. werden Gene von der Ebene des Phänotyps abgeleitet, wobei die Mendelschen Vererbungsgesetze als das entscheidende Selektiv gelten. Das KG wird hier über Merkmale erschlossen, die sich gemäß den 60 Neumann-Helds Ansatz ist im Rahmen des evolutionstheoretischen Gendiskur­ ses der Developmental Systems Theory (DST) zuzuordnen. Danach (vgl. Oyama 1985) evolvierte der Organismus in Abhängigkeit von seiner Umwelt als ein Entwicklungssystem. Es ist das Anliegen der DST, Dualismen (Kultur/Natur; Vererbung/Entwicklung) aufzuheben. Dies betrifft auch das KMG, zumindest wenn es als eine Entwicklungsinformation ausgelegt wird und Organismen auf biologischer Ebene der DNS als präformiert gelten, dagegen Kultur und Entwicklung kein Einfluss eingeräumt wird. Auf molekularbiologischer Ebe­ ne möchte Neumann-Held zeigen, dass zunächst keine Form vorliegt, sondern diese im Interaktionsprozess entwickelt wird. Einzelfaktoren können nicht als Kausalfaktoren verstanden werden, da erst das Ensemble aus Umwelteinflüssen, zellulären Kontexten und der DNS den Entwicklungsprozess festlegt. 61 Dass Proteine funktionale Komponenten des Entwicklungsprozesses darstellen ist klar – es wird aber von vielen Seiten her angezweifelt, dass diese (nun wieder) als Determinanten gesehen werden können, sprich ihre Funktion präformiert ist, oder im Entwicklungskontext erst endgültig festgelegt wird. Ebendies verdeut­ licht Moss’ Gene D.

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Vererbungsgesetzen über mehrere Generationen hinweg vererben lassen. Das KG wird also als eine transgenerational stabile Verer­ bungseinheit aufgefasst, wobei der Fokus der Transmissionsgenetik auf der Vererbung liegt. Die Entwicklungsbezüge werden dabei methodisch ausgeschlossen. Auch bleibt die materiale Ebene des Gens weitgehend unbekannt. Zwar wird das Chromosom als Träger der Gene erkannt und auf dieser Grundlage werden erste materiale Erkenntnisse (Mutationsverhalten, lineare Anordnung) gemacht, jedoch bleiben Struktur und Funktion des Gens zunächst verborgen. Erst die Molekulargenetik der zweiten Jahrhunderthälfte konnte diese Probleme lösen. In diesem Molekularisierungsprozess wird das KMG auf der DNS verortet, wobei auf struktureller Ebene an der Vererbungseinheit festgehalten wird und das KMG als ein co­ dierender Basensequenzabschnitt der DNS gilt. Dies beschreibt zugleich seine Funktion, die Übertragung molekularer Ordnung der Basensequenz auf die Aminosäuresequenz der Proteine entlang der Prozesse Transkription (mRNS) und Translation (Aminosäuresequenz). Von molekularer Seite her wurde nun über die Vererbung hinaus die Entwicklung erschlossen. Stoffwechselprozesse wurden aufgeklärt und die Entwicklungsgenetik deckte wichtige genetische Faktoren bei der artgemäßen Entwicklung auf. Die neuen Techniken der Nukleinsäuremanipulation und Sequenzierung verstärkten den Fokus der Forschung zum Ende des 20. Jh. auf die strukturelle Ebene des KMG – die Basensequenz. Erkenntnisfortschritte in der molekularen Grundlagenforschung führten bereits in der Hochphase der Molekulargenetik zu einer Problematisierung des KMG. Die Probleme betreffen vor allem seine strukturelle Ebene. Im Lichte neuer Erkenntnisse stellen Gene weder distinkt abgrenzbare Basensequenzabschnitte dar – mehrere Gene können sich überlappen. Noch ist das Verhältnis von Gen und Genprodukt ein eindeutiges – posttransskriptionelle Modifikationen bewirken, dass ein Basensequenzabschnitt gleich mehrere Produkte generieren kann. Betraf diese Krise des Gens zunächst nur die theoretische Diskussion, wobei im empirischen Forschungsalltag weiter mit dem KMG gearbeitet wurde, ändert sich die Sachlage mit dem Abschluss des HGPs. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gewinnt die Systembiologie an Bedeutung und stellt neue Anforderungen an das Genkonzept. Lag der Forschungsfokus zum Ende des 20. Jh. auf der Basensequenz der DNS und damit auf der Strukturebene des Gens, stellt die systembiologische Prozessper­spektive zunehmend die Funktion des Gens in den Vordergrund. Im physiologihttps://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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schen Entwicklungsprozess erweist sich die Interaktion der molekularen Faktoren als entscheidend. Zur Erklärung wichtiger Stoffwechselprozesse spielt das regulative Verhältnis zwischen Umwelt und Genen eine Rolle. Die veränderte Forschungsperspektive hat eine Debatte über das Gen in der Postgenomik ausgelöst. In einer Übersicht wurden weiter oben die zentralen Positionen dargestellt. Eine übergeordnete Gemeinsamkeit aller Positionen stellt hier die Betonung von Prozessen dar. Im Folgenden wird nun auf die wichtigsten Denkbewegungen in diesem postgenomischen Gendiskurs eingegangen. Eine Unterscheidung hilft zur Strukturierung des postgenomischen Gendiskurses. Das Gen befindet sich hier im Spannungsfeld zwischen den beiden Extremen, der chemophysikalischen Auflösung einerseits und der prozessualen Veränderung andererseits. Es wird dabei entweder als epistemische Einheit angesehen, d. h. es hat keinen ontologischen Gehalt. Oder es werden ontologische Aussagen über das Gen getroffen, wobei aber diese Genbegriffe deutlich vom KMG abweichen. Zunächst zum ersten Punkt, der Aufgabe des Genbegriffs: Hier gelten Gene als Konstrukte. Aus dieser Einsicht werden unterschiedliche Konsequenzen gezogen. Zum einen wird gefordert, den Begriff „Gen“ ganz aufzugeben. Danach hatte das Gen zwar historisch betrachtet seine Berechtigung, sollte aber ab dem Moment der biochemischen Erklärbarkeit der biologischen Prozesse aufgegeben werden. Der molekularbiologische Aufklärungsprozess würde durch das Festhalten am Gen unnütz behindert. Auf der anderen Seite wird aus pragmatischen Gründen am Genbegriff festgehalten, allerdings geschieht dies nur in einem rein methodischen Sinne. Gene haben keine ontologische Entsprechung – sie existieren nicht als reale Entitäten, sondern sie sind wissenschaftliche Begriffskonstrukte zur Strukturierung der Phänomene.62 Alle übrigen Autoren treffen ontologische Aussagen über das postgenomische Gen.63 Dabei wird das KMG durchgängig als de-

62 In dieser ontologischen Auslassung erkennt die Philosophin Schmidt ein Pro­ blem: „Hinter der pragmatischen Verwendung des Genbegriffs im Forschungs­ kontext darf keine ontologische Leerstelle bestehen bleiben, die implizit oder explizit mit tief sitzenden genessentialistischen Übertragungen gefüllt werden kann.“ (Schmidt 2014, 226) 63 Dabei ist aber Vorsicht geboten. Wenn Auskunft über die Beschaffenheit des jeweiligen Gens gegeben wird, so impliziert dies nicht, dass diese Gene als na­ türliche Einheiten existieren. Dazu äußern sich die Autoren nicht. Ihre (ontolo­

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fizitär erkannt, und das Konzept wird einer Änderung unterzogen.64 Die zentralen Wesensgemeinsamkeiten der postgenomischen Genkonzepte werden kurz dargestellt. Mit Schmidt weise ich auf zentrale Perspektiven hin, welche den aktuellen Diskurs bestimmen.65 Zunächst zeichnet sich der Diskurs durch eine pluralistische Perspektive aus. An einer singulären Gendefinition wird nicht festgehalten. Vielmehr hat der Forschungskontext der Wissenschaftler einen erheblichen Einfluss auf die Auslegung des Gens. Die Koexistenz mehrerer Genkonzepte kann in der Forschungspraxis durchaus notwendig sein. Bei genauerer Betrachtung muss dieser Punkt eingeschränkt werden, da nicht der postgenomische Gendiskurs im Speziellen, sondern die Forschungspraxis im Allgemeinen beschrieben wird. Eine einheitliche Gendefinition lag nie vor. Aus der funktionellen Perspektive der Postgenomik wird die Definition des KMG verworfen, wonach ein Gen ein bestimmter DNS-Abschnitt ist, der für ein bestimmtes Protein kodiert. Nun wird die Definitionsrichtung umgekehrt. Stand beim KMG die Struktur des Gens im Vordergrund, so werden die postgenomischen Gene durchweg von der Ebene der Funktion erschlossen. Dieser Blickwechsel hat erhebliche Folgen, da nun andere Strukturmomente in den Fokus geraten. Die postgenomischen Gene sind keine materiellen Entitäten mehr, deren Grenzen auf der Ebene der DNS lokalisiert werden könnten. An der Erfüllung ihrer Funktion sind weit mehr Faktoren als die proteincodierende DNS alleine beteiligt. Daher wird dem Gen das gesamte Ensemble der am Expressionsgische) Wesensbeschreibung der Gene kann durchaus nur einen wissenschaftli­ chen Anspruch erfüllen. 64 Im Hinblick auf die Unterschiede der entwickelten Begriffe kann auf zwei Weisen damit umgegangen werden. Die Strategie der Konfrontation sucht das „beste“ Genkonzept und versucht es gegen übrige durchzusetzen. Die Strategie der Integration versucht alle Konzepte in ein übergeordnetes Genkonzept zu integrieren. Hier spielen beide Verfahren keine Rolle, da im Folgenden die gemeinsamen Merkmale der postgenomischen Genbegriffe gesucht werden. 65 Schmidt geht von drei unabhängigen Sichtweisen aus. Diese sind die pluralis­ tische, genomische und funktionale, sowie die Prozessperspektive. Die letztere Kategorie ist irreführend, da alle vorherigen Perspektiven prozessuale Momente im Genbegriff betonen, somit nicht von einer eigenständigen Perspektive, son­ dern einer übergeordneten prozessualen Sicht gesprochen werden muss. Darü­ ber hinaus führt Schmidt hier einen Aspekt auf (5.3.a), der bereits an vorheriger Stelle (5.2.a) behandelt wurde. Daher wird im Folgenden auf diesen Punkt nicht gesondert eingegangen.

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prozess beteiligten Faktoren zugerechnet. In gewisser Weise wird so die Struktur durch die Funktion ersetzt. Das Gen wird in einzelne Funktionen fragmentiert. Ein weiterer Punkt ergibt sich aus diesem Perspektivenwechsel. Das Gen verliert seine Stabilität. Legt man den Fokus auf die Funktion und damit auf den Expressionsprozess, so werden Gene zu „flüchtigen“ Objekten. Zeitlich betrachtet handelt es sich nicht mehr um persistente Entitäten, wie etwa das zeitlich stabile Protein, sondern transiente Entitäten. Das Genensemble aggregiert einzig im Moment der Expression, wobei die einzelnen Bestandteile davor und danach entweder keine Funktion haben oder andere Gene konstituieren. Diesen Konstruktionsaspekt betont vor allem NeumannHelds PMG. Da Gene außerhalb des genetischen Prozesses nicht existieren, stellen sie keine substanziellen, sondern prozessuale Entitäten dar. Diese Veränderung ist auf ontologischer Ebene von entscheidender Bedeutung und wird gesondert behandelt (1, II, 2). Der neue Fokus auf die Funktion des Gens gefährdet sein Verständnis als eine Vererbungseinheit (Schmidt 2014, 228). Dieser Punkt ist gravierend, da trotz unterschiedlicher Auslegungen bisher sowohl in der klassischen als auch der molekularen Phase der Genetik an dem Einheitsgedanken festgehalten wurde. Klar ist, dass diese „flüchtigen“ postgenomischen Gene nicht als strukturelle Einheiten, d. h. als distinkt abgrenzbare Entitäten, vererbt werden können – daher liegt es nahe, die Einheit als funktionale Vererbungseinheiten umzudeuten. Bei genauerer Betrachtung stellt sich aber auch dieser Gedanke als problematisch heraus. Das Problem liegt in der Transienz der Gene. Da das postgenomische Gen außer­ halb des Expressionskontextes nicht existiert, macht es wenig Sinn, von transgenerationaler Übertragung zu sprechen, weil das stets die Übertragung von etwas impliziert.66 Soll am Einheitsgedanken festgehalten werden, so müssten Gene konsequenter Weise nicht als Vererbungs-, sondern Entwicklungseinheiten verstanden werden. Anders als im Jahrhundert des Gens beziehen sich nun die Genkonzepte vor allem auf den Entwicklungsprozess. Als Einheiten liegen Gene lediglich bei der Expression während des Entwicklungsprozesses vor. Wurde ursprünglich die Funktion des Gens in der Proteinsynthese gesehen, so wird auch dieser Punkt aus der funktionalen 66 Die gesamte befruchtete Eizelle könnte als Erbeinheit gelten, da sie das Gen hervorbringt (Schmidt 2014, 230).

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Perspektive des postgenomischen Gens fallen gelassen. Anders als früher gedacht kodiert nur der kleinste Anteil des Humangenoms (2-3 %) für Proteine. Sein größter Teil (70-90 %) wird zwar in RNS transkribiert, aber nicht in Protein translatiert, sondern erfüllt als ncRNS (noncodingRNA) wahrscheinlich eine regulative Funktion (Costa 2012, 119). Aus funktionaler Perspektive müssen daher diese Abschnitte mit in den Genbegriff einbezogen werden. Tatsächlich gehen auch die meisten Autoren nicht mehr von der Aminosäuresequenz des Proteins, sondern der Basensequenz der RNS als Genprodukt aus. Da somit auch die ncRNS unter den Genbegriff fielen, führte dies zu einem erheblichen Anstieg in der Anzahl der Gene. Aus der Prozessperspektive folgt schließlich, dass das postgenomische Gen für sich genommen keine Information enthält. Sicherlich spielt die DNS weiterhin eine zentrale Rolle, allerdings wird diese nicht als ein „Instruktionsbuch“ und einzelne Basensequenzabschnitte als Merkmalsdeterminanten verstanden. Ohnehin stellten diese informationsbezogenen Umschreibungen stets nur Metaphern zur Verdeutlichung der Prozesse dar – als solche hatten sie ihre Berechtigung. Entsprechend wurde das Missverständnis, sie als Begriffe auszulegen, früh kritisiert. In diesem Sinne betonen auch alle Autoren des postgenomischen Diskurses die Kontextabhängigkeit des Gens. So verwahrt sich auch Schmidt gegen den Gedanken, Gene enthielten Instruktionen über ihre Produkte, und stellt richtig: „Gene tragen keine Information. Vielmehr konstituiert umgekehrt der Syntheseprozess, mit seinem Zusammenspiel unterschiedlichster genischer, extragenischer und nicht-genomischer Elemente, das Gen, das uns lediglich rückblickend als eine bereits vor dem Prozess existierende und auf der DNS lokalisierbare Entität erscheint“ (2014, 231). Im Diskursrahmen der Postgenomik gilt die DNS vor allem als eine Entwicklungsressource.

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Kapitel II: Das Gen als Entwicklungseinheit

„Genetics cannot explain development without being developmental, but in being so, it ceases to look very genetic.“ (Griesemer 2000, 276)

1 Philosophische Vorbedingungen: Zur Realität des Gens 1.1 Existieren Gene? Im Rahmen der Diskussion um den ontologischen Status des Gens stehen sich zwei Positionen gegenüber. Auf der einen Seite behaupten die beiden Wissenschaftshistoriker Rheinberger und Müller-Wille, das Gen im allgemeinen, somit auch die hier eingeführten Genbegriffe, entbehrten einer ontologischen Basis (2009a, 133; 2009b, 277f). Ihre Position ist keine bloß deskriptive Tatsachenbeschreibung, sondern sie wird forschungsstrategisch begründet (2006, 221-244). Würde der Genbegriff ontologisch festgelegt, behinderte diese Setzung die Dynamik der Grundlagenforschung und der Forschungsprozess zum Gen käme zum Erliegen. Daher plädieren sie für eine theoretische Selbstbeschränkung der Wissenschaftler und gehen von der Vagheit wissenschaftlicher Objekte aus. Hier haben Gene also keinen ontologischen Status. Auf der anderen Seite hält die Biophilosophin Schmidt die Frage, was ein Gen sei, aber weiterhin für notwendig. Auch sie möchte einem Problem vorbeugen. Entgegen Rheinberger und MüllerWille erkennt Schmidt gerade die begriffliche Vagheit als äußerst problematisch: „Denn hinter der pragmatischen Verwendung des Genbegriffs im Forschungskontext darf keine ontologische Leerstelle bestehen bleiben, die explizit oder implizit mit tief sitzenden genessentialistischen und gendeterministischen Überzeugungen gefüllt werden kann. Trotz aller Schwierigkeiten des klassischen molekularen Konzeptes muss möglichst klar gesagt werden, was ein Gen im ontologischen Sinn heute noch auszeichnet und wie sich dieses Bild vom klassisch-molekularen unterscheidet.“ (Schmidt 2014, 226) https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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Schmidt hält die ontologische Statusbestimmung des Gens nicht nur für möglich, sondern sogar für notwendig, um der Gefahr des Gendeterminismus entgegenzuwirken.1 Da sie durchaus davon ausgeht, dass das Gen einen ontologischen Status hat, widersprechen sich die beiden Positionen. Da dieser Widerspruch auf eine mangelhafte begriffliche Differenzierung zurückgeht, diese aber für den weiteren Verlauf dieser Arbeit von grundsätzlicher Bedeutung ist, soll der hier skizzierte Streit im Folgenden gelöst und dabei die Frage nach dem Status des Gens geklärt werden. Widersprüche lassen sich prinzipiell auf zwei Weisen lösen. Die Lösung kann entweder auf einer logischen Ebene erfolgen; danach sind entweder beide Positionen falsch, oder eine der beiden Positionen ist falsch und die übrige dagegen richtig. Oder die Lösung des Widerspruchs erfolgt auf semantischer Ebene, wobei das Problem in der Mehrdeutigkeit von Bezeichnungen besteht. Sollten beide Positionen ein abweichendes Verständnis der verwendeten Begriffe haben, handelt es sich nur scheinbar um einen Widerspruch. Im Folgenden gehe ich auf diesen letzten Punkt ein. Dafür ist es notwendig, die biophilosophische Debatte zum Genbegriff zu betrachten. Neben der Frage, ob Gene existieren, ist zu klären, in welchem Sinn von ihrer Realität ausgegangen wird. 1.2 Biophilosophische Positionen Eine grundsätzliche Gegenstandsunterscheidung geht auf Aristoteles zurück. Im zweiten Buch seiner Physik werden Dinge, die durch menschliche Kunst (techne) hervorgebracht werden von Dingen, die von Natur aus vorhanden, entstanden oder bewegt sind, unterschieden (Aristoteles 1987). Da Letztere ihre Ursache nicht im Menschen, sondern in der Natur haben, gelten sie als Naturdinge. Weil das naturwissenschaftliche Forschen auf Naturphänomene abzielt, scheinen Forschungsobjekte wie das Gen Naturdinge zu bezeichnen. Die Wissenschaftstheoretiker Peter Janich und Michael Weingarten wei-

1 Aufgrund der vielen erfolglosen Versuche, den ontologischen Status des Gens positiv zu bestimmen, geht Schmidt den umgekehrten Weg und fragt „Was sind Gene nicht?“ (2014). Dieser Ansatz ist problematisch, da Negativbestimmungen auf ontologischer Ebene keinen Informationswert haben (vgl. Mahner & Bunge 2000). Solche Projekte sind aber auf anderer Ebene hilfreich, da sie falsche An­ nahmen z. B. über Gene widerlegen (vgl. Moss 2003).

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sen aber diese Zuordnung zurück. Bei genauerer Betrachtung ist die aristotelische Unterscheidung nicht hinreichend für „die Rede von Atomen und Molekülen, Genen und Zellen, ja sogar Organen und Organismen, die allesamt als Fachausdrücke von Wissenschaften darauf verweisen, dass sie in bestimmten Zusammenhängen („Kontexten“) unter bestimmten Zielsetzungen und mit bestimmten Mitteln nicht nur in begrifflicher Hinsicht, sondern auch durch sprachfreie Verfahren des Unterscheidens festgelegt sind“ (1999, 70f). Da die Biowissenschaften vor das Problem gestellt sind, „das Natürliche als das vom Menschen nicht Gemachte oder Veränderte nur durch Eingriffe erkennen zu können“, handelt es sich bei ihren Objekten eben nicht um Naturdinge. Zum Verständnis dieser spezifischen Eigenart reicht aber auch der Technikbegriff nicht aus. Erst der Kulturbegriff verdeutlicht die besondere Eingriffsart der Biowissenschaftler, wonach ihre Objekte nach menschenspezifischen Bedürfnissen und Zwecken vorgeformt gelten. Die naturwissenschaftliche Eingriffsweise in die Natur unterscheidet sich nämlich nur graduell von klassisch nutzenorientierten Eingriffen, wie sie etwa von Sammlern, Jägern und Landwirten getätigt werden. „Wo ja auch die kultürlichen Berufe Naturerkenntnis benötigen und zutage fördern im Umgang mit den vorhandenen belebten und unbelebten Naturstücken, tut dies der Biowissenschaftler gleichsam vermittelnd für alle offenen oder möglichen Verwendungszwecke“ (ebd.). Dabei muss sich der Nutzen keineswegs unmittelbar einstellen. Der Biowissenschaftler „schafft gleichsam Wissen auf Vorrat.“ Dabei „führt kein Weg daran vorbei, dass dieses Wissen als wissenschaftliches auf Intervention, auf Eingreifen angewiesen ist“ (ebd.). Zwei Dinge sind in diesem Zusammenhang festzuhalten. Zum einen greift die naturwissenschaftliche Forschung in die Natur ein, sodass ihre Objekte keine reinen Naturdinge darstellen. Zum anderen erfolgt der Eingriff im Kulturmodus des Verfügbarmachens, sodass die Forschungsobjekte als Kulturdinge zu verstehen sind. Das Gen unterscheidet sich dabei nicht von den übrigen Forschungsobjekten. Wie diese wird auch das Gen nicht als Naturding entdeckt, sondern als ein Kulturding entwickelt. Insofern die beiden Autoren als Vertreter der wissenschaftstheoretischen Schule des Methodischen Kulturalismus ein sehr spezifisches Verständnis von Genen als Wissenschaftsobjekten haben, wird im Folgenden auf ein allgemeineres Verständnis von Wissenschaftsobjekten eingegangen. Dass wissenschaftliche Objekte nicht als Naturdinge existieren und folglich auch nicht entdeckt werden können, stellt eine verhälthttps://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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nismäßig junge wissenschaftsphilosophische Erkenntnis dar. Diese Einsicht geht auf eine fundamentale Verständnisänderung des Unternehmens Wissenschaft per se zurück. Der Wissenschaftshistoriker Rheinberger hebt dabei einen Aspekt als besonders wichtig hervor. Er erkennt in der Historisierung der Epistemologie „den wesentlichsten Beitrag des 20. Jahrhunderts zur Philosophie der Wissenschaften“ (2006, 8). Da dieses Zusammendenken von Erkenntnistheorie und Geschichte zum Verständnis der Eigenart wissenschaftlicher Objekte beiträgt, ist es wichtig, auf zentrale Etappen der Wissenschaftsphilosophie des 20. Jh. einzugehen. Diesem Historismus der Wissenschaftsgeschichte geht ein naturwissenschaftlicher Positivismus voraus. Eine Voraussetzung des klassischen Empirismus des 19. Jahrhunderts ist die Annahme, dass eine materiale Außenwelt besteht und dass diese durch Sinneswahrnehmungen unmittelbar erkannt werden kann. Entsprechend ist es die Aufgabe naturwissenschaftlicher Forschung, den Zusammenhang der positiv gegebenen Objekte untereinander „aufzudecken“. Die Reaktion der Wissenschaftsphilosophie auf den enormen Wissenszuwachs der Naturwissenschaften zu Beginn des 20. Jh. spiegelt ihr besonderes Selbstverständnis wider. So geht der Logische Empirismus von einem rationalen Wissensfortschritt aus und erkennt die verbleibende Aufgabe der Philosophie in der logischen Prüfung und Ordnung wissenschaftlicher Theorien. Gemäß Hans Reichenbachs Unterscheidung des Entdeckungs- (context of discovery) vom Begründungszusammenhang (context of justification) sind subjektive Einflüsse, welchen die Forscher bei ihren Entdeckungen ausgesetzt sind, ohne wissenschaftliche Relevanz (Reichenbach 1939), und der Entdeckungszusammenhang kann daher ausgeblendet werden. Weil Wissenschaft als linear fortschreitendes und auf Tatsachen bauendes Unternehmen verstanden wird, hat die Wissenschaftsphilosophie die widerspruchsfreie Rekonstruktion eines Theoriengebäudes zum Ziel (Carnap 1929). Dieses Projekt scheiterte. Das Ausblenden des Kontextes und die Grundannahme des Positivismus erwiesen sich als unhaltbar. Bei genauerer Betrachtung zeigte sich, dass der einst ausgeblendete Entdeckungszusammenhang wissenschaftlicher Theorien keineswegs irrelevant für die Wissenschaftsphilosophie ist und etwas genauer als Entwicklungszusammenhang zu verstehen ist. Die wissenschaftliche Erkenntnisweise selbst unterliegt nämlich einem historischen Entwicklungsprozess, wonach die kleinsten Einheiten der Wissenschaft, die wissenschaftlichen Tatsachen, nicht durchgängig https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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rational rekonstruiert werden können und der postulierte lineare Wissensfortschritt danach nicht länger haltbar ist. So weist der Immunologe und Erkenntnistheoretiker Ludwik Fleck in seinem Hauptwerk Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache bereits 1935 darauf hin, dass der Erkenntnisprozess vielfachen Einflussfaktoren unterliegt, und er legt damit den Grundstein einer historischen Epistemologie (Rheinberger 2006, 8). Nach Fleck hat eine erfolgreiche Erkenntnistheorie stets auch die sozialen, kulturellen und historischen Faktoren beim Erkenntnisprozess mit zu berücksichtigen. Danach werden die Forschungsobjekte nicht „entdeckt“, sondern nach anfänglich ungerichtetem und diffusem Tasten, während dem die Rahmenbedingungen des Erkenntnisaktes (die Bedingungen der Möglichkeit, Tatsachen zu erkennen) erst entwickelt werden, als abgeschlossene Einheiten erkennbar. Dieses Gestaltsehen ist also der Endpunkt eines historischen Erkenntnisprozesses. Spätere Strömungen, wie etwa die Science and Technology Studies, machten darüber hinaus auf die Bedeutung der technischen Faktoren aufmerksam. Eine allgemeine Einsicht lautet entsprechend, dass die wissenschaftliche Tätigkeit ihre Forschungsgegenstände vor allem technisch konstituiert. Mit Bezug auf diesen Aspekt schrieb der Philosoph Gaston Bachelard bereits 1949 über wissenschaftliche Objekte: „Sie ‚existieren‘ nicht in der Natur, sie müssen hergestellt werden“ (Bachelard 1949, 103). Im Hinblick auf das Forschungsobjekt Gen spielt dieser technische Kontext eine wichtige Rolle. Wurden wissenschaftliche Objekte oben aufgrund ihres Nutzens als Kulturdinge erkannt und damit von technischen Objekten abgegrenzt, kann das Verhältnis weiter präzisiert werden. Drei Begriffe sind hier von Bedeutung. Für die moderne Naturforschung sind (1) Experimentalsysteme kennzeichnend. In diesen elementaren Einheiten der Forschung wird das Wissen überhaupt erst produziert. Darin stehen (2) technische und (3) epistemische Dinge im spezifischen Wechselverhältnis: „Im Gegensatz zu den epistemischen Dingen müssen die technischen Bedingungen (technische Dinge) im Rahmen der aktuellen Reinheits- und Präzisionsstandards von charakteristischer Bestimmtheit sein. Sie determinieren die Wissensobjekte (epistemische Dinge) in doppelter Hinsicht. Sie bilden ihre Umgebung und lassen sie so erst als solche hervortreten, sie begrenzen sie aber auch und schränken sie ein. Bei näherem Hinsehen stellt sich aber heraus, dass die beiden Komponenten eines Experimentalsystems zeitlich wie räumlich in ein nicht-triviales Wechselspiel verwickelt sind, in dessen Verlauf sie https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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sich ineinanderschieben, auseinanderstreben und auch ihre Rollen tauschen können. Die technischen Bedingungen bestimmen nicht nur die Reichweite, sondern auch die Form möglicher Repräsentationen eines epistemischen Dings; ausreichend stabilisierte epistemische Dinge wiederum können als technische Bausteine in eine bestehende Experimentalordnung eingefügt werden.“ (Rheinberger 2002, 26 – Klammern S. Sch.) Wie Rheinberger zeigt, haben wissenschaftliche Objekte wie das Gen einen hybriden Charakter, d. h. im wissenschaftlichen Alltag kommen sie in zwei Modi vor. Der Unterschied wird durch die Referenz klar. Üblicherweise referieren Begriffe auf Gegenstände. Werden Gene als epistemische Dinge verstanden, so haben sie noch kein reales Referenzobjekt und damit auch keine ontische Realität. Wenn das Gen aber selbst nicht Forschungsobjekt (epistemisches Ding) ist, sondern angewendet wird, bedarf es seiner Festlegung, und damit wechselt sein Modus hin zu einem technischen Ding. Als solche haben Gene also ein epistemisch generiertes historisches Apriori, d. h. ihre Seinsweise wird in einem historischen Prozess zweckrational festgelegt. Rheinberger zeigt, dass wissenschaftliche Objekte im Forschungsprozess nicht einfach bestehen, sondern zwischen zwei Zuständen oszillieren. Als epistemische Dinge bilden sie das Ziel der Forschung – als technische Dinge gelten sie als Basis der Forschung. Gene werden nicht entdeckt, sondern entwickelt, und die Annahme ihrer natürlichen Existenz ist verfehlt. Es existieren zwar Genbegriffe und diese verweisen (als technische Dinge) auf reale Zusammenhänge in der Welt, jedoch wurden diese Begriffe von Wissenschaftlern konstruiert. Gene bestehen also nicht als „natürliche“ Einheiten. Der Philosoph Ingo Brigandt (vgl. 2010) geht auf einen weiteren wichtigen Aspekt ein; ihn interessiert das Gen als ein Klassenbegriff. Entgegen dem naiven Realismus, wonach Gene auf Naturebene einheitlich strukturiert vorliegen, sodass ihre Klasse „natürlich“ vorgegeben wäre, gibt es aus konstruktivistischer Perspektive unendlich viele Klassifikationsmöglichkeiten. Damit stellt sich die Frage nach den formalen Forderungen, welche allen Genbegriffen genügen müssen. Nach Brigandt wird ein spezifisches Klassifikationsschema aufgrund seines Nutzens gewählt. Die Analyse des wissenschaftlichen Genkonzepts hat zusätzlich zu seiner Referenz, womit die Bezugsobjekte gemeint sind (was?), und seiner inferentiellen Rolle, welche sich auf den definierten Bedeutungszusammenhang bezieht (wie?), vor allem das epistemische Ziel eines Konzeptes zu https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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berücksichtigen. Erst dies erklärt, wozu Einzelobjekte unter eine bestimmte Art bzw. ein Konzept zusammengefasst werden sollen und stellt also das abstrakte Kernprinzip jedes Genbegriffes dar. Brigandt verwendet diese Dreiteilung, um die wesentlichen Veränderungen des Genbegriffes in seinem historischen Wandel herauszuarbeien. Die Aufspaltung der Genbegriffe in drei Momente ist hilfreich, da nun differenziert geprüft werden kann, welches Moment sich beim Begriffswandel verändert. Soweit mindestens ein Moment stabil erhalten bleibt, spricht Brigandt von einem rationellen Begriffswandel. Ist aber keine solche Kontinuität nachweisbar, so handele es sich um einen irrationellen Bruch. Brigandts Kriterium gilt als wissenschaftstheoretischer Nachweis von Paradigmenwechsel (vgl. Kuhn 1967). Mit diesem Instrument untersucht er die Entwicklung des Gens in den historischen Phasen der Genetik und verdeutlicht die wesentlichen Veränderungen: 1. Im KG-Konzept fehlte zunächst die materiale Konzeptreferenz – das Gen wurde erst spät auf Chromosomenebene lokalisiert (1, I, 1.1). Die inferentielle Rolle des KGs ist es zu zeigen, wie diese chromosomengebundenen Gene gemäß den Vererbungsgesetzen in der sexuellen Reproduktion agieren. Das epistemische Ziel der Transmissionsgenetik ist die Voraussage der Merkmalsvererbung. 2. Mit dem Wechsel zum KMG-Konzept ändern alle Komponenten ihre Bedeutung. Das KMG referiert nun auf die DNS, genauer auf den durch den Start-/Stoppcode begrenzten Leserahmen. Die inferentielle Rolle des KMG ist es darzulegen, wie Gene mit übrigen molekularen Mechanismen interagieren und zu zeigen, wie das Genprodukt determiniert wird. Das epistemische Ziel bezieht sich schließlich auf die Determination des genetischen Endprodukts, des Polypeptids. 3. Im Lichte neuerer Forschungserkenntnisse zeigte sich, dass kein ein-eindeutiges Verhältnis zwischen der Basen- und Aminosäuresequenz existiert. Im postgenomischen Diskurs münden diese Erkenntnisse in neue Genkonzepte, wobei sich nun sowohl die Referenz (von DNS auf RNS) als auch die inferentielle Rolle des Gens (definitionsabhängig) ändert (1, I, 3). Allerdings – und das ist besonders wichtig – bleibt das epistemische Ziel des KMG erhalten; alle postgenomischen Genkonzepte zielen weiterhin darauf ab, das Determinationsverhältnis des Polypeptids zu klären. Für das epistemische Ziel ist es unerheblich, dass die zur Erklärung des Gens herangezogenen materialen Faktoren (Referenz) voneinander abweichen. Das formale Prinzip, oder in Brigandts Worten, das epishttps://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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temische Ziel, des KMG wird also auf die postgenomische Debatte übertragen. Rückblickend ist zusammenzufassen, dass alle Dimensionen des Genkonzepts ihre Bedeutung im historischen Verlauf der Genetik verändern. Im Hinblick auf die Veränderung des epistemischen Ziels (KG/KMG) zeigt sich, dass endgültige Aussagen über das Gen prinzipiell unmöglich sind. Das Problem resultiert nicht nur aus der bisherigen Unkenntnis der beteiligten Faktoren, sondern auch aus dem Unwissen, über die Beibehaltung des epistemischen Ziels. Da das Gen als Begriff nicht von Naturseiten festgelegt ist, ist ein solcher Wechsel in Zukunft nämlich durchaus denkbar. Hier wurde gezeigt, dass sowohl die Existenz des Gens als auch sein Verständnis der Auslegung unterliegt. Als investigative Entität (vgl. Waters 2004) ist sie nicht von Naturseiten festgelegt, sondern kann abhängig von wissenschaftlichen Interessen divergieren. Gene bestehen also nicht unabhängig von unserem Bewusstsein – sie werden entlang von Zielen ausgelegt, d. h. entwickelt. Die ontologische Frage, ob es Gene gibt, kann bejaht werden, allerdings sind Gene Produkte nutzenorientierter, kultureller Erkenntnisprozesse (Ding für uns). Ob es unabhängig davon Gene gibt (Ding an sich), übersteigt unsere Möglichkeit, über wissenschaftliche Dinge nachzudenken. 1.3 Gene als entwickelte Kulturdinge Auf Grundlage dieses biophilosophischen Exkurses ist es möglich, den Widerspruch zwischen Rheinbergers und Müller-Willes Warnung vor einer Ontologisierung des Gens und Schmidts Forderung nach einer ontologischen Fundierung zu lösen. Die Autoren beziehen sich auf ganz verschiedene Aspekte in der Ontologie. Hier wurde gezeigt, dass das Gen nicht im Sinne einer präexistenten Kategorie entdeckt, sondern in einem Nutzenszusammenhang entwickelt wurde. Janich und Weingarten verstehen das Gen analog zu den übrigen wissenschaftlichen Objekten als eine im kulturellen Nutzenzusammenhang entwickelte Entität, und das damit verbundene Wissen gilt als Anwendungswissen. Rheinberger unterscheidet im genetischen Forschungszusammenhang zwischen dem Gen als epistemisches und technisches Objekt, wobei das Gen nur im letzten Falle, und dann pragmatisch, auf ein materiales Pendant festgelegt wird. Auch Brigandt betont den Nutzenaspekt, wenn https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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er auf das epistemische Ziel der Wissenschaftler bei der Konzeptualisierung des jeweiligen Genbegriffes hinweist. Gene sind menschengemachte Konzepte zur zweckdienlichen Gruppierung von Einzelobjekten.2 Sie haben keinen ontologischen Status im Sinne von Naturdingen, sondern sind, wie die Theoretiker nachweisen, entwickelte Entitäten. Es handelt sich also um epistemisch vorgeprägte Kulturdinge. Bei einer genaueren Betrachtung widerspricht Schmidts Anliegen, durch die Ermittlung des ontologischen Status des Gens dem Gendeterminismus aktiv vorzubeugen, Rheinberger und MüllerWille nicht. Schmidt (2014) geht in ihrer ontologischen Statusanalyse deskriptiv vor, d. h. sie untersucht die Genbegriffe im postgenomischen Gendiskurs und wertet diese in Bezug auf wesentliche Gemeinsamkeiten aus. Ihr Verständnis des ontologischen Status des Gens resultiert aus der Darstellung des Gens in einem Diskurs. Darin wird allerdings nicht mitbehauptet, dass Gene als Naturdinge existieren, sondern es werden Vorschläge gemacht, wie ein defizitärer Genbegriff (KMG) zu retten sei. Da diese Konzepte durchwegs epistemisch vorgeprägt sind – dies betonen übrigens alle Autoren der postgenomischen Genbegriffe – ermittelt Schmidt den ontologischen Status des Gens als ein Kulturding. Ihre Analyse untersucht, wie Gene im postgenomischen Diskurs konzeptualisiert werden. Gemäß dieser Ausgangsposition kann Schmidt also nicht darauf schließen, dass Gene als Naturdinge existieren. Rheinbergers Sorge, dass ein ontologisches Verständnis des Gens die Forschungsdynamik zum Erliegen bringen würde, ist nur begründet, wenn das Gen als ein Naturding missverstanden wird, wonach der Genbegriff von Naturseiten und eben nicht epistemisch determiniert wird. In diesem Falle würde die Grundlagenforschung zum Gen (als epistemisches Ding) ab dem Moment dessen „Entdeckung“ keine Notwendigkeit mehr haben und die genetische Forschung würde ab diesem Zeitpunkt auf die Anwendung dieses Gens (als technisches Ding) verkürzt. Diese Sorge ist aber unbegründet, sofern der ontologische Status des Gens sich auf Gene als Kultur-

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Bei diesem Konstruktionsprozess ist zwischen der Konstruktion der Art und der Konstruktion der Einzelobjekte zu unterscheiden, aufgrund deren Merkmale die Objekte überhaupt erst unter eine Art subsummiert werden können. Im Idealis­ mus gelten beide als konstruiert. Hier dagegen wird gemäß dem methodischen Realismus der Biologie lediglich die Konstruktion der Art behauptet und die Merkmale der Einzelobjekte sind ihre molekularen Struktur.

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dinge bezieht. Wird das Gen als Kulturding verstanden, unterliegt es der kulturellen Praxis, also einem Prozess, und wird innerhalb dessen, wie alle anderen wissenschaftlichen Objekte, stetig weiterentwickelt. Der Streit zwischen Schmidt und Rheinberger beruht auf einem unterschiedlichen Verständnis des Ontologiebegriffs. Das Missverständnis wurde geklärt. Während Schmidt den ontologischen Status des Gens als einem Kulturding untersucht, verwehrt Rheinberger sich der ontologischen Festlegung des Genbegriffes als ein Naturding.3 Es wurde gezeigt, dass Gene notwendigerweise Kulturdinge darstellen. Da auch Rheinberger diese Auffassung teilt, kann der Streit also als gelöst gelten. Gene existieren zwar, sie werden aber in kulturellen Bezügen als Kulturdinge entwickelt. Hier wurden die konzeptuellen Entwicklungsaspekte der Genbegriffe im Allgemeinen dargestellt. Im Folgenden wird auf die Prozessperspektive als zentrales Kennzeichen des postgenomischen Gendiskurses eingegangen und gezeigt, dass über diesen formalen Konzeptualisierungsprozess hinaus die Genbegriffe sich in der Postgenomik inhaltlich auf eine Entwicklungseinheit beziehen.

2 Prozessperspektive: Das Gen als Entwicklungseinheit Das Kennzeichen aller Positionen des postgenomischen Gendiskurses ist die Prozessperspektive. Das Gen kann nicht mehr als eine materiale Einheit verstanden werden. Es müssen zusätzliche Komponenten sowie deren räumlich zeitliches Aufeinandertreffen mit hinzubezogen werden. Das Gen ändert damit seinen ontologischen Status von einer Dingeinheit zu einer Prozesseinheit. Die Änderung ist von grundsätzlicher Bedeutung für den weiteren Verlauf dieser Untersuchung.

3 Dass Schmidts Ontologiebegriff nicht Naturdinge meint, verdeutlicht ihr Er­ gebnis. Danach gilt der Pluralismus als ein Kennzeichen des postgenomischen Gendiskurses (vgl. Schmidt 2014, 207-212). Der Pluralismus aber zeugt von einer epistemischen Auslegung des Gens, da – gälte es als Naturding – ein einziger (nämlich der natürliche) Genbegriff notwendig erforderlich wäre. Dieses plura­ listische Verständnis des ontologischen Status von Genen widerspricht Rhein­ berger nicht, sondern entspricht vielmehr seiner eigenen Forderung nach einer begrifflichen Vagheit des Gens.

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2.1 Prozessperspektive der Postgenomik Wenn die Prozessperspektive hier als zentrales Kennzeichen des postgenomischen Gendiskurses behauptet wird, so bedarf diese Aussage der Abgrenzung und weiteren Präzisierung. Schließlich widmet sich die Biologie mit ihrer Ausgangsfrage, was Leben ist, ganz allgemein einem Prozess. Auch die Molekularbiologie und Molekulargenetik im engeren Sinne wenden sich Prozessen zu, denkt man an den Duplikationsprozess der DNS vor der Zellteilung oder die Reparaturprozesse der DNS bzw. – mit näherem Bezug zum Gen – die Transkription und Translation während der Genexpression. Was ist also mit dem Perspektivenwechsel gemeint und warum handelt es sich um eine neue Sichtweise? Zum besseren Verständnis ist es zunächst hilfreich, auf das KMG-Konzept zurückzugreifen. Obgleich sich die Biologie insgesamt mit Prozessen beschäftigt, stellte das Gen hier aber eine dinghafte Ausnahmeerscheinung dar; es galt als das „Atom der Biologen“ (Fischer 1988). Ganz im Sinne jenes archimedischen Punktes, der in der Antike als notwendig erachtet wurde, um ein aus dynamischen Prozessen bestehendes Weltbild überhaupt denkbar zu machen, galt auch das Gen in der Biologie als eine unveränderliche Konstante, von der allerdings alle weiteren biologischen Veränderungen und Prozesse abhingen – Gene sind danach stabile Dinge. Das Grundverständnis von Genen als stabilen Einheiten spiegelt sich in der Definition des KMG wider. Es wurde gezeigt, dass das KMG vor allem die Strukturkomponente des Gens betont und hierbei die beteiligten Prozesse ausgeklammert werden. So zählt z. B. die Transkription des Gens in die mRNS und deren anschließende Translation in das Polypeptid – in beiden Fällen handelt es sich um Prozesse – nicht im näheren Sinne mit zur Gendefinition. Die Ausblendung hat einen Grund: Das epistemische Ziel des KMG ist es, ein eindeutiges Determinationsverhältnis zwischen der DNS und dem Protein zu formulieren. Die dargestellte Ein-Gen-einPolypeptid-Hypothese bezieht sich auf ein Übertragungsverhältnis von Ordnung. Während des Expressionsprozesses wird die lineare Basensequenz eines Gens in die Aminosäuresequenz des Proteins übersetzt. Es ist wichtig zu sehen, dass diese lineare Sequenzordnung im Rahmen des KMG-Konzepts während des gesamten Expressionsprozesses erhalten bleibt – die Aminosäuresequenz des Proteins liegt also bereits in der Basensequenz der DNS vor. Da die Transkription und Translation diese Ordnung lediglich übersetzen, https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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selbst aber nicht weiter verändern, leisten sie keinen eigenständigen Beitrag zum besseren Verständnis eines Gens, und so wird in der Definition des KMG auf die gesonderte Benennung dieser Prozesse verzichtet. Das KMG gilt danach als ein von Start- und Stopcodon begrenzter Abschnitt der DNS, somit als eine räumlich und zeitlich stabile Entität. Gene sind im KMG-Konzept statische Dinge mit einer wesentlichen Eigenschaft – sie kodieren für ein Polypeptid. Allerdings erwies sich dieses Verständnis im Lichte der Postgenomik als unpräzise (1, I, 2). Rein formal betrachtet bleibt das epistemische Ziel des Genbegriffes erhalten, d. h. es meint weiterhin ein eindeutiges Determinationsverhältnis, und an der Ein-Gen-einPolypeptid-Hypothese wird weiter festgehalten. Aber das Wissen um die beteiligten Komponenten und ihre Funktion änderte sich. Die Anordnung der Aminosäursequenz wird nämlich nicht ausschließlich durch die DNS-Ebene bestimmt, sondern – das ist neu – die vormals ausgeblendeten Prozesse Transkription und Translation tragen zur Festlegung dieser Ordnung bei. Daher ist es nicht mehr möglich, am statischen KMG-Begriff festzuhalten. Um diese begriffliche Unterbestimmung des Genbegriffs auszugleichen, reagieren die Theoretiker mit unterschiedlichen Vorschlägen. So wird das Gen von der DNS auf die RNS verlagert, womit diese Gene als Produkte eines Transkriptionsprozesses instabil wären.4 Oder Gene verbleiben auf der DNS, wobei das posttranskriptionale RNS-Transkript Gene erst konstituiert, d. h. sie können erst anhand einer Rückprojektion der RNS auf die DNS als DNS-Gene verortet werden. Oder die bislang nicht zum Gen gehörigen Komponenten werden zur Strukturebene des Gens gezählt. Schließlich wird der Expressionsprozess bis zum finalen Polypeptid auch als Gen bezeichnet. Da alle Herangehensweisen zwar Prozessaspekte betonen, ihnen allerdings eine unterschiedliche Bedeutung zuschreiben, können sie in folgende zwei Kategorien eingeteilt werden: Einerseits wird an der Strukturebene des Gens festgehalten, d. h. Gene werden weiter als materiale Entitäten verstanden. Unabhängig davon, ob diese Gene als Einheit oder als Komplex von Einzelkomponenten verstanden werden, stets handelt es sich um instabile Prozessprodukte, somit transiente Objekte. Zum Anderen wird nun sogar der 4 Biochemisch betrachtet ist die RNS zwar stabiler als die DNS, allerdings haben die Transkriptionsprodukte in der Zelle eine kürzere Halbwertszeit – sie werden aktiv abgebaut, um nicht durchgängig in Protein umgesetzt zu werden.

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Strukturaspekt aufgegeben, wobei die Genexpression selbst, d. h. eine zeitlich andauernde Prozessentität, nunmehr als Genbegriff verstanden wird. Ungeachtet dessen spielt die Prozessperspektive allerdings bei allen Strategien nun die entscheidende Rolle. All diese Versuche den Genbegriff zu präzisieren, basieren ihrerseits auf einer gemeinsamen Prozessannahme. Dass die Aminosäuresequenz des Proteins nicht allein durch die Basensequenz der DNS determiniert wird, sondern, dass der zelluläre Kontext dazu beiträgt wurde gezeigt.5 Sie ist die Folge eines Interaktionsprozesses von mehreren Faktoren – das räumen alle Theoretiker ein. Der Denkwandel bezieht sich auf ein neues Determinationsverständnis. Gemäß dem KMG-Konzept liegt die genetische Information in der zeitlich/räumlich stabilen DNS gespeichert vor und Gene werden in einem statischen Sinne verstanden. Aus der postgenomischen Sichtweise wird diese Information aktuell und kontextabhängig, d. h. in einem Interaktionsprozess formiert. Im postgenomischen Diskurs ändert das Gen seinen ontologischen Status. Während das KMG als raumzeitlich persistente Einheit gilt, welche die Eigenschaft hat, eine Aminosäuresequenz zu kodieren, ändert sich diese Sicht, und die Entstehung der Aminosäuresequenz wird prozessual erklärt. Da nun Prozesse eine konstitutive Bedeutung für den Genbegriff haben, wechselt das Gen seinen ontologischen Status von einem Ding zu einem Prozess. Dieser Wechsel hat Folgen. 2.2 Molekulares Wirkungskontinuum Um zu erklären, was sich durch das prozessuale Genverständnis ändert, wird zunächst kurz auf die wesentlichen Kennzeichen von Prozessen eingegangen. Die Bezeichnung „Prozess“ geht auf das lateinische Verb procedere zurück, worunter vorwärts gehen, schreiten, hervortreten, -gehen, -kommen verstanden wird. Bereits dieser Wortursprung deutet auf Bewegung als zentrales Begriffsmerkmal

5 Wenn behauptet wird, der zelluläre Kontext trüge zu der Genese des Polypep­ tids bei, so betrifft dieser Einfluss nicht den genetischen Code; das Verhältnis von Basentripletts zu Aminosäuren bleibt unverändert bestehen. Der Kontext beeinflusst einzig die lineare Anordnung der Aminosäuren im Polypeptid. Diese Unterscheidung ist wichtig.

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hin.6 Schlägt man in einem philosophischen Lexikon nach, so meint Prozess eine „in den Natur- und Sozialwissenschaften (geltende) Bezeichnung für den gerichteten Ablauf eines Geschehens“ (Carrier & Wimmer 2004, 385). Die Bewegung ist also als ein zielgerichteter Ablauf zu verstehen, wobei Prozesse durch finale Zustände abgegrenzt sind. Dieses Moment findet sich beim Genbegriff wieder, dessen epistemisches Ziel die Festlegung der Aminosäuresequenz eines Polypeptids ist. Darüber hinaus handelt es sich bei Prozessen um geordnete Abläufe, wobei weiter zu unterscheiden ist: „Deterministisch ist ein Prozess, in dem jeder Zustand von anderen Zuständen kausal voll bestimmt wird und die entsprechenden Kausalgesetze angegeben werden können; stochastisch ist ein Prozess, in dem ein Zustand aus anderen Zuständen nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit folgt, sodass für ihn nur statistische Gesetze angegeben werden können“ (ebd.). Dinge ändern sich nicht von selbst, sondern stehen in Ursache-Wirkungsverhältnissen, unabhängig davon, ob das Ziel voraussagbar ist (deterministisch) oder mangels Kenntnis der wirkenden Kausalgesetze offen gelassen werden muss (stochastisch). Auf diesen Aspekt soll noch genauer eingegangen werden. Im biologischen Zusammenhang definieren die Philosophen Mario Bunge und Martin Mahner: „Ein komplexes Ereignis, d. h. eines, das sich aus zwei oder mehr Ereignissen zusammensetzt, heißt Prozess“ (2000, 19). Da diese Definition das Begriffsverständnis weiter auf die Ereignisebene verschiebt, ist es wichtig, den Zusammenhang von Ereignis und Prozess zu verstehen: „Während ein Einzelereignis als geordnetes Paar (Ausgangszustand, Endzustand) beschreibbar ist, wird ein komplexes Ereignis oder ein Prozess als eine Reihe von mehr als zwei, vielleicht sogar unendlich vielen Zuständen beschrieben, d. h. als Kurve oder Trajektorie in einem Zustandsraum“ (ebd.). Wird ein Prozess als ein komplexes Ereignis verstanden, so ist der Zeitbezug von entscheidender Bedeutung. Die Einzelzustän6

Während die Naturwissenschaften im 18. Jh. einen statisch-klassifikatorischen Zugang zu ihren Untersuchungsobjekten hatten, wechselt dieser im 19. Jh. zu einer dynamisch-prozesshaften Betrachtungsweise (Carrier & Wimmer 2004, 386). In der Biologie wird die statische Artenklassifizierung (Linné) durch Pro­ zessanalysen des Artenwandels (Lamarck, Darwin) abgelöst. Denkt man an die Molekulargenetik, scheint der Wandel von der statischen zur dynamischen Sicht ein allgemeines Merkmal wissenschaftlicher Theorieentwicklung zu sein. Nach der anfänglichen Phase der Sammlung und Ordnung von Daten geht die Sys­ tembiologie nun verstärkt auf ihren dynamischen Gesamtzusammenhang ein.

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de, bzw. -ereignisse müssen chronologisch aufeinanderfolgen, somit eine Sequenz beschreiben. Allerdings reicht die temporale Sequenzanordnung nicht zu einer umfassenden Prozessbeschreibung aus. So stellt eine „beliebige Versammlung von Ereignissen, die in verschiedenen Dingen auftreten, die zudem relativ isoliert voneinander sind [...] keinen Prozess dar, selbst wenn die Zustände zeitlich geordnet sein sollten.“ Statt dessen gilt: „Um einen Prozess zu bilden, muss eine Menge von Ereignissen folgende Bedingungen erfüllen: (a) die Ereignisse dürfen nur in einem Ding, wie komplex es auch sei, auftreten und (b) die Ereignisse müssen intrinsisch geordnet sein, d. h. sie müssen sich als Kurve in einem Zustandsraum darstellen lassen“ (ebd.). Dieser letzte Aspekt bedarf aufgrund der hier vertretenen molekularwissenschaftlichen Sicht auf das Gen der Erläuterung. Während die zweite Bedingung (b) unproblematisch ist, um zu einem Prozess gezählt zu werden, müssen Ereignisse zeitlich und räumlich gekoppelt erfolgen, sorgt die erste Bedingung (a), wonach Prozesse sich ausschließlich auf Zustandsänderung innerhalb von Dingen bezieht, in ihrer Rezeption für Irritation. So folgert Schmidt anlehnend an Bunge und Mahner im Hinblick auf das prozessuale Verständnis postgenomischer Genbegriffe zwar richtig, dass die finale Zustandsänderung in einem räumlichen Ding stattfindet; nach der Genexpression liegt ein Genprodukt in einer Zelle vor, welches vormals kein Bestandteil der Zelle war, und somit eine Zustandsveränderung der Zelle darstellt. Sie grenzt aber die Extension dieser Prozessgene voreilig auf eine Zelle ein (vgl. 2010, 44f). Da Bunge und Mahner einen außerordentlich weiten Dingbegriff haben und auch komplexe Entitäten wie Systeme und Evolution (2000, 20) darunter subsumieren, ist die Beschränkung auf räumlich abgegrenzte Entitäten keine notwendige Folge des Prozessbegriffs.7 Daher ist es nicht nachvollziehbar, warum das Gen – als Prozess verstanden – hinsichtlich seiner Anfangsbedingungen auf räumliche Dinge beschränkt werden muss. Wie im Folgenden gezeigt wird, ist bei genauerer Betrachtung der Entität Gen das Gegenteil der Fall.

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Die Reichweite von Bunges und Mahners Dingbegriff ist beachtlich. Denkt man z. B. an die Evolution des circadianen Rhythmus, wie dem Schlaf-/Wachzyklus bei Tieren oder den Blattbewegungen bei Pflanzen, und hält sich vor Augen, dass diese Rhythmen lichtabhängig evolviert sind, kann die Evolution nicht auf terrestrische Bedingungen begrenzt werden, sondern bezieht das gesamte Sonnensystem mit ein. Tatsächlich sehen sie die gesamte Welt als Ding.

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Der Grund dafür liegt nur zum Teil an den postgenomischen Forschungserkenntnissen, welche die Bedeutung der Kontextbedingungen hervorheben. Weder ein Gen noch eine Zelle kann im absoluten Sinne als eine autarke Einheit verstanden werden – selbst verändern sie sich nicht, sie sind in übergeordnete Funktionsbezüge eingebettet und werden von diesen zwar nicht determiniert, aber durchaus mit verändert.8 Organismen im Allgemeinen, aber auch einzelne Zellen stellen offene Systeme dar, die sich mit ihrer Umwelt in einem stofflich/informationalen Fließgleichgewicht befinden.9 Dass ein bestimmter Basensequenzabschnitt der DNS in RNS transkribiert und diese entlang posttranskriptionaler Prozesse in einer bestimmten Weise modifiziert, also ein jeweils bestimmtes Genprodukt festgelegt wird, kann nicht als Folge eines auf intrazelluläre Wechselwirkungen begrenzten Prozesses verstanden werden. Schließlich erfüllen die Zellen von mehrzelligen Organismen bestimmte Funktionen. Um organismische Funktion zu gewährleisten, müssen bestimmte Genprodukte exprimiert werden. Zwar stimmt es, dass der zelluläre Kontext das Genprodukt festlegt, allerdings geschieht dies aufgrund stofflich vermittelter Informationen aus der extrazellulären Umgebung. Prozesse auf räumliche Dinge zu beschränken, hieße aber, ihr organismisches Eingebundensein auszublenden. Neben diesen empirischen Gründen sprechen vor allem theoretische Gründe gegen die behauptete Eingrenzung von Prozessen auf Dinge. Die theoretischen Bedingungen der Molekulargenetik sprechen gegen derartige Verdinglichung. Die beteiligten Prozesskomponenten sind ihrerseits Folgen von vorausgehenden Ereignisketten, und die in der Molekulargenetik betrachteten Prozesse stellen nur einen Ausschnitt aus einem komplexen Wirkungszusammenhang 8 Dennoch hat die Zelle eine gewisse Autarkie. Ursprünglich aus der Biologie stammend, hebt die Systemtheorie die Selbstreferenzialität von Systemen wie etwa Zellen hervor und unterstreicht ihre autarke Funktionsweise. Danach ha­ ben Umweltwirkungen keinen Informationsstatus, sondern die Wirkungen wer­ den entlang der systemimmanenten Funktion der Zelle zur Information trans­ formiert. Wegen dieser Selbstreferenzialität determinieren externe Ursachen Systeme nicht vollends. Diese informationelle Abgeschlossenheit scheint für die These zu sprechen, dass Prozesse auf Dinge (Zellen) zu beschränken sind. Aller­ dings bleibt eine Zelle, selbst gemäß diesem systemtheoretischen Verständnis, auf externe Wirkungen angewiesen und setzt Prozesse zwischen Umwelt und Zelle notwendig voraus. 9 Den Begriff „Fließgleichgewicht“ prägte der theoretische Biologe und System­ theoretiker Ludwig von Bertalanffy (1942).

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dar, wobei aber die ursächlichen Wirkungsketten selbst unbegrenzt sind. Da molekularwissenschaftliche Erklärungen notwendigerweise kausalursächlich aufgebaut sind, wonach Ereignisse aufgrund von Ursache/Wirkungszusammenhängen in linearer Kausalfolge erklärt werden, gehen genetischen Prozessen Verursachungsbedingungen voraus. Erst diese molekularen Wechselwirkungen ermöglichen dann den betrachteten Prozess. Jedes in der Naturwissenschaft untersuchte Ereignis setzt axiologisch seine kausalmechanische Erklärbarkeit voraus (1, III, 1.1). Im Hinblick auf die Behauptung der Einschränkbarkeit von Prozessen auf räumliche Dinge ist Folgendes festzuhalten: Würden Prozesse als zellinterne Prozesse verstanden werden, so wäre diese Begrenzung aus molekularwissenschaftlicher Sicht eine willkürliche Festlegung. Nach dem kausalmechanischen Verständnis der Molekulargenetik besteht aber dazu gar kein Anlass. Werden Prozesse auf räumliche Dinge eingegrenzt, setzen sie dingexterne Kausalfaktoren voraus, weil ihre Entstehung als Ereigniskette in einem molekularen Wirkungskontinuum verstanden werden muss. Würden diese Ereignisketten ausschließlich in einem räumlichen Ding stattfinden, bedeutete dies, dass räumliche Dinge kausalursächlich isolierbar wären. Unabhängig vom faktischen Gegenteil10 wäre dann aber theoretisch nicht nachvollziehbar, wodurch die Ereignisketten verursacht würden. Dass die Wirkursachen der prozessualen Gene über die Zelle hinausgehen, weicht deutlich von der herkömmlichen Auffassung des Gens ab. Nach dieser liegt die Information zur Bestimmung des Genprodukts in Form der Basensequenz in einem räumlichen Ding vor, bzw. ist mit diesem (der DNS) identisch.11 Dieses räumliche Denken hat das Grundverständnis von Genen geprägt. Aus molekularwissenschaftlicher Sicht gibt es aber keinen „natürlichen“ Grund, Prozesse in Dinge zu verlegen, außer dies geschieht aus pragmatischen Gründen, und dann handelt es sich um eine willkürliche Festlegung. Das Gen, als Prozess verstanden, bezieht sich auf ein molekulares Wirkungskontinuum. Aufgrund dieser Extension ist es aber schwer, zwischen dem Gen als Entität und dem Kontext zu unterscheiden. 10 Die betrachteten Dinge sind Zellen. Aufgrund ihrer Semipermeabilität stellt die Zellmembran keine Raumgrenze dar. 11 Zwar stellt das DNS-lokalisierte Gen auch eine Folge eines Prozesses dar, näm­ lich die der natürlichen Selektion. Der Unterschied zwischen beiden prozessua­ len Sichtweisen liegt aber in der Aktualität der Prozesse – hier ist der Prozess abgeschlossen. Wird das Gen selbst als Prozess verstanden, ist es wesensver­ schieden vom Gen als räumlichem Ding.

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Da der Kontext gleichwohl zu seiner Formierung sowie Aktivierung beiträgt, muss er in Folge dieser prozessualen Auffassung mit zum Gen gezählt werden und daher im Denken über genetische Prozesse Beachtung finden. Hatte das KMG aufgrund seines dingontologischen Verständnisses die Schwierigkeit der Kontextinvarianz, besteht nun aus prozessontologischer Perspektive das umgekehrte Problem, dass das Gen mit (s)einem Kontext verschmilzt. Daher ist es ratsam – und dies ausschließlich aus pragmatischen Gründen –, das Gen auf intrazelluläre Faktoren zu beschränken. Seine externen Bezüge behalten aber ihre Bedeutung. 2.3 Reichweite der Statusverschiebung Der Perspektivenwechsel vom Gen als Ding hin zum Gen als Prozess bezieht sich auf die ontologische Ebene des Gens und legt nahe, dass ein Wechsel von substanz- zum prozessmetaphysischen Denken vollzogen wird. Da diese Metaphysiken Weltzusammenhänge grundsätzlich verschieden erklären, ist es schließlich wichtig, das Ausmaß des aufgezeigten Perspektivenwechsels zu klären. Der Realismus ist die zentrale Vorannahme der Naturwissenschaften, also auch der Biologie. Wenn von objektiv existierender Wirklichkeit ausgegangen wird, ist aber nur vordergründig klar, was damit gemeint ist. Dass biologische Entitäten existieren, kann unterschiedlich verstanden werden, wobei zwei Erklärungsweisen grundlegend voneinander abweichen. Während die Substanzmetaphysik davon ausgeht, dass Prozessen Dinge vorgeordnet sind, verhält es sich gemäß der Prozessmetaphysik invers. Der entscheidende Unterschied zwischen Prozess- und Substanzdenken liegt nach dem Philosophen Nicholas Rescher in einer polarkonträren Sicht: „For the process philosopher, the classical principle operari sequitur esse (functioning follows upon being) is reversed: his motto is the reverse esse sequitur operari. As he sees it, all is in the final analysis the product of processes. Process thus has priority over product – both ontologically and epistemically. As process philosophers see it, processes are basic and things derivative, because it takes a mental process (of separation) to extract ‚things‘ from the blooming buzzing confusion of the world’s physical processes. For process philosophy, what a thing is consists in what it does.“ (Rescher 2008) Zunächst ist es wichtig zu sehen, dass weder „Substanzdenker“ Prozesse, noch „Prozessdenker“ Dinge negieren. Es handelt https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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sich hier um eine unterschiedliche Auflösung der Wirklichkeit, wobei entweder Dingen oder Prozessen der Vorzug gegeben wird. So können Substanzdenker Prozesse denken, verstehen diese allerdings genauer als Ergebnis von Dingeigenschaften. Dinge sind nicht gleichförmig, sondern sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Eigenschaften. Wenn diese Dinge interagieren, determinieren ihre Eigenschaften Ereignisse, und der daraus folgende Prozess ist als ein dinggeleiteter zu verstehen. Aussagen über den Prozessverlauf werden auf Kenntnisgrundlage der Dingeigenschaften getätigt. Aus dieser Sicht kann man zu Recht sagen, dass Dinge „etwas machen“. Invers dazu können Prozessdenker Dinge erklären, welche hier aber, genauer, als durch Prozesse stabilisierte Dinge gedacht werden. Hier gilt also das zentrale Merkmal von Dingen, ihre räumliche und zeitliche Persistenz, nicht als Voraussetzung, sondern als Folge des Prozesses. Obgleich es problematisch ist, von „der“ Substanz- bzw. Prozessmetaphysik zu sprechen – die einzelnen Theorien weichen voneinander ab12 – soll hier zumindest auf den Ursprung der beiden Denktraditionen hingewiesen werden. Ideengeschichtlich gelten die Vorsokratiker Heraklit und Demokrit als Begründer der Theorien. Bei beiden Positionen handelt es sich um Kosmologien, wobei die Mikroebene elementarer Entitäten mit der Makroebene des Kosmos verbunden wird. Im westlichen Denken gilt die pyrothische Transformationstheorie Heraklits aus Ephesos (520–470 v.Chr.) als Ursprung des Prozessdenkens. In seinem kosmologischen Denken spielt die VierElemente-Theorie die zentrale Rolle. Neben den übrigen Elementen (Erde, Wasser, Luft) gilt das Feuer als das transformierende Element. Alle Dinge sind Produkte des Feuers und stellen Zeitaufnahmen seiner beständigen Produktivität dar. So lautet das Fragment 90: „Umsatz findet wechselweise statt des Alls gegen das Feuer und des Feuers gegen das All, wie des Goldes gegen Waren und der Waren“ (Diels 1906, 75). Heraklit versteht alles prozessual als Werden oder Vergehen. Auf der untersten Seinsebene gibt es keine Dinge, mithin auch keine Substanzen, sondern ausschließlich Umwandlung. 12 So kritisiert Hampe (2004) Rescher (1996), der in seiner Geschichte der Prozess­ metaphysik Heraklit, Plato, Aristoteles, Leibniz, Hegel, Peirce, James, Bergson, Dewey, Whitehead und Sheldon parallelisiert. Die Auswahl sei willkürlich, üb­ rige Prozess-Denker würden ausgespart. Auch suggeriere dies ein einheitliches Prozessdenken.

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Entsprechend ist es konsequent, wenn der Kosmos ohne Anfang und ohne Ende gedacht wird, sondern einen durchgängigen Werdensprozess darstellt. Seine Lehre wird oft auf die prägnante Formel pantha rhei – alles fließt – gebracht (Fragment 91). So heißt es: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen […] und nicht zweimal eine ihrer Beschaffenheit nach identische vergängliche Substanz berühren, sondern durch das Ungestüm und die Schnelligkeit ihrer Umwandlung zerstreut und sammelt sie wiederum und naht sich und entfernt sich“ (Diels 1906, 75). Heraklits Prozessmetaphysik prägte das antike Denken. Dem vorsokratischen Prozessdenken steht der materialistische Atomismus Demokrits (460–370 v.Chr.) entgegen. Auch diesem unterliegt eine Kosmologie. Für die Atomisten ist das Weltall ein beständiges Wechselspiel aus unerkennbar kleinen unteilbaren Partikeln, die sich in einer alles, außer sie selbst (gr. atomos - das Unteilbare), durchdringenden Leere bewegen. Diese Atome kommen in unendlicher Zahl vor und haben unterschiedliche, wenngleich stabile Eigenschaften. Da sich ähnliche Atome anziehen, unterschiedliche aber abstoßen, führt dies zu prozessualen Interaktionen. Aus dieser Sicht stellen makroskopische Objekte Atomakkumulationen dar. Wenngleich sich die Welt sowie die sichtbaren Dinge verändern, bleiben die Atome selbst vom Wechsel ausgeschlossen, insofern außer der räumlichen Bewegung keine Änderung stattfindet. Bewegung ist des Weiteren als Folge des partikulären Aufpralls zu verstehen. Daher ist die Welt für die frühen Atomisten vergänglich und kann durch Kollision ähnlicher kosmologischer Aggregate zerstört werden. Da sich dabei die atomaren Eigenschaften nicht verändern, gelten Atome als Elementarteile des kosmologischen Ganzen, also als ontologisch primäre Substanzen. Aufgrund dieser Statik steht die atomistische Substanzontologie Heraklits Prozessontologie entgegen. Zwar kann von einem Werden gesprochen werden, dies ist aber von unterster Ebene determiniert. Das makroskopische Neue entsteht also in mikroskopisch atomarer Notwendigkeit. Abhängig von den metaphysischen Vorannahmen ist also ein einzelnes Objekt unterschiedlich schematisierbar (ähnlich einem Kippbild). Diese Prinzipien der Wirklichkeitskonstituierung gelten absolut, da es sich um Metaphysiken handelt. Bedeutet der gezeigte Perspektivenwechsel, vom Gen als Ding hin zum Gen als Prozess, sogleich einen Wechsel auf metaphysischer Ebene? Die Philosophin Schmidt verneint diese Frage: „Es ist logisch nicht plausibel, die Interpretation biologischer Phänomene ausschließlich auf einer https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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Prozessperspektive aufzubauen. Es müssen darüber hinaus auch zahlreiche Interaktionskomponenten existieren, die selbst keine Prozesse sind, sondern Dinge“ (Schmidt 2014, 237). Diese Aussage ist erklärungsbedürftig. Schmidt bezieht sich in ihrer Begründung auf Mahner und Bunge, welche in ihrem Werk Über die Natur der Dinge schreiben: „Da ein Ereignis per definitionem eine Veränderung von Eigenschaften eines Dings beinhaltet, sind der Ding- und der Eigenschaftsbegriff dem Ereignisbegriff logisch vorgeordnet“ (2004, 61; 2000, 22). Danach setzt die Rede von Ereignissen notwendigerweise materiale Träger voraus. Sollte diese Annahme stimmen, so würde die Prozessmetaphysik prinzipiell widerlegt werden. Hier liegt aber ein Irrtum vor. Bei genauerer Betrachtung argumentieren die Autoren nämlich selbst aus substanzmetaphysischer Perspektive.13 Innerhalb dieser Sichtweise wird die prozessmetaphysische Sicht weder erfasst noch widerlegt – das Gleiche gilt in inverser Richtung, da andere Axiome zu anderen Folgen führen. Zwar täuschen sich die Autoren in ihrer Begründung. Daraus darf aber nicht die Gültigkeit der Prozessmetaphysik für die Postgenomik abgeleitet werden. Der entscheidende Grund dagegen ist kein logischer, sondern ein axiologischer. Dass das prozessuale Grundverständnis des Gens im substanzmetaphysischen Denken verbleibt, liegt am elementaren Verständnis des Prozessgens. Zwar wird das Gen hier als ein Prozess und nicht als ein Ding verstanden, allerdings basiert die Erklärung des Prozessgens auf den Vorannahmen der Molekularwissenschaften. Der betrachtete Prozess meint nämlich molekulare Ereignisketten, deren chemophysikalische Wech13 Der Fehler wird im Argumentationsverlauf deutlich. Die Autoren müssen die Gültigkeit der Substanzmetaphysik selbst voraussetzen „Postulat 1.3. Die Welt besteht ausschließlich aus Dingen, d. h. konkreten oder materiellen Gegen­ ständen“ (Mahner & Bunge 2000, 6). Dies logisch nicht falsifizierbare Axiom schließt die Prozessmetaphysik methodisch aus. Der Ausschluss geht nicht auf die logische Rechtmäßigkeit des Substanzpostulats zurück, sondern die Verbind­ lichkeit des Axioms. Tatsächlich kann auch die Prozessmetaphysik das Vorhan­ densein von Dingen erklären. Deren zeitliche Persistenz wird aber durch einen kontinuierlichen Prozess stabilisiert. „Träume, Affekte, Wahrnehmungen und Gedanken betrachten wir traditionell als weniger wichtig als Tische und Stühle, Steine und Bäume. [...] Wenn wir jedoch unseren Organismus oder die Fein­ struktur der Materie genauer betrachten, dann sehen wir, daß das Andauern, die Stabilität dieser vermeintlich so wirklichen Dinge darauf beruht, daß permanent etwas geschieht“ (Hampe 1998, 110). Danach sind Dinge die Folge von ontolo­ gisch vorgeordneten Prozessen und nicht wie in der Substanzmetaphysik ihre Ursache. Bunge und Mahner sind sich ihrer eigenen Vorannahmen nicht gewahr.

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selwirkungen durch atomare Eigenschaften erklärt werden, somit Atome als feststehende Dinge voraussetzen. Die molekularwissenschaftliche Erklärung der Prozesse basiert analog zu Demokrit auf einem Atomismus. Damit schließen die substanzmetaphysischen Vorannahmen der Molekulargenetik methodisch prozessmetaphysische Erklärungen aus. Dass diese innerhalb dieser Disziplin keine Gültigkeit haben, bedeutet allerdings nicht die prinzipielle Widerlegung der Substanzmetaphysik per se. Kurzum: Gene wechseln zwar ihren ontologischen Status von Dingen zu Prozessen, jedoch findet der Wechsel innerhalb des substanzmetaphysischen Denkens der Molekulargenetik statt, das letzten Endes von zeitlich stabilen Dingen, d. h. Atomen als Grundeinheiten, ausgeht. 2.4 Gen als Entwicklungseinheit Im Zuge der prozessualen Betrachtung des Gens ist ein weiterer Aspekt von Bedeutung. In der Postgenomik wandelt sich das Gen von der Vererbungseinheit hin zu einer Entwicklungseinheit. Zum Einen treten genetische Entwicklungsprozesse in einem Leben verstärkt in den Fokus, zum Anderen wird der Entwicklungsbegriff darüber hinaus in den vormaligen Vererbungsbereich ausgedehnt. In diesem Zusammenhang spielt die epigenetische Genregulation eine zentrale Rolle. Weiter oben wurde gezeigt, dass der disziplinäre Beginn der Genetik mit einer Abspaltung des Vererbungs- vom Entwicklungsdenken einher ging. Während die Vererbungsphänomene nun in der Genetik untersucht werden, geschieht dies unter Ausschluss der Entwicklung und dieser Bereich fällt der Embryologie zu. Sowohl der Mendelismus als auch die Transmissionsgenetik beziehen sich ausschließlich auf Vererbungsbezüge. Anhand von Mendels Vererbungsgesetzen wird es möglich, von den entwickelten Merkmalen auf deren Vererbungsursachen, Mendels Erbfaktoren, zu schließen (1, I, 1.1). In diesem Zusammenhang sieht sich Johannsen gezwungen, zwischen dem Entwicklungsbereich des Phänotyps und dem Vererbungsbereich des Genotyps zu unterscheiden, und er führt hier die Bezeichnung Gen als ein theoretisches Arbeitskonzept zur Strukturierung von Vererbungsphänomenen ein. Morgan – ursprünglich als Embryologe selbst im Entwicklungskontext tätig – blendet die Entwicklungsprozesse in seiner Transmissionsgenetik methodisch aus (blackboxing), und diese konzentriert sich nun auf https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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die Vererbungsphänomene. Kurzum: In der gesamten Klassischen Genetik wird das Gen als ein Vererbungsbegriff verstanden. Der disziplinäre Vererbungsfokus der Genetik änderte sich in der folgenden Molekulargenetik nur gering. Zwar wird hier neben der Struktur des Gens auch die Funktion ermittelt, somit ein in der Entwicklung ablaufender Expressionsprozess. Und tatsächlich entwickelt sich ein neuer Forschungsbereich, die Entwicklungsgenetik (1, I, 1.2). Jedoch betreffen diese Zuwendungen zum Entwicklungsprozess ausschließlich die Grundlagenforschung der Genetik. In der öffentlichen Wahrnehmung, welche stark durch die anwendungsbezogene Gentechnologie und später dann durch das Humangenomprojekt geprägt wurde, liegt der Fokus weiterhin auf der Vererbung. Wendet man sich dem Gendiskurs der Postgenomik zu, so fällt auf, dass der Vererbungsbereich hier fast gar nicht mehr diskutiert und zunehmend in den Hintergrund gedrängt wird. Dabei ist der neue Entwicklungsbezug des Gens ein zweifacher: Zum Einen wendet sich die Forschung nun verstärkt den Entwicklungsprozessen zu und dies wird etwa am neuen Forschungsprogramm der Systembiologie und ihrem Fokus auf die Erklärung physiologischer Prozesse deutlich. Zum Anderen wird das Gen selbst zu einem Entwicklungsbegriff. Die postgenomischen Genbegriffe beziehen sich durchweg auf einen Entwicklungsprozess, wobei das Gen als eine materiale Einheit während der Vererbung gar nicht existiert, sondern nur räumlich voneinander getrennte Fragmente bestehen. Diese setzten sich erst während des Expressionsprozesses zur Einheit eines Gens zusammen. In zeitlicher Hinsicht stellt das postgenomische Gen also eine transiente Entität dar, deren Einheit während der Entwicklung entsteht, dann aber vergeht. Die Entwicklung hat also erstmals in der Geschichte der Genetik eine konstitutive Bedeutung für das Gen als Einheit. Diese Veränderungen finden nicht nur in einem isolierten theoretischen Diskurs statt, sondern treten zunehmend in den öffentlichen Bereich und werden hier handlungswirksam. Interessierte sich die Medizin und der Gesundheitssektor vormals im Rahmen der genetischen Beratung vor allem für transgenerational übertragbare Krankheitsursachen, so tritt nun die Lebensspanne in den Fokus, und bisher ausgeblendete Entwicklungsfaktoren, wie kulturelle Einflüsse, klimatische Bedingungen, individuelle Lebensgewohnheiten werden z. B. im Rahmen von Volkskrankheiten genetisch erfasst. Auf diesen Bereich wird im zweiten Teil dieser Arbeit ausführlich eingegangen. Hier ist es wichtig, auf den veränderten Blick auf das https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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Gen als Entwicklungseinheit hinzuweisen. Will man diese erstaunliche Zuwendung zum Entwicklungsbereich erklären, so reicht der bisher behandelte Genbegriff nicht aus. Aus Entwicklungsperspektive ist ein weiterer Aspekt gewichtig. Bisher wurde unter einem Gen vor allem der Formierungsprozess des Genprodukts verstanden. Das epistemische Ziel des postgenomischen Gendiskures ist die definitorische Erfassung jener Faktoren, welche die Aminosäuresequenz des Proteins determinieren. Stillschweigend sind wir dabei von der Aktualität des Prozessgens ausgegangen – das prozessuale Genverständnis in der Postgenomik bezieht sich auf einen stattfindenden Expressionsprozess. Dieses Verständnis von „aktiven“ Genen ist nicht selbstverständlich. So sagt der KMG-Begriff nichts über den aktuellen Expressionszustand des Gens aus. Das Gegenteil ist der Fall. Wegen des strukturellen Fokus auf die Basensequenz der DNS ist es für den KMG-Begriff unerheblich, ob das Gen exprimiert wird oder nicht. Als materiale Einheit existiert das KMG durchgängig. Als prozessuale Einheiten bestehen Gene nur während ihres Vollzugs. Daher ist es wichtig, jene Faktoren, welche die Formierung genetischer Information determinieren, also die Aminosäuresequenz des Proteins, von jenen zu unterscheiden, die den Expressionsprozess ermöglichen. Die genetische Regulation und die Genexpression stellen zwei getrennte Prozesse dar. Zwar setzt die Genexpression voraus, dass ein Strangabschnitt der DNS in RNS transkribiert werden kann, allerdings muss nicht jeglicher genregulierte DNS-Abschnitt sogleich auch transkribiert werden. Das prozessuale Verständnis des Gens erfordert eine klare Unterscheidung zwischen dem Gen (verstanden als Prozess) und der Genregulation, welche ebenfalls einen Prozess darstellt. Es ist wichtig zu verstehen, dass die Genregulation sich nicht auf jenen bereits weiter oben behandelten Formierungsprozess des prozessualen Gens bezieht, sondern auf die Ermöglichungsbedingungen der Transkription eines bestimmten Basensequenzabschnittes der DNS. Als Teildisziplin der Molekulargenetik untersucht Epigenetik u. a. die umweltvermittelte Genregulation. Epigenetische Prozesse spielen während der Ontogenese eine fundamentale Rolle, insofern sie eine koordinierte Transkription der DNS-Abschnitte gewährleisten und somit die Funktion der unterschiedlichen Zelltypen zum wesentlichen Teil mitbestimmen. Gleichsam ist die epigenetische Genregulation ein wichtiges Bindeglied zwischen der molekularen Ebene und der makroskopischen Ebene der Umweltbedingungen, https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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welche den Entwicklungsprozess beeinflussen. Mit dem Wissen um die epigenetische Genregulation tritt ein weiterer Prozessaspekt des Gens zutage, und es ist wichtig, auf diesen gesondert einzugehen, insofern die epigenetische Genregulation umweltvermittelt verläuft, wodurch die Grenzen des prozessual verstandenen Gens ein weiteres Mal ausgedehnt werden müssen. Das Gen als eine Entwicklungseinheit setzt seine externe Aktivierbarkeit voraus.

3 Epigenetik: Das regulierte Gen Anhand des mechanischen Paradigmas der Molekularbiologie wird im Folgenden ein allgemeines Bild der Epigenetik vermittelt.14 Der Epigenetikbegriff variiert in der Forschungsliteratur und ist daher weiter einzugrenzen.15 Eine basale Begriffsdifferenzierung entwickeln die beiden Wissenschaftshistorikerinnen Eva Jablonka und Marion Lamb (1995). Im Diskurs zur Bedeutung der Epigenetik für die Evolution unterscheiden sie drei epigenetische Systeme, sog. EIS (epigenetic inheritance systems). Alle EIS spielen in der Entwicklung und der epigenetischen Vererbung eine Rolle. EIS 1 bezieht sich auf sog. steady state systems, womit die Signalumgebung des Gens gemeint ist. Diese ist bei der Entwicklung von Bedeutung, kann aber auch cytoplasmatisch vererbt werden. EIS 2 bezieht sich auf sog. structural systems, worunter zellulär feststehende Strukturen verstanden werden, wie z. B. die Zell14 Die folgenden Abschnitte (1, II, 3.1/2/3) habe ich woanders ihn ähnlicher Weise dargestellt (Schuol 2009, 48-56). 15 Mindestens acht unterschiedliche Begriffe bestehen nebeneinander: 1. Aufgrund der Mehrdeutigkeit des Adjektivs „epigenetisch“ wird Epigenetik und Epige­ nesis gelegentlich gleichgesetzt. 2. Der ursprüngliche Epigenetikbegriff bezieht sich auf eine Synthese zwischen der Transmissionsgenetik und der Epigenesis­ theorie. 3. Innerhalb der frühen Entwicklungspsychologie und Psychoanalyse wurde die Bezeichnung im Rahmen der Traumaforschung verwendet. 4. Im evo­ lutionstheoretischen Diskurs bezieht sich Epigenetik unspezifisch auf die „wei­ che“ Vererbung jenseits der DNS. 5. Als Epochenbegriff wird Epigenetik ähnlich der Postgenomik verwendet. 6. In der spirituellen Bewegung New Biology be­ zieht sich Epigenetik auf die Lenkung geistiger und biologischer Prozesse mittels des Bewusstseins. 8. Der Fachbegriff Epigenetik bezieht sich auf ein Forschungs­ programm, welches die Genaktivierung untersucht. Auf die wichtigsten Unter­ schiede zwischen den Epigenetikbegriffen 2. und 8. wird später eingegangen (1, III, 2.2).

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membran. Aufgrund ihrer Semipermeabilität lässt die Zellmem­ bran nur selektive Umweltinformationen ins Zellinnere, und dieser „Informationsfilter“ ist auch vererbbar. EIS 3 bezieht sich auf sog. chromatin-marking systems. Dieses System befasst sich mit genregulativ wirksamen Strukturänderungen der DNS. Da sich alle Autoren auf EIS 3 beziehen, wenn sie vom molekulargenetischen Fach Epigenetik sprechen, wird hier ausschließlich auf EIS 3 eingegangen.16 Im Folgenden wird diese allgemeine Mechanik der Genregulation auf der Ebene des Chromatins dargestellt. Auf dieser Basis wird danach die spezielle Mechanik der epigenetischen Genregulation auf den Wirkebenen DNS, RNS und Protein erklärt (Youngson & Whitelaw 2008). Anschließend wird auf die temporale Reichweite der epigenetischen Modifikationen eingegangen. 3.1 Allgemeine Mechanik: Strukturänderungen der DNS Im Funktionszustand ist die DNS ein dynamisches Biomolekül. Ihre räumliche Organisation ist für die Genregulation entscheidend. Die Epigenetik weist folgende allgemeine Mechanik auf: In der Biologie werden Lebewesen mit Zellkern, die Eukaryoten, von Lebewesen ohne Zellkern, den Prokaryoten, unterschieden. Um die Komplexität der Epigenetik zu reduzieren, wird im Folgenden nur auf die eukaryotische DNS eingegangen. Bei Eukaryoten bildet der dichte Zellkern einen schützenden Raum für die DNS. Sie liegt darin kondensiert vor und ist entlang einer Kernmatrix organisiert. Ansatzpunkt der Epigenetik und Schlüsselstelle der Genregulation ist die Organisation der DNS.17 Die Strukturform der DNS, ihre Konformation oder Kondensation, wird im Aktivitätszustand der Zelle dynamisch verändert. Grundsätzlich gilt: Das Biomolekül kommt grundsätzlich nie „nackt“, als bloße Doppelhelix (a.), vor. DNS und Proteine bilden einen Funktionskomplex. Dieses Nukleoprotein (DNS-Anteil ca. 30 %) wird als Chromatin bezeichnet. Die 16 Zur Darstellung wurden gängige Molekulargenetik-Lehrbücher benutzt. Dabei handelt es sich u. a. um die Molekulare Genetik (Nordheim & Knippers, 2015) und das erste Lehrbuch der Epigenetik, Epigenetics (Allis et al. 2007). 17 Ihre Organisationsform ist von vielen Parametern abhängig. Der Zellzyklus ist wichtig. Dabei wird unterschieden, ob sich die Zelle in einer Teilungs- oder Funktionsphase befindet. Auch der Differenzierungsgrad der Zelle ist wichtig. Ausdifferenzierte Zellen bleiben in einer Zwischenstufe stehen und setzen die genetische Information spezifisch um.

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DNS-assoziierten Proteine werden Histone genannt und in weitere Typen (H1, H2A, H2B, H3, H4) unterteilt. Da sie bei der „Verpackung“ der DNS, welche entscheidend für die Regulation der Genaktivität ist, eine zentrale Rolle spielen, wird auf ihre Funktion eingegangen. Die DNS umwindet diese Proteinverbindung und bildet die erste, 10nm dicke Verpackungseinheit, das Nukleosom (b.). Die Nukleosome bilden dadurch eine Art „Perlenkette“. Diese Kette wird durch die nächsthöhere Verpackungseinheit weiter kondensiert. Nukleosomen binden aneinander und bilden 30 nm dicke Spiralen, sogenannte Solenoide (c.) aus. Für die weitere Organisation spielt die Kernarchitektur (d.), also die räumliche Anordnung der DNS innerhalb des Zellkerns, eine wichtige Rolle. Diese Solenoide gehen mit der Kernmatrix, einem stabilisierenden Skelett aus Nicht-Histon-Proteinen und RNS, Wechselwirkungen ein und bilden an definierten Stellen Schlaufen aus. Der Zusammenhang wird durch folgendes Bild veranschaulicht:

a. Doppelhelix b. Nukleosom d. Kernarchitektur c. Selenoid

Abb. 2: Darstellung der im Zellkern organisierten DNS

Das Makromolekül DNS (linear beim Menschen 2 m lang) ist in der „Verpackung“ im Zellkern maximal kondensiert (ca. 10 µm). Bei dieser Organisationsform ergeben sich verschieden „dichte“ Bereiche – sie haben eine unterschiedliche genregulative Funktion. Zwei Punkte sind für die Fragen der Epigenetik besonders wichtig. Zum einen unterscheiden sich die maximal kondensierten DNSAbschnitte, das Heterochromatin, von den schwach kondensierten Bereichen, dem Euchromatin, hinsichtlich der Genaktivität. Wegen der hohen Verdichtung der DNS liegen die Gene im Heterochromatin dicht verpackt und damit unerreichbar für ihre Umsetzung in Protein vor. Obwohl die genetische Information an dieser Stelle weiterhin besteht, kann sie nicht genutzt werden; sie nimmt

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den Status bloß potentieller Information ein.18 Dagegen liegt in den euchro­matischen Bereichen der DNS intensive Genaktivität vor. Die benötigten Transkriptionsfaktoren können an die entsprechenden „Startpunkte“ der Gene binden und leiten die Transkription dieser unkondensierten Bereiche ein. Dieses damit geöffnete Leseraster wird hier als aktuelle genetische Information verstanden. Da nur diese in das Protein umgesetzt werden kann, bezieht sich die Entwicklung auf die epigenetisch aktivierte DNS. Folgende Graphik verdeutlicht beide Konformationszustände:

Abb. 3: Übergang vom Heterochromatin (oben) zum Euchromatin (unten)

Zum anderen erfüllt die Kondensation auch abseits der Genregulation einen wichtigen Zweck. Die konzentrierte Verpackungsform von DNS und Proteinen dient als Schutz des fragilen Makromoleküls. Das Risiko gefährlicher „Verletzungen“ der DNS wird durch die Kondensierung auf ein Minimum reduziert. Die Organisationsform des Biomoleküls DNS und der Proteine trägt damit sowohl zu einer allgemeinen Reduzierung der Mutationsrate als auch zu deren Lenkung auf euchromatisch vorliegende Bereiche bei.19 Die dargestellten Organisationsformen der DNS sind funktional, indem sie die Genaktivität regulieren. Sie stellen die allgemeine Mechanik der Epigenetik dar. Strukturänderungen der DNS wirken wie „Schalter“ und entscheiden zwischen genaktiven und genpassiven 18 Zur informationstheoretischen Unterscheidung zwischen potentieller und ak­ tueller Information siehe (1, III, 3.1.2). 19 Jablonka und Lamb (1995) gehen hierbei von einem effizienten Evolutionsme­ chanismus aus. Sofern sich die Mutationsrate der DNS auf aktive Gene kon­ zentriert, betrifft sie selektiv nur phänotyprelevante Geninformationen. Da die natürliche Selektion am Phänotyp ansetzt wird dadurch eine Beschleunigung evolutionärer Prozesse erreicht.

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Sequenzen. Diese allgemeine Mechanik wird aber von einer tiefer liegenden Ebene gesteuert. Diese spezielle epigenetische Regulation wird im Folgenden verdeutlicht. 3.2 Spezielle Mechanik: Modifikationen auf DNS-, RNS- und Proteinebene Die epigenetische In-/Aktivierung der Gene wird im Wesentlichen auf der DNS-, RNS- und Proteinebene reguliert.20 DNS-Methylierung, RNS-Interferenz und Histon-Acetylierung stehen sowohl untereinander als auch mit aktiven Genen in Wechselwirkung und bewirken die regulative Veränderung der DNS-Struktur in Eu- und Heterochromatin. Entgegen „aufgelockert“ vorliegenden Genen kön­nen „verpackte“ Gene nicht von Transkriptionsfaktoren erreicht und umgesetzt werden. Im Folgenden wird gezeigt, wie der allgemeine Mechanismus im Speziellen reguliert wird. 3.2.1 DNS-Modifizierungen Die Modifikation der DNS-Base Cytosin ist von grundsätzlicher Bedeutung bei der Genregulation. Neben den bekannten vier Basen, Adenin, Cytosin, Guanosin und Thymin gilt das modifizierte Cytosin gewissermaßen als fünfte Base der DNS. Das reversibel methylierte Cytosin weist im Unterschied zum „normalen“ Cytosin eine Methylgruppe auf; dies kommt in der DNS höherer Eukaryoten oft vor. Die Methylierung des Cytosins hat eine besondere Funktion. Zwar verändert diese chemische Modifizierung die genetische Information nicht – der Informationswert von Cytosin und der methylierten Variante ist gleich –, die beiden unterscheiden sich jedoch in genregulativer Hinsicht. Diese Regulation wird kurz skizziert. Im Säugetiergenom liegt vor ungefähr 60 % der Gene eine starke Häufung der Basenwiederholung Cytosin/Guanosin vor, so genannten CpG-Inseln (Cytosin-phosphatidyl-Guanosin). Der Methylierungszustand des Cytosins in diesen CpG-Inseln ist für die Genaktivität von entscheidender Bedeutung. Es lässt sich fest20 Diese drei Prozesse werden beispielhaft aufgewiesen – die Darstellung ist nicht umfassend. Im thematisierten Rahmen von EIS 3 spielt z. B. auch die Kernarchi­ tektur und die Position der DNS im Zellkern eine wichtige Rolle.

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stellen, dass methylierte CpG-Inseln vor inaktiven Genen liegen – unmethylierte Inseln hingegen aktive Gene kennzeichnen. Die funktionale Unterscheidung zwischen aktiven und inaktiven Genen hat eine mechanische Ursache:21 Methylierte CpGInseln blockieren die Bindung von Transkriptionsfaktoren an die Startstellen (Promotoren) der Gene und verhindern damit deren Genexpression – die vorliegende genetische Information kann nicht genutzt werden; sie ist inaktiv. Dagegen können die unmethylierten Promotoren von den Transkriptionsfaktoren erreicht werden. Diese binden an die Startstellen und ermöglichen dadurch die Umsetzung dieser genetischen Information in RNS bzw. in Protein. Diese Gene sind also aktiv und prägen durch ihre Expression die Funktionalität der jeweiligen Zelle. Die gerade dargestellten Methylierungen führen schließlich zu einem spezifischen Genaktivitätsmuster, welches einen bestimmten Zelltyp charakterisiert. Im Falle der über 200 Zelltypen des Menschen weichen diese Genaktivitätsmuster entschieden von Zelltyp zu Zelltyp ab. Die genetische Information wird durch diese Methylierungen des Cytosins in den verschiedenen Zelltypen selektiv, d. h. reguliert, genutzt.22 Die Verursachung der Methylierungen wird gegenwärtig intensiv untersucht. Dabei wird zwischen Methylierungsmustern, welche bei der Zelldifferenzierung weitergegeben werden,23 und sogenannten de-novo Methylierungen, die bei der Differenzierung neu entstehen, unterschieden. Auf diese Prozesse kann im Rahmen dieser Arbeit nicht detailliert eingegangen werden, obgleich hier der wichtige Unterschied zwischen den beiden Methylierungsmechanismen betont wird. Würde es lediglich den ersten Mechanismus geben, müssten alle Zellen des Organismus das gleiche Methylierungsmuster aufweisen, also artgleich sein. Die de-novo Methylie21 Dabei gilt: Kurzzeitig deaktivierte Gene liegen vorerst unmethyliert vor. Ihre Aktivität wird durch andere Faktoren bewirkt. Nach längerer Deaktivierung werden die CpG-Inseln aber methyliert und das Gen dauerhaft deaktiviert. 22 Neben den epigenetischen Faktoren regulieren auch Transkriptionsfaktoren die unterschiedliche Genexpression. 23 Da die CpG-Inseln in der doppelsträngigen DNS einander spiegelverkehrt ge­ genüberliegen, ist gewährleistet, dass Methylierungen beim Zellteilungsprozess in den Einzelsträngen ortspezifisch erhalten bleiben. Nach erfolgter Zellteilung wird diese Hemimethylierung (durch ein Enzym Dnmt1) vervollständigt, so­ dass das Methylierungsmuster nun wieder beidseitig vorliegt und es also auf die nächste Zellgeneration vererbt wird (Bestor & Ingram 1989). Für die Verände­ rung des Methylierungsmusters konnten andere Enzyme (Dnmt2, Dnmt3 a/b) nachgewiesen werden (Lei et al. 1986).

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rungen tragen daher im embryonalen Entwicklungsprozess zu der Entwicklung von neuen Zelltypen bei. Auf die Zelldifferenzierung wird später (1, II, 3.3.1) im passenderen Zusammenhang genauer eingegangen. 3.2.2 Histon-Modifizierungen Die Modifizierung des Nukleoproteins Histon hat eine zentrale Bedeutung für die Genaktivität. Der dichte Verpackungszustand der DNS, das Heterochromatin, wird im Wesentlichen durch Proteinmodifikationen verursacht.24 Der molekulare Aufbau der Histone ist hierbei von Bedeutung. Die Proteingruppe der Histone kommt in allen eukaryotischen Zellen vor und besteht aus einer globulären zentralen Domäne und zwei flexiblen peripheren Armen. Über die globulären Anteile binden die Histone in einem Proteinkomplex an die DNS. Sie bilden das Nukleosom, jene Einheit um welche die DNS perlenkettenartig gewunden vorliegt. Die flexiblen Arme der Histone reichen dabei bis zum nächsten Nukleosom, an das sie aufgrund ihrer unterschiedlichen Ladung binden können. Dieses Binden, sowie das Lösen bereits bestehender Bindungen führt zur Veränderung des Strukturzustandes des Chromatins mittels Extension und Kondensation der DNS. Ihre Veränderungen führen zur Regulation der Gene (Abb. 3 – 1, II, 3.1). Zunächst gehe ich auf die Aktivierung der Gene ein. Die Aminosäuren in den flexiblen Histon-Armen können auf mehrere Arten modifiziert werden und wechseln dadurch ihr chemisches Verhalten. Einfachheitshalber wird hier nur auf die Acetylierungen der Aminosäuren eingegangen.25 Dabei werden die geninaktiven, heterochromatischen in genaktive, euchromatische DNS-Abschnitte umgewandelt. Da der Prozess teils von benachbarten Genen gesteuert

24 Drei Heterochromatinarten werden unterschieden: Konstitutives, fakultatives und funktionelles Heterochromatin. Konstitutives Heterochromatin kommt in der genlosen Nähe der Zentromere im Chromosom vor und liegt bis auf kur­ ze Zeitintervalle nicht transkribierbar vor. Das fakultative Heterochromatin kommt z. B. bei weiblichen Zellen vor und hält hier die „normale“ Gendosis aufrecht, indem sie ein X-Chromosom heterochromatisch inaktiviert. Das funk­ tionelle Heterochromatin kommt während der Zelldifferenzierung vor. 25 Weitere Modifikationen sind: Phosphorylierungen, Methylierungen, Ubiquiti­ nierun­gen und Sumoylierungen.

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wird, kann die Transkription gezielt aktiviert werden.26 Bestimmte Enzyme (Histon-Acetyl-Transferasen) übertragen Acetylgruppen auf die Aminosäuren der flexiblen Histonarme (vgl. Brownell et al. 1996). Diese Acetylierung hat Konsequenzen für deren Bindungseigenschaften. Die bestehenden Wechselwirkungen zwischen den vormals positiven flexiblen Histonarmen und den negativen DNSAbschnitten der nächstliegenden Nukleosomen heben sich auf (vgl. Vettese-Dadey et al. 1996). Der Halt zwischen den Nukleosomen geht verloren. Dies führt zur Extension des Chromatins. Das dichte Heterochromatin wird in das lockere, transkriptionsfähige Euchromatin überführt (vgl. Shogren-Knaak et al. 2006). Daher werden die Nukleosomen in den genaktiven Bereichen acetyliert vorgefunden (vgl. Hebbes et al. 1994). Der acetylierungsvermittelten Genaktivierung steht die Geninaktivierung, also die Rückführung der DNS in den heterochromatischen Zustand gegenüber. Unterschiedliche Enzyme (HistonDeacetylasen) können die Acetylgruppen wieder entfernen (vgl. Kurdistani & Grundstein 2003; Yang & Seto 2003). Die flexiblen Histonarme erlangen dadurch ihre ursprüngliche Bindefähigkeit zurück, sodass die DNS in den heterochromatischen Zustand überführt wird. In diesem Zustand sind Gene für die Transkriptionsfaktoren unerreichbar – sie sind inaktiv.27 Histonacetylierungen und -deacetylierungen vermitteln durch die gezielte Strukturänderung der DNS die Genaktivität. 3.2.3 RNS-Interferenz Zwischen DNS und Protein vermittelt die RNS – Genaktivität kann durch sie gesteuert werden. Die RNS-Interferenz (RNSi) ist ein Regulationsprozess des euka­ryo­tischen Genoms, welcher die

26 Soweit der Startbereich der Gene auf dem Nukleosom liegt, können Transkrip­ tionsfaktoren nicht an die DNS binden – die Nukleosomen-Anordnung im Pro­ motorbereich aktiver Gene muss verändert werden. Dazu ist das Chromatin-Re­ modelling nötig: Die Bereiche zwischen Nukleosomen werden erweitert, bis die Transkriptionsfaktoren an die Startstellen binden und somit die Transkription einleiten können (vgl. Svaren et al. 1994; Shim et al. 1998). 27 Tatsächlich weisen Nukleosomen in inaktiven Bereichen geringere Acetylie­ rungs­­raten auf (Braunstein et al. 1993).

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Aktivität spezifischer Gene hemmen kann.28 Um diesen Prozess aufzeigen zu können, ist es zunächst wichtig, die Transkription von der Translation zu unterscheiden. Die genetische Information der DNS wird mittelbar in Protein umgesetzt. Zunächst wird die Basensequenz eines Gens von der doppelsträngigen DNS in die einzelsträngige RNS umgeschrieben – sie wird transkribiert. Erst diese einsträngige Boten- oder Messenger-RNS (mRNS) kann nach weiteren Zwischenschritten in Protein umgesetzt, also translatiert werden. Die RNS nimmt eine Vermittlerfunktion zwischen der DNS und dem Protein ein und ist für die RNSi entscheidend. Begrifflich wird bei dieser RNSi zwischen posttranscriptional gene silencing (PTGS) und transcriptional gene silencing (TGS) unterschieden. Dieser Unterschied wird nun im Folgenden kurz dargestellt. Bei der PTGS bedeutet posttranscriptional, dass die Blockierung der genetischen Information nach der Transkription, also auf mRNS-Ebene stattfindet. Die doppelsträngige RNS (dsRNS) wird durch Enzyme (Dicer) in kleinere sogenannte small interfering RNS (siRNS) geschnitten.29 Zusammen mit einem Proteinkomplex erkennt siRNS die komplementäre mRNS und spaltet diese (vgl. Hannon 2002). Dies hat zwei wichtige Effekte. Ohne mRNS kann die Translation der genetischen Information in Protein nicht erfolgen. Teilweise behindern die gebundenen siRNS-Fragmente auf der mRNS die Translationsfaktoren aber auch nur. In beiden Fällen ist aber das Ergebnis identisch: Bei der PTGS wird die Protein-Translation eines spezifischen Gens verhindert. 28 1990 stießen Pflanzenphysiologen, welche zusätzliche Blütenfarbengene in das Petuniengenom einbrachten, das erste Mal auf das Phänomen der RNSi. Entge­ gen ihrem Forschungsziel, die Intensität und Qualität der Blütenfarbe zu stei­ gern, wiesen die transgenen Petunienblüten keine Farbe auf. Es wurde nachge­ wiesen, dass doppelsträngige-RNS bei der Blockierung die entscheidende Rolle spielt, da Interferenzen zur Stilllegung der Genaktivität führen (vgl. Napoli et al. 1990). 29 Neben den siRNS gibt es auch micro-RNS (miRNS). Unterschieden wird nach ihrem Ursprung: siRNS entsteht entweder durch bidirektionale (statt unidi­ rektionale) Transkription oder gelangt als exogener Faktor, z. B. in Form viraler RNS, in den Zellkern. miRNS hat ihren Ursprung in den bisher fälschlicherwei­ se als inaktiv geltenden Telomer und Zentromerabschnitten der Chromosomen. Da diese Sequenzen hochrepetitiv sind, können sich Abschnitte längerer RNSTranskripte mit sich selbst binden und dsRNS bilden. Wegen der Ähnlichkeit der Prozesse und um die Darstellung verständlich zu halten, wird hier nur auf siRNS eingegangen. (vgl. Zamore et al. 2000/2002; Bartel 2004).

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Die TGS setzt dagegen früher ein und sperrt bereits die Transkription der Gene. Im Wesentlichen erfolgt diese Blockade über die Modifikation des Euchromatins in Heterochromatin. Diese Veränderung ist vererbbar und daher von besonderem Interesse. Neuere Studien weisen nach, dass RNSi die Umwandlung in Heterochromatin induzieren kann.30 siRNS kann mit einem Proteinkomplex in Wechselwirkung treten und die Modifizierung der komplementären DNS-Abschnitte für die Transkription regulieren (vgl. Verdel et al. 2004; Bühler et al. 2006). D.h. Gene können gezielt deaktiviert werden: Die ortspezifische Bindung des aktiven Komplexes an die DNS modifiziert zusammen mit einem weiteren Enzym (HMTase) die umliegenden Histone. Dies führt zu einer Methylierung der flexiblen Histon-Arme. Entgegen der vormals dargestellten Acetylierung führt es zur Ausbreitung des Heterochromatins. Da nur Euchromatin transkribierbar ist, bedeutet diese Kondensation die Inaktivierung des vorliegenden Genabschnittes. Der biologische Sinn der RNSi ist der Schutz der eigenen vor externer Erbinformation. Exogene Erbfaktoren können entweder als RNS, z. B. durch Viren, oder als DNS, z. B. durch Transposons, in den Zellkern eindringen und den Organismus durch fremde Information bedrohen.31 Mit der RNSi verfügen Organismen über ein wirksames epigenetisches Instrument, um diese invasive Erbinformation sowohl auf RNS-Ebene (PTGS) als auch auf DNS-Ebene (TGS) zu deaktivieren.

30 Es wurde nachgewiesen, dass Mutationen in Genen, welche für die RNSi wichtig sind, zu einer fehlerhaften Chromosomentrennung in der Meiose führen. Wäh­ rend dieser Reifeteilung müssen die homologen Chromosomen maximal kon­ densiert vorliegen um sich optimal zu trennen. Üblicherweise liegen vor allem die Enden der Chromosomen (Telomere) und die Schnittstellen der homologen Chromosomen (Zentromere) im heterochromatischen Zustand vor. Angesichts der vorgefundenen Defekte in diesen Bereichen ist klar, dass sie nicht hetero­ chromatisch vorlagen. (vgl. Hall et al. 2002; Reinhart & Bartel 2002). 31 Virale RNS führt, sofern sie aktiv umgesetzt wird, zur Reproduktion von Viren – dies führt zur Zerstörung der Wirtszellen. Transposons bestehen aus DNS, wer­ den auch „springende Gene“ genannt, und können in ein Gen „springen“, sich also in das Genom integrieren. Diese Insertion führt zur Deaktivierung des be­ troffenen Gens.

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3.3 Epigenetische Vererbung als Vererbung von Entwicklungszuständen Die Expression eines Gens in ein Protein wird durch die Struktur der DNS im konkreten Entwicklungsausschnitt reguliert. Da der Epigenetikbegriff gelegentlich als Vererbungsbegriff definiert wird, dieser aber vom herkömmlichen DNS-zentrierten Vererbungsverständnis abweicht, ist es notwendig auf diesen Zusammenhang einzugehen. Der Epigenetiker Riggs definiert Epigenetik als: „The study of mitotically and/or meiotically heritable changes in gene function that cannot be explained by changes in DNA sequence“ (1996, 1). Diese Rede von Vererbung weicht stark vom intuitiven Verständnis ab und bedarf der Erläuterung. Es werden zwei Vererbungsformen unterschieden, wobei Vererbung sich allgemein auf transgenerationale Übertragungsprozesse bezieht. Unter Generation wird hier aber Unterschiedliches verstanden. Die mitotische Vererbung epigenetischer Zustände bezieht sich auf den Entwicklungsprozess eines Organismus und meint die Übertragung epigenetischer Genregulationsmuster bei der mitotischen Zellteilung. Hier bezieht sich Vererbung also auf somatische Körperzellgenerationen. Da dieser Übertragungsprozess mit dem Tod des Organismus endet und der „normale“ Vererbungsbegriff nicht unnötig strapaziert werden sollte, wäre es besser von epigenetischer Entwicklung zu sprechen. Die meiotische Vererbung meint dagegen Vererbung im gängigen Sinne von Übertragungsprozessen zwischen Organismengenerationen in direkter Erbfolge. Entlang der meiotischen Zellteilung werden die epigenetischen Genregulationsmuster vererbt, d. h. hier ist die Keimbahn gemeint. Da die epigenetischen Modifikationen in der Entwicklung entstehen und darüber hinaus vererbt werden, wäre es hilfreich von einer epigenetischen Vererbung von Entwicklungszuständen zu sprechen. Im Folgenden werden diese beiden Bereiche ausführlich erklärt. Da die meiotische Vererbung epigenetischer Zustände oft in populärwissenschaftlichen Publikationen mit dem historischen Begriff Vererbung erworbener Eigenschaften verwechselt wird, wird abschließend auch auf diesen Zusammenhang eingegangen und die Unterschiede der beiden Begriffe werden hier dargestellt. Obwohl entwickelte epigenetische Zustände potentiell vererbbar sind, darf dies nicht im Sinne einer transgenerational stabilen und kontinuierlich verlaufenden Entwicklung verstanden werden. https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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3.3.1 Ontogenetische (mitotische) Vererbung Zunächst gehe ich auf die ontogenetische Vererbung ein, also auf die Entwicklung des Individuums. Diese erstreckt sich von der embryonalen Zelldifferenzierung über die Regeneration des bereits bestehenden Gewebes bis hin zum Tod. Epigenetische Modifikationen regulieren die phänotypische Prägung. Dies findet im Wesentlichen über die anfangs aufgeführte allgemeine epigenetische Mechanik statt. Soweit bestimmte Basensequenzen über längere Zeiträume inaktiviert vorliegen, werden sie durch die Interaktion der drei speziellen Mechanismen in das transkriptionsinaktive Heterochromatin umgewandelt und durch diese Strukturänderung der DNS dauerhaft „ausgeschaltet“. Dieses Zusammenspiel wird im Folgenden dargestellt. Fast alle Zellen eines Organismus haben die gleiche genetische Information32. Ihre unterschiedliche Morphologie und Funktion kann wegen ihrer genetischen Identität also nicht gendeterminiert sein. Das Genom stellt lediglich die potentielle genetische Information dar und ist bloß die hinreichende Bedingung der Entwicklung, welche notwendig noch der Koordination der einzelnen Genaktivitäten bedarf. Erst ihre Konzertierung führt zu den verschiedenen Zelltypen. In diesem Differenzierungskontext spricht man vom Zellgedächtnis. Dieser klassische Forschungsbereich der Epigenetik widmet sich der Beständigkeit der unterschiedlichen Zelltypen – seine Darstellung soll den epigenetischen Vererbungsprozess erläutern. Während des Differenzierungsprozesses entwickeln sich die somatischen Zelltypen des Organismus aus Stammzellen durch Zellteilungen. Aus einer Stammzelle werden konkrete Zelltypen generiert, welche schließlich das organische Gewebe bilden. Diese Ausdifferenzierung wird durch Erhaltung alter und Hinzufügen neuer Methylierungsmuster gesteuert.33 Diese neu methylierten Bereiche der Basensequenz werden anschließend in das Heterochromatin umgewandelt und damit der Transkription entzogen. Da diese Methylierungsmuster bei der Zellteilung vererbt werden, wird der vorliegende Genaktivitätszustand konserviert. Jene verbleibenden euchromatischen Genbereiche können weiter in Protein umgesetzt 32 Eine Ausnahme sind Immunzellen. Ihr Genom wird stets neu und aktiv im Zuge einer Immunantwort gebildet. 33 Dieser Methylierungsmusterwandel verläuft nicht unidirektional. Demethylie­ rungen der CpG-Inseln finden im Differenzierungsprozess ebenfalls statt (vgl. Bruniquel & Schwartz 2003).

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werden und prägen das „Zellschicksal“ in der festgelegten Weise. Die epigenetisch regulierte DNS-Struktur einer ausdifferenzierten Zelle erlaubt somit lediglich jene Transkription, welche ihren phänotypischen Funktionszustand bestimmt; die Morphologie und Funktionalität der Zelle wird durch das vorhandene Protein festgelegt. Im Zelldifferenzierungsprozess wird somit nicht die genetische Basensequenz, sondern das epigenetische Methylierungsmuster ver­ändert. Dies führt dazu, dass Zellen des gleichen Zelltyps das gleiche Methylierungsmuster aufweisen. Ihre gemeinsame Form und Funktion unterscheidet sich entsprechend von anderen Zelltypen. Die epigenetische Differenzierung spielt also eine konstitutive Rolle bei der Entwicklung komplex organisierter Lebewesen. Selbst nach der Zelldifferenzierung haben epigenetische Modifikationen eine zentrale Bedeutung für die phänotypische Weiterentwicklung der Organismen. Studien mit eineiigen Zwillingen sind hierbei besonders interessant. Trotz ihres identischen Genotyps entwickeln diese natürlichen Klone einen unterschiedlichen Phänotyp – dafür sind epigenetische Modifikationen verantwortlich. So wurde herausgefunden, dass junge Zwillinge ein sehr ähnliches Methylierungsmuster der DNS haben. Man spricht von einem identischen Epigenotyp. Dieser verändert sich aber mit zunehmendem Alter (vgl. Fraga 2005). Die älteren Geschwister weisen starke Unterschiede im Methylierungsmuster auf – ihr Epigenotyp divergiert. Als Ursache ihrer unterschiedlichen Entwicklung werden die verschiedenen Umwelteinflüsse angesehen, denen sich die Geschwister in ihrem Leben ausgesetzt hatten. Das belegt auch die Tatsache, dass früh getrennte Zwillinge stärkere Unterschiede der Methylierungsmuster aufweisen. Die Umwelt-Faktoren spielen also eine zentrale Rolle bei der individuellen Weiterentwicklung des Organismus.34 Diese Zwillingsstudien zeigen eindrücklich, dass die Genregulation nicht von einer tieferen, genetischen Ebene gesteuert sein kann – die Epigenetik lässt sich nicht auf die Genetik reduzieren. Dies wird später genauer ausgeführt (1, III, 3.1.2). Hier wurde gezeigt, dass epigenetische Modifikationen des Genoms für die lebenslange Prägung des Organismus entscheidend sind. 34 Ein weiteres Beispiel verdeutlicht die Tragweite: Manchmal wird eine genetische Krankheitsdisposition beider Zwillinge nur bei einem ausgeprägt. Obwohl die natürlichen Klone genetisch identisch sind, stellen sie epigenetische Varianten dar. Ihr unterschiedlicher Phänotyp wird von Umweltbedingungen geprägt. Siehe hierzu auch (1, IV, 4).

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3.3.2 Transgenerationale (meiotische) Vererbung Die transgenerationale Vererbung epigenetischer Modifikationen ergänzt die bisher bekannte Vererbungsform. Chromosomen speichern neben genetischer auch epigenetische Information. Hier wird gezeigt, dass transgenerationale Vererbung epigenetischer Information möglich ist. Während man aus der Sicht der klassischen Genetik die Vererbung gerne auf die Basensequenz reduziert, womit lediglich die genetische Information transgenerational vererbt werden dürfte, belegt eine zunehmende Zahl experimenteller Forschungsdaten die zusätzliche, epigenetische Vererbung.35 Es zeigt sich, dass im Lebensverlauf entstandene phänotypische Merkmale auf die Folgegeneration vererbt werden können. Angesichts der Tatsache, dass die ursprüngliche Entwicklung des Epigenotyps durch Umweltfaktoren beeinflusst wird, ist diese Form der Vererbung sehr weitreichend.36 Jedoch muss betont werden, dass die epigenetische Forschung der transgenerationalen Vererbung erst am Anfang steht und viele Zusammenhänge unklar sind. Gegenwärtig steht bereits fest, dass die vollständige Übertragung der verantwortlichen Methylierungsmuster in den seltensten Fällen möglich ist. Die stabile Vererbung des Methylierungsstatus konnte lediglich bei Einzellern, einigen Pflanzen und wenigen Insekten nachgewiesen werden. Bei Säugetieren sind diese Nachweise spärlich und betreffen zumeist Reste des elterlichen Epigenotyps.37 Dass diese epigenetische Vererbung dennoch starke Folgen hat, wird folgend an Beispielen verdeutlicht. 35 Dieser epigenetischen Ergänzung stand man zunächst skeptisch gegenüber, da sie den Forschungsergebnissen der Embryologie widersprach. In der Regel wird die transgenerationale Vererbung der Methylierungsmuster durch eine Infor­ mationsbarriere verhindert: Methylierungsmuster, welche die Strukturverände­ rung der DNS in Eu- und Heterochromatin einleiten, werden normalerweise während der frühen Keimzellentwicklung, oder spätestens im frühen Embryo­ nalstadium gelöscht. Die epigenetische Information ginge also verloren, bevor sie der nächsten Generation von Nutzen wäre. Jedoch findet diese Reprogram­ mierung des Epigenotyps nicht vollständig statt. 36 Da durch die Kultur internalisierte Verhaltensformen wie z. B. Essgewohnheiten Einfluss auf Methylierungsmuster haben können, scheint der mittlerweile fest etablierte Gegensatz von Kultur gegen Natur im Kern angreifbar. Wie stark sich diese beiden Bereiche tatsächlich bedingen, wird zwar untersucht, ist aber gegenwärtig noch unklar. 37 Die Vererbbarkeit epigenetischer Modifikationen beim Menschen wird hier ge­ sondert thematisiert (2, III, 1.2).

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Die meisten experimentellen Belege stammen aus Studien mit Ratten und Mäusen.38 Ein gutes Beispiel für epigenetische Vererbung stellen Experimente zum sogenannten Avy-Allel bei Mäusen dar. Das sogenannte Agouti-Gen entscheidet mit über die Fellfarbe von Mäusen; es kommt in unterschiedlichen genetischen Abweichungen (Allelen) vor. Das Avy-Allel (agouti viable yellow) nimmt dabei eine besondere Rolle ein, weil Mäuse mit diesem Allel, also mit absolut identischer Basensequenz, unterschiedliche Fellfarben haben können. Dieser phänotypische Unterschied kann daher nicht von der genetischen Information abhängen. Seine Ursache wurde mittlerweile in epigenetischen Modifikationen gefunden; Methylierungen des Agouti-Gens sind für unterschiedliche Fellfarben verantwortlich. Soweit das Gen wenig oder gar nicht methyliert vorliegt, ist es voll funktionsfähig. Dies führt zur Ausbildung jener Pigmente, welche für die gelbe Fellfarbe entscheidend sind. Die betroffene Maus ist entsprechend gelb. Wenn das Allel aber einen hohen Methylierungsgrad aufweist, so führt dies zu einer Deaktivierung des Gens und somit zu einer braunen Fellfarbe.39 Das Besondere an diesen Agouti-Mäusen ist aber, dass sich ihre Fellfarbe sowohl induzieren als auch vererben lässt. Wenn man trächtigen Mäusen mit brauner Fellfarbe eine besondere Nahrung verabreicht, führt dies zum Farbenwechsel bei ihrem Wurf.40 Die Nahrung der Mutter wirkt induzierend auf den Phänotyp der Folgegeneration. Diese Farbänderung von braun auf gelb lässt sich darüber hinaus auch auf die folgenden Generationen weiter übertragen.41 Angesichts des genetischen Dogmas sind diese wissenschaftlichen Erkenntnisse beeindruckend. Allerdings sind die epigenetischen Erkenntnisse nicht allgemeingültig, und die transgeneratio38 Bez. Kerntransplantationsexperimente siehe (Roemer et al. 1997), Forschung metasta­biler Epiallele (Rakyan et al. 2003), Induktion epigenetischer Mustern (Drake et al. 2005), Transgenerationalität von Umweltgiften (Anway et al. 2005). 39 Die unterschiedlichen Methylierungsgrade zwischen den Extremen führen zu einem breiten Spektrum von Fellfarben. Die Expression des Gens erhöht zusätz­ lich die Wahrscheinlichkeit von unterschiedlichen Krankheiten bei den Nagern, wie Fettleibigkeit, Diabetes und Krebs, welche bei einem hohen Methylierungs­ grad entsprechend stark ausfallen. Um die Darstellung nicht zu komplizieren, wird in Folge nur auf die Farbänderung eingegangen. 40 Craig Cooney (1998) wies nach, dass Methionin-, Folsäure- oder Zink-reiche Nahrung zum Farbwechsel führt. 41 Dies wurde von Jennifer Cropley (2006) belegt. Diese transgenerationale Ver­ er­bung widerlegt die bis dahin geltenden Annahme, wonach epigenetische In­ formationen bei der transgenerationalen Vererbung verloren gehen.

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nale Übertragbarkeit epigenetischer Modifikationen muss im Einzelfall geprüft werden, da die dazu notwendigen physiologischen Mechanismen artspezifisch abweichen. Nach dem gegenwärtigen Wissensstand der epigenetischen Forschung ist die epigenetische Vererbung beim Menschen nicht möglich. Dieses Problem und die Schwierigkeit der Übertragung der Ergebnisse von Pflanzen- und Tierstudien auf Menschen wird später ausführlich behandelt (2, III, 1.2). Hier wurde gezeigt, dass die epigenetische transgenerationale Vererbung die genetische Vererbung ergänzen kann, also bestimmte Merkmale sowohl induziert als auch vererbt werden können. Die dargestellten Mechanismen der epigenetischen Modifikationen haben Auswirkungen auf die Raumstruktur der DNS. Die daraus resultierenden Chromatinzustände wirken regulativ auf die Genaktivität und haben somit eine starke Bedeutung für die Ausbildung des Phänotyps. Dieser entwickelte Phänotyp kann transgenerational übertragbar sein, da sich die epigenetischen Muster auf die Folgegenerationen übertragen lassen. In dieser Darstellung wurde ausgelassen, wodurch die epigenetischen Mechanismen affiziert werden. Auf diese besonders interessante Frage und die entscheidende Rolle der Umweltbedingungen wird ausführlich im Kapitel 4 (Teil 1) eingegangen. Im Anschluss wird das Konzept der transgenerationalen Übertragung epigenetischer Entwicklungszustände mit Jean Baptiste de Lamarcks historischem Begriff Vererbung erworbener Eigenschaften verglichen. 3.3.3 Epigenetik und die „Vererbung erworbener Eigenschaften“ Aufgrund der transgenerationalen Übertragbarkeit der epigenetischer Modifikationen wird in populärwissenschaftlichen Artikeln gelegentlich auf das wissenschaftlich widerlegte Konzept der Vererbung erworbener Eigenschaften (VeE) hingewiesen, und dieses wird als rehabilitiert angesehen.42 Da danach der ontogenetische Entwicklungsbezug phylogenetisch ausgedehnt würde, soll hier ab-

42 Obgleich dieses Konzept sowohl in Lamarcks als auch Darwins evolutionstheo­ retischem Denken eine zentrale Rolle spielt, verwenden beide den Begriff Ver­ erbung erworbener Eigenschaften nicht – diese Redewendung entwickelte sich erst nach ihnen und wird gegenwärtig vor allem mit Lamarcks Evolutionstheorie in Verbindung gebracht.

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schließend auf die Reichweite der epigenetischen Übertragungsprozesse eingegangen werden. Der VeE-Begriff nimmt die zentrale Position im evolutionstheoretischen Denken des Biologen Jean-Baptiste de Lamarck (1744– 1829) ein. Auf dieser Basis entwickelt Lamarck seine Transformationstheorie, eine Evolutionstheorie, welche ausgehend von spontanen Urzeugungen aus unbelebter Materie eine kontinuierliche Komplexitätszunahme der evolvierenden Organismen behauptet. Lamarcks Evolutionstheorie ist – entgegen Darwins Deszendenztheorie – eine orthogenetische Theorie, d. h. die Artentwicklung schreitet unidirektional fort. Die Transformation der Arten erreicht Lamarck durch die Annahme der Übertragbarkeit der erworbenen Eigenschaften auf die folgenden Generationen. Das Evolutionsprinzip fasst er in zwei Naturgesetzen knapp zusammen. Das erste Gesetz beschränkt sich auf den Entwicklungsprozess: „Bei jedem Tier, dass das Ziel seiner Entwicklung noch nicht überschritten hat, stärkt der häufigere und bleibende Gebrauch eines Organs dasselbe allmählich, entwickelt und vergrößert es und verleiht ihm eine Kraft, die zu der Dauer dieses Gebrauchs im Verhältnis steht; während der konstante Nichtgebrauch eines Organs dasselbe allmählich schwächer macht, verschlechtert, seine Fähig­keiten fortschreitend vermindert und es endlich verschwinden läßt.“ (Lamarck 1990, 185) Das zweite Gesetz bezieht sich auf die VeE, welche die Entwicklung transgenerational ausdehnt: „Alles, was die Natur die Individuen erwerben oder verlieren läßt durch den Einfluss der Verhältnisse, denen sie während langer Zeit ausgesetzt sind, und folglich durch den Einfluss des vorherrschenden Gebrauchs oder konstanten Nichtgebrauchs eines Organs, das erhält sie durch die Fortpflanzung für die Nachkommen, vorausgesetzt, dass die erworbenen Veränderungen beiden Geschlechtern oder denen, die diese Nachkommen hervorgebracht haben, gemein seien.“ (Ebd.) Erst die Vererbung eines erworbenen Zustands ermöglicht die evolutionäre Abwandlung der Arten, also ihre Transformation. Dabei muss die Entwicklung als ein transgenerational ausgedehnter Prozess betrachtet werden. Der ererbte Zustand gilt als Ausgangspunkt der Weiterentwicklung. Sofern die Umweltverhältnisse es erfordern, d. h. der Organismus Anstrengungen unternehmen muss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, werden die bestehenden organischen Strukturen weiter ausgebaut und darüber hinaus weitervererbt. Da dieser Prozess als Reaktion auf eine Umwelt im Wandel https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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stattfindet, spricht man von gerichteter Anpassung, also Adaption. Lamarck erklärt mit seiner Anpassungstheorie sowohl die Konstanz als auch die Abänderung der Arten: Bei andauernden ökologischen Veränderungen hält der Transformationsprozess an – bei Konstanz der ökologischen Bedingungen wird der erreichte Zustand, die Adaption, konserviert. Angesichts der möglichen Vererbbarkeit der epigenetischen Gen­ aktivitätsmuster ist wieder von Lamarcks VeE die Rede. Diese Rede ist problematisch, da ein Bezug zur direkten Adaption suggeriert wird, welche dem aktuell gültigen indeterminierten Evolutionskonzept Darwinscher Prägung entgegensteht. Im Kontext der Evolutionstheorie ist die Stabilität der Erbinformationen entscheidend, da sie erst die Stabilität der Arten gewährleistet. Larmarck entwickelte den VeE-Begriff in diesem stabilen Sinne. Epigenetische Modifikationen wären im geforderten Langzeitsinne daher also nur unter einer Bedingung evolutionsrelevant: Sie müssten irreversibel vererbt werden können. Da DNS-Abschnitte dann aber dauerhaft stillgelegt würden, verlören sie ihren besonderen Status als genetische Information. Entgegen irreversiblen genetischen Modifikationen, welche etwa durch Mutationen, Strangbrüche, etc. verursacht werden, sind die umweltvermittelten epigenetischen Modifikationen aber reversibel. Selbst bei Pflanzen löst sich die epigenetische Überlagerung der genetischen Information nach einigen Vererbungszyklen auf. Die temporär epigenetisch deaktivierte Basensequenz wechselt ihren Zustand, und dieser Bereich kann wieder exprimiert werden (1, III, 3.1.2). Im Evolutionskontext ist die reversible epigenetische Information der irreversiblen genetischen Information unterzuordnen, da letztere potentialiter stets erhalten bleibt. Um eine evolutionäre Langzeitbedeutung zu haben, müssen phänotypische Merkmale genetisch verankert sein. Wegen ihrer Reversibilität haben dagegen die epigenetisch bedingten Merkmale zumindest im unmittelbaren Sinne keinen evolutionären Bezug.43 Es ist problematisch, wenn die Möglichkeit der Vererbung der epigenetischen Modifikationen im Sinne der VeE behauptet wird. Dies blendet aus, dass es sich hier nur um eine instabile Vererbung handelt. Sieht 43 Dagegen haben sie einen mittelbaren Evolutionsbezug. Da die natürliche Selek­ tion stets an der phänotypischen Ebene ansetzt und diese Merkmale plastisch im Umweltbezug entwickelt wurden, wird hiermit indirekt auch die genetische Entwicklungsplastizität mitselektiert. Es handelt sich also um eine Evolution der Plastizitätsmechanismen.

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man Darwins Evolutionstheorie durch die Vererbbarkeit der epigenetischen Modifikationen gefährdet und wähnt Lamarcks Transformationstheorie rehabilitiert, bezieht man sich auf die stabile VeE und begeht einen Denkfehler. Derartige Missverständnisse sollten vermieden werden. Aus konzeptueller Sicht ist es unmöglich, epigenetische Modifikationen als VeE zu bezeichnen. Unnötigerweise wird damit ein Bezug zur Evolutionstheorie hergestellt und unbegründet werden Hoffnungen auf eine direkte Anpassung geschürt, was Gegner der Evolutionstheorie zu Unrecht bestätigt. Zusammenfassend ist es wichtig, auf die Verwechslungsgefahr hinzuweisen. Der VeE-Begriff bezieht sich auf Lamarcks Transformationstheorie und steht im Kontext der direkten Adaption. Gegenwärtig gilt aber die indirekte Anpassung nach Darwin, entlang den zwei Evolutionsmechanismen, der auf Zufallsmutationen basierenden Variation und der natürlichen Selektion auf Ebene des davon abhängigen Phänotyps. Diese Anpassungsform ist ungerichtet, da ihr Zufallsmutationen, d. h. eben keine Verhaltensausrichtungen, zu Grunde liegen. Da die epigenetischen Modifikationen den Evolutionsfaktor Zufall nicht widerlegen, sind sie mit der Evolutionstheorie vereinbar. Eine „reversible Vererbung“ aber als VeE zu bezeichnen, ist falsch. Unabhängig von evolutionstheoretischen Belangen ist eine differenzierende Sprechweise generell wichtig. Jablonka und Lamb (1995, 153) verweisen auf ein Problem, das sich im praxisnahen Laboralltag von Forschern ergibt. Die Suggestivkraft, welche vom VeE-Begriff ausging, wirkte sich lange Zeit nachteilig für die Epigenetikforschung aus. Von der Idee der direkten Anpassung irregeleitet, entwickelten die frühen Epigenetiker eine zu „enge” Erwartungshaltung, die selten Bestätigung fand.44 Die beiden Forscherinnen sprechen zwei Probleme an. Zum einen betonen sie, dass es die skizzierte direkte Anpassung anhand von epigenetischen Modifika44 Jablonka & Lamb (1995) heben die negativen Folgen für die Forschung hervor: „Perhaps the main reason why epigenetic inheritance has rarely been observed is that people have looked for the wrong type of effect. It is often implicitly as­ sumed that the inheritance of epigenetic variations is the same as the inheritance of acquired characters, so that new inherited epigenetic variation will be seen as ‚acquired characters‘. But this is not so. Epigenetic variation can be random, and if they are, they will not produce an „acquired character”. Even directed epige­ netic variations will not produce acquired characters unless they have distinct recognizable, phenotypic effect at all. Rather than directly changing a gene’s ex­ pression, they may affect the way that it is influenced by other factors.” (153)

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tionen nicht gibt. Zum anderen weisen sie auf die Wirkmacht eines etablierten Denkstils hin, der die Forschung entscheidend prägen kann. Diese etablierten Denkstrukturen sind im Forschungsbetrieb nicht immer hilfreich und können sich sogar nachteilig erweisen, da sie die Erkenntnis in die falsche Richtung lenken. Da die Forscher durch die „Brille” des bedeutungsgeladenen VeE-Begriffs nach den erworbenen Eigenschaften suchten, diese aber in den Folgegenerationen nicht fanden, fiel ihnen die Übertragung übriger Entwicklungsmerkmale nicht auf. Die enge Erwartungshaltung blendete eine Vererbung ungerichteter Merkmale aus. Ihre Suche war zu spezifisch. Der VeE-Begriff verengte den wissenschaftlichen Blick und wirkte sich dadurch nachteilig auf die Forschung aus. Neben den evolutionstheoretischen Gründen sollte also auch aus forschungsstrategischer Sicht im Kontext der epigenetischen Vererbung auf den irreleitenden Begriff der VeE verzichtet werden. Der etablierte Denkstil verursacht eine Begriffsdiffusion, und die Verwechslungsgefahr bleibt, insofern zwischen den beiden Begriffen nicht deutlich unterschieden wird, bestehen. Zukünftige Missverständnisse sind dabei vorprogrammiert. Diesem Problem wird durch die namentliche Trennung der zwei Begriffe vorgebeugt. Jablonka und Lamb wählen die Bezeichnung „inheritance of epigenetic variations” (1995, 153), um zu verdeutlichen, dass Umweltfaktoren nicht determinierend wirken, sondern Variationen fördern. Diese Vererbung epigenetischer Variationen hebt sich vom ursprünglichen VeE-Begriff ab, da die Abwendung vom Konzept der direkten Anpassung bereits im Namen enthalten ist: Durch den Teilbegriff Variation wird somit ein Bezug zur indirekten Anpassung hergestellt, wobei an der Erklärung der Evolution gemäß Darwins zweiteiligem Evolutionsmechanismus, der Variation und natürlichen Selektion, festgehalten wird. Eine Verwechslung mit dem historischen Konzept der Vererbung erworbener Eigenschaften wäre durch die Begriffspräzisierung Vererbung epigenetischer Variationen auszuschließen.

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Kapitel III: Das Gen als Determinante

„Aus molekularer Sicht ist es absolut klar, dass wir die Argumente des genetischen Determinismus zerstören. Doch haben diese Fakten, den Menschen, die Genetik in einer deterministischen Weise in unsere Gesellschaft einführen wollen, noch nie im Weg gestanden.“ (Allen 1997, 29-36)

1 Theoretische Aspekte In den vorherigen Kapiteln zu den historischen und ontologischen Aspekten des Gens wurden die genetische Verursachung und die damit verbundenen Schwierigkeiten weitgehend ausgespart. Sie sind das Thema dieses Kapitels. Nach einer Darstellung der theoretischen Zusammenhänge wird hier im Hinblick auf den Begriffsursprung der Epigenetik auf die historischen Theorien der Individualentwicklung eingegangen, die Veränderung des Epigenetikbegriffs dargestellt und der aktuelle Epigenetikbegriff – der oft als Widerlegung des Gendeterminismus behauptet wird – hinsichtlich eines Gendeterminismus untersucht. In den nun folgenden Abschnitten gehe ich auf die Begriffe Genreduktion, -determination und -fatalismus ein. Die Begriffe werden differenziert und ihre Bedeutung wird als Ausgangsbasis für die dann folgenden Abschnitte herausgearbeitet. 1.1 Reduktion und Determination Etymologisch geht die Bezeichnung Reduktion auf das lateinische Wort „reductio“ zurück und bedeutet Zurückführung. In diesem Sinne wird im wissenschaftlichen Kontext unter Reduktion der Vorgang verstanden, wissenschaftliche Entitäten, Begriffe, Gesetze und Theorien auf andere zurückzuführen. Der Wissenschaftstheoretiker Martin Carrier (2004, 516) unterscheidet zwei allgemeine Reduktionsformen: Die ontologische Reduktion dient dem „Ziel einer Vereinheitlichung der wissenschaftlichen Weltsicht durch Verwendung https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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einer möglichst einheitlichen Begrifflichkeit“. Der Zusatz ontologisch bezeichnet, dass philosophisch und methodologisch fragwürdige Begriffe sowie die durch sie gekennzeichneten Entitäten beseitigt und durch unproblematische Begriffe ersetzt werden, sodass präzisiere Aussagen über die Seinsweise von Dingen möglich werden. Die methodologische Reduktion, oder Theorienreduktion bezieht sich auf die „Rückführung einer Theorie auf eine andere“ (ebd.).1 Diese beiden Reduktionsformen gehören zum Grundrepertoire der wissenschaftstheoretischen Praxis und hängen nach Carrier (ebd.) miteinander zusammen, da ontologische Reduktionen häufig als Konsequenz von Theorienreduktionen verstanden werden.2 Der Wissenschaftstheoretiker Sahotra Sarkar weist auf die Erklärung als Hauptanliegen von Reduktionen hin. „The thesis that reductions between two realms are always (or, at least, are always likely to be) successful as explanations is often called ‚reductionism‘“ (Sarkar 1998, 10). Er bezeichnet die Annahme, dass Reduktionen mit All-Aussagen verbunden werden können, als Reduktionismus. Im Kontext der Genetik sind zwei Reduktionismen zu unterscheiden. Vorerst gibt es den genetischen Reduktionismus. Dieser besagt, „that all phenomena can (always) be reduced to facts at the genetic level […]“ (ebd., 12). Diese Reduktionsform entspricht dem genetischen Denken der Klassischen Genetik, wobei zu erinnern ist, dass in dieser Epoche keine materialen Kenntnisse über die genetische Verursachung vorlagen. Davon unterscheidet sich der physikalische Reduktionismus mit der These „that all biological phenomena are to be explained from a physical basis“ (1998, 12). Mit dem theoretischen Wissen um die molekularen Ursachen und Kräfte werden biologische Phänomene von Grund auf erklärt. Es wurde gezeigt, dass das KG sich inkommensurabel zum KMG verhält (1, I, 2.1); der in der Molekulargenetik popagierte physikalische Reduktionismus 1 Die Theorienreduktion stellt das Hauptinstrument des Logischen Empirismus dar, wonach wissenschaftliche Theorien in einer Einheitswissenschaft zusam­ mengeführt werden sollten (Kap 2). Nach einem linearen Wissensfortschritt bauen spätere Theorien auf vorherigen auf und sind verlustfrei reduzierbar. Dem steht Thomas Kuhns diskontinuierliches Modell entgegen. Bei inkommen­ surablen Begriffen führt Reduktion zu Verlusten, sog. Kuhn losses (Brigandt 2012). 2 Da sich Methoden aber idealerweise nach den Gegenständen und ihrer Beschaf­ fenheit richten sollten, scheint ein umgekehrtes Verhältnis sinnvoller; dann set­ zen methodologische Reduktionen ontologische Reduktionen voraus. Alterna­ tive Einteilungen des Reduktionismus bieten Hull (2002); Sarkar (1992; 1998); Nagel (1998); Brigandt (2012).

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beinhaltet nicht den genetischen Reduktionismus der Klassischen Genetik. Die Bezeichnung Determination geht auf das lateinische Wort „determinatio“ zurück und bedeutet Abgrenzung, Grenze. In einem ganz allgemeinen Verständnis wird darunter die These verstanden, dass Vorbedingungen Ereignisse derart festlegen, dass letztere notwendig eintreten. Anders als bei der Reduktion ist die Denkbewegung nicht rückwärts, sondern vorwärts gerichtet. Mangels einer einheitlichen Theoriebildung und aufgrund der Komplexität und Diversität der Entwicklungsbezüge lassen sich die Anwendungsbezüge von Determination nicht rekonstruieren, aber die grundlegenden Verwendungsweisen können systematisiert werden.3 Eine Gruppe von Determinationsformen lässt sich auf einen einheitlichen Erkenntnishorizont zurückführen.4 Das Erstarken der Naturwissenschaften entlang der Newtonschen Mechanik führte zum physikalischen Determinismus. Das bekannteste Beispiel dieses Denkens lieferte der französische Mathematiker und Physiker Pierre-Simon de Laplace. Dieser ging davon aus, dass sofern alle physikalischen Kräfte sowie die aktuelle Lage und die Geschwindigkeit der Entitäten zueinander bekannt wären, auch alle zukünftigen Ereignisse prinzipiell vorausgesagt werden könnten. Allerdings, so räumt er ein, ist der menschliche Geist zu begrenzt, um die Komplexität zu erfassen. Die Voraussagbarkeit künftiger Ereignisse setzt ein übermenschliches Wesen voraus.5 Erst dieser Laplace’sche Geist 3 Wildfeuer (2000, 470ff) unterscheidet zehn Versionen. Siehe auch: (Pothast 1978; Stegmüller 1983; Taylor 1967). 4 Laut Armin Wildfeuer setzt sich der physikalische Determinismus aus vier Ein­­ zeltheorien zusammen: „(e.) Behauptet wird die These, dass das Eintreten von Ereignissen faktisch oder im Prinzip voraussagbar ist im Sinne einer Ableitung aus dem, was jemand zu einem früheren Zeitpunkt weiß. […] (f.) Alle Ereignisse sind verursacht: Die Ursache eines Ereignisses E sind nach dieser Auffassung die Menge aller hinreichenden Bedingungen dafür, dass E tatsächlich eintritt. […] (g.) Ereignisse seien – im Sinne der Struktur der deduktiv nomologischen Erklä­ rung – aus vorausliegenden Umständen und Gesetzen erklärbar (h.) Schließlich kann unter Determinismus die Behauptung verstanden werden, dass Ereignisse unter Gesetzen derart stünden, dass ein Zustand eines deterministischen Sys­ tems ein und nur ein anderer Zustand desselben Systems folgen kann.“ (2000, 471f) 5 In einem Vorwort schreibt Laplace: „Wir müssen also den gegenwärtigen Zu­ stand des Weltalls als die Wirkung seines früheren und als die Ursache des folgenden Zustands betrachten. Eine Intelligenz, welche für einen gegebenen Augen­blick alle in der Natur wirkenden Kräfte sowie die gegenseitige Lage der sie zusammensetzenden Elemente kennte, und überdies umfassend genug wäre,

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kann auf der Basis eines mechanistischen Weltbildes alle Finalbezüge im Vorfeld erfassen.6 Der Wissenschaft dient Laplaces Geist bis zur Gegenwart als regulative Idee. Das Wesentliche an seiner Aussage ist nämlich, dass, wenngleich es uns als Menschen realiter versagt bleibt, alle Bezüge zu erfassen, wir der Natur bei ihrer Erforschung notwendigerweise aber eine derartige Wohlgeordnetheit zu Grunde legen müssen. Zwar kann diese These, aufgrund unseres endlichen Verstandes nicht überprüft werden, jedoch bleibt uns keine andere Möglichkeit, als die natürliche Ordnung zu postulieren. Ein solcher methodischer Determinismus dient als „heuristisches Prinzip“ und Denkgrundlage in den Naturwissenschaften wie auch in den empirischen Humanwissenschaften (Wildfeuer 2000, S. 477). Bei der Erforschung wissenschaftlicher Objekte und zur Formulierung positiver Erkenntnisse muss ein kausal geschlossenes, d. h. deterministisches System vorausgesetzt werden. Zudem gehen die Naturwissenschaften vom Realismus aus, die Objekte bestehen unabhängig von ihrer Erfahrung und werden kausal beeinflusst. Daher ist es nicht nur legitim, sondern sogar wissenschaftlich gefordert, jeder Zustandsveränderung eine Ursache zu Grunde zu legen. So gilt in der Biologie jedes Ereignis als determiniert, und aufgrund dieser Vorannahme können dann dessen Ursachen im Einzelnen erforscht werden. Da der methodische Determinismus eine notwendige Voraussetzung wissenschaftlichen Denkens ist, kann er nicht empirisch verifiziert werden – er wird axiomatisch gesetzt. Diese konstitutive Bedeutung für das naturwissenschaftliche Denken zeichnet ihn als einen Universaldeterminismus aus. Hier wird von einer kausal geschlossenen Welt ausgegangen. In welchem Verhältnis stehen Determination und Reduktion im wissenschaftlichen Denken der Genetik? Sarkar hält diesbezüglich fest: „Genetic determinism is thus a stronger requirement than geum diese gegebenen Größe der Analysis zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper wie des leichtesten Atoms um­ schließen; nichts würde ihr ungewiß sein und Zukunft wie Vergangenheit würde ihr offen vor Augen liegen.“ (Laplace 1814, 1) 6 Diese Annahme beruht auf drei weiteren Bedingungen: „1. die Möglichkeit die Zustandsgröße beliebig genau zu bestimmen, 2. alle Gesetze beliebig gut zu kennen, und 3. die Existenz einer Art Übermathematik, in der alle Gesetze so formulierbar sind, dass zumindest eine Überintelligenz alle vergangenen und zukünftigen Ergebnisse tatsächlich und exakt berechnen kann.“ (Wildfeuer 2000, 471)

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netic reductionism: genes may provide the best explanation for the genesis of a trait without determining it entirely by themselves“ (1998, 12). Hinsichtlich des Präzisionsgrades beider Erklärungsansätze ist zu unterscheiden. Zwar zielen beide Begriffe im Anwendungsbezug letzten Endes auf die Voraussage, jedoch gilt es, wichtige Unterschiede zu beachten: „As far as definition goes, in genetics and elsewhere, ‚prediction‘ is not as complicated as ‚determinism‘. Roughly (and no more precision is required here), to predict the behavior of a system is to state what the values of its (relevant) parameters will be at a time t’>t from a knowledge of what values those (or other) parameters have at some time t. Prediction, unlike determinism, thus has an epistemological component (because of the reference to what is known at time t). More importantly, it has a pragmatic component (which, depending on one’s philosophical commitments, may or may not be regarded as part of its epistemological component): in practice, the parameters of a system can usually only be (empirically) known and (computationally) used at any given time up to a certain level of precision.“ (Ebd.) Aus wissenschaftstheoretischer Sicht ist der Erklärungsanspruch des Determinismus aufgrund der menschlichen Erkenntnis- und Wissensgrenzen überzogen. Da der behauptete Präzisionsgrad nicht erfüllt werden kann, hat der Determinismus im engeren Rahmen wissenschaftlicher Erklärungen und Voraussagen keine Bedeutung, und deterministische Theorien können bereits vor ihrer Prüfung als unwissenschaftlich abgetan werden.7 Da die naturwissenschaftliche Erklärung stets auf Reduktionen basiert, ist sie prinzipiell fallibel. Der Determinismus spielt im Rahmen der Naturwissenschaften nur im axiomatischen Sinne des methodischen Determinismus eine Rolle. Wenn im wissenschaftlichen Rahmen die Rede von Determination fällt, so ist dies lediglich Zeichen unsauberer Redeweisen, wobei doch eigentlich damit nur Reduktion gemeint sein kann.

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Daher stellt der Gendeterminismus im wissenschaftstheoretischen Diskurs (an­ ders als Genreduktionismus) kein Forschungsobjekt dar. Wird er hier überhaupt behandelt, so als Objekt einer Kritik. So distanziert sich neben Sarkar auch Rushton von einem wissenschaftlichen Gendeterminismus: „No behavioral ge­ neticist believes in a 100-percent genetic determinism because it is obvious that physical growth and mental development require good nutrition, fresh air, and exercise and that children and neophytes learn best with access to experienced role models.“ (1995, 3)

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1.2 Gendeterminismus Der Ursprung der Diskussion um den genetischen Determinismus wird von manchen Autoren (vgl. Henderson 2010, 56) in Francis Galtons Eugenik-Forschung (1869; 1874) gesehen.8 Die Wissenschaftshistorikerin Evelyn Fox Keller datiert dagegen den Ursprung auf das Jahr 1931 und verweist auf die von Archibald Garrod (1931) ausgelegte Dichotomie angeboren/erworben. Wurde noch bei Galton all jenes, was bei der Geburt in Ansätzen anwesend war, mit „angeboren“, der Rest mit „erworben“ bezeichnet, so weist Garrod als Erster darauf hin, dass später exprimierte Merkmale durchaus auch angeboren sein können. „Angeboren bezog sich nunmehr auf die Kräfte bestimmter materieller Determinanten, die sich im Nukleus versteckt hielten und später hervortretende Eigenschaften verursachten“ (Keller 2003, 17).9 Dieses Verständnis fand in der Gen/ Umwelt-Dichotomie seine Entsprechung und prägte im öffentlichen Diskurs den Begriff. Der genetische Determinismus kann eingegrenzt werden. Sar­ kar (1998, 10) schreibt: „Genetic determinism is motivated by the (correct) observation that there are cases where the possession of a particular allele appears to ensure the possession of a particular trait (e. g., some eye colors, or Huntington’s disease in humans) at least in sufficiently old individuals.“ Zur Präzisierung finden sich in der Forschungsliteratur zwei verschiedene Kategorisierungsvorschläge. Erstens kann das Determinans variiert werden (Allele), wobei das Determinatum (Merkmal) gänzlich davon abhängt. Dieser Strategie folgend unterscheidet Sarkar vier theoretische Denkmöglichkeiten voneinander: „(i) for any locus, two individuals with the same alleles at that locus will always exhibit an identical corresponding trait; (ii) for some loci, two individuals with the same alleles at that locus will always exhibit an identical corresponding trait; (iii) two individuals identical with respect to all alleles at all loci will always be identical with respect to all traits; 8 9

Da der Genbegriff erst später eingeführt wurde handelt es sich um theoretische Vorläufer des Gendeterminismus. Bei genauerer Betrachtung können diese aber bereits im früheren Denken des Sozialdarwinismus gefunden werden. Oft wird Cricks zentrales Dogma der Molekularbiologie mit einem molekularen Gendeterminismus gleichgesetzt. Auf den Punkt wird später (1, III, 3.1) im Zusammenhang der Reduktion von Vererbung auf Entwicklung eingegangen.

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(iv) two individuals identical with respect to all alleles at all loci will always be identical with respect to some of their traits.“ (Ebd., 11) Das stärkste Kriterium ist (i). Bei Personen mit identischem Genom führen danach alle einzelnen Gene zur Ausprägung damit korrespondierender Merkmale. Anders als Personen mit bloß partieller Genüberschneidung (ii) sind erstere also phänotypisch absolut identisch. Während das Gen/Merkmal-Verhältnis bei diesen beiden Fällen ein-eindeutig ist, weichen die letzten zwei Fälle davon ab. So können mehrere Gene bei der Hervorbringung eines Merkmals beteiligt sein (Polygenie), wobei dies wie bei oberem Beispiel bei gleichem Genom (iii) zu identischen und bei partieller Genüberschneidung (iv) zu teilweise abweichenden Phänotypen führte. Alle diese Fälle erfüllen die hohen Präzisionsforderungen des Determinismus (1.1). Es wurde gezeigt, dass diese Anforderungen in der Praxis aber nicht gelingen. Daher ist der folgende Vorschlag interessant. Zweitens kann bei der Kategorisierung die Varianz des Determinatums als Ordnungsmaßstab herangezogen werden. Dieser Strategie folgen Bartram et al. (2000, 11ff). Der Gendeterminismus gilt auch hier als überzogen und wird zurückgewiesen. Wie Beispiele aus der humangenetischen Diagnostik zeigen, besteht zwar Vorhersagbarkeit – hier muss aber weiter unterschieden werden: i. Von maximaler Vorhersagbarkeit ist die Erbkrankheit ChoreaHuntington, da alle Personen mit einer genetischen Veranlagung in einem bestimmten Alter an dieser neurodegenerativ verlaufenden Krankheit erkranken (100 % Penetranz). Sie weisen weitgehend das gleiche Krankheitsbild auf.10 ii. Von bedingter Vorhersagbarkeit ist das Waardenburg Syndrom.11 Da die entsprechende genetische Veranlagung entweder Schwerhörigkeit, verschiedenfarbige Augen, weißes Stirnhaar oder vorzeitiges Ergrauen der Haare bewirken kann, ist die Vorhersagbarkeit uneindeutig.

10 Diese monogenetisch verursachte Krankheit wird autosomal dominant ver­ erbt. Molekulargenetisch betrachtet liegt die Ursache der Krankheit in einer hohen Wiederholungsrate des CAP-Tripletts im Chorea-Huntington-Gen. Bei einer niedrigen Wiederholungsrate dieses Tripletts tritt die Erkrankung in einer milderen Ausprägungsweise auf. 11 Diese autosomal-dominante Erbkrankheit basiert auf einer Mutation des PAX3 Gens, welche zu einem Funktionsverlust des Genprodukts führt.

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iii. Von bloß minimaler Vorhersagbarkeit ist die Skleröse Tuber­ kulose.12 Aufgrund deutlich voneinander abweichender Krankheitsbilder ist die genetische Vorhersagbarkeit des Krankheitsverlaufs sowohl hinsichtlich ihres Auftrittszeitpunktes als auch der Intensität des Krankheitsverlaufs minimal. Es ist wichtig zu sehen, dass in der Praxis kein Krankheitsverlauf auf der Grundlage eines genetischen Befundes präzise vorhergesehen werden kann. Der Genotyp korreliert zwar mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit mit dem Phänotyp, er determiniert diesen aber nicht im absoluten Sinne. Dies gilt sogar für Chorea-Huntington, da das Auftrittsdatum hier in Abhängigkeit weiterer nichtgenetischer Faktoren durchaus variiert. Trotz Vorhersagbarkeit ist auch im Fachdiskurs der medizinischen Diagnostik/Prognostik nur im übertragenen Sinne vom Gendeterminismus die Rede. Ungeachtet dieser teilweise durchaus praktikablen Kategorisierungen bestehen Probleme auf konzeptueller Ebene des Gendeterminismus. So ist etwa unklar, was alles determiniert werden kann. In der Literatur wird der Gendeterminismus nämlich sowohl im Bezug auf körperliche (Lemke 2002), als auch mentale Zustände (Cuplinscas & Newen 2003) diskutiert, wobei diese beiden Bereiche selten explizit abgegrenzt werden. Während erster Themenbereich vor allem den Gesundheitssektor (Krankheitsdiagnose/-prognose) betrifft und im Anwendungsbereich von Versicherungen, Arbeitsgeber, Diskriminierung problematisch werden kann – reicht der zweite Bereich darüber hinaus bis zur Willensfreiheit-Debatte.13 Der Gendeterminismus kann also nicht anhand eines einfachen Leib/Seele-Dualismus bez. seiner Bezugsobjekte begrenzt werden. Der Gen/Umwelt-Dichotomie folgend ergeben sich die meisten Begriffsunklarheiten aus dem unterschiedlichen Verständnis der beiden Kausalfaktoren. Dabei ist im Falle der Umwelt klar, dass eine solche Determination multifaktoriell geschähe – dem Gen wird dagegen aber oft eine autonome Wirkmächtigkeit zugesprochen. 12 Zwei autosomal-dominante Genorte führen zu epileptischen Anfällen, fort­ schrei­tendem Intelligenzabbau usw. 13 Die Frage, wie wir trotz kausal geschlossener Welt als freie und dadurch mora­­ lische Akteure verstanden werden können, ist eine der grundsätzlichsten Fra­ gen der praktischen Philosophie (Willensfreiheit). Zwischen zwei Formen des De­ter­minis­mus ist zu unterschieden. Der starke Determinismus erlaubt keine Frei­räume (Inkompatibilismus). Gemäß dem schwachen Determinismus gilt Freiheit und Determinismus dagegen als vereinbar (Kompatibilismus).

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Monokausale Determinationen sind aber per se problematisch. So schreibt Keller mit Verweis auf Matteo Mameli (2001, 384): „Fassen wir eine Eigenschaft als ‚insofern genetisch determiniert, als die Gene das einzige Mittel für ihre normale Entwicklung sind‘ müssten wir sagen, dass keine Eigenschaft genetisch determiniert ist, aus dem ersichtlichen Grund, dass sich überhaupt nichts entwickeln würde, wenn Gene die einzige Ressource wären“ (2003, 18). Dieser Aspekt wird seit Beginn der Debatte von den meisten Kritikern des Gendeterminismus angeführt (Mahner & Bunge 2000, 281).14 Begriffe, wie z. B. Selbstreplikation suggerieren fälschlicherweise, dass die DNS „handelte“. Die DNS ist aber ein inertes Molekül. Da es nicht agiert, sondern nur reagiert, kommt es als sog. primum movens nicht in Frage. Mahner und Bunge (ebd.) führen fünf weitere Punkte gegen den Gendeterminismus an: 1. Für sich allein hat das Gen keine Kausalmacht. Anspielend auf Aristoteles erinnern Mahner und Bunge daran, dass nach gegenwärtigem Wissensstand keine Materialursachen, sondern nur Wirkursachen bestehen. Diese entspringen nicht Dingen, sondern resultieren aus Ereignissen. Als notwendiger Faktor kodeterminiert die DNS zwar die Ontogenese. Sie verursacht sie aber nicht. 2. Wegen der die DNS überlagernden regulativen Faktoren können sich Gene nicht unmittelbar an chemischen Reaktionen beteiligen, sondern sie sind auf Aktivierung durch externe Faktoren angewiesen. Auf diese besondere Bedeutung der Epigenetik wird später ausführlich eingegangen. 3. Die finalen Genprodukte werden durch das Cytoplasma mit­ bestimmt, sodass gleichartige primäre Genprodukte (mRNS) abhängig von dem jeweiligen Zelltyp und dessen Zustand zu unterschiedlichen Proteinen führen (alternatives splicing – 1, I, 2.2). Selbst die dabei resultierenden Proteine können aber inaktiv sein, oder aktiv abgebaut werden und so ihre Wirkmacht verlieren. 4. Bei Immunantworten werden „neue“ Gene als Reaktion auf Umweltreize zusammengestellt, wobei nach Bedarf eine beliebige Zahl verschiedener Antikörpergene geschaffen werden kann.

14 Siehe auch Weiss (1973); Lenartowicz (1975); Fox (1984); Lewontin (1990); Smith (1992); Hubbard & Wald (1993).

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5. Überhaupt werden wesentliche Entwicklungsschritte nicht durch zellinterne Ursachen, sondern durch externe Umgebungsinformationen in die Wege geleitet. Auf diesen Aspekt wird im zweiten Abschnitt der Arbeit im Rahmen der perinatalen Programmierung noch ausführlich eingegangen. Schließlich ist mit Keller (2003, 18) daran zu erinnern, dass zwischen wissenschaftlichem und fachfremdem genetischem Verursachungsdenken zu unterscheiden ist: „Wenn sich klassische Genetiker auf genetische Determination bezogen haben, so meinten sie damit – genau wie moderne Genetiker – ein eher bescheideneres Verständnis des genetischen Einflusses; etwa in dem Sinne dessen, was heute gelegentlich ‚genetische Spezifikation‘ genannt wird, wonach Genen lediglich eine gewisse Rolle bei der Determination einer Eigenschaft zukommt.“ In diesem Sinne schreibt Mameli (2001, 384): „Eine Eigenschaft ist genau dann genetisch spezifiziert, wenn (1) es Gene gibt, die eine (gleich – ob große oder kleine) Rolle in der normalen Entwicklung der genannten Eigenschaft spielen, und (2) man kann die Evolution der Eigenschaft verfolgen, indem man ausschließlich den Einfluss der Selektion auf diese Gene verfolgt.“ Aus einer wissenschaftlichen Sichtweise ist also die ursprüngliche Frage, ob Eigenschaften angeboren oder erworben sind, nicht mit einer Entweder/Oder-Antwort zu lösen. Hier ist der Determinismus ein weiteres Mal zurückzuweisen. In diesem Sinne fasst Keller zusammen: „Ein hinreichend bekannter Ausweg aus derartigen Dilemmata besteht darin einzuräumen, dass alle in Frage kommenden Eigenschaften sowohl genetisch wie auch durch die Umwelt ‚spezifiziert‘ werden bzw. dass sie das Produkt einer Wechselwirkung zwischen Genen und der Umwelt sind, um sich dann auf die Frage zu konzentrieren, welcher Anteil der kausalen Einflüsse auf eine Eigenschaft genetischer Natur und welcher der Umwelt zuzuschreiben sei“ (Keller 2003, 18). Während im Rahmen der Heritabilitätsforschung von einem relativen Verursachungsverhältnis ausgegangen wird, wobei hier nur der jeweilige Determinationsanteil untersucht wird, verfestigte sich im öffentlichen Diskurs entlang medienwirksam inszenierter Forschungserfolge der Gentechnik und des Humangenomprojekts sowie deren forschungsstrategisch motivierter Metaphorik der Glaube an den Gendeterminismus.15 Wenn das Genom als „Buch des Lebens“ betrachtet wird, sugge15 Eine ausführliche Analyse dieser Metaphorik findet sich bei Kovács (2009).

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riert dies, dass einzig das Genom die Entwicklungsinformation zur Merkmalsdetermination bereitstellt, wobei die Umwelt lediglich als ein Ernährungssubstrat gilt. Ungeachtet dessen, dass dies keine Tatsache, sondern eine diskursiv entstandene Meinung darstellt, prägt aber bereits der Glaube daran das Handeln. Daher bleibt der Gendeterminismus trotz seiner Nichtexistenz problematisch. Dieser Punkt wird anschließend behandelt. Davor wird kurz auf die Postgenomik eingegangen. Ganz allgemein wird das Humangenomprojekt als eine Zäsur in der Genforschung gesehen. Im späteren postgenomischen Diskurs gibt es entgegengesetzte Positionen zum Gendeterminismus. Auf der einen Seite sieht die Wissenschaftshistorikerin Keller im Humangenomprojekt den Abschluss des zurückliegenden Jahrhundert des Gens und behauptet das endgültige Aus des Gendeterminismus (2001).16 Anders als die Kritiker des Humangenomprojekts erkennt sie es als Erfolg an. Zwar nahm dieses eine überraschende Wendung, da die den Gendeterminismus fördernden anfänglichen Ankündigungen nicht erfüllt, sondern widerlegt wurden. Das Humangenomprojekt war dennoch erfolgreich, weil es zu neuen Erkenntnissen führte. Angesichts der komplexen Genregulation müssen weit mehr Faktoren als dem Gen ein Kausalstatus zugesprochen werden, und damit wechselt das vormalige Programmdenken über zu einem komplexen Netzwerkdenken. Aufbauend auf dem neuen Wissen widmet sich die Postgenomik der Erforschung der physiologischen Prozesse, der Genregulation und dem vormals ausgeblendeten Kontext (Keller 2005). Nach Keller überwinden diese postgenomischen Projekte wegen ihrer integrativen Netzwerklogik den Gendeterminismus. Auf der anderen Seite erkennt der Soziologe Thomas Lemke (2002; 2007, 149-172) aber hier eine Transformation des Gende-

16 Bezugnehmend auf das Humangenomprojekt schreibt Keller in einem späteren Artikel: „Meines Erachtens liegt es größtenteils an der Stärke der molekularen Analysen der Zelle, dass wir das Staunen wieder gelernt haben, und zwar nicht über die Einfachheit der Geheimnisse des Lebens, sondern jetzt über deren Kom­ plexität. Zugleich gebe ich (zwar mit etwas Ironie) der Humangenominitiative einen großen Teil des Lobs dafür, dass wir dies erreicht haben. Durch die Veröf­ fentlichung unserer DNS-Sequenz ist es dem Projekt zwar nicht gelungen, uns zu sagen, wer wir sind, doch hat es uns gezeigt, wie wenig wir wissen. Langfristig wird diese Lektion möglicherweise die wertvollere bleiben. Schließlich meine ich, dass der Beitrag des Projekts nicht in einer Hybris endet.“ (Keller 2003, 25)

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terminismus und kritisiert Kellers Schlussfolgerung.17 Entgegen ihrer Auflösungsthese geht Lemke lediglich von einer „Mutation des Gendiskurses“ aus, wonach das komplexe Zusammenspiel der interagierenden Faktoren ausschließlich eine „einfache“ Form des Gendeterminismus (Lemke 2002, 413) widerlegte. Der durch den Komplexitätsfokus veränderte Gendiskurs lenke von einem tiefer liegenden und daher problematischeren, weil „verdeckten“ Gendeterminismus ab. Dieser spielt im Bereich der medizinisch-genetischen Forschung weiterhin eine zentrale Rolle. Anders als oft angenommen begünstigte die Intensivierung des Gendiskurses im Zuge des HGP sogar das Primat des Gens. Die hier vorgebrachte Kritik reduzierte dies nicht, sondern generierte eine neue Bedeutung. Lemke dechiffriert den Prozess als eine „strategische Wiederauffüllung des Dispositivs“ (ebd., 422), wobei der Gendeterminismus aber bestehen bleibt. „An Stelle eines absolutistisch-souveränen Gendiskurses tritt eine scheinbar pluralistisch-dezentrale Netzwerkkonzeption, die jedoch weiterhin der Suprematie der Gene verpflichtet bleibt. Mögen in einer postgenomischen Biologie eindeutige Determinationsverhältnisse eine geringere Rolle spielen als bisher, dem Bezug auf genetische Strukturen und deren Primat im Zusammenspiel mit Umweltfaktoren kommt weiterhin eine zentrale Bedeutung zu.“(Ebd.) Da somit auch das im Rahmen dieser Arbeit fokussierte Postgenomprojekt Epigenetik unter Verdacht steht, den Gendeterminismus zu begünstigen, ist auf Lemkes These noch genauer einzugehen, wobei neben dem einfachen auch der verdeckte Gendeterminismus behandelt wird. Davor soll jedoch die ethische Dimension des Gendeterminismus skizziert werden.

17 So schreibt Lemke: „Anders als Keller annimmt, ist der Gendiskurs nicht des­ halb obsolet, weil ein anderes und komplexeres Wissen an seine Stelle tritt. Eher haben wir es mit einem anderen und komplexeren Gendiskurs zu tun. Dieser zeichnet sich nicht mehr durch die Annahme eines linearen Ursache-Wirkungs-­ Mechanismus aus, sondern beruht auf dem Modell von Dispositionen und Ri­ siken. Es handelt sich nicht um das Ende, sondern um eine Metamorphose des Gendiskurses, der sich jetzt auf multiple Faktorenbündel, dynamische Bezie­ hungskonstellationen und variable Symptome konzentriert. Jene frühe Version eines genetischen Determinismus, die in den Genen die alleinige und autonome Ursache für bestimmte Krankheiten oder Verhaltensmerkmale sieht, besitzt im­ mer weniger Überzeugungskraft.“ (Lemke 2002, 422)

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1.3 Genfatalismus Die Frage, warum der Gendeterminismus in ethischer Hinsicht problematisch ist, wurde bisher ausgespart. Daher werden im Folgenden die entsprechenden Zusammenhänge dargestellt und es wird gezeigt, dass die ethischen Bedenken aus einer theoretischen Per­ spektive unbegründet sind. Ein wesentlicher Aspekt von Handlungen ist ihre ethische Dimension. In unserem Kontext steht die spezifisch menschliche Form der bewussten und zielgerichteten Einflussnahme auf die Umwelt im Vordergrund (2, II, 3).Wenn nun aufgrund eines bestimmten Denkens diese Ziele vorgegeben scheinen bzw. eine freie Zielwahl realiter nicht möglich ist, wird die Handlungsmotivation davon untergraben. Hierbei ist entscheidend, dass unabhängig von seiner Realität bereits der Glaube an den Gendeterminismus Handlungsfolgen haben kann. Der bloße Glaube, keinen Einfluss zu haben, prägt das Verhalten, das aus dem Ausbleiben einer Handlung besteht. Die Moralphilosophin Mary Midgley präzisiert das Problem am Gendeterminismus: „This is not determinism. It is fatalism, and the difference is crucial. Fatalism is dramatic. It tells us that we are helpless in the hands of alien forces. What threatens us is not just impersonal causes, but unbeatable hostile agents. Determinism made no reference to arcane purposes. Purpose is a concept unknown to physics. It spoke only of the sequence of events. Fatalism says a great deal about purpose. It tells us that our own purposes are somehow unreal. We are merely pawns on the chessboard of alien beings, which have devised the whole chess-set for their own.“ (Midgley 1984, 111) Das entscheidende Problem am Gendeterminismus ist also nicht dieser selbst, sondern der Genfatalismus als eine davon abgeleitete Folge. Es ist der schiere Glaube, ohnmächtig zu sein, der jegliches Handeln sinnlos erscheinen lässt. Dies Problem ist genauer zu betrachten. Der Fatalismus wird seit der Antike als zentrales Problem deterministischer Weltbilder diskutiert. Der Philosoph Geert Keil (2009; 2013) untersucht die theoretische Ableitung des Fatalismus als Handlungsgebot. Dabei unterscheidet er zwischen dem Bereichsund dem Universaldeterminismus. „Die These des universalen Determinismus besagt in erster Annährung, dass der gesamte Weltlauf ein für alle Mal fixiert ist, sodass es zu jedem Zeitpunkt genau eine Zukunft gibt“ (2013, 18). Dieser oben bereits dargestellte physikahttps://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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lische Determinismus ist von den relativ geltenden Determinismen, wie dem neurophysiologischen, psychologischen und genetischen Determinismus (ebd., 45) abzugrenzen: „Bereichsspezifische Determinismen behaupten durchaus die durchgängige Determination des jeweiligen Bereichs, lassen aber offen, wie dieser Bereich sich zum Rest der Welt verhält“ (ebd., 45). Die Reichweite des Gendeterminismus ist konzeptionell beschränkt, da er keine Aussagen über Bereiche beinhaltet, die außerhalb der Biologie liegen.Auf beide Determinismen wird eingegangen. Keil analysiert, was aus der Wahrheit des jeweiligen Determinismus für den Fatalismus folgt. Im Rahmen des universalen Determinismus kann kein freiwilliger Handlungsverzicht abgeleitet werden. Sofern nämlich die gesamte Welt determiniert ist, beinhaltet dies sowohl die Erkenntnis als auch die Handlung des Moralsubjekts. Da ihre Trennung nicht möglich ist, kann keine souveräne Außenposition gedacht werden. Daher gilt: „Wenn man an die Prädetermination durch das Fatum glaubt, kann man nicht die eigene Überlegung, Entscheidung und Handlung aus dieser Determination ausnehmen“ (ebd., 25). Der Glaube an die Determiniertheit aller Dinge müsste also in Konsequenz folgenlos bleiben.18 Anders ist der Zusammenhang aus der Perspektive des Bereichsdeterminismus. Hier ist die souveräne Position weiter denkbar. Soweit die Erkenntnis des Subjekts nicht determiniert ist, kann der jeweilige Bereich als determinierter Bereich erkannt werden, und nur in diesem wären wir ohnmächtig – ein Bereichsfatalismus scheint begründbar. Jedoch ist die Folgerung vorschnell. Neben dem Bereichsdeterminismus selbst ist auch sein Verhältnis zum Universaldeterminismus für die theoretische Ableitbarkeit des Fatalismus von Bedeutung. Bei genauerer Betrachtung ist nämlich der Bereichsdeterminismus erst bei seiner Unabhängigkeit

18 Um den Zusammenhang zu verdeutlichen entwirft Keil (2013, 24f) ein Szenario. Im Krankheitsfalle nicht zum Arzt zu gehen, mit dem Argument das Schicksal nicht abwenden zu können, entbehrt der Logik des universalen Determinismus. Der Arztbesuch, sowie all jene Mühen, welche man zugunsten des Genesungs­ prozesses auf sich nimmt (aber eben auch ihr Unterlassen) sind ebenfalls deter­ miniert. Dies gilt obwohl die Vorherbestimmung aus der relativen Sichtweise des Akteurs nicht erkannt werden kann. Das Fehlen einer souveränen Außenpo­ sition verhindert Aussagen über die Gebotenheit von Handlungen. Daher ist der Universaldeterminismus im Hinblick auf den Fatalismus ethisch unproblema­ tisch. Dieser Zusammenhang wurde in der Stoa als das „faule Argument“ (argos logos) bezeichnet.

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problematisch. Seine Abhängigkeit vom Universaldeterminismus löst dagegen das Problem auf, da keine neutrale Außenposition des Moralsubjekts bestünde. Die handlungstheoretischen Folgen des Determinismus hängen also von der Antwort auf die Frage ab, „ob einer der bereichsspezifischen Determinismen wahr sein könnte, selbst wenn der universelle Determinismus es nicht ist“ (ebd., 49). Aus naturwissenschaftlicher Perspektive ist aber ein solcher Gedanke bereits im Ansatz undenkbar. Oben wurde gezeigt, dass naturwissenschaftliche Erkenntnis die kausale Determination der Ereignisse aus methodischen Gründen voraussetzen muss, sodass alle Ereignisse insgesamt als kausal determinierte Ereignisse zu verstehen sind. Daher kann das Problem des Gendeterminismus, der resultierende Fatalismus, ausschließlich außerhalb der naturwissenschaftlichen Perspektive abgeleitet werden. Somit stellt einzig die Annahme der Indeterminiertheit der Welt bei gleichzeitiger Annahme eines Bereichsdeterminismus das Einfallstor für den Fatalismus dar. Keil weist auf den entscheidenden Punkt hin: „Ein Bereichsdeterminismus könnte allenfalls dann ohne Rücksicht auf den Laplace-Determinismus wahr sein, wenn es innerhalb des Universums kausal gegen ihre Umgebung abgeschirmte Systeme gäbe, also Systeme, die nicht mit ihrer Umwelt interagieren“ (ebd., 52). Daher muss ein Fatalist zuerst die Existenz dermaßen hermetisch isolierter Systeme nachweisen. Der Genfatalismus kann einzig unter dieser Bedingung als eine Folge des Gendeterminismus abgeleitet werden. Der Nachweis kausal abschirmbarer Systeme ist allerdings unmöglich (1, II, 2.2). Hier wurde gezeigt, dass das ethische Problem am Gendeterminismus, der Genfatalismus, keine theoretischen Ursachen hat, sondern dass dieser auf Fehlannahmen beruht. Im Folgenden wird u. a. auf einen Vorläufer des Gendeterminismus und dessen Bezüge zur Epigenetik eingegangen.

2 Historische Aspekte Im Rahmen der Individualentwicklung spielt die Epigenetik eine zentrale Rolle. Zum besseren Verständnis dieses Zusammenhangs wird im Folgenden auf die vorausgehenden Denktraditionen eingegangen, und die historischen Bezüge der Individualentwicklung werden dargestellt. Darauf aufbauend erfolgt eine Begriffsdifferenhttps://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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zierung, wobei die zentralen Unterschiede zwischen dem ursprünglichen und dem molekulargenetischen Konzept der Epigenetik herausgearbeitet werden. 2.1 Denktraditionen zur Entwicklung Zwei Modelle bestimmten seit dem frühen 17. Jh. das Denken über die Individualentwicklung. Gemäß dem Präformismus ist die Erklärungsrichtung retrospektiv, da vorgebildete Strukturen die Entwicklung determinieren. Dagegen sind Epigenesis-Theorien prospektiv ausgerichtet, da sie behaupten, dass die Strukturen erst erzeugt werden, womit ihre Emergenz behauptet wird. Da diese historischen Theorien als Denktraditionen das genetische Entwicklungsdenken auf grundsätzlich verschiedene Weise prägen, wird im Folgenden auf beide Modelle eingegangen. Bei näherer Betrachtung handelt es sich nicht um Einzeltheorien, sondern um Theorienbündel. 2.1.1 Theorien des Präformismus Präformationstheorien gehen in Bezug auf die Lebenszeugung von vorgebildeten Keimen aus, in denen der Organismus strukturell bereits definiert vorliegt und nur noch entfaltet werden muss. Danach ist weder die Embryo-, noch die Ontogenese eine echte Entwicklung, sondern sie bestehen im Wesentlichen aus einer bloßen Vergrößerung der bereits existierenden Körperteile. Die seit der Antike bestehende Theorie wurde später christlich-theologisch aufgeladen und weist hier auf einen initialen Schöpfungsakt hin. Danach hat die Natur die Aufgabe, diese Vorgaben zu entwickeln. Der Präformismus kommt in den Spielformen des Ovismus und Animalkulismus vor. Ideengeschichtlich geht der Präformismus auf Demokrits Atomismus zurück.19 Der Philologe Wolfgang Kullmann (1998, 30) 19 Den besten Überblick über die Vererbungstheorien der Antike bietet Erna Lesky (1951). Sie unterscheidet drei Theorien: (1.) Die enkephalo-myelogenen Samenlehre geht auf Alkmaion von Kroton zurück und behauptet das Gehirn als Entstehungsort des Samens. Danach wird das künftige Geschlecht durch die jeweils beigetragenen Samenmenge festgelegt. (2.) Die von Darwin verwendete

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bringt diesen Zusammenhang unter Rückgriff auf ein Fragment Demokrits auf den Punkt: „Der Koitus ist ein kleiner Anfall von Epilepsie; es stürzt nämlich ein Mensch aus einem Menschen heraus und wird losgerissen, indem er sich durch eine Art Schock abtrennt.“ In diesem physiko-emotionalen Akt entladen sich Atome aus allen Körperteilen des Organismus, der sozusagen en miniature im Samen vorliegt. Jedoch sollte sich die Theorie noch ändern. Im neuzeitlichen Denken erfolgt eine Spezifizierung der Präformation. Die Historikerin Änne Bäumer verweist auf den Unterschied von Präformation und Präexistenz. „Die Abweichung besteht darin, dass der im Samen enthaltene Keim nicht als Produkt des Erzeugers angesehen wird. Er wurde von Gott selbst zu Beginn der Welt geschaffen und blieb seitdem bis zum Moment seiner ‚Entwicklung‘ erhalten“ (1996, 318).20 Der adulte Organismus gilt danach lediglich als Schutz- bzw. Nahrungsquelle des göttlich erschaffenen Lebens. Die Präexistenz-Lehre entspringt also der Verquickung von Religion und Wissenschaft und wurde als Skatulations- oder Emboitment-Theorie bekannt, wonach alle Generationen, analog einer russischen Puppe, bereits angelegt sind.21 Die Präformationstheorie differenzierte sich weiter aus. Analog zur Taufliege Drosophila in der Klassischen Genetik galt das befruchtete Hühnerei sowohl präformistischen als auch epigene­ tischen Embryologen als Modellorganismus.22 Im Rahmen des Pangenesis-Theorie geht ursprünglich auf Demokrit zurück. Darunter werden Vererbungstheorien zusammengefasst, wonach der Samen von allen Körpertei­ len stammt. In dieser atomistische Theorie entscheidet ebenfalls die Quantität der beigetragene Pangene über das künftige Geschlecht. (3.) Die hämatogene Samenlehre erkennt den Ursprungsort des Samens im Blut. Als theoretischer Ursprung gilt Parmenides - ihr Hauptvertreter ist Aristoteles. Auf die komplexe Geschlechterbildung wird später (2.1.2) genauer eingegangen. 20 Nach Bäumer behauptet die Präexistenz-These nicht nur, dass der erste Orga­ nismus, sondern alle Organismen gleichzeitig von Gott erschaffen wurden, also im Urkeim präexistierten. Gemäß der Präformations-These liegt nur ein Orga­ nismus im Samen/Ei vorgeprägt vor; unabhängig davon ob ein initialer Schöp­ fungsakt stattfand oder nicht. 21 Der Begriff Entwicklung – später zentraler Begriff der Epigenesis-Theorie – wurde damals aus diesem Grund präformistisch ausgelegt. Evolution (evolvere) bedeutet lediglich das Ent-Wickeln bereits vorhandener Organismen. 22 Bäumer (1996, 287f) hebt hier die Bedeutung des ersten Brutofens (Réaumur – 1749) hervor. Erst entlang dessen ist eine exakte Untersuchung embryonaler Entwicklungsprozesse möglich. Die Verschränkung von Technik und Wissen spielt auch beim Animalkulismus eine Rolle. Hiebei war die Entdeckung des Mikroskops entscheidend.

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präformistisch geprägten Ovismus hat das Ei einen konstitutiven Status. Dieser Ovismus stellt die früheste Variante des Präformismus dar. Obgleich William Harvey (1578–1657) als erster Ovist gilt – auf ihn geht das Dictum omne ex ovo zurück –, er aber eine epigenetische, keine präformistische Erklärung heranzog (Harvey 1965), ist Marcellus Malpighi (1628–1694) der erster Vertreter des präformistischen Ovismus (Malpighi & Möbius 1901). Die Einsicht, dass die Entwicklung im Tierreich stets mit dem Ei beginnt, wurde generalisiert. Selbst die Keimung von Pflanzensamen in der Erde stellte einen Brutvorgang dar. Diese Denktradition zog Kreise. Jan Swammerdams (1637–1680) Ovismus wurde erst durch seine posthum herausgegebene Biblia Naturae (Swammerdam 1752) bekannt. Swammerdam arbeitete in der Anatomie: Auf Basis morphologischer Vergleiche zergliederter Insekten schloss er, dass Ei, Larve, Puppe und Insekt Formen eines Individuums sind. Dieses nähme lediglich an Masse zu. Albrecht von Haller (1708–1777) widmete sich im Lauf seines Lebens dem Präformismus und der Epigenesis-Theorie; er entschied sich schließlich für den Ovismus (Haller, 1758). Von Haller weist die Präformation des Darms (aus Dottermembran), des Herzens und der Atmungsorgane nach, welche – da sie empirisch nicht erkennbar war – theoretisch erschlossen werden musste. Lazzaro Spallanzani (1729–1799) wies mit Experimenten an Fröschen, Kröten und Salamandern nach, dass die Befruchtung des Eis nicht im Körper, sondern später, im das Gelege umspülenden Wasser, geschieht (Spallanzani 1769; 1786). Davor liegen Föten vorgeformt in den Eiern vor. Auch Charles Bonnet (1720–1793) ging von der Befruchtungsthese aus und ließ neben der Skatulations-Theorie noch die antike Panspermie-Theorie gelten (Bonnet 1770). Mit übrigen Denkern teilt er die Auffassung, dass der Befruchtungsakt keine neuen Informationen beiträgt. Im Ovismus spielt der weibliche Organismus eine entscheidende Rolle, da dieser die präformierten Keime bereitstellt. Dagegen hat dieser in der Lehre des Animalkulismus bloß den Status einer Nahrungsquelle – der präformierte Keim liegt hier nämlich im männlichen Samen vor. Es sind vor allem technische Instrumente, die den Ovismus ab der zweiten Hälfte des 17. Jh. verdrängen und den Animalkulismus fördern. Durch neue Vergrößerungsgläser und erste Mikroskope werden in vordergründig homogenen Substanzen Strukturen erkannt und weiter erschlossen. Dabei ist die Arbeit des niederländischen Wissenschaftlers Antoni von Leeuwenhoek (1632–1723) hervor zu heben. Mit selbst geschliffenen https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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mikroskopischen Gläsern erreichte der ehemalige Tuchhändler dermaßen starke Vergrößerungen, dass er in Flüssigkeiten (Speichel, Teich- und Regenwasser) mikroskopische Kleinstlebewesen damit entdeckte (Leeuwenhoek 1677). Ähnliche Formen fand er im Sperma. Auf diese lebendigen Tierchen (living animalcules) geht die Bezeichnung Animalkulismus zurück. Als Fellow der Royal Society erhielt Leeuwenhoek den Auftrag, den Ovismus zu widerlegen. Zwischen beiden präformistischen Lagern schwelte ein Streit um die Vormacht. Im Werk Nicolaas Hartsoekers (1656–1725) findet sich die erste Darstellung eines Humunkulus in einem Spermium (Hartsoeker 1694), der bis heute als Standardmodell des Animalkulismus gilt. Der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) integrierte diese Erkenntnisse (1986; 1994) und gab ihnen damit ein naturphilosophisches Fundament.23 Da Fragen offen blieben (Initial­ reiz der Transformation; Auswahl der Samentierchen), bedurfte der Animalkulismus einer metaphysischen Begründung. Leibniz verbindet den Animalkulismus mit einem göttlichen Schöpfungsakt als Letztursache (Leibniz 2002). Dies ist im Kontext seiner Zeit zu sehen und spiegelt das naturwissenschaftliche Grundverständnis damaliger Forscher wider. Entgegen dem heutigen Verständnis galt es damals sogar als geboten, die Wissenschaft mit der Religion zu vereinbaren; es schien undenkbar, dass qualitativ Neues aus unbeseelter Materie entstünde. Der Bezug des Präformismus zur Genetik wird in der Literatur in zwei Richtungen diskutiert. Zum einen grenzt Moss (2003), von Mendel ausgehend, den Einfluss des Präformismus auf die klassische Periode der Genetik ein und behauptet, die Molekulargenetik weiche vom Paradigma der Präformation ab. Der Unterschied spiegelt sich in zwei unvereinbaren Genbegriffen wider. Auf diese

23 Leibniz ging von prästabilisierter Harmonie aus und schreibt: „heute jedoch, wo man durch genaue an Pflanzen, Insekten und höheren Tieren angestellte Untersuchungen erkannt hat, dass die organischen Körper der Natur niemals aus einem Chaos oder durch einen Verwesungsprozesse hervorgerufen werden, sondern stets aus Samen hervorgehen, in denen zweifelsohne eine bestimmte Präformation liegt, ist man zum Schluß gekommen, dass nicht nur der organi­ sche Körper in ihnen schon vor der Empfängnis enthalten war, sondern auch eine Seele in diesem Körper und, mit einem Worte, das Lebewesen selbst, und das vermöge der Empfängnis dieses Lebewesen nur die Fähigkeit zu einer großen Umformung erlangt, durch die es zu einem Tiere anderer Art wird.“ (Leibniz 1996, 617)

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Unterschiede wurde bereits in Kap 1. eingegangen (Gene P, Gene D – 1, I, 3.3). Zum anderen erkennen Mahner und Bunge (2000, 274ff) den Präformationsgedanken in der aktuellen molekulargenetischen In­ formationsrede wieder. Diese spricht ausschließlich Genen den Status von Entwicklungsinstruktionen zu und relativiert damit die Bedeutung der Umwelt als ein bloßes Ernährungssubstrat. Danach stellt der genetische Informationismus einen Neopräformismus dar. Im weiteren Verlauf wird sich zeigen, dass der Präformismus beide Genetikepochen beeinflusste. 2.1.2 Theorien der Epigenesis Die Epigenesis-Theorie befreit das Entwicklungsdenken von den theologischen Vorannahmen. Danach liegt der Organismus weder im Ei noch im Samen vor. Der Organismus entwickelt sich im Umweltbezug, wobei die Entwicklungsstadien aufeinander aufbauen, sodass qualitativ neue Formen entstehen. Auch diese Denktradition beruht auf einem umfangreichen Theorienbündel. Der ideengeschichtliche Ursprung der Epigenesis-Theorie liegt in der Antike. Aristoteles (384–322 v. Chr.) schloss aus dem Sezieren von Hühnerembryonen auf eine graduell verlaufende und umweltvermittelte Entwicklung des Organismus. Diese embryologischen Erkenntnisse arbeitete er theoretisch aus. Neben der causa finalis und der causa formalis sind vor allem die causa materialis sowie die causa efficiens von zentraler Bedeutung für die Formgebung. Neben dieser Vierursachentheorie nimmt auch die damalige Vierelementetheorie eine wichtige Rolle ein. Analog zu Heraklit spricht Aristoteles dem Feuer die entscheidende, weil strukturierende Rolle zu, wobei der Begriff vitale Hitze eine Schlüsselrolle spielt. Die Entwicklung sexuell sich reproduzierender Lebewesen beginnt nach Aristoteles mit der Vermischung des weiblichen und männlichen Elements – ihnen fallen dabei unterschiedliche Funktionen zu.24 Das weibliche Element entspricht dem Menstruationsblut (Katamenien). Der Samen, als männliches Element, hat ebenfalls im Blut seinen Ursprung. Das Blut nimmt damit eine Mittlerstellung ein. Zum einen versorgt es alle Körperteile mit Nahrung. Zum anderen 24 Zur Ungleichheit von Mann und Frau: Aristoteles (2000, I 18-20); Jahn (1985, 68-71); Kullmann (1998, 362-382).

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fließt von den Körperteilen Information zurück ins Blut, welches alle Bewegungsimpulse konserviert und weiter überträgt. Nach Aristoteles erzeugen beide Geschlechter einen Blutüberschuss. Aufgrund des thermischen Geschlechtsunterschieds – der vitalen Hitze – kann aber nur der Mann dies „einkochen“, d. h. zu strukturierenden Erbanlagen potenzieren. In Form des Menstruationsblutes enthält der weibliche Blutüberschuss die Erbanlagen bloß potentialiter und stellt den materialen Anteil (causa materialis) der Vererbung dar. Erst das männliche Element wirkt als causa efficiens und durchdringt die Materie strukturierend.25 Danach ist der maternale Anteil passiv, der paternale dagegen aktiv.26 Wenn die männlichen Impulse zu schwach sind, so prägt das weibliche Element das künftige Geschlecht entsprechend. Die causa finalis führt zu einer artgemäßen Entwicklung des Organismus, wobei nun die Seele als Strebeprinzip hinzutritt und eine graduelle Entwicklung anleitet.27 Aristoteles’ Buchtitel De Generatione Animalium bezieht sich auf das Hervorbringen noch nicht vorhandener Strukturen. Der Organismus wird in einem linearen Schöpfungsprozess aus der Materie geformt. Da danach das Blut die Ernährung der Teile versorgt, beginnt die Entwicklung mit dem Herzen. Auf Aristoteles aufbauend entstand die eigentliche EpigenesisTheorie erst in der Neuzeit.28 Die Bezeichnung findet sich erstmals in William Harveys (1578–1657) Exercitationes de generatione animalium (1651). Hier heißt es „pulli generationem ex ovo, fieri potius per epigenesin quam per metamorphosin“ (Harvey 1651, 251). 25 „For there must needs be that which generates and that from which it generates; even if these be one, still they must be distinct in form and their essence must be different; and in those animals that have these powers separate in two sexes the body and nature of the active and the passive sex must also differ. If, then, the male stands for the effective and active, and the female, considered as female, for the passive, it follows that what the female would contribute to the semen of the male would not be semen but material for the semen to work upon. This is just what we find to be the case, for the catamenia have in their nature an affinity to the primitive matter.“ (Aristoteles 2000, I - 20) 26 Die Embryogenese erklärt den späteren Menstruationsausfall. Das Blut wird nun als „Bausubstanz“ benötigt. 27 Die Seele kann drei Anteile haben: vegetativ für alle, lokomotiv für bewegende und rational für denkende Lebewesen. 28 Aristoteles’ Entwicklungs-Theorie entspricht nicht der neuzeitlichen Epigenesis, da dieser über eine eigene, vom neuzeitlichen Denken abweichende, Kausalitäts­ theorie verfügt. Auch definiert er seine Entwicklungstheorie nicht in Opposition zum Präformismus – einen solchen Dualismus kennt Aristoteles nicht. Dieser entstand erst im 18. Jh.

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Mit Aristoteles zieht Harvey die nachträgliche Entwicklung (epigenesin) des Hühnchens einer Spontanentstehung (metamorphosin) vor.29 Caspar Friedrich Wolff (1734–1794) arbeitete die Epigenesis als Gegenpol zur Präformation aus, und seine Theorie prägte Denker wie Blumenbach und Kant. In der Literatur wird Wolffs Arbeit oft als Streit zwischen von Haller und Wolff dargestellt.30 Ein Merkmal der Debatte kennzeichnet den Theorienwechsel. Es betrifft die metaphysische Ebene. Während von Haller aus religiöser Überzeugung an der Präexistenz festhielt, emanzipiert sich die Epigenesis, durch das empirische Faktenwissen bestärkt, vom Wissenschaftsprimat der Religion. In zwei Hauptwerken verarbeitet Wolff seine Erkenntnisse als beobachtender Embryologe. Seine Dissertationschrift Theoria Generationis (1759) ist als eine philosophische Kampfschrift gegen den Präformismus konzipiert. Neben der öffentlichen Debatte sucht Wolff in mehreren Briefen die direkte Auseinandersetzung mit von Haller (Schuster, 1941). Obgleich von Haller Wolffs Theoria Generationis rezensiert und dessen Epigenesis-Theorie in seinem Hauptwerk Elementa physiologiae corporis humani (1766) aufführt, ist der Austausch einseitig. Auf fachlicher Ebene wird Wolff von der Auto­rität von Haller nicht ernst genommen, sondern seinerseits als Kontrastfolie für seine Theorie instrumentalisiert. Die Theorien beider Forscher entwickeln sich im Zuge dieses Streites zu einem Gegensatzpaar, d. h. zu ihrem Verständnis bedürfen sie der gegenüberliegenden Seite. Seine anfängliche Arbeit konkretisiert Wolff in der Abhandlung De formatione intestinorum (2003) am konkreten Fallbeispiel der Bildung des Darmkanals im bebrüteten Hühnchen. Dies geschieht weiterhin im Gegenbezug zu von Haller, wobei Wolff sogar das Forschungsobjekt (Darm) von ihm übernimmt und minutiös widerlegt. Entgegen von Hallers These, dass die Organstruktur im befruchteten Ei angelegt ist, zeigt Wolff, dass die Entwicklung des Darms allmählich in einem Neubildungsprozess entsteht. Die Organe entwickeln sich aus morphologisch abweichenden Strukturen. Dabei wird auch die bis dahin gültige Theorie der Entwicklungskontinuität widerlegt. Wolffs Methode ist entgegen der späteren experimentellen Embryologie „minimalinvasiv“, d. h. sie basiert auf reinen Beobach29 Bei Insekten und Larven ging Aristoteles von Spontanentstehung aus. Ur­ sprungs­ort ist dabei faulendes Material. 30 Zum Streit zwischen Präformationisten und Epigenetikern siehe Bäumer (1996, 285-313) sowie Gaissinowitch (1985, 224-263).

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tungen, sodass nur natürliche Veränderungen im zeitlichen Verlauf festgehalten werden. Dieses Werk wird – obgleich angesichts von Hallers Autorität zu seiner Zeit kaum rezipiert – als Wolffs wichtigste embryologische Arbeit erachtet und dient späteren Größen der Embryologie, wie etwa Karl Ernst von Baer, als theoretische Ausgangsbasis. So stellt die Erkenntnis, dass Körperteile nicht voll entwickelt auftreten, sondern ihnen morphologisch davon abweichende Vorformen vorausgehen und Organe, vermittelt durch weitere Zwischenformen, sich erst allmählich herausbilden, zu einem zentralen Beweis gegen die Präformation. Auch stellte sich dies später als wichtiger Grundmechanismus der Entwicklung heraus. Wolffs Erkenntnis, dass blattförmige Anlangen den strukturellen Ausgang der Entwicklung bilden, fand in von Baers Keimblättertheorie Anwendung. Diese epigenetische Theorie gilt bis heute. Ein weiteres Verdienst Wolffs ist die Verallgemeinerung der Gültigkeit dieser Mechanismen für alle Lebewesen. Das zentrale Kennzeichen der Epigenesis-Theorien ist die Emergenz organismischer Strukturen aus unstrukturierter Materie. Hier besteht eine Erklärungslücke. Während der Präformismus die Kontinuität und Spezifität der Entwicklung auf die göttliche Schöpfung zurückführt, bleibt im Rahmen der Epigenesis unklar, was Entwicklung lenkt. Zu ihrer Erklärung sind die Theoretiker gezwungen, eine Lebenskraft zu postulieren.31 Da diese mit dem Vitalismus in Verbindung gebracht wurde, galt die Epigenesis zunächst oft als metaphysisch, d. h. unwissenschaftlich. Engels zeigt, dass es sich aber um eine nachträgliche Etikettierung handelt. Während die Lebenskraft methodologisch eingeführt wurde, erhält sie später im Vitalismus einen ontologischen Status (1980; 1982; 1994). Der Lebenskraftbegriff der Epigenesis stellt ein Lückenparadigma dar. Über notwendiges Wissen noch nicht verfügend, aber auf den Fortschritt vertrauend, wendeten die Theoretiker den Begriff methodologisch an. Derart verwendet fließt die Epigenesis in philosophische Konzepte ein. In der Kritik der Urteilskraft weist Kant den Präformismus wegen dessen metaphysischen Vorannahmen (Schöpfungsakt) zu­­ gunsten der Theorie der Epigenesis zurück und würdigt dabei Blumenbachs Leistung. Als generischer Präformismus spielt dieser zwar noch zur Erklärung der Artkonstanz eine Rolle, wobei die 31 Beispiele: Aristoteles Entelechie, Wolffs vis essentialis, Blumenbachs nisus for­ mativus, Buffons force pénétrante.

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Epigenesis-Theorie sich auf die Individualentwicklung bezieht.32 Da Darwins Evolutionstheorie das Theorem der Artkonstanz widerlegte, ist der Präformismus auch in dieser generischen Version problematisch. Im genetischen Verursachungsdenken leben die beiden opponierenden Denktraditionen neu auf. Die Epigenesis-Theorie hat das Entwicklungsdenken sowohl in der klassischen als auch in der molekularen Epoche der Genetik geprägt, wobei hier die Epigenetik eine zentrale Rolle spielt. Dass im Hinblick auf die Epigenesis zwischen zwei Epigenetikbegriffen unterschieden werden muss und im Rahmen der Molekulargenetik auch die sog. molekulare Epigenesis (Stotz 2005) bzw. Neoepigenetik (Mahner & Bunge 2000, 284ff) zu berücksichtigen ist, wird später gesondert gezeigt. 2.2 Zwei Epigenetikbegriffe Im Folgenden werden zwei Epigenetikbegriffe voneinander abgegrenzt. Ursprünglich wurde das Konzept Epigenetik von dem Embryologen Conrad Hal Waddington (1905–1975) entwickelt. Während dieses sich explizit gegen den Gendeterminismus richtet, gerät diese Positionierung im gegenwärtigen, molekulargenetisch geprägten Epigenetikbegriff aber zunehmend aus dem Blick. 2.2.1 Waddingtons Synthesekonzept Wissenschaftshistorisch betrachtet fällt der Beginn der Epigenetikforschung in die Epoche der Klassischen Genetik, welche noch keinen materialen Begriff des Gens und dessen Regulation hat; ent32 Kant unterscheidet Educte von Produkten: „Das System der Zeugungen als bloßer Educte heißt das der individuellen Präformation, oder auch die Evolu­ tionstheorie; das der Zeugungen als Producte wird das System der Epigenesis ge­ nannt. Dieses letztere kann auch System der generischen Präformation genannt werden; weil das productive Vermögen der Zeugenden doch nach den inneren zweckmäßigen Anlagen, die ihrem Stamme zu Theil wurden, also die spezifische Form virtualiter präformiert war“ (Kant 2006, B 376). Er spekuliert gegen den Präformismus (generatio homonyma) über die Möglichkeit der Entwicklung der Arten (generatio heteronyma) weist aber diesen Gedanken als „gewagtes Aben­ teuer der Vernunft“ (ebd., B 370) zurück. Roth (2008) räumt hierbei ein, dass die generische Präformation nach Darwin relativiert werden muss, weist dabei aber auf genetisch fixierte (präformierte) Entwicklungsprogramme hin.

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gegen unserem gegenwärtigen Verständnis bezieht sich die Epigenetik bei ihrer Einführung weder auf die DNS noch auf molekulare Regelmechanismen. Zu diesem Zeitpunkt wird die genetische Forschung ausschließlich auf der Ebene des Phänotyps betrieben. Ein weiterer Punkt ist hier wichtig: Waddingtons Forschung widmet sich der experimentellen Embryologie, somit der Entwicklungsforschung, welche ein prozessuales Verständnis der Genetik voraussetzt. Während die Transmissionsgenetik die transgenerationale Übertragung phänotypischer Merkmale erforscht und dabei die dazwischenliegenden Entwicklungsschritte ausblendet, widmet sich Waddingtons Epigenetik genau diesem Dazwischen. Rückblickend schreibt er über seinen Epigenetikbegriff: „Some years ago (e. g. 1947) I introduced the word ‚epigenetics‘, derived from the Aristotelian word ‚epigenesis‘, which had more or less passed into disuse, as a suitable name for the branch of biology which studies the causal interactions between genes and their products which bring the phenotype into being.” (Waddington 1968, 9f – kursiv S. Sch.) Dieser Satz wird in der aktuellen Forschungsliteratur zur Epigenetik zwar besonders häufig zitiert, allerdings wird dabei das Hauptaugenmerk auf die hier kursiv hervorgehobene zweite Satzhälfte gelenkt, die sich besonders als Definition für Waddingtons Epigenetik eignet. Diese Fokussierung betont die Anschlussfähigkeit der ursprünglichen an die molekulare Epigenetik, welche sich ähnlichen Forschungsfragen zuwendet. Dabei gerät aber aus dem Blick, dass Waddington sich mit seinem Forschungsprogramm Epigenetik in eine Denktradition einordnet und damit auf konzeptueller Ebene bewusst Position gegen einen Gendeterminismus einnimmt. Waddington bezieht sich auf die Epigenesis, welche eine Gegentheorie zur Präformation darstellt (siehe oben). Dieser namentliche Bezug ist in zweierlei Hinsicht interessant. Zum einen im Sinne einer begrifflichen Abgrenzung. Waddington wendet sich von der zeitgenössischen Transmissionsgenetik ab, welche aus seiner Sicht den Gendeterminismus befördert. Aufgrund ihres methodischen Vorgehens (black-boxing) kann diese auf Entwicklungserklärungen verzichten und wendet sich ausschließlich der Vererbung zu. Im Lichte dieser Ausblendung erscheinen die entwickelten Merkmale als genetisch präformiert. In diesem Ansatz wird nämlich zunächst von der Merkmalsebene auf die Genebene geschlossen, sodass gemäß der Forschungslogik jedem stabil vererbbaren Merkmal ein Gen zugeordnet werden muss. In Folge dieser Reduktion, die in den Hintergrund gerät, da sie im Anwendungsbezug nicht mehr mitgehttps://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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dacht werden muss, erscheint das Gen als Determinante. Das Merkmal liegt im Gen präformiert vor. Zum anderen stellt der Bezug zur Epigenesis eine Präzisierung von Waddingtons Denken dar. Zum besseren Verständnis dieses Bezugs muss etwas ausgeholt werden. In seinem Buch Die biologischen Grundlagen des Lebens (1966) begibt sich Waddington auf die Suche nach einer Fundamentalbiologie. Dabei wägt er die substanz- und prozessorientierte Denkweisen (1, II, 2.3) gegeneinander ab:33 „Ist jedes einzelne Gen eine individuelle atomistische Einheit, oder ist es nur ein Knotenpunkt in einem größeren Beziehungsmuster, ohne das es gar kein Gen mehr darstellt? Soll man versuchen, physiologische Vorgänge mit den Aktivitäten isolierter Zellen zu erklären, oder sollen wir eher erwarten, Aktivitäten von Zellgruppen, wie Geweben, zu finden und nach diesen sogar suchen? Wir können die Frage auch auf andere Weise und sehr allgemein stellen. Was hat am ehesten die Berechtigung, Fundamentalbiologie genannt zu werden? Die Endpunkte biologischer Analyse, wie Gene und Genuntereinheiten? Oder die höchstentwickelten Beziehungen, die lebende Wesen zeigen, die Geschehnisse in der menschlichen Zivilisation?“ (Waddington 1966, 12f) Diese Fragen beziehen sich auf das Forschungsobjekt. Abhängig von der Perspektive ergäben sich verschiedene Ergebnisse. Waddington plädiert für einen „spannungsreichen“ Kompromiss. „Es gibt natürlich keine eindeutige Antwort auf diese Alternativen in der Biologie. Wie die Physiker auf ihrem schon weitergetriebenen Forschungsgebiet, müssen auch die Biologen gleichzeitig atomisti33 So schreibt Waddington: „Auf der einen Seite hat man einen Ansatz, der oft als Atomismus bezeichnet wird. Er zielt darauf hin, bestimmte Phänomene unter Benutzung einer Reihe individueller Einheiten zu beschreiben, von denen jede auch in völliger Isolation existieren kann. Das volle Spektrum der Eigenschaften dieser Einheiten braucht natürlich erst dann erkennbar zu werden, wenn sie in Beziehung zueinander treten. In einer atomistischen Theorie werden diese Be­ ziehungen als äußerliche Beziehungen gedacht, die die betreffenden Eigenschaf­ ten nur sichtbar machen, nicht aber erzeugen. Die Eigenschaften bleiben erhal­ ten, auch wenn eine gegebene Einheit von allen anderen isoliert wird. […] Im Gegensatz dazu hat man „Kontinuums“-Theorien, d. h. Theorien, bei denen die grundlegenden Bestandteile von Phänomenen nicht als getrennte und besondere Einheiten aufgefasst werden, die nur äußerlich in Beziehung zueinander treten. Kontinuums-Theorien bemühen sich, Phänomene mit Hilfe von Beziehungs­ mustern zu beschreiben. Jeder elementare Faktor, der in eine solche theoretische Struktur eingeht, ist nicht mehr als ein Knotenpunkt des Beziehungsmusters, und seine Eigenschaften hängen ab von und entstehen aus den Beziehungen, in die er eintritt.“ (Waddington 1966, 11f)

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sche wie kontinuumartige Ansätze benutzen. Dies ergibt etwas, was man als eine Art Spannung auf dem Gebiet biologischer Theorie bezeichnen könnte. Meiner Meinung nach ist gerade diese Spannung eine der wichtigsten Triebfedern, die den biologischen Wissenschaften ihre Vitalität verleihen.“ (Ebd., 13) Für Waddington stellt die Entscheidung für einen Ansatz eine Verkürzung dar. Dabei gilt es im biologischen Denken nicht nur die Prozess- und Substanztheorie, sondern auch die Präformation und Epigenesis miteinander zu vereinbaren. Ihre Spannungen aber sind auszuhalten. Die beiden Begriffspaare vereint mehr als ihre gegensätzliche Struktur. Während das atomare Denken dem genetischen Ansatz entspricht, bezieht sich das prozessuale Denken auf den epigenetischen Ansatz. Eine ganzheitliche Sicht auf die Forschungsobjekte der Biologie ergibt sich erst aus ihrer Zusammenführung. Auf diesen Grundgedanken rekurriert Waddington, wenn er der von ihm als präformistisch empfundenen Transmissionsgenetik ein „epigenetisches“ Entwicklungsverständnis gegenüberstellt und beide in seinem Syntheseprojekt – der Epi-Genetik – auch namentlich zusammenführt. Dabei anerkennt Waddington die Bedeutung der Gene. Die Entwicklung wird nicht nur durch die Umweltbezüge verursacht, sie verläuft im genetischen Entwicklungsrahmen. Hier stellt sich aber ein Kompatibilitätsproblem. Wie kann ein dermaßen dynamischer Prozess wie die Entwicklung eines Organismus trotz seiner statischen, d. h. gleichbleibenden, genetischen Ausstattung möglich sein? Zur Lösung entwickelt Waddington einen neuartigen Genetikbegriff. Im Kapitel The Cybernetics of Development stellt Waddington (1957) das Konzept der epigenetischen Landschaft vor; einer geographischen Metapher zur mechanischen Erklärung der Entwicklung. Dabei sind zwei Bildebenen zu unterscheiden. Die Oberflächenbeschaffenheit der epigenetischen Landschaft wird von einer tiefer liegenden Ebene mechanisch bestimmt. Auf dem unteren Bild (s. folgende Seite) sieht man Gene (Vierecke), deren Interaktion (Linien) eine netzartige Tragestruktur für die Oberfläche hervorbringen. Deren Form wird durch den erreichten Entwicklungszustand des Organismus (1), seine genetische Disposition (2) und die Umweltreize (3) fließend generiert. Aufgrund der dynamischen Netzwerklogik ist die Reduktion des Phänotyps auf einen Faktor unmöglich. An Waddingtons Landschaftsmetapher lässt sich ablesen, dass die zur Entwicklung notwendige Information auf keiner der drei Ebenen vorliegt, sondern dass sie deren Produkt ist. https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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Abb. 4: Waddingtons epigenetische Landschaften, Unterseite und Oberfläche

Dies verdeutlicht das obere Bild. Die Position der abgebildeten Kugel markiert den aktuellen Entwicklungszustand. Aufgrund der Landschaftsbeschaffenheit trifft die Kugel „Entscheidungen“; Weggabelungen stellen sensible Entwicklungsphasen dar. Rollt die Kugel der Gravitation folgend den rechten Weg entlang, verliert der linke Verlauf mitsamt seinen Prägungsmöglichkeiten seine Macht über die Entwicklung. Im Vorfeld bestehen unendlich viele Abzweigungsmöglichkeiten. Der konkrete Entwicklungsverlauf wird aber erst durch das Zusammentreffen aller Faktoren festgelegt. Wegen der besonderen Eigenart der Interaktionen versteht Waddington die Epi-

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genetik als Entwicklungskybernetik. Die epigenetische Landschaft wird in einem Rückkopplungsprozess ausgebildet, und die Kugel rollt bis zu ihrem finalen Zustand – dem ausdifferenzierten Gewebe. Aufgrund dieser Metapher kann Waddingtons Epigenetik nicht als monokausale Determination verstanden werden, sondern sie erklärt die Entwicklung des Phänotyps im Sinne einer Emergenz. Seine Synthese übersteigt das dualistische Gen/Umwelt-Denken und er geht als erster von einem Entwicklungssystem aus (vgl. Waddington 1952). Um die Abkehr von der damals präformistisch denkenden Genetik kenntlich zu machen, wählte Waddington also die Bezeichnung Epigenetik. 2.2.2 Molekulares Raumkonzept Der Epigenetikbegriff hat sich seit seiner Einführung verändert. Da Waddington sein Projekt mangels Anschlussfähigkeit an die Molekulargenetik einstellte, der aktuelle Epigenetikbegriff sich aber in den vergangenen 20 Jahren erst entwickelte, klafft zwischen ihnen eine erhebliche Lücke. Eine lineare Theorieentwicklung liegt nicht vor. Der einst im Paradigma der Klassischen Genetik entworfene phänotypbezogene Epigenetikbegriff weicht vom chemophysikalischen Denken der Molekulargenetik ab. Während Waddingtons Epigenetik eine eigenständige Genetik darstellt, d. h. sein Gen- vom Epigenetikbegriff abhängt, kehrt sich das Verhältnis mit dem Bekanntwerden der materialen Vererbungsanlagen um (Speybroeck 2002, 78f). Gegenwärtig erschließt sich die Epigenetik durch den molekularen Genbegriff, d. h. der Lokalisierung der Gene in der DNS. Die Entwicklungsgeschichte der Epigenetik zeigt, dass sie DNS-Modifikationen erst einbezog, dann aber ausschloss und in ein Raumverhältnis zur DNS trat, das nun ihren aktuellen Begriff prägt. Da Waddingtons Epigenetik keine dauerhafte wissenschaftliche Verbindlichkeit entfaltete, fehlte zunächst eine einheitliche Ausrichtung in der Epigenetikforschung. Einem gemeinsamen Begriff wendet man sich erst in den letzten 25 Jahren zu. Den entscheidenden Auslöser dafür lieferte die Arbeit des Molekulargenetikers Robin Holliday zum Zellgedächtnis (Jablonka & Lamb 2002, 87). Auf der Suche nach dem Differenzierungsmechanismus für die verschiedenen Zelltypen definiert er die Epigenetik als: „the study of the mechanisms of temporal and spatial control of gene activity during the development of complex organisms“ (Holliday 1990, 431f). https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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Da die Basensequenz bei allen Zellen eines Organismus gleich ist, kann sie die Information für die Zelldifferenzierung nicht enthalten. Daher wurde das gesuchte „Gedächtnis“ jenseits der genetischen Information vermutet. Da aber die Entwicklung auch Differenzierungsprozesse einschließt, welche auf DNS-Modifikationen basieren (z. B. Ausbildung des Immunsystems) bezieht Hollidays Epigenetikbegriff die DNS mit ein. Dieser Epigenetikbegriff änderte sich aber, nachdem DNS-Modifikationen als Ursache der Entwicklung des Zellgedächtnisses ausgeschlossen werden konnten. Um diese Erkenntnisse in die Forschung zu integrieren, definieren Riggs et al. Epigenetik nun als: „The study of mitotically and/or meiotically heritable changes in gene function that cannot be explained by changes in DNA sequence” (1996, 1). Der Epigenetikbegriff wird dadurch endgültig von der DNS, d. h. der Modifikation der Basensequenz, abgekoppelt, wobei hier eine weitere begriffliche Veränderung stattfindet. Über den Entwicklungsbezug hinaus dehnt sich die Reichweite der Epigenetik nun auch auf den Vererbungsprozess aus (1, II, 3.3). Da aber die DNS als Informationsträger ausgeschlossen wurde, stellt sich dabei die Frage nach der Ursache dieser transgenerationalen Wirkungen. Der gesuchte Informationsträger wird in einem genregulativ wirkenden Raumverhältnis zur DNS gefunden. Wie bereits gezeigt wurde (1, II, 3.1), basieren alle epigenetischen Prozesse nämlich auf einem einfachen Wirkprinzip, dessen Funktion im Wesentlichen durch zwei Mechanismen bestimmt wird. Der allgemeine Mechanismus bezieht sich auf die Kondensation der DNS. Im Funktionszustand ist die DNS zusammen mit Proteinen zu einem Funktionskomplex organisiert. Dieses Nukleoprotein, das Chromatin, kommt in zwei Zuständen vor. Während das Heterochromatin einen dichten Verpackungszustand der DNS bezeichnet, liegt diese im Euchromatin aufgelockert vor. Die beiden Zustände haben genregulative Wirkung. Durch die räumliche Verdichtung der DNS wird die Zugänglichkeit der Transkriptionsfaktoren zu bestimmten Genregionen reguliert und damit die Expression der Gene begünstigt (Euchro­matin) oder behindert (Heterochromatin). Dieser allgemeine Funktionsmechanismus wird durch spezielle Mechanismen auf den drei Wirkebenen DNS (Methylierung), RNS (RNSInterferenz) und Protein (Histonacetylierung) gesteuert. Zur Verdeutlichung des Raumbegriffs „Epigenetik“ wird im Folgenden auf die Methylierung der DNS-Base Cytosin eingegangen. Diese spielt bei der DNS-Kondensation eine zentrale Rolle, kann https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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aber auch unabhängig davon genregulativ wirken. Vor den meisten Genen liegt eine starke Häufung der Basenabfolge Cytosin/Guanosin vor. Das in diesen CpG-Inseln (Cytosin-phosphatidyl-Guanosin) vorkommende Cytosin kann durch Methylierung chemisch modifiziert werden. Diese Methylierung ist reversibel und verändert die Basensequenz nicht, hat aber eine genregulative Funktion. Der vom DNS-Strang abstehende Methylrest blockiert nämlich die Bindung von Transkriptionsfaktoren an den Startstellen der Gene und verhindert räumlich ihre Expression – das methylierte Gen ist inaktiv. Nur unmethylierte Gene können in Protein umgesetzt werden. Die entscheidende Veränderung des Epigenetikbegriffs lässt sich an der Bedeutungsverschiebung des Präfix „epi-“ ablesen. War dieses einst konzeptuell gemeint und bezog sich auf die Epigenesis, so wird das griechische Präfix im Rahmen der Molekulargenetik nur noch wörtlich übersetzt und hier im Sinne von „auf/über/neben“ den Genen verstanden. Es meint nun ein Raumverhältnis. Das Hauptaugenmerk der modernen Epigenetik liegt auf molekularen Faktoren, welche, wie im Falle der methylierten CpG-Inseln, über der DNS liegend die Genexpression dynamisch regulieren.

Abb. 5: Methylierung von CpG-Inseln

Diese Über-Genetik stellt eine Verengung von Waddingtons Epi­genetikbegriff dar. Der molekulare Raumbegriff verliert sein Hauptanliegen, die Zusammenführung von Epigenesis und Genetik, aus dem Blick. Während sich der ursprüngliche Synthesebegriff auf die Entwicklung des Phänotyps als einem Emergenzprozess bezieht und sich namentlich gegen den Gendeterminismus richtet, widmet sich die molekulargenetische Epigenetik zwar ebenfalls der Entwicklung, meint aber nur ein genregulatives Raumverhältnis. Da der Gendeterminismus im Rahmen dieses Begriffs nicht thematisiert wird, beschränkt sich die folgende Untersuchung nun auf die molekulare Epigenetik. https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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3 Epigenetik und Gendeterminismus Im Unterschied zum methodischen Determinismus, der als denknotwendiges Axiom der Naturwissenschaften eine kausal geschlossene Welt voraussetzt und dadurch ihre Erforschung ermöglicht, fehlt dem Gendeterminismus solche Notwendigkeit. Letzterer geht davon aus, dass die phänotypische Ausprägung von Organismen genetisch feststeht. Im Folgenden werden zwei verschiedene Versionen des Gendeterminismus dargestellt und ihr Verhältnis zur Epigenetik wird ermittelt.34 3.1 Einfacher Gendeterminismus Die einfachste Form des Gendeterminismus (eGD), wonach der Phänotyp ausschließlich auf die Basensequenz der DNS zurückzuführen ist, weist Strukturähnlichkeiten mit dem zentralen Dogma der Molekularbiologie auf. Aufgrund dessen Kernthese, der Unidirektionalität des genetischen Informationsflusses, wird das Dogma oft als als theoretische Grundlage des eGD thematisiert (Wirz 2009; Tappeser & Hoffmann 2006; Lux 2012; Shanahan & Freeman 2013). Dabei wird als Gegenargument auf den umweltvermittelten Informationsrückfluss der epigenetischen Genregulation hingewiesen, was nahelegt, das Dogma und damit der eGD insgesamt würden durch die Epigenetik widerlegt. Im Folgenden wird das ursprünglich von Francis Crick entwickelte Dogma dargestellt und auf dieser Basis gezeigt, dass zwar die These der Unidirektionalität des Informationsflusses durch die Epigenetik widerlegt wird, somit auch der eGD aufgegeben werden muss, aber das Dogma davon keinen Schaden nimmt. In seiner ursprünglichen Fassung stellt dieses nämlich keineswegs eine Theorie des eGD dar. Das Dogma und der eGD weisen lediglich Strukturähnlichkeiten auf. 3.1.1 Unidirektionaler Informationsfluss Der Ablauf der Proteinsynthese, also die Umsetzung der Erbinformation in das funktionale Protein, galt lange Zeit als eines der großen Geheimnisse der Genetik. Dass die DNS, RNS und das Pro34 Diese beiden verschiedenen Gendeterminismen habe ich bereits an anderer Stelle beschrieben (Schuol 2016).

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tein miteinander interagieren, war früh klar, ihr Funktionszusammenhang aber unbekannt. Francis Crick (1916–2004) erfasste den entscheidenden Zusammenhang dafür 1956 im zentralen Dogma der Molekularbiologie.35 Das Verhältnis zwischen DNS und Protein entspricht danach einem unidirektionalen Informationsfluss. Rückkopplungen von der Proteinseite auf die Basensequenz sind unmöglich. Mit diesem zentralen Dogma, das er zusammen mit einer weiteren Hypothese, der Sequenzhypothese, veröffentlichte, brachte Crick 1958 bereits kursierende Spekulationen auf den Punkt und prägte damit die Genforschung. In seinem Aufsatz On Protein Synthesis schreibt er: „My own thinking (and that of many of my colleagues) is based on two general principles, which I shall call the Sequence Hypothesis and the Central Dogma. […] The Sequence Hypothesis. […] In its simplest form it assumes that the specificity of a piece of nucleic acid is expressed solely by the sequence of its bases, and that this sequence is a (simple) code for the amino acid sequence of a particular protein. The Central Dogma. […] This states that once ‚information‘ has passed into protein it cannot get out again. In more detail, the transfer from nucleic acid to nucleic acid, or from nucleic acid to protein may be possible, but transfer from protein to protein, or from protein to nucleic acid is impossible. Information means here the precise determination of sequence, either of bases in the nucleic acid or of amino acid residues in the protein.“ (Crick 1958, 152f) Crick postulierte zu diesem Zeitpunkt den Zusammenhang, der später zwischen Transkription (DNS->RNS) und Translation (RNS->Protein) bestätigt werden sollte. Zu diesem Zeitpunkt haben die beiden Theorien Hypothesenstatus, somit bloß heuristische Bedeutung; sie sollten die bestehenden Vermutungen um die zugrundeliegenden Funktionszusammenhänge bündeln, damit diese experimentell nachgewiesen bzw. widerlegt werden konnten. Cricks Sequenzhypothese erweist sich durch den später entdeckten genetischen Code als korrekt. Auch die Unidirektionalität des Informationsflusses wurde bestätigt; für den entgegengesetzten Informationsfluss fehlen Belege.36 35 Dieses Datum bezieht sich auf sein Arbeitspapier Ideas on Protein Synthesis – das Dogma wurde erst 1958 publiziert. 36 Da Retroviren ihre RNS in DNS umwandeln und diese in die Wirts-DNS ein­ fügen können, wurde das zentrale Dogma fälschlicherweise bezweifelt. Das Dogma meint aber die Beziehung zwischen DNS und Protein (Crick 1970).

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Im Verlauf der folgenden Forschung verlor das zentrale Dogma seinen Hypothesenstatus, und es entwickelte sich zu einem Grundpfeiler der modernen Biologie. Zwar beschränkte sich seine anfängliche heuristische Wirkung auf die Proteinbiosynthese, seine heutige Bedeutung geht aber über die Biochemie hinaus; das zentrale Dogma der Molekularbiologie hält Einzug in andere Theorien. Maynard Smith weist auf eine wichtige Parallele hin: Cricks zentrales Dogma verhält sich isomorph zur Weismann-Doktrin, wonach Entwicklungszustände keinen Einfluss auf Erbanlagen haben.37 Obgleich Maynard Smith damit auf evolutionstheoretische Zusammenhänge verweist, ist dieser Bezug hilfreich, um die Beziehung zwischen dem zentralen Dogma und dem eGD zu klären. Gemäß der Isomorphie ist ein Entwicklungseinfluss auf die Vererbung auszuschließen.38 Die Kontinuität des Keimplasmas, bzw. der DNS steht der Diskontinuität des Körperplasmas bzw. des Proteins entgegen. Wie folgende Graphik zeigt, ist der Grundgedanke der Theorien gleich.

Abb. 6: Isomorphie von Weismann-Doktrin (links) und zentralem Dogma (rechts)

Das Keimplasma (G) bzw. die Basensequenz (DNS) stellen die unveränderliche Ausgangsbasis für veränderliche Körperzustände (S) bzw. das Protein (P) dar; erstere sind unabhängig von letzteren. Da beide Konzepte von einem unilinearen Informationsfluss ausge37 Die Kernthese ist die sog. Weismann-Barriere, die von fehlenden Rück­kopp­ lungsmechanismen seitens Körperzellen ausgeht. Zwei Möglichkeiten kämen in Frage: „Entweder vorgebildete Leitungswege, auf welche ein freilich ganz unfassbarer umstimmender Einfluss den Keimzellen zugeführt wird, oder Ab­ gabe materieller Teilchen von Seiten des abgeänderten Organs, die Anteil am Aufbau des Keimplasmas nähmen; ein Drittes gibt es nicht“ (Weismann 1892, 515). Ohne Rückkopplung finden erworbene Eigenschaften (1, II, 3.3.3) keinen Niederschlag in den Keimzellen. 38 Maynard Smith argumentiert gegen Lamarcks These der Vererbung erworbener Eigenschaften: „If an organism is raised in a new environment, this may alter the relative amounts or dispositions of different types of protein molecules, in such a way as to render the organism better able to survive the new conditions. But, if the central dogma is true, this cannot cause an equivalent change in the hereditary material or DNA, and cannot cause the adaptations to be transmitted to the next generation“ (Maynard Smith 1993, 79). Die DNS bleibt unverändert.

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hen, handelt es sich um ein einseitiges Determinationsverhältnis. Cricks zentrales Dogma bringt dies auf den Punkt: „Once information has got into a protein it can’t get out again” (Crick 1958, 153). Die Graphik verdeutlicht eine im Gendiskurs oft nur implizit vorgebrachte Behauptung. Da diese erst zu einer problematischen Engführung des zentralen Dogmas mit dem eGD führt, ist es hilfreich, darauf einzugehen. Aufgrund ihrer Strukturähnlichkeit scheinen die beiden Modelle nämlich austauschbar zu sein. Tatsächlich sind sie es nicht. Das Determinationsverhältnis des zentralen Dogmas bezieht sich lediglich auf molekulargenetische Zusammenhänge zwischen der DNS und dem Protein und sagt – anders als der eGD – nichts über phänotypische Zustände aus. Bei genauerer Betrachtung eignet sich das zentrale Dogma nicht als theoretisches Konzept des eGD, da zwischen der Ebene des Proteins und der des Phänotyps eine Erklärungslücke klafft. Der eGD entspringt einer Vermischung beider Modelle. Erst ihre Zusammenführung dehnte die Determination über die Proteinebene hinaus auf jene Entwicklungsebene des Phänotyps aus. Hier ist auf eine weitere Berichtigung hinzuweisen. Der Wissenschaftshistoriker James Griesemer (2005; Griesemer & Wimsatt 1989) zeigt, dass die im ersten Modell dargestellte Reduktion der Entwicklung auf die Vererbung nicht Weismanns eigenem Denken entsprach, sondern das Ergebnis einer Tradierung (Weismannismus) ist. Weismanns eigene Darstellungen beziehen sich nicht auf ein linear verlaufendes Kontinuum der Vererbungsfaktoren, sondern dieser wies auf die Entwicklungsnotwendigkeit der Keimzellen hin.39 Von diesen Entwicklungsschritten wurde aber in späteren Darstellungen abstrahiert,40 sodass es scheint, ausschließlich Erban39 Weismann schreibt: „Für diese Fälle also ist es sicher, dass echte somatische Zel­ len in der Keimbahn liegen: für alle Fälle gilt aber, dass die Zellen der Keimbahn noch keine Keimzellen sind, und dass sie einen Anteil am Aufbau des Somas ha­ ben. Wenn wir nun weiter bedenken, dass sehr zahlreiche somatische Zellen ir­ gendeine Art von Neben-Idioplasma enthalten, sei es für die Regeneration oder die Knospung, so kann wohl nicht angenommen werden, dass durch eine solche Beigabe der Charakter des somatischen Zelle aufgegeben werde; oder besser; ich sehe keinen Vorteil darin die Bezeichnung der somatischen Zelle einer Zelle der Keimbahn zu verweigern“ (Weismann 1892, 259). 40 Edmund Wilsons The Cell in Development and Inheritance (1896) ist hier von Bedeutung. Als auflagestarkes Lehrbuch (1896; 1900; 1925; 1966) prägte es das Denken ganzer Generationen von Biologen. Im Verlauf der Auflagen werden zwei Abweichungen von Weismann vorgenommen. Erstens wird eine generati­ onsübergreifende Darstellung gewählt, womit der Vererbungsaspekt in den Vor­

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lagen determinierten den Phänotyp. Erst nach dieser Abstraktion von der Entwicklung besteht Strukturähnlichkeit zum zentralen Dogma. Die so konstruierte Isomorphie suggeriert die Gleichsetzbarkeit der DNS mit dem Keimplasma, wonach erstere die Entwicklung determinierte. Griesemer zeigt, dass erst der Weismannismus als Hintergrundtheorie das gendeterministische Denken prägt. Der eGD lässt sich anhand des zentralen Dogmas als Kontrastfolie auf den Punkt bringen. Er weicht in zweifacher Hinsicht von diesem ab. Zum einen im Hinblick auf das Ziel, den Phänotyp – diese Überdehnung wurde gerade besprochen. Zum anderen im Hinblick auf den Startpunkt. Die Unidirektionalitätsthese des zentralen Dogmas wird in eine Unikausalitätsthese ausgedehnt, d. h. der eGD trifft eine weitere Aussage über die genetische Initiierung des Informationsflusses. Analog zum Präformismus hat die Umwelt danach den Status eines Ernährungssubstrats, d. h. sie hat keinen Einfluss auf die Ausprägung des Phänotyps. Danach ist es zwar wichtig, dass es eine Umwelt gibt, aber es ist egal, um welche es sich handelt. Entsprechend fällt die Ausprägung des Phänotyps gemäß des eGD in unterschiedlichen Umwelten stets gleichförmig aus – da der Genotyp als einzige Information verstanden wird, determiniert dieser den Phänotyp vollständig. Im Folgenden wird auf den Informationsbegriff eingegangen und aus molekularbiologischer Sicht werden genetische und epigenetische Modifikationen auf ihren Informationsstatus geprüft. 3.1.2 Verschränkte Informationssysteme Im theoretischen Gendiskurs wurde die Rede um eine genetische Information vielfach kritisiert.41 Allgemeiner Konsens dieser bereits historischen Debatte ist, dass der Informationsbegriff in der dergrund drängt. Zweitens wird das Verhältnis von Körper- und Keimzellen ab­ weichend von Weismanns Denken wiedergegeben und damit der Entwicklungs­ aspekt systematisch ausgeblendet. Anstatt des Keimplasma- wird das Keimzell-­ Kontinuum behauptet. Griesemer & Wimsatt (1989, 115ff) weisen fünf weitere Abstraktionen nach: 1. Asexueller Reproduktionakt; 2. Gleichstellung von Kör­ perzellen und Phänotyp; 3. Aussparen des Umweltbezugs; 4. Unklarer Selek­ tionsansatz (Organismus/Gene); 5. Ausgeblendete Mutationseffekte. 41 Die letzte wichtige Debatte zum Informationsbegriff der Biologie fand in der Zeitschrift Philosophy of Science statt: (Maynard Smith 2000a,b; GodfreySmith 2000; Sarkar 2000; Sterelny 2000; Winnie 2000; Griffith 2001; Jablonka 2002). Grundlegende Gedanken zu folgender Informationsanalyse habe ich frü­ her ausgearbeitet (Schuol 2009, 64-68).

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Biologie metaphorisch verwendet wird. Hier wird die Informationskritik vorerst nicht wieder aufgenommen, sondern es wird gezeigt, dass, wenn von einer genetischen Information auf molekularer Ebene gesprochen wird, man nicht umhin kommt, diese als Information unter anderen Informationen zu verstehen. Im Rahmen der epigenetischen Genregulation wird gezeigt, dass die auf der Ebene der Basensequenz der DNS konservierte genetische Information die Existenz einer epigenetischen Information voraussetzt. Diese beiden Informationssysteme sind notwendigerweise miteinander verbunden, d. h. wenn einem der Systeme der Informationsstatus abgesprochen wird, verliert damit auch das andere System seinen Status als Information. Auf der molekularen Funktionsebene befinden sich beide in einem reziproken Abhängigkeitsverhältnis. Gemäß einem basalen Verständnis weist Information, somit auch die genetische Information, folgende drei Aspekte auf: „Die Syntax betrifft das Auftreten einzelner Informationseinheiten und ihre Beziehungen untereinander. Die Semantik betrifft die Bedeutung der Informationseinheiten und ihre Beziehungen untereinander. Die Pragmatik betrifft die Wirkung der Informationseinheiten und ihre Beziehungen untereinander” (Lyre 2002, 16 – kursiv S. Sch.). Im Folgenden wird gezeigt, dass die genetische Information diese Anforderungen durchaus erfüllt. Zunächst zur Syntax des Informationsbegriffs.42 Die vier Grundelemente der genetischen Information, die Basen Adenin, Thymin, Guanin, Cytosin, gelten danach als Informationssymbole und sind linear in der Basensequenz angeordnet. Drei aufeinanderfolgende Basen bilden ein Basentriplett, also die syntaktische Größe des Codes, welcher jeweils mit einer Aminosäure korrespondiert.43 Danach gilt folgender Zusammenhang: „Die Codons entsprechen den Wörtern der ‚genetischen Sprache‘. Nach der gängigen Definition wird dann derjenige Abschnitt auf der DNS, der für ein Polypeptid bzw. Protein codiert, als Gen bezeichnet. Die Gene entsprechen den

42 Hier handelt es sich um eine stark verkürzte Darstellung des Syntaxaspektes. Weitere hier wichtige Begriffe, wie Informationsspeicher, Komplexität, De- und Enkodierung usw. müssen im Rahmen dieser Arbeit ausgelassen werden. 43 Von allen 64 möglichen Codes kodieren nicht alle für Protein. Es gibt auch Start-­ und Stopcodes. Darüber hinaus repräsentieren mehrere Codes (von 64 mögli­ chen) eine Aminosäure (von 21 möglichen) – d. h. der Code ist degeneriert.

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Sätzen der genetischen Sprache, der Gesamttext ist dann das Genom.“ (Ebd., 93)44 Der syntaktische Aspekt der genetischen Information stellt vorerst nur ein Rahmenwerk dar. Die Information muss nämlich über ihre eigene Symbolik hinaus weisen, um semantische Information zu sein – sie erfüllt eine Funktion. Hier gilt allerdings eine Besonderheit. Semantik und Pragmatik werden miteinander verbunden als sog. semantopragmatischer Aspekt verstanden. Man sagt, „dass sich der semantische Aspekt über den pragmatischen Aspekt operationalisieren lässt” (ebd., 96). Die Bedeutung der genetischen Information erschließt sich dabei aus ihrer Funktion für die Lebensprozesse der Zelle. Der semantische Aspekt wird somit vom pragmatischen, dem Nutzen des informationsverarbeitenden Systems, abgeleitet. Ob es sich um Information handelt, wird also an den Folgen erkannt. Zusammenfassend ist festzuhalten: „Der semantopragmatische Aspekt der genetischen Information liegt in der Funktionalität der aus ihr erzeugten Proteine. Wie bei jeder Art von Information ist auch hier die syntaktische Struktur in Form der Nukleotidfolge nur bedeutsam, weil sie in der Zelle bzw. für den Organismus bestimmte Wirkungen ausübt“ (ebd., 96). Die genetische Information erfüllt wegen der Funktionalität des exprimierten Proteins den semantopragmatischen Aspekt. Sie weist alle drei Dimensionen der Informationstheorie auf. Im Folgenden wird auf den zeitlichen Aspekt der Information eingegangen. Die Proteinbiosynthese verläuft im Lebensvollzug der Zelle auf eine bestimmte Weise – sie wird konzertiert, wie man sagt; ihre Aktivität wird funktionsabhängig reguliert. Die genetische Information ist im zeitlichen Zusammenhang der dynamischen Lebensprozesse zu verstehen. Da nicht alle Gene gleichzeitig, sondern selektiv transkribiert werden, wird die genetische Information

44 Nicht die gesamte Basensequenz stellt Gene dar. Beim Menschen macht die proteinkodierende Information lediglich 2-3 % der gesamten Sequenz aus. Die restlichen Abschnitte wurden aufgrund des fehlenden Proteinbezugs früher von manchen Genetikern als „junk-DNA“ bezeichnet. Dabei ist die indirekte Pro­ portionalität hinsichtlich möglicher (gesamte Basensequenz) und tatsächlicher (proteinkodierende Sequenzen) Information zwischen „einfachen“ und „höhe­ ren“ Lebewesen interessant. Erstere weisen zwar ein kleineres Genom auf – das Verhältnis möglicher zu tatsächlicher Information ist proportional höher, als das komplexer Organismen. Der hohe Anteil nichtcodierender DNS scheint bei „höheren“ Organismen eine weitere regulative Funktion, jenseits der Protein­ synthese, zu haben.

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weiter präzisiert. Aktive Gene nehmen einen anderen Stellenwert ein als inaktive – daher unterscheidet man aus informationstheoretischer Sicht aktuelle und potentielle Information. Im Lebensprozess der Zelle stellt die aktuelle genetische Information dabei die gegenwärtig umgesetzte Information dar. Ausschließlich diese findet ihren Widerklang im Protein. Davon unterscheidet sich die potentielle Information. Zwar bleibt bei dieser der syntaktische Aspekt natürlich weiter bestehen, aber ohne ihre Umsetzung in das Protein erfüllt die potentielle Information die semantopragmatische Anforderung nicht. Sie entspricht damit den inaktivierten Genen. Da diese aber später aktiviert werden können, also weiterhin Informationscharakter haben, gelten sie als potentielle Information. Der Übergang zwischen den Aktualitätszuständen der genetischen Information wird im Lebensvollzug durch intra- und ex­ trazelluläre Signale koordiniert. Das Chromosom entspricht wegen dieser Affizierbarkeit einem dynamischen Biomolekül. Im zeitlichen Ausschnitt der Genprozesse hat nur ein Bruchteil der Gene den Status aktueller Information. Diese ergibt zusammen mit der verbleibenden potentiellen Information das Genom. Da die aktuelle genetische Information die Veränderbarkeit ihres Aktualitätsstatus immer schon voraussetzt, müssen die dafür notwendigen regulierenden Strukturen ebenfalls vorausgesetzt werden. Der Untersuchung der Genregulation widmet sich die molekulare Epigenetik. Im Folgenden wird auf den informationstheoretischen Stellenwert regulativer epigenetischer Modifikationen eingegangen. Der genetischen Information wird oft die zentrale Stellung zugesprochen. Hier wird gezeigt, dass die Rede von einem genetischen Informationsmonopol im Kontext der Lebensprozesse keinen Sinn macht. Die epigenetischen Modifikationen erfüllen in ihrer regulativen Funktion ebenfalls obere Anforderungen. Eine Informationshierarchie ist gemäß dieser Regulation fraglich. Die Informationsanalyse deckt ein Abhängigkeitsverhältnis auf: Der Genzentrismus wird durch das lebensnotwendige Zusammenspiel regulierender Elemente und regulierter genetischer Information außer Kraft gesetzt. Nach der Informationstheorie gilt nämlich: Information setzt immer Kontextualität voraus. Die notwendige Voraussetzung dieser Dualität ergibt sich aus dem semantopragmatischen Aspekt des Informationsbegriffs. Die genetische Information kann nur im übergeordneten Funktionszusammenhang als Information verstanden werden. Mit Lyre gilt: „Ein DNS-Strang auf dem Mond würde, falls chemisch überhaupt stabil, jedenfalls keine genetische Information https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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mehr darstellen, da ihm die durch die Zellumgebung bereitgestellte Semantik fehlt“ (ebd., 206). Die den dynamischen Ablauf der genetischen Information regulierenden Strukturen sind notwendig, da sie die zellspezifische Proteintranskription, somit Lebensprozesse insgesamt, generieren. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass Lebensprozesse nicht auf genetische Information reduziert werden können. Es ist unmöglich, einen Wertunterschied zwischen der genetischen Information und ihrem regulativen Kontext zu machen. Beide sind für die Funktion der Zelle, ja den Lebensvollzug insgesamt, unverzichtbar. Die Bedeutung des regulativen Kontexts verdeutlicht die informationstheoretische Aufbereitung. Zum funktionalen Erhalt der Zelle muss die Proteinsynthese flexibel auf wechselnde Zustände reagieren. Diese selektive Verarbeitung genetischer Information verweist auf die Mitverarbeitung epigenetischer Information. Ein Teil dessen, was aus Perspektive der genetischen Information als unförmiger Kontext gesehen wurde, setzt gezielt Signale der Umwelt um, sodass die Zelle adäquat auf die konkrete Situation reagieren kann. Dies lässt auf eine weitere Informationsquelle außerhalb der DNS schließen. Die genetische Information ist auf koordinative Elemente angewiesen. Aufgrund dieses Abhängigkeitsverhältnisses verliert die Basensequenz ihren Status als einziger Informationsträger des Lebens. Jenseits der genetischen werden weitere Informationen verarbeitet. Eine Hierarchie der Informationen kann aus der Perspektive des Lebensprozesses nicht festgestellt werden. Während vorhin allgemein dargestellt wurde, dass die Semantopragmatik genetischer Information den Genzentrismus entkräftet, wird folgend auf ihre regulative Funktion im Speziellen eingegangen. Es kann mit Recht von epigenetischer Information gesprochen werden. Dass Gene kein Informationsmonopol, sondern eine Information unter weiteren Informationen darstellen, wird am Fallbeispiel Histon-Modifizierung gezeigt. Dabei fange ich mit den drei Aspekten der epigenetischen Information an. Unter dem Histon-Code versteht man einen Teilbereich eines übergeordneten epigenetischen Codes, welcher zur Genregulation beiträgt. Der Histon-Code erfüllt den syntaktischen Aspekt der Informationstheorie und ist im größeren Zusammenhang zu sehen.45 Wie bereits gezeigt, bilden Histone spezifische Bindungen aus und diese führen zur „Verpackung“ 45 Zur Gültigkeit des Histon-Codes Jenuwein & Allis (2001). Zu seiner regulativen Funktion Agalioti et al. (2002).

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der DNS (1, II, 3.2.2). Ihre Wechselwirkungen mit der Doppelhelix der DNS verursachen die Veränderung der räumlichen Chromatinstruktur und führen zum Hetero-, bzw. Euchromatin. Dass diese Verdichtung eine regulierende Funktion für die proteinkodierenden Zellen hat wurde dargestellt. Die Ursache dieser Konformationsänderungen ist die Modifikation der Histone. Da spezifische Histonmodifikationen zu spezifischen räumlichen Veränderungen der DNS-Struktur führen und damit ein eineindeutiges Verhältnis zwischen der Modifikation und Regulation besteht, spricht man von einer Kodierung. Der Histon-Code erfüllt damit den Syntax-Aspekt. Diese Histonmodifikationen erfüllen darüber hinaus aber auch den semantopragmatischen Aspekt. Die eben dargestellten Strukturänderungen entscheiden über den Aktualitätsstatus genetischer Information. Ob ein Gen aktuelle oder bloß potentielle Information darstellt, wird epigenetisch reguliert. Dieser semantopragmatische Aspekt der epigenetischen Information wird am Beispiel der regulierten Zelldifferenzierung verdeutlicht. Die epigenetischen Modifikationen koordinieren die Genregulation, die sich phänotypisch in der konkreten Funktion des bestimmten Zellentyps widerspiegelt. Obwohl jede ausdifferenzierte Zelle eines Organismus die gleiche Basensequenz besitzt, führt ausschließlich die epigenetisch aktualisierte genetische Information zu der konkreten phänotypischen Zellfunktion. Das heißt, die verschiedenen Zelltypen eines Organismus belegen durch ihre unterschiedliche Funktion den semantopragmatischen Aspekt der epigenetischen Information. Die Histonmodifizierung erfüllt also ebenfalls alle drei Aspekte von Information. Am Fallbeispiel der Histonmodifizierung wird klar, dass auch auf der Proteinebene von Information gesprochen werden kann und dass diese eine wichtige Bedeutung für die genetische Information hat.46 Verallgemeinernd wird die genetische Information, welche Protein kodiert von der epigenetischen Information, welche die Proteinsynthese reguliert, unterschieden. Ohne die regulierende epigenetische Information ist die koordinierte Expression der Gene unmöglich; da 46 Darüber hinaus weisen die Histonmodifizierungen ebenfalls einen zeitlichen As­pekt auf. Dies wird von Jablonka (2002) verdeutlicht. Die codetragenden Ami­­ no­säuren im Histon liegen nicht immer modifiziert vor. Intra- und extrazelluläre Sig­nale bewirken die Modifizierungen, die sich in der regulierten Genaktivität ausdrücken. Somit ist auch hier zwischen aktueller und bloß potentieller Infor­­ mation zu unterscheiden. Die aktuelle Histoninformation führt zur Regulation der Chromatinstruktur (2, III). Die Strukturänderungen ermöglichen die selek­­ tive Prteinsynthese.

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ihr zeitlicher Aspekt, die Unterscheidung in aktuelle und potentielle genetische Information, aufgehoben wäre, würde sich ihre Informationsbedeutung verlieren. Die Rede von Information verlöre ihren Sinn. Das gilt natürlich auch vice versa. Ohne genetische Information würden keine Proteine exprimiert, somit auch keine Histone existieren. Daher muss man sinnvoller Weise von einem geschlossenen Interaktionsprozess sprechen. Ihre gegenseitige Abhängigkeit im Lebensvollzug spricht gegen eine wertende Unterscheidung. Genetische und epigenetische Information stehen in einem reziproken Abhängigkeitsverhältnis. Beide Systeme sind also im Kontext der Lebensprozesse gleichwertig. Wegen der Abhängigkeit kann es weder ein Informationsmonopol, noch eine -hierarchie geben. Zwar ist es richtig, dass hier ein Informationsrückfluss auf die DNS stattfindet, aber das widerlegt die Unidirektionalitätsthese des zentralen Dogmas nicht. Cricks Information bezieht sich nämlich auf die Basensequenz der DNS; sie spiegelt sich in der Aminosäuresequenz des Proteins wider. Nach der vorangehenden Informationsanalyse ist hiermit die genetische Information gemeint. Derart präzisiert schließt das zentrale Dogma nicht den Informationsrückfluss per se aus, sondern lediglich die Veränderung der Basensequenz. Da aber die epigenetische Information lediglich den temporären Aspekt der genetischen Information betrifft, d. h. inaktivierte Gene später wieder aktiviert werden können, widerlegt diese Interaktion der beiden Informationssysteme das zentrale Dogma nicht. Die epigenetische Genregulation spricht aber gegen den eGD, wonach alleine die Gene den Phänotyp bestimmen. Welche Gene wann in welchem Ausmaß exprimiert werden, wird wesentlich durch das epigenetisch wirksame intrazelluläre Milieu gesteuert, welches als „molekularer Spiegel der Umwelt“ gilt (vgl. Cooney 2007). Dass diese umweltbedingte Genregulation erheblichen Einfluss auf die phänotypische Entwicklung hat, wurde neben zahlreichen Pflanzen- und Tierstudien auch bei Menschen bewiesen. Die epigenetische Prägung physiologischer Regelsysteme (z. B. das Hormonsystem) in frühkindlichen Entwicklungsphasen ist von besonderer Bedeutung, da damit die Verursachung von Zivilisationskrankheiten in Verbindung gebracht wird. Dies ist aber das Thema des zweiten Abschnittes dieser Arbeit. Hier wurde gezeigt, dass die Epigenetik dem eGD widerspricht; erstens, da genetische Information stets epigenetische Information voraussetzt, und aufgrund dessen zweitens ein einzelnes Genom in viele verschiedene Phänotypen umgesetzt werden kann.

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3.2 Verdeckter Gendeterminismus Im Folgenden wird auf Lemkes These, wonach die Netzwerklogik der Postgenomik einen neuen Gendeterminismus befördert, im engeren Rahmen der Epigenetik eingegangen. Oben wurde die Interaktion der Informationssysteme auf der molekulargenetischen Ebene behandelt. Hier wird eine populärwissenschaftliche Redeweise dieser Interaktion problematisiert. Da der davon ausgehende Gendeterminismus keine reale Existenz hat, sondern Folge unklarer Redeweise ist, wird dieser Punkt nur kurz behandelt. Abschließend wird ein allgemeiner Lösungsvorschlag gemacht. 3.2.1 Asymmetrische Informationsinteraktion Da die hier verdeckt genannte Version des GD (vGD) meines Erachtens in der Literatur noch nicht behandelt wurde, ist es hilfreich, sie vom eGD abzugrenzen und den vGD auf dieser Basis einzuführen. Das beste Beispiel zur Widerlegung des eGD stammt aus der Zwillingsforschung. Seit ihrem Beginn im 19. Jh. (Galton 1875) spielt diese in der Natur/Kultur-Debatte eine zentrale Rolle, und dieses Forschungsparadigma wird von der Epigenetikforschung aufgegriffen. Hier ist die Arbeit mit eineiigen Zwillingen besonders interessant, da phänotypische Abweichungen aufgrund des gemeinsamen Genoms einzig durch die Umweltwirkungen erklärt werden können. So zeigten Fraga et al. (2005) als erste, dass sich das Genaktivitätsmuster eineiiger Zwillinge im Alter von 3 Jahren gleicht, sich dann aber proportional zum Lebensalter auseinander entwickelt. Ursächlich dafür wird ihre Abweichung von der frühen gemeinsamen Umwelt erachtet. Daran anknüpfend untersuchen nun ätiologische Studien die epigenetischen Abweichungen von Zwillingspaaren mit unterschiedlichem Krankheitsprofil. Dabei wird die Krankheitsursache in die Umwelt verlagert, die – so die Annahme – die pathogene Deregulation der Genaktivität bewirkte. Von einem Genom können also umweltabhängig mehrere Phänotypen entwickelt werden. Aber widerlegt diese Betonung der Gen/ Umwelt-Interaktion durch die Epigenetik den Gendeterminismus wirklich? Gen/Umweltinteraktionen werden in der Heritabilitätsforschung meist quantitativ ermittelt, d. h. der relative Anteil, den das Genom bzw. die Umwelt bei der Merkmalsentwicklung spielt, wird berechnet. Hier weise ich auf einen qualitativen Aspekt hin https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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und beziehe mich damit auf die Art und Weise, wie genetische bzw. epigenetische Information in populärwissenschaftlichen Artikeln üblicherweise thematisiert wird. Wenn hier von einer Interaktion ausgegangen wird, bleibt unklar, welche Informationsart gemeint ist. Die Philosophen Martin Mahner und Mario Bunge zeigen, dass Information im biologischen Diskurs sechs unterschiedliche Bedeutungen haben kann (2000, 275ff). Das Wort ist also mehrdeutig. Im Folgenden ist die durch den Philosophen Paul Griffith eingeführte Unterscheidung zwischen kausaler und intentionaler (Sterelny & Griffith 1999, 101; Griffith 2006, 182ff) bzw. semantischer Information (Griffith & Stotz 2013, 160ff) wichtig. Die kausale Information bezieht sich auf den Ordnungsgrad (Negentropie) eines Systems und sie kann mathematisch erfasst werden. Ihr Informationswert wird in der Einheit Bit gemessen. Liegt wie im Falle von Datenverarbeitungssystemen, die auf der Basis eines Binärcodes arbeiten (Strom an/aus), einer von zwei möglichen Zuständen vor, so entspricht das dem Informationswert 1 bit. Da kausale Information stets quantitativ gemeint ist, hat sie keinerlei Bezug zum Gendeterminismus. Die intentionale oder semantische Information entspricht dem alltäglichen Informationsbegriff, wobei Information eine Instruktion meint. Da sie erst die Zielgerichtetheit von Information behauptet – man denke an einen Bauplan –, bezieht sich der Gendeterminismus auf diesen Begriff. Danach enthalten Gene die Instruktionsanleitung der phänotypischen Entwicklung (Gen x für Merkmal X). Den vGD erläutere ich im Kontext der Gen/Umwelt-Interaktion. Die Philosophen Paul Griffith und Robin Knight (1998, 254) weisen darauf hin, dass, wer eine solche Interaktion behauptet, von einer Gleichwertigkeit der Interaktanden ausgeht. Es wurde gezeigt, dass auf molekularer Ebene keine Wertunterschiede bestehen. Diese Parität wird allerdings in der Praxis nur selten beachtet. Mit den jeweiligen Informationsträgern wird meist eine unterschiedliche Bedeutung assoziiert. So gilt die Methylierung der Base Cytosin im Vorbereich eines Gens als eine regulative Information, da diese den genetischen Aktivitätszustand festlegt (Abbildung 5). Aus dieser Sicht ist jedes Gen auf epigenetischer Ebene binär kodiert und hat den Informationswert 1 bit (Gen an/aus) – im Falle des epigenetischen Informationsträgers Methylierung ist also die kausale Information gemeint. Dagegen wird die Basensequenz gemeinhin als eine morphogenetische Information behandelt. Zwar wird die genetische Information reguliert, aber einzig die Basensequenz des https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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Gens „enthält“ die für die Formgenese entscheidende Information. Hier ist die intentionale Information gemeint. Wird die Gen/Umwelt-Interaktion in diesem Sinne verstanden, so bezieht man sich weiterhin auf eine genetische Präformation des Phänotyps. Anders als im Falle des eGD bestimmt das Genom den Phänotyp nicht im Verhältnis 1 : 1, sondern 1 : x, da das Genaktivitätsmuster des Organismus umweltabhängig festgelegt wird. Der Phänotyp liegt danach im aktivierten Teil des Genoms vor. Dabei ist vor Verallgemeinerungen zu warnen. Hier soll weder die Zwillingsforschung noch die Epigenetik per se als gendeterministisch bezeichnet werden. In ihrem Rahmen soll lediglich eine Art und Weise problematisiert werden, wie über epi-/genetische Information gesprochen wird. Die Erklärung wissenschaftlicher Zusammenhänge wird z. B. oft durch Alltagsbilder erleichtert. Zur Erläuterung der Epigenetik wird z. B. die Bibliothek als eine solche Metapher verwendet (vgl. Fischer 2013, Vivamus 2014, Staege 2014). Danach repräsentiert die Bibliothek das Genom eines Organismus und die Bücher dessen Gene. Über einen Sachverhalt, z. B. den Modellflug, informiert lediglich eine bestimmte Buchauswahl. In der Metapher stellt der Auswahlprozess die epigenetische Regulation der Gene dar und die ausgeliehenen Bücher entsprechen den aktiven Genen – sie enthalten die gesuchte Information. Analog zu den im Regal gebliebenen Büchern wird die Information inaktivierter Gene nicht aktualisiert. Zwar sind sowohl der Auswahlprozess (Genregulation) als auch die Bücher (Gene) wichtig und auf keinen Teil kann verzichtet werden, aber ausschließlich die ausgeliehenen Bücher enthalten jenes Wissen, das später beim Modellbau handlungswirksam werden kann. Gemäß dieser durchaus populären Metapher zur Erklärung der Epigenetik enthalten als einziges die Bücher, bzw. ihr Pendant die Gene, intentionale Information. Wenn in populärwissenschaftlichen Publikationen die Widerlegung des Gendeterminismus durch die Epigenetik behauptet wird, im Gleichzug damit aber bei der Erklärung der Epigenetik auf Metaphern zurück gegriffen wird, welche Gene als intentionale Information darstellen, fördert das den vGD.47 Dies hat eine weitere Folge. Da die Widerlegung des eGD vorgibt, das Problem gelöst zu haben, 47 Wolpert (1998) erinnert an eine ähnliche Situation. Zu Beginn der Gentech­ nik wurde der Gendeterminismus in bioethischen Debatten kritisiert. Spätere Debatten problematisierten das Klonen, weil dies den Klonkindern den freien Entwicklungshorizont verstelle. Der Gendeterminismus wird dabei von den

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wird der vGD von der „Lösung“ verdeckt und bestimmt nun unterschwellig unser Denken über Gene. Hier wurde gezeigt, dass die Betonung der Gen/Umwelt-Interaktion unter Umständen den vGD nicht widerlegt. Da dieser durch ein spezifisches Verständnis von Information verursacht wird, muss seine Auflösung tiefer, d. h. am Informationsbegriff ansetzen. 3.2.2 Konstruktion von Information Während der Philosoph Philip Kitcher (2001) die Ursache des Gendeterminismus in problematischen, d. h. allzustarken Vereinfachungen des wissenschaftlichen Wissens sieht und ihn daher mit entsprechendem Aufwand für vermeidbar hält, geht die Entwicklungspsychologin Susann Oyama (1985) von einer systematischen Ursache aus. Da danach unser begriffliches Denken über Gene betroffen ist, hilft Kitchers Sorgfaltsgebot nicht weiter (vgl. Griffith 2006). Ohne eine Begriffsbereinigung wäre jeglicher Widerlegungsversuch bereits im Voraus zum Scheitern verurteilt, da der Gendeterminismus aufgrund seiner begrifflichen Verwurzlung nach kurzfristigem Zurückdrängen im neuen Zusammenhang wieder „aufersteht“. Oya­ mas Vorschlag zur nachhaltigen Lösung dieses „unsterblichen“ Gendeterminismus lautet daher folgendermaßen: „What we need here, to switch metaphors in midstream, is the stake-in-the-heart move, and the heart is the notion that some influences are more equal than others, that form, or its modern agent, information, exists before the interactions in which it appears and must be transmitted to the organism either through the genes or by the environment.” (Oyama 1985, 26f) Das entscheidende Moment in Oyamas Ratschlag bezieht sich auf eine prozessuale Betrachtung der Gen/Umwelt-Wirkungen, wobei Information nun als Produkt der Interaktion gesehen wird. Vor der Interaktion enthalten weder die Umwelt noch die Gene Information. Während Oyamas Lösungsvorschlag in epistemischer Hinsicht einfach zu sein scheint – bedarf dies doch „nur“ eines Umdenkens der Information von einer Ursache zu einer Wirkung –, ist sie aber auf ontologischer Ebene voraussetzungsreich. Ihre Position markiert einen Perspektivenwechsel von einer essentiellen ehemaligen Kritikern propagiert, da sie das Risiko des Klonens durch die An­ nahme begründen, Entwicklung könne genetisch programmiert werden.

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Sichtweise, wonach Information als Eigenschaft eines Dings (Gen) verstanden wird zu einer prozessualen Sichtweise, wonach Information als eine Prozessfolge gilt. Als Begründerin der evolutionstheoretischen Strömung Developmental Systems Theory (DST) möchte Oyama den Gen/Umwelt-Dualismus lösen. Dazu muss sie allerdings am Interaktionsbegriff ansetzen, weil Interaktion die ontologische Unabhängigkeit der beiden Interaktanden voraussetzt. Der entscheidende Punkt betrifft hier das Objekt der Evolution. In Darwinscher Denktradition geht man ausschließlich von der Evolution der biologischen Arten aus. Danach hat die Umwelt zwar Einfluss auf die Gene (natürliche Selektion), aber beide Bereiche werden auf ontologischer Ebene als eigenständige Entitäten behandelt. Dagegen geht die DST von einer wechselseitigen Abhängigkeit aus, wonach Umwelt und Gene in einem Entwicklungssystem gemeinsam evolvieren. Die Teilbereiche sind abhängig voneinander. Zwar können sie begrifflich getrennt werden, da aber Begriffe menschengemacht sind und selten die Natur der Dinge erfassen, beginge man einen Fehler, Gene bzw. Umwelt als unabhängig existierende Entitäten zu behandeln. Aus dieser Sicht führt der Gen/UmweltDualismus in seiner Konsequenz in einen einseitigen Determinismus. Dies gilt, weil die Frage nach einer Erstursache sich überhaupt erst auf dieser dualistischen Vorannahme stellen lässt, ihre Beantwortung aber notwendig die Reduktion einer Seite erfordert. Welchen Status haben aber Gene, bzw. Umwelt in der DST? Hier gelten sie als eine Ressource; erst im Entwicklungsprozess wird aus ihnen eine semantische Information generiert. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass jene Phänomene, die den Gendeterminismus plausibel erscheinen lassen, durchwegs auch aus einer Ressourcen-Per­ spektive erklärt werden können. Fehlen nämlich bestimmte Genprodukte, sei es weil die codierenden Gene nicht existieren (Stückverlust), mutiert sind (disfunktionales Protein) oder inaktiviert wurden, stehen sie dem Entwicklungssystem nicht mehr als Ressource zur Verfügung, sodass der Entwicklungsverlauf vom Normalfall abweicht. Derartige Abweichungen können auch durch überzählige Gene (Trisomie 21) oder ein ähnliches Ungleichgewicht auf Seiten der Umwelt verursacht werden. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, dass die phänotypischen Abweichungen nun nicht durch präexistente Instruktionen gelenkt, sondern durch eine Veränderung des gesamten Entwicklungssystems verursacht wurden. Der Ressourcenbegriff könnte und sollte daher den vorbelasteten Informationsbegriff ablösen. https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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Zur Erweiterung des Genbegriffes

Obwohl die Ursache des Gendeterminismus bekannt ist, hat sich Oyamas Lösung im Gendiskurs nicht durchgesetzt und dies scheint Kitchers Vereinfachungs-These Recht zu geben. Dagegen hat Oyamas Ansatz im theoretischen Diskurs schulbildend gewirkt. Aufgrund der Besonderheit ihrer Argumentation wird diese Bewegung auch als molekulare Epigenese (vgl. Burian 2004, Stotz 2005) umschrieben. Sie richtet sich gegen den molekularen Präformismus. Danach emergieren Organismen im wechselseitigen Konstruktionsprozess systemisch, wobei Genen und Umwelt gleichermaßen eine Bedeutung zufällt. Da sich der ursprüngliche, d. h. synthetische Begriff der Epi-Genetik auf ebendieses Verhältnis bezieht, ist es abschließend wichtig, an Waddingtons Absicht zu erinnern.

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Kapitel IV: Das Gen im Kontext

„Die Lebensaufgabe von Tier und Pflanze besteht darin, die Bedeutungsträger bzw. Bedeutungsfaktoren gemäß ihrem subjektiven Bauplan zu verwerten.“ (von Uexküll 1956, 114)

1 Erweiterter Genbegriff Während sich der Genbegriff der Molekulargenetik (KMG) des 20. Jh. nur auf einen strukturellen Aspekt bezieht, nämlich auf jene proteinkodierende DNS-Sequenzabschnitte, wird der Genbegriff im Folgenden um die epigenetische Genregulation erweitert verstanden. Oben wurde gezeigt, dass die Basensequenz der DNS der epigenetischen Regulation bedarf, um als Information verstanden werden zu können. Die beiden Informationssysteme sind funktional miteinander verschränkt. Um sinnvoll von genetischer Information sprechen zu können, muss die epigenetische Information mitbedacht werden sowie vice versa. Wenn im Folgenden auf den erweiterten Genbegriff eingegangen wird, ist eine weitere Unterscheidung wichtig. Auf zwei Begriffe der Epigenetik wurde bereits eingegangen. Dabei wurde der molekulare Epigenetikbegriff verhältnismäßig eng ausgelegt, d. h. dieser beschränkt sich auf jene genregulativ wirksamen molekularen Faktoren „auf“ der DNS. Dies ist nicht die einzige Auslegungsmöglichkeit – der Epigenetikbegriff variiert in der Literatur und manche Begriffe werden sehr weitläufig verstanden. So bezieht ein anderer Begriff über die hier dargestellten räumlichen Faktoren hinaus sogar alle Expressionsmechanismen mit ein.1 Unter diesen Begriff fallen auch Transkriptions1

So schreibt etwa die Biologin Lilian Marx-Stölting: „Der Begriff der Epigenetik wird als Sammelbegriff für die Lehre von Prozessen verwendet, welche die Ge­ nexpression regulieren und nicht auf der Änderung der Nukleotidsequenz der DNS basieren“ (2007, 105). Der Epigenetik zugehörig werden hier vier Regu­ lationsebenen aufgezählt: 1. transkriptionale Kontrolle; 2) posttranskriptionale Kontrolle; 3) posttranslationale Kontrolle; 4) Proteinabbbau.

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Zur Erweiterung des Genbegriffes

und Translationsmechanismen. Neben der Tatsache, dass der weite Begriff verhältnismäßig unpräzise ist, d. h. bei seiner Verwendung stets zusätzliche Unterscheidungen notwendig werden, ist es wichtig, die Begriffsauslegung des aktuellen Diskurses mit zu bedenken; der Fachdiskurs zur Epigenetik widmet sich vor allem der Forschung jener hier behandelten chromatinmarkierenden Strukturen. Daher wird aus Gründen der Anschlussfähigkeit im Folgenden ausschließlich auf letzteren Begriff eingegangen, d. h. die Expressionsmechanismen werden im erweiterten Genbegriff methodisch ausgeblendet. Zum besseren Verständnis ist an die drei verschiedenen Ebenen zu erinnern, die bei der Genese des Genproduktes beteiligt sind: 1. Auf struktureller Ebene beinhaltet ein Gen neben Start- und Stopcodon das offene Leseraster, das dann in ein funktionales Produkt umgesetzt wird. Die lineare Basensequenz der DNS wird in die RNS transkribiert und diese kann in die Aminosäuresequenz des Proteins translatiert werden. 2. Dazu muss ein Gen auf regulatorischer Ebene in einem bestimmten Zustand vorliegen. Die molekulare Struktur des jeweiligen DNS-Abschnittes ist nur in einem linearen Zustand von den Expressionsmechanismen erreichbar. Zwischen aktiven und inaktiven Genen wird unterschieden. 3. Allerdings reicht es nicht, dass ein Gen epigenetisch „aktiv“ vorliegt, um exprimiert zu werden. Transkriptions- und Translationsfaktoren exprimieren nicht „blind“ jegliches für sie zugängliche Gen, sondern ihr Einsatzort wird von weiteren zellulären Faktoren gesteuert. Darüber hinaus legt der zelluläre Kontext bei Eukaryoten auch fest, ob posttranskriptionale Modifikationen der RNS durchgeführt werden, sowie ob posttranslationale Modifikationen des Polypeptids stattfinden. Ein präzise formulierter Genbegriff, der das Ziel hat, alle Variablen dieses Prozesses im Detail aufzuführen, bedürfte der Berücksichtigung aller drei daran beteiligten Ebenen; Das Verhältnis von DNS zum Genprodukt ist nicht ein-eindeutig, sondern vieldeutig (1, I, 2.2) und hängt wesentlich von einem weit komplexeren Faktor, dem zellulären Milieu, mit ab. Auf Grund dessen bedürfte ein umfassender Genbegriff auch des Einbezugs jener Expressionsmechanismen. Erst diese erlauben eine eindeutige Vorhersage des endgültigen Genprodukts. Allerdings müssen diese Faktoren beim hier erweiterten Genbegriff aus pragmatischen Gründen ausgeblendet werden. Wie bereits gezeigt wurde ist ein solch komplexer Genbegriff zwar wissenschaftstheoretisch gerechtfertigt, da er die empirischen Forschungserkenntnisse berücksichtigt, allerdings eighttps://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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net er sich aufgrund seiner Komplexität nicht für die Praxis. Die Funktionsbedingungen der Expressionsmechanismen sind extrem komplex, sodass im Einzelfall die endgültige Wirkung – anders als etwa die der chromatinmarkierenden Strukturen – auch im Rahmen empirischer Forschung nur schwer erfasst werden kann. Zwar lässt sich sagen, dass ein Gen abgelesen wird, aber in welches Genprodukt (funktionale RNS, Varianten von Proteinen) es umgesetzt wird, ist im Vorfeld nicht möglich. Im Rahmen dieser Arbeit zählt ein weiterer Grund: Ein dermaßen umfangreicher Genbegriff ist für das Ziel dieser Arbeit nicht hilfreich. Das verbleibende Anliegen dieser Arbeit ist es nämlich, auf das durch die Epigenetik veränderte Grundverständnis der genetischen Verursachung einzugehen und das ethische Problempotential der Epigenetik zu erörtern – auf diesen Punkt wird im 2. Abschnitt gesondert im Rahmen eines Fallbeispiels der klinischen Epigenetikforschung eingegangen. Die Erweiterung des Genbegriffs wird daher hier bereits auf die epigenetische Genregulation beschränkt, worunter ausschließlich jene bereits weiter oben dargestellten chromatinmarkierenden Faktoren verstanden werden.2 Die folgende Arbeit bezieht sich also auf eine pragmatische Festlegung des erweiterten Genbegriffs. Was kann der erweiterte Genbegriff leisten? Was wird durch den Regulierungsaspekt gewonnen? Hier sind im Wesentlichen 2 Dennoch ist im Rahmen des derart erweiterten Genbegriffs die methodisch ausgeblendete dritte Ebene der Expressionsmechanismen weiterhin im Blick zu behalten. Die Entwicklung dieses pragmatischen Genbegriffs soll nicht auf Kos­ ten molekulargenetischer Präzision geschehen. Es ist wichtig sich vor Augen zu halten, unter welchen Umständen die Expressionsmechanismen im erweiterten Genbegriff von Bedeutung sein könnten. Ihre Ausblendung hätte im Falle eines epigenetisch deaktivierten Gens keine Folgen – schließlich kann dieses nicht exprimiert werden. Dagegen wäre ihre Berücksichtigung im Falle epigenetisch aktivierter Gene gleich in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Zum Einen gilt dies in quantitativer Hinsicht; dass ein Gen epigenetisch aktiviert ist und prinzipiell exprimiert werden kann, sagt nichts über die faktische Genexpression aus. Dies gilt im absoluten Sinne (an/aus) oder im graduellen Sinne (starke/schwache Expression). Die Rede von epigenetisch „aktivierten“ Genen ist bei genauerer Hinsicht also problematisch. Zum anderen ist die Berücksichtigung der Expres­ sionmechanismen auch in qualitativer Hinsicht von Bedeutung. Sollte nämlich das aktiv vorliegende Gen exprimiert werden, legen die, ihrerseits durch das Zellmillieu bedingten, Expressionsmechanismen (posttranskriptionale, -transla­ tionale Modifikation) erst fest, zu welchem Endprodukt der Prozess führt. Wie wir sehen können, weist der hier um die epigenetische Genregulation erweiterte Genbegriff eine gewisse Unschärfe auf. Sie muss in Kauf genommen werden.

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zwei Punkte hervorzuheben – beide beziehen sich auf die Ebene des Phänotyps. Die vorhergehende Informationsanalyse des Genbegriffs hatte auf den temporalen Aspekt der genetischen Information aufmerksam gemacht. Ob ein Gen potentielle Information darstellt, oder aktuelle Information, d. h. diese in ein funktionales Produkt umgesetzt wird, wird epigenetisch reguliert. D. h. bei der Entwicklung phänotypischer Merkmale sind ausschließlich aktive Gene beteiligt. Diese recht triviale Erkenntnis hat Bedeutung für die Forschungspraxis. Da manche Genaktivitätsmuster mit Krankheiten in Verbindung gebracht werden, hat die Kenntnis des Genaktivitätsmusters – zusätzlich zur Basensequenz – eine prognostische Bedeutung. Dieses Wissen um die Genaktivität wird zudem in der Medizin, etwa der Onkologie, auch therapeutisch eingesetzt. Erste Epipharmaka kommen auf den Markt und werden in der Praxis verwendet. Das um die epigenetische Regulation erweiterte Gen ist also im medizinischen Kontext sowohl im prognostischen als auch therapeutischen Sinne nützlich. Der zweite Punkt bezieht sich auf die Kausalursachen der Genaktivität. Das Genaktivitätsmuster eines Menschen ist zwar größtenteils artspezifisch konserviert, allerdings treten während der Individualentwicklung durchaus auch individuelle Abweichungen auf. Da das Genaktivitätsmuster im Umweltbezug geprägt wird, kann es entsprechend auch manipuliert werden. Die beiden Punkte hängen natürlich zusammen; die im Umweltbezug erworbenen epigenetischen Genaktivitätsmuster haben phänotypische Folgen. Da diese Erkenntnisse im Diskurs zur Epigenetik öffentlich diskutiert werden und im Rahmen von Zivilisationskrankheiten zunehmend Bedeutung erhalten, wird im zweiten Teil dieser Arbeit auf diesen Themenkomplex genauer eingegangen und gezeigt, dass mit dieser erweiterten Sicht auch ethische Probleme verbunden sein können. Diese Schwierigkeiten werden also später behandelt. Davor muss aber gefragt werden, welche Folgen diese Erweiterung für das Genverständnis auf struktureller Ebene hat. Oben wurde auf die prozessuale Sicht auf das Gen im postgenomischen Gendiskurs eingegangen. Wegen der epigenetischen Regulation war es notwendig die Grenzen des Gens zu erweitern. Aufgrund der prozessualen Perspektive der Epigenetik erhält die Umwelt damit einen konstitutiven Status im Rahmen des erweiterten Genbegriffs. Dieser Punkt bedarf der genauen Darstellung. Auf die molekularen Wirkmechanismen der Epigenetik wurde bereits eingegangen. Da Umwelt einen zentralen Stellenwert einnimmt, ist eine rein mohttps://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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lekulargenetische Sicht bei der Darstellung des erweiterten Genbegriffs nicht hinreichend. Zu seinem umfassenden Verständnis muss die epigenetische Genregulation im Umweltbezug dargestellt werden. Auf diesen Zusammenhang wird nun in einer negativen und in einer positiver Annährung eingegangen. Zunächst wird gezeigt, was Umwelt nicht ist, bzw. wie diese missverstanden werden kann. Anschließend daran wird der Umweltbegriff anhand des Organismusbegriffs entwickelt.

2 Neuer Umweltdeterminismus? Im Folgenden wird auf einen Denkfehler eingegangen, der auf dem Gen/Umwelt-Dualismus beruht. In einer negativen Herangehensweise wird gezeigt, was Umwelt nicht ist. Wird nämlich der Gendeterminismus durch die Epigenetik als widerlegt betrachtet, besteht nun die Gefahr, die Umwelt überzubewerten und damit in einen Umweltdeterminismus abzugleiten. Dem gilt es vorzubeugen. Entlang dem eGD haben Umwelteinflüsse keinen Einfluss auf die phänotypische Entwicklung. Danach werden die Basensequenzabweichungen zwischen verschiedenen Genomen als Ursache für die phänotypische Varianz erachtet. Dies deckt sich weitgehend mit der Experimentalpraxis. Aus methodischen Gründen werden bei der genetischen Forschung phänotypischer Varianz die Umweltbedingungen standardisiert, d. h. sie werden als Konstante behandelt und ausschließlich genetische Differenzen werden zur Erklärung herangezogen.3 Wie der Entwicklungspsychologe Russel Gray (1992) richtig bemerkt hat, sprechen aus theoretischer Sicht keine Gründe gegen eine Umkehr des Experimentalansatzes. Wenn zur Erklärung der Morphogenese individuelle Genome als Unterschei3 In der erkenntnistheoretischen Debatte um die Frage, was Information sei, brachte dies Gregory Bateson auf die Kurzformel „the difference that makes the difference“ (1972, 460). Obgleich dies im nichtgenetischen Kontext geschah, wird Bateson als Begründer der Differenzthese angesehen. Im Kontext der Ge­netik wei­ sen Mahner und Bunge (2000, 283) auf Woodgers (1952, 186) „Prinzip des kon­ stanten Faktors“ hin, wonach in der Genforschung die Umwelt als Kon­stante und das Genom als die Variable behandelt wird. Die Standardisierung der Umwelt ist in der experimentellen Genforschung wichtig, da so die Wirkung der unabhängigen Variablen (Genom) auf die abhängige Variable (Merkmal) ge­messen werden kann – bei dieser Messung werden die Umweltbedingungen konstant gehalten.

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dungskriterium dienen und dabei die Umwelt standardisiert wird, kann die Umwelt ebenso als Unterscheidungskriterium operationalisiert werden, wobei nun aber die genetischen Faktoren in Form eines Standartgenoms konstant zu halten wären. Gelänge dies, so müssten alle experimentell ermittelten Merkmalabweichungen den Umweltwirkungen zugeschrieben werden. Diese Idee führen die beiden Wissenschaftshistorikerinnen Eva Jablonka und Marion Lamb in ihrem Buch Evolution in Four Di­ mensions in einem epigenetisch inspirierten Gedankenexperiment aus (2005, 114-119). So fingieren sie den Planet Jaynus, auf dem Leben in einer hohe Artenvielfalt exisistiert. Jaynus’ Biodiversität weist entgegen der unsrigen eine entscheidende Besonderheit auf: alle Lebewesen haben dort das gleiche Genom, d. h. ihre Basensequenz ist identisch. Die phänotypische Varianz kann also keine genetische Ursache haben.4 Zum besseren Verständnis des Epigenetikbezugs muss kurz ausgeholt werden. Die Zelltypen eines (terrestrischen) Organismus weichen in Form und Funktion voneinander ab, obwohl ihr Genom gleich ist. Die Ursache dafür liegt an einem Genaktivitätsmuster, das die spezifische Funktion des jeweiligen Zelltyps prägt. Entsprechend weicht das Genaktivitätsmuster von Leberzellen und Fettzellen eines Organismus funktionsspezifisch ab. Diesen Gedanken übertragen die Autorinnen auf ihr Gedankenexperiment und behaupten, dass auf Jaynus epigenetisch determinierte Arten evolvierten. Da sie ihre Artspezifität analog zur Knospung (mitotische Vererbung – 1, II, 3.3.1) weiter vererben können, ist eine Evolution denkbar.5 Für uns ist die Ursache dieser 4 Zur Gewährleistung der Einhaltung des Standartgenoms behaupten die beiden Autorinnen einen ausschließlich auf Jaynus evolvierten Reparaturmechanismus, der alle Genmutationen zuverlässig erkennt und ausnahmslos beseitigt. 5 In ihrer Version ist das Gedankenexperiment aber problematisch. Der Gleich­ setzung der terrestrischen Zelltypen und jaynusianischen Organismen unter­ liegt ein Kategorienfehler, da hier Zelltypen mit Organismen verglichen werden. Die biologische Komplexität von Organismen geht auf verschiedene Zelltypen und deren Funktionen zurück. So liegen beim erwachsenen Menschen ca. 250 verschiedene Zelltypen vor. Mehrzellige Entitäten eines Zelltyps können zwar ebenfalls eine Einheit bilden (z. B. Bakterienkultur) allerdings stellt diese keinen Organismus dar. Das Gedankenexperiment ließe sich retten, wenn die Autoren auf Jaynus statt Entitäten gleichen Zelltyps Organismen verschiedenen Zell­ typs behaupteten. Es ist denkbar, dass aus einem Humangenom mehr als die faktischen 250 Zelltypen generiert werden könnten und dass diese zusätzlichen Zelltypen zu verschieden Organismen führten. Der Zelltyp wird nämlich durch das epigenetische Genaktivitätsmuster definiert. Bedenkt man, dass das Human­ genom ca. 20.000 proteinkodierende Gene enthält, so lässt sich die Anzahl aller

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evolvierten Biodiversität interessant. Die artspezifischen Genaktivitätsmuster werden als durch verschiedene Umwelten verursacht erklärt. Anders als gemäß der uns bekannten Evolution liegt auf Jaynus keine genetische Adaption an die Umweltverhältnisse vor, sondern hier finden ausschließlich epigenetische Adaptionen statt und diese prägen dann eine bestimmte Lebensart. In Jablonkas und Lambs Gedankenexperiment tritt die Bedeutung des Genoms in den Hintergrund, da hier die Umwelt als entscheidende, weil merkmalsinduzierende, Variable gilt. Für sich genommen könnte das Gedankenexperiment als Rückfall in einen einseitigen Determinismus, nun aber in den Umweltdeterminismus, gesehen werden.6 Allerdings wurde oben gezeigt, dass morphogenetische Information weder auf Gen-, noch auf Umweltseite präexistiert, sondern erst aus deren Interaktion hervorgeht.7 Ein derartiger Umweltdeterminismus ist nach den uns bekannten Bedingungen unwahrscheinlich. Wie wir wissen kommen nur spezifische Umwelten für die Entwicklung in Frage. So entsteht aus einem Hühnerei entweder gar kein Lebewesen, dann nämlich möglichen Genaktivitätsmuster kombinatorisch analog zur Gesamtheit aller Kombinationsmöglichkeiten beim Lottospiel errechnen. Dazu bräuchte man lediglich die Anzahl der aktiven zelltypdefinierenden Gene (housekeeping ge­ nes). Zur Verdeutlichung wird diese hier auf 2.000 festgelegt. Analog zum Lotto (6 Zahlen aus 49 Zahlen) sind hier 2.000 (aktive) Gene aus 20.000 (potentielle aktiven) Genen gesucht. Während die Gesamtzahl aller möglichen Lottokombi­ nationen bei 13.983.816 liegt, übersteigt die Zahl möglicher Genkombinationen dies um ein Vielfaches und kann daher hier nicht abgebildet werden (kombina­ torische Explosion). Kurz: Die Gesamtzahl aller möglichen Genaktivitätsmuster des Menschen übersteigt die faktischen 250 Zelltypen um ein Vielfaches. Es ist theoretisch denkbar, aus diesem einen Genom eine schier unendliche Zahl ver­ schiedene Organismen mit gänzlich verschiedenen Zelltypen und entsprechend auch verschiedenen Formen zu entwickeln. 6 Bzw. vice versa könnte dies als Beleg für den oben dargestellten verdeckten Gen­ determinismus gelten. Dann nämlich, wenn die morphogenetisch entscheiden­ de intentionale Information weiterhin den Genen zugeschrieben würde wobei das umweltabhängige Genaktivitätsmuster bloß als kausale Information gälte. Tatsächlich kann den beiden Autorinnen keiner der beiden Vorwürfe gemacht werden, da sie die Evolution von vier Vererbungsmechanismen (epigenetisch, behavioral, symbolisch, genetisch) behaupten, und im biologischen Kontext von deren Zusammenspiel ausgehen. 7 Anspielend auf die Forderung der Entwicklungspsychologin Susan Oyama (1985) nach einer „parity of reasoning“ haben die Wissenschaftstheoretiker Griffith und Knight (1998) diesen Zusammenhang Paritätsthese genannt. Es ist wichtig zu sehen, dass sich die Paritätsforderung nicht auf eine quantitative Ebe­ ne, im Sinne einer 50/50-Verteilung, sondern auf eine qualitative bezieht. Hier geht es allein um das ontologische Primat in der Bewertung der Faktoren.

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wenn die Umweltbedingungen die „falschen“ sind (z. B. Bruttemperatur zu hoch, zu niedrig). Oder es entwickelt sich ein Huhn mit allen artspezifischen Merkmalen.8 Neue, wie im Gedankenexperiment gezeigte, umweltdeterminierte Arten entstehen zumindest nicht auf natürliche Weise. Dies hat eine Ursache: Die intrazelluläre Umgebung der DNS, das Cytoplasma, muss als „Minimalkontext des Genoms“ (Speybroeck 2000, 196) verstanden werden. Da im Ei dieser artspezifische Minimalkontext vererbt wird und dieser die Entwicklung entsprechend kanalisiert, ist die stabile Artvererbung verständlich. Auf künstliche Weise scheint aber eine solche Entwicklung neuer Arten möglich. Im Falle von Cytoplasmatischen Hybriden (Zybriden) wird nämlich die Eizelle einer bestimmten Art entkernt und der Zellkern (enthält die DNS) einer anderen Art wird statt dieser eingepflanzt.9 Da der ausgetauschte Minimalkontext in Bezug auf die DNS nun artfremde Entwicklungsfaktoren enthält und dadurch ein neuartiges Genaktivitätsmuster in die Wege geleitet wird, stellte das resultierende Leben tatsächlich eine neue Art Leben dar. Allerdings befindet sich diese Klontechnik im Anfang und bisher wurde nur das Entwicklungsstadium einer Blastozyste erreicht (Li et al. 2008). Eine solche Entwicklung von Organismen ist nicht möglich. Das Beispiel verdeutlicht aber die Bedeutung des anfänglichen Minimalkontextes. Der durch das Ei vererbte Kontext hat konservierende Funktion, da er ein spezifisches Genaktivitätsmuster initiiert und dadurch eine artgemäße Entwicklung in die Wege leitet. Es ist aber wichtig zu sehen, dass der Minimalkontext der DNS nicht mit der Umwelt eines Lebewesens gleichgesetzt werden kann – der Kontextbegriff ist allgemeiner. Während die DNS dem Kontext ausgesetzt ist, verhält sich ein Lebewesen aktiv zur Umwelt. Damit kommen wir zum zentralen Umweltkennzeichen.

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Bei genauerer Betrachtung besteht durchaus eine gewisse phänotypische Varianz. In der Hühnerzucht ist die Bedeutung dieser umweltabhängigen epigenetischen, oder physiologischen Programmierung bekannt (Tzschenke 2014) und diese wird etwa zur Steigerung von Krankheitsresistenzen oder der Fleischproduktion eingesetzt. Die Varianz betrifft aber ausschließlich die Individualentwicklung, welche weiterhin aber gattungsspezifisch verläuft. Bei dieser Technik erhofft man sich eine Umgehung der ethischen Schwie­ rigkeiten, welche bei der Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen auftreten. Da hierbei das Genom einer adulten, ausdifferenzierten Zelle des menschlichen Organismus verwendet wird und diese mit einer Eizelle einer nichthumanen Art (z. B. Rind) fusioniert wird, wäre somit das gesetzliche Verbot umgangen, Forschung an totipotenten humanen Stammzellen zu betreiben.

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3 Bedeutung des Organismus Die aktuelle Molekulargenetik wendet sich verstärkt den vormals ausgeblendeten Kontextbedingungen des Gens zu. In der öffentlichen Darstellung geht dies mit problematischen Verkürzungen einher, da Erkenntnisse epigenetischer Tier- und Pflanzenstudien gelegentlich auf den Menschen übertragen werden, wobei die Artspezifität der Umwelt ignoriert wird. Daher wird im Folgenden auf die für die epigenetische Genregulation wichtige Vermittlung von Umwelt eingegangen. Es wird gezeigt, dass der Organismus im Übertragungsprozess der externen Umweltreize bis zur nukleären Ebene der Genregulation eine entscheidende Rolle spielt. Da Umweltreize nicht unmittelbar übertragen, sondern organismusrelativ transformiert werden, ist ein einfaches, d. h. allen Lebewesen gemeinsames, Umweltverständnis zurückzuweisen. Zu Anfang widmete sich die Grundlagenforschung der Epigenetik den molekulargenetischen Mechanismen, wobei umweltseitige Mechanismen zunächst methodisch ausgeblendet wurden. Erst in jüngerer Zeit wird auch auf diese externen Bedingungen eingegangen. Da diese Forschung sich aber in ihren Anfängen befindet, muss hier auf ein verhältnismäßig abstraktes Modell der Vermittlungsmechanismen eingegangen werden. Ein Modell der Signalvermittlung von der Umwelt bis auf die nukleäre Ebene der Genregulation entwickelten Shelley Berger et al. (2009);10 zum Verständnis des epigenetischen Verursachungsprozesses bedarf es der Differenzierung des Epigenetikbegriffs. Die an der Genaktivierung beteiligten molekularen Faktoren werden von den Autoren in die Instanzen Epigenator, Initiator und Maintainer unterschieden womit eine be-

10 Ihre Definition der Epigenetik ist bemerkenswert – sie definieren: „An epigene­ tic trait is a stably heritable phenotype resulting from changes in a chromosome without alterations in the DNA-sequence“ (Berger et al. 2009, 781). Diese Defi­ nition ähnelt den oben dargestellten Definitionen, da auch hier Veränderungen in der Basensequenz als nichtepigenetisch gelten. In einer bestimmten Hinsicht weichen sie aber davon ab. Hier wird der Zusammenhang zwischen chromoso­ malen Veränderungen und deren phänotypischer Wirkung klar herausgestellt. Die Forscher nennen dies eine „operationale Definition“, insofern dadurch erst eine Anschlussfähigkeit der Epigenetik für andere, phänotypbezogene For­ schungsgebiete, wie etwa die Medizin erreicht wird. Darüber hinaus beschreibt diese Definition keinen Zustand, sondern bezieht sich auf einen Prozess. Derart definiert haben die verursachten epigenetischen Modifikationen auf chromoso­ maler Ebene stets einen Effekt auf die Makroebene des Phänotyps.

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griffliche Basis der Signaltransduktion geschaffen wird, welche die Umwelt mit der Genaktivität verbindet: Der Epigenator beginnt mit einem extrazellulären Umweltsignal und bezeichnet einen räumlichen Signalpfad, der bis zum Chromosom reicht und den Initiator aktiviert. Das extrazelluläre Signal wird dabei in ein intrazelluläres umgewandelt. Neben Protein/Protein Interaktionen können auch nichtmateriale Umweltbedingungen (z. B. Temperatur) zu der Aktivierung dieses Pfades führen. Der anschließende Initiator ist für die Lokalisierung des konkreten Abschnittes der Basensequenz zuständig. Um die Stelle zu finden, ist der Initiator mit einem Erkennungsmechanismus, wie etwa einer dazu antagonistischen RNS-Sequenz oder einem DNSbindenden Protein, ausgestattet. Der Maintainer schließlich bezieht sich auf jene bereits dargestellten Modifikationsmechanismen des Chromatins (DNS-Methylierung, Histonmodifizierung, RNSi), die erst genregulativ wirken. Sein Kennzeichen ist es, das aus der Umwelt erhaltene Signal über Zellteilungsprozesse hinweg stabil zu bewahren. Einzig diese Phase ist statisch; zur Deaktivierung bedarf es weiterer Mechanismen.

Abb. 7: Darstellung der drei Vermittlungsinstanzen

Da es sich beim epigenetischen Signaltransmissionsweg um ein wenig erforschtes Thema handelt, können zwar zu jeder der drei Phasen einzelne Beispiele für die molekularen Mechanismen angegeben werden – es handelt sich also nicht um ein hypothetisches Modell – , allerdings ist das Ausmaß der beteiligten Mechanismen https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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nicht gänzlich bekannt. Hier ist auf einen weiteren Punkt hinzuweisen. Es ist wichtig zu sehen, dass diesem Signalweg ein enger Umweltbegriff unterliegt. Hier wird auf einzelne Zellen fokussiert, wobei bereits das extrazelluläre Milieu als Umwelt gilt. Denkt man an mehrzellig organisierte Lebewesen, so ist der Signalweg der extraorganismischen Umwelt aber weitaus komplizierter. Dieser Punkt ist nicht unbemerkt geblieben. So wies die Wissenschaftstheoretikerin Linda van Speybroeck (2000) aufgrund dieses engen Forschungsfokus darauf hin, dass der gesamte Organismus als Kontext der epigenetischen Forschung zu beachten ist. Dass dieser aber faktisch selten beachtet wird, liegt nach Speybroeck (ebd., 196) im Wesentlichen an drei Punkten. Erstens steigt proportional zu der Erweiterung des Kontextes auch die Anzahl der Kausalfaktoren – diese Komplexität ist in der Praxis schwer zu beachten. Zweitens geht man davon aus, dass höhere Kontextstufen im Organismus vor allem durch die untere, d. h. genetische Ebene, bestimmt werden – der Genzentrismus ist weiterhin einflussreich. Drittens müsste man sich fragen, ob, falls der Organismusbezug in der epigenetischen Forschung Beachtung fände, dies ausreiche – hier stellt sich die Frage nach den endgültigen Kontextgrenzen. Hier möchte ich auf den ersten Punkt, das Problem der ansteigenden Komplexität, eingehen und grenze die Kausalfaktoren weiter ein. Dieser Zusammenhang kann abstrakt erfasst werden. Der Umweltvermittlungsprozess wird von Berger et al. als Signaltransduktionsweg bezeichnet, wobei die vermittelten Signale sich größtenteils auf materiale Faktoren beziehen, bzw. nichtmateriale Umweltsignale, wie z. B. die Temperatur, die in molekulare Signale umgewandelt werden. Aufgrund dieser Sichtweise liegt es nahe, die Umweltvermittlung als eine Übertragung von Zeichen, d. h. als einen biosemiotischen Prozess zu verstehen.11 Dies ist keine originär epigenetische Perspektive, aber sie hilft, die Besonderheit der Umweltvermittlung komplex organisierter Lebewesen wie Organismen zu erfassen.12 Zur Verdeutlichung, dass es sich hier nicht um eine einfache lineare Determination, sondern um einen äußerst selektiven Reizverarbeitungsprozess handelt, wird im Folgenden also eine biosemiotische Sicht gewählt. Danach werden Umweltreize auf 11 Zur Biosemiotik siehe Posner et al. (1997, 436-591), Barbieri (2008), Emmeche (2003), Kull & Emmeche (2011). 12 So erfasst der Psychologe Jan Valsiner (2014) epigenetische Steuerungsprozesse auf Zellebene biosemiotisch.

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mehreren Integrationsebenen, die eng miteinander interagieren, in epigenetische Signale umgewandelt.13 Die Biosemiotik wird gemeinhin in drei Teilbereiche unterschieden, wobei sich die Exosemiotik mit den externen Organismusbezügen, die Endosemiotik mit deren organismischen Verarbeitung und die Mikrosemiotik mit der intrazellulären Reizbearbeitung beschäftigt. Danach bezieht sich das obere epigenetische Modell auf einen mikrosemiotischen Prozess.14 Hier wird nun auf die dabei ausgelassenen endosemiotischen Prozesse eingegangen, da sie erst die exosemiotischen Reize aus der Umwelt zu den mikrosemiotischen, epigenetischen Signalen verarbeiten. Der Organismus gilt hierbei als eine Art Transformator. Dabei sind Trennschichten wie die Zellmembran von zentraler Bedeutung, da diese externe Reize in interne Signale umwandeln, welche dann auf tieferer Ebene integriert werden (Hoffmeyer 2006, 163-166). Anhand dieses Kriteriums unterscheidet der Biosemiotiker Thure von Uexküll (1997) folgende vier endosemiotische Integrationsebenen: 1. Die unterste Integrationsebene deckt sich mit Berger et al.’s Epigenator. Zur Verdeutlichung der spezifischen Reizverarbeitungsart wird er nun aus biosemiotischer Sicht ausführlich dargestellt. An der Zellmembran erfolgt eine selektive Reizverarbeitung. Während die Membran für kleinere Moleküle passierbar ist, sind größere Moleküle auf Hilfestellung angewiesen – dies nennt man Semipermeabilität. Molekulare Strukturen der Zellmembran wie Kanalproteine oder Rezeptoren erlauben eine selektive Permeabi­ lität. Da diese Oberflächenstrukturen zelltypspezifisch abweichen, findet eine Reizreduktion und -selektion statt. Extrazelluläre Reize können erst nach erfolgreicher Übertragung intrazelluläre Wirkung 13 Die Reizverarbeitung ist ein Prozess (Semiose). Entgegen dem dualistischen Kausalitätsdenken (Ursache/Wirkung) bezieht sich die Biosemiotik auf die tria­ dische Relation aus Zeichen, Objekt und Interpretant (Hoffmeyer 2006, 161). Da hier Kausalität durch Interpretation ersetzt wird, werden Systeme nicht von außen als determiniert verstanden; Außenreize werden durch systemeigene Struk­turen erfasst und auf der Basis einer systemeigenen Logik interpretiert. Jede der gezeigten Integrationsebenen bezieht sich auf eine Interpretation – es finden Transformationen statt. Der Interpretationsaspekt deckt sich mit der Selbstrefe­renzialiät (Systemtheorie) und Jakob von Uexkülls Funktionskreis. 14 Diesen Zusammenhang haben die Biosemiotiker Claus Emmeche und Jesper Hoffmeyer (1991) früh erkannt. Sie gehen von der DNS als einem digitalen Co­ de aus, der im Kontextbezug in einen analogen Code umgewandelt wird. Zum semiotischen Zusammenhang zwischen der Genebene und den Entwicklungsbe­ zügen siehe Hoffmeyer (2006).

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entfalten. Zwei Prozesse sind von besonderer Bedeutung. Zum einen handelt es sich um eine Selektion. Die Zelle ist aufgrund zelltypspezifischer Membranstrukturen nur für spezifische Reize empfänglich. Diese Rezeptorspezifität schützt das intrazelluläre Milieu vor unkontrollierten Einflüssen und gewährleistet damit eine zellspezifische Reizverarbeitung.15 Zum anderen findet eine Signaltransformation statt. Da im intrazellulären Kontext der Epigenetik sog. Cytokine eine Signalwirkung haben, diese aber nicht ins Zellinnere eindringen, sondern hier erst vermittels einer Rezeptorinteraktion wirksam werden, sind sie von semiotischem Interesse. Rezeptoren durchdringen die Zellmembran und haben sowohl Anschluss an das extra- als auch an das intrazelluläre Milieu. Sofern ein Rezeptor auf ein externes Cytokin reagiert, führt dies zu seiner Konformationsveränderung – damit wird auf intrazellulärer Seite eine Signalkaskade ausgelöst. Daraufhin werden intrazelluläre Faktoren aktiviert, die den Impuls aber nicht einfach nur weiter geben, sondern ihn unter Umständen sogar verstärken können. Extrazelluläre Reize werden also sowohl qualitativ als auch quantitativ modifiziert und somit in zellintern bedeutungsvolle Signale transformiert. Erst diese komplexe Informationsverarbeitung gewährleistet dann die endgültige Reaktion – in diesem Falle eine epigenetische Modifikation. 2. Die zweite Integrationsebene bezieht sich auf den cytose­ miotischen Dialog zwischen einzelnen Zellen. Thure von Uexküll unterscheidet hier drei Fälle, welche entweder unmittelbare oder mittelbare Zell-zu-Zell Kommunikationen bewirken. So ermöglichen so genannte „gap junctions“ (a), feine Kanäle in den Zellmembranen, die Kommunikation zwischen den benachbarten Zellen und bewirken eine Signal- und Metabolitentransmission. Ihre Funktion ist es, Verbünde von Zellen „gleichzuschalten“, d. h. sie werden zu einheitlichen Entwicklungs- und Differenzierungsschritten veranlasst. Neben diesen unmittelbaren Verbindungen bestehen zwei Arten der mittelbaren Zell-zu-Zell Kommunikation. Sie haben eine andere Funktion: Polypeptide (b) und Transmittersubstanzen (c) 15 Unterschiedliche Zelltypen können einen externen Reiz verschieden interpre­ tieren. Die Zellfunktion wird also nicht extern determiniert: „What happens to a cell when its receptor picks up a neuropeptide depends not so much on the particular neuropeptide as on what kind of cell it is and the state (or history) of the cell. A given neuropeptide may cause one cell to migrate and another to differentiate, to divide, or to grow, etc. Again, the information is not in the neuropeptide; it arises in the process due to cellular interpretation of the signal.“ (Hoffmeyer 1992, 119)

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vermitteln Zeichenprozesse über weitere Distanzen. Es ist wichtig zu beachten, dass diese drei Transmissionstypen untereinander sowie mit den übrigen drei Integrationsebenen interagieren. 3. Die dritte Integrationsebene bezieht sich auf den Zusammen­ schluss von Zellen zu Organen. Dabei unterscheiden sich zwei Signaltransportsysteme in einer temporalen Hinsicht. Das Netz aus Nervenzellen (a) wirkt schnell und präzise, d. h. ortsspezifisch. Dagegen transportiert der weitaus langsamere Blutstrom (b) neben den bereits erwähnten Polypeptiden auch Hormone unspezifisch über den gesamten Organismus. Ihre ortsgebundene Wirkung entfalten diese dann aufgrund der Rezeptorspezifität der einzelnen Zellen. Da genregulative Modifikationen auf mikrosemiotischer Ebene weitgehend durch die extrazellulären Wirkungen der Cytokine veranlasst werden ist dieser Typ hier von Interesse – dabei spielt noch eine weitere Integrationsebene eine wichtige Rolle. 4. Erst diese vierte Integrationsebene bezieht sich auf den Kontakt des Organismus zur Umwelt und wird nach Thure von Uexküll durch zwei Systeme repräsentiert. Zwei Adaptionen an die Umweltverhältnisse sind zu unterscheiden.16 Das Immunsystem (a) „erkennt“ aufgrund einer im Lebensvollzug entwickelten Sensitivität organismusfremde Faktoren. Das ebenfalls ontogenetisch entwickelte Nervensystem (b) speichert schematisch vorhergehende „Erlebnisse“ und ermöglicht damit die kognitive Erfassung gegenwärtiger Situationen. Die beiden Systeme unterscheidet ihre Bewusstseinsfähigkeit, wobei diese höchste Integrationsebene gerade durch das Aufheben dieses Unterschiedes gekennzeichnet ist. Dies gilt, da Nervensystem und Immunsystem miteinander interagieren, wobei ihre Signale wechselseitig integriert werden. Diesem Forschungsfeld widmet sich die Psychosomatik, welcher sich die Epigenetikforschung gegenwärtig verstärkt zuwendet.17 16 Thure von Uexküll bezeichnet diese Adaptionen in der Denktradition des Um­ welttheoretikers Jakob von Uexküll (1909), seinem Vater, als Gegenwelten, da sie die transformierte Umwelt des Organismus darstellen. Ergänzend zu den Gegenwelten Immunsystem und Nervenssystem könnte das Epigenom eines Organismus, also die Gesamtheit aller Genaktivitätsmuster eines Organismus, als Gegenwelt verstanden werden. Dies stellt ebenfalls Umweltadaptionen dar. 17 Hier ist auf die Forschung am Posttraumatischen Belastungs Syndrom hinzu­ weisen, das verstärkt bei Kriegsveteranen oder generell in Folge traumatischer Erlebnisse auftritt. Zum Stand dieser epigenetischen Traumaforschung siehe Schmidt 2010. Eine Modellierung dieser Umweltvermittlung liefern Karsten & Baram (2013). Zur Geschichte der epigenetischen Traumaforschung mit einem Fokus auf transgenerationelle Übertragungsprozesse siehe Lux (2014).

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Angesichts der gewählten biosemiotischen Perspektive ist auf eine Besonderheit hinzuweisen. Es ist nicht nur so, dass sich die epigenetischen Genregulationsmuster entlang den hier skizzierten Integrationsebenen ausbilden, d. h. rein zeichenvermittelt etabliert werden, sondern hier spielt auch der Metabolismus des Organismus eine wichtige Rolle. Dass epigenetische Modifikationen entwickelt werden können, setzt nämlich das Vorhandensein stofflicher Ressourcen voraus. Dies wird am Beispiel der genregulatorisch wirksamen DNS-Methylierung klar. Zu ihrer Ausbildung bedarf es der Aufnahme von Methyldonoren, welche eine hybride Natur haben. Einerseits vermitteln sie als Zeichen Informationen über die Ernährungsumwelt. Andererseits sind sie die materiale Basis der Genregulation, da ein Methylrest an die DNS-Base Cytosin bindet (1, III). Anhand dieser Darstellung der verschiedenen Integrationsebenen sollte klar geworden sein, dass die Umweltvermittlung nicht nach einem linearen Ursache/Wirkungsmuster verläuft. Bedenkt man, dass im Falle des Menschen über 250 Zelltypen mit unterschiedlichen Genaktivitätsmustern existieren und diese aufgrund ihrer verschiedenen Rezeptivität für die externen Reize angesteuert werden können, wird die Komplexität und Spezifität der Signaltransduktion ansatzweise deutlich. Die Rede von einem „Spiegel“ der Umwelt führt hier in die Irre, da die Umweltreize nicht abgebildet, sondern auf jeder Integrationsstufe weiter transformiert werden. Zudem interagieren die diversen Integrationsebenen miteinander, sodass die Umweltvermittlung einen komplexen, nichtlinearen Prozess darstellt, dessen Struktur teils durch die Artspezifität des Organismus vorgegeben ist und teils während der Individualentwicklung aktiv erworben wird. So ist etwa Ernährung nicht einfach die Inkorporierung einer objektiv gegebenen Nahrungsumwelt, sondern diese wird anhand des erworbenen Nervensystems, zu dem bei höheren Organismen das Gehirn zählt, soz. subjektiv „bewertet“.18 Dies löst eine spezifische Hormonantwort aus, sodass eine Ernährungsumwelt unter Umständen sogar bei zwei artgleichen Organismen unterschiedliche Reaktionen veranlassen kann – dann nämlich, wenn ihre subjektive Bewertung sich unterscheidet. Das Endergebnis auf epigenetischer Ebene kann also nicht durch die 18 Hier ist der Fokus der Neuroepigenetik auf die Ausbildung der Rezeptorendichte der Membran von Nervenzellen interessant. Auf epigenetische Prägung physiolo­ gischer Regel- d. h. auch Bewertungssysteme wird später (2, III, 1.1) eingegangen.

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alleinige Kenntnis eines einzigen Umweltfaktors, z. B. der Ernährung des Organismus, vorweggenommen werden. Dies zu beachten ist wichtig, da solche Reduktionismen nun z. B. in die Nutriepigenetik Eingang finden. Allerdings soll mit dieser biosemiotischen Sicht kein absoluter Relativismus behauptet werden, wonach allgemeine Aussagen per se unmöglich wären. Vielmehr sollte hier gezeigt werden, dass die artübergreifende Verallgemeinerung von epigenetischen Umweltwirkungen, wie sie aufgrund des aktuellen Mangels an Humanstudien oft getätigt werden, kritisch hinterfragt werden muss.

4 Bedeutung der Umwelt Wird im Alltag über Umwelt gesprochen, so geschieht dies oft undifferenziert, wobei diese als eine objektive Gegebenheit im Sinne des Raumbegriffes dargestellt wird. Andererseits hat der Begriff, ähnlich dem Naturbegriff, im Rahmen der Umweltschutzbewegung eine normative Aufwertung erfahren und wurde ideologisch überformt. Diese Bezüge sind problematisch, da sie den Kern des ursprünglichen Umweltbegriffs verstellen, welcher hier von Bedeutung ist. Daher ist es hilfreich, auf die ursprüngliche Bedeutung von Umwelt als biologischen Fachbegriff einzugehen. Es ist das Verdienst des Umwelttheoretikers Jakob von Uexküll (1864–1944), in der Biologie zwischen den Begriffen Umgebung und Umwelt unterschieden zu haben (von Uexküll 1909). Obgleich sich beide auf ein relatives Verhältnis beziehen – darauf deutet das Präfix „Um-“ hin – bezeichnen sie jeweils unterschiedliche Begriffe. Zu ihrem Verständnis spielen die Bezüge objektiv und subjektiv eine entscheidende Rolle. Während es sich im Falle von Umgebung um einen objektiven Begriff handelt – er bezieht sich auf die vorhandenen Dinge im näheren Umfeld einer bestimmten Entität – handelt es sich im Falle von Umwelt um einen subjektiven Begriff. Damit meint von Uexküll keine Beliebigkeit im herkömmlichen Sinne von subjektiv, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auf den Organismus, der als Subjekt seiner Umwelt zu verstehen ist. Der Umweltbegriff bezieht sich hier auf einen Konstruktionsprozess, wonach der Organismus eine Umwelt konstituiert, die infolge dessen genauer als seine Umwelt zu verstehen ist. Unter Umwelt werden alle jene externen Reize verstanden, welche von einem Orhttps://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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ganismus – ob bewusst oder unbewusst – aufgenommen und verarbeitet werden können, also Eingang in die biologischen Prozesse des Organismus finden. Oben wurde gezeigt, dass die Vermittlung der Umweltreize bis auf epigenetische Ebene von der biologischen Struktur des Organismus abhängt, und es wurde klar, dass dies einen Transformationsprozess darstellt. Der Umweltbegriff ist ein selektiver, d. h. wenn unterschiedliche Organismen denselben topographischen Raum einnehmen, in von Uexkülls Worten die gleiche Umgebung teilen, bedeutet dies nicht, dass sie auch ihre Umwelt teilen. Organismusabhängig können dieselben objektiven Gegebenheiten entweder erfasst werden und ähnliche Effekte herbeiführen, oder ihnen wird eine unterschiedliche Bedeutung zugesprochen, oder aber diese Reize finden erst gar keinen Zugang zum Organismus. Weil der Umweltbegriff sich auf einen Konstruktionsprozess bezieht, betont er die Eigenleistung des Organismus. Da der Organismus – ontologisch betrachtet – also der Umwelt vorgeordnet ist, kann bereits aus theoretischen Gründen keine Umweltdetermination bestehen. Der konkrete Organismus konstituiert eine Umwelt, die in Folge dessen notwendigerweise als seine Umwelt gilt. Dieser relative Umweltbegriff hat weitere Folgen. Es ist wichtig zu sehen, dass jeder Organismus eine Entwicklungsgeschichte hat, in welcher sich seine Struktur und Empfänglichkeit für externe Reize ändert. Historisch betrachtet hat ein Organismus also nicht eine Umwelt, sondern mehrere teils stark voneinander abweichende Umwelten. Zu verschiedenen Entwicklungszeiten können verschiedene Umweltreize epigenetische Folgen haben und morphogenetisch wirksam werden.19 Da Entwicklungsstufen aufeinander aufbauen, somit spätere Reize auf der Grundlage früherer Umweltwirkungen, die 19 Dabei ändert sich sowohl die Umwelt als auch die Umgebung. Denkt man an die intrauterine Entwicklung beim Menschen, hat bereits eine Eizelle bei Befruch­ tung im Eileiter eine rudimentäre Umwelt (Temperatur, Feuchtigkeit, pH-Wert). In einen stofflichen Austausch mit der Umgebung tritt sie erst nach der Nidati­on, bzw. der Implantation der Blastozyste in die Uterusschleimhaut (Endometrium). Diese findet zunächst mittels Diffusion statt bis der Embryo Anschluss an den mütterlichen Blutkreislauf findet. Da vor der Nidation stattfindende Ent­ wicklungsschritte Folge der in Eizelle und Samenzelle konservierten Entwick­ lungsfaktoren (Minimalkontext) sind, erachten manche Biologen die Bedeutung des ersten Stoffaustauschs für derart wichtig, dass sie ihn als Definition für den Beginn des Lebens vorschlagen. Bei dieser epigenetischen Definition des Le­ bensbeginns stünde der Gen/Umweltdialog im Vordergrund. Ab diesem können externe Umweltfaktoren die Genregulation beeinflussen und somit morphoge­ netische Folgen haben.

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den Organismus verändert haben, interpretiert werden, ist der gesamte Entwicklungsverlauf eines Organismus von Bedeutung für den epigenetischen Umweltbegriff. Diese Erörterung des Umweltbegriffs war notwendig, um zu zeigen, dass der Umweltbegriff in der Biologie, somit auch in der Epigenetik, organismusspezifisch gilt. Die aktuellen Ergebnisse der Grundlagenforschung, welche zum großen Teil anhand von Studien mit Einzellern wie Bakterien als Versuchstieren durchgeführt wurden, können aufgrund ihrer Spezifität nicht unmittelbar auf den Menschen übertragen werden. Auch die Ergebnisse aus der Säugetierforschung sind hier mit Vorsicht zu behandeln. Zwar zählt auch der Mensch zur Gruppe der Säugetiere, jedoch wird hier zum größten Teil mit Nagetieren (Mäusen, Ratten) geforscht. Die molekularwissenschaftliche Forschung zu den umweltvermittelnden Mechanismen beim Menschen ist bisher noch in ihren Anfängen – auf gegenwärtig bereits bekannte, artspezifische Unterschiede wird später anhand eines Fallbeispieles eingegangen (Teil II). Hier wurde auf theoretischer Ebene gezeigt, dass undifferenzierte Aussagen zum Umweltbegriff der Epigenetik, die in populärwissenschaftlichen Artikeln zur Epigenetik oft vorkommen, stets der kritischen Überprüfung bedürfen. Jedoch ist dies richtig zu verstehen: Diese Relativierung des Umweltbegriffs will nicht behaupten, dass die bisherige Studienlage der epigenetischen Forschung belanglos wäre. Aufgrund der noch jungen Epigenetikforschung und den noch spärlichen Humanstudien liefert die Grundlagenforschung wichtige Hinweise auf artübergreifende epigenetische Vermittlungsmechanismen. Es bleibt aber abzuwarten, welche Ergebnisse im Hinblick auf den Menschen tatsächlich von Bedeutung sind. Auf einen wichtigen Unterschied kann allerdings hier bereits eingegangen werden. Die obere Erörterung zeigte, dass Umweltreize sich nicht unmittelbar auf epigenetischer Ebene auswirken, sondern zunächst durch die Struktur des Organismus aufgearbeitet und transformiert werden. Entsprechend nimmt der Organismus eine zentrale Rolle ein. Transmitter wie Cytokine spielen eine wichtige Vermittlungsrolle. Aufgrund dessen könnte man meinen, dass Substanzen, welche nicht diesem organismischen Transformationsprozess entspringen, weder epigenetische, noch morphogenetische Folgen hätten. Ein solches Bild muss aber korrigiert werden. Erkenntnisse der Chemikalienforschung weisen darauf hin, dass manche Substanzen durchaus auch unmittelbar auf den Organismus einwirken und epigenetische Folgen haben können. Die Klasse https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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der endokrin wirksamen Substanzen bezieht sich auf Chemikalien, die die normale Hormonaktivität beeinflussen können und dadurch den Entwicklungsverlauf auf epigenetischer Ebene stören. Falls dies zu Beeinträchtigung führt, werden sie endokrine Disruptoren genannt (WHO/UNEP 2013). Die endokrinen Disruptoren können auf drei verschiedene Weisen das hormonelle Gleichgewicht eines Organismus beeinflussen (Jahnel 2016). Erstens können sie ähnlich wie Hormone wirken (Agonisten) und so den natürlich bestehenden Hormonhaushalt verändern. Zweitens können sie die Wirkung von Hormonen blockieren (Antagonisten) und vorliegende Hormon­ antworten behindern. Drittens können sie Synthese, Transport, Metabolismus, Exkretion von Hormonen beeinflussen und damit den Hormonhaushalt im Ansatz unterbinden. Da das Hormonsystem wichtige Prozesse, wie Wachstum, Entwicklung und Fortpflanzungsvorgänge regelt, können endokrine Disruptoren zu irreparablen Gesundheitsschäden führen. Im Hinblick auf die Epigenetik ist zu erinnern, dass Hormone bereits vorbearbeitete Umweltreize bis auf die nukleäre Ebene der Genregulation (Epigenator) vermitteln – endokrine Disruptoren wirken epigenetisch, da sie die natürlichen Genaktivitätsmuster stören, und in Folge dessen exprimierte Genprodukte andere Wirkungen als die der normalen Zellfunktion in die Wege leiten. Zur Gruppe der endokrinen Disruptoren zählen natürliche Hormone (Östrogen/Testosteron), sekundäre Planzenstoffe (Genistein), sowie eine Vielzahl industriell hergestellter Chemikalien (Pestizide: Vonclozolin, Methoxychlor; Schwermetalle: Chrom, Arsen, Quecksilber; Inhaltsstoffe von Kunststoffen: Phtalate, Bisphenol A, Alkylphenole) (ebd.). Zum besseren Verständnis ihrer Funktion sei hier auf die Xenohormone eingegangen. Sie sind, wie das Präfix (xénos: gr. Fremder) andeutet, keine organismischen Produkte, sondern sie werden z. B. im Falle von Bisphenol A wegen ihrer Wirkung als Weichmacher in der industriellen Kunststoffproduktion eingesetzt. Ihr molekularer Aufbau ähnelt dem von Hormonen (Östrogen), sodass sie, einmal in den Kreislauf eines Organismus gelangt, biologisch wirksam werden. Neben Xenohormonen anthropogenen Ursprungs, wie Bisphenol A, gibt es eine weitere Klasse chemischer Substanzen, welche eine ähnliche Wirkung haben: Phytohormone sind pflanzlichen Ursprungs, was aber nicht bedeutet, dass sie harmloser wären. Schließlich ist an die allgemeine Wirkweise der endokrinen Disruptoren zu erinnern. Diese zählen zwar nicht zu den klassischen Noxen, welche toxisch auf Lebensprozesse wirken – sie deregulieren physiologische Prozesse und https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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haben dadurch einen Effekt auf die Entwicklung. Ihre Wirkung ist gerade in frühkindlichen Entwicklungsphasen, welche die spätere Entwicklung in die Wege leiten, besonders gefährlich. Auf diesen Punkt wird an späterer Stelle (Teil II) eingegangen. Auf der Grundlage bisher entwickelter Umweltbezüge kann die Menge aller epigenetisch wirksamen Substanzen grob in zwei Bereiche unterschieden werden. Einerseits gilt ein endogener Um­ weltbegriff, welcher sich ausschließlich auf jene Umweltfaktoren bezieht, die organismisch transformiert und epigenetisch wirksam werden. Andererseits gilt ein exogener Umweltbegriff, der sich auf Faktoren bezieht, die nicht organismischen Ursprungs sind, dennoch aber epigenetisch wirksam werden. Diese Unterscheidung ist sinnvoll, insofern der endogene Umweltbegriff sich vor allem auf das Verhalten des Organismus bezieht – man denke an eine bestimmte Ernährungsweise – in Folge dessen das Epigenom spezifisch geprägt wird. Der exogene Umweltbegriff jedoch gibt weniger Auskunft über das individuelle Verhalten, sondern bezieht sich – man denke an Xenohormone – auf Faktoren, welchen man in einer Umgebung passiv ausgesetzt ist. Da zwei hinsichtlich ihrer Beeinflussbarkeit verschiedene Bereiche betroffen sind, müsste eine Verantwortungsdiskussion die Unterschiede beachten (2, II, 3.1). Während im ersten Fall Lebensstilfragen auf individueller Ebene aufgeworfen werden, treten im letzten Fall qualitativ davon verschiedene Fragen wie z. B. der Arbeitssicherheit und Umweltgerechtigkeit auf, die eher aus einer sozialen Perspektive zu behandeln sind. Beide Umweltbegriffe stehen in von Uexkülls Denktradition, da lediglich jene Substanzen erfasst werden, die einen Bezug zum Organismus haben – d. h. die Unterscheidung zwischen Umwelt und Umgebung ist sinnvoll, da zwischen einer epigenetisch bedeutungsvollen Umwelt und epigenetisch bedeutungslosen Umgebung unterschieden werden kann. Abschließend möchte ich auf ein Forschungsvorhaben hinweisen, das sich der Gesamtheit aller Umweltfaktoren des Menschen zuwendet. Das postgenomische Forschungsprojekt Exposome soll das Humangenomprojekt hinsichtlich aller wirksamen Umweltfaktoren komplettieren. Dabei handelt es sich um ein extrem aufwändiges Projekt, wie an folgender Definition klar wird: „The exposome is composed of every exposure to which an individual is subjected from conception to death. Therefore, it requires consideration of both the nature of those exposures and their changes over time. For ease of description, three broad categories of non-genetic exposures may be considered: internal, specific external and general exhttps://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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ternal“ (Wild 2012, 24). Auch hier wird der gesamte Lebensprozess berücksichtigt. Während sich die erste Kategorie (internal) auf jene hier im Zusammenhang der Umweltvermittlung behandelten Faktoren bezieht, meint die zweite Kategorie (specific external) äußere Umweltfaktoren wie z. B. radioaktive Strahlung, Infektionen, chemikalische Belastung, Ernährung und Lebensstilfaktoren. Darüber hinaus wendet sich das Exposome in der letzten Kategorie (general external) den „Ursachen der Ursachen“ zu, womit soziale, ökonomische und psychologische Einflüsse auf das Individuum gemeint sind. Diese Reichweite ist beachtlich. Allerdings befindet sich das Forschungsprojekt Exposome noch in seiner Planungsphase. Da gegenwärtig nicht absehbar ist, ob alle diese Faktoren eine Bedeutung für die epigenetische Genregulation haben, wird im Folgenden nicht weiter auf das Projekt eingegangen.

5 Eingebettete Körper Mit der Epigenetik verändert sich auch das nichtwissenschaftliche Umweltverständnis. Im Hinblick auf die Nutriepigenetik weist die Wissenschaftshistorikerin Hannah Landecker (2010; 2011) auf Entwicklungen hin, wonach die Umwelt zunehmend „molekularisiert“ wird. Dieser Prozess wird nicht nur durch die wissenschaftliche Forschung vorangetrieben, sondern auch wirtschaftliche Interessen und die Veränderung der Gesellschaft insgesamt spielen eine wichtige Rolle. Zum Beispiel änderte die Diskussion um gentechnisch veränderte Lebensmittel die öffentliche Wahrnehmung, und erstmals wurden Gene in der Nahrung „gesehen“, während dies davor nicht der Fall war. Diese Denkweise verschärft sich durch die medienwirksam inszenierte Nutrigenetik, da nun das individuelle Genom Auskunft über die optimale Ernährung gibt. Diese Molekularisierung wird von zwei Seiten angetrieben. Einerseits durch die zunehmend biologisch informierten Menschen, welche Umwelt nun nach molekularbiologischen Kategorien erfassen. Andererseits durch molekular aufgeschlüsselte Konsumgüter, z. B. Nährwertangaben auf Lebensmittelverpackungen. Auf diese Weise etabliert sich eine allgemeine „molekulare“ Art, über Umwelt zu denken. Galt der Umweltbegriff vormals als ein phänomenaler Begriff, so hat Umwelt sich nun in eine molekular wirksame Umwelt verändert, wobei entlang dieser Denkweise auch der Körper mechanistisch und https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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damit anschlussfähig dazu gedacht wird. Ist nämlich Umwelt molekular fassbar, kann sie durch die Kategorien der Molekularbiologie operationalisiert, d. h. angepasst werden. Landecker bringt die Besonderheit dieser Wahrnehmung auf den Punkt: „Food has always been understood to be part of the environments in which animals and humans live; however, our moment is a historically specific one in which food is being understood, studied, depicted, engineered and ingested as a set of molecules, which exist in a cloud around us, and over which we often have limited individual control. Epigenetics is neither the cause of nor the sole place where this discourse is under construction, but is a particularly intense site of the experimental exploration of food as a conditioning medium rather than an energy source or building block of the body.“ (Landecker 2011, 190) Unsere Umwelt ist eine molekulare Umwelt, und der epigenetische Umweltbegriff reiht sich in dieses Denken ein. Hier ist ein weiterer Punkt hervorzuheben. Wir leben in einer vom Menschen industriell geprägten Welt und verstehen diese vorbelastete Umwelt als eine wirksame Umwelt.20 Was Landecker am Thema Epigenetik und Ernährung darstellt, gilt allgemein für die öffentliche Wahrnehmung von Umwelt. Der Mensch ist einer selbstgeschaffenen Umwelt ausgesetzt, die auf ihn zurückwirkt und ihn dadurch nachhaltig verändert.21 Aus dieser Perspektive ist er mit ihr biologisch verbunden und also genauer als ein in Umwelt eingebetteter Organismus zu verstehen. Auf diesen Aspekt des Eingebettetseins beziehen sich viele sozialwissenschaftliche Autoren im Zusammenhang mit der Epigenetik (Niewöhner 2011, 2013, 2014; Lux 2012; Palm 2012), wobei sie ein Umdenken von einem dualistischen Mensch/Umweltdenken feststellen. Bezugnehmend auf den Philosophen Arthur Bentley (1941) hält der Sozialanthropologe Jörg Niewöhner fest: „Die Haut ist kei-

20 „This new metabolism is no longer the interface between Man and Nature, as it was for the nineteenth and twentieth centuries, but a metabolism for the human condition in technical society, where the food is manufactured and designed at the molecular level, the air and the water are full of the by-products of human endeavour and manufactured environments beget different physiologies. This is the character of the study of metabolism in post-industrial nature – the layers of human intervention go all the way down, and the role of biomedicine is to understand and heal the body in the world that humans have made for themselves.“ (Landecker 2011, 190) 21 Auch dieser Punkt wurde früher erkannt – er ist eines der zentralen Themen Ulrich Becks Risikogesellschaft (1986).

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neswegs mehr die ‚last line of defense‘, die den autonomen Körper sauber von der Umwelt trennt […]. Stattdessen erscheint der Körper aus molekularer Perspektive eingebettet in eine Lebenswelt aus sozialen Strukturen und materialer Umwelt“ (2010, 316). Die Autoren greifen mit dem Begriff Einbettung (embeddedness), bzw. Verkörperung (embodiment) auf das Konzept der lokalen Biologie zurück, welches ursprünglich von der Medizinanthropologin Margaret Lock entwickelt wurde.22 Die dadurch gewonnene Sicht ermöglicht ein umfassenderes Verständnis vom Menschen, da hier sein Selbstverständnis in einen bestimmten Denkhorizont eingebettet und sein Handeln erst im Lichte dieser Bezüge sinnvoll verstanden werden kann. Lock (2013) erkennt die Anschlussfähigkeit ihres Konzepts zur biomedizinischen Forschung der Epigenetik. Niewöhner (2013) macht in dem Zusammenhang klar, dass in der Alltagspraxis nun Soziales und Biologisches untrennbar verwoben sind und aufgrund dessen die Erkenntnisse der Umweltepigenetik Folgen für unseren gesellschaftlichen und politischen Umgang haben werden. Natürlich findet auch im wissenschaftlichen Rahmen der Epigenetik eine Molekularisierung der Umwelt statt. Dies alleine ist weder verwunderlich noch problematisch, da die Epigenetik als Teilbereich der Molekulargenetik ihren Forschungsgegenstand Umwelt anschlussfähig machen muss. Das Besondere daran liegt an anderer Stelle. Neben der Tatsache, dass die Umwelt Eingang in die molekulargenetische Forschung gefunden hat, ist es wichtig zu beachten, wie die Umwelt operationalisiert wird. Ihre Komplexität kann in der Forschung nicht berücksichtigt werden – auch die Umweltepigenetik kommt nicht ohne Reduktionismen aus. Die Autoren legen daher einen besonderen Fokus auf die Modellierung und Operationalisierung von Umwelt. Der damit einhergehende Reduktionismus wird nun an einem Beispiel erläutert. Die epigenetisch wirksamen Umweltfaktoren werden im Rahmen der Umweltepigenetik oft indirekt erschlossen. Wenn, wie im Falle von Humanstudien, auf Artspezifi22 „During the 1990s, on the basis of cross-cultural research, I posited a concept of ‚local biologies‘ that refers to the way in which the embodied experience of physical sensations, including those of health and disease, is contingent on evo­ lutionary, historical, social, political, and environmental variables that modulate individual bodies. The extent of availability of medical facilities and technologies also contributes greatly to how individuals subjectively experience their bodies. Embodiment is further constituted by the way in which self and others represent the body, drawing on local categories of knowledge and experience, and increas­ ingly on popularised scientific information.“ (Lock 2013, 1897)

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tät geachtet wird, können hier Kontrollbedingungen aus ethischen Gründen nur bedingt realisiert werden. Daher greifen Forscher auf Probanden mit biographischen Gemeinsamkeiten zurück. In diesem Denken waren die Probanden einer Umwelt ausgesetzt, welche nun genauer als molekulare Wirkungsumwelt operationalisiert wird.23 Das Vorgehen ist selektiv.24 Niewöhner (2014) weist nach, dass die Forschung der Umweltepigenetik auf zwei Bereiche fokussiert. Die materiale Umwelt wird weitgehend auf die Ernährung reduziert. Dabei wird auf bereits bekannte Zusammenhänge aus der Epidemiologie zurückgegriffen, wobei der frühkindlichen Ernährung eine zentrale Rolle zugewiesen wird – dieser Punkt wird im zweiten Teil ausführlich behandelt. Die soziale Umwelt wird dagegen auf den Topos Stress eng geführt. Bestimmte biographische Daten, wie Traumata im Kindheitsalter, Naturkatastrophen oder Unfälle werden mit epigenetischen Modifikationen in Verbindung gebracht. Die Psychologin Vanessa Lux (2012) spricht in diesem Zusammenhang im doppeldeutigen Sinne von „Bio-Graphie“. Neben dem gelebten Leben prägt die wissenschaftliche Modellierung unser Denken. Bei dieser Molekularisierung der Umwelt und Biologisierung der Verhältnisse werden sowohl Chancen als auch Risiken gesehen. Zum einen wird der Gen/Umweltdualismus, der auch in den Sozialwissenschaften tief verankert ist, aufgelöst, etwa wenn Biologie durch die Berücksichtigung epigenetisch wirkender sozialer Akte „sozialisiert“ (Lux 2012) wird und Themen z. B. aus dem Gesundheitsbereich besser verstanden werden. Andererseits kann dies aber zur Konstruktion von Umweltdeterminismus im Allgemeinen und Sozialdeterminismus im Speziellen führen, da nun Umweltinter23 „What we are witnessing here is the attempt to operationalise instances of social change according to criteria taken from the practice of molecular biological re­ search. This is the process that I refer to as the molecularisation of biography and milieu. It is the extraction of significant events from people’s biographies, from particular and situated socio-cultural histories and from their embeddedness in particular milieu and everyday lives, and their conversion into standardised rep­ resentations of particular forms of social change that can be correlated with the material body. The molecularisation of biography and milieu results in standard models of social change, which are able to travel between labs and into the wider public discourse.“ (Niewöhner 2011, 291) 24 In diesem Zusammenhang spielen die epistemischen Vorannahmen eine wichtige Rolle. Der Theologe Harald Matern (2016) erkennt aus einer kulturhermeneuti­ schen Perspektive in der gegenwärtigen Forschungsausrichtung der Epigenetik auf Themen wie Ernährung und Sexualität eine Fortführung des christlichen To­ pos der Erbsünde.

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aktionen bis auf molekulare Ebene als determinierend verstanden werden. Darüber hinaus liefe man Gefahr, die „aktiv subjektive Dimension des Biographischen“ (ebd.) aus dem Blick zu verlieren und die weiter oben thematisierte Individualität des konkreten Organismus auszublenden. Auch Niewöhner (2013) erkennt diese Gefahr und warnt vor den Folgen solcher Vereinheitlichung. Wenn gesamte Bevölkerungsgruppen aufgrund ähnlicher Umweltverhältnisse für derartige biologische Interventionen identifiziert werden, besteht die Gefahr, in eine neuartige Sozialhygiene abzugleiten und ganze Bevölkerungsschichten – auf vermeidlich sicherer biologischer Datenlage – zu pathologisieren. Daher ist es wichtig diese Modellierungen des epigenetischen Umweltbegriffes und die einhergehende Molekularisierung der Bio-Medizin kritisch im Auge zu behalten. Zwar handelt es sich hierbei um wissenschaftliche Denkmodelle, doch werden diese in Zukunft, gerade weil sie im Gesundheitsdiskurs thematisiert werden, zunehmend auch in außerwissenschaftlichen Bereichen Anwendung finden und somit die breite Bevölkerung betreffen.

6 Gefährdete Organismen Mit dem durch die Epigenetik erweiterten Genbegriff geht ein neues Umweltverständnis einher, welches bisher in der Geschichte der Genetik noch nicht thematisiert wurde. Um diesen Zusammenhang besser zu verstehen, ist es hilfreich, auf vorherige Umweltbegriffe der Genetik einzugehen und diese abschließend in ein Verhältnis zu setzen. Liest man die gegenwärtigen Schlagzeilen zur Epigenetik, könnte man meinen, die vormalige Genetik kannte keinen Umweltbegriff, bzw. erst die Epigenetik entwickle den „richtigen“ Begriff. Dem ist nicht so. Die Umweltbezüge finden nicht erst durch die Epigenetik im außerwissenschaftlichen Diskurs Beachtung, doch weicht das neue Umweltdenken der Epigenetik vom vormaligen Denken ab. Zur besseren Verortung des erweiterten Genbegriffs wird im Folgenden nun darauf eingegangen. Die Veränderungen des genetischen Umweltverständnisses können am Besten anhand eines Vergleiches erkannt werden. Der Historiker Alexander von Schwerin (2009) widmet sich dieser Begriffsveränderung aus politisch epistemischer Perspektive und zeigt, dass sich das Verständnis vom menschlichen Organismus in https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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einem historischen Transformationsprozess zu einem gefährdeten Organismus verändert hat. Aus seiner Sicht sind Gefahren keine ahistorischen Tatsachen, sondern werden in einem multikausalen Prozess entwickelt. So zeigt von Schwerin, wie sich durch die Verschiebungen des genetischen Wissens und entsprechenden Modellierungen einerseits und der Notwendigkeit der Klärung der Verantwortungsbereiche andererseits der genetische Umwelt- und Organismusbegriff veränderten. Im Wesentlichen lassen sich zwei Phasen unterscheiden. Das frühe Risikomodell zu Beginn der 1950er Jahre beförderte das Konzept der Strahlenhygiene. Ausgehend von der frühen Mutationsforschung und ihrem Modell der Dosis/Wirkungskurve wurde Umwelt als destruktive Strahlenumwelt betrachtet. Mutationsforscher ermittelten zu dieser Zeit nämlich ein lineares Verhältnis zwischen der Intensität der radioaktiven Strahlung und den Mutationen, auf dessen Basis der menschliche Organismus der Umwelt als passiv ausgesetzt galt. Vor dem Hintergrund der damaligen politischen Lage (kalter Krieg, Atomkraft) und des Risikos von Nuklearunfällen wurde hier die Verantwortung über die Regulierung der Umweltrisiken auf Seiten der Politik gesehen – der Einzelbürger könne wenig bewirken. Das sollte sich aber ändern. Das spätere Risikomodell um 1970 entspricht dem einer Umwelt­ hygiene. Die Aufschlüsslung der genetisch gefährlichen Agen­ zien hat Folgen, die bis in den Handlungsbereich des Individuums hinein­reichen. Ursächlich für den Denkwandel sieht von Schwerin die Widerlegung der linearen Dosis/Wirkungskurve. Die aufstrebende Molekulargenetik wies nämlich nach, dass die DNS den mutagenen Agenzien, die nun als „Umweltstressoren“ zusammengefasst werden, nicht einfach nur ausgesetzt ist, sondern der menschliche Organismus über molekulare Reparaturmechanismen verfügt. Der genetische Umweltbegriff verändert sich in zweifacher Hinsicht. Einmal betrifft dies die Zahl der genetisch wirksamen Agenzien. Zweitens – und dies ist hier wichtig – betrifft dies die Reparaturmechanismen, welche durch Wahl der richtigen Umwelt gefördert werden können. Da der Organismus vormals der Umwelt ausgesetzt galt, kann erst auf Grundlage dieser neuen Verfügbarkeit über Einflüsse auf den Organismus vom „gefährdeten Organismus“ gesprochen werden.25 Im Hinblick auf die Regulierung 25 Das Konzept Gefährdung gleicht dem des Risikos (2, II, 3.3). Von Schwerins Verwendungsweise von Gefährdung bezieht sich wie die Rede von Risiko aus­

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der Verantwortung ist ein weiterer, politischer Punkt wichtig. Eine Verschiebung des Sozialstaates hin zur Unternehmergesellschaft findet statt. Im Rahmen dieser Entwicklung wird der Mensch von politischer Seite als Akteur verstanden, dessen wesentliche Tätigkeit sich auf die autonome Verwaltung seiner Risiken bezieht. Dadurch verschiebt sich die vormals politische Verantwortung in den privaten Bereich und nun spielt die Eigenverantwortung angesichts des neu eröffneten Handlungsbereichs zur Förderung genetischer Selbstheilungskräfte eine wichtige Rolle. Obgleich der Historiker von Schwerin an der Stelle endet, kann dieses Denken im Lichte der gegenwärtigen Verhältnisse weiter fortgesetzt werden. Im nun folgenden zweiten Teil der Arbeit wird gezeigt, dass sich das von Schwerin attestierte genetische Gefährdungsdenken durch das neue „epigenetische“ Umweltbewusstsein weiter ausdehnt. Sollte es stimmen, dass die Forschungserkenntnisse der Epigenetik den Handlungsraum des Individuums erweitern, gewänne die ohnehin bereits bedeutungsvolle Selbstregulierung zusätzlich an Gewicht. Nun allerdings nicht die Selbstregulierung der genetischen, sondern die der epigenetischen Risiken. Im Hinblick auf diesen Zusammenhang wird die Verursachung lebensstilbedingter Volkskrankheiten behandelt und am Fallbeispiel des Präventionsdiskurses zum Metabolischen Syndrom gezeigt, zu welchen Verantwortungsverschiebungen dieses veränderte Denken des genetischen Umweltbegriffes führt. Der bereits historisch angebahnte Fokus auf die Eigenverantwortung ist hier kritisch zu hinterfragen. Wie jeder Anwendungsbereich neuen Wissens, etwa der der Biotechnologie, hat voraussichtlich auch die Epigenetik Licht- und Schattenseiten. Wenn der individuelle Lebensstil im Präventionsdiskurs im Auslegerahmen der Epigenetik im Sinne einer Biotechnik verstanden und zur Optimierung angewandt wird gilt es, die möglicherweise damit einhergehenden Schattenseiten nicht auszublenden. Dies ist wichtig, da der Epigenetik wegen ihrer Betonung des Umweltbezugs eine gewisse „Natürlichkeit“ anhaftet, wodurch sie im öffentlichen Diskurs, etwa im Gegenzug zur Gentechnik, positiv rezipiert wird (Seitz & Schuol 2016). Einer einseitigen Betrachtungsweise soll vorgebeugt werden.

schließlich auf einen Handlungsbereich. Hier liegt eine besondere Beziehung vor. Gerade weil man auch anders hätte handelt können, ist man selbst für die Handlungsfolgen verantwortlich.

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Hier wurde gezeigt, dass sich der Handlungsbereich mit dem Fortschritt des genetischen Wissens zunehmend erweitert, und nachgewiesen, dass dies Folgen für unser Verantwortungsdenken hat. Im Anschluss wird untersucht, wie diese Erweiterung sich angesichts der Forschungserkenntnisse der Epigenetik und des damit verbundenen Umweltbegriffes ausformt und welche Probleme dies mit sich bringt. Der durch die epigenetische Genregulation erweiterte Genbegriff leitet eine weitere Phase des genetischen Umweltbegriffs ein und fordert damit das ethische Denken heraus.

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Teil 2: Zur Ethik der Epigenetik

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Kapitel I: Der öffentliche Diskurs zur Epigenetik

„Epigenetik ist Eigenverantwortung.“ (Strunz, 2012)

1 Vorbedingungen zu einer Diskursanalyse Das öffentliche Interesse an der Forschungsdisziplin Epigenetik hat nach 2000 stark zugenommen, und in diesem Diskurs, in wel­ chem sich wissenschaftliches Faktenwissen mit lebensweltlichem Zeitgeschehen verbindet, bilden sich erste Strukturen heraus. Da diese Strukturen das Denken und Handeln des Einzelnen prägen, entfalten sie eine eigene Wirkmächtigkeit. Diese Leitthemen des öffentlichen Diskurses sollen nun unter besonderer Beachtung der Beteiligten erfasst werden. 1.1 Grund der Diskursanalyse und Verortung Der folgende Abschnitt widmet sich einer Analyse des öffentlichen Diskurses zur Epigenetik, wobei es das Ziel ist, die zentralen Dis­ kursthemen anhand einer Aufschlüsselung der Leitthemen der Me­ dienmacher einerseits und der Medienkonsumenten andererseits zum Forschungsgebiet der Epigenetik zu ermitteln und anschlie­ ßend daran deren Hintergründe genauer zu beleuchten. Der Ab­ schnitt ist deskriptiv. Das zu betonen ist wegen des übergeordneten ethischen Rahmens wichtig, da – anders als im Falle medienethi­ scher Auseinandersetzungen zur Wissensvermittlung und deren populärwissenschaftlichen Tradierungen – hier nicht die Medien­ kritik das Ziel ist. Die Analyse des öffentlichen Diskurses geschieht in heuristischer Absicht. Die Diskursthemen zur Epigenetik wer­ den herausgearbeitet, um diese dann in einem späteren Schritt in ethischer Hinsicht zu problematisieren. Der heuristische Ansatz der Diskursanalyse bedarf der Erläuterung. Anders als frühere bioethische Arbeiten zur Genetik, welche retrospektiv erfolgten, wonach die ethische Auseinandersetzung

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an bereits bestehenden Problemen ansetzte, greift diese Arbeit vor. Da bislang noch keine ethischen Problembereiche der jungen For­ schungsdisziplin Epigenetik bekannt sind, begleitet diese Arbeit die Etablierung der neuen Disziplin und versucht, gegenwärtig sich abzeichnende Tendenzen zu Ende zu denken. Der zweite Teil die­ ser Arbeit thematisiert also streng genommen mögliche Probleme. Dieses Vorgreifen ist zugleich die Stärke, aber auch die Schwäche einer prospektiv vorgehenden Bioethik. Indem sie vorgreift, kann sie einerseits rechtzeitig auf mögliche Probleme hinweisen, sodass diesen beizeiten entgegengearbeitet werden kann. Da sie damit aber in eine noch unsichere Zukunft hineingreift, droht sie andererseits auch Probleme zu konstruieren, die sich zukünftig eventuell erst gar nicht ergäben, und schürte möglicherweise Ängste, welche dann die Handlungsweisen auslenkten. Aus dieser Perspektive heraus kann die prospektive Bioethik also ihrerseits moralisch problema­ tisch werden, womit sich das Anliegen der anwendungsbezogenen Ethik in ihr Gegenteil umkehrte. Diesem Problem soll hier anhand einer Diskursanalyse vorge­ beugt werden. Die Ermittlung der gegenwärtig öffentlich diskutier­ ten Themen zur Epigenetik kann helfen, das Irrtumsrisiko in Bezug auf zukünftige Problembereiche der Epigenetik zu minimieren, in­ dem sie die Themen und Bedenken aus der Öffentlichkeit mit auf­ greift. Über die bereits diskutierten wissenschaftlichen Bezüge der Epigenetik hinaus sollen somit auch die Sorgen des Bürgers eine Stimme erhalten. Die Leitthemen des öffentlichen Diskurses zur Epigenetik werden erfasst, um auf dieser Basis in einem anschlie­ ßenden Arbeitsschritt deren ethisches Problempotential genauer zu behandeln. Da bisher kaum empirische Forschung zum öffentlichen Diskurs der Epigenetik vorliegt, kann auf keine Vorarbeit zurückgegriffen werden. Jedoch bestehen anfängliche Sondierungen. In einer die­ ser ersten Arbeiten wägt etwa die Biologin Stefanie Seitz (2016), ausgehend von der Erfahrung aus dem Bereich der Technikfolgen­ abschätzung, das Für und Wider einer gezielten Beteiligung der Öffentlichkeit zu Forschungsthemen der Epigenetik ab. Eine solche Partizipation soll – ähnlich oberem Anliegen – auf die Wünsche und Bedürfnisse einer Gesellschaft eingehen, um somit Fehlentwicklun­ gen rechtzeitig vorzubeugen. Seitz plädiert für einen öffentlichen Diskurs. Die Forderung bedeutet allerdings nicht, dass bisher noch kein öffentlicher Diskurs zur Epigenetik bestünde, sondern es geht um sein gezieltes Anstoßen im Falle von problematischen Themen. https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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Ein zweiter, gemeinsamer Artikel mit Stefanie Seitz (Seitz & Schuol 2016) geht auf die Strukturen des öffentlichen Diskurses zur Epigenetik ein. Sie werden anhand von drei Fallstudien ermittelt: Eine Medienanalyse ergab, dass die erste Publikationswelle bis Ende 2013 zur Epigenetik sich in drei Phasen einteilen lässt. Von 2000 bis 2004 wird die Epigenetik als neues Forschungsgebiet the­ matisiert. In der Zeit von 2004 bis 2007 geht die Berichterstattung zur Epigenetik generell etwas zurück. Nach 2008 steigt die Beitrags­ zahl wieder deutlich an, wobei die Themen vielfältiger und erste kritische Stimmen laut werden. In der Medienanalyse wurden vier Leitthemen ausgemacht. So bezieht sich etwa die Hälfte aller Pub­ likationen auf den „Fortschritt der Epigenetik“, 30 % der Beiträge thematisieren die „Überwindung des Gendogmas“, 15 % der Beiträ­ ge widmen sich dem Themenbereich „Gedächtnis der Gene“, wor­ unter schädliche Wirkungen von Umwelteinflüssen fallen, und 5 % widmet sich dem Themenkomplex „Sex und Epigenetik“, wobei z. B. Ursachen von Homosexualität und Monogamie behandelt werden. Da diese Medienanalyse nur die Seite der Medienmacher the­ matisierte, wurde zusätzlich in Form einer empirischen Auswer­ tung einer öffentlichen Veranstaltung zur Epigenetik (Epigenetik: Können wir unsere Gene beeinflussen? – Karlsruhe 20.09.2013) auf „den“ Bürger eingegangen. Obgleich keine statistisch verwertbaren Ergebnisse erzielt werden konnten, gibt diese Umfrage wegen der regen Bürgerbeteiligung Auskunft über zentrale Themenkomplexe. Zum einen wurden von Bürgerseite Verständnisfragen gestellt, wo­ bei eine große Bereitschaft geäußert wurde, das neue Wissen dann später im Alltag anzuwenden. Zum anderen stellt das Thema Ver­ antwortung ein Hauptanliegen der Bürger dar. Es wurde sowohl die eigene Verantwortung etwa in Bezug auf den Lebensstil als auch die Verantwortung des Staates thematisiert, wobei das Thema Epige­ netik hier in das größere Thema „Lebensmittelsicherheit und Ver­ braucherschutz“ eingebettet wurde. Auf eine dritte in diesem gemeinsamen Artikel dargestellte Fall­ studie wird im Folgenden genauer eingegangen. Wurde bisher die Seite der Medienmacher getrennt von der der Bürger beobachtet, widmet sich diese nachfolgende Fallstudie dem Prozess der Wis­ sensvermittlung der Epigenetik, um beide Seiten zu verbinden. Da es sich hier nicht um eine lineare Übertragung, sondern eine Trans­ formation von Wissen handelt – einzelne Themen weichen vonein­ ander ab –, wird darüber hinaus auf die zeitgenössischen Hinter­ gründe eingegangen, welche diese Abweichungen erklären. https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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1.2 Methodik zur Analyse des öffentlichen Diskurses Zunächst ist es wichtig, den Begriff „öffentlicher Diskurs“ weiter einzugrenzen. Dabei stößt man bereits beim Teilbegriff „Öffent­ lichkeit“ auf erste Schwierigkeiten. Negt und Kluge bezeichnen ihn als „historische[n] Begriff von bemerkenswerter Schwammigkeit“ (1972, 17). Tatsächlich weicht schon sein wissenschaftlicher Anwen­ dungsbezug kontextspezifisch ab. Während er in den Kommunika­ tionswissenschaften eher in einem empirisch-analytischen Sinne Verwendung findet, erhält er in den Sozialwissenschaften zudem einen normativ-funktionalen Beiklang (Donges & Imhof 2001). In unserer alltäglichen Redeweise gilt der Begriff üblicherweise als Gegenbegriff zum Privatbereich. Davon weicht der im Folgenden gebrauchte Begriff ab. Neben dem Privatbereich wird hier auch der professionelle Diskurs zur Epigenetik als Gegenbegriff verstanden. Unter den Begriff Öffentlichkeit fallen also die fachfremden Dis­ kursakteure, d. h. die interessierten Laien. In dieser Hinsicht neh­ men populärwissenschaftliche Publikationen eine Schlüsselrolle in der Wissensvermittlung zwischen den Wissenschaften und der Öf­ fentlichkeit ein. Sie bereiten das Fachwissen laienverständlich auf und machen es damit der breiten Öffentlichkeit erst zugänglich. Auch der Teilbegriff „Diskurs“ ist erklärungsbedürftig. Wenn er im Folgenden im Rahmen des Begriffes „Diskursanalyse“ verwen­ det wird, so weicht dieser von den in Anlehnung an Michel Foucault (1981) entwickelten Verfahren der Sozialwissenschaften zur Ermitt­ lung von Wissens- und Machtstrukturen sowohl hinsichtlich der Methode als auch dessen Anspruch ab. Dies betrifft zunächst einen zeitlichen Aspekt. Anders als im Falle der klassischen Diskursanalyse wird hier kein historischer Diskurs untersucht, wonach in diesem rückblickend Wissensstrukturen erkannt werden könnten, sondern hier wird der gegenwärtige öffentliche Diskurs zur Epigenetik er­ fasst. Aufgrund des andauernden Diskurses können somit keine endgültigen Erkenntnisse ermittelt werden, sondern es werden nur grundlegende Tendenzen erfasst. Ein weiterer Punkt betrifft die Dis­ kursakteure. Wenn Foucault im bewussten Gegensatz zu unikausa­ lem Verursachungsglauben von einem wechselseitigen Beeinflus­ sungsverhältnis der Diskursakteure untereinander ausgeht, wonach sich Machtstrukturen interaktiv entwickeln, kann hier lediglich das Verhältnis der Medienmacher auf die Medienkonsumenten berück­ sichtigt werden. Rückkopplungen von Seiten der Konsumenten auf die Medienproduzenten können im Rahmen dieser Arbeit nicht https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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untersucht werden. Dies begünstigt zwar eine deterministische In­ terpretation der Verhältnisse, allerdings kann, wie noch gezeigt wird (2, I, 3.1), dieser Gefahr methodisch entgegen gewirkt werden. Schließlich ist der Anspruch dieser Analyse geringer. Hier geht es weniger um die Ermittlung bestehender Machtverhältnisse, sondern hier interessieren vor allem die Diskursthemen zur Epigenetik. Kurz ist noch auf die Bedeutung des Wissensstandes einzuge­ hen. Aufgrund der gegenwärtigen Etablierungsphase der Epigenetik als Teilforschungsgebiet der Molekulargenetik kann – anders als im Falle der Genetik – gegenwärtig noch kein bestehendes Grundwis­ sen in der Öffentlichkeit vorausgesetzt werden (Seitz 2016). Daher nimmt die Kommunikation der wissenschaftlichen Fakten in den öffentlichen Diskurs eine besondere Bedeutung ein. Da sie das Fach­ wissen für den Laien aufbereiten und ihm dadurch erst verständlich machen, spielen populärwissenschaftliche Veröffentlichungen dabei eine wesentliche Rolle. Diese Öffentlichkeitsarbeit stellt keine li­ neare Informationsvermittlung, sondern eine Transformation des Wissens dar. Im Hinblick auf das fachliche Vorwissen beschreibt diese Beziehung nämlich ein asymmetrisches Verhältnis. Um eine Anschlussfähigkeit zwischen dem Fachwissen der Forscher und dem Alltagswissen der Leser zu erzeugen, ist es notwendig, auf Ge­ meinplätze zurückzugreifen. Dabei entstehen neue Konnotationen, welche in den Fachdisziplinen ursprünglich keine Rolle spielten. Es handelt sich hier also um mehr oder weniger notwendig vorkom­ mende Artefakte der Wissensvermittlung. Um zu ermitteln, welche neuen Konnotationen so entstehen, wird im Folgenden das Verhältnis zwischen den Wissenschaftsjournalisten und ihrer Leserschaft mittels gängiger Instrumente der Medienwir­ kungsforschung aufgeschlüsselt. Damit werden die zentralen Themen des öffentlichen Diskurses im Entstehungsprozess erfasst. Aufgrund des obigen Transformationsverhältnisses gelten sowohl die Medien­ macher als auch die Medienkonsumenten als aktive Akteure. Ihre Kommunikation wird in den Kommunikationswissenschaften an­ hand von fünf Einflussfaktoren analytisch erschlossen, wobei hier die Lasswellsche Formel – „Wer sagt was in welchem Kanal zu wem mit welchem Effekt?“ (Lasswell 1948, 37) – als Ausgangsgrundlage dient.1 Heinz Pürer, ein führender deutscher Kommunikationswissenschaft­ 1 Sie wurde 1948 von Harold Dwight Lasswell, einem Pionier der Kommunika­ tionsforschung, vorgeschlagen. Obgleich neuere Ansätze dieses Modell erweitert haben, reicht diese Grundstruktur in diesem Analysekontext aus.

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ler, stellt den Zusammenhang folgendermaßen dar: „Ein Journalist (= Kommunikator) berichtet über ein beobachtetes Ereignis in seinem Beitrag (= Aussage) in einer Zeitung oder im Rundfunk (= Medium); er wendet sich dabei an ein Publikum (= Rezipienten) und beabsichtigt bzw. erzielt – möglicherweise in anderer als intendierter Weise – eine Wirkung (= Wirkung)“ (Pürer 2003, 20). Es wird davon ausgegangen, dass die Informationsverarbeitung nicht gleichförmig stattfindet, son­ dern dass sie von situativen Kriterien abhängt. Folgend werden die Einflussfaktoren dargestellt, um sie später anzuwenden: Die Frage nach dem Wer bezieht sich auf die Informationsquelle, deren Art die Information beeinflusst. Autoren sind z. B. aufgrund des Berufstandes klassifizierbar. Für Pürer „stellt der Begriff Kom­ munikator eine Sammelbeziehung für alle Personen dar, die – in welcher Form auch immer – an der Produktion und Publikation von Medieninhalten beteiligt sind.“ (Ebd., 108) Die Frage nach dem Was bezieht sich auf den Inhalt der Infor­ mation. Nach Pürer (ebd., 186) wird im Hinblick auf diesen Inhalt zwischen originärpublizistisch verbreiteten Aussagen, welche den ursprünglichen wissenschaftlichen Publikationen entstammen, und denen der Medienmacher, wie hier etwa der Wissenschaftsjournalisten, unterschieden – die beiden Aussagen können differieren. Die Frage nach dem Wem bezieht sich auf den Rezipienten. Da­ bei sind zwei Punkte von Bedeutung. Erstens beschäftigt sich die Rezipientenforschung sowohl mit „Fragen der Nutzung der Medien durch den Einzelnen und seiner Auseinandersetzung mit Medien­ angeboten (Mikroebene) wie auch mit gesellschaftlichen Prozessen, die durch Mediennutzung direkt oder indirekt verursacht werden (Makroebene)“ (ebd., 310); d. h. Folgekommunikationen sind weiter zu beachten. Zweitens gilt das Konzept eines passiven Rezipienten als überholt. Der Rezipient „wählt aus, prüft, verwirft; und oft setzt er den Medieninhalten auch Widerstand entgegen. Dieses Konzept vom aktiven Rezipienten hat die Lehre der Massenkommunikation grundlegend verändert“ (Maletzke 1998, 55). Dies gilt, da es einer Determination durch Medien widerspricht. Die Frage nach dem Effekt bezieht sich auf die erzielte Infor­ mationswirkung. Das dargestellte aktive Verständnis des Rezipien­ ten wies darauf hin, dass die gesendete Information eine andere als die ursprünglich vom Kommunikator intendierte Wirkung erzielen kann. Dieses ist zu prüfen. Schließlich bezieht sich die Frage nach dem Kanal auf das Infor­ mationsmedium, dessen Beschaffenheit ebenfalls die Information https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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verändern kann. Auf diesen Punkt gehe ich nun kurz ein, da die po­ pulärwissenschaftlichen Publikationen zur Epigenetik eingegrenzt werden müssen. 1.3 Eingrenzung des Analyseobjekts Die wissenschaftsjournalistische Aufarbeitung der Forschungser­ gebnisse der Epigenetik erfolgt multimedial (Seitz & Schuol 2016). Neben den klassischen Massenmedien wie Fernsehen, Rundfunk und Printmedien spielt dabei das Internet eine zentrale Rolle.2 Da dieser Diskurs in seiner Breite hier nicht nachgezeichnet werden kann, wird im Folgenden ein anderes Medium zur Darlegung des Fachwissens gewählt. Im kurzen Zeitrahmen von lediglich drei Jah­ ren (2008–2010) erschienen im deutschsprachigen Raum folgende fünf Sachbücher zum Thema Epigenetik.3 Joachim Bauer

Jörg Blech Bernhard Kegel Peter Spork Johannes Huber

Das Gedächtnis des Körpers – Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern (2002) [Das kooperative Gen – Abschied vom Darwinismus (2008)] Gene sind kein Schicksal – Wie wir unsere Erbanlagen und unser Leben steuern können (2010) Epigenetik – Wie Erfahrungen vererbt werden (2009) Der zweite Code. Epigenetik – oder wie wir unser Erbgut steuern können (2009) Liebe lässt sich vererben – Wie wir durch den Lebenswandel die Gene beeinflussen (2010)

2 Alle großen Projekte zur Epigenetik haben einen eigenen Internetauftritt. Jen­ seits der fachlichen Bezüge erfüllt ihre Präsenz auch die Funktion von Öffent­ lichkeitsarbeit und ist populärwissenschaftlich ausgerichtet. Ein gutes Beispiel ist www.epigenome.eu (Abruf: 31.03.2017). Diese Homepage leistet ausschließ­ lich Öffentlichkeitsarbeit. Als öffentliches Wissenschaftsportal hat es den Auf­ trag, das europäische Epigenom-Exzellenznetzwerk zu präsentieren. 3 Zwar publizierte Joachim Bauer (2008) in diesem Zeitrahmen ein Buch zum The­ ma Epigenetik, da dies aber den Fokus auf die Evolutionstheorie setzt, wird in der Diskursanalyse auf ein früheres Werk (Bauer 2002) eingegangen. Im öffentlichen Epigenetikdiskurs spielt auch das Buch Intelligente Zellen: Wie Erfahrungen unsere Gene steuern (Lipton 2006) eine Rolle. Dies weicht von den übrigen Büchern ab: Als US-amerikanische Erstveröffentlichung repräsentiert es nicht den hier anvisierten deutschsprachigen Raum. Auch gilt es als ein Hauptwerk der spirituellen Bewegung New Biology und stellt als esoterische Literatur kein Sachbuch dar. Liptons Buch scheidet daher für die Diskursanalyse aus.

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Da diese Sachbücher thematisch wie strukturell einen sehr ähnlichen Aufbau haben, bieten sie sich als Ausgangskorpus der Diskursanalyse an. Angesichts ihrer Themenbandbreite soll an das Ziel dieses Abschnittes erinnert werden. Es gilt die Hauptthemen des öffentlichen Diskurses zur Epigenetik durch den Kommuni­ kationsprozess zwischen Medienmachern und -konsumenten her­ auszuarbeiten. Die Inhalte der Bücher werden daher nicht in ihrer Extension erfasst. Da nachfolgend nur die Leitthemen dargestellt werden, bleibt diese Diskursanalyse kursorisch; dabei interessieren inhaltliche Abweichungen in den Büchern weniger als gemeinsame Aussagen. Im Folgenden werden diese Gemeinsamkeiten anhand der Einflussfaktoren Kommunikator, Aussage, Medium, Rezipient und Wirkung erschlossen, welche nun als Analysestruktur verwen­ det werden. Da die Transformation des Fachwissens in das öffentliche Wissen von besonderer Bedeutung ist, wird der Einflussbereich der Medien­ macher von jenem der Medienkonsumenten getrennt behandelt. In einem ersten Abschnitt wird auf die Autoren als Wissenskommunikatoren, auf die Kernaussagen ihrer Bücher sowie auf die Beson­ derheit des verwendeten Mediums eingegangen. In einem zweiten Abschnitt wird der Effekt dieser Kommunikation untersucht und auf dieser Basis wird dann anschließend die Eigenart der Medienrezipienten herauspräpariert. Die Trennung in zwei Einflussbereiche hat daher einen weiteren Grund. Während die Gruppe der Medi­ enproduzenten methodisch auf die fünf Autoren festgelegt wurde, ist die Erfassung der Medienkonsumenten nicht in gleicher Weise möglich. Zu ihrer Ermittlung bedarf es einer gesonderten Untersu­ chung. Da hier der Anspruch besteht, den öffentlichen Diskurs zur Epigenetik abzubilden, stellt sich die Frage, aus welchen Akteuren sich der Diskurs formiert und was diese Akteure kennzeichnet. Zur Beantwortung dieser Frage ist es notwendig, auch auf die zeitgenös­ sischen Hintergründe der Rezeption und Interpretation der Leit­ themen des Epigenetikdiskurses einzugehen. Hier wird sich zeigen, dass der betrachtete Diskurs nicht als isolierter Diskurs verstanden werden kann, sondern in übergeordnete Diskurse zur Bioplastizität und Prävention eingeschlossen ist. Erst auf dieser Basis kann der gesuchte Rezipient eingegrenzt werden. Zum umfassenden Ver­ ständnis der öffentlichen Debatte zur Epigenetik ist es wichtig, diese Außenbezüge nicht außer Acht zu lassen.

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2 Einflussbereich der Medienmacher Im Folgenden wird die Wissenstransformation aus den Wissen­ schaften in die Medien dargestellt. 2.1 Kommunikatoren: Wissenschaftserfahrene Publizisten Die Autoren werden nun im Hinblick auf ihren wissenschaftlichen Grad und ihr gegenwärtiges Arbeitsgebiet vorgestellt. In einem zweiten Schritt werden dann ihre Gemeinsamkeiten betrachtet, und es wird auf die Besonderheiten ihrer Einflussmöglichkeiten auf den Diskurs eingegangen. 1. Joachim Bauer ist Universitätsprofessor und arbeitet neben der Forschung als Oberarzt in der Abteilung für psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Freiburg. Während er früher noch selbst genetisch forschte, ist sein aktuelles Fachgebiet die Psychosomatik. Neben den Fachpublikationen veröf­ fentlichte Bauer sechs Bücher populärwissenschaftlicher Art, wobei die Bücher Das Gedächtnis des Körpers – Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern und Das kooperative Gen - Abschied vom Darwinismus sich der Epigenetik als Thema zuwenden.4 2. Jörg Blech arbeitet nach dem Studium der Biologie, Biochemie sowie einer Zusatzausbildung im Journalismus aktuell als Wissen­ schaftsredakteur beim Wochenmagazin DER SPIEGEL. Er schreibt u. a. Analysen zur Medikalisierung seitens der Ärzteschaft und Pharmaindustrie. Zudem arbeitete Blech als freier Autor und publi­ zierte bisher fünf Fachbücher.5 2010 erschien Gene sind kein Schicksal – Wie wir unsere Erbanlagen und unser Leben steuern können. 3. Bernhard Kegel studierte Biologie und Chemie und promo­ vierte mit einer agrarökologischen Arbeit. Kegel war im Bereich der Zoologie und Ökologie als aktiver Forscher tätig. Gegenwärtig arbeitet er als freier Autor und Publizist und veröffentlichte neben diversen biologischen Sachbüchern auch Romane.6 Seine außerwis­

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Bauer verweist auf http://www.psychotherapie-prof-bauer.de/ (Abruf: 31.03.2017) auf (Bauer 2002; 2006a; 2006b; 2007; 2008; 2011). Blech führt als einziger Autor keine Homepage. Seine Publikationen sind: (Blech 2000; 2003; 2005; 2007; 2010). Kegel verweist auf http://www.bernhardkegel.de (Abruf: 31.03.2017) auf: (Kegel 1996; 1997; 2000; 2001; 2007; 2009).

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senschaftlichen Publikationen wenden sich zumeist biologischen Themen zu. 2009 veröffentlichte Kegel Epigenetik – Wie Erfahrungen vererbt werden. 4. Peter Spork promovierte nach dem Studium der Biologie, An­ thropologie und Psychologie in Zoologie. Als freier Journalist pu­ blizierte er in Magazinen zu diversen biologischen Themen. Seine fünf Monographien behandeln ausnahmslos biologische Bereiche.7 Spork ist Herausgeber des Newsletters Epigenetik, welcher zu den wichtigsten Publikationsinstrumenten des öffentlichen Diskurses zählt.8 2009 erschien Der zweite Code. Epigenetik – oder wie wir unser Erbgut steuern können. 5. Johannes Huber ist seit 2004 als außerordentlicher Professor an der Medizinischen Universität Wien als Endokrinologe tätig und war bis 2007 Vorsitzender der Österreichischen Bioethik- Kommis­ sion. Zu seinen Interessen zählt u. a. die Anti-Aging-Medizin, wozu Huber im Bereich der Endokrinologie und Genetik mehrere popu­ lärwissenschaftliche Bücher verfasst hat. Mit 20 Monographien ist seine außerwissenschaftliche Publikationsliste die längste.9 Zur Epi­ genetik publizierte Huber 2010 Liebe lässt sich vererben – Wie wir durch den Lebenswandel die Gene beeinflussen. Alle Autoren der Sachbücher zur Epigenetik zeichnen sich durch eine starke Medienpräsenz aus. Neben Expertenauftritten zur Epi­ genetik in Funk und Fernsehen erscheinen ihre Artikel auch in nichtwissenschaftlichen Printmedien. Ihre Präsenz ist multimedial, wobei fast alle Autoren über einen Internetauftritt verfügen. Ihre Webpräsenz ist zur Außendarstellung wichtig. Hier weisen die Auto­ ren auf ihre Publikationen sowie auf ihre Karriere in den Wissen­ schaften und darüber hinaus hin. Durch diesen Webauftritt sind sie über ihre Fachkreise hinaus bekannt und, da sie bewusst in dieser Form auftreten, ist anzunehmen, dass sie auch öffentlich bekannt sein wollen. Für Interessierte ist es daher leicht, sich Informatio­ nen über ihr Leben und Wirken zu beschaffen. Da also alle Autoren 7 Spork verweist auf http://www.peter-spork.de (Abruf: 31.03.2017) auf: (Spork 2001; 2004; 2006; 2007; 2009). 8 Der Newsletter erscheint vierteljährlich unter: http://www.peter-spork.de/86-0Newsletter-Epigenetik.html (Abruf: 31.03.2017). 9 Huber verweist auf http://www.drhuber.at (Abruf: 31.03.2017) auf: (Huber 1998a; 1998b; 2000; 2002; 2004; 2005; 2007; 2008; 2010; Huber & Worm 1999a; 1999b; 2000; Huber & Gregor 2001; Huber et al. 2004; Huber & Buchacher 2005; Huber & Tempfer 2005; Huber & Wolfmayr 2005; Huber & Klentze 2005; Huber et al. 2007; Huber & Thirring 2011).

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erfahrene Wissenschaftspublizisten sind, eignen sie sich besonders gut zur Öffentlichkeitsarbeit. Neben ihren wissenschaftlichen Fach­ publikationen weisen sie eine teils erstaunliche Zahl an populär­ wissenschaftlichen Publikationen auf, sowohl in Form von Artikeln als auch von Sachbüchern. Die aufgeführten Autoren haben also langjährige Erfahrung mit der Aufbereitung von Fachwissen zur Vermittlung an eine Leserschaft ohne fachliche Vorkenntnisse. Bei allen Sachbuchautoren handelt es sich um natur- bzw. me­ dizinwissenschaftlich ausgebildete Wissenschaftler. Darüber hinaus haben sie – bis auf Blech – in ihrem Fachbereich promoviert. Bau­ er und Huber wurden darüber hinaus habilitiert. Während letztere noch gegenwärtig aktiv Forschung betreiben, arbeiten die übrigen als Wissenschaftsjournalisten und Publizisten zu naturwissen­ schaftlichen Themen. Alle Autoren sind Experten auf einem Fach­ gebiet. Aufgrund ihrer Fachkompetenz eignen sie sich im besonde­ ren Maße zur Öffentlichkeitsarbeit. Dieses Verhältnis zwischen den Wissenschaftspublizisten und der Leserschaft ist von Bedeutung, da es sich um ein asymmetrisches Verhältnis handelt. Als Fachexper­ ten haben die Autoren natürlich einen Wissensvorsprung – dies ist normal und betrifft jedes Informationsverhältnis. Aufgrund ihrer wissenschaftlichen Reputation handelt es sich aber auch um ein Autoritätsverhältnis. Der Ausbildungsgrad der Autoren kann den Lesern als bekannt vorausgesetzt werden, da die Autoren sowohl in ihren Sachbüchern als auch in ihrer Webpräsenz darauf hinweisen und ihre Fachkompetenz durchaus hervorheben. Von einem ähnlich hohen Ausbildungsgrad seitens ihrer Leser ist im Regelfall nicht auszugehen. Wie später gezeigt wird, fördert diese Asymmetrie zwar ihre Glaubwürdigkeit, was allerdings keineswegs ein Determi­ nationsverhältnis bedeutet (2, I, 3.1). 2.2 Aussagen: Epochenwandel, Steuerbarkeit und Verantwortung Im Anschluss werden die Themenschwerpunkte der Bücher zur Epigenetik dargestellt und ihre Gemeinsamkeiten erläutert. Es zeigt sich, dass im Übergang von den wissenschaftlichen zu den populär­ wissenschaftlichen Aussagen eine Transformation der Inhalte statt­ findet. Neben dem biologischen Wissen um die Genaktivität erhält ihre lebensweltliche Steuerung Bedeutung. Joachim Bauers Buchtitel Gedächtnis des Körpers – wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern ist Programm. Der https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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Psychosomatiker interessiert sich für den Zusammenhang von Psy­ che und Körper und widmet sich dem Arbeitsfeld der Neuroepige­ netik. In der Einleitung stellt er seinen Grundgedanken vor, die Auf­ hebung des Geist/Körper-Dualismus. Die Epigenetik verweise auf eine wechselseitige Beeinflussbarkeit und leite einen neuen „Mo­ nismus“ ein: „Organismus und Umwelt, Gene und ihre Umgebung bilden eine ‚Einheit des Überlebens‘, wie es der Biologe, Verhaltens­ forscher und Philosoph Gegrory Bateson ausdrückte. Die Frage ‚Gen oder Umwelt‘, über die auch heute noch begeistert gestritten wird, ist daher unsinnig. Beide funktionieren nur gemeinsam“ (Bauer 2002, 11). Bauer räumt dabei der sozialen Umwelt die besondere Be­ deutung eines Induktors ein. „Die Beiträge dieses Buches widmen sich der faszinierenden Tatsache, dass Faktoren, die Gene steuern und Gesundheit beeinflussen können, zu einem wesentlichen Teil aus dem Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen kommen“ (ebd.). Am Beispiel sog. Stressgene wird die genregulatorische Wir­ kung von Erlebnissen auf Neuronen dargestellt. Deren Wachstum und Vernetzung, d. h. die Neuroplastizität, wird erheblich durch psychische Erlebnisse beeinflusst. Bauers Anwendungsbezug ist die psychische Gesundheit, die gefördert oder behindert werden kann.10 Daraus schlussfolgert Bauer folgende Kernaussage: „Zusammen­ fassend heißt dies: Wir selbst wirken durch die Gestaltung unserer zwischenmenschlichen Beziehungen entscheidend daran mit, was sich biologisch in uns abspielt. Aus dem, was wir über die biologi­ sche Bedeutung sozialer Beziehungen heute wissen, ergibt sich eine neue Dimension der Verantwortung.“ (Ebd.) Jörg Blechs Titel Gene sind kein Schicksal – wie wir unsere Erbanlagen und unser Leben steuern können bezieht sich auf den Gen­ determinismus. Hier wird die Epigenetik unter einem Freiheitsas­ pekt behandelt. Von den drei Buchteilen widmet sich der erste den molekulargenetischen Grundlagen der Epigenetik, der zweite den Anwendungsbezügen im seelischen Bereich und der dritte Teil je­ nen im körperlichen Bereich. „Seelische“ Risikogene für Depres­ sion und Schizophrenie, oder „körperliche“ Risikogene für Adipo­

10 Bauers Buch schließt mit dem Hinweis, „dass alle aus der Umwelt kommenden Signale, die den Organismus in irgendeiner Weise aktivieren, ohne ihn zu be­ drohen, zur Aktivierung von Genen führen, welche die Nervenzell-Netzwerke des Gehirns stabilisieren und ihre Vernetzung erhöhen“ (Bauer 2002, 240). Gute Erlebnisse fördern die neuronale Aktivität und Plastizität und gelten als gesund­ heitsförderlich. Vice versa sind Umwelt-Stressoren zu meiden.

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sitas werden im Lichte des epigenetischen Wissens widerlegt. Ihre epigenetische Deaktivierbarkeit spricht gegen den Gendeterminis­ mus. Doch Blech geht weiter und behauptet, wir könnten durch den Lebensstil diese Gene steuern. Nicht das Genom determiniert uns laut Blech, sondern die verhaltensabhängige Genaktivität wirkt sich gesundheitsfördernd oder -behindernd aus. Er formuliert schließ­ lich eine „Bedienungsanleitung“ für die Gene: „Wer körperlich ak­ tiv ist, ausreichend Obst und Gemüse verzehrt, nicht raucht und den Alkoholkonsum moderat hält, der verlängert seine Lebensdauer im Durchschnitt um 14 Jahre“ (Blech 2010, 263). Aber: „(Z)ur Be­ dienungsanleitung für die Gene gehört natürlich auch, die Seele gut zu behandeln. Zuversicht und zwischenmenschliche Beziehungen, Yoga und Meditation führen, wie wir gesehen haben, zu regelrech­ ten Umbauarbeiten in der Architektur von Nervenzellen. Lernen und Erinnern sind verbunden mit epigenetischen Änderungen im Gehirn“ (ebd.). Blech leitet von dieser Beeinflussbarkeit eine neue Verantwortung ab: „Damit haben wir nicht nur ein Stück weit Kon­ trolle über unser eigenes Gehirn, sondern wir tragen auch enor­ me Verantwortung für die seelische Entwicklung unserer Kinder“ (ebd.). Wegen der frühkindlichen Neuroplastizität gilt diese Ver­ antwortung zwar in erster Linie für Kinder, daneben aber auch für Erwachsene. Bernhard Kegels Buch Epigenetik – Wie Erfahrungen vererbt werden widmet sich vor allem der Vererbung. Die Entwicklung der Epigenetik wird historisch im Lichte der postgenomischen Wende nach dem Humangenomprojekt eingeleitet. Zwar widmet sich Ke­ gel auch der Entwicklung, er sieht diese aber im direkten Verer­ bungsbezug. Kegels Schreibweise ist differenzierend.11 In seinem Buch wird ein besonderer Fokus auf epidemiologische Vererbungs­ studien gelegt. Laut diesen Studien hat das Ernährungsverhalten in einer speziellen Entwicklungsphase (Großväter) Einfluss auf die 11 So warnt Kegel vor aktuellen Übertreibungen: „Wer den Wissenschaftskrimi aufschlägt, sollte sich angewöhnen, Forscher und Forscherinnen nach ihren Ergebnissen zu beurteilen, nicht nach ihren Ankündigungen. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass Wissenschaftler, die in der Öffentlichkeit auftre­­ ten, jenseits der verständlichen Begeisterung für das jeweilige Fachgebiet immer auch Werbung und (Forschungs-) Politik in eigener Sache machen. Sie sind nicht nur der Wahrheit verpflichtet, sondern auch ihren Institutionen, ihren Vorge­ setzten, ihren Mitarbeitern und vor allem ihren Geldgebern. Wer das beherzigt, wird den Wissenschaftswälzer nur ungern wieder aus der Hand legen. Gerade die nächsten Kapitel versprechen, überaus spannend zu werden.“ (Kegel 2009, 317)

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zweite Folgegeneration (Enkel). Letztere wiesen signifikant häufi­ ger Krankheiten auf als andere. Auf dieser Basis entwickelt Kegel einen neuen Verantwortungsbezug. Aufgrund des bisherigen Ver­ erbungsdenkens, das die Vererbung erworbener Eigenschaften aus­ schloss, sei es allgemeine Überzeugung gewesen: „Was wir essen, ist Privatsache und kommt nur uns selbst zugute“ (Kegel 2009, 9). Die­ ses Denken durchdringt fast vollständig unseren Alltag. „Die ein­ zigen Ausnahmen sind Schwangere und stillende Mütter. Sie sind nicht nur für sich, sondern auch für ihre Kinder verantwortlich“ (ebd., 10). Im Lichte der epidemiologischen Studien und aufgrund möglicher epigenetischer Vererbung würden sich laut Kegel unse­ re Handlungs- und Verantwortungsbezüge erheblich verändern.12 Bestärkt durch die Forschungserkenntnisse der Epigenetik dehnt Kegel die gegenwärtig vor allem selbstbezüglich geltenden Verant­ wortungsbereiche bezüglich der Ernährung transgenerational aus. Peter Sporks Titel Der zweite Code spielt auf den genetischen Code an. In einer Analogie behauptet er: „Wenn wir Menschen Computer wären, dann bildeten unsere Gene die Hardware. Aber natürlich müsste es auch eine Software geben – und die entschlüs­ seln seit ein paar Jahren die Epigenetiker“ (Spork 2009, 11). Die „Software“ verweist auf einflussreiche Programmierer, denn „wer in der Lage ist, diese Software gezielt umzuprogrammieren, der kann das unerhörte Potenzial, das in den Genen steckt, besonders gut ausschöpfen“ (ebd.). Auf der Grundlage dieser Computerme­ tapher wird die Genregulation in diversen Bereichen erklärt. Ne­ ben Themen wie der frühkindlichen Entwicklungsplastizität und den ernährungsbedingten Volkskrankheiten geht Spork auch auf die Langlebigkeit ein. Seine Kernbotschaft ist ein gesunder Lebens­ stil.13 Ein Kapitel widmet Spork einer „besonderen Verantwortung“ (ebd., 203-233). Wie Kegel zweifelt er die rein DNS-basierte Ver­ 12 So fragt Kegel: „Was aber wäre, wenn Ähnliches für alle Menschen gelten würde, ob Mann oder Frau, wenn der Glaube, Qualität und Quantität unserer Nahrung habe nur Konsequenzen für uns selbst, auf Sand gebaut wäre, wenn das, was wir zu uns nehmen, nicht nur Folgen für uns und unsere Kinder, sondern sogar für unsere Enkel hätte? Mit welchem Gefühl würden wir dann die Pommes in die Mayonaise tunken?“ (Kegel 2009, 10) 13 Die Kernbotschaft der Epigenetik lautet danach: „Tue so regelmäßig wie möglich immer wieder etwas für deine Gesundheit und deine Entspannung. Achte auf das, was du isst. Gönne deinem Körper die Bewegung, nach der er verlangt, und am besten noch ein wenig mehr. Behandele deine Kinder immer aufmerksam, ohne Aggressionen und fürsorglich und sorge dafür, dass dir dabei auch noch genügend Zeit für dich selbst bleibt.“ (Spork 2009, 261f)

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erbung an: „Heute scheint es daher mehr als wahrscheinlich, dass Menschen mit ihrem weitgehend selbstgewählten Lebensstil nicht nur die eigene Gesundheit beeinflussen. Über die DNS-Methylie­ rung, den Histon-Code und die Mikro-RNSs in ihren Eizellen oder Spermien entscheiden sie ein Stück weit auch über das Wohl oder Wehe ihrer Kinder und Enkel“ (ebd., 205). Auch Spork behauptet eine transgenerationale Verantwortung. Ein gesunder Lebensstil ist zwar auch fürs eigene Leben wichtig, vor allem ist aber an die Kin­ der zu denken, da „je früher im Leben gesundmachende Einflüsse auf unsere Epigenome wirken, desto größer ist der langfristige Er­ folg. Denn gerade die Schalter des zweiten Codes, die unsere Zellen als erste installieren, halten oft ein Leben lang“ (ebd., 264). Daher sei verantwortlich zu handeln. Johannes Hubers Buch Liebe lässt sich vererben – wie wir durch den Lebenswandel die Gene beeinflussen widmet sich den epigene­ tischen Bezügen des Lebensstils aus ähnlicher Perspektive. Huber sieht sich als Arzt in einer besonderen Verantwortung, über die ge­ sellschaftliche Bedeutung der Epigenetik aufzuklären. Dazu führt er Interviews mit renommierten Wissenschaftlern wie dem Epigen­ tiker Thomas Jenuwein, dem Psychoanalytiker Christoph Seidler, dem Hirnforscher Eric Kandel und dem Evolutionsforscher Bernd Lötsch. Er wendet sich einem weiten Spektrum an Themen zu. Sein Hauptanliegen ist aber die „Epigenetik des Streichelns“ (Huber 2010, 7). Damit bezieht er sich auf die besondere Bedeutung sozia­ ler Bindungen während der Entwicklung. Mit Bezug auf vormalig genzentrische Sichtweisen räumt Huber ein, dass mit dem Wissen um die Beeinflussbarkeit der Genregulation alles komplizierter geworden sei, allerdings hätten wir es nun in der Hand, die Ge­ sundheit unserer Nachkommen positiv zu beeinflussen (ebd., 27). Im Wesentlichen bestünden „drei epigenetische Großereignisse, in denen der Mensch besonders offen ist für Veränderungen, die durch Umwelteinwirkungen zustande kommen“ (ebd.): die Schwanger­ schaft, die ersten drei Lebensjahre und die Pubertät. Daneben hebt er die Alternsphase hervor. Auch geht er auf viele durch die Epige­ netik eingeleitete Folgen ein, wie die ökologische, gesellschaftliche und politische Verantwortung. Sein Fokus ist allerdings die transge­ nerationale Verantwortung, zu der wir gesamtgesellschaftlich ver­ pflichtet wären. So endet Huber im Kapitel Was wir unseren Kindern schuldig sind: „Es ist eine Expedition in eine aufregende Welt menschlichen Gemeinsinns. Es bedeutet, dass wir damit die Verant­ wortung für unseren Lebenswandel übernehmen, Stress abbauen https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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und viel mehr Fürsorge zeigen müssen. Das kostet Kraft – aber es könnte sich lohnen, weil wir auf diese Weise Liebe und Gesundheit vererben.“ (Ebd., 171) Obgleich sich die Sachbücher unterscheiden, teilen sie wichtige Gemeinsamkeiten. Bauer widmet sich der Neuroepigenetik, Blech dem Gendeterminismus, Kegel den Vererbungsbezügen der Epige­ netik, Spork erschließt den Epigenetikbegriff analog zur Computer­ metapher und Huber widmet sich dem Lebensstil. Die drei gemein­ samen Aussagen der Sachbücher sind folgende: Erstens erkennen alle Autoren in der Etablierung der Epigene­ tik einen epochalen Wandel im biologischen Denken. Nach dem vormaligen genzentrischen Denken schwingt das Pendel zurück und nun wird die genetische Plastizität betont. Zwar geht lediglich Blech explizit auch im Titel auf den vormals herrschenden Gende­ terminismus ein, allerdings betonen alle Autoren diese Wende und verwenden den Gendeterminismus im Sinne einer Kontrastfolie zur Darstellung der molekularen Genregulation. Auch beziehen sich alle Autoren auf das Humangenomprojekt als Schlüsseldatum und verorten die zentrale Etablierungsphase der Epigenetik in die Postgenomik. Zweitens wird die Bioplastizität thematisiert. Alle Autoren ge­ hen von einer Steuerbarkeit der molekularen Regulationsprozesse aus. Außer im Falle von Kegel führen die Autoren dieses Thema sogar im Titel – es handelt sich also um ein Leitmotiv. Die Autoren betonen die praktischen Anwendungsbezüge des neuen Wissens. Dem Lebensstil, also einem Geschehen, dem sich keiner entziehen kann, wird die entscheidende, genregulative Bedeutung zugespro­ chen. Das gemeinsame Handlungsziel aller Epigenetikbücher ist die Gesundheit, wobei präventive und therapeutische Aspekte zum Thema gemacht werden. Im Hinblick auf diese Steuerbarkeit ist ein weiterer Punkt wichtig: Natürlich wurde dem Lebensstil bereits da­ vor eine wichtige Bedeutung eingeräumt; mit dem genregulatori­ schen Wissen ändert sich aber das Bewusstsein. Nun scheinen die molekularen Bedingungen der Gesundheit erreicht und durch den Lebensstil aktiv steuerbar. Drittens sprechen alle Autoren von einer spezifischen Verantwortung, die aus dem neuen Wissen entwächst. Da die epigeneti­ schen Folgen der Lebensweise nicht nur von theoretischer Relevanz sind, sondern auch einen praktischen Anwendungsbezug hätten, schwingt ein moralischer Aspekt mit – diesen betonen alle Autoren unter Rückbezug auf die beiden vorherigen Leitthemen. Hier fällt https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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eine Besonderheit auf: Gilt Verantwortung in anderen Diskursen zumeist als ein eher negativ konnotierter Begriff, so ist erstaunlich, mit welcher Euphorie diese epigenetische Verantwortung dargestellt wird. Dies lässt sich durch den Bezug aller Autoren auf den vormals vermeintlich vorherrschenden Genfatalismus erklären, wonach Ge­ sundheitshandlungen sinnlos erschienen. Da eine solche genetische „Fremdsteuerung“ einem heteronomen Akt gleichkäme, somit eine Beschränkung der Autonomie darstellte, erscheint das Wissen der Epigenetik als ein Befreiungsschlag. Im Sinne dieser Befreiung gilt es, Verantwortung für Gesundheit und Krankheit zu übernehmen. Die populärwissenschaftlichen Aussagen zur Epigenetik wei­ chen von den originärpublizistischen wissenschaftlichen Aussagen ab. Die Abweichung betrifft vor allem die letzten beiden Punkte. Oft wird auch in Originalartikeln zur Epigenetik auf die postgenomische Wende verwiesen, und viele Wissenschaftler erkennen in der Epige­ netik eine qualitative Veränderung des Gendiskurses. Entsprechend wird in den wissenschaftstheoretischen Arbeiten von einem „deve­ lopmental turn“, d. h. von einer epistemischen Schwerpunktverla­ gerung in der Biologie von Vererbungs- zu Entwicklungsbezügen gesprochen. Dies stellt den Grundgedanken der vorliegenden Arbeit dar. Entsprechend verwundert es nicht, dass der Lebensstil bzw. seine molekulare Formalisierung zunehmend Bedeutung im Fachdiskurs erhält. Dabei nimmt das soziale (Stress, Traumata) oder das mate­ riale Umfeld (Ernährung) eine paradigmatische Rolle ein, und das neue Forschungsfeld „Umweltepigenetik“ bildet sich heraus (2, III, 2.1). Wissenschaftliche Belege für eine Steuerbarkeit der Genregu­ lation beim Menschen fehlen aber bislang. Zwar werden in Tier­ versuchen bestimmte Agenzien im Hinblick auf ihre genregulative Wirkung untersucht, allerdings geschieht dies unter kontrollierten und standardisierten Laborbedingungen. In diesem Zusammenhang spricht man zuweilen von Steuerung oder Programmierung. Die Rede beschränkt sich auf Tierexperimente. Humanstudien unter kontrollierten Bedingungen sind aus ethischen Gründen sowie we­ gen der Komplexität der lebensweltlichen Einflüsse nicht möglich. Tatsächlich stellen die einzigen epigenetischen Humanstudien, in denen der Lebensstil thematisiert wurde, ex post facto designs dar; Menschen mit einer biographischen Gemeinsamkeit werden nach­ träglich auf epigenetische Gemeinsamkeiten untersucht. Da Stör­ variablen so nicht ausgeschlossen werden können, haben die gefun­ denen Faktoren keinen Status von Ursachen. Hier werden nur Kor­ relationen zwischen biographischen Ereignissen und Änderungen https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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im Epigenom erfasst. Steuerung setzt ein fundiertes Ursache/Wir­ kungs-Wissen voraus, das gegenwärtig nur im Falle der Tierstudien vorliegt. In den Fachartikeln wird die Redewendung der Steuerung nicht in Bezug auf den Menschen verwendet. Wenn die Autoren der Sachbücher auf den kybernetischen Begriff zur Verdeutlichung der Anwendungsbezüge der Epigenetik zurückgreifen, gehen sie über die originär wissenschaftlichen Aussagen hinaus – hier handelt es sich um populärwissenschaftliche Verallgemeinerungen. Aus glei­ chen Gründen findet sich auch die Rede von Verantwortung nicht in den Originalarbeiten. 2.3 Medium: Populärwissenschaftliche Ratgeberliteratur Diese Diskursanalyse widmet sich der Mediengattung Sachbuch.14 Als „Zwitterwesen“ (Poromka et al. 2007, 111) nimmt dieses eine Mittelstellung zwischen der Belletristik und den wissenschaftlichen Fachbüchern ein. Im Folgenden wird auf die zentralen Unter­ schiede eingegangen, und anschließend wird die besondere Rolle des Sachbuchs bei der Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnis­ se dargestellt. Sachbücher lassen sich von der Belletristik durch das Kriterium „Konstruktion“ abgrenzen. Da sie über wissenschaftliche Themen – z. B. die Epigenetik – informieren, zählen sie zur nonfiktionalen Li­ teratur. Während die Belletristik Geschichten fingiert, widmen sich Sachbücher also objektiven Erkenntnissen. Daneben fällt hier die Handlung als das Kennzeichen der fiktionalen Literatur aus. Da allerdings auch Sachbücher den Sachstand in Form einer „Story“ dramaturgisch aufbereiten, ist es wichtig, auf den entscheidenden Unterschied hinzuweisen. Diese Aufbereitung hat im Falle des

14 Abweichend von der oben dargestellten Reihenfolge wird die Behandlung des Einflussfaktors Medium vorgezogen. Dies geschieht, da die Wahl des Mediums und dessen Herstellung in den Einflussbereich der Medienmacher fällt. Me­ dienarten werden abhängig vom Technikeinsatz unterschieden (vgl. Pross 1970). Leibgebundene Primärmedien, wie das Theater, funktionieren ohne Hilfsmittel. Sekundärmedien, wie Bücher, erfordern einen Herstellungsaufwand auf Seiten der Produzenten. Tertiärmedien, wie das Fernsehen, setzen einen technischen Aufwand auf Produzenten- (Sendungen erstellen) und Rezipientenseiten (Fern­ seher haben) voraus. Faßler (1997) erweitert die Systematisierung durch ein Quartärmedium und bezieht sich dabei auf die computerbasierten Vernetzungs­ möglichkeiten des WWWs.

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Sachbuchs lediglich einen instrumentellen Charakter. Da das fachli­ che Themenverständnis voraussetzungsreich ist, spielt hier die Wis­ sensaufbereitung eine wichtige Rolle. Fachwissen wird oft anhand lebensnaher Geschichten verdeutlicht. Derartige Gemeinplätze sind hier wichtig, um die gewünschte Anschlussfähigkeit zwischen dem Fachwissen und Laienwissen herzustellen, d. h. um den fachfrem­ den Leser „abzuholen“. In diesem Sinne wenden sich auch die hier betrachteten Sachbücher der Gesundheit als lebensweltlichem Be­ zug der Epigenetik zu. Dabei wird oft auf aktuelle Topoi, wie z. B. Altern und Volkskrankheiten, eingegangen, womit ein Gegen­ wartsbezug hergestellt wird. Auf diese Weise wird die Brisanz des Forschungsgebietes lebensnah vermittelt und der fachfremde Leser wird dadurch emotional an das „trockene“ Fachthema gebunden.15 Die dramaturgisch aufbereitete Rahmengeschichte stellt hier also ein Stilmittel und nicht, wie im Falle der fiktionalen Literatur, das Thema dar. Das Thema des Sachbuchs bleibt weiter das Fachwissen. Allerdings weichen Sachbücher auch von wissenschaftlichen Fachbüchern ab. Aus hermeneutischen Gründen bedarf die Wis­ sensvermittlung der Vereinfachung. Dieser Punkt ist struktureller Art. Zwischen den Wissenschaftlern und den Lesern liegt eine Wis­ sensasymmetrie vor. Zu ihrer Überbrückung weichen Autoren von Sachbüchern vom Standard wissenschaftlichen Publizierens, wie z. B. streng logischem Schlussfolgern, Verwenden von Fachbegriffen und Quellennachweisen teilweise ab. Die Sachbücher zeichnen sich durch Simplifizierungen, plastische Beispiele und bildliche Darstellungen aus, welche den Einblick in das komplexe Wissen erleichtern. Dies er­ folgt nicht ohne Veränderung. Entlang des Wissenstransfers „verhär­ tet“ sich das Wissen. Was in der Disziplin als Spekulation ausgewie­ sen werden müsste, neigt im Simplifizierungsprozess zur Tatsache.16 Beschrieb der Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck den disziplinä­ ren Denkstil als „größter Denkzwang bei kleinster Denkwillkürlich­ 15 In diesem Sinne heißt es: „Es muss eben etwas mit dem Leben des Lesers zu tun haben und ihm für die eigene Lebensführung irgendetwas anbieten, um sein Interesse zu wecken und ihn bei der Stange zu halten. Das aber erreicht das po­ puläre Sachbuch nicht zuletzt dadurch, dass es seine Leser unterhält. Zwar ist es kein Krimi, kein Thriller, kein Abenteuerroman, kein Science Fiction, keine Lie­ besgeschichte, keine Familiensaga. Gleichwohl übernehmen Sachbücher gerade aus diesen literarischen Genres ihre Plotstrategien.“ (Poromka et al. 2007, 111) 16 So bei der Genregulation spezifischer Gene. Da deren Komplexität den Darstel­ lungsrahmen sprengen würde, wird oft nur auf ein prominentes Beispiel einge­ gangen. Ohne Anmerkung suggeriert dies, das Muster wäre allgemeingültig.

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keit“ (1980, 124), kehrt sich dieses Prinzip im Falle der Sachbücher gelegentlich um. Dabei handelt es sich aber nicht um Unvermögen, sondern um eine notwendige Transferleistung. Da Sachbücher also aus strukturellen Gründen anders als Fachbücher „funktionieren“, wäre es falsch, wissenschaftliche Maßstäbe an die Sachbuchautoren anzulegen. Dies übersähe die hermeneutischen Schwierigkeiten bei der Wissensvermittlung. Da, anders als bei der linearen Wissensver­ mittlung, hier nicht von einem gemeinsamen Wissensstand ausge­ gangen werden kann, bedarf es der Umwege. Von den Sachbuchau­ toren wird zusätzlich zum Fachwissen auch Kreativität verlangt. Da­ mit überschreiten sie aber ihren wissenschaftlichen Arbeitsbereich. Sachbücher sind nicht bloß quantitativ einfacher (Wissensreduktion), sondern qualitativ anders als Fachbücher. Daher bezeichne ich die be­ trachteten Bücher als populärwissenschaftliche Sachbücher. Auch diese Kennzeichnung ist noch nicht hinreichend, um die Eigenart der Bücher darzustellen. Das zentrale Merkmal bezieht sich auf ihre Kernaussagen. Ihre lebenspraktische Ausrichtung lässt die Sachbücher der Unterkategorie Ratgeberliteratur zuordnen. Formal betrachtet zeigt sich diese Zugehörigkeit im Titel, da alle Untertitel durch das erklärende „Wie...“ eingeleitet werden. Damit wird ein ratsuchender Rezipient antizipiert, dem neuartiges Orientierungs­ wissen angeboten wird. Inhaltlich ist diese Zuordnung möglich, da sich die Autoren, über die hermeneutische Notwendigkeit hinaus, eine Anschlussfähigkeit zum Rezipienten herzustellen, auf lebens­ weltliche Problembereiche beziehen, welche im Gesundheitsbereich angesiedelt sind. Das Thema gesunder Lebensstil wird im Lichte der Forschungserkenntnisse der Epigenetik nicht lediglich dargestellt, sondern darüber hinaus auch angeraten. In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Einflussfaktor wichtig. Die populärwissenschaftli­ chen Ratgeber stellen in Bezug auf ihre Leserschaft ihr eigenes Se­ lektiv dar. Sachbücher können nicht, wie z. B. Fernsehbeiträge, pas­ siv konsumiert werden, sondern sie setzen die Bereitschaft voraus, sich mit dem Thema Epigenetik aktiv auseinandersetzen zu wollen. Zunächst müssen die Bücher nämlich gekauft oder in einer Büche­ rei ausgeliehen werden, sodass von einem Interesse des Lesers für die Epigenetik ausgegangen werden kann. Dieser Punkt gilt aber für alle Bücher. Erst die Klassifizierung als Ratgeberliteratur erklärt den Selektionszusammenhang. Weil Ratgeber Ratsuchende voraus­ setzen, kann ihr Leserkreis eingegrenzt werden. Da dies aber nur wenig über den Leser aussagt, wird der Einflussbereich des Lesers im Anschluss genauer behandelt. https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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3 Einflussbereich der Medienrezipienten Im Folgenden wird die Transformation des aufbereiteten Fachwis­ sens aus den Medien in die Öffentlichkeit thematisiert, wobei auf die Analysefaktoren Rezipient und Effekt eingegangen wird. Da­ bei besteht eine grundsätzliche Schwierigkeit. Anders als im Falle der Kommunikatoren ist die direkte Bestimmung der Rezipienten ohne genauere Situationskenntnisse nicht möglich. Wer zu der Le­ serschaft zählt und welche Eigenheiten damit einhergehen, muss indirekt abgeleitet werden. Dies geschah oben vermittels des Kom­ munikationsmediums. Da die hier behandelten Bücher Ratgeber darstellen, können die Leser als Ratsuchende spezifiziert werden. Nun wird diese Vorverortung des Rezipienten von Seiten des Effekts präzisiert. Dabei wird die Frage nach dem Rezipienten zu­ rückgestellt, um zunächst den Effekt der Ratgeber im öffentlichen Epigenetikdiskurs herauszuarbeiten. Zur Erfassung des Rezipienten ist ein Zwischenschritt nötig. Da der Effekt eine rezipientenseitige Interpretation der vermittelten Aussagen ist und diese Abweichung auf die lebensweltlichen Interpretationshintergründe des Lesers verweist, wird in einem zweiten Schritt auf diese eingegangen. Dermaßen kontextualisiert kann der Rezipient schließlich erschlos­ sen werden. 3.1 Effekt: Epigenetik ist Eigenverantwortung Unter der Bezeichnung Effekt wird die erzielte Informationswir­ kung verstanden. Da der Leser in der Kommunikationsforschung als ein aktiver Einflussfaktor gilt, ist hier nicht von einer passiven Übernahme vormaliger Leitthemen auszugehen. Davon abweichen­ de Aussagen werden gesucht. Eine Wirkung der Bücher zur Epigenetik spiegelt sich in den Re­ zensionen und angestoßenen Diskussionen. Die Bücher fallen auf fruchtbaren Boden, sie werden gelesen und weiterbehandelt. Dabei werden sie kritisiert und, da dies im öffentlichen Raum geschieht, auch weitervermittelt. Rezensionen zu den Sachbüchern finden sich sowohl in Fachzeitschriften als auch in den Massenmedien – dabei sticht das Medium Internet heraus. So spielen Rezensionen für den Kauf der Bücher eine wichtige Rolle. Dies nutzt z. B. ein bekanntes E-Comerce-Versandhaus (Amazon), indem es informative Rezensi­ onen mit strategischer Werbung zusammenführt. Möchte sich ein https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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Kunde informieren, so treten zwei Rezensionsarten auf. Einerseits die Kundenrezensionen: Leser geben für Leser ihren Eindruck ab und bewerten die Bücher. Alle populärwissenschaftlichen Sachbü­ cher zur Epigenetik wurden auf diese Weise rezensiert.17 Anderer­ seits die Fachrezensionen: Diese werden von den Autoren auf der Homepage zu ihren Büchern aus Werbungsgründen aufgeführt. Von Seiten der Fachpresse zeigt sich dabei ein reges Interesse. Ein Effekt der Sachbücher zur Epigenetik ist also, dass sie Breitenwirkung entfalten. Die Bücher werden sowohl von den Lesern selbst als auch von den Medien aufgegriffen und diskutiert. Dabei nehmen beide eine Multiplikatorfunktion ein und fungieren ihrerseits als Ratgeber. Dieser erste Effekt zeugt somit von einem öffentlichen Interesse bezüglich der Sachbücher zur Epigenetik. Allerdings sagt die bloße Beachtung dieser Breitenwirkung nichts über die Inhalte aus. Diese werden nun behandelt. Die öffentliche Diskussion der Bücher zur Epigenetik ist sehr heterogen. Das Spektrum der angestoßenen Diskussionen und Re­ zensionen ist zu weitläufig, sodass hier nur auf Leitgedanken ein­ gegangen werden kann. Dabei zeigt sich, dass die Autorenaussagen, wenngleich in der einen oder anderen Weise abgewandelt, stets wie­ der auftreten. Diese Abweichungen sind interessant. Als wesentli­ ches Moment beziehen sich alle Rezensionen auf die epochale Wende, konkret auf den Freiheitsaspekt, den die Epigenetik eingeleitet hat. Dabei steht der praktische Anwendungsbezug des Wissens im Vordergrund. Wurde seitens der Sachbücher noch auf die Grundla­ genforschung eingegangen, so spielt diese bei der Rezeption kaum mehr eine Rolle. Die seltenen theoretischen Diskussionen beziehen sich nicht auf die biologische Fachebene, sondern den Determi­ nismus als Ideologie. Das zentrale Thema dieser Diskussionen ist die Freiheit – sie wird intensiv diskutiert.18 Auch wird das Thema Lebensstil aufgegriffen und in der vorgegebenen Weise der Steuerbarkeit thematisiert. Die Lenkung der Gesundheit ist ein weite­ res Hauptthema, wobei diese sowohl auf körperlicher als auch auf 17 Dabei treten sowohl in quantitativer, als auch in qualitativer Hinsicht Unter­ schiede auf. Quantitativ wird das Produkt durch vergebene Sterne (1-5) gewer­ tet. Qualitativ ist es möglich eine eigene Rezension zu verfassen. 18 Dieses belegt eine weitere Auswertung der Blogs zur Epigenetik im Wochenma­ gazin DER SPIEGEL. Neben der Freiheitsdebatte spielt die Diskussion über die Bedeutung der Epigenetik für die Evolution eine Rolle. Die zentralen Themen sind dabei Lamarck und Lysenko. Hier wird die Freiheitsdebatte mit jener der Evolutionstheorie verbunden.

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geistiger Ebene als beeinflussbar verstanden wird. Schließlich ist die Verantwortung das zentrale Thema. Sie wird oft implizit themati­ siert, z. B. wenn das Wissen im moralischen Sinne verwendet wird und normative Sollensforderungen formuliert werden. Wird die Verantwortung aber expliziert, so bezieht sie sich hauptsächlich auf die Ebene des Individuums. Das geht deutlich über die Aussagen der Autoren hinaus, welche sich weiteren Verantwortungsfeldern zu­ wenden, bzw. die neue Verantwortungsform nicht weiter ausführen. Da die Engführung von Verantwortung und Individuum stark von den Aussagen der Ratgeber abweicht, somit einen Effekt der durch die Bücher angestoßenen Diskussion darstellt, ist dieser Punkt ge­ nauer darzustellen. Die Verantwortung des Individuums für seinen Lebensstil wird bei der Rezeption der Bücher kontrovers diskutiert. Auf diese Positionen gehe ich exemplarisch ein. Epigenetik ist Eigenverantwortung lautet der Titel eines kurzen Artikels von Ulrich Strunz (2012a). Dieser wird auf seiner eige­ nen Homepage aufgeführt, die sich Wellness- und Fitnessthemen widmet. Der Artikel bezieht sich optimistisch auf die Epigenetik, welche Strunz aus Sporks Buch bekannt ist. Strunz erkennt in der Epigenetik eine Bestätigung der eigenen Auffassungen.19 Sie zeige, dass kein anderer als man selbst für seine Gesundheit verantwort­ lich ist – dazu bedürfe es keines Arztes oder Medikamentes, sondern lediglich eines anhaltenden gesunden Lebensstils. Entsprechend richtet sich die zentrale Information gegen einen ungesunden Le­ bensstil, der biologische Langzeitfolgen hat. „Wir, also unser Körper und unser Geist, sind das Resultat unseres Lebensstils der letzten Jahrzehnte. Genau das ist der unerhörte Beitrag der Epigenetik zur 19 Epigenetik spielt auch in einem neueren Buch, einem Ratgeber zur Krebspräven­ tion, die zentrale Rolle. In Das neue Anti-Krebs Programm: Dem Krebs keine Chance geben – So schalten Sie die Tumor-Gene ab (Strunz 2012b) wird vorge­ geben, dass der Volkskrankheit Krebs mittels eines gesunden Lebensstils vorge­ beugt werden könnte. So könnten „Tumor-Gene“ abgeschaltet werden und ver­ lören dadurch ihr Bedrohlichkeit. Dies ist fachlich umstritten. Hier sei auf den Verantwortungsaspekt verwiesen. Zwar sind Risikofaktoren für Krebs bekannt, allerdings gilt gerade die Erkrankung an Krebs als besonders unvorhersehbar. Gälte Krebs durch den Lebensstil steuerbar, blendete man diese prinzipiell nicht kontrollierbaren Bezüge aus und fühlte sich im Falle der Diagnose Krebs für das Leiden selbst verantwortlich. 2013 erschien von Strunz sogar ein Ratgeber zur Epigenetik Der Gen-Code – Das Geheimnis der Epigenetik – Wie wir mit Ernährung und Bewegung unsere Gene positiv beeinflussen können. Dieses passt nicht in den gewählten Zeitrahmen von 2008–2010 und konnte in der Diskursanalyse nicht beachtet werden.

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Medizin: Wir haben unsere Gesundheit selbst in der Hand.“ Im Wesentlichen lässt sich der Artikel auf die im Zusammenhang mit der Epigenetik oft auftretende Kurzformel „Jeder ist seines Glückes Schmied“ zusammenfassen. Das Besondere daran ist die Einbettung des Artikels – er tritt auf einer Homepage auf, die Ratschläge für Fitnessbegeisterte und Seminare zum Thema Anti-Aging anbietet. Dieser Rahmen erklärt seine Kürze. Der Artikel ist keine Seite lang. Die Epigenetik wird von Strunz als Bestätigung des eigenen Fit­ nessprogrammes gesehen und bedarf keiner Erläuterungen. Unab­ hängig davon, ob der Artikel argumentatives Gewicht hat – das hat er nicht – zeigt er, wie die Epigenetik mit dem Ideal eines autono­ men Selbst zusammengeführt wird, woraufhin sich jene neu aufge­ worfene Verantwortung als Eigenverantwortung präzisieren lässt. Übernimm Verantwortung für dein Genom ist ein ebenfalls kur­ zer Artikel aus der Zeitschrift Gen-ethischer Informations Dienst der Soziologin Birgit Peuker (2010). Sie rezensiert die Bücher von Bauer, Kegel und Spork unter dem Untertitel Ein Blick in die Ratgeberliteratur erkundet die neuen Wege der Selbstsorge und Prävention. Damit bestätigt sie die Kategorie Ratgeber, aber auch deren zentrales Thema, die Gesundheit, bzw. die Krankheitsprävention. Dieser Artikel ist – anders als Strunz’ Artikel – kritisch gehalten. Zunächst werden die Bücher nach ihren Inhalten zusammengefasst, wobei die Verantwortung als ihr gemeinsames Thema erkannt wird. Danach kommt Peuker als Soziologin zu Wort – sie erkennt ein Ge­ fahrenpotential in der zukünftigen Epigenetikdebatte. Alle Anwen­ dungsbereiche der Epigenetik drängten nach Prävention. Gerade die Kopplung des Lebensstils mit einer neuartigen Verantwortung wird als besonders problematisch erkannt. So befindet sie zum Schluss: „Die Ausführungen von Kegel und Spork zeigen ganz gut, dass die Forderung nach persönlicher Verantwortung leicht zu handfestem sozialen Druck mutieren kann: seine Erbanlagen verbessern zu müssen“ (ebd., 39). Peuker erkennt in der neuen Freiheit eine Di­ alektik. Im Lichte der Epigenetik erscheinen die präventiven Maß­ nahmen hilfreich. Vice versa wird von außen erkennbar, wer keine Prävention betreibt, womit ein Rechtfertigungsdruck einhergeht. War eine solche Verantwortungszuschreibung aus genzentrischer Perspektive mit dem Verweis auf genetische Verursachung leicht abzuschütteln, so gelingt dies nun nicht mehr. Die Epigenetik eröff­ net neue Handlungs- und Freiheitsbereiche und erhöht die persön­ liche Autonomie, birgt allerdings nach Peuker auch das Problem der Verantwortungsüberforderung. https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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Die beiden Beispiele stellen Grundpositionen der Rezipienten­ seite zur populärwissenschaftlichen Ratgeberliteratur der Epigene­ tik dar und sie stehen sich polarkonträr gegenüber. Das gemeinsame Thema der hier aufgeführten Rezensenten ist die Eigenverantwor­ tung – diese wird aus einer eher individualethischen Ebene als eine besondere Chance gesehen, durch das eigene Verhalten aktiv len­ kend seine biologische Gesundheit befördern zu können und dies auch zu sollen. Dagegen wird aus einer sozialethischen Perspektive auf das Problempotential dieses Anwendungswissens hingewiesen, und vor drohenden Überforderungen gewarnt. Hier wird das neue Wissen im Sinne einer Belastung thematisiert. Unabhängig davon, ob für oder gegen Eigenverantwortung plädiert wird – oder: gerade aufgrund dieser neuen Polarisierung – macht sie das Kernthema auf Rezipientenseite aus. In den oben skizzierten Rezensionen handelt es sich um Extrembeispiele, die als Pole eines Spannungsfeldes ge­ sehen werden können, in dem die öffentliche Rezeption der Epige­ netik stattfindet. Die gleichen Leitgedanken finden sich im Wesent­ lichen auch bei den übrigen Rezensionen und öffentlichen Aussa­ gen zu den Ratgebern; stets in ähnlicher Opposition. Die Aussage der Ratgeberliteratur, über den Lebensstil die Erbanlagen „steuern“ zu können, bewirkt in der Rezeption eine gedankliche Zusammen­ führung von Lebensstil und Technik, wobei zufällige, schicksalhaf­ te Momente ausgeschlossen werden und alleine das Individuum ursächlich zu wirken scheint. Schließlich führt dieser Glaube zur Kurzformel „Epigenetik ist Eigenverantwortung“. Zur Verdeutlichung möchte ich den bei der Wissensvermittlung erzielten Effekt nochmals kurz hervorheben. Während die beiden ersten Leitthemen der populärwissenschaftlichen Ratgeber zur Epi­ genetik, die „epochale Wende“ und die „Steuerbarkeit“, ohne große inhaltliche Veränderung auf Rezipientenseite aufgegriffen wurden, weicht das letzte Leitthema davon ab. Hier findet eine starke Ver­ engung auf das Individuum statt. Die Präzisierung des Leitthemas „Verantwortung“ als „Eigenverantwortung“ wird erst von der Rezipientenseite hinzugefügt. Zwar gibt es auch in den Ratgebern Hinweise darauf, jedoch gehen diese darüber hinaus auch auf wei­ tere Formen der Verantwortung, wie etwa die soziale, die politi­ sche und die transgenerationale Verantwortung, ein. Dort wird das Thema Verantwortung differenzierter behandelt. Es zeigt sich also, dass die Leser keine passiven Rezipienten sind, welche vorgegebe­ nes Wissen bloß reproduzieren. Ein solcher Mediendeterminismus wird von der gegenwärtigen Kommunikationsforschung zurückge­ https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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wiesen, da die Medienkonsumenten bei ihrer Rezeption ihren eige­ nen lebensweltlichen Hintergrund mit einbringen und Inhalte ent­ sprechend auslegen. Der Rezeptionsakt stellt bei genauerer Hinsicht also einen Transformationsakt dar. Bei der Transformation wurde die ursprüngliche Aussage in Eigenverantwortung umgewandelt. Es stellt sich somit die Anschlussfrage, was die Veränderung bewirkt. 3.2 Kontext: Eigenverantwortung im Zeitgeschehen Die auf der Grundlage des Kommunikationsmediums vorgenom­ mene Beschreibung des Lesers als Ratsuchender kann weiter prä­ zisiert werden. Es wurde gezeigt, dass der Rezipient aufgrund des erzielten Effekts als ein aktiver Diskursakteur gilt. Seine Auslegung der Verantwortung als Eigenverantwortung verweist auf einen spe­ zifischen Interpretationshintergrund und ist daher als Indikator zur Eingrenzung des Rezipienten hilfreich. Die systematische Verände­ rung der Aussage verweist auf gesellschaftliche Zusammenhänge. Hier werden die Bezüge der Eigenverantwortung nun aus drei Per­ spektiven näher beleuchtet, wobei gezeigt wird, dass ihre Betonung nicht zufällig ist, sondern dass der öffentliche Diskurs zur Epigene­ tik in bestehende Diskurse eingebettet ist. 3.2.1 Kultureller Wertbegriff: Eigenverantwortung als Selbstentfaltung Sucht man nach der Bedeutung von Eigenverantwortung, so fällt auf, dass der Begriff in den Lexika entweder gar nicht gelistet wird oder dass dieser sich nur in neuesten Ausgaben findet. Die Eigen­ verantwortung hat in der deutschen Sprache erst jüngst an Be­ deutung gewonnen und ihre begriffliche Erfassung steht noch aus. Offenbar reicht der Verantwortungsbegriff nicht aus, um manche Zusammenhänge adäquat darzustellen. Eigenverantwortung wird vom Duden (2013) als „eigene, selbst zu tragende Verantwortung“ definiert, wobei hier „etwas eigenverantwortlich entscheiden“ als Handlungsbeispiel genannt wird. Damit wird die autonome Hand­ lung betont. Weiter ausgeführt wird der Begriff einzig vom Gabler Versicherungslexikon (Weber 2011). Da dies im Kontext privater bzw. gesetzlicher Krankenversicherung geschieht, ist hierbei von einer spezifischen Verwendungsweise auszugehen. Auf diese Be­ https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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griffsprägung im Versicherungswesen wird später im politischen Rahmen eingegangen. Davor gehe ich auf die kulturelle Dimen­ sion ein. Sozialwissenschaftler verzeichnen zum Jahrtausendwechsel ei­ nen Wertewandel in Deutschland.20 Im Kontext der Globalisierung erfolgt ein Wechsel von den im Nachkriegsdeutschland zentralen „Unterordnungs- und Fügsamkeitswerten“ hin zu „Selbstentfal­ tungswerten“ (Klages 2002, 29ff). Im Komplex dieser Selbstentfal­ tungswerte gilt die Eigenverantwortung als „zivilgesellschaftliche Ressource“ (Klages 2006) und spielt eine zentrale Rolle in der Ge­ sellschaft. Diese zeigt sich in entsprechenden Wertestudien, auf de­ ren Rangliste die Eigenverantwortung regelmäßig oben liegt. So fiel dem Wert „Eigenverantwortung“ im Speyerer Werte­ survey von 1997 (Gensicke 2002, 48), der in der Formulierung „eigenverantwortlich leben und handeln“ gemessen wurde, nach Partnerschaft und gutes Familienleben der Platz drei von insgesamt 24 gemessenen Werten zu. Von den Befragten stuften ihn 76 % als „sehr wichtig“ und 92 % als „wichtig“ ein. Dabei herrscht in den alten und neuen Bundesländern eine Gleichgewichtung, sodass Eigenverantwortung als charakteristisch für die gesamtdeutschen Bevölkerung gilt. Spätere Studien bestätigten diesen hohen Status. So erfasst die Shell-Jugendstudie von 2002 Eigenverantwortung ebenfalls als einen der wichtigsten Werte (Hurrelmann 2002). Nach Freundschaft, Partnerschaft und Familienleben entsprach ihr hier der vierte Platz von insgesamt 24 gemessenen Werten. Die Eigen­ verantwortung gilt als ein zentraler Wert. Obgleich auch spätere Studien den zentralen Rang des Wertes Eigenverantwortung bestätigen, sind die früheren Studien aber aussagekräftiger. Geht man von Eigenverantwortung als zentralem Begriff der gegenwärtigen Reform der Sozialsysteme (2, I, 3.2.2) aus, so ist man geneigt zu glauben, der Fokus auf die Eigenver­ antwortung im Epigenetikdiskurs ginge auf diese Reform zurück. Dagegen spricht das Zeitverhältnis. Zwar hat diese Reform einen Planungsvorlauf, sie wurde aber erst im Rahmen der Agenda 2010 nach der Jahrtausendwende, ja sogar nach der erwähnten Shell­ 20 Ausgehend von der kulturpessimistischen These des Werteverlusts weisen So­ zialwissenschaftler auf einen Irrtum hin. Dass frühere Werte nicht gemessen werden konnten, spricht nicht für einen generellen Werteverlust, sondern einen Wertewandel. Da Werte in kulturelle Entwicklungen eingebettet sind, müssen sie aber erst erschlossen werden.

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studie, umgesetzt. Die einseitige Rückführung der Bedeutung der Eigenverantwortung auf die Sozialreform verbietet sich daher. Als Wert ist sie Kennzeichen eines über die Sozialreform hinausgehen­ den Wertewandels, dessen Ursachen die Forschung in der Globali­ sierung erkennt.21 Statistisch erfasst droht die Eigenverantwortung, als eine Wor­ thülse ohne semantischen Gehalt missverstanden zu werden. Es stellt sich die Frage, auf was sich die Eigenverantwortung bezieht. Als gemessener Wertbegriff ist sie hinsichtlich ihrer inhaltlichen Ausrichtung unterbestimmt. Der Sozialwissenschaftler Helmut Klages (2006, 120ff) präzisiert aber ihre semantische Bedeutung im Rahmen des genannten Wertesurveys. Die statistisch ermittel­ ten Werte stehen nämlich in einem interdependenten Verwandt­ schaftsverhältnis. Ihr Verhältnis zueinander erlaubt Rückschlüsse. Klages weist nach, dass der gemessene Wert Eigenverantwortung nicht als Egoismus verstanden werden kann, sondern eine stark al­ truistische Ausrichtung hat. Das Präfix Eigen- bezieht sich danach nicht auf selbstbezügliche Handlungen, sondern betont den eigen­ ständig getroffenen Entschluss. Das ermittelte Werteensemble ver­ weist nämlich auf sozial ausgerichtete Handlungen. Später wird gesondert auf den normativen Aspekt im Verant­ wortungsbegriff eingegangen und gezeigt, dass Verantwortung über sie hinausgehende Normen voraussetzt (2, II, 2.1). Daher ist bereits an dieser Stelle Eigenverantwortung als Wert von ihrem möglichen Missverständnis als Norm abzugrenzen. Zunächst ist es wichtig zu sehen, dass Werte und Normen sich nicht ohne Weiteres ineinander überführen lassen. Da Werte viel allgemeiner sind, lassen sich zwar aus ihnen Normen ableiten, allerdings bedarf dies weiterer Voran­ nahmen. Normen haben einen Situationsbezug, innerhalb dessen es geboten ist, in einer bestimmten Weise zu handeln. Dieser konkrete Bezug fehlt dem Wertbegriff. Zwar wurde oben auf die soziale Aus­ richtung der Eigenverantwortung eingegangen, jedoch lässt dieser Leitwert keine weitere Konkretisierung zu. Die Gleichsetzung von Normen und Werten wäre eine Verkürzung. Da sie seinem Wollen

21 Für Helmut Klages stehen die beiden Bereiche in direkter Beziehung. Dieses Verhältnis wird in seinem Buch „Der blockierte Mensch“ (2002) thematisiert. Aus Klages Perspektive erforderte der frühe Wertewandel die Sozialreform. Der intrinsischen Motivation, mehr Eigenaktivität zu investieren, standen veraltete Verwaltungsstrukturen entgegen. Aus Klages Sicht ist die Sozialreform eine notwendige Folge einer vorherigen Anpassung an global geltende Werte.

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entspricht, haben Werte einen intrinsischen Wert für den Akteur. Dagegen haben Normen einen Sollens-Charakter. Ihr Befolgen wird unabhängig des eigenen Wollens eingefordert und Verstöße wer­ den sanktioniert. In diesem Sinne schreibt der Philosoph Hans Joas „Normen sind restriktiv – Werte dagegen attraktiv“ (2005, 15).22 Da der Wert Eigenverantwortung einen motivationalen Charakter hat, wurde er eingangs von Klages als eine „zivilgesellschaftliche Res­ source“ bezeichnet. Über diese Wert-Bedeutung hinaus wurde die Eigenverantwortung auch auf politischer Ebene geprägt. 3.2.2 Politischer Reformbegriff: Eigenverantwortung als Aktivierung Die starke Thematisierung der Eigenverantwortung im Gesund­ heitsbereich erklärt sich durch das politische Zeitgeschehen. Neben dem kulturellen Wandel wurde der Begriff Eigenverantwortung durch eine entscheidende Veränderung in der deutschen Sozialpo­ litik geprägt. Die Reform der sozialen Sicherungssysteme und des Arbeitsmarktes durch die Agenda 2010, die im Wesentlichen in der rotgrünen Wahlperiode von 2002–2005 festgelegt und danach fort­ geführt wurde, wendet sich dem Individuum zu, wobei Eigenver­ antwortung als ihr Kernbegriff gilt. Als Reformbegriff steht diese für eine Neudefinition der Politik. Der Wandel vollzieht sich auf zwei Ebenen. Als Antwort auf die Zugzwänge der Globalisierung sollte in Deutschland einerseits die Bürokratie des Sozialstaates reduziert und anderseits die Bürgergesellschaft gestärkt werden (Schröder 2000). Im Folgenden gehe ich auf Eigenverantwortung als politisches Programm (1), seine Kodifizierung im Gesundheitsbereich (2) und die Bedeutung der Prävention als vierte Säule des Gesundheitssystems (3) ein. 1. Obgleich die Eigenverantwortung den Kernbegriff der So­ zialreform darstellt, findet sich in der zugehörigen Literatur keine einheitliche Definition. Ein zentrales Konzeptpapier zur Umsetzung 22 Daneben gelten weitere Differenzkriterien. Der Philosoph Jürgen Habermas nennt vier Unterschiede: „Normen und Werte unterscheiden sich also erstens durch ihre Bezüge zu obligatorischem bzw. teleologischem Handeln; zweitens durch die binäre bzw. graduelle Kodierung ihres Geltungsanspruchs; drittens durch ihre absolute bzw. relative Verbindlichkeit und viertens durch die Krite­ rien, denen der Zusammenhang von Norm- und Wertsystemen genügen muss.“ (Habermas 1992, 311)

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der Eigenverantwortung in der Gesundheitsreform erklärt dies wie folgt: Eigenverantwortung ist ein „überwiegend politisch verwen­ deter Begriff und kein systematischer Terminus mit klar umrisse­ ner Bedeutung innerhalb eines Konzepts zur Gestaltung oder einer Theorie zur Beschreibung von Gesundheitssystemen“ (Nolting et al. 2004, 11). Daher lässt sich dieser Begriff „nicht einem abgrenz­ baren Problemzusammenhang zuordnen, sondern tangiert fast alle wichtigen Felder und Fragen der gegenwärtigen Gesundheitsre­ formdebatte“ (ebd.) Dieser weite Anwendungsbezug verhindert zwar eine einheitliche Definition. Dennoch wird die Bedeutung be­ grenzt: So bringt Eigenverantwortung „den politischen Anspruch und Willen zum Ausdruck, das Verhältnis zwischen dem Staat und den Individuen über eine Umverteilung von sozialen Rechten und Pflichten neu zu definieren“ (Grimmeisen & Leiber 2009, 3). Die Begriffsbedeutung erschließt sich hier aus der Anwendung der Ei­ genverantwortung als politisches Programm.23 Der politische Fokus auf die Eigenaktivität der Bürger führt zu einer Umformung des Staates. In diesem Zusammenhang wurde der politische Leitbegriff „Fördern und Fordern“ geprägt. Danach soll der Gesetzgeber nunmehr nur noch indirekt wirken und die Vo­ raussetzungen für das neue Ziel, die aktive Zivilgesellschaft, bilden, also die Rahmenbedingungen zur Ermöglichung des bürgerlichen Engagements schaffen. Der Zivilbürger dagegen wird gemäß dem Leitgedanken in die Pflicht genommen, die Rahmenbedingungen zu nutzen. Das politische Konzept basiert auf der Autonomie des Indi­ viduums. Indem dies die – im Rahmen der geschaffenen Bedingun­ gen – eigenen Interessen verfolgt, fördert es das Gemeinwohl. Diese Umformung ist als Prozess zu verstehen. Der aktuelle Zustand gilt als defizitär, da ebendiese Autonomie vermisst wird. Daher ist das vorläufige Reformziel die Aktivierung zur Eigenverantwortlichkeit. Politische Maßnahmen sind übergangsweise notwendig, um die zi­ vilgesellschaftliche Handlungsfähigkeit zu ermöglichen.24 Aktivierte 23 Diese programmatische Unschärfe der normativen und funktionalen Argumente erklärt die umfangreiche Kritik. Ohne Definition kann Eigenverantwortung näm­ lich vielfältig, durchaus auch widersprüchlich, verstanden werden. 24 Es stellt sich die Frage, ab wann die Eingriffe unnötig würden. Bürgerinteresse und Gesetzgeberinteresse müssten sich dazu decken. Der Gesetzgeber fordert aktuell Eigenverantwortung als Eigenaktivität. Überließ er ursprünglich ihre Umsetzung Einzelnen, verändern die Reformen die Eigenverantwortung zum einheitlichen Standard. Konnte eigenverantwortliches Handeln vormals Hand­ lungsverzicht bedeuten, so wird diese Möglichkeit nun ausgeschlossen.

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Bürger sollen dann zukünftig nicht mehr extrinsisch, sondern in­ trinsisch motiviert, d. h. im Eigeninteresse Selbstsorge betreiben. Das Ziel der Aktivierung zur Eigenverantwortlichkeit ist schließ­ lich ein Autonomiezugewinn des Bürgers. Vorerst muss dieser aber dazu befähigt werden. 2. Bei der Reform im Gesundheitsbereich spielen die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) sowie das Sozialgesetzbuch (SGB) V, das das Leistungsverhältnis von Bürger und Gemeinschaft regelt, eine zentrale Rolle bei der Begriffsprägung der Eigenverantwortung.25 Da in Deutschland die Krankenversicherungspflicht gilt, trifft dies Verhältnis fast alle Bürger; es wirkt normierend.26 Auch auf Gesetzesebene handelt es sich bei der Eigenverantwor­ tung um einen „jungen“ Begriff. Im SGB V wurde sie erst 1989 erfasst. Damals wurde der Begriff zur gesetzlichen Sicherung des sozialstaatlichen Versicherungsprinzips verwendet. Das Anliegen der GKV ist es, ökonomische und pathogene Differenzen innerhalb der Bevölkerung sozial auszugleichen. Dabei spielt das Solidaritätsprinzip die entscheidende Rolle, da es zwischen Versicherten auf der Individualebene und der Sozialebene vermittelt.27 Gemäß dem Solidaritätsprinzip bestehen nämlich beiderseits Pflichten. Dieses Verhältnis von Solidarität und Eigenverantwortung ist im Sozial­ gesetzbuch (SGB) V § 1 geregelt. Während die Solidargemeinschaft in Form der Krankenkassen die Aufgabe hat, „die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesund­ heitszustand zu bessern“, sollen Versicherte eigenverantwortlich, Aufgrund der fundamentalen Bedeutung der Bürgerautonomie in der zivi­len Bürgergesellschaft wird diese Lenkung als Paradoxie der Eigenverantwor­tung (Nullmeier 2006) kritisiert: Wenn der Staat vorgibt, was das Beste für die Bürger ist, und das Bürgerverhalten zu lenken versucht, widerspricht dies sei­nem An­ liegen, die Bürgerautonomie zu stärken. 25 Einen chronologischen und systematischen Überblick zu dieser Gesund­heits­ reform bietet Ullrich et al. (2012). 26 Da 90 % der Bundesbürger in der GKV versichert sind, wird der Unterschied zur Privatkrankenversicherung nicht weiter erläutert. Hierbei weicht das Egalitäts­ prinzip vom Solidarprinzip im Hinblick gleicher Versicherungsbeiträge ab. 27 Danach zahlt jeder das, was er leisten kann; der Mitgliedsbeitrag errechnet sich relativ zum Erwerbseinkommen. Da Gesundheit sich weitgehend der Verfüg­ barkeit entzieht (obgleich das Krankheitsrisiko von Kettenrauchern höher ist als das von Nichtrauchern) und wir somit Krankheiten zumeist als zufälliges Unglück erachten, wird diese natürliche Ungleichheit mit dem Solidarprinzip auf kultureller Ebene ausgeglichen. Im Unglücksfalle stehen alle in Form der Krankenversicherung solidarisch ein, sodass unabhängig vom gezahlten Beitrag die Behandlung gewährleistet ist.

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und das meint „durch eine gesundheitsbewusste Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung an gesundheitlichen Vorsorgemaß­ nahmen sowie durch aktive Mitwirkung an Krankenbehandlung und Rehabilitation dazu beitragen, den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden oder ihre Folgen zu überwinden.“ Soli­ darität und Eigenverantwortung gelten danach als zwei Seiten einer Medaille – der sozialen Absicherung. Das Gesetz regelt also die Re­ chenschaftspflicht der Versicherten gegenüber der Instanz GKV.28 Hierbei ist auf eine Besonderheit hinzuweisen. Obgleich die Rechenschaftspflicht des Einzelnen gegenüber der Solidargemein­ schaft früh kodifiziert wurde, wurde sie vorerst nicht eingefordert. Das änderte sich erst mit der Gesundheitsreform. Weil das Solidar­ prinzip eine gesellschaftliche Wert darstellt, gab es „Stimmen, die eine ‚Überstrapazierung‘ oder „Überdehnung“ oder gar einen an­ geblich um sich greifenden ‚Missbrauch‘ des Solidarprinzips bekla­ gen“ (Nolting et al. 2004, 12). Mangels der Möglichkeit der Sankti­ onierung liefe das Solidarprinzip Gefahr, ausgenutzt und untergra­ ben zu werden. Diese Moral-Hazard-Theorie stieß fundamentale Veränderungen der GKV an, wobei sich die Rechenschaftspflicht der Eigenverantwortung im Gesundheitsbereich deutlich verschärf­ te. Die Umstrukturierung der GKV betraf im Wesentlichen positive Anreize (z. B. Bonus-/Malusmodell, Wahltarife, Beachtung indivi­ duellen Gesundheitsverhaltens), sowie negative Anreize (z. B. Aus­ gliederung bestimmter Leistungen, Zuzahlungen, Arztgebühr), das hier nachfolgend behandelte Präventionsgesetz und die elektroni­ sche Krankenversicherungskarte (Ullrich et al. 2012, 57-62). Auch sah der Gesetzgeber Veränderungen der GKV vor. Boten vormals alle GKV gleiche Leistungen an, sollten diese nun ihren Leistungs­ katalog spezialisieren. Da Versicherte ihre GKV nach eigenen Be­ dürfnissen wählen können, somit als ökonomisches Selektiv wir­ ken, versprach man sich ein volkswirtschaftlich profitableres Wett­ bewerbsverhältnis. Diese Reform veränderte die Bedeutung der Eigenverantwor­ tung im Gesundheitsbereich. Betraf sie vormals (SGB V) die Las­

28 Gemäß Marckmann et al. (2004) gilt folgendes viergliedriges Verantwortungs-­ und damit Rechenschaftsverhältnis: „Verantwortungssubjekte sind die gesetz­ lichen Versicherten als Gesunde oder Patienten (1), die gemäß den normativen Vorgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (SGB V) (2) gegenüber dem jeweiligen Kostenträger (3) Verantwortung für ihren Gesundheitszustand bzw. ihr gesundheitsbezogenes Verhalten (4) tragen.“ (Ziffern S. Sch.)

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tenverteilung zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft, trat mit der Wahlmöglichkeit ein zweites Strukturmoment hinzu und verlangte dem Versicherten ein höheres Maß an Eigenaktivität ab. Dieses betrifft nicht nur die Wahl der GKV, sondern auch das eigene Gesundheitsverhalten, da letzteres nun z. B. in Folge des Bonus/ Malus-Systems finanzielle Folgen hat. Durch dieses Prinzip der „sanften“ Sanktion griff der Staat indirekt, d. h. nicht gesetzlich sanktionierend, in den Gesundheitssektor ein, verschärfte die Re­ chenschaftspflicht der Versicherten gegenüber der GKV und forder­ te mehr Eigenverantwortung ein. Das Ergebnis der reformpoliti­ schen Änderungen ist die Umlagerung der Verantwortung auf die private Ebene. 3. Im Zuge der gesundheitspolitischen Reformen gewann das Thema Prävention zunehmend an Bedeutung, was die Eigenverant­ wortung weiter prägte. Die politischen Gründe dafür sind klar. Ei­ nerseits kann durch einen präventiven Lebensstil den als prinzipiell vermeidbar angesehenen Volkskrankheiten vorgebeugt und somit die Volksgesundheit verbessert werden. Andererseits gilt die in Ei­ genregie durchgeführte Prävention als besonders kosteneffizient, sodass gerade jene Kosten im Gesundheitssektor reduziert werden können, welche durch die zunehmenden Volkskrankheiten anstei­ gen. Die Prävention fand 1989 Eingang in das SGB V, wobei der § 20 die Rolle der GKV reguliert. Die GKV gilt dabei als Kostenträger und als Erbringer der Leistungen. Im Zuge der Reform der Sozialsysteme wurde zusätzlich ein eigenständiges Präventionsgesetz (PrävG) vorgeschlagen, das 2004 im Koalitionsvertrag verankert und am 17. Juli 2015 von der Bun­ desregierung verabschiedet wurde. Grundanliegen des PrävG ist es, Primärprävention und Gesundheitsvorsorge in allen Lebenswelten zu fördern.29 Die Notwendigkeit für ein gesondertes Gesetz sieht der Gesetzgeber im demographischen Wandel. In einer „alternden“ Gesellschaft treten verstärkt Langzeitbezüge in den Fokus, sodass im Kontext von Volkskrankheiten der Lebensstil zunehmend wich­ tig erachtet wird. Im Zentrum der Debatte um das PrävG stand die Frage, ob Prävention den gleichen Stellenwert wie Kuration, Reha­ 29 In zeitlicher Hinsicht wird der Begriff Prävention auf drei Weisen verstanden: Die primäre Prävention bezieht sich auf Eingriffe vor der Erkrankung, die se­ kundäre Prävention auf das Frühstadium der Krankheiten, die tertiäre Präven­ tion setzt zum Moment der Krankheitsmanifestation an. Darauf wird an späte­ rer Stelle genauer eingegangen (2, IV, 1.2).

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bilitation und Pflege haben, also eine vierte Säule des Gesundheits­ wesens bilden soll. De facto hat sie diesen Status längst erworben. Zwar ist sie seit 1989 gesetzlich verankert, aber ihre Bedeutung hat erst im Zuge der Sozialreform im Gesundheitsbereich stark zuge­ nommen. Sie wird kurz skizziert. Die Prävention ist zu einem neuen Standbein der GKV gewor­ den und sie gilt als „zentrales Element der Eigenverantwortung“ (Grimmeisen & Leiber 2009, 17). Bezüglich des Ansatzpunkts gibt es zwei Präventionsformen (2, IV, 1.2): Die Verhaltensprävention, welche auf das individuelle Verhalten und den Lebensstil abzielt, und die Verhältnisprävention, welche sich dem Milieu zuwendet.30 Die Eigenverantwortung nimmt im Rahmen der Verhaltenspräven­ tion eine spezifische Rolle ein. Auf der Basis des § 20 (SGB V) wurde auch hier der reformpolitische Leitgedanke „Fördern und Fordern“ umgesetzt. Ein zentrales Präventionsmoment ist die Aufklärung über Gesundheitsrisiken. Damit soll die Bevölkerung für entspre­ chende Risikofaktoren sensibilisiert und zum rechtzeitigen Handeln befähigt werden.31 Zur Umsetzung der Eigenverantwortung ist ein Risikobewusstsein notwendig. Weil die Prävention Diagnose und Prognose voraussetzt, müssen die individuellen „Schwachstellen“ ermittelt werden. Dies geschieht verstärkt in Eigenregie. Diese Risi­ kosensibilisierung wird durch eine Reihe von Präventionsprogram­ men gefördert, die inzwischen zum Standartangebot der GKV ge­ hören.32 Vorsorgeuntersuchungen, Ernährungsratgeber und Kurse zum langfristig gesunden, d. h. krankheitsvorbeugenden Lebensstil werden angeboten, wobei Versicherte durch finanzielle Entlastun­ gen motiviert werden. Die Eigeninitiative wird somit aktiv ge­ fördert. Wird aber dieses eigenverantwortliche Handeln vermisst, kann es durch Beschneidungen der sozialen Leistungen, d. h. durch 30 Zur Verhaltensprävention siehe (BMBF 2014a) und zur Verhältnisprävention (BMBF 2014b). 31 Die Mischung volkswirtschaftlicher Interessen mit präventiven Gesundheits­ programmen ist nicht neu. Foucault weist in Die Geburt der Klinik (1973) nach, dass die Stärkung der Prävention ein zentrales Anliegen der französischen Gesundheitsreformen im 18. Jh. war. Daher ist diese Aufklärung nicht als eine genuin neoliberale Strategie zu deuten. 32 Die Programme orientieren sich an aktuellen Forschungsergebnissen vornehm­ lich aus den Naturwissenschaften. Dabei wird das Wissen um die organismische Plastizität praktisch umgesetzt. Da die Epigenetik als Sinnbild dieser Plastizität steht, scheint es eine Frage der Zeit, bis das neue Wissen Eingang in die Präven­ tionsprogramme findet. Aufgrund dieses Zeitaspekts ist es nötig zu prüfen, ob die Epigenetik überhaupt präventiv eingesetzt werden kann.

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Sanktionen, gefordert werden. Der Versicherte wird angehalten, seine Gesundheit vorausschauend zu verwalten. Diese Kopplung von Eigen­verantwortung und Prävention fügt der Begriffsbedeu­ tung von Eigenverantwortung eine Zukunfts-Dimension hinzu und reiht sich damit nahtlos in die gegenwärtig geführten Absiche­ rungsdiskussionen ein. Diese Zukunftsausrichtung der Eigenverant­ wortung gewinnt entlang der Aktivierung zunehmend Bedeutung im Privatraum. 3.2.3 Soziologisches Forschungsobjekt: Eigenverantwortung als Subjektivierung In der politischen Konzentration auf die Eigenverantwortung er­ kennen soziologische Studien gesamtgesellschaftliche Veränderun­ gen. Deren Folgen für das Individuum werden aufgezeigt. Zunächst ist auf einen politikübergreifenden Wandel hinzuwei­ sen, in dessen Rahmen sich die Eigenverantwortung im Gesund­ heitsbereich ausformuliert. Der hierbei zentrale Begriff Biopolitik wird von den soziologischen Studien in Foucault’scher Denktradi­ tion verwendet und muss von weiteren Verwendungsweisen ab­ gegrenzt werden (Lemke 2008).33 Entgegen dem naturalistischen Begriff, der auf Basis eines essentialistischen Lebenskonzepts nor­ mativ wirkt, bezieht sich dieser auf einen dynamischen Lebensbe­ griff. Entgegen dem politizistischen Begriff stellt das Leben nicht einen neben übrigen politischen Gegenständen dar, sondern ist der „Kern“ politischen Agierens. Da sie Wissen zur Änderung biologi­ scher Prozesse generieren, nehmen die Lebenswissenschaften eine zentrale Rolle ein. Demnach gilt Biopolitik als entpersonalisier­ te Form der Machtausübung und steht für einen epochalen Denk­ wandel. Sie meint nicht Lenkung durch den Souverän: „Biomacht 33 Als naturalistischer Begriff meint Biopolitik das Leben als Grundlage der Poli­ tik. Diese Verwendung bezieht sich auf die Rechtfertigung des politischen Han­ delns durch das Leben und kommt in der Rassismus- und Eugenik-Debatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Sprache. Zum Ende des 20. Jahrhunderts wird Biopolitik als politizistischer Begriff verwendet, wonach Leben als politisches Objekt Gegenstand administrativer und rechtlicher Regulierungsprozesse wird. In der Bioethik geschieht dies, wenn die Umwelt als gefährdetes Gut oder aber die Aufweichung natürlicher Grenzen durch die Biotechnologie problematisiert werden. Über die weitere Differenzierung der Forschungen zur Biopolitik in Foucaultscher Denk­tradition siehe Lemke (2007b).

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geht vielmehr auf eine spezifisch moderne Weise über dieses bloß ‚verbrauchende‘ Verhältnis (Krieg, Arbeit) des Souveräns zu seinen Untertanen hinaus. Am Leitfaden der Wissenschaften Ökonomie und Biologie entdeckt diese neue Machtform, dass das physische Leben der Individuen einer Gesellschaft eine nicht nur verwend­ bare, sondern eine steigerbare Ressource ist, die im Medium der Fruchtbarkeit und der biologischen Fortpflanzung verbessert und vermehrt werden kann.“ (Gehring 2006, 10) Daher muss sich selbst der Berufspolitiker dieser Logik des „biologischen Mehrwerts“ (ebd., 10) beugen, die als basale Argu­ mentationsstruktur sein Handeln auslenkt. Als „Epochensignatur der Moderne“ (ebd., 13) wirkt Biopolitik nicht im klassischen Sinne politischen Regierens, sondern durchdringt alle Sozialbereiche und ihr Denkmuster findet auch im privaten Raum Anwendung. Im Forschungskontext von Biopolitik und Eigenverantwortung ist der regierungskritische Begriff Gouvernementalität zentral.34 Soziologen beobachten in den letzten Jahren eine Transformation der westlichen Demokratien, wofür die deutsche Reform der Sozial­ systeme als beispielhaft gilt. Der Wandel im Regierungsdenken äußer­t sich auf Individualebene in Form neuer Wahlmöglichkei­ ten sowie Freiheiten und auf Staatsebene in Form disziplinieren­ der Kräfte und Kontrollstrategien. Dies markiert einen Wandel von liberalen zu neoliberalen Regierungsstrategien.35 Letztere sind das 34 Thomas Lemke (2000, 32), ein Wegbereiter der governmentality studies, leite­ te Foucaults Begriff gouvernementalité erst als Regierungsmentalität ab (gou­ verner – fr. Regieren; mentalité – fr. Denkweise). „So schien schon begrifflich markiert zu sein, dass Fragen nach dem Gegenstand von Regierung und ihrer Rationalität nicht voneinander getrennt werden können. So richtig diese Ak­ zentsetzung sein mag, die Herleitung bleibt dennoch falsch. Der Wortstamm ist eindeutig das Adjektiv gouvernemental und es scheint eher, dass Foucault den Neologismus als Gegenbegriff zu »Souveränität« (souveraineté) einsetzt“ (Lemke 2007a, 13, FN 5). Der Unterschied ist wichtig, da Lemke von einem in­ ternalisierten Drang ausging, Foucault aber eine Regierbarkeit (im Sinne der Bedingung der Möglichkeit) meinte. 35 In seiner Geschichte hat der Begriff Neoliberalismus eine Bedeutungsverschie­ bung erfahren. Ursprünglich 1938 von Rüstow & Lippmann eingeführt, galt er als theoretische Erweiterungsnotwendigkeit des zunehmend in Kritik geratenen Liberalismus. Anfangs stellt der Neoliberalismus einen Oberbegriff für politi­ sche Theorien der Ökonomie (Österreicher Schule, Freiburger Schule, Chicago Schule) dar. Gegenwärtig wird der Begriff Neoliberalismus vor allem im Rah­ men der Kapitalismuskritik verwendet, was mit einer Vereinheitlichung der Theorien einhergeht. Hier gilt er als Sinnbild eines nunmehr von staatlicher Kontrolle vollends entfesselten Raubtierkapitalismus. Während der begriffliche

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Thema der governmentality studies, welche die neu entstehenden Machtstrukturen offenlegen.36 Innerhalb der governmentality studies unterscheidet der Soziologe Thomas Lemke (2006, 490f) zwei Forschungsschwerpunkte. Die erste Ausrichtung widmet sich der Regierung der Risiken, womit die soziale Konstruktion und politi­ sche Proliferation der Risiken gemeint ist. Erkenntnisleitend ist hier, „dass eine zentrale Strategie neoliberaler Regierung darin be­ steht, die Verantwortung für gesellschaftliche Risiken wie Krank­ heit, Arbeitslosigkeit, Armut, Kriminalität etc. in den Zuständig­ keitsbereich von Individuen zu verlagern und zu einem Problem der ‚Eigenverantwortung‘ zu transformieren“ (Lemke 2006, 490). Auf diese Verschiebung wurde weiter oben im Rahmen der Eigen­ verantwortung als politisches Programm bereits eingegangen. Im Folgenden ist die zweite Ausrichtung wichtig. Diese fokus­ siert die Anbindung scheinbar privater Selbsttechniken an über­ greifende politisch-ökonomische Regulationsformen.37 „Durch diese ‚Ökonomisierung‘ sozialer Bereiche und ihrer Kolonialisie­ rung durch Prinzipien wirtschaftlicher Effizienz lassen sich öko­ nomischer Wohlstand und persönliches Wohlsein eng aneinander koppeln und wechselseitig verstärken“ (ebd., 491). Das in den Pri­ vatraum übertragene Regierungsdenken äußert sich als Selbstregu­ lierung.38 In unternehmerischer Auseinandersetzung mit den geis­ Ursprung bei Foucault klar ist, verliert er in der gegenwärtigen Rezeption zu­ nehmend an Bedeutung. 36 Die Forschungsgebiete der governmentality studies sind äußerst vielfältig. Ein früher Systematisierungsversuch findet sich bei Dean (1999). Im deutschspra­ chigen Raum erschien der erste Sammelband erst 2000 (Bröckling et al.). Die Vielfalt der Forschungsgebiete gilt dabei als Spiegel des Regierungswandels hin zu einem neoliberalen Regieren, das eben nicht durch eine Zentralgewalt staatlich verordnet wird, sondern sich entlang der unüberschaubaren Anzahl kleinster Kontrollmechanismen in allen Lebensbereichen, sogenannten Mi­ kromächten, aufrechterhält und stabilisiert. 37 In dem Kontext wird der auf Foucault zurückgehende Begriff Technologien des Selbst oft verwendet. Da die neuere Begriffsverwendung durch die govern­ mentality studies von seiner ursprünglichen Verwendung abweicht – Foucault verwendete den Begriff im Zuge subjektseitiger Identitätsbildungsprozesse, sie werden nun aber als neoliberale Spielart staatlicher Regierungsprogramme ver­ standen – wird hier auf diesen problematischen Begriff verzichtet. 38 Lemke (2000, 38f; 2008, 81 FN 9) zeigt, dass Foucault Regieren nicht im heutigen Sinne politischer Steuerung oder rechtlich-administrativer Strukturen, sondern allgemeiner als eine Führung meinte. Wird in den governmentality studies die Regierung z. B. des Selbst thematisiert, so ist kein Determinationsverhältnis, sondern der weit schwächere Führungsbegriff gemeint. Damit liegt freilich auch begrifflich eine Nähe zur Ökonomie (gr. Haushaltsführung) nahe.

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tigen und körperlichen Schwächen und Stärken wird das Selbst ent­ wickelt. Es wird zu einem Projekt. In diesem Sinne beschreibt der Soziologe Ulrich Bröckling (2007) das Unternehmerische Selbst als einen entlang der durchgeführten Sozialreform neu hervorgebrach­ ten Bürgertypus. Im Gesundheitsbereich spricht man vom health care self (Ullrich et al. 2012), oder präventiven Selbst (Lengwiler & Madaràsz 2010). Der Leitgedanke ist die eigenverantwortliche und ökonomische Selbstregulierung. Diese Selbsthervorbringungen bezeichnen eine spezielle Art der Zuwendung. Im Neoliberalismus stellt die Ökonomie das hand­ lungsleitende Denkprinzip dar wobei diese nicht als ein Bereich neben übrigen steht, sondern als Gesinnung alle Bereiche des Han­ delns durchdringt. Die von den governmentality studies untersuch­ te Selbstführung äußert sich in diesem Sinne auf Individualebene. Fähigkeiten werden gemäß der ökonomischen Leitmaxime als Res­ sourcen verstanden, in die investiert werden muss um sie profitma­ ximierend auszubauen. 39 Abschließend gehe ich auf das health care self als Subjektivie­ rungsform im Gesundheitsbereich ein. In Anlehnung an Foucault verstehen die Autoren Subjektivierung weder als Relativierung im Sinne einer subjektiven Sicht, noch als eine Identitätsbildung im streng philosophischen Sinne, sondern als „radikale Verzeitlichung“ (Lembke 2005) des Subjekts.40 Letzteres ist keine statische Einheit, sondern gilt als durch Sozialisierungs- und Disziplinierungsprozesse historisch konstruiert. Ullrich et al. (2012, 65) beziehen sich auf das health care self als durch die Gesundheitsreform hervorgebrachten

39 Zwar sind die governmentality studies kapitalismuskritisch, aber Profitmaxi­ mierung darf nicht auf monetäre Bezüge festgelegt werden. Im Neoliberalismus dehnt sich die Ökonomie auf das Selbstverständnis, die Gesundheit etc. aus. 40 Der Philosoph Robert Lembke (2005) unterscheidet zwei Subjektivierungs­ formen in Foucaults Werk. Zum Einen besteht das Subjekt des Zwangs, das in Foucaults mittlerer Schaffensphase in gesellschaftstheoretischen Bezügen eine Rolle spielt und als „unterwerfende Subjektivierung“ (ebd.) zu verstehen ist. Zum Anderen besteht das Subjekt der Freiheit, dem sich Foucault im Spätwerk zur Ethik zuwendet; es wird als „autopoietische Subjektivierung“ (ebd.) ver­ standen. Der in der Soziologie verwendete Begriff Subjektivierung bezieht sich auf den ersten Begriff, also die heteronom im Gesellschaftsbezug verursachte Subjektform. Während sich beide Formen auf gleiche Weise, nämlich durch prak­ tische Einübung, vollziehen sieht Lembke ihren Unterschied in einem „Kampf des In­dividuums gegen die Einflüsse des ‚Außen‘“ bzw. eines „Kampfes des Individu­ums gegen sich selbst und für sich selbst.“ (ebd.)

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Bürgertypus, welcher wesentlich durch sieben Einflussbereiche geprägt wird: 1) Innerhalb der reformpolitischen Veränderungen finden sich die Bürger einem moralisch geführten Diskurs zur Gesundheit aus­ gesetzt und müssen sich darin positionieren. Das alltägliche Verhal­ ten gerät damit verstärkt unter einen Rechtfertigungsdruck, wobei die Rechenschaft nun auch außerhalb der gesundheitspolitischen Bezüge im sozialen Miteinander aktiv gefordert wird.41 2) Die Um­ stellungen im Gesundheitsbereich verlangen den Versicherten der GKV eine erhöhte Aktivität ab. Um sich in den Angeboten (Wahl­ tarife, Präventionsprogramme, etc.) zurechtzufinden, generieren sie ein Quasi-Expertenwissen über das Gesundheitssystem und ihre Verfassung. 3) Dabei wirkt die Wahlpflicht verstärkend. Im Lich­ te dieser neuen Freiheit hieße nicht wählen sich für Heteronomie entscheiden, womit man sich erneut dem Rechtfertigungsdruck aussetzte. 4) Die Protokollierung des Gesundheitszustandes hält Patienten ihr Gesundheitsverhalten vor Augen und generiert ein Bewusstsein der Krankheitsbiographie. Dies wirkt selbstdisziplinie­ rend.42 5) Da suggeriert wird, das Befinden hinge ausschließlich vom eigenen Verhalten ab, führt die Betonung der Prävention zu einer bedenklichen Ausdehnung eigenverantwortlichen Denkens. 6) Da der Hausarzt nun eine neue Schlüsselrolle bei der Weitervermitt­ lung zu Fachärzten hat, ändert sich das Patientenverhalten. Dem Hausarzt fällt als gatekeeper eine neue Machposition zu. 7) Da Pati­ enten für aus dem Leistungskatalog gestrichene Anwendungen nun selber bezahlen müssen, wird Gesundheitsverhalten an Eigeninitia­ tive sowie den ökonomischen Status gekoppelt. Die dabei stattfindende Subjektivierung stellt einen weitrei­ chenden Prozess dar. Die veränderten Verhältnisse bemächtigen den Bürger einerseits im politisch erwünschten Aktivierungssinne

41 Unabhängig von der Sinnfrage stellt das 2008 in Deutschland bundesweit einge­ führte Rauchverbot in Gaststätten ein gutes Beispiel hierfür dar. Gehen Raucher „vor die Tür“, so weichen sie bereits räumlich von einem normalen Verhalten ab und werden damit verstärkt Nachfragen exponiert. Diese Normalisierung be­ wirkt Individualisierung. 42 Decker (2005) deutet das Verhältnis der Patienten zu ihrer Versicherungskar­ te analog zu Foucaults Interpretation des Bentham’schen Panoptikons. Im Be­ wusstsein, dass das Gesundheitsverhalten stets von Anderen (Ärzte/GKV) ein­ gesehen werden kann, bedarf es keines disziplinierenden „Außen“ mehr. Dieses wird internalisiert. Ihre Einsicht sowie auch ihre normativen Wertannahmen werden antizipiert, was zu einer Selbstdisziplinierung führt.

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autonomer Patienten, ändern aber auch das Denken des Subjekts. So rückt etwa die Gesundheit im Modus der Selbstsorge zunehmend in das Bewusstsein, wobei nun die Prävention die zentrale Rolle inne hat. Daher sprechen manche Autoren (vgl. Lengwiler & Madarász 2010) vom präventiven Selbst. Dem beständigen Handlungszwang unterworfen, verändert sich der Patient von einem Hilfesuchenden und somit auf Andere Angewiesenen zum „Unternehmer seiner Gesundheit“. Das Machtgefüge, welches die Subjektivierung in Gang hält, konstituiert ein triadisches Verhältnis, in dem der Gesetzgeber (1), vermittelt durch Akteure auf mittlerer (GKV) oder regionaler (Fa­ milienarzt) Ebene (2), auf das Gesundheitsverhalten des Bürgers (3) wirkt. Der Gesetzgeber spannt den Rahmen auf, zu dem sich die übrigen Akteure verhalten. Der dadurch angestoßene Selbst­ sorgeprozess darf aber nicht als ein Determinationsverhältnis miss­ verstanden werden.43 Schließlich entspringt die Selbstsorge, zu­ sätzlich zu ihrer Verstärkung durch das politische Programm der Eigenverantwortung, einem natürlichen Bedürfnis. Dies gilt umso mehr, wenn man sich die außerpolitische Reichweite der Begriffe Biopolitik bzw. Biomacht vor Augen hält. Die Sorge um das Leben oder, wie es bei Gehring heißt, um den Mehrwert des Lebens im ökonomischen Sinne, ist ein Zeichen unserer Zeit und durchdringt alle Handlungsbereiche. Neu in diesem reformpolitischen Zusam­ menhang ist sicher nicht, dass Anpassung erforderlich ist, sondern in welcher Form diese verstanden wird.44 Hier konkretisiert sich die Eigenverantwortung entlang des reformpolitischen Mottos „För­ 43 Diese Lesart legen manche Publikationen nahe (vgl. Schmidt 2008). Da sie damit aber eine Ohnmacht der Bürger suggerieren, verfestigen sie ein deterministi­ sches Politikverständnis. Damit berauben sie sich der Möglichkeit, die Eigenlei­ stung der Bürger anzuerkennen, und befördern ein unterkomplexes, weil unidi­ rektionales, Machtverständnis. 44 Monika Greco (1993) wies in diesem Zusammenhang früh auf eine tiefgreifende Bedeutungsverschiebung hin. Entlang der neoliberalen Logik der Aktivierungs­­ programme verlagert sich die Krankheit gewissermaßen nach innen, wobei nun der Gesundheitszustand Auskunft über den psychischen Zustand gibt. Die se­ mantische Engführung von Gesundheit und Prävention lässt erstere nicht mehr als unverfügbares Gut, sondern als Ergebnis von Autonomie und Willensstärke erscheinen. Diese gelten nun als Voraussetzung der Gesundheit. Vice versa gel­ ten Willensschwäche sowie unzureichende Selbstführung als „erstes Symptom der Krankheit, deren Ursache letztlich im Inneren des Subjekts liegt – und nicht etwa [die] äußeren Faktoren“ (Lemke 2000, 39). In ähnlichem Zusammenhang findet sich die Argumentationsfigur in der Suchtforschung wieder – hier etwa in der Debatte zum aristotelischen Begriff akrasia.

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dern und Fordern“ zu einer neuen Form der Aufmerksamkeit. Diese wird besonders im Präventionskontext deutlich. Eigenverantwort­ lich zu handeln bedeutet hier vorausschauend handeln und seine Gesundheit nicht als bloß gegeben zu verstehen, sondern aktiv und selbstkritisch bei ihrer Gestaltung mitzuarbeiten. In diesem Zusam­ menhang entwickelt sich das Bewusstsein eines Unternehmers der eigenen Gesundheit, das sogenannte health care self. 3.3 Rezipient: Zwischen Aktivierung und Selbstregulierung Wurde der Leser der Ratgeberliteratur zur Epigenetik bisher als ein Akteur erkannt, welcher das Kernthema Verantwortung im Sinne einer Eigenverantwortung interpretiert, so kann er im bereiteten Kontext des übergeordneten Selbstsorgediskurses zum Thema Ei­ genverantwortung nun weiter verortet werden. Die Erläuterungen lassen im Wesentlichen zwei Aussagen zu. Zunächst zeigt sich, dass der Anwendungsbezug der Epigene­ tik keineswegs einen eigenständigen Diskurs darstellt. Entlang der gesellschaftlichen Veränderungen macht es vielmehr Sinn, von di­ versen Selbstsorgediskursen zu sprechen, deren Gemeinsamkeit die eigenverantwortliche Gesundheitsvorsorge darstellt. Das neue Wis­ sensgebiet der Epigenetik reiht sich dabei in einen Komplex biolo­ gischer Theorien zum Thema Bioplastizität ein. Damit erscheint es plausibel, dass der Rezipient wesentlich weniger an der Epigenetik im Speziellen, als am gesundheitsbezogenen biologischen Wissen interessiert ist. Dies spiegelt sich im Übrigen auch in der Ratgeber­ literatur zur Epigenetik selbst wider, insofern hier der Begriff Epigenetik sehr weitläufig verstanden wird, worunter auch lebenszeit­ verlängernde Diäten und unspezifische Lebensführungstipps fallen. Gemäß der Eigenverantwortung im Bedeutungskontext der po­ litischen Aktivierungsprogramme kann der Rezipient sowohl posi­ tiv als auch negativ erfasst werden. Zunächst zu seiner positiven Erfassung. Es wurde gezeigt, wie die Reform der Sozialsysteme im Gesundheitsbereich eine neue Subjektivierungsform, das sog. health care self, hervorbringt. Dieses wird durch ein hohes Maß an Auto­nomie und Eigenverantwortung gekennzeichnet. In diesem Rahmen stellt der ratsuchende Leser der Epigenetikbücher das Ideal der politischen Aktivierungsprogramme dar. Unabhängig davon, ob dieses Interesse durch die politische Aktivierung hervorgebracht wurde oder ob es bereits davor bestand, zeugt die Aufklärungsbe­ https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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reitschaft von einem besonders motivierten Leser. Im soziologischen Rahmen wurde dieser als ein Unternehmer der eigenen Gesundheit beschrieben. Aber wer ist dieses Selbst, das sich autonom um Gesundheit kümmert? Sozialwissenschaftliche Studien weisen auf weitere As­ pekte hin, die zum Gelingen der Aktivierung beitragen. Dabei zeigt sich, dass das aktivierbare health care self in sozioökonomischer Hinsicht ein spezifisches Selbst ist. So berichtet etwa der Sozialan­ thropologe Jörg Niewöhner (2010) über eine Spannung zwischen individueller und kollektiver Intervention im Präventionsbezug in Folge der politischen Reform. Während die eigenverantwortli­ che Aufklärung und Gesundheitsvorsorge vor allem im gebildeten Bürgertum erfolgreich ist, gelingt eine solche Selbstregulation in den sozialschwachen Bereichen nicht, sodass der Staat nun, anders als bisher, direkt eingreifen muss. Gerade im Hinblick auf die Auf­ klärungsbereitschaft untermauert Thomas Mathar (2010) diese Ergebnisse und unterscheidet weiter zwischen präventivem Selbst, präventivem Selbst ++ und Präventionsverweigerern. Danach ist der ratsuchende Leser als besonders motivierter Rezipient der Kate­ gorie präventives Selbst zuzuordnen. Die besondere Thematisierung der Eigenverantwortung im Epi­ genetikdiskurs von Seiten der Rezipienten ist also ein Zeichen über­ geordneter gesellschaftlicher Veränderungen, und sie findet nicht zufällig statt, sondern hat systemische Ursachen. Der obere Kon­ text des Diskursthemas Eigenverantwortung sowie dessen Ergeb­ nis, die besondere motivationale und sozioökonomische Situierung der Teilnehmer dieses Diskurses, sind bei den folgenden ethischen Überlegungen mit zu bedenken. Der öffentliche Epigenetikdiskurs ist Teil des biopolitischen Selbstsorgediskurses. Da der Epigenetikdiskurs sich der Eigenverantwortung im Ge­ sundheitsbereich zuwendet, gehe ich im Anschluss auf ein in diesem Zusammenhang besonders prominent diskutiertes Thema aus dem Bereich Public Health, die Selbstverschuldung des Metabolischen Syndroms, ein und zeige an diesem Fallbeispiel die sich im Lichte der Epigenetik ergebenden komplexen Verantwortungsbezüge auf.

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Kapitel II: Die theoretischen Verantwortungsbedingungen

„Das Grundmuster der Wissenschaftsethik ist einfach. Nur wer sich nicht ausschließlich auf empirische Tatbestände wie die Modernisierungsschübe beruft, entgeht dem Sein-Sollens-Fehler. Nur wer sich nicht mit Sollensüberlegungen zufriedengibt, vermeidet den komplementären moralistischen Fehlschluß, der glaubt, ohne eine gründliche Kenntnis der empirischen Welt sachhaltige Aussagen gewinnen zu können.“ (Höffe 1993, 19 – kursiv S. Sch.)

1 Historische Entwicklung von Verantwortung in der (Bio-) Ethik Die etymologische Grundbedeutung von Verantwortung bezieht sich auf das Verb respondere (lat. – antworten) womit ein Dialog zwischen einem Fragenden und einem Antwortenden gemeint ist. Der ursprüngliche Verantwortungskontext ist die Verteidigung vor Gericht. Ein Angeklagter hat für eine Tat einer übergeordneten Instanz Rede und Antwort zu stehen. Aufgrund dessen liegt eine semantische Nähe zwischen den beiden Begriffen Verantwortung und Schuld vor. Während Verantwortung seit dem 15. Jh. neben diesem Rechtskontext auch im religiösen Zusammenhang Anwendung fand, spielt sie erst im gesellschaftlichen Säkularisierungs- und Emanzipationsprozess des 20. Jh. im außerreligiösen Moralkontext eine wichtige Rolle.1 Abweichend von der anfänglichen juristischen oder religiösen Rechenschaftspflicht gilt Verantwortung heute als eine „Schlüsselkategorie unseres gegenwärtigen Selbstverständnisses“ (Kaufmann 1992, 11). Damit ging ein Wechsel einher: Während ältere moraltheologische und philosophische Abhandlungen weniger von Verantwortung als von natürlichen und moralischen Gesetzen sprechen, denen Menschen verpflichtet sind und die ihr Denken und Handeln bestimmen sollen, ändert sich das Selbstverständnis in der Aufklärung. „Die Verantwortung kommt ins Spiel im Zusammen1

Einen guten Überblick über die geschichtliche Entwicklung des Verantwortungs­ begriffs bietet Bayertz (1995).

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hang mit der Reflexion über die Willensfreiheit, die dem Menschen eigen ist, und in der darin verankerten Zurechnungsfähigkeit (Imputabilität)“ (Rauscher 2010, 13). Die dialogische Struktur bleibt zwar erhalten, nun gilt es sich aber im sozialen Miteinander voreinander zu verantworten.2 In der Bioethik weisen Schicktanz und Schweda (2012) auf eine Entwicklungsgeschichte der Verantwortung hin. Die Bedeutung des seit der 1960er Jahren im bioethischen Bezug verwendeten Begriffs wurde wesentlich durch folgende drei paradigmatische Verwendungsweisen geprägt. 1. Die erste Phase bezieht sich auf eine kollektive vorwärts gerichtete Verantwortung. Früh äußerten sich Wissenschaftler besorgt in Bezug auf den zunehmenden Technologiefortschritt und die damit in Verbindung gebrachte ökologische Krise. Im Rahmen der Gen-Ethik spielten neue Rekombinationstechniken zur Modifikation der DNS eine Rolle. 1975 wurden im kalifornischen Asilomar erstmals ethische Richtlinien zum Umgang mit gentechnisch veränderten Organismen festgelegt. Zwar betrafen diese Richtlinien professionelle Wissenschaftler, jedoch wurde an eine Verantwortung bezüglich des Menschen und der gesamten belebten Natur appelliert. Eine davon abweichende genetische Verantwortung, die zu Beginn der 1970er thematisiert wurde, bezieht sich auf positiveugenische Bemühungen in der Reproduktion und die Menschheit als Kollektiv. 2. Die zweite Phase betrifft eine Professions-Verantwortung gegenüber Individuen. Sie wurde durch den Belmont-Report von 1979 eingeläutet, in dem die Verantwortung von Wissenschaftlern in Bezug auf Versuchspersonen reguliert wurde. Im Professionskreis der Medizin ist die Publikation der Principles of Biomedical Ethics von Beauchamp und Childress von 1977, in der die Verantwortung von Ärzten gegen Patienten thematisiert wird, von entscheidender Bedeutung. Dies obgleich der hier in unterschiedlichen Bezügen 2 In der gegenwärtigen Bioethik findet der Verantwortungsbegriff vor allem aus strukturellen Gründen Verwendung. Entgegen dem Gerechtigkeitsbegriff, der im angelsächsischen Raum weitaus häufiger Verwendung findet und der in sym­ metrischen Handlungsbeziehungen seine Stärke hat, bietet sich der Verantwor­ tungsbegriff für asymmetrische Handlungsbezüge, wie etwa im Pflegebereich an, in dem eine ausgeglichene Fürsorgebeziehung nicht möglich ist (Düwell 2006). Tatsächlich ergab auch die obere Analyse, dass das Leitthema Eigen-/Ver­ antwortung im öffentlichen Epigenetikdiskurs im ähnlich asymmetrisch struk­ turierten Präventions- und Gesundheitsbereich thematisiert wird.

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verwendete Verantwortungsbegriff nicht weiter präzisiert wird. In diesem Rahmen bezog sich die Verantwortung sowohl auf zurückliegende Ereignisse, wie im Falle der Haftbarmachung, als auch auf zukünftige Ereignisse, wie etwa im Sinne von Richtlinien. 3. Die dritte Phase betrifft die Interaktion zwischen sozialer und individueller Verantwortung; diese Phase beginnt mit den 1990er Jahren und wird durch zwei Faktoren konstituiert. Zum einen reagierte die bioethische Forschung auf die politischen Veränderungen und Reformen der sozialen Absicherungssysteme. Hier spielt die Eigenverantwortung erstmals eine zentrale Rolle. Wie gezeigt (2, I, 3.2.2) vollzieht sich in westlichen Ländern ein Politikwandel, wobei soziale in individuelle Verantwortungsbezüge uminterpretiert werden. Zum Anderen wird die damit einher gehende Thematisierung der Autonomie als moralische Leitkategorie zu einem eigenständigen Problem im bioethischen Diskurs. Die Eigenverantwortung wird aufgrund ihres Fokus auf die Autonomie und Ausblendung übriger Wertvorstellungen zum Problem. In diesem Zusammenhang erkennen Schicktanz und Schweda eine neue Schwierigkeit im Rahmen der Wissens- und Risikobewertung. Der mittlerweile hohe Informationsgrad über lebensstilbezogene Präventionszusammenhänge entfaltet gegenwärtig eine Eigendynamik. Zwar werden Bürger durch das Wissen in einen Handlungszustand versetzt, dieser stellt sich aber zunehmend als Bürde heraus. Sollte Gesundheit aufgrund des vermittelten Wissens „kontrollierbar“ sein, gälte die Krankheit als das Verschulden, nicht eigenverantwortlich Erforderliches getan zu haben, um die Gesundheit zu erhalten. In der letzten Entwicklungsphase verschmelzen Verantwortungs- und Schuldzuschreibungen im öffentlichen Problembewusstsein. Diese Verschmelzung findet im öffentlichen Epigenetikdiskurs besonders häufig statt. Daher ist es das Ziel der verbleibenden Arbeit, den oben ermittelten Fokus des öffentlichen Diskurses zur Epigenetik auf die Eigenverantwortung kritisch zu hinterfragen. Dazu ist es zunächst allerdings nötig, die Bedingungen von Verantwortung und Eigenverantwortung sowie das Verhältnis der Begriffe zueinander zu klären. Im Folgenden werden die theoretischen Grundlagen für eine kritische Analyse des Diskursfokus auf die Eigenverantwortung erarbeitet. Die eigentliche ethische Problematisierung findet im Anschluss daran im Rahmen eines Fallbeispiels aus dem Präventionskontext der klinischen Epigenetik statt – dem sogenannten Metabolischen Syndrom. https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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2 Theoretische Aspekte der Zuschreibung von Verantwortung Die dialogische Grundbedeutung von Verantwortung weist auf soziale Begriffsbedingungen hin. Wird Verantwortung bzw. der Teilbegriff Eigenverantwortung im Epigenetikdiskurs thematisiert, so geschieht dies zumeist in Form einer Zuschreibung von Verantwortung. Einer Person wird die Verantwortlichkeit für eine Tat von einer anderen Person zugeschrieben. Da diese Zuschreibung oft als Übergriff in einen Autonomiebereich und somit als Belastung empfunden wird, werden im Folgenden die theoretischen Bedingungen von Verantwortung als Zuschreibungsbegriff geklärt. Im philosophischen Diskurs wird die Verantwortungszuschreibung in zwei Kontexten diskutiert. 2.1 Verantwortung als Zuschreibungsbegriff Aus fundamentalethischer Sicht stellt sich die Frage nach dem normativen Gehalt des Begriffs Verantwortung. Hier wird zwischen ethischen Prinzipien erster Linie, normativ gehaltvollen Begriffen, die als Fundament einer Ethik dienen können, und ethischen Prinzipien zweiter Linie unterschieden (Wieland 1999), die dies nicht vermögen und daher in anderer Hinsicht in der Ethik Verwendung finden, etwa als Analyseinstrument (2, II, 4). Die Forschungsliteratur erkennt allgemein an, dass der Verantwortungsbegriff eine relationale Struktur aufweist, die im Wesentlichen aus den vier Relata Verantwortungssubjekt, -objekt, -norm, -instanz besteht. Auf diese Relata wird später genauer eingegangen (ebd.). Hier spielt die Unterscheidung zwischen der Ebene des Begriffes und der Ebene der relational verbundenen Strukturmomente eine Rolle. So macht es einen Unterschied, ob dem Begriff Verantwortung selbst ein normativer Wert zugesprochen wird oder ob der Begriff auf bereits bestehende Normen zurückgreift, selbst aber wertfrei ist. Der Philosoph Konrad Ott kritisiert, dass dieser Unterschied selten beachtet wird, wodurch der Begriff irrtümlicherweise normativ aufgeladen würde. In diesem Zusammenhang fällt erstmals in der deutschen Verantwortungsliteratur die Bezeichnung Zuschreibungsbegriff bei Ott, der behauptet: „Der Begriff der Verantwortung ist ein reiner Zuschreibungsbegriff ohne eigenständigen normativen oder moralischen Gehalt“ (1997, 254). Im gleichen Sinne wies der Philosoph Kurt Bayertz bereits davor auf den formalen Kern der Verantworhttps://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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tung hin. Danach stellt Verantwortung eine bloße Transportstruktur für eine Norm in einen spezifischen Problemkontext dar. Für Bayertz ist der Verantwortungsbegriff „evaluativ neutral“ (1995, 65), d. h. er dient lediglich als eine formale Zuschreibungsstruktur zur Prüfung des Normenbezugs. Dabei können unterschiedliche Normen angewendet werden, welche aber nicht vom Verantwortungsbegriff abgeleitet werden, sondern vorausgesetzt werden müssen.3 Der Verantwortungsbegriff profitiert also in der Ethik von den bestehenden Normen, oder, wie es Bayertz ausdrückt, er „parasitiert“ bezüglich Normen. Dagegen zeigt der Philosoph Micha Werner (1994; 2000), dass die von Ott und Bayertz behauptete Wertfreiheit des Verantwortungsbegriffes bei genauerer Betrachtung etwas relativiert werden muss. Werner greift den von Ott eingeführten Gedanken von Verantwortung als Zuschreibungsbegriff auf, verweist aber darauf, dass die bloße Betrachtung der formalen Struktur einen normativen Rest übersieht. Werner (1994) betrachtet den sozialen Vermittlungsprozess. Aufgrund seiner dialogischen Grundstruktur fordert der Verantwortungsbegriff die Anerkennung des Dialogpartners. Das Gebot, sein Gegenüber anzuhören, ist nämlich eine notwendige Verantwortungsbedingung.4 Daneben finden sich weitere normative Aspekte. So unterscheidet Werner zwischen prospektiver und retrospektiver Verantwortung. Dieses Begriffspaar wird an späterer Stelle analysiert (2, II, 3.2) – hier interessieren die normativen Implikate, welche in einer alternativen Bezeichnung deutlicher hervor treten. Der Philosoph Otfried Höffe (1993) nennt die prospektive Verantwortung Aufgabenverantwortung und die retrospektive Rechtfertigungsverantwortung. Werner hält diesbezüglich 3 Ein Beispiel verdeutlicht die Wertfreiheit des Begriffes. Denkt man im bioethi­ schen Rahmen an die Problematik „genetischer Tests“ kann die angewendete Normenvielfalt in einem Verantwortungskontext problematisch werden. Die Norm um seine genetische Erkrankungsdisposition zu wissen, bzw. sich dar­ über zu informieren, kann mit der Norm nicht zu wissen, bzw. nicht informiert werden zu wollen kollidieren, nämlich wenn andere Familienangehörige mitbe­ troffen sind. Die Ableitung sich widersprechender Normen aus einem einzigen (Verantwortungs-)Begriff ist allerdings unmöglich. 4 Das „Gegenüber“ anzuhören ist sogar im Extremfall der selbstbezüglichen Re­ chenschaftsbeziehung notwendig, da man sich auch hier erst „anhören“, somit der Möglichkeit der Verantwortungswahrnehmung zumindest eine Chance ge­ ben muss. Allerdings stellt die Gleichwertigkeit kein Alleinstellungsmerkmal der Verantwortung dar – vielmehr ist es so, dass die Akzeptanz des Gegenübers eine notwendige Ausgangsbedingung jeglichen moralischen Handelns ist.

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fest, dass die Zuschreibung prospektiver, d. h. Aufgabenverantwortung normativ gemeint ist, schließlich meint dieser Begriff nichts anderes, als dass eine definierte Aufgabe wahrgenommen werden soll.5 Der prospektive Begriff ist daher mit dem Pflichtbegriff verwandt. Auch die retrospektive Verantwortung weist einen normativen Aspekt auf. Da sie sich auf erfolgte Handlungen bezieht, erschließt sich ihre Normativität aus den Handlungszuschreibungen: „Denn wer handelt, erhebt damit notwendig den Anspruch, dass sich die eigene Handlungsweise rechtfertigen, dass sich die für die Wahl dieser Handlungsweise maßgebenden Gründe schlechthin – das heißt gegenüber allen vernünftigen Einwänden, von wem immer sie vorgebracht werden – als gültig erweisen lassen. Handlungszuschreibungen implizieren stets die Zuschreibung von Rechtfertigungspflichten. Denn die Zuschreibung, dass Person P mit ihrem Handeln notwendig den Anspruch verbinden muss, dass ihre handlungsleitenden Gewissheiten gegen alle sinnvollen Einwände verteidigt werden können, bedeutet nichts anderes, als die Zuschreibung einer Verpflichtung an P, nur in einer allen gegenüber rechtfertigungsfähigen Weise zu handeln. Dieser Verpflichtung könnte sie nur entgehen, wenn sie sich entscheiden könnte, nicht zu handeln – was offensichtlich paradox wäre.“ (Werner 2000, 101) Laut Werner gibt es also keine rein „deskriptive“ Handlungszuschreibung und somit auch keine „wertneutrale“ Form personaler Verantwortlichkeit. Mit der Attributierung einer Handlung wird also zugleich die Zuschreibung einer Rechtfertigungspflicht für die Handlung mit behauptet. Dieser letzte Punkt gibt über das Verhältnis von Handlung und Verantwortung Auskunft. Weil jede Handlungszuschreibung in 5

„Sätze, in denen prospektive Verantwortung zugeschrieben wird, sind nicht de­ skriptive, sondern normative Sätze. Sie müssen nicht immer einen primäre mo­ ralischen Geltungssinn haben, sondern können auch auf rechtliche, politische, berufliche oder sonst irgendwie konventionelle Verpflichtungen (z. B. die rollen­ spezifischen Verantwortlichkeiten eines Linienrichters im Fußballspiels)bezogen sein. Der Vielfalt sozialer Rollen, die Personen in komplexen Gesellschaften ausüben, entspricht eine Vielfalt von Verantwortlichkeiten verschiedenen Cha­ rakters und gegenüber verschiedenen Adressaten. Diese Verantwortlichkeiten können miteinander kollidieren, aber auch einander unter- oder übergeordnet sein. Da die Moral es ist, welche die letzte Prüfungsinstanz der (in jedem Hand­ lungskontext zu stellenden) Frage darstellt, wozu wir überhaupt verpflichtet sind, muss die moralische Verantwortung allen anderen Verantwortlichkeiten vor- und übergeordnet sein, dergestalt, dass sie deren relative (bedingte) Ver­ bindlichkeit zugleich (mit-) begründet und begrenzt.“ (Werner 2006, 542)

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eine Verantwortungszuschreibung umgewandelt werden kann – sie verhalten sich wie zwei Seiten einer Medaille zueinander – sind Vorwürfe bezüglich einer „inflationären Verwendung“ der Verantwortung (u. a. Lin-Hi 2009, 43; Dreier 2000, 9-11; Heidbrink 1996, 982) zu relativieren. Dass Verantwortung in verschiedenen Kontexten und mit unterschiedlichem Bezug thematisiert wird, deutet nicht notwendig auf einen „unsauberen“ Verantwortungsbegriff hin. Wegen der Kopplung von Handlung und Verantwortung sind nämlich alle Moralfragen in Verantwortungsfragen umformbar. Die häufige Verwendung ist also kein Problem des Verantwortungsbegriffs, sondern zeugt von seiner hohen Anschlussfähigkeit. Denken wir an die Ausgangsfrage zurück, ob Verantwortung als ethisches Prinzip erster oder zweiter Linie verstanden werden kann, ist hier fest zu halten, dass der Begriff, obzwar er nicht gänzlich wertfrei verstanden werden kann, eine Zuschreibungsstruktur für bestehende Normen darstellt.6 2.2 Rechtfertigung der Zuschreibung Auf einen anderen Aspekt bezieht sich der zweite Bedeutungskomplex um die Zuschreibung von Verantwortung. Hier geht es um die metaethische Bedeutung des sozialen Einflussbereichs, genauer: um die Rechtfertigung von Verantwortungszuschreibungen im Begründungsrahmen von Verantwortungstheorien. Den Zusammenhang erläutere ich nun anhand der vom Philosophen Andreas Maier (2006, 1-25) vorgenommenen Unterscheidung in praxisunabhängige und -abhängige Verantwortungstheorien.7 Folgend ist es wichtig, die Anwendungs- von der Begründungsebene des Verantwortungsbegriffes zu unterscheiden. Während Verantwortungszuschreibungen gemäß beider Theorien erfolgen können, weicht ihre 6 Ob die normativen Implikate ausreichen, um Verantwortung als moralisches Prinzip zu verwenden, bleibt hier offen. In der philosophischen Debatte um den Verantwortungsbegriff findet sich die Position selten. Sehr wenige Autoren ver­ stehen Verantwortung in einem normativ gehaltvollen Sinn. Eine Ausnahme ist Eva Buddenberg (2011), die sich diesbezüglich mit dem Werk von Jonas, Apel und Lévinas auseinandersetzt. Selbst Werner, dessen umfangreiche Analysen wichtige normative Aspekte des Verantwortungsbegriffes herausarbeiteten, nimmt hier keine Position ein. 7 Der Zusatz praxis-un/-abhängig bezieht sich alleine auf die Begründung der Theorien, nicht aber auf die Anwendung.

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Rechtfertigungsnotwendigkeit voneinander ab. Da die Begründung praxisunabhängiger Verantwortungstheorien ohne Rückgriff auf eine soziale Verantwortungszuschreibung erfolgt (1), diese aber bei der Begründung praxisabhängiger Theorien eine konstitutive Rolle spielt (2), muss die Zuschreibung nur im letzten Falle rechtfertigt werden. 1. Zunächst zu den praxisunabhängigen Theorien. In der sog. Determinismusdebatte stellt sich die Frage, unter welchen Freiheitsbedingungen von einer Verantwortung gesprochen werden kann. Inkompatibilisten behaupten, dass die Verantwortungswahrnehmung nur unter indeterministischen Bedingungen möglich, unter deterministischen Voraussetzungen aber unmöglich ist. Als Verantwortungsbedingung gilt, dass eine Person frei handeln kann und Handlungsalternativen hat. Die Zuschreibung von Verantwortung ist bereits wegen des Indeterminismus gerechtfertigt. Kompatibilisten gehen davon aus, dass der Determinismus unser Selbstverständnis als moralfähige Akteure nicht bedroht. Als Verantwortungsbedingung gilt hier, dass die Person zum konkreten Handlungszeitpunkt die entscheidenden Gründe versteht und danach handelt. Die Zuschreibung von Verantwortung ist hier ohne theoretische Berücksichtigung sozialer Prozesse gerechtfertigt. Da in beiden Fällen Verantwortlichkeit unabhängig von Sozialbezügen besteht, ist keine gesonderte Begründung der sozialen Zuschreibungspraxis im Rahmen der Theoriebegründung notwendig. 2. Davon weichen folgende drei praxisabhängige Theorien ab, die zusätzlich zu oberen Annahmen auch soziale Zuschreibungsprozesse bei der Ableitung der Verantwortlichkeit berücksichtigen. Die konsequentialistische Position geht davon aus, dass Verantwortung durch Vollzug bestimmter sozialer Praktiken, wie Strafen und Belohnen, vermittelt wird, wodurch das Verhalten einer Person in die sozial gewünschte Richtung gesteuert wird. Die Zuschreibung von Verantwortung wird hier durch die Wirksamkeit rechtfertigt, also das Erreichen des sozial erwünschten Effekts. Der Philosoph Peter Strawson (1963) kritisiert an dieser Theorie, dass der Fokus auf die Folgen die Ursache der Verantwortungszuschreibung außer Acht lässt. Diese erkennt er in der Verletzung moralischer Gefühle. Nach seiner naturalistischen Position erfolgt die Verantwortungszuschreibung, wenn eine Person in Bezug auf eine Handlung einer anderen Person mit reaktiven Einstellungen (Ärger, Dankbarkeit) reagiert. Da Strawson diese Reaktionen der menschlichen Natur zuschreibt, ist für ihn eine rationale Rechthttps://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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fertigung der Zuschreibung sinnlos. Hier legitimiert die natürliche Gegebenheit reaktiver Einstellungen also die Zuschreibung. Auch diese Theorie wurde kritisiert. Der Philosoph Jay Wallace (1994) entwickelte eine normativpraktische Theorie der Verantwortung. Im Prinzip hält Wallace an Strawsons These der reaktiven Einstellungen fest, schränkt sie aber auf Emotionen mit propositionalem Gehalt (Ärger, Entrüstung, Schuldgefühl) ein. Bei ihm erhält die Zuschreibung neben der emotionalen eine weitere kognitive Dimension. Zusätzlich zu dem durch den Bruch eines Handlungsgebotes aufgeworfenen Gefühl müssen Fairnessbedingungen (Entschuldigungs-/Ausnahmegründe liegen nicht vor) erfüllt sein, um jemandem Verantwortung zuzuschreiben. Entgegen Strawsons nonkognitivistischer Position ist hier rationale Distanzierung möglich. Danach gelten Verantwortungszuschreibungen, anders als nach Strawsons natürlicher Gegebenheit der reaktiven Einstellungen, erst auf der Basis der Norm Fairness als gerechtfertigt. Anhand der drei aufgewiesenen Zuschreibungstheorien wird klar, dass, sofern Verantwortung auf Grundlage eines sozialen Zuschreibungsakts konzeptualisiert wird, letzterer der Begründung bedarf, sodass hier Verantwortung theoretisch nicht ohne Weiteres aufoktroyiert werden kann. Im Lichte des Konsequenzialismus schien es, dass Zuschreibungsakte sich durch die soziale Erwünschtheit der Handlung legitimieren lassen. Strawson betonte die emotionale Reaktion auf Vergehen. Da beide kein Korrektiv haben, fördern sie einen unreflektierten Sozialdeterminismus. Erst Wallace verweist auf die Notwendigkeit der rationalen Distanzierung bei Verantwortungszuschreibungen. Im Hinblick auf die hier relevante Verantwortungsdebatte des öffentlichen Epigenetikdiskurses und ihres Fokus auf die Eigenverantwortung sind zwei Punkte der metaethischen Skizze wichtig. Erstens zeigt sich, dass Eigenverantwortung, sofern sie im Sinne einer streng auf das Individuum beschränkten Verantwortung ausgelegt wird, aus Sicht praxisabhängiger Verantwortungstheorien nicht gedacht werden kann. Hier spielt der soziale Zuschreibungsakt eine konstitutive Rolle für die Verantwortungstheorie, da dieser Akt eine Funktion im sozialen Gefüge inne hat. Besonders deutlich wird diese Funktion bei der konsequenzialistischen Position, wonach das Verhalten einer Person mittels Verantwortungszuschreibung in eine sozial erwünschte Richtung gelenkt werden soll. Aber auch in den beiden anderen praxisabhängigen Verantwortungstheorien https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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nimmt die Verantwortungszuschreibung eine ähnliche Kontrollfunktion ein. Der soziale Akt der Zuschreibung ist eine notwendige Bedingung von grundsätzlich sozial verstandenen Verantwortungsbegriffen. Derartig sozialethisch begründete Verantwortungstheorien stehen einem radikal individualethisch gedachten Konzept der Eigenverantwortung aus axiologischen Gründen entgegen, insofern sich hier das Individuum der sozialen Kontrolle entzieht. Für ein auf das Individuum beschränktes Konzept der Eigenverantwortung sind also nur die praxisunabhängigen Verantwortungstheorien anschlussfähig, bei deren Begründung die soziale Verantwortungszuschreibung keine Rolle spielt. Zum Anderen wurde die dialogische Grundbedeutung der Verantwortung durch die theoretische Rechtfertigung der Verantwortungszuschreibung weiter bestärkt. In dem Zusammenhang ist ein weiterer Punkt entscheidend. Da Verantwortungszuschreibungen Zuschreibungsurteile darstellen, haben sie einen Anklagecharakter. Um nicht in eine soziale Determination abzugleiten, muss die zur Verantwortung gezogene Person Gelegenheit haben, sich zu verteidigen. Hier ist der Begriff der Anfechtbarkeit wichtig, welcher durch den Rechtsphilosophen Herbert Hart (1949) begründet wurde. Unter Rückgriff auf den ursprünglich juridischen Kontext erkennt Hart zwei prinzipielle Möglichkeiten der Anfechtbarkeit von Verantwortung. Der Angeklagte kann die Anklage entweder durch das Bestreiten der ihm zur Last gelegten Zusammenhänge anfechten, also durch Widerlegung der Handlungskausalität. Oder er anerkennt diese Kausalität und damit auch, dass in der Regel zwar eine Verantwortlichkeit besteht, verweist aber darauf, dass gerade im konkreten Falle Ausnahmegründe gelten. Dies verdeutlicht die prozessuale Struktur von Verantwortung. Zur Verantwortung Gezogene sind nicht der Anklage ausgeliefert, sie verteidigen sich im Dialog. Laut Hart sind die im Anfechtungsprozess vorzubringenden Umstände im Vorfeld prinzipiell nicht erkennbar. Da sie von Fall zu Fall abweichen, müssen sie im konkreten Kontext ermittelt werden; dies erfolgt an späterer Stelle (2, IV, 2). Im Vorfeld können aber folgende theoretische Handlungs- als Rahmenbedingungen der Verantwortung festgehalten werden.

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3 Handlungstheoretische Aspekte von Verantwortung Oben wurde gezeigt, dass jegliche Handlungszuschreibung in eine Verantwortungszuschreibung umgewandelt werden kann. Im Folgenden ist noch zu klären, wodurch sich Handlungen genau auszeichnen. Anschließend daran wird auf ein logisch/temporales Verhältnis zwischen zwei Momenten des Verantwortungsbegriffs eingegangen und der zentrale Stellenwert des Moments der Verantwortungsübernahme erfasst. Da mit einer bewussten Verantwortungsübernahme spezifische epistemische und psychische Folgen verbunden sind, wird auch auf diese eingegangen. 3.1 Handlungsbedingungen als Verantwortungsbedingungen Die Zuschreibung von Verantwortung ist im Alltag oft unpräzise. Während hier Redeweisen, wie „Das defekte Elektrokabel ist für den Hausbrand verantwortlich“, üblich sind, erfüllen diese nicht die Anforderungen eines moralischen Verantwortungsbegriffs. Hier liegt eine Verwechslung von Kausalität und Verantwortung vor. Zwar setzt Verantwortung Kausalität voraus, aber sie kann nicht mit ihr gleichgesetzt werden. Zur Klärung des Verantwortungsbereichs gehe ich nun auf die handlungstheoretischen Bedingungen von Verantwortung ein. Im moralischen Kontext von Verantwortung spielen ausschließlich Akteure mit einem Personenstatus, d. h. handlungsfähige Wesen, eine Rolle. Da diese Fähigkeit nicht auf alle Menschen gleichermaßen zutrifft, ist die Klärung des Handlungsbegriffes wichtig.8 Akte lassen sich in Handlungen und Verhalten aufteilen, wobei Verhalten amoralisch und ausschließlich Handlungen moralrelevant sind. Zur Unterscheidung sind die folgenden drei, im Wesentlichen auf Aristoteles’ Imputationslehre (NE III, 1-8) basierende, Zuschreibungsregeln von Handlung wichtig.

8 Kant differenziert: „Tat heißt eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht, folglich auch, sofern das Subjekt in derselben nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird. Der Handelnde wird durch einen solchen Akt als Urheber der Wirkung betrachtet, und diese, zusamt der Handlung selbst, können ihm zugerechnet werden, wenn man vorher das Gesetz kennt, kraft welches auf ihnen eine Verbindlichkeit ruhet.“ (Kant 1986, 223)

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1. Als Grundvoraussetzung jeglicher Handlung gilt die willentliche Absicht. Handlungen sind als zweckgerichtete Akte aufzufassen. Diese intentionale Grundbedingung von Handlung hat aber Folgen. Handlungen können nämlich gelingen oder misslingen. Wenn eine Handlung mit einer Absicht beginnt, führt dies zu einer Aufwertung von Fehlern; sie sind mit dem absichtlichen Handeln verbunden. Laut Ricken (2003, 100) gilt: „Der Fehler als Fehler ist nicht absichtlich; er besteht darin, dass man die Absicht verfehlt; verfehlen kann man eine Absicht aber nur dann, wenn man eine Absicht hat.“ Im Hinblick auf das Ziel umfassen Handlungen sowohl dessen Erreichen, als auch ihr Verfehlen auf dem Wege dahin. Entsprechend definiert Dagmar Fenner (2008, 34) Handlungen als „bewusste Tätigkeit, bei der man ein als gut befundenes Ziel verfolgt“. 2. Die zweite Voraussetzung von Handlungen stellt der Wissensstand des Akteurs dar. Handlungen weisen eine Mittel/ZweckRationalität (Fenner 2008, 37) auf. Zur Erreichung der Zwecke ist die Kenntnis der Mittel notwendig. Im Idealfall der rationalen Handlung können sowohl das Ziel, als auch die Mittel benannt werden, die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit dahin führen.9 Dabei tritt eine Besonderheit auf. Wie gezeigt wurde handelt es sich, sofern die Mittel zur Erlangung des Zieles unbekannt bzw. sich im Nachhinein als unangemessen erweisen, weiter um Handlungen, solange das Ziel beabsichtigt ist. Diese Handlungen sind genauer als irrationale Handlungen zu bezeichnen. Da sich das irrationale Moment auf die Mittel, nicht aber auf den beabsichtigten Zweck bezieht, ist eine weitere Abgrenzung notwendig: Irrationale Handlungen können, müssen aber nicht moralisch sein. Daher ist es wichtig, dass irrationale Handlungen nicht primär aus Moral-, sondern aus Klugheitsgründen zu unterlassen sind. Neben dem Mittel/ZweckWissen muss auch ein Wissen zweiter Ordnung über die jeweiligen Handlungsfolgen gewährleistet sein. 3. Der letzte Punkt betont die Freiwilligkeit als Voraussetzung. Nach Aristoteles (2010, 111a) gilt als unfreiwillig, „was unter Zwang und auf Grund von Unwissenheit geschieht.“ Vice versa wird als freiwillig verstanden, wessen „bewegendes Prinzip in dem Handelnden selbst liegt, wobei er volles Wissen von den Einzelumstän9 Ein sicheres Wissen um Mittel für bestimmte Zwecke gibt es nicht. Handlungen sind notwendigerweise riskant (3.3). Daher ist es wichtig, die Mittel/Zweck-Ra­­ tionalität auf Mittel zur wahrscheinlichen Erlangung der Zwecke zu relativie­ren.

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den hat“ (ebd.). Aristoteles betont hier also die autonome Entscheidung im modernen Sinne des informed consent. Das ist recht zu verstehen. Die umfassende Kenntnis aller möglichen Umstände ist unmöglich. Zur Erreichung eines Zweckes müssen jene Mittel, die aller Wahrscheinlichkeit dazu führen, bekannt und vom Akteur beherrschbar sein.10 Diese Skizze zeigt, dass Kausalität alleine den handlungstheoretischen Bedingungen nicht genügt. Akteure müssen bestimmte Handlungsfähigkeiten wie Absicht, Wissen um die Umstände und Folgen, sowie Freiwilligkeit der Tat aufweisen, soll es sich um Verantwortungssubjekte handeln. Werden die Bedingungen nicht erfüllt so handelt es sich um Verhalten, das moralisch betrachtet den gleichen Stellenwert wie dingliche Kausalität hat, nämlich amoralisch ist. Bei Aristoteles nimmt das empirische Wissen eine zentrale Stelle ein. Da die Verantwortungsfähigkeit von der Handlungsfähigkeit abhängt, werden empirische Situationskenntnisse des Akteurs vorausgesetzt. In der Analyse des öffentlichen Epigenetikdiskurses wurde gezeigt, dass das Thema Steuerbarkeit der Genaktivität durch den Lebensstil eine wichtige Rolle spielt. Allerdings ist fraglich, ob zum gegenwärtigen Zeitpunkt ausreichendes Wissen sowohl in Bezug auf die Mittel als auch auf die Zwecke besteht. Dennoch wird dem Lebensstil, etwa in Bezug auf die gesunde Ernährungsweise, im öffentlichen Diskurs eine zentrale Rolle eingeräumt, sodass hier bereits von entsprechenden Handlungen auszugehen ist. Diesbezüglich gilt es, zwischen Wissen und bloßem Meinen zu unterscheiden. Stellt sich das aktuell handlungsanleitende „Wissen“ zum späteren Zeitpunkt als falsch heraus, wonach die angestrebten Zwecke wegen einer mangelhaften Mittel/Zweck-Relation prinzipiell nicht erreicht werden konnten, sind die Folgen dennoch zu verantworten – dies wurde anhand der Zuschreibbarkeit von Fehlern gezeigt. Zunächst scheint dies unproblematisch, da sich die Ratgeber zur Epigenetik auf etablierte Gesundheitsstrategien beziehen, deren Folgen aller Voraussicht nach unproblematisch sind. Anders verhält es sich im Falle des gegenwärtig unsicheren genuin epigenetischen Spezialwissens. So wird in den Ratgebern die Ernährung mit folatreichen Lebensmitteln als „epignetische Kost“ besonders angepriesen. Erste Studien zeigen aber, dass eine solche einseitige Ernährung durchaus 10 Aristoteles (2010, 111a) grenzt weitere Faktoren durch die Fragen Wer? Was? Objekt? Womit? Zweck? Weise? ein.

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problematisch sein kann, sodass hier Vorsicht geboten ist. Zusätzlich zu eventuell gesundheitsabträglichen Folgen gälte es, aufgrund der gezeigten handlungstheoretischen Gründe diese Schäden zu verantworten. Der Wissensbegrenzung kann vorgebeugt werden. Ein weiterer Punkt bezieht sich auf die Wissensasymmetrie zwischen Wissenschaftlern und der fachfremden Laien. Das ätiologische Wissen um die epigenetische Verursachung von Krankheiten bzw. deren Prävention ist neu und äußerst komplex, sodass es nicht als Allgemeinwissen vorausgesetzt werden kann. Daher ist die Aufklärung der Bevölkerung über die ätiopathogenetischen Zusammenhänge – sofern solche vorliegen – entscheidend, um die betroffenen Bürger in einen handlungsfähigen Kenntnisstand zu versetzen. Hier zeigt sich, dass zusätzlich zu unmittelbar Betroffenen weitere Verantwortungsakteure von Bedeutung sind, nämlich jene, die über die Aufklärungsprogramme entscheiden. Aufgrund dieser Ermöglichungsbedingungen von rationalen Handlungen kann man hierbei von einer Verantwortung der Verantwortung, oder Metaverantwortung sprechen. Eine Verantwortungsanalyse muss also über die letztlich Handelnden hinaus das gesamte Netz aller Handlungsakteure beachten. Diese werden später am konkreten Fallbeispiel ermittelt (2, IV, 3). 3.2 Logisch/temporale Bedingungen: Prospektive und retrospektive Verantwortung Prozessual betrachtet bestehen zwei Momente der Verantwortung. Der Verantwortungsbezug kann entweder retrospektiv oder pro­ spektiv gemeint sein. Da ihr logisches Verhältnis erst durch den temporalen Bezug verständlich wird, gehe ich zunächst auf letzteren ein. Üblicherweise verwendet man Verantwortung in einer retrospektiven Weise. Denken wir z. B. an den legalen Bezug der Verantwortung so ist hier die retrospektive Ausrichtung gemeint. Das Konzept der Schuld verweist auf einen abgeschlossenen Akt, für den man angeklagt wird. Die Begründung der Verantwortungszuschreibung wurde oben als eine reaktive Einstellung dargestellt (2, II, 2.2). Mit der retrospektiven Zuschreibung von Verantwortung geht eine Konnotation einher. Da diese Zuschreibung aufgrund eines negativen Ereignisses erfolgt, das Empörung hervorruft und woraufhin zur Klärung der Sachlage ein Verantwortlicher zu finden https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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ist, ist der retrospektive Verantwortungsaspekt mit der Schuld zwar nicht gleichzusetzen aber thematisch verbunden. Um den semantischen Bezug hervorzuheben, nennt Höffe (1993, 30) die retrospektive Verantwortung Rechenschaftsverantwortung. Wegen eines defizienten Zustandes muss der Verursacher Rechenschaft über sein Handeln ablegen und den dadurch aufgeworfenen Fragen Rede und Antwort stehen. Die prospektive Verantwortung trat erst durch den technischen Fortschritt der Moderne in den Fokus, der die Differenzierung von Arbeits- und Zuständigkeitsgebieten sowie neue Rollenverständnissen beförderte und damit gesellschaftliche Strukturen veränderte (Bayertz 1995). Während in vorindustrieller Zeit Aufgabengebiete aufgrund tradierter sozialer Rollen unhinterfragt bestanden, erfordert die komplexe arbeitsteilig organisierte moderne Gesellschaft eine präzise Abgrenzung der Zuständigkeiten; für die im Berufsalltag definierten Aufgabenbereiche galt es Verantwortung zu übernehmen. Zur Hervorhebung dieses besonderen Umstandes nennt Höffe (1993, 30) die prospektive Verantwortung Aufgabenverantwortung. Im Hinblick auf eine zu bewältigende Aufgabe wird im Voraus der Handlung Verantwortung übernommen. Ihre semantische Konnotation ist eine positive, da mit der Verantwortungsübernahme mögliche Schäden vermieden werden sollen. Da dieser Zustand erreicht werden soll, ist die Aufgabenverantwortung mit der Pflicht verwandt. Mit der Aufgabenübernahme geht die Pflicht einher, sie nach bestem Wissen und Gewissen zu lösen. Zwischen beiden Verantwortungsaspekten besteht eine interessante Wechselbeziehung. Obgleich beide im Hinblick auf ihr Zeitverhältnis und ihre semantische Konnotation abweichen, stehen sie aber in einem Abhängigkeitsverhältnis.11 Die Aspekte bedingen sich auf einer logischen Ebene. Dieses Korrespondenzverhältnis beschreibt die Philosophin Eva Buddeberg folgendermaßen: „Verantwortung kann rückwirkend nur eingeklagt werden, wenn vorher, 11 Dies hervor zu heben ist wichtig, da der alleinige Fokus auf den temporalen Bezug zu Missverständnissen führte. So wurde angenommen, dass zwischen der retrospektiven und prospektiven Ausrichtungen eine Lücke bestünde. Manche Autoren postulierten daher eine dritten Kategorie (momentane Verantwor­ tung – Rophol 1994, gegenwärtige Verantwortung – Wimmer 2011, 2317), um die Dreiheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hier zu erfassen. Wer­ ner (2000, 89) weist darauf hin, dass dies das eigentliche Anliegen der Trennung verkennt. Die Trennung erfolgt nicht aus rein zeitlichen, sondern aus systemati­ schen Gründen. Dies wird erst durch ihr Bedingungsverhältnis klar.

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mehr oder weniger explizit, eine Verantwortung für eine Aufgabe formuliert wurde. Umgekehrt stellt Verantwortung als Zuständigkeit für einen Aufgabenbereich eigentlich nur eine gedanklich vorweggenommene Rechenschaftsverantwortung dar, nämlich diese Aufgabe so zu erfüllen, dass man später ohne Schwierigkeit sein Handeln als begründet rechtfertigen kann.“ (Buddeberg 2011, 28) Dieses Abhängigkeitsverhältnis zeigt, dass die prospektive Verantwortung nicht erst durch die gesellschaftlichen Veränderungen in der Moderne entstand, sondern dass sie als ein konstitutives Element der Verantwortung überhaupt gilt.12 Die beiden Aspekte werden in der Praxis lediglich unterschiedlich stark hervorgehoben. Da sie sich aber wie zwei Seiten einer Medaille gegenseitig bedingen, handelt es sich nicht um verschiedene Typen, sondern um Aspekte der Verantwortung. Dennoch liegt zwischen ihnen ein entscheidender Unterschied vor. Aus logischer Sicht handelt es sich um ein asymmetrisches Verhältnis; die retrospektive Verantwortungszuschreibung setzt die prospektive Übernahmemöglichkeit von Verantwortung voraus. Dieses Verhältnis lässt sich plastisch verdeutlichen: „Nur weil und insofern der Bademeister (prospektiv) für das Leben des Schwimmers verantwortlich war, kann man ihn (retrospektiv) für den Tod des Schwimmers zur Rechenschaft ziehen, ihm Rechtfertigungsverantwortung zusprechen“ (Werner 2000, 90). Dieses Beispiel zeigt, dass der Verantwortungsprozess mit dem Subjekt beginnt. Da die retrospektive Verantwortung ihrer Möglichkeit nach die Übernahme prospektiver Verantwortung voraussetzt, ist sie dieser logisch

12 Zur Interaktion von prospektiver und retrospektiven Verantwortung siehe auch Birnbachers Unterscheidung in ex post und ex ante Verantwortung (1995), Go­ sepath (2006, 389f) und Günther (2006). Günther widmet sich u. a. dem Problem Zurechnungsverantwortung ohne Aufgabenverantwortung (325ff), die zur Zu­ rechnungsexpansion und Aufgabendiffusion führt. „Expandierende Zurech­ nungen übergehen jene elementare Aufgabe, die eine Person für sich selbst und andere zu erfüllen hat: Eine verantwortliche Person zu sein. Was eine verant­ wortliche Person in einer konkreten Situation tun kann, ob und inwiefern die jeweiligen natürlichen und gesellschaftlichen Umstände ein verantwortliches Handeln ermöglichen – diese Fragen verlieren an Bedeutung und Gewicht, wenn feststeht, dass zugerechnet werden muss“ (Günther 2006, 326). Besonders fatal äußert sich die Zuschreibung von Eigenverantwortung, welche etwa politisch zur Individualisierung gesellschaftlicher Strukturen genutzt wird. Hier wird eine Person sich selbst für das Misslingen einer Aufgabe schuldig sprechen und dabei gesellschaftliche Gelingensbedingungen außer Acht lassen.

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nachgeordnet.13 Unabhängig ob explizit formuliert oder implizit bestehend gilt die prospektive Übernahmemöglichkeit von Verantwortung als Bedingung der Möglichkeit einer retrospektiven Verantwortungszuschreibung. Wer Jemanden zur Rechenschaft zieht, geht von einem benennbaren Aufgabenbereich aus, wobei er voraussetzt, dass die Person um den Bereich der Aufgabe weiß und ihn prinzipiell bewältigen kann. Der Medizinethiker Georg Marckmann stellt den Zusammenhang zur Eigenverantwortung im gegenwärtigen Präventionsdiskurs her: „Nur wenn die Voraussetzungen für eine prospektive Wahrnehmung von gesundheitlicher Verantwortung geschaffen sind, ist es gerechtfertigt, Patienten und Versicherte retrospektiv für solche Erkrankungen verantwortlich zu machen, die auf einem gesundheitsschädlichen Verhalten beruhen. Würde man hingegen – aus Kostengründen – Patienten allein retrospektiv für selbstverschuldete Gesundheitsstörungen zur Verantwortung ziehen, ohne die Eigen­verantwortung im prospektiven Sinne entsprechend zu stärken, würde dies vor allem sozioökonomisch schlechter gestellte Patienten benachteiligen, die einen schlechteren Zugang zu gesundheitsrelevanten Informationen haben.“ (Marckmann 2010, 218) Marckmann macht auf die oben behandelte Metaverantwortung aufmerksam. Das Beachten der Priorität der prospektiven vor der retrospektiven Verantwortung ist wichtig, da der Gesetzgeber die Absicht verfolgt, Patienten für eigenverantwortliches Präventionsverhalten zur Verantwortung zu ziehen. Damit er dies überhaupt sinnvoll verlangen kann, hat der Gesetzgeber zugleich die Pflicht, die Bedingungen der prospektiven Verantwortungsübernahme der Patienten herzustellen. Hierbei ist das Zusammenspiel aus Wissen und beiden Verantwortungsaspekten von Bedeutung. Im ähnlichen Sinne sollte klar sein, dass Verantwortung im Rahmen der Epigenetikdebatte nicht retrospektiv für frühere Zeiten, in denen kein handlungsanleitendes Wissen vorlag, zugeschrieben werden kann. 13 Werners Beispiel verdeutlicht das asymmetrische Verhältnis beider Aspekte, da es aber eine professionsgebundene Verantwortung meint, führt es in anderer Hinsicht in die Irre. Nur selten wird ein Verantwortungsbereich explizit for­ muliert, oder vertraglich geregelt. Daher ist es wichtig zu ergänzen, dass neben dem Bademeister selbst auch jede andere bei dem Badeunfall anwesende Person, die zur Hilfe eilen hätte können, zur Rechenschaft gezogen werden kann. In vielen Fällen kann nämlich die Übernahme prospektiver Verantwortung implizit vorausgesetzt werden, wie hier in Bezug auf die Norm Hilfsbereitschaft, welche Mitglieder einer Wertegesellschaft sich gegenseitig schulden.

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Die Einsicht scheint trivial. Allerdings weist sie auf die komplexere Anschlussfrage hin, ab wann Verantwortung besteht, und richtet so den Blick auf die prospektive Verantwortung. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob im Rahmen der Erkenntnisse der Epigenetik überhaupt Verantwortung übernommen werden sollte. Ihre Beantwortung hängt zum wesentlichen Teil von den empirischen Handlungsbedingungen ab. Jedoch sollten dabei auch voraussehbare Folgen einer Verantwortungsübernahme mit berücksichtigt werden – auf diese wird nun eingegangen. 3.3 Psychische Aspekte: Das Risiko als Folge der Verantwortungsübernahme Die Übernahme von prospektiver Verantwortung ist unmittelbar mit Risiken verbunden. Den dabei statt findenden epistemischen Wechsel erläutere ich an einer Analyse des Risikobegriffs durch den Systemtheoretiker Niklas Luhmann. Bei seinem Versuch, den Begriff zu präzisieren, scheidet der Begriff Sicherheit als Kontrastfolie aus, da dieser von weiteren Begriffen abhängt, sich somit nicht als Ankerpunkt eignet. Auch wird übersehen, dass jede Entscheidung Risiken enthält. Die gesuchte begriffliche Eigenständigkeit bietet erst der Begriff Gefahr. Beide Begriffe, Gefahr und Risiko, beziehen sich auf den Oberbegriff Schaden, weichen aber attributionsbedingt ab. Schäden werden im Falle der Selbstzurechnung unter den Begriff Risiko subsumiert, im Falle der Fremdzurechnung aber unter den der Gefahr. Dies bringt Luhmann wie folgt auf den Punkt: „Nur für Raucher ist Krebs ein Risiko, für andere ist er nach wie vor eine Gefahr. Wenn also etwaige Schäden als Folge der eigenen Entscheidung gesehen und auf diese Entscheidung zugerechnet werden, handelt es sich um Risiken, gleichgültig ob und mit welchen Vorstellungen von Rationalität Risiken gegen Chancen verrechnet worden sind. Man nimmt dann an, dass die Schäden nicht eintreten können, wenn eine andere Entscheidung getroffen worden wäre. Von Gefahren spricht man dagegen, wenn und soweit man die etwaigen Schäden auf Ursachen außerhalb der eigenen Kontrolle zurechnet. Das mögen unabwendbare Naturereignisse sein oder auch Entscheidungen anderer Personen, Gruppen, Organisationen.“ (Luhmann 1990, 149) Schaden wird also, falls er mit einer Handlungsentscheidung wie der Verantwortungsübernahme für einen bestimmten Bereich https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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in Zusammenhang gebracht wird, entweder als Risiko oder, falls er nicht mit der eigenen Handlung in Verbindung gebracht werden kann, als Gefahr antizipiert. Vice versa bedeutet dies, dass das Risiko einer Krankheit erst ab der Möglichkeit besteht, gegen diese vorgehen zu können (präventiv oder therapeutisch). Dabei sind zwei Punkte besonders wichtig: 1. Zunächst ist der Risiko/Schuld-Komplex wichtig. Ab dem Moment der Entscheidung werden auftretende Schäden mit den vorausgehenden Handlungen in Verbindung gebracht und kausal auf diese zurückgeführt. Es ist wichtig, hier auf ein Verschwimmen der Wahrnehmungsgrenzen hinzuweisen. Sofern nämlich ein Ereignis in chronologischer Folge einer Entscheidung auftritt, gerät außer Acht, ob die Handlung selbst es verursachte oder ob die Ursache außer Reichweite lag. Da rückliegende Wirkungen selten eindeutig rekonstruierbar sind, entstehen Konfundationen, die im Falle der Selbstzuschreibung eine Anhäufung von Schuld begünstigen.14 Daher ist es vor der Übernahme von Verantwortung im Kontext der Epigenetik wichtig, sorgfältig zu prüfen, ob überhaupt Handlungsmöglichkeiten bestehen und wie weit der Einfluss reicht. Im Rahmen der Krankheitsprävention spielt der Begriff Verfügbarkeit eine zentrale Rolle. Gesundheit stellt aus vielen Gründen ein unverfügbares Gut dar, und keine Prävention kann sie garantieren (2, II, 3.2). Würde Verantwortung pauschal für Gesundheit übernommen, führte jede Erkrankung zur Belastungsverdopplung. Zur Erkrankung träte das Bewusstsein hinzu, sie verschuldet zu haben. 2. Tatsächlich kommt es aber bereits im Vorfeld möglicher Schäden zu psychischen Belastungen. Zwar könnte man meinen, dass lediglich die Entscheidung, die sich gegen die Prävention richtet riskant, hingegen jene für die Prävention risikofrei wäre. Es erscheint offensichtlich, dass ein gesundheitsabträglicher Lebensstil riskant ist. Die Prävention sollte aber die Erkrankungswahrscheinlichkeit reduzieren. Es ist wichtig zu sehen, dass nicht nur die Ablehnung, 14 Selbst wenn die Entscheidung und die damit verbundenen Handlungen sich we­ der auf die Zunahme noch auf die Abnahme der Schäden auswirkte, stiege die Anzahl der subjektiv als selbstverschuldet angesehenen Ereignisse an. Objektiv betrachtet bleibt die Schadensmenge zwar gleich, aber da manche Schäden nicht mehr der Gefahr, sondern dem Risiko zugeschrieben werden, steigen „selbst­ verschuldete“ Schäden an. Aufgrund der besonderen Betonung des Entschei­ dungsmoments im gesundheitspolitischen Diskurs besteht dieses Problem bei der Eigenverantwortung im besonderen Maße. Die dort oft beklagte Verantwor­ tungsüberforderung scheint systemische Ursprünge zu haben.

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sondern auch die Übernahme von Verantwortung problematisch ist; schließlich eröffnet jegliche Entscheidung einen Risikoraum. Wenn nämlich Verantwortung prospektiv übernommen wird, geschieht dies in Hoffnung, die künftige Situation zu meistern. Der Entschluss gründet also auf einem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, die in die Zukunft ausgedehnt werden. Dieser Vorgriff ist naturgemäß unsicher. Im Vorfeld besteht prinzipiell keine absolute Sicherheit über das Erreichen des Handlungsziels.15 Luhmann verdeutlicht das Risiko anhand der Differenz zwischen der gegenwärtigen Zukunft und zukünftigen Gegenwart.16 Die Antizipation des Zukünftigen sowie die Einsicht, sie nicht absichern zu können, führt zu einem Spannungszustand, den Luhmann als Schadensverdopplung beschreibt. Ohne Chance die zukünftige Gegenwart sichern zu können – greifbar ist nur die gegenwärtige Zukunft – übersteigt jede Verantwortungsübernahme für Zukünftiges das aktuelle Wissen. Die zukünftige Gegenwart wirkt bereits Hier und Jetzt als eine bedrohte.17 Mit dem Übertritt aus dem Bereich des Schicksalshaften in den der Entscheidung sind also stets psychische Folgekosten verbunden.18 Im Präventionszusammenhang treten zwei weitere Phänomene auf. Angesichts der Allgegenwart des Präventionsbegriffs und den damit einhergehenden sozialen Pressionen fragt der Philosoph Peter Fuchs nach Faktoren, die diese Beständigkeit erhalten. Er findet sie in einem Metarisiko: „Es ist das Risiko, in der Zukunft (genauer: im Futur II) verantwortlich gemacht werden zu können für das, was man trotz einer in der Vergangenheit möglichen Vermeidungs15 Dies gilt bereits auf ontologischer Ebene, da Zukunft notwendig offen, d. h. unvorhersehbar gedacht werden muss. 16 So heißt es: „In dieser Differenz gibt es keinen gewissermaßen zeitlosen Platz, keine integrierende Mitte, keine Position mit Zugang zu dem, was man früher aeternitas genannt hatte. Entsprechend muss die Schadensperspektive von Ri­ siko, bzw. Gefahr gedoppelt werden. Es mag sein, dass in künftigen Gegenwar­ ten ein Schaden eintritt – oder auch nicht. Dass man dies in der gegenwärtigen Gegenwart nicht sicher wissen und für ihre gegenwärtige Zukunft als unsicher in Rechnung stellen muss, ist in vielen Hinsichten ein bereits gegenwärtiger Schaden.“ (Luhmann 1990, 159) 17 Auf diesen Zusammenhang bezieht sich von Schwerins These des „gefährdeten Organismus“. Es ist wichtig, auf die abweichende Terminologie hinzuweisen. Mit Luhmann wäre es richtig, hier von Risiko statt von Gefahr zu sprechen. 18 Diese psychischen Folgen werden ihrerseits handlungswirksam und entfalten gelegentlich eine Eigendynamik. Oft mündet nämlich das nicht Aushalten können dieser Ungewissheit in einem Aktivismus, wobei der psychisch ruhigere Zustand durch das Bewusstsein, das maximale Mögliche zur Zukunftsabsicherung getan zu haben, „erkauft“ wird.

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option in eben dieser vergangenen Gegenwart nicht vermieden hat. Auf diese Weise wird jedes Risiko noch einmal sozial riskant, weil es riskant ist, die Alternative des Risikos selbst zu verwerfen. Diese Konstruktion ist von beeindruckender Raffinesse: Sie besagt, dass man dem Risiko gerade dann nicht entkommt, wenn man auf die Nicht-Vermeidungsoption setzt. Oder anders: Risiko ist mit der Einführung der Risiko/Gefahr-Differenz so oder so unvermeidbar. Wenn man Risiken ignoriert, handelt man schon riskant, man geht das Risiko-Ignoranz-Risiko ein“ (Fuchs 2008, 371). Wenn z. B. ein Raucher meint, sich hinsichtlich möglicher Schäden nicht positionieren zu müssen, und glaubt, dem Risiko dadurch entkommen zu können, blendet er einen entscheidenden Faktor aus. Im gesellschaftlichen Rechtfertigungszusammenhang unterliegt er einem Präventionsdruck,19 wobei seine Ignoranz als eigenständiges Risiko gewertet wird. Dieses Risiko-Ignoranz-Risiko macht den engen Zusammenhang zwischen sozialem Einfluss und der individuellen Handlung deutlich. Die soziale Bindung ist in weiterer Hinsicht problematisch. Zwar gründet Verantwortung auf der Verantwortungsübernahme des Subjekts, jedoch bleiben die Folgen nicht auf dieses beschränkt. Risiko und Gefahr verbinden sich aufs innigste, sobald die Verantwortungswahrnehmung auf soziale Prozesse ausgedehnt wird. Wenn z. B. eine Person sich für das Rauchen entscheidet, wird sie mögliche Schäden sich selbst als Risiko zuschreiben. Aufgrund des passiven Mitrauchens kann aber ihr Entschluss zu rauchen auch Andere schädigen. Hier entstehender Schaden hat für diese den Status einer Gefahr, obgleich er in einem Risiko seinen Ursprung hat; er kann nicht einem schicksalhaften Naturwirken zugeschrieben werden. Anlehnend an Fuchs bezeichne ich dies als Risiko-Akzeptanz-Gefahr. Da im Präventionskontext der Epigenetik diskutierte Einflussfaktoren wie Ernährung und Stress eine starke soziale Komponente haben, ist davon auszugehen, dass gerade hier die Risiko-Akzeptanz-Gefahr wichtig ist. Individuelle Entscheidungen haben übersubjektive Folgen.

19 Fuchs’ Beschränkung auf soziale Kontexte leitet in die Irre. Das Risiko-Igno­ ranz-Risiko gilt auch auf individueller Ebene. Wissen über „richtiges“ Handeln bei gleichzeitiger Handlungsabweichung führt zu einer kognitiven Dissonanz (Festinger 1957). Dem steht das wahrhaftige Handeln also die Umsetzung der Einsichten in praktische Taten entgegen.

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Neben diesen möglichen Schäden darf hier der zentrale Punkt aber nicht aus den Augen verloren werden. Risiken werden im Hinblick auf Chancen eingegangen. Die Verantwortungsübernahme geschieht im mehr oder weniger begründeten Vertrauen auf Lösungen und ist daher riskant. Wer etwas riskiert, geht über das hinaus, was ihm ohnehin geschehen wird. Auf diesem Felde sind Verlust und Gewinn schließlich zu sehen; sie stellen ein surplus über schicksalhafte Ereignisse dar. Abschließend, im Rückblick auf die handlungstheoretischen Aspekte, soll an die epigenetische Verantwortung im Gesundheitsbereich erinnert werden. Zwar können wir bereits jetzt Einfluss auf unsere Gesundheit nehmen, wenn wir uns an etablierte Präven­ tionsstrategien halten, aber das betrifft keine genuin epigenetische Verantwortung. Bevor von epigenetischer Verantwortung, somit einem epigenetischen Handlungs- und Risikoraum im Gesundheitsbereich gesprochen werden kann, muss geprüft werden, ob sich das neue Wissen operationalisieren lässt. Erst wenn ein solcher Handlungsraum bestünde und wir hier prospektiv Verantwortung übernehmen könnten, wäre die Rede von der epigenetischen Verantwortung angebracht. Das verdeutlicht den zentralen Stellenwert, welchen das empirische Wissen im Kontext der Verantwortung inne hat. Neben den theoretischen Aspekten der Verantwortung muss also noch auf die empirischen Bedingungen der epigenetischen Verantwortung eingegangen werden. Dies wird im folgenden Kapitel geschehen. Davor wird nun im Anschluss auf den Verantwortungsbegriff als Analyseinstrument eingegangen.

4 Anwendungsbezogene Auslegung: Das Relationsmodell als Analyseinstrument Im ethischen Anwendungsbezug wird der Verantwortungsbegriff als ein Analyseinstrument verwendet, wobei er als ein Relationsmodell operationalisiert wird. Dadurch ist es möglich, die wesentlichen Bezüge der Verantwortungssituation zu erschließen und sie für weitere Analysen aufzubereiten.20 Im Folgenden gehe ich auf den in 20 Zur präzisen Erfassung der Situation kann der Begriff erweitert werden. So ent­ wickeln Lenk & Maring (1993, 229) einen sechsstelligen, Schicktanz & Schweda (2012), sowie Rophol (1994, 111f) einen siebenstelligen und Gethmann & Mit­

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der Forschungsliteratur als klassisch geltenden vierstelligen Verantwortungsbegriff ein und stelle dessen Relata vorerst im Einzelnen dar. Auf dieser Darstellung aufbauend diskutiere ich abschließend, worauf sich die im öffentlichen Epigenetikdiskurs thematisierte Eigenverantwortung als Sonderform der Verantwortung bezieht. 4.1 Verantwortungssubjekt: Ein Akteur, mehrere Akteure oder Institutionen? Der Begriff Verantwortungssubjekt bezieht sich auf den Träger der Verantwortung. Es wurde gezeigt, dass dafür nur handlungsfähige Wesen, d. h. Personen in Frage kommen. Auch wurde auf die handlungstheoretischen Anforderungen Absicht, Wissen um die Umstände und Folgen, sowie die Freiwilligkeit der Tat eingegangen. Liegen sie bedingt oder gar nicht vor, spricht man von relativer bzw. absoluter Unzurechnungsfähigkeit. „Verantwortlichkeit höherer Stufe“ liegt aber vor, „wenn eine bestimmte Person selbst als Haupt-, Teil- oder Mitursache ihrer Handlungsunfähigkeit, ihrer Intentionalitätsdefizite oder Mängel an Kausal- und Situationswissen angesehen werden kann“ (Wimmer 2011, 2313). In diesem Maße ist etwa jener, der sich ohne Führerschein und mit bloßen Minimalkenntnissen hinter das Steuer eines Autos setzt, für sein Handeln verantwortlich, wenn er um die Pflicht der Anforderungen wusste. Während die Verantwortung im Zusammenhang mit klar verteilten Verkehrsregeln leicht zuschreibbar ist, gelingt dies in der Mehrzahl der Fälle nicht so einfach. Im hier thematisierten Gesundheitskontext stellt sich die Kenntnis des Kausal- oder Situationswissens als besonders problematisch dar. Zwar bestehen auch im Gesundheitsbereich Informationspflichten, allerdings sind diese nicht wie im obigen Beispiel klar definierbar. Die Festlegung der Verantwortlichkeit gelingt erst, wenn sicher gestellt ist, dass der betreffenden Person ausreichende Informationen zugänglich sind und sie um deren Relevanz weiß. Bei Fremdzuschreibung stellt sich zudem das Problem des Fremdpsychischen; selbst wenn die Zugänglichkeit der notwendigen Informationen gewährleistet ist, kann nicht vorausgesetzt werden, dass deren Relevanz auch klar ist. telstraß (2008) einen achtstelligen Begriff. Nida-Rümelin (2011) diskutiert da­ gegen drei-, zwei- sogar einstellige Begriffe. Hier wird allerdings aus Gründen der Anschlussfähigkeit der klassische, d. h. vierstellige Begriff dargestellt.

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Damit ist die Ermittlung des Verantwortungssubjekts von weiteren Voraussetzungen abhängig, die teils außerhalb und teils innerhalb der Person liegen. Daher gehe ich nun ergänzend auch auf die Frage ein, ob nur Personen oder auch Institutionen als Verantwortungsträger möglich sind. Oft wird Verantwortung vorschnell Einzelpersonen zugeschrieben, wobei zwar auf die letztliche Handlung Acht gegeben wird, aber es werden die Bedingungen übersehen, unter welchen diese stattfand, bzw. möglich wurde. So unterscheidet Wimmer (2011, 2313-2315) die Zurechenbarkeit von der Zuständigkeit. Letztere liegt in einer Rolle begründet und kann „natürlicherweise“, wie im Falle einer Mutter- bzw. Vaterrolle, oder „auftragsweise“, wie im Falle einer Amtsvertretung, vorliegen. Während im Falle der Zurechenbarkeit stets einzelnen Personen Verantwortung zugeschrieben wird, ist es im Falle der Zuständigkeit auch möglich Institutionen Verantwortung zuzusprechen.21 Dies wäre aber sinnlos, wenn hinter der Institution keine Einzelpersonen stünden; die Verantwortungszuschreibung verliefe nämlich dann im Sand. Institutionen handeln nicht autonom – das zu verantwortende Ereignis entsteht als Ergebnis von Wirkungsketten oder komplexen Funktionsteilungen. Diese können problematisch sein, falls Zuständigkeiten (prospektive Verantwortung) nicht geklärt sind, was zu Verantwortungsdiffusion führt. Daher ist es notwendig, Zuständigkeiten in Korporationen sowie ihre Ziele zu definieren. Mit dem Stichwort Funktionsteilung ist die Frage, ob neben Personen und Institutionen auch soziale Gemeinschaften Träger von Verantwortung sein können, angesprochen. Sie wird kontrovers diskutiert. Während Hannah Arendt (1987) einzelne Personen als Verantwortungsträger voraussetzt, betonen andere Autoren die synergetischen Effekte bzw. Gruppendynamik, welche sich in Gemeinschaften einstellen und Handlungen begünstigen; da die Wirkung nicht als Aggregation von Einzelhandlungen erklärt werden kann, darf sie nicht als solche gehandhabt werden. Danach wirkt die Gemeinschaft, sodass ihre Mitglieder kollektiv zur Verantwortung 21 Hier ist die Frage der Freiwilligkeit, d. h. des Entschlusses für eine Zuständigkeit wichtig. So täuscht die Rede der „natürlicherweise/vertretungsweise“ zufallen­den Rolle darüber hinweg, dass auch hier ein (freiwilliger) Entschluss (für das Kind/für das Amt) stattgefunden haben muss. Die Funktion entbindet kaum von Verantwor­ tung, macht allerdings auf besondere Bedingungen aufmerksam auf­grund deren sich das Ereignis einstellte und verweist gegebenenfalls auf weite­re Akteure. Das bedeutet also, dass ohne Zurechenbarkeit keine Zuständigkeit möglich ist.

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zu ziehen sind. Es kann festgehalten werden, dass eine Alleinverursacherverantwortung zwar in der Vergangenheit im Vordergrund der Analysen stand, diese allerdings eher einen seltenen Grenzfall darstellt, da Handlungen stets soziale Bedingungen haben und mit Handlungen anderer interagieren. Es ist die Herausforderung des Analytikers, die Komplexität des Handlungsgefüges zu erfassen und zu prüfen, ob es sich um isolierbare Einzelverantwortungen oder komplexe Verantwortungsnetze handelt. Da ein Ereignis von mehreren verantwortet werden kann, stellt sich die Frage der Verantwortungsteilung. Hierzu gibt es zwei Positionen: Nach der Invarianzthese mindert, dass weitere Akteure mitverantwortlich sind, nicht die Einzelverantwortung. Nach der Differenzthese vermindert sich die Einzelverantwortung dagegen abhängig von der Zahl der beteiligten Akteure. Die Geltung der jeweiligen These kann nicht theoretisch entschieden werden, sondern muss im konkreten Handlungszusammenhang geprüft werden. Dies wird an anderer Stelle geschehen. 4.2 Verantwortungsobjekt: Behandelte Personen oder Handlungen von Personen? Der Objektbereich der Verantwortung kann in einen formalen und einen materialen Teilbereich untergliedert werden (Wimmer 2011, 2316). Während ersterer die Verantwortungssphäre (moralisch, rechtlich, politisch) meint, bezieht sich letzterer auf den jeweiligen Gegenstand. Als Gegenstand der Verantwortung kommen (a) Handlungen und Tätigkeiten, (b) ihre Ergebnisse und Folgen, (c) deren Abläufe, Ereignisse und Zustände, die weiterhin als psychische, mentale, soziale und institutionelle differenziert werden können, sowie betroffene (d) Personen in Frage. Der materiale Gegenstandsbereich der Verantwortung ist vom Verantwortungssubjekt abhängig. Handelt es sich hier um Einzelpersonen, so gelten Vollzug, Ergebnis und Folge einer bestimmten Handlung durch den Einzelnen als Verantwortungsbereich. Dabei spielt eine weitere Differenzierung eine Rolle. Während sich bei der Selbstsorge das Verantwortungssubjekt mit dem Verantwortungsobjekt deckt, weichen diese im Falle der Fürsorge voneinander ab.22 Beide Fälle sind hier 22 Hier weiche ich von Wimmer ab, der sich diesbezüglich auf Fürsorge und Vorsor­ ge bezieht. Dies, da die Begriffe abweichenden Kategorien entsprechen. Während die Vorsorge temporale Aspekte hervorhebt, bezieht sich die Für- und Selbstsor­

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wichtig. Handelt es sich dagegen um eine Gemeinschaft, stellt das gesamte Handlungsgefüge den Verantwortungsbereich dar. Dies erfordert weitere Arbeitsschritte. In letzterem Falle muss das Gefüge auf die Einzelhandlungen der einzelnen Gemeinschaftsmitglieder und auf deren Gegenstandsbereich hin analysiert werden. Üblicherweise denkt man in der Ethik an Verantwortungsobjekte mit moralischem Akteurstatus. Darüber hinaus widmet sich die Bioethik allerdings auch Verantwortungsobjekten jenseits dieses Akteurstatusses, wie Tieren, Pflanzen, Embryonen und Folgegenerationen. Auch werden hier Gegenstände auf subpersonaler Ebene wie die Gesundheit, der Körper, ein Organ einer Person als Verantwortungsobjekte behandelt. Im Falle der Eigenverantwortung denkt man entsprechend an die betroffene Person. Jedoch ist diese Festlegung zu allgemein, schließlich handelt es sich im hier bearbeiteten Rahmen nicht um die Person als solche, sondern um ihre Gesundheit. Diese Präzisierung ist aber problematisch. Gemäß der oben dargestellten Mittel/Zweck-Rationalität müssen die Mittel zur Zweckerreichung verfügbar sein, damit eine Verantwortungszuschreibung möglich ist. Als Verantwortungsobjekt kommt daher weder die eigene Gesundheit noch die der anderen in Frage: Anders als der Epigenetikdiskurs nahelegt, liegen die Mittel zur Gewährleistung der Gesundheit nie vollends in unserer Hand, teils aus Komplexitätsgründen, teils wegen stochastisch auftretender molekularer Ereignisse. Obgleich die Epigenetik wichtige neue Erkenntnisse liefert, bleibt die Gesundheit im strengen Sinne unverfügbar. Da also nur über Rahmenbedingungen der Gesundheit verfügt werden kann, ist es sinnvoll, das Verantwortungsobjekt unmittelbar auf das Präventionsverhalten zu beziehen. Weil wir einzig über unser Handeln verfügen können lege ich im Folgenden das Verantwortungsobjekt auf die Handlungen des Verantwortungssubjektes fest. 4.3 Verantwortungsinstanz: Gewissen oder Vernunft? Es stellt sich die Frage, vor wem oder was man rechenschaftspflichtig ist. Die Verantwortungsinstanz bezieht sich auf die gesamte Moralgemeinschaft und speziell die unmittelbar Betroffenen. Diege auf den Gegenstandsbereich der Verantwortung. Vorsorge kann sowohl im Modus der Fürsorge als auch der Selbstsorge betrieben werden. Aufgrund ihrer temporalen Bezüge wird sie gesondert (2, IV, 1.2) behandelt.

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se zunächst allgemeine Definition muss präzisiert werden. Traditionell wird im Hinblick auf die betroffene Verantwortungssphäre formal unterschieden. Während in der legalen Sphäre das forum externum in Form des Gerichtshofes und in Person des Richters diese Funktion erfüllt, spricht man in der moralischen Sphäre vom forum internum als Verantwortungsinstanz. Hier ist zu klären, worauf sich dieses Forum bezieht, d. h. was das forum internum als ein internes kennzeichnet. Der Philosoph Reiner Wimmer (2011, 2317) weist darauf hin, dass ursprünglich das Gewissen als internes Forum galt, der Bezugspunkt sich aber im Verlauf der Aufklärung hin zur Vernunft verlagerte. Dieser Fokus auf die Vernunft kann Folgen für den relationalen Verantwortungsbegriff haben; rechtfertigt man sich vor der überindividuellen Vernunft, die zudem als Quelle der Normativität gilt, erübrigt sich die gesonderte Aufführung der Instanz im Anwendungskontext Verantwortung. Weil Verantwortungsnorm und -instanz zusammenfallen, müsste der Verantwortungsbegriff also ein dreigliedriger sein (Subjekt, Objekt, Norm/ Instanz). Hier kann der Punkt nicht entschieden werden. Da er aber systematische Bedeutung hat, möchte ich folgend zeigen, dass im Hinblick auf die Verantwortungsinstanz das Zusammenspiel von Gewissen und Vernunft entscheidend ist. Zunächst möchte ich auf einen allgemeinen Vorzug des forum internum vor dem forum externum hinweisen und in diesem Zusammenhang ihren wesentlichen Unterschied erläutern. Oben wurde das Problem angeschnitten, dass wir beschränkt Einsicht in fremdpsychische Zustände haben. Im Hinblick auf diese Einsichtstiefe hat das forum internum den Vorzug vor dem forum externum. Denkt man nämlich über den säkularen Kontext hinaus, stellt das forum divinum die ursprüngliche Verantwortungsinstanz dar. Da einzig Gott mittels seiner unbegrenzten Einsichtskraft zwischen äußerlichen, eventuell täuschenden und inneren, tatsächlichen Beweggründen unterscheiden kann, stellt das forum divinum die höchstrichterliche Verantwortungsinstanz dar. Laut Kant liegt hier eine beachtenswerte Parallele zum forum internum vor, welches er genauer im Gewissen erkennt.23 23 „Dieses forum internum ist ein forum divinum, indem es uns nach unseren Gesinnungen selbst beurtheilt, und es lässt sich auch vom foro divino kein an­ derer Begriff machen, als daß wir uns selbst nach unsern Gesinnungen richten müßen. Alle Gesinnungen und Handlungen also, die äußerlich nicht bekannt sein können, gehören vor das forum internum; denn das forum externum hu­

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Da ein externes Forum, wie das der Rechtsprechung, begrenzt einsichtsfähig ist, muss es sich an erkennbaren Dingen orientieren. Dagegen hat das forum internum, als säkulares Pendant des forum divinum, unmittelbar Einsicht in die eigenen Gesinnungen und ist daher für den Bereich der Moral zuständig.24 Es ist interessant, dass Kant als einer der glühendsten Verfechter der Aufklärung in diesem Kontext nicht der Vernunft, sondern dem Gewissen den Vorzug gibt. 25 Dieses hat einen entscheidenden Vorteil. Anders als das rationale Vermögen Vernunft ist das Gewissen im Sinne eines Instinktes vom willentlichen Handeln abgekoppelt; 26 was erst als Nachteil scheint erweist sich bei genauerer Betrachtung als Vorteil. Das Gewissen ist nicht rational steuerbar, sondern schaltet sich unabhängig vom Bewusstsein ein und wird so nicht von den aktuel-

manum kann nicht nach Gesinnungen urtheilen. Das Gewißen ist also der Re­ präsentant des fori divini. Coram foro externo humano gehören keine ethischen Handlungen; denn dasselbe hat keine Befugniß des äußeren Zwangs, welche nur ein äußerlicher Richter hat. Coram foro externo humano gehört aber alles, was äußerlich erzwungen werden kann, folglich alle äußerlichen Zwangspflichten. Die Befugniß und die Beweise des facti müßen äußerlich gültig seyn. Aeuße­ re Gründe aber der Imputation sind, die nach dem äußern allgemeinen Gesetz gültig sind. Solche Imputationen, die gar nicht äußere gültige Gründe haben, gehören nicht fürs forum externum, sondern internum“ (Kant 1974, 297). Kant klärt hier den Unterschied zwischen Recht und Moral. Der Bezug der Begriffe forum internum/externum geht dabei über Kant hinaus: Die Begriffe wurden im 12. Jh. im kirchlichen Kontext entwickelt, um zwei Ansatzpunkte des kirchlichen Rechts zu markieren. Wenn das forum externum die kirchlichen Gerichtshöfe meint, geht das forum internum tiefer und bezieht sich dabei auf das Gewissen, das erforscht und an dem Buße verhängt wird. 24 Es ist wichtig zu sehen, dass das forum internum nicht das von göttlichen Gna­­ den zugeteilte Gewissen darstellt – Kants Argument läuft umgekehrt; das forum internum ist sogleich forum divinum, da ihm kein noch so kleines Vergehen entgehen kann. Diese absolute Einsicht sichert ihm also den göttlichen Status. 25 Das Gewissen nimmt in aufgeklärten, auf Autonomie aufbauenden Gesellschaf­ ten einen zentralen Stellenwert ein. Dass die Gewissensfreiheit in der deutschen Verfassung als Grundrecht abgesichert ist, ist Beleg ihrer Bedeutung. 26 „Das Gewißen ist ein Instinkt, sich selbst nach moralischen Gesetzen zu richten. Es ist kein bloßes Vermögen, sondern Instinkt, nicht über sich zu urtheilen, son­­ dern zu richten. Wir haben ein Vermögen uns selbst nach moralischen Gesetzen zu beurtheilen. Von diesen Vermögen aber können wir nach Belieben einen Ge­ brauch machen. Das Gewißen hat aber eine treibende Gewalt, uns vor den Rich­ terstuhl wider unsern Willen, wegen der Rechtmäßigkeit unserer Handlungen zu fordern. Es ist also ein Instinkt und nicht bloß ein Vermögen der Beurthei­ lung“ (Kant 1974, 381). Kant denkt hierbei nicht an den biologischen Instinkt, sondern unterscheidet zwischen Instinkt und Vermögen. Als Metapher drückt Instinkt die eigene Wirkweise des Gewissens aus.

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len Denkbezügen eingenommen. Die psychologische Tatsache, dass uns nur ein Bruchteil des Alltags bewusst wird, ist für das Gewissen unerheblich. Sein „Einschalten“ weist auf die Existenz moralischer Gesetze hin, die unterschwellig in einer Tiefenschicht des Bewusstseins stets wirksam sind, überschwellig sich aber erst im Falle moralischer Grenzüberschreitung bemerkbar machen. Darüber hinaus weist Bayertz (1995, 18) auf die Unentrinnbarkeit als weitere Gewissenswirkung hin: „Soll es ein innerlicher Gerichtshof sein, so muss es Macht haben, uns zu zwingen, unwillkürlich über unsere Handlungen zu urteilen und zu richten und uns innerlich loszusprechen oder zu verdammen.“ Weil es dies kann, übersteigt die Reichweite des Gewissens nicht nur die von externen Gerichten, sondern weist selbst im Vergleich zur Vernunft eine weit grundsätzlichere Wirkmacht auf. Sollte die Flucht vor übrigen Instanzen möglich sein, so gelingt sie vor dem eigenen Gewissen niemals. Wegen seiner Wirkung als forum internum könnte man meinen, das Gewissen eigne sich lediglich im Selbstbezug als Verantwortungsinstanz. Das lässt es zwar im Hinblick auf die Eigenverantwortung interessant werden, damit spielt es aber im Fremdbezug, nämlich andere zur Rechenschaft zu ziehen, keine Rolle. Daher ist noch auf das Zusammenspiel von Gewissen und Vernunft hinzuweisen. Tatsächlich scheint die Bedeutung des Gewissens im Falle sozialer Verantwortungszuschreibung geringer zu sein. Zwar bleibt das Detektionsmoment erhalten: Missstände erregen unsere Aufmerksamkeit unabhängig davon, ob selbst- oder fremdverschuldet, allerdings ist es fraglich, ob das Moment der Unentrinnbarkeit vor dem Gewissen in letzterem Falle so stark ist. Zwar reden wir Anderen „ins Gewissen“, ob dieses sie aber erreicht und eine Wirkmacht entfaltet, bzw. obzwar gehört anders interpretiert wird, ist damit noch nicht geklärt.27 Auf jeden Fall gewinnt im weiteren 27 Auch das Gewissen kann irren: „Irrtumsfrei in dem Sinne, dass es stets das mo­ ralisch Richtige gebietet oder verbietet ist das Gewissen ohne Zweifel nicht. […] Jedes Gewissen hat seine Geschichte; es ist intersubjektiven Einflüssen ausge­ setzt, wird dabei gut ausgebildet oder auf Abwege geführt, gelegentlich zutiefst verdorben“ (Höffe 1993, 27). Daher ist im Verantwortungsverlauf die Interakti­ on von Gewissen und Vernunft wichtig. Höffe weist im Hinblick auf die subjek­ tive Gewissheit auf den Vorzug des Gewissens vor der Vernunft hin: „Als urper­ sönliche Instanz hat das Gewissen nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine existenzielle Bedeutung; es sagt: ‚Ich persönlich bin nun einmal davon rundum überzeugt‘; und setzt hinzu: ‚bei dieser Überzeugung geht es um mein mora­ lisches Selbst‘ […] Wo das eigene Selbstverständnis in seinem innersten Kern betroffen ist, dort soll man seinen eigenen Überzeugungen folgen dürfen; nur

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Verlauf die Vernunft an Bedeutung. Oben wurde gezeigt, dass Verantwortungszuschreibungen Anklagecharakter haben und daher gerechtfertigt werden müssen. Laut Wallace (1994) ist eine solche Anklage gerechtfertigt, wenn keine Gründe (Ausnahme-, oder Entschuldigungsgründe) für die betreffende Person vorgebracht werden können. Im Vorfeld der Anklage bedarf es also eines Abwägens, wobei vernünftige Gründe entscheidend sind. Idealiter wird rational entschieden, ob jemand zur Rechenschaft gezogen wird. Darüberhinaus spielt die Vernunft auch im Folgeprozess eine Rolle. Oben wurde gezeigt, dass Verantwortungszuschreibungen anfechtbar sind und dem Betroffenen Gelegenheit eingeräumt werden muss, sich zu verteidigen. Im verbleibenden Prozess spielt die Vernunft die entscheidende Rolle. Da dieser Prozess selbst im Falle des Selbstbezugs erfolgt, ist die Vernunft über die soziale Zuschreibung hinaus für die Eigenverantwortung wichtig. Gewissen und Vernunft interagieren also miteinander. Nachdem das Gewissen bei der Detektion eines Missstandes wirksam wird, leitet es die anschließenden Prüfungsprozesse ein, in welchen die Vernunft eine Rolle spielt. Damit erweist sich die Opposition von Gewissen und Vernunft im Hinblick auf die Verantwortungsinstanz als künstlich – beide Vermögen werden hierbei wirksam. 4.4 Verantwortungsnorm: Bestehende Normen oder empirisches Wissen? Normen stellen sowohl den inneren Kern, als auch den äußeren Bezugspunkt der Verantwortung dar. Sie stellen ihren Kern dar, da sie die Zuschreibung der Verantwortung legitimieren, d. h. der Verantwortliche muss sich an diesem Maßstab des richtigen Handelns messen lassen. Dagegen beziehen sich die übrigen Verantwortungsrelata (Subjekt, Objekt, Instanz) auf Strukturmomente zur Prüfung der adäquaten Normzuschreibung. Gleichzeitig stellen Normen den Außenbezug der Verantwortung dar. Es wurde bereits darauf hin-

in dieser Hinsicht treten ‚herzhafte Gewissensgründe‘ eventuell in Konkurrenz mit Vernunftgründen und beanspruchen dann regemäßig die höhere Geltung. Wer zu dem existenziellen Ernst noch fähig ist und zu sagen vermag: ‚Hier stehe ich‘, der, aber auch nur der darf mit Luther fortfahren: ‚ich kann nicht anders‘“ (Höffe 1993, 28). Das Gewissen erhält hier den Vorzug vor der Vernunft, da es subjektkonstituierend wirkt.

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gewiesen, dass die Verantwortung keine Normen begründen kann, sondern sie voraussetzt. Dies Außenverhältnis ist interessant, da die bestehende Normendiversität auf die Verantwortung wirkt. Religiöse, moralische, rechtliche, technische, ökonomische Normen – die Liste ist erweiterbar – definieren Handlungsbereiche und schließen verschiedene Verantwortungssphären ab. Diese Sphären können sich gegenseitig durchdringen. Problematisch ist die Normenvielfalt, wenn Maßstäbe aus verschiedenen Verantwortungssphären in Konkurrenz geraten. Das kann intra- sowie intersphärisch geschehen – man spricht dann von Normenkollision.28 Eine Konfliktlösung kann aufgrund einer Vor-/Nachrangigkeit der Normen erfolgen. Generell müssen aber alle Normen moralisch rechtfertigbar sein, womit eine Gewichtung zwischen den Verantwortungssphären besteht.29 Da komplexe Handlungsbezüge oft mehrere Verantwortungssphären beinhalten, ist es eine wichtige Aufgabe, die zugrundeliegenden Normen in einer Handlungsanalyse herauszupräparieren und ihr Problempotential zu prüfen. Das Verständnis der Normbezüge spielt im Rahmen des Epigenetikdiskurses eine zentrale Rolle. Hier stellt sich etwa die Frage nach dem Status des empirischen Wissens. Im öffentlichen Diskurs taucht öfter der Satz auf „Die Epigenetik verpflichtet zur Verantwortung“ bzw. „Epigenetik ist Eigenverantwortung“. Offenbar wird von der Tatsache, dass genregulatorische Prozesse einen Effekt auf Erkrankungen haben und diese Prozesse durch den Lebensstil beeinflusst werden können, auf die Notwendigkeit, dies auch zu sollen, geschlossen. Dem Tatsachenwissen würde ein normativer Status zugeschrieben, womit sich ein Sein-/Sollens-Fehlschluss andeutete; darunter wird die Ableitung normativer Urteile aus nichtnormativen Beschreibungen und Erklärungen empirischer Sachverhalte verstanden. Da die Ableitung von normativen Urteilen aus deskriptiven Prämissen logisch unmöglich ist, scheinen obere Aussagen fraglich. Allerdings warnen sowohl die Philosophin Julia Dietrich (2004) im Rahmen des praktischen Syllogismus als auch die Bioethikerin Eve-Marie Engels (2008) mit Bezug auf den 28 Dies ist der Fall, wenn in der Gen-Ethik die Norm um seine genetische Erkran­ kungsdisposition zu wissen mit der Norm dies nicht zu wissen kollidiert. Inter­ sphärisch geraten oft ökonomische Normen mit moralischen Normen in Kon­ flikt. 29 Oft ergibt sich der Rang in der Situation. So weist Wimmer (2011, 2318) darauf hin, dass es moralisch gerechtfertigt sein kann, Besitzverhältnisse zu verletzen, nämlich dann wenn die Nahrungsbeschaffung eine lebenswichtige Priorität hat.

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naturalistischen Fehlschluss vor voreiliger Attestierung derartiger Fehler. Da in ethischen Diskursen nicht immer lehrbuchreif argumentiert wird und sich die Argumente zudem oft auf den gesamten Text verteilen, ist es ein „Gebot intellektueller Redlichkeit, beim Verdacht des naturalistischen Fehlschlusses zunächst einmal nach möglichen impliziten normativen Voraussetzungen und Hintergrundannahmen zu fragen“ (Engels 2008, 134). Erst ist also zu prüfen, worauf sich die Argumentation stützt. Bei näherer Betrachtung des Textes erweist sich das „Schreckgespenst“ naturalistischer Fehlschluss als gehaltlos. Die Autoren der genannten Textpassagen schreiben im Kontext der Prävention und greifen hier auf die Norm des Nichtschadens bzw. der Gesundheitserhaltung zurück. Nicht Empirie dient als Argumentationsgrundlage, vielmehr werden hier bestehende Normen angewendet. Ethische Urteile stellen allerdings gemischte Urteile dar. Zusätzlich zu den normativen Prämissen müssen noch die deskriptiven Prämissen hinzukommen. Diese sind soz. als „Ortskenntnisse“ unverzichtbar, um praxisnahe Urteile zu treffen. Da das epigenetische Wissen neue Wege zur Erreichung bewährter Normen (Gesundheitserhaltung) aufweist, spielt dieses bei der Verantwortungsanalyse eine zentrale Rolle.

5 Worauf bezieht sich Eigenverantwortung? Oben wurde allgemein auf die vier Relata des klassischen Verantwortungsbegriffs eingegangen. Im öffentlichen Epigenetikdiskurs spielt dagegen vor allem die Eigenverantwortung die zentrale Rolle. Es wurde gezeigt, dass Eigenverantwortung zu den zentralen Begriffen des Zeitgeschehens gehört und dass ihr nach der Reform der sozialabsichernden Systeme zunehmend Bedeutung zugesprochen wird (2, I, 3.2). Allerdings ist unklar, was genau unter dem Begriff zu verstehen ist. Eine Definition findet sich weder bei den Befürwortern der Eigenverantwortung als politisches Programm noch bei ihren Kritikern. Im Folgenden greife ich dieses Problem auf und zeige auf der Basis des klassischen Verantwortungsbegriffs, in welchen Weisen Eigenverantwortung verstanden werden kann. Das Präfix „Eigen-“ kann sich auf jedes der vier Begriffsrelata beziehen und es finden sich zu jeder Auslegung Belege. Zur Begriffsklärung werden diese Positionen skizziert, und es wird jene Eigenverantwortung herauspräpariert, die hier von Bedeutung sein wird. https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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1. Das Präfix des Begriffs Eigenverantwortung kann, wie dies im Falle des Diskurses zur Reform der Sozialsysteme oft geschieht, sich auf das Verantwortungssubjekt beziehen. Da dieser Bezug gelegentlich missverstanden wird, möchte ich ihn erklären. Wenn behauptet wird, eine Person sei aufgrund der eigenständig getroffenen Entscheidung für ihr Handeln verantwortlich,30 ist dies zunächst erstaunlich. Es wurde gezeigt, dass Verantwortung sich in letzter Hinsicht stets auf Personen beziehen muss, womit diese also bei jeglicher Form von Verantwortung vorausgesetzt werden muss. Dieser Begriff Eigenverantwortung wäre also tautologisch, da Verantwortung und Eigenverantwortung dasselbe meinen. Würde mit dem Zusatz nichts gewonnen, wäre es besser, auf ihn zu verzichten, empfehlen die Kritiker. Allerdings erfüllen Tautologien oft eine Funktion, dann nämlich, wenn sie etwas Wichtiges hervorheben. So hier: Der Reformbegriff Eigenverantwortung bezieht sich auf die Übernahme von Verantwortung. Wie gezeigt wurde, ist das Hauptanliegen dieser politischen Debatte eine Umlagerung von Verantwortlichkeiten. Wenn hier das einzelne Subjekt angesprochen wird, bedeutet dies mehr als eine bloße Dopplung. Entgegen der Zuordnung von Verantwortung durch Andere hebt dieser Begriff die Entscheidung als eigenständige Aktivität der Person hervor. Das Ziel der Sozialreform ist schließlich der autonom handelnde Bürger. 2. Denkt man dagegen an den im deutschen SGB V kodifizierten Begriff Eigenverantwortung, so meint dies weniger die Aktivität des Subjekts; hier wird Eigenverantwortung ja vorgeschrieben. Worauf bezieht sich also das Präfix? Hier handelt es sich um eine Präzisierung des Objekts der Verantwortung. Sinn und Zweck des § 1 des SGB V ist es darauf hinzuweisen, dass neben der Solidargemeinschaft jeder Bürger zum Erhalt seiner eigenen Gesundheit

30 So etwa sieht der Medizinethiker Marckmann die Selbstbestimmung als Kenn­ zeichnung der Eigenverantwortung: „Selbstbestimmung ist hier im Sinne von Entscheidungsautonomie zu verstehen und bezeichnet die Fähigkeit, nach eige­ nen Vorstellungen und Zielsetzungen ohne äußeren Zwang zu handeln. Dies setzt voraus, dass man über verschiedene Handlungsoptionen mit ihren posi­ tiven und negativen Handlungsfolgen hinreichend informiert ist und anschlie­ ßend eine bewusste Auswahl treffen kann. Sind diese Bedingungen erfüllt, kann man von einer ‚eigenverantwortlichen‘ Handlung sprechen und den Akteur zu­ mindest prinzipiell auch retrospektiv für die Handlungsfolgen zur Rechenschaft ziehen.“ (Marckmann 2010, 215)

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verpflichtet ist. Hier betont die Bezeichnung Eigenverantwortung also den Selbstbezug. Entsprechend könnte diese Verantwortungssphäre von jener der Fürsorge abgegrenzt und als Selbstsorge präzisiert werden. 3. Des Weiteren kann das Präfix Eigen- sich auch auf die Verantwortungsinstanz beziehen. Dann nämlich, wenn das eige­ ne Gewissen als Referenzpunkt der Verantwortung angesehen wird. Dies hat Bayertz im Sinn, wenn er – hier mit Bezug auf die Selbstverantwortung – schreibt: „Indem Verantwortung auf Selbstverantwortung reduziert wird, schmilzt das Geflecht des vierfachen Bezuges auf den einen Punkt des individuellen Gewissens zusammen“ (Bayertz 1995, 19). Er bezieht sich auf den Beginn der philosophischen Verantwortungsdebatte. Zu Anfang des 20. Jh. wurde Verantwortung vom Philosophen Wilhelm Weischedel (1933) im existenzphilosophischen Kontext diskutiert und damit in einen genuin individualethischen Rahmen gestellt. In Kantischer Denktradition repräsentiert das Gewissen (forum internum) jenes säkulare Pendant des göttlichen Gerichts (forum divinum), vor dem es sich nun im außerreligiösen Kontext zu verantworten galt. Verantwortung bezieht sich auf Handlungen, die dem eigenen Gewissen kundig werden und die es des Weiteren davor zu rechtfertigen gilt. Auf eine wesentliche Abweichung ist hinzuweisen: Anders als in den oberen Fällen meint Eigenverantwortung hier keinen Bereichsbegriff, sondern einen Oberbegriff. Verantwortung insgesamt wird hier auf das eigene Gewissen zurück geführt. 4. Oben wurde gezeigt, dass Verantwortung sich auch auf die Verantwortungsnorm, genauer: auf die normgebende Instanz beziehen kann. Manche Autoren referieren nämlich im Hinblick auf die Verantwortungsinstanz nicht auf das Gewissen, sondern auf die Vernunft, wobei die beiden Relata Instanz und Norm zusammenfallen; beider Funktion ließe sich auf die der Vernunft reduzieren. Danach gälte es, sein Handeln vor der Vernunft zu rechtfertigen, welche gleichzeitig aber auch jene Instanz ist, welche überhaupt Normen begründet. Hierbei mag es zunächst verwundern, dass der Verantwortungsbezug auf ein übersubjektives Vermögen, wie es die Vernunft ist, als Eigenverantwortung ausgelegt werden kann. Obgleich keine Auseinandersetzung Kants mit dem Verantwortungsbegriff bekannt ist, wird hier offensichtlich an den Kategorischen Imperativ, d. h. den Prozess der Selbstgesetzgebung angeknüpft. Die intersubjektive Vernunft ermöglicht es, die selbst abgeleiteten https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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Normen als universal geltend anzuerkennen, obgleich man sich selbst verpflichtet.31 Diese Positionen stellen einen systematischen Überblick der theoretischen Bezugsmöglichkeiten von Eigenverantwortung dar.32 Im Folgenden zeige ich, dass im Kontext dieser Arbeit lediglich die ersten beiden Positionen von Bedeutung sind. Es wurde gezeigt, dass die Thematisierung der Eigenverantwortung in Deutschland im Problemkontext des Gesundheitsbereichs abhängig von der biopolitischen Debatte um Eigenverantwortung ist. Im Präventionsrahmen ist es zunächst wichtig festzustellen, ob Verantwortung übernommen werden kann – dies betrifft Position 1. Da die prospektive Verantwortung mit der retrospektiven in einem Kohärenzverhältnis steht, also die (retrospektive) Zuschreibung von Verantwortung logisch nur dann gerechtfertigt ist, wenn es prinzipiell möglich ist prospektiv Verantwortung zu übernehmen, bedarf die Thematisierung der Eigen-/Verantwortung einer grundsätzlicheren Auseinandersetzung. Angesichts der Erfahrung, dass Verantwortung oft vorschnell Einzelpersonen zugesprochen wird, ist des Weiteren zu klären, ob im Einzugskreis der epigenetischen Handlungen auf Individuen beschränkbare Handlungen bestehen. Dabei ist neben den Einzelhandlungen selbst ein weiteres Augenmerk auf die Bedingungen der Möglichkeit der Handlungen und auf die Handlungsfolgen zu setzen. Von Eigenverantwortung im Sinne von Position 2 kann nur dann die Rede sein, wenn sich die Handlungsfolgen auf die handelnde Person erstrecken, also diese (bzw. deren Handlungen) das wesentliche Verantwortungsobjekt darstellt. Würden dagegen weitere Personen von den Handlungen betroffen, wäre es besser, schlicht von Verantwortung zu sprechen und den mittlerweile stark aufgeladenen Begriff Eigenverantwortung für passendere Handlungszusammenhänge zu reservieren. Der damit gesetzte Fokus auf die beiden ersten Positionen, d. h. den eigenständigen Entschluss des Verantwortungssubjekts (1) und dessen Bezug auf das Verantwortungsobjekt, die eigenen Handlungen (2), schließt aber die beiden verbleibenden Positionen (3, 4) nur insofern aus, wenn 31 Kritisch anzumerken ist hierbei, dass dieser Begriff der Eigenverantwortung mit Kants Pflichtbegriff konvergiert. 32 Unerwähnt blieben hier Auslegungen, die sich aus der Kombination der ein­ zelnen Positionen ergeben. Bei zwei Relata: Subjekt/Objekt; Objekt/Norm; Norm/Instanz; Subjekt/Norm; Objekt/Norm; Subjekt/Instanz. Bei drei Relata: Subjekt/Objekt/Norm; Objekt/Norm/Instanz; Subjekt/Norm/Instanz; Subjekt/ Objekt/Instanz.

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damit gleichzeitig ein exklusiver Bezugsanspruch erhoben wird. Im Folgenden wird also weder eine existenzphilosophische Begriffsauslegung mit Fokus auf die Individualethik im Sinne Weischedels (3), noch vom Zusammenfall von Verantwortungsinstanz und Norm (4) ausgegangen. Damit wird die zentrale Rolle des Gewissens als Verantwortungsinstanz und der Vernunft als normstiftende Instanz nicht etwa in Frage gestellt, sondern die ideologische Engführung der Eigenverantwortung der beiden skizzierten Positionen vermieden. Der hier verwendete Begriff der Eigenverantwortung ist also durch die Frage der Verantwortungsübernahme und seine Auslegung als Selbstsorge geprägt. Die bisher behandelten theoretischen Bedingungen der Verantwortung werden im Folgenden angewandt. Oben wurde gezeigt, dass Verantwortung nicht pauschal zugeschrieben werden kann, sondern dass eine Situation vorerst anhand des relationalen Verantwortungsbegriffs erschlossen werden muss. Obgleich mit den Erkenntnissen der Epigenetik eine neue Sichtweise verbunden ist, wäre daher die Rede von einer epigenetischen Verantwortung per se viel zu allgemein. Daher wird im Folgenden die durch die Epigenetik veränderte Verantwortungssituation anhand eines Fallbeispiels bearbeitet. Dazu ist es notwendig, auf die empirischen Bedingungen einzugehen.

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Kapitel III: Die empirischen Verantwortungsbedingungen

„Das Grundmuster der Wissenschaftsethik ist einfach. Nur wer sich nicht ausschließlich auf empirische Tatbestände wie die Modernisierungsschübe beruft, entgeht dem Sein-Sollens-Fehler. Nur wer sich nicht mit Sollensüberlegungen zufriedengibt, vermeidet den komplementären moralistischen Fehlschluß, der glaubt, ohne eine gründliche Kenntnis der empirischen Welt sachhaltige Aussagen gewinnen zu können.“ (Höffe 1993, 19 – kursiv S. Sch.)

1 Verantwortungsreichweite: Zur Stabilität der epigenetischen Modifizierungen Das folgende Kapitel widmet sich zwei Themenbereichen. Im 1., allgemeiner ausgerichteten Abschnitt gehe ich auf ein Thema ein, das im Verantwortungsdiskurs zur Epigenetik entweder ausgeblendet oder problematisch überdehnt wird. Im Hinblick auf den Menschen stellt sich die Frage nach der Wirkweite epigenetischer Modifikationen. Daher wird die Stabilität der im Umweltbezug erworbenen epigenetischen Marker genauer betrachtet und geklärt, ob sich diese und damit die Reichweite der Verantwortung entweder nur auf Entwicklungsbezüge oder sogar auf die Vererbung auswirkt. Im 2. Abschnitt widme ich mich der Verursachung des Metabolischen Syndroms, ein im epigenetischen Präventionsdiskurs häufig auftretendes Thema. Da dieses oft als Inbegriff der lebensstilbedingten Krankheiten aufgefasst wird, häufen sich gerade hier die Zuschreibungen von Verantwortung. Im Rahmen dieses Fallbeispiels gehe ich dabei auf die epigenetischen Verursachungstheorien ein, um damit die Grundlage für eine Überprüfung des im öffentlichen Epigenetikdiskurs gesetzten Fokus auf die Eigenverantwortung zu schaffen. Bei einer Verantwortungsdiskussion im Rahmen der Epigenetik spielt der Faktor Zeit eine zentrale Rolle, da für das Verständnis genregulativ wirksamer Handlungen eine Besonderheit gilt: Anders als bei gentechnischen Eingriffen, bei denen die Basensequenz der DNS bzw. ganze Genabschnitte verändert werden, sind die hier thematisier-

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ten epigenetischen Modifikationen reversibel. Aufgrund dieser Tatsache ist die Frage nach der Verantwortungsreichweite gekoppelt an die Frage nach der Stabilität der epigenetischen Marker. Da diese Frage speziell in Bezug auf den Menschen in der Literatur selten aufgegriffen wird, gleichzeitig allerdings im außerwissenschaftlichen Diskurs das Spektrum der Meinungen von ihrer Belanglosigkeit (Reversibilität) bis zu ihrer transgenerationalen Bedeutung (Stabilität) reicht, soll diese wichtige Frage geklärt werden. Die Stabilität epigenetischer Marker wird im Folgenden in zwei Kontexten behandelt: der Entwicklung und der Vererbung. Auf eine weitere Besonderheit ist hinzuweisen. Aus der prozessualen Sichtweise der Epigenetik erstreckt sich die Entwicklung, anders als im gängigen Sinne, nicht bis zum Erreichen der sexuellen Reife (Maturation), sondern der Begriff bezieht sich auf die gesamte Lebensspanne. Auch der im Folgenden verwendete Vererbungsbegriff muss präzisiert werden, da selbst in der Biologie verschiedene Verwendungsweisen auftreten. Anlehnend an die genetische Vererbung wird hier unter Vererbung die transgenerationale Übertragung materialer Erbträger mittels der Keimbahn verstanden, wobei im Rahmen der Epigenetik die Bezeichnung „materiale Erbträger“ nicht die DNS meint, sondern darüber liegende, genregulativ wirkende Faktoren. Anhand von Beispielen zeige ich, dass es trotz des noch jungen Forschungsfeldes möglich ist, grundsätzliche Aussagen über die Stabilität der epigenetischen Marker beim Menschen zu treffen. 1.1 Epigenetische Entwicklung beim Menschen Im Entwicklungszusammenhang der Epigenetik ist der Begriff Epigenom zentral. Dieser lehnt sich an den des Genoms an, d. h. die Gesamtheit aller Gene eines Organismus; das Epigenom bezieht sich auf die Gesamtheit aller epigenetischen Zustände.1 Es weicht in zwei Punkten vom Genom ab. 1. Zunächst in quantitativer Hinsicht: Während die Basensequenz der DNS in nahezu allen Zellen eines Organismus die gleiche ist, weicht das Genaktivitätsmuster zelltypspezifisch ab. 2. Dann in prozessualer Hinsicht: Während 1 Das Präfix epi- weist ganz generell auf dynamische Entitäten hin (Epigenom, -gen, -allel, -mutation, -segregation). Hier ist ein Punkt wichtig. Genau betrach­ tet bezieht sich das Epigenom auf alle epigenetischen Zustände. Wenn im Fol­ genden also hauptsächlich auf Methylierungen eingegangen wird, geschieht das nur der Verdeutlichung halber.

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das Genom, abgesehen von seltenen Mutationen, lebenslang stabil ist, ändert sich das Epigenom. Dieser Punkt führt im Rahmen der Debatte zur medizinischen Bedeutung der Epigenetik häufig zu Verwirrungen. Sollten epigenetische Modifikationen prinzipiell instabil sein, wären weder Diagnosen noch Prognosen möglich. Im Folgenden wird dieses Thema aufgegriffen, und es werden vier für die Entwicklung grundlegende epigenetische Modifikationsarten hinsichtlich ihrer Stabilität dargestellt. Dabei wird gezeigt, dass gerade die für das später zu bearbeitende Fallbeispiel entscheidende epigenetische Modifikationsart stabil ist. Da die Reversibilität der epigenetischen Marker oft missverstanden wird, möchte ich im Vorfeld einen Irrtum klären. Aus biochemischer Perspektive zählt die hier thematisierte Methylierung der DNS zu den stabilsten Verbindungen der Biologie. Wenn von ihrer Instabilität die Rede ist, stellt dies keinen Verfallsprozess dar, sondern es setzt, wie die Methylierung selbst, zellulär gesteuerte Prozesse voraus. Diese Prozesse stehen in einem biologischen Funktionszusammenhang, und es handelt sich nicht um stochastische Fluktuationen. 1. Bei der Zelldifferenzierung spielen epigenetische Modifikationen eine entscheidende Rolle. In diesem Prozess entstehen aus einer befruchteten Eizelle alle Zelltypen eines Organismus. Dabei nimmt ihre Differenzierungspotenz ab.2 Die Abweichung der Funktion der Zelltypen geht auf epigenetische Modifikationen zurück, die im Wesentlichen durch zwei Schritte etabliert werden. 2 Am Anfang der Entwicklung steht eine befruchtete Eizelle – daraus geht der menschliche Organismus aus ca. 100 Billionen Zellen, unterteilt in über 250 Zelltypen und weitere Unterarten, hervor. Um Verluste zu kompensieren und um die Zellanzahl zu erhalten, werden pro Sekunde vier Millionen Zellen neu gebildet (v. a. Blut-, Darm-, Hautzellen). Hier interessiert der Differenzierungs­ prozess. Nach erster Zellteilung liegen totipotente Zellen vor; Zellen, welche in alle Zelltypen des Organismus ausdifferenzieren können. Als nächstes bildet sich ein kugelförmiger Zellverband, die Morula, in deren Folge es zur Trennung in ein inneres und äußeres Milieu kommt. Im Zustand dieser Blastula sind die Zellen pluripotent, sie haben nur das Vermögen in wenige Zelltypen, etwa die eines Organs, auszudifferenzieren. Hier werden richtungsweisende Achsensym­ metrien ausgebildet (vorne, hinten, oben, unten); die beteiligten Zellen sezer­ nieren in Abhängigkeit von ihrer Position und Funktion Transkriptionsfakto­ ren, deren Konzentrationsgefälle die Differenzierung genregulativ anleitet. Die vorletzte Entwicklungsphase bezieht sich auf adulte Körperzellen, die sich zwar noch teilen, aber über kein Differenzierungspotential mehr verfügen, sich also nur noch reproduzieren. Am Entwicklungsende stehen Zellen, die einen postmi­ totischen Zustand erreicht haben, d. h. sich nicht mehr teilen.

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Zunächst zum ersten, dynamischen Schritt, wonach aus gleichen Zellen verschiedene Zelltypen entstehen. Ihre Differenzierung erfolgt durch selektive Genaktivierung, wobei Entwicklungsgene aufgrund von intra- und extrazellulären Signalen den nächsten Entwicklungsschritt festlegen. Weil dieser Prozess zu einem neuen Methylierungsmuster führt, spricht man von de-novo-Methylierung. Damit zum zweiten, statischen Moment, wonach die epigenetischen Modifikationen ohne weitere Änderungen stabil übertragen werden. Vor jeder Zellteilung wird die DNS dupliziert. Da in Folge dessen das Methylierungsmuster nur auf einer Seite der doppelsträngigen DNS vorliegt, würde bei einer unmittelbar daran anschließenden Zellduplikation die epigenetische Information im weiteren Verlauf verloren gehen. Um diese epigenetischen Marker nicht zu verlieren, bedarf es der stabilen Übertragung des Methylierungsmusters auf die komplementäre Seite der DNS, weil sonst der Differenzierungsgrad und damit die biologische Funktion der Zelle aufgehoben wäre. Diese Vervollständigung gewährleistet die maintenance-Methylierung.3 Über die Zellduplikation hinaus ist es wichtig zu sehen, dass dieser Mechanismus einem Zufallsverlust molekularer Bindungen generell entgegen arbeitet, da jeder einseitig methylierte DNS-Abschnitt vervollständigt wird. Die epigenetischen Marker werden also aktiv gegen epigenetischen Informationsverlust geschützt und können im Anschluss nur durch weitere Demethylierungsmechanismen aufgehoben werden. Die Stabilität dieses epigenetischen Zellgedächtnisses4 ist entscheidend für die Ontogenese, und sie bleibt lebenslang erhalten.5 3 Die „Holme“ der DNS-Leiter werden getrennt und die freistehenden „Spros­ sen“ folgend komplementär ergänzt. Die beteiligten Mechanismen weichen von­­ einander ab. Generell erfolgt die Methylierung durch Methyltransferasen (DNMT). Diese unterscheiden sich im Hinblick auf de-novo- (DNMT3A/B), bzw. maintenance-Methylierung der DNS (DNMT1). Deren Postulierungen (Riggs, 1975; Holliday & Pugh, 1975) wurden später bestätigt (Ooi et al., 2007). 4 Heinemann (2005, 83f) unterscheidet ein nukleäres, zytoplasmatisches und autokrines Zellgedächtnis. Ersteres bezieht sich auf das hier gemeinte Zellge­ dächtnis. Zweites bezieht sich auf Transkriptionsfaktoren im Cytoplasma. Drit­ tes meint die Zell-Zell-Kommunikation zur Gleichtaktung des Gewebes durch sezernierte Transkriptionsprodukte. Die Bezeichnung Zellgedächtnis hat in der esotherischen New Biology-­Bewegung (Lipton 2006; Vinmann 2009; Diaz 2011) eine andere Bedeutung. Bei ihrer „Reinkarnationstherapie“ wird von Speicherung früherer psychischer Er­lebnisse auf Zellebene ausgegangen. Da es dafür keine wissenschaftlichen Belege gibt nehme ich davon Abstand. 5 Die einzige Abweichung bezieht sich auf Alterungsprozesse. Aus epigenetischer Sicht stellt die Alterung keinen koordinierten Prozess dar. Da die Maintenance-­

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Mit der Deregulation werden aber Tumorerkrankungen assoziiert. Da dieses Epigenom den Zelltyp definiert, handelt es sich um ein überindividuelles Kennzeichen. 2. Epigenetische Modifizierungen spielen auch bei der Programmierung physiologischer Regelsysteme eine zentrale Rolle. Während bei der Zelldifferenzierung überindividuelle Marker (Zellgedächtnis) entwickelt werden, entstehen hier individuelle Differenzen. Für sich betrachtet hat das Genom das Potential zu vielen Phänotypen, wobei erst die frühe Umwelt den Organismus festlegt. Perinatologen (Plagemann 2012; Michels & Waterland 2012) erkennen den Mechanismus dafür in der epigenetischen Programmierung. Diese stelle ich an Andreas Plagemanns BiocybernetogenesisTheorie (2012) dar. Zur Erklärung dieser Programmierung reichen epigenetische Modifizierungen nicht aus; sie sind in physiologische Entwicklungsprozesse eingebunden. Ihre Stabilität entsteht erst im Zusammenspiel aus der Organogenese und den epigenetischen Modifizierungen selbst. In diesem Zusammenhang sind folgende zwei Regeln wichtig. Die Transformationsregel beschreibt die epigenetischen Modifizierungsprozesse (a.), die Determinationsregel geht auf ihre Stabilisierung ein (b.): a. Die Transformationsregel bezieht sich auf eine Entwicklungsphase des Gehirns, während der dieses von einem für Umweltinformationen offenen zu einem geschlossenen Kontrollsystem verwandelt wird (Plagemann 2012, 252). Plagemann spricht hier von der Prägung physiologischer Regelsysteme. Diese betrifft sowohl die neuronale Mikrostruktur als auch die Epigenetik, wobei beide Ebenen in einem Prozess verbunden sind. Während der frühen Transformation wird das Genaktivitätsmusters der neuronalen Zellen festgelegt. Die „Offenheit“ dieser Phase bezieht sich auf ihre Empfänglichkeit für Signale aus dem Entwicklungsmilieu. Die Informationsübertragung erfolgt mittels Hormonen, welche Umweltinformationen bis auf die subzelluläre Ebene der DNS transMethylierung auf Dauer das Genaktivitätsmuster nicht absolut sicher überträgt (Issa 2012), unterscheidet sich das vormals gleiche Epigenom aller Zellen eines Zelltyps mit zunehmender Zellteilungsrate. Dies bewirkt eine Zelldegeneration, welche in Folge die Funktionalität des Gewebes stört (Alterung). Eine Deregulation dieses Zellgedächtnisses kann auch zu unkontrolliertem Zellwachstum führen, wie im Falle von Tumoren. Im Forschungskontext gilt die Beeinflussbarkeit epigenetischer Marker dagegen als Chance. Man hofft, adulte Zellen in höherpotente Zelltypen für therapeutische Zwecke der Regenerations­ medizin zu reprogrammieren.

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portieren und hier genregulativ wirken. Das dabei festgelegte Genaktivitätsmuster stellt somit eine Reaktion auf die frühe Entwicklungsumwelt dar. Es wirkt auf die Mikrostruktur der beteiligten Zellen. Im Entwicklungsprozess differenzieren Stammzellen in die Zelltypen des neuronalen Gewebes. Da die erworbene Genregulation die Zellfunktion mit definiert, übertragen sich Umweltbezüge auf die zelluläre Ebene und legen die Funktion des neuronalen Gewebes fest. b. In der folgenden Determinationsphase sind zwei Momente von Bedeutung. Erstens wird die entwickelte neuronale Genregulation stabilisiert; diese bleibt als ein Kontrollsystems lebenslang wirksam. Wie bereits erwähnt, sind die epigenetischen Modifikationen biochemisch stabil. Zu ihrer Aufhebung bedarf es Deaktivierungsmechanismen. Da letztere durch Umweltsignale aktiviert werden müssen, das gesamte neuronale Gewebe aber in spezifischer Weise geprägt ist und daher nur bestimmte Umweltsignale zulässt, schottet sich das System von „unbekannten“, potentiell deregulierend wirkenden Signalen ab. Systemtheoretisch kann hier von einer operativen Geschlossenheit des Systems gesprochen werden. Die früh geprägte Genaktivität wird durch die Mikrostruktur stabilisiert und konserviert. Zweitens prägt das feststehende physiologische Regelsystem weitere Bereiche des Stoffwechselsystems, z. B. auf Organ-, Gewebe- und zellulärer Ebene. Vom Regelsystem sezernierte Hormone wirken als Entwicklungsfaktoren (Ontogene) und prägen die Funktion der im Stoffwechselprozess miteinander verbundenen Organe. Die frühen Umweltinformationen finden somit weitläufig Niederschlag. Dieser Prozess verläuft nicht einseitig. Schließlich wirken diese Organe auch auf das Regelsystem zurück – ihr Zusammenspiel stellt ein kybernetisches Rückkopplungssystem dar, das dynamisch auf aktuelle Umweltbezüge reagiert. Da das Regelsystem durch die Interaktion von Mikrostruktur und Genregulation gegen Störreize immun ist und ein in sich geschlossenes Kontrollsystem darstellt, ist die Reaktionsweite beschränkt; die darauf aufbauenden Stoffwechselprozesse werden in vorgegebener Weise geprägt. Prägten im ersten Schritt die epigenetischen Modifizierungen die Organentwicklung, so werden sie später rückwirkend von der Organebene konserviert. Wie ein Filter hält die Organstruktur fremde Signale ab, sodass die epigenetischen Informationen physiologisch eingefroren werden. Da diese Vorgänge an zeitlich begrenzte Differenzierungsprozesse gekoppelt sind, spricht man von https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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Prägungsfenstern.6 Sie finden in der Organogenese statt. Mit der Störung dieser epigenetischen Programmierung wird die Disposition zu Volkskrankheiten, wie dem Metabolischen Syndrom, in Verbindung gebracht. Auf diesen Zusammenhang wird später (2, III, 2) genauer eingegangen. 3. Mit zunehmendem Lebensalter treten auch andere, aktivitätsabhängige epigenetische Modifikationen auf.7 Während die epigenetische Programmierung die neuronalen Zellen der physiologischen Regelsysteme betrifft, spielen hier „ausführende“ Zellen wie Muskelzellen eine Rolle. Hierbei ist die Interaktion zwischen dem Transkriptions-, Methylierungs- und Chromatinzustand eines Gens wichtig (1, II, 3.2). Nicht transkribierte Gene werden auf mehreren Ebenen inaktiviert. Werden sie wieder benötigt, können sie reaktiviert werden. Diese reversible Genregulation hängt vom zellulären Funktionszustand ab. Regelmäßig von der Zelle benötigte Gene, sog. Haushaltsgene, können wegen eines räumlichen Verhältnisses nicht methyliert werden. Dies liegt daran, dass sowohl die Transkriptions- als auch die Methylierungsmechanismen räumliche Strukturen darstellen, welche sich den Zugang zum Gen gegenseitig versperren. Die stete Transkription eines Gens erfordert die regelmäßige Bindung des Transkriptionsapparates an die DNS und ihren Ablauf entlang der Basensequenz des Gens. Die Transkription behindert den Zugang der Methylierungsmechanismen. Das bedeu6 Van den Bergh (2012) weist auf ein neuronales Prägungsfenster in der 12.-20. Schwangerschaftswoche hin. Die Sensibilität übriger Gewebe weicht davon ab. Die holländische Hungerwinterstudie (Lumey 1992; Stein & Lumey 2000) er­laubt eine bessere Auflösung: Störungen im letzten Schwangerschaftstrimester kor­ relieren mit späteren Glukosestoffwechselstörungen, im zweiten mit chro­nisch obstruktiven Lungenkrankheiten und Microalbuminurie und im dritten mit drei­ fach erhöhtem Risiko für Herzkreislaufkrankheiten, Adipositas und atherogener Lipidprofile (Painter et al. 2005) – letzteres ist in Prognosehinsicht ein Problem, da keine Auffälligkeiten (Gewicht hoch/niedrig) bei Geburt vorliegen. 7 Beispiele aus der Zwillingsforschung zeigen, dass monozygote Zwillinge zu­ nächst das gleiche Epigenom haben – dies divergiert proportional zum Alter, wobei angenommen wird, dass die veränderte Umwelt ihr Epigenom ändert. Kaminsky et al. (2009) untersuchten die Methylierungen von Leukozyten, Wangenschleimhautzellen, Darmbiopsien von 114 monozygoten im Vergleich zu 80 dizygoten Zwillingen. Abweichungen der Methylierungsmuster wurden bei beiden Gruppen festgestellt. Im ersten Moment spricht dies gegen die (ge­ meinsame) Prägung der physiologischen Regelsysteme. Die Diskordanz nimmt aber proportional zum Lebensalter zu. Anfänglich homogene Methylierungen verändern sich abhängig von den Umwelten. Diese Abweichung stimmt mit dif­ ferierenden Erkrankungen überein.

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tet vice versa, dass nur transkriptionsinaktive Gene methyliert, d. h. inaktiviert vorliegen. Dabei gilt eine Regel: Je länger Gene nicht transkribiert werden, desto wahrscheinlicher ist ihre Deaktivierung. Dies hängt mit einer weiteren Besonderheit zusammen. Wurden transkriptionsinaktive Gene vorerst nur methyliert und damit kurzfristig inaktiviert, so verändert sich der Kondensationszustand in dieser Genregion im Verlauf der Zeit; das im aktiven Genzustand lockere Euchromatin geht in dichtes Heterochromatin über, d. h. die DNS liegt stärker verpackt vor. Im Zustand des Heterochromatins ist die Transkription des Gens unmöglich, da die Transkriptionsfaktoren keinen Zugang zu dem Gen haben. Die Inaktivierung entspricht einem Prozess mit steigender Intensität; langfristig nicht transkribierte Gene werden methyliert und bei anhaltender Geninaktivität in einen heterochromatischen Zustand überführt. Während beim Euchromatin lediglich die Methylierungen die Genaktivität behindern, müssen beim Heterochromatin noch weitere chromosomale Verbindungen (Histonbindungen) aufgehoben werden, um die räumliche Lockerung der DNS zu erreichen, somit den Zugang zum Gen wieder herzustellen. Im Heterochromatin vorliegende Gene sind also langfristig deaktiviert. Neuere Studien zeigen, dass diese Modifikationen durch körperliche Aktivität, innerhalb gewisser Grenzen, änderbar sind.8 4. Unter genomischer Prägung versteht man eine elternabhängige Art der Geninaktivierung, welche bis zu 1 % aller Gene des Menschen betreffen kann.9 Da dieser Prozess biologisch präformiert 8 Eine schwedische Studie (Barrès et al. 2012) zeigt, dass der Methylierungs­ zustand bestimmter Gene (PGC-1α, TFAM, PPAR-σ, MEF2A, MYOD1, CS, PDK4) bei Zellen der menschlichen Skelettmuskulatur durch körperliche An­ strengung verändert werden kann. Von diesen Muskelzellen ist bekannt, dass die Transkription von Genen, die für den Energiestoffwechsel notwendig sind, abhängig zur Muskelaktivität variiert. So liegen die Stoffwechselgene bei un­ trainierten Personen methyliert (inaktiv) vor. Der Zustand kann durch Training verändert werden. Es zeigte sich, dass ein zwanzigminütiges Training zur Ver­ änderung des Methylierungsmusters reicht. Der Methylierungsgrad variiert abhängig zur Trainingsintensität. Je intensiver trainiert wurde, desto geringer methyliert lagen die Gene vor. Die Ergebnisse dürfen nicht pauschalisiert wer­ den. Epigenetische Modifikationen sind zelltyp- und genspezifisch. 9 Ein Spezialfall der genomischen Prägung ist die Dosiskompensation. Da bei weiblichen Organismen das zweifach vorhandene X-Chromosom eine doppel­ te Dosis der Genprodukte bewirkt und dadurch die Entwicklung stört, wird ein Chromosom epigenetisch inaktiviert. Die Inaktivierung ist zufallsabhängig. Sie findet postnatal statt und betrifft ausschließlich Körperzellen. Wegen der zufäl­ ligen Inaktivierung stellen weibliche Organismen epigenetische Mosaike dar: In

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ist, entzieht er sich lebensweltlichen Eingriffen. Die epigenetischen Modifizierungen sind lebenslang stabil. Die dafür entscheidenden Methylierungsprozesse finden bei der Keimzellentwicklung statt. Dabei wird erst das parentale Genaktivitätsmuster gelöscht. Die folgende Remethylierung des Genoms legt dann ein neues, nun geschlechtsspezifisches Methylierungsmuster an, sodass in Spermien und Eizellen verschiedene Genaktivitätsmuster vorliegen. Da diese Modifikationen Keimzellen betreffen, werden sie auf die Folgegeneration übertragen und prägen dort den Phänotyp, was zu Abweichungen von den Vererbungsgesetzen führen kann. Die biologische Bedeutung der genomischen Prägung erklärt sich durch den Entwicklungsprozess. Während Keimzellen haploid sind, d. h. nur einen Chromosomensatz haben, verfügen befruchtete Eizellen und alle aus ihr folgenden Körperzellen über einen diploiden Chromosomensatz. Diese dadurch „doppelten“ Gensätze können in ihrer Basensequenz abweichen (Allele). Da diese Abweichungen unterschiedliche Phänotypen bedingen, ist ihre Regulation aus biologischer Sicht wichtig. Zur Verdeutlichung hilft hier ein Beispiel. Die Kreuzung von Löwen und Tigern führt elternabhängig zu unterschiedlichen Nachkommen. Hybridisierungen zwischen Löwenmüttern und Tigervätern führen zu Liger, deren Größe die der beiden Elterntiere übersteigt. Die Tigermütter führen dagegen zu den wesentlich kleineren Tigons oder Töwen. Von dieser Prägung sind im Wesentlichen Stoffwechsel- und Wachstumsgene betroffen, was auf ihre evolutionäre Funktion verweist: Während die väterliche Prägung das Wachstum fördert, um die Überlebenschance der Nachkommen, somit den Fortbestand der eigenen Gene, zu erhöhen, konkurriert der mütterliche Organismus während der Schwangerschaft mit den Nachkommen um wichtige Ressourcen wie Nahrung. Die mütterliche Prägung der Gene wirkt daher beschränkend auf das fetale Wachstum. Da die genomische Prägung wichtige Funktionen erfüllt, führen Fehlprägungen zu Krankheiten.10 einem Gewebe liegen Zellen mit unterschiedlich aktivierten mütterlichen und väterlichen X-Chromosomen vor. Das Mosaik ist funktional. Im Falle disfunk­ tionaler x-chromosomaler Gene eines Elternteils minimiert dies das Krankheits­ risiko; übrige Zellen, in denen das Gen funktional vorliegt, können den Mangel begrenzt kompensieren. 10 Imprintingfehler können pathogen wirken (Walter & Paulsen 2003). Temple et al. (2012) weisen auf Krankheiten hin, die in Folge unvollständiger prä- und postkonzeptioneller Löschung der parentalen Methylierungsmuster entstehen (2, III, 1.2). Imprintingfehler können zu Infertilität führen (Kobayashi et al.

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1.2 Epigenetische Vererbung beim Menschen Nun gehe ich auf Argumente ein, die gegen epigenetische Vererbung beim Menschen sprechen. 1. Zunächst ist es wichtig, das Forschungsobjekt, an dem epigenetische Vererbung nachgewiesen wurde, genauer zu betrachten. Bislang liegen fast keine Humanstudien vor. Das gros der Forschung findet an Pflanzen und Tieren statt. Die erste Auswertung der epigenetischen Vererbungsphänomene stammt von Jablonka & Lamb (1995, 134ff).11 Sie wurde später ergänzt. Jablonka und Raz (2009) weisen bei 47 Arten (104 Fälle) auf epigenetische Vererbung hin. Diese betreffen 5 Bakterienarten (11 Fälle), 6 Protistenarten (8), 6 Pilzarten (20), 15 Pflanzenarten (36) sowie 15 Tierarten (29). Die Analyse muss auch qualitativ betrachtet werden. Danach liegen die besten Belege für eine epigenetische Vererbung bei Einzellern vor. Jenseits dieses Bereiches fällt die Vererbbarkeitsrate rapide. Wenn die transgenerationale Übertragung von epigenetischen Markern bei Pflanzen hoch ist, sinkt sie deutlich bei Tierstudien. Im Hinblick auf den Menschen zweifeln Forscher schließlich, ob hier Vererbung möglich ist.12 Obgleich abschließende Aussagen zur epigenetischen Vererbung gegenwärtig nicht möglich sind,13 deutet sich ein Grundmuster an. Diese Vererbung verhält sich indirekt proportional zur evolutionären Entwicklungshöhe, d. h. die Vererbbarkeit epigenetischer Marker nimmt mit ansteigender Komplexität der Organismen ab. So kompensieren Pflanzen ihre Immobilität durch epigenetische Plastizität; ihre phänotypische Reaktionsfähigkeit ist plastischer als bei höheren Organismen. So werden klimatische Adaptionen im 2009; Poplinski et al. 2010). Auch natürlich auftretende Prägevariationen haben Folgen für die Ausprägung des Phänotyps (Kelsey 2012, 86f). 11 Gilbert & Epel (2009, 450-453) übernehmen diese Liste für die Evo-Devo-For­ schung im Tierbereich. 12 Jablonka & Raz (2009, 150) führen zwei Beispiele zum Menschen auf. Kaati et al. (2002; 2007) und Pembrey (2002) weisen auf durch Mangelernährung in sen­ siblen Phasen verursachte Kreislauferkrankungen und Diabetes hin. Buiting et al. (2003) und Zoghbi & Beaudet (2007) weisen auf das Angelman- sowie das Prader-Willi-Syndrom hin, die durch zufällig induzierte Imprintings verursacht werden. Da die Daten die weltweite Forschung betreffen, scheint die epigeneti­ sche Vererbung pathologischer Wirkungen beim Menschen eher die Ausnahme von der Regel zu sein. 13 Sicher lässt sich gegenwärtig sagen, dass verschiedene Arten unterschiedliche Vererbungsstrategien haben. Die Taufliege Drosophila Melanogaster verfügt z. B. über einen abweichenden Methylierungsmechanismus (Lyko et al. 2000).

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Wuchs und in Bodentoleranzen oft weitervererbt. Diese Strategie dient dem Arterhalt, den andere Arten anders sichern. Diese nachgewiesene Vererbbarkeit der epigenetischen Marker von etablierten Modellorganismen auf Menschen zu übertragen, ist wegen ihrer Spezifität unmöglich. 2. Diese Relativierung gilt umso mehr, da sich Belege einer aktiven Unterbindung der epigenetischen Vererbung beim Menschen häufen. Der transgenerationalen Übertragung stehen Löschvorgänge entgegen.14 Dabei werden genregulative Methylierungen aufgehoben, sodass diese Informationen für Folgegenerationen verloren gehen. Zwar schließen Remethylierungsprozesse daran an, aber hier werden nur entwicklungsnotwendige Marker gesetzt,15 welche artspezifische Prozesse wider- spiegeln. Wie die Graphik zeigt, findet die Löschung der epigenetischen Modifizierungen in zwei auseinander liegenden Entwicklungsphasen statt, und sie erstreckt sich auf zwei Generationen.

Abb. 8: Darstellung der geschlechtsspezifischen Methylierung

14 Dies geht auf die frühe Arbeit von Monk et al. (1987) zurück. Ihnen gelang es erstmals, den Methylierungsgrad in Abhängigkeit vom Entwicklungsgrad zu setzten, womit sie die De- und Remethylierungsprozesse nachwiesen. Die Demethylierung erfolgt punktuell (eine G2 Zellzyklus-Phase), sodass man von aktiver „Löschung“ (Kelsey 2012, 82) ausgeht. Ein dazu notwendiger Löschme­ chanismus spricht gegen die Instabilität der epigenetischen Information. 15 Über die Ursache dieser artspezifisch konservierten, somit zielgenau verlaufen­ den, de-novo-Methylierung wird spekuliert. Bergman & Cedar (2013) gehen davon aus, dass die Basensequenz der DNS „Ortsanweisungen“ enthält.

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Auf die erste Phase in dieser Graphik wurde bereits im Rahmen der Entwicklung (genomischen Prägung) eingegangen. Diese bezieht sich auf die Keimzellentwicklung in der frühen Entwicklung der F0. Während der Gametogenese wird das gesamte Genom primordialer Keimzellen demethyliert und damit eine gemeinsame Ausgangsbasis erreicht. Die anschließende Remethylierung des Genoms erfolgt geschlechtsspezifisch und führt zur genomischen Prägung. Die zweite Phase erfolgt postkonzeptionell. Sie fällt in die Präimplantationsentwicklung der F1. Dabei wird das Methylierungsmuster der Keimzellen entfernt, sodass im Anschluss die Weichen für die Zelldifferenzierung gelegt und ein spezifisches Körperbahnmuster entwickelt werden kann. Da die genomische Prägung allerdings lebenslang stabil ist, bedarf dieser Löschprozess der Erläuterung. Das während der ersten Remethylierung festgelegte geschlechtsspezifische Methylierungsmuster wird beim zweiten Demethylierungsprozess aufgehoben, wobei die epigenetische Information mittels eines Umweges erhalten bleibt.16 Die modifizierten Basensequenzabschnitte der DNS werden auf spezifische RNS übertragen, und die Information über die Positionen der genomischen Prägungen bleibt bestehen. Die folgende Remethylierung der DNS greift auf diesen „Zwischenspeicher“ zurück und stellt das vormals gelöschte Methylierungsmuster der genomischen Prägung wieder her. Es ist wichtig zu sehen, dass nur die während der genomischen Prägung entwickelten epigenetischen Modifizierungen bestehen bleiben. Die molekularen Löschprozesse verhindern also selektiv jene im Lebenslauf erworbenen epigenetischen Modifikationen und stehen ihrer Vererbung entgegen. 3. Die meisten Belege transgenerationaler Übertragungsphänomene stammen von epidemiologischen Studien. Hier handelt es sich um die schwedische (Bygren et al. 2001; Kaati et al. 2002; 2007; Pembrey et al. 2006), holländische (Lumey 1992; Stein & Lumey 2000) und russische Studie (Stanner et al. 1997) zur transgenerationalen Wirkung von Mangelernährung.17 Die erzielten Ergebnisse 16 Daxinger & Withelaw (2012) weisen auf die Bedeutung intra- und extranuklea­ rer RNS Faktoren (m/lnc/mi/endo-si/piRNA) hin. Da ihre Basensequenz die markierten Sequenzen der DNS „merkt“, gelten sie als Zwischenspeicher. 17 Interessant ist ein Vergleich dieser Studien im Rahmen der sog. evolutionären Medizin, welche von evolvierten Adaptionsmechanismen ausgeht. Obgleich alle Feten von der Unterernährung betroffen waren, wurde lediglich bei den Erwach­ senen der holländischen Studie, nicht aber der russischen, eine inverse (fetal/

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weisen Schwächen im Hinblick auf die Belegung einer epigenetischen Vererbung auf. Bei den Studien handelt es sich um historische Langzeitstudien, wobei pathogene Folgen von Umweltveränderungen untersucht wurden. Diese bloßen Korrelationsstudien weichen von den molekularbiologischen Studien ab. Wenn ihre Ergebnisse für eine epigenetische Vererbung sprechen, ist eine Besonderheit zu beachten. Der Zusammenhang zwischen einer Stressperiode und deren Folgen für folgende Generationen (F1,2,...), wie Kreislauferkrankungen, Diabetes und Adipositas oder verkürzte Lebenserwartung wurde statistisch erhoben. Diese Methode ist ungeeignet, um Aussagen über die Übertragungsmechanismen zu treffen. Die epidemiologischen Studien belegen lediglich, dass phänotypische Merkmale vererbt wurden, nicht jedoch welcher Art dieser Vererbungsprozess ist. Eine im definierten Sinne durchgängige Übertragung epigenetischer Modifikationen können epidemiologische Studien aufgrund ihrer Methode nicht nachweisen. Im Hinblick auf eine notwendige wirkursächliche Erklärung in den Naturwissenschaften ist der verwendete Vererbungsbegriff unterbestimmt. Ohne einen entsprechenden Nachweis können die transgenerationalen Effekte auf anderem Wege als der Keimbahn erzielt worden sein. Wie später noch gezeigt wird, lassen sich Merkmale bei der perinatalen Programmierung transgenerational übertragen, ohne dass eine Übertragung mittels Keimzellen notwendig wäre (2, III, 2.4.2). Ohne kausalen Nachweis können die gemessenen Effekte sogar Korrelationsartefakte darstellen. Diese Studienergebnisse dienen daher lediglich als Ausgangsbasis für weitere Analysen, welche die statistischen Daten zusätzlich noch wirkursächlich unterfüttern müssten.18 Somit werden die skizzierten Humanstudien in ihrer adult) Glukosetoleranz festgestellt. Da in Russland die Versorgung schlecht blieb, gehen Youngson & Whitelaw (2008) von erfolgreicher Adaption aus. Die inverse Glukoseintoleranz der Holländer zeugt dagegen von einem pathogenen Mismatch (2, III, 2.4.1). Solche Untersuchungen waren bei der historischen schwedischen Studie mangels Daten aber nicht möglich. 18 Eine Ausnahme stellt Heijmans et al. (2008) dar; die Studienergebnisse zum holländischen Hungerwinter (Lumey, 1992; Stein & Lumey 2000) wurden auf molekularer Ebene nachgeprüft. Ihre Analyse der mittlerweile erwachsenen Fol­ gegeneration zeigte, dass nur das Epigenom während einer Hungerperiode in Entwicklung befindlicher Föten epigenetische Modifizierung aufwies – für ihre Geschwister galt dies nicht. Das untersuchte Gen IGF2 (Insulin-like growth fac­ tor II) nimmt eine Schlüsselstelle in der Entwicklung ein. Die molekular erziel­ ten Ergebnisse zeugen von distinkten Prägefenstern und belegen die Persistenz der Modifikationen – die Studie erfolgte sechs Jahrzehnte später. Da nur die Fol­

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Aussagekraft stark relativiert. Als Beleg der epigenetischen Vererbung beim Menschen reichen diese epidemiologischen Studien jedenfalls nicht.19 4. Die epidemiologischen Studien machen auf eine mangelhafte theoretische Fundierung aufmerksam. Die Intensität der Korrelation zwischen dem Verhalten der Vorfahren und deren Folgen für die Nachkommen hängt von weiteren Faktoren ab. So spielte das Prägungsalter sowie das Geschlecht eine wichtige Rolle.20 Dabei wäre eine Bestätigung der Weismann-Barriere zu erwarten: Im Entwicklungsverlauf trennen sich nämlich Keim- von Körperzellen in räumlicher und funktionaler Hinsicht, was die Übertragung somatisch erworbener Informationen auf die Keimbahn aktiv behindert.21 Während die Eizellentwicklung schon kurz nach der Geburt des weiblichen Organismus abgeschlossen ist, dauert die Entwicklung der männlichen Keimzellen länger. Daher sollte der Prägezeitpunkt für die Vererbungsmerkmale in Abhängigkeit von dieser Segegeneration untersucht wurde, eignet sie sich nicht als Beweis epigenetischer Vererbung (2, III, 1.3). 19 Die Studien werden oft in der Debatte aufgeführt, um eine lebensstilbedingte epigenetische Vererbung zu belegen. Allerdings untersuchen sie Ausnahmesi­ tuationen (extreme Unterernährung), die vom Alltag abweichen. Der Schluss auf einen rein quantitativen Nahrungsmangel als Ursache liegt daher näher als auf ein qualitatives Programmieren. Interessanterweise wenden sich die aktu­ ellen Studien dem Gegenteil zu: Zivilisationskrankheiten werden im Hinblick auf epigenetische Folgen von Überernährung untersucht (2, III, 2). Auf weitere Unterschiede ist hinzuweisen. Die schwedische Studie (Bygren & Kaati 2001; Kaati et al. 2002; 2007; Pembrey et al. 2006) fokussierte präpubertäre Entwick­ lungszeiten – die holländische Studie (Lumey 1992; Stein & Lumey 2000) die Schwangerschaft als Induktionszeitpunkt. Während im letzteren Falle drei Ge­ nerationen zeitgleich geprägt werden konnten, ohne dass von einer Vererbung gesprochen werden müsste (2, III, 1.3), gilt dies im ersten Falle für nur zwei Generationen. Zur Erklärung der Merkmalsübertragung kommen auch physio­ logische Bedingungen in Frage. Ibánez et al. (2003) weisen auf die Bedeutung der Uterusgröße hin; kleingeborene Mädchen können ihre Größe aufgrund des Faktors „kleiner Uterus“ vererben. So können beide Generationen ähnliche Epi­ genome entwickeln, ohne dass diese Information die Keimbahn betraf. Dies fällt in den Bereich der niche recreation (Champagne & Curley 2008; Weaver et al. 2004). 20 Eine molekularbiologische Folgestudie (Tobi et al. 2009) konnte diese epide­mio­ logischen Erkenntnisse erhärten. 21 Nach der Segregation liegt zwischen den stark abweichenden Zellarten (di-/hap­ loid) eine Informationsbarriere vor. Da die vererbbaren Keimzellen aus somati­ schen Vorgängerzellen entstehen, müssten die Modifikationen früh erworben sein. Die spätere Induktion beträfe nur Körperzellen und die Folgen beschränk­ ten sich auf ein Leben.

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gregation geschlechtsspezifisch variieren. Tatsächlich wurde in den epidemiologischen Studien eine Abweichung festgestellt. Zwar besteht hier eine geschlechtsspezifische Asymmetrie, aber sie weicht von der Weismann-Barriere ab. Epidemiologische Studien (Lumey 1992; Bygren et al. 2001; Kaati & Bygren 2002; 2007) zeigten, dass präpubertäre Entwicklungsphasen, die mit Bezug auf das retardierte Wachstum slow growth periods (SGP) genannt werden, besonders sensibel für Umwelteinflüsse sind. Die Korrelation zwischen dem großelterlichen Nahrungsangebot und den epidemischen Folgen für die Enkel ist bei Frauen im Intervall vom 8.-10. und bei Männern vom 9.-12. Lebensjahr besonders hoch. Diese Ergebnisse sind in vielfacher Hinsicht interessant. Auf Basis der Weismann-Barriere kann lediglich das Prägungsintervall für männliche Nachkommen erklärt werden, da zum Zeitpunkt der Prägung ihre Keim- und Körperzellen ungetrennt vorlagen. In Bezug auf das weibliche Prägungsintervall bleibt offen, wie sich die somatisch erworbenen Informationen auf die Keimbahn übertrugen, da hier die Segregation längst abgeschlossen war. Über diese Abweichung von der Weismann-These hinaus erstaunt es, dass eine Generation übersprungen wurde – von den Folgen war erst die zweite Generation (F2) betroffen. Neben der geschlechtsspezifischen Prägungszeit variierte auch die Vererbung geschlechtsabhängig. Während von der großmütterlichen Prägung weibliche Nachkommen betroffen waren, galt Umgekehrtes bei großväterlicher Linie.22 Schließlich erstaunen die phänotypischen Folgen. Die gute Ernährung während der SGP sagte nicht etwa positive Ergebnisse voraus, sondern erwies sich als Indikator für Kreislauferkrankungen, Kurzlebigkeit und Diabetes. Diese Ergebnisse weichen von epidemiologischen Studien ab, die Nahrungsmangel als Ursache für diese Krankheiten erkannten. Mangels Theorie können die Studienergebnisse nicht erklärt werden; sie bleiben also Phänomene. 5. Abschließend möchte ich auf stochastisch auftretende Epimutationen aus informationstheoretischer Perspektive hinweisen. Angesichts der aufgezeigten Demetyhlierungsprozesse muss zwischen gerichteter Information und zufälligen Löschfehlern unterschieden werden. Youngson & Whitelaw (2008) sprechen daher von „non-/ adaptive transgenerational epigenetic effects“. Dies ist wichtig, da 22 Während Bygren et al. (2001) nur die paternale Vererbung nachweisen konnten, konnten Pembrey et al. (2006) eine Geschlechtsspezifität für die maternale und paternale Linie belegen. Die Differenzen blieben ungeklärt.

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nämlich oft implizit mitbehauptet wird, die übertragenen Modifikationen unterlägen einem Bedeutungszusammenhang. Hierbei ist der weiter oben (1, III, 3.1.2) erarbeitete Informationsbegriff hilfreich. Neben der Syntax (Methylierung) bedarf es der semantopragmatischen Schleife, wenn die übertragene Vererbungseinheit als Information gelten soll. Unter dieser Schleife versteht man die Bedeutung jener syntaktischen Einheit, welche sich im biologischen Prozess stets gepaart mit ihrem pragmatischen Nutzen im Funk­ tionskontext der Zelle zeigt. Soll also die übertragene Einheit als Information gelten, muss damit ein funktionaler Nutzen verbunden sein. Davon sind Zufallsübermittlungen kategorial zu unterscheiden, welche keine phänotypischen Effekte haben oder deren Einfluss sich schädigend auf die Zelle auswirkt. Obwohl letztere das folgende Leben phänotypisch prägen, können die Effekte nicht im dargestellten Bedeutungssinn, für den Organismus, verstanden werden. Weil einige Krankheiten auf Löschfehler der parentalen Genaktivierung zurückgeführt werden,23 ist auf den Unterschied hinzuweisen. Um ihre zufällige Entstehung deutlich hervorzuheben, werden die informationslosen Modifikationen Epimutationen genannt. Ähnlich den Genmutationen entziehen sich Epimutationen einem gerichteten Einfluss. 1.3 Entwicklung vor Vererbung Im Folgenden werden die beiden Themenkomplexe, epigenetische Entwicklung und Vererbung, im Hinblick auf die Stabilität der erzielten Modifizierung dargestellt. Zunächst zur Entwicklung: Die höchste Stabilität hat das lebenslang wirkende Zellgedächtnis. Obgleich dies gattungsspezifisch konserviert ist, werden die epigenetischen Modifikationen nicht vererbt, sondern während der Embryogenese entwickelt. Spätere Störungen dieser Genregula23 Temple et al. (2012) listet acht bisher bekannte Krankheiten: Beckwith Wiede­ mann-, Silver Russell-, Prader Willi-, Temple-, Wang-, Angelman- Syndrom, Transiente Neonatale Diabetes und Pseudohypoparathyroidismus Typ 1B. Zwar werden hier epigenetische Modifizierungen vererbt, aber sie entspre­ chen nicht dem Informationsbegriff. Sie gehen auf eine fehlerhafte Demethylie­ rung in der intergenerationalen Löschphase zurück (2, III, 1.2). Dass erworbene epigenetische Muster unverändert vererbt werden könnten, ist aufgrund der aktiven Löschung auszuschließen. Nur für Zufallseffekte, deren Entstehung aus stochastischen Gründen nicht ausgeschlossen werden kann, gibt es Belege.

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tionsmuster können pathogen wirken und z. B. Krebs verursachen. Hier bestehen zwar Lebensstilrisiken (z. B. Rauchen), jedoch geht der Großteil der Erkrankungen auf Zufallsprozesse oder genetische Dispositionen zurück. Auch die genomische Prägung stellt eine lebenslang stabile epigenetische Modifikationsform dar. Im Falle einer möglichen Fehlprägung sind damit zwar auch Stoffwechselkrankheiten verbunden. Allerdings entzieht sich deren Verursachung prinzipiell unseren Handlungsmöglichkeiten, da die genomische Prägung ein biologisch feststehender Regelmechanismus ist. Das epigenetisch programmierte physiologische Regelsystem ist ebenfalls stabil. Da es zusätzlich durch den physiologischen Kontext des Organismus abgesichert wird, sind diese Marker lebenslang stabil. Weil während der sensiblen Prägefenster stattfindende Einflüsse mit der Verursachung des Metabolischen Syndroms, genauer: den damit assoziierten Krankheiten, in Verbindung stehen, wird dieses Thema später (2, III, 2.4) im ätiologischen Kontext noch genauer untersucht. Aktivitätsabhängige epigenetische Modifikationen weisen die geringste Stabilität auf, da die betroffenen Stoffwechselgene nur im Bedarfsfall (z. B. Energiebedarf hoch) aktiviert, im Ruhezustand aber inaktiviert werden. Zwar sind diese epigenetischen Modifikationen durch lebensweltliche Handlungen beeinflussbar, jedoch ist ihre Bedeutung geringer als die der neuronalen Zellen des physiologischen Regelsystems, weil nicht regulative, sondern ausführende Zellen betroffen sind. Stabilität der Zeitpunkt der Modifi- Modifikation kation Zelldifferenzierung embryonale ja – lebenslang und Zellgedächtnis Phase Spezifische Modifikationsart

Programmierung physiologischer Regelsyteme

perinatale Phase

Beeinflussbarkeit durch Lebensstil nein – genetisch kanalisiert ja – prinzipiell ja – während lebenslang der Schwangerschaft

aktivitätsabhängige lebenslang Modifikationen aktivierbar

nein – instabil

genomische Prägung

transgenerational

embryonal und postnatal

Assoziierte Krankheiten

z. B. Krebs bei Deregulation metabolische und neuro­ nale Erkran­ kungen ja – z. B. durch alle Lebensstilkrankkörperliche heiten Übung nein – da sog. zufällige Imprinting Prägung Disorders

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Die Analyse zeigt, dass die Stabilität der Methylierungen abhängig von der Art der epigenetischen Modifikationen ist. Wurde oben auf einen Streit im Epigenetikdiskurs bezüglich ihrer Stabilität hingewiesen, so ist der Streit im Lichte dieser Differenzierung aufhebbar. Beide Positionen lassen sich belegen: Die Opponenten beziehen sich auf verschiedene Modifikationsarten. Epigenetische Modifikationen aber generell für instabil und damit bedeutungslos zu halten, wäre also ein Fehler. Auf eine wichtige Regelmäßigkeit ist hinzuweisen. Die epigenetische Plastizität ist während der frühen Entwicklung maximal und nimmt mit dem Lebensalter ab. Während die regulative Bedeutung der Umwelt während der Embryogenese hoch ist, stellen spätere epigenetische Modifikationen stochastische Variationen dar und entziehen sich daher unserer Einflussnahme.24

Abb. 9: Darstellung der abnehmenden epigenetischen Bedeutung der Umwelteinflüsse

Für die epigenetische Vererbung beim Menschen liegen bisher keine wissenschaftlichen Belege vor (Heard & Martienssen 2014). Hier wurde auf eine Unschärfe in Bezug auf die Speziesspezifität der Vererbungsbelege hingewiesen. Während die epigenetische Vererbung bei anderen Arten möglich ist, ja teilweise sogar häufig vorkommt, ist dies beim Menschen nicht der Fall. Gegen eine solche Vererbung spricht aber nicht der bisherige Studienmangel – dieser könnte sich schließlich in Zukunft ändern –, sondern die dargestellten molekularen Löschmechanismen, welche die parentalen 24 Die Zunahme stochastischer Epimutationen erinnert an Lamarcks Komplexi­ tätstheorie, die mittels lebenslangen Verhärtungsprozessen von der amorphen Materie zu strukturierten Organen bis zum Tod durch Verhärtung ausging.

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epigenetischen Modifikationen bei der transgenerationalen Übertragung aufheben. Des Weiteren wurde auf die Besonderheit der epidemiologischen Studien eingegangen, die den Diskurs um Vererbung, somit um eine transgenerationale Verantwortung, wesentlich fördern. Aufgrund ihrer Methode können die epidemiologischen Studien keine Aussagen über molekulare Vererbungsprozesse treffen. Abschließend wurde auf eine Möglichkeit der epigenetischen Vererbung hingewiesen, wobei die übermittelten Modifikationen aus informationstheoretischer Sicht Epimutationen darstellen. Da der einzige Beleg epigenetischer Vererbung sich auf ungerichtete Demethylierungsfehler bezieht, ist die Möglichkeit der Verantwortungsübernahme mangels Handlungsmöglichkeiten hier prinzipiell nicht gewährleistet. Die folgenden Analysen beziehen sich daher auf die Entwicklungsprozesse. Abschließend ist auf eine Besonderheit hinzuweisen. Einige epigenetische Modifikationen können sich durchaus transgenerational auswirken – dennoch sind sie aber der Entwicklung zuzurechnen. Obgleich es für die epigenetische Vererbung beim Menschen keine Belege gibt, bleibt es sinnvoll, von transgenerationaler Verantwortung zu sprechen. Dies gilt, weil während der Embryogenese drei Generationen gleichzeitig von einem Kontext betroffen sind: Der mütterliche Organismus (F0) wird durch seine Umwelt beeinflusst, wobei dieser den Fetus (F1), sowie dessen Gameten (F2) prägt. Die Entwicklung wirkt transgenerational, ohne dass die Marker im hier definieren Vererbungssinne mittels Keimbahn vererbt würden. Abb. 10: Drei verbundene Generationen Dies führt zu folgendem Kriterium der Unterscheidung: Für den Nachweis epigenetischer Vererbung muss die Übertragung der Merkmale bis zu der F3 Generation nachgewiesen werden, deren Gameten der ersten Prägung nicht ausgesetzt waren.25 Beim Menschen fehlen dafür aber Belege. Jenseits der Schwangerschaft können nur zwei Generationen gleichzei25 Um eine erfolgreiche epigenetische Vererbung zu prüfen, bieten sich männliche Testreihen eher als weibliche an, da männliche Organismen keine epigenetisch wirksame Fetalumwelt darstellen. Während die frühe Forschung sich der mater­

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tig geprägt werden; der Organismus (F0) und seine Keimzellen (F1). Als Vererbungsnachweis reicht hier die Übertragung der Marker in die dritte Generation (F2). Auch dafür fehlen bislang allerdings Belege. Die bisher bekannten transgenerationalen Effekte sind durchgängig als Entwicklungsprozesse erklärbar und sollten nicht als Vererbung bezeichnet werden, um unbegründete und damit in die Irre leitende Verallgemeinerungen zu vermeiden.26 Das ist besonders wichtig, da die ethischen Aspekte der epigenetischen Modifizierungen von jenen genetischen, welche zu Recht unter dem Gesichtspunkt der Vererbung behandelt werden, inhaltlich abzugrenzen sind. Vermittels einer differenzierenden Darstellung der epigenetischen Modifizierungsarten wurde hier gezeigt, dass sich die empirischen Bedingungen der Verantwortungsdiskussionen grundsätzlich unterscheiden (Stabilität/Reversibilität). Weil sich die genetische Debatte um Eingriffe in die Keimbahn des Menschen sowohl im Hinblick auf die Technik (invasiv) als auch deren Folgen (Vererbung) von denen im Epigenetikdiskurs thematisierten Fragen, zu den Gesundheitsfolgen eines Lebensstils, unterscheiden, werden im Folgenden die spezifisch epigenetischen Handlungsbereiche ermittelt.

nalen Induktion widmete, wendet man sich daher nun diesem Ansatz zu (vgl. Franklin et al. 2011). 26 So unterscheiden Skinner et al. (2010, 219; Skinner 2008) zwischen multiple generation phenotype (Entwicklung) und transgenerational phenotype (Ver­ erbung): „The ability of a direct exposure to influence several generations is defined as a multiple generation phenotype and not a transgenerational pheno­ type. By contrast, a transgenerational phenotype requires the absence of a direct exposure and transmission of the phenotype to at least the F3 generation.“ Auf die Notwendigkeit der Beschränkung weist auch der Epigenetiker Kelsey (2012, 97 – kursiv S. Sch.) hin: „This is not to say that such altered epi­ genetic patterning is unimportant, and can indeed have significant phenotypic or disease outcomes in offspring, but the expectation is that most epigenetic alterations should be reprogrammed in the germline of the unexposed genera­ tion and not permanently fixed. The term transgenerational inheritance should be reserved for transmission of an altered epigenetic state perpetuated across multiple generations in the absence of the inducer, for which there is evidence in plants. In particular, it seems premature to entertain the possibility that there is an adaptive process at work, in the sense of Lamarckian-type transmission of acquired epigenetic states.”

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2 Handlungsbereich: Das Metabolische Syndrom als Fallbeispiel Nachdem nun im ersten Schritt die Reichweite einer epigenetischen Verantwortung allgemein auf die Entwicklungsbezüge eingegrenzt wurde, gehe ich auf den Bereich der klinischen Epigenetik ein und stelle folgend das Metabolische Syndrom (MBS) vor, eine lebensstilabhängige Krankheit, die im gegenwärtigen Epigenetikdiskurs besonders häufig diskutiert wird.27 An diesem Fallbeispiel zeige ich, dass man im Hinblick auf die Entwicklung des MBS von genetischem zu epigenetischem Verursachungsdenken überging. An zwei ätiologischen Modellen arbeite ich die Handlungsräume heraus, welche bei der epigenetischen Verursachung des MBS als entscheidend angesehen werden. 2.1 Vorverortung: Die Themenbereiche der klinischen Epigenetik Die klinische Epigenetik ist ein junges Forschungsfeld mit zwei Schwerpunkten. Während sich der soziale Ansatz mit Fokus auf dem zwischenmenschlichen Verhalten für deren psychische Folgen interessiert, widmet sich der materiale Ansatz mit Fokus auf die Ernährung im Wesentlichen der Untersuchung von Volkskrankheiten im Rahmen des MBS. Zunächst möchte ich auf die junge Begriffsgeschichte der sog. Epigenetic Epidemiology eingehen. Trotz ihrer früheren Erwähnung durch die israelische Genetikerin und Wissenschaftshistorikerin Eva Jablonka etablierte sich der Begriff erst im letzten Jahrzehnt für den klinischen Anwendungsbezug der Epigenetik.28 Jablonka fasst darunter: „The part of epidemiology that studies the effects of heritable epigenetic changes on the occurrence and distribution of diseases” (2004, 929). Diese Definition ist weit und bezieht die damals zumindest denkbare epigenetische Vererbung beim Menschen mit ein.29 Dagegen definieren Waterland und Michels (2007, 368f) dieses Arbeitsfeld schlicht als „the study of the associations 27 Über Verantwortungsthemen im Rahmen des MBS habe ich bereits an anderer Stelle berichtet (Schuol 2014). 28 Jablonka weist auf frühere Thematisierungen (Jablonka & Lamb 1995; 2002) hin – hier fehlt der Krankheitsbezug. 29 Erste Hinweise dafür gehen auf die Epidemiologen Pembrey (2002) und Kaati et al. (2002) zurück, welche auf Erbkrankheiten hinwiesen, die gemäß der Ver­ erbungsgesetze der klassischen Genetik nicht erklärbar waren. Da die Krankheit

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between epigenetic variation and risk of disease“, wobei sie ganz im hier vertretenen Sinne den Vererbungsbezug ausblenden. Aktuelle Forschungsgebiete der Epigenetic Epidemiology widmen sich der Krebsforschung, alters-, und imprintingbedingten sowie komplexen Krankheiten, zu welchen das thematisierte MBS zählt. Obgleich alle Ansätze die Bedeutung der Umwelt betonen, lassen sich zwei Hauptansätze unterscheiden. Ihre Abgrenzung lässt sich anhand der historischen Verschmelzung des Begriffs Epigenetic Epidemiology mit dem wissenschaftstheoretischen Begriff Environmental Epigenetics30 nachzeichnen. Nach Niewöhner (2011, 284) sind dabei vor allem drei Etappen zu beachten: 1. Von initialer Bedeutung sind die Publikationen von Waterland & Jirtle (2003; 2004) zu den berühmten Agouty-Mäusen. Mittels Ernährungsdiät konnten bei diesen Mäusen spezifische Gene epigenetisch aktiviert und transgenerational stabile phänotypische Änderungen induziert werden. 2. Die kanadischen Forscher Michael Meany und Moshe Szyf (vgl. Weaver et al. 2004) zeigten, dass das Brutpflegeverhalten von Ratteneltern das spätere Sozialverhalten ihrer Brut festlegte. 3. Die daraus hervorgehende McGill Gruppe weitete die Umweltexperimente auf Menschen aus (McGowan 2008) und unterscheidet schließlich zwischen einer sozialen und materialen Umwelt. Diese Stationen verdeutlichen eine Aufspaltung der klinischen Anwendung in zwei Kerngebiete. Zunächst bezog sich der Umweltbegriff der Epigenetic Epidemiology auf alle generegulativen Umweltfaktoren. Die komplexe Lebenswelt wurde im Rahmen der Experimente formalisiert. Hierbei spaltete sich die Umweltepigenetik in zwei Richtungen. Die Umwelt wurde nun entweder als materiale oder soziale Umwelt verstanden. Während die materiale Umwelt einen Fokus auf die frühe Entwicklung des Stoffwechselsystems setzt und die Umwelt weitgehend als Ernährung operationalisiert, bezieht sich die soziale Umwelt auf Langzeitfolgen postnataler Interventionen und operationalisiert das Soziale auf sozialpsychologische Faktoren wie z. B. Stress. Entlang dieser Formalisierungen bildeten sich abweichende Denktraditionen heraus, deren Forschungsverlauf

nicht durch die aktuelle Umwelt erklärt werden konnte, vermuteten sie die Ur­ sache in der Entwicklung. 30 Diesen Begriff führten Ingold (2000) und Speybroeck (2002) unabhängig von­ ein­ander in die Debatte ein.

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innerhalb der Epigenetic Epidemiology nunmehr institutionell und räumlich getrennt stattfindet.31 Darüber hinaus erklärt diese kurze Begriffsgeschichte die aktuelle Thematisierung von transgenerationalen Effekten beim Menschen in der klinischen Epigenetik. Stammten frühe Belege hierfür aus der Tierforschung, so prägen diese nun ihrerseits eine Erwartungshaltung, ähnlich stabile epigenetische Muster auch beim Menschen vorzufinden. Es wurde bereits gezeigt, dass eine einfache Übertragung der Ergebnisse aus der Tierforschung auf den Menschen nicht möglich ist. Die Trennung der klinischen Epigenetik in die materiale und soziale Forschungsausrichtung ist problematisch. Landecker (2010) kritisiert die materiale Molekularisierung der Epigenetik, durch welche die Lebenswelt nun als funktionale Umwelt verstanden und auch gestaltet wird.32 Generell wendet sich das gros der publizierenden Autoren der Nutriepigenetik zu, sodass eine Verkürzung der epigenetischen Umwelt auf die Ernährung droht, wobei übrige z. B. psychische Wirkfaktoren in Vergessenheit geraten. Diese Materialisierungstendenz gilt es im Blick zu behalten, wenn im Folgenden der Fokus auf die materiale Umwelt gelegt wird. Dieser Forschungszweig stellt einen Teilbereich des aktuellen klinischen Anwendungsbezuges der Epigenetik dar, der aber erst durch den sozialen Zweig vervollständigt wird. Die Aufspaltung in getrennte Schulen ist in einem Disziplinarisierungsprozess historisch gewachsen, wobei die disziplinäre Umweltformalisierung abweicht, ansonsten aber beide von den gleichen molekularbiologischen Prämissen ausgehen.

31 Der soziale Ansatz mit psychopathologischer Ausrichtung wird durch die McGillGruppe (McGill-University) um den Forscher Michael Meany vertreten. Den ma­ terialen Ansatz mit Fokus auf Stoffwechselkrankheiten verfolgen die Southamp­ ton-Gruppe, sowie Forscher aus Australien (Emma Withelaw), USA und Neusee­ land (Peter Gluckman). 32 Aufgrund der Komplexität der Lebensverhältnisse sind Reduktionen im Labor­ kontext notwendig und stellen hier kein Objekt der Kritik, sondern ihre Aus­ gangsbasis dar. Die Materialisierungstendenz ist anderweitig problematisch. Dass die Molekularisierung und Formalisierung von Nahrung als wirksame Ex­ position von einem umfangreichen gesellschaftlichen Gesinnungswandel zeugt, darauf wiesen auch Lippmann (1991), Franklin (2000), Rose (2007) hin.

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2.2 Verantwortungskontext: Das Metabolische Syndrom Im epidemiologischen Diskurs zur Epigenetik werden besonders häufig Volkskrankheiten diskutiert, welche unter den Sammelbegriff des MBS fallen.33 Dieses MBS wird nun näher vorgestellt. In Deutschland stellen Herzkreislauferkrankungen die häufigste Todesursache dar. Allein 2010 wurden 41,1 % aller Sterbefälle durch sie verursacht (Destatis 2013). Die Erkrankungen stehen mit dem MBS im Kausalverhältnis. Wie der Teilbegriff „Syndrom“ ankündigt, handelt es sich beim MBS um das Zusammenspiel von verschiedener Einzelerkrankungen (Syndromkomplex).34 Diese lebensstilbedingten Krankheiten sind besonders starkes Übergewicht (Adipositas), Störungen des Fettstoffwechsels, Bluthochdruck und Insulinresistenz (Diabetes Typ II). Die Trivialbezeichnung des MBS als ein „tödliches Quartett“ (Kaplan 1989) verdeutlicht die dramatische Wirkung ihres Zusammenspiels. Zwar stellt jede Einzelerkrankung für sich bereits ein Risiko dar. Allerdingst verstärkt sich ihre Wirkung erheblich, wenn sie in Kombination auftreten, und sie führt unter anderem zu den besagten Kreislauferkrankungen. Der Zusatz „metabolisch“ bezieht sich auf den geänderten Stoffwechsel als Folge dieses Zusammenspiels. Wegen ihrer zentralen Bedeutung gehe ich folgend auf das pathogene Zusammenspiel von Adipositas und Diabetes Typ II ein. Die Bezeichnung Adipositas (adeps – lat. Fett) bezieht sich auf eine krankhafte Störung des Fettstoffwechsels, die Folgen für das Ernährungsverhalten hat. Dabei spielt das Bauchfett eine zentrale Rolle. Dieses durch seinen Auftrittsort genauer als viszeral spezifizierbare Fettgewebe, das die Organe des Verdauungssystems umhüllt, weicht in seiner Funktion vom gleichmäßig verteilten subkutanen Körperfett ab. Während das viszerale Fett als Energiereserve

33 Nichtübertragbare Volkskrankheiten sind die primäre Todesursache „reicher“ Länder. Global waren sie 2008 für 63 % (57 Mio) der Todesfälle verantwortlich; 36 Mio betrafen kardiovaskuläre, chronische Lungenkrankheiten, Diabetes und Krebs (WHO 2011). Bei diesen Krankheiten wird von einer zentralen Bedeutung der Epigenetik ausgegangen. Gluckman & Hanson (2005, 193) weisen auf pa­ thogene Folgen globaler Entwicklungen hin. Erstmals leiden mehr Menschen auf der Welt unter Folgen von Überernährung als von Mangelernährung. Dabei unterscheidet sich der Handlungsspielraum, da Mangelernährung oft Folge von Armut ist, die nicht alleine bewältigt werden kann. 34 Einen historischen Überblick verschiedener MBS-Definitionen bieten Hanefeld et al. (2007); Alberti et al. (2005).

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bei Nahrungsmangel dient, trägt das subkutane Fett zur Polsterung und Thermoregulation bei. Daher verwundert es nicht, dass das epigenetische Genaktivitätsmuster dieser beiden Fettarten sich deutlich unterscheidet (Gluckman & Hanson 2005, 107f). Im Hinblick auf das MBS ist nur das viszerale Fett wichtig, und daher findet es in den meisten Definitionen des MBS als Indikator Verwendung.35 Mit Adipositas wird nämlich eine bauchbetonte Silhouette, die sogenannte Apfelform, verbunden – eine birnenförmige Ausprägung der Körpergestalt gilt dagegen als unbedenklich. Da zwischen krankmachendem Übergewicht und normalen Varianten der Körperform schwer unterschieden werden kann, bedarf es bei der Attestierung des MBS der Beachtung weiterer Faktoren. Bei besonders starker Ausprägung wirkt das viszerale Fettgewebe darüber hinaus auch als Induktor. Das vom viszeralen Fettgewebe sezernierte Hormon Leptin dient normalerweise zur Regulation des Hungergefühls; seine Ausschüttung reduziert den Appetit. Stark adipöse Menschen weisen allerdings eine Leptinresistenz auf, die von einer stark reduzierten Anzahl von Leptinrezeptoren herrührt. Da diese Resistenz korrektive Rückkopplungen verhindert, entfaltet das viszerale Fettgewebe eine gefährliche Eigendynamik; mangels Sättigungsgefühl essen die Betroffenen mehr als nötig, in Folge dessen das dadurch neu angelagerte Bauchfett eine Selbstreferenzialität entwickelt. Da sich das Fettgewebe nun wie ein verselbständigtes Organ stetig selbst reproduziert, fällt es den Betroffenen besonders schwer abzunehmen. Der überwiegend größte Teil der Adipositas kann nicht genetisch erklärt werden und gilt als erworben, weshalb sich die klinische Epigenetik zunehmend dafür interessiert. Die Adipositas gilt als zentraler Risikofaktor für Diabetes, worauf ich nun eingehe.

35 In der Literatur wird die Definition der International Diabetes Organisation (2005) am häufigsten verwendet: „Central obesity (defined as waist circum­ ference ≥ 94 cm for Europid men and ≥ 80 cm for Europid women, with ethnicity specific values for other groups) plus any two of the following four factors: Raised TG level: ≥ 150 mg/dL (1.7 mmol/L), or specific treatment for this lipid abnormality. Reduced HDL cholesterol: < 40 mg/dL (1.03 mmol/L*) in males and < 50 mg/dL (1.29 mmol/L*) in females, or specific treatment for this lipid abnormality. Raised blood pressure: systolic BP ≥ 130 or diastolic BP ≥ 85 mm Hg, or treatment of previously diagnosed hypertension. Raised fasting plasma glucose (FPG) ≥ 100 mg/dL (5.6 mmol/L), or previously diagnosed type 2 dia­ betes if above 5.6 mmol/L or 100 mg/dL, OGTT is strongly recommended but is not necessary to define presence of the syndrome.“

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Diabetes Mellitus (– gr. honigsüßer Durchfluss)36 stellt eines der größten Volksleiden weltweit dar, wobei aktuelle Definitionen auf das MBS Bezug nehmen und begrifflich damit verbinden (WHO 1999).37 Im Falle von Diabetes ist im Hinblick auf das MBS zwischen zwei Typen zu unterschieden. Die früher als Erwachsenen-Diabetes benannte Form bezeichnet man heute als Diabetes Typ II (DT2) – die Jugendlichen-Diabetes gilt nun als Diabetes Typ I (DT1). Die Zeitangaben beziehen sich auf die übliche Auftrittszeit der Krankheitssymptome. Dabei fallen 5-10 % der Diabetesfälle unter DT1, und DT2 nimmt mit über 90 % den größten Teil der Erkrankungen ein.38 Hier spielen gesellschaftliche Aspekte eine Rolle. Die allgemeine Diabetes-Prävalenzrate stieg in Deutschland von 5,9 % im Jahre 1989 auf 8,9 % in 2007 (Schubert et al. 2008).39 Besonders besorgniserregend ist dabei, dass der Anstieg nur DT2 betraf. Diese gilt als „vermeidbare Lebensstilkrankheit“, wobei der primäre Risikofaktor Adipositas ist (Hauner 2010; 2012; Thamer et al. 2007; Landgraf et al. 2012). Aufgrund dieses Kausalverhältnisses und weil beide Faktoren im epigenetischen Diskurs um das MBS als wichtig erachtet werden, wird nun ausschließlich auf DT2 eingegangen. Die Präzisierung von Diabetes als Typ II bezieht sich im Wesentlichen auf eine Insulinresistenz. Das Hormon Insulin wird von der Bauchspeicheldrüse produziert und hat zwei Funktionen: Erstens wirkt Insulin bei der Regulation des Blutzuckerspiegels. Der Blutzucker Glukose wird in den Leber- und Muskelzellen in Form von Glykogen zwischengespeichert, um bei Bedarf mobilisiert zu werden. Ohne Zwischenspeicherung steigt der Blutzuckerspiegel nach der Mahlzeit an und bleibt, ohne Abbau durch die körperliche 36 Der Name verweist auf den Begriffsursprung. Diabetes Mellitus ist ein Über­ begriff für Stoffwechselkrankheiten mit gleichem Symptom. Seit der Antike wurde sie durch die Geschmacksprobe des Urins diagnostiziert.. Diabetes nimmt global zu. Bis 2030 prognostiziert die WHO (2013) eine Verdopplung dadurch verursachter Todesfälle. Der Anstieg ist aus ökonomischer Sicht brisant, da 80 % der Diabetiker in Länder mittleren und niedrigsten Einkommens leben. 37 Darauf nimmt der WHO-Bericht (1999) in der Einleitung Bezug: „There are now many data available, and also much more aetiological information has ap­ peared. It seemed time to re-examine the issues and to update and refine both the classification and the criteria, and to include a definition of the ‚Metabolic Syndrome‘.” 38 Jenseits dieser Klassifikation bestehen weitere zahlenmäßig jedoch unbedeu­ tende Diabetesformen (WHO 1999). 39 Hauner (2012) relativiert: Verbesserte Diagnostik, Therapie und gestiegene Le­ bensspanne begünstigen die Zahlen.

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Aktivität, hoch. Dauerhaft hohe Glukosewerte im Blut führen zu schweren Folgekrankheiten, dem eigentlichen Problem bei Diabetes. Zweitens hilft Insulin beim Transport des Blutzuckers in das Zellinnere, wenn Energie benötigt wird. Glukose ist schließlich auch bei der Energiegewinnung durch die Glykolyse nötig. Dabei handelt es sich im Falle von DT2 um einen relativen Insulinmangel.40 Obgleich Insulin vorhanden ist, erfüllt dieses seine Funktion nicht. Das kann quantitative Gründe haben, falls die Produktion des Insulins beschränkt ist, oder qualitative, falls keine Insulinrezeptoren ausgebildet wurden.41 Der letzte Fall ist besonders problematisch, da der Rezeptormangel einen gefährlichen Insulinüberschuss erfordert, um die biologische Funktion in Grenzen zu erhalten. Im Extrem münden beide Formen aber in einem vollkommenen Regulationsverlust des Blutzuckerspiegels. Die gestörte Insulinfunktion wirkt systemisch. Im Folgenden stelle ich die sich selbstverstärkende Wirkung zwischen Adipositas und DT2 im Rahmen des MBS dar. Adipositas und DT2 verhalten sich sowohl als Ursache als auch Folge eines Prozesses. Da sie sich wechselseitig bedingen, ist ihr Kausalverhältnis nonlinear. Durch die erhöhte Nahrungsaufnahme steigt der Glukosespiegel an, wobei Glukose mit Hilfe des Insulins auch in Fettzellen zwischengespeichert wird – hier geschieht dies als Fettanlagerung. Je stärker jedoch das Volumen der Fettzellen ansteigt, desto weniger Insulinrezeptoren werden gebildet. Dies führt auf Dauer zu einer Insulinresistenz. Insofern die Resistenz auch Muskelzellen betrifft, somit der Glukoseabbau aktiv gehemmt wird, steigt der Glukosespiegel im Blutkreislauf kontinuierlich an. Da die Leber die Neubildung von Glukose ungehemmt fortsetzt, wird somit ein Teufelskreis eröffnet. Das adipöse Essverhalten begünstigt DT2, wobei DT2 durch Fettanlagerung bei gleichzeitig verhindertem Energieabbau Adipositas begünstigt. Der Prozess fördert Kreislauferkrankungen und erhöhte Blutfettwerte, da das Fettgewebe zu viel Fettsäure freisetzt und

40 Dagegen meint absoluter Insulinmangel materiales Fehlen von Insulin. Das kann vererbungsbedingt sein, aber auch Virusinfektionen und mechanische Verletzungen der insulinproduzierenden Langerhansschen Zellen können dies bewirken. Lebensstilfragen spielen eine untergeordnete Rolle, und die Insulin­ therapie betrifft nur den Insulinersatz. 41 Ein anderer Grund betrifft den molekularen Aufbau von Insulin. Weicht dieser ab, erfüllt es seine Funktion nicht.

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dieses zur Verengung der Blutgefäße führt. 42 Von diesem Zustand sind alle Einzelkrankheiten des MBS beeinflusst; sie verstärken sich gegenseitig. 2.3 Denktraditionen: Vom genetischen zum epigenetischen Verursachungsdenken Im Folgenden gehe ich auf einen Perspektivenwechsel vom genetischen zum epigenetischen Denken bezüglich der Verursachung des MBS ein, um die These dieser Arbeit, den Wandel vom präformierten zum epigenetischen Verursachungsdenken, am Fallbeispiel MBS darzustellen. Anhand von drei Theorien lässt sich zeigen, dass die gesuchten Ursachen zunächst als genetisch fixiert, d. h. vererbbar, später aber im Leben erworben, d. h. entwickelt, gelten. Erst die Epigenetik lieferte eine kausalursächliche Erklärung für die gegenwärtig verwendete Verursachungstheorie. 1. Der Humangenetiker James Neel publizierte die Thrifty Genotype Hypothesis 1962 zur Erklärung der grassierenden Diabetes- und Adipositaserkrankung bei Völkern, die erst kürzlich mit dem westlichen Lebensstil in Verbindung gekommenen waren.43 Die bloße Existenz der Krankheiten erschien ihm aus evolutionärer Sicht zunächst paradox. Eine genetisch verankerte Krankheit dieses Ausmaßes müsste, da sie sich nachteilig auf die Fitness auswirkt, im Laufe der Evolution ausgemerzt worden sein. Neel findet die Antwort in einer Inversion. Die Evolution hatte die Krankheiten nicht etwa ausgesondert, sondern befördert. Es ist wichtig zu sehen, dass Neel im populationsgenetischen Sinne von interindividuellen Abweichungen von Genen, den Allelen, ausgeht. Die natürliche Selektion begünstigt Allele, welche die optimale Speicherung und Verwertung von Nahrung unter harten Umweltbedingungen ge42 Diese werden durch Gefäßablagerungen bewirkt und führen zu Herzinfarkt, Schlaganfall, Netzhaut-, Nieren- und Nervenschäden. Letztere bewirken das diabetische Fußsyndrom; Nervenschäden führen zu Wahrnehmungsverlusten, sodass sich die Schäden unbemerkt anhäufen können. Das Syndrom erfordert im Extremfalle eine Fußamputation. 43 Wie Stöger (2008a, 156) zeigt, unterscheidet Neel nicht zwischen unterschiedli­ chen Typen von Diabetes (I/II). Obgleich er Diabetes allgemein behandelt, zeu­ gen seine Beispiele von Diabetes Typ II, dem altersabhängigen Diabetes, das mit Adipositas hoch korreliert – Neel bezieht sich also sowohl auf Diabetes als auch auf Adipositas.

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währleisten. So schreibt Neel: „It is argued that what we now must regard as an ‚over-production‘ with unfortunate consequences was, at an earlier stage in man’s evolution, an asset in that it was an important energy conserving mechanism when food intake was irregular and obesity rare“ (Neel 1962, 358). Während dieser sparsame (thrifty) Genotyp in der ursprünglich kargen Lebenswelt einen Vorteil darstellte, erweist er sich nun, in einem abgesicherten und nahrungsreichen Kulturkontext, als pathogen. Ein konstant hohes Glukoseniveau im peripheren Blutkreislauf ist von Vorteil, sofern Energie regelmäßig und schnell, etwa für hohe Mobilität (Flucht), gebraucht wird. Fettgewebe stellt zudem einen nützlichen Energiepuffer für kargere Zeiten dar. Dieser Genotyp ist „sparsam“, da der Stoffwechsel ökonomisch an die knapp vorhandenen Nahrungsressourcen und körperlich anstrengenden Bedingungen angepasst ist. Der gleiche Genotyp stellt sich aber in einer Wohlstandsgesellschaft, in der eine erhöhte Bewegungsnotwendigkeit (Energieabbau) und prekäre Nahrungsverhältnisse (Energieaufnahme) nicht drohen, als Verhängnis heraus.44 Das angelagerte Übergewicht und der hohe Blutzuckerspiegel wirken auf Dauer pathogen.45 Neel geht im Wesentlichen von einem kausallineraren Verhältnis vom Genotyp zum Phänotyp aus und hielt, obgleich sein genetisches Erklärungsmodell von vielen Seiten als viel zu statisch kritisiert wurde, daran fest.46 2. Dreißig Jahre später wenden sich die Epidemiologen Hales und Barker mit ihrer thrifty phenotype hypothesis vom ätiologischem Primat der Gene ab und läuten damit ein umfassendes Umdenken ein. Die Sparsamkeit ist nicht genotypisch präformiert, sie wird erst erworben. Hier heißt es nun: „The thrifty phenotype hypothesis proposes that environmental factors are the dominant cause of type 2 diabetes“ (Hales & Barker 2001, 7). Während Neel po44 Der Populationsgenetiker Neel diskutiert sogar eugenische Maßnahmen. Er rät aber zur Vorsicht. Sofern es gelänge, den „sparsamen Genotyp“ zurückzudrän­ gen, so mag dies aktuell zwar wünschenswert sein, wäre aber bei möglichen Här­ tefällen im Sinne einer genetischen Reserve in der Zukunft von Nachteil für die gesamte Menschheit. 45 Neel (1962, 357) führt drei Gründe für den zivilisationsbedingten Anstieg von Diabetes an: 1. Fettleibigkeit ist in primitiven Kulturen die Ausnahme. 2. Man­ gelhafte Bewegung verhindert den notwendigen Abbau des Blutzuckers. 3. Man­ gels Gefahren fällt der an die Adrenalinausschüttung gebundene Glukoseabbau problematisch gering aus. 46 Der Hauptangriff bezieht sich auf Neels Ausgangsthese, der prekären Nah­ rungsverhältnisse in präagrikulturellen Kulturen (Benyshek et al. 2006; Cordain et al. 1999). Neel reevaluiert seine Thrifty Genotype Theory später (1999).

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pulationsgenetisch denkend den Fokus auf interindividuelle Differenzen legte, bringen die beiden Forscher klinische Erfahrung in die Forschung ein. Sie knüpfen dabei an Barkers These vom sog. Small Baby Syndrome (Barker 1986) an, wonach ein kausaler Zusammenhang zwischen einem niederen Geburtsgewicht und später entwickelten Erkrankungen besteht. Heute gilt diese Theorie weitgehend als bestätigt (Robinson 2001). Hales et al. (1991) erweiterten dieses ursprünglich auf Kreislauferkrankungen bezogene Entwicklungskonzept auf DT2. In einer bewussten Distanzierung von Neels thrifty genotype benennen die beiden Epidemiologen ihr Konzept 1992 schließlich als thrifty phenotype.47 Dabei wurde sowohl Neels als auch Barkers Ansatz erweitert. Hales et al. (1997) wenden sich gegen die alleinige Bedeutung der Gene, für die es keine Belege gibt. Für die spätere Ausprägung des Volksleidens ist die frühkindliche Entwicklung entscheidend. Die thrifty phenotype Hypothese geht von der zentralen Bedeutung der maternalen Umwelt aus. Neben seltenen genetischen Ursachen (Mutationen des Insulingens) galt zunächst das Geburtsgewicht als entscheidender Prädiktor der späteren Diabetesfälle.48 Später änderte sich dies, da das Verhältnis zwischen dem Geburtsgewicht und der Geburtslänge weit bessere Prognosen lieferte (Barker et al. 1992). Die Gültigkeit dieses poderal index wird mittlerweile in der Fachliteratur allgemein anerkannt. Jedoch muss die damit einhergehende Erkrankungswahrscheinlichkeit etwas relativiert werden. Hales und Barker weisen auf einen interessanten Adaptionsmechanismus hin. Bleibt die frühkindlich erlebte karge Ernährungslage in Laufe des Lebens erhalten, kann diese sich auch als Vorteil erweisen (2, III, 2.4.1). Dagegen wirkt der Übergang in Nahrungssicherheit pathogen. Diese zentrale Bedeutung des kulturellen Hintergrunds belegen mittlerweile viele Publikationen.49 3. Den aus der epidemiologischen Praxis stammenden Hales und Barker fehlte zunächst eine kausale Erklärung. Diese mechanistische Unterfütterung lieferte der Molekularbiologe Reinhard 47 In späteren Reevaluationen (Hales et al. 1997, Hales & Barker 2001) wurde die Hypothese im Lichte angestoßener Forschungsergebnisse gemessen und bestä­ tigt. Nach zwanzig Jahren hat sich ihr Status (Hypothese) verfestigt. 48 Als Ursachen für die Gewichtsverursachung werden die Ernährungsweise der Schwangeren und andere Faktoren wie z. B. die Uterusgröße diskutiert. Beide sind keine Vererbungsfaktoren. 49 Führten Hales & Barker 2001 über 30 Studien hierzu auf, so lässt sich die Liste heute um ein vielfaches erweitern.

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Stöger (2008a/b), auf dessen thrifty epigenotype Theorie ich jetzt eingehe. Stöger führt eine Synthese zwischen Neels sowie Hales und Barkers Sparsamkeits-Hypothesen durch. Seine Synthese betont die Entwicklung. An Neel kritisiert er den Fokus auf einen speziellen Genotyp. Zwar hält er die These für richtig, dass Gene im Evolutionsverlauf zugunsten metabolischer Sparsamkeit selegiert wurden. Auch, dass Nahrung bei der prähistorischen Selektion den entscheidenden Faktor darstellte. Er hält aber Neels Fokus für zu eng. Dass keine „Sparsamkeitsgene“ gefunden werden können liegt daran, dass die metabolische Sparsamkeit nicht von einzelnen Genen, sondern einem Gennetzwerk her rührt. Da es sich nicht um spezielle Gene handelt, sondern um ein komplexes Netzwerk aus „normalen“ Genen, kommt prinzipiell jeder als Risikoträger in Frage. Warum erkranken aber nicht alle Menschen in gesicherten Ernährungsverhältnissen? Stöger geht bei der Erklärung vom ätiologischen Primat der Entwicklung aus, wobei er sich auf Waddingtons Theorie der Kanalisierung, bzw. der epigenetischen Landschaft (1, III, 2.2.1) bezieht. Auch spielt das Konzept Reaktionsnorm (Schlichting & Pigliucci 1998) eine zentrale Rolle, wonach neben Genen auch das Vermögen zu ihrer differenzierten Ausprägung (Entwicklungsplastizität) mitevolvierte. Die Plastizitätsspanne dieser Reaktionsnorm reicht, wie in den Bildern (Abb. 11) zu sehen ist, von einem Kanalrand zum anderen. Die Kugel symbolisiert die Entwicklung eines Merkmals, wobei dessen genaue Ausprägung von der Position (links, rechts) innerhalb dieses Kanals abhängt. Stögers Modell betont die In- Abb. 11: Die Plastizitätsspanne teraktion von entwickelten und evolvierten Faktoren. Zwar ist die metabolische Sparsamkeit genetisch imprägniert, aber nicht determiniert. Führte bei Neel bereits der sparsame Genotyp wegen der Inkompatibilität zum Ernährungsüberschuss zur Erkrankung, muss nach Stöger das metabolische Netzwerk zunächst noch fixiert werden. Dabei spielen Entwicklungsfenster eine wichtige Rolle. Während das erste Bild die bereits dargestellte Ausgangslage ohne epigenetische Umwelthttps://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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einflüsse repräsentiert, verdeutlicht das zweite Bild die Wirkweise dieser ontogeneti­schen Prägungsfenster. In einer frühkindlichen plastischen Phase (2, III, 1.1) verschiebt der Umweltfaktor Nahrung das Genaktivitätsmuster des metabolischen Netzwerkes (Mangel nach rechts – Überfluss nach links) und optimiert damit den Metabolismus für das entsprechende Umweltverhältnis. Mit Abschluss der plastischen Phase (drittes Bild) liegt das Netzwerk epigenetisch determiniert vor, d. h. nun sind keine Veränderungen mehr möglich.50 Im Verlauf des Lebens auftretende metabolische Erkrankungen resultieren aus einer Abweichung des späteren Lebensstils (Ernährungsverhalten) vom festgelegten Aktivitätsmuster der am Metabolismus beteiligten Gene. Sie sind also die Folge einer Fehlprägung. Da Stögers thrifty epigenotype genetische und epigenetische Faktoren zusammen führt, gibt er der nur statistisch belegten thrifty phenotyp Hypothese eine mechanistische Erklärung. Die hier skizzierte ätiologische Wende geht mit einem Wandel in der Diagnostik zum MBS einher. Wurden die Risikofaktoren dafür vor kurzem vor allem auf der genetischen Ebene vermutet, verschiebt sich nun die Suche hin zur Genregulation. Die These dieser Arbeit, dass die Denkweise in der Postgenomik sich durch einen qualitativ veränderten Blick auszeichnet, wird damit durch die Praxis bestätigt. Vor wenigen Jahren lag der diagnostische Fokus zum MBS auf sog. Single Nucleotide Polymorphisms (SNP’s), das sind interindividuell auftretende punktförmige Abweichungen in der Basensequenz. Die abgeleiteten Prognosen beruhten also auf genetischen Abweichungen. Neue Publikationen (Mahner 2008; Stöger 2008a/b) sprechen gegen diese Indikation,51 und die Autoren räumen nichtgenetischen Entwicklungsbezügen das Hauptgewicht bei der Verursachung des MBS ein. Damit ändert sich das Denken zu einer überindividuellen Sichtweise.

50 Ein, hier nicht gezeigtes, viertes Bild verdeutlicht die theoretisch denkbare trans­ generationale Übertragung des fixierten metabolischen Netzwerks. Angesichts der Komplexität der Faktoren, sowie der epigenetischen Genaktivität und der intragenerationalen Löschung der epigenetischen Modifikationen (2, III, 1.2), welche zumindest eine starke Veränderung des sensiblen metabolischen Netz­ werks verursacht, ist seine Vererbung beim Menschen aber fraglich. 51 Laut Welch et al. (2010) liegt die reale Prognoserate von SNP’s unter 10 % bei Stoffwechselstörungen (nicht signifikant). Die anfängliche Fixierung auf Zwil­ lingstudien (Prognoserate 70 %) verzerrte die Wahrnehmung.

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Dieser Wandel wird bereits auf politischer Ebene handlungswirksam. In einer Anhörung des Deutschen Ethikrates zum Thema Gentests im Kampf gegen Volkskrankheiten wurde der Prognosewert genetischer Abweichungen kritisiert.52 Die Experten empfehlen die Förderung epigenetischer Diagnosemethoden. Während Volksleiden nur in Ausnahmefällen genetisch bedingt sind, spielten die im Umweltbezug gebildeten epigenetischen Biomarker eine weit wichtigere Rolle. Zwar sind auch sie individuell, aber in einem anderen Sinne, als mit der genetischen Individualität behauptet wird. Es ist nicht das Genom, d. h. ein Vererbungsfaktor, welches als Ursache der Individualisierung gilt, sondern die im Lebenslauf entwickelten epigenetischen Modifikationen. An dieser Stelle möchte ich auf ein wichtiges Moment hinweisen. Werden nachfolgend die Handlungsräume bei der Verursachung des MBS ermittelt, ist es zunächst wichtig zu verstehen, worauf sich diese Handlungen beziehen. Das MBS wird im Rahmen der materialen Epigenetik betrachtet, d. h. der Fokus liegt hier auf der Ernährung. Damit ist eine Schwierigkeit verbunden. Da die Nutriepigenetik ein junges Forschungsfeld darstellt und die hierbei erzielten Erkenntnisse den Charakter des Vorläufigen haben, zudem in dem Zusammenhang weitgehend auf bewährte Ernährungsstrategien gesetzt wird, wobei die genregulative Bioaktivität der Nahrung im Lichte der Epigenetik auf molekularer Ebene erläutert wird (vgl. Szarc vel Szic et al. 2010), trägt diese Aufschlüsselung nicht weiter zur Ermittlung der Handlungsbereiche bei. Die im Hinblick auf das MBS entscheidenden Ernährungsbedingungen können einfacher verstanden werden. Generell wird das Zuviel an energiereicher Nahrung ohne weiteren Nährwert (Vitamine, Spurenelemente, etc.) als Hauptursache des MBS angesehen, wobei neben gesunder Ernährung die Gewichtsabnahme, Nikotininkarenz und Bewegung als vorbeugend erachtet wird (Korczak et al. 2011, 16). Wenn nun auf die epigenetischen Handlungsbedingungen eingegangen wird, so geht es nicht um diese bekannten Faktoren, sondern um die temporale Abgrenzung von Handlungsräumen (2, IV, 1.3).

52 So heißt es hier: „Fortschritte im Bereich der Krankheitsprädiktion seien zudem mithilfe epigenetischer Untersuchungen und dem Nachweis neuer Biomarker zu erwarten, die nicht nur die genetische Grundausstattung in den Blick nehmen, sondern vor allem die jeweilige Genaktivität.“ (Deutscher Ethikrat 2012)

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2.4 Zwei konkurrierende ätiologische Modelle Der Epigenetik wird im Verursachungszusammenhang des MBS vor allem im Rahmen der sog. Developmental Origins of Health and Disease (DOHAD) Theorie eine zentrale Rolle eingeräumt.53 Die DOHAD setzt die vorangehend behandelten Thrifty-Modelle voraus und basiert auf Barkers small baby syndrome. Danach wird das MBS weder genetisch noch durch aktuell vorherrschende Umweltbezüge verursacht. Hier werden frühe Entwicklungsbezüge für das Auftreten späterer Krankheiten verantwortlich gemacht; die Beachtung der gesamten Lebensspanne ist bei diesem Verursachungsdenken wichtig (life course approach). Erste Ansätze dieser Theorie bestehen seit den 1980er Jahren und entstanden unabhängig von der Epigenetik. Da sich letztere im Forschungsverlauf als entscheidender Erklärungsansatz erwies, wurde sie in die DOHAD-Theorie integriert (Gluckman & Hanson 2006c). Erst dadurch konnte der Zusammenhang zwischen der zeitlich auseinander liegenden Verursachung der MBS-Disposition und dem späteren Auftreten der Erkrankung geklärt werden. Die frühen epigenetischen Modifikationen spielen aufgrund ihrer lebenslangen Stabilität für die DOHADTheorie eine konstitutive Rolle. Dabei werden zwei Ätiologien diskutiert. Diese werden nun genauer vorgestellt, und an späterer Stelle wird auf Abweichungen im Rahmen einer Verantwortungsanalyse eingegangen (2, IV, 2.1/2.2). 2.4.1 Adaptionsmodell: Predictive Adaptive Response Das Predictive Adaptive Response-Modell (PAR) basiert auf der Mismatch-Theorie (Gluckman & Hanson 2005; 2006a).54 Diese Theorie unterscheidet zwischen dem frühen Entwicklungsraum, 53 Eine historisch umfassende Einführung in die DOHAD-Theorie findet sich in Gluckman & Hanson (2006b/c). 54 Damit teilt die PAR-Theorie evolutionäre Vorannahmen der Match-Mismatch-­ Theorie (vgl. Alt & Kemkes-Grottenthaler 2002, 29): 1. Der Mensch entwickel­te sich durch evolutionäre Adaption. 2. Diese Adaption hörte vor 40.000 Jahren auf. 3. Massive Kultur- und Umweltveränderungen fanden seither statt. 4. Die evolutionäre Natur rezenter Menschen ist nicht an die aktuelle physikalische, soziale und kulturelle Umwelt angepasst. 5. Das Ausmaß der Fehlpassung kor­ reliert positiv mit dem Ausmaß körperlicher und psychischer Auffälligkeiten, d. h. Krankheiten.

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worin der Organismus in Interaktion mit der Umwelt festgelegt wird, und dem späteren Leben. In der Entwicklungsphase während des prä- und frühen postnatalen Lebens werden Umweltreize durch den maternalen Organismus vermittelt und bewirken ein spezifisches Genaktivitätsmuster. Diese epigenetische Programmierung bewirkt die Anpassung des Stoffwechselsystems an die aktuell vorhandene Umwelt. Diese Ausformung des Phänotyps erfolgt plastisch, d. h. handelt es sich um eine nahrungsarme Umwelt, wird der Metabolismus auf maximale Nahrungsverwertung „geeicht“ und sichert damit das Überleben des Organismus in einer zukünftigen Mangelumwelt ab. Gleiches geschieht im Falle reicher Umweltbedingungen, wobei der Metabolismus auf die minimale Verwertung der Nahrungsenergie angepasst wird. In beiden Fällen wird also von der lebenslangen Stabilität der Prägungsumwelt ausgegangen. Godfrey et al. (2007) erkennen in der epigenetischen Modifikation der Genaktivität den entscheidenden Mismatch-Mechanismus. Sofern die früh erfahrenen Umweltbedingungen sich mit den Bedingungen des späteren Lebens tatsächlich decken, ist das metabolische Regelsystem optimal angepasst (match) und der Organismus wird keine Krankheitssymptome entwickeln. Gehen die beiden Umwelten aber auseinander, wirkt diese Fehladaption (mismatch) auf Dauer krankheitsverursachend. Das auf Vollverwertung der Nahrungsumwelt optimierte Stoffwechselsystem extEine ausführliche Definition des PAR-Modells in 7 (+2) Kernsätzen bieten Gluckman & Hanson (2005, 144f)): „1. They are induced by environmental fac­ tors acting in early life, most often in preembryonic, embryonic or fetal life, not as an immediate physiological adaptation, but as a predictive response in expec­ tation of some future environment. 2. They are manifest in permanent change in the physiology or structure of the organism. 3. There are multiple pathways to the induction of these responses, involving different environmental cues act­ ing at different times in development. 4. PARs are not restricted in direction, and occur across the full range of fetal environments. 5. The induction of PARs will confer a survival advantage in the predicted reproductive environment (that is appropriate prediction) and this will be manifest as increased fitness. 6. The PAR thus defines an environmental range in which the organism can optimally thrice until and through the reproductive phase of its postnatal life. 7. However, these PARs may well lead to disease or disadvantage when the predicted re­ productive or post-reproductive environmental boundaries are exceeded (that is inappropriate prediction). + 8. PARs are likely to be neo-Darwinian adaptations permitting a species to survive short-term environmental challenges while pre­ serving maximum genotypic variation for later environmental challenges and evolutionary fitness. + 9. It is likely that through a variety of processes, there will be transgenerational exhibition of PARs.”

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rahiert mehr Energie aus der Nahrung als der Organismus bedarf. Der Überschuss wird analog zum thrifty phenotype in Form von der lebenslangen Stabilität der Prägungsumwelt ausgegangen.und Godfrey et al.verbunde(2007) erkennen in Körperfett gespeichert, was zu Übergewicht damit nen Folgeproblemen führt. Stoffwechselsystem wird auf diese der epigenetischen Modifikation der Das Genaktivität den entscheidenden Mismatch-Mechanismus. Weise dauerhaft überlasSofern die früh erfahrenen Umweltbedintet, dies führt schließlich gungen sich mit den Bedingungen des späzum MBS. Es ist wichtig teren Lebens tatsächlich decken, ist das zu sehen, dass die Entmetabolische Regelsystem optimal wicklungsplastizität nur angepasst (match) und der Organismus die erste Phase betrifft. Da wird keine Krankheitssymptome entwickeln. diese epigenetische ProGehen die beiden Umwelten aber grammierung des physio- auseilogischen Regelsystems nander, wirkt diese Fehladaption (misstabil behoben match) ist auf und Dauernicht krankheitsverursachend. Abb. 12:Abb. Das12: Match/Mismatch-Modell Das Match/Mismatch-Modell werden kann, wirkt ein Das auf Vollverwertung dersie NahrungsumLebenauslang. welt optimierte Stoffwechselsystem extrahiert mehr Energie der Nahrung als der Organismus Aufgrund der Prognosebedeutung wird dieses Adaptionsverbedarf. Der Überschuss wird analog zum thrifty phenotype in Form von Körperfett gespeichert, was hältnis von den Autoren als „Predictive Adaptive Response“ bezu Übergewicht und damit verbundenen Folgeproblemen führt. Das Stoffwechselsystem wird auf zeichnet.55 Aus dem Wissen um die frühe Umwelt und die aktuellen diese Weise dauerhaft überlastet, dies führt schließlich zum MS. Es ist wichtig zu sehen, dass die bzw. sogar zukünftigen Lebensverhältnisse lassen sich Voraussagen Entwicklungsplastizität nur die erste Phase betrifft. Da diese epigenetische Programmierung des treffen: Entspricht die spätere Umwelt den früheren Umweltbephysiologischenist Regelsystems stabil ist erfolgreich; und nicht behoben kann,absehbar, wirkt sie ein dass Leben lang. dingungen, die Adaption istwerden es aber die spätere Umwelt davonwird abweicht, so ist mit Erkrankungen Aufgrund der Prognosebedeutung dieses Adaptionsverhältnis von den Autoren als zu „Predictive 322 rechnen. Weil zwischen Ursache (Adaption) und der Wirkung Adaptive Response“ bezeichnet.der Aus dem Wissen um die frühe Umwelt und die aktuellen, (Erkrankung) eine lange symptomfreie ZeitVoraussagen liegt, welche in die bzw. sogar zukünftigen Lebensverhältnisse lassen sich treffen:leicht Entspricht die Irre führt, da sie robuste Gesundheit vortäuscht, hat das PARspätere Umwelt den früheren Umweltbedingungen, ist die Adaption erfolgreich – ist es aber abModell möglicherweise präventive Bedeutung.56 Das Wissen um die sehbar, dass die spätere Umwelt davon abweicht, so ist mit Erkrankungen zu rechnen. Weil zwischen der Ursache (Adaption) und der Wirkung (Erkrankung) eine lange symptomfreie Zeit liegt, in die robuste vortäuscht, das PAR-Modell 55 Dawelche es sichleicht sowohl beiIrre derführt, PARda alssieauch der Gesundheit Mismatch-Theorie umhatevolutionä­ 323Zusammenhang gelegentlich auch unter dem re Theorien handelt, wird dieser möglicherweise präventive Bedeutung. Das Wissen um die Abweichung von früher und später Begriff evolutionäre Medizin thematisiert. Die natürliche Selektion stellt einen Anpassungsprozess der Arten an die Umwelt dar. Jedoch ist dies nicht der einzi­ ge Mechanismus; da die frühe Entwicklungsplastizität die Anpassung zusätzlich 322 Da begünstigt, trägt Fitness bei.umSie ergänzt die Genselektion, es sich sowohl bei sie der zur PAR evolutionären als auch der Mismatch-Theorie evolutionäre Theorien handelt, wird dieser Zusammenhang unter dem Begriff evolutionäre Medizin thematisiert. Die kurzfristiger natürliche Selektion stellt welche nurgelegentlich generelleauch Umweltanpassungen herbeiführt, im Bereich einen Anpassungsprozess der Arten an die Umwelt dar. Jedoch ist dies nicht der einzige Mechanismus; da die frühe Umweltänderungen. Dabeizusätzlich liegt nur während frühen Adaptionsphase Entwicklungsplastizität die Anpassung begünstigt, trägtder sie zur evolutionären Fitness bei. Sieeine ergänzt die genetische Plastizität vor.Umweltanpassungen Der eventuell herbeiführt, naheliegende Fall kurzfristiger einer lebenslangen Genselektion, welche nur generelle im Bereich Umweltänderungen. Dabei liegt nur während frühen Adaptionsphase eine genetischeda Plastizität Der eventuell naheliegende Fall Plastizität ist ausder evolutionärer Sicht ineffizient, er mitvor. hohen Energiekosten einer lebenslanger Plastizität ist aus evolutionärer Sicht ineffizient, da er mit hohen Energiekosten verbunden ist. Ein verbunden ist. Ein Genom ermöglicht ein Spektrum an Phänotypen und erlaubt Genom ermöglicht ein Spektrum an Phänotypen und erlaubt damit das Überleben in verschiedenen Umwelten. 323 Das damit daskann Überleben verschiedenen Umwelten. Modell prinzipiellin auch in umgekehrter Richtung gelesen werden. Danach ist anzunehmen, dass das Missverhältnis zwischen frühen reichen und späten Mangelumwelt ist, da das 56 Das Modell kanneiner prinzipiell auchUmwelt in umgekehrter Richtung ebenfalls gelesenproblematisch werden. Da­ Stoffwechselsystem in diesem Falle später weniger Energie entzieht, als prinzipiell möglich und nötig ist. Diese Fälle nach ist anzunehmen, dass das Missverhältnis zwischen einer frühen reichen werden aber im Bezugsrahmen von PAR und MS nicht thematisiert – sie spielen daher in dieser Arbeit keine Rolle. Umwelt und späten Mangelumwelt ebenfalls problematisch ist, da das Stoff­ 222

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Abweichung von früher und später Umwelt weist präsymptomatisch auf die pathogenen Folgen hin und könnte somit zur Prävention des MBS eingesetzt werden. Diese Bezüge werden an späterer Stelle (2, IV, 2) genauer untersucht. 2.4.2 Prägungsmodell: Adaptive Predictive Response Die Adaptive Predictive Response Theorie (APR) wurde vom führenden deutschen Perinatologen Andreas Plagemann (2012) in Abgrenzung zur PAR-Theorie entwickelt. Auch im APR-Modell wird die Verursachung des MBS auf epigenetische Modifikationen zurückgeführt. Die Genregulation gilt bei Plagemann (2012, 253f) als der Grundmechanismus entscheidender ontogenetischer Programmierungsereignisse. In diesem Entwicklungsprozess, den Plagemann Biocybernetogenesis nennt, erfolgt die epigenetische Programmierung physiologischer Regelsysteme in den zwei Phasen Transformation und Determination – dies wurde bereits dargestellt (2, III, 1.1). Da Plagemann diese Programmierung als Prägung bezeichnet, bedarf es weiterer Erläuterung.57 Das klassische Prägungskonzept beinhaltet zwei Momente. Erstens: Ihr Kennzeichen sind kritische Phasen, früh in der Entwicklung auftretende eng begrenzte Zeitfenster, „in denen bestimmte Erfahrungen unbedingt gemacht werden müssen, damit die Entwicklung normal verläuft“ (Tzschentke 2014, 193). Davor oder danach gemachte Erfahrungen haben keine Bedeutung für den Prägungsakt.58 Das zweite Kennzeichen von Prägungen stellt die Irreversibilität dieser Prozesse dar. Die während der kritischen Phase gemachten Umwelterfahrungen ändern den Organismus dauerhaft. Beide Momente kennzeichnen Plagemanns Theorie der Programmierung

wechselsystem in diesem Falle später weniger Energie entzieht, als prinzipiell möglich und nötig ist. Diese Fälle werden aber im Bezugsrahmen von PAR und MBS nicht thematisiert – sie spielen daher in dieser Arbeit keine Rolle. 57 Plagemann (2012, 245) führt unter anderen als Vordenker seiner Prägungstheo­ rie Konrad Lorenz auf. Selbst hat er bei Günter Dörner, dem Begründer der Funktionel­len Teratologie, studiert, auf welchen auch das Konzept der perinatalen Program­mierung im Sinne einer Prägung zurück geht. Dörners Konzept fußt allerdings auf einer Hormonebene. 58 Daher sind kritische Phasen von sensiblen, graduell verlaufenden Perioden ma­ ximaler Empfindsamkeit gegen Einflüsse aus der Umwelt, die im Verlauf des gesamten Lebens auftreten (Bailey et al. 2001; Hensch 2005, 877), abzugrenzen.

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physiologischer Regelsysteme als Prägungstheorie, wie nun im Folgenden genauer dargestellt wird. Zunächst ist an beide Phasen Plagemanns Biocybernetogenesis zu erinnern. Die Transformationsphase stellt eine plastische Phase dar, in der das physiologische Regelsystem eines Organismus für bestimmte Schlüsselreize aus der Umwelt empfänglich ist. Dies entspricht der kritischen Phase – sie wird anschließend durch die Zelldifferenzierung zeitlich begrenzt. Ein Vergleich hilft zum Verständnis. Regelsysteme stellen kybernetische Rückkopplungssysteme dar, wobei ein Istwert an einem Sollwert gemessen wird und die Abweichungen korrigiert werden. Während der kritischen Prägephase wirkt dieses Rückkopplungsverhältnis allerdings in gewisser Weise verkehrt. Vorerst gilt es nämlich, den normierenden Sollwert selbst festzulegen. Dieser Sollwert wird während der Transformationsphase an der externen Umwelt genormt, wodurch das gesamte Regelsystem auf die vorherrschenden Umweltverhältnisse „geeicht“ wird. Die spätere Determinationsphase bezieht sich somit auf diese Festlegung des physiologischen Regelsystems als Norm. Im Folgenden misst das physiologische Regelsystem den faktischen Istwert von Körperzuständen (z. B. Temperatur) und vergleicht ihn mit dem (geprägten) Sollwert, um schädliche Abweichungen zu korrigieren. Da der eingestellte Sollwert aufgrund stabilisierender Wirkungen seitens der Mikrostruktur (2, III, 1.1) danach nicht verändert werden kann, ist dieser Prozess im üblichen Prägungssinne irreversibel. Die Präzisierung der APR-Theorie als Prägungsmodell hat Folgen für das Handlungsverständnis, da somit die Ursachen von MBS auf eine Fehlprägung zurück geführt werden (Dyscybernetogenesis – Plagemann 2012, 253). In der Prägephase ist der Organismus auf bestimmte Schlüsselreize aus der Umwelt angewiesen. Die Beziehung ist fragil und bereits kleine Störungen können zu einer Fehlprägung der physiologischen Regelsysteme führen. Plagemanns Mitarbeiterin Barbara Tzschentke erklärt den Zusammenhang von Fehlprägung und MBS während der Schwangerschaft: „Ein Beispiel dafür ist der Glukosespiegel im Blut des ungeborenen Kindes in der kritischen Entwicklungsphase, in der sich das Regelsystem zur Regulation des Stoffwechsels, der Nahrungsaufnahme und des Körpergewichts herausbildet. Ist dieser Glukosespiegel infolge einer Schwangerschaftsdiabetes der Mutter erhöht, kann der GlukoseSollwert lebenslang auf ein höheres Niveau eingestellt sein. Als Ergebnis einer solchen ‚Fehlprägung‘ können sich im späteren Leben Übergewicht, Adipositas und ihre Folgeerkrankungen Metahttps://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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bolisches Syndrom, Typ-2-Diabetes sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen entwickeln.“ (Tzschentke 2014, 195)59 Die APR-Theorie führt das MBS auf ein dauerhaft dysfunktionales Stoffwechselsystem zurück. Anders als im PAR-Modell spielt dabei der spätere Lebensstil keine Rolle. Das falsch eingestellte Regelsystem kann trotz gesunder Lebensführung den Organismus anhaltend belasten, wobei diese Überlastung schließlich zum MBS führt. Die frühe Prägung stellt keine Adaption an eine bestimmte Umwelt dar, sondern hat ein feststehendes Optimum zum Ziel. Zwar bedarf es in der plastischen Prägephase einer Feinjustierung der Regelsysteme, allerdings stellt diese eine biologisch notwendige Determination dar.60 Während das PAR-Modell das MBS durch ein relatives Verhältnis (frühe/späte Umwelt) erklärt, bezieht sich Plagemann auf ein absolutes Verhältnis. Diese Abweichung von Gluckmans Modell veranlasste ihn zur Bezeichnung Adaptive Predictive Response. Zur Erklärung der Volkskrankheiten ist nur die frühe Prägungsumwelt entscheidend.61 Auch Plagemanns Modell bezieht sich auf die gesamte Lebensspanne als Verursachungsrahmen. Auch hier besteht vorerst Symptomfreiheit, die Symptome werden erst in Folge der späteren Überlastung des ineffizient arbeitenden Stoffwechselsystems entwickelt. Damit hat das APR eine mögliche präventive Bedeutung. Krankheiten können auf Grundlage des Wissens um eine abnorme Prägung prognostiziert und im Idealfalle verhindert werden. Allerdings lässt die APR-Theorie wenig Raum für therapeutische Eingriffe. Da es sich um ein Determinationsverhältnis handelt, kämen diese zu spät. Im Hinblick auf die vorangegangene Diskussion um eine epigenetische Vererbung oder Entwicklung ist abschließend auf eine Besonderheit hinzuweisen. Plagemann spricht mit Bezug auf das 59 Vgl. hierzu auch: (Silverman et al. 1991, 121-125; Plagemann et al. 1997, 451456; Dabelea et al. 2000, 2208-2211). 60 „Epigenomic and microstructural plasticity seem to be the decisive features oft he self-organizational process of a developing organism. They cause a homeo­­ static calibration of functional and tolerance ranges at the subcellular level, the cellular level, the organ level, and up to the level of the whole organism. All this seems to take place as a physiological, normative process in ontogenesis. How­ever, as a consequence of unphysiological, adverse, disadvantageous envi­ ronmental conditions during critical developmental periods, this plasticity can also lead to a mal-programming.“ (Plagemann 2012, 250) 61 Aufgrund der Theorieähnlichkeit belässt Plagemann den Teilbegriff Adaption, dessen Sinn von dem in der PAR-Theorie abweicht. Das Vorziehen des Teilbe­ griffs soll die zentrale Bedeutung der frühen Prägeumwelt betonen.

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MBS von einem transgenerationalen Teufelskreis (2006, 523; 2012, 268). Suboptimale Bedingungen während der epigenetischen Prägung steigern die Wahrscheinlichkeit, später am MBS zu erkranken (Normalfall). Handelt es sich aber bei dem noch ungeborenen Kind um ein Mädchen und wird dieses dann später im Leben selbst schwanger, so stellt ihr Organismus den Prägekontext für die folgende Generation dar. Führte vorherige Fehlprägung zum MBS und dieses blieb unbehandelt, so begünstigt das suboptimal eingestellte mütterliche Regelsystem erneut eine Fehlprägung. Ohne Intervention setzt sich damit ein transgenerationaler Teufelskreis in Gang, ohne dass epigenetische Marker im definierten Sinne vererbt werden. Von diesem Prozess ist die Keimbahn nicht betroffen, es handelt sich um keine durchgängige Übertragung der Modifikationen. Die transgenerationale Übertragung erfolgt „sprunghaft“, da die problematischen Marker durch den belasteten mütterlichen Prägekontext in der Individualentwicklung aufs Neue gesetzt werden. Obgleich ihre Löschung während der Keimzellentwicklung erfolgt, können epigenetische Marker transgenerational pathogen wirken, falls in der Schwangerschaft nicht dagegen interveniert wird.62

62 Damit geht eine epistemische Besonderheit einher. Da nicht der Lebensstil, son­ dern die frühe Fehlprägung entscheidend für die Entwicklung der Krankheit ist, sagt die Ernährungsweise während der Schwangerschaft wenig über ein Fehl­ prägungsrisiko in Bezug auf die Folgegeneration aus. Da sich die frühe Fehl-/ Prägung dem aktuellen Blick aber entzieht, kann äußerlich betrachtet kein Urteil über ein „riskantes“ Essverhalten der Mutter getroffen werden. Vice versa sagt die „gesunde“ Ernährungsweise nur wenig über das erworbene Übertragungsri­ siko aus.

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Kapitel IV: Das Verantwortungsnetzwerk

„Nur wenn die Voraussetzungen für eine prospektive Wahrnehmung von gesundheitlicher Verantwortung geschaffen sind, ist es gerechtfertigt, Patienten und Versicherte retrospektiv für solche Erkrankungen verantwortlich zu machen, die auf einem gesundheitsschädlichen Verhalten beruhen. Würde man hingegen – aus Kostengründen – Patienten allein retrospektiv für selbstverschuldete Gesundheitsstörungen zur Verantwortung ziehen, ohne die Eigenverantwortung im prospektiven Sinne entsprechend zu stärken, würde dies vor allem sozioökonomisch schlechter gestellte Patienten benachteiligen, die einen schlechteren Zugang zu gesundheitsrelevanten Informationen haben.“ (Marckmann 2010, 218)

1 Überblick und Ausgang In Vorbereitung auf die Ermittlung der Verantwortungsbereiche werden zunächst die Chancen und Probleme einer frühen Verantwortungsdiskussion gegeneinander abgewogen. Im Anschluss daran wird die Verantwortungsdiskussion im Kontext der Prävention vor dem MBS verortet und der Faktor Zeit als besonderes Kennzeichen einer solchen „epigenetischen“ Prävention erkannt. 1.1 Für eine frühzeitige Verantwortungsdebatte Im Fachdiskurs wird kontrovers diskutiert, ob zum gegenwärtigen Zeitpunkt, zu dem noch kein sicheres epigenetisches Wissen vorliegt, bereits eine Verantwortungsdebatte stattfinden sollte. Im Folgenden wird auf diese Debatte eingegangen und für eine frühzeitige Thematisierung plädiert. Zur besseren Darstellung werden die entgegengesetzten Positionen skizziert. Auf der einen Seite wird für eine Verantwortungsdebatte gesprochen. So erkennen die Bioethiker Ruth Chatwick und Alan O’Connor (2013) ein besonderes Potential der Epigenetik für die personalisierte Medizin und nehmen speziell zum Themenkomplex Epigenetik und Adipositas Differenzierungen zu den bestehen-

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den Verantwortungsbezügen vor. Wichtige Themen sind in diesem Zusammenhang die Verteilung der Gesundheitskosten aufgrund der neuen Erkenntnisse um die individuellen Einflussmöglichkeiten, der einseitige Fokus auf die Ernährungsweise, der gerechte Zugang zu epigenetischen Medikamenten sowie die ungerechte Zuschreibung von Verantwortung. Aus der Sicht der Autoren fügt die Epigenetik diesen bereits bekannten Verantwortungsthemen keine wesentlich neuen hinzu. Die Erkenntnisse der Epigenetik verschärften zwar die Positionen, doch könnten und sollten sie in der bereits bestehenden Verantwortungsdebatte behandelt werden. Auf der anderen Seite gibt es Bedenkenträger. So kritisieren Juengst et al. (2014) die sich bereits abzeichnende Verantwortungsdebatte zur Epigenetik. Wenn, aufbauend auf Erkenntnissen aus Tierstudien, eine Verantwortungsdebatte um die Vererbung epigenetischer Modifikationen beim Menschen geführt werde, würde das noch sehr begrenzte epigenetische Wissen gefährlich überdehnt. Eine vorauseilende ethische Debatte könne nämlich selbst moralisch problematisch sein, wenn sie unbegründet Ängste schürt, statt zur Orientierung in den Handlungsbereichen beizutragen, die durch die voranschreitenden biologischen Erkenntnisse neu eröffnet werden. Neben dem ungesicherten Wissen wäre an den Übertragungen auf den Menschen besonders bedenklich, dass damit eine „empfängliche“ Bevölkerung angesprochen wird: Für Laien stellen Wissenschaftler nämlich eine Autorität dar, sodass selbst nur vermeintlich sicheres „Wissen“ kritiklos übernommen wird. Die Autoren warnen Ethiker vor Spekulationen. Auf eine „reife“ Epigenetik solle gewartet und währenddessen die fehlgeleitete Verantwortungsdebatte kritisiert werden. Wenngleich ich die Vorbehalte von Juengst et al. bezüglich der Übertragungen auf den Menschen teile, teile ich aber ihre Folgerung daraus nicht. Im Folgenden zeige ich, dass zusätzlich zu der vorgeschlagenen Kritik bereits zu einem frühen Zeitpunkt ein wichtiger ethischer Beitrag möglich und ein Thematisierungsverzicht übertrieben ist. Das von Juengst et al. angesprochene Problem geht über die aktuellen Bezüge der Epigenetik hinaus und betrifft einen methodischen Perspektivenwechsel in der Bioethik. Historisch betrachtet erfolgte ein Wandel von einer auf bestehende Probleme reagierenden, d. h. retrospektiven, zu einer prospektiven Bioethik, die möglichst früh auf das ethische Problempotential von neuen Forschungsbereichen hinweisen möchte (Engels 2005). Da die prospektive Bioethik zukünftige Entwicklungen antizipiert, https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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überschreitet sie in der Tat den Bereich des Faktischen; es bleibt offen, ob die Spekulationen später zutreffen. Bei genauerer Betrachtung sind allerdings beide Ansätze (prospektiv/retrospektiv) problematisch. Das Kernproblem wurde im Bereich der Technikfolgenabschätzung bereits früh als ein KontrollDilemma beschrieben (Collingridge 1980):1 Der prospektive Ansatz könnte zwar problematische Situationen früh entschärfen, doch besteht eine Unsicherheit über ihr tatsächliches Eintreten.2 Dagegen wird im retrospektiven Falle über sicheres Wissen verfügt, doch erfolgen die Lösungen zu spät, da sich dann die problematische Situation bereits verhärtet hat. Da das Kontrolldilemma in der Bioethik weniger bekannt ist, fehlt es hier an einer Sensibilisierung. Dies zeigt sich an den skizzierten Positionen. Der prospektive Ansatz von Chatwick und O’Connor lässt den prekären Status des epigenetischen Wissens außer Acht. Dieses Problem erkennen zwar Juengst et al. und empfehlen eine Verschiebung der Verantwortungsdebatte; hier handelt es sich um den retrospektiven Ansatz. Sie übersehen aber, dass dadurch ein Zeitverlust entsteht.

1 Danach ist die entscheidende Frage: „When to control? Early control might be possible due to the power to change situations and boundary conditions, but lacks knowledge about the consequences; late control can rely on much knowledge but is mainly powerless.“ (Liebert & Schmidt 2010, 58) 2 Das Beispiel Zusatzbefunde in der Genomforschung zeigt das besonders ein­ drücklich. Wegen des Datenanstieges ging man von einem parallelen Anstieg an Zusatzbefunden aus, also dass über gesuchte genomische Abweichungen hinaus Abweichungen gefunden würden, deren pathogene Wirkung bekannt ist. Die Debatte um Zusatzbefunde zählt zu den größten der Ethik der Genetik. Für den adäquaten Umgang wurden Konzepte und ethische Leitlinien für Forscher ent­ wickelt. Danach sollen z. B. Probanden beim Aufklärungsgespräch vor der Pro­ benentnahme auf mögliche Zusatzbefunde hingewiesen werden, und sie müs­ sen über ihre spätere Mitteilung entscheiden. Wie die Begleitforschung zeigt, stellt die bloße Möglichkeit von Zufallsbefunden eine Zusatzbelastung für die Probanden dar. Die unhinterfragte Anfangshypothese prägte den Diskurs. Erst vor kurzem wurde gezeigt, dass Zusatzbefunde in der Genomforschung fast gar nicht auftreten (Schuol et al. 2015). Das liegt nicht daran, dass die pathogenen genetischen Abweichungen nicht existierten, sondern sie werden nicht erkannt. Abweichend von bildgebenden Verfahren, bei denen ein ärztlich geschulter Blick Zusatzbefunde unmittelbar erkennen kann, sind aufgrund der Datenmenge bei Genomanalysen Suchprogramme notwendig. Da diese selektiv vorgehen und nach bestimmten Loci suchen, werden andere als in der Forschung gesuchte Ab­ weichungen nicht erfasst. Die Anfangshypothese muss korrigiert werden.

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Die entscheidende Frage ist also, wie das Kontroll-Dilemma umgangen werden kann.3 Um ein realistisches und zeitnahes Problemszenario zu entwickeln und um den Fallstrick konstruierter Problemszenarien zu umgehen, wurde eine Sondierung der Ausgangslage durchgeführt (2, I). Im öffentlichen Diskurs zur Epigenetik wurden drei Hauptthemen ausgemacht. Hier steht die Epigenetik für einen Epochenwandel; da mit dem epigenetischen Wissen eine neuartige Steuerbarkeit der Gesundheit möglich scheint, wird aufgrund dieses Einflussbereiches eine epigenetische Verantwortung behauptet. Interessant ist dabei, dass das Thema Verantwortung von Seiten der Medienrezipienten auf das Thema Eigenverantwortung enggeführt wird. Dies zeugt davon, dass der Epigenetikdiskurs kein eigenständiger Diskurs ist, sondern innerhalb eines bereits bestehenden gesundheitlichen Selbstsorgediskurses geführt wird und dessen Themen unterliegt. Dabei stammen die Diskursakteure vor allem aus einer sehr motivierten Schicht, die eigenständig Gesundheitsprävention betreibt und epidemiologisch betrachtet zum gesunden Bevölkerungsteil gehört. Der Epigenetikdiskurs ist also nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung. An ihm nimmt gerade jene gesundheitlich besonders gefährdete Schicht nicht teil, die – sollte die Steuerbarkeitsthese stimmen – in besonderer Weise vom neuen Wissen profitieren würde. Ausgehend von diesen Erkenntnissen verfolge ich in der verbleibenden Arbeit zwei Ziele: Das erste Ziel bezieht sich auf die Verursachungsdebatte zum MBS. Da der Diskursfokus auf die Eigenverantwortung im Präventionsdiskurs nicht erst durch die Epigenetik entstand, ist Skepsis im Hinblick auf ihre Bedeutung angebracht. Soweit folge ich dem Vorschlag von Juengst et al., die Verantwortungsdebatte zu kritisieren. Um die Relevanz der Eigenverantwortung prüfen zu können, werden die epigenetischen Ätiologien selbst kritisch überprüft und Spekulationen aus der danach folgenden Diskussion ausgeschlossen. Sollte sich die besondere Bedeutung der Eigenverantwortung als Fehler erweisen, könnte korrigierend auf den Diskursverlauf eingewirkt werden. Die Vormachtstellung des

3 Die Technikfolgenabschätzung handhabt das Problem z. B. mittels eines Mo­ nitoring-Prozesses: Das aufmerksame Verfolgen von potentiell risikoreichen technologischen Entwicklungen ermöglicht ein zeitnahes Informieren von Ent­ scheidungsträgern, sodass diese rechtzeitig handeln können. Hierbei entstand eine Debatte um die Rolle der Öffentlichkeit. Einen guten Überblick über ihre Partizipation in den Biowissenschaften bieten Marris & Rose (2010).

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Themas Eigenverantwortung würde rechtzeitig relativiert und eine unbelastete Debatte zur epigenetischen Verantwortung im Kontext des MBS würde möglich. Das zweite Ziel ist es, auf die zukünftige Verantwortungsdebatte einzuwirken. Sich zu enthalten, hieße die Chance verpassen, möglichst früh dem problematischen MBS und der, wie es Experten erwarten, zunehmenden Erkrankungsrate entgegenzuarbeiten. Hier gehe ich also über Juengst et al. hinaus. Dabei werden die verbliebenen Erkenntnisse der Epigenetikforschung verwendet und auf dieser Basis wird ein realistisches Verantwortungsszenario zur Vermeidung des MBS entwickelt. Die epigenetischen Ätiologien beziehen sich auf die Entwicklung einer Disposition zum MBS. Der geeignete Rahmen für die Verantwortungsdebatte ist daher die Prävention. Vorbereitend auf die spätere Verantwortungsermittlung wird im Folgenden auf den Präventionsbegriff eingegangen. 1.2 Prävention als Ausgangsbasis In Vorbereitung auf die spätere Verantwortungsdiskussion wird im Folgenden auf die wichtigsten Präventionsformen eingegangen. Auf dieser Basis wird dann gezeigt, wie die Prävention vor dem MBS bislang erfolgte und welche Präventionsmöglichkeiten sich durch die Epigenetik eröffnen.4 Der Begriff der Prävention hat im medizinischen Kontext seinen Ursprung und entstammt in seiner modernen Fassung der Hygienebewegung des 19. Jh., die während der Industrialisierung als Reaktion auf neue Krankheitsproblematiken entstand (Hurrelmann et al. 2014). Während Therapie auf Heilung von Krankheiten abzielt, meint Prävention (lt. praevenire: zuvorkommen) deren Vorbeugung.5 Gegenwärtig wird der Prävention verstärkt Auf4 Wenn unten auf Präventionsprogramme zum MBS im Public-Health-Bereich eingegangen wird ist es wichtig zu sehen, dass der Prävention erst seit kurzem verstärkt Aufmerksamkeit gewidmet wird, d. h. wenige Programme bestehen, bzw. sich in Entwicklung befinden. Einen Überblick über dieses Vorhaben in Deutschland liefern Gruhl et al. (2008). 5 Deswegen unterscheidet er sich von dem in den 1970er Jahren entwickelten Begriff der Gesundheitsförderung. Ursächlich für die Neukonzeptualisierung war ein Umdenken von dem vormaligen Fokus auf die Pathogenese hin zur Gesundheitserhaltung und dem entwickelten Konzept der Salutogenese (Anto­ nowski 1979). Zwar wirken beide Konzepte auf gleicher Ebene, ihr Ziel ist es, die

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merksamkeit zugewendet und in der Medizin eine Schwerpunktverlagerung von der Therapie zur Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung beobachtet (Hurrelmann et al. 2014, 17).6 Epidemiologisch betrachtet liegen die Gründe für den Wandel in der Abnahme akuter Krankheiten aufgrund verbesserter medizinischer und lebensweltlicher Standards, bei gleichzeitigem Anstieg chronisch-degenerativer Erkrankungen, wie dem MBS, etwa aufgrund demographischer Veränderungen. Prävention wird u. a. aufgrund der damit verbundenen Kosten vor allem im Rahmen von PublicHealth- Maßnahmen umgesetzt. Drei Präventionskonzepte spielen hierbei eine wichtige Rolle: 1. Im Hinblick auf den Erkrankungszeitpunkt haben sich folgende Präventionsarten etabliert (Caplan 1964): Primärpräventive Interventionen erfolgen vor Eintritt einer Krankheit, wobei es das Ziel ist, deren Inzidenz zu verringern. Hier sind Gesunde bzw. Personen ohne Symptomatik die Adressaten. Sekundärpräventive Interventionen erfolgen im Frühstadium einer Krankheit, und ihr Ziel ist es, die Progredienz oder Chronifizierung der Krankheit einzudämmen. Entsprechend sind Akutpatienten ihre Adressaten. Tertiärpräventive Interventionen setzen nach der Manifestation bzw. Akutbehandlung einer Krankheit an und sollen vor Folgeschäden und Rückfällen schützen. Ihre Adressaten sind Patienten mit chronischer Beeinträchtigung und Rehabilitation (Leppin 2014, 37). Diese Dreiteilung ist im Hinblick auf die Endbereiche unscharf. So lässt sich die Tertiärprävention schwer von der Therapie abgrenzen, weshalb dafür plädiert wurde, ganz darauf zu verzichten (Mrazek/ Haggerty 1994). Zur Primärprävention gibt es eine weitere Unterscheidung hinsichtlich einer primordialen Prävention, wonach dem Auftreten von Risikofaktoren vorzubeugen ist (Caplan 1964; Laaser & Hurrelmann 2012). Da sich Primordialprävention in der Fach-

Krankheitsrate zu reduzieren, jedoch ist ihr Ansatz verschieden. Geht es bei der Krankheitsprävention um die Vermeidung von Risikofaktoren, wobei hier von externen Ursachen ausgegangen wird, bezieht sich die Gesundheitsförderung auf die stabilisierenden Faktoren der Gesundheit. Hier wird davon ausgegangen, dass Organismen über ein gesundheitserhaltendes Potential verfügen, das es zu fördern gilt. 6 Zeichen davon ist die Debatte um ein Präventionsgesetz, das Prävention als eine vierte Säule (neben Kuration, Rehabilitation, Pflege) im Gesundheitswesen instanziieren möchte. Die vormalige „Reparaturmedizin“ weicht einer „Präven­ tionsmedizin“, die perspektivisch handelt und dabei den Zeitpunkt der Interven­ tion nach vorne verschiebt.

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debatte nicht etabliert hat, wird im Rahmen dieser Arbeit an der Dreiteilung festgehalten. Die Notwendigkeit einer zeitlichen Begriffsdifferenzierung zeigt sich im Rahmen des öffentlichen Epigenetikdiskurses und dessen Thematisierung des MBS. Hier wird nahegelegt, dass Änderungen des Lebensstils unabhängig vom Stadium der Erkrankung zur Heilung führen. Zwar kann ein Patient mit chronischem Diabetes mittels Lebensstilanpassungen eine Linderung seiner Krankheit herbeiführen, sie aber beheben wird so nicht möglich sein. Diese Patienten müssen ihr Leben lang Insulin künstlich zuführen, um sich vor den Folgeschäden zu schützen (Tertiärprävention). In der Fachdebatte zum MBS wird der Primärprävention die Hauptbedeutung beigemessen und hier werden bereits Erkenntnisse der Epigenetik beachtet (Assmann-Stiftung 2015). Von dieser theoretischen Debatte weicht die Praxis ab. Eine aktuelle Studie zeigt, dass deutsche Hausärzte Adipositas, ein Hauptindiz für das MBS, erst in einem sehr fortgeschrittenen Stadium erkennen (Thelen 2015), sodass es dann für primärpräventive Schritte zu spät ist. Wird Primärprävention betrieben, z. B. zur Vermeidung von Übergewicht im Kindesalter, sind die Ergebnisse bescheiden, was auf eine fehlende Langzeitwirkung der Prävention zurückgeführt wird (Sonnenmoser 2009). Die Erkenntnisse der Epigenetik könnten im Hinblick auf den Zeitpunkt der Intervention zur Prävention des MBS beitragen. Sollte die epigenetische Disposition zum MBS verhindert werden können, wäre es möglich, das MBS bereits im Ansatz zu unterbinden, sodass entgegen der bisherigen Primärprävention eine anhaltende Langzeitwirkung erreicht würde. Da spätere Interventionen die epigenetischen Ursachen nicht beheben, eignen sie sich nicht als epigenetische Maßnahmen. 2. Bezüglich des Ansatzpunktes der Prävention wird zwischen der Verhaltensprävention und der Verhältnisprävention unterschieden (Franzkoviak 2003; Laaser & Hurrelmann 2012).7 Die Verhaltensprävention zielt auf individuelles Handeln, hier soll ein gesundheitsabträglicher Lebensstil vermieden werden. Dabei wird in der 7 „Verhaltensprävention versucht, individuelles (Risiko-)Verhalten wie Rauchen oder Bewegungsarmut zu verändern oder Personen zu motivieren, medizinisch-­ technologische Interventionen wie Impfungen oder Früherkennungsverfahren in Anspruch zu nehmen. Verhältnispräventiven Maßnahmen geht es dagegen darum, die ökologischen, sozialen, ökonomischen oder kulturellen Umweltbe­ dingungen zu verändern und somit indirekt Einfluss auf Entstehung und Ent­ wicklung von Krankheit zu nehmen.“ (Leppin 2014, 40)

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Regel davon ausgegangen, dass sich das eigene Verhalten auf die eigene Gesundheit auswirkt – entsprechend wird bei der Umsetzung der Verhaltensprävention vor allem die Eigenverantwortung angesprochen. Dagegen beziehen sich Handlungen im Rahmen der Verhältnisprävention auf weitere Personen, sodass hier eine über die Eigenverantwortung hinausgehende Verantwortung auf einer sozialen Ebene angesprochen wird. Im öffentlichen Epigenetikdiskurs bezieht man sich wegen der zentralen Thematisierung der Eigenverantwortung vor allem auf die Verhaltensprävention. Hier geht es um die Veränderung des Lebensstils, also individuelles Verhalten, wobei die Verhältnisprävention aber ausgeblendet wird. Im Fachdiskurs werden beide Formen diskutiert. Dass aber in der Praxis ein besonderer Fokus auf der Verhaltensprävention liegt, bezeugt die Debatte um das inzwischen verabschiedete Präventionsgesetz. Ein Hauptkritikpunkt war, dass die Verhältnisprävention in den vormaligen Fassungen zu wenig berücksichtigt wurde, wodurch sich an der Praxis nur wenig verändern würde (Siegel 2013). Tatsächlich zielen auch die meisten aktuellen Präventionsprogramme (etwa zur Ernährung, Bewegung etc.) zum MBS auf eine Veränderung des individuellen Lebensstils ab.8 Da gemäß der Epigenetik Umweltverhältnisse wirksam werden, es aber unwahrscheinlich ist, dass Einzelpersonen diese kontrollieren können, spricht dies verstärkt für die Verhältnisprävention. Denkt man an das Entwicklungsensemble von Schwangerer und Embryo, scheint der bisherige Fokus der Verhaltensprävention auf Individuen zu eng. Dies ist daher im Besonderen zu prüfen. 3. Im Hinblick auf die Zielgruppe wird zwischen universellen und zielgruppenspezifischen Ansätzen unterschieden. Während im ersten Fall die Gesundheit der Gesamtbevölkerung erreicht werden soll, werden im letzten Fall spezifische Risikogruppen zu den Adressaten der Prävention gezählt. Im öffentlichen Epigenetikdiskurs fehlt diese begriffliche Unterscheidung. Hier wird aber implizit differenziert. Verantwortungszuschreibungen erfolgen hier nämlich selektiv entlang von äußeren Kennzeichen, somit zielgruppenspezifisch (Übergewichtige). Dass dieses Vorgehen im Hinblick auf die Epigenetik problematisch ist, wurde bereits besprochen. Diese Vorgehensweise ist einer Sekun8

Zwar gibt es im Hinblick auf das MBS durchaus auch einzelne Programme, wel­ che auf eine Verhältnisprävention abzielen, doch werden diese nicht flächende­ ckend eingesetzt und spielen im Rahmen von public health keine Rolle.

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därprävention zuzuordnen, bei welcher aber der Nutzen der Epigenetik äußerst fraglich ist. Im Fachdiskurs zum MBS werden beide Ansätze diskutiert, und man ist sich besonders vulnerabler Gruppen bewusst. Aus Studien ist bekannt, dass das MBS bei Migranten (Gruhl et al. 2008) und schwachen sozioökonomischen Gruppen (Kuntz & Lampert 2010) gehäuft vorkommt. In der Praxis fehlen aber Präventionsprogramme, welche diese Zielgruppen beachten. Dazu ist zwar keine spezifische Prävention nötig, doch wäre eine spezifische Ausrichtung der bestehenden Programme auf die Bedürfnisse dieser Bevölkerungsschichten wichtig (Razum & Spallek 2009). Wenn das epigenetische Wissen zur Prävention des MBS eingesetzt wird, wäre es besonders wichtig, neben dem universellen Ansatz auch auf die zielgruppenspezifischen Anforderungen einzugehen. Wie dies geschehen kann, ist eines der verbleibenden Themen der Arbeit (2, IV, 3). Nach diesem Überblick über die Präventionsarten wird nun auf die inhaltlichen Bezüge der Epigenetik eingegangen und die Eigenart dieses Wissens für die MBS-Prävention herausgearbeitet. 1.3 Faktor Zeit als Präventionskennzeichen Bereits vor der Epigenetik wurde Prävention des MBS und der damit assoziierten Krankheiten betrieben. Da mit dem neuen Wissen kein prinzipiell neues Arbeitsfeld betreten wird und die Epigenetik keine etablierten Präventionen in Frage stellt, ist das epigenetische Wissen als eine Ergänzung zu verstehen. Doch um was genau wird das bestehende Präventionswissen ergänzt? Die Risikofaktoren für MBS sind bekannt. Im Wesentlichen handelt es sich um die Vermeidung von Bluthochdruck, Rauchen, Alkohol, hohen Cholesterinspiegel und Übergewicht (Korczak et al. 2011, 16-18). Dagegen wird eine Umstellung der Ernährungsund Bewegungsgewohnheiten empfohlen, wobei mehr Obst- und Gemüseverzehr sowie Ausdauersport als hilfreich gelten. Die Erkenntnisse aus der Epigenetik fügen diesen Faktoren keine hinzu. Vielmehr untersucht die Epigenetik die Wirkungsweise dieser Faktoren.9 Ihr Beitrag ist es, eine Kausalerklärung der Zusammenhänge zu liefern, d. h. die molekularen Ursachen der Pathogenese zu 9 Landecker (2011) zeigt, wie Ernährung sich im Rahmen der „nutritional epi­ genetics“ zum Kausalfaktor verändert.

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erklären. Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, dass zukünftig materiale Risikofaktoren gefunden werden, doch liegt der Beitrag der Epigenetik zur Präventionsdebatte bislang auf der temporalen Ebene. In dieser Hinsicht weisen die beiden bereits vorgestellten epigenetischen Ätiologien zum MBS (2, III, 2.4) drei Gemeinsamkeiten auf: 1. In beiden Ätiologien wird die epigenetische Programmierung des Stoffwechselsystems als zentral für die Entwicklung des MBS erachtet. Als Grundmechanismus gilt die Methylierung von Genen. Aufgrund der dabei beteiligten Organ- und Zelldifferenzierungsprozesse können abgrenzbare Programmierungsphasen ausgemacht werden. Die Verursachung der epigenetischen Disposition zum MBS ist also zeitlich einschränkbar. Da dann herrschende Bedingungen entscheidend für die Krankheitsdisposition sind, kann der Verantwortungsbereich zeitlich genauer abgegrenzt werden. 2. Im Rahmen dieser Arbeit ist die Abwendung vom Vererbungsdenken zugunsten eines neuen Entwicklungsdenkens besonders wichtig. Beide Theorien sind der DOHAD-Theorie zuzuordnen und stellen eine Antwort auf genzentrische Ätiologien (thrifty genotype) dar. Dabei weichen sie auch von anderen gegenwärtig üblichen Entwicklungstheorien ab. Indem beide Ätiologien zeigen, dass die epigenetische Disposition zum MBS früh entwickelt wird und die Modifikationen lebenslang erhalten bleiben, erweitern sie das bislang wesentlich zeitnäher verstandene Verhältnis zwischen Verursachung und Ausbruch des MBS. Hier wird nun aus einer Langzeitperspektive argumentiert.10 3. Da der maternale Organismus als Kontext dieser Prägung gilt, d. h. Schwangere und Embryo ein Entwicklungsensemble darstellen, besteht die Gefahr transgenerationaler Übertragung des MBS.11 10 Dadurch können beide Modelle die zeitliche Verzögerung zwischen der frühen Entwicklung einer Anlage und der späteren Krankheitsausprägung erklären. Da das MBS erst zeitverzögert auftritt, ist die symptomfreie Zeit in frühen Lebens­ phasen kein Indiz für die spätere Gesundheit. Beide Theorien eignen sich daher im Prinzip zur Prävention. 11 Diese drei Dimensionen wirken zusammen: „Infolge einer fetalen und/oder neonatalen Überernährung kommt es zu einer mikrostrukturell und epigeno­ misch bedingten Resistenz zentralnervöser hypothalamischer Regelzentren von Nahrungsaufnahme und Stoffwechsel und damit zu einem dauerhaft „program­ mierten“ erhöhten adipogenen Tonus von Hyperphagie und Übergewicht. Inte­ grativ betrachtet sprechen die epidemiologisch-klinischen und experimentellen Befunde dafür, dass eine prä- und neonatale Überernährung, die bei etwa einem Drittel aller Schwangerschaften in den westlichen Industrieländern auftritt, auf

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Auf der Grundlage dieser Zusammenhänge können die bisherigen Ansätze zur Prävention des MBS zeitlich abgestimmt werden. Das Wissen um die Dosis wird durch das Wissen um die Zeit ergänzt. Welche Verantwortungsbereiche sind von der Ergänzung betroffen? Dieser Frage widmen sich die nächsten Abschnitte. Im Vorfeld ist auf einen wichtigen Punkt hinzuweisen. Eine theoretische Schwierigkeit steht einer unmittelbaren Anwendung der Erkenntnisse zunächst noch entgegen. Diese kann am Konzept der Hintergrundtheorie verdeutlicht werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass Erkenntnisweise im Allgemeinen, somit auch die Wahrnehmung eines ethischen Zusammenhangs, theoretisch vorgeprägt ist.12 Danach können zwei Personen zwar das gleiche Phänomen betrachten, sofern sich ihre Hintergrundannahmen unterscheiden, würden sie es aber verschieden bewerten.13 In ethischen Argumentationen kann zwischen individual- und sozialethischen Hintergrundtheorien unterschieden werden. Da die Theoriestränge entweder vom Vorrang des Individuums oder dem des sozialen Miteinanders ausgehen, schließen sich diese in einer strengen Lesart aus. Dass dies problematisch ist, wird im Hinblick auf das jeweilige Verantwortungsverständnis deutlich. Während in der individualethischen Tradition vor allem von einem autonomen Subjekt ausgegangen wird, wird die Verantwortung hier in erster Linie als Eigenverantwortung ausgelegt, und in dieser Lesart kommt sie ohne soziale Beteiligung aus. Dagegen wird auf sozialethischer Seite die Verantwortung bereits als soziale Verantwortung verstanden, sodass Eigenverantwortung in der oberen Form nicht gedacht werden kann. Sofern die Bezeichnung überhaupt genannt wird, weist der Begriff aber Unterschiede zu oberem auf.14 epigenetischem Wege ein erhöhtes Langzeitrisiko für die Manifestation des Me­ tabolischen Syndroms programmieren kann.“ (Plagemann 2013, 19) 12 In der Psychologie wird dieses erkenntnistheoretische Phänomen im Rahmen der Gestaltpsychologie thematisiert. Im wissenschaftstheoretischen Zusammenhang wurde es früh von Ludwik Fleck (1980) erkannt und er nimmt mit seiner Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv darauf Bezug. Damit leitete er (u. a.) hier den sog. „epistemic turn“ ein. 13 Tatsächlich kann auch eine zu homogene Erkenntnis problematisch sein, z. B. wenn gemeinsame theoretische Vorannahmen andere, hilfreichere Sichtweisen überblenden und somit eine Problemlösung systematisch behindern. 14 Das Präfix „Eigen-“ wird auf das Handlungsobjekt bezogen, wobei übrige Mo­ mente sozial interpretiert werden. Nur Selbstbezug ist gemeint. In dieser Zu­ spitzung haben beide Denktraditionen Kritik erfahren. Der Individualethik wird vorgeworfen, sie überschätze die Fähigkeiten des Subjekts und blende dessen

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Dieser Hinweis ist wichtig, da der öffentliche Epigenetikdiskurs „vorbelastet“ ist. Weiter oben wurde gezeigt (2, I, 3.2.2), dass bei der politischen Reform der sozialen Absicherungssysteme in Deutschland der Schwerpunkt auf die Veränderung des individuellen Verhaltens gelegt wurde. Dabei wurde der Autonomie des Subjekts der höchste Stellenwert eingeräumt – dies zeigte das Konzept der Gouvernementalität (2, I, 3.2.3). Wenn im öffentlichen Epigenetikdiskurs der Fokus auf Eigenverantwortung gelegt wird, ist die Verhaltensprävention angesprochen, wobei soziale Verantwortungsbezüge ausgeblendet werden. Der Diskurs ist also entsprechend vorgeprägt. Weil solche Übertragungsphänomene auch vor der Wissenschaft nicht Halt machen, dann aber die Erkenntnisweise und das Handeln einschlägig prägen, ist eine besondere Sorgfalt notwendig. Ob im Präventionsrahmen des MBS ein individualethischer Fokus angebracht ist, muss auf der Basis des aktuellen Wissens noch geprüft werden. Dieser erste Schritt ist notwendig, um weitere Übertragungen auf die folgende Verantwortungsermittlung zu verhindern. Gegebenenfalls ist der sozialethischen Position mehr Platz einzuräumen als der individualethischen.

2 Individualethik und Verhaltensprävention: Zur Rolle der Eigenverantwortung Bezugnehmend auf einen veränderten Wissensstand wird im öffentlichen Diskurs zur Epigenetik die zentrale Bedeutung der Eigen­ verantwortung bei der Prävention des MBS behauptet. An dieser biologischen Argumentation wird hier zunächst festgehalten. In einem ersten Schritt wird am Stand des Wissens geprüft, ob die obere Behauptung Bestand hat. In einem zweiten Schritt wird auf eine neue Debatte eingegangen, worin die Verantwortung der Schwangeren thematisiert wird. In beiden Fällen handelt es sich um eine individualethische Argumentation, die zu kritisieren ist.

soziale Bedingungen aus. Gegen die Sozialethik lässt sich einwenden, der Fokus auf die sozialen Bedingungen relativiere das Subjekt zu einer bloßen Folge die­ ser Bedingungen, ohne ihm einen unabhängigen Handlungsraum zuzubilligen (Strukturalismusvorwurf).

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2.1 Handlungsbereiche im Lichte epigenetischer Ätiologien Als Kennzeichen der Eigenverantwortung wurde die selbstbezügliche Handlung erkannt (2, II, 5), wonach sowohl das Subjekt (Handelnder) als auch das Objekt der Verantwortung (Gesundheit) sich auf die gleiche Person beziehen. Im Folgenden wird ermittelt, welche Handlungs- und somit auch potentiellen Verantwortungsbereiche sich von den vorgestellten epigenetischen Ätiologien des MBS ableiten lassen. Die Unterschiede werden herauspräpariert und im Lichte des jeweiligen Modells wird untersucht, ob Eigenverantwortung bei der Prävention des MBS von Bedeutung ist. Gemäß der bereits dargestellten PAR-Theorie gilt eine abweichende Ernährungsweise vom perinatalen Nahrungsangebot, an das das embryonale Stoffwechselsystem ursprünglich angepasst wurde, als Ursache (mismatch) für die Entwicklung eines MBS (2, III, 2.4.1). Danach wären zwei Eingriffsbereiche denkbar: die frühe epigenetische Anpassung und spätere Ernährungsumwelt. Während der frühen Entwicklung wird das embryonale Stoffwechselsystem an die vorhandenen Umweltbedingungen angepasst (Voll-/Mangelverwerter). Eine Voraussetzung der Verantwortung ist die Handlungsfähigkeit (2, II, 3.1). Da die Umweltbedingungen beeinflusst werden können (z. B. Ernährungsweise), stellen sie einen potentiell verantwortungsrelevanten Handlungsbereich dar. Jedoch ist es wichtig zu sehen, dass dieser erste Schritt im Hinblick auf die spätere Gesundheit zunächst noch neutral ist. Das Risiko, das MBS zu entwickeln, steigt nach der PAR-Theorie nämlich nur an, wenn die spätere Ernährung von der anfänglichen Adaption abweicht. Dies erst würde das Stoffwechselsystem überfordern und pathogen wirken. D.h. zu diesem Zeitpunkt wird weder die Erkrankung noch eine biologische Disposition zum MBS festgelegt. Was bedeutet dies im Hinblick auf die Eigenverantwortung? Zunächst ist klar, dass während der perinatalen Phase keine bewusste selbstbezügliche Handlung (Embryo) möglich ist, d. h. dass Eigenverantwortung prinzipiell nicht wahrgenommen werden kann. Allerdings spricht das nicht gegen eine frühe Verantwortung per se, etwa der Mutter. Gegen diese spricht jedoch der erwähnte Wissensmangel. Nach der PAR-Theorie resultiert Krankheit (bzw. Gesundheit) aus einem Verhältnis. Da zu dem frühen Zeitpunkt kein Wissen über die spätere Ernährungsumwelt vorliegen kann, die Zukunft ist unverfügbar, fehlt der Anhaltspunkt zur Handlungsausrichtung. Die für die Verantwortung notwendige Mittel/Zweck-Rationalität (2, II, https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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3.1) kann nicht ausgebildet werden. Der Schwangeren auf Grundlage der PAR-Theorie Verantwortung über die spätere Gesundheit ihres Kindes zuzusprechen, ist also aufgrund dieses unüberbrückbaren Wissensdefizits nicht möglich. Der erste Eingriffsbereich ist kein Verantwortungsbereich, streng genommen auch kein Handlungsbereich. Damit kommen wir zum zweiten Eingriffsbereich. Zum späteren Zeitpunkt, spätestens ab dem Moment der Volljährigkeit, ist die bewusste selbstbezügliche Handlung im Hinblick auf die Ernährung im Prinzip möglich. Zudem liegt nun unter Umständen auch Wissen um die frühe Ernährungsumwelt vor. Dieses zunächst potentielle Wissen muss dem Akteur zwar auch aktualiter vorliegen, damit er seine Handlung ausrichten kann (Mittel/ZweckRationalität). Doch spricht hier nichts Prinzipielles gegen die theoretischen Bedingungen von Handlung. Anders als beim frühen Eingriffsbereich handelt es sich hier um eine Handlungssituation. Weil diese Handlung eine selbstbezügliche wäre, ist sogar die Eigenverantwortung im definierten Sinne angesprochen. Doch handelt es sich wirklich um die im öffentlichen Diskurs genannte „epigenetische“ Eigenverantwortung, wonach die Gestaltung der Genregulation zu verantworten ist? Es ist wichtig zu sehen, dass gemäß der PAR-Theorie zum Handlungszeitpunkt nicht mehr auf epigenetischer Ebene eingegriffen wird. Die spätere Ernährungsweise verändert das während der perinatalen Phase epigenetisch erworbene metabolische Regelsystem nicht mehr – dieses ist stabil (2, III, 1.1). Weil die spätere Handlung daran angepasst wird, stellt sie nicht den im öffentlichen Diskurs zur Epigenetik gemeinten schöpferischen Akt dar, sondern ist eine Reaktion auf Vorgefundenes (der Begriff weicht also ab). Festzuhalten ist, dass dem Akteur Wissen um die Ernährungsweise während der Schwangerschaft sowie deren Relevanz für seine Gesundheit bekannt sein muss, um verantwortlich zu handeln. Gemäß der APR-Theorie gilt die Fehlentwicklung des metabolischen Regelsystems als Ursache für das MBS (2, III, 2.4.2). Bei dieser Theorie handelt es sich um eine Prägungstheorie. Anders als im Falle der PAR-Theorie begünstigt nicht ein Missverhältnis zwischen zwei Ereignisbereichen (mismatch) die Erkrankung am MBS, sondern hier ist die Prägungsphase entscheidend. Eine spätere Anpassung des Verhaltens (Korrektur) ist nicht möglich. Entsprechend gibt es nicht zwei, sondern lediglich einen Eingriffsbereich, welcher für die epigenetische Prävention vor dem MBS in Frage kommt. Sofern die Prägung ungestört verläuft, wird das metabolische Rehttps://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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gelsystem richtig ausgebildet. Im Falle einer Fehlprägung wird es nicht richtig ausgebildet, und da es nicht optimal funktioniert, wird es im Verlauf der Zeit überlastet. Diese Überlastung führt gemäß dem APR-Modell zum MBS. Die frühe Fehlprägung bedeutet hier – ganz anders als beim PAR-Modell – eine Disposition, d. h. eine Anfälligkeit für die Ausbildung des MBS. Sofern die epigenetische Prägung des embryonalen Stoffwechselsystems gezielt beeinflusst werden kann, liegt hier ein Handlungs- und potentieller Verantwortungsbereich vor. Dabei sollte der embryonale Prägekontext, das Stoffwechselsystem der Schwangeren, der während der Prägung als Normwert fungiert, optimal eingestellt werden können, d. h. es sollten keine Stoffwechselkrankheiten vorliegen. Da derartige Störquellen wie etwa Schwangerschaftsdiabetes medikamentös eingestellt werden können, lässt sich hier mit Recht ein Verantwortungsraum behaupten – auf weitere Einflussbereiche wird später eingegangen (2, IV, 2.3). Weil die Prägung in der perinatalen Phase erfolgt, d. h. hier keine bewussten selbstbezüglichen Handlungen möglich sind, und weil ein zweiter, späterer Handlungsbereich entfällt, spielt Eigenverantwortung im Lichte der APR-Theorie bei der Verursachung der Disposition zum MBS keine Rolle. Entgegen der PAR-Theorie liegt die Präventionsmöglichkeit im Handlungsbereich der Schwangeren. Dass sich die Verantwortung aber nicht auf die Schwangere beschränkt und eine rein biologische Betrachtungsweise nicht ausreicht, wird später dargestellt (2, IV, 3). Hier ist auf eine weitere Abweichung von der PAR-Theorie hinzuweisen. Von der APR-Theorie abgeleitete MBS-Präventionen (z. B. Prägungsstörung verhindern) beeinflussen unmittelbar die epigenetische Ebene; es handelt sich um eine epigenetische Prägung. Gemäß der PARTheorie kann zwar nicht von Eigenverantwortung gesprochen werden, jedoch ist die verbleibende Verantwortung durchaus als „epigenetische“ Verantwortung im Sinne des öffentlichen Diskurses zu sehen. Hier ist ein epigenetischer Einflussbereich zu verantworten. Wie der Überblick zeigt, haben die beiden epigenetischen Ätiologien unterschiedliche Folgen für die Verantwortungsdiskussion. Von beiden im Lichte der PAR-Theorie erkennbaren potentiellen Eingriffsbereichen erwies sich lediglich der spätere geeignet als Verantwortungsbereich. Diese Verantwortung könnte als Eigenverantwortung präzisiert werden. Entgegengesetzt dazu verhält sich die APR-Theorie. Danach sind präventive Handlungen ausschließlich während der frühen epigenetischen Prägephase möglich, sodass hier die Schwangere als Verantwortungsträger erscheint. Darüber https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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hinaus beziehen sich die abgeleiteten präventiven Handlungen in einem gänzlich verschiedenen Sinne auf die molekulare Ebene der Epigenetik und legen somit verschiedene Formen „epigenetischer“ Verantwortung fest. Gemäß der PAR-Theorie wird die Handlung durch eine bereits feststehende epigenetische Programmierung (diese wird nicht verändert) gelenkt – hier ist eine „epigenetische“ Verantwortung im weiten Sinne angesprochen. Gemäß der APR-Theorie zielt die Handlung unmittelbar auf die epigenetische Programmierung (diese wird beeinflusst) und spricht eine „epigenetische“ Verantwortung im engeren Sinne an. 2.2 Ausgangstheorie und Ausschluss der Eigenverantwortung Angesichts der erheblichen Unterschiede stellt sich die Frage, welche Theorie als Ausgangsbasis der weiteren Untersuchungen dienen kann. Dieser Entscheidung nähere ich mich schrittweise an: 1. Im öffentlichen Epigenetikdiskurs bezieht sich die „epigenetische“ Verantwortung unmittelbar auf die These einer „Steuerbarkeit“ der epigenetischen Prozesse (2, I, 2.2). Mit Blick auf die eben erfolgte Trennung in eine „epigenetische“ Verantwortung im weiten und eine im engen Sinne bezieht sich der öffentliche Diskurs lediglich auf die „epigenetische“ Verantwortung im engeren Sinne. Im Diskurs war eben nicht ein verantwortlicher Umgang mit bereits vorgefundenen epigenetischen Modifizierungen gemeint, sondern Verantwortung über ihre Gestaltung. Zwar erscheint gemäß der PAR-Theorie Eigenverantwortung plausibel, jedoch bezieht sich diese eben nicht wie im Diskurs auf die Gestaltung – auf die Gestaltung bezieht sich lediglich die von der APR-Theorie abgeleitete Verantwortung der Schwangeren. Jedoch zeugt dies lediglich von der Anschlussfähigkeit der APR-Theorie an die Themen des öffentlichen Epigenetikdiskurses – dadurch wird die PAR-Theorie nicht widerlegt. 2. Ein wichtiges Kriterium naturwissenschaftlicher Theorien ist die kausalursächliche Erklärung. Danach ist der Theorie der Vorzug zu geben, welche die zugrundeliegenden Wirkmechanismen benennen und die Phänomene auf dieser Basis durchgängig, d. h. kausal erklären kann. Es ist wichtig zu sehen, dass die Begründung der PAR-Theorie bisher ausschließlich mittels epidemiologischer Studien erfolgte. Epidemiologische Studien können aber für sich genommen lediglich Korrelationen erfassen, somit nur Aussagen https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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über das Zusammentreffen zweier (bzw. mehrerer) Ereignisse treffen. Ob zwischen diesen ein Kausalverhältnis besteht und welcher Mechanismus dieses bewirkt, vermögen sie nicht zu klären. Zwar ist eine hohe Korrelation zwischen zwei Ereignissen ein Indiz für einen Kausalzusammenhang, doch müssen weitere Untersuchungen das Wirkungsverhältnis klären und mögliche Konfundationen ausschließen. Derartige molekularwissenschaftliche Studien zur Ermittlung und Prüfung der Adaption an die frühe Umwelt liegen jedoch im Falle der PAR-Theorie nicht vor. Ein zugrundeliegender epigenetischer Mechanismus wird von den Vertretern der PAR-Theorie postuliert, nicht aber bewiesen. Ganz anders verhält es sich dagegen im Falle der APR-Theorie. Diese befindet sich in der Denktradition der sog. funktionellen Teratologie, deren Wirkmechanismen auf Hormonebene bereits früh nachgewiesen wurden (Dörner 2012). Plagemanns Verdienst ist es u. a., auf die tiefer liegenden Mechanismen auf epigenetischer Ebene hingewiesen zu haben, an deren Grundlagen er seither forscht. In einer eigens eingerichteten Arbeitsgruppe an der Charité werden unter anderem die Grundlagen epigenetischer Programmierung sowohl am Tiermodell als auch am Menschen experimentell untersucht.15 Epidemiologisch ermittelte Daten werden auf molekularwissenschaftlicher Ebene experimentell untersucht und nach Verursachungsmodellen wird gesucht. In diesem Zusammenhang stellte die Arbeitsgruppe bereits 2009 ein entsprechend fundiertes epigenetisches Modell der APRTheorie zur Erklärung von Übergewicht und MBS vor (Plagemann et al. 2009). Was bedeutet dies für die Legitimität der Theorien? Streng genommen widerlegt das Fehlen einer Kausalerklärung die PAR-Theorie nicht, da eine solche noch entdeckt werden könnte.16 Die APR-Theorie ist ihr hier voraus, da sie die Mechanismen benennen kann. 3. Ein weitaus stärkeres, wissenschaftstheoretisches Kriterium ist das der Falsifizierbarkeit. Zwar können Theorien nicht verifiziert, jedoch falsifiziert werden, und dafür reicht im Prinzip ein Gegenbeispiel aus.17 Ein solches liefert unter anderen Andreas Plage15 In der AG Perinatale Programmierung werden artübergreifende Mechanismen im Tiermodell (Huhn, Schaf) analysiert und die Erklärungslücken geschlossen: http://perinatal-programming.charite.de/arbeitsgruppe/ (Abruf: 31.03.2017). 16 Die PAR-Theorie hat bis dahin den Status einer Hypothese. 17 Grundlegend für die wissenschaftstheoretische Theorie des sog. Falsifikationis­­ mus ist Karl Poppers Werk (1994). Die Rede von „einem“ Gegenbeispiel muss in diesem Zusammenhang erklärt werden. Laut Popper reicht ein einzelnes d. h.

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mann. Er entwickelt seine APR-Theorie aufgrund einer erheblichen Schwäche der PAR-Theorie weiter. Deren theoretisches Fundament, die Match/Mismatch-Theorie, prognostiziert in einem Fall gänzlich andere Folgen als jene, die sich experimentell nachweisen lassen. Aufgrund der Match-These sollte der Organismus im Falle einer frühen energiereichen Ernährung an eine spätere energiereiche Lebenswelt angepasst sein. Tatsächlich ist aber das Gegenteil der Fall. Wenn Schwangerschaftsdiabetes vorliegt oder die Schwangere sich hochkalorisch ernährt, führt dies zu einem hohen Blutzuckerspiegel und der löst entsprechende Hormonantworten aus. Dies wirkt auf den sich entwickelnden Organismus und sollte gemäß der PAR-Theorie dessen Stoffwechselsystem auf eine reiche Ernährung einstellen. Tatsächlich leiden aber die meisten dieser Nachkommen am MBS, obgleich ihr Lebensstil eigentlich der erwarteten Umwelt entspricht (Plagemann 2012, 248). Dieses in Ländern mit hohem Lebensstandard wie Deutschland häufig auftretende Phänomen ist mit der PAR-Theorie nicht erklärbar. Darüber hinaus würde ein auf dieser Theorie aufbauendes Präventionsprogramm sogar zu einer Verschlimmerung der Lage führen. Tatsächlich wurde nicht nur der eine Arm der Match-Hypothese (reich/reich) widerlegt, sondern auch der andere (arm/arm). Gegen die Anpassungsthese an eine arme Ernährungsumwelt spricht eine Serie von Studien. So zeigen mehrere Tierstudien, dass Mangelernährung während der perinatalen Phase generell zu einer schlechteren Entwicklung führt, wobei die Entwicklung unter späteren Mangelbedingungen – anders als die PAR-Theorie prognostiziert – sogar noch negativer ausfällt (Reid et al. 2006; Taborsky 2006). Epidemiologische Langzeitstudien haben diesen Aspekt auch am Menschen bestätigt (Hayward & Lummaa 2013). Während diese Fälle die PAR-Theorie widerlegen, kann die APR-Theorie die Phäim konkreten Raum/Zeit Gebiet einmalig auftretendes Ereignis nicht zum fal­­ sifizieren einer Theorie aus sondern es bedarf einer sog. homotypen Klasse von Ereignissen (Vorgang). Eine Theorie gilt nämlich erst dann als falsifiziert, „wenn ein die Theorie widerlegender Effekt aufgefunden wird; anders ausgedrückt: wenn eine (diesen Effekt beschreibende) empirische Hypothese von nied­ riger Allgemeinheitsstufe, die der Theorie widerspricht, aufgestellt wird und sich be­währt. Eine solche Hypothese nennen wir falsifizierende Hypothese“ (Popper 1994, 54). Wie aus dem Folgetext hervorgeht erfüllt Plagemann beide Bedingungen: 1. homotype Klasse – die meisten Nachkommen mit frühkind­ lich hochkalori­scher Ernährung sind nicht angepasst, sondern leiden am MBS; 2. falsifizierende Hypothese – eben dieses Phänomen, die Nichtanpassung, bzw. Erkrankung am MBS, wird durch seine APR-Theorie erklärt.

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nomene erklären. Danach stellt sowohl die frühe reiche als auch die arme Ernährungsweise eine Abweichung vom idealen Richtwert dar, welcher die Prägung ermöglicht, und diese Störung führt zu einer Fehlprägung des Stoffwechselsystems. Diese Fälle widerlegen die PAR-Theorie und bestätigen die APR-Theorie.18 4. Schließlich liegt ein letzter Schwachpunkt der PAR-Theorie in ihrer Hervorhebung der externen Umweltbedingungen. Sie behauptet einen evolvierten Adaptionsmechanismus; der an die frühen Umweltverhältnisse angepasste Organismus hat in einer stabilen Umwelt einen Selektionsvorteil. Dass der Organismus für das Umweltverständnis entscheidend ist, wurde bereits gezeigt (1, IV, 4). Neuere Untersuchungen bestätigen dessen zentralen Stellenwert indem sie zeigen, dass nicht die frühen Umweltbedingungen entscheiden, sondern der Zustand des maternalen Organismus, welcher nicht unbedingt von den aktuellen Umweltverhältnissen abhängen muss (Wells 2003; 2010; 2012). Während diese Ergebnisse die Adaptionsthese der PAR-Theorie in Frage stellen, bestätigen sie die APR-Theorie. Die APR-Theorie schreibt dem Organismus die zentrale Rolle zu, wenn sie die Übertragbarkeit eines defizitären Zustandes des maternalen Organismus auf die folgenden Generationen behauptet und vor dem transgenerationalen Teufelskreis warnt (2, III, 2.4.2). 18 Allerdings hat auch Plagemanns APR-Theorie Schwächen. Der im Zuge der Globalisierung erfolgte Kulturwandel hat epidemische Folgen. So weisen im Wandel befindliche Gesellschaften, wie z. B. in Nordafrika oder Asien, die höchs­ ten Diabetesraten weltweit auf. Dieses Phänomen aus jüngerer Zeit wird auf die Umstellung des traditionellen Lebens auf einen westlichen Lebensstil zurück­­ geführt, den Bewegungsmangel einerseits und Nahrungsreichtum andererseits kennzeichnen. Das gleiche Phänomen ist auch bei Migranten, die längere Zeit in „reichen“ Ländern wie Deutschland leben, bekannt (Aparicio et al. 2005). Die Entstehung der Krankheiten kann das PAR-Modell auf der Basis der Mismatch-­ Theorie erklären. Das in der frühen Mangelumwelt auf maximale Nahrungsver­ wertung programmierte Stoffwechselsystem funktioniert auch in der späteren, energiereichen Umwelt nach dem gleichen Prinzip – dies erweist sich hier aller­ dings als Nachteil. Das in Folge dessen gehäuft entwickelte MBS ist gemäß der PAR-Theorie die Folge der Abweichung zwischen frühem Mangel und später Nahrungssicherheit. Hier wird das APR-Modell herausgefordert. Der plötzliche Anstieg des MBS bei Personen mit Migrationshintergrund kann nicht nur durch eine frühe Fehlprägung erklärt werden, weil Personen, die im späteren Leben weiter in der anfänglichen Umwelt leben, ungleich seltener am MBS leiden als jene nach dem Kulturwandel. Die APR-Theorie kann aber durch eine Zusatzan­ nahme gerettet werden. So ist es plausibel, dass die hochkalorische Ernährung in der neuen Umwelt ein fehlgeprägtes Stoffwechselsystem stärker herausfordert, was im Durchschnitt häufiger zu einer Erkrankung führt.

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Aus den dargelegten Gründen entscheide ich mich für die APRTheorie als Ausgangspunkt der Verantwortungsdebatte. Im Lichte beider Ätiologien hat jene im öffentlichen Epigenetikdiskurs behauptete Eigenverantwortung über die (Selbst-)Verursachung pathogener Genaktivitätsmuster keine Bedeutung. Eine davon abweichende Eigenverantwortung blieb im Rahmen der PAR-Theorie zwar bestehen, sie wird aber mit der Widerlegung dieser Theorie hinfällig. Im Rahmen der verbleibenden APR-Theorie spielt die Eigenverantwortung keine Rolle für die Prävention. Da die Thematisierung der Eigenverantwortung im öffentlichen Diskurs also keinen Ursprung in den epigenetischen Ätiologien hat, ist von anderen Ursachen auszugehen. Es wurde bereits gezeigt, dass dieser Diskurs nicht eigenständig, sondern eingebettet in einen zeitlich vorhergehenden Gesundheitsdiskurs entstand (2, I, 3.3). Weil letzterer durch die Reformdebatte zu den sozialen Absicherungssystemen entlang dem Leitbild selbstregulativer Bürger geprägt wurde und dabei der Eigenverantwortung eine zentrale Position zufällt, ist von einer Übertragung auszugehen. Wenn ich im Folgenden nicht mehr auf die Eigenverantwortung eingehe, behaupte ich nicht, dass Eigenverantwortung im Präventionskontext des MBS per se sinnlos ist,19 sondern lediglich, dass im Rahmen der hier anvisierten „epigenetischen“ Verantwortung keine Belege dafür zu finden sind. 2.3 Möglichkeiten und Grenzen der Verantwortung von Schwangeren Weil die bisher angewandten sekundärpräventiven Maßnahmen zur Verhinderung des MBS nicht wirken und die Erkrankungsrate in der Bevölkerung ansteigt, plädieren Perinatologen für frühe Interventionen. Dabei wird die Verantwortung der Schwangeren thematisiert. In der Fachdebatte wird dieses Thema kontrovers diskutiert. Beide Seiten werden nun kurz vorgestellt und diskutiert. 19 Z. B. muss sich die Schwangere selbst als Verantwortungsobjekt betrachten, ob­ gleich nicht im Sinne epigenetischer Verantwortung. Auf sich Acht zu geben ist gerade in der Schwangerschaft wichtig. Diese Eigenverantwortung ist eine Teilverantwortung: Es besteht noch eine Verantwortung gegenüber dem Kind. Im Idealfall deckt sich dabei die Selbstsorge gegenüber dem eigenen Wohl mit der Fürsorge gegenüber dem Wohl des Fötus. Problematisch wird die Beziehung dann, wenn beide Ziele voneinander abweichen. Dieses Szenario ist allerdings kein genuin epigenetisches.

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Oben wurde dargestellt, dass in der perinatalen Entwicklung eine epigenetische Programmierung des Stoffwechselsystems stattfindet. Gemäß der APR-Theorie werden die zentralnervösen hypothalamischen Regelzentren von Nahrungsaufnahme und Stoffwechsel auf einen Soll-Wert festgelegt, der dann die Nahrungsverwertung bestimmt. Das Besondere an dieser Entwicklung ist, dass sie nicht nach einem genetischen Muster verläuft, sondern nach einem Rückkopplungsprozess entlang von Umweltreizen. Da die Prägeumwelt während dieser Phase aus dem Organismus der Schwangeren besteht, kann sich eine Störung ihres Stoffwechselsystems auf das Embryo übertragen und später zu einem MBS führen. Wie kann dagegen vorgegangen werden? Weil in westlichen Ländern bei etwa einem Drittel aller Schwangerschaften eine Überernährung auftritt und die Entwicklung eines MBS begünstigt, gilt es, vor allem diese zu beheben. Wie bereits gezeigt, setzt die Verantwortungszuschreibung einen Handlungsbereich voraus. In diesem Kontext weist der Perinatologe Andreas Plagemann (2013, 20) auf folgende Handlungsbereiche der Mutter hin: 1. Eine Überernährung in der Schwangerschaft soll grundsätzlich vermieden werden. Dies ist insbesondere wegen des verbreiteten Glaubens wichtig, dass Schwangere „für zwei“ essen sollen. Eine solche Überernährung ist wegen des Bewegungsmangels in der Schwangerschaft besonders problematisch. Plagemann empfiehlt, mit einem Normalgewicht in die Schwangerschaft zu gehen und in der epigenetisch besonders wichtigen Phase vom Ende des zweiten Trimesters bis zur Geburt zwischen 200-300 Kalorien/Tag zusätzlich zur gewohnten Nahrung zu sich zu nehmen. 2. Ein Schwangerschaftsdiabetes soll vermieden bzw. therapiert werden. Da dieser Diabetes nicht unmittelbar erkennbar ist, ist ein Glukoseintoleranz-Screening notwendig. Dieses Screening ist zwar seit 2012 verbindlicher Bestandteil der Mutterschaftsrichtlinien, doch bedürfen die Normwerte der Nachbesserung. Wollte man die Makrosomieprävalenz langfristig (statt aktuell 20 %) auf 10 % drücken, sollte der Glukosewert im nüchternen Zustand statt aktuell 92-95 mg/dl auf 80-84 mg/dl festgelegt werden. Den zu erreichen ist mit einem erheblichen Mehraufwand verbunden. Hier wäre eine Umstellung der Ernährung, körperliche Aktivität und, wenn Diabetes vorliegt, eine medikamentöse Therapie des Diabetes mittels einer Insulinsubstitution hilfreich. 3. Schließlich soll das Stillen stärker propagiert werden. Weil jeder Monat, in dem ein Kind mehr gestillt wird, das Risiko für ein https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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späteres Übergewicht um 4 % reduziert, senkt das Stillen bis zum 7.-9. Monat nach der Geburt das Übergewichtsrisiko dauerhaft um ein Drittel. Da sekundäre Präventionsmaßnahmen weder so „kostengünstig“ noch so effizient sind und diese Maßnahme zudem die Mutter-Kind-Bindung stärkt, scheint sie besonders ratsam. Diese drei Präventionsmaßnahmen setzen zu einer Zeit an, zu der das metabolische Regelsystem ausgebildet wird. Nach Plagemann handelt es sich also um epigenetische Präventionsmaßnahmen im engeren Sinne, da sie jenen epigenetischen Fehlprägungen vorbeugen, welche die Disposition zum MBS bewirken. Zudem würden die Maßnahmen helfen, einen transgenerationalen Teufelskreis zu unterbrechen, der entsteht, weil am MBS leidende Schwangere das Krankheitsrisiko im Verlauf der epigenetischen Prägung auf die folgende Generation übertragen und deren Krankheit dann die folgende Generation belastet. Der transgenerationale Übertragungsmechanismus ist besonders stabil und erklärt die anhaltend hohe MBS-Prävalenz in der Bevölkerung. Durch die genannten Maßnahmen kann die Übertragung unterbrochen und der Teufelskreis gestoppt werden. Plagemann steht beispielhaft für die DOHAD-Bewegung, welche von der frühen Entwicklung von Zivilisationskrankheiten ausgeht. Ihre Präventionsvorschläge beziehen sich insgesamt auf den Handlungsbereich der Schwangeren. Dass sich die Debatte um eine epigenetische Prävention von der Eigenverantwortung auf die Verantwortung der Mutter verlagert, ist im Fachdiskurs nicht unbemerkt geblieben und erste Kritik wird laut. So wirft ein Autorenteam um die Wissenschaftshistorikerin Sarah Richardson den Epigenetikern vor, vorzeitig Schlüsse zu ziehen und damit zur Überforderung der Mütter beizutragen (Richardson et al. 2014a). Ihr auch in Deutsch vorliegender Artikel (Richardson et al. 2014b) erregte internationales Aufsehen in der Fachwelt und wurde auch in der deutschen Tagespresse aufgegriffen (Kastilan 2014; Wewetzer 2014).20 Ihre Kritik wird kurz dargestellt. Die Autoren nehmen Stellung zu einer übertriebenen Auslegung der epigenetischen Ergebnisse.21 Danach eignen sich die neu-

20 Da es sich um ein populärwissenschaftliches Journal handelt, entfaltet diese Kri­tik zudem Breitenwirkung und auch wissenschaftliche Laien melden sich in Inter­netforen zu Wort (Mandanas 2014). 21 Sie ordnen sich übrigens selbst der DOHAD-Bewegung zu und wollen, da sie die Erkenntnisse der Epigenetik im Grunde teilen, vor einer sich abzeichnenden Fehlentwicklung warnen.

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en Erkenntnisse zwar, zur Präventionsunterstützung eingesetzt zu werden, doch bergen sie die Gefahr, Mütter ungerechtfertigt zu einem Sündenbock zu stilisieren und würden die bereits vorherrschende Überwachung und Überregulierung von Schwangeren nur weiter verstärken. Dies wäre kontraproduktiv, da statt der Kooperation eine Gegenreaktion der Mütter bewirkt würde. Die Autoren appellieren daher an verantwortliche Wissenschaftler, Redakteure und Journalisten, diese Diskussion nicht zu verstärken. Der einseitige Fokus auf die Verantwortung der Mütter hat nämlich eine Vorgeschichte. Anhand von Beispielen können die Autoren zeigen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse über präventive Möglichkeiten der Mütter weniger im Hinblick auf Behandlungsmöglichkeiten, sondern vor allem auf die negativen Folgen thematisiert wurden, und dass sich dies stets kontraproduktiv auswirkte. Zudem blendet der Fokus auf die Mütter systematisch die Verantwortung der Väter aus, deren biologische Beeinflussung der Kinder (Bsp. schlechte Spermienqualität) zwar ungewiss ist, doch ist es eine triviale Einsicht, dass gerade die Väter die Psyche der Schwangeren besonders beeinflussen und somit zumindest indirekt zur epigenetischen Prägung beitragen. Daher sollten die epigenetischen Erkenntnisse zu einer Verbesserung der Lebensqualität der Mütter und Väter verwendet, Schuldzuweisungen aber unterlassen werden. Auch solle die individuelle Situation der Eltern beachtet werden, um nicht zu Verantwortungsüberforderungen zu führen.22 Während Plagemann vor allem den Handlungsraum der Schwangeren betont, verdeutlicht Richardson die Schwierigkeiten, welche damit einhergehen – sie fordern einen sozialethischen Perspektivenwechsel. Beide Positionen haben einen „wahren Kern“. Plagemann argumentiert aus einer biologischen Sicht und erkennt das Entwicklungsensemble aus Schwangeren und Embryo als Ziel der

22 Die Autoren formulieren dazu vier Vorschläge: 1. die Übertragung der Er­­ kenntnisse aus der Tierforschung auf Menschen ist zu unterlassen; 2. mater­ nale und paternale Effekte sollten betont und blinde Flecken beseitigt werden; 3. die Komplexität aller Wirkursachen (nicht nur intrauteriner Faktoren) ist zu vermitteln; 4. ein Wechsel von der individuellen zur so­zialen Perspektive solle erfolgen und die Rolle der Gesellschaft (MBS korreliert mit der sozialen Schicht, Einkommen, Geschlecht) beachtet werden. Erst durch die Umsetzung dieser vier Vorschläge könne die Erkrankungsprävalenz gesenkt werden, ohne Schwangere zu belasten. Die Kritiker richten sich also nicht gegen eine Prä­ ventionsbedeutung der neuen Erkenntnisse, sondern sprechen sich für eine sorgfältige Umsetzung aus.

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präventiven Interventionen. Richardson argumentiert aus einer historischen Sicht und erkennt, dass ein rein individualethischer Fokus auf die Schwangere zu Überforderungen führt. Sie plädiert für eine sozialethische Sicht, wonach weitere Verantwortungsträger einzubeziehen sind. Wenn hier nun die sozialethische einer individualethischen Position entgegengestellt wird, so ist der Widerspruch aber nur ein vordergründiger. Richardson teilt Plagemanns Meinung, dass frühe Interventionen stattfinden sollten.23 Wenn weitere Akteure in die Verantwortungsdebatte einzubeziehen sind, muss Richardson doch einräumen, dass zwischen den Akteuren weiterhin ein bedeutender Unterschied besteht. Aufgrund der biologischen Vorbedingungen (Prägekontext) ist die Schwangere der Dreh- und Angelpunkt einer solchen frühen Prävention des MBS. Die individualethische Ausrichtung bleibt daher bestehen, ist aber um die sozialethische Dimension zu erweitern, nämlich um jene Akteure, welche die präventiven Maßnahmen überhaupt ermöglichen. Im Hinblick auf die Verantwortungsüberforderung der Schwangeren ist ein weiterer Punkt von Bedeutung. Bezugnehmend auf die gegenwärtige ethische Debatte um Adipositas empfiehlt der Philosoph Tsjalling Swierstra (2011), von vorangegangenen Diskursen zu lernen. Diese zeigten nämlich, dass jene Diskurse, die auf das Verhalten abzielten, individualisierten und moralisierten – darauf wiesen auch Richardson et al. hin. Diskurse, welche sich auf (Umwelt-)Verhältnisse bezogen, politisierten, individualisierten aber nicht. Diskurse, die sich auf Körper bezogen, individualisierten, doch moralisierten nicht. Die Bezüge, zu welchen die Verantwortungsdebatte gesetzt wird, haben also Einfluss auf die Moralisierung der Situation. Solche Moralisierung wird von den Betroffenen als Schuldzuschreibung empfunden und trägt zu ihrer Überforderung bei. Wenn im Folgenden die Verhaltensprävention der Schwangeren anvisiert wird und Überforderung möglichst verhindert werden soll, ist es wichtig, die beiden Themenbereiche Verhältnisse und Körper mit einzubeziehen.

23 Indem sie diese Grundannahmen teilt, trägt sie implizit zur psychischen Belas­ tung der Schwangeren bei: Dass mit der Eröffnung eines Handlungsraumes auch die Eröffnung eines Risikoraumes verbunden ist und letzterer zu einer psychi­ schen Zusatzbelastung führt, wurde gezeigt (2, II, 3.3).

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3 Sozialethik und Verhältnisprävention: Über ein Verantwortungsnetzwerk Es wurde gezeigt, dass ein auf das Individuum beschränktes epigenetisches Präventionskonzept gegen das MBS problematisch ist. Angesichts einer rapide steigenden Erkrankungsrate am MBS und der durch die Erkenntnisse der Epigenetik entstandenen Interventionsmöglichkeiten kann die Antwort auf dieses Problem nicht in der Zurückweisung der Verantwortung Einzelner liegen. Stattdessen wird für eine Erweiterung der Sichtweise plädiert. Im Folgenden werden zusätzliche Verantwortungsakteure ermittelt, die die Verantwortungsübernahme des Einzelnen ermöglichen. 3.1 Akteur/Struktur-Modell als Ermittlungsheuristik Es wurde gezeigt, dass die biologischen Grundlagen für eine „epigenetische“ Prävention des MBS weitgehend gegeben sind. Die temporalen Bezüge, die Interventionsmöglichkeiten und die Akteure der Prävention sind bekannt. Kann also bereits von einer spezifisch epigenetischen Verantwortung der Schwangeren für die Gesundheit ihres Kindes ausgegangen werden? Nein. Um eine solche zusprechen zu können, müssen über die biologischen Bedingungen hinaus auch die Handlungsbedingungen des Verantwortungssubjekts erfüllt sein. Jede Zuschreibung von Verantwortung setzt die Möglichkeit einer prospektiven Verantwortungsübernahme voraus (2, II, 3.2). Die Bedingungen für eine Verantwortungsübernahme sind gegenwärtig aber nicht erfüllt, besonders nicht für PublicHealth-Maßnahmen, welche sich auf die gesamte Bevölkerung beziehen. Diese sind u. a. deswegen nicht möglich, weil im öffentlichen Epigenetikdiskurs von einem irreleitenden Wissen (Eigenverantwortung) ausgegangen wird. Auch sind die Erkenntnisse der Epigenetik nur Teilen der Bevölkerung bekannt. Insbesondere jenen, welche durch das MBS bedroht sind, ist dieses Wissen aber unbekannt. Doch ist das prekäre Wissen in der Bevölkerung nur eines der kritischen Faktoren – auf sie wird gleich eingegangen. Hier ist der entscheidende Punkt der folgende: Vor Interventionen, welche das Verhalten der Einzelnen ändern sollen, müssen Interventionen die Bedingungen für erstere bereitstellen: jede Verhaltensprävention setzt eine Verhältnisprävention voraus. Im Hinblick auf die Verantwortungsdebatte heißt dies: Bevor von einer Verantwortung der https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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unmittelbar betroffenen Schwangeren ausgegangen werden kann, müssen ihre Handlungsbedingungen hergestellt werden, und dafür sind andere verantwortlich. Dass die Erkenntnisse der Epigenetik insbesondere eine sozialethische Form der Verantwortung ansprechen, ist im politischen Diskurs nicht unbemerkt geblieben. Die Politikwissenschaftlerin Maria Hedlund widmet sich im Artikel „Epigenetic Responsibility“ dieser Herausforderung. Zur Strukturierung der sozialen Bezüge einer epigenetischen Verantwortung schlägt Hedlund (2012) das Akteur/Struktur-Modell vor, wonach bei der Ermittlung der Verantwortungsbereiche über die unmittelbaren Akteure (biologische Verursachung) hinaus auch jene Akteure einbezogen werden, welche die präventiven Handlungen erst ermöglichen. Das Akteur/ Struktur-Modell basiert auf einem Fähigkeitsansatz. Die verschiedenen Verantwortungsbereiche werden auf der Grundlage der Einflussmöglichkeiten voneinander abgegrenzt. Dieses handlungstheoretische Modell berücksichtigt sowohl, dass einzelne Akteure einen Handlungsbereich haben, als auch dass zum Gelingen dieser Handlung die Berücksichtigung weiterer Faktoren notwendig ist, die sich ihrem Einflussbereich aber entziehen, somit aus ihrer subjektiven Perspektive als strukturelle Faktoren erscheinen. Die Ermittlung der Handlungsakteure erfolgt dynamisch, d. h. es wird nicht von einem feststehenden Akteur/Struktur-Verhältnis ausgegangen, sondern es wird stets eine konkrete Situation untersucht. Hedlund verdeutlicht diesen Zusammenhang mit einem Beispiel: „From the point of view of the individual, factors that the individual her/ himself definitely can affect, like diet, smoking or exercise habits, clearly are actor related factors, while factors like living conditions, the availability of health care or gender relations are factors that the individual her/himself definitely cannot directly affect (although in some cases indirectly and in the long run) clearly are structure related factors. However, from the perspective of society or the state, factors here categorised as structures, more or less could be affected by state or other institution, i. e. some kind of actors“ (Hedlund 2012, 181). Während aus der Perspektive von Individuen der Lebensstil als Einflussbereich erkannt wird, da Bürger in einer liberalen Gesellschaft im Prinzip frei über ihr Leben entscheiden können, haben diese aber über die weiteren Rahmenbedingungen der Gesundheit nur wenig Einfluss. Invers verhält es sich z. B. aus der Perspektive politischer Akteure. Zwar kann der Gesetzgeber über Rahmenbedingungen entscheiden, doch kann er den Lebensstil der https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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Individuen nicht bestimmen – gemäß seiner Perspektive zählt also der individuelle Lebensstil als ein struktureller Faktor.24 Das Akteur/Struktur-Modell lässt sich über die Strukturierung hinaus auch als eine Heuristik zur Ermittlung weiterer Verantwortungsträger verwenden. Ausgehend von den Handlungsgrenzen der einzelnen Betroffenen, die im Lichte dieses Modells als Strukturmomente bezeichnet werden können, ist es möglich, die dahinterliegenden Verantwortungsakteure zu ermitteln. Dabei ist an das Ziel der Verantwortungsermittlung zu erinnern, die Verhinderung der Entstehung des MBS. Aus einer biologischen Sichtweise stellt die Schwangere die entscheidende Schnittstelle bei der Prägung des metabolischen Regelsystems des Kindes dar, das, sofern seine Prägung misslingt, zu einer Disposition zum MBS führt. Zur Ermittlung der weiteren Verantwortungsakteure wird von den Strukturmomenten ausgegangen, welche die Verantwortungsübernahme der Schwangeren ermöglichen. Weil die Handlungsmöglichkeiten von Person zu Person abweichen können, wäre es wichtig, die individuelle Situation zu berücksichtigen. Weil aber bei der Entwicklung eines Präventionsprogramms kaum alle individuellen Verhältnisse berücksichtigt werden können, wird der Ansatzpunkt der Prävention auf zwei Zielgruppen beschränkt. Im ersten Schritt wird gemäß des universellen Präventionsansatzes, der sich auf alle Schwangeren ungeachtet ihrer individuellen Unterschiede bezieht, nur auf die allgemeinen Einflussbereiche eingegangen. Entlang ihrer gemeinsamen Handlungsgrenzen werden Akteure eines allgemeinen Verantwortungsnetzwerks ermittelt. Weil ein 24 Da im Beispiel verschiedene Handlungsbereiche betont werden, die sich zunächst unverbunden gegenüber stehen, kann der Eindruck entstehen, das Modell eig­­ ne sich nicht zur erfolgreichen Prävention des MBS. Im schlimmsten Falle hätte die Anpassung der Rahmenbedingungen keinen Einfluss auf die Gesundheit der Bevölkerung, dies nämlich, wenn die Bürger die Angebote nicht nutzten. Dies scheint denkbar, weil das Modell die autonomen Handlungsspähren voneinander abgrenzt. Doch liegt ein Missverständnis vor. Durch das Akteur/Struktur-Modell werden nicht nur Handlungsbereiche voneinander abgegrenzt, sondern es wird eine besondere Verantwortung darüber behauptet. Danach ist jeder für seinen Einflussbereich verantwortlich, d. h. der Staat für die optimale Gesundheitsver­ sorgung und der Bürger für deren Wahrnehmung. Die vermeintliche Schwäche ist die Stärke des Modells, da, falls die Handlungsgrenzen eingehalten werden, keine Autonomieverletzungen möglich sind und dennoch – sofern alle verant­ wortlich handeln – Prävention möglich ist. Das Modell verdeutlicht die Notwen­­ digkeit eines umfassenden Verantwortungsnetzwerks: Fällt einer der Verantwor­­ tungsakteure aus, ist das Ziel gefährdet. Daher stellt sich die Frage, wie dieses Verantwortungsnetzwerk systematisch erfasst und implementiert werden kann.

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solches Vorgehen aber wichtige Einflussbereiche ausblendet, wird im zweiten Schritt auf der Grundlage des zielgruppenspezifischen Präventionsansatzes auch auf Akteure eines speziellen Verantwortungsnetzes eingegangen, wobei nun speziell jene Schwangeren Beachtung finden, bei denen das Risiko, das MBS zu entwickeln, erwiesenermaßen besonders hoch ist. Beide verbleibende Abschnitte sind darüber hinaus in einer zeitlichen Hinsicht der Primärprävention zuzuordnen. Ihr Ziel ist es nämlich, bereits die epigenetische Disposition zum MBS zu verhindern. Dies wäre ein erheblicher Zugewinn, da die gegenwärtigen Präventionsmaßnahmen gegen das MBS weitgehend sekundärpräventiver Art sind, somit erst bei symptomatisch Betroffenen ansetzen. Dass die Epigenetik ein wichtiger Impulsgeber für die Primärprävention des MBS ist, wurde bereits festgestellt (AssmannStiftung 2015). Nun ist es wichtig, die Erkenntnis möglichst bald auch in die Praxis von Public-Health-Maßnahmen umzusetzen, um so die Ausbreitung des MBS einzudämmen. Das Ziel der nächsten Abschnitte ist es, ein umfassendes Verantwortungsnetzwerk zu entwickeln, bestehend aus all jenen Akteuren, die bei der Prävention vor dem MBS Beachtung finden sollten. 3.2 Verantwortungsakteure universeller Primärprävention Der hier verfolgte Präventionsansatz entspricht der Verhaltensprävention. Damit diese gelingen kann, ist es notwendig, die strukturellen Handlungsgrenzen der Schwangeren zu ermitteln und zu beheben. Zur Ermittlung dieser Handlungsgrenzen gehe ich zunächst auf die Verantwortung der Schwangeren ein und stelle sie im Rahmen des relationalen Verantwortungsbegriffes kurz vor. Ausgehend von den strukturellen Grenzen der Schwangeren werden Akteure ermittelt, die diese Grenzen beheben und dadurch Präventionshandlungen der Schwangeren ermöglichen können. Das Verantwortungssubjekt ist die Schwangere. Im Hinblick auf das Verantwortungsobjekt denkt man zunächst an die Gesundheit des Kindes. Doch selbst wenn alle Verantwortungsbedingungen gewährleistet sind, bleibt eine strukturelle Grenze erhalten. Über Gesundheit kann nicht verfügt werden. Dies liegt nur zum Teil am Wissensstand. Wichtiger ist, dass stochastisch vorkommende Zufallsprozesse auf molekularer Ebene eine Erkrankung hervorrufen können und diese nicht ausgeschlossen werden können. Weil nur präventive Handlungen kontrolliert werden können – nicht die Gehttps://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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sundheit – ist das Verantwortungsobjekt auf die Rahmenbedingungen der Gesundheit des Kindes einzuschränken. Im Hinblick auf die Verantwortungsnorm ist daran zu erinnern, dass die Erkenntnisse der Epigenetik sich nur indirekt auf diese beziehen. Dieses Wissen hat keine neuen Normen zur Folge, sondern eröffnet Handlungsmöglichkeiten, auf deren Basis bereits bestehende Normen zur Prävention des MBS umgesetzt werden: Im Präventionskontext zum MBS und im Verhältnis zwischen der Schwangeren und ihrem Kind spielt die Fürsorgepflicht, bzw. negativ gewendet Schadensvermeidung, die zentrale Rolle. Schließlich ist die Verantwortungsinstanz genauer zu benennen. Weiter oben wurde festgestellt, dass vor allem die unmittelbar Betroffenen als Verantwortungsinstanz in Frage kommen. Insofern es sich zum Zeitpunkt der Prävention aber um das noch ungeborene Leben handelt und Verantwortungszuschreibungen von dieser Seite zu spät kämen, ist an andere Personen zu denken, welche dessen Interessen antizipieren können und für diese rechtzeitig eintreten. Dabei ist an die unmittelbare Familie, darüber hinaus die gesamte Moralgemeinschaft zu denken. Zusammenfassen lässt sich die Verantwortungssituation wie folgt: Die Schwangere ist für die Entwicklung der Rahmenbedingungen der Gesundheit ihres Kindes vor der moralischen Gemeinschaft aufgrund der Norm der Fürsorgepflicht verantwortlich. Geht man von der Schwangeren als Verantwortungssubjekt aus, so wird vorausgesetzt, dass sie in einer entsprechenden Weise handeln kann. Es wurde gezeigt, dass der biologische Zustand der Schwangeren die epigenetische Prägung des embryonalen Stoffwechselsystems beeinflusst und dabei entstandene Fehlprägungen eine Disposition zum MBS bewirken. Soweit handelt es sich um einen Kausalzusammenhang. Eine Grundvoraussetzung der Handlungsmöglichkeit ist, dass Interventionen möglich sind, also dass der Ablauf dieser Zusammenhänge auch beeinflusst werden kann. Andreas Plagemann hatte drei Präventionsarten dargestellt, durch die das Risiko einer epigenetischen Fehlprägung unterbunden und somit die Disposition zum MBS verhindert werden kann (2, IV, 2.2). Dies zeigt, dass eine Handlung im Prinzip möglich ist. Um von einer Handlung im engeren Sinne sprechen zu können, müssen über diese prinzipiellen Möglichkeiten der Intervention hinaus weitere subjektive Handlungsbedingungen erfüllt werden. Diese waren Absicht, Wissensstand und Freiwilligkeit (2, II, 3.1). Handlungen setzen eine willentliche Absicht voraus und sind daher genauer als zweckgerichtete Akte zu verstehen. Die Absicht https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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im Rahmen des Fallbeispiels ist die Präventionsabsicht. Dass die Schwangere ein entsprechendes Interesse an der Gesundheit ihres zukünftigen Kindes hat, kann vorausgesetzt werden. Für die Präventionsabsicht ist es notwendig, dass sie zudem über die Möglichkeit und die Mittel zur Prävention Bescheid weiß. Soweit wurde also die sog. Mittel/Zweck-Rationalität angesprochen. Die Freiwilligkeit der Handlung ist eine letzte wichtige Voraussetzung. Sie erfolgt in Form eines aufgeklärten Entschlusses für die Absicht. Dafür ist es notwendig, dass die Schwangere über die bloß theoretische Mittel/Zweck-Rationalität hinaus auch praktisch über die Mittel zur Erreichung der Zwecke verfügen kann. Sollte das nicht möglich sein, wären ihre Taten unfreiwillig, also keine Handlungen, sondern Verhalten; sie kann dafür nicht zur Verantwortung gezogen werden. Aufgrund der „jungen“ Epigenetik werden diese Bedingungen gegenwärtig nicht erfüllt. Zwar konnte im Diskurs zur Epigenetik ein starkes Interesse der Öffentlichkeit am Forschungsfeld ausgemacht werden (2, I, 3). Doch täuscht dieses über grundsätzliche Probleme hinweg. Zum einen spiegelt das kursierende Wissen nicht das Wissen der Bevölkerung wider. Zum anderen ist dieses Wissen irreleitend, z. B. wenn komplexe Zusammenhänge vereinfacht wiedergegeben und Ergebnisse aus Tierstudien auf Menschen übertragen werden (z. B. epigenetische Vererbung). Auch wurde gezeigt, dass andere Diskurse Einfluss ausüben, sodass hier fälschlicherweise vom Primat der Eigenverantwortung ausgegangen wird. Im öffentlichen Diskurs verschwimmen die zuweilen unbegründeten Hoffnungen der Akteure mit dem naturwissenschaftlichen Wissen. Dies ist besonders problematisch, weil somit nicht nur ein sicheres Wissen, sondern auch unsichere Meinungen den Diskurs prägen und irrationale Handlungen begünstigen. Um die Verantwortung der Schwangeren zu ermöglichen, ist es notwendig, zunächst auf ihre Wissensgrenzen einzugehen. Wissensbedingte Grenzen Das Wissensdefizit kann durch mehrere Akteure behoben werden, wobei eine solche Aufklärung auf zwei Ebenen ansetzen kann. Zunächst ist an eine allgemeine Aufklärung zu denken. Deren Ziel wäre die Aufklärung der Öffentlichkeit über die Erkenntnisse der Epigenetik und speziell jener Bezüge zum MBS. Die Ausgangsbahttps://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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sis des Wissens ist die Wissenschaft.25 Wenn Wissenschaftler ihre Arbeiten darstellen, unterliegen sie den Normen der wissenschaftlichen Praxis. Im Hinblick auf eine außerwissenschaftliche Kommunikation spielt vor allem die Norm der Transparenz eine wichtige Rolle (Beck 2013, 172ff). Die Außendarstellung von Wissenschaftlern ist zunehmend wichtig. Dabei werden aber oft nur Erfolge präsentiert, das Nichtwissen bleibt unerwähnt. Im Hinblick auf die Handlungsfähigkeit ist sowohl Wissen als auch die Kenntnis um deren Grenzen von zentraler Bedeutung.26 Über Wissen und Nichtwissen ist möglichst transparent aufzuklären. In der Regel betreiben Wissenschaftsjournalisten Aufklärung in der Bevölkerung. Hier sollte eine adäquate Wissenschaftskommunikation das Ziel sein. Zwar ist klar, dass Medienmacher Wissen aufbereiten müssen, und dabei das Wissen nicht nur transportieren, sondern auch transformieren. Im Rahmen der Epigenetik ist etwa die Komplexität der Bezüge wichtig – diese Information wird aber zugunsten der Verständlichkeit oft reduziert und stattdessen prägt Schwarz/Weiß-Denken (Genetik/Epigenetik) das Epigenetikbild. Das neue Wissen sollte also adäquat vermittelt werden. Auch ist der öffentliche Diskurs selbst ein wichtiger Wissensvermittler. Wie die Diskursanalyse zeigte, handelt es sich aber nicht um passive Rezipienten, die das Wissen bloß übernehmen und weitergeben, sondern der öffentliche Diskurs nimmt einen aktiven Part ein und fügt neue Inhalte hinzu. Dass sich dabei Fehler einschleichen, zeigte der Diskursfokus auf die Eigenverantwortung (2, I, 3.1). Angesichts der Offenheit eines Diskurses und der damit verbundenen Schwierigkeit, individuelle Verantwortungsakteure zu benennen, stellt sich die Frage, wer als Korrektiv gelten kann. Hier ist zunächst an die genannten Akteure zu denken, die über entsprechendes Wissen verfügen und diskursinterne Selbstläufer sowie deren Risiken erkennen und etwa in Form einer öffentlichen Stellungnahme klar benennen können. Eine solche Einmischung

25 Auf einen besonderen Aspekt ist hinzuweisen. Prinzipiell könnten auch die hier aufgeführten Einzelakteure im Hinblick auf ihre strukturellen Grenzen unter­ sucht werden. Dabei fallen Wissenschaftler aber aus dem Rahmen. Zwar haben auch sie strukturelle Grenzen, doch findet sich hier kein Akteur, der diese auflö­ sen kann. Daher ist es wichtig, dass sie ihre Wissensgrenzen offenlegen. Tun sie das nicht, übertragen sich diese Fehler auf alle Akteure. 26 Man denke beispielsweise an die Unkenntnis paternaler Effekte und epigeneti­ sche Vererbung beim Menschen.

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von Seiten der Wissenschaftler findet kaum statt, sie wäre aber angesichts der Reichweite der Fehler geboten. Daneben ist an eine spezifische Aufklärung zu denken und diese bezieht sich auf das MBS. Hier ist das Ziel die Aufklärung von Schwangeren über die Erkenntnisse der Epigenetik und zur Verursachung des MBS. Im Hinblick auf die Prävention vor dem MBS ist ein Detailwissen über die Epigenetik weniger entscheidend. Wichtiger ist ein Wissen um die weiteren Zusammenhänge und die Präventionsmöglichkeiten der Schwangeren. Die Aufklärung und Beratung von Schwangeren erfolgt klassischerweise durch Hausärzte und Frauenärzte.27 Im Rahmen bereits bestehender Strukturen kann eine Aufklärung über die Erkenntnisse der Epigenetik im Hinblick auf die Risiken für ein MBS erfolgen. Dabei wäre auf die epigenetischen Langzeitbezüge einzugehen und den Zusammenhang zwischen der frühen Prägung und dem Risiko, dass ihr Kind ein erhöhtes Risiko hat, viele Jahre später an MBS zu erkranken. Dies findet gegenwärtig nicht statt. Zwar ist in den Mutterschaftsrichtlinien die Aufklärung über die Risiken eines Schwangerschaftsdiabetes vorgesehen, doch wird nur auf das Risiko der Schwangeren, an Diabetes zu erkranken und auf ein Risiko während der Geburt (Körpergewicht) eingegangen (Gemeinsamer Bundesausschuss 2015, 35ff). Das Risiko des Kindes selbst, später am MBS zu erkranken, wird aber nicht aufgeführt. Ohne diese Information kann die Schwangere nicht über mögliche Präventionsmaßnahmen (z. B. Insulinsubstitution) entscheiden. Die Aufklärung während der Schwangerschaft ist gesetzlich geregelt. Im Rahmen der ärztlichen Betreuung und Hebammenhilfe hat die Schwangere ein Recht auf Beratung, und die Ärzte sind verpflichtet, diesem nachzukommen (SGB V § 24d). Im weiteren Sinne hat die GKV die Pflicht, durch Aufklärung, Beratung und Leistungen die gesundheitliche Eigenkompetenz der Versicherten zu fördern (SGB V §1). Im bestehenden Rahmen sollten Schwangere auch über die möglichen Langzeitrisiken für das zukünftige Kind aufgeklärt werden. 27 Im Aufklärungszusammenhang von Schwangeren ist sowohl Wissen über (a) die Notwendigkeit als auch über (b) die Möglichkeit der Prävention wichtig, um die Handlungsfähigkeit der Schwangeren zu fördern. Da die bisherigen Debat­ ten sich aber in Problematisierungen (a) erschöpfen und weil dies die Frustrati­ on (kein Handlungswissen) und Überforderung (viele Handlungsmöglichkeiten) begünstigt (Richardson et al. 2014a), sollten vor allem die Möglichkeiten der Prävention (b) in den Vordergrund gestellt und klare Empfehlungen ausgespro­ chen werden.

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Diagnostische Grenzen Das Risiko, eine epigenetische Fehlprägung zu begünstigen und dadurch zur Prädisposition des MBS beizutragen, ist nicht bei allen Schwangeren gleich. Da dieses Risiko nicht immer von äußeren Merkmalen abgelesen werden kann, bedarf es einer gesonderten Untersuchung aller Schwangeren. Weiter oben wurde darauf eingegangen, dass ein solches Glukose-Screening in Deutschland Bestandteil der Mutterschaftsrichtlinien ist. Die Tests sind jedoch freiwillig. Ohne Wissen um ihre Bedeutung kann keine aufgeklärte Entscheidung getroffen werden. Auch wurde bereits angedeutet, dass die Normwerte gegenwärtig zu niedrig angesetzt sind, sodass die Prävalenzrate weiter hoch bleibt. Viele Schwangere mit einem problematischen Stoffwechsel werden nicht erkannt und übertragen dieses Risiko dann auf die Folgegeneration. Die defizitäre Diagnostik wurde bereits als Problem erkannt: Eine Untersuchung der Barmer-Krankenkasse an ihren 3,5 Millionen Kunden ergab, dass Hausärzte in den seltensten Fällen Übergewicht diagnostizieren. Während rund jeder zweite Deutsche an Übergewicht leidet, wurde dies nur bei 11 % attestiert (Thelen 2015). Es ist wichtig, die Hausärzte zu schulen. In diesem Kontext sind mehrere Akteure beteiligt. So bedarf es der Epidemiologen, welche geeignete Normwerte ermitteln müssen. Dann müssen die Krankenkassen die zusätzlichen Kosten in den Leistungskatalog übernehmen. Schließlich ist es die Ärzteschaft, welche die Richtwerte im Rahmen der Grundversorgung der Schwangerschaft als Standard übernehmen und sich in dieser neuen Diagnostik fortbilden muss. Präventive Grenzen Die Verhinderung des MBS durch Public-Health-Maßnahmen erfordert Präventionsprogramme. Hier wird zugleich eine finanzielle Grenze des Einzelnen angesprochen, die durch die Krankenkassen ausgeglichen wird, sofern diese die Präventionsprogramme teilen. Gegenwärtig wird die Prävention des MBS in Form einer Sekundärprävention gefördert.28 Da sie erst nach dem Auftreten der Erkran28 Der GKV-Spitzenverband empfiehlt die „Vermeidung des metabolischen Syn­ droms (gekennzeichnet durch eine Kombination aus Adipositas, Hyperlipopro­ teinämie, Hypertonie und Hyperurikämie, die mit einer Insulinresistenz, Gluko­

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kungssymptome ansetzt, ist sie aber nicht geeignet, die epigenetische Disposition zum MBS zu unterbinden. Aus dieser Sicht werden nur die Symptome, nicht aber die Ursachen behandelt. Dieser Punkt wurde bereits kritisiert und für eine epigenetische Primärprävention des MBS plädiert (Assmann-Stiftung 2015). Wer ist für die Umsetzung verantwortlich? Der Verantwortungsbereich ist seit 1988 im SGB V reguliert. Der § 20 integriert Gesundheitsförderung und Primärprävention in das Leistungsspektrum der GKV. Danach gilt die GKV sowohl als Kostenträger als auch als Leistungserbringer, z. B. bei der Entwicklung neuer Präventionsprogramme. Daneben ist die hausärztliche Versorgung laut § 73 für die Einleitung und Durchführung der präventiven Maßnahmen mitverantwortlich. Eine frühere Prävention könnte die MBS-Prävalenzrate deutlich senken. Dass diese noch nicht umgesetzt wurde, liegt wahrscheinlich daran, dass den genannten Akteuren selbst strukturelle Grenzen gesetzt sind. Hierbei wird ein weiterer Akteur sichtbar. Der Gesetzgeber ist als Verantwortungsakteur besonders gefordert, weil der aktuelle Fokus auf die Sekundärprävention nicht nur medizinische, sondern auch politische Gründe hat. So erfolgte die Reform der sozialen Absicherungssysteme auf der Basis eines neoliberalen Menschenbildes, d. h. der Annahme, dass sich Bürger bis auf die biologische Ebene regulieren können (2, I, 3.2.2). Daher wurde auf die Eigenverantwortung fokussiert und auf im Rahmen der Sekundärprävention mögliche Verhaltensänderungen gesetzt. Tatsächlich wendet sich der Gesetzgeber im seit dem 1. Januar 2016 geltenden PrävG der Primärprävention und Gesundheitsförderung zu. Entsprechende Anpassungen im SGB V §20 (3) verpflichten den Spitzenverband Bund der Krankenkassen, einheitliche Handlungsfelder und Kriterien u. a. hinsichtlich der Gesundheitsförderung und Prävention von Diabetes mellitus Typ 2 zu entwickeln. Darüber hinaus verpflichtet der Gesetzgeber die GKV zusammen mit Trägern der gesetzlichen Rentenversicherung, Unfallversicherung und Pflegekassen zu einer nationalen Präventionsstrategie (SGB V §20d), d. h. zur Festlegung von gemeinsamen Zielen, vorrangigen Handlungsfeldern und Ziel-

setoleranzstörung bzw. einem manifesten Diabetes einhergeht) durch Förderung von Bewegung und ausgewogener Ernährung, Zurückdrängung der o. g. Risiko­ faktoren“ (GKV-Spitzenverband 2010, 14). Hier liegen die Symptome der Ein­ zelerkrankungen schon vor. Auch die Deutsche Adipositas Gesellschaft (2014, 29 ff) setzt mit den Empfehlungen spät an, indem sie auf Gewichtsreduktion durch mehr Bewegung und gesündere Ernährung setzt.

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gruppen für eine effiziente Gesundheitsförderung und Prävention. Aufgrund der erst kürzlich verabschiedeten Regulierung wurde dies noch nicht umgesetzt. Es ist von größter Wichtigkeit, die Erkenntnisse der Epigenetik zur Prävention der Volkskrankheit MBS dann mit einzubeziehen und auf der Basis entsprechende Präventionsprogramme zu entwickeln. Ökologische Grenzen Die Epigenetikforschung fügt im Hinblick auf die Ernährungsumwelt keine neuen Risikofaktoren auf materialer Ebene hinzu (2, IV, 1.3). Jenseits dessen sind Weichmacher (Phtalate), welche in Kunststoffen eingesetzt werden, aber ein wichtiger Risikofaktor. Diese können, wenn sie aus den Kunststoffen diffundieren, als Xenohormone hormonelle Wirkung entfalten (1, IV, 4). Auf diesen Punkt wird derzeit im Rahmen der Epigenetik-Debatte zwar aufmerksam gemacht und die Umwelt von Kleinkindern wird beachtet. Bislang blieb aber unbeachtet, dass diese hormonelle Wirkung während der perinatalen Phase, in welcher das Regelsystem für den Stoffwechsel epigenetisch festgelegt wird, von entscheidender Bedeutung sein kann. Dies ist besonders im Hinblick auf unsere alltägliche „Plastikumwelt“ von Bedeutung.29 Eine Störung des Hormonhaushalts der Schwangeren hätte unmittelbar Einfluss auf die Entwicklung des Embryos. Aus Tierstudien ist eine Wirkung im Hinblick auf die Entwicklung von Adipositas der nachfolgenden Generationen bereits seit längerem bekannt (Anway et al. 2006). Gegenwärtig sind Weichmacher in Kinderspielzeug verboten, nicht aber in Alltagsgegenständen – hier gelten Grenzwerte. Da die Schwangere erstens nicht über diese Risikoquelle Bescheid weiß und zweitens diese Faktoren nur begrenzt kontrollieren kann, sind ihrem Handeln Grenzen gesetzt. Daher sind andere Akteure zu beachten. Für die Untersuchung und Aufklärung gibt es auf Bundesebene entsprechende Institutionen, z. B. das Umweltbundesamt. Sie sind für die Ermittlung der Grenzwerte und Informierung des Gesetzgebers im Hinblick auf eine gesetzliche Regulierung der Normwerte verantwortlich. Im Hinblick auf die epigenetische Wirkung von Weichmachern wird diese Verantwortung bisher nicht wahrgenommen. 29 Man denke z. B. an das Auto, öffentliche Transportmittel, oder Verpackungsma­ terialien von Lebensmitteln.

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Grenzen

Verantwortungs-Subjekt

Wissensbedingte

Wissenschaftler

Verantwortungs-Objekt

Aufklärung über wissenschaftliches Wissen und Nichtwissen Journalisten Wissensvermittlung und Aufklärung Fachleute Fehler im öffentlichen Diskurs benennen und korrigieren Haus-/FrauenAufklärung über ärzte Langzeitrisiken GKV Fördern der Eigenkompetenz Diagnostische Epidemiologen, Normwerte Sachverstänermitteln und digenrat aktualisieren, Gutachten erstellen Hausärzte Fachliche Fortbildung zu aktuellen Diagnosemethoden GKV Übernahme der Diagnosekosten Entwickeln Präventive GKV, gesetzl. Renten-, Unfall- einer Nationalen versicherungen, Präventionsstrategie Pflegekassen GKV Primärpräventive Programme zu Diabetes Typ 2, Kostenübernahme Hausarzt Einleitung und Durchführung der präventiven Maßnahmen InformationsÖkologische Umweltbundesamt pflicht, Normwerte ermitteln, Alternativen entwickeln

Verantwor- Verantwortungs-Norm tungsInstanz Transparenz Wissenschaftliche Gemeinschaft Adäquatheit Moralische Gemeinschaft Wahrheit Moralische Gemeinschaft SGB V § 24d Gesetzgeber SGB V § 1 Gesetzgeber SGB V § 142 Gesetzgeber

SGB V § 95

Gesetzgeber

SGB V § 11

Gesetzgeber SGB V § 20d Gesetzgeber

SGB V § 20 (3)

Gesetzgeber

SGB V § 73

Gesetzgeber

UBAErrG §2

Gesetzgeber

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Doch es zeichnen sich Änderungen ab. So wird in einem Konzeptpapier auf diesen Risikofaktor aufmerksam gemacht und dessen Ziel ist es, die Risikofaktoren in epidemiologischen Studien zu ermitteln (Umweltbundesamt 2013). Wie Studien zeigen, ist eine solche Untersuchung dringend notwendig; dies gilt umso mehr, da über die besagten Weichmacher hinaus noch weitere Chemikalien im Zusammenhang von Übergewicht und Diabetes eine Rolle spielen könnten (BUND 2012; Porta & Lee 2012). Für Schwangere sollten Grenzwerte ermittelt und Alternativen zu den belasteten Kunststoffen entwickelt werden. Der Verantwortung der Schwangeren sind also mehrere strukturelle Grenzen gesetzt. Es wurde gezeigt, dass nur ein Verantwortungsnetz aus vielen Akteuren diese Grenzen aufheben kann.30 3.3 Verantwortungsakteure zielgruppenspezifischer Primärprävention Im Folgenden wird auf eine im Hinblick auf das MBS besonders vulnerable Personengruppe eingegangen und gezeigt, dass hier besondere strukturelle Grenzen die Präventionshandlungen verhindern. Darauf aufbauend werden jene Akteure ermittelt, welche diese Grenzen aufheben können. Zusätzlich zu den bereits ermittelten Akteuren ergänzen diese das Verantwortungsnetz. Die mit dem MBS assoziierten Krankheiten treten in sozioökonomisch schwachen Gruppen (Kuntz & Lampert 2010) und bei Migranten (Laube et al. 2001) gehäuft auf und besonders Frauen sind davon gefährdet.31 Zu den kulturellen Ungleichheiten treten 30 Auf die Bezeichnung „Verantwortungsnetzwerk“ ist kurz einzugehen. Die Me­ tapher eines „Netzwerks“ eignet sich, um die Zusammenhänge zu verdeutli­ chen. Sie macht deutlich, dass die aufgezählten Verantwortungsakteure nicht in einem linearen Verhältnis im Hinblick auf die Ermöglichung der Verantwortung der Schwangeren stehen, somit untereinander unverbunden wären, sondern ih­ re Handlungsräume durch weitere Akteur/Struktur-Verhältnisse bedingt sind. Ähnlich den Knoten eines Spinnennetzes sind die Handlungsbereiche der Ak­ teure zentrisch auf die Verantwortung der Schwangeren ausgerichtet und stehen untereinander in einer lateralen Abhängigkeitsbeziehung. 31 Kuntz & Lampert erfassen den sozioökonomischen Status mittels der drei Di­ mensionen Bildung, Einkommen und Berufsstatus bezüglich Adipositashäufig­ keit. Ihr Ergebnis ist im Hinblick auf Frauen aufschlussreich: „Bei Frauen bleibt der Sozialgradient für alle drei Dimensionen des sozioökonomischen Status bestehen. Frauen aus der niedrigsten Einkommensgruppe haben eine um den

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Ungleichheiten auf biologischer Ebene hinzu und verschärfen die bereits bestehenden Probleme. Dieser Punkt hat politische Sprengkraft, da ihm bisher wenig Beachtung geschenkt wird und damit verbundene soziale Fragen selten thematisiert werden.32 Darüber hinaus weisen die Forschungserkenntnisse der Epigenetik auf eine bislang noch nicht erkannte transgenerationale Dimension dieses sozialen Problems hin und verschärfen damit seine Brisanz. Diese Bevölkerungsschicht ist nämlich im besonderen Maße von dem oben dargestellten „Teufelskreis“ bedroht (2, III, 2.4.2). 33 Damit ist die transgenerationale Übertragung einer epigenetisch erworbenen Disposition zur Entwicklung des MBS gemeint. Dies ist möglich, da ein defizitäres maternales Stoffwechselsystem zur Fehlprägung des embryonalen Stoffwechselsystems führt, wodurch das Erkrankungsrisiko des Kindes ansteigt und dies bei späterer Schwangerschaft die Übertragung des MBS in die nächste Generation begünstigt. Neben der bereits bekannten Vererbung des Bildungsstatus der Bevölkerungsschicht droht nun auch die transgenerationale Übertragung der damit verbundenen Erkrankungsdisposition, somit die Verstetigung der sozialen Ungleichheiten sowohl auf kultureller Faktor 3 erhöhte Chance, von Adipositas betroffen zu sein im Vergleich zu Frau­ en aus der höchsten Einkommensgruppe“ (2010, 517). Es ist wichtig zu sehen, dass Migration und schwacher sozioökonomischer Status zu­sammenhängen (Groot & Sager 2010). Da die Gruppe der Migranten heterogen ist, gehe ich hier im Wesentlichen von der größten Migrantengruppe aus der Türkei aus. Wenn die epistemischen Grenzen weiter unten nur im Hinblick auf Migranten behandelt werden, geschieht dies zur einfacheren Darstellung – mit­gemeint ist stets auch die gesamte sozioökonomisch schwache Bevölkerungs­schicht. 32 Tatsächlich hat der Gesetzgeber die Handlungsnotwendigkeit zum Teil erkannt und beauftragt im Rahmen des PrävG die GKV mit dem Ausgleich sozial be­ dingter und geschlechtsbezogener Ungleichheiten bei der primären Prävention (SGB V §20 Abs. 1). Doch ist auf ein Forschungsdefizit in Deutschland hinzuwei­ sen: Während die Bedeutung von sozioökonomischen Faktoren und Migrations­ hintergrund im Hinblick auf Stoffwechselerkrankungen in der angelsächsischen Debatte längst erkannt wurde, fehlen in Deutschland Studien. Dies liegt nicht daran, dass das Problem nicht besteht – die wenigen existierenden Studien bele­ gen es –, sondern dass seine Bedeutung nicht erkannt wurde. Während Studien zu Stoffwechselkrankheiten bei Kindern von Migranten vorliegen, sind bisher nur wenige statistische Erhebungen bei Migrantinnen durchgeführt worden. Eine erwähnenswerte Ausnahme ist Reeske (2013). 33 Dass die frühkindliche Zugehörigkeit zur schwachen sozioökonomischen Schicht bei späteren Erwachsenen ein spezifisches Methylierungsmuster bewirkt, wurde gezeigt (Borghol et al. 2011; Tehranifar et al. 2014). Die soziale Zugehörigkeit beeinflusst das Epigenom, und es ist davon auszugehen, dass dies auch Folgen für die Gesundheit hat.

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als auch biologischer Ebene. Dieser Teufelskreis würde die Beständigkeit der mit dem MBS assoziierten Krankheiten in bestimmten Gesellschaftsschichten erklären. Diese Erkrankungsasymmetrie geht auf ein schichtenspezifisches Präventionsverhalten zurück – darauf wird gleich eingegangen. Die politisch brisante Frage, ob das Präventionsdefizit selbst- oder fremdverschuldet ist, ist aber für die hier angestellten Überlegungen unerheblich. Die Ungerechtigkeit bezieht sich nämlich nicht auf die Schwangere, sondern auf ihr späteres Kind, welches lebenslang gesundheitlich benachteiligt wäre. Daher wäre eine erfolgreiche und das heißt hier vor allem zielgruppenspezifische Prävention in diesen vulnerablen Gruppen besonders wichtig. Aufgrund der sozialen Dimension dieses Teufelskreises und dessen transgenerationaler Wirkung ist zunächst an den Gesetzgeber als Verantwortungsakteur zu denken. Im GG Art. 2 (2) sichert er jedem Bürger das Recht auf körperliche Unversehrtheit zu.34 Im GG Art. 20a wird darüber hinaus seine transgenerationale Verantwortung angesprochen, die natürlichen Lebensgrundlagen für künftige Generationen zu schützen.35 Im PrävG kommt er der Verantwortung nach, Strukturen zur Aufhebung gesellschaftlicher Ungleichheiten zu schaffen und die Verantwortungsbezüge zu regulieren: Danach soll die GKV primärpräventive Leistungen insbesondere im Hinblick auf die Verminderung sozial bedingter sowie geschlechterbezogener Ungleichheiten von Gesundheitschancen erbringen (SGB § 20 Abs. 1).36 Doch muss dies recht verstanden werden. Der Gesetzgeber hat die Pflicht, ein System zur Gesundheitsvorsorge zu errichten, muss aber den Handlungsspielraum des Einzelnen respektieren, will er keine Gesundheitsdiktatur errichten. Im Folgenden zeige ich, dass solche Grenzen im Präventionskontext zwar bestehen, diese aber behoben werden können.

34 Ausführlich speziell im Hinblick auf Volkskrankheiten (Kirchhof 2009). 35 Ausführlich im Hinblick auf medizinische Versorgung über Generationen hin­ weg (Kirchhof 2005). 36 Ihre Verantwortung ist es, die Hochrisikogruppen dem Verantwortungsnetz­ werk zuzuführen und Aufklärung zu betreiben. Wegen der in Deutschland vorliegenden Forschungslücke in diesem Bereich würde sich ein schrittweises Vorgehen anbieten. Erstens ist die Anerkennung des sozialen Problems notwen­ dig. Zweitens ist eine umfassende Ermittlung aller Hochrisikogruppen wichtig. Drittens ist schließlich ihre Aufklärung über ihre Gefährdung wichtig. Ebendie­ se Vorgehensweise scheint das PrävG mit einer nationalen Präventionsstrategie (SGB V § 20d) zu beabsichtigen.

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Was ist die Ursache für das gehäufte Auftreten des MBS in diesen Bevölkerungsgruppen und wie verhält sich dieses Problem zum bereits ermittelten Verantwortungsnetzwerk? Es ist wichtig zu erkennen, dass diese Anhäufung des MBS nicht durch eine besondere biologische Vulnerabilität verursacht wird, sondern die Krankheitsursachen in allen Schichten gleich sind. Die Maßnahmen gegen diesen Teufelskreis sind also dieselben wie jene gegen die MBS-Disposition bei Schwangeren außerhalb dieser Gruppe. Eine spezielle Prävention ist daher nicht notwendig. Das Problem besteht in einem bevölkerungsschichtenspezifischen Präventionsdefizit: Werdende Mütter mit Migrationshintergrund kommen später und seltener zur Schwangerschaftsvorsorge als deutsche (Simoes et al. 2003, David et al. 2006) – dies gilt auch für niedrige sozioökonomische Schichten (Koller et al. 2009). Diese Hochrisikogruppen werden durch die Präventionsprogramme nicht in gleicher Weise wie andere Bevölkerungsgruppen angesprochen. Dies wurde auch im öffentlichen Diskurs zur Epigenetik erkannt. Hier wurde festgestellt, dass der Epigenetikdiskurs und die hohe Präventionsbereitschaft darin nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung sind. Der Diskursrezipient entspricht dem Bürgertypus des „präventiven Selbst“ (2, I, 3.3) und ist genauer hin in der Bildungsschicht zu verorten (Seitz & Schuol 2016). Beide Hochrisikogruppen gehören statistisch betrachtet nicht der präventionsaffinen Bildungsschicht an. Da bei ihnen also keine Präventionsbereitschaft herrscht, würde eine unmittelbare Aufklärung, bzw. das Etablieren von Präventionsprogrammen wenig helfen. Was ist der Grund dafür? Offenbar liegen in diesen Bevölkerungsgruppen besondere strukturelle Grenzen vor. Im Folgenden wird auf vier zentrale Präventionsbarrieren eingegangen, welche spezifisch für diese Risikogruppe sind. Sprachliche Grenzen Eine der größten Präventionsgrenzen bei Migranten sind die sprachlichen Barrieren. Da bei jenen mit dem MBS assoziierten Krankheiten Adipositas und Diabetes die Aufklärung und Beratung von großer Bedeutung sind, spielt Sprachkompetenz eine zentrale Rolle. Wie eine Studie mit stationär behandelten Schwangeren zeigt, war mehr als ein Viertel der Migrantinnen (25,2 %) über ihren Aufenthaltsgrund schlecht informiert oder gänzlich unwissend (Terzioglu 2009). Fast ein Viertel (22,9 %) der Migrantinnen verfügte über https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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eine schlechte bzw. gar keine Lese- und Schreibkompetenz der deutschen Sprache. Diese Hürden wurden erkannt und erste Lösungsansätze entwickelt. So werden an manchen Orten fremdsprachige Schulungen und Dolmetscherdienste angeboten und es wird Informationsmaterial in Fremdsprachen erstellt (Icks et al. 2011). Doch werden diese Projekte bislang unzureichend umgesetzt und weitere Arbeit ist notwendig. Es ist wichtig zu sehen, dass dieser Punkt auch Personen mit niedrigem Bildungshintergrund betrifft. Die ausgehändigten Unterlagen sollten dem Bildungsstand angemessen sein. Die Aufhebung der sprachlichen Barrieren ist wichtig, da sie den Zugang zu Präventionsprogrammen ermöglicht. Interkulturelle Inhalte sollten in den Ausbildungskatalog von Diabetesberatern aufgenommen und bikulturelles Personal gefördert werden. Zudem sollten Netzwerke aufgebaut und Kontakte zu Selbsthilfeorganisationen und Fachgesellschaften der Ursprungsländer initiiert werden. Der folgende Punkt zeigt, dass die bloße Sprachkompetenz die Schwierigkeiten nicht gänzlich löst. Epistemische Grenzen Problematischer sind die epistemischen Grenzen der Hochrisikogruppen, weil diese weniger sichtbar sind. Sie wirken besonders bei Migranten: Aus einer anderen Kultur kommend, mit anderen Traditionen vertraut, sieht man anders in die Welt und interpretiert sie entsprechend. Dies verdeutlicht das Ernährungsverhalten. Migranten behalten ihre Grundnahrungsmittel bei, das sind vor allem stärkehaltige Nahrungsmittel wie Brot, Reis und Nudeln. Die Ernährungsweise verändert sich lediglich im Hinblick auf sog. Accessoires (Öl, Süßigkeiten, Nüsse, gesüßte Getränke). Beide sind hochkalorisch. Der Wandel hat etwas mit früheren Entbehrungen zu tun. Auch sind manche Lebensmittel hier mit einem bestimmten sozialen Status verbunden. Früher selten verfügbare Lebensmittel sind zugänglich geworden, darüber hinaus sind sie auch anders „codiert“. War die hochkalorische Ernährung an eine Lebenswelt angepasst – der überwiegende Teil aller Migranten kommt aus der Arbeiterschicht –, erweist sie sich in der neuen Umgebung als problematisch, da derartige Energiemengen hier nicht benötigt werden. Dass in Familien mit Migrationshintergrund oft ein anderes Körperempfinden als gesund gilt, bezeugt eine Studie, wonach 78 % der Mütter übergewichtiger und 72 % stark übergewichtiger Kinhttps://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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der das Gewicht ihres Kindes als „genau richtig“ bewerteten (Bau 2002, 58). Doch wenden die Frauen diese Wahrnehmung auch auf sich an. Dafür sprechen folgende Studien: Reeske et al. (2013) zeigten, dass türkische Frauen häufiger als deutsche Frauen adipös in die Schwangerschaft gehen. Dies korreliert mit einem hohen Risiko, an Gestationsdiabetes zu erkranken (Reeske et al. 2012). Wegen der epistemischen Grenzen ist eine unmittelbare Aufklärung nicht hilfreich. Stattdessen empfiehlt es sich, Akteure aus der Sphäre der Betroffenen einzubeziehen. Tatsächlich gibt es bereits erste Projekte mit dem Ziel, das Verantwortungsbewusstsein der Betroffenen im Hinblick auf ihre Gesundheit aus der Gemeinschaft heraus zu stärken.37 Diese Projekte sind erfolgreich und sollten ausgebaut werden. Psychische Grenzen Wie Studien zeigen, wird die Erkrankung an den mit dem MBS assoziierten Krankheiten in der Bevölkerung oft mit volitionalen Motiven wie Faulheit, Willensschwäche und Disziplinlosigkeit in Verbindung gebracht; die Betroffenen werden für ihre Krankheit verantwortlich gemacht und diskriminiert (Hilbert et al. 2008; Sikorski 2011).38 Doch liegen gerade in den Hochrisikogruppen diesbezüglich klar benennbare strukturelle Grenzen vor. Eine solche ist die Erwartungshaltung. Während eine positive Selbstwirksamkeitserwartung zur Prävention motiviert, lassen negative Erwartungshaltungen Menschen initiativlos werden oder bewirken, dass sie vorzeitig aufgeben. Die Selbstwirksamkeit wird daher als wichtiger Prädiktor für den Erfolg von medizinischen Präventionen betrachtet. Die Selbstwirksamkeitserwartung ist in schwachen sozioökonomischen Gruppen sehr niedrig (Han et al. 2015). Mütter mit geringer Bildung und übergewichtige Mütter 37 Ein erfolgreiches derartiges Projekt ist MIMI – Mit Migranten Für Migranten http://www.ethno-medizinisches-zentrum.de/index.php?option=com_content &view=article&id=28&Itemid=34 (Abruf: 31.03.2017). Bilinguale, meist weibliche Migranten werden geschult, um Informations- und Aufklärungsveranstaltungen zur Gesundheit in ihrer Muttersprache durchzuführen. Diese werden dann bei der zielgruppenspezifischen Prävention eingesetzt. 38 Harald Matern (2016) weist im Kontext der Epigenetik auf religiöse Bedingun­ gen derartiger Stigmatisierungen hin. Die Entwicklung von Adipositas steht im christlichen Kulturkontext mit der Erbsünde Völlerei in Verbindung. Nach christlicher Glaubenslehre werden alle mit der Disposition geboren, der Einzelne hat aber deren Bewältigung zu verantworten. Die Erkrankung wird in dieser Deutung mit Willens-/Glaubensschwäche in Verbindung gebracht.

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erleben sich als wenig selbstwirksam und sind daher nicht motiviert, an Aufklärungsprogrammen teilzunehmen (Warschburger & Richter 2009). Doch ist die Selbstwirksamkeitserwartung keine „angeborene“ Persönlichkeitsstruktur, sondern wird im sozialen Miteinander entwickelt. Auf diesen psychologischen Faktor wird inzwischen im Schulkontext geachtet (Jerusalem & Hopf 2002). Doch kommen diese Initiativen für aktuell Schwangere zu spät. Eine Strategie wäre es daher, im Vorfeld einer präventiven Intervention ein Beratungsgespräch bezogen auf die mütterlichen Erwartungen zu initiieren, um Teilnahmebereitschaft und Programmerfolg zu unterstützen (Warschburger & Richter 2009). Viele Personen aus diesem Kreise sind zwar darüber informiert, welche Verhaltensweisen präventiv wirken und sind mit den Programmen im Prinzip einverstanden. Doch wirken in den vulnerablen Gruppen besondere Pressionen (finanzieller Art, Zeitmangel, Arbeitsbelastung), und in ihrem Lichte erscheinen erst zukünftig wirksame Risiken oft als weniger drängend. Weil die Selbstwirksamkeit im sozialen Miteinander entwickelt wird und diese Pressionen die gesamte Familie betreffen, wäre es gut, die elterliche Selbstwirksamkeit insgesamt auszubauen. Dieser Punkt wurde im PrävG erkannt und die GKV hat nicht nur die Verantwortung, die gesundheitliche Eigenkompetenz und Eigenverantwortung der einzelnen Versicherten zu fördern (SGB V § 1), sondern auch jene, die Familien in ihrer Gesundheitskompetenz zu stärken (SGB VIII § 16). Bei der Umsetzung ist es wichtig, die gezeigten psychologischen Barrieren anzuerkennen und Maßnahmen zu ihrer Überwindung zu entwickeln. Schließlich ist auf einen Punkt hinzuweisen, der hierbei helfen könnte, das Präventionsdefizit zu beheben. Oft wird zielgruppenspezifische Aufklärung als stigmatisierend empfunden und die Verantwortungszuschreibung auf Schwangere mit Schuldzuschreibung gleichgesetzt. Dies führt zu einer psychischen Belastung, welche im schlimmsten Falle in der Aversionshaltung mündet, Verantwortung abzulehnen bzw. auf Prävention zu verzichten. Einer derart kontraproduktiven Haltung kann in dieser Hochrisikogruppe jedoch vorgebeugt werden. Der „transgenerationale Teufelskreis“ kann nämlich auch als Chance gesehen werden. Durch die Erklärung der Ursachen dieses „Teufelskreises“ und die Aufklärung, dass die Schwangere Opfer und eben nicht die Ursache des MBS ist, wird dem Gedanken an eine „Verschuldung“ der Disposition zum MBS aktiv entgegengearbeitet. Swierstra (2011) hatte darauf hingewiesen, dass Diskurse, die sich auf den Körper bezogen, zwar individualisierten, aber nicht moralisierten. Entsprechend ist es wichtig zu https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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erklären, dass der Körper der Schwangeren fehlgeprägt worden ist und ohne einen entsprechenden Eingriff das erworbene Krankheitsrisiko weitergibt. Zusätzlich könnte ein Wechsel vom Thema Schuld zum Thema Stolz eine positive Präventionshaltung bewirken. Hier ist das Bewusstsein gemeint, den „transgenerationalen Teufelskreis“ zum MBS durchbrechen zu können. Obzwar die Schwangere ihre eigene Fehlprägung nicht beheben kann – diese epigenetischen Modifikationen sind stabil –, hat sie die Chance, ihre Kinder aus dem transgenerationalen Krankheitsbezug zu befreien. Ungeachtet dessen, dass die Schuldzuweisungen keine Grundlage haben, ist diese Betonung der Möglichkeiten richtig und psychologisch sehr wichtig.39 Die Entkopplung von Schuld und Verantwortung kann die Aversion lösen und das Wissen um die Handlungsfähigkeit eine positive Erwartungshaltung begünstigen. Dies fördert das Bewusstsein über die eigene Selbstwirksamkeit, die schließlich ein wichtiger Motivationsfaktor und eine entscheidende Präventionsbedingung ist. Dafür dass dieser dringend benötigte Wechsel vom Thema Schuld zum Thema Stolz auch gelingt, sind alle Akteure des Verantwortungsnetzwerks verantwortlich. Viele der sich im Präventionsrahmen des MBS ergebenden Verantwortungsbezüge sind inzwischen im PrävG reguliert worden. Jedoch bedarf es noch der konsequenten Umsetzung und dafür wurden hier Anregungen gegeben. So wurde gezeigt, dass die Erkenntnisse der Epigenetik zwar die biologische Ebene betreffen, aber die zentralen Maßnahmen zur zielgruppenspezifischen Prävention des MBS nicht auf biologischer, sondern kultureller Bildungsebene ansetzen sollten. Finanzielle Grenzen In aller Kürze möchte ich zum Schluss auf eine von den aufgezeigten Punkten abweichende Präventionsmöglichkeit hinweisen, in welcher der Gesetzgeber eine weitere zentrale strukturelle Grenze aufheben könnte, allerdings dieser Verantwortung bislang noch nicht nachgekommen ist. Dass finanzielle Grenzen bei sozioökonomisch schwachen Gesellschaftsschichten eine zentrale Rolle spielen, zeigt sich besonders bei der Ernährung. Hier sind zwei Aspekte wichtig: 39 In diesem Sinne forderten Richardson et al. (2014a/b), die Handlungsmöglich­ keiten vor den Risiken darzustellen.

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Zum einen kann ausgewogene Ernährung teurer sein.40 Zum anderen sind ungesündere Lebensmittel, die zu viel Zucker und Fett enthalten, somit energiedichter sind, gerade in Deutschland sehr günstig. Dass es deutliche schichtenspezifische Unterschiede bei der Ernährung gibt und Geringverdiener zu energiedichteren Lebensmitteln tendieren, dagegen aber weniger Obst und Gemüse verzehren, ist seit längerem bekannt (De Irala-Estevez et al. 2000; Muff & Weyers 2010). Der Preis von Lebensmitteln prägt das Ernährungsverhalten, und das hat entsprechende gesundheitliche Folgen. Von wem und vor allem wie kann diese finanzielle Grenze behoben werden? Dass dem Gesetzgeber im Hinblick auf das Verhalten der Bürger Grenzen gesetzt sind, wurde bereits angesprochen: Die Bürgerautonomie darf nicht verhindert werden, somit auch die gewählte Ernährungsweise nicht. Jedoch muss der Gesetzgeber nicht im harten, d. h. bestimmenden Sinne eingreifen, sondern kann auch indirekt, d. h. lenkend wirken, etwa durch die Möglichkeit der Preisgestaltung.41 In diesem Zusammenhang wird gegenwärtig die Besteuerung energiedichter Lebensmittel diskutiert, welche der gesundheitsabträglichen Ernährung im Hinblick auf mit MBS assoziierten Krankheiten gesamtgesellschaftlich vorbeugen soll. Diese „Kalorien“-Steuer alleine würde aber die finanziellen Grenzen nur noch verstärken. Daher ist es besonders sinnvoll, die Steuer an eine Subvention zu koppeln, d. h. die Steuereinnahmen zur Bezuschussung gesunder Lebensmittel einzusetzen. Eine solche Kombination könnte das Einkaufsverhalten der Bürger prägen und ihre Ernährung verbessern. Damit würden die bisher Benachteiligten gesundheitlich begünstigt, ohne dass ihnen ein finanzieller Nachteil entstünde.42 Im Rah-

40 Den Punkt möchte ich relativieren. Es stimmt, dass Bio-Lebensmittel teurer als „normale“ Lebensmittel sind, doch bedeutet das Prädikat Bio nicht notwendig, dass sie gesünder sind. Davon wird der zweite Punkt nicht berührt. 41 Ein besonders erfolgreiches Beispiel ist die Tabaksteuererhöhung in Deutsch­ land (DKFZ 2014). Diese ist auch in anderer Hinsicht aufschlussreich: So wird gegen die Kalorien-Steuer oft eingewendet, der Staat bevormunde seine Bür­ ger (Paternalismus). Obgleich nicht verbietend eingegriffen wird, bleibt dies ein Eingriff. Doch verdeutlicht die Tabaksteuer die spätere Akzeptanz derlei Steuern aufgrund der gesamtgesellschaftlichen Gesundheitsverbesserungen. 42 Eine 20-prozentige Verteuerung verringert den Konsum von Softdrinks um 24 % und Fast Food um 10 % (Effertz & Adams 2014). 20-prozentige Subven­ tionierung (Obst/Gemüse) erhöht den Konsum um 10 % (Powell et al. 2013).

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Grenzen

VerantworVerantwortungs-Subjekt tungs-Objekt

Sozioökonomische

GKV

Sprachliche

GKV

Epistemische

Fachverbände, Selbst-hilfeverbände GKV GKV

Psychische

GKV

GKV

Gesellschaft, öffentlicher Diskurs Finanzielle

Gesetzgeber

Primärpräventive Leistungen zur Verminderung sozial bedingter und geschlechtsbez. Ungleichheiten Eigenkompetenz, Interkulturalität und bilinguales Personal fördern Präventionsbewusstsein schärfen, Aufklärung zu kulturellen Grenzen Eigenkompetenz fördern Betroffenensphäre einbeziehen, Prävention in den Lebenswelten Eigenverantwortung und Eigenkompetenz fördern Gesundheitskompetenz von Familien insgesamt fördern Wechsel von Schuld zu Stolz, Entkopplung Schuld/ Verantwortung Ungesunde Lebensmittel besteuern, gesunde subventionieren

Verantwor tungsNorm PrävG, SGB § 20 (1)

VerantwortungsInstanz Gesetzgeber

SGB V § 1

Gesetzgeber

Hilfe zur Selbsthilfe

Moralische Gemeinschaft

SGB V § 1

Gesetzgeber

PrävG, Gesetzgeber SGB V § 20a

SGB V § 1

Gesetzgeber

PrävG, SGB Gesetzgeber VIII § 16 Moralische Fürsorge, GemeinSchadensvermeidung schaft Gesundheitsvorsorge

Moralische Gemeinschaft

men der theoretischen Debatte wurde die Bedeutung einer solchen Maßnahme bereits erkannt:43 Als Zusammenschluss der Verbände 43 Dies scheint zunächst zu unspezifisch für eine „epigenetische“ Prävention – die Disposition zum MBS kann durch Ernährungsverhalten nicht verändert werden. Das Vorhaben hat aber indirekt epigenetische Bedeutung: Erstens ist es plausi­ bel, dass die epigenetisch vorliegende Disposition erst bei starker Belastung des Stoffwechselsystems als MBS ausgeprägt wird; die gesündere Ernährung würde die Erkrankungsrate reduzieren. Zweitens lenkte diese Ausweitung der Diskus­

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Das Verantwortungsnetzwerk

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zu Krankheiten, welche mit dem MBS assoziiert werden, fordert z. B. die Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten in einem Strategiepapier zur Primärprävention dieser Krankheiten eine konsequente Umsetzung dieser Steuer (DANK 2015). Während andere Länder auf dieses gesellschaftliche Problem reagiert haben, dauert die Debatte in Deutschland aber an.44 Der deutsche Gesetzgeber sollte diese soziale und finanzielle Dimension des MBS anerkennen und die besondere Chance zu einer gesamtgesellschaftlichen und insbesondere zielgruppenspezifischen Prävention des MBS möglichst bald ergreifen. Abschließend möchte ich auf ein zeitliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Akteuren des Verantwortungsnetzwerks hinweisen. In den letzten beiden Abschnitten wurde gezeigt, dass den Handlungsmöglichkeiten der Schwangeren strukturelle Grenzen gesetzt sind. Im Hinblick auf die beiden Verantwortungsbedingungen Informiertheit und Entscheidungsfreiheit soll an die weiter oben bereits dargestellte Aussage des Medizinethikers Georg Marckmann erinnert werden (2, II, 3.2), welcher das logisch/temporale Bedingungsverhältnis folgendermaßen auf den Punkt bringt: „Nur wenn die Voraussetzungen für eine prospektive Wahrnehmung von gesundheitlicher Verantwortung geschaffen sind, ist es gerechtfertigt, Patienten und Versicherte retrospektiv für solche Erkrankungen verantwortlich zu machen, die auf einem gesundheitsschädlichen Verhalten beruhen. Würde man hingegen – aus Kostengründen – Patienten allein retrospektiv für selbstverschuldete Gesundheitsstörungen zur Verantwortung ziehen, ohne die Eigen­verantwortung im prospektiven Sinne entsprechend zu stärken, würde dies vor allem sozioökonomisch schlechter gestellte Patienten benachteiligen, die einen schlechteren Zugang zu gesundheitsrelevanten Informationen haben.“ (Marckmann 2010, 218) Hier wurde gezeigt, dass das Konzept Eigenverantwortung für eine auf den Erkenntnissen der Epigenetik aufbauende Prävention des MBS nicht hilfreich ist. Marckmanns Mahnung trifft aber sion den Fokus weg von bereits belasteten Schwangeren. Drittens erreichte diese Maßnahme auch ihr Gesundheitsverhalten, und dies würde die Disposition zum MBS in der Folgegeneration im Durchschnitt reduzieren. 44 Mexiko besteuert Lebensmittel, die mehr als 275 Kalorien pro 100 g enthalten; Frankreich führte 2012 eine Steuer für mit Zucker angereicherte Getränke ein; Lettland hat ungesunde Lebensmittel in Schulen und Kindergärten gänzlich ver­ boten. In Finnland und Ungarn wurden ebenfalls Steuern auf derlei energiedich­ te Lebensmittel erhoben.

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Zur Ethik der Epigenetik

auch auf die Verantwortungsmöglichkeit von Schwangeren zu, und daraus ergeben sich klare gesundheitspolitische Prioritäten: Zuerst muss ein Netzwerk bestehen bzw. aufgebaut werden, das die Handlungsgrenzen von Schwangeren in der Praxis aufheben kann. Erst dann ist es möglich, eine Verantwortung der Schwangeren zu behaupten. Eine unmittelbare Ableitung ihrer Verantwortung von einer biologischen Ebene, d. h. rein auf Grundlage der Erkenntnisse der Epigenetik, ist nicht möglich, da hierbei entscheidende Einschränkungen auf kultureller Ebene übersehen werden. Wie anhand der beiden Tabellen gesehen werden kann, besteht ein solches Verantwortungsnetzwerk der Struktur nach bereits im Ansatz, und viele Verantwortungsfelder sind schon von gesetzlicher Seite geregelt. Jedoch finden die Forschungserkenntnisse der Epigenetik zur Entwicklung des MBS darin gegenwärtig noch keine Beachtung. Für eine effiziente Prävention vor dem MBS sollten diese Erkenntnisse möglichst bald mit einbezogen werden und das gegenwärtig bloß potentielle Verantwortungsnetzwerk zur Unterstützung der Schwangeren aktiviert werden.

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In der vorliegenden Arbeit wurden die Konsequenzen des um die epigenetischen Regelmechanismen erweiterten Genbegriffes un­ tersucht. Aus der Perspektive der Epigenetik gilt das Gen als eine regulierte Einheit und ist im vollumfänglichen Sinne bereits auf theoretischer Ebene als mit dem regulativen Kontext verbunden zu verstehen. Diese sich nach dem HGP durchsetzende Erweiterung des Genbegriffes hat sowohl im Rahmen der Theorie der Biologie als auch dem der Ethik Konsequenzen. Diese Bereiche wurden in zwei Arbeitsteilen getrennt voneinander behandelt, sie bauen auf­ einander auf. Der Gesamtzusammenhang der Arbeit wird im Fol­ genden zusammengefasst. Der erste Teil der Arbeit widmete sich der Erweiterung des Genbegriffes. In vier Kapiteln wurde gezeigt, dass der Genbegriff im Lichte eines Wandels vom substanzontologischen zum prozesson­ tologischen Denken in der theoretischen Debatte zur Biologie refor­ miert werden muss und eine entsprechende Erweiterung des Gens durch die Epigenetik ein neues Umweltverhältnis bewirkt. Im ersten Kapitel Der Genbegriff im Wandel wurde der histo­ rische Diskurs zum Genbegriff in folgende drei Phasen eingeteilt: 1. In der Klassischen Genetik der ersten Hälfte des 20. Jh. wird das Gen von der Ebene des Phänotyps abgeleitet. Da es über Merkma­ le erschlossen wird, die sich gemäß Mendelscher Gesetze vererben, gelten Gene als Vererbungseinheiten und die Entwicklung wird me­ thodisch ausgeblendet. Die materiale Ebene des Gens ist zu dem Zeit­ punkt unbekannt. Zwar wird das Chromosom als Träger der Gene erkannt und es werden erste Erkenntnisse zu Mutationen und deren Verortungen im Chromosom gemacht, jedoch bleiben die Struktur und die Funktion des Gens noch verborgen. 2. Erst der biochemi­ sche Ansatz der Molekulargenetik in der zweiten Hälfte des 20. Jh. löste diese Probleme. War es davor unklar, ob Protein oder DNS die materiale Basis des Gens ist, konnte das Gen nun auf der DNS loka­ lisiert werden. In struktureller Hinsicht gilt das Gen fortan als ein

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von einem Start- und Stopcodon eingegrenzter, proteincodierender Basensequenzabschnitt der DNS. Diese Definition legt zugleich die Funktion fest: Durch die Transkription des DNS-Abschnitts in RNS und anschließende Translation wird eine in der Basensequenz der DNS gespeicherte Ordnung in die Aminosäuresequenz des Proteins übertragen und diese bestimmt dessen biochemische Eigenschaften. Neu entdeckte Techniken der Nukleinsäuremanipulation und ihre Anwendungen in der Tier- und Pflanzenzucht sowie großangeleg­ te Sequenzierungsprojekte verstärkten die Aufmerksamkeit auf die Struktur des Gens zum Ende des 20. Jahrhunderts. 3. Mit der Postgenomik, die durch den Abschluss des HGPs eingeleitet wurde, verändert sich die Debatte. Führte der Erkenntnisfortschritt bereits in der Molekulargenetik zu Spannungen im strukturell definierten Gen, kann diesen wegen neuer Erkenntnisse nicht mehr standge­ halten werden. So stellen Gene keine begrenzten Basensequenzab­ schnitte dar, sondern überlappen sich teilweise. Das Verhältnis von Gen und Genprodukt ist nicht ein-eindeutig; posttranskriptionale und -translationale Modifikationen bewirken die Umsetzung eines DNS-Abschnitts in mehrere Genprodukte. Schließlich wird er­ kannt: Das Gen ist keine selbsttätige Einheit, sondern es bedarf einer Regulierung. Zu Beginn des 21. Jh. gewinnt die Systembio­ logie als Forschungsprogramm der Biologie an Bedeutung; das stellt neue Anforderungen an den Genbegriff. Lag der Fokus vor­ mals auf der Struktur des Gens, tritt nun seine Funktion in den Vordergrund. Nun ist die Interaktion der beteiligten Faktoren zur Erklärung der physiologischen Entwicklungsprozesse entschei­ dend. Diese veränderte Forschungsperspektive löst eine Debatte über den Genbegriff der Postgenomik aus und deren Positionen lassen sich in einem Spannungsfeld zwischen der Auflösung und Erweiterung des Genbegriffes abbilden. Diese Debatte war die Aus­ gangsposition dieser Arbeit; sie widmete sich der Erweiterung des Genbegriffs. Das zweite Kapitel Das Gen als Entwicklungseinheit wendete sich der Gendebatte der Postgenomik zu. Entgegen dem vormali­ gen Verständnis vom Gen als Vererbungseinheit wurde das Gen hier aus drei Positionen als Entwicklungseinheit ausgelegt: 1. Beim Gen handelt es sich um eine entwickelte Entität zur Strukturierung der biologischen Phänomene; angesichts der Entstehungsgeschichte des Begriffs Gen wurde die Behauptung von einem im Sinne eines Naturdinges ontologischen Status des Gens zurückgewiesen. 2. Ge­ genwärtig steht ein bestimmtes Funktionsverständnis des Gens im https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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Fokus und dieses prägt das Verständnis seiner Struktur: Das Gen wird nicht mehr als eine persistente, d. h. raum-zeitlich stabile, son­ dern als transiente Einheit verstanden, welche z. B. während dem Vererbungsprozess gar nicht als Einheit vorliegt. Es setzt sich erst im konkreten Entwicklungsausschnitt zusammen; über den codie­ renden Abschnitt der DNS hinaus wird der molekulare Prozess zum Gen hinzugezählt, der zum Polypeptid führt. In der theoreti­ schen Debatte wurde ein tiefgreifender Wandel vom substanzon­ tologischen zum prozessontologischen Denken verzeichnet, wobei das Gen seinen Status von einer bestehenden Substanzeinheit zu einer entwickelten Prozesseinheit ändert. 3. In diesem Zusammen­ hang spielen die Erkenntnisse der jungen Epigenetik eine zent­ rale Rolle. Diese Teildisziplin der Molekulargenetik widmet sich der Erforschung der Genregulation. Bei der Genregulation bleibt die Basensequenz der DNS unverändert und nur die Zugänglich­ keit der Transkriptionsfaktoren zu bestimmten Genregionen wird über Regelmechanismen (DNS-Methylierung, RNS-Interferenz, Histonmodifizierung) räumlich begünstigt bzw. verhindert, sodass Gene entweder in einem aktiven oder inaktiven Zustand vorliegen. Aus dieser neuen Sicht ist nicht nur interessant, ob ein bestimm­ ter DNS-Abschnitt vorhanden ist, sondern auch in welcher Wei­ se er vorliegt und wie dieser Zustand verändert werden kann. Die Erkenntnisse der Epigenetik prägen das Entwicklungsdenken und helfen z. B. der Embryologie zu verstehen, wie die Entwicklung im Hinblick auf gattungsspezifische Gemeinsamkeiten voranschrei­ tet; die Differenzierung in Zelltypen, Gewebe und Organe wird durch ein lebenslang stabiles Genaktivitätsmuster bestimmt, das sog. „Zellgedächtnis“. Daneben haben epigenetische Modifikatio­ nen bei der Individualentwicklung Bedeutung und die Forschung zeigt, dass Umwelteinflüsse die Genregulation prägen und bei der Entwicklung bestimmter Krankheiten beteiligt sind. Da diese Gen­ aktivitätsmuster auf mitotischer, teilweise sogar meiotischer Ebene übertragen werden können und dies an Lamarcks historische The­ orie der Vererbung erworbener Eigenschaften (VeE) erinnert, wur­ den die Unterschiede beider Theorien herausgearbeitet. Während Lamarck zur Erklärung der Evolution eine irreversible, d. h. zeitlich stabile VeE behauptete, handelt es sich im Falle der Epigenetik aber um prinzipiell reversible Modifikationen, die nicht die gleiche evo­ lutionäre Bedeutung haben. Aufgrund dieser Unterschiede und der ideologischen Überfrachtung Lamarcks Theorie ist zwischen beiden Denkmodellen zu unterscheiden. https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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Im dritten Kapitel Das Gen als Determinante stand das epigene­ tische Verursachungsverständnis im Fokus. Nach einer Begriffsklä­ rung wurde auf zwei historische Denktraditionen zur Entwicklung eingegangen. Die Epigenesis- und Präformismus-Theorien stehen sich entgegen, insofern erstere eine stets neu entstehende und letz­ tere eine vorgeformte Entwicklung behauptet. Sie sind mit der Epi­ genetik begrifflich verbunden, da das Präfix epi- sich ursprünglich auf die Epigenesis-Theorie bezog und -genetik die Klassische Gene­ tik meinte, die in präformistischer Denktradition stand. Von diesem Synthese-Projekt Conrad Waddingtons weicht die Epigenetik zu Beginn des 21. Jahrhunderts ab; epi- meint das Raumverhältnis der regulativen Faktoren „auf“ der DNS. Da die Epigenetik die Debatte zum Gendeterminismus angeregt hat, diese aber von Fehlleistun­ gen geprägt ist, wurde das Verhältnis genetischer zu epigenetischen Faktoren bei der Entwicklung geklärt. Es wurde zwischen dem einfachen und dem verdeckten Gendeterminismus unterschieden. Der einfache Gendeterminismus wird als unilinearer Informationsfluss von der DNS über RNS und Protein bis zum Phänotyp gedacht. Danach spielt es für den Phänotyp keine Rolle, in welcher Umwelt er entwickelt wird. Weil die Genregulation aber umweltvermittelt geschieht und das zu verschiedenen Phänotypen führt, widerlegt die Epigenetik den einfachen Gendeterminismus. Dieser bidirek­ tionale Informationsfluss sagt aber nichts über die Charakteristik der beteiligten Informationsarten aus. Im Hinblick auf einen verdeckten Gendeterminismus wurde daher zwischen zwei Informa­ tionsarten unterschieden. Die kausale Information bezieht sich auf den Ordnungsgrad eines Systems, z. B. eines Binärcodes (Strom an/ aus), wird quantitativ erfasst und in der Einheit bit gemessen. Erst die intentionale Information bezieht sich auf die semantische Ebene und ist als eine Instruktion zu verstehen. Weil einzig diese inten­ tionale Information eine Zielausrichtung behauptet, liegt lediglich sie dem Gendeterminismus zugrunde (Gen x „für“ Merkmal X). Wenn eine Gen/Umwelt-Interaktion in der Epigenetik behauptet wird, so wird meist eine Asymmetrie mitbehauptet, denn es wird nicht von der gleichen Informationsart ausgegangen. Die über der DNS liegenden epigenetischen Faktoren werden mit kausaler Infor­ mation (Gen an/aus) assoziiert, die Basensequenz der DNS selbst wird dagegen aber mit der intentionalen Information in Verbindung gebracht; die Form „steckt“ danach in der DNS. Da dieser verdeckte Gendeterminismus vielen Metaphern zur Erklärung der Epigenetik zugrunde liegt, kann das molekulare Raumkonzept der Epigenetik https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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unterschwellig den Gendeterminismus fördern. Die systematische Ursache des Gendeterminismus wurde im Gen/Umwelt-Dualismus erkannt, da sich erst auf einer dualistischen Argumentationsbasis die Frage nach der initialen Formursache stellt. Daher kann der Gende­ terminismus nicht auf der empirischen Ebene der Epigenetik gelöst werden, – diese reproduziert ihn bloß – sondern nur auf der theore­ tischen Ebene. Für eine Lösung ist es notwendig, auf Dualismen und insbesondere auf die Vorannahme einer präexistenten (intentiona­ len) Information zu verzichten. Danach haben beide Seiten (geneti­ sche/epigenetische) den gleichen Status von Entwicklungsressour­ cen und aus ihrem Zusammenspiel emergiert die Information. Das vierte Kapitel Das Gen im Kontext griff den Gen/UmweltDualismus methodisch wieder auf, kehrte aber die Ausrichtung um. Wenn in Laboruntersuchungen Umweltverhältnisse standardisiert werden, sodass nur die genetischen Differenzen zur Erklärung der Merkmalsabweichungen übrig bleiben, könnten auch Umweltdif­ ferenzen die Merkmalabweichungen erklären; nämlich dann, wenn die genetischen Faktoren bei allen gleich wären. Nun gälte die Um­ welt als Determinante. In diesem Zusammenhang stellte sich die Frage, was Umwelt im Hinblick auf die epigenetische Genregulation sein könne. Die Fachdebatte zur Epigenetik konzentriert sich entwe­ der auf Vorgänge auf molekularer Mikroebene oder auf lebenswelt­ licher Makroebene. Dabei wird die Vermittlung zwischen den bei­ den Ebenen aber vernachlässigt. Für das Verständnis der Umwelt ist es zentral zu verstehen, wie sie vermittelt wird. Gemäß Jakob von Uexküll bezieht sich Umwelt auf einen Konstruktionsprozess, wo­ nach der Organismus Umwelt konstituiert, d. h. Umwelt präexis­ tiert nicht. Danach sind Außenreize nicht unmittelbar epigenetisch wirksam, sondern der Organismus ist wegen seines spezifischen Sensoriums nur für einen Ausschnitt erreichbar. Zudem werden diese auf mehreren Integrationsebenen transformiert. Die Umwelt ist 1. selektiv: manche Reize werden verarbeitet, 2. transformativ: Reize werden in interne Bedeutungsträger umgeformt und 3. rela­ tiv: ohne Organismus gibt es keine Umwelt. Da bei der Erklärung des Umweltbegriffes der Organismus vorausgesetzt werden muss, ist ein Umweltdeterminismus bereits auf theoretischer Ebene zum Scheitern verurteilt: Ontologisch betrachtet geht der Organismus der Umwelt voraus. Festzuhalten ist, dass bei der Erklärung der Morphogenese monokausale Verursachungskonzepte zu kurz grei­ fen. Bei der Entwicklung des Phänotyps spielt neben dem Genom und der Umwelt auch der Organismus eine Rolle, ohne dass einem https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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eine bevorzugte Position zufällt. In ebendiesem Sinne verstand der Namensstifter der Epigenetik Waddington die Entwicklung. Aktu­ elle Schlagzeilen legen nahe, dass Umwelt erst mit der Epigenetik eine Rolle im Gendiskurs spielt. Zwar erhält die Umwelt im Lichte des durch die Epigenetik erweiterten Genverständnisses erstmals einen konstitutiven Status im Genbegriff, jedoch wurde gezeigt, dass jede Epoche der Genetik einen Umweltbegriff hatte und dieser das Verständnis einer genetischen Verantwortung prägte. Ausge­ hend von der Mutationsforschung der 30er Jahre und dem auf der mutagenen Wirkung radioaktiver Strahlung beruhenden Modell der Dosis-Wirkungskurve bezog sich das angesichts der atomaren Risiken des Kalten Krieges in den 50er Jahren entwickelte Konzept der Strahlenhygiene auf politische Verantwortung. Danach ver­ schob die Entdeckung molekularer Reparaturmechanismen, die von einer Selbstheilungskraft des Organismus zeugten und ein neues Referenzmodell erforderten, in Zusammenwirkung mit einem neo­ liberalen Politikverständnis die Verantwortung nach den 70er Jah­ ren in den Privatbereich des Selbstmanagements. Im historischen Verlauf verändert sich der genetische Umweltbegriff und damit einhergehende Handlungen und somit auch Verantwortungen ver­ schoben sich zunehmend vom politischen in den privaten Bereich. Dass die Epigenetik diese letzte Auslegungsweise verschärft und in ihren Konsequenzen zu einer Individualisierung in der genetischen Verantwortungsdebatte beiträgt, war die den ersten Teil beendende Abschluss- und den zweiten Teil eröffnende Ausgangsthese. Der zweite Teil der Arbeit widmete sich der Ethik der Epigenetik. Hier wurde gezeigt, dass das durch die Epigenetik eingeleitete Um­ weltverständnis (Teil 1) die Öffentlichkeit erreicht hat und einen neuen Diskurs prägt. Ausgehend von den Hauptthemen dieses Dis­ kurses wurde ein Fokus auf die Verantwortungsdebatte gelegt und ethische Schwierigkeiten am Fallbeispiel ausgearbeitet. Das erste Kapitel Der öffentliche Epigenetikdiskurs nimmt eine Scharnierfunktion ein und diente zur Sondierung besonders drän­ gender ethischer Themen. Dies geschah durch eine Diskursanaly­ se. Mit der Etablierung der Forschungsdisziplin Epigenetik geht ein öffentlicher Diskurs einher, in dem sich wissenschaftliches Fakten­ wissen mit lebensweltlichem Zeitgeschehen verbindet. Im Vorfeld wurde die Epigenetik den new and emerging sciences and technologies zugeordnet, da das neue Wissen im Hinblick auf seine Anwen­ dung generiert wird. Die Ergebnisse der Diskursanalyse bestätigten diese Zuordnung. Auf Seiten populärwissenschaftlicher Ratgeber https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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zur Epigenetik werden nämlich drei Hauptthemen diskutiert. Diese sind, 1. der durch die Epigenetik eingeleitete Epochenwandel und die Ablösung von einem Genfatalismus, 2. das dadurch beförderte The­ ma lebensstilbedingter Steuerbarkeit der Genregulation und 3. sich in Folge dieser Steuerbarkeit ergebende Verantwortungsbereiche. Aufgrund der Ausrichtung der analysierten Ratgeber lässt sich die Diskussion dieser Themen auf den Gesundheitsbereich eingrenzen. Bei der Analyse der Rezipienten fiel eine interessante Verschiebung auf. Während die ersten beiden Themenbereiche von ihnen unver­ ändert wiedergegeben wurden, wurde Verantwortung hier nur noch auf einer individualethischen Ebene diskutiert. Hier war vor allem die Eigenverantwortung das Thema. Da die Genregulation vermit­ tels der selbst wählbaren Umwelteinflüsse als lenkbar gilt, wird dem Lebensstil im öffentlichen Epigenetikdiskurs der Status einer Bio­ technik zur Optimierung der Gesundheit zugeschrieben. Die The­ men konnten in einen weiteren Zusammenhang gesetzt werden: Sozialwissenschaftliche Analysen zeigen, dass Selbstregulation im Präventionsbereich hauptsächlich in einer bildungsnahen Gesell­ schaftsschicht gelingt. Dies ist interessant, wenn beachtet wird, in welchem Rahmen Eigenverantwortung im öffentlichen Diskurs zur Epigenetik thematisiert wird. Ein Kernthema sind lebensstilbedingte Volkskrankheiten. Beachtet man, wer Eigenverantwortung thema­ tisiert und wen die Krankheiten betreffen, fällt eine Asymmetrie auf. Dass lebensstilbedingte Krankheiten hauptsächlich in bildungs­ ferneren Schichten mit niedrigem sozioökonomischem Status zu finden, in bildungsnahen allerdings selten sind, ist bekannt. Jene, welche mehr Eigenverantwortung fordern, sind aufgrund ihrer Vor­ sorge nicht primär von den Krankheiten betroffen. Den Betroffenen aber ist die Bedeutung der Eigenverantwortung nicht gewahr, bzw. ihre Stimme ist im Diskurs nicht vertreten. Dies sollte eine Präven­ tion beachten. Dass mit der Epigenetik ein neuer Verantwortungs­ diskurs einhergeht, wurde bereits von anderen Autoren erkannt. Allerdings wurde der zumeist als ungerechtfertigte „Panikmache“ abgetan oder vor unsicherem Wissen gewarnt – demnach gilt die Diskussion als verfrüht. In dieser Arbeit wurde eine andere Position eingenommen: Ausgehend von den Ergebnissen der Diskursanalyse wurde im Folgenden ihre ethische Bedeutung ermittelt. Aus der Per­ spektive einer prospektiven Bioethik gilt die frühzeitige Ermittlung von Handlungs- und Verantwortungsbereichen als eine Chance. Im zweiten Kapitel wurden Die theoretischen Verantwortungsbedingungen nach einem anfänglichen historischen Überblick über https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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die Anwendungsbereiche der Verantwortung in der Bioethik für die spätere Verantwortungsanalyse herausgearbeitet. Aus einer sozial­ ethischen Sichtweise gilt Verantwortung als Zuschreibungsbegriff. Wenn einer Person Verantwortung für eine Situation zugeschrie­ ben wird, müssen aber Handlungsbedingungen erfüllt sein: 1. Zu­ nächst muss eine willentliche Handlung vorliegen, es bedarf einer Zielausrichtung. 2. Zur Erreichung dieses Zieles ist die Kenntnis der dahin führenden Mittel notwendig. Angesichts dieser Mittel/ Zweck-Rationalität ist der Status des empirischen Wissens wich­ tig, hier der Epigenetik. Dieses bezieht sich selbst nicht auf Ziele, hat somit keinen normativen Status (naturalistischer Fehlschluss), sondern auf Mittel zur Erreichung solcher Ziele, etwa der Fürsorge. 3. Die Freiwilligkeit ist eine letzte Voraussetzung; danach dürfen weder volitionale noch praktische Behinderungen vorliegen. In pro­ zessualer Hinsicht wurde zwischen einem pro- und retrospektiven Moment der Verantwortung unterschieden. Zwischen ihnen be­ steht eine logische Beziehung, da eine Person retrospektiv nur dann verantwortlich gemacht werden kann, wenn sie um diese Aufgabe prospektiv hätte wissen und diese auch bewältigen können. Im Hin­ blick auf die Eröffnung neuer Handlungsbereiche durch die Epige­ netik ist ein weiterer Umstand interessant. Mit der Eröffnung eines Handlungsbereichs wird auch ein Risikoraum eröffnet: Sollte das gesetzte Ziel nicht erreicht werden, wird der Akteur den entstan­ denen Schaden aufgrund seiner Annahme, als einzige Ursache zu wirken, anders als davor, nicht der Natur, sondern sich selbst zu­ rechnen. Dabei ist zu beachten, dass sich die damit verbundenen psy­ chischen Kosten verdoppeln, da bereits im Vorfeld eines möglichen Schadens das Risikobewusstsein psychische Spannungszustände bewirkt. Schließlich wurde geklärt, was Eigenverantwortung meint. Im ethischen Anwendungsbezug wird eine Situation anhand eines relationalen Verantwortungsbegriffes für weitere Untersuchungen erschlossen; gemäß einem viergliedrigen Verantwortungsbegriff ist jemand (Subjekt) für etwas (Objekt) vor jemandem (Instanz) aufgrund normativer Standards (Norm) verantwortlich. In diesem Rahmen wurde gezeigt, dass es zwar durchaus möglich ist, die In­ stanz oder Norm bei der Eigenverantwortung in den Vordergrund zu stellen. Jedoch bezieht sich das Präfix „Eigen-“ im betrachteten Epigenetikdiskurs auf die beiden verbleibenden Relata Subjekt und Objekt. Es ist nötig, sich als Handlungs- und Verantwortungssubjekt zu verstehen, was Eigenverantwortung zunächst als leere Tautologie erscheinen lässt: Da jegliche Verantwortung sich auf ein Subjekt be­ https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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ziehen muss, betont das Präfix nur das aktive Moment der Verant­ wortungsübernahme. Eigenverantwortung bezieht sich damit vor allem auf das Objekt der Verantwortung, den Handelnden, hier seine gesundheitsbezogenen Handlungen; der Selbstbezug unterscheidet Eigenverantwortung von anderen Verantwortungsarten. Das dritte Kapitel ist zweigeteilt und hier wurden Die empirischen Verantwortungsbedingungen einer durch die Epigenetik auf­ geworfenen Verantwortung dargestellt. Der erste Teil wendete sich der Verantwortungsreichweite einer „epigenetischen“ Verantwor­ tung im Allgemeinen zu und geklärt wurde, wie lange epigenetische Modifikationen beim Menschen bestehen. Verschiedene Arten epi­ genetischer Modifikationen wurden dargestellt und im Hinblick auf Entstehungszeitpunkt, Stabilität, Beeinflussbarkeit durch den Le­ bensstil sowie die damit assoziierten Krankheiten voneinander ab­ gegrenzt. Wegen ihrer lebenslangen Stabilität und ihrer Beeinfluss­ barkeit durch den Lebensstil sticht besonders die Programmierung physiologischer Regelsysteme als Verantwortungsthema hervor. Die Aussage, dass mit der Epigenetik eine transgenerationale Verantwortung verbunden sei, wurde eingegrenzt: Gegen eine epige­ netische Vererbung beim Menschen sprechen mehrere Gründe und es wurde gezeigt, dass diese teils unabhängig vom Wissensstand der Epigenetik bestehen. Die einzige Form transgenerationaler Über­ tragung epigenetischer Modifikationen erfolgt bei der Programmie­ rung physiologischer Regelsysteme, weil dabei der (seinerseits ge­ prägte) mütterliche Organismus als Richtwert dient. Da es sich um Neuentwicklungen handelt und diese auch unterbrochen werden können, meint dies aber nicht Vererbung im genetischen Sinne. Da eine Verantwortungsanalyse eine konkrete Situation voraussetzt, ergibt die Behauptung einer epigenetischen Verantwortung per se keinen Sinn. Daher wurde im zweiten Teil auf das Fallbeispiel Metabolisches Syndrom (MBS) eingegangen – ihm wendete sich die restliche Arbeit zu. Dabei handelt es sich um eine lebensstilbedingte Krankheit, die im öffentlichen Epigenetikdiskurs häufig mit dem Thema Eigenverantwortung in Verbindung gebracht und auch im Fachdiskurs zunehmend thematisiert wird. Das MBS wird diagnos­ tiziert, wenn Adipositas, Diabetes Typ 2, Fettstoffwechselstörung und Bluthochdruck gleichzeitig vorliegen. Seine Thematisierung im Epigenetikdiskurs bezeugt einen Wandel im genetischen Verur­ sachungsdenken. Galten früher die Einzelkrankheiten als genetisch verursacht, wird nun, wie im Rahmen der Developmental Origins of Health and Disease-Bewegung, die gesamte Lebensspanne zur https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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Erklärung des MBS herangezogen. In diesem Bezugsrahmen wur­ den zwei Ätiologien vorgestellt, in welchen die Epigenetik zentral ist. Die Theorie der Predictive Adaptive Response erklärt das MBS anhand eines evolvierten Adaptionsmechanismus. Danach wird das Genaktivitätsmuster des metabolischen Regelsystems an das prä­ natale Nahrungsangebot optimiert, sodass spätere Abweichungen von der frühen Umwelt zu einer krank machenden Überlastung des Stoffwechselsystems führen. Die Theorie der Adaptive Predictive Response erklärt das MBS als Prägungsprozess. Treten in Entwick­ lungsphasen Störungen wie Schwangerschaftsdiabetes auf, führt dies zu einer dauerhaften Fehlprägung des Stoffwechselsystems, welche zum MBS führt. In beiden Modellen nehmen epigenetische Modifikationen bei der Programmierung physiologischer Regelsys­ teme eine zentrale Funktion ein. Diese früh entwickelten Genak­ tivitätsmuster sind lebenslang stabil und können eine Disposition zum MBS festlegen. Im vierten Kapitel Das Verantwortungsnetzwerk wurden die vorangehenden Teile zusammengeführt und die Konsequenzen des durch die Epigenetik erweiterten Genbegriffes im Präventionszu­ sammenhang des MBS ermittelt. Das Kapitel ist in drei Teile auf­ geteilt. Zuerst wurde gezeigt, dass obwohl es sich bei der Epigene­ tik um ein junges Forschungsgebiet handelt, dennoch bereits jetzt wichtige ethische Arbeit geleistet werden kann: Zum einen ist es auf Basis des bestehenden Wissens möglich, den aktuellen Fokus auf die Eigenverantwortung kritisch zu prüfen (retrospektive Bioethik). Zum anderen kann ein plausibles Verantwortungsszenario entwickelt werden, sodass möglichst früh gegen das MBS vorge­ gangen werden kann (prospektive Bioethik). Im zweiten Teil wurde aus einer biologisch/medizinischen Sicht untersucht, ob gemäß der epigenetischen Ätiologien zum MBS Anlass zu dem im öffentlichen Diskurs zur Epigenetik behaupteten Fokus auf die Eigenverantwor­ tung besteht. Aufgrund der im Rahmen der Ätiologien ermittelten epigenetischen Eingriffsbereiche wurde gezeigt, dass Eigenverant­ wortung bei einer „epigenetischen“ Prävention vor dem MBS kei­ ne Bedeutung haben kann. Da der entscheidende Eingriffsbereich in der pränatalen Entwicklungsphase liegt, wird eine epigenetische Disposition zum MBS nicht durch den eigenen Lebensstil, sondern die Verhältnisse während der Schwangerschaft bestimmt. Dies be­ wirkt eine Verschiebung der Verantwortungsdebatte. Mit der The­ matisierung einer weiteren, nun „epigenetischen“ Verantwortung der Schwangeren ist aber vorsichtig umzugehen, da ihre Überforde­ https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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rung droht. Im dritten Teil wurde daher die bisher unmittelbar auf biologische Bezüge konzentrierte Perspektive zugunsten einer so­ zialethischen Sicht erweitert. Da den Handlungsmöglichkeiten der Schwangeren strukturelle Grenzen gesetzt sind, wurde ein Akteur/ Struktur-Modell zur Ermittlung der übrigen Akteure verwendet, die ihre Präventionsgrenzen aufheben können. Um eine erfolgrei­ che epigenetische Prävention vor dem MBS zu ermöglichen, müssen diese weiteren Akteure mit in den Kreis der Verantwortungsakteure einbezogen werden. Im Hinblick auf ein derart umfassendes Ver­ antwortungsnetzwerk wurde zwischen Akteuren einer universellen und einer zielgruppenspezifischen Präventionsstrategie unterschie­ den. In einem universellen Präventionsansatz wurden die allgemei­ nen Handlungsgrenzen beachtet, denen alle Schwangere unterlie­ gen. Diese betreffen im Wesentlichen Wissensgrenzen, aber auch diagnostische, präventive und ökologische Grenzen verhindern die Präventionsmöglichkeit der Schwangeren und sind daher aufzuhe­ ben. In einem zielgruppenspezifischen Präventionsansatz wurde auf Handlungsgrenzen von Personen aus sozioökonomisch schwachen Bevölkerungsschichten eingegangen, welche aufgrund einer trans­ generationalen Übertragbarkeit der epigenetischen Disposition zum MBS besonders von diesem bedroht sind. Ihre Grenzen sind im We­ sentlichen sprachlicher, epistemischer, psychischer und finanzieller Art. Die Erkenntnisse der Epigenetik können dazu beitragen, das MBS zurückzudrängen. Wie gezeigt wurde, darf aber bei einer sol­ chen Prävention nicht nur am Einzelnen angesetzt werden, sondern die Beachtung eines umfassenden Verantwortungsnetzwerkes ist erforderlich. Festzuhalten ist, dass die Erweiterung des Genbegriffes durch die Epigenetik und die durch dieses Wissen ermöglichte Auswei­ tung des Handlungsbereichs zwar eine erweiterte Verantwortung erfordert. Doch anders als im öffentlichen Diskurs zur Epigenetik behauptet kann damit – zumindest im untersuchten Präventions­ kontext des MBS – nicht die Konzentration auf den individuellen Lebensstil und die Eigenverantwortung gemeint sein. Die For­ schungserkenntnisse der Epigenetik verdeutlichen die Eingebun­ denheit des Menschen in biologische, aber auch kulturelle Bezüge, die sich teilweise der Handlungsfähigkeit des Einzelnen entziehen und gerade deswegen die gegenseitige Unterstützung vieler erfor­ dern. Die Erkenntnisse, etwa über die frühkindlichen epigeneti­ schen Prägungsfenster, dürfen aber, sozusagen dem anderen Extrem anheimfallend, nicht zur Lossagung von jeglicher Eigenverantwor­ https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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tung genutzt werden, wobei die Ursache z. B. für das Ernährungs­ verhalten auf andere, etwa auf das der eigenen Mutter, abgewälzt wird. Einem solchen Rückschritt, nun in einen epigenetischen Fatalismus, sollte unbedingt vorgebeugt werden. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit konnte nicht auf alle durch die Epigenetik aufgeworfenen ethischen Themenbereiche einge­ gangen werden und es wurde ein Schwerpunkt auf den Themen­ komplex Lebensstil und Verantwortung gelegt. Dieser wurde am Fallbeispiel MBS exemplarisch untersucht. Unbehandelt blieben dabei im engeren Sinne biotechnische Themenkomplexe, wie die Epigenom-Editierung. Dieser Themenbereich weicht vom oberen ab, insofern dabei ohne Umweg (durch das Verhalten) unmittel­ bar auf molekularer Ebene epigenetisch modifizierend eingegriffen wird. Die ethische Untersuchung dieser Bereiche muss an anderer Stelle erfolgen.

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Allel – Eine von mehreren Zustandsformen eines Gens. Spezies mit diploiden Chromsomensatz, zum Beispiel der Mensch, können am betreffenden Genort der beiden homologen Chromosomen über zwei unterschiedliche (Heterozygotie) oder gleiche Allele (Homozygotie) eines Gens verfügen. Im Falle der Methylierung kann ein Allel Metylierungen aufweisen, das andere nicht. Blastozyste – In der frühen Embryonalentwicklung der Säugetiere entstehender Hohlkeim, der in seinem Inneren den Embryoblast enthält, eine Zellmasse, aus welcher der eigentliche Embryo hervorgeht; der Embryoblast enthält die embryonalen Stammzellen. Chromatin – Substanz, aus der die Chromosomen aufgebaut sind; besteht zu etwa gleichen Teilen aus DNS und Proteinen, insb. Histonen. Komplex im Zellkern, welcher während der Zellteilung zu Chromosomen kondensiert; kommt als Euchromatin und Heterochromatin vor. Chromosom – Makromolekülkomplexe aus DNS und Protein; Verpackungseinheit der DNS. Chromosomen kommen in Zellkernen von Zellen bei Eukaryoten vor und beinhalten fast ihre gesamte DNS (außer die von Mitochondrien). CpG-Inseln – Genregulative Abschnitte der DNS, in denen Cytosin-Guanin-Sequenzen (CpG-Dinukleotide) in überdurchschnittlicher Häufung zu finden sind, oft in Verbindung mit Genpromotoren. Sofern diese nicht methyliert sind kann das Gen transkribiert werden, ist also aktiv. Deletion – Verlust von DNS-Abschnitten, von kurzen Sequenzen bis zu ganzen Chromosomen. Diploid – Zweifach. Der Chromosomensatz der Körperzellen des Menschen ist diploid.

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Embryo – Keim, der sich aus der befruchteten Eizelle entwickelt. Nach Ausbildung der inneren Organe wird der Embryo als Fetus bezeichnet – dies ist beim Menschen nach der neunten Schwangerschaftswoche. Epiallel – Analog zu Allel; eine von mehreren epigenetischen Zustandsformen in dem ein Gen vorliegen kann. Anders als Allele können sich Epiallele im Verlauf des Lebens verändern. Epigenetik – Teildisziplin der Molekulargenetik, welche die Faktoren der Genregulation erforscht. Dabei werden Änderungen der Genfunktion untersucht, welche sich nicht durch Modifikation der DNS erklären sich allerdings dennoch an Tochterzellen weitergeben lassen. Epigenom – Analog zu Genom; bezeichnet die Gesamtheit aller epigenetischen Zustände eines Organismus. Anders als das Genom, in dem die Basensequenz in nahezu allen Zellen eines Organismus die gleiche ist, weicht das epigenetische Muster zelltypspezifisch ab und kann sich im Verlauf des Lebens verändern. Epigenotyp – Analog zu Genotyp; bezeichnet die spezifische epigenetische Ausstattung (Epiallel-Kombination) eines Individuums. Epimutation – Analog zu Genmutation; spontane oder durch Umwelteinflüsse induzierte reversible Veränderung der epigenetischen Markierungsmuster; kann unter Umständen vererbt werden. Euchromatin – Einer von zwei Zuständen des Chromatins. Entgegen dem Heterochromatin liegt die DNS hier in weniger dicht gepackter Form vor und hier findet die meiste Genaktivität statt. Exon – Kodierender Abschnitt eines Proteingens; Exons werden durch nichtcodierende Introns unterbrochen, welche durch posttranskriptionale Modifikationen entfernt werden (Spleißen). Expression – Ausprägungsprozess des Genotyps eines Organismus, bzw. einer Zelle in einen Phänotyp. Im engeren Sinne meint Genexpression die Biosynthese von Proteinen entlang der Transkription und Translation. Gameten – Männliche und weibliche Geschlechts- oder Keimzellen, welche von den primären Geschlechtsorganen gebildet werden und bei der Befruchtung unter Bildung der Zygote (der befruchteten Eizelle) miteinander verschmelzen.

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Gametogenese – Bezeichnet den Entwicklungsprozess der Gameten aus einer Urkeimzelle. Gen – Grundeinheit der Genetik; bezeichnet in der Molekulargenetik eine proteinkodierende Basensequenz (ORF) der DNS, eingeleitet von einem Start- und beendet durch ein Stopcodon. Genom – Gesamtheit aller in DNS gespeicherter Erbinformationen eines Organismus. Genomik – Teildisziplin der Molekulargenetik, welche sich mit der Erforschung von Genomen auf Sequenzebene befasst (strukturelle Genomik) und die Wechselwirkungen zwischen Genen und den genomischen Signalstrukturen (funktionelle Genomik) untersucht. Bezeichnet auch den Sprung von der Untersuchung einzelner Gene (Genetik) zur Analyse ganzer Genome (Genomik). Genotyp – Die spezifische genetische Ausstattung (Allelkombination) eines Individuums. Genregulation – Steuerung der Aktivität von Genen, speziell der Genexpression. Hier wird festgelegt, zu welcher Zeit und in welcher Menge das in DNS codierte Protein gebildet wird. Haploid – Einfach. Der Chromosomensatz der Geschlechtszellen des Menschen ist haploid. Heterochromatin – Einer von zwei Zuständen des Chromatins. Entgegen dem Euchromatin liegt die DNS hier in dicht gepackter Form vor und es findet weitgehend keine Genaktivität statt. Histon – Relativ kleine Proteine, welche die Untereinheiten eines Nukleosoms bilden. Das eine Ende ihrer Aminosäureketten ragt als Histonschwanz heraus und kann Modifikationen erfahren. Imprinting – Genomische Prägung; mütterliche oder väterliche Herkunft eines Gens entscheidet über Genexpression; wird zumeist durch DNS-Methylierung über die Keimzellen weitergegeben. Intron – Nichtkodierende Sequenzen eines Proteingens, die zwischen kodierenden Exons liegen. Introns werden mit transkribiert und später aus der RNS durch Spleißen herausgeschnitten. Keimbahn – Zellenfolge von der befruchteten Eizelle über die Urkeimzelle zu den Keimzellen. Keimzelle – Eizelle oder Spermium.

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Klassische Genetik – Hier Epochenbegriff; erste Phase der Genetik in der die Mendelschen Erbgesetze das zentrale Forschungsparadigma darstellen. Genetik wird als Transmissionsgenetik betrieben, d. h. die Übertragung von Merkmalen auf die nächsten Generationen wird untersucht. Maternale Effekte – Nichtgenetische Einflüsse der Mutter auf ihre Nachkommen. Meiose – Reife- oder Reduktionsteilung; zwei aufeinanderfolgende Zellteilungen mit einer nur einmaligen Verdopplung der DNS, wodurch eine Reduktion auf den einfachen (haploiden) Chromosomensatz erreicht wird. Findet ausschließlich bei der Entwicklung von Keimzellen statt. Metabolisches Syndrom – Auch tödliches Quartett genannt; wird diagnostiziert, wenn Adipositas, Diabetes Typ 2, Fettstoffwechselstörung und Bluthochdruck gleichzeitig vorliegen – zusammen auftretend verstärkt sich die Wirkung dieser Einzelkrankheiten (Syndrom). Methylierung – Anhaftung einer Methylgruppe an die DNS (genauer: an die Base Cytosin) oder an Proteine, z. B. an die Histonschwänze der Nukleosomen. Mitose – Einfache Zellteilung. Entgegen der Meiose entstehen nicht haploide, sondern diploide Zellen. Molekulargenetik – Hier Epochenbegriff; eine Phase der Genetik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auf der Grundlage eines biochemischen Forschungsparadigmas wird die materiale Ebene der Vererbung aufgeklärt und dabei das Gen auf der DNS lokalisiert. Die Struktur und Funktion des Gens wird auf dieser Basis weiter erschlossen. mRNS – Messenger- oder Boten-RNS. Produkt der Transkription und des nachfolgenden Spleißens; verlässt den Zellkern und transportiert die Information der DNS zu den Ribosomen, den Orten der Proteinbiosynthese. Mutation – Hier Genmutation; vererbbare Veränderung der DNSSequenz; entsteht durch Kopierfehler bei der Replikation oder Mutagene, z. B. radioaktive Strahlung oder Chemikalien. Nukleosom – Komplex aus acht Histonmolekülen (je zwei H2A, H2B, H3 und H4), um den im Chromatin gut anderthalb Windungen der DNS gewickelt sind; „Verpackungseinheit“ der DNS.

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Omics – Eigentlich ein Suffix (Genomik, Proteomik, etc.); Teilgebiet der Systembiologie, welche Einzelfaktoren einer bestimmten Funktionsebene analysiert. Z.B. beschäftigt sich die Proteomik mit der Gesamtheit aller Proteine (Proteom), die zu einer bestimmten Zeit in der Zelle vorliegen. Ontogenese – Auch Individualentwicklung; bezeichnet die Entwicklung eines Einzelwesens, oder Organismus im Gegensatz zur Stammesentwicklung (Phylogenese). Open reading frame – Proteincodierender Leserahmen; liegt zwischen einem Start- und einem Stopcodon. Dieser Abschnitt wird von DNS in mRNS transkribiert und in Protein translatiert. Organogenese – Entwicklungsprozess bei mehrzelligen tierischen Organismen, in welchem die Organanlagen während der Embryogenese entwickelt werden. Phänotyp – Erscheinungsbild und Verhalten eines Organismus; Summe aller Merkmale und Eigenschaften. Phylogenese – Auch stammesgeschichtliche Entwicklung; meint Entwicklung aller evolutionär aus gemeinsamen Vorfahren hervorgegangenen Lebewesen; ein Gegenbegriff zur Ontogenese. Postgenomik – Hier Epochenbegriff; meint die Phase der Molekulargenetik nach dem Human Genom Projekt, auf deren Ergebnissen aufbauend nun genetische Forschung betrieben wird. Promotor – Regulatorische Sequenz eines Gens, an die das Enzym RNS-Polymerase bindet, um die Transkription einzuleiten. Protein – Makromolekül, Produkt der Proteinbiosynthese; aus spezifisch zusammengesetzten und gefalteten Aminosäureketten bestehend. Replikation – Verdopplung der DNS einer Zelle; erfolgt während der Synthese-Phase des Zellzyklus in Vorbereitung auf eine Zellteilung. RNS-Interferenz – Zerstörung komplementärer mRNS. Der Prozess wird durch doppelsträngige RNSs ausgelöst und durch kurze doppelsträngige RNSs geleitete; zielt vor allem auf Viren und Transposons. Zu übertragende Information wird zerstört und die Translation somit verhindert.

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Sequenzierung – Ermittlung der Basenfolge der DNS oder RNS; nach dem Human Genom Projekt und den dabei entwickelten Technologien ein weitgehend automatisierter Arbeitsprozess. Small interfering RNS – Kurze Sequenzen (21-25 Basenpaare) doppelsträngiger RNS; Produkt des Dicer-Komplexes; wirkt bei RNSInterferenz und zerstört hier die komplementäre mRNS. Spleißen – Entfernung nichtcodierender Introns aus einem RNSTranskript und Verkopplung der codierenden Exons zu einer mRNS, die als Proteinvorlage dient. Durch alternatives Spleißen können aus einem Transkript mehrere unterschiedliche mRNSs entstehen, somit auch unterschiedliche Proteine. Startcodon – Erstes Basentriplett eines offenen Leserasters (ORF); leitet die Transkription von DNS in mRNS und damit die Proteinbiosyhnthese ein. Stopcodon – Letztes Basentriplett eines offenen Leserasters (ORF); beendet die Transkription von DNS in mRNS und Translation in Protein, codiert für keine Aminosäure (nonsensecode). Systembiologie – Hier übergeordnetes Forschungsprogramm der Biologie nach dem Human Genom Projekt. Bezeichnet auch einen Zweig der Biowissenschaften, der Organismen in ihrer Gesamtfunktion verstehen will und regulatorische Prozesse aller Funktionsebenen integriert. Totipotent – Stammzellen, aus denen alle Zellen des Organismus entwickelt werden können. Transkript – Produkt des Transkriptionsprozesses; RNS-Kopie von einem Abschnitt der DNS. Transkription – Übertragung der Sequenz eines DNS-Stranges in die komplementäre RNS. Translation – Übersetzung der mRNS in die Aminosäurekette eines Proteins; findet an den Ribosomen statt. Transposon – Bewegliches genetisches Element, „springendes Gen“. Zellzyklus – Entwicklungsprozess der Zellen von einer Zellteilung bis zur nächsten Zellteilung.

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Abb. 1: Online verfügbar unter: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/0/0a/ DNA_alternative_splicing.gif (zuletzt geprüft am: 09.01.2016) Abb. 2: Winkelmann, S. (2007): Dynamische Aspekte der Kernarchitektur: S/MARs und ihre Rolle bei der Etablierung aktiver Transkriptionseinheiten. (S. 8). Online verfügbar unter: http://d-nb.info/98487044X/34 (zuletzt geprüft am: 09.01.2016) Abb. 3: Nordheim, A.; Knippers, R. (Hg.) (2015): Molekulare Genetik. Stuttgart [u. a.]: Thieme. (S. 444) Abb. 4: Waddington, C.H. (1957): The Strategy of the genes: a discussion of some aspects of theoretical biology, London: Allen & Unwin. (Bild oben S. 29; Bild unten S. 36) Abb. 5: Online verfügbar unter: http://missinglink.ucsf.edu/lm/genes_and_genomes/methylation.html (zuletzt geprüft am: 09.01.2016) Abb. 6: Maynard Smith, J. (1993): The Theory of Evolution, Cambridge. (S. 79) Abb. 7: Berger, S. L; Kouzarides, T.; Shiekhattar, R.; Shilatifard, A. (2009): An operational definition of epigenetics. In: Genes & Development 23 (7), S. 781-783. (S. 782) Abb. 8: Smallwood, S. A.; Kelsey, G. (2011): De novo DNA methylation: a germ cell perspective. In: Trends Genet. 28(1), S. 33-42. (S. 34) Abb. 9: Michels, K. B.; Waterland, R. A. (2012): The Role of Epigenetics in the Developmental Origins of Health and Disease. In: K.B. Michels (Hg.): Epigenetic epidemiology. Dordrecht, New York, S. 105-116. (S. 108) Abb. 10: Epigenetics and Inheritance: Learn.Genetics – Genetics Science Learning Center. University of Utha – Health Sciences. Online verfügbar unter: http://learn. genetics.utah.edu/content/epigenetics/inheritance/ (zuletzt geprüft am: 09.01.2016) Abb. 11: Stöger, R. (2008): The thrifty epigenotype: an acquired and heritable predisposition for obesity and diabetes? In: Bioessays 30 (2), S. 156-166. (S. 161) Abb. 12: Gluckman, P. D.; Hanson, M. A.; Beedle, A. S. (2007): Early life events and their consequences for later disease: a life history and evolutionary perspective. In: Am J Hum Biol. 19(1), S. 1-19. (S. 8)

https://doi.org/10.5771/9783495813331 .

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