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German Pages 390 Year 2015
Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 259
Das Rechtsgut des § 176 StGB Zugleich ein Beitrag zur Leistungsfähigkeit des Rechtsgutsbegriffs als Hilfsmittel der Auslegung
Von
Michael Brockmann
Duncker & Humblot · Berlin
MICHAEL BROCKMANN
Das Rechtsgut des § 176 StGB
Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg
Herausgegeben von Dr. Dres. h. c. Friedrich-Christian Schroeder em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg
und Dr. Andreas Hoyer ord. Prof. der Rechte an der Universität Kiel
in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten
Band 259
Das Rechtsgut des § 176 StGB Zugleich ein Beitrag zur Leistungsfähigkeit des Rechtsgutsbegriffs als Hilfsmittel der Auslegung
Von
Michael Brockmann
Duncker & Humblot · Berlin
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsund Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT
Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Gereon Wolters, Bochum
Die Juristische Fakultät der Ruhr-Universität Bochum hat diese Arbeit im Jahr 2014 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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© 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
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Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2014 von der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum angenommen wurde. Die Arbeit befindet sich auf dem Bearbeitungsstand Juli 2014. An dieser Stelle ist es mir ein besonderes Anliegen, mich bei allen Personen zu bedanken, ohne deren Unterstützung es mir nicht möglich gewesen wäre, diese Arbeit zu verfassen. Ganz besonderen Dank schulde ich meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Gereon Wolters, der mich von Anfang an bei meinem Promotionsvorhaben vorbehaltlos unterstützt hat. Er hat mir die Freiheit gegeben, diese Arbeit nach meinen Vorstellungen zu entwickeln und zu gestalten. Dieser Vertrauensvorschuss hat mich außerordentlich motiviert und darin bestärkt, diese Arbeit zu verfassen. Des Weiteren möchte ich mich bei Herrn Professor Dr. Thomas Feltes bedanken, der das Zweitgutachten außerordentlich zügig erstellt hat. Zu Dank verpflichtet bin ich zudem allen Professoren und „Praktikern“, die meinen Blick auf das Strafrecht und seine empirischen Bezugswissenschaften maßgeblich geprägt haben. Pars pro toto möchte ich an dieser Stelle meinen früheren Chef, Herrn Professor Dr. Dr. Michael Bock, erwähnen, dem ich viele Einsichten und Erkenntnisse nicht nur auf dem Gebiet der Kriminologie zu verdanken habe. Er ermöglichte mir zudem, die Arbeit an dieser Dissertation während der Tätigkeit an seinem Lehrstuhl zu beginnen. Des Weiteren danke ich dem Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses. Schließlich möchte ich ein ganz besonderes Dankeschön an meine Familie und an meine Freunde richten, deren menschliche Unterstützung mir stets den notwendigen Rückhalt gegeben hat. In besonderem Maße gilt dieser Dank meinen Eltern und meiner Freundin Eva. Meine liebe Eva hat wesentlichen Anteil am Gelingen meines Promotionsvorhabens, da sie dieses Projekt stets bedingungslos mitgetragen hat, obwohl die Arbeit an der Dissertation allzu häufig zulasten der gemeinsamen Freizeit ging. Darum ist ihr diese Arbeit gewidmet. München, im November 2014
Michael Brockmann
Inhaltsübersicht A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 B. Der Rechtsgutsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 I. Historischer Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1. Der Ursprung des Rechtsgutsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2. Die Neuentdeckung des Rechtsgutsbegriffs durch Binding . . . . . . . 28 3. Rechtsgut und Zweckgedanke im Strafrecht bei Franz v. Liszt . . . 32 4. Die Schutzobjektlehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 5. Der methodisch-teleologische Rechtsgutsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . 40 6. Der Rechtsgutsbegriff in der Zeit des Nationalsozialismus . . . . . . . 44 7. Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . 48 8. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 II. Eigener Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 1. Konturierung eines systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs . . . . . . . 77 2. Das Problem der Zirkularität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 3. Der dogmatische Nutzen des Rechtsguts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 4. Das Verhältnis von Rechtsgut und Deliktsnatur . . . . . . . . . . . . . . . . 141 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 I. Historischer Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 1. Die historische Entwicklung des Verbots des sexuellen Missbrauchs von Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 2. Die historischen Auffassungen zum Rechtsgut des § 176 Nr. 3 RStGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 3. Die Kritik an der historischen Konzeption der Sittlichkeitsdelikte . 174 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 II. Derzeitiger Meinungsstand zum Rechtsgut des § 176 StGB . . . . . . . . . 182 1. Die „ungestörte Entwicklung“ als Rechtsgut des § 176 StGB . . . . . 182 2. Die sexuelle Selbstbestimmung als Rechtsgut des § 176 StGB . . . . 216 3. Exkurs: die Rechtsgutsbestimmung bei Fischer . . . . . . . . . . . . . . . . 229 4. Der Jugendschutz als Rechtsgut des § 176 StGB . . . . . . . . . . . . . . . 231 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 III. Derzeitiger Meinungsstand zur Deliktsnatur des § 176 StGB . . . . . . . . 234 1. Abstraktes Gefährdungsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 2. Verletzungsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
8 Inhaltsübersicht IV. Eigener Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 1. Rechtsgutsermittlung durch Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 2. Zum Begriff der sexuellen Integrität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 3. Abgleich mit den Konstruktionsprinzipien des Rechtsguts . . . . . . . 257 4. Zur Deliktsnatur des § 176 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB . . . . . . . . . . . . . 260 I. Allgemeine Strafrechtslehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 1. Die Einwilligung des Kindes in die Tat nach § 176 StGB . . . . . . . 261 2. Konkurrenzfragen im Zusammenhang mit § 176 StGB . . . . . . . . . . 270 3. Strafzumessung, insbesondere im Hinblick auf das Doppelverwertungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB . . . . . . . . 283 1. Das Tatbestandsmerkmal „Kind“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 2. Das Tatbestandsmerkmal „sexuelle Handlung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 3. Die Tatbestandsmerkmale „vornehmen“ und „vornehmen lassen“ . 307 4. Das Tatbestandsmerkmal „bestimmen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 5. Zur Auslegung des § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 6. Zur Auslegung des § 176 Abs. 4 Nr. 2 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 7. Zur Auslegung des § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 8. Zur Auslegung des § 176 Abs. 4 Nr. 4 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 9. Zur Auslegung des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 10. Zur Auslegung des § 176a Abs. 2 Nr. 2 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 11. Zur Auslegung des § 176a Abs. 2 Nr. 3 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 E. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 B. Der Rechtsgutsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 I. Historischer Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1. Der Ursprung des Rechtsgutsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2. Die Neuentdeckung des Rechtsgutsbegriffs durch Binding . . . . . . . 28 3. Rechtsgut und Zweckgedanke im Strafrecht bei Franz v. Liszt . . . 32 4. Die Schutzobjektlehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 5. Der methodisch-teleologische Rechtsgutsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . 40 6. Der Rechtsgutsbegriff in der Zeit des Nationalsozialismus . . . . . . . 44 7. Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . 48 a) Der systemkritische Rechtsgutsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 aa) Die Anfänge der Entwicklung eines systemkritischen Rechtsgutsbegriffs bei Jäger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 bb) Die personalen Rechtsgutslehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 cc) Die Rechtsgutslehren von Roxin, Schünemann und Rudolphi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 dd) Das Rechtsgut als Argumentationstopos im kriminalpolitischen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 ee) Folgerungen für eine systemimmanente Konzeption des Rechtsguts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 b) Die subjektiven Verbrechenslehren von Welzel und Jakobs . . . . 56 aa) Welzel und der Schutz der Aktwerte rechtlicher Gesinnung . 57 bb) Jakobs und der Schutz der Normgeltung . . . . . . . . . . . . . . . 58 cc) Folgerungen für eine systemimmanente Konzeption des Rechtsguts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 c) Alternativkonzepte zum systemkritischen Rechtsgutsbegriff . . . 62 aa) Verfassungsorientierte Lehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 bb) Theorien der Sozialschädlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 cc) Folgerungen für eine systemimmanente Konzeption des Rechtsguts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 d) Zwischenbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 8. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 II. Eigener Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 1. Konturierung eines systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs . . . . . . . 77 a) Negativabgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 aa) Rechtsgut, Tatobjekt und Rechtsgutsobjekt . . . . . . . . . . . . . . 78
10 Inhaltsverzeichnis bb) Das gesetzgeberische Motiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 cc) Die „ratio legis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 b) Die Konstruktion des Rechtsguts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 aa) Sprachliche Fassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 bb) Das Rechtsgut als umfassender Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 cc) Das Rechtsgut als möglichst eng gefasster Begriff . . . . . . . . 93 dd) Das Rechtsgut als etwas Ideales und Statisches . . . . . . . . . . 96 ee) Ausgrenzung wertender relationaler Elemente . . . . . . . . . . . 97 ff) Keine Formulierung des Rechtsguts als „Recht“ . . . . . . . . . 99 gg) Keine Formulierung des Rechtsguts als „Norm“ . . . . . . . . . 101 hh) Kein Vorrang der Konstruktion als Individual- oder Kollektivrechtsgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 ii) Abschließender Hinweis zur Realität der Rechtsgüter . . . . . 105 c) Die Ermittlung des Rechtsguts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 aa) Wertbeziehende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 bb) Rechtsgutsermittlung durch Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 2. Das Problem der Zirkularität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 a) Analyse des Schrifttums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 aa) Mezger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 bb) Nelles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 cc) Jacobi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 dd) Szebrowski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 ee) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 b) Untersuchung von im Schrifttum genannten Beispielen . . . . . . . 119 aa) Zirkuläre Argumentationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 bb) Argumentationen mit der Strafwürdigkeit des Rechtsgutsangriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 3. Der dogmatische Nutzen des Rechtsguts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 a) Anknüpfungspunkte für eine rechtsgutsbezogene Auslegung . . . 130 aa) Einwilligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 bb) Konkurrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 cc) Strafzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 dd) Verletzteneigenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 ee) Schutzgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 b) Weitere Verwendungen des systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 aa) Das Rechtsgut als argumentativer Bezugspunkt . . . . . . . . . . 137 bb) Das Rechtsgut als Synonym für deliktische Erfolge . . . . . . . 139 cc) Das Rechtsgut als Hilfsmittel für die Systematisierung von Strafvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 c) Grenzen des dogmatischen Nutzens des Rechtsgutsbegriffs . . . . 140 4. Das Verhältnis von Rechtsgut und Deliktsnatur . . . . . . . . . . . . . . . . 141
Inhaltsverzeichnis11 a) Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 b) Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Deliktsnatur . . . . . . . . 144 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 I. Historischer Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 1. Die historische Entwicklung des Verbots des sexuellen Missbrauchs von Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 2. Die historischen Auffassungen zum Rechtsgut des § 176 Nr. 3 RStGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 a) Die Entwicklung im Schrifttum bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 aa) Hälschner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 bb) Binding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 cc) Oppenheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 dd) v. Liszt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 ee) Aaron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 ff) Glaser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 gg) Allfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 hh) Hanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 b) Das Rechtsgut in der Rechtsprechung des Reichsgerichts . . . . . 168 c) Bewertung der historischen Rechtsgutsdiskussion . . . . . . . . . . . . 169 d) Kein Rechtsgut der „Sittlichkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 3. Die Kritik an der historischen Konzeption der Sittlichkeitsdelikte . . 174 a) Jäger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 b) Albrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 c) Finckh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 d) Das Rechtsgut des § 176 Nr. 3 StGB im sonstigen Schrifttum. . 177 e) Die Rechtsgutsbestimmung in frühen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 f) Exkurs: Die Bedeutung der Rechtsgutsbestimmung in der Reformdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 II. Derzeitiger Meinungsstand zum Rechtsgut des § 176 StGB . . . . . . . . . 182 1. Die „ungestörte Entwicklung“ als Rechtsgut des § 176 StGB . . . . . 182 a) Erläuterung der Rechtsgutsauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 aa) Begriffsanalyse aus juristischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 bb) Begriffsanalyse aus humanwissenschaftlicher Sicht . . . . . . . 187 b) Empirische Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 aa) Die „normale“ kindliche Sexualentwicklung . . . . . . . . . . . . 190 bb) Empirische Befunde zu Störungen der Entwicklung durch sexuelle Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 cc) Probleme bei der empirischen Untersuchung der Folgen sexuellen Missbrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 c) Kritik der Rechtsgutsauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
12 Inhaltsverzeichnis aa) Die widerstreitende empirische Befundlage . . . . . . . . . . . . . 210 bb) Abgleich mit den Konstruktionsprinzipien des Rechtsguts . . 213 2. Die sexuelle Selbstbestimmung als Rechtsgut des § 176 StGB . . . . 216 a) Die sexuelle Selbstbestimmung im weiteren Sinn . . . . . . . . . . . 217 aa) Erläuterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 bb) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 b) Die sexuelle Selbstbestimmung im engeren Sinn . . . . . . . . . . . . 223 aa) Erläuterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 bb) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 c) Abgleich mit den Konstruktionsregeln des Rechtsguts . . . . . . . . 228 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 3. Exkurs: die Rechtsgutsbestimmung bei Fischer . . . . . . . . . . . . . . . . 229 4. Der Jugendschutz als Rechtsgut des § 176 StGB . . . . . . . . . . . . . . . 231 a) Erläuterung der Rechtsgutsauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 b) Kritik der Rechtsgutsauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 c) Abgleich mit den Konstruktionsregeln des Rechtsguts . . . . . . . . 233 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 III. Derzeitiger Meinungsstand zur Deliktsnatur des § 176 StGB . . . . . . . . 234 1. Abstraktes Gefährdungsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 2. Verletzungsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 IV. Eigener Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 1. Rechtsgutsermittlung durch Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 a) Grammatikalische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 b) Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 c) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 aa) Das systematische Verhältnis zu anderen Regelungen des Sexualstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 bb) Das systematische Verhältnis zu weiteren Kinderschutznormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 d) Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 e) Rechtsvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 f) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 2. Zum Begriff der sexuellen Integrität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 3. Abgleich mit den Konstruktionsprinzipien des Rechtsguts . . . . . . . 257 4. Zur Deliktsnatur des § 176 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB . . . . . . . . . . . . . 260 I. Allgemeine Strafrechtslehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 1. Die Einwilligung des Kindes in die Tat nach § 176 StGB . . . . . . . 261 a) Überblick über die in der Literatur zu § 176 StGB vertretenen Begründungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
Inhaltsverzeichnis13 b) Systematische Prüfung der rechtlichen Bedeutung des Einvernehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 aa) Disponibilität des Rechtsguts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 bb) Verfügungsberechtigung des Einwilligenden . . . . . . . . . . . . . 265 cc) Einwilligungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 dd) Freiheit von Willensmängeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 ee) Gesetzliche Einwilligungsschranke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 ff) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 2. Konkurrenzfragen im Zusammenhang mit § 176 StGB . . . . . . . . . . 270 a) Das Konkurrenzverhältnis zu § 177 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 b) Das Konkurrenzverhältnis zu § 179 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 c) Das Konkurrenzverhältnis zu § 182 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 3. Strafzumessung, insbesondere im Hinblick auf das Doppelverwertungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB . . . . . . . . 283 1. Das Tatbestandsmerkmal „Kind“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 a) Das tiefschlafende oder bewusstlose Kind und vergleichbare Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 b) Das sexuell erfahrene Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 c) Das die sexuelle Bedeutung nicht erkennende Kind . . . . . . . . . . 289 d) Der kindliche oder jugendliche Täter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 2. Das Tatbestandsmerkmal „sexuelle Handlung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 a) Das Begriffsverständnis der herrschenden Meinung . . . . . . . . . . 296 b) Zur Schwierigkeit einer Definition der sexuellen Handlung . . . 299 c) Eigener Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 3. Die Tatbestandsmerkmale „vornehmen“ und „vornehmen lassen“ . . 307 4. Das Tatbestandsmerkmal „bestimmen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 5. Zur Auslegung des § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 6. Zur Auslegung des § 176 Abs. 4 Nr. 2 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 7. Zur Auslegung des § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 8. Zur Auslegung des § 176 Abs. 4 Nr. 4 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 9. Zur Auslegung des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 10. Zur Auslegung des § 176a Abs. 2 Nr. 2 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 11. Zur Auslegung des § 176a Abs. 2 Nr. 3 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 E. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388
Abkürzungsverzeichnis a. A.
andere Auffassung
a. F.
alte Fassung
AG Amtsgericht Alt. Alternative Anm. Anmerkung ARSP
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (Zeitschrift)
Art. Artikel BayObLG
Bayerisches Oberstes Landesgericht
BayObLGSt Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Strafsachen (amtliche Sammlung) BeckRS Beck-Rechtsprechung BGBl. Bundesgesetzblatt BGH Bundesgerichtshof BGHSt
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (amtliche Sammlung)
BGHZ
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen (amtliche Sammlung)
BR-Drucks. Bundesratsdrucksache BSGE
Entscheidungen des Bundessozialgerichts (amtliche Sammlung)
BT-Drucks. Bundestagsdrucksache BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (amtliche Sammlung)
ders. / dies.
derselbe / dieselbe
Diss. (jur.) (juristische) Dissertation DStrR
Deutsches Strafrecht (Zeitschrift)
FG Festgabe Fn. Fußnote FPPK
Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie (Zeitschrift)
FS Festschrift GA
Goltdammer’s Archiv für Strafrecht (Zeitschrift)
GedS Gedächtnisschrift
Abkürzungsverzeichnis15 GS
Der Gerichtssaal (Zeitschrift)
h. M.
herrschende Meinung
HRRS
Online-Zeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht
JA
Juristische Arbeitsblätter (Zeitschrift)
JAmt
Das Jugendamt (Zeitschrift)
JoJZG
Journal der Juristischen Zeitgeschichte (Zeitschrift)
JR
Juristische Rundschau (Zeitschrift)
JURA
Juristische Ausbildung (Zeitschrift)
JuS
Juristische Schulung (Zeitschrift)
JZ
Juristenzeitung (Zeitschrift)
KJ
Kritische Justiz (Zeitschrift)
krit. kritisch KritV
Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (Zeitschrift)
KTS
Zeitschrift für Insolvenzrecht
LG Landgericht MDR
Monatsschrift für Deutsches Recht (Zeitschrift)
MedR
Medizinrecht (Zeitschrift)
MSchrKrim Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, zeitweise Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform (Zeitschrift) m. w. N.
mit weiteren Nachweisen
n. F.
neue Fassung
NJ
Neue Justiz (Zeitschrift)
NJW
Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift)
NJW-RR
NJW-Rechtsprechungsreport (Zeitschrift)
NK
Neue Kriminalpolitik (Zeitschrift)
NStZ
Neue Zeitschrift für Strafrecht (Zeitschrift)
NStZ-RR
NStZ-Rechtsprechungsreport (Zeitschrift)
OLG Oberlandesgericht RdJB
Recht der Jugend und des Bildungswesens (Zeitschrift)
RGSt
Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen (amtliche Sammlung)
Rn. Randnummer SchwZStr
Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht
SJZ
Süddeutsche Juristen-Zeitung
StraFo
Strafverteidiger-Forum (Zeitschrift)
StV
Strafverteidiger (Zeitschrift)
16 Abkürzungsverzeichnis wistra
Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht
ZIS
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik
ZJS
Zeitschrift für das Juristische Studium
ZNR
Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte
ZRP
Zeitschrift für Rechtspolitik
ZStW
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft
A. Einleitung Die im 13. Abschnitt des Strafgesetzbuchs enthaltenen Straftatbestände werden von der Strafrechtswissenschaft stiefmütterlich behandelt.1 In den Lehrbüchern zum Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs sind die Sexualstraftaten häufig vollständig ausgeklammert2 oder nur kursorisch dargestellt.3 Ins Detail gehende Ausführungen zu dieser Deliktsgruppe finden sich fast nur in Großlehrbüchern.4 Diese Schwerpunktsetzung durch die Lehrbuchautoren mag noch damit zu erklären sein, dass die Delikte des 13. Abschnitts regelmäßig nicht zum Prüfungsstoff in den juristischen Examina gehören.5 Jedoch fristet das Sexualstrafrecht auch im sonstigen strafrechtswissenschaftlichen Schrifttum ein Schattendasein. Als Beleg mag die Literaturübersicht zum Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern (§ 176 StGB) im Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch herangezogen werden. Dort werden unter der Überschrift „Allgemeines“ lediglich 27 Publikationen aufgeführt, wohingegen die Rubrik „Kriminologisches und rechtsmedizinisches Schrifttum“ 109 Veröffentlichungen enthält. Die sich hier offenbarende Verauch bereits Hanack, ZStW 77 (1965), 398 (402). in den Lehrbüchern von Eisele, Strafrecht BT I; Haft, Strafrecht BT II; Hohmann / Sander, Strafrecht BT II; Jäger, Examens-Repetitorium Strafrecht BT; Krey / Hellmann / Heinrich, Strafrecht BT / 1; Rengier, Strafrecht BT / II; Wessels / Hettinger, Strafrecht BT / 1. 3 So in den Lehrbüchern von Gössel / Dölling, Strafrecht BT, §§ 22 ff.; Kindhäuser, Strafrecht BT I, §§ 20 f.; Küpper, Strafrecht BT / 1, Teil I, § 3 Rn. 68 ff.; Schroth, Strafrecht BT, S. 136 ff.; Sonnen, Strafrecht BT, S. 67 ff. 4 Etwa in den folgenden Lehrbüchern: Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 10; Blei, Strafrecht BT, §§ 38 ff.; Heghmanns, Strafrecht BT, Rn. 673 ff.; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 1, §§ 17 ff.; Otto, Die einzelnen Delikte, § 66. Laubenthal hat ein „Handbuch Sexualstraftaten“ vorgelegt, das Lehrbuchcharakter hat. 5 So die Begründung im Vorwort zur ersten Auflage des Lehrbuchs von Wessels zu den Straftaten gegen Persönlichkeits- und Gemeinschaftswerte, abgedruckt in Wessels / Hettinger, Strafrecht BT / 1, S. VIII. Heghmanns, Strafrecht BT, Rn. 674 verweist auf die „Furcht der Prüfungsämter, ein früheres Opfer von Sexualdelinquenz könne, zufällig mit einer entsprechenden Prüfungsaufgabe konfrontiert, erneut traumatisiert, psychisch geschädigt oder prüfungsunfähig werden.“ Unabhängig davon, ob eine solche Sorge berechtigt ist, bleibt die Frage, warum auf diesem Wege gerade die Ausklammerung der Sexualdelikte begründet wird, können sich doch unter den Prüflingen auch Opfer anderer häufig traumatisch erlebter Straftaten (zum Beispiel schwere Gewaltdelinquenz bis hin zu versuchten Tötungsdelikten) befinden. 1 s.
2 Beispielsweise
18
A. Einleitung
nachlässigung eines Themas durch die Strafrechtsdogmatik bei gleichzeitiger intensiver Behandlung durch die Humanwissenschaften6 ist für den gesamten Bereich des devianten Verhaltens im Sexualbereich charakteristisch.7 Diese geringe Beachtung der Sexualdelikte in der Strafrechtswissenschaft verwundert angesichts ihrer Bedeutung für die Strafjustiz. Laut Polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) betreffen knapp ein Prozent aller polizeilich bekannt gewordenen Straftatverdachtsfälle Sexualdelikte.8 Das entspricht circa 45.000 registrierten Fällen pro Jahr.9 Nicht nur quantitativ, sondern auch im Hinblick auf die ausgesprochenen Sanktionen ist dieser Deliktsbereich bedeutsam, findet sich doch, vor allem bedingt durch die erheblichen Strafdrohungen, ein hoher Anteil unbedingter Freiheitsstrafen bei den Verurteilungen wegen einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung.10 Zudem kontrastiert die Beschäftigung mit den Sexualstraftaten in der Wissenschaft mit dem Interesse der Öffentlichkeit und der Politik an diesem Deliktsbereich. Sexualdelikte geraten immer wieder in den Blickpunkt der Öffentlichkeit, vor allem wenn – tatsächlich oder mutmaßlich – kindliche Opfer betroffen sind, die Taten besonders brutal ausgeführt wurden oder eine außergewöhnlich hohe Anzahl von Taten in einem bestimmten Umfeld aufgedeckt wurde. Der zumeist sehr emotional geführte öffentliche Diskurs mündet regelmäßig in der Forderung nach einer erheblichen Anhebung der Sanktionsandrohungen.11 Wiederholt hat der Gesetzgeber in den letzten Jahren diese Forderung aufgegriffen und die Strafvorschriften im 13. Abschnitt des Strafgesetzbuchs verschärft.12 6 Nicht gefolgt werden kann NK / Frommel, § 176 Rn. 5, die eine „Zurückhaltung in gängigen kriminologischen Lehrbüchern“ im Hinblick auf den Kindesmissbrauch ausmacht. Diese Behauptung wird bereits durch die angeführten Belege nicht gestützt. Im Gegenteil enthalten alle großen Lehrwerke zur Kriminologie längere einschlägige Ausführungen; vgl. etwa Brettel, in Göppinger, Kriminologie, § 29 Rn. 55 ff.; Eisenberg, Kriminologie, § 45 Rn. 57 f.; Kaiser, Kriminologie, § 65 Rn. 33 ff.; Schneider, Kriminologie, S. 685 ff.; s. auch Bock, Kriminologie, Rn. 1041 ff. 7 Zutreffend Frühsorger, Straftatbestand, S. 1; Hörnle, in FS Eisenberg, S. 321 (325); vgl. auch bereits Hanack, Revision, Rn. 15. 8 Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik 2012, S. 18. 9 Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik 2012, S. 132 ff. 10 Vgl. NK / Frommel, § 176 Rn. 4. 11 Dieses Phänomen wird bereits im Gutachten von Hanack (Revision, Rn. 12) anhand einer „Kampagne“ gegen „Kinderschänder“ im Jahre 1967 beschrieben; s. zur aktuellen Situation: Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176 Rn. 1. Zur reißerischen und selektiven Berichterstattung: Brüggemann, Entwicklung und Wandel, S. 26, 106 f., 344 f.; Pape, Legalverhalten, S. 19 f. 12 Vgl. zu den Reformen der vergangenen Jahrzehnte etwa H.-J. Albrecht, RdJB 2011, 148 ff.; Dünkel, in Schläfke / Häßler / Fegert, Sexualstraftaten, S. 1 ff. Empirisch fundierte Kritik zu den Tendenzen in der Gesetzgebung findet sich etwa bei H.-J. Albrecht, ZStW 111 (1999), 863 ff.; Dessecker, NStZ 1998, 1 (3 f.).
A. Einleitung19
Das Interesse der Öffentlichkeit an diesem Delinquenzbereich erstaunt nicht, treffen dort doch sexuelle mit sozial abweichenden bis hin zu gewalttätigen Verhaltensweisen zusammen. Sowohl Kriminalität als auch Sexualität sind stark emotional besetzte Phänomene, deren kumulatives Auftreten dementsprechend zu heftigen sozialen Reaktionen führt. Erklärungen, die Teilen der Öffentlichkeit attestieren, sie seien „eher von einem lustvollen Interesse am Umgang mit einem Tabu getrieben als vom Streben nach einer fundierten juristischen Auseinandersetzung“,13 erfassen das Phänomen nur unzureichend. Gleichwohl ist es richtig, dass allein das Mitgefühl für das oftmals bewegende Schicksal sehr junger Opfer die verbreiteten (Verbal-) Aggressionen gegenüber den (mutmaßlichen) Tätern nicht hinreichend zu erklären vermag. In der Tat dürften hier häufig „dunkle Affekte“14 Raum greifen, die in anderen Lebensbereichen nicht akzeptiert und folglich regelmäßig unterdrückt werden. Sexualstraftäter sind hingegen eine sozial weitgehend akzeptierte Projektionsfläche für starke negative Affekte.15 Selbst in der Gefängnissubkultur findet sich dieses Muster insofern wieder, als Sexualstraftäter in der informellen Hierarchie der Insassen den untersten Rang zugewiesen bekommen.16 Das geringe Interesse der Strafrechtswissenschaft an den Sexualstraftaten dürfte zunächst darin seinen Grund finden, dass die Straftatbestände der §§ 174 ff. StGB nach den jeweiligen Prüfungsordnungen regelmäßig nicht Prüfungsstoff in den juristischen Abschlussprüfungen sind.17 Daher werden sie auch in der akademischen Lehre nur vereinzelt behandelt und geraten infolgedessen für gewöhnlich auch nicht ins Blickfeld der Wissenschaftler. Zudem dürfte die Befürchtung verbreitet sein, durch wissenschaftliche Publikationen in diesem Bereich zum Ziel von Anfeindungen aus der Öffentlichkeit zu werden. Als normative Wissenschaft verlangt die Rechtswissenschaft häufig die Stellungnahme zu Wertungsfragen, deren Beantwortung leicht als Parteinahme für eine Seite im gesellschaftlichen Diskurs aufgefasst werden kann mit der Folge der Vereinnahmung beziehungsweise Anfeindung durch gesellschaftliche Interessengruppen, mag diese auch weder intendiert noch gewünscht sein. Interessanterweise halten sich umgekehrt diejenigen Strafjuristen, die sich wissenschaftlich mit dem Sexualstrafrecht befassen, häufig nicht mit kriminalpolitischen Stellungnahmen zurück. Vielmehr finden sich überproportional 13 Frühsorger,
Straftatbestand, S. 1. Revision, Rn. 12. 15 s. eingehend Hauptmann, Gewaltlose Unzucht, S. 43 ff. 16 Kaiser / Schöch, Strafvollzug, § 13 Rn. 15; Laubenthal, Strafvollzug, Rn. 213; Schott, Kriminalistik 2001, 629 (632); Walter, Strafvollzug, Rn. 262. 17 s. oben Fn. 5. 14 Hanack,
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häufig Forderungen nach einer Zurückdrängung oder (häufiger) Ausweitung strafrechtlicher Verbote auf diesem Gebiet sowie kritische Stellungnahmen zu intendierten oder realisierten Gesetzesreformen.18 Dadurch dominieren im insgesamt kargen sexualstrafrechtlichen Schrifttum Überlegungen zur lex ferenda. Die lex lata stößt hingegen hauptsächlich als Gegenstand kriminalpolitischer Bewertungen auf das Interesse der Wissenschaft, während die Auseinandersetzung mit der Auslegung des geltenden Rechts vernachlässigt wird. Eine Aufbereitung der Sexualdelikte durch die Strafrechtsdogmatik tut Not, ist doch eine systematische Durchdringung der Strafvorschriften Grundvoraussetzung für eine gut begründete Normauslegung. Die Ergebnisse dogmatischer Untersuchungen ermöglichen damit eine gleichmäßige und vorhersehbare Rechtsanwendung, die nicht nur aus Gründen der Gerechtigkeit erstrebenswert, sondern auch verfassungsrechtlich geboten ist (Art. 3 GG).19 Die vorliegende Arbeit will daher einen Beitrag zur dogmatischen Aufbereitung des Sexualstrafrechts leisten. In Anbetracht des Umfangs des 13. Abschnitts des Strafgesetzbuches erscheint jedoch eine Einschränkung des Untersuchungsgegenstandes sinnvoll, wenn die Überlegungen nicht an der Oberfläche verharren sollen. Aus diesem Grund beschränkt sich die Arbeit auf eine Betrachtung des Tatbestands des sexuellen Missbrauchs von Kindern gem. § 176 StGB mitsamt seinen Strafschärfungen (§§ 176a f. StGB). Für diese Auswahl spricht zunächst, dass diese Vorschriften in der Praxis der Strafverfolgungsbehörden ausweislich der Polizeilichen Kriminalstatistik gegenüber anderen Tatbeständen quantitativ besonders bedeutsam sind.20 Zudem handelt es sich beim sexuellen Missbrauch von Kindern um ein geradezu klassisches Sexualdelikt. So setzt die Verwirklichung des Grundtatbestands des § 176 Abs. 1 StGB – abgesehen vom Alter des Opfers – in objektiver Hinsicht allein die Vornahme einer sexuellen Handlung voraus. Außerdem handelt es sich aus kriminologischer Sicht zumeist um originär sexuell motivierte Taten, wohingegen beispielsweise bei der Vergewaltigung gem. § 177 Abs. 1, 2 StGB nicht selten Gewalt- oder Machtmotive vorherrschen.21 Schließlich treffen die vorstehenden Ausführungen über 18 s. nur den Literaturüberblick zum „Schrifttum zu Reformvorhaben und Gesetzesänderungen im 20. Jahrhundert“ bei LK / Hörnle, vor § 174 Rn. 1. 19 Prägnant formulierten Stratenwerth und Kuhlen in ihrem Lehrbuch (Strafrecht AT, 1. Abschn. Rn. 1): „Die systematische Durchdringung des Stoffes, die schärfere Erfassung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden deliktischen Verhaltens erleichtert es, Gleiches gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln; sie dient der Gerechtigkeit.“ Einen Überblick über den Begriff und die Funktionen der Dogmatik geben Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, Rn. 309 ff. 20 Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik 2012, S. 132; s. auch NK / Frommel § 176 Rn. 7. 21 Vgl. Dünkel, in Schläfke / Häßler / Fegert, Sexualstraftaten, S. 1; Kieler, Tatbestandsprobleme, S. 23. Ein Überblick über die empirische Forschung zur Täterklas-
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die Reaktion der Öffentlichkeit bei Bekanntwerden einzelner Straftaten auf dieses Delikt in besonderem Maße zu. Nachdem der Gegenstand der Untersuchung festgelegt ist, gilt es die weitere Vorgehensweise zu bestimmen. Einem hermeneutischen Dogmatikverständnis folgend, wird in der vorliegenden Arbeit das positive (geltende) Recht in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. Es ist also nicht die Aufdeckung zeitloser, transpositiver „Glaubenssätze“ oder die Formulierung kriminalpolitischer Forderungen nach einer Reform des Sexualstrafrechts intendiert, sondern eine Verbesserung des Verständnisses der untersuchten Strafvorschriften.22 Ausgangspunkt für die dogmatische Annäherung an den Tatbestand des § 176 StGB soll das geschützte Rechtsgut sein. Ungeachtet aller Unwägbarkeiten, die mit dem Rechtsgutsbegriffs verbunden sind, ist dessen Bedeutung für die Auslegung der Tatbestände nahezu unbestritten.23 Maurach / Zipf meinen sogar, dass „Auslegung und damit Erkenntnis des Strafgesetzes […] ohne den Richtungspunkt, den der Rechtsgutsgedanke gibt, nicht möglich“ sind.24 Aber nicht nur in der Theorie wird die Aussage, dass das Rechtsgut ein wertvolles Mittel für die Auslegung ist, mit den Prädikaten „unstreitig“25 sifizierung findet sich bei Rehder, in Rehn / Wischka / Lösel / Walter, Behandlung „gefährlicher Straftäter“, S. 81 ff. 22 Zum klassischen und zum hermeneutischen Verständnis der Dogmatik: Hoyer, Strafrechtsdogmatik, S. 2 ff. Zum Verhältnis von Kriminalpolitik und Strafrechtsdogmatik eingehend Zipf, Kriminalpolitik, S. 7 ff. Vgl. grundlegend zum Begriff der Strafrechtsdogmatik: Zaczyk, FS Küper, S. 723 ff. Zu den Funktionen der Strafrechtswissenschaft Kubiciel, Wissenschaft, S. 12 ff. Mitunter wird auch bezweifelt, ob die Rechtswissenschaft etwas zum kriminalpolitischen Diskurs beitragen kann, so bei Kuhlen, in Eser / Hassemer / Burkhardt, Die Deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, S. 57 (58 f.); dazu Schünemann, GA 2001, 205 (208 f.). Zur Kritik an der Wissenschaftlichkeit kriminalpolitischer Beiträge zur Rechtsgutsdiskussion Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 112; ders., in Hefendehl, Empirische und dogmatische Fundamente, S. 135 (149). 23 Vgl. nur Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 1 Rn. 3; Hilgendorf, NK 2010, 125 (129); Maurach / Zipf, Strafrecht AT / 1, § 19 Rn. 17; Murmann, Grundkurs Strafrecht, § 8 Rn. 10; Otto, Allgemeine Strafrechtslehre, § 1 Rn. 41; Rönnau, Willensmängel, S. 22; Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 4; Schönke / Schröder / Eser / Hecker, § 1 Rn. 48; s. aber auch Calliess, Theorie der Strafe, S. 136 Koriath, GA 1999, 561 (576); Kubiciel, Wissenschaft, S. 52 ff.; Pragal, Korruption, S. 100 ff.; ders., ZIS 2006, 63 (64). 24 Maurach / Zipf, Strafrecht AT / 1, § 19 Rn. 17. 25 Gaede, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 183: „Vorausgesetzt und unstreitig ist hingegen die systemimmanente Funktion, die der Rechtsgutstheorie bei der Tatbestandsauslegung zukommt.“ Ähnlich Wohlers, Deliktstypen, S. 229 Fn. 100: „Die systemimmanenten Funktionen der Rechtsgutstheorie stehen außer Streit und sollen auch durch die obigen Ausführungen nicht in Zweifel gezogen werden.“ Roxin (FS Hassemer, S. 573 [586]) zufolge „kann nicht bestritten werden“,
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A. Einleitung
und „anerkannt“26 geehrt. Es entspricht darüber hinaus gängiger Praxis, Überlegungen zu einer Strafvorschrift mit der Nennung des geschützten Rechtsguts zu beginnen, wie ein Blick in Lehrbücher und Kommentare offenbart.27 Da die Unbestrittenheit einer Aussage in der Jurisprudenz Seltenheitswert hat, mag es naheliegen, ohne nähere Auseinandersetzung mit dem Rechtsgutsbegriffs sogleich „medias in res“ in die Normauslegung des § 176 StGB „einzusteigen“.28 Insbesondere könnte die Diskussion um den Rechtsgutsbegriff, die seit einigen Jahrzehnten mit großem Aufwand und geringem Ertrag geführt wird, ignoriert werden. Diese Diskussion bezieht sich nämlich auf die systemkritische Funktion des Rechtsgutsbegriffs, also um die Möglichkeiten mithilfe dieses Begriffs, die Grenzen legitimer Strafgesetze aufzuzeigen. Mit der Festlegung des Ziels der Arbeit, das Rechtsgut für die Norminterpretation fruchtbar zu machen, ist jedoch bereits die Weichenstellung weg von einem solchen systemkritischen Verständnis und hin zu einem systemimmanenten Verständnis des Rechtsgutsbegriffs erfolgt.29 Der systemtranszendente Rechtsgutsbegriff hilft nämlich bei der Auslegung des materiellen Rechts nicht weiter, beziehungsweise allenfalls dann, wenn er mit dem systemimmanenten zusammenfällt.30 Doch der Schein, der den systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs glanzvoll und makellos erscheinen lässt, trügt. Geblendet davon, dass die Argumentation mit dem Rechtsgut in der Praxis reibungslos funktioniert, ist die nähere Beschäftigung mit der systemimmanenten Funktion vernachlässigt worden. So schweigt sich die Literatur mit wenigen Ausnahmen darüber aus, wie das Rechtsgut zu ermitteln ist, das für die Norminterpretation herangezogen werden soll.31 Des Weiteren ist weitgehend ungeklärt, wie und unter dass „das Prinzip der teleologischen Auslegung ‚nach dem geschützten Rechtsgut‘ zwar nicht das einzige, aber doch ein zentrales Interpretationskriterium ist“. 26 Jescheck / Weigend, Strafrecht AT, S. 257: „Das Rechtsgut ist die anerkannte Grundlage […] der Auslegung der Tatbestände.“ s. auch Geppert, ZStW 83 (1971), 947 (966); Gössel, FS Oehler, S. 97 (102); Gnüchtel, Jugendschutztatbestände, S. 21; Wohlers, GA 2012, 600 (605). 27 Dazu Funcke-Auffermann, Symbolische Gesetzgebung, S. 101; Hohmann, Umweltdelikte, S. 26. 28 So die übliche Vorgehensweise. Explizit: Bung, in Thiée, Menschen Handel, S. 49. 29 Zu dieser Unterscheidung mit zum Teil abweichenden Begrifflichkeiten Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 8 ff.; Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 19 ff., 41 ff.; Kubiciel, Wissenschaft, S. 51 ff.; Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 39; Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 4 f. Zu Wechselbeziehungen zwischen diesen Rechtsgutsbegriffen s. Baratta, FS Arthur Kaufmann, S. 393 (395 ff.). 30 Vgl. Suhr, JA 1990, 303 (304). 31 Dazu eingehend unter B. II. 1. c).
A. Einleitung23
welchen Voraussetzungen der Rechtsgutsbegriff für die Normauslegung fruchtbar gemacht werden kann.32 Schließlich wird kaum erörtert, welchen Einschränkungen die systemimmanente Funktion des Rechtsgutsbegriffs unterliegt.33 Zu Recht hat Hirsch daher die Beschäftigung mit der positivrechtlichen Funktion des Rechtsguts zur künftigen Aufgabe der Wissenschaft erklärt.34 In einem ersten Schritt ist somit die Leistungsfähigkeit des systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs zu überprüfen (unter B.). Das bessere Verständnis der systemimmanenten Funktion des Rechtsguts ist die Grundlage für die im zweiten Schritt vorzunehmende Untersuchung des Rechtsguts des § 176 StGB35 (unter C.) sowie für die daran anschließende anhand ausgewählter Streitfragen zu exemplifizierende rechtsgutsbezogene Normauslegung dieser Vorschrift (unter D.).
32 Dazu
eingehend unter B. II. 1. b). eingehend unter B. II. 2. und B. III. 3. c). 34 Hirsch, FS Spinellis, S. 425 (444). 35 Diese Unterteilung wird üblicherweise vernachlässigt, indem sich Kommentatoren und Lehrbuchautoren auf die schlagwortartige Nennung eines Rechtsguts bei der Erläuterung einzelner Strafvorschriften beschränken, ohne den dogmatischen Nutzen des Rechtsguts herauszuarbeiten. 33 Dazu
B. Der Rechtsgutsbegriff In diesem Abschnitt soll der Frage nachgegangen werden, ob und unter welchen Voraussetzungen der Rechtsgutsbegriff für die Normauslegung von Strafvorschriften fruchtbar gemacht werden kann. Die Überprüfung der Leistungsfähigkeit des Rechtsgutsbegriffs setzt voraus, dass Klarheit über diesen Begriff besteht. Trotz eingehender Bemühungen ist die Strafrechtswissenschaft jedoch weit davon entfernt, Einigkeit über Begriff und Bedeutung des Rechtsguts zu erzielen.1 Dies findet seinen Grund vor allem darin, dass der Rechtsgutsbegriff mit unterschiedlichen Zielsetzungen verwendet wird. Die Vielfalt der Begriffsverwendungen hat jedoch nicht dazu geführt, dass das Rechtsgut in der Strafrechtswissenschaft an Bedeutung eingebüßt hat. Vielmehr gehört der Rechtsgutsbegriff zum Grundvokabular der Strafjuristen. Er wird häufig wie selbstverständlich ohne nähere Erläuterung verwendet, da seine Bedeutung auf den ersten Blick einzuleuchten scheint.2 Auch hat er an verschiedenen Stellen Eingang in das Strafgesetzbuch gefunden, im Einzelnen in den §§ 5, 6, 34, 57, 184g StGB. Wenn derselbe Begriff in unterschiedlicher Weise verwendet wird, ohne dass Klarheit über den jeweils beigemessenen Bedeutungsgehalt besteht, führt dies mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu Missverständnissen. Aus diesem Grund kommt eine Betrachtung des Rechtsgutsbegriffs nicht umhin, die wichtigsten Ansichten über die Bedeutung des Rechtsgutsbegriffs zu erläutern. Deshalb erfolgt im Folgenden zunächst eine Darstellung der historischen Entwicklung des Rechtsgutsbegriffs von seinen Anfängen bis zur heutigen Rechtsgutsdebatte. Da aufgrund der Zielsetzung der Arbeit bereits vorgezeichnet ist, dass sie ein systemimmanentes Verständnis des Rechtsgutsbegriffs zu Grunde legt,3 soll sich die Darstellung nicht darauf beschränken, die Entwicklung des Rechtsgutsbegriffs nachzuzeichnen. Darüber hinaus gilt es aus der Dogmengeschichte herauszuarbeiten, welches Potential dem Rechtsgutsbegriff für die Nutzung als Hilfsmittel der Strafrechtsdogmatik beigemessen wurde, aber auch welche Grenzen eines solchen Vorgehens erkannt wurden. Schließlich wird sich die Darstellung nicht der Kritik verschließen können, 1 Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 11; Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 3; Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT, § 2 Rn. 7. 2 Naucke, Strafrecht, § 6 Rn. 62. 3 Dazu bereits unter A.
I. Historischer Rückblick25
die Vertreter eines systemkritischen Rechtsgutsbegriffs an einer Fokussierung auf dessen systemimmanente Funktion üben.4 Vielmehr fordert diese eine Stellungnahme heraus, die ihrerseits Anleihen bei Beiträgen zur gegenwärtigen Rechtsgutsdiskussion nehmen kann.
I. Historischer Rückblick Es erscheint geboten, die Dogmengeschichte des Rechtsgutsbegriffs nachzuzeichnen, obwohl sie bereits Gegenstand zahlreicher, auch monographischer, Darstellungen gewesen ist.5 Diese Darstellungen sind nämlich durchgängig vom Ansinnen getragen, den Rechtsgutsbegriff als Mittel für die Festlegung der Grenzen legitimen Strafens zu funktionalisieren oder umgekehrt diese Funktion in Frage zu stellen. Da dieses Ansinnen auch Einfluss auf die Sicht der Autoren auf die Dogmengeschichte hat, widmen sie sich dieser nicht mit dem Ziel, ihren Ertrag im Hinblick auf die systemimmanente Funktion des Rechtsgutsbegriffs herauszuarbeiten. Andererseits hat das Vorliegen zahlreicher Aufarbeitungen der Dogmengeschichte den Vorteil, dass diese Arbeit nicht alle Facetten der Diskussion um den systemkritischen Rechtsgutsbegriff aufzuzeigen braucht, sondern sich insoweit auf die Darstellung wichtiger Eckpfeiler beschränken kann. 1. Der Ursprung des Rechtsgutsbegriffs Dogmengeschichtliche Betrachtungen zur Rechtsgutslehre datieren deren Ursprung regelmäßig auf das Jahr 1834, in dem Johann Michael Franz Birnbaum (1792–1877) seinen berühmten Aufsatz „Ueber das Erforderniß einer Rechtsverletzung zum Begriffe des Verbrechens, mit besonderer Rücksicht auf den Begriff der Ehrenkränkung“6 veröffentlichte.7 Dabei verwendete Birnbaum noch nicht den Begriff des „Rechtsguts“, sondern gebrauch4 Etwa bei Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 78 ff.; Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 10; Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 7; Weigend, ZStW 98 (1986), 44 (50). 5 s. insbesondere die Monographien von Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 15 ff.; Gnüchtel, Jugendschutztatbestände, S. 17 ff.; Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 25 ff.; Hohmann, Umweltdelikte, S. 7 ff.; Jäger, Strafgesetzgebung, S. 6 ff.; Kareklas, Die Lehre vom Rechtsgut und das Umweltstrafrecht, S. 24 ff.; Kubiciel, Wissenschaft, S. 57 ff.; Marx, Zur Definition des Begriffs Rechtsgut, S. 4 ff.; Schall, Schutzfunktionen, S. 41 ff.; Sina, Dogmengeschichte, S. 14 ff.; Worms, Bekenntnisbeschimpfung, S. 7 ff.; s. des Weiteren die Darstellungen bei Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 2 ff.; Swoboda, ZStW 122 (2010), 24 ff. 6 Birnbaum, Archiv des Criminalrechts, Neue Folge, 1834, 149 ff. 7 Vgl. näher Neubacher, JURA 2000, 514; siehe aber auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 15.
26
B. Der Rechtsgutsbegriff
te das Wort „Gut“, das später erstmals von Binding um die Vorsilbe erweitert wurde.8 Birnbaum wies darauf hin, dass durch Verbrechen nicht Rechte, sondern Güter verletzt werden.9 Demnach lehnte er die insbesondere von Feuerbach propagierte Auffassung des Verbrechens als „Rechtsverletzung“ wegen ihrer terminologischen Ungenauigkeit ab. Er führte aus: „Dadurch, daß wir etwas verlieren oder einer Sache beraubt werden, die Gegenstand unsers Rechtes ist, daß uns ein Gut, welches uns rechtlich zusteht, entzogen oder vermindert wird, wird ja unser Recht selbst weder vermindert noch entzogen.“10
Eine inhaltliche Änderung war mit dieser terminologischen Korrektur zunächst nicht verbunden. Wie bereits Feuerbach11 erblickte auch Birnbaum12 die Aufgabe des Strafrechts darin, die Rechte beziehungsweise Güter des Einzelnen und des Staates zu schützen. Diese wurden in beiden Verbrechenskonzeptionen als den geltenden Normen vorgelagert angesehen. Birnbaum nahm demnach eine „transpositive Bestimmung der Verbrechens objekte“13 vor. Er erkannte, dass seine Betrachtungen unmittelbar die Frage aufwerfen, ob der Staat auf die Bestrafung der Verletzung dieser Rechte beschränkt ist, stellte sie aber bewusst in den Hintergrund seiner Betrachtung.14 Das systemkritische Potential seiner Verbrechenslehre ist ihm demnach nicht verborgen geblieben.15 Anders als in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg16 wurde der Rechtsgutsbegriff zunächst nicht mit dem Ziel der Zurückdrängung des Strafrechts fruchtbar gemacht. Vielmehr half die aufkeimende Rechtsgutslehre dabei, die Legitimität eines weit gefassten Verbrechensbegriffs zu begründen.17 Der Ausweitung des Strafrechts leistete Birnbaum durch die Entkoppelung der Verbrechensnormen vom Konzept der Rechtsverletzung Vorschub.18 Er wies auf die Ungenauigkeit in der Feuerbach’schen Lehre hin, dass dort mit 8 Rönnau,
JuS 2009, 209 (210); Suhr, JA 1990, 303 (305). Archiv des Criminalrechts, Neue Folge, 1834, 149 (176). 10 Birnbaum, Archiv des Criminalrechts, Neue Folge, 1834, 149 (172). 11 Feuerbach, Lehrbuch, § 23; ders., Revision, Erster Theil, S. 65. 12 Vgl. nur Birnbaum, Archiv des Criminalrechts, Neue Folge, 1834, 149 (177). 13 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 46. 14 Birnbaum, Archiv des Criminalrechts, Neue Folge, 1834, 149 (157 f.). 15 Hohmann, Umweltdelikte, S. 14 f.; Suhr, JA 1990, 303 (305). 16 s. zur Entwicklung des Rechtsgutsbegriffs nach dem Zweiten Weltkrieg B. I. 7. 17 Vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 47 ff.; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 13 f.; Dubber, ZStW 117 (2005), 485 (504 ff.); Kubiciel, Wissenschaft, S. 62; Silva Sánchez, Expansion, S. 62; Vormbaum, Moderne Strafrechtsgeschichte, S. 57; Wohlers, GA 2012, 600 (605). A. A. Funcke-Auffermann, Symbolische Gesetzgebung, S. 95. 18 Vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 49 f. 9 Birnbaum,
I. Historischer Rückblick27
Rechtsverletzung zum einen die Verletzung dem Gesetz vorgelagerter („natürlicher“) Rechte, zum anderen die Verletzung erst durch das Gesetz statuierter („positiver“) Rechte gemeint ist.19 Diese Ungenauigkeit illustrierte Birnbaum anhand der „Polizeiverbrechen“,20 also der insbesondere gegen Sittlichkeit und Religion gerichteten Taten: diese verletzen nur deshalb das Recht, weil der Staat entsprechende Verbotsnormen geschaffen hat, nicht aber weil sie natürliche Rechte wie Leben oder Eigentum beeinträchtigen. Birnbaum zeigte auf, dass der uneinheitliche Gebrauch des Begriffs der Rechtsverletzung vermieden werden kann, wenn der Bezugspunkt der Strafnormen einheitlich als „Gut“ bezeichnet wird.21 Er definierte dieses „Gut“ dabei nicht abstrakt,22 subsumierte aber etwa die „Summe religiöser und sittlicher Vorstellungen“23 darunter. Daran zeigt sich, dass er dem Begriff des Guts einen weiten Bedeutungsumfang zumaß. Indem er den Gutsbegriff weit interpretierte, schuf Birnbaum die argumentative Grundlage für eine Ausweitung des Strafrechts, da als Funktion des Staates gerade der (optimale) Schutz der (Rechts-) Güter angesehen wurde. Er verstand den strafenden Staat in erster Linie als Garant der Freiheit und nicht als Gefahr für die Freiheit. Er war aufgrund von Birnbaums Begriffskorrektur unversehens nun nicht einmal mehr auf den Schutz natürlicher Rechte beschränkt, sondern konnte (nahezu) beliebige Güter unter den Schutz des Strafrechts stellen.24 Zwar betonte Birnbaum, dass es nicht von der Willkür des Gesetzgebers abhänge, was als Verbrechen bestraft werden darf,25 nannte jedoch zugleich keine Beispiele für Strafgesetze, durch deren Erlass dieser die Grenze der Zulässigkeit überschritten hat oder überschreiten würde.26 Obwohl Birnbaum davon ausging, dass die Güter dem Recht vorgelagert sind, erkannte er bereits den Nutzen des Begriffs für die Durchdringung des geltenden Rechts. So wies er auf die Bedeutung des Gutsbegriffs für die Systematisierung der Strafrechtsnormen hin.27 Weitere Anwendungsfelder Birnbaum, Archiv des Criminalrechts, Neue Folge, 1834, 149 (158). Archiv des Criminalrechts, Neue Folge, 1834, 149 (164). 21 Birnbaum, Archiv des Criminalrechts, Neue Folge, 1834, 149 (176). 22 Vgl. Worms, Bekenntnisbeschimpfung, S. 14 f. 23 Birnbaum, Archiv des Criminalrechts, Neue Folge, 1834, 149 (178). 24 Vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 49 ff.; Günther, in Institut für Kriminalwissenschaften, Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, S. 445 (451 f.); Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, S. 122. 25 Birnbaum, Archiv des Criminalrechts, Neue Folge, 1836, 560 (571 f.); vgl. in diesem Zusammenhang auch Schünemann, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 133 (140). 26 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 49 Fn. 62; Wohlers, GA 2012, 600 (604). 27 Birnbaum, Archiv des Criminalrechts, Neue Folge, 1834, 149 (178). 19 Vgl.
20 Birnbaum,
28
B. Der Rechtsgutsbegriff
des Begriffs sah er bei der Abgrenzung von Versuch und Vollendung sowie bei der Unterscheidung von Verletzung und Gefährdung. Auch erkannte Birnbaum bereits die Möglichkeit, die Verbrechen im Hinblick auf das geschützte Gut in solche gegen das Gemeinwesen und solche gegen Individuen zu unterteilen.28 Birnbaum kommt damit das Verdienst zu, den Gutsbegriff eingeführt und „im Verbrechensaufbau als Problem und These“29 formuliert zu haben. Er rückte nicht nur in Abkehr von den Rechten an Objekten die Objekte selbst in den Vordergrund der Betrachtung, sondern zeigte darüber hinaus Möglichkeiten auf, diesen Begriff in unterschiedlichen Bereichen der Strafrechtswissenschaft systematisch beziehungsweise argumentativ fruchtbar zu machen. Für ein systemimmanentes Verständnis des Rechtsgutsbegriffs ist zudem die aus Birnbaums Überlegungen ableitbare Einsicht wertvoll, dass der Gutsbegriff weit zu interpretieren ist, damit unterschiedlichste Gegenstände unter ihn subsumiert werden können. Der Wert von Birnbaums Konzeption des Verbrechens als Rechtsgutsverletzung in Abgrenzung zur Feuerbach’schen Einordnung als Rechtsverletzung lag ja gerade darin, dass mit dem „Gut“ ein Begriff gefunden war, der den Schutzgegenstand sämtlicher Strafvorschriften treffend beschreibt. Es ist nicht verwunderlich, dass ein solcher umfassender Begriff Eingang in das Grundvokabular der Strafrechtsdogmatik gefunden hat. Andererseits birgt die Weite und Flexibilität des Begriffs, die schon bei Birnbaum deutlich wird, die Gefahr von Unklarheiten. Diese kann zum Anlass für Kritik genommen werden,30 aber auch Bemühungen befördern, die Gefahr durch Begriffsschärfung zu bannen. 2. Die Neuentdeckung des Rechtsgutsbegriffs durch Binding Es war Binding, der dem Rechtsgutsbegriff zum Durchbruch verhalf. Er verschaffte ihm nach einem viel zitierten Dictum Armin Kaufmanns „Bürgerrecht in der Strafrechtsdogmatik“.31 Binding wies dabei auf die bereits von Birnbaum aufgezeigten Unzulänglichkeiten der Konzeption des Verbrechens als Rechtsverletzung hin.32 Diese verdeutlichte er anhand des Selbstverständnisses des Gesetzgebers. Dieser habe seit jeher seine Aufgabe nicht darin verstanden, den Bestand subjektiver Rechte sicherzustellen, sondern in der 28 Birnbaum,
Archiv des Criminalrechts, Neue Folge, 1834, 149 (178). Dogmengeschichte, S. 23. 30 Kritisch im Hinblick auf die undeutliche Begriffsbestimmung Hohmann, Umweltdelikte, S. 14; Sina, Dogmengeschichte, S. 22. 31 Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, S. 69. 32 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, S. 342 ff.; ders., Handbuch des Strafrechts I, S. 68. 29 Sina,
I. Historischer Rückblick29 „Sicherstellung sämmtlicher Bedingungen eines gesunden Rechtslebens, in welchem der Friede ungestört waltet, die Rechtssubjekte sich frei, zugleich maassvoll und machtvoll entfalten, die Rechte ungestört und ungehindert zur Ausübung gelangen.“33
Der Gesetzgeber bestimme zunächst die tatsächlichen Bedingungen gesunden Gemeinlebens und untersuche sodann, welchen Gefahren diese ausgesetzt sind.34 Auf dieser Grundlage erfolge die Formulierung der Strafgesetze. Nach Binding verbietet sich also die Gleichsetzung von Verbrechen und Rechtsverletzung, da auch der Gesetzgeber konkrete und reale Störungen und nicht die Verletzung abstrakter Rechte in den Blick nehme. Die Gegenstände, die der Gesetzgeber auf diese Weise unter den Schutz strafrechtlicher Verbotsnormen stellt, bezeichnete Binding als Rechtsgüter. Auch wenn er zum Teil ungenau bei der Verwendung des Rechtsgutsbegriffs war,35 definierte er ihn immerhin zunächst abstrakt: „Sonach ist Rechtsgut Alles, was selbst kein Recht doch in den Augen des Gesetzgebers als Bedingung gesunden Lebens der Rechtsgemeinschaft für diese von Wert ist, an dessen unveränderter und ungestörter Erhaltung sie nach seiner Ansicht ein Interesse hat, und das er desshalb durch seine Normen vor unerwünschter Verletzung oder Gefährdung zu sichern bestrebt ist.“36
Damit wird die positivistische Konzeption des Rechtsgutsbegriffs deutlich: Rechtsgut ist das, was der Gesetzgeber hierzu erhebt. Eine Bezugnahme auf vorrechtliche Kategorien unterbleibt; vielmehr ist der Gesetzgeber nach Binding in den Grenzen der Logik bei der Schaffung von Rechtsgütern frei.37 Folgerichtig illustrierte Binding sein Verständnis des Rechtsgutsbegriffs anhand einer Aufzählung, die sich am seinerzeit geltenden Recht orientiert. Dabei benannte er selbst für Strafvorschriften, denen in der Folgezeit immer wieder der rechtsgüterschützende Charakter abgesprochen wurde (zum Beispiel die Tierquälerei38 oder den Inzest39), mühelos das aus 33 Binding,
Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, S. 339. Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, S. 339. 35 Vgl. die verbreitete Kritik bereits durch v. Liszt ZStW 6 (1886), 663 (675 ff.); später auch etwa Hohmann, Umweltdelikte, S. 18; Sina, Dogmengeschichte, S. 44 ff. 36 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, S. 353 ff.; s. auch ders., Handbuch des Strafrechts I, S. 169. 37 Vgl. Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, S. 340; dazu ausführlich Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 77 ff. 38 Zum aktuellen Diskussionsstand siehe nur Gimbernat Ordeig, GA 2011, 284 (290 ff.); Greco, FS Amelung, S. 3 ff.; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 2, § 59 Rn. 9; MK / Pfohl, § 17 TierSchG Rn. 1 ff.; s. auch Bloy, FS Eser, S. 233 (246); Fischer, GA 1989, 445 (459); Sternberg-Lieben, Schranken der Einwilligung, S. 396 Fn. 311. 39 s. hierzu BVerfGE 120, 224 ff. mit Sondervotum von Hassemer, abgedruckt in NJW 2008, 1142; dazu Bottke, FS Volk, S. 93 ff.; Greco, ZIS 2008, 234 ff.; M. Hein34 Binding,
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B. Der Rechtsgutsbegriff
seiner Sicht geschützte Rechtsgut. Er war sich zugleich der Streitbarkeit seiner Rechtsgutsbenennungen und der Erforderlichkeit der eingehenden Untersuchung der Strafnormen zur Ermittlung des jeweiligen Rechtsgutes bewusst.40 Binding betonte die Bedeutung der Rechtsgüter für die Systematisierung der Strafvorschriften und wies auf die Möglichkeit hin, einzelne Rechtsgüter zu übergeordneten Rechtsgütern (zum Beispiel Staat, Vermögen, Person) zusammenzufassen.41 Allerdings warnte er vor der Gefahr, die Rechtsgüter zu allgemein und damit zu vage zu fassen.42 Die rechtsgüterschützenden Verbote sollten aus seiner Sicht vielmehr so formuliert werden, dass sie als „Richtschnur der menschlichen Handlung“43 dienen können. Zudem lehnte er die Zusammenfassung verschiedenartiger Rechtsgüter zu Begriffen wie der „öffentlichen Ordnung“, des „öffentlichen Friedens“ oder der „Sittlichkeit“ strikt ab und bezeichnet sie als „Scheingüter“.44 Damit stellte er wohlgemerkt nicht die Legitimität der entsprechenden Strafvorschriften in Frage, sondern seine Kritik beschränkte sich auf die Bezeichnung des Rechtsguts.45 Sie richtete sich nicht zuletzt gegen den Gesetzgeber, der jedes Verbrechen unter einer Überschrift einordnet, die „sehr häufig falsch ausfällt, Gesetzeskraft nicht besitzt, nichts nützt und nur schadet“.46 Bemerkenswert ist weiterhin Bindings Unterscheidung zwischen dem Motiv zum Gesetz und dessen Gegenstand.47 Ersteres sei das Werturteil, das den Gesetzgeber zum Schutz eines Objekts durch eine Strafnorm veranlasst, also der Grund für die Schaffung eines Strafgesetzes. Das daraufhin geschaffene Strafgesetz schütze jedoch nicht ein Interesse oder Werturteil, sondern ein Rechtsgut.48 Bei der kritischen Würdigung von Bindings Konzeption wird häufig das Fehlen vorrechtlicher Maßstäbe für die Bestimmung der Rechtsgüter bemängelt.49 Eine solche formale Konzeption sei nicht hinnehmbar, weil sich rich, FS Roxin, S. 131 (140 ff.); Hörnle, NJW 2008, 2085; Kühl, FS Stöckel, S. 117 (129 f.); ders., FS Maiwald, S. 433 (447 ff.); MK / Ritscher, § 173 Rn. 2 ff.; Roxin, StV 2009, 544 ff.; Zabel, JR 2008, 453 ff.; Ziethen, NStZ 2008, 617 ff. 40 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, S. 351 Fn. 26. 41 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, S. 351. 42 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, S. 351. 43 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, S. 351. 44 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, S. 352 f. 45 Vgl. hierzu auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 79. 46 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, S. 353 Fn. 30. 47 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, S. 357. 48 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, S. 357. 49 So etwa Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 47 f.
I. Historischer Rückblick31
eine nicht durch weitere inhaltliche Merkmale qualifizierte Rechtsgutslehre beliebigen politischen Zielen unterordnen müsse.50 Als Beleg dafür, dass Binding diese kritisierte Sichtweise vertrat, wird dabei etwa auf folgendes Zitat verwiesen:51 „Nach seinem Gutdünken entscheidet er [scil.: der Staat], wo er strafen will und wie er strafen will. Niemand kann die Autorität seiner Entscheidung anfechten; formell ist die Kompetenz des Staates, Handlungen zu verbieten und Delikte zur Strafe zu ziehen, unbeschränkt.“52
Indes wird Bindings Sicht auf das Recht unvollkommen gewürdigt, wenn sie als nur formalistisch und rein positivistisch eingestuft wird. Er erkannte durchaus die Existenz und Bedeutung außerhalb der Gesetze und Normen stehender Werte an.53 In der vorstehend zitierten Textpassage heißt es denn auch weiter: „Aber gerade die Fülle der Gewalt legt ihrem Inhaber eine schwere Verantwortung auf: es ist nicht gegen die Kompetenz, aber gegen den Beruf des Staates, Strafen zu verhängen, wo sie entbehrlich sind, oder die Strafen auch nur ein weniges über Gebühr zu verschärfen. Daß der Staat seinem Berufe nach dieser Richtung hin treu bleiben kann, hat die Wissenschaft zu ermöglichen. […] Und so wird auch die weitere Forschung über das Problem der Strafe ihren Teil beitragen zur Erreichung des anzustrebenden Zieles, daß die Achtung vor dem Gesetze in Deutschland gewahrt bleibe, so weit es geht, ohne Strafe, so weit es zulässig, mittelst gelinder Strafe, so weit es aber nötig, mit der Schärfe des Schwertes: damit das Deutsche Reich, ebenso fern von einer Schwäche, die ihm nicht ansteht, als von einer Härte, deren es nicht bedarf, Rechtsstaat sei im edelsten Sinne des Wortes!“54
Binding sehnte demnach einen Staat herbei, der verantwortungsvoll mit seiner Machtfülle umgeht und appellierte an die Wissenschaft, ihn hierbei zu unterstützen. Er betonte zudem die Bedeutung des Übermaßverbots beziehungsweise Verhältnismäßigkeitsprinzips, ohne freilich diese Bezeichnungen zu verwenden. Damit zeigte sich bei Binding bereits ein Denkansatz, der sich in jüngerer Zeit im Rahmen der Diskussion um den Rechtsgutsbegriff wiederfindet, wenn dort nämlich dem Konzept der Beschränkung der 50 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 341; Sina, Dogmengeschichte, S. 91 f.; vgl. auch Appel, KritV 1999, 278 (282). 51 Etwa bei Neubacher, JURA 2000, 514 (516). 52 Binding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen, S. 93. Es handelt sich hierbei um die Überarbeitung der Leipziger Antrittsrede: Binding, Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, IV (1877), 417 (436). 53 Vgl. auch Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 46 f.; Hohmann, Umweltdelikte, S. 19. 54 Binding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen, S. 94; wortlautgleich bereits in ders., Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, IV (1877), 417 (436 f.).
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B. Der Rechtsgutsbegriff
Strafgewalt auf den Rechtsgüterschutz das Verhältnismäßigkeitsprinzip als alleinige Schranke des Gesetzgebers gegenübergestellt wird.55 Es wird Binding demnach nicht gerecht, wenn seine Lehre auf einen formalistischen Positivismus reduziert wird.56 Vielmehr hat er durchaus erkannt, dass die eigentliche Bedeutung der Strafgesetze nicht in der Erzwingung der Normbefolgung, sondern in der Erhaltung der rechtlichen Güter liegt, und dass die Normen nur Mittel zu diesem Zweck sind.57 Demnach redete er gerade nicht, wie mitunter suggeriert wird,58 einer totalitären Staatskonzeption das Wort, in der die Gesetze Selbstzweck sind oder lediglich dazu dienen, die Macht eines Regimes zu sichern. Bindings Überlegungen können aufgrund ihrer Ausrichtung am geltenden Recht als wegweisend für eine Annäherung an den systemimmanenten Rechtsgutsbegriff angesehen werden. Die Erkenntnisse, die er aus seinen formalen Betrachtungen zog, erweisen sich noch heute als weiterführend. Schließlich wird bei Binding deutlich, dass der Rechtsgutsbegriff sich zwar einerseits am geltenden Recht orientieren muss, wenn er für dogmatische Zwecke fruchtbar gemacht werden soll, diese Vorgehensweise aber andererseits Kritik am Gesetzgeber nicht ausschließt. 3. Rechtsgut und Zweckgedanke im Strafrecht bei Franz v. Liszt Auch Franz v. Liszt, der wichtigste Kontrahent Bindings im Schulenstreit, wies dem Rechtsgutsbegriff eine zentrale Rolle in seinem Theoriegebäude zu. Dieses fußte jedoch auf einem anderen strafrechtlichen Grundverständnis, das von Rudolf v. Jherings soziologischer Konzeption des Rechts inspiriert wurde. Jener hatte in seinem Spätwerk,59 insbesondere in der Schrift „Der Zweck im Recht“ versucht, das Recht mit den Zwecken zu erklären, die die Menschen mit der Schaffung der Gesetze verfolgen. Den Zweck erblickte v. Jhering im Strafrecht, wie auch in anderen Rechtsgebieten, in der „Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft“.60 Der Unterschied des Straf55 Darauf
wird noch ausführlich einzugehen sein, s. unten sub B. I. 7. c) aa). Schwinge, Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht, S. 28; ihm folgend Mezger, Lehrbuch, S. 203. 57 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, S. 365. 58 So durch die sehr einseitige Darstellung bei Neubacher, JURA 2000, 514 (516). 59 Zu Leben und Werk v. Jherings vgl. Janzarik, JA 2005, 316; Kleinheyer / Schröder, Juristen, S. 230 ff. 60 v. Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. 1, S. 485. 56 Zutreffend
I. Historischer Rückblick33
gesetzes zu anderen Gesetzen bestehe insoweit nur in der Art, wie der Zweck verfolgt werde, nämlich mittels Strafe.61 Strafe sehe das Gesetz dort vor, wo sonstige Mittel zur Verwirklichung des Rechts nicht ausreichen.62 Unter Bezugnahme auf v. Jhering entwickelte v. Liszt seine Überlegungen zum „Zweckgedanken im Strafrecht“. Den Zweck der Strafe erblickte er im Rechtsgüterschutz. Rechtsgüter sind nach v. Liszt die Lebensbedingungen der staatlichen Gemeinschaft und des Einzelnen, die durch die generellen Imperative (hier wird die Nähe zum Kontrahenten Binding bemerkbar63) zu Rechtsgütern erklärt werden.64 Es handelt sich bei Rechtsgütern nach v. Liszt um „rechtlich geschützte Interessen“65 – eine noch heute gern verwendete Kurzformel.66 Diese Formulierungen verdeutlichen, dass v. Liszts Rechtsgutskonzeption einer positivistischen Sichtweise verhaftet blieb.67 Gleichwohl wurde in der Folgezeit versucht, v. Liszt als Gewährsmann bei der Entwicklung eines systemkritischen Rechtsgutsbegriffs heranzuziehen. Hierfür sprach zum einen seine Gegnerschaft zu Binding, dessen „formallogische“ Betrachtung er durch eine „teleologische“ ersetzen wollte, wobei der „Zweckgedanke“ mit dem „Rechtsgute“ „Einzug in das Gebiet der Rechtslehre“ erhalten sollte.68 Indes unterschied v. Liszt deutlicher als diejenigen, die ihn später für sich vereinnahmen wollten, zwischen der dogmatischen und der kriminalpolitischen Ebene.69 Auf einer kriminalpolitischen Ebene warf er die Frage auf, welche Handlungen mit Strafe zu belegen sind. Diese beantwortete er wie folgt: „Jene Handlungen, welche für dieses Volk zu dieser Zeit als Störungen seiner Lebensbedingungen erscheinen, sind unter Strafe zu stellen; das kriminelle Un61 v.
Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. 1, S. 485. Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. 1, S. 486. 63 Zum Einfluss Bindings auf v. Liszt: Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, S. 95. Angesichts der Ähnlichkeit der Rechtsgutsdefinitionen von Binding und v. Liszt verwundert die vehemente Kritik des letzteren an der begrifflichen Unklarheit der Binding‘schen Rechtsgutsdefinition (v. Liszt ZStW 6 [1886], 663 [675 ff.]). Diese ist vor allem mit der Inkonsistenz der Ausführungen Bindings zum Rechtsgutsbegriff zu erklären. 64 v. Liszt, ZStW 3 (1883), 1 (19). 65 v. Liszt, ZStW 6 (1886), 663 (673); ZStW 8 (1888), 133 (134 u. 137). 66 So bei Maurach / Zipf, Strafrecht AT / 1, § 19 Rn. 4; vgl. auch Jescheck / Weigend, Strafrecht AT, S. 256; MK / Joecks, Einl. Rn. 34. 67 s. auch Frommel, Präventionsmodelle, S. 116, 119 ff. Aus diesem Grund kritisch: Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 40; Naucke, Zur Lehre vom strafrechtlichen Betrug, S. 39 f. 68 v. Liszt, ZStW 6 (1886), 663 (673). 69 Vgl. auch zur Abgrenzung des Gegenstands der Rechtswissenschaft (geltendes Recht) und der empirischen Bezugswissenschaften (künftiges Recht / Kriminalpolitik) v. Liszt, ZStW 8 (1888), 133 (139 f.), sowie Bock, Kriminologie, Rn. 32 ff. 62 v.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
recht ist nicht der Art nach von dem zivilen unterschieden; der Zweckgedanke allein zieht die Grenzlinie.“70
Nach v. Liszts Konzeption sollte sich die Kriminalpolitik zur Ermittlung der strafwürdigen Handlungen der Erkenntnisse der Philosophie, der Naturwissenschaften und der empirischen Sozialwissenschaften bedienen.71 Dabei ging er zumindest implizit davon aus, dass der Gesetzgeber dieses Wissen aufnimmt und stellte daher nur am Rande die Legitimität einzelner Strafvorschriften, wie das Verbot der Homosexualität,72 in Frage. Er stellte damit großes Vertrauen in die Klugheit des parlamentarischen Gesetzgebers unter Beweis.73 Das Ergebnis der kriminalpolitischen Überlegungen des Gesetzgebers manifestiert sich nach v. Liszts Vorstellung im Schutz eines Rechtsguts. Dieses ist gewissermaßen Ausdruck der gesetzgeberischen Zwecksetzung. So erklärt sich, dass v. Liszt das Rechtsgut als „Grenzbegriff“ bezeichnete, der eben an der Schnittstelle zwischen der Rechtslehre auf der einen Seite und den empirischen Wissenschaften sowie der Philosophie auf der anderen Seite angesiedelt ist.74 Zwar erkannte v. Liszt durchaus,75 dass der Gesetzgeber möglicherweise nicht zu überzeugenden Ergebnissen kommt, sodass das aus empirisch-sozialwissenschaftlicher Sicht schützenswerte und das tatsächlich rechtlich geschützte Interesse auseinanderfallen können.76 Dies führte zur Unterscheidung von formellem und materiellem Unrecht, die er folgendermaßen zum Ausdruck brachte: „Dieser materielle (antisoziale) Gehalt des Unrechts ist unabhängig von seiner richtigen Würdigung durch den Gesetzgeber (er ist „metajuristisch“). Die Rechtsnorm findet ihn vor, sie schafft ihn nicht. Formelle und materielle Rechtswidrigkeit können sich decken; sie können aber auch auseinanderfallen. Ein solcher Widerspruch zwischen dem materiellen Gehalt der Handlung und ihrer positivrechtlichen Würdigung ist nicht zu vermuten; aber er ist nicht ausgeschlossen.
70 v. Liszt, ZStW 3 (1883), 1 (23 f.); vgl. auch bereits v. Liszt, Das Deutsche Reichsstrafrecht, S. 12. 71 Er ging dabei davon aus, dass die Schwelle zum strafbaren Unrecht nicht starr ist. Sie könne nicht durch „aprioristische Konstruktion gefunden und gezogen werden“ (v. Liszt, Das Deutsche Reichsstrafrecht, S. 13). 72 v. Liszt, Lehrbuch (14. / 15. Aufl.), S. 385; dazu Schünemann, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 133 (143, Fn. 43). Jedoch wird die Kritik wohlgemerkt nicht auf rechtsgutsbezogene Überlegungen gestützt. 73 Zum Vertrauen in die Weisheit des aufgeklärten monarchischen oder parlamentarischen Gesetzgebers Schünemann, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 133 (138). 74 Vgl. v. Liszt, ZStW 6 (1886), 663 (673); ZStW 8 (1888), 133 (134 u. 139). 75 Zur Entwicklung vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 84 ff.; dazu Frommel, Präventionsmodelle, S. 120 f. 76 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 84 f.; Sina, Dogmengeschichte, S. 50.
I. Historischer Rückblick35 Liegt er vor, so ist der Richter durch das Gesetz gebunden; die Korrektur des geltenden Rechts liegt jenseits der Grenzen seiner Aufgaben.“77
Das Primat der gesetzgeberischen Entscheidung ließ er demnach weiterhin unangetastet, zumal er vom Regelfall der Kongruenz von Strafgesetz und materiellem Unrecht ausging. Vor allem zog er aber nicht den Rechtsgutsbegriff für gesetzeskritische Überlegungen heran, sondern deutete den Rechtsgutsbegriff rein positivistisch.78 Der Ertrag der Überlegungen v. Liszts für eine systemimmanente Konzeption des Rechtsgutsbegriffs besteht insbesondere in der Erkenntnis, dass eine positivistische Sichtweise nicht die Kritik am Gesetzgeber ausschließt. Anstatt wie die Vertreter einer systemkritischen Rechtsgutsauffassung zu fragen, ob eine konkrete Norm tatsächlich ein Rechtsgut schützt, kann nämlich auch vorausgesetzt werden, dass jede Strafvorschrift ein Rechtsgut schützt, aber gleichwohl hinterfragt werden, ob dieses Rechtsgut schützenswert ist. Der Rechtsgutsbegriff wird dann freilich positivistisch und nicht vorpositiv gedeutet. v. Liszt kommt aber nicht nur das Verdienst zu, den Weg zu einer Überprüfung der Zwecksetzungen des Gesetzgebers, insbesondere durch Einbeziehung empirischer Bezugswissenschaften, geebnet zu haben. Er hat darüber hinaus deutlich gemacht, dass eine solche kriminalpolitische Betrachtung deutlich von dogmatischen Überlegungen, die das geltende Recht als gesetzt zugrunde legen müssen, abzugrenzen ist. 4. Die Schutzobjektlehren Binding und v. Liszt waren nicht die einzigen Wissenschaftler, die im 19. Jahrhundert grundlegende Theorien zur Erklärung des Strafrechts aufstellten. Vielmehr gab es eine Vielzahl von Wissenschaftlern, die sich um eine umfassende theoretische Erläuterung des Strafrechts bemühten, ohne dass 77 v. Liszt, Lehrbuch (25. Aufl.), S. 174; so bereits auch ders., Lehrbuch (14. / 15. Aufl.), S. 140. 78 Missverständlich daher Sina, Dogmengeschichte, S. 50 f. und Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 85, die den Kontext der zitierten Passage nicht darstellen. Diese findet sich nämlich im Zusammenhang mit der Rechtswidrigkeitsdogmatik und nicht etwa im Zusammenhang mit dem Rechtsgutsbegriff, den v. Liszt an anderer Stelle erörtert (im Lehrbuch [25. Aufl.], S. 4 ff.). Ebenfalls zu weitreichend ist die Würdigung Hohmanns (Umweltdelikte, S. 22), dass die kritische Potenz des Rechtsgutsbegriffs bei v. Liszt wieder zur vollen Entfaltung trete. Selbiges gilt für die Interpretation Rudolphis (FS Honig, S. 151 [155]), nach dessen Ansicht dem Begriff des Rechtsgutes bei v. Liszt auf Grund seiner vorrechtlichen Inhaltsbestimmung ein liberaler, den Strafgesetzgeber einschränkender Gehalt zukommt. Frommel (Präventionsmodelle, S. 116, 119 ff.) weist hingegen zutreffend auf die positivistische Ausrichtung der Überlegungen v. Liszts hin.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
sich eine „communis opinio“79 herausbildete. Die Bedeutung, die dabei dem Rechtsgutsbegriff beigemessen wurde, war unterschiedlich. Dies war nicht zuletzt terminologischen und inhaltlichen Unklarheiten geschuldet. So erklärt sich, dass zur Zeit der Jahrhundertwende Bestrebungen aufkeimten, begriffliche Klarheit durch grundlegende Betrachtungen zu schaffen, in deren Mittelpunkt der Rechtsgutsbegriff gestellt wurde. Als wichtige Vertreter dieser häufig als Schutzobjekttheorien80 bezeichneten Lehren gelten Oppenheim, Hirschberg, Gerland und Oetker. Dabei wurde insbesondere von Oppenheim der Begriff des Schutzobjekts dem des Rechtsguts vorgezogen.81 Hatte Binding die Norm zum Angelpunkt seiner umfassenden Theorie gemacht, so stellte Oppenheim die Objekte der Verbrechen in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. In seiner Untersuchung gelangte er nach eingehender Auswertung des damaligen Forschungsstandes zu nicht weniger als zwölf verschiedenen Möglichkeiten, das Objekt der Verbrechen zu bestimmen.82 Er rückte dabei indes vor allem das Schutzobjekt und das Handlungsobjekt (von ihm auch bloß als „Objekt“ bezeichnet) in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Damit meinte er, die beiden Anforderungen für eine „brauchbare Lehre vom Objekt des Verbrechens“83 zu erfüllen. Eine solche „muss einmal das Angriffs- oder Schutzobjekt genau angeben, welches durch das Verbrechen verletzt u. s. w. wird; andernfalls würde nicht ersichtlich sein, warum das Verbrechen als schädliche Handlung verboten und mit Strafe bedroht ist. Dann aber muss sie die Schutzobjekte und die anderen Objekte der Verbrechen auseinanderhalten.“84
Die zweite Anforderung erklärt sich aus der Bedeutung und Funktion, die Oppenheim seiner Lehre beimaß. Durch die Trennung von Handlungs- und Schutzobjekten ließen sich nach seiner Auffassung Erkenntnisse für Grundsatzfragen der allgemeinen Strafrechtslehren ableiten.85 Bedeutung erlangen sie also bei der Auslegung und Systematisierung des Strafrechts. Er definierte die beiden Begriffe wie folgt: „Schutz-Objekt ist dasjenige Objekt (ein Zustand, Gefühl, Recht, eine Pflicht), welches durch das einzelne Verbrechen angegriffen wird. Objekt schlechthin des Verbrechens ist dasjenige Objekt, an welchem das Verbrechen begangen, bezw. 79 Oppenheim,
Objekte, S. 57. Rechtsgüterschutz, S. 37 ff.; Hohmann, Umweltdelikte, S. 23 ff. 81 Oppenheim, Objekte, S. 59 u. 183; Hirschberg, Schutzobjekte, S. 61. 82 Oppenheim, Objekte, S. 155. 83 Oppenheim, Objekte, S. 60. 84 Oppenheim, Objekte, S. 60. 85 Vgl. Oppenheim, Objekte, S. 156 ff. 80 Amelung,
I. Historischer Rückblick37 welches durch das Verbrechen erzeugt werden muss, damit der das betr. Verbrechen charakterisierende Angriff auf ein Schutz-Objekt vorliegt.“86
Die Vertreter der Schutzobjektlehren bemühten sich also zunächst um eine Schärfung der Begrifflichkeiten, indem sie das Rechtsgut von anderen Objekten, insbesondere vom Handlungsobjekt, unterschieden.87 Zudem versuchten sie mit unterschiedlicher Intensität auch zu definieren, was Rechtsgüter sind. So entnahm Oppenheim der Untersuchung der Tatbestände, dass es sich bei den Schutzobjekten stets entweder um Zustände oder Gefühle oder Rechten oder Pflichten handele.88 Er war allerdings der Ansicht, dass es nicht notwendig sei, dass die Schutzobjekte aller Verbrechen Dinge gleicher Natur sind89: „Zwar wäre das Resultat ein wertvolles, wenn sich erweisen liesse, dass alle Schutz-Objekte einheitlicher Natur sind, denn wir könnten dann eine materiell einheitliche Definition des Verbrechens aufstellen. Allein der Wert eines eventuellen Resultates darf uns nicht veranlassen, das Resultat als notwendig zu verlangen.“90
Oppenheim gelangte demnach nicht deshalb zu einer abschließenden Aufzählung der Natur der Schutzobjekte, weil er nach ihr gesucht hätte, sondern er fand sie eher beiläufig vor. Andere Vertreter der Schutzobjektlehren, insbesondere Hirschberg und Gerland, waren hingegen bestrebt, die Schutzobjekte auf einen einheitlichen Begriff zurückzuführen.91 Sie erblickten die Gemeinsamkeit aller Rechtsgüter beziehungsweise Schutzobjekte darin, dass es sich um „Zustände“ handelt. Sie fassten die Rechtsgüter dabei als einen realen Zustand auf,92 während Oetker davon ausging, dass es sich um angestrebte ideale Zustände handelt.93 Insbesondere Hirschberg erkannte, dass der Begriff des Zustands inhaltlich wenig aufhellt.94 Den Vertretern der Schutzobjektlehren ging es aller86 Oppenheim,
Objekte, S. 194; vgl. auch Hirschberg, Schutzobjekte, S. 10. auch Devrient, Analyse der Verbrechensobjekte, S. 17 f.; Hirschberg, Schutzobjekte, S. 14 ff. 88 Oppenheim, Objekte, S. 153 u. 184. 89 Die Beantwortung der Frage nach der einheitlichen Natur der Schutzobjekte stand mithin nicht im Zentrum seiner Bemühungen. Ungenau insoweit Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 97. 90 Oppenheim, Objekte, S. 60. 91 Vgl. Gerland, GS 59 (1901) 81 (98 ff.); Hirschberg, Schutzobjekte, S. 39 ff. 92 Vgl. Gerland, GS 59 (1901) 81 (99 f.); ders., Deutsches Reichsstrafrecht, S. 106; Hirschberg, Schutzobjekte, S. 63 f. 93 Oetker, Juristisches Literaturblatt 7 (1895), 12; ders., ZStW 17 (1897), 493 (495 u. 508); zustimmend Haubach, Der strafrechtliche Schutz des Schamgefühls, S. 14. Kritisch hingegen Devrient, Analyse der Verbrechensobjekte, S. 14. 94 Vgl. Hirschberg, Schutzobjekte, S. 11 zur Inhaltslosigkeit des Begriffs „Schutzobjekt“. Dasselbe gilt konsequenterweise auch für den Zustandsbegriff, wenn 87 s.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
dings nicht darum, den Rechtsgutsbegriff inhaltlich „aufzuladen“,95 sondern dessen formale Konturen zu schärfen.96 So bestand Hirschbergs Ziel darin, eine einheitliche Konstruktionsregel für Schutzobjekte zu schaffen, weil er dies als Voraussetzung für eine fruchtbare dogmatische Arbeit mit dem Schutzobjektskonzept ansah.97 Dabei erschien es ihm im Sinne der Einheitlichkeit der Schutzobjektsbezeichnungen allein sinnvoll, diese als „Zustände“ zu konstruieren.98 Eine solche Konstruktion aller Rechtsgüter als Zustände hielt er auch für möglich,99 wohingegen er eine solche als Rechte oder Pflichten als nicht konsequent und einheitlich durchführbar erachtete.100 Zudem bemühten sich die Vertreter der Schutzobjektlehren erstmals darum, zu klären, wie die Rechtsgüter einzelner Strafvorschriften zu ermitteln sind. Oppenheim zufolge sollte dies durch „Betrachtung der einzelnen Verbrechens-Thatbestände“,101 insbesondere „des positiven Rechts selbst oder seiner Ratio“,102 erfolgen. Der Gerland-Schüler Devrient meinte, den Schriften seines akademischen Lehrers entnehmen zu können, dass diesem zufolge die Schutzobjekte aus der Zusammenfassung der den Straftatbeständen zu entnehmenden Handlungsobjekte zu ermitteln sind.103 Während der Weg der Rechtsgutsermittlung bei den vorgenannten Autoren nicht recht klar wird, zeichnete sich bei Hirschberg ab, dass die Auslegung unter Berücksichtigung der klassischen Auslegungsmethoden (die freilich nicht als solche bezeichnet wurden) der geeignete Weg zur Bestimmung des Schutzobjekts einer Strafvorschrift ist.104 Die Schutzobjektlehren zeichneten sich durch eine am geltenden Recht orientierte Betrachtungsweise aus. Gleichwohl waren ihre Vertreter deshalb jedes Schutzobjekt als Zustand umschrieben wird. Da eine inhaltliche Aussage über die Schutzobjekte nicht intendiert war (a. A. Sina, Dogmengeschichte, S. 59), erscheint die harsche Kritik an den Schutzobjektlehren wegen ihrer Inhaltslosigkeit (etwa bei Marx, Zur Definition des Begriffs Rechtsgut, S. 20 m. w. N.; ähnlich schon Honig, Einwilligung, S. 116) überzogen. Gegen diese Abqualifizierung auch Amelung, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 155 (158). 95 Vgl. Hirschberg, Schutzobjekte, S. 44 f. 96 Selbst wenn wie beim Gerland-Schüler Devrient (Analyse der Verbrechensobjekte, S. 12) eine materielle Einheitlichkeit der Schutzobjekte postuliert wird, so fehlt es an inhaltlich aussagekräftigen Beschreibungen des Gehalts der Schutzobjekte. 97 Vgl. Hirschberg, Schutzobjekte, S. 72 ff. u. 154 ff. 98 Vgl. Hirschberg, Schutzobjekte, S. 68 ff. 99 Hirschberg, Schutzobjekte, S. 72. 100 Vgl. Hirschberg, Schutzobjekte, S. 47 ff. 101 Oppenheim, Objekte, S. 184. 102 Oppenheim, Objekte, S. 196. 103 Devrient, Analyse der Verbrechensobjekte, S. 19 f. 104 Hirschberg, Schutzobjekte, S. 78.
I. Historischer Rückblick39
nicht zwangsläufig völlig apolitisch, sondern sie wollten zum Teil gerade mithilfe der Bestimmung genauer Rechtsbegriffe dazu beitragen, die Kriminalpolitik zu verbessern. Oetker formulierte dies wie folgt: „Das praktische Rechtsleben wird nicht durch einheitliche Gesichtspunkte beherrscht. Die Theorie ist außer stande, ein oberstes Prinzip nachzuweisen, das den Leitstern zu bilden hätte für die Rechtsreform. Ihre Aufgabe ist nicht das Ausdenken neuer, besserer Strafinstitutionen, sondern das Nachdenken über das Strafinstitut. Indem sie Rechenschaft gibt über Wesen und Zweck aller Bestrafung, die Stellung der Strafe bestimmt im System der Rechtsschutzmittel, ihre spezifische Wirksamkeit erkennt für die Erhaltung der Rechtsordnung, gibt sie Grenzlinien, die von der Gesetzgebung zu respektieren sind, gewinnt Kriterien für die Beurteilung der Reformvorschläge und dient so zu ihrem Teile dem Rechtsbedürfnisse der Nation.“105
Auch die Schutzobjektlehren sollten somit nach Auffassung ihrer Urheber zu einer Verbesserung des Rechts beitragen.106 Dabei nahmen ihre Vertreter allerdings das geltende Recht und nicht vorpositive Begriffe oder Prinzipien zum Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen.107 Zudem gingen sie von einem zwar fehlbaren, aber grundsätzlich vernünftig handelndem Gesetzgeber aus, der Strafnormen nur dort aufstellen möchte, wo es unerwünschtes Verhalten zu verhindern gilt.108 Es herrschte mit anderen Worten in der Strafrechtswissenschaft anders als bei den späteren Vertretern systemkritischer Rechtsgutslehren nicht ein breites Misstrauen gegenüber einem Strafgesetzgeber vor, dessen (vermeintlichen oder tatsächlichen) Bestrebungen, die Freiheit der Bürger über Gebühr einzuschränken, Einhalt geboten werden muss. Eine Negierung jeglichen kritischen Gehalts der Schutzobjektslehren109 würdigt diese demnach unvollkommen. Vor allem aber verdienen die Vertreter der Schutzobjekttheorien Anerkennung für ihren Beitrag zur Schärfung eines systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs. Ihre Überlegungen zur Unterscheidung von Handlungsobjekt und Rechtsgut sowie zur Ermittlung des Rechtsguts aus der Strafvorschrift sind wegweisend für eine Präzisierung eines Rechtgutsbegriffs, der für Zwecke der Strafrechtsdogmatik fruchtbar gemacht werden soll. Schließlich kann aus den vergeblichen Bemühungen der Schutzobjektlehren, inhaltlich aussagekräftige Beschreibungen des Rechtsguts zu finden, die Schlussfolgerung gezogen werden, dass das Rechtsgut bei Zugrundelegung eines systemim105 Oetker, ZStW 17 (1897), 493 (494). Vgl. auch die Ausführungen ebenda auf S. 527 f. 106 s. auch die Kritik am Gesetzgeber bei Hirschberg, Schutzobjekte, S. 155 ff. 107 Vgl. auch Hirschberg, Schutzobjekte, S. 1 f.; s. auch M. E. Mayer, Der allgemeine Teil des deutschen Strafrechts, S. 22 f. 108 Vgl. Hirschberg, Schutzobjekte, S. 3 ff. 109 So etwa Hohmann, Umweltdelikte, S. 26.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
manenten Rechtsgutsbegriffs allenfalls über vage Allgemeinbegriffe wie den des Zustands beschrieben werden kann. 5. Der methodisch-teleologische Rechtsgutsbegriff Die vorgestellten Rechtsgutslehren des 19. Jahrhunderts waren, wenn auch in unterschiedlichem Maße, vom Bemühen gekennzeichnet, einen gemeinsamen Unrechtskern der Verbrechen ausfindig zu machen.110 Ihr Ansinnen bestand dabei darin, das Strafrecht allgemein zu verstehen und zu erklären. Der Versuch, einen gemeinsamen Unrechtskern der Strafgesetze zu bestimmen, war somit zunächst „dogmatisch“ motiviert, barg aber insofern ein systemkritisches Potential, als konkrete Strafgesetze an einer gefundenen Definition des Unrechtskerns gemessen werden können: lässt sich eine Verbrechensnorm nicht mit ihr in Einklang bringen, so kann dies zum Anlass genommen werden, die Legitimität der Strafnorm in Frage zu stellen (oder die gefundene Definition des Unrechtskerns zu verwerfen). Dieses systemkritische Potential der Rechtsgutslehren des 19. Jahrhunderts erkannten deren Urheber mitunter recht deutlich, wenngleich sie sich mit grundsätzlicher Kritik an einzelnen Straftatbeständen zurückhielten.111 Das Unterfangen, einen gemeinsamen Unrechtskern aller Strafvorschriften zu ermitteln, erwies sich als schwierig. Da ein allgemein anerkanntes und befriedigendes Ergebnis nicht gefunden werden konnte, nahm am Anfang des 20. Jahrhunderts die Skepsis gegenüber der Möglichkeit zu, den Unrechtskern der Verbrechen überhaupt einheitlich mit Hilfe des Rechtsgutsbegriffs zu erfassen.112 Diese Haltung bildete das Fundament, auf dem Honig den methodisch-teleologischen Rechtsgutsbegriff entwickelte, der in der Folge unter anderem von Grünhut und Schwinge übernommen wurde. Honig nahm davon Abstand, den Rechtsgutsbegriff zum Bestandteil einer Gesamterklärung des Strafrechts über das allen Verbrechen gemeinsame materiale Unrecht zu erheben.113 Er verwarf die Ansätze der verschiedenen Rechtsschulen, die entweder deduktiv aus allgemeinen Ideen und Begriffen das geltende Recht zu erklären versuchten oder die induktiv dem geltenden Recht übergeordnete, abstrakte Prinzipien herauszuarbeiten bestrebt waren.114 Hingegen verwarf er nicht den Begriff des Rechtsguts, sondern versuchte vielmehr dessen Bedeutung genauer zu erfassen. Er kam zu dem Rudolphi, FS Honig, S. 151 (152). aber auch die deutliche Kritik bei Hirschberg, Schutzobjekte, S. 155 ff. 112 So zutreffend Rudolphi, FS Honig, S. 151 (152). 113 Vgl. Honig, Einwilligung, S. 84. 114 Vgl. Honig, Einwilligung, S. 84 f. 110 Vgl. 111 s.
I. Historischer Rückblick41
Schluss, dass mit den Rechtsgütern „der vom Gesetzgeber in den einzelnen Strafrechtssätzen anerkannte Zweck in seiner kürzesten Formel“115 zum Ausdruck gebracht werden soll.116 Der Rechtsgutsbegriff sei „gewissermaßen der Angelpunkt, um den sich die Unwertbedeutung des deliktischen Handelns dreht.“117 Nach Honig existieren die Rechtsgüter nicht als solche, sondern „sie gewinnen erst Leben, indem wir die Gemeinschaftswerte als Zweckobjekte der Strafrechtssätze ins Auge fassen.“118 Die Rechtsgüter betrachtete er somit als bloße „Abbreviaturen für die Zweckbestimmung der einzelnen Strafrechtssätze“.119 Er warnte daher auch davor, in den Rechtsgütern den „Sinn der Strafrechtssätze in einer Weise zu hypostasieren, die […] der Wesensverschiedenheit der einzelnen strafrechtlichen Tatbestände in keiner Weise gerecht wird.“120 Der solcherart entwickelte Rechtsgutsbegriff war zum einen rein positivistisch, zum anderen von Bestrebungen befreit, ihm eine allgemeine, die verschiedenen Straftatbestände übergreifende Bedeutung zukommen zu lassen. Indes negierte auch Honig nicht die Relevanz außerrechtlicher Kategorien bei der Schaffung der Rechtsgüter durch den Gesetzgeber. Vielmehr sei in der „Bejahung eines bestimmten Rechtswerts […] ein Bekenntnis zu erblicken, ein Bekenntnis zu einer der geistesgeschichtlichen Formen, in denen menschliche Rechtsauffassung zum Ausdruck gelangt ist, und die als rechtsphilosophische Schulen ihre Macht zur Geltung gebracht haben.“121
Der Unterschied zu den früheren Rechtsgutstheorien erweist sich damit als weitaus geringer als sowohl Honig als auch zum Teil das spätere Schrift115 Honig,
Einwilligung, S. 94. Umschreibung des Rechtsguts als Zweck der Strafrechtssätze in seiner kürzesten Formel ist missverständlich und ihrerseits verkürzend: der „Zweck“ des Mordparagraphen (§ 211 StGB) ist nicht das Leben, das aber unbestritten das geschützte Rechtsgut dieser Vorschrift ist. Honigs Überlegungen sind vor diesem Hintergrund dahingehend zu verstehen, dass mit dem Rechtsgut dasjenige Objekt bzw. derjenige Wert in kürzester Form beschrieben ist, dessen Bewahrung vor Verletzung oder Gefährdung mit dem Strafgesetz bezweckt ist. 117 Honig, Einwilligung, S. 94. 118 Honig, Einwilligung, S. 94; Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt. 119 Honig, Einwilligung, S. 109. Grünhut, FG Frank, Bd. I, S. 1 (8) gibt dies später ungenau als „Abbreviatur des Zweckgedankens“ wieder. Dies ist im Hinblick darauf missverständlich, dass der Begriff „Zweckgedanke“ regelmäßig in dem Sinne verstanden wird, den ihm v. Liszt gegeben hat. Dieses Verständnis deckt sich jedoch nicht mit dem der methodisch-teleologischen Rechtsgutslehre, auch wenn gewisse Parallelen zwischen beiden Ansätzen bestehen (anderer Auffassung insofern: Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 49; Suhr, Rechtsgut der Steuerhinterziehung, S. 10; ders., JA 1990, 303 [305]). 120 Honig, Einwilligung, S. 94. 121 Honig, Einwilligung, S. 108. 116 Die
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B. Der Rechtsgutsbegriff
tum122 nahe legen.123 Wie bereits dargelegt wurde,124 sind auch Binding und v. Liszt dem Positivismus verhaftet geblieben. Zudem betonten auch sie die Abhängigkeit des jeweiligen Rechtsgüterkanons von den zeitgeistabhängigen Überzeugungen des Gesetzgebers beziehungsweise der Rechtsgemeinschaft. Der Unterschied beschränkt sich also darauf, dass Honig die Verbrechen nicht auf einen gemeinsamen Unrechtskern zurückführen wollte und deshalb den Rechtsgutsbegriff nicht mit Inhalt füllte, sondern rein formalistisch betrachtete. Insoweit lässt sich seine Vorgehensweise mit Amelung als Rückkehr zur Bindingschen Lehre beschreiben.125 Die Überlegung, dass das Rechtsgut eine Kurzformel für den Zweck des Strafgesetzes darstellt, führte zwanglos zur Erkenntnis, dass der Rechtsgutsbegriff als wertvolles Hilfsmittel bei der (teleologischen) Auslegung heranzuziehen ist.126 Schwinge, der Honigs Lehre übernahm, beschrieb die gebotene Vorgehensweise folgendermaßen: „Wollen wir Inhalt, Tragweite und Herrschaftsbereich einer Strafrechtsnorm ermitteln, m. a. W. ihren Begriff genau umreißen, so müssen wir also deren einzelne Tatbestandsmerkmale zu ihrem Rechtsgut oder Schutzobjekt127 in Beziehung setzen. Wir haben uns demnach zunächst zu überlegen: Welches Rechtsgut ist überhaupt Gegenstand des Strafrechtsschutzes dieser Norm? Sind wir darüber im Klaren, so ist alsdann zu prüfen, was erforderlich ist, damit die Strafbestimmung die Funktion, die ihr der Gesetzgeber zugewiesen hat: Schutz dieses Rechtsguts, erfüllen kann?“128
Honig und Schwinge legten auch dar, wie das jeweilige Rechtsgut zu ermitteln sei. Dies habe durch eine wertbeziehende Betrachtungsweise zu erfolgen.129 Es handelt sich hierbei um eine geisteswissenschaftliche, verstehende130 Methode.131 Dazu sei es notwendig, sich bei der Bestimmung der einzelnen Rechtsgüter „auf den rechtsphilosophischen Standpunkt, den er 122 Etwa Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 49; Rudolphi, FS Honig, S. 151 (154); Sina, Dogmengeschichte, S. 94. 123 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 139 ff. 124 s. oben B. I. 2. und B. I. 3. 125 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 134 f. 126 Vgl. Grünhut, FG Frank, Bd. I, S. 1 (8). 127 Die Begriffe „Rechtsgut“ und „Schutzobjekt“ werden von den Vertretern des methodisch-teleologischen Rechtsgutsbegriffs synonym verwendet. Dies weist auf die Anleihen hin, die bereits Honig bei den – von ihm freilich vehement kritisierten (Einwilligung, S. 77 ff.) – Schutzobjektlehren nimmt. 128 Schwinge, Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht, S. 22 f. 129 Honig, Einwilligung, S. 108. 130 Diesen Begriff lehnt Schwinge (Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht, S. 60 f.) freilich ab, weil er irrationale Momente enthalte; dazu Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 135 Fn. 33. 131 Vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 135.
I. Historischer Rückblick43
[scil: der Gesetzgeber] eingenommen hat, zu besinnen.“132 Nur von einem solchen Standpunkt aus könne man „mit sicherer Hand die Werte bestimmen, die der Gesetzgeber mit seinen Normen hat schützen wollen.“133 Der Entwicklung eines methodisch-teleologischen Rechtsgutsbegriffs134 kommt für die systemimmanente Konzeption des Rechtsguts besondere Bedeutung zu. Bahnbrechend ist die Erkenntnis, dass das Rechtsgut ein wertvolles Hilfsmittel der Auslegung ist.135 Dieser Wert des Rechtsguts ergibt sich daraus, dass mit ihm der Gesetzeszweck auf den Punkt gebracht wird und die Gesetze unter Berücksichtigung des mit ihnen verfolgten Zwecks auszulegen sind.136 Historisch gesehen wurde mit der Entwicklung des methodisch-teleologischen Rechtsgutsbegriffs dem Rechtsgut wieder ein hoher Stellenwert für die Strafrechtswissenschaft beigemessen, nachdem seine Brauchbarkeit zuvor mitunter stark bezweifelt worden war.137 Zugleich wurde der Rechtsgutsbegriff anderer Funktionen, als Kurzfassung der „ratio legis“138 zu sein, entkleidet.139 Der methodisch-teleologische Rechtsgutsbegriff hat vor allem für seine streng positivistische Ausrichtung Kritik erfahren.140 Weitere Einwände, namentlich die Überdehnung des Rechtsgüterschutzgedankens und die Vergeistigung des Rechtsgutsbegriffs,141 zielen vor allem auf die Fortentwicklung der Lehre im Nationalsozialismus ab und werden deshalb erst im nächsten Abschnitt behandelt.
132 Honig,
Einwilligung, S. 108. Einwilligung, S. 108. 134 Zum Begriff siehe Hohmann, Umweltdelikte, S. 26 Fn. 3. 135 Entsprechende Tendenzen fanden sich zuvor schon bei Beling, Die Lehre vom Verbrechen, S. 215 f. (dazu Honig, Einwilligung, S. 72 Fn. 59; Schwinge, Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht, S. 32 f.) sowie bei v. Hippel, Deutsches Strafrecht Bd. I, S. 15 und Gerland, GS 59 (1901), 81 (103). 136 s. auch eingehend Demko, Relativität der Rechtsbegriffe, S. 145 ff. 137 So etwa von v. Bar, Gesetz und Schuld im Strafrecht. Bd I: Das Strafgesetz, S. 26; Hold von Ferneck, Die Rechtswidrigkeit, Bd. 1, S. 384 f.; Tesar, Überwindung des Naturrechts, S. 182 ff.; Trops, Begriff und Wert eines Verwaltungsstrafrechts, S. 52. 138 Schwinge, Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht, S. 25. 139 Dazu Rudolphi, FS Honig, S. 151 (153 f.); Roxin, Täterschaft und Teilnahme, S. 413. 140 Etwa Marx, Zur Definition des Begriffs Rechtsgut, S. 19; Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, S. 63; differenzierend Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 143 ff. 141 Näher dazu Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 135 ff. 133 Honig,
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B. Der Rechtsgutsbegriff
6. Der Rechtsgutsbegriff in der Zeit des Nationalsozialismus In der Zeit des Nationalsozialismus war die Diskussion um den Rechtsgutsbegriff vor allem durch den Streit zwischen der Kieler und der Marburger Schule geprägt. Dessen Ausgangspunkt war die Feststellung, dass das Verbrechen durch eine Umschreibung als Rechtsgutsgefährdung oder -verletzung nur unzureichend charakterisiert wird. Eine Reihe strafrechtlicher Regelungen ließ sich aus Sicht der an der Diskussion beteiligten Strafjuristen durch die Konzeption des Unrechts als Rechtsgutsbeeinträchtigung nicht erklären. Als Beispiel wurden dabei etwa die Sonderdelikte genannt, bei denen sich die strafbegründende beziehungsweise strafschärfende Wirkung der Amtsträgereigenschaft des Täters nicht durch eine qualitativ andere Rechtsgutsverletzung erklären lasse.142 Des Weiteren wurde exemplarisch die Strafbarkeit des ungefährlichen untauglichen Versuchs herangezogen, da diese nicht mit einer durch die Tat herbeigeführten Rechtsgutsgefährdung oder -verletzung zu erklären sei.143 Dies nahm die Kieler Schule, prominent vertreten durch Dahm und Schaffstein, zum Anlass, eine „Akzentverlage rung“144 in der Strafrechtsdogmatik zu fordern. Allein mithilfe des Rechtsgutsdogmas seien die Verbrechen nicht zu erklären, vielmehr bestehe die Notwendigkeit, auch Gesinnungs- und Pflichtmerkmale zu berücksichtigen.145 So liege das Unrecht der Amtsdelikte in der besonderen Pflichtenstellung des Täters begründet.146 Die Strafbarkeit des Versuchs wiederum lasse sich mit der Gesinnung des Täters begründen.147 Schaffstein schrieb hierzu: „Es geht um die Erkenntnis, dass die „Rechtsgutsverletzung“ zwar ein sehr wichtiger, bei den meisten Delikten in Betracht zu ziehender, aber keineswegs der einzige Faktor ist, der den Unrechtsgehalt der Verbrechen bestimmt. […] Das praktische Ziel der Kritik am Rechtsgutsverletzungsdogma ist deshalb das, jene anderen, den Unrechtsgehalt mitbestimmenden Faktoren, also etwa das Treubruchsmoment, die Pflichtenstellung des Täters, seine Gesinnung, die Bedeutung seiner Tat als böses Beispiel, aufzudecken und ihnen im Allgemeinen und Besonderen Teil de lege lata und erst recht de lege ferenda diejenige Beachtung zu erSchaffstein, DStrR 1937, 335 (344). DStrR 1935, 97 (102). 144 Schaffstein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 21; ders., DStrR 1937, 335 (336); dazu Klee, DStrR 1936, 1 (1 f.). s. auch Gallas, FS Gleispach, S. 50 (53). Vgl. zur Entwicklung Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, S. 182. 145 Vgl. Schaffstein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 7 ff. und S. 16 ff.; vgl. auch Dahm, ZStW 57 (1938), 225 (235). Dazu eingehend Stefanopoulou, JoJZG 2010, 111 ff. 146 Schaffstein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 24; ders., DStrR 1937, 335 (344). 147 Vgl. Schaffstein, DStrR 1935, 97 (102). 142 Vgl.
143 Schaffstein,
I. Historischer Rückblick45 ringen, die ihnen bisher infolge der Alleinherrschaft des Rechtsverletzungsdogmas vorenthalten wurde.“148
Während die Kieler Schule demnach weitere Dogmen neben das der Rechtsgutverletzung stellen wollte, bemühte sich die Marburger Schule stärker um die Integration weiterer Aspekte im Rahmen der Rechtsgutslehre, um den aufgeworfenen Schwierigkeiten, die sich etwa bei der Erklärung der Sonderdelikte stellen, Rechnung zu tragen. Dies beanstandeten wiederum die Vertreter der Kieler Schule als „Ausweitung und Vergeistigung“149 des Rechtsgutsbegriffs. Sie warfen ihren Kontrahenten vor, das Rechtsgut mit dem Zweck des Strafgesetzes gleichzusetzen.150 Im Hinblick auf die Vielzahl der mit einem Strafgesetz verfolgten Zwecke werde der Rechtsgutsbegriff dadurch entmaterialisiert und damit konturenlos. Damit verliere er auch seine Bedeutung für die Tatbestandsauslegung.151 Diese Kritik verfehlte jedoch die Ansichten der Marburger Schule. Deren Vertreter äußerten – soweit ersichtlich – nirgendwo explizit, dass der Rechtsgutsbegriff sämtliche Normzwecke vereine,152 sondern betonten lediglich bei grundsätzlicher Beibehaltung des Rechtsgutsbegriffs die Bedeutung der Berücksichtigung der „Gesamtheit aller Gesichtspunkte“, die die Schaffung der gesetzlichen Vorschriften veranlasst haben.153 In der Sache standen sich die Marburger und Kieler Schule daher zumindest in diesem Punkt näher, als die Schärfe ihrer Auseinandersetzung vermuten lässt. Daneben kritisierten die Vertreter der Kieler Schule am Rechtsgutsdogma deren ideengeschichtliche Herkunft aus dem Zeitalter der Aufklärung. Es sei geprägt durch den Geist des Liberalismus, Individualismus und Rationalismus.154 Eine Konzeption, bei der der Freiheit des Einzelnen eine maßgebliche Bedeutung beigemessen wurde, war von der Warte des nationalsozialistischen Denkens kritikwürdig. Sie stand im diametralen Gegensatz zur natio148 Schaffstein,
DStrR 1937, 335 (336 f.). Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 14. 150 Schaffstein, DStrR 1935, 97 (100 f.); ders., DStrR 1937, 335 (338 u. 345 f.); s. auch Dahm, ZStW 57 (1938), 225 (231 ff.). 151 Schaffstein, DStrR 1937, 335 (347). 152 Dies räumt auch Schaffstein in einer Fußnote ein: DStrR 1937, 335 (346, Fn. 25). Vgl. auch ders., FS Schmidt, S. 47 (61 f.). Ein extensives Verständnis des Rechtsguts legt indes Mezger (Lehrbuch, S. 189, 202 und ZStW 57 [1938], 675 [697]) zugrunde; allerdings später zurückhaltender ders., Deutsches Strafrecht, S. 66 f. Vgl. auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 136. 153 Schwinge / Zimmerl, Wesensschau und konkretes Ordnungsdenken im Strafrecht, S. 69 f. 154 Vgl. Gallas, FS Gleispach, S. 50 (51); Schaffstein, DStrR 1937, 335 (339); ders., DStrR 1935, 97 (99); Formulierung nach Schwinge / Zimmerl, Wesensschau und konkretes Ordnungsdenken im Strafrecht, S. 64. 149 Schaffstein,
46
B. Der Rechtsgutsbegriff
nalsozialistischen Ideologie, in der die Volksgemeinschaft im Vordergrund stand. Vor diesem Hintergrund befand Schaffstein es als vorzugswürdig, dogmatische Rechtsbegriffe und Konstruktionen, die der Aufklärung und dem Liberalismus entstammten, nicht zu übernehmen und stattdessen durch neue Begriffsgebäude zu ersetzen.155 Demgegenüber sahen die Vertreter der Marburger Schule den geistesgeschichtlichen Ursprung des Rechtsgutsbegriffs als unproblematisch an, da der Rechtsgutsbegriff einen neuen Sinn angenommen habe.156 Zudem diene die „moderne“ Rechtsgutslehre gerade der „Ausrichtung des Rechts am Gemeinschaftsgedanken und der Durchdringung der Rechtsprechung mit dem Geiste des Nationalsozialismus.“157 Zudem divergierten die Marburger und die Kieler Schule hinsichtlich ihrer Grundauffassung zur richtigen juristischen Herangehensweise. Erstere suchte nach allgemeingültigen Regeln und Kategorien und trat für die Verwendung abstrakter Begriffe wie Tatbestand, Rechtsgut, Unrecht und Schuld ein.158 Dieses als „Tatbestandsdenken“ verurteilte Vorgehen wollten die Vertreter der Kieler Schule durch „Ganzheitlichkeitsdenken“, „Rechtswesensschau“, „konkretes Ordnungsdenken“ und „gesundes Volksempfinden“ ersetzen.159 Diese Herangehensweise kritisierte Zimmerl, ein Repräsentant der Marburger Schule, wiederum, weil sie zu einem „Fallrecht schlimmster Art“ führe.160 Zwischen diesen beiden Extrempositionen entwickelten sich vermittelnde Positionen. So befand Engisch die Kritik der Kieler Schule nur insoweit für berechtigt, als sie sich gegen „fehlerhafte Abstraktionen“ richtet, „die Wesentliches unterdrücken und Unwesentliches in den Vordergrund schieben“161. Im Übrigen sei aber die analytische Betrachtung unschädlich, sofern man sich bewusst bleibe, dass „erst alle Merkmale des Verbrechens zusammengenommen die Bewertung ergeben, die bei der ganzheitlichen Beurteilung mit einem Schlage herausspringt.“162 Häufig wird die Diskussion um den Rechtsgutsbegriff in der NS-Zeit als Beleg für dessen gesetzeskritisches Potential angeführt.163 Da er auf vorpo155 Schaffstein,
DStrR 1937, 335 (339 f.); s. auch Dahm, ZStW 57 (1938), 225 (228). Wesensschau und konkretes Ordnungsdenken im Straf-
156 Schwinge / Zimmerl,
recht, S. 64. 157 Schwinge / Zimmerl, Wesensschau und konkretes Ordnungsdenken im Strafrecht, S. 64. 158 Zimmerl, FS Jung, S. 236 f. 159 Vgl. Sina, Dogmengeschichte, S. 81. 160 Zimmerl, FS Jung, S. 237. 161 Engisch, MSchrKrim 1938, 133 (147). 162 Engisch, MSchrKrim 1938, 133 (148). 163 So bei Funcke-Auffermann, Symbolische Gesetzgebung, S. 96; Marx, Zur Definition des Begriffs Rechtsgut, S. 16; Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 50 ff.; Hohmann, Umweltdelikte, S. 30 f.; Sina, Dogmengeschichte, S. 84.
I. Historischer Rückblick47
sitive Werte Bezug nehme, habe er in der NS-Zeit entweder auf seine positivistische Funktion reduziert (so die Marburger Schule) oder generell abgelehnt (so die Kieler Schule) werden müssen.164 Dies erscheint in mehrerlei Hinsicht unrichtig: erstens lehnte auch die Kieler Schule den Rechtsgutsbegriff nicht völlig ab, sondern rückte ihn nur in den Hintergrund; zweitens war ein gesetzeskritisches Potential des Rechtsgutsbegriffs auch im 19. Jahrhundert nicht deutlich zur Geltung gekommen, sondern wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg „entdeckt“;165 drittens ist die nationalsozialistische Dogmatik nicht durch ihren reinen Rechtspositivismus gekennzeichnet; vielmehr prägten auch vorpositive, außerrechtliche Erwägungen („gesundes Volksempfinden“) in dieser Zeit das Rechtsverständnis.166 Es lässt sich nicht auf den Begriff des Gesetzespositivismus reduzieren, sondern war von einem Schwanken zwischen selbstherrlicher Richterfreiheit und willfährigem Gesetzesgehorsam geprägt.167 Hierzu sei abschließend ein diese These stützendes Zitat von Schaffstein wiedergegeben, das aus einer Besprechung einer Entscheidung des Reichsgerichts zur Frage der alternativen Tatbestandsfeststellung bei Diebstahl und Hehlerei168 stammt: „Vom rechtsphilosophischen Standpunkt aus bedeutet die Entscheidung eine ausdrückliche Absage an den Gesetzespositivismus vergangener Zeiten […]. Staatsrechtlich und politisch gesehen, kennzeichnen die Ausführungen des RG. die veränderte Stellung des Richters im nationalsozialistischen Staat insofern, als das beseitigte Gewaltenteilungsprinzip einer Inanspruchnahme rechtsschöpferischer und damit gesetzgeberischer Funktionen durch das RG. widersprochen haben würde. Andererseits ist gerade vom Standpunkt des neuen Staatsrechts […] an den Formulierungen des RG. Kritik zu üben; denn sie könnten die Meinung aufkommen lassen, als sei das RG. als neues Gesetzgebungsorgan bei der ergänzenden Rechtsschöpfung völlig frei und ungebunden, während es doch in Wahrheit dabei nicht wie irgend ein beliebiger, sondern wie der nationalsozialistische Gesetzgeber zu verfahren hat und auch an dieser Stelle in rechtspolitischer und weltanschaulicher Hinsicht im Sinne der obersten Führung und der den Staat tragenden Bewegung Recht sprechen muß.“169
Für eine systemimmanente Konzeption des Rechtsgutsbegriffs lässt sich der Kontroverse um diesen Begriff in der Zeit des Nationalsozialismus die Erkenntnis entnehmen, dass eine Erklärung des Verbrechens allein unter 164 Hassemer,
Theorie und Soziologie, S. 53; Hohmann, Umweltdelikte, S. 30 f. eingehend Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 235 ff. 166 s. etwa Mezger, ZStW 55 (1936), 1 (3 f.); Schaffstein, ZStW 55 (1936), 18. Vgl. auch Bock, ZNR 6 (1984), 132 (147); Walther, KJ 1988, 263 (270 ff.); Vogel, ZStW 115 (2003), 638 (655 ff.); allgemein zum Strafrecht im Nationalsozialismus: Rüping / Jerouschek, Strafrechtsgeschichte, Rn. 278 ff. 167 Vgl. Spendel, JZ 1987, 581 (582). 168 RGSt 34, 257 ff. 169 Schaffstein, FS Schmidt, S. 47 (50). 165 Vgl.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
dem Gesichtspunkt der Rechtsgutsverletzung nicht ausreichend ist. Vielmehr enthalten die Straftatbestände auch Elemente, die zur Rechtsgutsbeeinträchtigung hinzutreten, wie beispielsweise Eigenschaften oder Einstellungen des Täters. Die Normauslegung kann sich demzufolge nicht allein auf das Rechtsgut stützen, sondern muss auch diese Aspekte berücksichtigen. Allerdings ist gerade im Hinblick auf die Auswüchse der Strafrechtsanwendung im Dritten Reich bei der Berücksichtigung von tatsächlichen oder vermeintlichen Haltungen des Täters bei der Tatbestandsauslegung Zurückhaltung geboten. 7. Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg Vor dem Hintergrund, dass die Nationalsozialisten nicht zuletzt das Strafrecht für ihre Schreckensherrschaft hatten instrumentalisieren können,170 keimten in der Nachkriegszeit Bemühungen auf, inhaltliche Vorgaben für legitime Strafnormen zu entwickeln. Das auf die Aufklärungsphilosophie rückführbare und im Nationalsozialismus gerade auch deshalb auf Kritik gestoßene Rechtsgutskonzept erschien dabei als geeignetes Hilfsmittel. Dabei wurde ein „liberaler“ Gehalt des Rechtsgutsbegriffs „entdeckt“, der sich zwar mitunter aus den Texten des 19. Jahrhunderts herauslesen ließ, jedoch von den Strafjuristen jener Zeit nicht in seiner Tragweite „erkannt“ worden war. Infolge der historischen Erfahrung des nationalsozialistischen „gesetzlichen Unrechts“171 wurde versucht, die Grenzen der legislatorischen Macht des Gesetzgebers theoretisch zu bestimmen. Dies geschah äußerlich freilich nicht mit dem Ziel der Aufarbeitung des NS-Unrechts, sondern mit dem Zweck der Vorbereitung einer Reform des Strafrechts.172 Ihren Anfang nahm die Entwicklung eines kritischen Rechtsgutsbegriffs in der Nachkriegszeit mit der Arbeit von Jäger zu „Strafgesetzgebung und Rechtsgüterschutz bei Sittlichkeitsdelikten“. In der Folgezeit erschienen zahlreiche weitere Arbeiten, in denen versucht wurde, ein kritisches Potential des Rechtsgutsbegriffs aufzuzeigen [dazu unter a)]. Diese Bemühungen waren einer Fundamentalkritik von zwei verschiedenen Standpunkten ausgesetzt. Zum einen wurde der Ausgangspunkt der kritischen Rechtsgutslehren verworfen, dass die Aufgabe des Strafrechts im Rechtsgüterschutz bestehe [dazu unter b)], zum anderen wurde bezweifelt, dass der Rechtsguts170 Dazu s. nur Rüping / Jerouschek, Strafrechtsgeschichte, Rn. 278 ff.; zu Einflüssen des Nationalsozialismus auf das moderne Strafrecht Vogel, ZStW 115 (2003), 638 ff. 171 Vgl. den Aufsatz von Radbruch mit dem Titel „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ (SJZ 1946, 105). 172 Vgl. Hohmann, Umweltdelikte, S. 34.
I. Historischer Rückblick49
begriff dazu geeignet sei, die Grenzen legitimen Strafens zu bestimmen [dazu unter c)]. a) Der systemkritische Rechtsgutsbegriff Die systemkritischen Rechtsgutslehren zeichnen sich dadurch aus, dass sie dem Rechtsgutsbegriff eine ausschlaggebende Bedeutung oder zumindest die Eignung für die Bestimmung der Grenzen legitimen Strafens beimessen. Gleichbedeutend wird dieser Rechtsgutsbegriff auch als „kriminalpolitisch“173, „substanzgefüllt“174 oder „systemtranszendent“175 bezeichnet. Im Folgenden werden die Lehren einiger wichtiger Vertreter der systemkritischen Rechtsgutslehren vorgestellt. aa) Die Anfänge der Entwicklung eines systemkritischen Rechtsgutsbegriffs bei Jäger Jäger definierte in seiner Monographie zum Rechtsgüterschutz bei den Sittlichkeitsdelikten zunächst Rechtsgüter im Anschluss an die Zustandslehren des 19. Jahrhunderts als „werthafte Zustände, die durch menschliches Handeln verändert und die deshalb auch durch strafrechtliche Regelungen vor solchen Veränderungen bewahrt werden können.“176 Er betonte, dass „an die Differenziertheit und tatbestandliche Bestimmtheit der Rechtsgüter nicht zu geringe Anforderungen zu stellen“177 seien. Um etwas als Rechtsgut bezeichnen zu können, müsse es sich um eine empirische Wirklichkeit handeln, die verletzbar ist und vor allem objektiv umrissen werden kann.178 Diese Kriterien sah er bei der Sittlichkeit nicht als erfüllt an und lehnte deren Einstufung als Rechtsgut folglich ab. Es handele sich bei ihr nicht um eine empirische Wirklichkeit, sondern um eine Wert- und Normenordnung; bei ihr fehle es an der Verletzbarkeit, also der Eignung, Gegenstand krimineller Schädigung zu sein; vor allem sei sie wandelbar und relativ, also nicht allgemein verbindlich zu bestimmen.179 Nachdem die Sittlichkeit als Rechtsgut der Strafvorschriften des 13. Abschnitts des Strafgesetzbuchs für Jäger ausschied, untersuchte er differenRoxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 4. Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 39. 175 So Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 19. 176 Jäger, Strafgesetzgebung, S. 13; kritisch zu seiner Definition: Bockelmann, ZStW 74 (1962), 304 (314). 177 Jäger, Strafgesetzgebung, S. 17. 178 Jäger, Strafgesetzgebung, S. 38 f. 179 Jäger, Strafgesetzgebung, S. 38 f. 173 So 174 So
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B. Der Rechtsgutsbegriff
ziert die Frage nach dem Rechtsgut dieser Deliktstatbestände. Während er für einige von ihnen, wie etwa für die Notzucht, ohne Schwierigkeiten ein Rechtsgut bestimmen konnte, vermochte er für andere Delikte, wie den Inzest, die einfache Homosexualität oder die Unzucht mit Tieren, kein den Anforderungen genügendes Rechtsgut zu erkennen. Aus diesem Grund zog er die Legitimität dieser letztgenannten Strafnormen in Zweifel. Jäger betonte, dass die Grenzen, die die Gesellschaft bei der Pönalisierung zu beachten habe, nach streng rationalen Kriterien bestimmt werden müssen. Er fordert insoweit „Gesichtspunkte der Gefahrenabwehr, die allen Menschen, für die das Gesetz gilt, gleichermaßen einsichtig sind, gleichgültig, aus welchem ‚geistigen Lager‘ sie kommen und welchem Lebenskreis sie angehören.“180 Der Rechtsgüterschutzgedanke sei das einzige rationale Prinzip, das den Anforderungen der Objektivität, der sozialen Erforderlichkeit und der Allgemeingültigkeit standhalte.181 Um eine Strafnorm aber als rechtsgüterschützend und damit als legitim ansehen zu können, müsse die „Schadenskausalität kriminalsoziologisch durchdacht, die Auswirkung einer Handlungskategorie eindeutig geklärt“182 sein. Damit erklärte Jäger die Legitimität von Strafnormen als von empirischen (kriminologischen und sozialwissenschaftlichen) Befunden abhängig.183 Er wandte sich damit explizit dagegen, dass sich die Gesetzgebung verpflichtet fühlt, auf ein „ungeklärtes und unbelehrtes Massenempfinden“184 Rücksicht zu nehmen. Er schloss seine Ausführungen mit der Aufstellung zweier Maximen, die den Gesetzgeber in gleichem Maße binden sollten, wie der Strafrichter durch die Sätze „nulla poena sine lege“ und „in dubio pro reo“ gebunden ist: „Keine Strafrechtsnorm ohne Rechtsgüterschutz. Im Zweifelsfalle keine Strafbarkeit.“185 Mit diesen Forderungen hat Jäger die spätere Reformdiskussion maßgeblich beeinflusst.
180 Jäger,
Strafgesetzgebung, S. 121. Strafgesetzgebung, S. 122; zu der Forderung das Rechtsgüterschutzprinzip in der Verfassung zu verankern: ders., FS Schüler-Springorum, S. 229 (240). 182 Jäger, Strafgesetzgebung, S. 122. 183 Zum Erfordernis eines interdisziplinären Erkenntnisprozesses: Jäger, in ders. / Schorsch, Sexualwissenschaft und Strafrecht, S. 1 (8); zum nach seiner Auffassung vom Gesetzgeber zu betreibenden Aufwand: ders., in Bauer / Bürger-Prinz / Giese / Jäger, Sexualität und Verbrechen, S. 273 (287 ff.). Tendenziell kritisch hierzu Hanack, ZStW 77 (1965), 398 (406). 184 Jäger, Strafgesetzgebung, S. 122. 185 Jäger, Strafgesetzgebung, S. 123. 181 Jäger,
I. Historischer Rückblick51
bb) Die personalen Rechtsgutslehren Das von Jäger aufgestellte Postulat, dass Strafnormen ein Rechtsgut schützen müssen, um als legitim anerkannt werden zu können, wurde in der Folgezeit umfangreicher theoretisch begründet und ausdifferenziert. In seiner strengsten Form wurde dieses Postulat von den personalen Rechtsgutslehren vertreten, als deren wichtigster Repräsentant Hassemer angesehen werden darf. Weitere an Hassemers Wirkstätte Frankfurt tätige Strafrechtswissenschaftler vertraten einen ähnlichen Standpunkt,186 sodass mit Schünemann von einer „Frankfurter Schule“187 gesprochen werden kann. Die personalen Rechtsgutslehren kennzeichnet die Forderung, jedes Strafwürdigkeitsurteil von der Person aus zu begründen.188 Strafnormen sind danach nur legitim, wenn sie (letztlich) dazu dienen, die freie Entfaltung des Einzelnen zu ermöglichen.189 Für den Rechtsgutsbegriff bedeutet dies, dass das Rechtsgut knapp als „strafrechtlich schutzbedürftiges menschliches Interesse“190 oder ausführlicher als „verletzbare, reale Gegebenheit […], die sich in der historischen Situation als personale Entfaltungsvoraussetzung und -bedingung darstellt“,191 zu definieren ist. Das geistige Fundament der personalen Rechtsgutslehren ist das Freiheitsdenken der Aufklärung, wonach die Freiheit des mündigen Bürgers ihre Grenze (erst) bei der Freiheit des anderen findet.192 Dieser liberale Anspruch wird als von Beginn an im Rechtsgutsbegriff verkörpert angese186 Etwa Naucke (KritV 1993, 135 [137 ff.]), Günther (in Neumann / Prittwitz, „Personale Rechtsgutslehre“ und „Opferorientierung im Strafrecht“, S. 15 [37 ff.]), Neumann (in ders. / Prittwitz, „Personale Rechtsgutslehre“ und „Opferorientierung im Strafrecht“, S. 85 ff.; auch bereits ders. / Schroth, Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe, S. 42 f.), Prittwitz (in Neumann / Prittwitz, „Personale Rechtsgutslehre“ und „Opferorientierung im Strafrecht“, S. 97 [99 f.]) und L. Schulz (in Lüderssen, Aufgeklärte Kriminalpolitik, Bd. I, S. 208 [214 ff.]). Tendenziell auch P.-A. Albrecht (KritV 1988, 182 ff.; KritV 1993, 163 ff.; NJ 1994, 193 ff.; s. auch Albrecht / Hassemer / Voß, Rechtsgüterschutz durch Entkriminalisierung). 187 Schünemann, GA 1995, 201 (203); auch Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 72; mit nur noch mäßigem Widerstand gegen den Schulenbegriff nun auch Hassemer, in Neumann / Prittwitz, Kritik und Rechtfertigung des Strafrechts, S. 9 ff. Zur Heterogenität dieser Schule s. Wohlers, Deliktstypen, S. 51 ff. 188 Vgl. Seher, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 39 (42). 189 Marx, Zur Definition des Begriffs Rechtsgut, S. 62. 190 NK / Hassemer / Neumann, vor § 1 Rn. 144; Hassemer, FS Arthur Kaufmann, S. 85 (91). 191 Sternberg-Lieben, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 65 (67); ähnlich SK / Rudolphi, vor § 1 Rn. 2; Otto, in Müller-Dietz, Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, S. 1 (8); Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 7. 192 Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 34.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
hen.193 Zudem nehmen die Vertreter der personalen Rechtsgutslehren für sich in Anspruch, dass mit ihr das durch die Werteordnung der Verfassung vorgegebene Verhältnis von Person und Gesellschaft zutreffend abgebildet wird.194 Konsequenzen ergeben sich bei dieser Konzeption etwa für die Frage der Legitimität von Kollektivrechtsgütern. Diese sind Hassemer zufolge nur dann anerkennungswürdig, wenn sie sich vom Einzelnen her funktionalisieren lassen.195 Beispielsweise ist das Umweltstrafrecht von dieser Warte aus nur insoweit legitim, als der Gesetzgeber damit den Schutz des Menschen und seiner Gesundheit vor den Gefahren der Umwelt intendiert, nicht aber soweit es um den Schutz der Umwelt als solcher geht.196 Des Weiteren leiten die Vertreter der personalen Rechtsgutslehren aus ihr Forderungen für die Eingrenzung abstrakter Gefährdungsdelikte und sogenannter symbolischer Strafnormen ab.197 Insbesondere müssen Rechtsgüter nach dieser Auffassung konkret beschrieben und mit den Instrumenten des Strafrechts auch gesichert werden können.198 Allein dass der Schutz eines Rechtsguts in diesem Sinn intendiert ist, rechtfertigt allerdings nach der personalen Rechtsgutslehre noch nicht den Einsatz des Strafrechts, sondern es müssen zudem beispielsweise Zurechnungsgrundsätze und der ultima-ratio-Charakter des Strafrechts Beachtung finden.199 cc) Die Rechtsgutslehren von Roxin, Schünemann und Rudolphi Andere Strafrechtswissenschaftler nehmen zwar einen ähnlichen Ausgangspunkt wie die personalen Rechtsgutslehren, leiten jedoch nicht so 193 Vgl. Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 34 ff.; auch Sina, Dogmengeschichte, S. 89 ff.; dazu kritisch Amelung, ZStW 87 (1975), 132 (138). 194 Sternberg-Lieben, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 65 (67); ders., Schranken der Einwilligung, S. 378. 195 Hassemer, FS Arthur Kaufmann, S. 85 (90 ff.) mit Verweis auf Marx, Zur Definition des Begriffs Rechtsgut, S. 80. Kritik bei Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter, S. 62 ff.; Greco, FS Roxin, S. 199 (204 ff.). 196 Hohmann, Umweltdelikte, S. 201; ders., GA 1992, 76 (84 f.); dazu kritisch Schünemann, GA 1995, 201 (207). Des Weiteren wird die personale Rechtsgutslehre für andere Regelungsbereiche konkretisiert bei Worms, Bekenntnisbeschimpfung und Beck, Unrechtsbegründung und Vorfeldkriminalisierung. 197 Hassemer, NStZ 1989, 553 (558); ders., ZRP 1992, 378 (380 f.); ders., FS Roxin, S. 1001; differenzierend Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 37 ff.; auch Kindhäuser, in Lüderssen, Aufgeklärte Kriminalpolitik, Bd. I, S. 263 (278 f.). 198 Hassemer, in Jung / Müller-Dietz / Neumann, Recht und Moral, S. 329 (332). 199 Hassemer, FS Arthur Kaufmann, S. 85 (88); ders., in Jung / Müller-Dietz / Neumann, Recht und Moral, S. 329 (332); Sternberg-Lieben, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 65 (76).
I. Historischer Rückblick53
radikale Konsequenzen aus ihr ab wie die Vertreter der „Frankfurter Schule“. So konstruieren auch Roxin und Schünemann, die hier zunächst exemplarisch genannt seien, ihre Rechtsgutslehren auf der Grundlage des Gedankenguts der Aufklärung. Da sie die überindividuellen Aspekte der Denkfigur des Gesellschaftsvertrags stärker in den Vordergrund rücken,200 fällt es ihnen leichter als den Repräsentanten der „Frankfurter Schule“ Kollektivrechtsgüter zu legitimieren. Eine Einschränkung des Rechtsgutsbegriffs auf die Verletzung individueller Rechte lehnen sie ab.201 Den Rechtsgutsbegriff ziehen sie vielmehr zu einer differenzierten Analyse der Kollektivrechtsgüter heran, die teilweise in der Bestätigung, teilweise in der Anzweiflung oder überdies in der Negierung ihrer Legitimität mündet.202 In anderen Bereichen, in denen die Legitimität von Strafnormen umstritten ist, bejahen sie diese unter Bezugnahme auf verfassungsrechtliche Wertungen. So rechtfertigt Roxin die Strafdrohungen gegen die Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen (§ 166 StGB) damit, dass durch die unter Strafe gestellten Verhaltensweisen die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit in einer gegen Art. 4 GG verstoßenden Weise beeinträchtigt wird.203 Die stärkere Betonung verfassungsrechtlicher Wertungen einerseits und kollektiver Funktionen andererseits spiegelt sich auch in der von Roxin vorgeschlagenen Rechtsgutsdefinition wider. Danach sind „unter Rechtsgütern alle Gegebenheiten oder Zwecksetzungen zu verstehen, die für die freie Entfaltung des Einzelnen, die Verwirklichung seiner Grundrechte und das Funktionieren eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden staatlichen Systems notwendig sind.“204
Die vorstehenden Ausführungen dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die Vertreter eines gemäßigten liberalen Rechtsgutsbegriffs die subsidiäre Natur des Strafrechts betonen und gegen einen strafrechtlichen Moral- oder Gefühlsschutz Stellung beziehen.205 Zudem wenden sie sich dagegen, „Abstrakta zu Rechtsgütern zu erklären, wo es in Wirklichkeit nur um den Schutz von Individualrechtsgütern geht.“206 200 Etwa Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 8; Schünemann, GA 1995, 201 (206); ders., in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 133 (137 f.). 201 Vgl. Roxin, JA 1980, 545 (546). 202 Schünemann, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 133 (149 ff.); Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter, S. 237 ff. 203 Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 28. Zum Verhältnis von Rechtsgüterschutz und Verfassung s. auch ders., GA 2013, 433 (449). 204 Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 7. 205 Bereits Roxin, JuS 1966, 377 (382); ders., Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 17 ff., 26 ff.; s. auch Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter, S. 51 f. 206 Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 46.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
In diesem Zusammenhang verdient auch die Rechtsgutslehre von Roxins Schüler Rudolphi Erwähnung. Auch jener misst dem Rechtsgutsbegriff eine systemkritische Funktion bei, wobei er noch nachdrücklicher als sein akademischer Lehrer die Bedeutung der verfassungsrechtlichen Wertungen für die Gewinnung von verbindlichen Kriterien für die Aufstellung von Strafnormen betont.207 Er lehnt jedoch Roxins Definition der Rechtsgüter als „werthafte Zustände“208 als ungenau ab.209 Rechtsgüter seien vielmehr als „werthafte Funktionseinheiten“ zu umschreiben.210 Damit trägt er dem Umstand Rechnung, dass sich Rechtsgüter – wie die Gesellschaft überhaupt – stetig verändern und fortentwickeln.211 Er vermeidet also den Zustandsbegriff, weil dieser seiner Ansicht nach suggeriert, dass Rechtsgüter etwas Statisches seien. Insgesamt messen die vorstehend beschriebenen Lehren dem Rechtsgutsbegriff eine etwas geringere Bedeutung als Kriterium zur Prüfung der Legitimität von Strafnormen bei als die Vertreter der „Frankfurter Schule“. Beide betrachten ihn aber als wichtige Argumentationsfigur, die geeignet ist, als Kriterium für die Reichweite zulässiger Strafnormen herangezogen zu werden. Einig sind sich beide Richtungen aber auch darin, dass sich aus dem Rechtsgutsbegriff allein keine klare Grenze zwischen zulässigen und unzulässigen Strafnormen ableiten lässt.212 dd) Das Rechtsgut als Argumentationstopos im kriminalpolitischen Diskurs Einen noch größeren Spielraum bei der Aufstellung von Strafnormen wird dem Gesetzgeber durch Otto eingeräumt, der gedanklich ebenfalls beim Liberalismus ansetzt.213 Er definiert das Rechtsgut als „Zustand einer bestimmten, in den einzelnen Tatbeständen umrissenen, realen Beziehung der Person zu konkreten von der Rechtsgemeinschaft anerkannten Werten – „sozialen Funktionseinheiten“ – in der sich das Rechtssubjekt mit Billigung durch die Rechtsordnung personal entfaltet“214 207 Rudolphi,
FS Honig, S. 151 (158 ff.); SK / Rudolphi, vor § 1 Rn. 3 ff. JuS 1966, 377 (381). Diese Definition hat Roxin freilich später in der aus dem Haupttext ersichtlichen Weise modifiziert und präzisiert. 209 SK / Rudolphi, vor § 1 Rn. 8. 210 Rudolphi, FS Honig, S. 151 (163 f.); SK / Rudolphi, vor § 1 Rn. 8. 211 Rudolphi, FS Honig, S. 151 (163 f.); SK / Rudolphi, vor § 1 Rn. 8. 212 Vgl. Roxin, ZStW 81 (1969), 613 (624) einerseits und Hassemer, FS Arthur Kaufmann, S. 85 (91) andererseits. 213 Otto, in Müller-Dietz, Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, S. 1 (5). 214 Otto, in Müller-Dietz, Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, S. 1 (8); ähnlich ders., GedS Schröder (1978), S. 53 (55) und ders., Allgemeine Strafrechtslehre, § 1 Rn. 32. 208 Roxin,
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Diese Begriffsbestimmung enthält zwar kein die legitime Strafgewalt des Gesetzgebers begrenzendes Element, jedoch verlangt Otto, dass jeder Straftatbestand ein „sozialwichtiges bonum“ schützt und dass sich dieser Strafrechtsschutz „mit dem Gefüge der Wertentscheidungen der Rechtsgesellschaft in Einklang“ hält.215 Die Beweisführung, dass diese Voraussetzungen bei einer konkreten Strafnorm erfüllt sind, obliege dem Gesetzgeber, der sich auf rational nachprüfbare Argumente zu stützen habe.216 Otto erkennt, dass er diese Forderung nicht aus einem bestimmten Rechtsgutsbegriff, sondern aus allgemeinen Erwägungen deduziert,217 meint aber gleichwohl, der Rechtsgutsbegriff behalte einen „sachlichen Inhalt“.218 Dies erscheint widersprüchlich, weil die die Strafgewalt begrenzenden Aspekte gerade nicht aus dem Rechtsgutsbegriff abgeleitet werden. Noch deutlicher tritt dieser Widerspruch bei Baumann hervor, der zum einen die Ansicht vertritt, jede Strafnorm schütze ein Rechtsgut, zum anderen aber diesem Rechtsgut einen materiellen Gehalt zuerkennt.219 Diese Unstimmigkeit lässt sich nur auflösen, indem man das Rechtsgut als bloßen Argumentationstopos im kriminalpolitischen Diskurs begreift.220 Die Funktion des Rechtsgutsbegriffs beschränkt sich dann „auf die Mahnung zu überprüfen, ob das, was als werthafter Zustand strafrechtlichen Schutz genießt, diesen Rangwert wirklich (noch) besitzt.“221 Mit dieser Maßgabe kann auch einem sehr weiten Rechtgutsbegriff eine kritische Funktion zugebilligt werden. ee) Folgerungen für eine systemimmanente Konzeption des Rechtsguts Für eine systemimmanente Konzeption des Rechtsguts sind die systemkritischen Rechtsgutslehren nicht ertragreich. Im Gegenteil begünstigt deren Verständnis des Rechtsgutsbegriffs Missverständnisse. Ist mit dem Rechtsgut zuvor bezeichnet worden, was eine Strafvorschrift schützt, so wird ihm nun eine vorpositive Bedeutung beigemessen. Das Rechtsgut ist also nicht mehr anhand des geltenden Rechts, sondern vorpositiv zu bestimmen. Gegenüber einer solchen Bedeutungsvermehrung wäre die Heranziehung des 215 Otto, in Müller-Dietz, Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, S. 1 (15); ders., Allgemeine Strafrechtslehre, § 1 Rn. 40. 216 Otto, in Müller-Dietz, Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, S. 1 (15). 217 Otto, in Müller-Dietz, Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, S. 1 (15 Fn. 62). 218 Otto, in Müller-Dietz, Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, S. 1 (15 Fn. 61). 219 Baumann, Strafrecht AT, S. 137 f. 220 Zur Funktion des Rechtsguts als Argumentationstopos allgemein NK / Hassemer / Neumann, vor § 1 Rn. 146; Weigend, ZStW 98 (1986), 44 (55 f.). 221 Frisch, FS Stree / Wessels, S. 69 (72); ähnlich ders., in Eser / Kaiser / Weigend, Von totalitärem zu rechtsstaatlichem Strafrecht, S. 201 (208).
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B. Der Rechtsgutsbegriff
Begriffs der „Lebensgüter“ im Rahmen kriminalpolitischer Betrachtungen vorzugswürdig gewesen. Ein Rechtsgut, also ein Gut des Rechts, setzt bereits begrifflich die Positivierung voraus. Umgekehrt kann einem (Lebens-) Gut, das rechtlich geschützt wird, nicht abgesprochen werden, ein Rechtsgut zu sein. Freilich hindert dies nicht, wie auch die Darstellung der Rechtsgutslehren des 19. Jahrhunderts gezeigt hat, Kritik an der gesetzgeberischen Entscheidung zur Erhebung eines Lebensguts zum Rechtsgut. Die entsprechenden Bemühungen der systemkritischen Rechtsgutslehren um eine Liberalisierung des Strafrechts sind vielmehr verdienstvoll und anerkennungswürdig. Ob der von ihren Vertretern beschrittene Weg, gerade den Rechtsgutsbegriff als Hilfsmittel zur Entschlackung des Strafrechts heranzuziehen, richtig ist, braucht hier nicht entschieden zu werden. Es geht hier also nicht um eine Kritik an der Leistungsfähigkeit des systemkritischen Rechtsgutsbegriffs, sondern an der begrifflichen Aufweichung des systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs. Nicht nur haben die systemkritischen Lehren den Rechtsgutsbegriff für sich vereinnahmt, sondern sie haben zudem dazu beigetragen, dass die vor dem Zweiten Weltkrieg erzielten Erkenntnisse über einen für die Strafrechtsdogmatik wertvollen systemimmanenten Rechtsgutsbegriff in Vergessenheit geraten sind. Diese Entwicklung ist wiederum durch eine einseitige, kritische Tendenzen selektiv hervorhebende, Interpretation der Dogmengeschichte des Rechtsgutsbegriffs begünstigt worden. b) Die subjektiven Verbrechenslehren von Welzel und Jakobs Im vorausgehenden Abschnitt wurden die Standpunkte vorgestellt, die dem Rechtsgutsbegriff eine Relevanz im kriminalpolitischen Diskurs beimessen. Diese Positionen eint die Annahme, dass nur rechtsgüterschützende Strafnormen legitim sind. Die (primäre) Aufgabe des Strafrechts wird von den Vertretern dieser Auffassung im Rechtsgüterschutz erblickt. Da der Anknüpfungspunkt für die Bestimmung strafbaren Unrechts in einer äußeren Verletzung von Gütern liegt, können diese Lehren als „objektive Verbrechenslehren“ bezeichnet werden.222 Ein im Ausgangspunkt anderes Strafrechtsverständnis liegt demgegenüber den Ansichten von Welzel und Jakobs zugrunde, die stärker auf die Einstellung des Handelnden abstellen, und deshalb als „subjektive Verbrechenslehren“ bezeichnet werden können.223 222 Vgl. nur MK / Joecks, Einl. Rn. 27; Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT, § 2 Rn. 28. 223 Vgl. nur MK / Joecks, Einl. Rn. 27; Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT, § 2 Rn. 29 ff.
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aa) Welzel und der Schutz der Aktwerte rechtlicher Gesinnung Nach Welzel besteht die zentrale Aufgabe des Strafrechts darin, die unverbrüchliche Geltung der „Aktwerte rechtlicher Gesinnung“ sicherzustellen.224 Damit ist gemeint, dass das Strafrecht Tätigkeiten verhindern soll, die mit dem Sinn vorgenommen werden, Rechtsgüter der Gemeinschaft zu verletzen. Welzel rückt damit die Handlung in den Vordergrund der Betrachtung. Diese Konzeption stellt nicht in Abrede, dass das Strafrecht in der Sache Rechtsgüter schützen will.225 Sie betont aber, dass das Strafrecht diesen Rechtsgüterschutz dadurch erreicht, dass „es die auf Rechtsgüterverletzung abzielenden Handlungen verbietet und bestraft“.226 Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass zahlreiche Rechtsgutsgefährdungen, beispielsweise solche durch sozial adäquates Verhalten, nicht pönalisiert sind.227 Zudem ermöglicht diese Sichtweise die Erklärung von Strafnormen, die – nach dieser Konzeption – kein Rechtsgut, sondern eine sittliche Norm schützen (zum Beispiel das Inzestverbot).228 Welzel führt als weiteres Argument für seine Auffassung an, dass das Strafrecht dort, wo es real in Aktion trete, zum Zwecke des Rechtsgüterschutzes regelmäßig zu spät komme.229 Anders ausgedrückt, können mit dem Strafrecht Rechtsgutsverletzungen nicht verhindert, sondern nur geahndet werden. Aus Welzels Sicht überzeugt es daher nicht, die Aufgabe des Strafrechts im Rechtsgüterschutz zu erblicken. Vielmehr sei die Funktion des Strafrechts „positiv-sozialethischer Natur“: „Indem es [scil: das Strafrecht] den wirklich betätigten Abfall von den Grundwerten rechtlicher Gesinnung verfemt und bestraft, offenbart es in der eindrucksvollsten Weise, die dem Staat zur Verfügung steht, die unverbrüchliche Geltung dieser 224 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 3. Zu Welzels Lehre ausführlich Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 167 ff., 281 ff.; Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 88 ff.; Hohmann, Umweltdelikte, S. 121 ff.; Jäger, Strafgesetzgebung, S. 24 ff.; Müssig, Schutz abstrakter Rechtsgüter, S. 31 ff.; Wohlers, Deliktstypen, S. 216 f. 225 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 2. 226 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 2. 227 Welzel, ZStW 58 (1939), 491 (517). 228 Welzel, ZStW 58 (1939), 491 (511 f.). 229 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 3; ders., FS von Gierke, S. 291 (297). Diese Aussage erscheint unzutreffend, zeugt sie doch von einer selektiven Wahrnehmung. Die (vermutlich unzähligen) Fälle, in denen es dem Strafrecht gelingt, die Rechtsgüter zu schützen, indem sie den innerlich Tatgeneigten von der Tatbegehung abhalten, können empirisch nicht erfasst werden, weil nicht begangene Straftaten nicht gezählt werden können. Zutreffend hingegen in der von Freund gewählten Formulierung, dass die Strafe (!) für das konkret betroffene Rechtsgut immer zu spät komme (Strafrecht AT, § 1 Rn. 6.). Ähnlich wie jener auch H. Mayer, Strafrecht AT, S. 55; Armin Kaufmann, Die Aufgabe des Strafrechts, S. 6; s. auch Polaino Navarette, FS Roxin, S. 169 (176 f.).
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B. Der Rechtsgutsbegriff
positiven Aktwerte, formt das sozialethische Urteil der Bürger und stärkt ihre bleibende rechtstreue Gesinnung.“230
Es liegt nahe, an dieser Strafrechtsauffassung zu kritisieren, dass sie ein aus rechtsstaatlicher Sicht problematisches Gesinnungsstrafrecht vorsehe.231 Indes betont Welzel, dass Strafdrohung und Strafe nur den „wirklich betätigten Abfall von den Grundwerten rechtlichen Handelns“232 erfassen. Zudem gehe es nur um die Durchsetzung einer rechtlichen, nicht notwendig moralischen Gesinnung.233 Der Vorwurf, Welzels Konzeption lege die Grundlage für ein Gesinnungsstrafrecht, ist daher unberechtigt.234 Da das Strafrecht nach seiner Ansicht letztlich dazu dient, die „Respektierung der im StGB geschützten Rechtsgüter“235 durchzusetzen, ist der Unterschied zu Auffassungen, die den Rechtsgüterschutz in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken, im Ergebnis gering.236 bb) Jakobs und der Schutz der Normgeltung Welzels Schüler Jakobs hat die Aufgabe des Strafrechts in ähnlicher Weise wie sein akademischer Lehrer bestimmt.237 Für ihn besteht sie in der „Garantie von Normen“238. Mithilfe des Strafrechts werde garantiert, „dass die Erwartungen, die zum Funktionieren des sozialen Lebens in der gegebenen und in der gesetzlich geforderten Gestalt unabdingbar sind, im Fall ihrer Enttäuschung nicht preisgegeben werden müssen.“239
Dementsprechend definiert Jakobs die „Enttäuschungsfestigkeit der wesentlichen normativen Erwartungen“240 als Strafrechtsgut.241 Er unterschei230 Welzel,
(297).
Das Deutsche Strafrecht, S. 3; ähnlich ders., FS von Gierke, S. 291
diese Richtung SK / Rudolphi, vor § 1 Rn. 2. Das Deutsche Strafrecht, S. 2. 233 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 2. 234 So auch Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 106; Jakobs, Strafrecht AT, S. 36 f. Fn. 2; Wohlers, Deliktstypen, S. 216. 235 Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 106. 236 Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 106. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen Hohmanns (Umweltdelikte, S. 124), der auf Parallelen zwischen den Lehren von Welzel und Hassemer hinweist. 237 Freilich bestehen ansonsten erheblichen Unterschiede zwischen den Strafrechtslehren Welzels und Jakobs, insbesondere aufgrund der streng normativistischen Begriffsbestimmung bei Jakobs (etwa ZStW 107 (1995), 843 ff.), die sich von der ontologisierenden Strafrechtsdogmatik Welzels abgrenzt (dazu Schünemann GA 1995, 201 [218 ff.]). 238 Jakobs, Strafrecht AT, 2. Abschn. Rn. 2. 239 Jakobs, Strafrecht AT, 2. Abschn. Rn. 2. 240 Jakobs, Strafrecht AT, 2. Abschn. Rn. 2. 231 In
232 Welzel,
I. Historischer Rückblick59
det terminologisch dieses Strafrechtsgut, dessen Schutz er als Aufgabe des Strafrechts ansieht, vom Rechtsgut, mit dem er den Schutzgegenstand der Norm bezeichnet.242 Er wendet sich dagegen, die Gegenstände strafrechtlichen Schutzes als Strafrechtsgüter zu bezeichnen, denn diese würden auch durch eine Vielzahl strafrechtlich irrelevanter Abläufe beeinträchtigt.243 Damit trägt er dem Umstand Rechnung, dass das Strafrecht beispielsweise gegenüber Beeinträchtigungen der Gesundheit durch Krankheit oder Alter gleichgültig ist, nicht aber gegenüber Gesundheitsschäden, die durch bestimmte menschliche Verhaltensweisen verursacht werden. Hieran zeige sich, dass strafrechtlich nur menschliches Verhalten interessiere, mit dem der Handelnde zum Ausdruck bringt, dass eine Berücksichtigung der positiven Bewertung eines Guts nicht angebracht sei.244 Das Strafrecht befasst sich nach Jakobs mit anderen Worten mit der Negierung der Normgeltung durch den Täter.245 Wiederum anders ausgedrückt, werde eine Tat nicht wegen ihrer äußerlichen Wirkung zur Straftat, sondern weil durch sie die Normgeltung desavouiert werde.246 Zudem stellt Jakobs wie sein akademischer Lehrer klar, dass nicht die innere Einstellung zur Norm Strafe rechtfertige, sondern dass „wegen des Tatprinzips“ eine Straftat nur vorliege, wenn auch „ein äußerliches, sinnenfälliges Ereignis“ stattfinde.247 Damit spricht er sich explizit gegen ein Gesinnungsstrafrecht aus. 241
Jakobs steht den Bemühungen, aus dem Rechtsgutsbegriff Grenzen für legitime Strafnormen abzuleiten, skeptisch gegenüber. Er weist auf die zahlreichen Streitfragen um diesen Begriff hin, die seinen Wert für die kriminalpolitische Diskussion schmälern würden.248 Im Anschluss an Welzel249 hält er kritisch Hirsch, ZStW 106 (1994), 746 (753). Jakobs, Strafrecht AT, 2. Abschn. Rn. 7; ders., FS Frisch, S. 81 (86 ff.). 243 Vgl. Jakobs, Strafrecht AT, 2. Abschn. Rn. 3. 244 Vgl. Jakobs, Strafrecht AT, 2. Abschn. Rn. 5. Als „Rechtsuntreue“ bezeichnet bei ders., FS Samson, S. 43 (48 ff.). 245 Vgl. Jakobs, Strafrecht AT, 2. Abschn. Rn. 5. Hier wird die Anlehnung an die Straftheorie Hegels (Strafe als „Negation der Negation des Rechts“) deutlich (so auch Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 110). 246 Vgl. Jakobs, Strafrecht AT, 2. Abschn. Rn. 22 Fn. 40. Zust. Kindhäuser, in Lüderssen / Nestler-Tremel / Weigend, Modernes Strafrecht und ultima-ratio-Prinzip, S. 29 ff. Ebenfalls mit Jakobs sympathisierend Frisch, in Eser / Kaiser / Weigend, Von totalitärem zu rechtsstaatlichem Strafrecht, S. 201 (241). Kritisch hingegen etwa Roxin, ZStW 116 (2004), 929 (940 ff.). 247 Jakobs, Strafrecht AT, 2. Abschn. Rn. 6; auch ders., ZStW 97 (1985), 751 (753 ff.) mit Ausführungen zur römischrechtlichen Regel „cogitationis poenam nemo patitur“. 248 Vgl. Jakobs, Strafrecht AT, 2. Abschn. Rn. 7 ff. 249 Welzel, ZStW 58 (1939), 491 (509). Dieser hat die Proteus-Methapher bei v. Liszt (ZStW 6 [1886], 663 [674]) entlehnt. 241 Dazu 242 Vgl.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
das Rechtsgut für einen „wahren Proteus […], der sich unter den Händen, die ihn festzuhalten glauben, sofort in etwas anderes verwandelt“.250 Da Jakobs einen (positivistischen) Rechtsgutsbegriff zugrunde legt, demzufolge ein Gut durch den rechtlichen Schutz zum Rechtsgut wird,251 kann er aus diesem Begriff keine Folgerungen für die Legitimität von Strafnormen ableiten. In seiner funktionalistischen Lehre steht die Frage nach der Legitimität von Strafnormen im Übrigen ohnehin außerhalb des Fokus seines Interesses.252 Gleichwohl spricht er sich dagegen aus, die Rechtsgutslehre völlig zu verwerfen. Ihren Vorteil sieht er darin, dass durch eine gutsbezogene Betrachtung von Verletzungen eine Argumentation auf der Ebene der konkreten Sozialschädlichkeit abgeschnitten wird.253 Damit nimmt er unausgesprochen auf die Notstandsregelung des § 34 StGB Bezug, bei deren Anwendung die von der Norm geforderte „Abwägung der widerstreitenden Interessen“ zunächst auf der Ebene des Rechtsguts vorzunehmen ist.254 Jakobs sieht es als positiv an, dass mit dem Rechtsgut eine Argumentationsfigur auf einer abstrakten Ebene vorhanden ist, denn ansonsten müssten „mit sozialem Frieden unverträgliche“255 Argumente auf einer konkreten Ebene ausgetauscht werden. Es würde – wie Jakobs andeutet256 – ein Rahmen für unerträgliche Diskussionen eröffnet, wie die, ob nicht der „Sozialschaden“ der Belastung der Allgemeinheit durch die Kosten für die Versorgung alter und kranker Menschen höher zu gewichten ist als der „Sozialschaden“, der mit der Tötung solcher Menschen verbunden ist. Eine abstrakte Güterabwägung, die beim Widerstreit zwischen dem Vermögen beziehungsweise der Leistungsfähigkeit der Sozialkassen einerseits und dem Leben andererseits eindeutig zugunsten des letzteren ausfällt, lässt solche fragwürdigen Argumentationen obsolet werden. In jüngerer Zeit hat Jakobs seine Strafrechtslehre in viel beachteter Weise erweitert, indem er den Topos des „Feindstrafrechts“ in die Diskussion eingeführt hat.257 Ausgehend von seiner Lehre, dass das Strafrecht die 250 Jakobs,
Strafrecht AT, 2. Abschn. Rn. 7. Strafrecht AT, 2. Abschn. Rn. 12. 252 Vgl. auch Seher, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 39 (41 f.). 253 Jakobs, Strafrecht AT, 2. Abschn. Rn. 24; dazu Swoboda, ZStW 122 (2010), 24 (44). 254 s. nur Kühl, Strafrecht AT, § 8 Rn. 107 ff.; MK / Erb, § 34 Rn. 111; Schönke / Schröder / Perron, § 34 Rn. 23; Kindhäuser, Strafrecht AT, § 17 Rn. 26; Rengier, Strafrecht AT, § 19 Rn. 26 f. 255 Jakobs, Strafrecht AT, 2. Abschn. Rn. 24. 256 Jakobs, Strafrecht AT, 2. Abschn. Rn. 24. 257 Ein Überblick über die Debatte und ihre Hintergründe findet sich bei Asholt, ZIS 2011, 180 ff.; B. Heinrich ZStW 121 (2009), 94 ff. 251 Jakobs,
I. Historischer Rückblick61
Normstabilität und das Vertrauen der Bevölkerung in die Normgeltung sicherstellen soll, betont er nun, dass ein Bürger eine „gewisse kognitive Garantie dafür geben [muss], daß er sich als Person verhalten wird“.258 Wenn dies bei einem Menschen nicht der Fall ist und demnach nicht zu erwarten ist, dass er sich normgetreu verhält, wandle sich das Strafecht „von einer Reaktion der Gesellschaft auf die Tat eines ihrer Mitglieder zu einer Reaktion gegen einen Feind“.259 Ein Individuum könne „nur stetig als Person behandelt werden, wenn sie sich im großen und ganzen als Person benimmt“.260 Damit ist der Weg zu einer Zweiteilung des Strafrechts in ein Bürgerstrafrecht und ein Feindstrafrecht gewiesen, wobei deren Anwendungsbereiche nach der normativen Ansprechbarkeit des Adressaten voneinander abgegrenzt werden. Die Konzeption des Feindstrafrechts und insbesondere die Tendenzen, es zu legitimieren, haben massive Kritik geerntet, insbesondere weil ein Feindstrafrecht mit wesentlichen Verfassungsgrundsätzen in Konflikt steht.261
258 Jakobs, in Eser / Hassemer / Burkhadt, Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, S. 47 (51); aus primär rechtsphilosophischer Sicht ders., Norm, Person, Gesellschaft, S. 83 f.; vgl. auch schon die Ansätze bei ders., ZStW 97 (1985), 751 (775 f.); zur Entwicklung in Jakobs Lehre von der Aufgabe des Strafrechts Sacher, ZStW 118 (2007), 574 f. 259 Jakobs, in Eser / Hassemer / Burkhardt, Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, S. 47 (51); s. auch Jakobs, HRRS 2004, 88 (91 ff.); ders., ZStW 117 (2005), 839 (841 ff.); ders. HRRS 2006, 289 (293 f.). 260 Jakobs, FS Spinellis, S. 447 (461). 261 s. nur die Kritik bei P.-A. Albrecht, ZStW 117 (2006), 852 (856); Bung, HRRS 2006, 63 ff.; Düx, ZRP 2003, 189 (194 f.); Gössel, FS Schroeder, S. 33 (40 ff.); Greco, GA 2006, 96 (104 ff.); ders., Feindstrafrecht, S. 50 ff.; B. Heinrich, ZStW 121 (2009), 94 (123 ff.); Hörnle, GA 2006, 80 (89 ff.); Kindhäuser, FS Schroeder, S. 81 (95 ff.); Marzahn, Das Feindstrafrecht als Komponente des Präventionsstaats?, S. 53 ff., 87; Morguet, Feindstrafrecht, S. 256 ff.; Paeffgen, FS Amelung, S. 81 (117 ff.); Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 129; Sacher, ZStW 118 (2007), 574 (608 f.); Saliger, JZ 2006, 756 (762); Sauer, NJW 2005, 1703 (1704); Schneider / Morguet, in Uwer / Organisationsbüro, Bitte bewahren Sie Ruhe, S. 335 (342 ff.); Schünemann, GA 2001, 205 (211 f.); ders., FS Nehm, S. 219 ff.; Sinn, ZIS 2006, 107 (117); der Auffassung Jakobs zumindest tendenziell zustimmend hingegen: Cancio Meliá, ZStW 117 (2005), 267 (289); Lesch, JA 1994, 590 (597 ff.); ders., JA 2002, 602 (605) (dazu Morguet, Feindstrafrecht, S. 74 f.); Pawlik, Das unerlaubte Verhalten beim Betrug, S. 63 f. (dazu Morguet, Feindstrafrecht, S. 76 f.); Pérez del Valle, FS Jakobs, S. 515 ff.; Poloino Navarrete, FS Jakobs, S. 529 ff. Differenzierend Müssig, FS Becker, S. 1033 (1050 ff.); Schick, ZIS 2012, 46 (51 ff.). Eine Replik auf seine Kritiker findet sich bei Jakobs, in Rosenau / Kim, Straftheorie und Strafgerechtigkeit, S. 167 ff.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
cc) Folgerungen für eine systemimmanente Konzeption des Rechtsguts Da sich die subjektiven Verbrechenslehren vor allem mit der Definition der Aufgabe des Strafrechts befassen, lässt sich ihnen wenig für eine systemimmanente Konzeption des Rechtsguts entnehmen. Für die Normauslegung wesentlich erscheint jedoch die aus ihnen ableitbare Erkenntnis, dass die Strafvorschriften die Rechtsgüter nicht absolut schützen.262 Bei der Beurteilung der Strafbarkeit eines Verhaltens ist demgemäß auch das Ansinnen der handelnden Person, eine rechtsgutsverletzende Handlung vorzunehmen, zu berücksichtigen. Des Weiteren ist für eine systemimmanente Konzeption des Rechtsgutsbegriffs der Hinweis bedeutsam, dass das Rechtsgut im Rahmen der Strafrechtsdogmatik als Anknüpfungspunkt für Güterabwägungen herangezogen werden kann. c) Alternativkonzepte zum systemkritischen Rechtsgutsbegriff Während nach dem Strafrechtsverständnis von Welzel und Jakobs die Aufgabe des Strafrechts nicht primär im Rechtsgüterschutz besteht, erkennen die im Folgenden dargestellten Lehren den Rechtsgüterschutz als Aufgabe des Strafrechts an.263 Sie unterscheiden sich jedoch von den systemkritischen Rechtsgutslehren darin, dass sie dem Rechtsgutsbegriff die Relevanz für die Bestimmung der Grenzen legitimen Strafens absprechen. Auch sie nehmen jedoch einen kriminalpolitischen Standpunkt ein, indem sie Kriterien zu definieren versuchen, anhand derer die Legitimität von Strafvorschriften bestimmt werden kann. Als Alternative zum systemkritischen Rechtsgutsbegriff wird dabei insbesondere vorgeschlagen, die Grenzen legitimen Strafens der Verfassung [dazu aa)] oder dem Prinzip der Sozialschädlichkeit [dazu bb)] zu entnehmen. aa) Verfassungsorientierte Lehren Bereits früh versuchte Sax Querbezüge zwischen der verfassungsrechtlichen Werteordnung und der strafrechtlichen Rechtsgüterordnung aufzuzeigen. Nach Sax’ Verständnis sind Rechtsgüter „konkretisierte Ausformungen der grundgesetzlichen Werteordnung“.264 Die Grenzen für die Legitimität auch Kubiciel, Wissenschaft, S. 53 et passim. Strafrecht AT, S. 7; s. auch Schönke / Schröder / Eisele, vor § 13 Rn. 8 u. 11, demzufolge das Verbrechen zugleich Pflichtverletzung ist (dazu Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 107 f.). 264 Sax, in Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Grundrechte, 3. Bd., 2. Halbband, S. 909 (913). Dazu kritisch Kareklas, Die Lehre vom Rechtsgut und das Umweltstrafrecht, S. 65 f. 262 s.
263 Jescheck / Weigend,
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von Strafnormen zieht er eher weit. Strafe verdiene nur der, der ein gemeinschaftsstörendes Verhalten zeige, dessen Unwertgehalt hinreichend massiv ist.265 Die angedrohte Strafe müsse sich in einem angemessenen Verhältnis zum Wertbezug des verletzten Schutzguts halten.266 Damit weist Sax implizit auf die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hin.267 Er leitet daraus indes keine Forderungen in Bezug auf konkrete Strafnormen ab, auch wenn er betont, dass Gesetzesnormen, die „erkennbar und anerkannt Nichtstrafwürdiges“ als strafrechtliches Unrecht (und nicht bloß als Ordnungswidrigkeit) vertypen, „wegen Verstoßes gegen Art. 1 GG verfassungswidrig sind.“268 In jüngerer Zeit hat der Standpunkt, aus der Verfassung die Grenzen legitimen Strafens abzuleiten, vermehrt Anhänger gefunden. Unter ihnen gibt es jedoch unterschiedliche Auffassungen darüber, in welchem Umfang sich aus der Verfassung Aussagen über die Legitimität strafrechtlicher Verbote ableiten lassen. Manche Vertreter meinen, der Verfassung enge Vorgaben entnehmen zu können, während andere dem Gesetzgeber einen weiten Spielraum für die Schaffung von Strafnormen zubilligen. Der ersten Gruppe kann Hörnle zugeordnet werden, die in ihrer Habilitationsschrift „Grob anstößiges Verhalten“ bestimmte Strafvorschriften insbesondere anhand von Art. 2 Abs. 1 GG und der in dieser Verfassungsnorm enthaltenen „Schranken“ einer differenzierten Legitimitätsprüfung unterzieht.269 Der Erlass von Strafnormen sei nur dann zulässig, wenn das inkriminierte Verhalten mit „Rechten anderer“ oder dem „Sittengesetz“ kollidiere.270 Gelangt diese Prüfung zu einem in verfassungsrechtlicher Hinsicht grundsätzlich anerkennungsfähigen Schutzzweck, müsse überdies der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt sein.271 Anhand dieser Vorgaben unterzieht Hörnle eine Reihe von Strafvorschriften einer eingehenden Überprüfung und fällt dabei über nicht wenige Vorschriften das Verdikt der Illegitimität. Das kritische Potential des Rechtsgutsbegriffs erachtet sie demgegenüber als gering, weil aus ihrer Sicht verfassungsrechtlich bedenkliche 265 Sax, in Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Grundrechte, 3. Bd., 2. Halbband, S. 909 (927). 266 Sax, in Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Grundrechte, 3. Bd., 2. Halbband, S. 909 (929). 267 Später nimmt Sax explizit auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Bezug (JZ 1976, 9 [11]). 268 Sax, in Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Grundrechte, 3. Bd., 2. Halbband, S. 909 (933). 269 Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 41 ff. 270 Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 41 ff. u. 467 f. 271 Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 22 ff. u. 468.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
Strafnormen mit Hilfe von „substanzlosen Rechtsgütern“ legitimiert werden können.272 Die meisten anderen Vertreter verfassungsorientierter Lehren, wie insbesondere Stächelin,273 Lagodny274 und Appel,275 entnehmen dem Grundgesetz nur vage Vorgaben für die Schaffung von Strafnormen. Danach müssen sich zwar Strafvorschriften sowohl hinsichtlich der Verhaltensnorm als auch der Sanktionsnorm am Verhältnismäßigkeitsprinzip messen lassen, dieses gewähre dem Gesetzgeber jedoch zunächst einen weiten Spielraum, insbesondere da für die Schaffung einer Strafnorm zunächst nur ein „legitimer Zweck“ erforderlich sei.276 Den systemkritischen Rechtsgutslehren wird vorgeworfen, dem Demokratieprinzip häufig nur unzureichend Rechnung zu tragen, indem Strafvorschriften Wertmaßstäben unterworfen werden, die ihren Ursprung außerhalb der Verfassung finden.277 Aber auch insoweit als ein Rückgriff auf die Verfassungsordnung erfolge, enthielten die Rechtsgutslehren kein taugliches Konzept der Strafrechtsbegrenzung. Insbesondere könne, so namentlich die Kritik von Appel, die Rechtsgutslehre anders als eine verfassungsrechtliche Betrachtung nicht die Kollision mehrerer grundrechtlich geschützter Werte erfassen.278 Dieser Standpunkt, der sich zum einen durch eine kritische Sicht auf den kriminalpolitischen Rechtsgutsbegriff auszeichnet,279 zum anderen das Potential des Verhältnismäßigkeitsprinzips für die Limitierung des Strafrechts als gering ansieht,280 findet viel Zuspruch in der strafrechtlichen Literatur.281 Er spiegelt zudem die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts wider, nach der dem Gesetzgeber ein weiter Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum beim Erlass von (Straf-)Gesetzen zusteht.282 Danach besteht die Aufgabe des Strafrechts darin, „die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens zu 272 Hörnle,
Grob anstößiges Verhalten, S. 479. Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat. 274 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte; ders., in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 83 ff. 275 Appel, Verfassung und Strafe; ders., KritV 1991, 278 ff. 276 Appel, KritV 1999, 278 (301 ff.). 277 Appel, KritV 1999, 278 (286 ff.); ders., Verfassung und Strafe, S. 330 et passim. 278 Appel, KritV 1999, 278 (295 ff.). 279 Hirsch, FS Spinellis, S. 425 (436); Jescheck / Weigend, Strafrecht AT, S. 258; LK / Weigend, Einl. Rn. 7; Schönke / Schröder / Eisele, vor § 13 Rn. 10. 280 LK / Weigend, Einl. Rn. 7; eingehend ders., FS Hirsch, S. 917 ff.; Schönke / Schröder / Eisele, vor § 13 Rn. 10a. Ähnlich LK / Walter, vor § 13 Rn. 9. 281 s. aber auch Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 28 f. 282 BVerfGE 90, 145 (172 f.); 120, 224 (240); dazu Schönke / Schröder / Eisele, vor § 13 Rn. 10a; Vogel, StV 1996, 110 (111 ff.); s. auch Zipf, MDR 1969, 889 273 Stächelin,
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schützen“.283 Die Festlegung der Grenze zwischen dem bereits strafwürdigen und dem bloß ordnungswidrigen Verhalten obliegt nach der Verfassungsgerichtsrechtsprechung dem Gesetzgeber.284 „Das Bundesverfassungsgericht kann dessen Entscheidung nicht darauf überprüfen, ob er dabei im einzelnen die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden hat. Es hat lediglich darüber zu wachen, daß die Entscheidung des Gesetzgebers materiell in Einklang mit der verfassungsrechtlichen Wertordnung steht und auch den ungeschriebenen Verfassungsgrundsätzen und Grundentscheidungen des Grundgesetzes entspricht.“285
Auch Proportionalitätserwägungen nimmt das Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung von Strafvorschriften zurückhaltend vor und gewährt dem Gesetzgeber auch insoweit einen weiten Spielraum.286 Stattdessen greift es korrigierend auf der Rechtsanwendungsebene ein, insbesondere wenn es eine verfassungskonforme restriktive Auslegung von Strafvorschriften anmahnt.287 Das Bundesverfassungsgericht entnimmt jedoch nicht nur den Maßstab für die Grenzen legitimen Strafens der Verfassung. In seiner Inzest-Entscheidung hat es darüber hinaus ausdrücklich dem systemkritischen Rechtsgutsbegriff eine Absage erteilt: „Will man […] mit einer „naturalistischen“ Rechtsgutstheorie als legitime Rechtsgüter nur bestimmte „Gegebenheiten des sozialen Lebens“ anerkennen […] oder in anderer Weise von einem überpositiven Rechtsgutsbegriff ausgehen, so gerät ein solches Konzept – verstanden und angewendet als Element des verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabs – in Widerspruch dazu, dass es nach der grundgesetzlichen Ordnung Sache des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ist, […] die mit den Mitteln des Strafrechts zu schützenden Güter festzulegen und die Strafnormen gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen. Diese Befugnis kann nicht unter Berufung auf angeblich vorfindliche oder durch Instanzen jenseits des Gesetzgebers „anerkannte“ Rechtsgüter eingeengt werden. Sie findet ihre Grenze vielmehr – auf dem Gebiet des Strafrechts wie anderswo – nur in der Verfassung selbst, wenn und soweit diese die Verfolgung eines bestimmten Zwecks von vornherein ausschließt.“288 (890 ff.); ders., Kriminalpolitik, S. 106 ff.; Maurach / Zipf, Strafrecht AT / 1, § 13 Rn. 11 u. 14. 283 BVerfGE 27, 18 (29). 284 BVerfGE 27, 18 (30). 285 BVerfGE 27, 18 (30). 286 Vgl. Vogel, StV 1996, 110 (114). Diese Rechtsprechung wird freilich mitunter kritisiert, weil damit das Potential des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht ausgeschöpft werde. Vgl. Hirsch, FS Spinellis, S. 425 (435 f.). Anders hingegen Vogel, StV 1996, 110 (115), der auf die Relevanz der Gewaltenteilung hinweist. 287 BVerfGE 45, 187 (267); 126, 170 (229); s. auch Hassemer, in von Hirsch / Seelmann / Wohlers, Mediating Principles, S. 121 (124 ff.). 288 BVerfGE 120, 224 (242). Dazu Gnüchtel, Jugendschutztatbestände, S. 27 ff.; Roxin, GA 2013, 433 (450).
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B. Der Rechtsgutsbegriff
Ausdrücklich offen lässt das Bundesverfassungsgericht hingegen mangels Entscheidungserheblichkeit, ob das Rechtsgut einen Beitrag „für die Dogmatik des Strafrechts“ zu leisten vermag. Es lässt es sich jedoch nicht nehmen in einem Klammerzusatz auf das „originär strafrechtliche Anliegen“ der Rechtsgutstheorie hinzuweisen.289 Kritik haben die Versuche, die Reichweite legitimer Strafnormen über das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu begründen, vor allem im Hinblick auf die Inhaltslosigkeit dieses Prinzips erfahren.290 Aussagen über die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit als Teilschritte der Verhältnismäßigkeitsprüfung lassen sich nach dieser Auffassung ohne äußeren Bezugspunkt nicht treffen.291 Ein solcher lasse sich insbesondere nicht der Verfassung entnehmen, da sich aus ihr „kein abschließender Katalog strafschutzwürdiger Werte herauslesen“ lasse.292 Als Bezugspunkt könne jedoch etwa der Schutz eines bestimmten Rechtsguts als legitimer Zweck eines Grundrechtseingriffs herangezogen werden.293 bb) Theorien der Sozialschädlichkeit Neben dem Rechtsgut und der Verfassung ist als weiterer Maßstab für die Bestimmung der Grenzen legitimen Strafens die Sozialschädlichkeit vorgeschlagen worden. Amelung hat diese Idee etwa zur gleichen Zeit ausgearbeitet, als auch die personalen Rechtsgutslehren entwickelt wurden.294 Im jüngeren Schrifttum hat die Figur der Sozialschädlichkeit durch Einflüsse der anglo-amerikanischen Strafrechtsphilosophie vermehrtes Interesse gefunden.295 289 BVerfGE
120, 224 (242). etwa Eser, FS Mestmäcker, S. 1005 (1019); Neumann, in von Hirsch / Seelmann / Wohlers, Mediating Principles, S. 128 (129 ff.); Schönke / Schröder / Eisele, vor § 13 Rn. 10a; eingehende Kritik an der Leistungsfähigkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes übt Kühl, FS Heinz, S. 766 (767 ff.). 291 Vgl. Sternberg-Lieben, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 65 (76); Swoboda, ZStW 122 (2010), 24 (36). 292 Kubiciel, Wissenschaft, S. 76. 293 Vgl. Neumann, in von Hirsch / Seelmann / Wohlers, Mediating Principles, S. 128 (134); vgl. auch Frisch, FS Stree / Wessels, S. 69 (70); Kühl, FS Maiwald, S. 433 (447 ff.). 294 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 350 ff.; ders., in Jung / Müller-Dietz / Neumann, Recht und Moral, S. 269 ff. Dazu Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 12 ff. Ein der Darstellung Amelungs ähnliches Verständnis des Strafrechts findet sich bei Calliess, Theorie der Strafe, S. 122 ff., 138 f. Der Konzeption Amelungs folgt Schall (Schutzfunktionen, S. 68 ff.; JuS 1979, 104 [107, Fn. 41]). 295 Vgl. Schönke / Schröder / Eisele, vor § 13 Rn. 10b. 290 s.
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Im Nachgang zu seiner eingehenden Analyse und Kritik des bisherigen Stands der Rechtsgutslehre entwickelt Amelung seine Theorie der Sozialschädlichkeit. Das Strafrecht betrachtet er dabei aus der Perspektive der sozialen Systemtheorie und rückt demgemäß die soziale Funktion von Strafnormen in den Fokus. Unter sozialer Funktion versteht er den Beitrag einer Erscheinung (etwa einer Strafrechtsnorm) zur Erhaltung des sozialen Systems.296 Demgegenüber sei ein Phänomen dysfunktional und damit sozialschädlich, das den Fortbestand des Sozialsystems der Gesellschaft verhindert oder erschwert.297 Diese Begriffsbestimmung führt dazu, dass die Sozialschädlichkeit eines Phänomens stets nur im Hinblick auf eine konkrete Gesellschaft bestimmt werden kann.298 Maßstab der Sozialschädlichkeit beziehungsweise der Funktionalität sind die „fundamentalen Strukturentscheidungen“ der Gesellschaft, die Amelung hinsichtlich des Rechts vor allem der Verfassung und dem einfachen Recht entnimmt.299 Für Amelung ist Voraussetzung für die Legitimität von Strafnormen, dass sie eine soziale Funktion erfüllen, also ein Verhalten verbieten, das den Bedingungen menschlichen Zusammenlebens zuwiderläuft.300 Daran fehle es, wenn ein Strafgesetz keinen Beitrag zur Erhaltung des Sozialsystems leistet, „etwa deshalb, weil der Gesetzgeber sich die Gefahr für die Erhaltung des Systems nur einbildet oder weil er ohne Rücksicht auf diesen Gedanken eine bestimmte Moralvorstellung durchsetzen will“.301 Auch die Auslegung von Strafnormen sei dergestalt vorzunehmen, dass sie einen Beitrag zur Erhaltung des Sozialsystems der Gesellschaft leisten.302 Die Überprüfung der Sozialschädlichkeit eines Verhaltens hat nach Amelung in Zusammenarbeit mit den empirischen Sozialwissenschaften zu erfolgen.303 Diese hätten dann zu ermitteln, „ob eine Handlung, die durch ein strafrechtliches Verbot verhindert wurde, dysfunktionale Folgen im Sozialsystem der bundesrepublikanischen Gesellschaft haben kann.“304 Mit seiner Theorie der Sozialschädlichkeit will Amelung die Rechtsgutslehre nicht vollständig verwerfen. Während erstere auf die soziale Funktion von Rechtsnormen Bezug nehme, stelle letzere auf den Zweck ab, den der Gesetzgeber mit ihnen verfolge.305 Amelung ver296 Amelung,
Rechtsgüterschutz, S. 358. Rechtsgüterschutz, S. 361. 298 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 368. 299 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 368 ff. 300 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 382. 301 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 372. 302 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 370. 303 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 382. 304 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 382. 305 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 394. Zur Abgrenzung von Funktion und Zweck: ebd., S. 358. 297 Amelung,
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B. Der Rechtsgutsbegriff
knüpft diese Ansätze, indem er fordert, zunächst die vom Gesetzgeber verfolgten Zwecke, also das Rechtsgut, zu bestimmen. Bei Zweifelsfragen, beispielsweise weil mehrere Zwecke in Betracht kommen oder die Grenzen des Schutzbereichs einer Strafnorm unklar bleiben, könne in einem zweiten Schritt die soziale Funktion der Strafnorm zur Beantwortung herangezogen werden.306 Kritik wird an Amelungs Konzeption deshalb geübt, weil das Unrecht einer Straftat mit den Folgen für das Gesellschaftssystem und nicht mit denen des unmittelbar betroffenen Individuums begründet wird.307 Dies stehe „in diametralem Gegensatz zur liberalen Stoßrichtung des Rechtsgutsgedankens“.308 Die von Amelung deshalb geforderte Einschränkung durch Heranziehung der Wertentscheidungen des Grundgesetzes füge sich nicht in seine Gesamttheorie ein.309 Zudem sei die Theorie unzureichend ausgearbeitet und berge Schwierigkeiten in der praktischen Anwendung.310 Schließlich könne anhand systemtheoretischer Überlegungen zwar die Funktion von Strafvorschriften beschrieben werden, normative Forderungen ließen sich aus der Systemtheorie jedoch nicht ableiten.311 In jüngerer Zeit hat eine weitere Theorie der sozialen Schädigung in der deutschen Strafrechtsdogmatik Verbreitung und Anerkennung gefunden, nämlich die Heranziehung des „harm principle“ (Schädigungsprinzip) als Grenze legitimen Strafens.312 Dieser Grundsatz stammt aus dem anglo306 Amelung,
Rechtsgüterschutz, S. 394 f. Deliktstypen, S. 15; Hassemer, ZStW 87 (1975), 146 (162); Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter, S. 72; Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, S. 47; zu weiterer Kritik s. Müssig, Schutz abstrakter Rechtsgüter, S. 64 ff. 308 Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 15; ähnlich Meyer, Gefährlichkeitsdelikte, S. 97; Roxin, JA 1980, 545 (546); ders., Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 116; s. auch Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, S. 123. 309 Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 15; Appel, Verfassung und Strafe, S. 368; Hassemer, ZStW 87 (1975), 146 (161 f.); Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter, S. 72; Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 116; Swoboda, ZStW 122 (2010), 24 (42). 310 Vgl. Hassemer, ZStW 87 (1975), 146 (161 ff.); Koriath, GA 1999, 561 (572 f.). 311 Balog, Kriminalsoziologische Bibliographie 1981, Heft 31, 51 (57); Hassemer, ZStW 87 (1975), 146 (161 f.); Swoboda, ZStW 122 (2010), 24 (42); Wohlers, Deliktstypen, S. 239. 312 von Hirsch, GA 2002, 2 (3 ff.); ders., in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 13 (14 ff.); ders., FS Herzberg, S. 915 (916 ff.); Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 19 f., 79; Seher, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 39 (45 ff.); Swoboda, ZStW 122 (2010), 24 (37 ff.). Eingehende Kritik bei Kahlo, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 26 (31 ff.). 307 Anastasopoulou,
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amerikanischen Rechtskreis und wird auf John Stuart Mill zurückgeführt.313 Er besagt, dass Strafnormen nur legitim sind, wenn sie ein Verhalten bestrafen, das den Interessen anderer Personen Schaden zufügt.314 Er setzt also – anders als Amelungs Theorie– am Individuum an und erweist sich damit als mit der Rechtsgutslehre verwandt. Das „harm principle“ wird um das „offence principle“ (Belästigungs- oder Störungsprinzip) ergänzt, demzufolge auch ein Verhalten unterhalb der Schwelle der Schädigung, wenn auch nur unter engeren Voraussetzungen, Gegenstand strafrechtlicher Verbote sein darf.315 Obwohl diese Prinzipien in der amerikanischen Rechtsphilosophie – vor allem durch Feinberg316 – detailliert ausgearbeitet wurden, wird ihre Unterscheidungskraft seitens der deutschen Strafrechtslehre in Frage gestellt.317 Da auch die Rechtsgutslehre keinen eindeutigen Ableitungszusammenhang herstellt, der die Frage der Legitimität einer konkreten Norm gerade in den Zweifelsfällen eindeutig beantwortet, kämpfen beide Ansätze letztlich mit ähnlichen Problemen. cc) Folgerungen für eine systemimmanente Konzeption des Rechtsguts Die vorgestellten Alternativkonzepte zum systemkritischen Rechtsgutsbegriff zielen nicht darauf ab, Erkenntnisse über die systemimmanente Funktion des Rechtsgutsbegriffs zu gewinnen. Gleichwohl sind die Überlegungen der Vertreter dieser Konzepte bei der Erarbeitung einer systemimmanenten Konzeption des Rechtsgutsbegriffs wertvoll, da sie mit ihrer Ablehnung eines kriminalpolitischen Rechtsgutsbegriffs die Rückbesinnung auf das ursprüngliche Verständnis dieses Begriffs nahelegen. Für die Konzentration auf einen systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs spricht demnach zunächst, dass der Gesetzgeber allein an die verfassungsmäßige Ordnung (Art. 20 Abs. 3 GG) gebunden ist. Den in diesem Rahmen entfalteten gesetzgeberischen Willen haben die Gerichte und die Verwaltung umzusetzen. Hierbei kann die Rechtswissenschaft die Exekutive und die Judikative unterstützen, indem sie durch systematische Aufarbeitung des Rechts dabei hilft, den Willen des Gesetzgebers nachzuvollziehen. 313 Roxin,
Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 123; Wohlers, Deliktstypen, S. 254 ff. Swoboda, ZStW 122 (2010), 24 (38). 315 Dazu von Hirsch, FS Eser, S. 189 ff.; ders., FS Herzberg, S. 915 (916 ff.). S. auch Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 78 ff. et passim. 316 Feinberg, The Moral Limits of the Criminal Law. Dazu Wohlers, Deliktstypen, S. 256 ff. 317 Schönke / Schröder / Eisele, vor § 13 Rn. 10b; Swoboda, ZStW 122 (2010), 24 (39). 314 Vgl.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
Die Respektierung des Primats der gesetzgeberischen Entscheidung trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in einer Demokratie aus der Vielzahl politischer Ansichten diejenige durchsetzen, die von einer Mehrheit geteilt werden.318 Nicht maßgeblich ist hingegen, für welche Ansicht die besseren Argumente beispielsweise aus (rechts-)philosophischer oder (rechts-)soziologischer Sicht sprechen. Dafür spricht, dass auch hinter ausgefeilten Gedankengebäuden letztlich Wertungen stehen,319 die nicht richtig oder falsch sind, sondern nur dafür gehalten werden.320 Es ist aber kein Grund ersichtlich, einer dieser Wertvorstellungen Vorrang vor einer anderen einzuräumen.321 Insbesondere gibt es keine dem Recht vorgegebene verbindliche Werteordnung (Naturrecht),322 sondern lediglich Naturrechtsvorstellungen, bei denen als letzte Instanz beispielsweise der göttliche Wille, die Vernunft oder die Menschenwürde angesehen wird.323 Die von den Vertretern eines kriminalpolitischen Rechtsgutsbegriffs verfochtene These, dass das Strafrecht nur Rechtsgüter schützen dürfe, bedeutet danach bei Lichte betrachtet, dass das Strafrecht nur das schützen darf, was auf Grundlage einer bestimmten Weltanschauung oder Überzeugung schützenswert ist.324 Damit ist der Satz zirkulär und dient lediglich dazu, rhetorisch geschickt, den Absolutheitsanspruch, mit dem eine bestimmte
318 Dass die so gefundenen Ergebnisse nicht jeden überzeugen, liegt im Wesen der Demokratie. Winston Churchill wird der auf dieser Erkenntnis resultierende Satz zugeschrieben: „Democracy is the worst form of government except all those other forms that have been tried from time to time.“ (Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen, ausgenommen all die anderen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert wurden.) 319 Auf dieses Letztbegründungsproblem hat Stratenwerth mit großem Nachdruck hingewiesen: Stratenwerth, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 255 (257); auch ders., FS Lenckner, S. 377 (390); ders., in von Hirsch / Seelmann / Wohlers, Mediating Principles, S. 157 (162); dazu kritisch Roxin, in Hefendehl, Empirische und dogmatische Fundamente, S. 135 (147). Zur wissenschaftstheoretischen Problematik der Kriminalpolitik s. Zipf, Kriminalpolitik, S. 22 f. und 89 ff. 320 Vgl. auch Appel, KritV 1999, 278 (288 ff.); Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 1 Rn. 5; Langer-Stein, Legitimation, S. 13 f. 321 Zur Definitionsmacht über die zentralen Wertvorstellungen bei den Vertretern eines systemkritischen Rechtsgutsbegriffs, s. Swoboda, ZStW 122 (2010), 24 (35). 322 Die Argumentation des BGH mit der „vorgegebenen und hinzunehmenden Ordnung der Werte und der das menschliche Zusammenleben regierenden Sollenssätze“ (BGHSt 6, 46 [52]) ist deshalb auf vehemente Kritik gestoßen. Vgl. Zipf, Kriminalpolitik, S. 92. 323 s. auch Hilgendorf, NK 2010, 125 (129). 324 Vgl. bereits früh in diese Richtung Bockelmann, GedS Radbruch, S. 252 (257, Fn. 22); Ansätze auch bei ders., ZStW 74 (1962), 304 (315).
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politische Auffassung nach Anerkennung ringt, hinter einer „wissenschaftlichen“ Fassade zu verbergen. Erkennt man, dass der kriminalpolitische Rechtsgutsbegriff letztlich nur die Abbreviatur einer freiheitlichen strafrechtspolitischen Grundauffassung ist, die sich auf das philosophische Gedankengut der Aufklärung stützt, so liegt es nahe ihn im Rahmen der Strafrechtsdogmatik des Feldes zu verweisen. Dafür spricht auch, dass über die Konturen des kriminalpolitischen Rechtsgutsbegriffs nur vordergründige Einigkeit besteht,325 wie bereits die Vielfalt an Definitionen belegt, die für diesen Begriff vorgeschlagen werden.326 d) Zwischenbemerkung Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine bunte, kaum übersehbare Vielfalt an Ansätzen zum Rechtsgutsbegriff und Gegenkonzepten entwickelt hat. Diese unterscheiden sich hinsichtlich der Bedeutung und Funktion, die dem Rechtsgutsbegriff beigemessen werden. Nicht selten sind die Divergenzen Ausdruck einer grundlegend verschiedenen Herangehensweise an das Strafrecht als Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung. Bei der vorstehenden Darstellung sind einige Denkansätze außer Betracht geblieben. Damit soll keine Aussage über ihre Richtigkeit oder Überzeugungskraft getroffen werden, vielmehr verlangt die Komplexität der derzeitigen Rechtsgutsdebatte eine Selektion. So kann lediglich durch Nennung des Urhebers auf die Überlegungen von Lampe327, Schmidhäuser328,
325 s. eingehend Seher, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 39 (45): „Das Dilemma der Diskussion ist also ein semantisches. Scheinbar dreht sich die Debatte vor allem um den Begriff des Rechtsgutes. Tatsächlich aber geht es um inhaltliche Divergenzen hinsichtlich der legitimen Reichweite des Strafrechts. Indem die unterschiedlichen Überzeugungen hinter dem Rechtsgutsbegriff versteckt werden, wird – ungewollt – der eigentlich inhaltliche Diskurs verschleiert. Zugleich wird der Rechtsgutsbegriff überfordert: Er kann unmöglich (zumindest partiell) gegensätzliche Argumente zugleich transportieren. Der Versuch, inhaltlich Divergierendes mit ein und demselben Begriff zu erfassen, muss immer fehlschlagen.“ 326 s. im Überblick Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 11; Appel, Verfassung und Strafe, S. 345 f.; Koriath, GA 1999, 561 (565); Stratenwerth, FS Lencknner, S. 377 (378). Kritik an der Unklarheit des Rechtsgutsbegriffs findet sich bereits bei Calliess, Theorie der Strafe, S. 124. 327 Lampe, FS Welzel, S. 151 ff.; ders., FS Schmitt, S. 77 (82 ff.); dazu Hohmann, Umweltdelikte, S. 46 f. 328 Schmidhäuser, FS Engisch, S. 433 (442 ff.); ders., Strafrecht AT, Lehrbuch, Kap. 2 Rn. 30 ff.; ders., Strafrecht AT, Studienbuch, Kap. 5 Rn. 25 ff.; dazu Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 23 ff.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
Stratenwerth329, Frisch330, Paeffgen331 und Hirsch332 hingewiesen werden. Ebenfalls bislang außer Betracht gelassen worden sind Ansätze, die sich dem Rechtsgutsbegriff unter dem Gesichtspunkt der Deliktsnatur von Strafvorschriften befassen, da dem Verhältnis von Rechtsgut und Deliktsnatur noch ein eigener Abschnitt gewidmet wird.333 Insgesamt hat die Beschäftigung mit dem Rechtsgutsbegriff nach dem Zweiten Weltkrieg kaum Neues im Hinblick auf die systemimmanente Funktion dieses Begriffs hervorgebracht. Stattdessen konzentrierten sich die Überlegungen auf die kriminalpolitische Funktion des Rechtsgutsbegriffs. Dabei wurde die Schärfe und Aussagekraft des Rechtsgutsbegriffs durch die Veränderung des ihm beigemessenen Bedeutungsinhalts geschmälert. Zutreffend beschreibt Tiedemann die Konsequenz der Entwicklung folgendermaßen: „Die Behauptung, das gesamte geltende Strafrecht bestehe in dem Schutz von Rechtsgütern, stellt […] eine scheinbare Einheit von Dogmatik und Kriminalpolitik her und entwertet den Rechtsgutbegriff für beide Gebiete.“334
Der Zustand, dass der Rechtsgutsbegriff zwei und mehr Herren dienen muss, unterschiedlichste Inhalte in ihn wie in ein Prokrustesbett hineingepresst werden,335 darf als unglücklich bezeichnet werden. Wünschenswert erscheint daher eine Rückbesinnung auf die ursprüngliche Bedeutung und Funktion des Rechtsguts, damit sein Nutzen für die Strafrechtsdogmatik nicht verloren geht. Solange dieses Ziel nicht erreicht ist, ist Missverständnissen durch klarstellende Erläuterung des zugrunde gelegten Verständnisses des Rechtsgutsbegriffs vorzubeugen.
329 Stratenwerth, ZStW 105 (1993), 679 (692 f.); ders., FS Lenckner, S. 377 (388 f.); ders., in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 255 (256 ff.); ders., FS Amelung, S. 355 (360 ff.); ders. / Kuhlen, Strafrecht AT, § 2 Rn. 6 ff.; dazu Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 117 ff. 330 Frisch, FS Stree / Wessels, S. 69 (71 ff.); ders., in Eser / Kaiser / Weigend, Von totalitärem zu rechtsstaatlichem Strafrecht, S. 201 (205 ff.); dazu eingehend Kuhlen, in Wolter / Freund, Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem, S. 77 (82 ff.). Aus jüngerer Zeit: Frisch, in Eser / Hassemer / Burkhardt, S. 159 (194 f.); ders., in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 215 ff. 331 Paeffgen, FS Wolter, S. 125 ff. 332 Hirsch, FS Spinellis, S. 425 ff.; auch bereits ders., FS Welzel, S. 775 (780 ff.); ders., in Kühne / Miyazawa, Neue Strafrechtsentwicklungen im deutsch-japanischen Vergleich, S. 11 (13 ff., insb. 17). 333 s. dazu unter B. II. 4. 334 Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, S. 117 Fn. 17. 335 Vgl. Stratenwerth, in von Hirsch / Seelmann / Wohlers, Mediating Principles, S. 157 (162).
I. Historischer Rückblick73
8. Fazit Abschließend sollen die Erkenntnisse, die aus der Dogmengeschichte für eine systemimmanente Konzeption des Rechtsgutsbegriffs gewonnen werden können, in Thesen zusammen gefasst werden. Durch einen Klammerzusatz wird verdeutlicht, wer wesentlichen Anteil am Erlangen der jeweiligen Erkenntnis hat: 1. Das Rechtsgut beschreibt den Schutzgegenstand einer Strafvorschrift. Mit der gesetzgeberischen Entscheidung, ein Lebensgut vor Gefährdungen oder Verletzungen zu schützen, wird dieses zum Rechtsgut (Binding). 2. Jede Strafvorschrift schützt ein Rechtsgut, denn mit dem Erlass einer Strafvorschrift beabsichtigt der Gesetzgeber stets, etwas zu schützen.336 Das geschützte Etwas ist eben das Rechtsgut. Zutreffend kann daher die Aufgabe des Strafrechts mit dem Schlagwort „Rechtsgüterschutz“ beschrieben werden.337 3. Da die Strafvorschriften verschiedenartige Gegenstände schützen, erscheint eine aussagekräftige, inhaltliche Beschreibung des Rechtsgutsbegriffs ausgeschlossen. Allenfalls mit vagen Allgemeinbegriffen wie dem des „Zustands“ kann die Gemeinsamkeit der Rechtsgüter beschrieben werden (Oppenheim sowie weitere Vertreter der Schutzobjektlehren). 4. Diese Begriffsweite ist kein Mangel, sondern ein Vorteil des Rechtsgutsbegriffs, denn sie ermöglicht seine Heranziehung bei sämtlichen Straf336 Selbst beim sagenumwobenen Gebot, den Gesslerhut zu grüßen, ist die Annahme eines Rechtsguts nicht ausgeschlossen (zutreffend H. Mayer, Strafrecht AT (1953), S. 53). Immerhin genießen auch die Symbole des Staates de lege lata einen gewissen Schutz (etwa in § 90a StGB) und auch der Gesslerhut lässt sich als ein solches interpretieren. Als Rechtsgut könnte dann beispielsweise der Bestand des Staates angesehen werden (vgl. NK / Paeffgen, § 90a Rn. 2). Gleichwohl wird mitunter der Gesslerhut als Metapher für fehlenden Rechtsgüterschutz verwendet (so bei Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 130). Gegen die Annahme, es gebe rechtsgutslose Strafvorschriften wandte sich bereits Hanke, Rechtsgüter bei Sittlichkeitsverbrechen, S. 18 f. 337 So auch Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 7; Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 1 Rn. 2; Baumann / Weber / Mitsch, Strafrecht AT, § 9 Rn. 68; Ebert, Strafrecht AT, S. 1; Gropp, Strafrecht AT, § 1 Rn. 122; Jescheck / Weigend, Strafrecht AT, S. 7; Armin Kaufmann, Die Aufgabe des Strafrechts, S. 5; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 21; Maurach / Zipf, Strafrecht AT / 1, § 19 Rn. 4; MK / Freund, vor § 13 Rn. 45; MK / Joecks, Einl. Rn. 26; NK / Hassemer / Neumann, vor § 1 Rn. 109; Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 1; Schönke / Schröder / Eser / Hecker, vor § 1 Rn. 30; SK / Rudolphi, vor § 1 Rn. 2; s. auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 367: „Außerdem gehört es seit der Aufklärung zu den fundamentalen Dogmen der Strafrechtslehre, daß das Strafrecht keiner anderen Aufgabe dienen soll als der Sicherung der Bedingungen menschlichen Zusammenlebens.“ s. weiter Weigend, ZStW 98 (1986), 44 (50).
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B. Der Rechtsgutsbegriff
vorschriften. Durch diese übergreifende Anwendbarkeit hebt sich der Rechtsgutsbegriff insbesondere vom Begriff der „Rechtsverletzung“ ab (Birnbaum). 5. Da eine inhaltliche Präzisierung nicht möglich ist, müssen Bemühungen um die Klärung des systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs bei der Beschreibung formaler Eigenschaften ansetzen (Hirschberg). Es erscheint möglich und zielführend auf diese Weise, Klarheit über den Rechtsgutsbegriff herzustellen. 6. Ein solcherart präzisiertes Rechtsgut ist ein wertvolles Hilfsmittel der Auslegung (Honig, Schwinge). Allerdings ist zu bedenken, dass die Auslegung nicht allein anhand des geschützten Rechtsguts erfolgen kann. Dies zeigt sich besonders bei Tatbeständen, die auf ein Pflichtwidrigkeitsmoment, besondere Tätereigenschaften, eine bestimmte Angriffsweise oder eine subjektive Einstellung des Handelnden abstellen (Kieler Schule, Welzel, Jakobs). 7. Ein solcher systemimmanenter Rechtsgutsbegriff kann als „Grenzbegriff“ auch Ausgangspunkt kriminalpolitischer Überlegungen sein, indem hinterfragt wird, ob der Schutz eines bestimmten Rechtsguts angezeigt oder gerechtfertigt ist.338 Wohlgemerkt hängt die Einordnung eines Lebensguts als Rechtsgut jedoch nicht von vorpositiven Maßstäben, sondern ausschließlich von der Entscheidung des Gesetzgebers ab (v. Liszt). 8. Unter der Geltung des Grundgesetzes ist der Maßstab für die Beurteilung der Legitimität von Strafvorschriften der Verfassung zu entnehmen. Zwar gibt es alternative Maßstäbe, die beispielsweise von Vertretern eines systemkritischen Rechtsgutsbegriffs oder einer Theorie der Sozialschädlichkeit vorgetragen werden. Es ist nicht einsichtig, warum solche Theorien, die letztlich „nur“ besonders ausgefeilte Wertungsentscheidungen enthalten, Vorrang vor der Pönalisierung eines Verhaltens durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber haben sollen. Mit diesen aus der Dogmengeschichte herausgearbeiteten Thesen zum systemimmanenten Rechtsgutsbegriff ist das Fundament für eine rechtsgutsbezogene Auslegung gelegt. Sie enthalten aber auch einen wichtigen Hinweis auf eine Grenze der Leistungsfähigkeit des systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs, die in der sechste These bereits erwähnt, hier aber nochmals hervorgehoben werden soll. Das strafbare Unrecht, wie es vom geltenden Strafrecht definiert wird, kann nicht allein über die Herbeiführung einer Rechtsgutsgefährdung oder 338 Zur „Ermöglichung“ oder „Erleichterung“ von Kritik durch Heranziehung des Rechtsgutsbegriffs auch Dubber, ZStW 117 (2005), 485 (516 f.).
I. Historischer Rückblick75
-verletzung, also über das Erfolgsunrecht339, erklärt werden.340 Jedoch erschöpft es sich auch nicht im Handlungsunrecht, also im Zeigen eines missbilligten (rechtsgutsfeindlichen) Verhaltens.341 Doch selbst diese beiden Komponenten beschreiben das Unrecht einer Straftat nur unvollkommen. Zur Charakterisierung des Verbrechens sind bei einzelnen Delikten weitere Merkmale zu berücksichtigen. So lässt sich die Strafbegründung oder -schärfung bei Sonderdelikten nicht oder nur bei Überdehnung der Begrifflichkeiten mit dem Handlungs- oder Erfolgsunwert der Tat begründen. Stattdessen bedarf es der Anerkennung der Pflichtenstellung des Täters (beispielsweise der Amtsträgereigenschaft bei den Amtsdelikten oder der Fürsorgepflichten in § 225 StGB) als weiteres Element zur Kennzeichnung des Verbrechens.342 Des 339 Wenn die Herbeiführung einer Rechtsgutsgefährdung oder -verletzung als Wesen des Verbrechens angesehen wird, so wird das Erfolgsunrecht in den Fokus der Betrachtung gerückt (vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 367 ff.; Langer-Stein, Legitimation, S. 15). Rehr-Zimmermann (Die Struktur des Unrechts in der Gegenwart der Strafrechtsdogmatik, S. 81 ff.) hat einen Versuch vorgelegt, Handlungs- und Erfolgsunrecht im Rechtsgutsbegriff zusammenzufassen. 340 s. nur Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 66 ff.; MK / Joecks, Einl. Rn. 27 f.; Schönke / Schröder / Eisele, vor § 13 Rn. 52 ff.; vgl. auch Sax, in Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Grundrechte, 3. Bd., 2. Halbband, S. 909 (913 ff.); Haft, Strafrecht AT, S. 60 ff. Allein auf den Handlungsunwert hingegen abstellend etwa Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff, S. 143 f. 341 Das missbilligte Verhalten (Handlungsunrecht) kann zum einen eher objektiv erfasst werden, sodass das Verbrechen als Pflichtverletzung beschrieben wird. Es kann aber zum anderen auch eher subjektiv auf die unrechte Gesinnung abgestellt werden, auf der ein Verhalten beruht. Ein Verbrechen zeichnet sich danach dadurch aus, dass ein Verhalten gezeigt wird, in dem eine unrechte Gesinnung (Haltung, Einstellung, Motivation) zum Ausdruck kommt. Auf die Gesinnung allein lässt sich kaum abstellen, denn die Gesinnung ist – solange man nicht „in die Köpfe der Menschen hineinschauen“ kann – nicht feststellbar. Eine Bestrafung der reinen Gesinnung ist nur bei Zuschreibung einer Gesinnung möglich. Letztlich bestraft man dann aber nicht die Gesinnung der Person, sondern der Grund für die Bestrafung ist das willkürliche Urteil, dass ein bestimmter Mensch Strafe verdiene. Daran wird deutlich, dass ein reines Gesinnungsstrafrecht rechtsstaatlich nicht hinnehmbare Willkür bedingt. Man kann allerdings aus dem Verhalten der Menschen Rückschlüsse auf ihre Gesinnung ziehen (vgl. Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT, § 2 Rn. 25). Aus historischen Gründen erscheinen Begriffe wie Haltung, Einstellung, Motivation oder Absicht passender. Freilich ist der Rückschluss vom Verhalten auf die Gesinnung selten eindeutig möglich, sondern lässt Interpretationsspielräume. So ist etwa die Feststellung des Vorsatzes letztlich ein Zuschreibungsakt (BeckOK / Kudlich, § 15 Rn. 23; ders., NJW 2011, 2856 [2857]; eingehend zur Problematik der Vorsatzfeststellung Koriath, FS Loos, S. 103 ff. m. w. N.). Um der Gefahr einer willkürlichen Zuschreibung vorzubeugen, besteht die Notwendigkeit, die Schlussfolgerung von objektiven Umständen auf innere Tatsachen möglichst gut zu begründen. 342 Gegen die Berücksichtigung von strafbarkeitsbegründenden Tätereigenschaften im Rechtsgutsbegriff auch Langer, Sonderstraftat, S. 267 ff.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
Weiteren muss die Angriffsrichtung des Verhaltens gesondert berücksichtigt werden.343 So lässt sich allein mit dem Verweis auf Handlungs- und Erfolgsunwert nicht schlüssig begründen, warum zwar die Vermögensschädigung durch Täuschung oder Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht (§§ 263, 266 StGB), nicht aber die schlichte Nichterfüllung von Verträgen strafbar ist.344 Die Bemühungen, das in den Straftatbeständen beschriebene Unrecht durch ein einzelnes Moment zu erklären, lassen sich nicht mit dem Gesetz in Einklang bringen.345 Vielmehr charakterisieren zahlreiche Faktoren das Verbrechen, wobei bei manchen Straftatbeständen einzelne Faktoren eine größere und andere eine untergeordnete Rolle spielen.346 Die Faktoren, die nicht im Tatbestand Berücksichtigung finden, können noch als Umstände im Sinne des § 46 Abs. 2 S. 1 StGB bei der Strafzumessung Bedeutung erlangen.347
II. Eigener Ansatz Die dogmengeschichtliche Untersuchung hat gezeigt, dass der beschrittene Weg, das Rechtsgut für die Normauslegung des § 176 StGB fruchtbar zu machen, vielversprechend ist. Gegen die Eignung eines richtig verstandenen Rechtsgutsbegriffs zum besseren Verständnis von Strafvorschriften beizutragen, sind keine durchgreifenden Bedenken aufgetaucht. Jedoch bedarf es noch einer weiteren Konturierung des systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs, um das Rechtsgut des § 176 StGB ermitteln zu können.348 343 Vgl. M. Heinrich, Rechtsgutszugriff, S. 107 ff.; ders., FS Roxin, S. 131 (151 ff.); Kubiciel, Wissenschaft, S. 53; Maurach / Zipf, Strafrecht AT / 1, § 19 Rn. 7; Naucke, Strafrecht, § 6 Rn. 59; Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 5 Fn. 18; Wohlers, Deliktstypen, S. 226. Aus kriminalpolitischer Sicht: Stächelin, in Lüderssen, Aufgeklärte Kriminalpolitik, Bd. I, S. 239 (252 ff.); ders., Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, S. 55 ff.; ihm folgend Pragal, ZIS 2006, 63 (65). Zu weitgehend jedoch Langer (Sonderstraftat, S. 43), der bereits im Rechtsgut „Gewahrsam“ eine von ihm abgelehnte Einbeziehung der Angriffsrichtung erblickt. 344 Vgl. Schaffstein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 23 ff.; auch ders., DStrR 1937, 337 (342 f.); s. weiter Gallas, Beiträge zur Verbrechenslehre, S. 9 ff. zur Frage, warum Diebstahl und Betrug, nicht aber die bloße Verletzung von Vertragspflichten strafbar ist. 345 Vgl. auch Naucke, Strafrecht, § 6 Rn. 68 ff.; Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT, § 2 Rn. 32 f. 346 Einen Überblick über entsprechende Faktoren findet sich bei Mezger / Blei, Strafrecht AT, S. 110 ff. 347 Noch stärker wird bei der Sanktionsentscheidung im Jugendstrafrecht auf täterbezogene Aspekte abgestellt (s. etwa § 18 Abs. 1 S. 3, Abs. 2 JGG), ohne allerdings die Anknüpfung an die Tat aufzugeben (vgl. nur § 5 Abs. 1 JGG); vgl. auch MK / Joecks, Einl. Rn. 41; Schaffstein / Beulke, Jugendstrafrecht, S. 1 f. u. 34 ff. 348 Unergiebig sind insoweit die Überlegungen der Vertreter eines systemkritischen Rechtsgutsbegriffs, denn der Inhalt des Rechtsguts ist von der ihm zugeschrie-
II. Eigener Ansatz77
1. Konturierung eines systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs Eine Konturierung des systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs kann nicht mithilfe inhaltlicher Begriffsfüllung, sondern allein durch Erarbeitung formaler Kriterien erfolgen. Dementsprechend wird häufig versucht, den Rechtsgutsbegriff anhand von Beispielen zu erläutern, anstatt ihn zu definieren. Leben, körperliche Unversehrtheit, persönliche Freiheit, Ehre, Eigentum, Vermögen, usw. werden als Rechtsgüter des Einzelnen einigen Rechtsgütern der Allgemeinheit (Rechtspflege, Bestand der Bundesrepublik, etc.) gegenübergestellt.349 Aufgrund dieser Beispielstechnik scheint klar zu sein, was mit Rechtsgut gemeint ist. Naucke behauptet sogar: „Die meisten Studenten haben den Begriff des geschützten Rechtsguts schon sicher, ehe sie das dazu passende juristische Wort kennen.“350 Wenn eine abstrakte Definition des Rechtsguts versucht wird, so bleibt diese verständlicherweise vage. So heißt es bei Wessels / Beulke / Satzger: „Als Rechtsgüter bezeichnet man die Lebensgüter, Sozialwerte und rechtlich anerkannten Interessen des Einzelnen oder der Allgemeinheit, die wegen ihrer besonderen Bedeutung für die Gesellschaft Rechtsschutz genießen.“351
Rechtsgut ist danach also zunächst das, was Rechtsschutz genießt.352 Dieses Etwas lässt sich nur mit inhaltsarmen Allgemeinbegriffen beschreiben. Dies ist folgerichtig, wenn man einen systemkritischen Rechtsgutsbegriff ablehnt und demnach dem Rechtsgut keinen materialen Gehalt beimisst, sondern die Bestimmung des Rechtsguts der gesetzgeberischen Pönalisierungsentscheidung unterordnet. Denn die Strafvorschriften schützen so Verschiedenartiges, dass jede Konkretisierung des Rechtsgutsbegriffs Gefahr läuft, nicht mit allen Strafvorschriften kompatibel zu sein.353 Es zeigt sich demnach das bemerkenswerte Ergebnis, dass jeder zu wissen scheint, was mit dem Begriff des Rechtsguts gemeint ist, eine präzise Definition jedoch zugleich unmöglich erscheint. Ersteres bestätigt auch der Blick in die Kommentare und Lehrbücher, in denen Vorschriften des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches erläutert werden. Die Autoren dieser Erläuterungen wisbenen Funktion abhängig. Vgl. Marx, Zur Definition des Begriffs Rechtsgut, S. 4 (s. aber auch ebd., S. 13). Dem folgend Szebrowski, Kick-Back, S. 148. 349 s. etwa Wessels / Beulke / Satzger, Strafrecht AT, Rn. 7; Frister, Strafrecht AT, 3. Kap. Rn. 20. 350 Naucke, Strafrecht, § 6 Rn. 62. 351 Wessels / Beulke / Satzger, Strafrecht AT, Rn. 7. Ähnlich Krey / Esser, Strafrecht AT, Rn. 7. 352 Vgl. auch M. E. Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, S. 69: „Ein Rechtsgut ist ein nach der Ansicht der Rechtsordnung wertvolles Etwas.“ 353 Vgl. Trops, Begriff und Wert eines Verwaltungsstrafrechts, S. 54 f.; in jüngerer Zeit ähnlich Wendrich, ZJS 2013, 238 (239).
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B. Der Rechtsgutsbegriff
sen offenkundig, was unter dem Rechtsgut zu verstehen ist, denn ansonsten könnten sie die Bestimmung desselben wohl kaum ihren Erläuterungen der Strafvorschriften voranstellen.354 Der breite Konsens über die Bedeutung des (systemimmanenten) Rechtsgutsbegriffs resultiert daraus, dass es zwar nicht inhaltliche, aber formale Kriterien zur Konstruktion der Rechtsgüter gibt. Diese werden zwar grundsätzlich beachtet, jedoch kaum einmal expliziert. Eine formale Betrachtung der Rechtsgüter ist seit den entsprechenden Bemühungen Bindings und Hirschbergs und ihrer Zeitgenossen weitgehend unterblieben. Dies ist verwunderlich, denn die Bestimmung des Rechtsguts einer Vorschrift setzt zumindest die Kenntnis der formalen Anforderungen an dessen Konstruktion voraus. Der unzureichenden Konturierung des systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs soll im Folgenden abgeholfen werden. Dazu erscheint es zielführend, zunächst zur Vermeidung von Verwechslungen klarzustellen, was das Rechtsgut nicht ist [dazu unter a)]. Sodann kann dargelegt werden, wodurch sich Rechtsgüter in formaler Hinsicht positiv auszeichnen, also wie sie konstruiert beziehungsweise zu konstruieren sind [dazu unter b)]. Schließlich gilt es zu erarbeiten, wie das Rechtsgut einer konkreten Strafvorschrift ermittelt werden kann [dazu unter c.]. a) Negativabgrenzungen Die Klärung des systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs sollte zunächst durch dessen Abgrenzung von ähnlichen Begriffen, insbesondere denen des Tatobjekts und des Rechtsgutsobjekts, erfolgen. Des Weiteren ist das Rechtsgut vom gesetzgeberischen Motiv und von der Paraphrase des Gesetzesinhalts beziehungsweise der ratio legis zu unterscheiden. aa) Rechtsgut, Tatobjekt und Rechtsgutsobjekt In der Literatur erfolgt nahezu durchgängig der Hinweis darauf, dass das Rechtsgut nicht mit dem Handlungs-, Angriffs-, Tat- oder Rechtsgutsobjekt verwechselt werden dürfe.355 Zur Erläuterung werden häufig anstelle einer abstrakten Definition Beispiele herangezogen. Das Leben als Rechtsgut des 354 s. auch Bung, in Thiée, Menschen Handel, S. 49 zur Verwendung des Rechtsgutsbegriffs, „ohne ihn zu verstehen“. 355 Baumann / Weber / Mitsch, Strafrecht AT, § 3 Rn. 18; Ebert, Strafrecht AT, S. 1; Geerds, Wirtschaftsstrafrecht und Vermögensschutz, S. 26 ff.; Haft, Strafrecht AT, S. 63; Jescheck / Weigend, Strafrecht AT, S. 259 f.; Kindhäuser, Strafrecht AT, § 2 Rn. 7; Koriath, GA 1999, 561 (573); Krey / Esser, Strafrecht AT, Rn. 10; Maurach /
II. Eigener Ansatz79
§ 212 StGB sei nicht mit dem konkreten Menschen zu verwechseln, der lediglich Handlungsobjekt sei. Ähnliche Gegenüberstellungen beziehen sich auf das Eigentum als Rechtsgut des § 242 StGB im Unterschied zur fremden Sache oder auf den gefälschten Geldschein im Verhältnis zur Sicherheit des Geldverkehrs als Rechtsgut der Geldfälschung (§ 146 StGB).356 Die Begriffe des Handlungs-, Angriffs-, Tat- und Rechtsgutsobjekt werden jeweils nicht einheitlich verwendet und auch zwischen den Begriffen wird teilweise von synonymer Bedeutung, teilweise von Bedeutungsunterschieden ausgegangen. Diese Unterschiede werden jedoch nur selten kenntlich gemacht, vielmehr verwenden viele Autoren ihr eigenes Vokabular ohne andere Gepflogenheiten zu beachten.357 In der Sache geht es um zwei Negativabgrenzungen zum Rechtsgut. Zum einen kann bei Individualrechtsgütern das Rechtsgut auf eine bestimmte Person oder Sache bezogen werden. Die Notwendigkeit dieser Abgrenzung ergibt sich daraus, dass aus den gängigen Rechtsgutsbezeichnungen der Individualrechtsgüter nicht hinreichend deutlich wird, dass es sich um Sammelbegriffe handelt. Beispielsweise kann die Aussage, dass der Totschlagsparagraph (§ 212 StGB) das Rechtsgut „Leben“ schützt, dahingehend präzisiert werden, dass geschütztes Rechtsgut das Leben jedes einzelnen Menschen ist.358 Der einzelne Mensch könnte demnach vor diesem Hintergrund als „Rechtsgutsobjekt“359 bezeichnet werden. Dieser Gedankengang führt mitunter dazu, dass das Rechtsgut als Anspruch auf Achtung der Rechtsgutsobjekte jedes Einzelnen verstanden wird.360 Damit erfolgt eine „Vergeistigung“ des Rechtsgutsbegriffs, da das Rechtsgut nicht mehr als etwas real Vorhandenes, sondern als etwas Abstraktes beziehungsweise Ideelles verstanden wird.361 Das Rechtsgutsobjekt (beziehungsweise Tat- oder Zipf, Strafrecht AT / 1, § 19 Rn. 12, 14 ff.; Murmann, Grundkurs Strafrecht, § 8 Rn. 9; Rengier, Strafrecht AT, § 3 Rn. 1; Schönke / Schröder / Eisele, vor § 13 Rn. 9. 356 NK / Hassemer / Neumann, vor § 1 Rn. 121. Weitere Beispiele bei Baumann / Weber / Mitsch, Strafrecht AT, § 3 Rn. 18; Jescheck / Weigend, Strafrecht AT, S. 260; Maurach / Zipf, Strafrecht AT / 1, § 19 Rn. 15 f.; Murmann, Grundkurs Strafrecht, § 8 Rn. 9. 357 Vgl. Anatasopoulou, Deliktstypen, S. 54; Martin, Strafbarkeit grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigungen, S. 23 ff.; Graul, Präsumtionen, S. 25 mit Fn. 36; Suhr, Rechtsgut der Steuerhinterziehung, S. 40 ff.; ders. JA 1990, 303 (306 ff.). 358 Vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 193; ders., in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 155 (167). 359 Vgl. Schmidhäuser, Strafrecht AT, Studienbuch, Kap. 5 Rn. 29 f.; ders., Strafrecht AT, Lehrbuch, Kap. 2 Rn. 31, ihm folgend: Suhr, JA 1990, 303 (308). 360 Gropp, Strafrecht AT, § 3 Rn. 26; Schmidhäuser, Strafrecht AT, Studienbuch, Kap. 5 Rn. 27; ders., Strafrecht AT, Lehrbuch, Kap. 2 Rn. 30. 361 So bei Baumann / Weber / Mitsch, Strafrecht AT, § 3 Rn. 18; Blei, Strafrecht AT, S. 89; Jescheck / Weigend, Strafrecht AT, S. 257 ff.; LK / Walter, vor § 13 Rn. 14;
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B. Der Rechtsgutsbegriff
Handlungsobjekt) wird dann als das „materielle Substrat“ beziehungsweise die „Verkörperung“ des Rechtsguts in der realen Welt verstanden.362 Die Konstruktion vergeistigter Rechtsgüter erscheint umständlich und widerspricht zudem dem Ansinnen des Gesetzgebers, der nicht Achtungsansprüche, sondern reale Güter schützen will.363 Zur Vermeidung von Missverständnissen ist es ausreichend, sich zu vergegenwärtigen, dass jeder Mensch Träger der Individualrechtsgüter ist, jedes Individualrechtsgut also vielfach vorhanden ist. Zum anderen kann das Rechtsgut vom grammatikalischen Satzobjekt des Straftatbestandes abgegrenzt werden. Dies ist beim Diebstahl die „fremde, bewegliche Sache“, beim Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte der „Amtsträger“ und bei der Urkundenfälschung die „Urkunde“. Häufig werden auch diese Objekte als Tat-, Handlungs- oder Angriffsobjekt364 bezeichnet, allerdings ohne dass herausgestellt würde, dass entscheidendes Kriterium zu deren Bestimmung die grammatikalische Funktion ist.365 Stattdessen finden sich Bemühungen, dem Begriff des Tatobjekts eine inhaltliche Bedeutung beizumessen, etwa es als „Objekt, an dem sich die tatbestandsmäßige Handlung vollzieht“366 zu definieren. Diese Umschreibung weist jedoch die UnzuSchönke / Schröder / Eisele, vor § 13 Rn. 9; Wessels / Beulke / Satzger, Strafrecht AT, Rn. 8. Zur Vergeistigung des Rechtsgutsbegriffs: Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 21 ff.; Graul, Präsumtionen, S. 41 ff.; Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter, S. 28 ff.; Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 67; Suhr, JA 1990, 303 (304). 362 In diese Richtung Jescheck / Weigend, Strafrecht AT, S. 260; Hettinger, JuS 1997, L 33 (35); NK / Hassemer / Neumann, vor § 1 Rn. 121; Schmidhäuser, Strafrecht AT, Studienbuch, Kap. 5 Rn. 30; Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT, § 8 Rn. 12; s. auch Baumann / Weber / Mitsch, Strafrecht AT, § 3 Rn. 18. 363 Zudem wird sich sich nicht für jedes Rechtsgut ein „körperliches oder materielles Substrat“ ermitteln können, wie das Beispiel der Willensfreiheit als Rechtsgut der Nötigung (§ 240 StGB) zeigt; s. Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT, § 8 Rn. 12; dem folgend Hirsch, FS Tiedemann, S. 145 (147); s. auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 200; Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 67. 364 Die Begrifflichkeit „Handlungsobjekt“ ist jedoch missverständlich, wie sich leicht illustrieren lässt. So können als Objekt einer Tötungshandlung sowohl deren Opfer als auch das verwendete Tatwerkzeug angesehen werden. Der Begriff des „Angriffsobjekts“ erscheint ebenfalls unpassend, denn häufig ist das Tatobjekt nicht Ziel eines strafbaren Angriffs. So ist die unechte Urkunde zwar Tatobjekt des § 267 StGB, nicht aber Gegenstand eines tatbestandsmäßigen Angriffs. Die Verwendung der Begriffe Handlungsobjekt und Angriffsobjekt ist folglich abzulehnen, da sie zu Missverständnissen und unrichtigen Folgerungen führen können und auch tatsächlich häufig führen. 365 s. auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 198 ff.; Beling, Die Lehre vom Verbrechen, S. 209 f.; M. E. Mayer, Der allgemeine Teil des deutschen Strafrechts, S. 97 f. 366 In diese Richtung Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 199 f.; Anatasopoulou, Deliktstypen, S. 54; Baumann / Weber / Mitsch, Strafrecht AT, § 3 Rn. 18; Ebert, Strafrecht AT, S. 1; Graul, Präsumtionen, S. 25; Jescheck / Weigend, Strafrecht AT,
II. Eigener Ansatz81
länglichkeit auf, dass bei vielen Tatbeständen nicht klar bestimmt werden kann, an welchem Objekt sich die Handlung tatbestandsmäßig vollzieht, wie sich leicht an den Ehrdelikten veranschaulichen lässt: vollzieht sich die Verleumdungshandlung (§ 187 StGB) an deren Adressaten, an der herabgewürdigten Person oder gar an der unwahren Tatsache? Des Weiteren können die producta sceleris nur mit Mühe als Objekte angesehen werden, an denen sich die tatbestandsmäßige Handlung vollzieht, weil sie erst durch diese hervorgebracht werden. Gleichwohl werden sie, wie das Beispiel des gefälschten Geldes bei § 146 StGB zeigt, üblicherweise als Handlungsobjekte angesehen.367 Um das Rechtsgut möglichst genau zu konturieren, erscheint es jedoch sinnvoll, das Tatobjekt als vom Rechtsgut abzugrenzendes Objekt so zu definieren, dass die Definition zum einen eindeutig und zum anderen mit möglichst vielen Tatbeständen kompatibel ist. Dies gelingt zumindest weitgehend,368 wenn entscheidend auf die grammatikalische Funktion des Satzobjekts abgestellt wird.369 Mit dem Rechtsgutsobjekt und dem Tatobjekt sind somit zwei Objekte beschrieben, die vom Rechtsgut abzugrenzen sind. Abgesehen von der Möglichkeit ihrer Heranziehung als Abgrenzungsbegriffe zum Rechtsgut ist ihre strafrechtsdogmatische Bedeutung eher gering. Der Begriff des Rechtsgutsobjekts kann ansonsten noch bei der Erläuterung des error in persona vel objecto herangezogen werden, der dementsprechend als Irrtum über das (konkrete) Rechtsgutsobjekt bezeichnet werden kann.370 Auch der Begriff des Tatobjekts ist in dogmatischer Hinsicht ebenfalls weitgehend entbehrlich, außer im Hinblick auf die terminologische Abgrenzung vom Rechtsgut.371 Vorschläge, das Tatobjekt für das bessere Verständnis von S. 259 f.; Maurach / Zipf, Strafrecht AT / 1, § 19 Rn. 14; Radtke, Die Dogmatik der Brandstiftungsdelikte, S. 68; Schmidhäuser, Strafrecht AT, Studienbuch, Kap. 5 Rn. 30; Schulenburg, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 244 (248); Sieber, Computerkriminalität, S. 255; Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT, § 8 Rn. 11; Wessels / Beulke / Satzger, Strafrecht AT, Rn. 8. 367 Vgl. Anatasopoulou, Deliktstypen, S. 55. Zum vergleichbaren Fall der Urkundenfälschung s. Baumann / Weber / Mitsch, Strafrecht AT, § 3 Rn. 18; Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT, § 8 Rn. 12. 368 Auch hier sind jedoch Einschränkungen möglich: so ergeben sich bei § 164 StGB zufällige Ergebnisse, da in Abs. 1 „der andere“ und in Abs. 2 „die Behauptung“ als Tatobjekt anzusehen wäre. 369 s. bereits Oppenheims (Objekte, S. 148, 154) Ausführungen zum „Definitionsobjekt“. 370 Oppenheim, Objekte, S. 165, der den Begriff des Handlungsobjekts auch im Zusammenhang mit dem untauglichen Versuch fruchtbar machen will (ebd., S. 163 f.). Auch Schmidhäuser (Schmidhäuser, Strafrecht AT, Studienbuch, Kap. 5 Rn. 29) sieht die Bedeutung des Begriffs „Rechtsgutsobjekt“ als gering an. 371 Vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 198 ff.; ders., in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 155 (167).
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B. Der Rechtsgutsbegriff
Rechtsproblemen fruchtbar zu machen, sind bei genauerer Untersuchung nicht tragfähig. So wird insbesondere die Unterscheidung von Verletzungsund Gefährdungsdelikten mitunter danach vorgenommen, ob der Tatbestand die Verletzung oder Gefährdung eines Handlungsobjekts voraussetzt.372 Stratenwerth und Kuhlen bemerken hierzu treffend: „Maßgebend kann aber nur sein, ob die Verwirklichung des Tatbestandes das geschützte Rechtsgut schon beeinträchtigt oder nur gefährdet. Sonst wäre die schwere Brandstiftung (§ 306a I Nr. 1), das Paradebeispiel eines (abstrakten) Gefährdungsdelikts, als Verletzungsdelikt zu klassifizieren.“373
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Rechtsgut vom Tatobjekt, dem grammatikalischen Satzobjekt, abzugrenzen ist. Ebenfalls zu differenzieren ist zwischen Rechtsgut und Rechtsgutsobjekt, wobei letzteres die Konkretisierung des Rechtsguts im Hinblick auf eine konkrete Person oder Sache darstellt. bb) Das gesetzgeberische Motiv Eine weitere Unterscheidung erscheint deutlich zielführender als die von Rechtsgut und Tatobjekt bzw. Rechtsgutsobjekt. Es handelt sich um die Abgrenzung des Rechtsguts vom gesetzgeberischen Motiv, die bereits Binding vorgenommen hat.374 Mit dem gesetzgeberischen Motiv sollen die Gründe bezeichnet werden, die den Gesetzgeber zur Erhebung eines Objekts zum Rechtsgut veranlasst haben. Das sind vor allem inhaltliche, aber auch gesetzestechnische Erwägungen wie die Praktikabilität einer Vorschrift. Anders ausgedrückt gibt das Rechtsgut Auskunft auf die Frage, was die Strafnorm schützt, das gesetzgeberische Motiv ist hingegen die Antwort auf die Frage, warum der Schutz durch die Strafnorm besteht. 372 Jakobs, Strafrecht AT, 6. Abschn. Rn. 78 f.; Roxin, Strafrecht AT / 1, § 10 Rn. 123 f.; a. A. (wie hier) Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 35 Rn. 32; Baumann / Weber / Mitsch, Strafrecht AT, § 8 Rn. 42 f.; Frister, Strafrecht AT, 3. Kap. Rn. 22 ff.; Graul, Präsumtionen, S. 37; Otto, Allgemeine Strafrechtslehre, § 4 Rn. 12 ff.; Radtke, Die Dogmatik der Brandstiftungsdelikte, S. 23 f., 68 ff.; Schulenburg, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 244 (250 f.); SK / Wolters, vor § 306 Rn. 4, 15; SSW / Kudlich, vor § 13 Rn. 25 f. Uneinheitlich in den Begrifflichkeiten: Jescheck / Weigend, Strafrecht AT, S. 263 f.; Krey / Esser, Strafrecht AT, Rn. 221 ff.; Rengier, Strafrecht AT, § 10 Rn. 8 ff.; Schönke / Schröder / Eisele, vor § 13 Rn. 129. Weiterer Ansatz bei Kindhäuser, Strafrecht AT, § 8 Rn. 20 ff. 373 Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT, § 8 Rn. 14. Die hieran geübte Kritik (Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 57) suggeriert eine Divergenz, die tatsächlich nicht besteht, denn Anastasopoulous Ausführungen bestätigen ja gerade, dass es sich um eine terminologische Verwirrung handelt. 374 s. dazu B. I. 2.
II. Eigener Ansatz83
In der Dogmengeschichte des Rechtsgutsbegriffs wird die Differenzierung von gesetzgeberischem Motiv und Rechtsgut zwar immer wieder vorgenommen. Zumeist erfolgt dies jedoch eher beiläufig, ohne dass die Tragweite der Unterscheidung erkannt würde. Teilweise erfolgt die Einführung der Begrifflichkeit ohne Bezugnahme auf frühere Quellen, sodass man annehmen darf, dass den Autoren nicht bewusst ist, dass die Unterscheidung bereits anderweitig getroffen wurde. Dementsprechend hat sich die Abgrenzung von gesetzgeberischem Motiv und Rechtsgut bislang nicht in der Strafrechtswissenschaft etablieren können. Bereits früh wurde die Abgrenzung in Anlehnung an Binding von Finger vorgenommen. Er warnte „vor dem Irrthume der Verwechslung der Motive, denen die Norm entspringt, mit dem Objekt der verbrecherischen Hand lung“.375 Als Objekt des Verbrechens betrachtete er wiederum die Norm, beispielsweise das Tötungsverbot.376 Er betonte, dass man in das Verbrechen, also die Normverletzung, „nicht ein gesetzgeberisches Motiv der Erlassung einer bestimmten Norm hineintragen“ dürfe.377 Dabei bezog er sich auf die von ihm abgelehnten Bemühungen, das Rechtsgut in „Interessen“ zu erblicken.378 Der Motivbegriff wurde auch später wiederholt bemüht, um zu begründen, dass das Interesse am Unterbleiben einer Handlung nicht als Schutzobjekt angesehen werden könne, weil das Interesse lediglich Normmotiv sei.379 So begründet Otto ohne ausdrückliche Bezugnahme auf frühere Quellen seine Auffassung, dass Rechtsgut des Diebstahlstatbestands „die tatsächliche mittelbare und unmittelbare Sachherrschaftsbeziehung“ und nicht die „verschiedenen Interessen des Rechtssubjekts am Haben der Sache“ sind, damit, dass letztere „nur Motiv des gesetzlichen Schutzes“ seien.380 Hier zeigt sich exemplarisch, dass der Begriff des Motivs häufig381 375 Finger,
GS 40 (1888), S. 139 (151). Finger, GS 40 (1888), S. 139 (153 f.). 377 Finger, GS 40 (1888), S. 139 (153). 378 Finger, GS 40 (1888), S. 139 (153); später aufgegeben bei ders., Lehrbuch, Bd. 1, S. 102 f., möglicherweise infolge der harschen Kritik von Keßler, GS 40 (1888), 580 (585 ff.); dazu Honig, Einwilligung, S. 72 Fn. 59. 379 Gerland, GS 59 (1901), 81 (96); Oppenheim, Objekte, S. 45; Jäger, Strafgesetzgebung, S. 11. 380 Otto, in Müller-Dietz, Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, S. 1 (7 f.). Hervorhebung hinzugefügt. 381 Mit einer anderen Zielrichtung und Inhaltsbestimmung wurde der Begriff des Motivs von Beling (Die Lehre vom Verbrechen, S. 213 f.) eingeführt, der das „legislatorische“ bzw. „normmotivierende“ vom „normmäßigen“ Schutzobjekt unterschied. Er bemerkte dabei offenbar nicht die anderweitige Begriffsverwendung durch Finger und Binding. Er meinte mit seiner Differenzierung – in der heute üblichen Begrifflichkeit – den Unterschied zwischen dem Rechtsgut und dem Tatobjekt beim abstrakten Gefährdungsdelikt (vgl. auch die Kritik bei Honig, Einwilligung, S. 72 Fn. 59). Über376 Vgl.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
dazu verwendet wird, um die Ablehnung von Rechtsgutsdefinitionen zu begründen, die von der eigenen Vorstellung abweichen. Dies geschieht, indem das von anderen Strafrechtswissenschaftlern als Rechtsgut Bezeichnete zum bloßen Motiv „degradiert“ wird.382 Positiv gewendet zeigt sich, dass der Begriff des Motivs dabei helfen kann, das Rechtsgut zu präzisieren, indem es von ähnlichen Sachverhalten (eben den gesetzgeberischen Motiven) abgegrenzt wird. Die Möglichkeit und die Notwendigkeit, das Rechtsgut von den Motiven abzugrenzen, ergeben sich daraus, dass es möglich ist, eine Vielzahl an Gründen für die Pönalisierung eines bestimmten Verhaltens anzugeben. Mit jeder Strafnorm werden zahlreiche Schutzzwecke verfolgt, die hinsichtlich ihrer Begründungstiefe unterschieden werden können. Das gerät leicht aus dem Blick, da bei vielen Strafnormen kein Anlass dazu besteht, tiefer nach Gründen der Pönalisierung zu forschen. So wird nicht hinterfragt, warum eigentlich das Leben geschützt wird, sondern dies erscheint uns vielmehr richtig und selbstverständlich, eben als nicht weiter begründungsbedürftig.383 Die Frage, warum das Töten eines anderen Menschen eigentlich verboten ist, dürfte, wenn sie denn gestellt würde, in aller Regel Erstaunen und Gegenfragen auslösen. Ähnliches gilt für die Frage, warum die Körperverletzung strafbar ist. Hier wird es leichter fallen, Antworten zu finden: so kann man auf das Schmerzempfinden, die Beeinträchtigung des Wohlbefindens (beispielsweise bei der Beibringung von Gift), auf die Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten (beispielsweise bei einem gebrochenen Arm) oder ästhetische Entstellungen abstellen. Außerdem sind Begründungen unter Bezugnahme auf die Störung des Rechtsfriedens oder auf die Verstärkung der Gewaltneigung in der Gesellschaft durch Vorbild- und Nachahmeffekte möglich.384 Diese exemplarische Aufzählung verdeutlicht die Vielfältigkeit der Motive, die einen Gesetzgeber dazu veranlassen, die Körperverletzung unter Strafe zu stellen. setzt man die Begriffe in dieser Weise, so wird verständlich, warum Beling dem normmotivierenden Schutzobjekt, also in der heutigen Lesart dem Rechtsgut, Bedeutung für „die Gruppierung der Verbrechen“ und die „Auslegung des Tatbestandes und der Norm“ beimaß (ebd., S. 215). In ähnlicher Weise wie Beling verwendete Hellmuth Mayer den Begriff des Motivs zur Kennzeichnung der Rechtsgüter, indem er von den „normmotivierenden Rechtsgütern“ sprach, die er von den „Schutzobjekten“ abgrenzte (H. Mayer, Strafrecht AT (1953), S. 53; nicht mehr so deutlich erkennbar sind die Gedanken bei ders., Strafrecht AT (1967), S. 52). 382 Vgl. auch die Verwendung bei Kuhlen, FS Lampe, S. 743 (749). 383 Die Grenzen des Lebensschutzes seien an dieser Stelle außer Betracht gelassen. 384 Außerdem ist eine Bezugnahme auf wieder andere Normensysteme (beispielsweise religiöse oder ethische Gebote) möglich, bei denen wiederum nach den Gründen für die Normaufstellung gefragt werden kann.
II. Eigener Ansatz85
Bei näherer Untersuchung der einzelnen Motive fällt allerdings auf, dass keines für sich genommen das gesamte Spektrum strafbarer Körperverletzungen erklären kann. So setzt § 223 StGB weder die Zufügung von Schmerzen noch Beeinträchtigungen des körperlichen Wohlbefindens voraus, denn auch das Abschneiden von Haaren ist strafbar.385 Desgleichen sind das Zufügen eines kleinen Hämatoms und die Verabreichung einer Ohrfeige tatbestandsmäßig, obwohl die Handlungsmöglichkeiten des Opfers durch diese Handlungen nicht eingeschränkt werden. Auch müssen die Folgen einer Körperverletzung nicht sichtbar sein, sodass eine Entstellung des Opfers keine Voraussetzung für die Tatbestandsverwirklichung ist. Schließlich werden durch eine Gewalttat in Privaträumen als solche keine Interessen der Gesellschaft tangiert, weil und solange sie nicht publik wird (vgl. auch § 230 StGB). Der hier am Beispiel der Körperverletzung dargestellte Befund lässt sich verallgemeinern: Es gibt stets vielfältige Motive für den Erlass einer Strafvorschrift, sodass besser von einem Motivbündel gesprochen wird. Die einzelnen Motive begründen für sich allein genommen jeweils nicht die Pönalisierung, weil sie nicht alle der Strafnorm unterfallenden Fallgestaltungen erfassen.386 Damit deutet sich bereits an, was demnach in Abgrenzung hiervon das Rechtsgut auszeichnet: mit dem Rechtsgut werden alle nach der jeweiligen Vorschrift strafbaren Verhaltensweisen erfasst, in dem Sinne dass jede danach strafbare Verhaltensweise das Rechtsgut gefährdet beziehungsweise verletzt.387 So erfassen die beiden Rechtsgüter des § 223 StGB körperliche Unversehrtheit und Gesundheit388 sämtliche nach dieser Vorschrift strafbaren Verhaltensweisen.389 Wohlgemerkt geben die Begriffe körperliche Unversehrtheit und Gesundheit dabei keine Auskunft darüber, warum die Körperverletzung strafbar ist, sondern nur darüber, was vor Verletzung oder Gefährdung geschützt ist.390 Entsprechendes gilt für andere Rechtsgüter, wie für die Rechtsgüter Leben, Fortbewegungsfreiheit und Ehre, aber auch für die Sicherheit des Straßenverkehrs als häufig genanntes Rechtsgut des § 316 StGB391 oder die Rechtspfleauch Schroeder, FS Hirsch, S. 725 (727). die Ausführungen Amelungs (ZStW 98 [1986], 355 [365 ff. u. 403 f.]) zu den verschiedenen „Interessen“, die der Tatbestand des Hausfriedensbruchs schützt, die indes nicht das Rechtsgut des § 123 StGB darstellen. 387 Dazu näher B. II. 1. b) bb). 388 Dazu eingehend Schroeder, FS Hirsch, S. 725 ff. 389 s. aber auch Bloy, FS Eser, S. 233 (236); Eser, ZStW 97 (1985), 1 (17 f.); Tolmein, KritV 1998, 52 (62 f.); Tag, Körperverletzungstatbestand, S. 91 f. 390 Vgl. Hettinger, JuS 1997, L 33 (35): beim Rechtsgut gehe es darum, „sich klar zu machen, was in den Tatbeständen geschützt wird.“ 391 So etwa BayObLG, NZV 1992, 453; OLG München NZV 2006, 277 (278); BeckOK / Kudlich, § 316 Rn. 2; Fischer, StGB, § 316 Rn. 2 f.; MK / Pegel, § 316 385 s.
386 Vgl.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
ge, die von der herrschenden Meinung als Rechtsgut der Aussagedelikte angesehen wird.392 Die vorstehenden Ausführungen dürfen nicht dahingehend missverstanden werden, dass anhand der Fragen, „warum“ und „was“ geschützt wird, Rechtsgut und Motiv eindeutig bestimmt werden können. Die Frage, warum die Körperverletzung strafbar ist, könnte schließlich sprachlich korrekt auch so beantwortet werden: weil sie die körperliche Unversehrtheit und / oder Gesundheit beeinträchtigt.393 Umgekehrt könnte die Schmerzfreiheit zwanglos als Gegenstand des Schutzes bezeichnet werden. Vielmehr können Rechtsgut und gesetzgeberische Motive nur ausgehend von einer (dementsprechend mithilfe anderer Kriterien zu ermittelnden) Rechtsgutsbestimmung unterschieden werden. Steht das Rechtsgut fest, so können die weiteren Überlegungen des Gesetzgebers bei der Normsetzung als gesetzgeberische Motive bezeichnet werden. Die gesetzgeberischen Motive haben nur eine eingeschränkte Relevanz für die Rechtsanwendung, denn grundsätzlich sind die gesetzgeberischen Motive bei der Gesetzesauslegung nur insoweit relevant, als sie sich im Gesetz niedergeschlagen haben. Im Rahmen der durch den Gesetzeswortlaut gesetzten Grenze (Art. 103 Abs. 2 GG) können sie allerdings insbesondere über die Methode der historischen und der teleologischen Auslegung Bedeutung für die Rechtsanwendung erlangen.394 Neben den Motiven des historischen Gesetzgebers können dabei auch die vom heutigen Rechtsanwender Rn. 1; LK / König, § 316 Rn. 3; Lackner / Kühl, § 316 Rn. 1; NK / Zieschang, § 316 Rn. 11; Rengier, Strafrecht BT / II, § 43 Rn. 1; Schönke / Schröder / Sternberg-Lieben / Hecker, § 316 Rn. 1; SSW / Ernemann, § 316 Rn. 1; a. A. Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter, S. 140; Schünemann, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 133 (152); SK / Wolters, § 316 Rn. 2; s. auch SK / Wolters, vor § 306 Rn. 1a. 392 s. nur BGHSt 8, 301 (309); 10, 142 (143); BeckOK / Kudlich, § 153 Rn. 1; Fischer, StGB, vor § 153 Rn. 2; Kindhäuser, Strafrecht BT I, § 46 Rn. 1; Lackner / Kühl, vor § 153 Rn. 1; LK / Ruß, vor § 153 Rn. 2 ff.; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 2, § 75 Rn. 9 ff.; Schönke / Schröder / Lenckner / Bosch, vor § 153 Rn. 2; SK / Rudolphi, vor § 153 Rn. 2 ff.; SSW / Sinn, § 153 Rn. 2; Wessels / Hettinger, Strafrecht BT / 1, Rn. 738; s. auch Kargl, GA 2003, 791 (806 f.); MK / Müller, vor § 153 Rn. 7 ff.; NK / Vormbaum, vor § 153 Rn. 1 ff. 393 So ist es zu verstehen, wenn Binding (Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, S. 357) das Werturteil, aufgrund dessen etwas zum Rechtsgut erhoben wird, als „einzige[s] Motiv gesetzgeberischen Rechtsschutzes“ bezeichnet. Ihm folgend: Honig, Einwilligung, S. 63 u. 109. Ebenfalls Schutzobjekt und Motiv des Normerlasses gleichsetzend: Hirschberg, Schutzobjekte, S. 35 u. 45. Im aktuellen Schrifttum bezeichnet B. Heinrich (Strafrecht AT I, Rn. 5) die zu schützenden Rechtsgüter als „Motivation des Gesetzgebers“. 394 Verkürzend deshalb Bohnert, JuS 1984, 182 (184).
II. Eigener Ansatz87
im Hinblick auf die Vorschrift für maßgeblich erachteten Erwägungen herangezogen werden. Dementsprechend kann auch nach historischen und aktuellen gesetzgeberischen Motiven differenziert werden. Diese Unterscheidung kommt in der Rechtstheorie bei der Abgrenzung von objektiver und subjektiver Auslegung zum Tragen,395 soll hier aber nicht weiter vertieft werden. Festzuhalten bleibt, dass die gesetzgeberischen Motive nicht mit dem geschützten Rechtsgut verwechselt werden dürfen. Mit letzterem wird auf den Punkt gebracht, was die Strafnorm schützt, während erstere die Erwägungen bezeichnen, die den Gesetzgeber zur Schaffung der Strafnorm veranlasst haben. cc) Die „ratio legis“ Der Begriff der „ratio legis“ wird nicht einheitlich verwendet.396 Zugleich werden das Rechtsgut (in seiner systemimmanenten Funktion) und die ratio legis häufig gleichgesetzt.397 Im Hinblick auf die dadurch drohenden Missverständnisse ist es wichtig, die Begriffskonturen zu schärfen und die möglichen Bedeutungsunterschiede zu verdeutlichen. Neben der Heranziehung als Synonym des Rechtsguts, wird der Begriff der ratio legis bei der Darlegung oder Zusammenfassung der Erwägungen, die für die Pönalisierung eines bestimmten Verhaltens sprechen, also der gesetzgeberischen Motive (s. dazu den vorangegangenen Abschnitt), verwendet. Außerdem wird die paraphrasierende Wiedergabe des Gesetzesinhalts häufig als ratio legis bezeichnet. Dass die ratio legis sowohl eng als Synonym des Rechtsguts als auch weit verstanden werden kann, belegt die historische Diskussion um diesen Begriff. Als Schwinge das Rechtsgut mit dem Zweck des Rechtssatzes beziehungsweise der ratio legis und dieses wiederum mit dem Motiv gleichsetzte,398 wurde er von den Vertretern der Kieler Schule darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber mit dem Strafrecht mehr als nur Rechtsgüter395 Dazu Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 434 ff.; Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 137 ff.; Schönke / Schröder / Eser / Hecker, § 1 Rn. 41 ff.; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, S. 29 f. 396 s. auch Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, S. 471 ff. 397 So bei Baumann / Weber / Mitsch, Strafrecht AT, § 3 Rn. 15; Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 4. 398 Schwinge, Der Zweckgedanke im Strafrecht, S. 22 unter Bezugnahme auf Honig, Einwilligung, S. 94. Der Begriff findet sich auch – von der späteren Literatur weitgehend unbemerkt geblieben – bei Keßler, GS 39 (1887), 94 (121): „Es steckt in dem Gute die objectivirte ratio legis, der Grund, weshalb das Verbotene als einem Interesse zuwiderlaufend angesehen wird.“ (Hervorhebung im Original); s. auch Trops, Begriff und Wert eines Verwaltungsstrafrechts, S. 54.
88
B. Der Rechtsgutsbegriff
schutz bezwecke.399 Sie nahmen dabei auf Heglers Differenzierung von Normzwecken Bezug, der zwischen „mehr formalteleologischen und mehr material-teleologischen Gesichtspunkten“400 differenziert hatte.401 Daran anschließend schrieb Dahm in seiner Besprechung von Schwinges Schrift: „Nun ist zweifellos richtig, daß der Gesetzgeber das „Rechtsgut“, das Vermögen usw. schützen will, doch ist das keineswegs das einzige Leitmotiv. Vielmehr sieht der Gesetzgeber sich einer Vielheit widerstreitender Interessen gegenüber, die er in Einklang zu bringen sucht.“402
Schaffstein als weiterer Vertreter der Kieler Schule nahm ergänzend auf die Interessenjurisprudenz Hecks Bezug, die das Gesetz als „Kraftdiagonale ringender Faktoren“ und den einzelnen Rechtsbegriff als Resultante eines Interessenkonflikts begreift.403 Die Bezeichnung des Rechtsgüterschutzes als Normzweck sah er demnach als verkürzende Betrachtung an, weil der Gesetzgeber daneben weitere Zwecke mit dem Normerlass verfolge. Diese Kritik führte zur Aufweichung des Rechtsgutsbegriffs durch die Vertreter der Marburger Schule. So bezeichneten Schwinge und Zimmerl in einer Replik den „steten Hinweis des Richters auf Zweck und Schutzaufgabe der gesetzlichen Vorschriften, m.a.W. die Gesamtheit aller Gesichtspunkte, die ihre Schaffung veranlaßt haben“ als „Eigenart des modernen Rechtsgutsdenkens im Strafrecht.“404 Damit weichten sie den Rechtsgutsbegriffs jedoch dermaßen auf, dass sie – mit Amelungs Worten405 – über ihn das „Todesurteil“ fällten. Auch in späteren Beiträgen zeigt sich die Möglichkeit der Differenzierung zwischen ratio legis und Rechtsgut, wie exemplarisch an den Ausführungen Jägers zur Strafbarkeit der Zuhälterei illustriert werden 399 Dahm, MSchrKrim 22 (1931), 763 (764 ff.); Schaffstein, FS Schmidt, S. 47 (55 f. u. 59 ff.); s. dazu Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 135 f. 400 Hegler, ZStW 36 (1916), 19 (20, Fn. 4). 401 Dabei passte der Verweis auf Hegler nicht genau, denn jener hatte etwas anderes als die Differenzierung zwischen Rechtsgut und gesetzgeberischem Motiv gemeint. Er hatte vielmehr auf die Unterscheidung von formalen Erwägungen des Gesetzgebers wie „Rechtssicherheit, Rechtsgleichheit, Billigkeit, Praktikabilität, Verständlichkeit, Kontinuität“ und konkret auf eine Vorschrift bezogenen materiellen Überlegungen aufmerksam machen wollen. Vgl. Hegler, ZStW 36 (1916), 19 (20, Fn. 4). 402 Dahm, MSchrKrim 22 (1931), 763 (765); s. auch den Hinweis von Gallas (Beiträge zur Verbrechenslehre, S. 9), dass die komplexen Erwägungen, die Gründe und Grenzen der Strafbarkeit eines Verhaltens bestimmen, nicht vollständig erfasst werden, wenn der Normzweck im Schutz eines Rechtsguts erblickt wird. 403 Schaffstein, FS Schmidt, S. 47 (56 u. 59) im Anschluss an Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 46. 404 Schwinge / Zimmerl, Wesensschau und konkretes Ordnungsdenken im Strafrecht, S. 69 f. 405 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 136.
II. Eigener Ansatz89
soll. So wies Jäger darauf hin, dass die Strafbarkeit der Zuhälterei zwar unter Umständen mit der Brutalität der Zuhälter und der erfahrungsgemäß hohen Kriminalität im Rotlichtmilieu begründet werden könne, diese Argumente (ratio legis) hingegen nicht das Rechtsgut einer entsprechenden Strafnorm seien.406 Nach alledem bleibt festzuhalten, dass es in Abhängigkeit von der Weite des Begriffsverständnisses zwei Möglichkeiten gibt, den Terminus der ratio legis zu deuten. In einem eng verstandenen Sinn meinen Rechtsgut und ratio legis beziehungsweise Normzweck dasselbe.407 Bei einer weiten Begriffsverwendung hingegen ist mit der ratio legis das Motivbündel gemeint, in dem sämtliche den Gesetzgeber beim Normerlass bestimmenden Erwägungen zusammengefasst werden. Beide Begriffe stehen miteinander in Zusammenhang, denn die im Begriff der ratio legis (im weiteren Sinn) gebündelten Erwägungen haben den Gesetzgeber zum Schutz eines Rechtsguts (ratio legis im engeren Sinn) veranlasst. So verstanden, kann das Rechtsgut als „Produkt von Güterabwägungen“ bezeichnet werden.408 Die zweite häufig anzutreffende Verwendung des Begriffs der ratio legis findet sich bei der paraphrasierenden Wiedergabe des Gesetzesinhalts, so wenn es als ratio legis des § 174 StGB (a. F.) bezeichnet wird, das Überwachungs- und Betreuungsverhältnis von geschlechtlichen Einflüssen reinzuhalten und die geschlechtliche Unantastbarkeit der abhängigen Personen vor Angriffen zu schützen.409 Der dogmatische Ertrag einer solchen Gesetzesparaphrase unter dem Begriff der ratio legis ist gering. Für die nähere Konturierung des systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs erscheint es jedoch wichtig zu bemerken, dass dieser nicht stets mit der ratio legis gleichgesetzt werden kann, weil mit jener mitunter bloß die Zusammenfassung des Gesetzesinhalts gemeint ist.410 Es zeigt sich also, dass der Begriff der ratio legis in unterschiedlicher Weise verwendet wird, teilweise auch als Synonym für das Rechtsgut. Bei beiden Begriffen herrscht nicht die wünschenswerte terminologische Klarheit, jedoch erscheint wegen der größeren Gebräuchlichkeit der Rechtsgutsbegriff vorzugswürdig.411 406 Jäger,
Strafgesetzgebung, S. 14. auch Baumann / Weber / Mitsch, Strafrecht AT, § 3 Rn. 15; Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 4. 408 Arzt, Kriminalistik 1981, 117 (118). 409 Vgl. Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, S. 472 mit Hinweis auf BGHSt 7, 48 (52), wo allerdings vom „Grundgedanken“ des § 174 StGB gesprochen wird. 410 Eine ähnliche Begriffsverwendung findet sich bei Kienapfel (JURA 1983, 185 [188]), wenn er den Echtheitsschutz als ratio der Urkundenfälschung, den Bestandsschutz hingegen als ratio der Urkundenunterdrückung bezeichnet. 411 s. auch Hirsch, FS Spinellis, S. 425 (445, Fn. 67). 407 Vgl.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
b) Die Konstruktion des Rechtsguts Nachdem der Rechtsgutsbegriff nun negativ abgegrenzt wurde, indem dargestellt wurde, was das Rechtsgut nicht ist, gilt es in weiterem Schritt Kriterien für die Konturierung des systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs zu finden. Wie bereits dargelegt wurde,412 erscheint es im Hinblick auf die Vielgestaltigkeit der Strafgesetze unmöglich, eine auf alle Strafnormen passende präzisere inhaltliche Definition des Rechtsguts zu formulieren. Mit jeder stärker inhaltlich aufgeladenen Formulierung liefe man Gefahr, für einzelne Strafnormen die Bestimmung des Rechtsguts unmöglich zu machen. Damit würde die Grundlage dafür geschaffen, die Legitimation der Norm, für die kein definitionsgemäßes Rechtsgut bestimmt werden kann, in Frage zu stellen, und der Rechtsgutsbegriff mit einem kriminalpolitischen Gehalt angereichert. Nur bei einer floskelhaften und damit letztlich ebenfalls inhaltsleeren Definition des Rechtsgutsbegriffs ließe sich dieser Gefahr vorbeugen. Vor diesem Hintergrund kann inhaltlich der Rechtsgutsbegriff nur dahingehend erläutert werden, dass mit ihm bezeichnet wird, was von einer Strafnorm vor Verletzung oder Gefährdung geschützt wird. Dass der Rechtsgutsbegriff nicht weiter inhaltlich präzisiert wird, hindert indes nicht die Begriffseingrenzung in formaler Hinsicht. So kann im Anschluss an Hirschberg413 gefragt werden, wie die Rechtsgüter konstruiert werden sollen. Die Präzisierung der Konstruktionsregeln für die Rechtsgüter der Strafnormen ist notwendig, um die Rechtsgüter einzelner Strafnormen zu ermitteln, denn erst die Kenntnis der Struktur der Antwort ermöglicht es, die Frage nach dem geschützten Rechtsgut präzise zu beantworten.414 Das Ziel der Aufstellung von Konstruktionsregeln ist es, dass die Rechtsgüter für alle Strafnormen formal einheitlich formuliert werden.415 Dies ist wichtig, um allgemeingültige dogmatische Aussagen unter Bezugnahme auf den Rechtsgutsbegriff treffen zu können. Dass die Notwendigkeit einer formal einheitlichen Formulierung der Rechtsgüter besteht, kann im Hinblick auf die Verwirrung, die die bisherige begriffliche Vielfalt gestiftet hat, kaum bezweifelt werden. Die Konstruktionsregeln für die Rechtsgüter sind nicht aus übergeordneten Regeln ableitbar. Sie werden einerseits von der Zielsetzung beeinflusst, 412 Sub
B. II. 1.
413 Hirschberg,
Schutzobjekte, S. 45 f. Zusammenhang dieser miteinander verbundenen Fragen vgl. auch Hirschberg, Schutzobjekte, S. 13. 415 Vgl. Hirschberg, Schutzobjekte, S. 46. Kritisch zur „inhaltlichen und formalen Willkür“, bei den Formulierungen, mit denen Rechtsgüter beschrieben werden: Balog, Kriminalsoziologische Bibliographie 1981, Heft 31, 51 (61). 414 Zum
II. Eigener Ansatz91
das Rechtsgut für die Tatbestandsauslegung fruchtbar zu machen. Andererseits ergeben sie sich aus dem Konsens über die Bezeichnung von Rechtsgütern, der sich in der Strafrechtswissenschaft ergeben hat, ohne dass er als solcher expliziert wird. Daher kann sich die Aufstellung der Konstruktionsregeln daran orientieren, wie Rechtsgüter in Kommentaren und Lehrbüchern zum Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs üblicherweise formuliert werden.416 Dies kann jedoch nur als grober Orientierungspunkt dienen, denn es fehlt gerade an durchgängig eingehaltenen Regeln, die in der Dogmatik des Besonderen Teils bei der Konstruktion der Rechtsgüter beachtet werden. Stets muss also damit gerechnet werden, dass eine als Beleg für eine Konstruktionsregel herangezogene Rechtsgutsbestimmung ihrerseits nicht überzeugend gewählt ist. Dies soll anhand der Bestimmung des Rechtsguts des Hausfriedensbruchs (§ 123 StGB) illustriert werden, das ganz überwiegend im „Hausrecht“ gesehen wird.417 Ohne hier die inhaltliche Richtigkeit dieser Rechtsgutsbestimmung zu beurteilen, fällt in formaler Hinsicht auf, dass das Rechtsgut als „Recht“ konstruiert wird. Damit wird die bedeutende Erkenntnis Birnbaums ignoriert, dass die Strafnormen nicht Rechte, sondern Rechtsgüter schützen, da Rechte gerade unverletzlich sind.418 Der Bestand des Hausrechts bleibt doch davon unberührt, dass in die Wohnung eingedrungen wird! Ansonsten könnten nicht Polizei und Gerichte mit dem Ziel der Durchsetzung des Hausrechts eingeschaltet werden. Dementsprechend bezeichnete etwa Oppenheim den Hausfrieden als Schutzobjekt (Rechtsgut) des § 123 StGB.419 Aus anderen Gründen, aber ebenfalls in formaler Hinsicht richtiger, wird das Rechtsgut des Hausfriedensbruchs mitunter als „physisch gesicherte Territorialität“420 oder als „die dem Hausrechtsinhaber zustehende Herrschaftsmacht“421 bezeichnet. Dies vorausgeschickt, soll im Folgenden versucht werden, Konstruktionsregeln für die Rechtsgutsbestimmung aufzustellen. 416 s. auch Hirschberg, Schutzobjekte, S. 69; dazu Devrient, Analyse der Verbrechensobjekte, S. 35 ff. 417 s. nur Fischer, StGB, § 123 Rn. 2; Eisele, Strafrecht BT I, Rn. 657; Krey / Hellmann / Heinrich, Strafrecht BT / 1, Rn. 519; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 1, § 30 Rn. 2; Rengier, Strafrecht BT / II, § 30 Rn. 1; Schönke / Schröder / Sternberg-Lieben, § 123 Rn. 1 f.; SSW / Fahl, § 123 Rn. 1; Wessels / Hettinger, Strafrecht BT / 1, Rn. 573; s. auch eingehend SK / Rudolphi / Stein, § 123 Rn. 1 ff. 418 Vgl. Birnbaum, Archiv des Criminalrechts, Neue Folge, 1834, 149 (172). 419 Oppenheim, Objekte, S. 267; auch Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 8 Rn. 7. Gegen eine solche Bezeichnung des Rechtsguts hingegen NK / Ostendorf, § 123 Rn. 5. 420 Amelung, ZStW 98 (1986), 355 (403); ders., in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 155 (178); dem folgend auch LK / Lilie, § 123 Rn. 1. 421 Hirsch, FS Spinellis, S. 425 (443).
92
B. Der Rechtsgutsbegriff
aa) Sprachliche Fassung Zunächst erscheint es hilfreich, sprachliche Anforderungen an die Formulierung des Rechtsguts zu stellen. Insoweit hat Hassemer drei wesentliche Punkte hervorgehoben: danach soll das Rechtsgut realitätsnah, abgrenzend scharf und allgemein verständlich formuliert sein.422 Zwar formuliert er diese Anforderungen auf der Grundlage eines kriminalpolitischen Rechtsgutsverständnisses, allerdings können sie ohne Veränderung übernommen werden, weil sie auf das allgemeingültige Gebot der sprachlichen Klarheit und Verständlichkeit abzielen.423 bb) Das Rechtsgut als umfassender Begriff Die wichtigste Konstruktionsregel besteht darin, dass das Rechtsgut so gefasst wird, dass alle tatbestandsmäßigen Handlungen eine Verletzung oder Gefährdung desselben darstellen. Verletzt oder gefährdet ein tatbestandsmäßiges Verhalten nicht das vermeintliche Rechtsgut, so ist die Begriffsbestimmung zu korrigieren. Langer hat dies in seiner Arbeit zur falschen Verdächtigung wie folgt formuliert: „Entgegen einer verbreiteten Ansicht sind nämlich solche Gutsverletzungen, die nur häufig oder vielleicht regelmäßig, aber eben nicht notwendig bei einem Delikt eintreten (wie z. B. Vermögensschäden als Folgen einer schweren Körperverletzung [§ 224]), für die Frage nach dem Schutzobjekt der betreffenden Strafvorschrift irrelevant.“424
Diese Regel wird bei den „anerkannten“ Rechtsgütern durchgehend beachtet: ein Mord oder Totschlag ohne Verletzung des Lebens ist ebenso wenig möglich wie eine Freiheitsberaubung ohne Verletzung der Freiheit oder eine Beleidigung ohne Ehrverletzung. Zudem spielt diese Regel bei rechtsdogmatischen Auseinandersetzungen über die zutreffende Rechtsgutsbestimmung eine erhebliche Rolle. So zeugen etwa die Ausführungen Schroeders zum Rechtsgut der Körperverletzungsdelikte von den Bemühungen, einen alle strafwürdigen Körperverletzungshandlungen erfassenden Begriff zu finden.425 422 Hassemer, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 57 (64). Zustimmend Pragal, Korruption, S. 136. 423 LK / Weigend, Einl. Rn. 4 plädiert auf der Grundlage eines kriminalpolitischen Rechtsgutsbegriffs dafür, die betroffenen Interessen beim Namen zu nennen, „anstatt sie hinter blumigen, letztlich nichtssagenden Worten zu verstecken“. Für eine klare Konturierung der Rechtsgüter auch Beckemper, ZIS 2011, 318; Krüger, Entmaterialisierungstendenz, S. 107. 424 Langer, Die falsche Verdächtigung, S. 35. 425 Schroeder, FS Hirsch, S. 725 ff.
II. Eigener Ansatz93
Die genannte Konstruktionsregel kann mitunter nur beachtet werden, indem mehrere Rechtsgüter für einen Straftatbestand bestimmt werden. Das ist dann der Fall, wenn derart verschiedene Verhaltensweisen durch die Strafnorm pönalisiert sind, dass sie sich nicht sinnvoll unter einem Begriff zusammenfassen lassen. Auch hier geben die Ausführungen Schroeders zum Rechtsgut der Körperverletzung ein anschauliches Beispiel, denn weder können sämtliche strafbaren Körperverletzungshandlungen allein als Gefährdung oder Verletzung der körperlichen Unversehrtheit noch allein als Gefährdung oder Verletzung der Gesundheit erfasst werden.426 Hieraus ergibt sich, dass sowohl die körperliche Unversehrtheit als auch die Gesundheit als geschützte Rechtsgüter des § 223 StGB aufzufassen sind, mag man sie auch unter dem Überbegriff des „körperlichen Wohls“ zusammenfassen.427 Die Konstruktionsregel, dass das Rechtsgut sämtliche tatbestandsmäßigen Verhaltensweisen erfassen muss, setzt allerdings die Kenntnis des nach einer Vorschrift Strafbaren voraus. Eben dies soll jedoch häufig gerade unter Zuhilfenahme des geschützten Rechtsguts ermittelt werden. So deutet sich bereits an dieser Stelle ein logischer Zirkel an, der darin besteht, dass die Bestimmung der nach einer Vorschrift strafbaren Verhaltensweisen und des Rechtsguts wechselseitig voneinander abhängen. Auf dieses Problem wird noch vertieft einzugehen sein.428 cc) Das Rechtsgut als möglichst eng gefasster Begriff Ließe man es bei der vorstehend formulierten Konstruktionsregel bewenden, wären sehr weit gefasste Rechtsgutsformulierungen die Folge. So könnten bei wohl allen Strafnormen „die Rechtsordnung“ oder „das Wohlergehen der Mitmenschen“ als Rechtsgut angesehen werden.429 Um solche weiten und damit wenig aussagekräftigen Rechtsgüter zu vermeiden, ist als gegenläufige Konstruktionsregel zu beachten, dass das Rechtsgut zwar alle tatbestandsmäßigen Verhaltensweisen erfassen, gleichwohl aber möglichst 426 Schroeder,
FS Hirsch, S. 725 (734). ZStW 97 (1985), 1 (3 ff.); LK / Lilie (11. Aufl.), vor § 223 Rn. 1; MK / Joecks, § 223 Rn. 1; NK / Paeffgen, § 223 Rn. 2; Schönke / Schröder / Eser, § 223 Rn. 1; SK / Horn / Wolters, § 223 Rn. 3. 428 Näher unter B. II. 2. 429 Vgl. Bloy, FS Eser, S. 233 (249); Jacobi, Kapitalanlagebetrug, S. 24 f. u. 31; Jakobs, Strafrecht AT, 6. Abschn. Rn. 88; Langer, Das Sonderverbrechen, S. 290; Maurach / Zipf, Strafrecht AT / 1, § 19 Rn. 12 f.; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, S. 117; Vormbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, S. 70; E. Wolf, FG Frank, Bd. 2, S. 516 (537 f.); s. auch Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter, S. 37; Reischel, Wirtschaftskriminalität und Rechtsgut, S. 20 f. 427 Eser,
94
B. Der Rechtsgutsbegriff
eng gefasst sein soll.430 Dementsprechend wies auch Jäger auf die Notwendigkeit hin, „an die Differenziertheit und tatbestandliche Bestimmtheit der Rechtsgüter nicht zu geringe Anforderungen zu stellen; denn nur mit speziellen, tatbestandsbezogenen Rechtsgütern läßt sich praktisch arbeiten.“431
Mit der Forderung nach möglichst enger Fassung der Rechtsgüter soll wohlgemerkt keine Aussage dahingehend getroffen werden, dass die Konstruktion eines Individualrechtsguts der Konstruktion eines Kollektivrechtsguts vorzuziehen wäre.432 Zwar sind Kollektivrechtsgüter tendenziell weiter als Individualrechtsgüter, jedoch bezieht sich die vorliegende Konstruktionsregel lediglich auf die Vorgehensweise innerhalb einer dieser beiden Kategorien. Das Rechtsgut ist also das Objekt, dessen Schutz für die jeweilige Norm charakteristisch ist. Die Gegenbeispiele „Rechtsordnung“ und „Wohlergehen der Mitmenschen“ sind im Gegensatz dazu Schablonen, die auf viele Strafnormen passen würden, ohne das für die jeweilige Strafnorm Charakteristische zu umschreiben.433 Das bedeutet indes nicht, dass das Rechtsgut so eng umrissen werden könnte, dass jede Gefährdung oder Verletzung desselben auch eine strafbare Verhaltensweise darstellt. Vielmehr sind die Rechtsgüter in aller Regel nicht umfassend gegen Beeinträchtigungen geschützt, denn die Pönalisierung ist auf bestimmte Angriffsrichtungen beschränkt.434 Zudem hängt die Strafbarkeit bei vielen Strafnormen von weiteren Faktoren ab. Hier sind etwa Tätereigenschaften (beispielsweise bei den echten Sonderdelikten), das Fehlen von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen oder der Eintritt einer objektiven Bedingung der Strafbarkeit zu nennen. Demnach ist das mitunter gebrauchte Argument, ein bestimmtes Objekt könne nicht als Rechtsgut einer Norm angesehen werden, weil eine bestimmte Verhaltensweise, die dieses Objekt beeinträchtigt, nicht strafbar ist,435 nicht überzeugend. Wäre dieses Argument tragfähig, müsste entgegen 430 s. auch bereits Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, S. 351; Hirschberg, Schutzobjekte, S. 15. 431 Jäger, Rechtsgüterschutz, S. 17. 432 Dazu unten B. II. 1. b) hh). 433 Dem entspricht es, wenn Sax (in Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Grundrechte, 3. Bd., 2. Halbband, S. 909 [912]) die Rechtsgüter mit den unmittelbaren Nahzielen des Täters in Bezug setzt, und wenn Hirschberg (Schutzobjekte, S. 15) darauf hinweist, dass als Schutzobjekt ausscheiden muss, was „Objekt des Verbrechens im allgemeinen“ ist. 434 Vgl. dazu M. Heinrich, Rechtsgutszugriff, S. 118 ff.; Pragal, Korruption, S. 101; s. auch oben B. I. 8. 435 So etwa Sick, ZStW 103 (1991), 43 (74), die sich gegen die Annahme, Rechtsgut des § 182 StGB a. F. (Verführung) sei die sexuelle Selbstbestimmung, u. a.
II. Eigener Ansatz95
der ganz herrschenden Meinung bestritten werden, dass das Vermögen geschütztes Rechtsgut des Betrugs (§ 263 StGB) und der Untreue (§ 266 StGB) ist, da das Vermögen jeweils nicht umfassend von diesen Vorschriften geschützt wird. Aus der Konstruktionsregel, dass das Rechtsgut möglichst eng formuliert werden soll, folgt auch, dass es sich mitunter empfiehlt, mehrere Rechtsgüter für eine bestimmte Strafvorschrift zu benennen. Gerade wenn eine Strafvorschrift unterschiedliche Tathandlungen umfasst oder die beschriebene Tathandlung mehrere Zielrichtungen hat, würde die Benennung eines einzelnen Rechtsguts leicht zu schwach konturierten Worthülsen führen. Deshalb ist es sinnvoll, bei § 223 StGB als geschützte Rechtsgüter die körperliche Unversehrtheit und die Gesundheit zu benennen, anstatt beide in einem Rechtsgut des „körperlichen Wohls“ zusammenzufassen.436 Beim Raub (§ 249 StGB) erscheint es sogar nahezu unmöglich, ein umfassendes Rechtsgut zu benennen, da ein zusammenfassender Begriff für die beiden bei der Rechtsgutsbestimmung relevanten Aspekte (Schutz der Willensfreiheit und des Eigentums) nicht ersichtlich ist. Dementsprechend ist auch anerkannt, dass eine Strafvorschrift mehrere Rechtsgüter schützen kann.437 Nicht überzeugend ist hingegen Bindings Auffassung, dass Qualifikationen zwei und Grundtatbestände nur ein Rechtsgut haben.438 Als Gegenbeispiel mag zum einen der soeben erwähnte Grundtatbestand des § 223 StGB dienen, der mehrere Rechtsgüter schützt. Zum anderen liegt der vermehrte Unrechtsgehalt der Qualifikation häufig bloß in einem größeren Handlungsunrecht begründet, beispielsweise bei der Körperverletzung mittels eines hinterlistigen Überfalls (§ 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB), sodass bei Verwirklichung der Qualifikation nicht notwendig mehr Rechtsgüter als bei bloßer Verwirklichung des Grundtatbestands beeinträchtigt werden. Werden mehrere Rechtsgüter bestimmt, so muss die zuvor aufgestellte Konstruktionsregel, dass das Rechtsgut ein umfassender Begriff sein muss, dahingehend präzisiert werden, dass jedes tatbestandsmäßige Verhalten zumindest eines der Rechtsgüter beeinträchtigen muss. Häufig werden die mit dem Argument wendet, dass diese Vorschrift nur die Verführung zum Vaginalbeischlaf, nicht aber zu anderen sexuellen Handlungen erfasst. Auch bei Hoyer findet sich dieses Argumentationsmuster im Zusammenhang mit der Bestimmung des Rechtsguts der Urkundendelikte (SK / Hoyer, vor § 267 Rn. 10). Wohlgemerkt soll mit der Kritik an dem Argumentationsmuster keine Stellungnahme zur Richtigkeit der damit begründeten Ergebnisse abgegeben werden. 436 s. aber Schönke / Schröder / Eser, § 223 Rn. 1. 437 s. nur Blei, Strafrecht AT, S. 91; Hanke, Rechtsgüter bei Sittlichkeitsverbrechen, S. 3; Jescheck / Weigend, Strafrecht AT, S. 258; Maurach / Zipf, Strafrecht AT / 1, § 19 Rn. 20 f. 438 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, S. 327.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
nach einer Vorschrift strafbaren Handlungen aber alle geschützten Rechtsgüter zugleich beeinträchtigen. Bei manchen Straftatbeständen – etwa beim Raub – ist dies sogar stets der Fall, weil sich das kodifizierte Unrecht gerade aus der Kombination mehrerer Rechtsgutsbeeinträchtigungen ergibt. dd) Das Rechtsgut als etwas Ideales und Statisches Des Weiteren werden die anerkannten Rechtsgüter als etwas Ideales und Statisches konstruiert, obwohl die zugrunde liegenden Phänomene diese Kriterien nicht erfüllen. Dies dürfte darin begründet liegen, dass die Handhabung idealer und statischer Begriffe deutlich einfacher ist als der Umgang mit dynamischen und relativen Begriffen. Werden die Rechtsgüter durchgängig als etwas Ideales und Statisches konstruiert, ermöglicht dies zudem Verallgemeinerungen und damit die Verwendung des Rechtsgutsbegriffs bei strafrechtsdogmatischen Überlegungen.439 Dass die Rechtsgüter häufig als Idealbegriffe umschrieben werden, aber als Relativbegriffe zu verstehen sind, lässt sich an klassischen Rechtsgütern illustrieren. So mag beispielsweise die Bezeichnung der „Gesundheit“ als Rechtsgut der Körperverletzung implizieren, dass ein optimaler Gesundheitszustand des Betroffenen vorausgesetzt wird. Tatsächlich ist auch die Beeinträchtigung der Gesundheit eines kranken Menschen möglich und strafbar.440 Entsprechend kann auch der Strafgefangene seiner Freiheit beraubt werden, wenn er beispielsweise von einem Mitgefangenen in seiner Zelle ans Bett gefesselt wird. Gleiches gilt bei den Kollektivrechtsgütern, denn ein Meineid beeinträchtigt die staatliche Rechtspflege auch dann, wenn deren Funktionsfähigkeit aufgrund zahlreicher Falschaussagen bereits erheblich beeinträchtigt ist. Diese Ausführungen belegen auch, dass die Rechtsgüter häufig dynamischen Veränderungen unterliegen, gleichwohl aber als etwas Statisches, also als ein Zustand, beschrieben werden.441 Dies ließe sich dahingehend interpretieren, dass Rechtsgüter unveränderlich sind und nur durch etwaige Straftaten Veränderungen erfahren. Tatsächlich unterliegt der Zustand der Rechtsgüter beispielsweise von Natur aus Veränderungen, wie sich besonders an der Gesundheit zeigt. Zudem gibt es strafrechtlich irrelevante Ver439 Damit sollen die Rechtsgüter indes nicht „idealisiert“ oder „vergeistigt“ werden. Zu entsprechenden Tendenzen s. bereits B. II. 1. a) aa); s. auch Kindhäuser, in Lüderssen, Aufgeklärte Kriminalpolitik, Bd. I, S. 263 (266). 440 LK / Lilie (11. Aufl.), § 223 Rn. 11. 441 Es sei daran erinnert, dass nach Hirschberg alle Rechtsgüter als „Zustand“ zu konstruieren sind (dazu oben B. I. 4.); s. aber auch Jakobs, Strafrecht AT, 2. Abschn. Rn. 12.
II. Eigener Ansatz97
änderungen der Rechtsgüter, beispielsweise wenn sich der Bestand des Vermögens durch geschicktes Wirtschaften vermehrt oder durch unkluges Haushalten verringert.442 Bezugspunkt im Hinblick auf eine konkrete Rechtsgutsbeeinträchtigung ist bei präziserer sprachlicher Fassung der Zustand, in dem sich das Rechtsgut unmittelbar vor der Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung befand. ee) Ausgrenzung wertender relationaler Elemente Wiederholt ist versucht worden, die Rechtsgüter als positiv bewertete Beziehungen zu beschreiben. Ein Beispiel hierfür sind Rechtsgutsdefinitionen, die das Rechtsgut als „Interesse“ an einem Objekt formulieren.443 Diese vor allem für Individualrechtsgüter herangezogene Umschreibung wird bei Kollektivrechtsgütern etwa durch die Formulierung der Rechtsgüter als „Vertrauen in …“ oder „öffentliches Interesse an …“ ersetzt, beispielsweise wenn das Rechtsgut der Vorteilsannahme im „Vertrauen in die Unkäuflichkeit von Trägern staatlicher Funktionen und damit zugleich in die Sachlichkeit staatlicher Entscheidungen“444 erblickt wird.445 Diese Rechtsgutsumschreibungen sind nicht prinzipiell falsch, sie „passen“ vielmehr auf eine Vielzahl an Strafnormen. Da die Strafnormen nicht etwas schützen, an dessen Erhalt niemand ein Interesse hat, lässt sich ein relationaler Bezug oft herstellen. Allerdings hat die Einbeziehung relationaler Elemente den Nachteil, dass sie nicht dem erwünschten Ziel gerecht wird, den Rechtsgutsbegriff so zu definieren, dass alle tatbestandsmäßigen Verhaltensweisen erfasst werden. Denn im Einzelfall besteht der Strafrechtsschutz unabhängig von einem konkret vorhandenen Interesse oder Vertrau-
442 s. auch Kindhäuser, FS Krey, S. 249 (257): „Rechtsgüter sind […] keine Museumsstücke, sondern Eigenschaften von Personen, Sachen und Institutionen im sozialen Leben.“ 443 v. Liszt, ZStW 8 (1888), 133 (141); ders., Lehrbuch (14. / 15. Aufl.), S. 64 f.; s. auch Jescheck / Weigend, Strafrecht AT, S. 256; Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 69 f.; Maurach / Zipf, Strafrecht AT / 1, § 19 Rn. 4. Ähnlich auch die Konzeption des Rechtsguts als „Achtungsanspruch“ bei Schmidhäuser, FS Engisch, S. 433 (446) und bei ders., Strafrecht AT, Studienbuch, Kap. 5 Rn. 27. 444 Lackner / Kühl, § 331 Rn. 1; ähnlich BGHSt 30, 46 (48); 47, 295 (309); Loos, FS Welzel, 879 (889 ff.); NK / Kuhlen, § 331 Rn. 12; Otto, Die einzelnen Delikte, § 99 Rn. 1; Rengier, Strafrecht BT / II, § 60 Rn. 6. 445 Zum Vertrauen als Rechtsgutskomponente Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter, S. 123 f.; 255 ff.; ders., ZIS 2006, 229 (234 f.); ders., GA 2007, 1 (10). Dagegen Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 171 ff.; Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 84 f. Grundlegend: Beckemper, ZIS 2011, 318 ff.; daran anschließend Wendrich, ZJS 2013, 238 (246 ff.).
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B. Der Rechtsgutsbegriff
en.446 So fehlt es am Interesse des Rechtsgutsträgers am Erhalt seiner körperlichen Unversehrtheit, wenn er in eine Körperverletzung einwilligt. Gleichwohl wird trotz des im konkreten Fall fehlenden Interesses das Rechtsgut strafrechtlich geschützt, beispielsweise wenn die Einwilligung aus Gründen der Sittenwidrigkeit (§ 228 StGB) rechtlich nicht anerkannt wird. Desgleichen sind Angriffe auf Kollektivrechtsgüter auch dann strafbar, wenn das Vertrauen in ihre Funktionsfähigkeit faktisch nicht mehr besteht.447 Man könnte diese Einwände mit dem Argument zu entkräften versuchen, dass das Interesse beziehungsweise das Vertrauen normativ zu verstehen seien.448 Damit werden jedoch diese Begriffe derart inhaltlich entleert, dass sie keine eigenständige Bedeutung mehr haben.449 Dann aber kann auf sie verzichtet werden. Außerdem ist es schwer begründbar, wie beispielsweise das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit einer ordnungsgemäßen Verwaltung durch nicht bekannt gewordene Korruptionshandlungen erschüttert werden soll. Dass auch nicht bekannt gewordene Korruptionshandlungen strafbar sind, lässt sich zwar damit begründen, dass stets die Gefahr besteht, dass das tatbestandsmäßige Geschehen bekannt wird und dadurch das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Verwaltung erschüttert werden kann. Tatsächlich soll aber bereits die Korruptionshandlung selbst und nicht erst ihr Bekanntwerden verhindert werden. Ansonsten müsste man konsequenterweise das (von viel krimineller) Energie getragene Bemühen der Beteiligten, eine Aufdeckung der Bestechung zu verhindern, strafmildernd berücksichtigen. Diese absurd erscheinende Folgerung zeigt, dass nicht das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit, sondern die Funktionsfähigkeit selbst das für die Pönalisierung entscheidende Moment ist. Damit soll jedoch nicht in Abrede gestellt werden, dass das Vertrauen in die Lauterkeit der Verwaltung für deren Funktionsfähigkeit von wesentlicher Bedeutung ist.450 446 Vgl. eingehend gegen die Konstruktion der Rechtsgüter als Interessen bereits Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, S. 353 ff. Aus dem aktuellen Schrifttum s. nur Amelung, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsguts theorie, S. 155 (172 f.). Ähnlichen Friktionen begegnen Bemühungen, die Dispositionsfreiheit in den Rechtsgutsbegriff zu integrieren; dazu eingehend Rönnau, Willensmängel, S. 49 ff., 67 ff.; ders., JURA 2002, 595 (597). Merkel (Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, S. 20) zufolge ist es ein „unfruchtbarer Streit“, ob die Strafvorschriften Güter oder Interessen schützen. 447 s. aber auch zur Konstruktion der Rechtsgüter als Idealbegriffe soeben unter B. II. 1. b) dd). 448 Vgl. Trops, Begriff und Wert eines Verwaltungsstrafrechts, S. 68; Kargl, ARSP 82 (1996), 485 (494). S. auch grundlegend zum Interessenbegriff Keßler, GS 39 (1887), 94 (96 ff.); Oetker, ZStW 17 (1897), 493 (564 f.); M. E. Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, S. 68 f. 449 s. auch Stratenwerth, FS Lenckner, S. 377 (380).
II. Eigener Ansatz99
Die demnach zu fordernde Ausgrenzung relationaler Elemente aus dem Rechtsgutsbegriff ändert allerdings nichts daran, dass die Rechtsgüter einem Rechtsgutsträger / -inhaber zugeordnet werden können. Die Individualrechtsgüter sind einzelnen (natürlichen oder juristischen) Personen oder Personenmehrheiten zugeordnet, während die Kollektivrechtsgüter der Allgemeinheit beziehungsweise der Rechtsgemeinschaft zuzuordnen sind.451 Diese Beziehung ist jedoch grundsätzlich kein Bestandteil des Rechtsgutsbegriffs452 mit der Folge, dass die Bezeichnung des Rechtsguts als „Beziehungsbegriff“453 missverständlich erscheint. Anders liegt es nur, wenn eine faktische Verfügungsgewalt des Rechtsgutsträgers geschützt wird, wie das etwa beim Diebstahl (§ 242 StGB) oder der Entziehung Minderjähriger (§ 235 StGB) denkbar ist. 450
ff) Keine Formulierung des Rechtsguts als „Recht“ Bereits Birnbaum hat darauf hingewiesen, dass nicht von Rechten, sondern von Gütern als Gegenstand des strafrechtlichen Schutzes gesprochen werden sollte.454 Denn zum einen wirkt die Aussage, § 212 StGB schütze das „Recht auf Leben“ befremdlich, denn die Norm schützt gerade das Leben als solches. Zum anderen ergeben sich Schwierigkeiten bei den Kollektivrechtsgütern, die mangels individualisierbaren Rechtsinhabers nicht als Rechte formuliert werden können. Zudem wird gegen eine Formulierung als Rechte eingewandt, dass die Rechte in der Regel davon unberührt bleiben, dass es zu einer Rechtsgutsverletzung kommt.455 Wenn tatsächlich das Recht beeinträchtigt würde, hätte der Verletzte keine Möglichkeit, Schritte zur Wiederherstellung eben dieses nur Loos, FS Welzel, S. 879 (890). hingegen M. Heinrich (Rechtsgutszugriff, S. 116, Fn. 74), der übersieht, dass das Rechtsgut „Vermögen“ insbesondere auch einer juristischen Person oder einer (teil-)rechtsfähigen Personengesellschaft zugeordnet sein kann. Demnach kommen etwa auch die Gebietskörperschaften (Bund, Länder, Kommunen) als juristische Person (des öffentlichen Rechts) als Träger dieser Individualrechtsgüter in Betracht, ohne dass die gegen das Vermögen gerichteten Strafnormen (etwa § 263 StGB) damit zu Delikten gegen die Allgemeinheit mutieren würden. 452 Vgl. auch M. Heinrich, Rechtsgutszugriff, S. 115 f.; ders., FS Roxin, S. 131 (150), der sich nicht festlegen will, ob der Rechtsgutsbegriff ein Zuordnungsbegriff ist. 453 So aber Jäger, Strafgesetzgebung, S. 11; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, S. 115; s. auch Marx, Zur Definition des Begriffs Rechtsgut, S. 66 ff.; Otto, in Müller-Dietz, Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, S. 1 (3 u. 6 ff.); Stratenwerth, FS Lenckner, S. 377 (384 ff.). 454 Birnbaum, Archiv des Criminalrechts, Neue Folge, 1834, 149 (176). 455 s. auch M. E. Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, S. 62 ff. 450 s.
451 Ungenau
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B. Der Rechtsgutsbegriff
Rechts einzuleiten (beispielsweise Notwehr zu üben oder die Staatsgewalt einzuschalten). Nur in seltenen Ausnahmefällen schützen Strafvorschriften vor einem echten Rechtsverlust, so insbesondere im Fall des § 297 Abs. 1 Nr. 1 StGB (auch in Verbindung mit Abs. 4).456 Zuzugeben ist allerdings, dass die Begrifflichkeit der „Rechtsverletzung“ auch außerhalb des Strafrechts gebräuchlich ist. So ist es üblich, von Persönlichkeitsrechtsverletzungen oder Urheberrechtsverletzungen zu sprechen, obwohl weder Persönlichkeitsrechte noch Urheberrechte als solche verletzbar sind. Zudem geht selbst das Gesetz, etwa in § 823 BGB, von der Verletzbarkeit von Rechten aus. Wenn demnach die Rechtsgüter nicht als „Rechte“ zu konstruieren sind, bedeutet dies freilich nicht, dass die Konturen der Rechtsgüter nicht von rechtlichen Wertungen abhängen können. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn die Strafvorschrift normative Tatbestandsmerkmale enthält oder auf außer-strafrechtliche Vorschriften verweist (sogenannte Blankettvorschriften). Erblickt man etwa das Rechtsgut der Steuerhinterziehung (§ 370 AO) im Vermögen des Staates, soweit es sich aus dem Steueraufkommen generiert,457 so hängen die Konturen dieses Rechtsguts von den Vorgaben des Steuerrechts ab. Desgleichen ist die faktische Verfügungsmöglichkeit des Eigentümers, die als Rechtsgut des Diebstahlstatbestands (§ 242 StGB) angesehen werden kann,458 zunächst davon abhängig, wer Eigentümer ist, was sich nach zivilrechtlichen Vorschriften bestimmt. Die Konstruktionsregel, dass Rechtsgüter nicht als Rechte formuliert werden sollten, wird häufig bei der Bestimmung des Rechtsguts konkreter Strafvorschriften nicht beachtet. So wird von der herrschenden Meinung das Rechtsgut des Hausfriedensbruchs (§ 123 StGB) als „Hausrecht“ bezeichnet.459 Dies ist ebenso abzulehnen wie die von der ganz herrschenden Meinung vertretene Bezeichnung des „Sorgerechts“ als eines der Rechtsgüter der Entziehung Minderjähriger (§ 235 StGB).460 Die durch eine der in § 235 Graul, Präsumtionen, S. 29; Schroeder, ZRP 1978, 12 f. MK / Schmitz / Wulf (1. Aufl.), § 370 AO Rn. 6, str. 458 Vgl. nur Otto, Die einzelnen Delikte, § 39 Rn. 1 ff.; Schönke / Schröder / Eser / Bosch, § 242 Rn. 1 / 2; MK / Schmitz, § 242 Rn. 4; Sax, FS Laufke, S. 321 (332). Offen gelassen werden soll an dieser Stelle, ob auch der Gewahrsam geschütztes Rechtsgut des § 242 StGB ist. 459 Dazu bereits oben sub B. II. 1 b). 460 So aber die ganz h. M. Daneben wird die körperliche und seelische Unversehrtheit als weiteres Rechtsgut angenommen; s. nur RGSt 37, 1 (2 f.); BGHSt 1, 364; 44, 355 (357); Geppert, GedS H. Kaufmann, S. 759 (770); LK / Gribbohm (11. Aufl.), § 235 Rn. 1; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 2, § 63 Rn. 58; MK / Wieck-Noodt, § 235 Rn. 1 ff.; NK / Sonnen, § 235 Rn. 5; Schönke / Schröder / Eser / Eisele, § 235 Rn. 1; Wessels / Hettinger, Strafrecht BT / 1, Rn. 438; näher auch Schroeder, FS Rolinski, S. 155 (161). 456 s.
457 So
II. Eigener Ansatz101
StGB genannten Tathandlungen erwirkte Entziehung des Rechts soll sogar gerade nicht tatbestandsmäßig sein.461 Die Richtigkeit dieser Rechtsauffassung unterstellt, ist das Rechtsgut des § 235 StGB gerade nicht das Sorgerecht, sondern die tatsächliche Möglichkeit zur Ausübung des Sorgerechts. gg) Keine Formulierung des Rechtsguts als „Norm“ Des Weiteren sollte das Rechtsgut nicht als „Norm“ formuliert werden, denn damit wird lediglich der Straftatbestand paraphrasiert. Außerdem „schützt“ der Straftatbestand nicht die Norm, sondern er enthält sie.462 So schützt etwa § 212 StGB nicht das Tötungsverbot, sondern dieser Straftatbestand enthält es. Richtig ist vielmehr die Aussage, dass sowohl die Vorschrift des § 212 StGB als auch die Norm des Tötungsverbots das Rechtsgut Leben schützen. Hinter dieser Konstruktionsregel steht die Erwägung, dass die Aufgabe der Strafnormen nicht in der Aufrechterhaltung oder Durchsetzung von Normen, sondern primär im Rechtsgüterschutz liegt.463 Andererseits ist zuzugeben, dass bei manchen Straftatbeständen die Benennung eines konkreten Rechtsguts Schwierigkeiten bereitet, weil die Ver- oder Gebotsnorm viele unterschiedliche Verhaltensweisen erfasst, sodass die Versuchung groß ist, die Norm zum Rechtsgut zu erheben. So lässt sich kein einzelnes, eng umrissenes Rechtsgut benennen, das durch den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung geschützt wird. Gleichwohl ist Rechtsgut des § 323c StGB nicht das Hilfeleistungsgebot, sondern die Vorschrift schützt „die Individualrechtsgüter des Betroffenen“.464 Desgleichen kommen bereits aus 461 OLG Stuttgart NJW 1968, 1341 (1342); Geppert, GedS H. Kaufmann, S. 759 (772); Lackner / Kühl, § 235 Rn. 3; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 2, § 63 Rn. 60; Schönke / Schröder / Eser / Eisele, § 235 Rn. 6; Sallum, Die strafrechtlichen Probleme der internationalen Kindesentziehung, S. 58 ff.; a. A. Fischer, StGB, § 235 Rn. 9; LK / Gribbohm (11. Aufl.), § 235 Rn. 44; MK / Wieck-Noodt, § 235 Rn. 4 f.; Otto, Die einzelnen Delikte, § 65 Rn. 36. 462 Vgl. auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 187 f.; ders., in Jung / MüllerDietz / Neumann, Recht und Moral, S. 269 (275); Langer-Stein, Legitimation, S. 14; Welzel, ZStW 58 (1939), S. 491 (512, Fn. 30). 463 Vgl. nur Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 110; Scheinfeld, FS Roxin, S. 183 (188). 464 So die h. M., s. Eisele, Strafrecht BT I, Rn. 1246; Fischer, StGB, § 323c Rn. 1; Krey / Hellmann / Heinrich, Strafrecht BT / 1, Rn. 1157; Lackner / Kühl, § 323c Rn. 1; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 2, § 55 Rn. 3; MK / Freund, § 323c Rn. 2; NK / Wohlers / Gaede, § 323c Rn. 2; Rengier, Strafrecht BT / II, § 42 Rn. 1; Schönke / Schröder / Sternberg-Lieben / Hecker, § 323c Rn. 1; SK / Rudolphi / Stein, § 323c Rn. 2; SSW / Schöch, § 323c Rn. 3; Wessels / Hettinger, Strafrecht BT / 1, Rn. 1042; auch OLG Celle NStZ 1988, 568; a. A. Küpper, Strafrecht BT / I, Teil II, § 5 Rn. 61; Otto, Die einzelnen Delikte, § 67 Rn. 1; Pawlik, GA 1995, 360 (365 f.); Seebode, FS Kohlmann, S. 279 (289 f.); Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 470.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
formalen Gründen das „Inzestverbot“ oder das „Inzesttabu“ nicht als geschützte Rechtsgüter der – kriminalpolitisch umstrittenen – Strafvorschrift über den Verwandtenbeischlaf (§ 173 StGB) in Betracht.465 hh) Kein Vorrang der Konstruktion als Individual- oder Kollektivrechtsgut Es ist möglich, die Rechtsgüter der verschiedenen Strafvorschriften entweder als solche des Einzelnen oder als solche der Allgemeinheit zu konstruieren.466 Dementsprechend gab es Bemühungen, alle Rechtsgüter entweder als Individual- oder als Kollektivrechtsgüter zu formulieren.467 Diese monistischen Ansätze haben sich nicht durchsetzen können, sodass heute ein dualistischer Ansatz vorherrscht, demzufolge es sowohl Rechtsgüter des Einzelnen als auch Rechtsgüter der Allgemeinheit gibt.468 Hierbei handelt es sich nicht um getrennte Kategorien, sondern mittelbar dienen Individualrechtsgüter auch der Allgemeinheit und die Kollektivrechtsgüter dem Individuum.469 Hassemer drückt dies folgendermaßen aus: „Es gibt keine Rechtsgüter der Allgemeinheit ohne Individualbezug; es gibt keine Rechtsgüter des einzelnen ohne Universalrelevanz.“470 Gleichwohl ist die Strafrechtswissenschaft darum bemüht, die einzelnen Delikte entweder als individualrechtsgutsschützend oder als kollektivrechtsgutsschützend zu konstruieren. Bei näherer Betrachtung erweist sich eine solche eindeutige ZuordTeilweise wird dabei allerdings nicht deutlich, ob es sich um Erörterungen zum Rechtsgut oder zu den hinter der Vorschrift stehenden (philosophischen) Überlegungen handelt. 465 Zu einem solchen Rechtsgut, s. Ellbogen, ZRP 2006, 190 (192). 466 s. bereits Oppenheim, Objekte, S. 150 f. und aus vorwiegend zivilrechtlicher Sicht Knöpfle, NJW 1967, 697 (699); kritisch Wohlers, Deliktstypen, S. 222. 467 Um eine Konstruktion der Rechtsgüter vom Einzelnen aus bemühen sich etwa die personalen Rechtsgutslehren (etwa Marx, Zur Definition des Begriffs Rechtsgut, S. 60 ff.; Hohmann, Umweltdelikte, S. 70 ff.; ders., GA 1992, 76 [77]). Demgegenüber findet sich eine überindividualistische Rechtsgutskonzeption etwa bei Binding (Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, S. 357 ff.) und Oetker (ZStW 17 [1897], 493 [508 ff.]), demzufolge die Rechtsgüter als „Güter des Rechts, nicht der Individuen“ anzusehen sind. Vgl. auch Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 27 ff.; Pragal, Korruption, S. 97 f., 105 f.; Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, S. 68 f. 468 Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 40; Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 231 ff.; Weigend, ZStW 98 (1986), 44 (52); s. auch Jakobs, FS Frisch, S. 81 (89 ff.); NK / Hassemer / Neumann, vor § 1 Rn. 127 ff. 469 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 207 ff.; Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 40; Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 231 ff.; Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter, S. 60 ff.; Sieber, Computerkriminalität, S. 259; Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, S. 67 ff.; Wohlers, Deliktstypen, S. 222. 470 Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 231.
II. Eigener Ansatz103
nung jedoch bei einer Reihe von Delikten als schwierig.471 Dementsprechend wird einigen Delikten zumindest von einem Teil der Literatur ein sowohl individual- als auch kollektivrechtsgutschützender Charakter zugesprochen. Prominente Beispiele hierfür sind die Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c StGB472) und die falsche Verdächtigung (§ 164 StGB). Aus der Entscheidung, im Einzelfall das Rechtsgut einer Strafnorm vom Einzelnen oder von der Allgemeinheit aus zu konstruieren, folgen nach der gegenwärtigen Dogmatik weitreichende Konsequenzen.473 Insbesondere kommt eine rechtfertigende Einwilligung nur bei Individualrechtsgütern in Betracht.474 Auf der Ebene der einzelnen Strafvorschriften herrscht oft Streit darüber, ob ein Individualrechtsgut, ein Kollektivrechtsgut oder beides geschützt wird. Nicht selten dreht sich die Diskussion im Kreis,475 wenn etwa mit Hinweis auf das je unterschiedlich bestimmte Rechtsgut der falschen Verdächtigung (§ 164 StGB) die Disponibilität desselben entweder im Hinblick auf die Annahme, dass die Vorschrift lediglich ein Individualrechtsgut schützt, bejaht476 oder unter der Prämisse eines (zumindest auch) kollektivrechtsgüterschützenden Charakters verneint477 wird. Mitunter sind die Ausführungen zur Einordnung des Rechtsguts auch inkonsequent, so wenn die Sicherheit des Straßenverkehrs als Rechtsgut der Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB) bezeichnet wird, zugleich aber dieser Tatbestand als abstraktes Gefährdungsdelikt eingeordnet wird.478 Abstrakt gefährdet wird nämlich 471 Vgl. etwa die bei Duttge, JURA 2006, 15 ff. dargestellten Beispiele; s. auch Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 1 Rn. 26 f. 472 Die herrschende Meinung sieht sowohl ein Individual- als auch ein Kollektivrechtsgut als geschützt an: Anwkomm / Bücken, § 315c Rn. 1; Fischer, StGB, § 315c Rn. 2; Lackner / Kühl, § 315c Rn. 1; MK / Pegel, § 315c Rn. 1; NK / Zieschang, § 315c Rn. 5 f.; Schönke / Schröder / Sternberg-Lieben / Hecker, § 315c Rn. 2; SSW / Ernemann, § 315c Rn. 1; a. A. BeckOK / Kudlich, § 315c Rn. 1; Kindhäuser, Strafrecht BT I, § 68 Rn. 1; SK / Wolters, § 315c Rn. 2 (nur Individualrechtsgut) sowie LK / König, § 315c Rn. 3; Otto, Die einzelnen Delikte, § 80 Rn. 1 (nur Kollektivrechtsgut). 473 Vgl. Jescheck / Weigend, Strafrecht AT, S. 259. 474 Vgl. nur Frister, Strafrecht AT, 15. Kap. Rn. 25; NK / Hassemer / Neumann, vor § 1 Rn. 126; Rengier, Strafrecht AT, § 23 Rn. 9; Schönke / Schröder / Lenckner / Sternberg-Lieben, vor § 32 Rn. 36. 475 Zum Problem der Zirkularität, s. eingehend unten sub B. II. 2. 476 So NK / Vormbaum, § 164 Rn. 66 m. w. N. 477 So MK / Zopfs, § 164 Rn. 43. Zu diesem Ergebnis gelangt auch die herrschende Meinung, die von einem doppelten Rechtsgut des § 164 StGB ausgeht; vgl. RGSt 59, 34 (35); BGHSt 5, 66 (67 f.); OLG Düsseldorf NJW 1962, 1263 f.; BeckOK / Valerius, § 164 Rn. 24; Krey / Hellmann / Heinrich, Strafrecht BT / 1, Rn. 789, 804; Lackner / Kühl, § 164 Rn. 11; LK / Ruß, § 164 Rn. 33; Schönke / Schröder / Lenckner / Bosch, § 164 Rn. 23; SK / Rudolphi / Rogall, § 164 Rn. 46. 478 So LK / König, § 316 Rn. 2 f.; Schönke / Schröder / Sternberg-Lieben / Hecker, § 316 Rn. 1.
104
B. Der Rechtsgutsbegriff
nicht die Sicherheit des Straßenverkehrs, sondern werden die Individualrechtsgüter Leib, Leben, Eigentum, die daher konsequenterweise als geschützte Rechtsgüter anzusehen sind, wenn die Vorschrift als abstraktes Gefährdungsdelikt angesehen werden soll.479 Die Bestimmung, ob eine Strafvorschrift ein Individual- oder Kollektivrechtsgut schützt, erscheint demnach schwierig. Eine klare Konstruktionsregel, die im Zweifel dem einen oder anderen den Vorrang einräumt, kann nicht aufgestellt werden.480 So wird vorgeschlagen, eine Norm dann als individualrechtsgüterschützend aufzufassen, wenn sich das Kollektivrechtsgut bei näherer Betrachtung als Summe von Individualrechtsgütern erweist.481 Anders ausgedrückt, muss das Ganze mehr als die Summe seiner Teile sein, um ein Kollektivrechtsgut annehmen zu können. Der Wert einer solchen Formel darf jedoch nicht überschätzt werden, denn genaue Kriterien dafür, wann das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist, benennt auch sie nicht.482 Da alle Kollektivrechtsgüter letztlich einen Individualbezug aufweisen,483 birgt diese Formel die Gefahr, alle Normen als individualrechtsgüterschützend zu konstruieren. Gewichtiger Anhaltspunkt für die Vorzugswürdigkeit der Konstruktion eines Individualrechtsguts ist die Nennung eines Tatopfers im Tatbestand, die entweder explizit („wer einen anderen …“) oder implizit („fremde Sache“) erfolgen kann.484 Der Umkehrschluss, dass bei fehlender Nennung eines Tatopfers von einem Kollektivrechtsgut auszugehen ist, ist jedoch unrichtig. So schützt § 316 StGB die Individualrechtsgüter Leib, Leben und Eigentum, auch wenn diese im Tatbestand nicht ausdrücklich aufgeführt werden. Auch vor dem Hintergrund eines systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs ist zu berücksichtigen, dass Kollektivrechtsgüter zumeist komplexer als Individualrechtsgüter sind. Dies führt dazu, dass ihre Konturen zumeist un479 Zutreffend SK / Wolters, vor § 306 Rn. 1a; SK / Wolters, § 316 Rn. 2; Kind häuser, Strafrecht BT I, § 68 Rn. 1; s. auch Krüger, Entmaterialisierungstendenz, S. 109 ff.; Schünemann, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 133 (152). Vgl. zudem unten sub B. II. 4. b). 480 So auch Jacobi, Kapitalanlagebetrug, S. 41; s. auch Greco, FS Roxin, S. 199 (207 f.). 481 Vgl. Nelles, Untreue zum Nachteil von Gesellschaften, S. 300; Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter, S. 82; wohl auch Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 79. 482 Bloy, GA 2002, 59 (62). 483 Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 231. 484 Vgl. dazu näher M. Heinrich, Rechtsgutszugriff, S. 117; s. aber auch Vorschriften wie die §§ 164, 315c StGB, in denen auf einen „anderen“ ausdrücklich Bezug genommen wird, bei denen der individualrechtsgutschützende Charakter jedoch gerade fraglich ist.
II. Eigener Ansatz105
schärfer sind als die der Individualrechtsgüter. Rechtsgüter wie das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Ehre sind klarer und allgemeinverständlicher als Rechtsgüter wie etwa die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege oder des Kapitalmarkts. Solche komplexen Rechtsgutsbegriffe bedürfen daher stets näherer Definition und Erläuterung,485 der sie im Übrigen auch zugänglich sind.486
ii) Abschließender Hinweis zur Realität der Rechtsgüter Zeitweise wurde heftig diskutiert, ob die Rechtsgüter etwas Abstraktes beziehungsweise Ideelles oder etwas Konkretes seien.487 Eine dogmatische Relevanz dieser Diskussion ist nicht erkennbar, sie beruht vielmehr weitenteils auf terminologischen Unklarheiten. Hinzuweisen ist lediglich darauf, dass die Rechtsgüter nicht als etwas stets körperlich Wahrnehmbares zu begreifen sind, auch wenn die Rechtsgutsobjekte mitunter körperlich wahrnehmbar und verletzbar sind.488 Gleichwohl handelt es sich nicht um völlig vergeistigte (ideelle) Phänomene ohne Bezug zur Wirklichkeit, sondern die Rechtsgüter sind vielmehr etwas Reales.489 Von denjenigen, die das Rechtsgut als rein ideell betrachten, wird verkannt, dass nicht nur körperliche Gegenstände, sondern auch Abstrakta wie die Ehre, die Rechtspflege oder der Geldverkehr real vorhanden und demnach verletzbar sind.490 Dass ihre Beeinträchtigung möglich ist, entspricht der „vorherr485 Vgl. auch vor dem Hintergrund eines systemkritischen Rechtsgutsbegriffs Lampe, Der Kreditbetrug, S. 39 f.; Wohlers, Deliktstypen, S. 224 f. 486 Vgl. Hirsch, FS Spinellis, S. 425 (442). 487 Vgl. Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 21 ff.; Graul, Präsumtionen, S. 41 ff.; Suhr, JA 1990, 303 (304). 488 s. nur Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 340. 489 So auch Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 193; Graul, Präsumtionen, S. 57 et passim; Hefendehl, GA 2002, 21 (23); ders., Kollektive Rechtsgüter, S. 28 ff.; ders., in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 286 (287); ders., GA 2007, 1 (13); Kahlo, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 26 (27 f.); Kargl, ARSP 82 (1996), 485 (493); Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 66; Wohlers, Deliktstypen, S. 225; Worms, Bekenntnisbeschimpfung, S. 65 u. 82; a. A. Baumann / Weber / Mitsch, Strafrecht AT, § 3 Rn. 18; Blei, Strafrecht AT, S. 89; Schönke / Schröder / Eisele, vor § 13 Rn. 9; LK / Walter, vor § 13 Rn. 14; s. auch Schmidhäuser, Strafrecht AT, Studienbuch, Kap. 5 Rn. 26 ff. 490 s. nur Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 66, der sich aber zugleich dagegen wendet „Schutzobjekte von ungreifbarer Abstraktheit“ zu Rechtsgütern zu erheben (ebd., § 2 Rn. 46). Vgl. auch die Klarstellungen bei Graul, Präsumtionen, S. 27; Loos, FS Welzel, S. 879 (891); Martin, Strafbarkeit grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigungen, S. 29 f.; s. auch Hettinger, JuS 1997, L 33 (35) zum „metaphorischen“ Charakter der Verletzung.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
schenden Rationalitätsstruktur“.491 Die Annahme, die Rechtsgüter seien abstrakt und daher unverletzlich, beruht mitunter darauf, dass außer Acht gelassen wird, dass bei Individualrechtsgütern das Rechtsgut auf den Einzelnen bezogen werden muss.492 Demnach ist mit dem „Rechtsgut Leben“ genau genommen „das Leben jedes Einzelnen“ gemeint und dieses ist eben auch real vorhanden und verletzbar.493 c) Die Ermittlung des Rechtsguts Nachdem die formalen Vorgaben für die Formulierung der Rechtsgüter durch Aufstellung von Konstruktionsregeln für die Bestimmung der Rechtsgüter präzisiert worden sind, kann nunmehr der Frage nachgegangen werden, wie das Rechtsgut einer bestimmten Strafvorschrift zu ermitteln ist. Wie bei der Ermittlung des Rechtsguts einer Strafnorm vorzugehen ist, wird kaum in der strafrechtlichen Literatur erörtert. Nonchalant wird über diese Frage hinweggegangen, wenn es etwa heißt: „Mitunter liegt es auf der Hand, welches Rechtsgut durch einen Straftatbestand geschützt wird. So wird das Eigentum durch den Tatbestand des Diebstahls, das Leben durch den Tatbestand des Mordes geschützt. Mitunter macht die Herausstellung des Rechtsgutes Schwierigkeiten.“494
Noch heute trifft der folgende Befund Hirschbergs zu: „Die Mühelosigkeit der Auffindung des Schutzobjekts in einzelnen Fällen ist ja auch in erster Linie daran schuld, daß man über das Wesen des so Gefundenen und die Methode zur Bestimmung in den Fällen, die kein zweifelloses Resultat ergeben, – und deren Zahl pflegt hinwiederum unterschätzt zu werden – sich keine großen Skrupel machen zu müssen glaubte und sich oft einfach der Methode einer instinktiven Bestimmung der Schutzobjekte in die Arme warf.“495
Ein ganz ähnlicher Befund findet sich auch in der jüngeren Literatur, so etwa bei Jacobi: 491 Wohlers, Deliktstypen, S. 228 mit Verweis auf Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 237 f. 492 So bei Langer, Das Sonderverbrechen, S. 288; vgl. auch eingehend Suhr, JA 1990, 303 (306 ff.). 493 s. dazu bereits oben B. II. 1. a) aa). 494 Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 1 Rn. 3. Dabei sind die dort angeführten Beispiele irreführend, denn mit dem „Eigentum“ ist das Rechtsgut des § 242 StGB nur unzureichend umschrieben. Über das Rechtsgut „Leben“ im Hinblick auf § 211 StGB besteht nur ein scheinbarer Konsens, da über Anfang und Ende desselben großer Streit herrscht. Zur Umstrittenheit der Rechtsgutsbestimmungen auch noch B. II. 2. b) aa). 495 Hirschberg, Schutzobjekte, S. 13.
II. Eigener Ansatz107 „Man kann sich daher des Eindrucks nicht erwehren, als sei die Rechtsgutsfrage eine rein intuitive, die nur mit ein oder zwei sachlichen Gründen untermauert werden müsse.“496
In der Literatur können im Kern zwei Ansätze zur Ermittlung des Rechtsguts ausfindig gemacht werden, zum einen durch wertbeziehende Betrachtung, zum anderen mittels Auslegung.497 Wohlgemerkt betrifft dies nur die Ansätze, die von einem systemimmanenten Rechtsgutsbegriff ausgehen, das Rechtsgut also nicht vorpositiv bestimmen.498 Diese beiden Ansätze sollen im Folgenden vorgestellt und kritisch hinterfragt werden. aa) Wertbeziehende Betrachtung Die Ermittlung des Rechtsguts durch wertbeziehende Betrachtung geht auf Honig zurück, der seinerseits insoweit auf Radbruch Bezug nahm.499 Jener hatte vier Möglichkeiten unterschieden, sich zur Gegebenheit zu verhalten: die wertblinde, die bewertende, die wertüberwindende und die wertbeziehende.500 Die erste kennzeichne die Naturwissenschaft, die zweite die Philosophie, die dritte die Religion und schließlich die vierte die Kultur.501 Unter Kultur verstand Radbruch „die Gegebenheit, die die Bedeutung, den Sinn hat, Werte zu verwirklichen“502. In diese Kategorie gehört auch das Recht, auf das dementsprechend eine wertbeziehende Betrachtungsweise anzuwenden ist. Dies geschieht, indem untersucht wird, wie mit dem Recht die Herstellung von Gerechtigkeit bezweckt wird (ohne dass dieses Ziel tatsächlich erreicht sein muss).503 Bei der wertbeziehenden Betrachtungsweise handelt es sich um eine geisteswissenschaftliche, verstehende Methodik, bei der das Denken in einer Kultur nachvollzogen werden soll. Honig leitete daraus für die Ermittlung des Rechtsguts ab, dass es notwendig sei, 496 Jacobi,
Kapitalanlagebetrug, S. 27. abzugrenzen ist die beispielsweise von Simon (Gesetzesauslegung im Strafrecht, S. 473 ff.) in den Vordergrund gerückte Frage, ob der Gesetzeszweck subjektiv oder objektiv zu ermitteln ist. Für die Bestimmung des Rechtsguts als solchem ist diese Frage indes von untergeordneter Bedeutung. 498 Eine Ermittlung des Rechtsguts sowohl aus dem gesetzlichen Tatbestand als auch aus vorpositiven Maßstäben schlägt Vormbaum (Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, S. 71 f.) vor. Diese Vorgehensweise wird indes nicht weiter präzisiert, sodass ihre praktische Handhabbarkeit offen bleibt. 499 Honig, Einwilligung, S. 108. 500 Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 38. 501 Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 91 f.; s. auch bei ders., Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 38. 502 Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 93. 503 Vgl. Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 38 f.; ders., Rechtsphilosophie, S. 93. 497 Hiervon
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B. Der Rechtsgutsbegriff
sich auf den rechtsphilosophischen Standpunkt zu besinnen, den der Gesetzgeber eingenommen hat.504 Nur von einem solchen Standpunkt aus könne man „mit sicherer Hand die Werte bestimmen, die der Gesetzgeber mit seinen Normen hat schützen wollen.“505 Das Rechtsgut soll also ermittelt werden, indem der Wert, den der Gesetzgeber schützen wollte, herausgestellt wird. Diese Formel eignet sich indes nicht zur Ermittlung des Rechtsguts, denn es bleibt unklar, wie dieser „Wert“ zu ermitteln ist, denn im Wesentlichen wird dabei der Begriff des Rechtsguts durch den des „Werts“ ausgetauscht. Besinnt man sich allerdings darauf, dass dieser Ansatz Anleihen bei Radbruch nimmt und dadurch auf eine geisteswissenschaftliche, verstehende Methodik verweist, so wird deutlich, dass die wertbeziehende Betrachtung letztlich eine intuitive, nicht (oder nur begrenzt) logisch erfassbare Herangehensweise ist.506 Es lässt sich also festhalten, dass die Ermittlung des Rechtsguts durch wertbeziehende Betrachtung letztlich eine Leerformel ist, die tatsächlich nicht zur Zielerreichung beiträgt. bb) Rechtsgutsermittlung durch Auslegung Faktisch hat Oppenheim als erster darauf hingewiesen, dass das Rechtsgut einer Strafnorm durch Auslegung zu ermitteln ist, obwohl er diesen Begriff nicht verwendete. Er nannte einige Punkte, die bei der Ermittlung des Rechtsguts in Betracht zu ziehen seien: der Text des Gesetzes, die Motive und anderen Materialien, die Abschnittsüberschriften des Strafgesetzbuchs, die Stellung des betreffenden Paragraphen, die Geschichte des jeweiligen Verbrechens und schließlich die ratio des Gesetzes.507 Damit zählt er geradezu mustergültig den Kanon der klassischen Auslegungsmethoden auf. Später hat Hirschberg unter Bezugnahme auf Oppenheim expliziert, dass die Schutzobjekte „durch Interpretation des einzelnen Strafgesetzes“ zu ermitteln sind.508 Von Bedeutung seien hierbei „die Motive, auch die systematische Stellung im Gesetze, die Betrachtung der Ueberschriften der einzelnen Abschnitte.“509 Es handele sich hierbei lediglich um Anhaltspunkte, insbesondere die Überschriften würden keine Bindung für die Wissenschaft ent504 Honig,
Einwilligung, S. 108. Einwilligung, S. 108. 506 Vgl. Schwinge, Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht, S. 60 f., der diese verstehende Vorgehensweise kritisiert, ohne eine bessere Methode vorzuschlagen; dazu Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 135 Fn. 33. 507 Vgl. Oppenheim, Objekte, S. 196 ff. 508 Hirschberg, Schutzobjekte, S. 78; s. aber auch die stark intuitiv geleitete exemplarische Ermittlung des Schutzobjekts der Notzucht (ebd., S. 15). 509 Hirschberg, Schutzobjekte, S. 78. 505 Honig,
II. Eigener Ansatz109
falten.510 Auch in der Folgezeit wurde und wird bis heute immer wieder darauf hingewiesen, dass das Rechtsgut durch Auslegung zu ermitteln ist.511 Tatsächlich lassen sich auch die anerkannten Rechtsgüter recht gut durch Auslegung aus den Tatbeständen ermitteln. Bei zahlreichen Vorschriften gibt der Gesetzeswortlaut hinsichtlich der Tathandlung,512 des Taterfolges oder des Tatobjekts zumeist Aufschluss über das Rechtsgut.513 So kann aus der Verwendung des Worts „Freiheit“ in § 239 StGB zwanglos gefolgert werden, dass geschütztes Rechtsgut der Strafvorschrift die Freiheit ist. Gleiches gilt für die Worte „an der Gesundheit beschädigt“ in § 223 StGB, die darauf hindeuten, dass zumindest ein geschütztes Rechtsgut des Körperverletzungstatbestands die Gesundheit ist. Entsprechendes lässt sich für das Vermögen als Tatbestandsmerkmal und Rechtsgut der §§ 259, 263 StGB (Hehlerei, Betrug) feststellen. Bei anderen Delikten lässt sich ausgehend von der Tathandlung fragen, was diese verletzt, es wird also nach einem zugehörigen Substantiv gesucht. So lassen sich zwanglos Begriffspaare wie „töten – Leben“; „beleidigen – Ehre“ oder „nötigen – Willensfreiheit / Selbstbestim510 Hirschberg,
Schutzobjekte, S. 78. bei Mezger, Lehrbuch, S. 201 f., demzufolge die Ermittlung des Rechtsguts nicht nur „an Hand des Gesetzes“, sondern „notwendig zugleich auch an Hand des übergesetzlichen Rechts“ erfolgen soll. Aus jüngerer Zeit: Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter, S. 25; MK / Hefendehl, § 263 Rn. 1; B. Heinrich, Strafrecht AT I, Rn. 5 f.; Nelles, Untreue zum Nachteil von Gesellschaften, S. 289; Krüger, Entmaterialisierungstendenz, S. 104; Radtke, Die Dogmatik der Brandstiftungsdelikte, S. 68. Der Sache nach gleich, ohne dies ausdrücklich als „Auslegung“ oder „Interpretation“ zu bezeichnen: Reischel, Wirtschaftskriminalität und Rechtsgut, S. 22 ff. Schall (JuS 1979, 104 [107]) spricht nicht von der Auslegung des Strafgesetzes, sondern des „güterkonstituierenden Werturteils des Gesetzgebers“, ohne dass damit ein inhaltlicher Unterschied verbunden ist. Bohnert (JuS 1984, 182 [183 f.]) spricht despektierlich von „Rechtsgutsspekulation“, sieht diese aber als unproblematisch an, sofern „sie sich im Rahmen der Auslegung hält“ (S. 184). Ausdrücklich anders im Hinblick auf einen vorpositiven Rechtsgutsbegriff etwa: Marx, Zur Definition des Begriffs Rechtsgut, S. 17; Schünemann, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 133 (134). Eingehend behandelt auch Schmiedel in seiner zivilrechtlichen Untersuchung zu § 823 Abs. 2 BGB die „Methode der Schutzzweckermittlung“ (Deliktsobligationen, S. 138 ff.). Die Schutzzweckermittlung betrachtet auch er als Auslegungsproblem (S. 140). Die Untersuchung ist im vorliegenden Kontext auch deshalb relevant, weil Schmiedel wiederholt Bezüge zur strafrechtlichen Rechtsgutslehre herstellt und seine Überlegungen der Sache nach auf das strafrechtliche Problem übertragbar sind (auch wenn er im Hinblick auf die Komplexität der strafrechtlichen Diskussion um den Rechtsgutsbegriff meint, der strafrechtliche Rechtsgutsbegriff und der zivilrechtliche Schutzzweckbegriff seien nicht gleichzusetzen [etwa S. 112; 165 Fn. 23]). 512 Hierzu Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter, S. 26. 513 Vgl. aus zivilrechtlicher Sicht Schmiedel, Deliktsobligationen, S. 168 ff. Zustimmend MK BGB / Wagner, § 823 Rn. 407. 511 So
110
B. Der Rechtsgutsbegriff
mung“, „körperlich misshandeln – körperliche Unversehrtheit“ bilden. Mitunter werden diese durch Ergänzung weiterer eingrenzender Merkmale der Tathandlung, des Taterfolges oder des Tatobjekts präzisiert, sodass das Rechtsgut als das „menschliche Leben“ (§ 212 StGB) oder die „sexuelle Selbstbestimmung“ (§ 177 StGB) bezeichnet wird. Schließlich lässt sich beim Diebstahl (§ 242 StGB) aus den Tatbestandsmerkmalen „fremd“ und „wegnimmt“ folgern, dass die Verfügungsmöglichkeit des Eigentümers geschütztes Rechtsgut ist. Anhand des letzten Beispiels lässt sich zeigen, dass der Rückgriff auf Tatobjekt und Tathandlung nicht immer zu eindeutigen Ergebnissen für die Rechtsgutsbestimmung führt. Rückt man nämlich bei § 242 StGB die Wegnahmehandlung in den Vordergrund, lässt sich über die Begriffspaarbildung „wegnehmen – Gewahrsam“ folgern, dass (auch) der Gewahrsam geschütztes Rechtsgut ist.514 Dies ist ein Beispiel dafür, dass die unterschiedliche Gewichtung einzelner Tatbestandsmerkmale bei der Bestimmung des Rechtsguts zu verschiedenen Ergebnissen führen kann. Häufig finden Kontroversen über die „richtige“ Bezeichnung des Rechtsguts gerade in solchen Divergenzen ihren Ursprung. Die vorstehenden Beispiele eint, dass aus dem Gesetzeswortlaut relativ leicht ein Gut ermittelt werden kann, das durch das tatbestandsmäßige Verhalten verletzt wird. Aus dieser Rechtsgutsbestimmung folgt dann die Einordnung der Delikte als Verletzungsdelikte. Auch bei den Delikten, die tatbestandsmäßig eine Gefahr voraussetzen, kann das Rechtsgut leicht aus dem Tatbestand ermittelt werden. Es liegt nahe, unmittelbar aus dem gefährdeten Objekt auf das Rechtsgut zu schließen.515 So kann aus dem Wortlaut der Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c StGB) zwanglos abgeleitet werden, dass die Vorschrift die Rechtsgüter Leben, Leib (körperliche Unversehrtheit) und Eigentum (Sachintegrität) schützt.516 Mit dieser Rechtsgutsbestimmung geht dann die Einordnung als konkretes Gefährdungsdelikt einher. Bei zahlreichen anderen Vorschriften fehlen jedoch Anhaltspunkte im Gesetzeswortlaut für die Bestimmung des Rechtsguts mit der Folge, dass dessen richtige Bezeichnung besonders umstritten ist. Häufig handelt es sich hierbei um 514 Zum Streitstand, s. nur MK / Schmitz, § 242 Rn. 4 ff.; Schönke / Schröder / Eser / Bosch, § 242 Rn. 1 / 2. 515 Vgl. Bohnert, JuS 1984, 182 (183). Seine Behauptung, dass die „konkreten Gefährdungsdelikte […] als einzige ihr Rechtsgut benennen“ ist indes verkürzend und ungenau. 516 Vgl. BeckOK / Kudlich, § 315c Rn. 1; Kindhäuser, Strafrecht BT I, § 68 Rn. 1; MK / Pegel, § 315c Rn. 1; SK / Wolters, § 315c Rn. 2. Häufig wird auch ein kollektives Rechtsgut der „Sicherheit im Straßenverkehr“ angenommen, so bei Fischer, StGB, § 315c Rn. 2; Lackner / Kühl, § 315c Rn. 1; MK / Groeschke (1. Aufl.), § 315c Rn. 1; NK / Zieschang, § 315c Rn. 5 f.
II. Eigener Ansatz111
sogenannte abstrakte Gefährdungsdelikte. Bereits an dieser Stelle sei jedoch angemerkt, dass die Einordnung als abstraktes Gefährdungsdelikt, wie noch zu zeigen sein wird, auch Folge der Rechtsgutsbestimmung ist.517 Wenn der Wortlaut keine Anhaltspunkte für die Bestimmung des Rechtsguts gibt, können die Historie518 und die Systematik darüber Aufschluss geben. Mit der Historie wird beispielsweise häufig bei der Rechtsgutsbestimmung des § 264a StGB (Kapitalanlagebetrug) argumentiert, indem mit Hinweis auf die Gesetzesmaterialien519 begründet wird, warum (auch) die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts geschütztes Rechtsgut ist.520 Mit systematischen Argumenten kann begründet werden, dass § 316 StGB (Trunkenheit im Verkehr) die Rechtsgüter Leben, körperliche Unversehrtheit und Sachintegrität schützt,521 da die Vorschrift in engem systematischen Zusammenhang zu § 315c StGB steht, aus dessen Wortlaut sich dieser Schutzzweck ergibt. Vor allem die Heranziehung der teleologischen Auslegung zur Ermittlung des Rechtsguts wirft hingegen Schwierigkeiten auf, weil der telos einer Strafvorschrift, ein bestimmtes Rechtsgut zu schützen, die Kenntnis des Rechtsguts voraussetzt, das durch Auslegung ermittelt werden soll. Hier offenbart sich besonders deutlich das Problem eines logischen Zirkels, das deshalb im folgenden Abschnitt näher behandelt werden soll. Festzuhalten bleibt jedoch vorerst, dass sich die Methode der Auslegung als einzig gangbarer Weg zur Ermittlung des Rechtsguts herausgestellt hat.
517 Vgl.
dazu eingehend unten sub B. II. 4. b). Aspekt wird hervorgehoben bei LK / Tiedemann, vor § 283 Rn. 54. Dazu Krüger, Entmaterialisierungstendenz, S. 105; s. auch Jacobi, Kapitalanlagebetrug, S. 16 f. mit Kritik an einseitiger Betonung der „genetischen“ Auslegung. 519 BT-Drucks. 10 / 318, S. 22. 520 s. Schröder, Kapitalmarktstrafrecht, Rn. 10. Zur Diskussion s. auch die Nachweise in Fn. 688 ff. 521 s. Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter, S. 140; Schünemann, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 133 (152); SK / Wolters, § 316 Rn. 2; s. auch SK / Wolters, vor § 306 Rn. 1a. Häufig wird wie bei § 315c StGB die Sicherheit des Straßenverkehrs als geschütztes Rechtsgut angesehen, so etwa BayObLG, NZV 1992, 453; OLG München NZV 2006, 277 (278); BeckOK / Kudlich, § 316 Rn. 2; Fischer, StGB, § 316 Rn. 2 f.; MK / Pegel, § 316 Rn. 1; LK / König, § 316 Rn. 3; Lackner / Kühl, § 316 Rn. 1; NK / Zieschang, § 316 Rn. 11; Rengier, Strafrecht BT / II, § 43 Rn. 1; Schönke / Schröder / Sternberg-Lieben / Hecker, § 316 Rn. 1; SSW / Ernemann, § 316 Rn. 1. 518 Dieser
112
B. Der Rechtsgutsbegriff
2. Das Problem der Zirkularität Geht man davon aus, dass das Rechtsgut mittels Auslegung zu ermitteln ist, so stellt sich ein logisches Problem, wenn das Rechtsgut zugleich Hilfsmittel der Auslegung sein soll. Es ergibt sich nämlich ein Begründungszirkel, wenn durch Auslegung einer Vorschrift auf das Rechtsgut geschlossen wird, mit dessen Hilfe wiederum die Vorschrift erst ausgelegt werden kann und soll. Anders ausgedrückt soll der Gehalt der Vorschrift im Zuge der Gesetzesauslegung mithilfe des Rechtsguts erforscht werden, das aber selbst wiederum nur durch Gesetzesauslegung zu ermitteln ist. Es stellt sich demnach die Frage, ob der systemimmanente Rechtsgutsbegriff möglicherweise wegen eines logischen Fehlers unbrauchbar ist. a) Analyse des Schrifttums Im Schrifttum wird das Problem der Zirkularität nur selten erkannt oder gar diskutiert.522 Mitunter findet es in der Literatur zur Rechtstheorie im Zusammenhang mit der teleologischen Auslegung Berücksichtigung.523 Im Folgenden werden diejenigen Stellungnahmen, die sich ausführlicher dem Problem widmen, mit dem Ziel untersucht, eine Lösung des Zirkularitätsproblems zu finden. aa) Mezger Bereits früh hat Mezger das Phänomen beschrieben, das hier als Zirkularitätsproblem bezeichnet wird. Er hat es indes nicht als logisches Problem angesehen. Bei ihm heißt es: 522 Außer bei den im Haupttext Genannten findet das Problem insbesondere Erwähnung bei Baumann / Weber / Mitsch, Strafrecht AT, § 9 Rn. 69; Kubiciel, Wissenschaft, S. 48 f.; LK / Walter, vor § 13 Rn. 12; § 257 Rn. 4; § 258 Rn 3; Vormbaum, Strafrechtsgeschichte, S. 63. Angedeutet wird es auch bei Gaede (in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 183 [188 u. 194]), der es auflösen will, indem er vorpositive Wertungen in die Bestimmung des systemimmanenten Rechtsguts einbezieht. Er geht also von einem systemkritischen Rechtsgutsbegriff aus. Bei Dohmen / Sinn (KTS 2003, 205 [207]) wird – ebenfalls unter Zugrundelegung eines systemkritischen Rechtsgutsbegriffs – die „Wechselwirkung“ zwischen Rechtsgut und Tatbestand hervorgehoben. Im Hinblick auf ein konkretes Rechtsproblem der Tatbestandsauslegung wird das Zirkularitätsproblem erkannt bei MK / Barnickel (1. Aufl.), § 315b Rn. 11 (übernommen von MK / Pegel, § 315b Rn. 11). Angerissen, aber nicht aufgelöst wird das Problem bei Schlehofer, JuS 1992, 572 (576), dem folgend Herzberg, JuS 2005, 1 (8). 523 Etwa Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, Rn. 730a; Chr. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, S. 559.
II. Eigener Ansatz113 „Die Ermittlung des Rechtsguts in Beziehung auf den einzelnen strafgesetzlichen Tatbestand erfolgt im Wege der Auslegung des Gesetzes […]. Aber das so ermittelte Rechtsgut ist seinerseits wiederum das wichtigste Auslegungsmittel in Beziehung auf diesen Tatbestand und seine einzelnen Merkmale. Aus dem „Sinn“, aus der „kategorialen Synthese“, aus der wesenhaften Werterfassung, die wir für den einzelnen Tatbestand im Rechtsgut gewonnen haben, strömt erst das klärende Licht auf alle seine Einzelheiten.“524
Hiernach wird also zwischen der Auslegung der Gesamtnorm und des Tatbestandsmerkmals differenziert, wobei das Ergebnis des ersten Interpretationsvorgangs beim zweiten fruchtbar gemacht werden soll. Allerdings ändert dies nichts daran, dass es sich um ein zirkelschlüssiges Vorgehen handelt, denn eine Trennung des Gesamttatbestandes von seinen Einzelmerkmalen ist praktisch nicht möglich. Anders ausgedrückt, lässt sich die Gesamtnorm nicht begreifen, ohne auch die einzelnen Tatbestandsmerkmale in den Blick zu nehmen. Die Ausführungen Mezgers helfen demnach nicht über das Zirkularitätsproblem hinweg. Im aktuellen rechtstheoretischen Schrifttum525 wird versucht, bei grundsätzlicher Beibehaltung der von Mezger aufgezeigten Vorgehensweise den Zirkelschluss dadurch zu vermeiden, dass auf der ersten Stufe der Wortlaut, die Systematik und vor allem die Entstehungsgeschichte stärker gewichtet werden und der Normzweck ausgeblendet wird, und letzterem dann erst auf der zweiten Stufe großes Gewicht beigemessen wird. Hierdurch wird indes der Zirkelschluss nur verschleiert, denn bei näherer Betrachtung erfolgt auf beiden Stufen die Auslegung anhand der vier klassischen Auslegungsmethoden. Der Normzweck wird tatsächlich bereits auf der ersten Stufe berücksichtigt, allerdings vermittelt durch die anderen Auslegungsmethoden. Andererseits kommt den drei anderen Auslegungsmethoden auch auf der zweiten Ebene eine wesentliche Bedeutung zu, auch wenn sie im telos „verpackt“ werden.526 Da somit auf beiden Ebenen dieselben Aspekte herangezogen werden, kann der Begründungszirkel auf diese Weise nicht aufgelöst werden.
524 Mezger,
Lehrbuch, S. 201. Chr. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, S. 558 f.; Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, Rn. 730a. 526 Zur „Verbrämung“ der grammatikalischen oder systematischen Auslegung als teleologische, s. Herzberg, JuS 2005, 1 (7). 525 Vgl.
114
B. Der Rechtsgutsbegriff
bb) Nelles Soweit ersichtlich hat erstmalig Nelles das Problem der Zirkularität im Rahmen der Rechtsgutslehre als solches erkannt und erörtert.527 Sie weist zunächst daraufhin, dass eine andere Methode als die der Auslegung zur Ermittlung des Rechtsguts nicht zur Verfügung steht.528 Sie schlägt daher vor, „bei der Ermittlung des geschützten Rechtsgutes gerade diejenigen – zweifelhaften – Merkmale einer Norm nicht zu berücksichtigen, für deren Interpretation das geschützte Rechtsgut erst benötigt wird. Teleologische Argumentation ist danach nichts anderes als der Schluß aus bekannten Elementen einer Norm, ihren systematischen Bezügen und ihren Motiven auf ein Gut, verstanden als „werthafte Funktionseinheit“, die durch Wertentscheidung des Gesetzgebers zum „Rechtsgut“ geworden ist, um dieses materiale Kriterium dann für die Auslegung (der übrigen Elemente) der Norm einsetzen zu können.“529
Diese Vorgehensweise illustriert Nelles, indem sie prüft, ob die Untreue (§ 266 StGB) neben dem Vermögen auch ein Rechtsgut „Vertrauen“ schützt. Dafür klammert sie den Relativsatz „dem, dessen Vermögensinteressen er zu betreuen hat“ aus und versucht aus dem verbleibenden Rest der Vorschrift Anhaltspunkte für oder gegen ein weiteres geschütztes Rechtsgut zu ermitteln.530 Dies führt sie zu dem vorläufigen Ergebnis, dass das Vertrauen nicht als weiteres Rechtsgut des § 266 StGB anzuerkennen ist.531 Sodann bezieht sie den Teilsatz wieder ein und prüft unter Berücksichtigung desselben nochmals, ob die Untreue auch ein Vertrauen schützt.532 Gerade dieser letzte Schritt offenbart die Schwäche der von Nelles vorgeschlagenen Methodik. Bei Ausblendung der „zweifelhaften Merkmale“ der Norm gelangt sie zwangsläufig zu dem Ergebnis, dass es kein weiteres Rechtsgut neben dem Vermögen gibt, denn dann fehlen ja gerade sämtliche Anhaltspunkte für ein weiteres Rechtsgut. Diese Schwäche von Nelles’ Vorschlag sei an einem weiteren Beispiel illustriert. Unterstellt, man wäre sich uneinig, ob der Raub (§ 249 StGB) neben dem Eigentum (im Sinne der faktischen Verfügungsmöglichkeit des Eigentümers) auch die Willensfreiheit schützt, dann müsste man bei Zugrundelegung von Nelles’ Vorschlag die Wortgruppe „mit Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“ aus § 249 StGB für die Prüfung der Vorschrift im Hinblick auf das weitere Rechtsgut aus527 Nelles,
Untreue zum Untreue zum 529 Nelles, Untreue zum 530 Nelles, Untreue zum 531 Vgl. Nelles, Untreue 532 Nelles, Untreue zum 528 Nelles,
Nachteil von Gesellschaften, S. 289 ff. Nachteil von Gesellschaften, S. 290. Nachteil von Gesellschaften, S. 290. Nachteil von Gesellschaften, S. 291 ff. zum Nachteil von Gesellschaften, S. 296. Nachteil von Gesellschaften, S. 297 f.
II. Eigener Ansatz115
blenden. Es verblieben damit die Tatbestandsmerkmale, die einen Diebstahl beschreiben, sodass logischerweise kein weiteres Rechtsgut durch Auslegung aus der Rest-Norm hergeleitet werden kann. Dementsprechend kommt auch Nelles nicht um eine Interpretation der Vorschrift unter Einbeziehung der „problematischen“ Wortgruppe in § 266 StGB umhin. Erst auf diese Weise kann sie überzeugend begründen, warum die Untreue lediglich das Rechtsgut Vermögen schützt. Damit belegt sie implizit selbst die Schwäche der von ihr vorgeschlagenen Vorgehensweise. Der Ansatz von Nelles überzeugt demnach nicht. Weil der Ansatz aber scheinbar einen Ausweg aus der Zirkularitätsfalle aufzeigt, hat er prominente Zustimmung im Schrifttum erfahren.533 cc) Jacobi Ohne die frühere Erörterung des Problems bei Nelles zu erkennen, versucht auch Jacobi einen Ausweg aus dem „Erkenntniszirkel“ aufzuzeigen.534 Er schlägt eine „normalfallgelagerte Strukturanalyse“ vor, bei der in Anlehnung an Hafts Normfalltechnik535 zunächst eine Kerngruppe an Fällen zu bilden sei, „die zweifelsfrei unter den Tatbestand zu subsumieren sind.“536 „Von dieser Ausgangsbasis auf tatbestandlich gesichertem Boden braucht in einem zweiten Schritt anhand der realen Phänomene nur noch eine Bezeichnung des allen Normalfällen inhärenten Schutzzwecks zu erfolgen. Nach der auf diese Weise durchgeführten Ermittlung des Rechtsguts steht in einem dritten Schritt der Weg offen zur eigentlichen strafrechtlichen Aufgabe die Grenzen der einzelnen Tatbestandsmerkmale und damit der Strafbarkeit insgesamt festzustellen.“537
Auch dieser Weg löst indes nicht das Zirkularitätsproblem, denn die Einordnung eines Falls als „Normalfall“ enthält bereits eine Vorentscheidung. Eben diese Vorentscheidung beeinflusst unmittelbar, ob etwas als Rechtsgut der Norm ermittelt wird oder nicht. Will man unter Zugrundelegung von Jacobis Methode klären, ob der Diebstahl (§ 242 StGB) neben dem Eigentum (verstanden als faktische Verfügungsmöglichkeit des Eigentümers) auch den Gewahrsam schützt, so hängt die Antwort schlicht davon ab, ob man es unter die „Normalfälle“ fasst, dass eine Sache nicht aus dem Gewahrsam des Eigentümers, sondern aus dem Gewahrsam eines Dritten gestohlen wird. Sieht man eher Sachverhalte wie die Entwendung des Portemonnaies 533 So bei Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter, S. 25; Wappler, Der Erfolg der Strafvereitelung, S. 139. 534 Jacobi, Kapitalanlagebetrug, S. 18 ff. 535 Dazu Haft, Juristische Rhetorik, S. 69 ff.; ders., Einführung in das juristische Lernen, S. 181 ff. 536 Jacobi, Kapitalanlagebetrug, S. 20. 537 Jacobi, Kapitalanlagebetrug, S. 20.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
aus der Gesäßtasche des Eigentümers als „Normalfall“ an, wird man anders entscheiden, als wenn man verstärkt auch an den Diebstahl von Miet- und Leasingfahrzeugen im Herrschaftsbereich des Mieters oder Leasingnehmers denkt (und davon ausgeht, dass der Gesetzgeber gerade auch den Mieter bzw. Leasingnehmer mit der Schaffung des Diebstahlstatbestand vor solchen Entwendungen schützen wollte). Jacobi illustriert erstaunlicherweise seine Methode nicht anhand des Gegenstands seiner Arbeit, dem Tatbestand des Kapitalanlagebetrugs. Bevor er sich der Ermittlung des Rechtsguts des § 264a StGB zuwendet, stellt er stattdessen zwei neue Kriterien für dessen Erforschung auf: es müsse „präzise“ und „auslegungsoptimal“ sein.538 Die Forderung nach präziser Fassung der Rechtsgüter ist berechtigt, wie bereits dargelegt wurde.539 Allerdings ist Präzision ein relatives Kriterium, das sich nur bei der Auswahl eines Rechtsguts unter mehreren in Betracht kommenden als hilfreich erweist. Vor allem liefert der Begriff der Präzision jedoch keine Anhaltspunkte für die inhaltliche Fassung des Rechtsguts, da es sich um ein rein formales Kriterium handelt. Das zweite genannte Kriterium ist nicht nur inhaltsarm, sondern darüber hinaus auch bedenklich. Mit „auslegungsoptimal“ meint Jacobi, dass dasjenige Rechtsgut zu suchen ist, das „die Auslegung am weitesten voranbringt.“540 Wie die sodann exerzierte Auslegung des § 264a StGB zeigt, ist damit bei Lichte betrachtet gemeint, dass dasjenige Rechtsgut zu suchen ist, das die Auslegung im gewünschten Sinne am weitesten voranbringt, mit dem also die intendierten Ergebnisse erzielt werden können. Außer mit einer ergebnisorientierten Herangehensweise lässt sich nicht erklären, dass Jacobi das Rechtsgut „Vermögen“541 als auslegungsoptimal ansieht, nicht aber beispielsweise das Rechtsgut „Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts“.542 Damit erweist sich Jacobis Vorgehensweise ebenfalls als zirkulär, was angesichts seines anfänglichen Problembewusstseins verwundern muss. dd) Szebrowski Szebrowski benennt – wie Jacobi ohne jede Bezugnahme auf frühere einschlägige Arbeiten – in seiner Arbeit zum „Kick-Back“ zwei hermeneutische Zirkel hinsichtlich des Rechtsgutsbegriffs. Der eine betrifft die Abhängigkeit des Rechtsgutsbegriffs von der ihm beigemessenen Funktion, die 538 Jacobi,
Kapitalanlagebetrug, B. II. 1. b) aa). 540 Jacobi, Kapitalanlagebetrug, 541 Jacobi, Kapitalanlagebetrug, 542 Jacobi, Kapitalanlagebetrug, 539 Unter
S. 37 f. S. 43. S. 45 f. S. 48 f.
II. Eigener Ansatz117
eine systemkritische oder eine systemimmanente sein kann.543 Dieser Hinweis ist zutreffend und ihm kann durch konsequente Orientierung an einer dieser Funktionen (wie in dieser Arbeit an der systemimmanenten) Rechnung getragen werden. Der andere Zirkel bezieht sich darauf, dass das Rechtsgut aus dem Tatbestand zu ermitteln ist, dessen Auslegung wiederum vom Rechtsgut beeinflusst wird.544 Szebrowski führt hierzu aus: „Will man innerhalb dieses Zirkels zu Ergebnissen kommen, muss man bei einem Merkmal einen Einstieg wählen und die beiden Pole dann in wechselseitiger Betrachtung aufeinander beziehen und erhellen. Als Einstieg bietet sich der Tatbestand der untersuchten Vorschrift an, denn erst durch die Vorschrift ist das Rechtsgut konstituiert und in seiner Reichweite umrissen worden. Daher ist zunächst eine Analyse des zu untersuchenden Tatbestands notwendig. Aus dieser Analyse lassen sich diejenigen Werte ermitteln, die durch das tatbestandliche Verhalten beeinträchtigt werden. Diese so ermittelten Werte stellen aber nicht automatisch auch das Rechtsgut der Vorschrift dar. Das Rechtsgut einer Strafvorschrift muss besondere verfassungsrechtliche Voraussetzungen erfüllen. Damit die Strafvorschrift Bestand haben kann, muss das Rechtsgut den Anforderungen des Art. 2 Abs. 2 GG und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen, es muss einen elementaren Wert der Gemeinschaftsordnung darstellen.“545
Szebrowski möchte dem hermeneutischen Zirkel demnach entkommen, indem er das Rechtsgut zwar durch Auslegung ermittelt, aber sodann einer verfassungsrechtlichen Korrektur unterzieht. Er entscheidet sich dabei zwar explizit gegen einen systemkritischen Rechtsgutsbegriffs, lässt jedoch gleichwohl vorpositive Wertungen einfließen, allerdings erst, nachdem er das Gesetz ausgelegt hat. Er bezeichnet dies als „umgekehrte Systemkritik“.546 Eine überzeugende Lösung des Zirkularitätsproblems stellt dieser Vorschlag nicht dar, und zwar auch unabhängig davon, dass Szebrowski faktisch einem systemkritischen Rechtsgutsbegriff folgt. Vielmehr enthält der Vorschlag lediglich einen Hinweis auf die Notwendigkeit der Prüfung von Auslegungsergebnissen anhand der Verfassung und die sich daraus gegebenenfalls ergebende verfassungskonforme Auslegung von Vorschriften.547 Jedoch bestehen nur selten Zweifel an der Verfassungskonformität von 543 Szebrowski, Kick-Back, S. 148 unter Bezugnahme auf Marx, Zur Definition des Begriffs Rechtsgut, S. 13. 544 Szebrowski, Kick-Back, S. 150. 545 Szebrowski, Kick-Back, S. 150 f. 546 Szebrowski, Kick-Back, S. 151. 547 Zur verfassungskonformen Auslegung im Strafrecht: BeckOK / von HeintschelHeinegg, § 1 Rn. 21 ff.; NK / Hassemer / Kargl, § 1 Rn. 110 ff.; Schönke / Schröder / Eser / Hecker, § 1 Rn. 50. Erwiese sich die verfassungskonforme Auslegung einer Vorschrift als unmöglich, so wäre die Vorschrift vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig zu erklären.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
Strafvorschriften548 oder von Auslegungsergebnissen im Strafrecht, sodass es zumeist beim zunächst gefundenen Auslegungsergebnis verbleibt. Die verfassungsorientierte Betrachtung hebt somit das Zirkularitätsproblem nicht auf. Selbst wenn sich jedoch eine verfassungskonforme Restriktion als geboten erweisen sollte, würde diese überdies nichts daran ändern, dass primärer Bezugspunkt der Auslegung das durch Auslegung zu ermittelnde Rechtsgut ist. Auch Szebrowskis Exemplifizierung seiner Vorgehensweise anhand des Tatbestands der Bestechung und Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr (§ 299 StGB) erhellt nicht, wie er den Zirkel auflösen will. Zunächst fällt auf, dass er sich nur formal an seinem zweischrittigen Procedere orientiert. Er führt weder die Tatbestandsauslegung noch die verfassungsrechtliche Prüfung sorgfältig durch, sondern schließt an seine Darstellung der Tatbestandsmerkmale eine „generalisierende Betrachtung“ an.549 Diese ist wiederum Ausgangspunkt für eine verfassungsrechtliche Überprüfung mehrerer in Betracht kommender Rechtsgüter. Eine logische Verknüpfung oder ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen diesen Schritten findet sich hingegen nicht. Insgesamt erscheint die Ermittlung des Rechtsguts des § 299 StGB bei Szebrowski als ein Gegenüberstellen und Abwägen zahlreicher Argumente, die vordergründig in eine Schrittfolge eingepasst werden. Eine Durchbrechung des hermeneutischen Zirkels kann auf diese Weise freilich nicht erreicht werden. ee) Fazit Nach der Analyse des Schrifttums lässt sich nach alledem kein Ausweg aus der Problematik der Zirkularität erkennen. Dies verwundert angesichts der hohen Bedeutung, die gemeinhin dem Rechtsgut für die Auslegung beigemessen wird. Zugleich ist das magere Ergebnis der Literaturanalyse ein Indiz dafür, dass es keinen Ausweg aus dem Problem der Zirkularität gibt. Möglicherweise ist dieses Ergebnis jedoch bloß durch den eingeschlagenen Weg, das Schrifttum im Hinblick auf Lösungen des Zirkularitätsproblemen zu untersuchen, bedingt.
548 Dass ein Straftatbestand für verfassungswidrig erklärt wird, stellt eine absolute Ausnahme dar, wie die Analyse der Verfassungsgerichtsrechtsprechung zeigt, vgl. Vogel, StV 1996, 110 (112). 549 Szebrowski, Kick-Back, S. 159 ff.
II. Eigener Ansatz119
b) Untersuchung von im Schrifttum genannten Beispielen Da die vorgehende Untersuchung des Schrifttums keine Auswege aus dem Problem der Zirkularität gewiesen hat, sollen im nächsten Schritt einige Beispiele untersucht werden, anhand derer in der Literatur die Relevanz des Rechtsguts für die Auslegung illustriert wird. Auf diese Weise soll analysiert werden, ob und inwiefern sich das Problem der Zirkularität bei der Heranziehung des systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs bei konkreten Fragestellungen stellt. Außerdem kann so aufgezeigt werden, welche Bedeutung das Rechtsgut tatsächlich bei der Gesetzesinterpretation hat. Zunächst fällt auf, dass mitunter die hohe Bedeutung des Rechtsguts für die Auslegung behauptet wird, ohne Beispiele hierfür zu nennen.550 Am ehesten wird auf Rechtsprobleme aus dem Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs verwiesen, bei denen mit dem Rechtsgut argumentiert werden kann.551 Mitunter werden jedoch auch Beispiele angeführt, die sich unmittelbar auf Vorschriften des Besonderen Teils beziehen.552 Diese lassen sich nach der Art der rechtsgutsbezogenen Argumentation in zwei Fallgruppen untergliedern. Die erste zeichnet sich durch eine zirkuläre Argumentation aus [dazu sogleich unter aa)]. Bei der zweiten betrifft die Auseinandersetzung nicht das Rechtsgut als solches, sondern die besonders gering oder besonders stark ausgeprägte Strafwürdigkeit des Rechtsgutsangriffs [dazu sogleich unter bb)]. aa) Zirkuläre Argumentationen In vielen Fällen, die als Beleg für die Bedeutung des Rechtsguts bei der Auslegung herangezogen werden, offenbart sich bei näherer Betrachtung der bereits beschriebene Begründungszirkel. Das Auslegungsergebnis eines Rechtsproblems wird wesentlich mit dem Schutz eines bestimmten Rechtsguts begründet, wobei nicht gesehen wird, dass diese Rechtsgutsauffassung ihrerseits begründungsbedürftig ist, beziehungsweise dass das angenommene Rechtsgut seinerseits Resultat einer Auslegung ist. Dies soll im Folgenden anhand einiger Fälle veranschaulicht werden. 550 So bei Ebert, Strafrecht AT, S. 2; LK / Dannecker, § 1 Rn. 319; Otto, Allgemeine Strafrechtslehre, § 1 Rn. 41. 551 So bei B. Heinrich, Strafrecht AT I, Rn. 10; Krey / Esser, Strafrecht AT, Rn. 8 f.; Kudlich, Strafrecht AT, S. 1; Maurach / Zipf, Strafrecht AT / 1, § 19 Rn. 17 ff.; Murmann, Grundkurs Strafrecht, § 8 Rn. 10 ff. 552 Vgl. Gaede, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 183 (184); NK / Hassemer / Kargl, § 1 Rn. 109; Schönke / Schröder / Eser / Hecker, § 1 Rn. 48; SK / Rudolphi, § 1 Rn. 33; SSW / Satzger, § 1 Rn. 43; Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, S. 32.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
Als erstes Beispiel möge der Fall des alkoholisierten Autofahrers dienen, der gegen ein ordnungsgemäß geparktes Fahrzeug gefahren ist und dieses beschädigt hat, sodann dem Eigentümer des beschädigten Fahrzeugs gegenüber die notwendigen Angaben gemacht und sich sodann vom Unfallort entfernt hat.553 Bei der Prüfung, ob sich der alkoholisierte Fahrer wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort gem. § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar gemacht hat, wird häufig unter Rückgriff auf das Rechtsgut argumentiert. Da der Straftatbestand des § 142 StGB das Vermögen und nicht etwa das Strafverfolgungsinteresse des Staates als Rechtsgut schütze, habe sich der Fahrer nicht wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort strafbar gemacht.554 Den Vermögensinteressen des Eigentümers des beschädigten Fahrzeugs sei schließlich hinreichend Rechnung getragen, zumal die Haftungslage bei Beschädigung eines ordnungsgemäß geparkten Autos eindeutig ist. Dementsprechend sei es unerheblich, dass der alkoholisierte Fahrer durch sein Entfernen die Beweismöglichkeiten der Polizei hinsichtlich einer Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c StGB) beeinträchtigt hat.555 Im Hinblick auf den Wortlaut der Vorschrift „zugunsten der anderen Unfallbeteiligten und der Geschädigten“ ist dieses Ergebnis im Schrifttum nahezu unbestritten.556 Gleichwohl ist die Argumentation zirkulär. Denn das Ergebnis fiele gegensätzlich aus, wenn man das „Interesse an der Strafverfolgung und an der Ausschaltung ungeeigneter Verkehrsteilnehmer“557 als (weiteres) Rechtsgut des § 142 StGB ansähe. Das Ergebnis der Auslegung des § 142 StGB zum Einzelproblem steht und fällt folglich mit der vorangegangenen Rechtsgutsbestimmung. Die Feststellung, dass § 142 StGB nur das Vermögen schützt, ist jedoch wiederum Ergebnis eines Auslegungsvorgangs, bei dem der Gesetzeswortlaut besonders gewichtet worden ist. Ein weiteres Beispiel für zirkuläre rechtsgutsbezogene Argumentationen bezieht sich auf den Tatbestand der falschen Verdächtigung (§ 164 StGB). Bei diesem ist umstritten, ob er ein Individualrechtsgut, ein Kollektivrechtsgut oder beides schützt.558 Worin das geschützte Rechtsgut erblickt wird, 553 Vgl. OLG Oldenburg NJW 1968, 2019; OLG Zweibrücken NZV 1990, 78; Jescheck / Weigend, Strafrecht AT, S. 259. 554 Vgl. Jescheck / Weigend, Strafrecht AT, S. 259; s. auch Hettinger, JuS 1997, L 33 (36). 555 Vgl. Jescheck / Weigend, Strafrecht AT, S. 259; s. auch Hettinger, JuS 1997, L 33 (36). 556 s. zum Meinungsstand BGH VRS 4 (1952), 48 (49); VRS 39 (1970), 184 (185); OLG Oldenburg NJW 1968, 2019 f.; OLG Köln NStZ-RR 1999, 251; Dvorak, JZ 1981, 16 (19); ders., MDR 1982, 804 (805); LK / Geppert, § 142 Rn. 107; MK / Zopfs, § 142 Rn. 70; Rengier, Strafrecht BT / II, § 46 Rn. 16; Schönke / Schröder / Sternberg-Lieben, § 142 Rn. 23; SK / Rudolphi, § 142 Rn. 27. 557 Vgl. dazu Hettinger, JuS 1997, L 33 (36). 558 s. dazu nur Fischer, StGB, § 164 Rn. 2.
II. Eigener Ansatz121
beeinflusst die Antwort auf die Frage, ob eine falsche Verdächtigung, die mit Einwilligung des Verdächtigten erfolgt, als solche strafbar sein kann.559 So wird die Möglichkeit einer rechtfertigenden Einwilligung entweder auf Grundlage der Annahme, dass die Vorschrift lediglich ein Individualrechtsgut schützt, bejaht560 oder unter der Prämisse eines (zumindest auch) kollektivrechtsgüterschützenden Charakters verneint.561 Die Frage des Rechtsguts und der Einwilligungsmöglichkeit sind demnach so eng miteinander verbunden, dass entsprechende Schlussfolgerungen vom einen auf das andere wegen Zirkularität aus logischer Sicht problematisch sind. Es erweist sich demnach als Scheinargumentation, wenn Krey / Esser mit Hinweis auf die „nach herrschender und zutreffender Ansicht“ geschützten Rechtsgüter eine Antwort auf die Frage der Einwilligungsmöglichkeit bei § 164 StGB ableiten wollen.562 In vergleichbarer Weise wird bei der Frage argumentiert, ob die konkrete Gefährdung von Leib oder Leben des Beifahrers bei einer Trunkenheitsfahrt auch dann eine Strafbarkeit des Fahrzeugführers wegen Straßenverkehrsgefährdung gem. § 315c Abs. 1 Nr. 1 StGB begründen kann, wenn der Beifahrer um die fehlende Fahrtüchtigkeit des Fahrers wusste und gleichwohl bereit war, mit ihm mitzufahren.563 Auch hier besteht ein Begründungszirkel zwischen dem angenommenen Rechtsgut (oder Rechtsgütern) und der Frage der Einwilligungsfähigkeit, insofern als die Beantwortung der Streitfrage davon abhängt, ob man allein Individualrechtsgüter oder zumindest auch ein Kollektivrechtsgut als von § 315c StGB geschützt ansieht.564 Ein weiteres Beispiel stellt die Argumentation der Rechtsprechung zu der Frage dar, ob die durch Täuschung erreichte Abwendung der Betrei559 Vgl. nur Roxin, Strafrecht AT / 1, § 13 Rn. 34; Schönke / Schröder / Lenckner / Bosch, § 164 Rn. 1a f. 560 So NK / Vormbaum, § 164 Rn. 66 m. w. N. 561 Vgl. RGSt 59, 34 (35); BGHSt 5, 66 (67 f.); OLG Düsseldorf NJW 1962, 1263 f.; BeckOK / Valerius, § 164 Rn. 24; Eisele, Strafrecht BT I, Rn. 1178; Kindhäuser, Strafrecht BT I, § 52 Rn. 1; Krey / Hellmann / Heinrich, Strafrecht BT / 1, Rn. 804; Lackner / Kühl, § 164 Rn. 11; LK / Ruß, § 164 Rn. 33; MK / Zopfs, § 164 Rn. 43; Rengier, Strafrecht BT / II, § 50 Rn. 1; Schönke / Schröder / Lenckner / Bosch, § 164 Rn. 23; SK / Rudolphi / Rogall, § 164 Rn. 46. 562 Krey / Esser, Strafrecht AT, Rn. 9. 563 Zum Problem siehe: BGHSt 23, 261 (262 ff.); Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 38 Rn. 43 f.; Eisele, Strafrecht BT I, Rn. 855; Fischer, StGB, § 315c Rn. 17; Geppert, ZStW 83 (1971), 947 (984 ff.); Hillenkamp, JuS 1977, 166 (170 ff.); Kindhäuser, Strafrecht BT I, § 68 Rn. 22 ff.; Krey / Hellmann / Heinrich, Strafrecht BT / 1, Rn. 1124; LK / König, § 315c Rn. 161; Rengier, Strafrecht BT / II, § 44 Rn. 18 ff.; Schönke / Schröder / Sternberg-Lieben / Hecker, § 315c Rn. 41; SK / Wolters, § 315c Rn. 22, jeweils m. w. N. 564 s. auch Roxin, Strafrecht AT / 1, § 13 Rn. 35.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
bung von Säumnis- und Verspätungszuschlägen sowie Zwangsgeldern als steuerlichen Nebenleistungen eine Steuerhinterziehung (§ 370 AO) darstellt. Der Bundesgerichtshof lehnt dies mit der Begründung ab, Rechtsgut des § 370 AO sei der „Anspruch des Steuergläubigers auf den vollen Ertrag jeder einzelnen Steuer“, nicht aber „der allgemeine Zahlungsanspruch des Fiskus“.565 Dieses Argument ließe sich jedoch genauso gut umdrehen dergestalt, dass auf der Grundlage eines anderen Rechtsguts das konkrete Rechtsproblem der gegenteiligen Lösung zugeführt würde. Welches Rechtsgut richtigerweise zu Grunde zu legen ist, ist jedoch bei näherer Betrachtung das Ergebnis eines Auslegungsvorgangs. Bei diesen Beispielen soll es sein Bewenden haben. Sie sollten verdeutlichen, dass sich auch in concreto bestätigt, dass rechtsgutsbezogene Argumentationen häufig zirkulär sind. Zwar ist die Ableitung der Lösung eines konkreten Rechtsproblems anhand des geschützten Rechtsguts durchaus schlüssig, jedoch ist die Prämisse (sprich: das von der Strafvorschrift geschützte Rechtsgut) mitnichten feststehend. Die Argumentation mithilfe des Rechtsguts suggeriert eine logische Zwangsläufigkeit, die tatsächlich nicht gegeben ist. So verwundert es nicht, dass mit dem Streit um das richtige Auslegungsergebnis nicht selten eine Meinungsverschiedenheit hinsichtlich der richtigen Rechtsgutsbestimmung einhergeht. Dementsprechend ist, was kaum beachtet wird, bei keiner Strafvorschrift das Rechtsgut unumstritten. Diese These bedarf näherer Erläuterung, denn schließlich bestreitet kaum jemand, dass das Vermögen das Rechtsgut des § 263 StGB, die Ehre das Rechtsgut des § 185 StGB und die Fortbewegungsfreiheit das Rechtsgut des § 239 StGB ist.566 Doch diese Begriffe suggerieren eine Einigkeit, die tatsächlich nicht gegeben ist. So besteht erheblicher Streit um die Frage, wie der strafrechtliche Vermögensbegriff inhaltlich zu bestimmen ist, insbesondere ob eine juristische, eine wirtschaftliche oder eine juristisch-ökonomische Betrachtungsweise zu Grunde zu legen ist.567 Auch ist die Reichweite des strafrechtlichen Ehrbegriffs ungeklärt, insbesondere ob die Ehre normativ 565 BGHSt
43, 381; auch BayObLG NStZ 1981, 147. § 263 StGB: Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 20 Rn. 15; Schönke / Schröder / Perron, § 263 Rn. 1; zu § 185 StGB: Eisele, Strafrecht BT I, Rn. 560; Schönke / Schröder / Lenckner / Eisele, vor § 185 Rn. 1; Wessels / Hillenkamp, Strafrecht BT / 2, Rn. 489; zu § 239 StGB: Kindhäuser, Strafrecht BT I, § 15 Rn. 1; NK / Sonnen, § 239 Rn. 4; SK / Horn / Wolters, § 239 Rn. 2. 567 s. nur MK / Hefendehl, § 263 Rn. 337 ff.; Schönke / Schröder / Perron, § 263 Rn. 78b ff. Vgl. auch Pragal, ZIS 2006, 63 (64 f.), der am Beispiel des Betrugs illustriert, warum der systemimmanente Rechtsgutsbegriff nach seiner Auffassung „erheblich überschätzt“ wird. 566 Zu
II. Eigener Ansatz123
oder faktisch oder normativ-faktisch zu bestimmen ist.568 Bei der Fortbewegungsfreiheit ist unklar, ob der aktuelle, der aktualisierbare oder auch der nur potentielle Wille, sich fortzubewegen, vom Tatbestand der Freiheitsberaubung geschützt wird.569 Und selbst hinter der scheinbar eindeutigen Bezeichnung des menschlichen Lebens als Rechtsgut der §§ 211 ff. StGB verbirgt sich ein vehementer Streit über dessen Konturen, denn die Frage, wann das strafrechtlich geschützte Leben beginnt570 und endet,571 ist alles andere als geklärt.572 bb) Argumentationen mit der Strafwürdigkeit des Rechtsgutsangriffs Auf eine weitere Verwendung des Rechtsguts als Hilfsmittel der Auslegung weisen die Ausführungen von Eser / Hecker hin. Sie betonen die Bedeutung der Feststellung des Schutzzwecks der Norm für die „funktionsgerechte Auslegung und Anwendung“ der Strafvorschriften, da diese „den Schutz eines bestimmten Rechtsgutes bezwecken“.573 Sie belegen die Bedeutung des Rechtsguts mit zahlreichen Beispielen. Analysiert man diese im Einzelnen, so fällt auf, dass es bei ihnen nicht darum geht, ob ein bestimmtes Rechtsgut durch ein konkretes Verhalten gefährdet oder verletzt wird, sondern um die Strafwürdigkeit dieses Verhaltens (in Bezug auf das Rechtsgut). Es wird also entweder hervorgehoben, dass ein Verhalten tatbestandsmäßig sei (oder sein müsse), weil es das Rechtsgut (in besonderem Maße) beeinträchtige, oder umgekehrt dass es nicht tatbestandsmäßig sei (oder nicht sein dürfe), weil es das Rechtsgut nicht in relevantem Umfang beeinträchtige. In die erste Untergruppe fällt die (angeblich rechtsgutsbezogene) Argumentation, dass auch „eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung der Brauch568 s. nur Kindhäuser, Strafrecht BT I, § 22 Rn. 2 ff.; Schönke / Schröder / Lenckner / Eisele, vor § 185 Rn. 1; SK / Rudolphi / Rogall, vor § 185 Rn. 2 ff. 569 Zum Streitstand im Überblick Hillenkamp, 40 Probleme Strafrecht BT, S. 26 ff.; s. auch Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 9 Rn. 12 ff.; Eisele, Strafrecht BT I, Rn. 428; Gössel / Dölling, Strafrecht BT / 1, § 19 Rn. 2 ff.; Kindhäuser, Strafrecht BT I, § 15 Rn. 2 ff.; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 1, § 14 Rn. 2; Rengier, Strafrecht BT / II, § 22 Rn. 2 ff.; SK / Horn / Wolters, § 239 Rn. 2 ff. 570 Insoweit ist die Problematik durch den rechtlichen Schutz des „ungeborenen Lebens“ durch die Vorschriften zur Abtreibung (§§ 218 ff. StGB) und zum Embryonenschutz nach dem Embryonenschutzgesetz weitgehend vorgelagert worden. 571 s. nur Gössel / Dölling, Strafrecht BT / 1, § 2 Rn. 8 ff.; Rengier, Strafrecht BT / II, § 3 Rn. 2 ff.; Wessels / Hettinger, Strafrecht BT / 1, Rn. 5 ff. 572 Pragal, Korruption, S. 103; Wohlers, Deliktstypen, S. 65 ff. 573 Schönke / Schröder / Eser / Hecker, § 1 Rn. 48.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
barkeit eine Sachbeschädigung darstellt“, weil § 303 StGB „den Eigentümer davor bewahren soll, dass seine Sache in ihrem Wert herabgesetzt oder vernichtet wird“.574 Zwar trifft es zu, dass ein Verhalten wie das bloße Zerlegen einer Maschine in ihre Einzelteile575 das von § 303 StGB nach ganz herrschender Meinung geschützte Rechtsgut Eigentum, verstanden als Integrität und bestimmungsgemäße Brauchbarkeit der Sache,576 beeinträchtigt. Diese Rechtsgutsbestimmung leistet jedoch keinen entscheidenden Beitrag zur Beantwortung der Frage, ob auch die Beeinträchtigung der Brauchbarkeit einer Sache von § 303 StGB erfasst wird. Die Argumentation mit dem beziehungsweise die Bezugnahme auf das Rechtsgut erfolgt in diesem Kontext lediglich affirmativ, also um die Strafbarkeit des Verhaltens nochmals zu „bestätigen“. Mitunter wird das Rechtsgut jedoch nicht nur zur Bestätigung einer weitgehend „unproblematischen“ Rechtsauffassung, sondern darüber hinaus zur Begründung eines weiten (und deshalb angreifbaren) Auslegungsergebnisses herangezogen. So begründet der Bundesgerichtshof, dass entgegen dem Wortlaut des § 152a Abs. 1 Nr. 1 StGB (Fälschung von Zahlkarten, Schecks und Wechseln) zur Tatbestandserfüllung nicht die Fälschung von [mehreren] Zahlkarten erforderlich ist, sondern die Fälschung einer Zahlkarte genügt, mit folgendem rechtsgutsbezogenen Argument:577 „Dem wirksamen Schutz des Rechtsguts des § 152a StGB – die Sicherheit und Funktionsfähigkeit des bargeldlosen Zahlungsverkehrs – […] trägt nur eine Auslegung Rechnung, die den Tatbestand auch auf die Fälschung lediglich einer Zahlungskarte anwendet; denn der bargeldlose Zahlungsverkehr wird bereits durch die Fälschung einer Karte nachhaltig gefährdet.“578
Tatsächlich kommt es bei dieser Argumentation auf die konkrete Rechtsgutsbestimmung, die im Übrigen weitgehend unumstritten ist,579 nicht entscheidend an. Vielmehr geht es lediglich um die Begründung der Strafbar574 Schönke / Schröder / Eser / Hecker,
§ 1 Rn. 48. Schönke / Schröder / Stree / Hecker, § 303 Rn. 11, auch Eisele, Strafrecht BT II, Rn. 437. A. A. zu dieser Frage: NK / Zaczyk, § 303 Rn. 11. 576 Vgl. BeckOK / Weidemann, § 303 Rn. 1; Lackner / Kühl, § 303 Rn. 1; MK / Wieck-Noodt, § 303 Rn. 1; Schönke / Schröder / Stree / Hecker, § 303 Rn. 1; Wessels / Hillenkamp, Strafrecht BT / II, Rn. 13a. 577 Zu diesem Beispiel auch Eisele, Strafrecht BT I, Rn. 14. 578 BGHSt 46, 147 (151). 579 Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 34 Rn. 30; BeckOK / Weidemann, § 152a Rn. 2; Lackner / Kühl, § 152a Rn. 1; Fischer, StGB, § 152a Rn. 2; Krey / Hellmann / Heinrich, Strafrecht BT / 1, Rn. 1059; LK / Ruß, § 152a Rn. 2; MK / Erb, § 152a Rn. 1; Schönke / Schröder / Sternberg-Lieben, § 152a Rn. 1; SSW / Wittig, § 152a Rn. 1; Wessels / Hettinger, Strafrecht BT / 1, Rn. 946; a. A. NK / Puppe, § 152a Rn. 3. 575 Vgl.
II. Eigener Ansatz125
keit eines Verhaltens, das bei strenger Wortlautauslegung von der Vorschrift nicht erfasst wird, jedoch strafwürdig erscheint. In diesem Fall dient das Rechtsgut also dazu, eine extensive Auslegung der jeweiligen Vorschrift zu stützen. Dabei wird das Ziel eines möglichst effektiven Schutzes des Rechtsgutes in den Vordergrund gerückt,580 sodass in Zweifelsfällen eher die Strafbarkeit bejaht als verneint wird. In die zweite Untergruppe fallen die folgenden Beispiele, bei denen zwar eine Strafvorschrift restriktiv ausgelegt wird, dies aber – trotz gegenteiliger Behauptung581 – nicht aus rechtsgutsbezogenen Gründen geschieht. Das Rechtsgut dient lediglich als Argumentationstopos, um die fehlende Notwendigkeit einer Bestrafung des konkreten Verhaltens zu untermauern. Mit dem „Schutzzweck der Norm“ wird beispielsweise begründet, dass ein Arzt, der einen geflohenen Straftäter behandelt, sich nicht wegen Strafvereitelung (§ 258 StGB) strafbar macht, auch wenn er ihm dadurch – wie er weiß – die weitere Flucht erst ermöglicht.582 Durch dieses Verhalten wird das Rechtsgut des § 258 StGB, das zumeist in der „staatlichen Rechtspflege in ihrer Aufgabe, den Täter einer rechtswidrigen Tat zu bestrafen“,583 erblickt wird, durchaus beeinträchtigt.584 Bei Lichte betrachtet, kann anhand des Rechtsguts nicht begründet werden, warum der Arzt nicht zu bestrafen ist.585 Die Erwägung, die zum Ergebnis der fehlenden Tatbestandsmäßigkeit führt, ist die Annahme, dass das Verhalten sozialadäquat und deshalb nicht strafwürdig ist, jedenfalls solange der Arzt nur seinen berufstypischen Pflichten nachkommt.586 Ein weiteres Beispiel ist der Streit um den Vollendungszeitpunkt bei der Falschbeurkundung im Amt. Hier wird mitunter mit Hinweis auf den „Schutzzweck der Norm“ Vollendung erst dann angenommen, wenn der 580 Ausdrücklich Eisele, Strafrecht BT I, Rn. 14; B. Heinrich, Strafrecht AT I, Rn. 147. 581 Bezug genommen wird hier wieder auf Schönke / Schröder / Eser / Hecker, § 1 Rn. 48. 582 Vgl. Schönke / Schröder / Stree / Hecker, § 258 Rn. 22; differenzierend NK / Altenhain, § 258 Rn. 29; Küpper, GA 1987, 385 (402). 583 s. zum Rechtsgut BGHSt 45, 97 (101); Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 26 Rn. 1; Fischer, StGB, vor § 257 Rn. 2; Eisele, Strafrecht BT II, Rn. 1039; Kindhäuser, Strafrecht BT I, § 51 Rn. 1; LK / Walter, § 258 Rn. 4 ff.; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 2, § 100 Rn. 5; MK / Cramer, § 258 Rn. 3; Rengier, Strafrecht BT / I, § 21 Rn. 1; Satzger, JURA 2007, 754 (755); Schönke / Schröder / Stree / Hecker, § 258 Rn. 1; Wessels / Hettinger, Strafrecht BT / 1, Rn. 719. 584 s. auch LK / Walter, § 258 Rn. 61. 585 Zutreffend NK / Altenhain, § 258 Rn. 28; im Ansatz auch bereits Frisch, JuS 1983, 915 (918 f.); Küpper, GA 1987, 385 (390 f.). 586 Vgl. MK / Cramer, § 258 Rn. 28 f.; Rengier, Strafrecht BT / I, § 21 Rn. 37; Satzger, JURA 2007, 754 (758 f.); SK / Hoyer, § 258 Rn. 24.
126
B. Der Rechtsgutsbegriff
Amtsträger sich der Urkunde entäußert hat.587 Der Sache nach berührt dies aber nicht Fragen des Rechtsguts, denn der Rechtsverkehr wird bereits durch die schlichte Herstellung einer unwahren öffentlichen Urkunde gefährdet, da nicht auszuschließen ist, dass diese auch ohne den Willen des Amtsträgers in fremde Hände gelangt. Das Rechtsgut zwingt folglich nicht zu einer einschränkenden Auslegung. Vielmehr erfolgt diese mit dem Ziel, die Vorschrift im Hinblick auf die weite Vorverlagerung der formellen Vollendung, die einen Rücktritt nach § 24 StGB eigentlich verhindern würde, zu korrigieren.588 Es geht also um die Strafwürdigkeitserwägung, dass es nach Ansicht der betreffenden Strafjuristen unangemessen erscheint, einen Amtsträger zu bestrafen, der zunächst bewusst eine unwahre Urkunde herstellt, diese aber wieder vernichtet, bevor sie in den Rechtsverkehr gelangt ist. Bei den angeführten Beispielen, die sich leicht ergänzen ließen,589 zeigt sich demnach, dass es im Kern nicht um Fälle der rechtsgutsbezogenen Auslegung, sondern um Fragen der Strafwürdigkeit geht. Auf der einen Seite wird der Rechtsgutsbegriff bemüht, um einen bestmöglichen Schutz der Rechtsgüter zu fordern und daraus Schlussfolgerungen für konkrete Rechtsprobleme zu ziehen.590 Auf der anderen Seite wird betont, dass umfassender Rechtsgüterschutz nicht alleiniges Ziel der Strafrechtsauslegung sein dürfe.591 Vielmehr seien zahlreiche, auch gegenläufige Ziele zu berücksichtigen. Hier werden zunächst das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG) und die Wichtigkeit der Beachtung der Wortlautgrenze betont.592 Darüber hinaus werden Strafwürdigkeits- und Strafbedürftigkeitserwägungen, 587 So BGH NJW 1952, 1064; OLG Zweibrücken NStZ 2000, 201; Fischer, StGB, § 348 Rn. 8; Gössel / Dölling, Strafrecht BT / 1, § 52 Rn. 54; HK-GS / Schmedding, § 348 Rn. 6; LK / Zieschang, § 348 Rn. 34; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 2, § 66 Rn. 15; NK / Puppe, § 348 Rn. 26; Schönke / Schröder / Hecker, § 348 Rn. 14; SK / Hoyer, § 348 Rn. 5; SSW / Wittig, § 348 Rn. 14; a. A. Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 33 Rn. 15; Eisele, Strafrecht BT II, Rn. 1299; MK / Freund, § 348 Rn. 45 f., Otto, Die einzelnen Delikte, § 71 Rn. 9; Schönke / Schröder / Cramer / Sternberg-Lieben (27. Aufl.), § 348 Rn. 14. 588 Vgl. MK / Freund, § 348 Rn. 46. 589 Etwa durch die von Gössel (FS Oehler, S. 97 [108 f.]) herangezogenen Fallbeispiele. 590 Vgl. Schönke / Schröder / Eser / Hecker, § 1 Rn. 48. 591 Auch in diesem Zusammenhang wird die Gefahr eines Zirkelschlusses betont. Dieser besteht darin, dass eine einseitig am Rechtsgüterschutz ausgerichtete kriminalpolitische Wertung zunächst ins Gesetz hineingelesen wird, um sie ihm sodann bei der Auslegung einzelner Tatbestände wieder zu entnehmen. Vgl. Kargl, JZ 1997, 283 (286) im Anschluss an Schaffstein (FS Schmidt, S. 47 [56]). 592 Etwa bei AnwKomm / Gaede, § 1 Rn. 35; ders., in Hefendehl / von Hirsch / Woh lers, Die Rechtsgutstheorie, S. 183 (194); Kargl, JZ 1997, 283 f.; Vormbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, S. 67; Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, S. 367.
II. Eigener Ansatz127
etwa unter dem Aspekt der Sozialadäquanz593 oder der Opfermitverant wortung,594 ins Feld geführt.595 (Damit wird der Sache nach oft eine verfassungskonforme Auslegung der Strafnorm vorgenommen, bei der das Normverständnis durch Berücksichtigung des grundgesetzlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes beeinflusst wird. Es wird geprüft, ob das Strafübel ein im Einzelfall erforderlicher und proportionaler Grundrechtseingriff ist.596) Das geschützte Rechtsgut spielt bei diesen Erwägungen bei Lichte betrachtet keine entscheidende Rolle.597 Vielmehr geht es nur um die Frage, ob ein bestimmtes rechtsgutsbeeinträchtigendes Verhalten strafwürdig ist oder nicht. Teilweise wird vor diesem Hintergrund der systemimmanente Rechtsgutsbegriff dafür kritisiert, dass ihm die Tendenz zu einer Ausweitung des Strafrechts innewohne.598 Dabei wird jedoch nicht gesehen, dass der Rechtsgutsbegriff, wie gezeigt, auch für gegenläufige Argumentationsmuster (teleologische Reduktion599) herangezogen wird. c) Fazit Nach alledem spricht sowohl die abstrakte als auch die fallbasierte Untersuchung dafür, dass in den Fällen, in denen vermeintlich dem Rechtsgut eine besondere Bedeutung für die Auslegung zukommt, zumeist zirkulär argumentiert wird. Das Rechtsgut ist nicht die feststehende Prämisse, anhand derer Ableitungen für die konkrete Auslegungsfrage gezogen werden können, sondern die Beantwortung der konkreten Auslegungsfrage ist gerade von der Bestimmung des Rechtsguts abhängig. In anderen Fällen, in denen vermeintlich das Rechtsgut Aufschluss über die Auslegung konkreter 593 Das OLG Hamm (NJW 1980, 2537) betrachtet es als allgemeinen Grundsatz, dass „ganz geringfügige Rechtsgutsbeeinträchtigungen materiell schon den Tatbestand einer Strafnorm nicht erfüllen, auch wenn sie von dessen Wortlaut formell mit umfaßt werden“; s. hierzu auch Ostendorf, GA 1982, 333 (343 ff.). 594 Schünemann, FS Bockelmann, S. 118 (130 ff.); ders., FS Faller, S. 357 ff.; s. hierzu auch Lackner / Kühl, vor § 13 Rn. 4a. 595 s. auch Blei, FS Henkel, S. 109 ff. zu Fragen der Strafbedürftigkeit anhand ausgewählter Beispiele. Für die Prüfung der Strafwürdigkeit neben der Tatbestandsverwirklichung: Sax, FS Laufke, S. 321 (337 ff.); ders., JZ 1976, 9 (12); ders., JZ 1977, 326 (332). Zur Problem der Strafwürdigkeit: Arzt, Kriminalistik 1981, 117 ff. 596 Vgl. Schünemann, FS Bockelmann, S. 118 (129 f.). 597 Freilich lässt sich die Rechtsgutsbeeinträchtigung durch engere Fassung des Rechtsguts auch insoweit mitunter negieren. Dann läge indes eine zirkuläre Argumentation mit dem Rechtsgutsbegriff vor, wie sie unter B. II. 2. b) aa) beschrieben wurde. 598 Vgl. etwa Herzberg, JuS 2005, 1 (6); Kubiciel, Wissenschaft, S. 3, 53 f. et passim.; Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, S. 477 ff. 599 Dazu NK / Hassemer / Kargl, § 1 Rn. 109b.
128
B. Der Rechtsgutsbegriff
Rechtsfragen gibt, sind es in Wahrheit Strafwürdigkeits- oder Strafbedürftigkeitserwägungen, die die jeweilige Rechtsauffassung stützen. Auch insoweit ist es also nicht das Rechtsgut, das als solches bei der Prüfung der Strafbarkeit einer bestimmten Verhaltensweise zielführend weiterhilft. Ein Gegenbeispiel, das sich nicht entweder als Fall zirkulärer Argumentation oder als Argumentation mit der Strafwürdigkeit einordnen lässt, konnte nicht gefunden werden.600 Damit stellt sich im Übrigen auch nicht die mitunter diskutierte Frage, wie zu verfahren ist, wenn zwar der gesetzliche Tatbestand erfüllt, nicht aber das geschützte Rechtsgut gefährdet oder verletzt ist.601 Denn entweder ist der gesetzliche Tatbestand – entgegen dem ersten Anschein – gerade nicht verletzt oder das Rechtsgut muss anders formuliert werden, da das Rechtsgut definitionsgemäß als der alle tatbestandsmäßigen Verhaltensweisen umfassende Begriff konstruiert wird.602 Die konkret in diesem Zusammenhang diskutierten Fälle betreffen bei näherer Betrachtung ohnehin meistens Fälle, in denen das Rechtsgut zwar verletzt wird, dies aber nicht als strafwürdig empfunden wird, und damit die vorstehend603 beschriebene Konstellation. 3. Der dogmatische Nutzen des Rechtsguts Nach der Feststellung, dass rechtsgutsbezogene Argumentationen im Rahmen der Auslegung zumeist zirkulär sind, drängt sich die Frage auf, ob das Rechtsgut tatsächlich jeder Relevanz für die Auslegung entbehrt. Dies würde bedeuten, dass die Strafrechtswissenschaft seit Jahrzehnten zirkelschlüssigen Argumentationen aufsitzt, ohne es zu bemerken. Ein solch ernüchternder Schluss braucht nicht gezogen zu werden. Vielmehr ist die Annahme, dass das Rechtsgut von eminenter Bedeutung für die Gesetzesauslegung ist, durchaus zutreffend. Der dogmatische Nutzen des Rechtsguts lässt sich jedoch nicht anhand eines Einzelproblems aufzeigen, weil sich auf dieser Ebene eine Argumen600 Zur Vermeidung langatmiger Ausführungen wurden die fallbezogenen Ausführungen bewusst knapp gehalten. Das Ergebnis bestätigt sich aber auch etwa bei Untersuchung weiterer in der Literatur angeführter Beispielsfälle (etwa bei Gaede, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 183 [184]; LK / Tröndle [10. Aufl.], § 1 Rn. 53; Rengier, Strafrecht AT, § 3 Rn. 4; Schönke / Schröder / Eser / Hecker, § 1 Rn. 48). Es lässt sich auch anhand der ausführlichen Darlegungen von Schwinge (Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht, S. 34 ff.) belegen. 601 Dazu Ebert / Kühl, JURA 1981, 225 (227); Gössel, FS Oehler, S. 97 (104 ff.); Gössel / Dölling, Strafrecht BT, Einf. Rn. 31; Vormbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, S. 72. 602 s. oben B. II. 1. b) bb). 603 Sub B. II. 2. b) bb).
II. Eigener Ansatz129
tation mit dem Rechtsgut als zirkelschlüssig erweist. Die Bedeutung des Rechtsgutsbegriffs für die Strafrechtsdogmatik liegt vielmehr darin, dass er ein Fixpunkt ist, der eine widerspruchsfreie Auslegung bei unterschiedlichen Rechtsproblemen innerhalb einer Strafvorschrift gewährleistet.604 Eine überzeugende Rechtsgutsbestimmung zeichnet sich demnach dadurch aus, dass sie tragfähige Ergebnisse bei unterschiedlichen Einzelproblemen einer Strafvorschrift liefert. Daraus folgt, dass es gegen die Überzeugungskraft einer konkreten Rechtsgutsbestimmung spricht, wenn mit ihrer Hilfe die im Rahmen des betreffenden Tatbestands auftretenden Rechtsprobleme nicht angemessen gelöst werden können. Das Rechtsgut darf demnach nicht als unverrückbare Wahrheit oder feststehende Prämisse angesehen werden, sondern muss als Hypothese verstanden werden. Genau genommen ist das Rechtsgut demnach kein Fixpunkt der Auslegung, sondern es wird als Fixpunkt derselben genutzt. Diese Rechtsgutshypothese muss sich daran messen lassen, ob sie zu überzeugenden und stimmigen Ergebnisse bei den unterschiedlichen rechtlichen Problemen, die eine Strafvorschrift aufwirft, beitragen kann. Wenn eine Rechtsgutsbestimmung „Randkorrekturen“ bedarf, um „mit Auslegungsergebnissen in Einklang gebracht“ zu werden, so wirft dies Zweifel an der Tragfähigkeit der Rechtsgutsbestimmung auf. Mit dieser Sichtweise besteht das Problem der Zirkularität zwar auf der Ebene des Einzelproblems fort. Die argumentative Antwort auf ein bestimmtes Rechtsproblem ist eben nur unter der Prämisse des angenommenen Rechtsguts logisch überzeugend. Diese Prämisse kann und sollte auf der Grundlage einer Auslegung der Vorschrift ermittelt werden. Der Wert des Rechtsguts liegt damit zum einen darin, dass Komplexität reduziert wird,605 indem das Ergebnis der Gesetzesauslegung zur Frage des Normzwecks in einem Begriff zusammengefasst wird. Zum anderen ermöglicht die Verwendung des Rechtsgutsbegriffs widerspruchsfreie Argumentationen, denn wer bei dem einen Rechtsproblem mit einem bestimmten Rechtsgut argumentiert, muss sich hieran bei der Diskussion eines anderen Rechtsguts messen lassen.606 Das Rechtsgut ist also kein Faktor, der die Richtigkeit, sondern der die Schlüssigkeit der strafrechtsdogmatischen Argumentation gewährleistet. Diese Erwägungen prägen faktisch auch die Verwendung des Rechtsgutsbegriffs bei der Auslegung des Besonderen Teils. Sie stehen damit in Einklang, dass in Kommentaren und Lehrbüchern die Erläuterung einer Strafvorschrift regelmäßig mit der Bestimmung des Rechtsguts beginnt, auf auch LK / Walter, § 257 Rn. 4; 258 Rn. 3. anderer Blickrichtung auch Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 20. 606 s. auch Duttge, JURA 2006, 15 (22), der auf die besondere Bedeutung der Widerspruchsfreiheit im Zusammenhang mit Anwendungsproblemen der Rechtsgutslehre hinweist. 604 s.
605 Aus
130
B. Der Rechtsgutsbegriff
das bei den Ausführungen zu Einzelproblemen der Tatbestandsauslegung sodann Bezug genommen wird. Allerdings wird das Rechtsgut in Kommentaren und Lehrbüchern oftmals nur apodiktisch genannt, also kaum einmal argumentativ hergeleitet, und zwar selbst dann nicht, wenn auf gegenteilige Ansichten zum geschützten Rechtsgut verwiesen wird. a) Anknüpfungspunkte für eine rechtsgutsbezogene Auslegung Die vorstehenden Ausführungen setzen voraus, dass das Rechtsgut bei einer Vielzahl von Rechtsfragen fruchtbar gemacht werden kann. Wenn die Bedeutung des Rechtsguts in der Gewährleistung widerspruchsfreier Argumentationen bei unterschiedlichen Rechtsproblemen liegt, so kann das Rechtsgut seine Aufgabe nur sinnvoll erfüllen, wenn sich tatsächlich bei unterschiedlichen Rechtsproblemen Anknüpfungspunkte für rechtsgutsbezogene Argumentationen finden. Tatsächlich kann das Rechtsgut zum einen bei Auslegungsfragen des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs, deren Beantwortung unmittelbar vom Rechtsgut abhängt, herangezogen werden. Zum anderen beeinflusst das Rechtsgut auch die Beantwortung außerhalb der Strafvorschrift liegender Fragen, insbesondere solcher aus dem Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs. Im Folgenden sollen die bedeutsamsten607 Anwendungsfelder des systemimmanenten Rechtsguts außerhalb der Auslegungsfragen des Besonderen Teils vorgestellt werden. aa) Einwilligung Bei der rechtfertigenden Einwilligung ist das geschützte Rechtsgut insoweit relevant, als eine Einwilligung nur in die Verletzung beziehungsweise Gefährdung von Individualrechtsgütern möglich ist.608 Das bedeutet selbstverständlich nicht auch umgekehrt, dass einzige Voraussetzungen einer wirksamen Einwilligung das Vorliegen eines Individualrechtsguts und die Zustimmung eines betroffenen Individuums wären. Dementsprechend lässt sich die fehlende Einwilligungsmöglichkeit in eine Trunkenheitsfahrt nach § 316 StGB auch dann begründen, wenn man Individualrechtsgüter als geschützt ansieht.609 Es müssen für eine wirksame Einwilligung nämlich alle einwilli607 Vollständigkeit kann angesichts der Vielzahl spezieller Randprobleme nicht herbeigeführt werden; s. etwa zu einer insolvenzrechtlichen Spezialfrage, die sich mithilfe des Rechtsguts lösen lässt: Dohmen / Sinn, KTS 2003, 205 (206 ff.). 608 s. nur MK / Schlehofer, vor § 32 Rn. 135; Rengier, Strafrecht AT, § 23 Rn. 9; Rönnau, JURA 2002, 665 (667); Schönke / Schröder / Lenckner / Sternberg-Lieben, vor § 32 Rn. 36; Wessels / Beulke / Satzger, Strafrecht AT, Rn. 372; s. auch bereits Jäger, Strafgesetzgebung, S. 16. 609 So zutreffend Krüger, Entmaterialisierungstendenz, S. 109 f.
II. Eigener Ansatz131
gen, die hinsichtlich des im Einzelfall betroffenen Rechtsguts(objekts) verfügungsberechtigt sind.610 Bei einer Trunkenheitsfahrt müsste daher die Zustimmung aller Personen vorliegen, deren Leib, Leben und Eigentum durch das tatbestandsmäßige Verhalten abstrakt gefährdet wird. Dies ist jedoch eine unbestimmte Vielzahl von Personen, deren Zustimmung tatsächlich nicht vorliegt. Es ließe sich sogar sagen, dass die Rechtsgemeinschaft ihre Zustimmung zur Trunkenheitsfahrt dadurch explizit verweigert hat, dass sie die Trunkenheitsfahrt unter Strafe gestellt hat. Die Einwilligung eines Einzelnen, etwa des Beifahrers, hindert daher die Strafbarkeit der Trunkenheitsfahrt gemäß § 316 StGB demgegenüber selbst dann nicht, wenn man allein Individualrechtsgüter als von der Vorschrift geschützt ansieht.611 bb) Konkurrenzen Auch im Rahmen der Konkurrenzen spielt der systemimmanente Rechtsgutsbegriff eine Rolle.612 Mit den Konkurrenzen sind die geschriebenen und ungeschriebenen Regelungen gemeint, die bestimmen, wie zu verfahren ist, wenn ein Täter denselben Straftatbestand mehrmals oder mehrere Tatbestände erfüllt hat. Dabei sind bekanntlich vorrangig zwei Grundfragen zu klären, zum einen, ob eine oder mehrere Handlungen vorliegen (Handlungseinheit oder Handlungsmehrheit), zum anderen, wie sich die verwirklichten Tatbestände zueinander verhalten. Für diesen zweiten Aspekt, der üblicherweise unter dem Begriff der „Gesetzeskonkurrenz“ erörtert wird,613 haben die Rechtsgüter der verwirklichten Straftatbestände eine erhebliche Bedeutung.614 Der Sache nach geht es bei der Festlegung des Konkurrenzverhältnisses darum, das gesamte vom Täter begangene Unrecht einerseits vollständig, andererseits möglichst knapp durch Benennung von einem oder mehreren das Unrecht kennzeichnenden Straftatbeständen im Schuldspruch zusammenzufassen. Da das Unrecht der meisten Straftatbestände in einer ersten Annäherung zumeist gut als Rechtsgutsverletzung beschrieben werden kann, nur Wessels / Beulke / Satzger, Strafrecht AT, Rn. 373. auch Krüger, Entmaterialisierungstendenz, S. 109 f.; SK / Wolters, § 315c Rn. 22; § 316 Rn. 10; s. auch Amelung, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 155 (175 f.). 612 LK / Walter, vor § 13 Rn. 8; B. Heinrich, Strafrecht AT I, Rn. 10. 613 Etwa Krey / Esser, Strafrecht AT, Rn. 1388 ff.; Kühl, Strafrecht AT, § 21 Rn. 51 ff.; Rengier, Strafrecht AT, § 56 Rn. 26 ff.; Roxin, Strafrecht AT / 2, § 33 Rn. 170 ff. Kritisch zu diesem Begriff Schönke / Schröder / Sternberg-Lieben / Bosch, vor § 52 Rn. 102; s. auch Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT, § 18 Rn. 3. 614 Vgl. Fischer, StGB, vor § 52 Rn. 39; LK / Rissing-van Saan, vor § 52 Rn. 90; Schönke / Schröder / Sternberg-Lieben / Bosch, vor § 52 Rn. 102. 610 s.
611 Vgl.
132
B. Der Rechtsgutsbegriff
erfolgt praktisch die Prüfung der Gesetzeseinheit zunächst anhand einer Gegenüberstellung der geschützten Rechtsgüter. Schützen mehrere durch eine Handlung verwirklichte Strafvorschriften dasselbe Rechtsgut, so spricht dies dafür, dass eine der Strafvorschriften auf Konkurrenzebene verdrängt wird. Schützen hingegen mehrere durch eine Handlung verwirklichte Strafvorschriften unterschiedliche Rechtsgüter, so spricht dies tendenziell für die Annahme von Tateinheit (§ 52 StGB).615 Beide Folgerungen sind nicht zwingend, sondern vielmehr kann aus anderen Gründen im Ergebnis eine abweichende Beantwortung der Frage der Gesetzeskonkurrenz erfolgen.616 So wird die Art der Gesetzeskonkurrenz zudem vom tatbestandlichen Handlungsunrecht der verwirklichten Strafvorschriften beeinflusst, insofern als trotz Verletzung desselben Rechtsguts durch eine Handlung keine Gesetzeseinheit („Verdrängung“) angenommen werden kann, wenn beispielsweise das besondere Handlungsunrecht oder die TäterOpfer-Beziehung ansonsten nicht zum Ausdruck kämen.617 Zudem spielt eine Rolle, ob die Verwirklichung eines Tatbestandes nicht notwendig, jedoch regelmäßig mit der Verwirklichung eines anderen einhergeht, sodass auch bei der Verletzung verschiedener Rechtsgüter durch eine Handlung Gesetzeseinheit (Konsumtion) anzunehmen sein kann.618 Folglich ist die Rechtsgutsbestimmung für das Konkurrenzverhältnis zwar von erheblicher Bedeutung, allein mithilfe des Rechtsguts kann es jedoch nicht abschließend beurteilt werden. cc) Strafzumessung Im Rahmen der Strafzumessung wird das geschützte Rechtsgut der Strafvorschriften im Zusammenhang mit dem Doppelverwertungsverbot (§ 46 Abs. 3 StGB) bedeutsam. Danach dürfen Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, nicht bei der nach § 46 Abs. 2 StGB vorzunehmenden Abwägung Berücksichtigung finden. Dies betrifft 615 Vgl. 616 Vgl.
B. Heinrich, Strafrecht AT, Rn. 1434. im Einzelnen Schönke / Schröder / Sternberg-Lieben / Bosch, vor § 52
Rn. 105 ff. 617 So hat der BGH die Ablehnung der Gesetzeseinheit von § 227 StGB und § 225 StGB darauf gestützt, dass bei alleinigem Abstellen auf § 227 StGB das Unrecht nicht vollständig erfasst werde, weil ansonsten weder die Täter-Opfer-Beziehung noch die besondere Begehungsweise der Körperverletzung herausgestellt würde (BGHSt 41, 113 [115 f.]); s. auch Hirsch, NStZ 1996, 37; MK / Hardtung, § 225 Rn. 40; Wolfslast / Schmeissner, JR 1996, 338 (339). Zu bemerken ist insoweit auch, dass § 225 StGB nicht nur das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit, sondern auch die psychische Integrität schützt; s. auch C. IV. 1. c) bb). 618 Vgl. nur B. Heinrich, Strafrecht AT, Rn. 1441; Schönke / Schröder / SternbergLieben / Bosch, vor § 52 Rn. 124 ff.; Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT, § 18 Rn. 8 ff.
II. Eigener Ansatz133
nicht nur die Tatbestandsmerkmale, sondern – wie es häufig heißt – auch den „kriminalpolitischen Grundgedanken“ und die „gesetzgeberischen Intentionen“, die zur Schaffung der Strafnorm geführt haben.619 Diese Begriffe sind ungenau und daher missverständlich. Eine „gesetzgeberische Intention“ für die Pönalisierung der Körperverletzung war sicherlich auch die Erwägung, Opfer von Körperverletzungen vor langen Krankenhausaufenthalten und Behandlungen, vor durch die Tat verursachten chronischen Schmerzen und vor Beeinträchtigungen ihrer Erwerbsfähigkeit zu bewahren. Gleichwohl dürfen diese Umstände, wenn sie im Einzelfall vorliegen, als verschuldete Auswirkungen der Tat straferschwerend berücksichtigt werden. Dies wird freilich auch nicht bezweifelt, wenn auf das Verbot der Berücksichtigung der „gesetzgeberischen Intentionen“ verwiesen wird. Gemeint ist vielmehr zunächst, dass die Beeinträchtigung des geschützten Rechtsguts als solche nicht straferschwerend berücksichtigt werden darf. Wohl aber dürfen die besondere Intensität und die Folgen („verschuldete Auswirkungen“) der Rechtsgutsverletzung bei der Strafzumessung berücksichtigt werden.620 Daneben ist gemeint, dass die Hervorhebung des Werts621 oder der Schutzbedürftigkeit622 des gefährdeten oder verletzten Rechtsguts unzulässig sind. Gleiches gilt für weitere Erwägungen, die losgelöst vom konkreten Einzelfall, also generell für die nach einer Strafvorschrift strafbaren Rechtsgutsangriffe Geltung beanspruchen.623 Solche Aspekte beeinflussen nämlich nicht die Strafzumessungsschuld im konkreten Fall.624 dd) Verletzteneigenschaft Das Gesetz stellt im Strafgesetzbuch, vor allem aber in der Strafprozessordnung, an vielen Stellen auf den Begriff des „Verletzten“ einer Straftat ab. Die Verletzteneigenschaft spielt beispielsweise bei der Strafantragsberechtigung (§ 77 Abs. 1 StGB), beim Klageerzwingungsverfahren (§ 172 StPO) sowie bei den Regelungen im Fünften Buch der Strafprozessordnung eine 619 Schäfer / Sander / van Gemmeren, Strafzumessung, Rn. 691 u. 704; LK / Theune, § 46 Rn. 265; MK / Miebach, § 46 Rn. 189; Schönke / Schröder / Stree / Kinzig, § 46 Rn. 46; Schall / Schirrmacher, JURA 1992, 624 (626); s. auch SK / Horn, § 46 Rn. 153; Hettinger, Doppelverwertungsverbot, S. 160 ff. 620 Vgl. Schall / Schirrmacher, JURA 1992, 624 (626). 621 BeckOK / von Heintschel-Heinegg, § 46 Rn. 97. 622 Vgl. etwa BGH StV 1987, 62; NStZ-RR 2004, 41 (42); Schäfer / Sander / van Gemmeren, Strafzumessung, Rn. 704. 623 Vgl. etwa BGH NStZ 1982, 113; NStZ 1984, 358 f.; StV 1991, 558; StV 1998, 656; StV 2002, 190 f.; StV 2003, 542; NStZ-RR 2004, 80 (81). 624 s. auch BGHSt 37, 153 (156).
134
B. Der Rechtsgutsbegriff
Rolle. Der Verletztenbegriff wird in den verschiedenen Kontexten uneinheitlich ausgelegt,625 wobei bei näherer Betrachtung lediglich in Randbereichen im Ergebnis darüber Divergenzen bestehen, wer Verletzter ist. Der Kreis der Verletzten ist jeweils im Hinblick auf eine bestimmte Strafvorschrift zu bestimmen. Dabei kommt dem Rechtsgut wiederum eine maßgebliche Bedeutung zu.626 Dementsprechend hat Hilger die folgende Synthese der diskutierten Verletztenbegriffe vorgeschlagen: „Verletzter ist derjenige, dessen Individualrecht durch die (tatbestandsmäßige, rechtswidrige) Verletzung einer Strafnorm beeinträchtigt wurde, die (zumindest auch) dem Schutz dieses Rechtsguts dient.“627
Zunächst sind demnach zur Bestimmung des Verletzten das geschützte Rechtsgut beziehungsweise die geschützten Rechtsgüter der interessierenden Strafvorschrift (mittels Auslegung628) zu ermitteln, um sodann zu prüfen, ob zumindest ein von der Vorschrift geschütztes Rechtsgut ein Individualrechtsgut ist. Wenn dies der Fall ist, können in einem weiteren Schritt diejenigen Personen spezifiziert werden, die als Träger dieses Rechtsguts dem potentiellen Kreis der Verletzten angehören.629 Die Ermittlung des geschützten Rechtsguts ist auch dann weiterführend, wenn im konkreten Fall das Rechtsgut nicht verletzt, sondern lediglich gefährdet wurde. Dann stellt sich die Frage, ab welchem Gefährdungsgrad (beziehungsweise ab welcher Nähe zu einem Verletzungserfolg) einer dem Kreis der potentiell Verletzten angehörenden Person die einzelnen Verletztenrechte zustehen.630 Als Bezugspunkt der Gefährdung beziehungsweise Verletzung spielt das Rechtsgut auch für die Einschätzung des Gefährdungsgrads eine erhebliche Rolle Als Beispiel für die Bedeutung des Rechtsguts für die Feststellung der Verletzteneigenschaft sei der Diebstahl (§ 242 StGB) herangezogen. Bei diesem Straftatbestand ist umstritten, ob auch der Gewahrsam geschütztes Rechtsgut ist. Dies ist für die Feststellung des Kreises der Strafantragsberechtigten in den Fällen der §§ 247, 248a StGB von Bedeutung.631 Beim auch Jung, ZStW 93 (1981), 1147 (1148 f.). auch Hefendehl, GA 1999, 584 (590 ff.). 627 Hilger, GA 2007, 287 (291). Vgl. auch grundlegend Holz, Justizgewährungsanspruch des Verbrechensopfers, S. 122 ff. u. 202 f. 628 Vgl. näher Peglau, JA 1999, 55 (56). 629 So die h. M.: RGSt 21, 231; 38, 6 (7); BGHSt 31, 207 (210); BeckOK / Dallmeyer, § 77 Rn. 12; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 346; Bosch, JURA 2013, 368 (372); Jescheck / Weigend, Strafrecht AT, S. 908; Lackner / Kühl, § 77 Rn. 6; Maurach / Gössel / Zipf, Strafrecht AT / 2, § 74 Rn. 9; Meyer-Goßner / Schmitt, StPO, § 172 Rn. 9; MK / Mitsch, § 77 Rn. 4 ff.; NK / Kargl, § 77 Rn. 3; SSW / Rosenau, § 77 Rn. 9. Zu abweichenden Bestimmungen des Verletztenbegriffs s. Frisch, JZ 1974, 7 (8 ff.); LK / Schmid, § 77 Rn. 23; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 41 Rn. 5. 630 Vgl. Hilger, GA 2007, 287 (292 ff.). 625 s. 626 s.
II. Eigener Ansatz135
Klageerzwingungsverfahren stellt sich ebenfalls das Problem, ob auch der Gewahrsamsinhaber einen entsprechenden Antrag zu stellen berechtigt ist.632 Dieses Beispiel belegt wiederum die unter dem Schlagwort des Zirkularitätsproblems behandelte wechselseitige Abhängigkeit von Rechtsgutsbestimmung und Beantwortung konkreter Rechtsprobleme. 631
ee) Schutzgesetz Des Weiteren kann die Bestimmung des geschützten Rechtsguts auch im Zivilrecht Bedeutung erlangen, vor allem im Rahmen des deliktischen Schadensersatzanspruchs nach § 823 Abs. 2 BGB.633 Nach dieser Vorschrift ist derjenige zur Schadensersatzleistung verpflichtet, der gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. Der Rechtsgutsbegriff wird in diesem Zusammenhang relevant, wenn Schadensersatz aufgrund der Verletzung eines Strafgesetzes gefordert wird. Im Rahmen der Prüfung dieses Anspruchs ist zunächst zu untersuchen, welches Rechtsgut die Strafvorschrift schützt, denn die Haftung bezieht sich nur auf Schäden an denjenigen Rechtsgütern, zu deren Schutz die Rechtsnorm erlassen worden ist.634 Sodann ist zu untersuchen, ob die Strafvorschrift zumindest auch ein Individualrechtsgut schützt und ob der Anspruchssteller zum Kreis der Inhaber desselben gehört, denn das Schutzgesetz muss gerade den Schutz der verletzten Person bezwecken.635 Für diese beiden Prüfungsschritte ist die Rechtsgutsbestimmung relevant, hingegen nicht für die sich hieran anschlie631 Vgl. dazu Bosch, JURA 2013, 368 (372); Haas, GA 1988, 493 (498); Jescheck / Weigend, Strafrecht AT, S. 908; Lackner / Kühl, § 247 Rn. 2; Maurach / Gössel / Zipf, Strafrecht AT / 2, § 74 Rn. 9; MK / Mitsch, § 77 Rn. 6; MK / Hohmann, § 247 Rn. 11; NK / Kindhäuser, § 247 Rn. 11; Schönke / Schröder / Eser / Bosch, § 247 Rn. 10; SK / Hoyer, § 247 Rn. 6; s. aber auch LK / Vogel, § 247 Rn. 16. 632 Dieses Problem wird dort freilich nicht erkannt, sondern es werden sowohl der Eigentümer als auch der Gewahrsamsinhaber als antragsberechtigt angesehen (etwa AK StPO / Moschüring, § 172 Rn. 16 f.; AnwKomm StPO / Walther, § 172 Rn. 16; Hk-StPO / Zöller, § 172 Rn. 14; LR / Graalmann-Scheerer, § 172 Rn. 90; KK / Schmid, § 172 Rn. 27; Radtke / Hohmann / Kretschmer, § 172 Rn. 10). Soweit Belege angeführt werden, verweisen diese letztlich nur auf die „herrschende Lehre“ im materiellen Strafrecht (so bei Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozessordnung, § 171 Rn. 18 mit entsprechendem Nachweis zur Kommentierung des § 22 StPO). 633 Vgl. zu den Querbezügen auch Schmiedel, Deliktsobligationen, S. 160 ff. et passim. 634 Vgl. BGHZ 19, 114 (125 f.); 28, 359 (365 f.); 39, 366 (368); Staudinger / Hager, § 823 Rn. G 26. 635 Vgl. BGHZ 22, 293 (296 ff.); BGH NJW 1991, 418 (419); Soergel / Spickhoff, § 823 Rn. 195, 218 ff.; Staudinger / Hager § 823 Rn. G 24.
136
B. Der Rechtsgutsbegriff
ßende weitere Frage, ob sich gerade das Risiko verwirklicht hat, vor dem das Rechtsgut schützen will.636 Zwei Beispiele mögen die Relevanz der Rechtsgutsbestimmung für den Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB illustrieren. So stellt die Urkundenfälschung (§ 267 StGB) ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB dar, wenn man das Rechtsgut des § 267 StGB (primär) in der Dispositionsfreiheit desjenigen erblickt, dem eine unechte Urkunde vorgelegt wird.637 Zum gegenteiligen Ergebnis gelangt die herrschende Meinung, die vom Rechtsgut der Sicherheit und Zuverlässigkeit des Rechtsverkehrs mit Urkunden ausgeht.638 Die Schutzgesetzqualität des Tatbestands der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c StGB) hängt ebenfalls vom angenommenen Rechtsgut ab. Sieht man ein Rechtsgut der Allgemeinheit als geschützt an, so ist diese abzulehnen,639 während sie zu bejahen ist, wenn man gerade auch Rechtsgüter des Einzelnen als geschützt ansieht.640 b) Weitere Verwendungen des systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs Neben den vorgenannten Beispielen, bei denen der konkreten Bestimmung des geschützten Rechtsguts eine weiterführende Bedeutung zukommt, wird der Rechtsgutsbegriff auch in anderen Zusammenhängen verwendet, bei denen die exakte Rechtsgutsbestimmung weniger bedeutsam ist. Dies wird im Folgenden anhand von Beispielen veranschaulicht.
636 Dazu vgl. BGHZ 29, 100 (104 f.); 105, 121 (129). Zum Prüfprogramm des § 823 Abs. 2 BGB, s. Jauernig / Teichmann, BGB, § 823 Rn. 45; MK BGB / Wagner, § 823 Rn. 418 f. 637 Vgl. Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 30 Rn. 1; Freund, Urkundenstraftaten, Rn. 3 f.; Jakobs, FS Küper, 225 (228 f.); MK / Erb, § 267 Rn. 2 ff.; NK / Puppe, § 267 Rn. 7 f.; Puppe, JZ 1991, 550 (552 f.); Soergel / Spickhoff, § 823 Rn. 195, 250; SK / Hoyer, vor § 267 Rn. 11 ff. 638 Vgl. BGHZ 100, 13 (14 ff.); Bamberger / Roth / Spindler, § 823 Rn. 178; Fischer, StGB, § 267 Rn. 1; Lackner / Kühl, § 267 Rn. 1; s. auch MK BGB / Wagner, § 823 Rn. 410, 429; Schönke / Schröder / Heine / Schuster, § 267 Rn. 1 f. 639 So etwa OLG Frankfurt NJW-RR 1989, 794 (795); Dütz, NJW 1970, 1822 (1825); Pawlik, GA 1995, 360 (365, Fn. 24); Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 470. Daneben wird argumentiert, dass derjenige, der eine bloße Hilfeleistung unterlasse, nicht in gleicher Weise haften solle wie der Schädiger. So etwa Bamberger / Roth / Spindler, § 823 Rn. 178; s. auch eingehend Loyal, JZ 2014, 306 ff. 640 So BGH NJW 2014, 64 f. mit Anm. Loyal JZ 2014, 306; OLG Düsseldorf NJW 2004, 3640 f.; BeckRS 2013, 11112; Fischer, StGB, § 323c Rn. 1.
II. Eigener Ansatz137
aa) Das Rechtsgut als argumentativer Bezugspunkt Mitunter wird der Rechtsgutsbegriff als argumentativer Bezugspunkt herangezogen, ohne dass es auf die genaue Bestimmung des Rechtsguts konkreter Strafvorschriften ankommt. Dies soll an dem Beispiel der Verwendung des Rechtsgutsbegriffs im Zusammenhang mit der Rechtsfigur der Beendigung einer Straftat illustriert werden.641 Die „Beendigung“ ist ein weitgehend anerkannter Rechtsbegriff,642 der einen Zeitpunkt beschreibt, der entweder identisch mit dem der Vollendung ist oder dieser zeitlich nachgelagert ist. Die Vollendung meint wiederum die Verwirklichung aller objektiven Tatbestandsmerkmale bei Vorliegen der sonstigen subjektiven und individuellen Strafbarkeitsvoraussetzungen.643 Wann Beendigung eintritt, ist im Einzelnen umstritten.644 Die Beendigung erlangt in unterschiedlichen Bereichen Bedeutung, insbesondere bei Hinzutreten (erfolgs)qualifizierender Umstände und bei Beteiligung Dritter in der „Beendigungsphase“.645 Ausdrücklich Bezug genommen wird auf die Beendigung in § 78a StGB im Hinblick auf den Verjährungsbeginn.646 Die Rechtsprechung stellt zur Klärung des Zeitpunkts der Beendigung maßgeblich auf die Rechtsguts verletzung ab. Der Bundesgerichtshof fasst die Leitlinien wie folgt zusammen: „Nach dem vom BGH in ständiger Rechtsprechung angewendeten materiellen Beendigungsbegriff ist dies erst der Fall, wenn der Täter sein rechtsverneinendes Tun insgesamt abschließt, das Tatunrecht mithin tatsächlich in vollem Umfang verwirklicht ist […]. Dies bedeutet, dass die Beendigung der Tat nicht allein an die weitere Verwirklichung tatbestandlich umschriebener Merkmale der Straftat nach deren Vollendung anknüpft […]; vielmehr zählen zur Tatbeendigung auch solche Umstände, die – etwa weil der Gesetzgeber zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsgüterschutzes einen Deliktstypus mit vorverlagertem Vollendungszeitpunkt gewählt hat – zwar nicht mehr von der objektiven Tatbestandsbeschreibung erfasst werden, aber dennoch das materielle Unrecht der Tat ver641 Ein weiteres Beispiel hierfür bildet die Verwendung des Rechtsgutsbegriffs im Zusammenhang mit der Versuchsdogmatik. Dort wird bei der Feststellung der Versuchsschwelle des unmittelbaren Ansetzens (§ 22 StGB) unter anderem darauf abgestellt, ob der Täter bereits Handlungen vorgenommen hat, die das angegriffene Rechtsgut aus seiner Sicht konkret gefährden (vgl. nur BGHSt 30, 363 [364]; s. dazu MK / Herzberg / Hoffmann-Holland, § 22 Rn. 112). 642 s. aber auch Kühl, FS Roxin, S. 665 (669 ff.). 643 Vgl. B. Heinrich, Strafrecht AT I, Rn. 707; Kühl, Strafrecht AT, § 14 Rn. 20. 644 s. nur NK / Saliger, § 78a Rn. 6. 645 Vgl. nur B. Heinrich, Strafrecht AT, Rn. 715 ff.; Jescheck, FS Welzel, S. 683 (696 ff.); Kühl, FS Roxin, S. 665 (671 f. u. 679 ff.). 646 Zur Zurechenbarkeit des Erfolges bei sehr langem zeitlichen Auseinanderfallen von Handlung und Erfolg im Hinblick auf die Frage der Verjährung, s. Wolters / Beckschäfer, FS Herzberg, S. 141 ff.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
tiefen, weil sie den Angriff auf das geschützte Rechtsgut perpetuieren oder gar intensivieren.“647
Danach ist die Rechtsgutsbeeinträchtigung wesentlicher Bezugspunkt für die Prüfung der Beendigung.648 Mithilfe des systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs kann untersucht werden, ob eine Vertiefung des Unrechts stattfindet, oder ob der weitere Geschehensablauf im Hinblick auf das Rechtsgut nicht ins Gewicht fällt. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die zitierte Formel der Rechtsprechung keine eindeutige Subsumtion aller Einzelfälle ermöglicht, sondern in erheblichem Umfang eine Bewertung verlangt. So tritt beim Diebstahl nach herrschender Meinung Beendigung mit der „Sicherung der Beute“ ein.649 Es ist plausibel, dass eine Intensivierung der Rechtsgutsverletzung vorliegt, wenn das zunächst in die Hosentasche gesteckte Diebesgut vom Dieb nach Hause gebracht wird, weil es damit weiter aus dem Verfügungsbereich des Eigentümers beziehungsweise des bisherigen Gewahrsamsinhabers entfernt wird. Nach der Rechtsprechungsformel könnte eine Intensivierung der Rechtsgutsverletzung jedoch zwanglos auch darin erblickt werden, dass der Dieb seine „Beute“ einige Tage später (möglicherweise einem ursprünglichen Plan entsprechend) an einen im Ausland ansässigen Dritten veräußert, weil hierdurch die Herrschaftsbeziehung des Eigentümers beziehungsweise bisherigen Gewahrsamsinhabers nochmals gelockert würde. Gleichwohl nimmt – zu Recht – niemand an, dass dieses Verhalten die Beendigungsphase verlängert. Angesichts der Tatsache, dass die Bestimmung des Beendigungszeitpunkts demnach erheblich von Wertungen abhängt, darf die Bedeutung des Rechtsguts für diese Frage nicht überschätzt werden. Gleichwohl ist das Rechtsgut auch hier relevant, denn die Rechtsgutsverletzung bildet den Bezugspunkt der Wertentscheidung.650 Zudem beeinflusst die Konstruktion des Rechtsguts die Deliktsnatur,651 deren Kenntnis wiederum für die Bestimmung des Zeitpunkts der Beendigung hilfreich ist.652 647 BGHSt
52, 300 (302 f.); s. auch BGH wistra 2012, 29 (35). auch B. Heinrich, Strafrecht AT I, Rn. 713; Kühl, FS Roxin, S. 665 (669); kritisch Dallmeyer, ZStW 124 (2012), 711 (716). 649 BGHSt 4, 132 (133); 20, 194 (196); vgl. auch B. Heinrich, Strafrecht AT, Rn. 714; NK / Kindhäuser, § 242 Rn. 127; ablehnend MK / Schmitz, § 242 Rn. 163. 650 Die Betrachtung der Rechtsprechung (insb. zur Verjährung im Wirtschaftsstrafrecht) zeigt, dass die Wertung zum einen davon abhängt, ob das Rechtsgut objektiv verändert wird, zum anderen davon, ob ein mit der Rechtsgutsverletzung korrespondierender Vorteil vom Täter seiner Absicht entsprechend erlangt oder gesichert wird. Eine Vorteilserlangungsabsicht muss dabei nicht notwendig Tatbestandsmerkmal sein. 651 Dazu B. II. 4. 652 Vgl. Jescheck, FS Welzel, S. 683 (685 ff.). 648 s.
II. Eigener Ansatz139
bb) Das Rechtsgut als Synonym für deliktische Erfolge Eine weitere Verwendung des systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs, bei der es nicht auf dessen exakte Ermittlung im Einzelfall ankommt, bezieht sich auf die Fälle, in denen die Rechtsgutsverletzung als Synonym für die tatsächliche Herbeiführung eines deliktischen Erfolgs gebraucht wird, ohne dass ein bestimmter Straftatbestand in Bezug genommen werden müsste. Der Rechtsgutsbegriff wird in diesem Sinne verwendet, weil er prägnant und griffig ist. Dies ist etwa der Fall, wenn § 57 Abs. 1 S. 2 StGB vorsieht, dass bei der Entscheidung über die Strafrestaussetzung insbesondere auch „das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts“ berücksichtigt werden soll. Ähnliches gilt für die §§ 32, 34 StGB, bei denen ein Angriff auf beziehungsweise eine Gefahr für ein Rechtsgut festgestellt werden muss.653 Die Ermittlung des vom Handelnden verteidigten beziehungsweise geschützten Rechtsguts ist jedoch unabhängig von der Auffindung einer korrespondierenden, dieses Rechtsgut schützenden Strafnorm. Dies ergibt sich bereits daraus, dass der Angriff bei § 32 StGB zwar rechtswidrig, nicht aber ein in einem Straftatbestand vertyptes Unrecht sein muss.654 Entsprechendes gilt im Rahmen des § 34 StGB, bei dem die Notstandslage gerade nicht voraussetzt, dass das gefährdete Rechtsgut strafrechtlich geschützt ist.655 Auch die unter Umständen bei der Prüfung der Voraussetzungen der §§ 32, 34 StGB relevante Frage, ob ein bestimmtes Rechtsgut ein solches des Einzelnen oder der Allgemeinheit ist,656 lässt sich ohne Bezugnahme auf konkrete Strafvorschriften klären. cc) Das Rechtsgut als Hilfsmittel für die Systematisierung von Strafvorschriften Des Weiteren wird der systemimmanente Rechtsgutsbegriff zum Zwecke der Systematisierung und Gruppierung von Strafnormen verwendet. Bereits Birnbaum hat darauf hingewiesen, dass das Rechtsgut zu diesem Zweck 653 Dabei wird zwar in § 34 StGB, nicht aber in § 32 StGB ausdrücklich der Begriff „Rechtsgut“ verwendet. 654 Vgl. nur Krey / Esser, Strafrecht AT, Rn. 475; Schönke / Schröder / Perron, § 32 Rn. 4 u. 19 / 20. 655 Vgl. nur Kühl, Strafrecht AT, § 8 Rn. 22; Schönke / Schröder / Perron, § 34 Rn. 9. 656 Insb. im Hinblick auf die umstrittene Frage, ob Notwehr und Notstand nur zum Schutz von Individualrechtsgütern oder auch zum Schutz von Kollektivrechtsgütern geübt werden dürfen. Zum entsprechenden Meinungsstreit bei § 32 StGB vgl. nur MK / Erb, § 32 Rn. 100; Schönke / Schröder / Perron, § 32 Rn. 6; zum Problem bei § 34 StGB s. Frister, Strafrecht AT, 17. Kap. Rn. 2; MK / Erb, § 34 Rn. 59.
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B. Der Rechtsgutsbegriff
fruchtbar gemacht werden kann.657 Auch orientieren sich die Abschnitte des geltenden Strafgesetzbuchs an den geschützten Rechtsgütern, auch wenn die damit verbundene Zuordnung von Strafvorschriften zu bestimmten geschützten Rechtsgütern an vielen Stellen nicht überzeugt.658 Zudem wird der Rechtsgutsbegriff sogar explizit im Strafgesetzbuch zur Ordnung von Strafvorschriften herangezogen, indem in den gesetzlichen Überschriften der §§ 5 und 6 StGB eine Unterteilung der Auslandstaten in solche gegen inländische und solche gegen internationale Rechtsgüter erfolgt. Diese Art der Bezugnahme auf den Rechtsgutsbegriff hat jedoch keine Auswirkungen auf die Strafbarkeitsgrenzen. Das Bemühen um Systematisierung und Gruppierung der Straftatbestände ist vielmehr (lediglich) von akademischem Interesse.659 c) Grenzen des dogmatischen Nutzens des Rechtsgutsbegriffs Die vorstehenden Erwägungen660 zeigen, dass die Bestimmung des (systemimmanenten) Rechtsgutsbegriffs bei unterschiedlichen Problemen relevant wird. Die Heranziehung des Rechtsgutsbegriffs ermöglicht vor allem widerspruchsfreie Argumentationen bei der Tatbestandsauslegung. Umgekehrt muss sich eine Rechtsgutshypothese aber auch daran messen lassen, ob mit ihrer Hilfe für die einschlägigen dogmatischen Einzelfragen überzeugende Lösungen entwickelt werden können. Bei der Untersuchung von Einzelfragen sind aber auch die Grenzen des systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs bei der Auslegung zu beachten. Sol657 Birnbaum, Archiv des Criminalrechts, Neue Folge, 1834, 149 (177 ff.). Später beispielsweise v. Liszt, Lehrbuch (14. / 15. Aufl.), S. 298 ff. Aus dem aktuellen Schrifttum s. nur Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 1 Rn. 2 ff., 26 ff.; Baumann / Weber / Mitsch, Strafrecht AT, § 3 Rn. 17 mit Fn. 28; Jescheck / Weigend, Strafrecht AT, S. 259; LK / Walter, vor § 13 Rn. 8; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 1, Einl. Rn. 15 ff.; Naucke, Zur Lehre vom strafrechtlichen Betrug, S. 39; ders., Strafrecht, § 6 Rn. 33 ff.; Rönnau, Willensmängel, S. 22; Roxin, FS Hassemer, S. 573 (586). 658 s. nur Rengier, Strafrecht AT, § 3 Rn. 2. Ein Beispiel ist etwa § 142 StGB, dessen Stellung im Abschnitt über die „Straftaten gegen die öffentliche Ordnung“ als verfehlt angesehen wird, vgl. NK / Schild, § 142 Rn. 7; MK / Zopfs, § 142 Rn. 2 Fn. 3. 659 Anderes gilt freilich für die systematische Auslegung, die jedoch nicht mit der Systematisierung von Strafnormen verwechselt werden darf. Eine Systematisierung erfolgt vielmehr sinnvollerweise, nachdem das Rechtsgut ermittelt wurde, wozu auch die systematische Auslegung herangezogen werden kann [vgl. zur Ermittlung des Rechtsguts mittels Auslegung: B. II. 1. c) bb)]. Für die systematische Auslegung ist die Systematisierung der Vorschriften nach dem Rechtsgut nicht erforderlich (s. aber auch Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, S. 473). 660 Insb. die unter B. II. 3. a) angestellten Überlegungen.
II. Eigener Ansatz141
che Grenzen bestehen zum einen aufgrund der methodischen, zum anderen aufgrund der inhaltlichen Ausrichtung des Rechtsgutsbegriffs. In methodischer Hinsicht ist zu bedenken, dass die teleologische Auslegung nur eine der vier klassischen Auslegungsmethoden darstellt. Die Lösung eines konkreten Rechtsproblems kann folglich nicht allein am Rechtsgut ausgerichtet werden, sondern muss insbesondere die im Strafrecht wegen Art. 103 Abs. 2 GG besonders bedeutsame Wortlautauslegung berücksichtigen. In inhaltlicher Hinsicht ist zu bedenken, dass das Unrecht vieler Tatbestände nicht allein in der Herbeiführung einer Rechtsgutsgefährdung oder -verletzung liegt. Dementsprechend sind auch Umstände wie die Angriffsrichtung, die Pflichtenstellung des Handelnden oder subjektive Einstellungen beziehungsweise Absichten bei der Tatbestandsauslegung zu berücksichtigen. Die Notwendigkeit, weitere Aspekte im Rahmen der Auslegung zu berücksichtigen, mindert jedoch nicht den Nutzen des systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs für die Verbesserung des Normverständnisses.661 Aus den vorstehenden Überlegungen lassen sich auch Folgerungen für die Frage ableiten, bei welchen Straftatbeständen der rechtsgutsbezogenen Auslegung besondere Bedeutung zukommt. Dies sind die Strafvorschriften, bei denen das Erfolgsunrecht im Vordergrund steht, also die Verletzungs- und Gefährdungserfolgsdelikte. Da bei diesen Delikten die Herbeiführung einer Rechtsgutsverletzung oder konkreten Rechtsgutsgefährdung Voraussetzung für die Tatbestandsverwirklichung ist, kommt bei ihnen der Rechtsgutsbestimmung besondere Bedeutung zu. Anders liegt es hingegen bei den abstrakten Gefährdungsdelikten, bei denen ein Verhalten im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung pönalisiert wird, da insoweit das Handlungsunrecht ungleich bedeutsamer ist. Indes darf nicht verkannt werden, dass auch die Einordnung eines Delikts in die vorstehend aufgeführten Kategorien von der Bestimmung des Rechtsguts abhängig ist, wie im nachfolgenden Abschnitt näher erörtert wird. 4. Das Verhältnis von Rechtsgut und Deliktsnatur In der strafrechtlichen Literatur sind vor allem in jüngerer Zeit wiederholt die Auswirkungen der Rechtsgutsbestimmung auf die Bestimmung der Deliktsnatur erörtert worden. Im Fokus der Betrachtungen steht dabei die These, dass die Einordnung eines Straftatbestands als Verletzungs- oder als Gefährdungsdelikt von der Bestimmung des Rechtsguts abhängt.662 Die Erörterung dieser These erfolgt zumeist vor dem Hintergrund eines systemkritischen aber Pragal, Korruption, S. 101. Graul, Präsumtionen, S. 36; Krüger, Entmaterialisierungstendenz, S. 108; Wohlers, Deliktstypen, S. 310; ders., GA 2002, 15 (19); Zieschang, Die Ge661 So
662 Dazu
142
B. Der Rechtsgutsbegriff
Rechtsgutsbegriffs. Dessen Vertreter wenden sich häufig gegen die Vorverlagerung der Strafbarkeit durch Schaffung abstrakter Gefährdungsdelikte.663 Diese wird um eine Kritik an Rechtsgutsbestimmungen ergänzt, die nach ihrer Meinung die Vorverlagerung etwa durch die „Erfindung“ „vergeistigter Zwischenrechtsgüter“664 und „Scheinrechtsgüter“665 verschleiern sollen.666 a) Begriffsbestimmungen Im vorliegenden Zusammenhang kann diese kriminalpolitische Betrachtung außer Betracht bleiben. Stattdessen sollen die Erkenntnisse jener Erörterungen für die vorliegende Arbeit fruchtbar gemacht werden. Hierzu ist zunächst eine terminologische Klärung erforderlich, denn die Richtigkeit der genannten These hängt davon ab, was unter den Termini Gefährdungsdelikt und Verletzungsdelikt zu verstehen ist. Die Unterscheidung von Verletzungs- und Gefährdungsdelikten ist gebräuchlich und in der allgemeinen Strafrechtslehre anerkannt.667 Als Verletzungsdelikte werden die Straftatbestände bezeichnet, „bei denen der Eintritt eines Schadens an dem geschützten Rechtsgut zum Tatbestand gehört“.668 Mitunter werden bei dieser Definition als Bezugspunkt der Verletzung auch das „Angriffsobjekt“669, das fährdungsdelikte, S. 355; vgl. auch Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, S. 273 u. 287 Fn. 33 (s. dazu auch Krüger, Entmaterialisierungstendenz, S. 111 ff.). 663 Vgl. etwa Hassemer, StV 1990, 328 (330); ders., ZRP 1992, 378 (381); ders., StV 1995, 483 (484); Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 71; Hohmann, GA 1992, 76 (79 f.). Ebenfalls kritisch Hirsch, FS Lüderssen, S. 253 (260 ff.); ders., FS Tiedemann, S. 145 (155 ff.). Differenzierend Geerds, Wirtschaftsstrafrecht und Vermögensschutz, S. 43 f; Kuhlen, GA 1994, 347 (362 ff.); Schünemann, GA 1995, 201 (212); Stratenwerth, ZStW 105 (1993), 679 (687 ff.). 664 Schünemann, JA 1975, 787 (793, 798); ders., in Hefendehl / von Hirsch / Woh lers, Die Rechtsgutstheorie, S. 133 (152); zust. Roxin, Strafrecht AT / 1, § 11 Rn. 161; Wolter, Objektive und personale Zurechnung, S. 328. Dazu Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 146 ff.; Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter, S. 176 ff.; s. auch Amelung, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 155 (174 ff.). 665 Amelung, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 155 (171). Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter, S. 33 spricht von „nur scheinbaren Rechtsgütern“. 666 Vgl. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 34. Zur „Aufweichung der Rechtsgüter“ auch Hirsch, FS Tiedemann, S. 145 (161 ff.); s. auch Hesel, Untersuchungen, S. 373 ff. 667 Bohnert, JuS 1984, 182 ff.; Jescheck / Weigend, Strafrecht AT, S. 263 ff.; Maurach / Zipf, Strafrecht AT / 1, § 20 Rn. 29; Roxin, Strafrecht AT / 1, § 10 Rn. 123 ff.; Schönke / Schröder / Eisele, vor § 13 Rn. 129. 668 Fischer, StGB, vor § 13 Rn. 19. Ähnlich Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 44; B. Heinrich, Strafrecht AT, Rn. 161. 669 So Lackner / Kühl, vor § 13 Rn. 32; Walter, GA 2001, 131 (134).
II. Eigener Ansatz143
„Rechtsgutsobjekt“670 oder das „Handlungsobjekt“671 genannt. Richtigerweise ist auf den Schadenseintritt am Rechtsgut abzustellen, denn die Begriffe des Angriffsobjekts und Handlungsobjekts sind – wie bereits dargelegt672 – nicht weiterführend. Bei Individualrechtsgütern mag man vom Schadens eintritt am „Rechtsgutsobjekt“ sprechen, um klarzustellen, dass die Verletzung des Rechtsguts einer Person genügt. Gefährdungsdelikte zeichnen sich demgegenüber dadurch aus, dass die Tatbestandsverwirklichung von einer Schädigung des geschützten Rechtsguts unabhängig ist.673 Vielmehr ist lediglich die Gefahr eines solchen Ereignisses vorausgesetzt, wobei üblicherweise zwischen abstrakten und konkreten Gefahren unterschieden wird.674 Mit Gefahr wird dabei die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts bezeichnet.675 Durch Gefährdungsdelikte werden demnach „Verhaltensweisen pönalisiert, die nicht zu einer unmittelbaren Beeinträchtigung eines Rechtsguts führen, sondern eine Situation begründen, aus der sich eine Beeinträchtigung entwickeln kann, nicht aber notwendigerweise entwickeln muß.“676
Diese Erläuterung ist in der Sache richtig, allerdings erscheint es vorzugswürdig, den Ausdruck „Beeinträchtigung“ durch den der „Verletzung“ zu ersetzen. Der Terminus Rechtsgutsbeeinträchtigung wird nämlich regelmäßig als Oberbegriff für Gefährdung und Verletzung verwendet.677 Aus diesen Begriffsbestimmungen ergibt sich zwanglos, dass die Einordnung einer Strafvorschrift als Verletzungs- oder Gefährdungsdelikt von der Bestimmung des Rechtsguts abhängt, denn das Rechtsgut bestimmt per definitionem insoweit die Deliktsnatur.678 Das bedeutet freilich auch, dass auch die Bestimmung der Deliktsnatur dem – bereits eingehend erörterten679 – Zirkularitätsproblem 670 So Schünemann, JA 1975, 787 (793); Suhr, JA 1990, 303 (308); ders., Rechtsgut der Steuerhinterziehung, S. 47 f. 671 So Roxin, Strafrecht AT / 1, § 10 Rn. 123; Schönke / Schröder / Eisele, vor § 13 Rn. 129; Wessels / Beulke / Satzger, Strafrecht AT, Rn. 26. 672 Dazu bereits oben sub B. II. 1. a) aa). 673 Gallas, FS Heinitz, S. 171 (176); Geppert, JURA 1989, 417 (418); Graul, Präsumtionen, S. 37 f.; Maurach / Zipf, Strafrecht AT / 1, § 17 Rn. 26, § 20 Rn. 29 ff.; Roxin, Strafrecht AT / 1, § 10 Rn. 123. 674 s. nur B. Heinrich, Strafrecht AT, Rn. 162 ff.; Wessels / Beulke / Satzger, Strafrecht AT, Rn. 27 ff. 675 Die Einzelheiten der Dogmatik der Gefährdungsdelikte bleiben hier außer Betracht. Dazu Fischer, StGB, vor § 13 Rn. 19a; Lackner / Kühl, vor § 13 Rn. 32 jeweils mit umfangreichen Nachweisen. 676 Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 44. 677 s. nur Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, S. 372 ff.; Gössel, FS Oehler, S. 97 (100). 678 Vgl. auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 211 f.; Hirsch, FS Spinellis, S. 425 (438 f.); Volk, JZ 1982, 85 (89); Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, S. 220. 679 s. oben sub B. II. 2.
144
B. Der Rechtsgutsbegriff
ausgesetzt ist.680 Des Weiteren bedeutet dies, dass die Annahme, dass eine Vorschrift mehrere Rechtsgüter schützt, dazu führt, dass die Einordnung der Deliktsnatur nach diesen Rechtsgütern differenzierend vorzunehmen ist.681 b) Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Deliktsnatur Mag die vorstehende Unterscheidung in der Theorie klar sein, so zeigen sich doch erhebliche praktische Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Deliktsnatur bei einzelnen Tatbeständen des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs. Diese machen sich zunächst als Inkongruenzen zwischen der Dogmatik des Allgemeinen und des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs bemerkbar. Exemplarisch sei zunächst auf den Tatbestand der Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB) hingewiesen. Dieser wird gemeinhin als Musterbeispiel eines (abstrakten) Gefährdungsdelikts angeführt.682 Dies ist schlüssig, wenn man mit einer Mindermeinung das Rechtsgut im Schutz der Individualrechtsgüter Leben, Gesundheit und Eigentum erblickt.683 Demgegenüber sieht die herrschende Meinung als geschütztes Rechtsgut die Sicherheit des Straßenverkehrs (und Bahn-, Schiffs- und Luftverkehrs) an.684 Die gleichzeitige Einordnung des Tatbestands als abstraktes Gefährdungsdelikt685 ist jedoch unschlüssig, denn die Sicherheit des Straßenverkehrs wird durch den alkoholisierten Kraftfahrer gerade nicht nur gefährdet, sondern unmittelbar beeinträchtigt beziehungsweise verletzt.686, 687 deshalb Bohnert, JuS 1984, 182 (183 f.). auch Kuhlen, in von Hirsch / Seelmann / Wohlers, Mediating Principles, S. 148 (156); Schulenburg, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 244 (251). 682 s. nur Bohnert, JuS 1984, 182 (187); Wessels / Beulke / Satzger, Strafrecht AT, Rn. 29. 683 So Hefendehl, GA 1999, 584 (593); SK / Wolters, § 316 Rn. 2. 684 BayObLG, NZV 1992, 453; OLG München NZV 2006, 277 (278); BeckOK / Kudlich, § 316 Rn. 2; Fischer, StGB, § 316 Rn. 2 f.; MK / Pegel, § 316 Rn. 1; LK / König, § 316 Rn. 3; Lackner / Kühl, § 316 Rn. 1; NK / Zieschang, § 316 Rn. 11; Rengier, Strafrecht BT / II, § 43 Rn. 1; Schönke / Schröder / Sternberg-Lieben / Hecker, § 316 Rn. 1; SSW / Ernemann, § 316 Rn. 1. 685 So Fischer, StGB, § 316 Rn. 2 f.; Schönke / Schröder / Sternberg-Lieben / Hecker, § 316 Rn. 1. 686 So zutreffend Krüger, Entmaterialisierungstendenz, S. 110, der darauf hinweist, dass sich dieser Gedanke bereits bei Binding (Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, S. 393 f.) findet. Ebenso Hirsch, FS Spinellis, S. 425 (440 f.); s. auch Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, S. 220. 687 Selbst ein Abstellen auf das „Handlungsobjekt“ bei der Unterscheidung von Gefährdungs- und Verletzungsdelikten ist nicht weiterführend, denn die Individual680 Kritisch 681 Vgl.
II. Eigener Ansatz145
Noch verstärkt stellt sich das Problem der Bestimmung der Deliktsnatur beim Kapitalanlagebetrug (§ 264a StGB). Das Rechtsgut dieser Vorschrift wird teilweise im Individualrechtsgut Vermögen688, teilweise im Kollektivrechtsgut der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts689 und überwiegend in beidem erblickt.690 Konsequenterweise müsste, was jedoch kaum beachtet wird,691 die Strafvorschrift als Gefährdungsdelikt eingestuft werden, wenn man das Vermögen als geschützt ansieht, bei Zugrundelegung eines Kollektivrechtsguts hingegen als Verletzungsdelikt. Zugleich als Verletzungs- als auch als Gefährdungsdelikt wäre § 264a StGB wohl einzustufen, wenn die Norm als individual- und kollektivrechtsgutsschützend angesehen wird. Stattdessen wird die Norm unabhängig von der Rechtsgutsbestimmung zumeist als abstraktes Gefährdungsdelikt angesehen,692 wobei zum Teil immerhin eine Präzisierung dahingehend erfolgt, dass es sich um ein „abstraktes Vermögensgefährdungsdelikt“ handelt.693 Man mag einwenden, dass die Sicherheit des Straßenverkehrs beziehungsweise die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts eben noch nicht durch ein nach § 316 StGB beziehungsweise nach § 264a StGB tatbestandsmäßiges Verhalten verletzt sind.694 Dies berührt die Frage, was unter einer „Verrechtsgüter der Verkehrsteilnehmer sind auch keine Handlungsobjekte des § 316 StGB. 688 Fischer, StGB, § 264a Rn. 2; Gössel, Strafrecht BT / 2, § 23 Rn. 69; Hellmann / Beckemper, Wirtschaftsstrafrecht, Rn. 17; Jacobi, Kapitalanlagebetrug, S. 51; Joecks, wistra 1986, 142 (143); Krey / Hellmann / Heinrich, Strafrecht BT / 2, Rn. 774; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 1, § 41 Rn. 166, 180; NK / Hellmann, § 264a Rn. 3, 9; Worms, Anlegerschutz durch Strafrecht, S. 307 ff.; ders., wistra 1987, 242 (245). 689 Bottke, wistra 1991, 1 (8); Knauth, NJW 1987, 28; MK / Wohlers / Mühlbauer, § 264a Rn. 6; Otto, Die einzelnen Delikte, § 61 Rn. 38; SSW / Bosch, § 264a Rn. 1. 690 BT-Drucks. 10 / 318, S. 22; OLG Köln NJW 2000, 598 (600); Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter, S. 267 ff.; Lackner / Kühl, § 264a Rn. 1; LK / Tiedemann, § 264a Rn. 22 ff.; Mitsch, Strafrecht BT / 2, Teilbd. 2, § 3 Rn. 87; Park, in ders., Kapitalmarktstrafrecht, Teil 3, Kap. 1, Rn. 181; Schönke / Schröder / Perron, § 264a Rn. 1; Schröder, Kapitalmarktstrafrecht, Rn. 9 f.; Weber, NStZ 1986, 481 (486). 691 s. aber LK / Tiedemann, § 264a Rn. 28. 692 Fischer, StGB, § 264a Rn. 3; Lackner / Kühl, § 264a Rn. 2; NK / Hellmann, § 264a Rn. 11; Park, in ders., Kapitalmarktstrafrecht, Teil 3, Kap. 1, Rn. 183; SK / Hoyer, § 264a Rn. 10; a. A. LK / Tiedemann, § 264a Rn. 28; MK / Wohlers / Mühlbauer, § 264a Rn. 10 (Kumulationsdelikt). 693 Schönke / Schröder / Perron, § 264a Rn. 1; Schröder, Kapitalmarktstrafrecht, Rn. 11; ders., NStZ 1998, 552; Hervorhebung hinzugefügt. 694 So wohl Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter, S. 27, der meint, die Existenz eines einzelnen falschen Geldscheins beeinträchtige nicht die Sicherheit des Geldverkehrs; s. auch dessen Ausführungen zum „Fehlen der realen Verletzungskausalität“ (Hefendehl, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 119 [131]).
146
B. Der Rechtsgutsbegriff
letzung“ der Rechtsgüter zu verstehen ist.695 Im Ausgangspunkt kann unter Verletzung zunächst eine nachteilige Veränderung verstanden werden. Bezogen auf das Rechtsgut ist diese Begriffsbestimmung jedoch weiter zu präzisieren. Hierzu ist zunächst hervorzuheben, dass die Verletzung anerkanntermaßen nicht als Substanzeinbuße zu verstehen ist, da dies eine verkürzende, naturalistische Sicht wäre.696 Nicht nur die körperliche Integrität (vgl. § 223 StGB) oder die Sachsubstanz (vgl. § 303 StGB) können verletzt werden, sondern auch etwa die Ehre (vgl. § 185 StGB), ohne dass sie ein körperlichgegenständliches Substrat aufweisen würde.697 Dies führt dazu, dass der Verletzungsbegriff im übertragenen Sinn zu verstehen ist.698 Im Hinblick auf ein Rechtsgut „Sicherheit des Straßenverkehrs“ bedeutet dies, dass dessen Verletzung nicht überzeugend mit der Begründung abgelehnt werden kann, dass die Sicherheit des Straßenverkehrs nicht gegenständlich-konkret fassbar und deshalb unverletzlich ist. Des Weiteren kommt es für die Verletzung nicht auf die Größe oder den Schweregrad der Beeinträchtigung an. So lässt sich nicht gegen die Annahme einer Verletzung der Sicherheit des Straßenverkehrs einwenden, dass diese durch die einzelne Trunkenheitsfahrt kaum beeinträchtigt werde. Ebenso wenig überzeugt das Argument, dass durch den einzelnen Kapitalanlagebetrug die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts nur marginal nachteilig verändert wird. Hierauf kommt es genauso wie bei einer Körperverletzung nicht an. Eine Rechtsgutsverletzung würde im Rahmen des § 223 StGB nicht mit dem Argument bestritten werden, dass lediglich ein kleines Hämatom zugefügt wurde, das keine nachhaltigen Auswirkungen auf die Gesundheit beziehungsweise die Integrität des Gesamtorganismus hat.699 Die wenigsten Tatbestände setzen eine Rechtsgutsvernichtung voraus,700 695 Dazu Graul, Präsumtionen, S. 58 ff.; Walter, GA 2001, 131 (134 ff.); auch Langer, Das Sonderverbrechen, S. 292 ff., allerdings auf Grundlage einer grundlegend anderen Verbrechens- und Rechtsgutskonzeption. Binding (Handbuch des Strafrechts I, S. 170) verstand unter Verletzen eine Zerstörung oder Minderung des Güterwertes. Dazu Trops, Begriff und Wert eines Verwaltungsstrafrechts, S. 62 f. 696 Allerdings ist zuzugeben, dass der Verletzungsbegriff der „naturalistischen Sprachwelt entnommen“ ist (E. Wolf, FG Frank, Bd. 2, S. 516 [532 f.]). Vgl. auch v. Liszt, ZStW 6 (1886), S. 663 (675); s. zum Verletzungsbegriff auch eingehend Graul, Präsumtionen, S. 58 ff. 697 Wie bereits dargelegt, sind als Rechtsgüter nicht nur gegenständlich-konkrete Gegenstände, sondern auch sonstige reale Objekte anzusehen; s. oben sub B. II. 1 b) ii). 698 Wohl anders Walter, GA 2001, 131 (136), der das Rechtsgut als „Abstraktum“ ansieht und deshalb für unverletzlich hält. 699 Vgl. auch Walter, GA 2001, 131 (137); Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 83. 700 Vgl. aber etwa §§ 212, 218 StGB; zum Teil wird die Rechtsgutsvernichtung als eine Tatvariante hervorgehoben, etwa bei §§ 274, 303, 306 StGB („zerstören“).
II. Eigener Ansatz147
vielmehr besteht die Rechtsgutsverletzung regelmäßig nur in einer mehr oder minder starken Schädigung des Rechtsguts.701 Demnach kann auch bei Rechtsgütern wie der Sicherheit des Straßenverkehrs oder der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts von einer Rechtsgutsverletzung gesprochen werden. Richtigerweise sind die Tatbestände der § 264a StGB und § 316 StGB daher nicht als Gefährdungs-, sondern als Verletzungsdelikte zu qualifizieren, wenn der Schutz eines Kollektivrechtsguts in den Vordergrund gerückt wird. Die Einordnung als Gefährdungsdelikte überzeugt hingegen nur, insoweit als man annimmt, dass diese Vorschriften Individualrechtsgüter schützen. Die vorstehenden Ausführungen dürfen nicht dahingehend missverstanden werden, dass die Einordnung als Gefährdungs- oder Verletzungsdelikt stets mit der Bestimmung als Individual- oder Kollektivrechtsgut zusammenfällt. So kann die Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr (§ 299 StGB) unabhängig davon, ob man ein Individualrechtsgut (Vermögen) oder ein Kollektivrechtsgut (freier Wettbewerb) als geschützt ansieht, als abstraktes Gefährdungsdelikt angesehen werden.702 Eine bloße abstrakte Gefährdung des freien Wettbewerbs kommt insbesondere in den für tatbestandsmäßig gehaltenen Fällen in Betracht, in denen kein Wettbewerbsverhältnis besteht.703 Umgekehrt erscheinen auch Konstellationen vorstellbar, in denen unter Bezugnahme auf unterschiedliche Individualrechtsgüter entweder ein Gefährdungs- oder ein Verletzungsdelikt anzunehmen ist. So könnte man als geschütztes Rechtsgut der Körperverletzung (§ 223 StGB) die „Schmerzfreiheit“ ansehen. Da der Tatbestand des § 223 StGB aber unabhängig davon erfüllt ist, ob das Opfer Schmerzen erleidet,704 wäre bei einer solchen – 701 s. auch Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 203, 320 et passim. Ungenau hingegen Binding (Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, S. 375), der Rechtsgutsverletzung und -vernichtung gleichsetzt. 702 Zum Rechtsgut des § 299 StGB eingehend Pragal, Korruption, S. 107 ff., 146; ders., ZIS 2006, 63 (66 ff.); Szebrowski, Kick-Back, S. 153 ff.; s. auch Nöckel, ZJS 2013, 50 f. 703 Vgl. BeckOK / Momsen, § 299 Rn. 4; NK / Dannecker, § 299 Rn. 11 u. 48: die Tatbestandsverwirklichung setzt kein Wettbewerbsverhältnis voraus. Ungenau hingegen insoweit Krack, NStZ 2001, 505 (507); MK / Krick, § 299 Rn. 2; Nöckel, ZJS 2013, 50 (51), denn auch im Vorfeld einer wettbewerbswidrigen Bevorzugung ist eine Beeinträchtigung des „freien Wettbewerbs“ vorstellbar. Teilweise hingegen wird insoweit jedoch § 299 StGB im Hinblick auf den geschützten fairen Wettbewerb als Verletzungsdelikt angesehen (so bei Hellmann / Beckemper, Wirtschaftsstrafrecht, Rn. 760; LK / Tiedemann, § 299 Rn. 7). Zur vergleichbaren Problematik bei § 298 StGB, s. Kuhlen, FS Lampe, S. 743 (746 f.); LK / Tiedemann, § 298 Rn. 6 ff. 704 BGHSt 25, 277 (278); Fischer, StGB, § 223 Rn. 3a; Lackner / Kühl, § 223 Rn. 4; eingehend Schroeder, FS Hirsch, S. 725 (729 ff.); s. aber auch BGH NStZ-RR 2014, 11.
148
B. Der Rechtsgutsbegriff
zugegebenermaßen abstrusen – Rechtsgutskonstruktion die Körperverletzung als Gefährdungsdelikt einzustufen. Entsprechendes würde gelten, wenn man als Rechtsgut des § 223 StGB etwa das Leben oder die persönliche Entfaltungsfreiheit ansehen würde, den Tatbestand mithin als Vorschrift zum Schutz vor bestimmten möglichen Spätfolgen begreifen würde, die im Gesetz durchaus Berücksichtigung finden (vgl. §§ 226, 227 StGB). Es zeigt sich jedoch, dass die zutreffende Einordnung als Verletzungsoder Gefährdungsdelikt vor allem bei kollektivrechtsgüterschützenden Vorschriften Schwierigkeiten bereitet. Deren verbreitete Einordnung als abstrakte Gefährdungsdelikte erscheint durchaus nachvollziehbar, wenn man berücksichtigt, dass die einzelne Tathandlung für sich genommen das Kollektivrechtsgut häufig nur in marginaler, kaum messbarer Weise verletzt.705 Diese Überlegungen haben Zweifel daran aufkommen lassen, ob die Einteilung in Gefährdungs- und Verletzungsdelikte im Bereich der Kollektivrechtsgüter überzeugend ist.706 Diese Zweifel haben zur Entwicklung einer weiteren Deliktskategorie, nämlich der „Kumulationsdelikte“ geführt.707 Damit werden solche Delikte bezeichnet, bei denen die einzelne tatbestandsmäßige Handlung regelmäßig ungefährlich ist,708 also keine spürbaren negativen Auswirkungen hat. Die damit angerissene Problematik der Deliktstypologie der Kollektivrechtsgüter braucht im vorliegenden Zusammenhang nicht vertieft zu werden. Zum einen sind ihr bereits umfangreiche Untersuchungen gewidmet worden.709 Zum anderen erscheint im vorliegenden Zusammenhang eine vertiefte Beschäftigung mit diesen Untersuchungen verzichtbar, weil sie für 705 Vgl. Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht und Wirtschaftskriminalität 1, S. 81 ff.; Otto, ZStW 96 (1984), 339 (363); s. auch Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 135 ff. 706 Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht und Wirtschaftskriminalität 1, S. 85 ff.; ders., ZStW 87 (1975), 253 (273 f.); zu Tiedemanns Auffassung: Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 138 ff.; s. auch zusammenfassend Kuhlen, in von Hirsch / Seelmann / Wohlers, Mediating Principles, S. 148 ff. 707 Dazu Kuhlen, GA 1986, 389 (399); ders., ZStW 105 (1993), 697 (716 ff.); Wohlers, Deliktstypen, S. 142 ff., 309 f., 318 ff., 340. In der Tendenz auch bereits Loos, FS Welzel, S. 879 (891); vgl. auch eingehend Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 151 ff; Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter, S. 183 ff.; ders., in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 119 (131); s. auch die Kritik bei Kahlo, Handlungsform der Unterlassung, S. 158 ff.; Roxin, Strafrecht AT / 1, § 2 Rn. 80 ff.; ders., FS Hassemer, S. 573 (587 f.); Silva Sánchez, Expansion, S. 74 ff.; Walter, GA 2001, 131 (138 f.). 708 Kuhlen (in von Hirsch / Seelmann / Wohlers, Mediating Principles, S. 148 [150]) zufolge ist die einzelne Handlung „in diesem Sinne nicht einmal abstrakt gefährlich.“ 709 Etwa Anastasopoulou, Deliktstypen, insb. S. 202 ff.; Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter; Wohlers, Deliktstypen, insb. S. 221 ff.
III. Zusammenfassung149
die Frage der Leistungsfähigkeit des systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs ohne Bedeutung sind. Dies findet sich auch darin bestätigt, dass die Ausarbeitungen zur Deliktsstruktur von dem kriminalpolitischen Bemühen getragen sind, über diese Aussagen zur Legitimität einzelner Strafvorschriften zu treffen. Für das bessere Verständnis des systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs bleibt festzuhalten, dass die Rechtsgutskonstruktion Auswirkungen auf die Bestimmung der Deliktsnatur hat. Eine Rechtsgutshypothese hat sich demnach auch daran zu messen, dass sie hinsichtlich der Einordnung der Strafvorschrift als Verletzungs- oder Gefährdungsdelikt zu überzeugen vermag.
III. Zusammenfassung In diesem Abschnitt (B.) wurde in Vorbereitung einer rechtsgutsbezogenen Annäherung an § 176 StGB die Leistungsfähigkeit des systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs untersucht. Die damit einhergehende Zugrundelegung des geltenden Rechts stellt, wie die dogmengeschichtliche Betrachtung gezeigt hat,710 eine Rückbesinnung auf das ursprüngliche Verständnis des Rechtsgutsbegriffs dar. Dementsprechend konnten zahlreiche Erkenntnisse der Strafrechtswissenschaft des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts auch dieser Arbeit zugrunde gelegt werden. Die Untersuchung des systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs hat ergeben, dass das Rechtsgut bei Beachtung bestimmter Voraussetzungen ein taugliches Hilfsmittel der Auslegung ist. Hierzu gehört in erster Linie die Zugrundelegung eines einheitlichen Begriffsverständnisses. Aufgrund der positivistischen Ausrichtung des Vorgehens kann dieses nicht durch inhaltliche Präzisierung des Rechtsgutsbegriffs, sondern nur durch eine formale Konturierung erreicht werden. Diese wurde insbesondere durch die Ausarbeitung von Konstruktionsregeln für die Formulierung von Rechtsgütern angestrebt.711 Im Anschluss an die Präzisierung der Konturen des systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs galt es zu untersuchen, wie das Rechtsgut einer Strafvorschrift zu ermitteln ist.712 Dabei stellte sich heraus, dass als einziger Weg zur Ermittlung des Rechtsguts die Auslegung in Betracht kommt. Hieraus ergab sich das logische Problem, wie das Rechtsgut zur Auslegung beitragen sollte, wenn es selbst erst durch Auslegung ermittelt werden sollte. Die verschiedenen in der Literatur vorgeschlagenen Auswege aus diesem Be710 B. I.
711 B. II. 1. b). 712 B. II. 1. c).
150
B. Der Rechtsgutsbegriff
gründungszirkel erwiesen sich als nicht tragfähig.713 Gleichwohl bestand kein Anlass, den systemimmanenten Rechtsgutsbegriff zu verwerfen, da sich sein Nutzen daraus ergibt, Fixpunkt bei verschiedenen Auslegungsfragen innerhalb eines Tatbestandes zu sein.714 Dies wurde daran illustriert, dass verschiedene Anknüpfungspunkte für die rechtsgutsbezogene Auslegung, insbesondere aus den allgemeinen Verbrechenslehren, vorgestellt wurden.715 Zudem wurde aufgezeigt, dass die Bestimmung des Rechtsguts Auswirkungen auf die Beantwortung weiterer dogmatischer Fragen, insbesondere die Feststellung der Deliktsnatur von Strafvorschriften hat.716 Die Untersuchung hat somit ergeben, dass der dogmatische Nutzen des Rechtsgutsbegriffs darin liegt, Folgerungen für die Beantwortung verschiedener Rechtsfragen zu ermöglichen und dadurch zu einer einheitlichen und gleichmäßigen Auslegung von Rechtsvorschriften beizutragen. Im Ergebnis wurde damit die Leistungsfähigkeit des systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs bestätigt.
713 B. II. 2. a). 714 B. II. 2. c). 715 B. II. 3. a). 716 B. II. 3. b)
und B. II. 4.
C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB Nachdem der dogmatische Nutzen des Rechtsguts und seine Bedeutung für die Tatbestandsauslegung herausgearbeitet wurden, soll im Folgenden ein besseres Normverständnis der Vorschrift über den sexuellen Kindesmissbrauch (§ 176 StGB) erarbeitet werden, indem das Rechtsgut dieser Vorschrift ermittelt wird. Ausgangspunkt hierfür soll eine Literaturanalyse sein, bei der zunächst historische Auffassungen zum Rechtsgut des Tatbestands der geschlechtlichen Unzucht beziehungsweise des sexuellen Missbrauchs mit Kindern untersucht werden sollen (dazu unter I.). Daran anschließend sollen die derzeit im Schrifttum vertretenen Vorschläge zur Bezeichnung des Rechtsguts des § 176 StGB vorgestellt und überprüft werden (dazu unter II.). Besondere Aufmerksamkeit soll zudem den Konsequenzen dieser Rechtsgutsauffassungen für die Bestimmung der Deliktsnatur des § 176 StGB gewidmet werden (dazu unter III.). Diese Analyse der einschlägigen Literatur wird sodann zum Anlass für eine eigene Untersuchung des Rechtsguts des § 176 StGB genommen, bei der insbesondere die im vorangegangenen Abschnitt (B.) erlangten Erkenntnisse zu berücksichtigen sein werden. In diesem Abschnitt soll also durch Ermittlung des Rechtsguts des § 176 StGB die Grundlage für eine im Abschnitt D. erfolgende Untersuchung von Einzelfragen der Normauslegung gelegt werden.
I. Historischer Rückblick Die ersten Bemühungen, ein Rechtsgut für den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern beziehungsweise seine Vorgängervorschriften zu benennen, reichen bis zu den Anfängen der Entwicklung des Rechtsgutsbegriffs zurück. Ob solche früheren Rechtsgutsbestimmungen zur Klärung des Rechtsguts des § 176 StGB in seiner derzeitigen Fassung beitragen können, hängt davon ab, inwiefern sich der Bezugspunkt früherer Rechtsgutsauffassungen, also die konkrete Strafvorschrift, geändert hat. Dies liegt darin begründet, dass das geschützte Rechtsgut bei der hier zugrunde gelegten systemimmanenten Betrachtungsweise wesentlich vom Gesetzeswortlaut abhängt. Dementsprechend soll zunächst die historische Entwicklung des Verbots des sexuellen Missbrauchs von Kindern nachgezeichnet werden. Vor diesem Hintergrund werden sodann die historischen Auffassungen zum Rechtsgut der entsprechenden Strafvorschrift dargestellt. Unter Berücksich-
152
C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
tigung der Zäsurwirkung des Zweiten Weltkriegs wird zunächst das Schrifttum bis 1945 analysiert, um sodann die Fortentwicklung in der Nachkriegszeit zu beleuchten. 1. Die historische Entwicklung des Verbots des sexuellen Missbrauchs von Kindern Das strafrechtliche Verbot von Sexualkontakten mit Kindern erscheint aus heutiger Sicht so selbstverständlich, dass kaum vorstellbar erscheint, dass es Gesellschaften und Zeiten gab, in denen ein ausdrückliches strafrechtliches Verbot fehlte. Historische Untersuchungen zeigen jedoch, dass es Zeiten gab, in denen sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern sozial und auch rechtlich gebilligt wurden.1 Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass ein fehlendes Verbot der Sexualkontakten nicht bedeutete, dass Kinder in jederlei Hinsicht sexuellen Annäherungen Erwachsener schutzlos ausgeliefert waren.2 Exemplarisch sei hier auf die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. (Constitutio Criminalis Carolina [CCC]) von 1524 verwiesen, die keine ausdrückliche Vorschrift zum Schutz von Kindern vor sexuellen Kontakten enthielt. Die Peinliche Gerichtsordnung regelte jedoch Verbote der widernatürlichen Unzucht, des Inzests, der Notzucht und der Entführung (§§ 116 ff. CCC).3 Durch diese und weitere Spezialverbote (insbesondere §§ 122 f. 1 Eingehend Barabas, Sexualität und Recht, S. 30 ff.; Bennemann, Strafbarkeit, S. 4 ff.; Ilg, Der strafrechtliche Schutz, S. 2 ff.; Kilpatrick, Long-Range Effects of Child and Adolescent Sexual Experiences, S. 3 ff.; Trube-Becker, in Amann / Wipplinger, Sexueller Missbrauch, S. 45 ff. Zur Geschichte der Strafbarkeit der Unzucht mit Kindern: Aaron, Unzüchtige Handlungen mit Kindern, S. 1 ff.; Brüggemann, Entwicklung und Wandel, S. 291 ff.; Killias, Jugend und Sexualstrafrecht, S. 53 f., 61 ff., 109 ff.; Quanter, Sittlichkeitsverbrechen, S. 235 ff. Zur Geschichte des Sexualstrafrechts im Allgemeinen s. Blei, Strafrecht BT, S. 143; Bungart, Sexuelle Gewalt gegen behinderte Menschen, S. 41 ff.; Hälschner, System des Preußischen Strafrechtes, Zweiter Theil, S. 289 ff.; v. Liszt, Lehrbuch (14. / 15. Aufl.), S. 365 ff.; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 1, § 17 Rn. 1 ff. sowie § 20 Rn. 1; Schroeder, Das neue Sexualstrafrecht, S. 15. Umfassende Darstellungen finden sich bei Brüggemann, Entwicklung und Wandel; Quanter, Sittlichkeitsverbrechen. 2 Vgl. auch Schetsche, MSchrKrim 1994, 201 (203). 3 Die Vorschriften der Constituio Criminalis Carolina lauten wie folgt: Straff der vnkeusch, so wider die natur beschicht 116. Item so eyn mensch mit eymem vihe, mann mit mann, weib mit weib, vnkeusch treiben, die haben auch das leben verwürckt, vmd man soll sie der gemeymen gewomheyt mach mit dem fewer vom leben zum todt richten.
I. Historischer Rückblick153
CCC) bestand faktisch ein weitreichender, wenn auch aus heutiger Sicht unzureichender, gesetzlicher Schutz von Kindern vor sexuellen Kontakten mit Erwachsenen. Ein weiterer Schutz wurde zudem durch einzelne deutsche Landesgesetze oder kirchenrechtliche Verbote gewährleistet.4 Außerdem herrschte in der damaligen Wissenschaft unter Berufung auf Carpzov die Ansicht, „dass, weil das unmündige Kind keinen Willen habe und nicht consentiren könne, jede an ihm verübte Unzucht als Nothzucht zu betrachten sei.“5 Ein explizites Verbot des sexuellen Missbrauchs fand sich hingegen bereits im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794. Die wichtigsten einschlägigen Vorschriften sind im Folgenden wiedergegeben (2. Theil, 20. Titel): § 1052. Wer mit unwiderstehlicher Gewalt eine Person, die über zwölf Jahre alt ist, nothzüchtigt, soll sechs- bis achtjährige Festungstrafe leiden. Straff der 117. Item
vnkeusch mit nahende gesipten freunden so eyner vnkeusch mit seiner stiefftochter, mit seines suns eheweib, oder mit seiner stieffmutter treibt, mm solchem vnd noch nehern sipschafften soll die straff wie dauon mm vnsern vorfarn vnnd vmsern Keyserlichem geschriben rechtem gesetzt, gebraucht, vmnd derhaib bei den rechtuerstendigen radts gepflegt werden. Straff der jhenen so eheweiber oder jungkfrawen entfüren 118. Item so eyner jemandt sein eheweib oder eyn vnuerleumbte jungkfrawen wider des ehemanns oder des ehelichen vatters willen, eyner vnehrlichen weiß entpfüret, darumb mag der ehemann oder Vatter vnangesehen ob die ehefraw oder jungkfrawe jren willen darzu gibt, peinlich klagen, vnd soll der thetter, nach satzung vnser vorfarn, vnd vnser Keyserlichen recht darumb gestrafft vnd derhalb bei den rechtuerstendigen radts gebraucht werden. Straff der nottzucht 119. Item so jemandt eyner vnuerleumbten ehefrawen, witwenn oder jungkfrawen, mit gewalt vnd wider jren willen, jr jungkfrewlich oder frewlich ehr neme, der selbig übelthetter hat das leben verwürckt, vnd soll auff beklagung der benöttigten inn außfürung der mißthat, eynem rauber gleich mit dem schwert vom leben zum todt gericht werden. So sich aber eyner solchs obgemelts mißhandels freuelicher vnd gewaltiger weiß, gegen eyner vnuerleumbten frawen oder jungkfrawen vnderstünde, vnnd sich die fraw oder jungkfraw seiner weerte, oder von solcher beschwernuß sunst erreth würd, der selbig übeltlietter soll auff beklagung der benöttigten, inn außfürung der mißhandlung, nach gelegenheyt vnd gestalt der personen vnd vnderstanden missethat gestrafft werden, vnd sollen darinn richter vnnd vrtheyler radts gebrauchen wieuor inn andern fellen mer gesetzt ist. 4 Vgl. von Kräwel, GS 13 (1861), 1 ff. 5 Vgl. Hälschner, System des Preußischen Strafrechtes, S. 315 Fn. 4.; s. auch Killias, Jugend und Sexualstrafrecht, S. 75 f. Tatsächlich bezieht sich die Äußerung Carpzovs jedoch nur auf Kinder unter sieben Jahren: „Qua poena gladii afficiendus quoque est, qui cum puella, trium, quatuor, quinque aut sex annorum rem habet: Quia enim ejusmodi infantula consentire nequit.“ (Carpzov, Practicae novae imperialis saxonicae rerum criminalium pars II, quaestio LXIX n. 41).
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
§ 1053. Ist die Geschändete unter zwölf Jahren: so hat der Thäter acht- bis zehnjährige Festungsstrafe verwirkt. § 1054. Jede an einer solchen unerwachsenen Person verübte Unzucht wird als Nothzüchtigung angesehen; und, wenn ein eigentlicher Zwang zur Gestattung des Beyschlafs nicht ausgemittelt ist, mit drey bis fünf Jahren Zuchthaus- oder Gefängnißstrafe belegt. § 1055. In allen Fällen wird die Dauer der Strafe, verhältnißmäßig, bis zu zehn und zwölf Jahren verlängert, wenn die Geschändete, durch die an ihr verübte Gewalt, an ihrer Gesundheit erheblich und dauernd gelitten hat.
Ein noch weitgehender rechtlicher Schutz wurde auch hier durch weitere Vorschriften gewährleistet.6 Den Vorschriften des Allgemeinen Landrechts vergleichbare Regelungen gab es später auch in den Strafgesetzbüchern der deutschen Länder, etwa in Art. 1917 und 3788 des Bayerischen Strafgesetzbuchs von 1813.9 Das heutige Strafgesetzbuch geht bekanntlich auf das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich von 1871 zurück, das am 1. Januar 1872 in Kraft getreten ist. Dort fand sich in § 176 Nr. 3 RStGB die Vorläufervorschrift zum heutigen Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern.10 Diese war wiederum an § 14411 des Preußischen Strafgesetzbuches von 1851 angeSchroeder, Das neue Sexualstrafrecht, S. 42. Geschärftes Arbeitshaus auf ein Jahr bis zu vier Jahren ist wider denjenigen zu erkennen, der einen Knaben oder ein Mädchen unter zwölf Jahren zu widernatürlicher Wollust gebraucht oder verführt hat. 8 Art. 378. Der Beischlaf mit einem Mädchen unter zwölf Jahren ist von ihrer Seite als unfreiwillige Unzucht zu betrachten, und soll an dem Verführer mit sechsmonatlichem bis zweijährigem Gefängnisse bestraft werden, so ferne nicht solche Handlung wegen verübter Gewalt oder Drohungen in das Verbrechen der Nothzucht übergegangen ist. 9 Näher von Kräwel, GS 13 (1861), 1 (4 f.) mit Nachweisen zu anderen Partikularrechten. 10 Zur geschichtlichen Entwicklung seit Inkrafttreten des § 176 RStGB, s. Brüggemann, Entwicklung und Wandel, S. 294 ff.; Frühsorger, Straftatbestand, S. 7 ff.; Ilg, Der strafrechtliche Schutz, S. 11 ff. 11 § 144. Mit Zuchthaus bis zu zwanzig Jahren wird bestraft: 1. wer an einer Person des einen oder des anderen Geschlechtes mit Gewalt eine auf Befriedigung des Geschlechtstriebes gerichtete unzüchtige Handlung verübt, oder sie durch Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben zur Duldung einer solchen unzüchtigen Handlung zwingt; 2. wer eine in einem wissenlosen oder bewußtlosen Zustande befindliche Person zu einer auf Befriedigung des Geschlechtstriebes gerichteten unzüchtigen Handlung mißbraucht; 3. wer mit Personen unter vierzehn Jahren unzüchtige Handlungen vornimmt, oder dieselben zur Verübung oder Duldung unzüchtiger Handlungen verleitet. Ist der Tod der Person, gegen welche das Verbrechen verübt wird, dadurch verursacht worden, so tritt lebenslängliche Zuchthausstrafe ein. 6 Vgl.
7 Art. 191.
I. Historischer Rückblick155
lehnt.12 Der Tatbestand der schweren Unzucht (§ 176 RStGB) lautete anfänglich wie folgt: (1) Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer 1. mit Gewalt unzüchtige Handlungen an einer Frauensperson vornimmt oder dieselbe durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben zur Duldung unzüchtiger Handlungen nöthigt, 2. eine in einem willenlosen oder bewußtlosen Zustande befindliche oder eine geisteskranke Frauensperson zum außerehelichen Beischlafe mißbraucht, oder 3. mit Personen unter vierzehn Jahren unzüchtige Handlungen vornimmt oder dieselben zur Verübung oder Duldung unzüchtiger Handlungen verleitet. (2) Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnißstrafe nicht unter sechs Monaten ein. (3) Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein, welcher jedoch, nachdem die förmliche Anklage bei Gericht erhoben worden, nicht mehr zurückgenommen werden kann.
Bereits 1876 wurde das im Absatz 3 geregelte Strafantragserfordernis gestrichen. In der Folgezeit blieb die Vorschrift lange unverändert bestehen. Im Jahr 1953 erfolgte eine redaktionelle Anpassung, bei der das Wort „Frauensperson“ in § 176 Nr. 1 und 2 durch „Frau“ ersetzt wurde. 1969 erfolgten wiederum Änderungen in § 176 Nr. 1 und 2 und zudem eine Anpassung der Rechtsfolgen im Zuge einer Reform des Sanktionenrechts. Die bedeutendste Reform des Tatbestands erfolgte mit Inkrafttreten des 4. Strafrechtsreformgesetzes im Jahr 1974.13 Seitdem spricht das Gesetz vom „sexuellen Missbrauch von Kindern“ und stellt diesen in einem eigenen Paragraphen, dem § 176 StGB, unter Strafe. Dieser lautete in der Neufassung durch das 4. Strafrechtsreformgesetz wie folgt: § 176. Sexueller Mißbrauch von Kindern. (1) Wer sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer ein Kind dazu bestimmt, daß es sexuelle Handlungen an einem Dritten vornimmt oder von einem Dritten an sich vornehmen läßt. (3) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter Hintergrund Brüggemann, Entwicklung und Wandel, S. 30. den Änderungen im Sexualstrafrecht Baumann, ZRP 1971, 129; Blei, JA 1971, 29 (31 ff.), 109 ff., 169 ff. Laufhütte, JZ 1974, 46; Schroeder, FS Welzel, S. 859 ff.; Sturm, JZ 1974, 1; aus rechtsvergleichender Sicht Jescheck, ZStW 83 (1971), 299 ff. 12 Zum 13 Zu
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB 1. mit dem Kind den Beischlaf vollzieht oder 2. das Kind bei der Tat körperlich schwer mißhandelt.
(4) Verursacht der Täter durch die Tat leichtfertig den Tod des Kindes, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren. (5) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmt, 2. ein Kind dazu bestimmt, daß es sexuelle Handlungen vor ihm oder einem Dritten vornimmt, oder 3. auf ein Kind durch Vorzeigen pornographischer Abbildungen oder Darstellungen, durch Abspielen von Tonträgern pornographischen Inhalts oder durch entsprechende Reden einwirkt, um sich, das Kind oder einen anderen hierdurch sexuell zu erregen. (6) Der Versuch ist strafbar; dies gilt nicht für Taten nach Absatz 5 Nr. 3.
Im Zuge des 6. Strafrechtsreformgesetzes wurden, neben kleineren Änderungen in § 176 Abs. 5 StGB, die Absätze 4 und 5 in die neu eingefügten Paragraphen § 176a und § 176b StGB ausgegliedert. Dabei wurde die Strafrahmenbestimmungsregel des § 176a Abs. 4 StGB in der Fassung des 4. Strafrechtsreformgesetzes in einen Qualifikationstatbestand umgewandelt, der deutlich ausdifferenziertere Regelungen enthielt. In der Tendenz war mit der gesetzlichen Neuregelung eine deutliche Schärfung der Strafdrohungen verbunden.14 Weitere umfangreichere Änderungen des § 176 StGB und auch des § 176a StGB erfolgten 2004. Dabei wurden insbesondere bestimmte Sonderkonstellationen unter Strafe gestellt, deren fehlende Strafbarkeit als nicht hinnehmbar empfunden wurde. Zudem erfolgte eine Anhebung der Strafdrohungen hinsichtlich mehrerer Tathandlungen.15 Die §§ 176 f. StGB erhielten damit folgende Fassung: § 176. Sexueller Mißbrauch von Kindern. (1) Wer sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft. 14 Zu den Änderungen im Sexualstrafrecht durch das 6. Strafrechtreformgesetz: Bussmann, StV 1999, 613 (618 f.); Gnüchtel, Jugendschutztatbestände, S. 74 ff.; Kreß, NJW 1998, 633 (638 f.); Mildenberger, Streit 1999, 3 ff., insb. 12 f.; MK / Renzikowski, vor § 174 Rn. 93 ff., insb. Rn. 95; Pape, Legalverhalten, S. 41 ff.; Rosenau, StV 1999, 388 (293 f.). Schroeder, JZ 1999, 827 ff. Eingehende Kritik bei Jäger, in Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie Frankfurt a. M., Irrwege der Strafgesetzgebung, S. 49 (58 ff.). 15 Näher Amelung / Funcke-Auffermann, StraFo 2004, 114 ff., 265 ff.; Frühsorger, Straftatbestand, S. 9 ff.; Gnüchtel, Jugendschutztatbestände, S. 76 ff.; Hermann-Kolb, Systematik, S. 102 ff.
I. Historischer Rückblick157 (2) Ebenso wird bestraft, wer ein Kind dazu bestimmt, daß es sexuelle Handlungen an einem Dritten vornimmt oder von einem Dritten an sich vornehmen läßt. (3) In besonders schweren Fällen ist auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr zu erkennen. (4) Mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren wird bestraft, wer 1. sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmt, 2. ein Kind dazu bestimmt, daß es sexuelle Handlungen an sich vornimmt, 3. auf ein Kind durch Schriften (§ 11 Abs. 3) einwirkt, um es zu sexuellen Handlungen zu bringen, die es an oder vor dem Täter oder einem Dritten vornehmen oder von dem Täter oder einem Dritten an sich vornehmen lassen soll, oder 4. auf ein Kind durch Vorzeigen pornographischer Abbildungen oder Darstellungen, durch Abspielen von Tonträgern pornographischen Inhalts oder durch entsprechende Reden einwirkt. (5) Mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren wird bestraft, wer ein Kind für eine Tat nach den Absätzen 1 bis 4 anbietet oder nachzuweisen verspricht oder wer sich mit einem anderen zu einer solchen Tat verabredet. (6) Der Versuch ist strafbar; dies gilt nicht für Taten nach Absatz 4 Nr. 3 und 4 und Absatz 5. § 176a. Schwerer sexueller Mißbrauch von Kindern. (1) Der sexuelle Missbrauch von Kindern wird in den Fällen des § 176 Abs. 1 und 2 mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft, wenn der Täter innerhalb der letzten fünf Jahre wegen einer solchen Straftat rechtskräftig verurteilt worden ist. (2) Der sexuelle Missbrauch von Kindern wird in den Fällen des § 176 Abs. 1 und 2 mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren bestraft, wenn 1. eine Person über achtzehn Jahren mit dem Kind den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an ihm vornimmt oder an sich von ihm vornehmen lässt, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind, 2. die Tat von mehreren gemeinschaftlich begangen wird oder 3. der Täter das Kind durch die Tat in die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung oder einer erheblichen Schädigung der körperlichen oder seelischen Entwicklung bringt. (3) Mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren wird bestraft, wer in den Fällen des § 176 Abs. 1 bis 3, 4 Nr. 1 oder Nr. 2 oder des § 176 Abs. 6 als Täter oder anderer Beteiligter in der Absicht handelt, die Tat zum Gegenstand einer pornographischen Schrift (§ 11 Abs. 3) zu machen, die nach § 184b Abs. 1 bis 3 verbreitet werden soll. (4) In minder schweren Fällen des Absatzes 1 ist auf Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren, in minder schweren Fällen des Absatzes 2 auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren zu erkennen.
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
(5) Mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren wird bestraft, wer das Kind in den Fällen des § 176 Abs. 1 bis 3 bei der Tat körperlich schwer misshandelt oder durch die Tat in die Gefahr des Todes bringt. (6) 1 In die in Absatz 1 bezeichnete Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. 2 Eine Tat, die im Ausland abgeurteilt worden ist, steht in den Fällen des Absatzes 1 einer im Inland abgeurteilten Tat gleich, wenn sie nach deutschem Strafrecht eine solche nach § 176 Abs. 1 oder 2 wäre.
Die jüngste Änderung des Tatbestands des sexuellen Missbrauchs von Kindern datiert aus dem Jahr 2008. Dabei wurde § 176 Abs. 4 Nr. 2 StGB leicht modifiziert, um Fälle unter Strafe zu stellen, in denen ein Kind dazu bewegt wird, aufreizende Posen einzunehmen.16 § 176 StGB hat nunmehr folgenden Wortlaut: § 176. Sexueller Mißbrauch von Kindern. (1) Wer sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer ein Kind dazu bestimmt, daß es sexuelle Handlungen an einem Dritten vornimmt oder von einem Dritten an sich vornehmen läßt. (3) In besonders schweren Fällen ist auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr zu erkennen. (4) Mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren wird bestraft, wer 1. sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmt, 2. ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen vornimmt, soweit die Tat nicht nach Absatz 1 oder Absatz 2 mit Strafe bedroht ist, 3. auf ein Kind durch Schriften (§ 11 Abs. 3) einwirkt, um es zu sexuellen Handlungen zu bringen, die es an oder vor dem Täter oder einem Dritten vornehmen oder von dem Täter oder einem Dritten an sich vornehmen lassen soll, oder 4. auf ein Kind durch Vorzeigen pornographischer Abbildungen oder Darstellungen, durch Abspielen von Tonträgern pornographischen Inhalts oder durch entsprechende Reden einwirkt. (5) Mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren wird bestraft, wer ein Kind für eine Tat nach den Absätzen 1 bis 4 anbietet oder nachzuweisen verspricht oder wer sich mit einem anderen zu einer solchen Tat verabredet. (6) Der Versuch ist strafbar; dies gilt nicht für Taten nach Absatz 4 Nr. 3 und 4 und Absatz 5. 16 Vgl. Frühsorger, Straftatbestand, S. 12; s. auch Fischer, StGB, § 176 Rn. 10; Gnüchtel, Jugendschutztatbestände, S. 86 f.; Hörnle, NJW 2008, 3521 (3522), Röder, NStZ 2010, 113 (116 ff.); Schroeder, GA 2009, 213 (214 f.).
I. Historischer Rückblick159
Die vorangegangene Darstellung der historischen Entwicklung des Verbots des sexuellen Missbrauchs von Kindern verdeutlicht, dass die Strafvorschriften zahlreiche Änderungen und Anpassungen erfahren haben. Insgesamt zeigt sich auf Tatbestandsebene eine zunehmende Präzisierung und Ausdifferenzierung der Tatmodalitäten. Diese ist von dem Bemühen getragen ist, eine Vielzahl von Verhaltensweisen unter Beachtung des Bestimmtheitsgrundsatzes (Art. 103 Abs. 2 GG) unter Strafe zu stellen und damit einen möglichst umfassenden Schutz des Kindes zu erreichen. Einige Änderungen sind auch darauf zurückzuführen, dass technische Entwicklungen neuartige Möglichkeiten zur sexuell motivierten Annäherung an Kinder ergeben haben, die rasch eine praktische Bedeutung erlangt haben. Dies betrifft insbesondere die Varianten des § 176 Abs. 4 StGB, die eine räumliche Nähe von Täter und Opfer nach überwiegender Auffassung nicht voraussetzen.17 Für die Betrachtung des Rechtsguts der Vorschriften, die den sexuellen Missbrauch von Kindern unter Strafe stellen, sind die zahlreichen Änderungen und Erweiterungen der Tatmodalitäten von untergeordneter Bedeutung. Diese Änderungen berühren nämlich nicht das Erfolgsunrecht der Rechtsgutsverletzung als solches, sondern ändern nur die strafrechtliche Relevanz bestimmter Angriffsrichtungen, aus denen das Rechtsgut beeinträchtigt werden kann.18 Als wichtige Zäsur ist jedoch die Änderung des Tatbestands durch das 4. Strafrechtsreformgesetzes zu beachten, die nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich eine grundlegende Neuorientierung im Sexualstrafrecht bedeutete. Diese abweichende Konzeption ist zu berücksichtigen, wenn im Folgenden die vor dieser Gesetzesreform vertretenen Auffassungen zum Rechtsgut des § 176 Nr. 3 RStGB bzw. StGB a. F. vorgestellt werden. 2. Die historischen Auffassungen zum Rechtsgut des § 176 Nr. 3 RStGB Im Hinblick darauf, dass der Rechtsgutsbegriff durch Binding stärkere Verbreitung erfuhr,19 finden sich in der strafrechtlichen Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts erste Überlegungen zum Rechtsgut des § 176 Nr. 3 RStGB. Im Folgenden werden zunächst historische Auffassungen zum Rechtsgut des § 176 Nr. 3 RStGB dargestellt, wobei sich die Darstellung in diesem Abschnitt im ersten Schritt auf die Analyse des bis 1945 erschienenen Schrifttums beschränkt. Aufgrund des Systemwechsels kommt dem 17 Vgl. nur LK / Hörnle, § 176 Rn. 74; Schönke / Schröder / Eisele, § 176 Rn. 12, 13b u. 17; SK / Wolters, § 176 Rn. 15. 18 Zur Abgrenzung von Rechtsgut und Angriffsweg s. bereits oben sub B. I. 8. und B. II. 1. b) cc). 19 Dazu oben B. I. 2.
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
Zweiten Weltkrieg eine Zäsurwirkung auch in der Strafrechtswissenschaft zu. Im Bereich des Sexualstrafrechts gilt dies umso mehr, als sich in der Nachkriegszeit zunehmend Reformtendenzen entwickelten, denen ein eigener Abschnitt gewidmet werden soll. a) Die Entwicklung im Schrifttum bis 1945 Im Schrifttum wurden mit zunehmender Verbreitung des Rechtsgutsbegriffs auch Auffassungen zum Rechtsgut des § 176 Nr. 3 RStGB geäußert. Eine Auseinandersetzung mit anderen Ansichten erfolgte jedoch kaum, sondern es gab eine Vielzahl nebeneinander vertretener Meinungen zu dieser Frage. Mitunter wurde auch eine konkrete Rechtsgutsbestimmung für Einzelvorschriften vermieden, sondern eher global die Schutzrichtung der „Sittlichkeitsdelikte“ beschrieben.20 Im Folgenden werden diejenigen Literaturstimmen jener Zeit vorgestellt, die sich um eine nähere Rechtsgutsbestimmung bei § 176 Nr. 3 RStGB bemühten. aa) Hälschner Hälschner behandelte die Vorschrift des § 176 Nr. 3 RStGB als Delikt „gegen die Züchtigkeit der Person“.21 Die Fleisches-, Unzuchts- oder Sittlichkeitsverbrechen würden sich dadurch auszeichnen, „daß sie eine irgendwie gestaltete Verletzung der sittlichen Anforderung der Züchtigkeit, der Geschlechtsreinheit, enthalten“.22 Das Gesetz erkläre jedoch nicht „die Unzüchtigkeit als solche für strafbar“, sondern stelle darauf ab, „ob und in welchem Maße die unzüchtige Handlung als eine rechtsverletzende zu betrachten sei.“23 Hälschner hielt es daher für richtig, bei der Systematisierung der Handlungen nicht darauf abzustellen, dass diese „mittelst einer Unzüchtigkeit verübt“ werden, sondern danach zu differenzieren, „welches Rechtsgut das Object des strafbaren Angriffes bildet“.24 Daraus ergab sich eine Einteilung der Unzuchtsdelikte in solche, die „das Recht der Person“, 20 Etwa bei Merkel, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, S. 345 f.: „Die nachfolgend zusammengestellten Delikte richten sich gegen die Ehre und zugleich gegen die Freiheit und überhaupt gegen die Integrität einzelner in geschlechtlicher Hinsicht. Sie verletzen zugleich das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der guten Sitte in Bezug auf die geschlechtlichen Verhältnisse.“ 21 Hälschner, Das gemeine deutsche Strafrecht, S. 220 ff.; auch bereits zum preußischen Strafrecht ders., System des Preußischen Strafrechtes, Zweiter Theil, S. 286 ff. 22 Hälschner, Das gemeine deutsche Strafrecht, S. 220. 23 Hälschner, Das gemeine deutsche Strafrecht, S. 220. 24 Hälschner, Das gemeine deutsche Strafrecht, S. 220 f.
I. Historischer Rückblick161
solche, die „das Wesen der Familie“ sowie solche, die „die öffentliche Sittlichkeit“ zum Objekt haben.25 Hälschner begriff demnach ganz allgemein das „Recht der Person“ als geschütztes Rechtsgut des § 176 Nr. 3 RStGB, wobei dieses durch eine unzüchtige Handlung angegriffen werde. Ergänzend wies Hälschner auf die Nähe zu den Delikten gegen die Ehre hin. Wer eine andere Person als Mittel zur Befriedigung der Geschlechtslust behandelt, vergehe sich ohne Zweifel in schwerer Weise an der Ehre derselben.26 Angriffe auf die Züchtigkeit würden mit solchen auf die Ehre darin übereinstimmen, dass „die sittliche Bedeutung der Person das Object des Angriffes bildet“.27 Bei den Angriffen auf die Züchtigkeit erscheine diese sittliche Bedeutung allerdings „in sehr eigenthümlicher Gestalt“, insbesondere „in der Form der weiblichen Ehre“.28 bb) Binding Binding benannte in seinen „Normen“ die geschützten Rechtsgüter für eine Vielzahl von Tatbeständen, ohne diese Rechtsgüter jedoch näher zu erläutern. Als Rechtsgut des § 176 Nr. 3 RStGB bezeichnete er die „Herrschaft der geschlechtlichen Zucht in gewissen […] Lebensaltern“.29 In seinem „Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts“ wies er demgegenüber darauf hin, dass die „Geschlechtsehre“ der Personen unter 14 Jahren „Schonung von Jedermann“ heische.30 Er sah demnach die „Geschlechtsehre“ als Rechtsgut des § 176 Nr. 3 RStGB an. Dies ergibt sich auch aus den allgemeinen Erörterungen der Deliktsgruppe, die er als „Verbrechen wider die Geschlechtsehre“ bezeichnete.31 Im Hinblick auf die Vielseitigkeit der pönalisierten Verhaltensweisen sah er sich zu einer differenzierten Definition des Rechtsguts veranlasst: 25 Hälschner,
Das gemeine deutsche Strafrecht, S. 221. Das gemeine deutsche Strafrecht, S. 221. 27 Hälschner, Das gemeine deutsche Strafrecht, S. 221. 28 Hälschner, Das gemeine deutsche Strafrecht, S. 221. 29 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, S. 349; s. aber auch die Aufzählung auf S. 347, wo er ohne Bezugnahme auf bestimmte Strafvorschriften als Rechtsgüter u. a. „die Geschlechtsehre der Frau, die geschlechtliche Sittlichkeit beider Geschlechter“ aufzählt. 30 Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts. Besonderer Teil, S. 198. 31 Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts. Besonderer Teil, S. 193. Ebenfalls auf die Geschlechtsehre stellt der von ihm stark beeinflusste Beling ab (Grundzüge des Strafrechts, S. 82). Jener behandelt die „Beleidigung“ und die „Delikte gegen die Geschlechtsehre“ unter der gemeinsamen Überschrift „Delikte gegen die Ehre.“ 26 Hälschner,
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
„Das Rechtsgut der Geschlechtsehre besteht in einem Dreifachen: in der Regelung des eigenen Geschlechtslebens innerhalb der Schranken von Recht und Sitte; ferner darin, auch nicht als Objekt oder Werkzeug fremder Wollust gedient zu haben; endlich darin, nicht behufs Erregung, Steigerung oder Befriedigung des Geschlechtstriebes fremde Geschlechtsehre verletzt zu haben.“32
Er nahm bei der Entwicklung dieser Rechtsgutsdefinition ausdrücklich auf den zu seiner Zeit gebräuchlichen Ausdruck der „weiblichen Ehre“ Bezug, mit dem gemeint ist, „daß eine Frau außerehelich von niemanden geschlechtlich gebraucht worden“ ist.33 Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Begriff der „Geschlechtsehre“ von Binding wohl nicht mehr wie im Mittelalter im Sinne von Jungfräulichkeit beziehungsweise Unbescholtenheit verstanden wurde.34 Bemerkenswert ist an Bindings Rechtsgutsdefinition, dass er durch eine unzüchtige Handlung sowohl die Geschlechtsehre des Täters als auch die des Opfers als verletzt ansah. Er schlug sogar eine Einteilung der unzüchtigen Handlungen in „einseitige“ und „zweiseitige“ vor, „je nachdem [ob] nur die Geschlechtsehre des Thäters oder außerdem noch die Geschlechtsehre dritter Personen in Mitleidenschaft gezogen wurde.“35 Er ließ jedoch offen, wie er die Delikte diesen beiden Kategorien zuordnen würde. So ist nicht ergründbar, bei welchen Delikten er nur die Geschlechtsehre des Täters als verletzt ansah. Von den seinerzeit strafbaren Verhaltensweisen fällt – aus heutiger Sicht – nur die Sodomie eindeutig in die erste Kategorie, denn bei den anderen Delikten lässt sich durchweg ein Bezug zur Geschlechtsehre anderer Menschen herstellen. cc) Oppenheim In seiner Arbeit zu den „Schutzobjekten des Verbrechens“ benannte Oppenheim für die einzelnen Strafvorschriften des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs ein Schutzobjekt beziehungsweise Rechtsgut. Bei § 176 Nr. 3 RStGB sah er „die Herrschaft geschlechtlicher Zucht zwischen jedermann und Kindern unter vierzehn Jahren“ als Schutzobjekt an.36 Dass er sich 32 Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts. Besonderer Teil, S. 194. 33 Binding, ZStW 2 (1882), 450 (458). 34 Jäger, Rechtsgüterschutz, S. 44; s. zum Begriff der Geschlechtsehre auch Frommel, GedS Walter, S. 687 (695). 35 Binding, ZStW 2 (1882), 450 (458); ders, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts. Besonderer Teil, S. 194. 36 Oppenheim, Objekte, S. 315; hierzu kritisch Hanke, Rechtsgüter bei Sittlichkeitsverbrechen, S. 63.
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hierbei an der von Binding in den „Normen“ vorgeschlagenen Rechtsgutsbestimmung orientierte, ist trotz fehlender ausdrücklicher Bezugnahme offenkundig. dd) v. Liszt v. Liszt37 nannte in seinem Lehrbuch kein bestimmtes Rechtsgut für § 176 Nr. 3 RStGB. Im Abschnitt zu den „Strafbaren Handlungen gegen Sittlichkeit und Schamgefühl“ wies er zunächst darauf hin, dass die „geschlechtliche Sittlichkeit […] kein um seiner selbst willen geschütztes Rechtsgut der Gesamtheit“ sei.38 Dem außerehelichen Geschlechtsleben widme der Staat seine Aufmerksamkeit nur, „soweit es in den Rechtskreis einzelner verletzend eingreift.“39 Dies könne in zwei Richtungen der Fall sein, zum einen im Hinblick auf die „geschlechtliche Freiheit“, zum anderen auf das „sittliche Gefühl“.40 Daraus, dass v. Liszt den § 176 Nr. 3 RStGB als Unterfall der „Nötigung zur Unzucht“ erörterte, kann abgeleitet werden, dass er wohl die geschlechtliche Freiheit als geschützt ansah. Diese Einschätzung orientierte sich an der damaligen gesetzlichen Einordnung des Tatbestands. Dementsprechend bemerkte v. Liszt, dass die Vornahme unzüchtiger Handlungen mit Personen unter vierzehn Jahren „wegen des vom Gesetz angenommenen Mangels der Verfügungsfähigkeit dieser Personen den Nötigungsfällen gleichgestellt“ sei.41 ee) Aaron In seiner Dissertation „Unzüchtige Handlungen mit Kindern (§ 176 Ziffer 3 RStGB)“ widmete Aaron dem geschützten Rechtsgut der von ihm behandelten Vorschrift zwar keinen eigenen Abschnitt. An versteckter Stelle finden sich jedoch Ausführungen, die einen Rückschluss auf seine Auffassung zum geschützten Rechtsgut erlauben, und zwar im Zusammenhang mit der Behandlung des revidierten Entwurfs des bayrischen Strafgesetzbuchs von 1827. Dieser Entwurf differenzierte zwischen der Notzucht an einem Menschen unter 12 Jahren (Art. 194 Abs. 2) und dem Missbrauch zur Unzucht einer Person, die das fünfzehnte Lebensjahr noch nicht zurückgelegt hat (Art. 195 Abs. 1). Zu ersterer führte Aaron aus: 37 Zur sich wandelnden Bestimmung der Schutzobjekte der Sittlichkeitsverbrechen bei v. Liszt, vgl. den Überblick bei Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 86. 38 v. Liszt, Lehrbuch (14. / 15. Aufl.), S. 363. 39 v. Liszt, Lehrbuch (14. / 15. Aufl.), S. 363; Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt. 40 v. Liszt, Lehrbuch (14. / 15. Aufl.), S. 364. 41 v. Liszt, Lehrbuch (14. / 15. Aufl.), S. 372 f.
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
„Bis zu ihrem zwölften Lebensjahre werden die Kinder geschützt um ihrer körperlichen Unreife willen. In diesem Lebensalter sind es besonders körperliche Schäden, die die Unzucht nach sich zieht, und an die der Gesetzgeber wohl in erster Linie dachte.“42
Dies folgerte er daraus, dass in Art. 194 Abs. 2 des Entwurfs auch der Fall behandelt wird, dass „die genotzüchtigte Person durch die Tat an ihrer Gesundheit Nachteile erlitten hat“. Während diese Überlegung wenig überzeugt, da die unzüchtigen Handlungen an der Person unter zwölf Jahren nicht notwendig mit Gesundheitsnachteilen verbunden sind, sind die nachfolgenden Ausführungen Aarons bemerkenswert. „Vom zwölften bis zum fünfzehnten Lebensjahre ist ein anderes Gut zu schützen, die geistige Unreife. In dieser Zeit muß die geistige Entwicklung des jungen Menschen von demoralisierenden und unsittlichen Einflüssen ferngehalten werden. Gerade in diesen Jahren ist das Gemüt besonders empfindlich gegen Eindrücke, die auf das Geschlechtsempfinden, wirken. Mit Recht heben die Motive zum revidierten Entwurf hervor, „daß gerade die Jahre von 12 auf 15 die kritischsten sind, in denen unübersehbares Unglück fürs ganze Leben für Familien und Generationen durch Ausschweifungen verbreitet wird“. Der bayrische revidierte Entwurf darf sich rühmen, als erster das Rechtsgut erkannt zu haben, das hier zu schützen ist.“43
Er betonte also die Relevanz psychischer (geistiger) Folgen der Unzucht, gerade im Hinblick auf ältere Tatopfer der Unzucht mit Kindern. Im weiteren Verlauf seiner Darlegungen stellt er diese Überlegungen zum Rechtsgut denen anderer Gesetzgeber gegenüber: „Das römische Recht berücksichtigte sicherlich nicht die geistigen Einwirkungen der Unzucht mit Kindern. Das österreichische und preußische Strafrecht denkt in erster Linie an die jungfräuliche Ehre. Das ergibt sich einmal daraus, daß sie nur Mädchen den besonderen Schutz angedeihen lassen, und sodann aus dem Gebrauch44 der Worte „Schändung“ und „geschändet“. Es spielt hier der Gedankengang hinein, daß Kinder bis zu einem bestimmten Lebensalter sich der Tragweite ihrer Handlungen nicht bewußt sind, und daß man sie deshalb davor bewahren müsse, in ihrer Unerfahrenheit ihre jungfräuliche Ehre zu opfern, ein Gut hinzugeben, dessen Verlust sie später oft schmerzlich empfinden müssen, weil sein Besitz durch die landläufige Moral so hoch gewertet wird. Der revidierte Entwurf zum bayrischen Strafgesetzbuch hat nun erkannt, daß das zu schützende Rechtsgut weder die körperliche Unversehrtheit noch die jungfräuliche Ehre ist, sondern daß es sich hier um die geschlechtliche Unversehrtheit der Jugend handelt.“45
Im Ergebnis sah Aaron also die „geschlechtliche Unversehrtheit“ als Rechtsgut an, und zwar sowohl für den Altersbereich von zwölf bis fünf42 Aaron,
Unzüchtige Handlungen Unzüchtige Handlungen 44 Im Original steht offensichtlich 45 Aaron, Unzüchtige Handlungen 43 Aaron,
mit Kindern, S. 6 f. mit Kindern, S. 7. aufgrund eines Druckfehlers „Gerbauch“. mit Kindern, S. 7.
I. Historischer Rückblick165
zehn Jahren als auch für jüngere Kinder. Während das Rechtsgut als solches aus seiner Sicht in beiden Fällen gleich war, sah er Unterschiede im Hinblick auf den schwerpunktmäßigen Grund für den Schutz dieses Rechtsguts. Diese Differenzierung wird aus der folgenden Passage deutlich, die unmittelbar an das vorstehende Zitat anschließt: „Vor der Jugend wenigstens soll die Betätigung des normalen menschlichen Geschlechtstriebes nicht minder wie die der anormalen Lustempfindungen Halt machen. Denn aus zwei Gründen ist die Jugend zu schützen. Sie ist körperlich noch unentwickelt, und die Vollziehung geschlechtlicher Akte führt oft nachhaltige Schäden herbei; sie ist aber auch sittlich unreif und wird durch vorzeitiges Anreizen der geschlechtlichen Empfindung ihrer sittlichen Entwicklung gehemmt und abgelenkt.“46
Bei jüngeren Tatopfern sah Aaron demnach körperliche Nachteile im Vordergrund, bei älteren hingegen psychische (geistige) Beeinträchtigungen. Mit seiner Unterscheidung von „Gründen“ für den Schutz und dem „Rechtsgut“ nimmt er eine Differenzierung vor, die Ähnlichkeiten zu der hier vorgeschlagenen von Rechtsgut und gesetzgeberischem Motiv aufweist.47 ff) Glaser In einem Aufsatz, der die Behandlung der Sittlichkeitsdelikte in einem Reformentwurf zum Strafgesetzbuch behandelte, ging Glaser beiläufig auf die von diesen Vorschriften geschützten Rechtsgüter ein. Als Rechtsgut der Unzucht mit Kindern nannte er die „Geschlechtsehre“ und die „geschlechtliche Freiheit“, ohne sich auf eine Rechtsgutsbestimmung festzulegen.48 Er betonte, dass die Vorschrift ein „Rechtsgut der Einzelperson“ und nicht etwa, wie die Bezeichnung „Verbrechen gegen die Sittlichkeit“ nahelegt, ein als Sittlichkeit zu bezeichnendes Rechtsgut schützt.49 Zwar werde die Sittlichkeit des Kindes durch die Unzucht gefährdet, diese Wirkung habe man jedoch „nicht im Auge bei der Bestrafung“.50 Glasers Rechtsgutsbezeichnungen waren zwar nicht neu, sondern orientierten sich an früheren Auffassungen. Erwähnung verdienen seine Ausführungen jedoch wegen der pointierten Herausstellung des Verhältnisses zur Sittlichkeit, die gerade nicht als Rechtsgut angesehen wurde.51
46 Aaron,
Unzüchtige Handlungen mit Kindern, S. 7 f. oben B. II. 1. a) bb). 48 Glaser, ZStW 31 (1911), 379 (382). 49 Glaser, ZStW 31 (1911), 379 (382). 50 Glaser, ZStW 31 (1911), 379 (382). 51 Dazu näher unter C. I. 2. d). 47 Dazu
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
gg) Allfeld Auch Allfeld nahm in seinem Lehrbuch zur Rechtsgutsfrage bei den Sittlichkeitsdelikten Stellung. Dabei stehen seine Ausführungen am Anfang seiner Erläuterungen zu dieser Deliktsgruppe und sind demgemäß eher allgemeiner Natur. Er sah „verschiedene Rechtsgüter“ als von den „Sittlichkeitsverbrechen“ geschützt an, zum einen „die Freiheit des Einzelnen hinsichtlich des Geschlechtsverkehrs“, zum anderen „das Scham- und Sittlichkeitsgefühl der Gesamtheit“.52 Dabei ordnete er die verschiedenen Tatbestände diesen beiden Rechtsgütern zu, wobei er „die mit Kindern verübte Unzucht“ als gegen die Freiheit gerichtet ansah.53 Das Gemeinsame der Delikte, die das Rechtsgut der „Freiheit des Einzelnen hinsichtlich des Geschlechtsverkehrs“ schützen, erblickte er darin, dass die pönalisierten Handlungen „mehr oder minder die Freiheit der Person in bezug auf die Bestimmung darüber [beeinträchtigen], ob und mit wem sie geschlechtlich verkehren will, indem sie teils zu solchem Verkehr direkt gezwungen, teils ihr Zustand der Willenlosigkeit oder ihre Unerfahrenheit oder mangelnde Kenntnis der Umstände mißbraucht wird, um solchen Verkehr zu ermöglichen.“54
Unabhängig davon, ob als Rechtsgut der Unzucht mit Kindern die (geschlechtliche) Freiheit angesehen werden kann,55 stößt die Rechtsgutsbestimmung Allfelds insofern auf Bedenken, als zur Verwirklichung des Tatbestands der „Unzucht mit Kindern“ kein „Geschlechtsverkehr“ erforderlich war. Das Rechtsgut war insofern zu eng, weil eine isolierte „unzüchtige Handlung“ zur Tatvollendung genügte, ein Beischlaf oder beischlafähnliches Verhalten hingegen nicht erforderlich war. hh) Hanke In ihrer weitgehend in Vergessenheit geratenen Dissertation „Rechtsgüter bei Sittlichkeitsverbrechen“ aus dem Jahr 1926 schlug Hanke56 nach einer allgemeinen Einführung zur Rechtsgutstheorie Rechtsgutsbestimmungen für die Vorschriften des 13. Abschnitts des Strafgesetzbuchs vor und begründete diese eingehend. Die Unzucht mit Kindern erörterte sie unter der Überschrift „Verbrechen gegen die kindliche Unberührtheit“.57 Unter kindlicher 52 Allfeld,
Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, S. 394. Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, S. 394. 54 Allfeld, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, S. 394. 55 Dazu unter C. I. 2. c) und C. II. 2. 56 Zu ihrer bemerkenswerten Vita s. Beer, Frauen in der deutschsprachigen Ethnologie, S. 85. 57 Hanke, Rechtsgüter bei Sittlichkeitsverbrechen, S. 62 ff. 53 Allfeld,
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Unberührtheit verstand sie etwas Ähnliches wie kindliche Unschuld, nur sei der Begriff der Unberührtheit weiter, weil er sich auch auf den Körper erstrecke.58 Die körperliche Reinheit werde „im strengsten Sinne“ geschützt, da jede unzüchtige Handlung geahndet werde.59 „Dieser strenge Strafschutz ist durch den Wert der kindlichen Unberührtheit begründet. Die Notwendigkeit, das Kind zu schützen, kann nicht genug betont werden. Im Kinde wird die kommende Generation, deren Kultur und deren Schicksal bestimmt. Als Träger der Zukunft verdient das Kind die höchste Achtung und Wertschätzung seiner werdenden Persönlichkeit. Um diese zu reiner Entfaltung zu bringen, müssen schädigende Momente nach Möglichkeit ferngehalten werden. Und zu diesen gehört in erster Reihe die Verletzung seiner Unberührtheit.“60
Konkret in Bezug auf § 176 Nr. 3 RStGB führt sie sodann zunächst aus, dass nicht die „geschlechtliche Selbstbestimmung“ das geschützte Rechtsgut sei, denn „der Schutz der geschlechtlichen Freiheit, deren Verletzung hier unter Umständen natürlich auch gegeben sein kann, [ist] nicht das Wesentliche […], sondern der Schutz der geschlechtlichen Unversehrtheit, der Unberührtheit des Kindes.“61
Oppenheims Rechtsgutsbestimmung62 lehnte sie als „zu allgemein und ungenau“ sowie nicht dem „Sinn des Gesetzes“ entsprechend ab.63 Die in Entscheidungen des Reichsgerichts64 genannte „geschlechtliche Unversehrtheit“ hielt sie ebenfalls als Rechtsgut für ungeeignet, weil es diese „unmittelbar“ nicht gebe.65 Abschließend stellte sie ihre eigene Auffassung dar: „M.E. schützt § 176, 3 die körperliche Unversehrtheit zwar in erster Reihe, daneben aber auch – wenn es sich nicht um Kinder im zartesten Alter handelt – die kindliche Unschuld. Sekundär ist natürlich auch ein Schutz der Geschlechtsehre, u. U. des Sittlichkeitsgefühls gegeben. Auch andere Rechtsgüter – wie z. B. die geschlechtliche Freiheit – können verletzt werden. Ein Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht liegt hier zwar ebenfalls vor, aber das Delikt ist zu schwer, als daß von einer Verfolgung ex officio abgesehen werden könnte. – Bemerkenswert ist, daß durch diese Strafdrohungen auch die leiblichen Eltern getroffen werden können, die mit ihren Abkömmlingen unter 14 Jahren unzüchtige Handlungen vornehmen, ohne aber den Tatbestand des § 173 zu erfüllen.“66 58 Hanke,
Rechtsgüter bei Sittlichkeitsverbrechen, Rechtsgüter bei Sittlichkeitsverbrechen, 60 Hanke, Rechtsgüter bei Sittlichkeitsverbrechen, 61 Hanke, Rechtsgüter bei Sittlichkeitsverbrechen, 62 Dazu oben C. I. 2. a) cc). 63 Hanke, Rechtsgüter bei Sittlichkeitsverbrechen, 64 RGSt 46, 301 (302); 53, 274 (275). 65 Hanke, Rechtsgüter bei Sittlichkeitsverbrechen, 66 Hanke, Rechtsgüter bei Sittlichkeitsverbrechen, 59 Hanke,
S. 62. S. 62. S. 62 f. S. 63. S. 63. S. 63 f. S. 64.
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
Bei diesen Ausführungen zum geschützten Rechtsgut fällt, wie auch mitunter bei den anderen vorgestellten Ansichten, auf, dass eine Festlegung auf ein Rechtsgut vermieden wird. Dies zeigt sich auch daran, dass Hanke an anderer Stelle den Schutz „der ungestörten sexuellen Entwicklung, die sich durch Bewahrung der Unschuld und Unberührtheit vollzieht“67 als Rechtsgut bezeichnet, wobei sich die Ausführungen offenkundig auf § 176 Nr. 3 RStGB beziehen, auch wenn diese Vorschrift dort nicht ausdrücklich genannt wird. b) Das Rechtsgut in der Rechtsprechung des Reichsgerichts Das Reichsgericht hat in einigen späten Entscheidungen, die jeweils Fragen der Konkurrenzen betrafen, ausdrücklich zum Rechtsgut des § 176 Nr. 3 RStGB Stellung genommen. Es erblickte dieses in der „geschlechtlichen Unversehrtheit“ des Kindes.68 Darüber hinaus nahm es zum Zweck der Vorschrift wie folgt Stellung: „Zweck des Gesetzes ist, die sittliche Reinheit der Kinder auf geschlechtlichem Gebiet zu schützen, sie vor den Gefahren zu bewahren, die eine verfrühte Erregung ihrer Sinne mit sich bringt.“69
Diese Umschreibung des Gesetzeszwecks darf jedoch nicht mit einer Rechtsgutsbestimmung verwechselt werden,70 die das Reichsgericht ungleich präziser vornahm, indem es die geschlechtliche Unversehrtheit des Kindes als Rechtsgut benannte. Unzutreffend ist im Übrigen die Annahme, das Reichsgericht habe die Rechtsgutsverletzung zunächst nur in der „gegen das Kind gerichtete[n] ehrenkränkende[n] Kundgebung“ erblickt.71 Die Entscheidung, der dieses Zitat entnommen ist,72 enthält nämlich keine Stellungnahme zum Rechtsgut des § 176 Nr. 3 RStGB, sondern lediglich zum Konkurrenzverhältnis dieser Vorschrift zur Beleidigung.
67 Hanke,
Rechtsgüter bei Sittlichkeitsverbrechen, S. 79. 46, 301 (302); 53, 274 (275); s. auch RGSt 57, 140; Niethammer, ZStW 57 (1938), 107 (114). 69 RGSt 63, 12 (13). 70 Dies legt aber das Zitat der Entscheidung bei Frühsorger (Straftatbestand, S. 15, Fn. 56) nahe. 71 So aber Frühsorger, Straftatbestand, S. 14; ähnlich Albrecht, Die Unzucht mit Kindern, S. 203 f., der jedoch nicht ausdrücklich auf den Begriff des Rechtsguts Bezug nimmt. 72 RGSt 45, 344. 68 RGSt
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c) Bewertung der historischen Rechtsgutsdiskussion Die Darstellung der historischen Entwicklung der Auffassungen zum geschützten Rechtsgut des § 176 Nr. 3 RStGB belegt, dass die Strafjuristen Schwierigkeiten hatten, das Rechtsgut zu präzisieren. So verwundert es nicht, dass hierzu gegensätzliche Standpunkte vertreten wurden, auch wenn eine kontroverse Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen zumeist73 unterblieb. Die vertretenen Rechtsgutsauffassungen sind aus heutiger Sicht erheblichen Einwänden ausgesetzt. Gegen die Einordnung der „geschlechtlichen Freiheit“ als Rechtsgut des § 176 Nr. 3 RStGB sprachen die tatbestandsmäßigen Fälle, in denen kein entgegenstehender Wille des Kindes gebrochen wurde. Eine Beeinträchtigung der geschlechtlichen Freiheit des Kindes konnte nur über den Umweg begründet werden, dass die fehlende Einwilligung des Kindes unterstellt oder eine etwaige Einwilligung als unbeachtlich angesehen wurde.74 Damit wurde jedoch unzureichend dem Umstand Rechnung getragen, dass das tatbestandliche Verhalten „den Nötigungsfällen“ nur „gleichgestellt“75 war, eine Willensbeugung oder Freiheitsbeeinträchtigung von der Strafnorm also nicht verlangt wurde.76 Die „Herrschaft geschlechtlicher Zucht in gewissen Lebensaltern“ war als Rechtsgutsbezeichnung wiederum untauglich, weil damit nur die Norm paraphrasiert wurde. Nicht zu überzeugen vermochte auch der Vorschlag von Hanke, die „körperliche Unversehrtheit“ als in erster Linie geschützt anzusehen, denn viele tatbestandsmäßige Missbrauchstaten waren und sind gerade nicht mit Verletzungen des Körpers verbunden. So ist es nachvollziehbar, dass häufig die Geschlechtsehre als Rechtsgut des § 176 Nr. 3 RStGB angesehen wurde.77 Dafür ließ sich zunächst die Nähe zu den Beleidigungsdelikten anführen. Zudem war der Verlust des ehrenhaften Status der geschlechtlichen Unberührtheit in den meisten Fällen tatsächlich Folge der Tat, jedenfalls im Falle ihres Bekanntwerdens. Auch war es vor dem Hintergrund der historischen moralischen Anschauungen nicht abwegig davon auszugehen, dass die Tat vom Kind als Ehrkränkung gilt insbesondere für die Arbeit von Hanke. zur Unbeachtlichkeit der Einwilligung des Kindes Hälschner, Das gemeine deutsche Strafrecht, S. 226; s. auch bereits Feuerbach, Lehrbuch, S. 441. 75 v. Liszt, Lehrbuch (14. / 15. Aufl.), S. 372. 76 s. auch Albrecht, Die Unzucht mit Kindern, S. 205 f. 77 Neben den in den vorherigen Abschnitten Genannten wohl auch Himmelreich, Die Kinderschändung, S. 8. Zum Begriff der Geschlechtsehre, s. eingehend Jäger, Strafgesetzgebung, S. 43 f. und Frommel, GedS Walter, S. 687 (695). 73 Anderes 74 Vgl.
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empfunden wird.78 Gegen diese Rechtsgutsbestimmung ließ sich allerdings einwenden, dass sich mit ihr nicht der Umstand in Einklang bringen lässt, dass anerkanntermaßen auch die Tat an einem bereits „verdorbenen“ Kind den Tatbestand erfüllte.79 Außerdem bereitete diese Rechtsgutsauffassung mit der Änderung der Anschauungen in der Bevölkerung zunehmend Schwierigkeiten.80 Aus heutiger Sicht bemerkenswerte Überlegungen enthielt die Arbeit von Aaron, die jedoch im übrigen Schrifttum – soweit ersichtlich – unbeachtet geblieben ist. Der Einordnung der „geschlechtlichen Unversehrtheit der Jugend“ als Rechtsgut wäre wenig entgegen zu halten gewesen.81 Lediglich das Wort „Jugend“ erscheint unpassend, da damit das im Zentrum der Vorschrift stehende Kindesalter unzureichend erfasst wird. Richtiger erscheint dementsprechend die Rechtsgutsbezeichnung des Reichsgerichts, das auf die geschlechtliche Unversehrtheit des Kindes abstellte. d) Kein Rechtsgut der „Sittlichkeit“ Beim Rückblick auf die historische Rechtsgutsdiskussion mag verwundern, dass nicht die Ansicht vertreten wurde, dass die „Sittlichkeit“ als geschütztes Rechtsgut des § 176 Nr. 3 RStGB anzusehen ist, denn immerhin stand die Vorschrift im 13. Abschnitt des Reichsstrafgesetzbuchs, der mit „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“ überschrieben war.82 Der Strafgesetzgeber intendierte zudem ein sittliches Handeln des Volkes,83 also dass sich die „geschlechtliche Lust nur auf naturgemäße Weise äußern“ sollte.84 Weder der Gesetzgeber noch die Wissenschaft verkannten jedoch, dass die strafrechtlichen Verbote von gegen andere Personen gerichteten unzüchtigen Handlungen nicht eine abstrakte Sittlichkeit, sondern gerade den Schutz dieser Personen bezweckten.85 Dementsprechend wurde das Kind 78 s. aber auch Jäger, Rechtsgüterschutz, S. 51; Albrecht, Die Unzucht mit Kindern, S. 205. 79 s. nur Olshausen, Strafgesetzbuch, § 176 Rn. 15. 80 Vgl. auch Jäger, Rechtsgüterschutz, S. 51; Albrecht, Die Unzucht mit Kindern, S. 205. 81 Die Kritik von Finckh (Das sexuell geschädigte und gefährdete Kind, S. 176) beruht auf einer Fehlinterpretation des Begriffs der geschlechtlichen Unversehrtheit. Diese ist nicht etwa mit der Jungfräulichkeit gleichzusetzen. 82 Dazu Brüggemann, Entwicklung und Wandel, S. 30. 83 Dazu grundlegend Villnow, GS 30 (1878), 106 (107 ff.). 84 Villnow, GS 30 (1878), 106 (109); Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt. 85 Unrichtig daher Roggenwallner / Herrmann / Jansen, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, Rn. 34. Zutreffend hingegen Brüggemann, Entwicklung und Wandel, S. 295.
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klar als Opfer der „Unzucht“ angesehen, anders noch als im Mittelalter, als mitunter neben dem Täter auch das missbrauchte Kind bestraft wurde.86 Mit den heutigen Begrifflichkeiten lässt sich sagen, dass die Einordnung des § 176 Nr. 3 RStGB als individualschützende Norm im damaligen Schrifttum anerkannt war.87 Damit im Einklang steht, dass die Folgen dieser Tat für das Kind bereits in der Literatur des 19. Jahrhunderts immer wieder hervorgehoben wurden. So steht bereits im bekannten Aufsatz von Birnbaum, mit dem er den Begriff des „Guts“ einführt, auch folgender Passus: „Ja wenn die Carolina in Beziehung auf das Verbrechen der Nothzucht von dem Nehmen der jungfräulichen und fräulichen Ehre redet, so hat bei diesen Worten der Gesetzgeber keineswegs an das Nehmen oder Verletzen einer körperlichen Sache, sondern an das Rauben oder Zerstören eines sittlichen Gefühls durch ein aus der sträflichsten Nichtachtung sittlicher Würde entstehendes mit körperlicher Mißhandlung verbundenes Verbrechen gedacht, und die Strafe desselben zum Schutze jenes Gefühls als eine für edle Frauen und Jungfrauen unschätzbaren Gutes festgesetzt.“88
Indem Birnbaum die Zerstörung des sittlichen Gefühls als Folge der Notzucht hervorhob, beschrieb er zwar nicht eine bestimmte psychische Symptomatik, sondern eine eher allgemein-normative Annahme, dass eine edle Frau oder Jungfrau unter dem Verlust der Ehre litt. Gleichwohl liegt es nahe, dass dieses Leiden nicht nur aus moralischen Gründen unterstellt, sondern auch als tatsächlich vorhanden angesehen wurde. Dafür spricht insbesondere die Verwendung des Begriffs „Gefühl“, der die psychische Relevanz des Vorgangs nahelegt. Dass das Bewusstsein für die Folgen des Missbrauchs bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorhanden war, kann noch deutlicher anhand der Ausführungen im vierbändigen Handbuch der gerichtlichen Medizin „für Gesetzgeber, Rechtsgelehrte, Aerzte und Wundärzte“ von Mende aufgezeigt werden. In diesem Werk aus dem Jahr 1826 ging der Autor auch auf die Folgen der Notzucht ein, wobei mit „Nothzucht“ vor allem auch Taten gemeint waren, die „junge und unwissende Mädchen“ betreffen und die oft ohne körperliche Gewalt und Zwang ablaufen.89 Ilg, Der strafrechtliche Schutz, S. 9. nachdrückliche Stellungnahme in diesem Sinn findet sich bei Glaser, ZStW 31 (1911), 379 (382); s. aber auch Gerland, Deutsches Reichsstrafrecht, S. 406; Wachenfeld, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, S. 456, denen zufolge die Sittlichkeitsdelikte gegen die Allgemeinheit gerichtet sind. So auch noch H. Mayer, DStR 1938, 73 (89) und dem folgend Geerds, Einwilligung und Einverständnis des Verletzten, S. 33. 88 Birnbaum, Archiv des Criminalrechts, Neue Folge, 1834, 149 (191 f.). 89 Vgl. Mende, Ausführliches Handbuch der gerichtlichen Medizin, Vierter Theil, S. 477 f. mit einer eindrucksvollen Schilderung der – auch heute häufig anzutreffenden – Täterstrategien. 86 Dazu 87 Eine
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„Für Folgen der Nothzucht hält man theils solche, die der Begattung überhaupt eigen sind, […], und theils krankhafte Zustände, die sowohl von der angethanen Gewalt, als auch von den dadurch hervorgebrachten Gemüthsbewegungen und Leidenschaften bewirkt werden.“90
Nach Ausführungen zu körperliche Schäden, führt Mende weiter aus: „Sollte es hierin indessen auch überall ohne Verletzung abgegangen seyn, wie z. B. nach der bloßen Ansprützung des Saamens, ohne Einbringung des Gliedes, so ist ein solches Frauenzimmer doch ihrem eigenen Gefühle nach, und in der Meinung der Leute, die von diesem Vorgange unterrichtet sind, nicht mehr eine reine Jungfrau, und ihre Geschlechts-Ehre ist daher auf das stärkste beeinträchtigt, es sind Gefühle in ihr aufgeregt, die sie vorher nicht kannte, ihr Geschlechtstrieb wird lebhafter, und ihre Einbildungskraft verdorben; alle diese Folgen sind aber so wichtig, daß sie, bei der Beurtheilung der Strafbarkeit des Verbrechens der Nothzucht, gar sehr in Anschlag gebracht werden müssen.“91
Auch diese Ausführungen mögen noch als bloßer Hinweis auf die moralisch-sittlichen und sozialen Folgen der Tat verstanden werden. Indes beschreibt Mende im weiteren Verlauf die „Folgen der zugefügten Gewaltthätigkeit“, die „bald mehr von den dadurch erregten Gemüthsbewegungen, bald aber von wirklichen Verletzungen ausgehen“, wobei „in der Wirklichkeit keine scharfe Grenze zwischen ihnen zu ziehen“ sei, da die meisten „Krankheitszustände von beiden gemeinschaftlichen“ abhingen.92 Als allgemeine Folgen der Nothzucht habe man „alle Nervenkrankheiten“ eintreten gesehen.93 Damit wird deutlich, dass gerade auch die psychischen Folgen des Missbrauchs bereits bekannt waren. Dass es sich hierbei nicht um Ausführungen eines Mediziners handelt, die im juristischen Bereich unbeachtet geblieben sind, beweist die Abhandlung von Wächter zu den Verbrechen der Entführung und Nothzucht aus dem Jahr 1835.94 Dort erörtert er den Art. 16195 des erst 1838 in Kraft getre90 Mende, Ausführliches Handbuch der gerichtlichen Medizin, Vierter Theil, S. 493. 91 Mende, Ausführliches Handbuch der gerichtlichen Medizin, Vierter Theil, S. 493 f. 92 Mende, Ausführliches Handbuch der gerichtlichen Medizin, Vierter Theil, S. 495. 93 Mende, Ausführliches Handbuch der gerichtlichen Medizin, Vierter Theil, S. 495. 94 von Wächter, Abhandlungen aus dem Strafrechte, Erster Band. 95 Unzucht mit Kindern unter Vierzehn Jahren. Art. 161. Diejenigen, welche Kinder unter Zwölf Jahren zum Beischlafe mißbrauchen, oder zu Aufreizung oder Befriedigung des Geschlechtstriebes andre unzüchtige Handlungen mit ihnen vornehmen, sind mit ein- bis dreijähriger Zuchthausstrafe zweiten Grades zu belegen. Ist dadurch ein bleibender Nachtheil für die Gesundheit des Kindes entstanden, so tritt vier- bis achtjährige Zuchthausstrafe ersten Grades
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tenen (aber lange vorbereiteten96) Criminalgesetzbuchs für das Königreich Sachsen. Diese Vorschrift sah eine Strafschärfung für den Fall der Verursachung eines bleibenden Gesundheitsnachteils durch die Unzucht mit einem Kind vor. Zur Erläuterung dessen, was unter diesem Gesundheitsnachteil zu verstehen ist, verweist Wächter auf die Ausführungen Mendes.97 Im bayerischen Strafgesetzbuch von 1861 / 62 war ebenfalls eine Strafschärfung bei der Nothzucht (Art. 204) vorgesehen, falls „die Mißhandelte einen bleibenden Nachtheil an Körper oder Gesundheit“ erlitten hat“. Hierzu wird in einem Beitrag, dessen Autor nicht angegeben ist, ausgeführt: „Unter Nachtheil ist auch die Störung an der geistigen Gesundheit mitbegriffen, Beweis des ursächlichen Zusammenhangs vorausgesetzt. Auch die nicht durch körperliche Mißhandlung, sondern nur durch den Schrecken als Folge der Drohung hervorgerufene Geisteskrankheit ist Erschwerungsgrund.“98
Diese Ausführungen betrafen zwar unmittelbar nur die „Nothzucht“. Da Art. 205, der den Mißbrauch zum Beischlafe von Mädchen unter zwölf Jahren regelte, hinsichtlich der Rechtsfolgen auf die Bestimmung der „Nothzucht“ verwies, dürften diese Ausführungen als auf Art. 205 übertragbar angesehen worden sein. Damit ist belegt, dass die Bestrafung der Unzucht mit Kindern aus Sicht der Strafjuristen des 19. Jahrhunderts nicht den Schutz eines Kollektivrechtsguts der Sittlichkeit bezweckte. Vielmehr standen die individuellen Folgen für das kindliche Opfer im Vordergrund, die, wie gezeigt, durchaus bekannt waren.99
ein; hat die Mißhandlung den Tod des Kindes zur Folge gehabt, so ist die Strafe auf zehn- bis funfzehnjähriges Zuchthaus ersten Grades zu erhöhen. Wer mit einer Frauensperson über zwölf jedoch unter Vierzehn Jahren alt Unzucht treibt, wird mit vier- bis sechsmonatlicher Gefängnisstrafe belegt. Hat die gemißbrauchte Person dadurch einen bleibenden Nachtheil an ihrer Gesundheit erlitten, so tritt Arbeitshausstrafe bis zu drei Jahren ein; ist dadurch der Tod der Gemißbrauchten verursacht worden, so kann die Strafe bis auf vier Jahre Zuchthaus zweiten Grades gesteigert werden. 96 Dazu Gross, Criminalgesetzbuch für das Königreich Sachsen, Zweite Abtheilung, S. 1 ff.; Weber, Das sächsische Strafrecht im 19. Jahrhundert bis zum Reichsstrafgesetzbuch, S. 17 ff., 45 ff., 116 ff. 97 von Wächter, Abhandlungen aus dem Strafrechte, Erster Band, S. 294 Fn. 39. Die dortige Passage bezieht sich zwar unmittelbar auf die Nothzucht, jedoch wird auf S. 309 hierauf im Zusammenhang mit der „Unzucht mit Kindern“ verwiesen, weil das Gesetz sich hier wie dort identischer Ausdrücke bedient. 98 Anonymus, Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege des Königreichs Bayern, IX (1862), 427 (437). 99 Vgl. aber auch Trube-Becker, in Amann / Wipplinger, Sexueller Missbrauch, S. 49.
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3. Die Kritik an der historischen Konzeption der Sittlichkeitsdelikte In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg waren die „Sittlichkeitsdelikte“100 Gegenstand lebhafter kriminalpolitischer Diskussionen. Von juristischer Seite wurde der Wunsch zur Entkriminalisierung des Sexualstrafrechts mithilfe des Rechtsgutsbegriffs begründet, der im Hinblick auf die Zielsetzung ein systemkritischer war.101 Ziel der Reformforderungen war die Streichung von Vorschriften, die ein lediglich oder allenfalls moralwidriges, nicht aber sozialschädliches Verhalten pönalisierten.102 Im Zentrum der Diskussion standen vor allem die Strafbarkeit der Homosexualität, daneben die des Inzests, der Sodomie und der Kuppelei sowie bestimmte Pornographieverbote. Hingegen stand die Legitimität der Strafvorschriften über die Unzucht mit Kindern und die Notzucht weitgehend außer Zweifel.103 Sollte jedoch das Rechtsgut als Hilfsmittel zur Unterscheidung legitimer von illegitimen Strafvorschriften fruchtbar gemacht werden, musste gerade für diese als legitim angesehenen Verbote ein Rechtsgut benannt werden (können). Die Strafrechtswissenschaft tat sich jedoch schwer damit, ein bestimmtes Rechtsgut für die Vorschrift des § 176 Nr. 3 StGB a. F. zu benennen.104 Intensivere Bemühungen finden sich insoweit vor allem in den Arbeiten von Jäger, Albrecht und Finckh.
100 Zur früheren Abschnittsüberschrift „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“, vgl. aus damaliger Sicht Albrecht, Die Unzucht mit Kindern, S. 202. 101 s. nur Hanack, Revision, Rn. 29 ff. 102 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass der österreichische Schriftsteller und Satiriker Karl Kraus entsprechende Gedanken bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts formulierte: „Auf dem Gebiete der Sexualmoral können bloß die Unmündigkeit, die freie Selbstbestimmung und die Gesundheit als Rechtsgüter in Betracht kommen, nie und nimmer die Sittlichkeit als solche; und nur für die Schädigung des anderen Teils kann ich zur Verantwortung gezogen werden.“ (Kraus, Sittlichkeit und Kriminalität, S. 68; s. dazu auch Djassemy, Die verfolgende Unschuld, S. 52 f.; Marx, Zur Definition des Begriffs Rechtsgut, S. 86; Roxin, in Baumann, Mißlingt die Strafrechtsreform?, S. 156 [158]). 103 Vgl. Wahle, Zur Reform des Sexualstrafrechts, S. 30 f.; Ostman von der Leye (Zur Reform des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs, S. 72 f. u. 81) plädiert allerdings dafür, „echte Partnerschaften“ mit unter 14 Jahre alten Personen aus der Strafvorschrift auszuklammern bzw. die Strafverfolgung insofern von einem Strafantrag abhängig zu machen. 104 Allgemein zur Schwierigkeit der Rechtsgutsbestimmung bei den Sittlichkeitsdelikten: Bader, Zeitschrift für Sexualforschung 1 (1950), 214 (215).
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a) Jäger Vor allem Jäger hat sich um das Ziel der Bestimmung des Rechtsguts des § 176 Nr. 3 StGB – im Übrigen bereits sehr früh – verdient gemacht. Seine Arbeit „Strafgesetzgebung und Rechtsgüterschutz bei Sittlichkeitsdelikten“ entfaltete nicht nur grundsätzliche Bedeutung für die Fortentwicklung der Rechtsgutslehre, sondern auch des Sexualstrafrechts. Jäger gelang indes keine prägnante Rechtsgutsformulierung im Hinblick auf das Verbot der Unzucht mit Kindern, stattdessen bemühte er sich eingehend darum, die Legitimität der Vorschrift zu begründen, indem er die Sozialschädlichkeit der mit Strafe bedrohten Verhaltensweisen darzulegen versuchte. Zusammenfassend heißt es in seiner Arbeit im Hinblick auf die Unzucht mit Kindern: „Der Schutz gilt der Entwicklung und der Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen. Diese Begriffe sind jedoch zu weit und unbestimmt, weshalb es sinnvoll ist, sie zu gliedern in: 1. Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, wobei in erster Linie an die geschlechtliche Unerfahrenheit und die geringere Widerstandskraft zu denken ist; 2. Schutz vor psychischen und physischen Schäden, also Verletzungen der gesundheitlichen Unversehrtheit; 3. Schutz von Erziehungs- und Schutzrechten.“105
Jäger sah und erörterte das Problem, dass keiner dieser Einzelaspekte alle Einzelfälle abdeckte. Da mit keinem der Punkte allein die Strafbarkeit begründet werden konnte,106 sah er nur die Möglichkeit einer komplexen Begründung der Legitimität der Strafnorm. Die Arbeit von Jäger hat in der Reformdiskussion zum Sexualstrafrecht eine große Resonanz gefunden. So verwundert es nicht, dass auch hinsichtlich der Definition des Rechtsguts des § 176 StGB auf seine Vorschläge zurückgegriffen wurde. Bis heute dürften die Überlegungen Jägers verbreitete Zustimmung finden. Eine Einschränkung ist allerdings für den „Schutz von Erziehungs- und Schutzrechten“ vorzunehmen, insofern als die Konzeption des § 176 StGB als Straftat gegen die Rechte der Eltern des missbrauchten Kindes nach heutigem Verständnis befremdlich wirkt. Obwohl die Bedeutung dieser Arbeit nicht in Zweifel gezogen werden soll, ist doch zu bemerken, dass sie im Hinblick auf die Formulierung eines Rechtsguts für die Strafvorschrift der Unzucht mit Kindern unbefriedigende Ergebnisse liefert. Es gelang Jäger nicht, das Rechtsgut knapp und präzise 105 Jäger, 106 Vgl.
Strafgesetzgebung, S. 53. Jäger, Strafgesetzgebung, S. 49 ff.
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
zu formulieren, sondern er fasste vielmehr unterschiedliche gesetzgeberische Motive zusammen, die für die Schaffung der Strafvorschrift sprechen.107 b) Albrecht Ein ähnliches Verdikt ist über die Arbeit von Albrecht über „Die Unzucht mit Kindern“ zu fällen. Ähnlich wie Jäger erörtert der Verfasser verschiedene Rechtsgutsauffassungen, die jedoch mit folgender weitschweifigen Zusammenfassung endet, anstatt ein Rechtsgut zu benennen: „Nach alledem ist hinsichtlich des Sinn und Zwecks der Strafvorschrift der Unzucht mit Kindern von folgender Absicht des Gesetzgebers auszugehen: Jedes Kind soll unabhängig von seinem oder vom Willen seines Erziehungsberechtigten während seiner geistigen und sittlichen Entwicklungszeit in einer Sphäre aufwachsen, die so weit wie irgend möglich von Umständen und Vorgängen frei ist, die eine ungünstige Beeinflussung des Kindes in geschlechtlicher Hinsicht zur Folge haben und insbesondere den Sexualtrieb des Kindes frühzeitig zum Erwachen bringen könnten.“108
Damit zeigt sich auch bei Albrecht die Schwierigkeit, ein Rechtsgut für § 176 Nr. 3 StGB zu benennen. Diese Schwierigkeit dürfte nicht zuletzt darauf beruhen, dass sich nicht grundsätzlich mit den (formalen) Anforderungen an die Formulierung eines Rechtsguts auseinandergesetzt wurde. c) Finckh Auch Finckh bemüht sich um eine präzise Rechtsgutsbestimmung des § 176 Abs. 1 Nr. 3 StGB. Dabei verwirft er zunächst den vom Reichsgericht vorgeschlagenen Begriff der „geschlechtlichen Unversehrtheit“, weil dieser „auf das männliche Geschlecht überhaupt kaum“ passe.109 Ebenfalls für ungeeignet hält er den Begriff der „sittlichen Reinheit“, da diese häufig, insbesondere bei besonders schützenswerten Kindern gerade nicht (mehr) vorliege.110 Als vorzugswürdig erachtet er es, das Rechtsgut in der „von geschlechtlichen Erlebnissen freizuhaltenden Entwicklung des Kindes“ zu erblicken.111 Dabei wendet er sogleich aber gegen diese Rechtsgutsbestimmung ein, dass von ihr solche Fälle nicht gedeckt sind, bei denen das Kind 107 Zur Unterscheidung von Rechtsgut und gesetzgeberischem Motiv, s. oben sub B. II. 1. a) bb). 108 Albrecht, Die Unzucht mit Kindern, S. 207. 109 Finckh, Das sexuell geschädigte und gefährdete Kind, S. 176. Damit wird der Begriff der „geschlechtlichen Unversehrtheit“ jedoch unnötig eng interpretiert und mit der Jungfräulichkeit von Mädchen gleichgesetzt. 110 Vgl. Finckh, Das sexuell geschädigte und gefährdete Kind, S. 176. 111 Finckh, Das sexuell geschädigte und gefährdete Kind, S. 177.
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„gänzlich unbefangen bleibt, auch seelisch nicht erweckt wird.“112 Damit meint Finckh die Fallgestaltungen, in denen das Kind die sexuelle Handlung beispielsweise nicht als solche versteht. Den Ausweg erblickt er darin, die Rechtsgutsbestimmung in Anlehnung an Binding dahingehend zu ergänzen, dass zudem die Geschlechtsehre als von § 176 Abs. 1 Nr. 3 StGB geschütztes Rechtsgut anzusehen ist.113 Die Verletzung der Geschlechtsehre sei insofern von Bedeutung, als diese dann verletzt ist, wenn das „Kind als Objekt oder Werkzeug fremder Wollust gedient“ hat.114 Auf diesem Weg kann Finckh zufolge der Fall des „unbefangen gebliebene[n], erlebnisunfähige[n]“ Kindes erfasst werden. Freilich ist er auch mit dieser Rechtsgutsbestimmung nicht zufrieden, da der Begriff der Geschlechtsehre „von gefährlicher Allgemeinheit“ sei.115 Positiv hervorzuheben ist, dass Finckh erkannt hat, dass die „ungestörte Entwicklung“ keine für alle tatbestandsmäßigen Fallgestaltungen passende Rechtsgutsbestimmung darstellt. Sonderbar mutet allerdings die Lösung des Rechtsgutsproblems über den antiquierten und irreführenden Begriff der Geschlechtsehre an. Die von Finckh vorgebrachten Vorbehalte gegen seine eigene Lösung bestätigen abermals die Schwierigkeit einer Rechtsgutsbestimmung bei der Vorschrift der Unzucht mit Kindern. d) Das Rechtsgut des § 176 Nr. 3 StGB im sonstigen Schrifttum Jenseits der vorgenannten monographischen Ausarbeitungen ist die Analyse des Reformschrifttums aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend unergiebig. Angesichts der Bedeutung, die dem Rechtsgutsbegriff für die Reformdiskussion beigemessen wurde, erstaunt, wie oberflächlich bei der Bestimmung des Rechtsguts des § 176 Nr. 3 StGB vorgegangen wurde. So wurde mitunter zwar allgemein betont, dass nur rechtsgüterschützende Normen legitim seien, ein konkretes Rechtsgut für die „Unzucht mit Kindern“ jedoch nicht genannt.116 Mitunter wurde die Strafvorschrift als eine zum „Schutz der Jugend“ deklariert,117 wobei damit die „Jugend“ wohl nicht zum Rechtsgut erhoben werden, sondern der Begriff des Jugendschutzes von der Pflicht zur Bezeichnung eines bestimmten Rechtsguts entheben sollte. Es war also gewissermaßen stillschweigend anerkannt, dass die Un112 Finckh,
Das sexuell geschädigte und gefährdete Kind, S. 177. Das sexuell geschädigte und gefährdete Kind, S. 177 f. 114 Vgl. Finckh, Das sexuell geschädigte und gefährdete Kind, S. 177 f. 115 Finckh, Das sexuell geschädigte und gefährdete Kind, S. 178. 116 So bei Schneider, JR 1968, 281 (286); Woesner, NJW 1968, 673 (676 u. 679). 117 So insb. bei Baumann u. a., AE-StGB BT, Sexualdelikte, S. 9; s. auch Schroeder, FS Welzel, S. 859 (870). 113 Finckh,
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
zucht mit Kindern ein Rechtsgut schützt, nur konnte dieses nicht benannt werden.118 Wenn sich um die Benennung eines konkreten Rechtsguts bemüht wurde, wurde am ehesten auf die „Gefährdung der Entwicklung“ des Kindes zur Begründung der Strafbarkeit des sexuellen Missbrauchs von Kindern abgestellt.119 Dabei wurde in unterschiedlicher Deutlichkeit auch herausgestellt, dass Folgeschäden nicht bei allen Kindern feststellbar sind.120 Die Legitimität eines umfassenden Strafrechtsschutzes im Sinne einer Bewahrung des Kindes vor der „bloßen Möglichkeit einer Gefährdung“ wurde im Hinblick auf die „Wichtigkeit des Schutzguts“ gleichwohl angenommen.121 Diese Argumentationslinie hat letztlich auch in die Begründung des 4. Strafrechtsreformgesetzes Eingang gefunden.122 e) Die Rechtsgutsbestimmung in frühen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 176 Nr. 3 StGB gibt wenig Aufschluss über die von ihm für maßgeblich erachtete Rechtsgutsbestimmung. Einer frühen Entscheidung ist zu entnehmen, dass das Gericht „Sinn und Zweck“ der Vorschrift in dem Schutz vor Gefährdung der sittlichen Reinheit, der Phantasie, der Vorstellungswelt und des Gefühlslebens des Kindes erblickte.123 Der Begriff des Rechtsguts findet in dieser Entscheidung allerdings keine Erwähnung. Einen Anhaltspunkt für die seinerzeit vom Bundesgerichtshof vertretene Rechtsgutsauffassung gibt jedoch 118 Bemerkenswert ist auch, dass in der 9. Auflage des Leipziger Kommentars eine Rechtsgutsbenennung im Hinblick auf die Vorschrift des § 176 StGB unterbleibt. Es wird lediglich global für die Vorschriften des 13. Abschnitts die „rechtliche und sittliche Ordnung des geschlechtlichen Lebens, soweit sie gesellschaftlich relevant ist“ als „geschütztes Rechtsgut“ benannt, s. LK / Mösl (9. Aufl.), vor § 173 Rn. 2. 119 s. nur Hanack, Revision, Rn. 147; Schroeder, Das neue Sexualstrafrecht, S. 42; ders., FS Welzel, S. 859 (870); ähnlich auch Roxin, in Baumann, Mißlingt die Strafrechtsreform?, S. 156 (157). An versteckter Stelle findet sich dieser Aspekt auch bereits in den Beratungen zum E1962 in den Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 8. Band, 81. Sitzung, S. 198 (Stellungnahme von Lange). Vgl. zum Aspekt der „Entwicklungsstörungen“ auch Bockelmann, FS Maurach, S. 391 (410). 120 Vgl. BT-Drucks. VI / 3521, S. 34 f.; Baumann u. a., AE-StGB BT, Sexualdelikte, S. 19; Hanack, Revision, Rn. 133 ff. u. 147; s. auch Leferenz, ZStW 77 (1965), 379 (390 ff.); Schneider, JR 1968, 281 (286); Woesner, NJW 1968, 673 (676). 121 Hanack, Revision, Rn. 148. 122 BR-Drucks. 489 / 70, S. 9 f. u. 17; BT-Drucks. IV / 1552, S. 9 f. u. 17. 123 BGHSt 1, 168 (173).
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eine weitere Entscheidung aus dem 1. Band der amtlichen Sammlung.124 Dort hatte die Vorinstanz, das Landgericht Bremen, ausdrücklich mit der „geschlechtlichen Unverdorbenheit“ als geschütztem Rechtsgut argumentiert. Die Revisionsentscheidung nimmt dazu zwar nicht ausdrücklich Stellung, lässt jedoch durchblicken, dass keine Einwände gegen diese Rechtsgutsbestimmung bestehen, indem es ohne inhaltliche Abweichung den „Schutz der geschlechtlichen Reinheit bei Kindern“ als „Rechtfertigungsgrund für die Vorschrift des § 176 Abs. 1 Nr. 3 StGB im ganzen“125 bezeichnet. In einer Entscheidung im 15. Band bezeichnet der Bundesgerichtshof dann ausdrücklich die „geschlechtliche Unerfahrenheit, die sittliche Reinheit der Kinderseele“ als Rechtsgut der Vorschrift.126 Diese Formulierung ist freilich abzulehnen, weil sie suggeriert, dass sexuell erfahrene oder „sittlich verdorbene“ Kinder aus dem Schutzbereich der Norm fallen. Anders als mitunter behauptet wird, sah die Rechtsprechung auch nicht die Sittlichkeit als Rechtsgut des § 176 Abs. 1 Nr. 3 StGB an.127 Zutreffend ist allerdings, dass die Rechtsprechung geneigt war, die Strafbarkeit eines (sexualbezogenen) Verhaltens mit dessen Unsittlichkeit zu begründen.128 f) Exkurs: Die Bedeutung der Rechtsgutsbestimmung in der Reformdiskussion Dass sich die Wissenschaft damit schwer tat, ein Rechtsgut für den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern zu benennen, war letztlich unschädlich, denn die Reformforderungen haben sich gleichwohl in weitem Umfang durchsetzen können. Die Entwicklung129 ist bemerkenswert, denn der Gesetzgeber hatte im Regierungsentwurf von 1962 (dem sogenannten E1962130) noch die Ansicht vertreten, dass die Legitimität einer Strafvorschrift nicht voraussetze, dass die Norm ein Rechtsgut schützt: „Der Standpunkt, daß eine Strafdrohung nur da berechtigt sei, wo der Schutz eines bestimmten Rechtsgutes in Frage stehe, ist weder in der strafrechtlichen Dogmatik allgemein anerkannt, noch ist er bisher für die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Strafrechts ausschließliche Richtschnur gewesen. Zwar dienen die strafrechtlichen Normen weitaus überwiegend dem Rechtsgüterschutz; das schließt nicht aus, be124 BGHSt
1, 20 ff. Urt. v. 05.01.1951 – 2 StR 83 / 50 (JURIS), insoweit nicht abgedruckt in BGHSt 1, 20 ff. 126 BGHSt 15, 118 (121). 127 So aber Brüggemann, Entwicklung und Wandel, S. 76 f., 309. 128 BGHSt 6, 46 (52 ff.); s. auch Brüggemann, Entwicklung und Wandel, S. 75 ff. Zur damaligen Haltung des Gesetzgebers s. SSW / Wolters, vor § 174 Rn. 1. 129 Ausführlich dokumentiert bei Brüggemann, Entwicklung und Wandel, S. 72 ff. 130 BT-Drucks. IV / 650; dazu etwa Jescheck, ZStW 75 (1963), 1 ff. 125 BGH,
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
stimmte Fälle ethisch besonders verwerflichen und nach der allgemeinen Überzeugung schändlichen Verhaltens auch dann mit Strafe zu bedrohen, wenn durch die einzelne Tat kein unmittelbar bestimmbares Rechtsgut verletzt wird.“131
Mit dem 4. Strafrechtsreformgesetz wurde das Sexualstrafrecht 1974 (nach einer kleinen Reform durch das 1. Strafrechtsreformgesetz von 1969132) grundlegend überarbeitet, wobei zahlreiche Vorschriften, die „lediglich moralwidriges“ Verhalten unter Strafe stellten, gestrichen oder zumindest entschärft wurden. Damit wurde den Reformforderungen, die beispielsweise im Alternativ-Entwurf (AE-Sexualdelikte)133 und im Gutachten für den 47. Deutschen Juristentag 1968 von Hanack,134 formuliert worden waren, umfangreich – wenn auch nicht umfassend – Rechnung getragen.135 Ob dieser Erfolg maßgeblich auf die Argumentation mit dem Rechtsgutsbegriffs oder schlicht auf gewandelte gesellschaftliche Moralvorstellungen zurückzuführen ist, wurde in der Folgezeit wiederholt heftig diskutiert.136 Auch wenn der systemkritische Rechtsgutsbegriff im Rahmen der Reformen zu einem wichtigen Argumentationstopos wurde,137 dürften letztlich soziale Veränderungen und nicht dieser Begriff den Ausschlag für ein Umdenken des Gesetzgebers gegeben haben.138 Die neuere geschichtswissenschaftliche Forschung belegt jedenfalls, dass das Sittlichkeitsdenken in weiten Teilen der Bevölkerung bereits ab dem Beginn der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts keinen Rückhalt mehr hatte.139 Wenige, dafür aber umso lautere Stim131 BT-Drucks.
IV / 650, S. 376. Eser, Juristische Analysen 2 (1970), 218 (239 ff.). 133 Baumann u. a., AE-StGB BT, Sexualdelikte; dazu kritisch Peters, MSchrKrim 1969, 41 ff. Replik bei Baumann, MSchrKrim 1969, 158 ff. 134 Hanack, Revision. 135 Zur Reformgeschichte s. Ilg, Der strafrechtliche Schutz, S. 14 ff.; Schroeder, Reform des Sexualstrafrechts, S. 5 ff.; vgl. auch Bockelmann, FS Maurach, S. 391 (392 ff.). 136 s. einerseits Frisch, FS Stree / Wessels, S. 69 (72 f.); ders., in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 215 (218); Stratenwerth, FS Lenckner, S. 377 (189); Wohlers, Deliktstypen, S. 227; andererseits M. Heinrich, FS Roxin, S. 131 (133, 147); Kühl, FS Heinz, S. 766 (775); Roxin, in Hefendehl, Empirische und dogmatische Fundamente, S. 135 (136); ders., GA 2013, 433 (437); s. auch MK / Renzikowski, vor § 174 Rn. 6. 137 Vgl. neben der bereits erwähnten Arbeit von Jäger etwa: Eser, Juristische Analysen 2 (1970), 218 (224 ff.); Lang-Hinrichsen, FS OLG Zweibrücken, S. 85 (108 ff.). 138 So auch Frisch, FS Stree / Wessels, S. 69 (72 f.). Ebenso im Hinblick auf den Begriff der „Sozialschädlichkeit“ bereits Hirsch, FS Welzel, S. 775 (782). 139 Steinbacher, Wie der Sex nach Deutschland kam, S. 350 und passim. Bader (Zeitschrift für Sexualordnung 1 [1950], 214 [217 f.]) diagnostizierte bereits 1950 eine „Veränderung der Sexualordnung.“ 132 Dazu
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men, insbesondere von kirchlicher Seite, bemühten sich, diesem „Sittenverfall“ Einhalt zu gebieten.140 Bedeutsamer als der Rechtsgutsbegriff erscheint rückblickend die – freilich mit dem Rechtsgutsbegriff eng verknüpfte – Forderung, dass nur Verhaltensweisen unter Strafe gestellt werden dürfen, deren Sozialschädlichkeit empirisch belegt werden kann.141 Die umfangreiche Heranziehung wissenschaftlicher Untersuchungen und die Einholung differenzierter sachverständiger Expertise waren nicht nur für den Gesetzgebungsprozess kennzeichnend, sondern haben auch maßgeblich dessen Ergebnisse geprägt.142 4. Fazit Einhergehend mit der Verbreitung des Rechtsgutsbegriffs als strafrechtsdogmatischem Grundbegriff wandte sich die Strafrechtswissenschaft auch der Frage nach dem Rechtsgut einzelner Strafbestimmungen zu. Dementsprechend bildeten sich rasch auch Ansichten zum Rechtsgut des Verbots der „Unzucht mit Kindern“ heraus. Dabei offenbarten sich von Anfang Schwierigkeiten, eine präzise und knappe Rechtsgutsbestimmung zu formulieren. In der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg wurde sich dem Rechtsgut des § 176 Nr. 3 RStGB auch im Rahmen von Monographien (insbesondere in den Arbeiten von Aaron und Hanke) angenähert, die in der späteren Literatur weitgehend in Vergessenheit gerieten, obwohl sie bereits viele Denkansätze vorwegnahmen, die auch in der späteren Diskussion wieder auftauchten. Dies ist wohl vor allem darauf zurückzuführen, dass in der Nachkriegszeit bei der Rechtsgutsbestimmung nicht mehr strafrechtsdogmatische, sondern kriminalpolitische Ziele in den Vordergrund rückten. Die Rechtsgutsdiskussion war nämlich in der Nachkriegszeit gerade auch im Sexualstrafrecht von Fragen um die Legitimität von Normen und weniger von Bemühungen um die „richtige“ Normauslegung geprägt. Die Änderung der Zielsetzung bei der Rechtsgutsbestimmung änderte nichts daran, 140 Steinbacher, Wie der Sex nach Deutschland kam, S. 348 und passim. Zur Reform des Sexualstrafrechts vgl. ebd., S. 279 f. und S. 342 f. Diese Ergebnisse übersieht Brüggemann (Entwicklung und Wandel, S. 67 ff. et passim, anders aber S. 80), der – ohne Belege anzuführen – ein anderes Bild der gesellschaftlichen Situation zeichnet. 141 Vgl. pointiert Hanack, ZStW 77 (1965), 398 (405 f.); kritisch zu dieser Forderung Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 1 Rn. 7. 142 s. nur BT-Drucks. VI / 1552, S. 10; BT-Drucks. VI / 3521, S. 1. Die Beratungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (vorliegend sind insb. die 23. sowie die 28., 29. und 30. Sitzung von Interesse) sind ausführlich dokumentiert und spiegeln differenziert den seinerzeitigen Forschungsstand wider.
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
dass sich diese im Hinblick auf die Bestimmung des § 176 Nr. 3 StGB als schwierig erwies. Obwohl einerseits gefordert wurde, Strafvorschriften „ohne Rechtsgut“ abzuschaffen, ein solches sich andererseits bei dem Verbot der „Unzucht mit Kindern“ nicht hinreichend präzisieren ließ, wurde dieses Verbot im Rahmen der Reformdiskussion kaum einmal in Frage gestellt.143 Dementsprechend erfolgte keine Einschränkung, sondern vielmehr eine Ausdifferenzierung und Erweiterung des faktischen Umfangs der Strafbarkeit in diesem Bereich. Die Schwierigkeiten der Rechtsgutsbestimmung im Hinblick auf den sexuellen Missbrauch von Kindern hatten dem Gesamtanliegen der Reform zwar somit keinen Abbruch getan; die Frage nach dem Rechtsgut war aber auch nicht zufriedenstellend beantwortet worden.
II. Derzeitiger Meinungsstand zum Rechtsgut des § 176 StGB Der derzeitige Meinungsstand zum Rechtsgut des § 176 StGB ist immer noch stark von der Reformdiskussion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt. Die vertretenen Standpunkte nehmen nicht selten auf Quellen aus jener Zeit Bezug, beispielsweise auf die Gesetzesentwürfe und -begründungen. Im Folgenden werden die unterschiedlichen Meinungen zunächst jeweils dargestellt und analysiert und sodann kritisch gewürdigt. 1. Die „ungestörte Entwicklung“ als Rechtsgut des § 176 StGB Die wohl herrschende Meinung sieht die „ungestörte Entwicklung“ als Rechtsgut des § 176 StGB an. Die verwendeten Formulierungen differieren dabei, wobei unklar bleibt, ob die terminologischen Differenzierungen mit inhaltlichen Diskrepanzen einhergehen. Die herrschende Meinung nimmt auf die Materialien zum 4. Strafrechtsreformgesetz Bezug, in denen es heißt: „§ 176 soll, wie bisher § 176 Abs. 1 Nr. 3 StGB, Kinder unter 14 Jahren vor einer Beeinträchtigung ihrer Gesamtentwicklung durch sexuelle Handlungen schützen.“144
Ziegler leitet daraus ab, dass es „geschütztes Rechtsgut und Ziel der Vorschrift […] ist, in der Entwicklung befindliche junge Menschen vor einer Beeinträchtigung ihrer Gesamtentwicklung durch sexuelle Handlungen 143 Vgl.
Eser, Juristische Analysen 2 (1970), 218 (229). VI / 3521, S. 34.
144 BT-Drucks.
II. Derzeitiger Meinungsstand zum Rechtsgut des § 176 StGB 183
zu schützen“.145 In ähnlicher Weise heißt es häufig im Schrifttum146 und in der höchstrichterlichen Rechtsprechung,147 dass § 176 StGB den Schutz der „ungestörten sexuellen Entwicklung“ bezwecke. Ob zwischen den Formulierungen „Gesamtentwicklung“ und „sexuelle Entwicklung“ ein inhaltlicher Unterschied besteht, bleibt dabei offen.148 Vom Wortsinn her ist der Begriff „Gesamtentwicklung“ weiter, denn er erfasst auch Störungen der Entwicklung außerhalb des sexuellen Bereichs. Der Begriff der „sexuellen Entwicklung“ stellt hingegen den Sexualbezug deutlicher heraus. Dementsprechend nimmt er stärker den Ursprung der Störung in den Blick, während der Begriff der Gesamtentwicklung eher die Komplexität der Folgen fokussiert. Zum Teil werden auch beide Begriffe miteinander kombiniert, so etwa bei Eisele in folgender Weise: „Rechtsgut der […] Vorschrift ist die ungestörte sexuelle Entwicklung von Personen unter 14 Jahren im Hinblick auf eine Beeinträchtigung ihrer Gesamtentwicklung.“149
Damit ist wohl gemeint, dass Rechtsgut die ungestörte sexuelle Entwicklung ist, letztlich aber als Fernziel der Schutz vor Beeinträchtigungen der 145 BeckOK / Ziegler, § 176 Rn. 6 unter Bezugnahme auf BGHSt 29, 336 (340). In dieser Entscheidung wird indes nicht vom Rechtsgut, sondern vom „Ziel des im Jahr 1973 neu gefaßten Sexualstrafrechts“ gesprochen. 146 Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 10 Rn. 4; Barabas, Sexualität und Recht, S. 98; Beck, Die sexuelle Handlung, S. 69; Brüggemann, Entwicklung und Wandel, S. 315; Campbell, Der intrafamiliäre sexuelle Kindesmißbrauch, S. 54, 91; Dölling / Laue, in Amann / Wipplinger, Sexueller Missbrauch, S. 889 (891); Frühsorger, Straftatbestand, S. 18; Gössel, Das neue Sexualstrafrecht, § 6 Rn. 1; Gössel / Dölling, Strafrecht BT, § 27 Rn. 1; Günther, Die Beteiligung von Frauen, S. 105; Heghmanns, Strafrecht BT, CD 21-04 Rn. 1; Jäger-Helleport, Konstruktive Tatverarbeitung, S. 40, 62; Lackner / Kühl, § 176 Rn. 1; Laubenthal, Sexualstraftaten, Rn. 342; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 1, § 20 Rn. 4; NK / Frommel, § 176 Rn. 10; Otto, Die einzelnen Delikte, § 66 Rn. 45; Pape, Legalverhalten, S. 28; Schroth, Strafrecht BT, S. 136; SK / Wolters, § 176 Rn. 2; Sturm, JZ 1974, 1 (6); Wilmer, Sexueller Mißbrauch, S. 25. Enger Demko (Relativität der Rechtsbegriffe, S. 265 f.), die zusätzlich ein „Verhältnis der Über- und Unterordnung“ in die Rechtsgutsbestimmung integriert und damit die Reichweite des Tatbestands verkennt. Entsprechendes gilt für die Definition von Hermann-Kolb (Systematik, S. 106), die neben der „Ausnutzung von Macht und Autorität“ die sexuelle Motivation des Handelnden („Erwachsenen“) in die Rechtsgutsdefinition integriert. 147 BGHSt 38, 68 (69); 45, 131 (132); 53, 118 (119); 56, 223 (224); BGH StV 2004, 479 (480); NStZ 2007, 700; s. aber auch jüngst BGH, Urt. v. 09.07.2014 – 2 StR 13 / 14. 148 Ilg (Der strafrechtliche Schutz, S. 39) geht wohl davon aus, dass kein Unterschied dazwischen besteht. Bei ihr heißt es: „§ 176 schützt das Rechtsgut der „ungestörten sexuellen Entwicklung von Kindern“, das heißt Kinder sollen vor einer Beeinträchtigung ihrer Gesamtentwicklung durch sexuelle Handlungen geschützt werden.“ 149 Schönke / Schröder / Eisele, § 176 Rn. 1a.
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
Gesamtentwicklung bezweckt ist.150 Da aus den Formulierungsunterschieden keine Folgerungen gezogen werden, kann davon ausgegangen werden, dass es sich um eine einheitliche Rechtsgutsauffassung handelt, deren Vertreter dasselbe meinen, auch wenn sie es in unterschiedliche Begrifflichkeiten fassen. a) Erläuterung der Rechtsgutsauffassung Wie bereits angedeutet, wird die Position, die die „ungestörte (sexuelle) Entwicklung“ als Rechtsgut des § 176 StGB ansieht, von ihren Vertretern kaum einmal erläutert. Dabei wäre der Begriff der „ungestörten (sexuellen) Entwicklung“ durchaus erklärungsbedürftig. Aus einer theoretischen Annäherung an den Begriff lassen sich jedoch erste Erkenntnisse gewinnen. Hierzu soll zunächst eine Begriffsanalyse aus juristischer Sicht erfolgen. aa) Begriffsanalyse aus juristischer Sicht Die Vertreter dieser Rechtsgutsauffassung gehen von einem Idealbild der sexuellen Entwicklung bis zum 14. Geburtstag aus, auch wenn dies selten explizit geäußert wird. Diese ideale Entwicklung zeichnet sich dadurch aus, dass an das Kind bis zur Schutzaltersgrenze keine sexuellen Reize von außen herangetragen werden.151 Dabei wird nicht verkannt, dass sich gleichwohl die Sexualität des Kindes entwickelt. Dem Idealbild zufolge erfolgt diese Entwicklung allerdings ausschließlich von innen heraus. Schetsche stellt daher zutreffend fest, dass die herrschende Lehre „dabei vom Modell eines sich endogen entwickelten Sexualtriebes aus[geht], der durch äußere Reize gestört wird.“152 Dies wird besonders deutlich, wenn Schroeder153 im Zusammenhang mit dem Verbot des sexuellen Kindesmissbrauchs darlegt, dass „dem Jugendlichen in seinem eigenen Interesse eine Schutzzone bis zur Reifung seiner eigenen Persönlichkeit garantiert“ werden soll. Der Entwicklungsprozess soll demnach von äußeren Einflüssen freigehalten werden, da diese als schädlich erachtet werden.154 ähnlicher Zweischritt findet sich bei Laubenthal, Sexualstraftaten, Rn. 342. § 176 Rn. 3. 152 Schetsche, MSchrKrim 1994, 201 (204); ohne Verweis auf diese Fundstelle auch Ilg, Der strafrechtliche Schutz, S. 41. Kritik zu einem solchen Entwicklungskonzept aus psychologischer Sicht bei Baurmann, Sexualität, Gewalt und psychische Folgen, S. 72. 153 Schroeder, FS Welzel, S. 859 (870). 154 s. auch den zutreffenden kritischen Hinweis von Wolters, dass jede Entwicklung äußeren Einflüssen ausgesetzt ist (SK / Wolters, § 176 Rn. 2; § 171 Rn. 2). 150 Ein
151 MK / Renzikowski,
II. Derzeitiger Meinungsstand zum Rechtsgut des § 176 StGB 185
Darüber hinaus impliziert diese Rechtsgutsauffassung, dass tatbestandsmäßige Handlungen im Sinne des § 176 StGB Störungen der sexuellen Entwicklung beziehungsweise der Gesamtentwicklung hervorrufen können. Was unter einer Entwicklungsstörung zu verstehen ist, wird hierbei zumeist nicht näher dargelegt und bleibt daher unklar. Es gibt zwei Möglichkeiten, den Begriff der Entwicklungsstörung im Hinblick auf seine zeitliche Dimension zu interpretieren. Zum einen kann man ihn punktuell in dem Sinne verstehen, dass die Tathandlung selbst als Entwicklungsstörung aufgefasst wird. Die Logik eines solchen Begriffsverständnisses wäre die, dass eine ungestörte Entwicklung sich dadurch auszeichnet, dass ein Kind (tatbestandsmäßige) sexuelle Handlungen nicht erlebt. Finden gleichwohl sexuelle Handlungen statt, so wäre demnach die Entwicklung des Kindes gestört.155 Dieser Lesart entspricht beispielsweise die folgende Formulierung von Blei: „Dem Schutz einer durch vorzeitige Sexualkontakte ungestörten Entwicklung dienen die Vorschriften des § 176 […].“156 In ähnlicher Weise erblickt Bockelmann in der Tathandlung die „Störung“, die er von deren Resultat abgrenzt: „Deshalb kann „Störung“ nur ein solcher Eingriff sein, der die Entwicklung (mindestens möglicherweise) so lenkt, daß sie mit einem mißbilligenswerten Resultat endet. „Störung“ ist die Vermittlung eines Prägungserlebnisses, das zur Annahme eines verfehlten sexuellen Habitus führt (oder doch führen kann).“157
Zum anderen kann man den Begriff der Entwicklungsstörung perspektivisch begreifen, das heißt die Tathandlung wird nicht selbst als die Entwicklungsstörung angesehen, sondern als Auslöser von zeitlich nachfolgenden Entwicklungsstörungen. In diesem letztgenannten Sinn wird das Rechtsgut verstanden, wenn der Eintritt der Entwicklungsstörung an der fehlenden Herausbildung einer „eigenverantwortlichen sexuellen Identität“158 beim Opfer festgemacht wird. Aber auch wenn der Begriff der Entwicklungsstörung, wie es zumeist der Fall ist, nicht näher definiert wird, wird darunter wohl regelmäßig der spätere Eintritt von Anomalien (welcher Art auch immer159) verstanden. Dies zeigt sich daran, dass die Vertreter dieser Rechtsgutsauffassung in der Regel darauf verweisen, dass der Tatbestand unabhängig vom Eintritt konkreter Schäden erfüllt sei und es sich deshalb bei § 176 StGB um ein abstraktes Gefährdungsdelikt handele.160 Daran wird 155 Vgl. zu Einwänden gegen ein solches Begriffsverständnis SK / Wolters, § 184g Rn. 11. 156 Blei, Strafrecht BT, S. 152. 157 Bockelmann, FS Maurach, S. 391 (410). 158 Vgl. Fischer, StGB, § 182 Rn. 2; ders., § 176 Rn. 2. 159 Näher zu den Folgen des Missbrauchs sogleich unter C. II. 1. b) bb). 160 BeckOK / Ziegler, § 176 Rn. 6; Dölling / Laue, in Amann / Wipplinger, Sexueller Missbrauch, S. 889 (892); Gössel, Das neue Sexualstrafrecht, § 6 Rn. 2; Günther,
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deutlich, dass mit Entwicklungsstörungen der Tathandlung zeitlich nachfolgende „Traumatisierungsfolgen“161 (und nicht etwa die Tathandlung als solche) gemeint sind.162 Dem entspricht auch die klarstellende Formulierung von Eschelbach, der darauf hinweist, dass es „um die Freiheit der kindlichen sexuellen Entwicklung von erheblichen Störungen mit der Möglichkeit von Fehlentwicklungen“ geht.163 Bei Zugrundelegung eines perspektivischen Begriffsverständnisses könnte inhaltlich weiter präzisiert werden, was unter einer Störung zu verstehen ist. Seitens der Vertreter der Rechtsgutsauffassung erfolgt keine nähere inhaltliche Bestimmung. Dabei wären angesichts der großen Spannbreite an Phänomenen, die infolge eines sexuellen Missbrauchs auftreten können, Differenzierungen möglich.164 Unterscheidungen könnten zunächst in zeitlicher Hinsicht getroffen werden, beispielsweise zwischen zeitlich bereits kurz nach dem Missbrauch eintretenden Beeinträchtigungen und solchen, die erst im Erwachsenenalter auftreten.165 Des Weiteren könnten qualitative Abgrenzungen, beispielsweise zwischen emotionalen, sozialen, sexuellen, psychischen oder körperlichen Störungen, vorgenommen werden.166 Schließlich erscheint auch eine Differenzierung nach dem Schweregrad und der Persistenz der Störungen möglich. Da in der strafrechtlichen Literatur keine Unterscheidungen anhand dieser Merkmale erfolgen, liegt es nahe, dass sämtliche nachteiligen Folgen als Störung der (sexuellen) Entwicklung aufgefasst werden. Der Vorteil eines weiten Störungsbegriffs ist, dass nicht aufgrund von Einschränkungen auf der Rechtsgutsebene ungewollt einer einschränkenden Auslegung der Norm der Weg geebnet wird. Insgesamt muss das Ergebnis der juristischen Begriffsanalyse als unbefriedigend bezeichnet werden. Die Rechtsgutsbestimmung der herrschenden Auffassung beschränkt sich weitenteils auf die Nennung eines Schlagworts, Die Beteiligung von Frauen, S. 105; Ilg, Der strafrechtliche Schutz, S. 42 ff.; Laubenthal, Sexualstraftaten, Rn. 343; NK / Frommel, § 176 Rn. 11; Wilmer, Sexueller Mißbrauch, S. 26. 161 Laubenthal, Sexualstraftaten, Rn. 343. 162 Vgl. LK / Hörnle, vor § 174 Rn. 34 ff. 163 Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176 Rn. 4 im Anschluss an SK / Wolters, § 184g Rn. 11. 164 Aus humanwissenschaftlicher Sicht s. Baurmann, Sexualität, Gewalt und psychische Folgen, S. 201 f. 165 Vgl. Hörnle, FS Eisenberg, S. 321 (331). 166 Da sich die typischen Störungen nicht auf das Sexualverhalten beschränken, wendet sich Hörnle gegen den Begriff der ungestörten sexuellen Entwicklung mehr noch als gegen den der ungestörten Gesamtentwicklung (LK / Hörnle, § 176 Rn. 1; dem folgend Knauer, Schutz der Psyche, S. 65, 213 f., der allerdings verkennt, dass Hörnle im Ergebnis nicht die ungestörte Gesamtentwicklung als Rechtsgut des § 176 StGB ansieht).
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dessen Konturen nicht präzisiert werden, obwohl eine Präzisierung angesichts der Unbestimmtheit des Begriffs angezeigt wäre. bb) Begriffsanalyse aus humanwissenschaftlicher Sicht In Ermangelung einer befriedigenden juristischen Begriffspräzisierung durch die Vertreter dieser Rechtsgutsauffassung liegt es nahe, sich zur Klärung des Begriffs an empirischen Erkenntnissen zu orientieren. Im Gegensatz zur Rechtswissenschaft beschäftigen sich die Humanwissenschaften, insbesondere die Psychologie und die Soziologie, mit der sexuellen Entwicklung des Menschen. Die Rezeption dieser Erkenntnisse kann für das bessere Verständnis des juristischen Begriffs der „ungestörten (sexuellen) Entwicklung“ hilfreich sein. Dabei dürfen zwar empirische Erkenntnisse und erfahrungswissenschaftliche Begrifflichkeiten nicht mit juristischen Termini gleichgesetzt werden. Jedoch ist anzunehmen, dass das Verständnis des Begriffs der „ungestörten (sexuellen) Entwicklung“ durch die Vertreter der hier erörterten Rechtsgutsauffassung nicht grundlegend von dem der empirischen Humanwissenschaften abweicht. Dafür spricht, dass diese Rechtsgutsauffassung aus der Reformdiskussion hervorgegangen ist, die wiederum von einer intensiven Diskussion von Juristen mit Vertretern der Humanwissenschaften geprägt war. Deshalb können sowohl die theoretischen als auch die empirischen Erkenntnisse jener Wissenschaften zum besseren Verständnis dieser Rechtsgutsauffassung herangezogen werden. Der Begriff der „ungestörten sexuellen Entwicklung“ setzt sich aus zwei Aspekten zusammen: dem der sexuellen Entwicklung und dem der Gestörtheit. Die sexuelle Entwicklung ist ein tatsächliches Phänomen, für dessen Untersuchung sich eine deskriptive Herangehensweise empfiehlt. Bei der Gestörtheit handelt es sich demgegenüber um eine Zuschreibung, die zunächst eine Bewertung voraussetzt. Diese Bewertung kann freilich anhand empirischer Befunde erfolgen. Den beiden vorgenannten Teilaspekten soll sich im Folgenden zunächst theoretisch angenähert werden. (1) Der Begriff der sexuellen Entwicklung ist nicht eindeutig. In Anlehnung an Brown und Lynn können drei Komponenten der sexuellen Entwicklung unterschieden werden.167 Die erste Komponente ist die biologischkonstitutionelle Komponente, also die Reifung aufgrund genetischer und hormoneller Vorgaben.168 Die zweite Komponente der sexuellen Entwick167 Brown / Lynn, Journal of Marriage and the Family 28 (1966), 155 ff.; ihnen folgend Broderick, Kinder- und Jugendsexualität, S. 19 ff.; s. auch Bancroft, Grundlagen und Probleme menschlicher Sexualität, S. 9 ff. 168 Näher Brown / Lynn, Journal of Marriage and the Family 28 (1966), 155 (156 f.); Broderick, Kinder- und Jugendsexualität, S. 19 ff.
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lung betrifft die Geschlechtsrolle, also die Identifizierung mit dem eigenen Geschlecht.169 Im Rahmen der Sozialisierung wird die Geschlechtsrolle erlernt und diese entspricht im Regelfall dem biologischen Geschlecht. Die dritte Komponente ist die sexuelle Orientierung, also beispielsweise die hetero- oder homosexuelle Orientierung.170 Unter dem Oberbegriff der sexuellen Orientierung können aber auch besondere sexuelle Präferenzen wie der Fetischismus oder die Pädophilie erfasst werden. Die vorgenannten Aspekte der sexuellen Entwicklung sind im Kontext des sexuellen Missbrauchs von Kindern von untergeordneter Bedeutung, da ein Missbrauch eher selten Auswirkungen auf diese grundlegenden Entwicklungslinien der Sexualität haben dürfte.171 Wenn die sexuelle Entwicklung im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch in den Blick genommen wird, geht es vielmehr um die Manifestationen der Sexualität im verhaltensbezogenen, sozialen, kognitiven und emotionalen Bereich. Erfasst werden damit die Entwicklung des Sexualverhaltens, das durch den Betroffenen allein (z. B. Masturbation) oder im Zusammenwirken mit anderen gezeigt wird, des Weiteren die Entwicklung sexueller Kenntnisse einschließlich handlungsbezogenen Wissens (Fertigkeiten) sowie schließlich die Entwicklung der Wahrnehmungen und Empfindungen im sexuellen Bereich.172 (2) Während die Aspekte der sexuellen Entwicklung einer deskriptiven Erfassung durch empirische Wissenschaften zugänglich sind, enthält der Begriff der Störung zunächst eine Bewertung. Der Bewertungsmaßstab muss zunächst normativ festgelegt werden. Je nach Bewertungsmaßstab (Norm) kann die Ermittlung der nunmehr definierten Störung sodann auch mithilfe empirischer Erkenntnisse erfolgen. Die klinische Psychologie und die Psychiatrie, also die Fachdisziplinen, die sich mit Störungen im Bereich psychischer Vorgänge befassen, ziehen im Wesentlichen drei Bewertungsmaßstäbe heran, um das Vorliegen einer Störung festzustellen. Dies sind erstens die Abweichung des Erlebens oder Verhaltens von der statistischen Norm, zweitens das subjektive Leidempfinden des Betroffenen und drittens die Bewertung durch das soziale Umfeld.173 169 Näher Brown / Lynn, Journal of Marriage and the Family 28 (1966), 155 (157 ff.); Broderick, Kinder- und Jugendsexualität, S. 21 ff. 170 Näher Brown / Lynn, Journal of Marriage and the Family 28 (1966), 155 (160 ff.); Broderick, Kinder- und Jugendsexualität, S. 23 ff. 171 Zu empirischen Befunden zu den Folgen sexuellen Missbrauchs, s. unten sub C. II. 1. b) bb). 172 Vgl. auch Broderick, Kinder- und Jugendsexualität, S. 29 ff.; Specht, in König, Gestörte Sexualentwicklung bei Kindern und Jugendlichen, S. 7 (12 ff.). 173 Vgl. mit etwas anderen Unterteilungen Baumann / Perrez, in Perrez / Baumann, Lehrbuch klinische Psychologie Psychotherapie, S. 34 f.; Vollmoeller, in Petermann / Reinecker, Handbuch der klinischen Psychologie und Psychotherapie, S. 227 (229 f.); Zimbardo / Gerrig, Psychologie, S. 549.
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Alle drei Bewertungsmaßstäbe weisen Stärken und Schwächen auf, wie sich auch am Beispiel der Einordnung von sexuellen Entwicklungen als gestört oder nicht gestört zeigen lässt. So kann anhand von statistischen Normen zwar relativ genau abgegrenzt werden, welches Verhalten häufig (normal) und welches selten (anormal) ist. Allerdings ist die Varianzbreite sexuellen Verhaltens sehr groß. Vor allem aber kann die Grenze, ab welchem Abweichungsgrad von der statistischen Norm von einer Störung zu sprechen ist, nur willkürlich gezogen werden. Allein aufgrund der statistischen Häufigkeit eines sexuellen Phänomens (beispielsweise Fetischismus, Homosexualität, Masturbation bei 10-jährigen Jungen) kann nicht auf das Vorliegen einer Störung geschlossen werden. Auch das Leiden der Betroffenen unter einem bestimmten Phänomen (beispielsweise frühen ersten sexuellen Erfahrungen) liefert zwar einen Anhaltspunkt, aber kein eindeutiges Kriterium zur Abgrenzung von Störungen. Zum einen ist das Empfinden interindividuell und auch intraindividuell174 sehr unterschiedlich. Zum anderen hängt es nicht zuletzt von den sozialen Umständen, insbesondere den sozialen Wertungen und Reaktionen auf ein sexuelles Verhalten oder eine sexuelle Entwicklung ab, ob der Betroffene dieses als leidvoll empfindet. Dies lässt sich anhand der Homosexualität illustrieren, denn deren Wahrnehmung durch den Betroffenen als leidvoll hängt wesentlich von den sozialen Reaktionen auf diese sexuelle Orientierung ab. Die Bewertung einer bestimmten sexuellen Entwicklung durch das soziale Umfeld stellt ebenfalls nur einen eingeschränkt sinnvollen Bewertungsmaßstab für das Vorliegen einer Störung dar. Vor allem die starke Variabilität spricht gegen diesen Maßstab. In einer toleranten Gesellschaft beziehungsweise bei einem toleranten Umfeld wäre die Bandbreite sexueller Entwicklungstendenzen, die als gestört anzusehen sind, deutlich geringer als in einer Gesellschaft, die strenge sexuelle Normen aufstellt. Gerade im sexuellen Bereich können die unterschiedlichen Normen zu gegensätzlichen Bewertungen führen. Dementsprechend wird mitunter zwischen „Realnorm“ und „Idealnorm“ unterschieden.175 Mit diesen Begriffen wird auf die Bigotterie hingewiesen, die mit dem Auseinanderfallen von sozialer und statistischer Norm verbunden ist. Entsprechende Diskrepanzen gab und gibt es beispielsweise in vielen Gesellschaften hinsichtlich der se174 Beispielsweise kommt es durchaus vor, dass eine sexuelle Erfahrung zunächst als angenehm und bereichernd wahrgenommen wird, jedoch in der Rückschau als verfrüht und unangenehm bewertet wird mit der Folge, dass beispielsweise Schamund Schuldgefühle in der Retrospektive überwiegen. 175 Specht, in König, Gestörte Sexualentwicklung bei Kindern und Jugendlichen, S. 7 (9 f.).
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xuellen Selbstbefriedigung, der vorehelichen Enthaltsamkeit oder der sexuellen Treue.176 Bereits aus diesen theoretischen Überlegungen folgt, dass die Grenze zwischen einer ungestörten und einer gestörten (sexuellen) Entwicklung erfahrungswissenschaftlich nicht eindeutig gezogen werden kann. Dies gilt unabhängig davon, wie der Stand des erfahrungswissenschaftlichen Wissens bewertet wird, also ob der Wissenstand eher skeptisch177 oder eher optimistisch178 eingeschätzt wird. Gleichwohl erweist es sich als weitgehend unproblematisch, bis zu einem gewissen Grad einen Konsens darüber herzustellen, wann eine Entwicklung als gestört beziehugsweise als normal anzusehen ist, da die verschiedenen möglichen Bewertungsmaßstäbe zu zumindest teilweise kongruenten Ergebnissen führen. Dementsprechend hat sich vor allem die Psychologie erfolgreich um die Beschreibung einer „normalen“ Sexualentwicklung bemüht, deren Verlauf im Kern unbestritten ist.179 Aufgrund des Vorgesagten steht die Beschreibung des Normalen freilich unter dem Vorbehalt, dass sie nicht ohne Weiteres auf andere Kulturen und Zeiten übertragbar ist. b) Empirische Befunde Die Auffassung, die die „ungestörte (sexuelle) Entwicklung“ als Rechtsgut des § 176 StGB ansieht, trifft, wie dargestellt, implizite Annahmen einerseits über die kindliche Sexualentwicklung und andererseits über Störungen der Entwicklung durch sexuelle Handlungen. Solche Annahmen rufen das Bedürfnis nach empirischer Überprüfung hervor. Dementsprechend soll im Folgenden die empirische Befundlage hinsichtlich dieser beiden Annahmen vorgestellt werden. aa) Die „normale“ kindliche Sexualentwicklung Das von der hier erörterten Rechtsgutsauffassung zu Grunde gelegte Idealbild der „ungestörten Entwicklung“, wonach Kinder nicht mit äußeren sexuellen Reizen konfrontiert werden, entspricht zumindest in den unteren 176 Vgl. Specht, in König, Gestörte Sexualentwicklung bei Kindern und Jugendlichen, S. 7 (9 f.). 177 So eher Funcke-Auffermann, Symbolische Gesetzgebung, S. 112; SK / Wolters, § 176 Rn. 2. 178 So eher Hörnle, NStZ 2000, 310; LK / Hörnle, § 176 Rn. 1; MK / Renzikowski, § 176 Rn. 3. 179 s. etwa Volbert, in Amann / Wipplinger, Sexueller Missbrauch, S. 449 ff.; s. auch sogleich unter C. II. 1. b). aa).
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Altersstufen weitgehend der Wirklichkeit. In unserer Gesellschaft wird auch jenseits rechtlicher Vorgaben zumeist versucht, das Thema Sexualität von Kindern fernzuhalten.180 Zwar wird Kindern spätestens im schulischen Sexualkundeunterricht181 ein Hintergrundwissen zum Thema Sexualität vermittelt. Dies geschieht jedoch regelmäßig auf einer sachlich-informierenden Ebene, bei der eine Konfrontation mit eindeutigen sexuellen Reizen unterbleibt. Gegen die Annahme, dass das vorbezeichnete Idealbild der sexuellen Entwicklung in jüngeren Lebensjahren der Realität entspricht, spricht auch nicht, dass das Thema Sexualität in den Medien und in der Öffentlichkeit fast allgegenwärtig und Kindern damit zugänglich ist,182 denn es bedarf eines gewissen, jungen Kindern gerade fehlenden Hintergrundwissens, um sexuelle Informationen als solche zu erkennen. Dies gilt umso mehr, als sexuelle Reize in den Medien und in der Öffentlichkeit oft, auch aus Rechtsgründen, bewusst so verschleiert werden, dass der sexuelle Gehalt zwar für Erwachsene, nicht aber für Kinder erkennbar ist. Infolge der weitgehenden Fernhaltung von exogenen sexuellen Reizen, entwickelt sich die kindliche Sexualität zunächst also weitgehend endogen. Dass eine solche Entwicklung tatsächlich recht früh, nämlich im Säuglingsalter, einsetzt, hat bereits Sigmund Freud erkannt.183 Diese Erkenntnis war damals im Übrigen nicht vollkommen neu; so schrieb bereits zuvor Kraft-Ebbing in seiner Psychopathia sexualis: „Jeder Nerven- und jeder Kinderarzt kennt die Thatsache, dass schon bei kleinen Kindern Regungen des Geschlechtslebens auftreten können.“184 Kraft-Ebbing pathologisierte dieses Phänomen allerdings, indem er davon ausging, dass es sich hierbei immer „um eine Theilerscheinung eines neuro-psychopathischen Belastungszustandes“ handeln dürfte.185 Freud erachtete hingegen das frühe Ein180 Lautmann, Soziologie der Sexualität, S. 86 f. m. w. N.; Sielert, Einführung in die Sexualpädagogik, S. 101 ff. 181 Dazu Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Richtlinien und Lehrpläne zur Sexualerziehung; Milhoffer, in Schmidt / Sielert, Handbuch Sexualpädagogik und sexuelle Bildung, S. 582 ff. 182 Vgl. auch Lautmann, Soziologie der Sexualität, S. 86. 183 Er widmet in seinen „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ der „infantilen Sexualität“ ein eigenes Kapitel (Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, S. 56 ff., 123 ff.). Ein weiteres Werk aus derselben Epoche zur kindlichen Sexualität stammt von Albert Moll (Das Sexualleben des Kindes), der indes ein anderes – aus heutiger Sicht moderneres – Konzept der Kindersexualität vorlegte. Auch er ging jedoch davon aus, dass Kinder bereits sexuelle Empfindungen haben und sexuelle Handlungen vornehmen (Moll, Das Sexualleben des Kindes, S. 46 ff., 53 ff. et passim). Vgl. auch die Darstellungen von Schmidt, in Burian-Langegger, Doktorspiele, S. 114 (116 ff.) und von Jäger, Strafgesetzgebung, S. 51. 184 von Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis, S. 39. 185 von Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis, S. 39.
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setzen der Sexualentwicklung als den Normalfall und erblickte darin somit keinen krankhaften Verlauf. Die Erkenntnis, dass die sexuelle Entwicklung im Säuglingsalter beginnt, fand sich in der späteren Sexualforschung bestätigt186 und entspricht auch dem aktuellen Stand der Sexualwissenschaft.187 Beispielsweise zeigen bereits Säuglinge lustvolle Empfindungen bei der Berührung ihrer Genitalien und führen diese Stimulation auch zielgerichtet selbst herbei.188 Sexuelles Interesse und sexuelles Verlangen sind während der gesamten Kindheit feststellbar, wobei sie sich aufgrund sozialer Kontrollen phasenweise mehr oder weniger stark manifestieren.189 Es zeigt sich, dass Kinder ihre Sexualität nicht nur in Bezug auf ihren eigenen Körper entdecken,190 sondern auch Gefallen an sogenannten „Doktorspielen“ mit anderen Kindern finden.191 In empirischen Untersuchungen haben sich keine nachteiligen Fol186 Kinsey, Das sexuelle Verhalten des Mannes, S. 154 ff.; ders., Das sexuelle Verhalten der Frau, S. 103 ff., 390 ff.; Ramsey, The American Journal of Psychology 56 (1943), 217 (226 ff.); s. im Überblick Broderick, Kinder- und Jugendsexualität, S. 46 ff., 78 ff.; Masters / Johnson, Die sexuelle Reaktion, S. 132 m. w. N. 187 Überblick bei Brumlik, in Quindeau / Brumlik, Kindliche Sexualität, S. 13 ff; Buddeberg, Sexualberatung, S. 105 ff.; Frayser, Annual Review of Sex Research 5 (1994), 173 (182 ff.); Martinson, The Sexual Life of Children, S. 35 ff., 75 ff.; Quindeau, in Quindeau / Brumlik, Kindliche Sexualität, S. 24 ff.; Schmidt, in Quindeau / Brumlik, Kindliche Sexualität, S. 60 ff.; Schuhrke, in Burian-Langegger, Doktorspiele, S. 34 ff.; Volbert, in Amann / Wipplinger, Sexueller Missbrauch, S. 449 ff.; Volbert / van der Zanden, in Davies / Llyod-Bostock / McMurran / Wilson, Psychology, Law, and Criminal Justice, S. 198 (199 ff.). Als Einzeluntersuchungen seien exemplarisch genannt: Davies / Glaser / Kossoff, Child Abuse & Neglect 24 (2000), 1329 ff.; Friedrich / Grambsch / Broughton / Kuiper / Beilke, Pediatrics 88 (1991), 456 ff.; Friedrich / Fisher / Broughton / Houston / Shafran, Pediatrics 101 (1998), e9, S. 1 ff.; Lamb / Coakley, Child Abuse & Neglect 17 (1993), 515 ff.; Reynolds / Herbenick / Bancroft, in Bancroft, Sexual Development in Childhood, S. 134 ff.; Sandnabba / Santtila / Wannäs / Krook, Child Abuse & Neglect 27 (2003), 579 ff. 188 s. nur Buddeberg, Sexualberatung, S. 105; Frayser, Annual Review of Sex Research 5 (1994), 173 (187 f.); Martinson, The Sexual Life of Children, S. 35 ff., 75 ff.; Volbert / van der Zanden, in Davies / Llyod-Bostock / McMurran / Wilson, Psychology, Law, and Criminal Justice, S. 198 (199 ff.). 189 s. nur Buddeberg, Sexualberatung, S. 108; die Bedeutung der sozialen Kontrolle zeigt sich besonders im Vergleich zu anderen Kulturen, in denen Sexualverhalten zwischen Kindern akzeptiert wird; dazu im Überblick Broderick, Kinder- und Jugendsexualität, S. 13 ff.; Frayser, Annual Review of Sex Research 5 (1994), 173 (204 ff.), je m. w. N. 190 Zu masturbatorischen Verhaltensweisen vor Eintritt der Pubertät, s. Bancroft, Grundlagen und Probleme menschlicher Sexualität, S. 19; Bancroft / Herbenick / Reynolds, in Bancroft, Sexual Development in Childhood, S. 156 ff. 191 Bancroft, Grundlagen und Probleme menschlicher Sexualität, S. 19 f.; Sielert, Einführung in die Sexualpädagogik, S. 109; Specht, in König, Gestörte Sexualent-
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gen solcher sexuellen Spiele von Kindern mit Gleichaltrigen feststellen lassen.192 Es lässt sich also belegen, dass Kinder keine asexuellen Wesen sind, sondern tatsächlich früh lustvolle Empfindungen haben und sexuelles Verhalten zeigen.193 Diese Entwicklung verläuft zunächst endogen, jedoch erfolgt die erste Konfrontation mit exogenen sexuellen Reizen spätestens dann, wenn das Kind an sexuellen Spielen mit anderen Kindern teilnimmt. Selbst wenn diese Reize (nur) von Gleichaltrigen herrühren, nehmen sie doch von außen Einfluss auf die sexuelle Entwicklung des Kindes. Auch wenn die Annahme, dass Kinder asexuelle Wesen sind, im Hinblick auf ihr Verhalten widerlegt werden kann, kann indes hinterfragt fragen, ob ein äußerlich auf Erwachsene als sexuell wirkendes Verhalten eines Kindes für dieses eine andere Bedeutung hat und andere Empfindungen auslöst.194 Ob ein Kind tatsächlich ein sexuelles Empfinden wie ein Erwachsener hat, lässt sich jedoch praktisch kaum mit Sicherheit feststellen. Selbst wenn man „Doktorspielen“ und Manipulationen von Kindern an ihren Geschlechtsteilen keine sexuelle Bedeutung beimisst, kann jedoch nicht bezweifelt werden, dass sich das Idealbild einer sexuellen Entwicklung, die ohne äußere sexuelle Reize stattfindet, bei zunehmender Annäherung an die Schutzaltersgrenze von 14 Jahren von der Wirklichkeit entfernt.195 Je mehr sich das Kind der gesetzlichen Schutzaltersgrenze nähert, desto größer werden sein Interesse und seine Kenntnisse über sexuelle Sachverhalte. Nicht selten wird das Kind aktiv sexuelle Informationen und Reize suchen. Der Austausch mit Gleichaltrigen, der die sexuelle Entwicklung auch schon vorher beeinflusst, wird zunehmend wichtiger. Auch „echte“ sexuelle Kontakte mit Gleichaltrigen erfolgen in nicht wenigen Fällen bereits vor Erreichen der Schutzaltersgrenze. wicklung bei Kindern und Jugendlichen, S. 7 (19 f.); Volbert / van der Zanden, in Davies / Llyod-Bostock / McMurran / Wilson, Psychology, Law, and Criminal Justice, S. 198 (201 ff.). Eine frühe BGH-Entscheidung beschreibt solche Spiele in einem konkreten Fall, s. BGH GA 1966, 309. 192 Okami / Olmstead / Abramson, The Journal of Sex Research 34 (1997), 339 ff. 193 Eingehend auch Sielert, Einführung in die Sexualpädagogik, S. 101 ff.; Wanzeck-Sielert, in Schmidt / Sielert, Handbuch Sexualpädagogik und sexuelle Bildung, S. 571 ff. 194 Broderick, Kinder- und Jugendsexualität, S. 17 f.; Lautmann, Die Lust am Kind, S. 60 f.; Simon / Gagnon, transaction vol. 6, iussue 5, 9 (10 f.); Volbert / van der Zanden, in Davies / Llyod-Bostock / McMurran / Wilson, Psychology, Law, and Criminal Justice, S. 198 (199); s. auch bereits Moll, Das Sexualleben des Kindes, S. 193. 195 Dass Minderjährige nach Überschreiten der Schutzaltersgrenze auch praktisch sexuelle Erfahrungen sammeln, wird nicht nur toleriert, sondern ausdrücklich gebilligt und als bedeutsamer Schritt auf dem Weg zum Erwachsenwerden angesehen, vgl. LK / Hörnle, vor § 174 Rn. 34; Kusch / Mössle, NJW 1994, 1504 (1505).
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Die statistisch nachweisbare Abweichung des vom Gesetz zu Grunde gelegten Idealbildes von der Wirklichkeit ist durchaus erheblich. So geben 18 % der 13-jährigen Mädchen und 12 % der 13-jährigen Jungen an, bereits Erfahrung mit Petting zu haben; von den 14-jährigen Jungen und Mädchen geben dies 34 % an.196 Die mit Petting beschriebenen Handlungen dürften in aller Regel sexuelle Handlungen im Sinne des § 184g StGB darstellen. Den ersten Geschlechtsverkehr haben 6 % der 13-jährigen Jungen und 11 % der 13-jährigen Mädchen (12 % der 14-jährigen Jungen und 16 % der 14-jährigen Mädchen) bereits erlebt.197 Einen Zungenkuss, der bei Kindern nach herrschender Meinung ebenfalls eine sexuelle Handlung im Sinne des § 184g StGB darstellt,198 haben bereits 33 % der 13-jährigen und 52 % der 14-jährigen Kinder beziehungsweise Jugendlichen erfahren.199 Diese Daten legen nahe, dass ein erheblicher Anteil der Kinder exogene sexuelle Reize vor dem 14. Geburtstag erlebt. Auch wenn bei der Befragung nicht entsprechend differenziert wurde, ist aufgrund der kontextuellen Einbettung der Fragen zu den vorgenannten Erfahrungen davon auszugehen, dass sich die Antworten zumeist auf entsprechende einvernehmliche Verhaltensweisen mit anderen Kindern und Jugendlichen beziehen. Dass Jugendliche nicht erst nach Überschreiten der Schutzaltersgrenze sexuelle Handlungen aus eigenem Antrieb vornehmen, ist kein neuer Befund.200 Er wurde vielmehr erstmals in den Kinsey-Reporten mit umfang-
196 BRAVO Dr. Sommer-Studie 2009; online abrufbar unter http: / / www.bauerad vertising.de / fileadmin / _jugendmarkt / upload / zielgruppen / PDFs / BRAVO_Dr_Som mer_Studie_2009.pdf (letzter Abruf: 31.07.2014); dort S. 68. Zu empirischen Daten s. auch die Vorgängeruntersuchung BRAVO Dr. SommerStudie 2006; online abrufbar unter http: / / www.baueradvertising.de / fileadmin / _ju gendmarkt / upload / zielgruppen / PDFs / BRAVO_Dr_Sommer_Studie_2006.pdf (letzter Abruf: 31.07.2014); dort S. 43 ff. 197 BRAVO Dr. Sommer-Studie 2009, S. 72. Etwas geringere Zahlen finden sich in der – statistisch anders ausgewerteten – Untersuchung „Jugendsexualität“ der BZgA (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Jugendsexualität, S. 121). Diese Studie ist insgesamt weniger ergiebig, da sie im Übrigen nur Zahlen für 14 bis 17-Jährige referiert. Vgl. auch Kett-Straub, ZRP 2007, 260 (262), die im Hinblick auf die Angaben von 14-Jährigen, dass sie schon einmal Geschlechtsverkehr gehabt haben, äußert: „Es werden kaum alle für dieses Erlebnis ihren 14. Geburtstag abgewartet haben.“ 198 BGHSt 18, 169; BGH StV 1983, 415 (416); BeckOK / Ziegler, § 184g Rn. 5.2; Frühsorger, Straftatbestand, S. 45; Lackner / Kühl, § 184g Rn. 6; MK / Hörnle, § 184g Rn. 27; Schönke / Schröder / Eisele, § 184g Rn. 16; SK / Wolters, § 184g Rn. 12; noch weitergehend Sick, Sexuelles Selbstbestimmungsrecht, S. 265 ff. 199 BRAVO Dr. Sommer-Studie 2009, S. 10; s. auch S. 60. 200 s. auch Bauer, in Reinisch, Die deutsche Strafrechtsreform, S. 24 (38); Fischer, Jugendliche + Erwachsene ’85 (Shell-Studie), Band 1, S. 204 ff.
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reichen empirischen Belegen untermauert.201 Im Rahmen der Reformdiskussionen der 1960 / 70er Jahre wurden die Erkenntnisse der US-amerikanischen Kinsey-Reporte als auf die deutschen Verhältnissen übertragbar angesehen202 und dementsprechend berücksichtigt.203 Im Laufe der Jahrzehnte haben sich zwar die Anteile der Jugendlichen, die sexuelle Kontakte vor der Schutzaltersgrenze hatten, immer wieder verschoben.204 Gleichwohl darf aufgrund der empirischen Daten als gesichert angesehen werden, dass die Aufnahme sexueller Kontakte vor dem 14. Geburtstag kein pathologisches Ausnahmephänomen darstellt.205 Das Gesetz verbietet jedoch auch diese sexuellen Kontakte eines Kindes, mag auch häufig eine Bestrafung unterbleiben.206 Das vom Gesetzgeber und von den Vertretern des Rechtsguts der „ungestörten (sexuellen) Entwicklung“ zu Grunde gelegte Idealbild weicht folglich mit zunehmender Annäherung an die Schutzaltersgrenze vom empirischen Normalbild ab. Die vom Gesetz unterstellte „ungestörte Entwicklung“ zeichnet sich nämlich dadurch aus, dass bis zur Vollendung des 14. Lebensjahrs auch keine sexuellen Kontakte mit Gleichaltrigen erfolgen, sondern jedwede Sexualkontakte bis zum Erreichen der Schutzaltersgrenze unterbleiben. Nach dem vorstehend gezeichneten Bild der sexuellen Entwicklung können während dieser sexuelle Kontakte mit Gleichaltrigen stattfinden, ohne dass allein deshalb zwingend eine Normabweichung vorliegen muss. Anderes gilt hingegen für sexuelle Kontakte mit älteren Jugendlichen und Erwachsenen. Hiergegen könnte zwar eingewandt werden, dass zur Entwicklung eines statistisch relevanten Anteils aller Kinder auch sexuelle Erlebnisse mit solchen älteren Personen gehören, wie durch Untersuchungen zur 201 s. nur Kinsey, Das sexuelle Verhalten der Frau, S. 190 ff. (zum Petting), S. 226 ff. (zum vorehelichen Koitus); ders., Das sexuelle Verhalten des Mannes, S. 486 f. (zum Petting), S. 501 ff. (zum vorehelichen Geschlechtsverkehr). 202 Vgl. Deutscher Bundestag, Beratungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, Protokolle der 28., 29. und 30 Sitzung, S. 861 ff. (Sigusch); s. auch Schneider, JR 1968, 281 (282). Zur Rezeption der Kinsey-Reporte in Deutschland s. Steinbacher, Wie der Sex nach Deutschland kam, S. 135 ff. 203 s. etwa auch Hanack, Revision, Rn. 137; Hochheimer, in Bauer / BürgerPrinz / Giese / Jäger, Sexualität und Verbrechen, S. 84 (108 ff.). 204 s. auch Gnüchtel, Jugendschutztatbestände, S. 121 ff.; MK / Renzikowski, vor § 174 Rn. 29. 205 Eingehend NK / Frommel, § 176 Rn. 10; dies., FS Heinz, S. 71 (82); s. auch bereits Hauptmann, Gewaltlose Unzucht, S. 42. 206 Ist der andere Part noch nicht 14 Jahre alt, kann er im Hinblick auf § 19 StGB nicht bestraft werden; handelt es sich um einen Jugendlichen, so kommen ihm regelmäßig die jugendstrafrechtlichen Reaktionsmöglichkeiten beispielsweise nach §§ 45, 47 JGG zugute, sodass zumeist eine Bestrafung unterbleiben wird; s. auch D. II. 1. d).
196
C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs belegt wird.207 Indes spricht gegen die Einordnung solcher Sexualkontakte als Bestandteil einer Normalentwicklung zunächst die gegenläufige soziale Norm. Vor allem rufen sexuelle Kontakte zwischen Gleichaltrigen in aller Regel keine pathologischen Folgen hervor, sondern sind ein „normaler“ Schritt auf dem Weg zum Erwachsenwerden.208 Dass und inwiefern die Situation bei sexuellen Kontakten zwischen Kindern und deutlich älteren Personen (Jugendlichen, Erwachsenen) eine andere ist, soll im folgenden Abschnitt dargelegt werden. bb) Empirische Befunde zu Störungen der Entwicklung durch sexuelle Handlungen Nachdem festgestellt wurde, dass sexuelle Erfahrungen vor Erreichen der Schutzaltersgrenze kein Ausnahmephänomen darstellen, soll untersucht werden, welche empirischen Befunde es zu den Folgen sexueller Erfahrungen im Kindesalter gibt. Die einschlägigen Untersuchungen beziehen sich nicht auf einvernehmliche Kontakte zwischen (nahezu) Gleichaltrigen, sondern auf sexuelle Übergriffe oder sexuelle Missbrauchshandlungen von „Älteren“ gegenüber Kindern. Auch wenn die Untersuchungen hinsichtlich der Festlegung der untersuchten Stichprobe im Detail voneinander abweichen,209 lässt sich allgemein die Bestrebung der Forscher feststellen, einvernehmliche Sexualkontakte innerhalb derselben Altersgruppe auszublenden. Über schädliche Auswirkungen solcher – gleichwohl rechtswidriger und / oder strafbarer Handlungen – lassen sich deshalb keine validen Aussagen treffen. Insoweit besteht wohl im Gegenteil Konsens darüber, dass sie aufgrund der Häufigkeit ihres Vorkommens, also ihrer Normalität, unschädlich sind. Häufig dürfte es außerhalb von Fachkreisen bereits am Bewusstsein fehlen, dass insoweit aus juristischer Sicht ein sexueller Missbrauch von Kindern im Sinne des § 176 StGB vorliegt. Ernst, in Amann / Wipplinger, Sexueller Missbrauch, S. 61 ff. wird mitunter zu begründen versucht, dass auch zwischen Kindern und Erwachsenen Liebesbeziehungen vergleichbar mit denen zwischen ungefähr Gleichaltrigen bestehen können. Auf die Spitze getrieben wird dies durch die Behauptung, dass Kinder mitunter Erwachsene zu sexuellen Kontakten anreizen oder verführen würden (Vgl. Hauptmann, Gewaltlose Unzucht, S. 21 ff.; Schönfelder, in von Stockert, Das sexuell gefährdete Kind, S. 109 ff., insb. S. 112; s. auch Lautmann, Die Lust am Kind, S. 67 ff., insb. S. 72, 78.) Tatsächlich liegen solchen Behauptungen wohl immer Rechtfertigungsmythen zugrunde, die mitunter durch die (bewusste?) Fehlinterpretation von Äußerungen und Verhaltensweisen von Kindern untermauert werden (eingehend zu entsprechenden Täterstrategien: Deegener, Sexueller Mißbrauch: Die Täter, S. 59 ff.). 209 Dazu C. II. 1. b) cc) (1). 207 Eingehend 208 Zwar
II. Derzeitiger Meinungsstand zum Rechtsgut des § 176 StGB 197
Diese Ausblendung der Tatbestandsmäßigkeit einvernehmlicher Sexualkontakte innerhalb derselben Altersgruppe hat auch Einfluss auf die vorherrschenden Vorstellungen über die Folgen des sexuellen Missbrauchs. Sowohl in der Allgemeinbevölkerung als auch in Expertengruppen wird weithin davon ausgegangen, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern schwere bis schwerste Beeinträchtigungen bei den Betroffenen hervorruft.210 Diese Einschätzung ist vermutlich ein wesentlicher Grund für die starke soziale Ächtung entsprechender Taten. Die Annahme wird durch dramatische Fallschilderungen und autobiographische Opferberichte genährt, die den sexuellen Missbrauch und die Folgen der mit der Tat verbundenen Traumatisierung detailliert schildern. Auch die mediale Berichterstattung fokussiert in besonderem Maße die Folgen der Tat für das Opfer.211 Eine wissenschaftliche Betrachtung der Frage, welche Folgen der sexuelle Missbrauch von Kindern hervorruft, darf sich jedoch nicht mit der Bezugnahme auf Einzelfallschilderungen begnügen. Vielmehr bedarf es einer systematischen Untersuchung von Missbrauchsfällen, die ausgehend von einer breiten Ausgangsbasis die weitere Entwicklung betroffener Kinder untersucht und mit der Entwicklung nicht-betroffener Kinder vergleicht. Entsprechende empirische Untersuchungen wurden bereits, wenn auch spärlich, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchgeführt.212 Im Zuge der Reformdiskussion der 1960er / 70er Jahre wurde die Frage ausführlich erörtert und zunehmend empirisch zu klären versucht.213 Dabei zeigte sich das gerade für Laien erstaunliche Ergebnis, dass der sexuelle Missbrauch bei weitem nicht in allen Fällen negative psychische Auswirkungen nach sich zieht.214 auch Lempp, NJW 1968, 2265. Amann / Wipplinger, in Amann / Wipplinger, Sexueller Missbrauch, S. 863 (876 ff., 882 f.). Mit Beispielen zur Berichterstattung s. Brüggemann, Entwicklung und Wandel, S. 26, 106 f., 344 f. 212 Vgl. im Überblick Bennemann, Strafbarkeit, S. 24 ff.; Groffmann, in Blau / Müller-Luckmann, Gerichtliche Psychologie, S. 148 (149); s. auch Doetsch, Erscheinungsformen, S. 24; Jäger, Rechtsgüterschutz, S. 52. 213 Im Überblick Dannecker, Das Drama der Sexualität, S. 75 ff.; Ilg, Der strafrechtliche Schutz, S. 47 f. Die Ergebnisse sind im Einzelnen dokumentiert in: Deutscher Bundestag, Beratungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, Protokolle der 28., 29. und 30. Sitzung, S. 914 ff. (Schönfelder), 921 ff. (Strunk), 927 ff. (Lempp), 962 ff. (Mitscherlich), 973 ff. (Groffmann); 981 ff. (Schorsch); 988 ff. (Wille), 995 ff. (Hallermann), 1104 ff. (Nau); 1027 ff. (Kentler); s. auch Broderick, Kinder- und Jugendsexualität, S. 56 f.; Kinsey, Das sexuelle Verhalten der Frau, S. 120 f.; s. zur Diskussion der Ergebnisse: BT-Drucks. VI / 3521, S. 34 f.; Hanack, Revision, Rn. 133 ff. u. 147; s. auch Leferenz, ZStW 77 (1965), 379 (390 ff.); Schneider, JR 1968, 281 (286); Woesner, NJW 1968, 673 (676). 214 Vgl. auch Killias, Jugend und Sexualstrafrecht, S. 184 ff. mit Verweis auf Wyss, SchwZStr 79 (1963), 273 (283 ff.). 210 So
211 Vgl.
198
C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
Dieses Resultat zog die Folgefrage nach sich, in welchen Fällen oder unter welchen Umständen negative Folgen auftreten und wann diese ausbleiben. Dabei wurde bereits damals darauf hingewiesen, dass mit negativen psychischen Folgen dann eher zu rechnen ist, wenn die Tat mittels Gewalt oder schweren Bedrohungen begangen wird. Bei gewaltlosen Taten hingegen waren negative psychische Folgen häufig nicht feststellbar.215 Für die Pönalisierung des sexuellen Missbrauchs von Kindern war diese Erkenntnis sehr bedeutsam, denn Begründungen der Legitimität einer Strafnorm wie § 176 StGB haben mit Gewalt oder schweren Bedrohungen einhergehende Taten auszublenden, da diese bereits durch andere Strafnormen, insbesondere die sexuelle Nötigung beziehungsweise Vergewaltigung gemäß § 177 StGB erfasst werden. Der Sinn des § 176 StGB besteht schließlich gerade darin, auch ohne Nötigungsmittel begangene sexuelle Handlungen unter Strafe zu stellen.216 Des Weiteren wurde darauf hingewiesen, dass häufig erst die Reaktionen der Umwelt auf den bekannt gewordenen Missbrauch negative psychische Folgen beim Kind hervorrufen.217 Ein besonderes Augenmerk wurde dabei auf die Belastungen des Kindes durch Gerichtsverfahren gelenkt, in denen es zum Zwecke der juristischen Aufarbeitung des Missbrauchs als Zeuge zur Verfügung stehen muss. Erst in jüngerer Zeit wurde diesem Umstand vermehrt durch Änderung strafprozessualer Vorschriften Rechnung getragen.218 Inzwischen gibt es eine kaum mehr übersehbare Vielzahl an Untersuchungen219 zur Frage, welche Folgen der sexuelle Missbrauch an Kindern bei den Betroffenen hervorruft.220 Auf ihrer Grundlage kann als gesichert gel215 s.
die Nachweise in den vorausgehenden Fußnoten. auch Hörnle, FS Eisenberg, S. 321 (326); ähnlich Lachmann, MSchrKrim 1988, 47 (48); Lempp, NJW 1968, 2265. 217 Etwa Lempp, NJW 1968, 2265 ff.; Schneider, JR 1968, 281 (286). 218 Im Überblick Heger, JA 2007, 244 ff.; umfassende Darstellung bei Schroth, Die Rechte des Opfers im Strafprozess, S. 1 ff. 219 Hier wird vor allem auf die Zusammenfassung dieser Untersuchungen im Rahmen von Meta-Analysen (statistische Untersuchungen, bei denen die Resultate mehrerer Untersuchungen zur gleichen Fragestellung rechnerisch zusammengefasst werden) und Überblicksaufsätzen zurückgegriffen, weil ihre Aussagekraft stärker ist als die von Einzeluntersuchungen. 220 s. etwa Bange, Die dunkle Seite der Kindheit, S. 147 ff.; ders. / Deegener, Sexueller Mißbrauch an Kindern, S. 171 ff.; Beitchman / Zucker / Hood / DaCosta / Akman, Child Abuse & Neglect 1991, 537 ff.; Beitchman / Zucker / Hood / DaCosta / Akman / Cassavia, Child Abuse & Neglect 1992, 101 ff.; Briere / Elliott, The Future of Children 1994, 54 ff.; dies., Child Abuse & Neglect 2003, 1205 ff.; Browne / Finkelhor, Psychological Bulletin 1986, 66 ff.; Fergusson / Lynskey / Hoorwood, Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry 1996, 1355 ff.; Fergusson / Horwood / Lynskey, Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry 216 Vgl.
II. Derzeitiger Meinungsstand zum Rechtsgut des § 176 StGB 199
ten, dass verschiedenste psychische und körperliche Störungen sowie soziale Probleme bei Opfern sexuellen Missbrauchs häufiger auftreten als bei Vergleichspersonen. Hierbei kann zwischen Kurzzeit- und Langzeitfolgen differenziert werden. Moggi teilt die Kurzzeitfolgen im Anschluss an eine schweizerische interdisziplinäre Expertengruppe in folgende vier Symptomgruppen ein:221 • „Emotionale Reaktionen: Ängste, Phobien, Posttraumatische Belastungsstörung, Depression, niedriger Selbstwert, Suizidalität, Schuld- und Schamgefühle, Ärgerneigung, Feindseligkeit, selbstschädigendes Verhalten (z. B. substanzgebundenes Suchtverhalten) sowie allgemein Störungen der Affektregulation. • Unangemessenes Sexualverhalten: Exzessive Neugier an Sexualität, frühe sexuelle Beziehungen, offenes Masturbieren oder Exhibitionismus und unangemessen sexualisiertes Verhalten im Sozialkontakt. • Auffälligkeiten im Sozialverhalten: Weglaufen von Zuhause, Schulschwierigkeiten, Fernbleiben vom Unterricht, Rückzugsverhalten, Hyperaktivität, delinquentes Verhalten, aggressives Verhalten wie mutwilliges Zerstören von Eigentum und physische Angriffe. • Somatische und psychosomatische Folgen: Verletzungen im genitalen, analen oder oralen Bereich, Schwangerschaften während der Adoleszenz, Geschlechtskrankheiten, psychosomatische Beschwerden (z. B. chronische Bauchbeschwerden ohne organischen Befund), Ess- und Schlafstörungen sowie Enuresis und Enkopresis.“222
Die Langzeitfolgen fasst Moggi wie folgt zusammen: • „Emotionale und kognitive Störungen: Depression, Ängstlichkeit, Furcht, Schuld- und Schamgefühle, Einsamkeitsgefühle, autodestruktives Verhalten und 1996, 1365 ff.; Görgen / Rauchert / Fisch, FPPK 2012, 3 ff.; Green, Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry 1993, 890 ff.; Kendall-Tackett / Meyer Williams / Finkelhor, in Amann / Wipplinger, Sexueller Missbrauch, S. 179 ff; Kilpatrick, Long-Range Effects of Child and Adolescent Sexual Experiences, S. 37 ff., 103 ff.; Maniglio, Clinical Psychology Review 29 (2009), 647 ff.; Neumann / Houskamp / Pollock / Briere, Child Maltreatment 1996, 6 ff.; Paolucci / Genuis / Violato, The Journal of Psychology 2001, 17 ff.; Polusny / Follette, Applied & Preventive Psychology 1995, 143 ff.; Putnam, Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry 2003, 269 ff.; Rind / Tromovitch, The Journal of Sex Research 1997, 237 ff.; Rind / Tromovitch / Bauserman, Psychological Bulletin 1998, 22 ff. Deutschsprachige Überblicksdarstellungen finden sich bei Bange, Die dunkle Seite der Kindheit, S. 38 ff.; ders. / Deegener, Sexueller Mißbrauch an Kindern, S. 77 ff; Baurmann, Sexualität, Gewalt und psychische Folgen, S. 166 ff.; Campbell, Der intrafamiliäre sexuelle Kindesmißbrauch, S. 102 ff.; Wilmer, Sexueller Mißbrauch, S. 119 ff. Bemerkenswert ist auch die Darstellung bei Krück, MSchrKrim 1989, 313 ff. 221 Einen Literaturüberblick über Aufzählungen von Folgen findet sich bei Baurmann, Sexualität, Gewalt und psychische Folgen, S. 196 ff. 222 Moggi, in Amann / Wipplinger, Sexueller Missbrauch, S. 213 (214 f.).
200
C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB Suizidalität, Zwänge, Ärgerneigung, negative Selbstwahrnehmung, niedriges Selbstwertgefühl, internale, stabile und persönliche Kausalattribution negativer Ereignisse, externale Kontrollüberzeugungen bei positiven Ereignissen, niedrige Selbstwirksamkeitserwartung
• Posttraumatische Belastungsstörung • Dissoziative Störungen: Amnesien, Multiple Persönlichkeitsstörung • Persönlichkeitsstörungen: Borderline-Persönlichkeitsstörungen • Somatisierung: Psychosomatische Symptome • Schlafstörungen • Essstörungen: Bulimie, Anorexie • Sexuelle Störungen: Sexuelle Funktionsstörungen, unbefriedigende Sexualität, Promiskuität, sexuelle Orientierungsstörungen • Substanzgebundenes Suchtverhalten • Störungen interpersonaler Beziehungen: Feindseligkeit gegenüber den Eltern, Furcht oder Feindseligkeit gegenüber Männern, Unzufriedenheit in intimen Beziehungen, Misstrauen, Reviktimisierung • Probleme der sozialen Anpassung: z. B. Prostitution“223
Die Unterschiede in der Häufigkeit des Auftretens dieser Symptome zwischen Personen mit und ohne sexuelle Missbrauchserfahrungen sind in vielen Bereichen statistisch bedeutsam (signifikant), also nicht durch zufällige Stichprobenunterschiede erklärbar. Die bei Missbrauchsopfern feststellbaren Folgen sind statistisch insbesondere dann ausgeprägter, wenn die Tat durch einen Familienangehörigen begangen wurde (Inzest), wenn sie mit einer Penetration verbunden war, wenn der Missbrauch über längere Zeit erfolgte und wenn der Missbrauch mit physischer Gewalt verbunden war.224 Schließlich hat die Reaktion der Umwelt auf die Tat nach ihrem Bekanntwerden starke Auswirkungen auf das Auftreten und den Ausprägungsgrad von Missbrauchsfolgen. Umgekehrt gibt es Faktoren, die protektiv wirken, also dazu führen, dass keine oder geringere Missbrauchsfolgen auftreten. Diese auch als Resilienzfaktoren bezeichneten Umstände betreffen beispielsweise persönliche Eigenschaften, Denkmuster und Strategien sowie soziale Bedingungen wie das Vorhandensein eines unterstützenden Umfelds.225 223 Moggi,
in Amann / Wipplinger, Sexueller Missbrauch, S. 213 (216). Beier / Bosinski / Loewit, Sexualmedizin, S. 561; Browne / Finkelhor, Psychological Bulletin 1986, 66 ff.; Kendall-Tackett / Meyer Williams / Finkelhor, in Amann / Wipplinger, Sexueller Missbrauch, S. 179 (192 ff.). 225 Eingehend Beier / Bosinski / Loewit, Sexualmedizin, S. 561; Dufour / Nadeau / Bertrand, Child Abuse & Neglect 2000, 781 (783 ff.); Heller / Larrieu / D’Imperio / Bo224 Näher
II. Derzeitiger Meinungsstand zum Rechtsgut des § 176 StGB 201
Einerseits bestätigen diese Resultate gruppenstatistisch die Schädlichkeit des sexuellen Missbrauchs.226 Andererseits gibt es – soweit ersichtlich – keine Untersuchung, bei der es nicht einen mehr oder weniger großen Anteil an Betroffenen sexueller Missbrauchstaten gibt, bei denen keine negativen Folgen erkennbar sind.227 Empirisch lässt sich also die Behauptung einer zwangsläufigen Schädigung des Opfers nicht bestätigen. Im Gegenteil spricht viel dafür, dass es einen gewissen Anteil an Tatopfern gibt, die durch den sexuellen Missbrauch keinen Schaden nehmen. Das gilt insbesondere für die „leichten“ Formen des Missbrauchs,228 bei denen – juristisch ausgedrückt – allein der Grundtatbestand des § 176 StGB, nicht aber weitere Tatbestände wie etwa die §§ 173, 174, 176a, 177 StGB oder die §§ 223, 240 StGB erfüllt worden sind. Gerade die Fälle, bei denen allein der Tatbestand des § 176 StGB verwirklicht ist, sind im Rahmen der Rechtsgutsdiskussion jedoch von besonderem Interesse.229 cc) Probleme bei der empirischen Untersuchung der Folgen sexuellen Missbrauchs Bei der Bewertung der empirischen Befundlage ist zu berücksichtigen, dass die Untersuchung der Folgen des sexuellen Missbrauchs einer Reihe methodischer Schwierigkeiten begegnet. Diese sollen anhand der folgenden fünf Untersuchungsschritte beleuchtet werden:230 ris, Child Abuse & Neglect 1999, 321 (327 ff.); Hyman / Williams, Affilia 2001, 198 (209 ff.). 226 In jüngerer Zeit hatte sich die Rechtsprechung mit den Folgen sexuellen Missbrauchs im Zusammenhang mit der Frage der Zulässigkeit der Anordnung der Sicherungsverwahrung (namentlich nach Maßgabe der Weitergeltungsanordnung) auseinanderzusetzen. In den einschlägigen Entscheidungen wird darauf abgestellt, dass mit sexuellem Missbrauch „typischerweise die Gefahr schwerer psychischer Schäden verbunden“ ist. Daraus wird gefolgert, dass die Erwartung, dass nach § 176 StGB strafbare (gewaltlose) Taten begangen werden, als Anknüpfungspunkt für die Anordnung der Sicherungsverwahrung genügt. Dazu BGHSt 52, 31 (34 f.); BGH NStZ-RR 2010, 239 (240); NStZ-RR 2012, 9; NStZ 2013, 277 (278); BeckRS 2013, 09608; s. auch BGH StV 2012, 273; NStZ-RR 2013, 204 (206). 227 Näher Kendall-Tackett / Meyer Williams / Finkelhor, in Amann / Wipplinger, Sexueller Missbrauch, S. 179 (191 f.). 228 s. aber auch zu einem Fall, bei dem das Opfer schweren langjährigen Inzest keine feststellbaren psychischen Folgeschäden davongetragen hat: Buddeberg, Sexualberatung, S. 174 f. 229 Vgl. auch Hörnle, FS Eisenberg, S. 321 (326). 230 Vgl. auch Lachmann, MSchrKrim 1988, 47 (51), der allerdings nur die drei Variablen „Missbrauch“, „Schaden“ und „Kausalität“ unterscheidet. Einen Überblick zu methodischen Fragen, die sich im vorliegenden Zusammenhang stellen, bieten auch Baurmann, Sexualität, Gewalt und psychische Folgen, S. 194 f. (unter Bezug-
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
1. Zunächst ist der sexuelle Missbrauch zu definieren [dazu sogleich unter (1)]. 2. Es ist sicherzustellen, dass die untersuchte Stichprobe nicht verzerrt ist [dazu sogleich unter (2)]. 3. Sodann ist zu entscheiden, welche Folgen untersucht werden sollen, beziehungsweise was als Missbrauchsfolge in Betracht gezogen werden soll [dazu sogleich unter (3)]. 4. Es ist sicherzustellen, dass die Ergebnisse hinsichtlich der Folgen nicht verzerrt sind [dazu sogleich unter (4)]. 5. Schließlich ist der Kausalzusammenhang zwischen der Folge und dem Missbrauch zu verifizieren [dazu sogleich unter (5)]. (1) Hinsichtlich der Definition des sexuellen Missbrauchs ist im vorliegenden Kontext wichtig, dass die untersuchten Probanden einen sexuellen Missbrauch im strafrechtlichen Sinn tatsächlich erlebt haben. Dieser Anforderung wird in den vorliegenden Untersuchungen bereits deshalb nicht immer Rechnung getragen, weil ausländische Untersuchungen die dort jeweils geltende Rechtsordnung zu Grunde legen, wenn sie sich überhaupt an einer rechtlichen Definition orientieren. Da der Bereich des Strafbaren (zum Beispiel das Schutzalter) international nicht einheitlich geregelt ist, ergeben sich Schwierigkeiten bei der Übertragbarkeit der Ergebnisse. Zudem legen die vorliegenden Untersuchungen häufig strengere Kriterien an die Probanden (Tatopfer) an, als sie das Gesetz voraussetzt. So wird für die Aufnahme in die Untersuchungsgruppe beispielsweise ein Mindestaltersunterschied zwischen Täter und Opfer verlangt oder es wird danach gefragt, ob der Proband eine sexuelle Handlung erlebt hat, die im kindlichen Alter „gegen seinen Willen“ vorgenommen wurde.231 Dabei verlangt § 176 StGB weder einen Mindestaltersunterschied zwischen Täter und Opfer noch ein Handeln „gegen den Willen“ des Opfers. Zudem wird von sozialwissenschaftlich geprägten Autoren beim Kindesmissbrauch häufig die Ausnutzung einer überlegenen Machtposition als wesentliches Definitionsmerkmal einbezogen, obwohl aus juristischer Sicht die Tatbestandsverwirklichung einen nahme auf Groffmann, in Blau / Müller-Luckmann, Gerichtliche Psychologie, S. 148 [174 ff.]); Görgen / Rauchert / Fisch, FPPK 2012, 3 (5 f.); Green, Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry 1993, 890 ff.; Heller / Larrieu / D’Imperio / Boris, Child Abuse & Neglect 1999, 321 (322 ff.). Allgemein zu Problemen der empirischen Erforschung des sexuellen Missbrauchs, s. Ernst, in Amann / Wipplinger, Sexueller Missbrauch, S. 61 ff. 231 So etwa Hyman / Williams, Affilia 2001, 198 (202 f.); Polusny / Follette, Applied & Preventive Psychology 1995, 143 (144); Rind / Tromovitch, The Journal of Sex Research 1997, 237; Rind / Tromovitch / Bauserman, Psychological Bulletin 1998, 22 (23 und 28).
II. Derzeitiger Meinungsstand zum Rechtsgut des § 176 StGB 203
Machtmissbrauch nicht voraussetzt.232 Den Einfluss der Definition des sexuellen Missbrauchs auf das Untersuchungsergebnis heben Bange und Deegener hervor: „Eine enge Definition erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß bei den Befragten massive psychische Probleme festgestellt werden, da penetrative und mit Gewalt durchgesetzte sexuelle Handlungen in der Regel mit einer erheblichen Traumatisierung einhergehen. Dagegen sind bei „weniger intensiven“ sexuellen Übergriffen bei einem Teil der Kinder keine oder nur schwache Traumatisierungen festzustellen […]. Folglich besteht bei der Verwendung einer weiten Definition die Gefahr, daß die Ergebnisse „verwässert“ werden. Wenn beispielsweise die Gruppe der TeilnehmerInnen, die „weniger intensiven“ sexuellen Mißbrauch erlebt haben, größer ist als die Gruppe der sehr schwer mißbrauchten Befragten, können die Folgen sexueller Gewalt im Durchschnitt harmloser erscheinen, als sie für viele Opfer sind.“233
Anhand dieser Ausführungen wird deutlich, wie sich durch eine bestimmte Definition die Ergebnisse verfälschen lassen. Die Warnung vor einer Verwässerung der Ergebnisse offenbart den – wohl bei vielen Forschern vorhandenen – Wunsch, tendenziell gravierende Folgen des Missbrauchs belegen zu können. Eine ergebnisorientierte Herangehensweise, die sich an politischen Opportunitäten orientiert, ist mit einem wissenschaftlichen Anspruch kaum vereinbar. Um die Folgen des sexuellen Missbrauchs korrekt widerzuspiegeln, bedarf es repräsentativer Stichproben. Diese Forderung nach Repräsentativität hat sich dabei selbstredend auch auf den Schweregrad des Missbrauchs zu erstrecken.234 Wenn man davon ausgeht, dass die meisten Missbrauchstaten im unteren Intensitätsbereich anzusiedeln sind, wie die Forschung wiederholt gezeigt hat,235 dann haben in einer Untersuchung über die Missbrauchsfolgen in entsprechender Weise die Teilnehmer, die „weniger intensiven sexuellen Missbrauch erlebt haben“, auch die Mehrheit zu bilden. Die Tatintensität in der untersuchten Stichprobe ist korrespondierend zu der in der Lebenswirklichkeit darzustellen. Dem Anliegen von Bange und Deegener, dass nicht der Eindruck erweckt wird, dass der sexuelle Missbrauch stets nur geringe Folgen nach sich zieht, selbst wenn die Tatintensität hoch ist, kann dabei dadurch Rechnung getragen werden, dass eine Differenzierung der Untersuchungsergebnisse nach dem Schweregrad des Missbrauchs erfolgt.236 So kann berücksichtigt werden, dass der Durchschnittswert (das arithmetische Mittel) als statistiJäger-Helleport, Konstruktive Tatverarbeitung, S. 42. Sexueller Mißbrauch an Kindern, S. 58. 234 Zur Bedeutung der Tatintensität s. nur Baurmann, Sexualität, Gewalt und psychische Folgen, S. 434 f. 235 s. nur Baurmann, Sexualität, Gewalt und psychische Folgen, S. 189. 236 Bange / Deegener, Sexueller Mißbrauch an Kindern, S. 58 f. 232 Vgl.
233 Bange / Deegener,
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scher Parameter das Defizit aufweist, dass er nichts über die Verteilung der Einzelwerte aussagt. (2) Eine möglichst angemessene Definition des sexuellen Missbrauchs ist die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für eine unverzerrte Stichprobe. Mit einer unverzerrten Stichprobe ist gemeint, dass die untersuchten Probanden für die Gesamtheit der Opfer sexuellen Missbrauchs repräsentativ sind.237 Auch dieser Anforderung wird in vielen Untersuchungen nur unzureichend Rechnung getragen. Wenn beispielsweise die Probanden aus psychiatrischen Kliniken rekrutiert werden, verwundert es nicht, dass in erhöhtem Maße, psychische Auffälligkeiten bei ihnen feststellbar sind. Desgleichen ist die Untersuchungsstichprobe verzerrt, wenn nur Probanden einbezogen werden, bei denen die Tat zur Anzeige gebracht und zum Gegenstand eines Strafverfahrens gemacht wurde.238 Dies ist vor allem deshalb bedenklich, da nicht auszuschließen ist, dass gerade solche Taten zur Anzeige gebracht werden, bei denen sich psychische Folgen beim Kind manifestiert haben. Zudem stellt sich hier die Schwierigkeit herauszufinden, welche psychischen Folgen auf die Tat und welche auf die Reaktionen der Strafverfolgungsbehörden auf die Tat zurückzuführen sind.239 Ein weiteres methodisches Problem liegt bei der Erlangung einer repräsentativen Stichprobe zur Untersuchung von Spätfolgen des Missbrauchs darin, dass gerade Kinder einen sexuellen Missbrauch zwar erlebt, aber nicht als solchen erkannt haben mögen.240 Solche Fälle können kaum empirisch erfasst werden. Gleiches gilt für die Fälle, in denen ein nicht als einschneidend erlebter Missbrauch vom Betroffenen wieder vergessen wurde.241 Umgekehrt muss sichergestellt werden, dass alle Probanden der Untersuchungsstichprobe tatsächlich einen Missbrauch erlebt haben. Hier kann Missachtung dieser Forderung Lachmann, MSchrKrim 1988, 47 (54). zu diesem „Sampling bias“ Rind / Tromovitch, The Journal of Sex Research 1997, 237 (239 f.). 239 s. dazu sogleich unter C. II. 1. b) cc) (5). 240 Vgl. Lautmann, Der Zwang zur Tugend, S. 95. Er weist auf mögliche Auswirkungen hin, die sich daraus ergeben können, dass das Kind darüber unterrichtet wird, „dass es verbotene Sexualität erfahren habe, gleichviel, ob das Kind den sexuellen Sinn und das Anstößige mitbekommen hat.“ 241 In einer Untersuchung von Williams (Journal of Consulting and Clinical Psychology, 1994, 1167 ff.) konnten sich 38 % der Personen, bei denen ein sexueller Missbrauch in der Kindheit dokumentiert worden war, 18 bis 20 Jahre später nicht mehr an diesen erinnern. Clancy (The Trauma Myth, S. 22) berichtet, dass sie bei ihrer Forschung keine Schwierigkeiten hatte, Personen zu finden, die angaben, dass es Zeiten gab, in denen sie den sexuellen Missbrauch vollständig vergessen hatten. Zum „recall bias“ näher: Fergusson / Horwood / Lynskey, Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry 1996, 1365 (1366). Zum Ganzen s. auch Graham, in Bancroft, Sexual Development in Childhood, S. 67 ff. 237 Zur
238 Näher
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auf Selbst- und Fremdberichte nur begrenzt vertraut werden, da – wie die umfangreiche Forschung zur Aussagepsychologie zeigt – die Behauptung, Opfer eines sexuellen Missbrauchs geworden zu sein, bei weitem nicht immer auf ein Erlebnisfundament zurückzuführen ist. Allgemeiner gesprochen, führen Erinnerungsverzerrungen bis hin zur Extremform der falschen Erinnerung zu methodische Schwierigkeiten, die nur schwer überwindbar sind. Erfolgversprechend erscheint insoweit am ehesten die Validierung der Erinnerung anhand von Aktenanalysen, die aber ihrerseits wieder problembehaftet sind. (3) So wie der sexuelle Missbrauch als „unabhängige Variable“242 genau definiert werden muss, so müssen auch die Missbrauchsfolgen als „abhängige Variablen“ definiert und operationalisiert werden. Zwar wird in den konkreten Untersuchungen stets festgelegt, was unter „Schäden“ oder „Missbrauchsfolgen“ zu verstehen ist (wobei zum Teil nur einzelne Folgen in den Blick genommen werden, zum Teil aber auch eine Vielzahl von Folgen untersucht wird), eine abstrakte Definition des „Schadens“ wird jedoch selten vorangestellt.243 Einer der wenigen Vorschläge für eine Arbeitsdefinition des „Schadens“ stammt von Baurmann: „Ein Schaden infolge eines Sexualkontakts ist eine reaktive Störung im sexuellen, sozialen, psychischen und / oder körperlichen Bereich, die schuldhaft bei der geschädigten Person erzeugt wird. Diese Störung wird von der geschädigten Person entweder subjektiv wahrgenommen oder bei ihr mithilfe fachspezifischer, wissenschaftlicher Methoden diagnostiziert. Die Störung kann sowohl in einem direkten als auch in einem indirekten kausalen Zusammenhang mit dem Sexualkontakt stehen.“244
Eine solch weit gefasste Definition ist im vorliegenden Zusammenhang deshalb von Vorteil, weil auch der Begriff der „gestörten Entwicklung“ im Rahmen der Rechtsgutsdiskussion weit verstanden wird. Die weite Definition hat jedoch den Nachteil, tendenziell unbestimmt zu sein. Speziell im Hinblick auf Baurmanns Definition erscheint fraglich, welche Bedeutung der Eingrenzung auf „schuldhaft“ erzeugte Folgen zukommt. Neben der Art der Folgen, die einbezogen werden, ist zu überlegen, in welchem zeitlichen Umfang Folgen des Missbrauchs berücksichtigt werden. Es liegt nahe, dass die Ergebnisse anders ausfallen, wenn man die psychische Situation des Opfers in den Monaten nach der Tat untersucht, als wenn man sie Jahre oder Jahrzehnte später untersucht. So mag es bei manchen 242 Als „unabhängige Variablen“ bezeichnet man in den Humanwissenschaften „diejenigen Merkmale […], deren Auswirkungen auf andere Merkmale – die abhängigen Variablen – überprüft werden sollen“ (Bortz / Schuster, Statistik, S. 7). 243 Baurmann, Sexualität, Gewalt und psychische Folgen, S. 201. 244 Baurmann, Sexualität, Gewalt und psychische Folgen, S. 202.
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Opfern unmittelbar nach der Tat zu starken Symptomen kommen, die mit der Zeit abklingen; bei anderen mögen sich die Auffälligkeiten erst verzögert zeigen, beispielsweise mit Eintritt in die Pubertät oder im Erwachsenenalter, wenn die Tat vom Betroffenen anders verstanden und eingeordnet wird.245 Ein vollständiges Bild lässt sich insoweit nur durch Längsschnittuntersuchungen gewinnen, bei denen eine Kohorte über viele Jahre hinweg begleitet und wiederholt untersucht wird.246 Solche Untersuchungen stoßen jedoch regelmäßig auf praktische Hürden, nicht zuletzt wegen des hohen finanziellen Aufwands, mit dem sie verbunden sind. (4) Des Weiteren gilt es möglichst unverzerrte Ergebnisse hinsichtlich der Folgen zu gewinnen. Auch hierfür ist das Vorliegen einer unverzerrten Stichprobe notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung. Bei der Untersuchung des Vorliegens bestimmter psychischer Symptome können beispielsweise Selbstberichte, Fremdberichte oder objektive Untersuchungsmethoden wie Testverfahren herangezogen werden. Die Ergebnisse können sich in Abhängigkeit von der gewählten Untersuchungsmethode beziehungsweise Operationalisierung deutlich unterscheiden.247 Es stellt sich daher die Frage, wann im Rahmen der Untersuchung das Vorliegen einer bestimmten Missbrauchsfolge bejaht wird.248 (5) Die wohl größte methodische Herausforderung ist die Untersuchung des Kausalzusammenhangs zwischen dem sexuellen Missbrauch und einer festgestellten Folge. Allein dass viele Opfer eines sexuellen Missbrauchs ein bestimmtes Symptom zeigen, sagt nichts darüber aus, ob dieses auf den sexuellen Missbrauch zurückzuführen ist. In statistischen Termini ausgedrückt, lässt eine Korrelation für sich allein keinen Schluss auf die Kausalität zu. Eine hieraus abzuleitende Mindestforderung ist die der Bildung von Vergleichsgruppen, das heißt es sind Vergleichspersonen zu untersuchen, die den Probanden in der Untersuchungsgruppe möglichst stark ähneln, jedoch mit dem Unterschied, dass sie nicht Opfer eines sexuellen Missbrauchs 245 Eingehend zu diesem Phänomen: Clancy, The Trauma Myth, S. 37 ff. et passim; dazu Loftus / Frenda, Science 2010, 1329 f. 246 Näher Kendall-Tackett / Meyer Williams / Finkelhor, in Amann / Wipplinger, Sexueller Missbrauch, S. 179 (207 f.). Eine Langzeituntersuchung findet sich bei Fergusson / Lynskey / Hoorwood, Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry 1996, 1355 ff. und Fergusson / Horwood / Lynskey, Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry 1996, 1365 ff. Eine längsschnittliche und transgenerationale Untersuchung findet sich bei Trickett / Noll / Putnam, Development and Psychopathology 2011, 453 ff. 247 Näher Kendall-Tackett / Meyer Williams / Finkelhor, in Amann / Wipplinger, Sexueller Missbrauch, S. 179 (205 f.). 248 Baurmann (Sexualität, Gewalt und psychische Folgen, S. 409 ff.) hat beispielsweise versucht, unterschiedliche Aspekte in einem Schadensindex zu integrieren.
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geworden sind. Ist dann die Häufigkeit eines Symptoms in der Untersuchungsgruppe höher als in der Vergleichsgruppe, so spricht einiges dafür, dass das Symptom kausal durch den sexuellen Missbrauch bedingt ist. Zwingend ist dieser Schluss indes nicht, insbesondere weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein Umstand den Unterschied bedingt, der bei der Prüfung der „Ähnlichkeit“ beider Gruppen nicht bedacht wurde. Die empirische Forschung hat gezeigt, wie wichtig bei der vorliegenden Fragestellung die Bildung von Vergleichsgruppen ist. Die zunächst feststellbaren deutlichen Unterschiede zwischen Opfern und Nicht-Opfern bei bestimmten Symptomen relativeren sich, wenn man die Herkunft aus bestimmten sozialen Milieus oder prekäre Bedingungen des Aufwachsens als „intervenierende Variable“ berücksichtigt. Es spricht danach viel dafür, dass die ausgeprägte Symptomatik bei manchen Opfern nicht auf den sexuellen Missbrauch, sondern auf ihre schwierigen familiären, sozialen oder emotionalen Ausgangsbedingungen zurückzuführen ist.249 Diese Bedingungen führen nicht nur zu späteren psychischen Auffälligkeiten, sondern begünstigen auch die Viktimisierung, beispielsweise weil sich die Täter gezielt „vulnerable“ Opfer aussuchen.250 Es ist vor dem logischen Fehlschluss „Post-hoc-ergopropter-hoc“ zu warnen.251 Selbst die Beachtung der Forderung nach einer möglichst sorgfältigen Auswahl einer Vergleichsgruppe löst das Kausalitätsproblem jedoch nicht vollständig. Denn der Tat nachfolgende Umstände können zu Verzerrungen führen, insbesondere die Reaktionen der Umwelt, vor allem durch die Organe der Strafrechtspflege.252 So mag das gehäufte Auftreten bestimmter Symptome in der Untersuchungsgruppe im Verhältnis zur Vergleichsgruppe nicht auf die Tat als solche, sondern auf die „sekundäre Viktimisierung“ im Rahmen eines Strafprozesses zurückzuführen sein.253 Umgekehrt können aber auch hilfreiche Reaktionen der Umwelt auf die Tat, beispielsweise durch ein unterstützendes und vertrauensvolles Umfeld, dazu 249 Pointiert bereits Deutscher Bundestag, Beratungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, Protokolle der 28., 29. und 30. Sitzung, S. 914 f. (Schönfelder); s. auch den Überblick bei Hauptmann, Gewaltlose Unzucht, S. 24 f. Eine eingehende empirische Untersuchung zu den Folgen kindlicher Sexualkontakte im Erwachsenenalter unter Berücksichtigung von Alternativursachen findet sich bei Kilpatrick, Long-Range Effects of Child and Adolescent Sexual Experiences. 250 Vgl. Kinzl, in Amann / Wipplinger, Sexueller Missbrauch, S. 167 (168 ff.). Zu Faktoren, die die Vulnerabilität für Misshandlungen und Missbrauch erhöhen: Bagley / Mallick, Child Maltreatment 2000, 218 ff.; Schneider, Kriminalistik 1997, 458 (463). 251 Baurmann, Sexualität, Gewalt und psychische Folgen, S. 193. 252 Näher Lachmann, MSchrKrim 1988, 47 (56 ff.); auch Schneider, Kriminalistik 1997, 458 (464); Jäger-Helleport, Konstruktive Tatverarbeitung, S. 48 f. 253 Zu sekundären Traumatisierungsfolgen näher Bange, Die dunkle Seite der Kindheit, S. 142 ff.; Wilmer, Sexueller Mißbrauch, S. 129 ff.
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führen, dass Langzeitfolgen ausbleiben.254 Es ist unklar, ob und gegebenenfalls wie eine solche „Entwicklungsperspektive“255, die die Missbrauchsfolgen abmildernde (oder verstärkende) Faktoren berücksichtigt, in die empirische Betrachtung einzubeziehen ist. Jedenfalls gilt es, wie Beier / Bosinski / Loewit zutreffend betonen, aber überhaupt zu berücksichtigen, „dass sowohl ungestörtes als auch gestörtes psychisches Befinden und Verhalten stets das Ergebnis eines hochkomplexen, interaktionalen und multifaktoriellen („biopsychosozialen“) Ursachengefüges ist, das sich nicht auf einen einzelnen Faktor (und sei es eine Noxe) reduzieren lässt.“256
Es zeigt sich also, dass die empirische Untersuchung der Folgen des sexuellen Missbrauchs viele methodische Herausforderungen zu bewältigen hat. In den vorliegenden Untersuchungen wird dies in sehr unterschiedlichem Maße berücksichtigt. Die durch methodische Schwächen bedingten Ergebnisverzerrungen dürften indes zumeist zur Überschätzung der Folgen des sexuellen Missbrauchs führen. Umso mehr darf die aus großen und methodisch sorgfältig durchgeführten Untersuchungen gezogene Schlussfolgerung als richtig angesehen werden, dass bei weitem nicht jeder sexuelle Missbrauch eine Entwicklungsstörung nach sich zieht.257 Zugleich bestätigen diese Untersuchungen jedoch auch, dass der sexuelle Missbrauch in vielen Fällen zu zum Teil sehr gravierenden Folgen für die Gesamtentwicklung des Opfers führt. c) Kritik der Rechtsgutsauffassung Die Rechtsgutsauffassung, die die „ungestörte (sexuelle) Entwicklung“ als Rechtsgut des § 176 StGB ansieht, steht in Gefolgschaft zur Strafrechtsreform und der dort verfolgten Leitidee, dass strafrechtliche Verbote nur dann legitim sind, wenn sie sozialschädliches Verhalten pönalisieren. Das darin zum Ausdruck kommende freiheitliche Denken ist begrüßenswert, ebenso wie die in der Strafrechtsreform erreichte Abschaffung von Vorschriften, die lediglich als unanständig oder unmoralisch wahrgenommenes Verhalten unter Strafe stellten. Ob zugleich das wiederholt eng mit der Strafrechtsreform verbundene Postulat zutrifft, dass der Staat nur Verhalten unter Strafe stellen darf, dessen Sozialschädlichkeit positiv erweislich ist, wobei ihn die Beweislast trifft,258 erscheint zweifelhaft.259 Dies bedarf aber Mullen, in Amann / Wipplinger, Sexueller Missbrauch, S. 301 (310 f.). in Amann / Wipplinger, Sexueller Missbrauch, S. 301 (303). 256 Beier / Bosinski / Loewit, Sexualmedizin, S. 560. 257 Vgl. auch Bange, Die dunkle Seite der Kindheit, S. 144 f. 258 So etwa Baumann, ZRP 1971, 129 (130); Gehrhardt, NJW 1975, 375 (376 f.); Klug, in Bauer / Bürger-Prinz / Giese / Jäger, Sexualität und Verbrechen, S. 27 (31 f.); 254 Vgl.
255 Mullen,
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an dieser Stelle keiner abschließenden Klärung. Im Vordergrund steht hier vielmehr die Frage, ob mit der „ungestörten Entwicklung“ beziehungsweise der „ungestörten sexuellen Entwicklung“ das Rechtsgut des § 176 StGB zutreffend beschrieben ist. 259
Zugunsten dieser Rechtsgutsauffassung können ihre Vertreter auf den Qualifikationstatbestand des § 176a Abs. 2 Nr. 3 StGB verweisen, in dem eine Strafschärfung für den Fall der Gefahr des Eintritts bestimmter Tatfolgen vorgesehen ist.260 Diese Qualifikation verdeutlicht, dass zumindest ein Zweck des Verbots des sexuellen Kindesmissbrauchs in der Verhinderung körperlicher und seelischer Folgen beim Tatopfer liegt. Gegen diese Rechtsgutsauffassung spricht zudem nicht, dass es Fälle gibt, in denen die Entwicklung des Kindes bereits vor der Tat „gestört“ ist, denn Rechtsgüter sind relativ und nicht absolut zu verstehen.261 So ist bei einer bereits gestörten Entwicklung eine Intensivierung der Störung beziehungsweise die Zufügung eines weiteren Traumas möglich. Dementsprechend ist anerkannt, dass auch sexuelle bereits erfahrene Kinder taugliche Opfer einer Tat nach § 176 StGB sein können.262 Demgegenüber könnten aus der Erfolgsqualifikation des § 176b StGB (sexueller Missbrauch mit Todesfolge) Einwände gegen die Ansicht abgeleitet werden, dass das Rechtsgut des § 176 StGB in der „ungestörten (sexuellen) Entwicklung“ zu erblicken sei. So ließe sich argumentieren, dass es in den Fällen, in denen durch den sexuellen Missbrauch der Tod des Kindes verursacht wird, keine (weitere) Entwicklung des Kindes gibt, die gestört werden könnte. Gegen eine solche Sichtweise spricht indes, dass die Herbeiführung des Todes des Kindes als maximale Störung seiner weiteren Entwicklung begriffen werden kann. Zudem kann durchaus eine gewisse Zeitspanne zwischen der Tat und dem Tod des Kindes liegen, in der sich andere negative Tatfolgen manifestieren. Zu denken ist insbesondere an den von der ganz herrschenden Meinung als im Sinne des § 176b StGB tatbeKöhne, JR 2012, 325 (326); Rudolphi, FS Honig, S. 161 Anm. 42; Schneider, FS zum 100jährigen Bestehen des DJT, Bd. II, S. 263 (280). 259 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 326 ff.; Günther, JuS 1978, 8 (10); Hirsch, ZStW 88 (1976), 761 (763); Müller-Emmert, GA 1976, 291 (299); Kramer, Sexualdelikte, S. 40 f. Eingehend Jäger, FS Klug, S. 83 (91 ff.); Stephan, Sexueller Mißbrauch von Jugendlichen, S. 156 ff. 260 Dass die Tatfolgen der Sexualdelikte für den Gesetzgeber eine wichtige Rolle spielen, ergibt sich auch aus § 80 Abs. 3 JGG sowie den (für verfassungswidrig erklärten) Regelungen zur Sicherungsverwahrung, insofern als dort auf Straftaten Bezug genommen wird, durch welche die Opfer körperlich oder seelisch schwer geschädigt werden (zum Beispiel § 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB). 261 s. dazu B. II. 1. b) dd). 262 Näher D. II. 1. b).
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standsmäßig erachteten263 Fall, dass das Tatopfer durch Suizid aus dem Leben scheidet, weil es den Gedanken nicht erträgt, mit der Erinnerung an das Erlebte weiterleben zu müssen. Die vorgenannten Aspekte stützen die Ansicht, dass das Rechtsgut des § 176 StGB die „ungestörte (sexuelle) Entwicklung“ ist. Diese Rechtsgutsauffassung begegnet aber auch einer Reihe von Bedenken, die im Folgenden erörtert werden sollen. aa) Die widerstreitende empirische Befundlage Der Haupteinwand gegen diese Rechtsgutsauffassung besteht darin, dass sie nicht mit der empirischen Befundlage in Einklang zu bringen ist.264 Bereits die Grundannahme, dass die Entwicklung der Sexualität endogen verläuft und dass äußere Einflüsse auf diese Entwicklung daher als Beeinträchtigungen eines Reifungsprozesses anzusehen sind, widerspricht dem psychologischen Erkenntnisstand.265 Die Entwicklung des Kindes findet vielmehr im Zusammenspiel exogener und endogener Faktoren statt, wobei sich eine gesunde Entwicklung durch einen Gleichlauf derselben auszeichnen dürfte. Damit ist gemeint, dass Kinder nur mit exogenen Reizen konfrontiert werden, mit denen sie aufgrund ihres (inneren) Entwicklungsstandes umgehen können; sie aber andererseits – wie es auch einer modernen Sexualerziehung entspricht266 – nicht künstlich von äußeren Einflüssen isoliert werden, für die sie ein (inneres) Interesse entwickelt haben.267 Die empirische Forschung zeigt weiter, dass der Versuch, Kinder von äußeren sexuellen Einflüssen zu isolieren, nur begrenzt gelingt. Kinder suchen bereits früh exogene Reize, insbesondere in Form des „Austauschs“ mit Gleichaltrigen bei sogenannten Doktorspielen.268 Mag man diesen 263 Fischer, StGB, § 176b Rn. 3; Laubenthal, Sexualstraftaten, Rn. 399; Lackner / Kühl, § 176b Rn. 1; LK / Hörnle, § 176b Rn. 5; Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176b Rn. 2; MK / Renzikowski, § 176b Rn. 7; Schönke / Schröder / Eisele, § 176b Rn. 2; SK / Wolters, § 176b Rn. 2; a. A. LK / Laufhütte (11. Aufl.), § 176 Rn. 27. 264 s. auch Finkelhor, American Journal of Orthopsychiatry 49 (1979), 692 (693) zu inadäquaten Begründungen des Verbots von Sexualkontakten zwischen Kindern und Erwachsenen. 265 Baurmann, Sexualität, Gewalt und psychische Folgen, S. 72; s. auch Hörnle, FS Eisenberg, S. 321 (332 f.). 266 Vgl. Wanzeck-Sielert, in Schmidt / Sielert, Handbuch Sexualpädagogik und sexuelle Bildung, S. 571 (576); Milhoffer, in Schmidt / Sielert, Handbuch Sexualpädagogik und sexuelle Bildung, S. 582 f.; Sielert, Einführung in die Sexualpädagogik, S. 165 ff. Allgemein zur Sexualerziehung: Martinson, The Sexual Life of Children, S. 101 ff. 267 Vgl. Baurmann, Sexualität, Gewalt und psychische Folgen, S. 72 f. 268 s. dazu unter C. II. 1. b) aa).
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Spielereien noch den sexuellen Charakter absprechen, so zeigen sich doch in nicht wenigen Fällen auch „eindeutig“ sexuelle Kontakte wie Petting oder Geschlechtsverkehr vor Erreichen der Schutzaltersgrenze.269 Diese Entwicklung kann bereits wegen ihrer statistischen Normalität nicht per se als pathologisch oder gestört angesehen werden. Auch in der psychologischen Literatur wird es als normal für den Verlauf der sexuellen Entwicklung angesehen, wenn ab dem Alter von 13 Jahren Verhaltensweisen wie „[g]egenseitiges Masturbieren, Küssen, Petting, […], Geschlechtsverkehr“270 erfolgen. Andererseits zeigt sich, dass sexuelle Kontakte von Kindern mit Erwachsenen nicht Bestandteil einer „normalen“, ungestörten sexuellen Entwicklung sind, sondern vielmehr ein erhebliches Potential haben, psychische, physische und soziale Auffälligkeiten herbeizuführen. Damit drängt sich die Frage auf, wo die Grenze zwischen einer ungestörten und einer gestörten sexuellen Entwicklung zu ziehen ist. Die Humanwissenschaften vermögen diese Frage weder empirisch noch normativ zu beantworten, sodass als unklar anzusehen ist, wann eine ungestörte sexuelle Entwicklung vorliegt.271 Für die Auffassung, die als Rechtsgut des § 176 StGB die „ungestörte (sexuelle) Entwicklung“ ansieht, bedeutet dies, dass sie von einem Rechtsgut ausgeht, dessen Konturen unzureichend bestimmt sind. Damit ist aber die Eignung des Rechtsguts, als Auslegungshilfe zu dienen, in erheblichem Maße in Frage gestellt. Noch gravierender ist der Einwand gegen diese Rechtsgutsauffassung, dass, wie zahlreiche empirische Untersuchungen zeigen,272 bei weitem nicht jede tatbestandsmäßige Handlung nachteilige psychische Folgen mit sich bringt.273 Wenn dieser Einwand von den Vertretern dieser Rechtsgutsauffassung erörtert wird, wird zumeist darauf hingewiesen, dass § 176 StGB ein abstraktes Gefährdungsdelikt – beziehungsweise Risikodelikt274 – sei, 269 s.
dazu unter C. II. 1. b) aa). in Amann / Wipplinger, Sexueller Missbrauch, S. 449 (455); Gordon / Schroeder, Sexuality. A Developmental Approach to Problems, S. 2. 271 Zutreffend SK / Wolters, § 176 Rn. 2; ähnlich Frommel, FS Heinz, S. 71 (83). früher auch MK / Renzikowski (1. Aufl.), § 176 Rn. 3; Sick / Renzikowski, FS Schroe der, S. 603 (607); s. nun aber MK / Renzikowski, § 176 Rn. 3. 272 Dazu soeben eingehend unter C. II. 1. b). 273 s. eingehend Hörnle, FS Eisenberg, S. 321 (329 f.); MK / Renzikowski, vor § 174 Rn. 28; vgl. auch Funcke-Auffermann, Symbolische Gesetzgebung, S. 112; Jäger-Helleport, Konstruktive Tatverarbeitung, S. 44 ff. 274 Schönke / Schröder / Perron / Eisele (28. Aufl.), § 176 Rn. 1; SK / Wolters, § 176 Rn. 2. Zum Begriff des Risikodelikts Armin Kaufmann, JZ 1971, 569 (576), der unter diesem Begriff einen Vorschlag zur Schaffung eines neuen Deliktstypus unterbreitet, s. auch unter C. III. 1. 270 Volbert,
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bei dem es auf den tatsächlichen Eintritt des „Erfolgs“ nicht ankomme.275 Der Täter könne sich daher nicht damit exkulpieren, dass die für die Pönalisierung maßgeblichen Folgen beim Tatopfer nicht eingetreten sind.276 Diese Argumentation ist insoweit folgerichtig, als dass § 176 StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt eingeordnet werden muss, wenn man die „ungestörte (sexuelle) Entwicklung“ als das geschützte Rechtsgut ansieht.277 Jedoch ist hierdurch nicht belegt, dass das Rechtsgut korrekt bestimmt ist. Vielmehr verbleiben Zweifel, ob angesichts der empirischen Befundlage das Rechtsgut mit der „ungestörten (sexuellen) Entwicklung“ zutreffend beschrieben ist. Dass die herrschende Meinung trotz der widerstreitenden empirischen Befundlage der Ansicht ist, dass § 176 StGB das Rechtsgut der „ungestörten (sexuellen) Entwicklung“ schützt, erklärt sich durch die Gesetzgebungshistorie. Als es den Tatbestand des sexuellen Kindesmissbrauchs durch die Sozialschädlichkeit des Täterverhaltens zu legitimieren galt, erschien es plausibel, die ungestörte Entwicklung des Kindes als tangiert anzusehen.278 Diese Plausibilität rührt daher, dass (durchaus zutreffende) Einzelfallschilderungen, bei denen ein Kindesmissbrauch gravierende Folgen für das Tatopfer nach sich gezogen hat, starke Verbreitung finden. Solche kasuistischen Berichte verleiten zu der irrigen Annahme, dass solche Fälle durchgängig Folge eines Kindesmissbrauchs sind. Der Grund für diesen Fehlschluss liegt darin, dass eine solche Annahme nicht mit wissenschaftlichen Methoden hinterfragt wird. So wird verkannt, dass Zusammenhänge, die in einer Reihe von Fällen der traurigen Wirklichkeit entsprechen, nicht unterschiedslos verallgemeinerungsfähig sind. Als sich im Rahmen der Anhörung von Wissenschaftlern in der Reformdiskussion diese Annahme in ihrer Rigidität und Eindimensionalität nicht aufrecht erhalten ließ, setzte sich der Gesetzgeber darüber ohne weitere Begründung hinweg und propagierte weiterhin die ungestörte Entwicklung als Rechtsgut des § 176 StGB.279 Der Grund hierfür dürfte in der festen Überzeugung der Reformer gelegen haben, dass der sexuelle Kindesmissbrauch strafwürdig und -bedürftig ist.280 Auch wenn dieser Ansicht im Er275 Vgl. Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 10 Rn. 4; LK / Hörnle, vor § 174 Rn. 36; Schönke / Schröder / Eisele, § 176 Rn. 1a. 276 Vgl. Campbell, Der intrafamiliäre sexuelle Kindesmißbrauch, S. 54 f.; Hermann-Kolb, Systematik, S. 106; Hörnle, NStZ 2000, 310; Pape, Legalverhalten, S. 28; Schönke / Schröder / Eisele, § 176 Rn. 1a; SK / Wolters, § 176 Rn. 2. 277 s. näher unter C. III. 278 s. zu den historischen Ursprüngen der Rechtsgutsauffassung auch Schetsche, MSchrKrim 1994, 201 (204). 279 Vgl. Dannecker, Das Drama der Sexualität, S. 78. 280 Vgl. Dannecker, Das Drama der Sexualität, S. 78 f.
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gebnis sicherlich zuzustimmen ist,281 haben die Reformer damit ihr grundlegendes Ansinnen, Strafnormen rational über eine belegbare Sozialschädlichkeit zu begründen, nicht konsequent umgesetzt.282 Die sehr strengen – möglicherweise überzogenen283 – Anforderungen an legitime Strafnormen, insbesondere im Hinblick auf den Schädlichkeitsnachweis,284 konnten aufgrund der empirischen Befundlage nicht mehr eingehalten haben. Im vorliegenden Zusammenhang kommt dieser kriminalpolitischen Dimension nur insoweit Bedeutung zu, als sie erklärt, warum das Rechtsgut von der herrschenden Meinung in der „ungestörten Entwicklung“ erblickt wird. Es zeigt sich also, dass diese Rechtsgutauffassung in kriminalpolitischen Erwägungen wurzelt, die strafrechtsdogmatische Dimension des Rechtsgutsbegriffs bei ihrer Genese also nicht im Vordergrund stand und wohl auch nicht bedacht wurde. Zudem wurde sich aus kriminalpolitischen Gründen auch über die widerstreitende empirische Befundlage hinweggesetzt. bb) Abgleich mit den Konstruktionsprinzipien des Rechtsguts Eine Rechtsgutsbestimmung muss sich nach der hier vertretenen Auffassung an den aufgestellten Konstruktionsregeln für das Rechtsgut messen lassen.285 Zunächst erweist sich die sprachliche Fassung des Rechtsguts als problematisch, denn der Begriff der „ungestörten (sexuellen) Entwicklung“ ist unbestimmt und wird seitens der Vertreter dieser Rechtsgutsauffassung regelmäßig auch nicht präzisiert.286 Diese „Unklarheit“ der Rechtsgutsbestimmung wird mitunter auch von ihren Anhängern eingeräumt, so von Frommel, die von einem „denkbar diffusen Rechtsgut“ spricht.287 Eine Entwicklung ist bereits begrifflich etwas Dynamisches, Wandelbares oder Prozesshaftes; folglich ist dem Entwicklungsbegriff eine gewisse Konturenlosigkeit inhärent. Fischer weist daher zutreffend darauf hin, dass zumindest ein „Entwicklungs-Ziel“ angegeben werden müsse, um den Begriff der se281 A. A. Lautmann, ZRP 1980, 44 (47); ders., Der Zwang zur Tugend, S. 92 ff.; s. dazu Arntzen, ZRP 1980, 287 f. 282 Hörnle (in FS Eisenberg, S. 321 [330]) spricht zutreffend von einem „Bruch in der Argumentationslogik“. 283 Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 10 Rn. 6 f. 284 Gleichwohl finden sich entsprechende Ansprüche noch im aktuellen Schrifttum; s. etwa Funcke-Auffermann, Symbolische Gesetzgebung, S. 115 f. 285 s. dazu oben B. II. 1. b). 286 Vgl. auch Funcke-Auffermann, Symbolische Gesetzgebung, S. 109, 115. Vgl. weiter Bloy, FS Eser, S. 233 (250); SK / Wolters, § 184g Rn. 11. 287 Frommel, in Salgo, Vom Umgang der Justiz mit Minderjährigen, S. 31 (33) = KritV 1995, 177 (181); s. auch Ilg, Der strafrechtliche Schutz, S. 41.
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xuellen Entwicklung nicht im Ungewissen zu belassen.288 Dies unterbleibt aber zumeist, sodass das Rechtsgut unbestimmt bleibt.289 Abhilfe könnte insoweit dadurch geschaffen werden, dass das Rechtsgut wie auch bei anderen Strafnormen als etwas Statisches beschrieben wird, und zwar unabhängig von der Dynamik, die den zugrundeliegenden Phänomenen in der Realität innewohnt.290 Zudem ist unklar, wann eine solche Entwicklung gestört ist, also wann es sich nicht mehr um eine ungestörte beziehungsweise normale Entwicklung handelt.291 Im Einzelnen bleibt insbesondere offen, welche Phänomene unter den Begriff der Entwicklungsstörung zu subsumieren sind und wie dieser Begriff in zeitlicher Hinsicht aufzufassen ist, also ob ihm beispielsweise eine punktuelle oder perspektivische Betrachtung zugrundeliegt.292 Diese Unbestimmtheit zeigt sich auch an der terminologischen Uneinheitlichkeit bei der Bezeichnung des Rechtsguts.293 Diese Unbestimmtheit ist insofern problematisch, als sie die Handhabung des Rechtsguts bei der Tatbestandsauslegung erschwert. Zudem ist die hier diskutierte Rechtsgutsauffassung mit der Konstruktionsregel, dass das Rechtsgut so zu bestimmen ist, dass sich sämtliche tatbestandsmäßigen Handlungen als Verletzung oder Gefährdung des Rechtsguts darstellen, nicht zu vereinbaren.294 Zunächst kann hier nochmals auf den bereits erörterten295 Widerstreit der der Rechtsgutsauffassung zu Grunde liegenden Annahmen mit der empirischen Befundlage verwiesen werden. Damit ist der Widerstreit mit der vorgenannten Konstruktionsregel noch nicht erschöpfend dargestellt. So kann danach differenziert werden, ob der Eintritt von negativen Folgen einer tatbestandsmäßigen Handlung nur unwahrscheinlich oder aber ausgeschlossen ist. In den bislang erörterten Fällen lässt sich bei einer ex-ante Betrachtung allenfalls sagen, dass der Eintritt von Störungen unwahrscheinlich ist. Dies betrifft etwa die Konstellation der einvernehmlichen sexuellen Kontakte von Kindern mit nahezu Gleichaltrigen.296 Mit 288 Fischer,
StGB, § 182 Rn. 2. (StGB, § 182 Rn. 2) erblickt das Entwicklungsziel in einem selbst bestimmten Sexualleben bzw. in der Herausbildung einer „eigenverantwortlichen sexuellen Identität junger Menschen“. 290 s. dazu oben B. II. 1. b) dd). 291 Vgl. Beck, Die sexuelle Handlung, S. 70; Funcke-Auffermann, Symbolische Gesetzgebung, S. 112; Gnüchtel, Jugendschutztatbestände, S. 115; SK / Wolters, § 184g Rn. 11; Stephan, Sexueller Mißbrauch von Jugendlichen, S. 77; Wilmer, Sexueller Mißbrauch, S. 26. 292 s. dazu bereits näher oben C. II. 1. a). 293 s. dazu bereits näher oben C. II. 1. a). 294 s. dazu B. II. 1. b) bb). 295 Vorstehend unter C. II. 1. c) aa). 296 Dazu NK / Frommel, § 176 Rn. 10. 289 Fischer
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Hörnle297 ließen sich hier auch Taten einordnen, bei denen für den Eintritt von Entwicklungsstörungen relevante tatbezogene Faktoren nur schwach ausgeprägt sind, also Missbrauchsfälle, bei denen es sich um einen einmaligen Vorfall ohne Vertrauensmissbrauch und um ein in der sexuellen Intensität eher geringfügiges Vorgehen handelt. Des Weiteren können hier „sexuelle Handlungen ohne Körperkontakt, etwa exhibitionistische Handlungen (§ 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB) gegenüber Kindern“298 genannt werden. Diesen Fällen ist gemein, dass die Wahrscheinlichkeit einer Entwicklungsstörung sehr gering ist, wobei dies bei den einvernehmlichen sexuellen Kontakten von Kindern mit nahezu Gleichaltrigen noch evidenter ist als bei den von Hörnle aufgeführten Fällen. In all diesen Fällen lässt sich allerdings einwenden, dass mit dem tatbestandsmäßigen Verhalten eine – wenn auch geringe – abstrakte Gefahr einer Entwicklungsstörung vorliegt, sodass die Konstruktionsregel nicht verletzt ist. Dass diese Eintrittswahrscheinlichkeit gering ist, kann zwar zu Schwierigkeiten bei der kriminalpolitischen Begründung der Legitimität der Norm führen,299 bedeutet jedoch für sich genommen nicht bereits, dass die Rechtsgutsbestimmung zu korrigieren wäre.300 Anders liegt dies in den Fällen, in denen der Eintritt einer Entwicklungsstörung ausgeschlossen ist und die im Übrigen auch in den empirischen Untersuchungen wohl nie Berücksichtigung finden. Gemeint sind beispielsweise sexuelle Handlungen an tief schlafenden, bewusstlosen oder narkotisierten Kindern.301 In diese Kategorie fallen auch sexuellen Handlungen an Säuglingen und Kleinstkindern, jedenfalls soweit diese Taten nicht mit körperlichen Misshandlungen einhergehen. In diesen Fällen, in denen die Tat vom Opfer weder wahrgenommen, verstanden noch erinnert werden kann, sind unmittelbare psychische Folgen durch die Tat, also auch eine Störung der (sexuellen) Entwicklung, ausgeschlossen. Hier ließe sich allenfalls damit argumentieren, dass die Taten über das Unbewusste (in der Alltagssprache: „Unterbewusstsein“) einen Einfluss auf das Kind ausüben können.302 Eine solche Argumentation ist jedoch in Ermangelung einer empirischen Stütze rein spekulativ und daher abzuleh297 Hörnle,
FS Eisenberg, S. 321 (330). FS Eisenberg, S. 321 (330). 299 Hörnle, FS Eisenberg, S. 321 (329 f.). 300 Es handelt sich insoweit lediglich um ein allgemeines Problem abstrakter Gefährdungsdelikte (vorausgesetzt man sieht § 176 StGB als ein solches an), das sich auch bei anderen Tatbeständen stellt, etwa bei der Brandstiftung einer gut einsehbaren Ein-Raum-Hütte oder dem Führen eines Kraftfahrzeugs im absolut fahruntüchtigen Zustand, das jedoch nachts auf dem Feldweg und mit Schrittgeschwindigkeit erfolgt. 301 Dazu eingehend unten D. II. 1. a). 302 Beck, Die sexuelle Handlung, S. 93 f. 298 Hörnle,
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nen.303 Ebenso wenig würde es überzeugen, wenn die abstrakte Gefahr einer Entwicklungsstörung in diesen Fällen im Hinblick darauf bejaht würde, dass das Kind später von der Tat erfahren und dann eine Störung entwickeln könnte oder im Hinblick darauf, dass das Kind soziale Schwierigkeiten erfährt, wenn Dritte von der Tat erfahren. Eine solche Argumentation überzeugt nicht, weil die Entwicklungsstörung bei einem solchen Verlauf nicht unmittelbar auf die Tat zurückzuführen und nicht dem Täter zuzurechnen ist,304 sondern vielmehr auf späteren – von der Tat losgelösten – Ereignissen beruht. Festzuhalten bleibt also, dass es Fälle gibt, in denen die Gefahr des Eintritts einer Entwicklungsstörung praktisch ausgeschlossen ist, die aber gleichwohl (im Ergebnis zutreffend) für strafwürdig und tatbestandsmäßig erachtet werden. Auch wenn diese Taten nur einen kleinen Bruchteil aller Missbrauchstaten ausmachen, kommen sie durchaus vor und sind deshalb bei der Kritik dieser Rechtsgutsauffassung zu berücksichtigen. Im Ergebnis verletzt damit die Ansicht, die die „ungestörte (sexuelle) Entwicklung“ für das Rechtsgut des § 176 StGB hält, die Konstruktionsregel, dass jedes tatbestandsmäßige Verhalten mit einer Verletzung oder Gefährdung des Rechtsguts einhergehen muss. Damit zeigt sich, dass der Schutz der ungestörten Entwicklung des Kindes nicht das Rechtsgut des § 176 StGB, sondern lediglich ein, wenn auch gewichtiges, „gesetzgeberisches Motiv“305 für die Pönalisierung des sexuellen Kindesmissbrauchs darstellt. 2. Die sexuelle Selbstbestimmung als Rechtsgut des § 176 StGB Einer verbreiteten Gegenansicht zufolge soll das Rechtsgut des § 176 StGB nicht in der „ungestörten (sexuellen) Entwicklung“, sondern in der sexuellen Selbstbestimmung zu erblicken sein.306 Die sexuelle Selbstbe303 So auch BGHSt 38, 68 (70); a. A. Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 1, § 17 Rn. 28. 304 Vgl. zum Problem der Unterbrechnung des Zurechnungszusammenhangs durch eigenverantwortliches Dazwischentreten eines Dritten Frister, Strafrecht AT, 10. Kap. Rn. 10 ff.; Kühl, Strafrecht AT, § 4 Rn. 49 ff., 67 f.; Wessels / Beulke / Satzger, Strafrecht AT, Rn. 192. 305 s. zu diesem Begriff eingehend oben B. II. 1. a) bb). 306 So etwa Hörnle, FS Eisenberg, S. 321 (334 f.); MK / Renzikowski, § 176 Rn. 1; LK / Hörnle, § 176 Rn. 3; Nelles, Streit 1995, 91 (101); Sick / Renzikowski, FS Schroeder, S. 603 (611 ff.); dem zuneigend wohl auch AnwKomm / Deckers, § 176 Rn. 7; Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176 Rn. 4; NK / Frommel, § 176 Rn. 10; (deutlicher: Frommel, FS Heinz, S. 71 [83]) sowie Ilg, Der strafrechtliche Schutz, S. 42. Nach Schönke / Schröder / Eisele, § 176 Rn. 1a ist die sexuelle Selbstbestimmung neben der ungestörten sexuellen Entwicklung „berührt“. Der BGH (NStZ 2013,
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stimmung ist ein Kernbegriff der Reform des Sexualstrafrechts in den 1970er Jahren und steht damit für die Abkehr vom Sittlichkeitsbegriff. Ob der Begriff der sexuellen Selbstbestimmung auch zur Umschreibung des Rechtsguts des § 176 StGB geeignet ist, bedarf jedoch näherer Überprüfung. Hierzu sind zunächst Bedeutung und Konturen des Begriffs zu klären. Bei näherer Auseinandersetzung mit dem Begriff der sexuellen Selbstbestimmung zeigt sich, dass er in zwei unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird. Zum einen legt das Gesetz in der Abschnittsüberschrift einen weiten Begriff der sexuellen Selbstbestimmung zugrunde, unter dem „verschiedene Facetten“307 zusammengefasst werden. Zum anderen gibt es einen engen Begriff der sexuellen Selbstbestimmung, der vor allem bei der Benennung des Rechtsguts des Tatbestands der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung (§ 177 StGB)308 zum Tragen kommt. Diese Begriffe sollen im Folgenden als die sexuelle Selbstbestimmung im weiten Sinn und im engeren Sinn bezeichnet werden.309 Die Untersuchung der Tauglichkeit des Begriffs der sexuellen Selbstbestimmung zur Bezeichnung des Rechtsguts des § 176 StGB hat demnach zwischen diesen beiden Begriffen zu differenzieren. Es ist unklar, in welchem Sinn die sexuelle Selbstbestimmung gemeint ist, wenn sie als Rechtsgut des § 176 StGB bezeichnet wird. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Vertreter dieser Rechtsgutsauffassung die sexuelle Selbstbestimmung im weiteren Sinn als Rechtsgut des § 176 StGB ansehen. Dafür spricht die von ihnen vorgenommene extensive Auslegung des Begriffs, die sogleich erläutert wird. a) Die sexuelle Selbstbestimmung im weiteren Sinn aa) Erläuterung In einem weit verstandenen Sinn kann die sexuelle Selbstbestimmung als Freiheit auf sexuellem Gebiet definiert werden, also als „die Freiheit der Person, über Ort, Zeit, Form und Partner sexueller Betätigung frei zu entscheiden“.310 Diese Definition kann im Zusammenhang des Sexualstraf224 [225]) hat kürzlich geäußert, dass die von § 176 StGB erfassten Straftaten nicht „ausschließlich gegen die sexuelle Selbstbestimmung gerichtet“ seien. 307 MK / Renzikowski, vor § 174 Rn. 8. 308 s. dazu nur Fischer, StGB, § 177 Rn. 2; LK / Hörnle, § 177 Rn. 1; MK / Renzikowski, § 177 Rn. 1; Pott, KritV 1999, 91 (102). 309 Vgl. auch Brüggemann, Entwicklung und Wandel, S. 93; Laubenthal, Handbuch, Rn. 30 u. 95. 310 Fischer, StGB, vor § 174 Rn. 5; ders., ZStW 112 (2000), 75 (87); ähnlich Gnüchtel, Jugendschutztatbestände, S. 110; Kieler, Tatbestandsprobleme, S. 35; Kind-
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rechts weiter dahingehend präzisiert werden, dass es um die Freiheit geht, sich gegen eine sexuelle Betätigung beziehungsweise eine sexuelle Begegnung zu entscheiden.311 Im 13. Abschnitt des Strafgesetzbuchs geht es um den Schutz dieses Abwehrrechts gegen Einschränkungen der Freiheit auf sexuellem Gebiet.312 Die positive Freiheit, sexuelle Handlungen wunschgemäß vornehmen zu können, wird hingegen allenfalls im Rahmen des § 240 StGB geschützt.313 Damit kann die sexuelle Selbstbestimmung im weiteren Sinn noch präziser als „Freiheit vor Fremdbestimmung auf sexuellem Gebiet“314 oder etwas pathetischer als „Freiheit davor, zum Objekt fremdbestimmter sexueller Übergriffe herabgewürdigt zu werden“315 umschrieben werden.316 Ein weites Verständnis der sexuellen Selbstbestimmung führt dazu, dass eine große Bandbreite unerwünschter Verhaltensweisen im sexuellen Bereich als Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung aufgefasst werden können. Die Weite des Begriffs lässt sich exemplarisch an dessen Erläuterung durch Bottke illustrieren: „Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung bewahrt als Abwehr- und Menschenrecht jeden Menschen vor sexueller Fremdbestimmung. Es beschützt ihn davor, dass eines seiner Sexualgüter von einem anderen Menschen einstimmungslos unbefugt gebraucht, genutzt oder affiziert wird oder werden wird. Es ist von allen Handlungsfähigen zu achten, die es unternehmen könnten, mit fremdem Sexualgut zu verfahren. Es garantiert jedem Menschen, der vorrechtlich Sexualeigner ist, die negative Sexualhoheit über jedes seiner Sexualgüter. Negative Sexualhoheit steht auch Einstimmungs- oder Stimmunfähigen zu.“317
Die sexuelle Selbstbestimmung wird bei diesem weiten Verständnis im Sinne einer Verhaltensanforderung an dritte Personen ausgelegt.318 Dies ist häuser, Strafrecht BT I, § 20 Rn. 1; Sick, Sexuelles Selbstbestimmungsrecht, S. 87; dies., ZStW 103 (1991), 43 (51). 311 Sick / Renzikowski, FS Schroeder, S. 603 (604). 312 Fischer, ZStW 112 (2000), 75 (87); Laubenthal, Handbuch, Rn. 29; LK / Hörnle, vor § 174 Rn. 28; dies., FS Eisenberg, S. 321 (335); Maurach / Schroe der / Maiwald, Strafrecht BT / 1, § 17 Rn. 16; MK / Renzikowski, vor § 174 Rn. 8; Oberlies, ZStW 114 (2002), 130 (146); Schönke / Schröder / Eisele, vor § 174 Rn. 1b. 313 Dieser Schutz erfasst im Hinblick auf § 240 Abs. 2 StGB und etwaige Rechtfertigungsgründe im Ergebnis nur sexuelle Handlungen, die mit der Rechtsordnung im Einklang stehen. Die in Betracht kommenden Fälle dürften rar sein. Zu denken wäre etwa daran, dass jemand aus religiöser Überzeugung ein unverheiratetes Liebespaar mit Gewalt oder Drohung davon abhält (oder davon abhalten will [§ 240 Abs. 3 StGB]), miteinander sexuelle Handlungen vorzunehmen. 314 Laubenthal, Handbuch, Rn. 29; Sick, ZStW 103 (1991), 43 (51); Ilg, Der strafrechtliche Schutz, S. 27. 315 MK / Renzikowski, vor § 174 Rn. 8. 316 Vgl. auch Sick, ZStW 103 (1991), 43 (51). 317 Bottke, FS Otto, S. 535 (536). Zum Konzept der Sexualhoheit, s. auch ders., in Schünemann / Dubber, Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem, S. 231 ff.
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bemerkenswert, denn damit wird nicht mehr der Rechtsgutsträger, also das „Opfer“, sondern der „Täter“ fokussiert, der das Rechtsgut zu beeinträchtigten droht. Während eigentlich mit dem Rechtsgut das bezeichnet werden soll, was die Strafnorm schützt, erfolgt hier bei näherer Betrachtung eine Umschreibung des inkriminierten Täterverhaltens. Dies dürfte dem Umstand geschuldet sein, dass nur über das unerwünschte Täterverhalten beschrieben werden kann, was die „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ eint. 318
Dieser Konzeption liegt der Gedanke zugrunde, dass das unerwünschte Täterverhalten dadurch gekennzeichnet ist, dass eine sexuelle Interaktion ohne „selbstbestimmte“ Zustimmung aller Beteiligten stattfindet. Derjenige, der ohne seine selbstbestimmte Zustimmung in eine sexuelle Interaktion einbezogen wird, wird damit zum Opfer eines Angriffs auf seine sexuelle Selbstbestimmung. Dieser Gedankengang muss um eine normative Annahme ergänzt werden, wie sich gerade beim Tatbestand des § 176 StGB zeigt. Da diese Norm gerade kein Handeln gegen den (natürlichen) Willen des Kindes voraussetzt, müssen Anforderungen an eine wirksame Zustimmung beziehungsweise Einwilligung formuliert werden. Dies geschieht seitens der Vertreter dieser Rechtsgutsauffassung dadurch, dass Kindern generell die Fähigkeit abgesprochen wird, einer sexuellen Handlung zuzustimmen.319 Sexuelle Handlungen mit Kindern würden deshalb stets ohne deren (wirksame) Zustimmung und daher fremdbestimmt erfolgen.320 Die fehlende Möglichkeit einer wirksamen Einwilligung des Kindes wird vor allem mit den unzureichenden kognitiven und psychischen Fähigkeiten begründet, derer es für Beurteilungen und Entscheidungen bedürfe.321 Hörnle fasst diesen Standpunkt folgendermaßen zusammen: „Kinder können in sexuelle Aktivitäten nicht wirksam einwilligen, entweder weil ihnen das Wissen um die soziale Bedeutung sexueller Handlungen fehlt oder weil sie im Verhältnis zu Erwachsenen und Jugendlichen infolge des altersbedingten Machtunterschiedes nicht in der Lage sind, eigene Interessen durchzusetzen.“322
Der sexuelle Missbrauch von Kindern stellt sich nach dieser Auffassung also deshalb als Beeinträchtigung der sexuellen Selbstbestimmung des Kindes dar, weil das Kind nicht wirksam in sexuellen Handlungen einwilligen kann. Diese fänden folglich gegen dessen Willen statt, sodass das Kind 318 So auch bei der Gleichsetzung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung mit dem Schutz „vor hoheitsanmaßender Verwaltung fremden Sexualgutes“ (Bottke, FS Otto, S. 535 [544]). 319 LK / Hörnle, vor § 174 Rn. 39; MK / Renzikowski, § 176 Rn. 1 f. 320 MK / Renzikowski, vor § 174 Rn. 9; NK / Frommel, § 176 Rn. 10. 321 Vgl. LK / Hörnle, vor § 174 Rn. 31; Nelles, Streit 1995, 91 (101). 322 LK / Hörnle, § 176 Rn. 4.
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„zum Objekt fremdbestimmter sexueller Begierde herabgewürdigt“323 werde. Der Begriff der sexuellen Selbstbestimmung im weiteren Sinn ist folglich im Hinblick auf § 176 StGB dahingehend zu präzisieren, dass er die Freiheit vor sexueller Fremdbestimmung meint, wobei von fremdbestimmtem Verhalten beim Fehlen einer wirksamen Einwilligung des Betroffenen auszugehen ist. Dieses Fehlen einer wirksamen Einwilligung ist wiederum bei Kindern stets zu unterstellen. bb) Kritik Die Auffassung, dass die sexuelle Selbstbestimmung im weiteren Sinn das Rechtsgut des § 176 StGB sei, kann die Abschnittsüberschrift324 für sich ins Feld führen. Zudem hat sie den Vorzug, dass sie das Rechtsgut nicht über den Umweg der Folgen des sexuellen Missbrauchs bestimmt, sodass sie nicht im Konflikt zur empirischen Befundlage zu Traumatisierungsfolgen steht. Zudem ermöglicht sie die Einordnung der Norm in größere Begründungszusammenhänge, insofern als die sexuelle Selbstbestimmung als Aspekt der Menschenwürde und der persönlichen Freiheit im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG angesehen werden kann.325 Der Begriff der sexuellen Selbstbestimmung im weiteren Sinn eignet sich jedoch nicht als Rechtsgut, denn es handelt sich nur um einen „Oberbegriff“326. Er ist zu unpräzise, um der hier in den Fokus gerückten Funktion des Rechtsguts, als Auslegungshilfe für Einzelvorschriften zu dienen, gerecht zu werden.327 Stattdessen muss zur Erreichung dieses Ziels das 323 MK / Renzikowski,
§ 176 Rn. 1. Abschnittsüberschrift Baumann, JR 1974, 370 (371); Dreher, JR 1974, 45 (47); Horstkotte, JZ 1974, 84 (85); Ostman von der Leye, Zur Reform des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs, S. 44 ff.; Schroeder, ZRP 1971, 14 f.; Sturm, JZ 1974, 1 (4); s. auch Schroeder, FS Welzel, S. 859 (776 ff.). Aus dem jüngeren Schrifttum s. Bottke, FS Otto, S. 535; Brüggemann, Entwicklung und Wandel, S. 94 ff.; Ilg, Der strafrechtliche Schutz, S. 23 ff.; Laubenthal, Handbuch, Rn. 28 ff.; Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176 Rn. 4; Sick, Sexuelles Selbstbestimmungsrecht, S. 79 ff.; Sick / Renzikowsi, FS Schroeder, S. 603. 325 Fischer, StGB, vor § 174 Rn. 5; Kieler, Tatbestandsprobleme, S. 35 f.; LK / Hörnle, vor § 174 Rn. 28 ff.; Sick, ZStW 103 (1991), 43 (50); Sick, Sexuelles Selbstbestimmungsrecht, S. 82 f.; Sick / Renzikowsi, FS Schroeder, S. 603 (604); s. auch die rechtsphilosophische Einordnung bei Bottke, Jahrbuch für Recht und Ethik 11 (2003), 337 (352 u. 359). 326 Laubenthal, Handbuch, Rn. 28 f.; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 1, § 17 Rn. 14; Schroeder, ZRP 1971, 14 f. 327 AnwKomm / Deckers, vor § 174 Rn. 11; a. A. Sick / Renzikowsi, FS Schroeder, S. 603 (607). Zur schweren Fassbarkeit des Rechtsguts, s. auch Frommel, GedS Walter, S. 687 (688). 324 Zur
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Rechtsgut auf Ebene der einzelnen Tatbestände gesucht werden.328 Die Tatbestände des 13. Abschnitts schützen unterschiedliche Rechtsgüter,329 wie auch § 184g Nr. 1 StGB zeigt, in dem vom „jeweils“ geschützten Rechtsgut die Rede ist.330 Die Rechtsgüter der einzelnen Strafvorschriften lassen sich zwar als „Konkretisierung“331 der sexuellen Selbstbestimmung im weiteren Sinn begreifen.332 Allerdings schützt nicht jede Straftat aus dem 13. Abschnitt neben einem konkretisierten Rechtsgut auch ein Rechtsgut namens „sexuelle Selbstbestimmung im weiteren Sinn“.333 Als geschütztes Rechtsgut ist vielmehr nur der möglichst eng gefasste Begriff anzusehen. Für diese bereits erläuterte Konstruktionsregel334 für Rechtsgüter spricht, dass ansonsten auch die Menschenwürde und das allgemeine Persönlichkeitsrecht als geschützte Rechtsgüter zahlreicher Strafnormen angesehen werden müssten. Die Suche von Rechtsgütern auf Tatbestandsebene ist auch nicht durch die gesetzliche Abschnittsüberschrift verwehrt.335 Es ist unangemessen, den Abschnittsüberschriften eine überragende Bedeutung beizumessen, denn diese sollen das Strafgesetzbuch zwar strukturieren helfen, sie sind aber nicht mit dogmatischer Genauigkeit konstruiert.336 Ungenauigkeiten sind angesichts der Vielfalt der Straftatbestände unvermeidlich und finden sich auch in anderen Abschnitten. So ist das geschützte Rechtsgut des unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 StGB) anerkanntermaßen nicht die öffentliche Ordnung, wie die Überschrift des sieb[en]ten Abschnitts vermuten lassen könnte.337 Die Zusammenfassung der Vorschriften des 13. Abschnitts unter der Überschrift „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ liegt historisch darin begründet, dass mit ihr die „Abkehr vom überkommenen Sittlichkeitsbegriff“338 verdeutlicht werden sollte. Es sollte 328 AnwKomm / Deckers, vor § 174 Rn. 11; Lackner / Kühl, vor § 174 Rn. 1; Laubenthal, Handbuch, Rn. 94; LK / Laufhütte (11. Aufl.), vor § 174 Rn. 3. 329 Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 10 Rn. 4. 330 s. nur Laubenthal, Sexualstraftaten, Rn. 16; Schönke / Schröder / Eisele, vor § 174 Rn. 1a; Sick, ZStW 103 (1991), 43 (50). 331 Vgl. BT-Drucks. 7 / 514, S. 12; Bottke, FS Otto, S. 535 (544); Gössel, Das neue Sexualstrafrecht, § 1 Rn. 2; Gössel / Dölling, Strafrecht BT, § 22 Rn. 1. 332 s. aber auch Jäger-Helleport, Konstruktive Tatverarbeitung, S. 38. 333 So aber wohl Fischer, StGB, vor § 174 Rn. 5; Gössel / Dölling, Strafrecht BT, § 22 Rn. 1. 334 Dazu oben B. II. 1. b) cc). 335 A. A. Bottke, FS Otto, S. 535 (542). 336 Gegen die Bindung an die Überschrift bereits Hirschberg, Schutzobjekte, S. 78; ihm folgend Hanke, Rechtsgüter bei Sittlichkeitsverbrechen, S. 2. Kritisch zu den Gesetzesüberschriften auch Bohnert, JuS 1984, 182 (183). 337 NK / Schild, § 142 Rn. 7. 338 SK / Wolters, vor § 174 Rn. 2; s. auch Laubenthal, Handbuch, Rn. 28.
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hingegen damit keine Aussage dahingehend getroffen werden, dass jede Einzelvorschrift die sexuelle Selbstbestimmung schützt. Dass die sexuelle Selbstbestimmung nicht das Rechtsgut aller in diesem Abschnitt enthaltenen Straftatbestände darstellt, zeigt sich auch deutlich am Beispiel der Pornographiedelikte.339 Neben der terminologischen Weite spricht gegen die Annahme, dass § 176 StGB die sexuelle Selbstbestimmung im weiteren Sinn schützt, dass dies nur mithilfe von Zwischenschritten begründet werden kann.340 Es ist nicht ohne Weiteres ersichtlich, wie ein Abwehrrecht verletzt sein kann, wenn gerade keine Abwehr stattfindet, sondern möglicherweise sogar eine faktische Zustimmung mit der sexuellen Begegnung besteht.341 Damit soll wohlgemerkt nicht bestritten werden, dass sich dies überzeugend damit begründen lässt, dass Kindern aus normativen Gründen die Fähigkeit abzusprechen ist, in sexuelle Kontakte einzuwilligen. Hiervon unberührt bleibt jedoch, dass sich damit die sexuelle Selbstbestimmung im weiteren Sinn als untauglich zur Beschreibung des Rechtsguts des § 176 StGB erweist. Die Notwendigkeit von Zwischenschritten beziehungsweise weiteren normativen Annahmen belegt, dass das Rechtsgut mit dieser Formulierung nicht präzise bezeichnet wird.342 Es lässt sich im Ergebnis festhalten, dass der Begriff der sexuellen Selbstbestimmung im weiteren Sinn zwar geeignet sein mag, eine Gemeinsamkeit der Sexualdelikte zu beschreiben. Er taugt jedoch nicht als Rechtsgut einzelner Vorschriften, da er zu weit und zu ungenau ist. Mit der Bezeichnung des Rechtsguts soll auf den Punkt gebracht werden, was eine bestimmte Rechtsnorm schützt. Dies kann jedoch anhand von Globalbegriffen schlechterdings nicht gelingen. Überdies bereitet es auch bei Zugrundelegung eines weiten Begriffsverständnisses Schwierigkeiten zu begründen, warum die sexuelle Selbstbestimmung bei Taten nach § 176 StGB stets verletzt wird.343
339 SK / Wolters,
vor § 174 Rn. 2. Blei, Strafrecht BT, S. 141; Dreher, JR 1974, 45 (47); Lackner / Kühl, vor § 174 Rn. 1; Schönke / Schröder / Eisele, vor § 174 Rn. 1b; SK / Wolters, vor § 174 Rn. 2 f.; Sturm, JZ 1974, 1 (4). 341 Vgl. Blei, Strafrecht BT, S. 141; Dreher, JR 1974, 45 (47); Lackner / Kühl, vor § 174 Rn. 1; Schönke / Schröder / Eisele, vor § 174 Rn. 1b; SK / Wolters, vor § 174 Rn. 2 f.; Sturm, JZ 1974, 1 (4). 342 Zur normativen Annahme der Einwilligungsunfähigkeit, s. auch sogleich C. II. 2. b) bb). 343 Vgl. Schönke / Schröder / Eisele, vor § 174 Rn. 1b. 340 Vgl.
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b) Die sexuelle Selbstbestimmung im engeren Sinn aa) Erläuterung Die Rechtsgutsauffassung, die die sexuelle Selbstbestimmung als Rechtsgut des § 176 StGB ansieht, könnte auch dahingehend verstanden werden, dass sie diesen Begriff in seiner engen Bedeutung verwendet. In dieser Lesart wäre sie nicht dem Einwand ausgesetzt, dass ihre Rechtsgutsbestimmung zu weit ist. Konsequenz eines solchen Verständnisses wäre allerdings, dass davon ausgegangen werden muss, dass § 176 StGB und § 177 StGB dasselbe Rechtsgut schützen. Die sexuelle Selbstbestimmung im engeren Sinn ist anerkanntermaßen das Rechtsgut des Tatbestands der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung gemäß § 177 StGB.344 Aufgrund der Nähe des § 177 StGB zum Tatbestand der Nötigung nach § 240 StGB kann die nähere Definition der sexuellen Selbstbestimmung im engeren Sinn in Anlehnung an die Rechtsgutsbestimmung bei jener Norm vorgenommen werden. Der Nötigungstatbestand schützt nach herrschender Meinung die Freiheit der Willensbildung und Willensbetätigung.345 Diese Freiheit wird „faktisch psychologisch“ verstanden, das heißt das Opfer muss das Täterverhalten tatsächlich als psychischen Druck empfinden.346 Übertragen auf § 177 StGB bedeutet dies, dass die sexuelle Selbstbestimmung im engeren Sinn definiert werden kann als Freiheit, einen einer sexuellen Interaktion entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu betätigen. § 177 StGB schützt damit mit anderen Worten den Einzelnen davor, „gegen seinen Willen zum Objekt sexuellen Begehrens anderer gemacht zu werden“.347
344 BT-Drucks. VI / 1552, S. 17; Fischer, StGB, § 177 Rn. 2; Lackner / Kühl, § 177 Rn. 1; LK / Hörnle, § 177 Rn. 1; MK / Renzikowski, § 177 Rn. 1; Pott, KritV 1999, 91 (102); Schönke / Schröder / Eisele, § 177 Rn. 2. 345 BVerfGE 73, 206 (237); 92, 1 (13); Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 9 Rn. 45; Eisele, Strafrecht BT I, Rn. 450; Fischer, StGB, § 240 Rn. 2; Krey / Hellmann / Heinrich, Strafrecht BT / 1, Rn. 369; Lackner / Kühl, § 240 Rn. 1; LK / Träger / Altvater (11. Aufl.), § 240 Rn. 1; MK / Sinn, § 240 Rn. 2; NK / Toepel, § 240 Rn. 13; Schönke / Schröder / Eser / Eisele, § 240 Rn. 1; SK / Horn / Wolters, § 240 Rn. 2; Wessels / Hettinger, Strafrecht BT / 1, Rn. 380. 346 NK / Toepel, § 240 Rn. 19. Die teilweise angenommen normativen Erweiterungen (dazu NK / Toepel, § 240 Rn. 20) spielen im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle. 347 Schönke / Schröder / Eisele, vor § 174 Rn. 1b.
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
bb) Kritik Gegen die Annahme, dass § 176 StGB das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung im engeren Sinn schützt, spricht, dass diese Vorschrift gerade nicht auf die Entscheidung und den Willen des Kindes abstellt. Die Ablehnung einer sexuellen Interaktion durch das Kind ist nicht Voraussetzung für die Tatbestandsverwirklichung. Vielmehr ist im Rahmen des § 176 StGB zumindest auf Tatbestandsebene348 ohne Belang, welche Haltung das Kind zu der sexuellen Handlung hat, die an oder vor ihm vorgenommen wird oder die es an einem anderen vornimmt. Auf der Grundlage des Gesetzes kann die Entscheidung beziehungsweise der Willen des Kindes allenfalls in den Fällen als relevant angesehen werden, in denen es sich gegen den Sexualkontakt entscheidet. Findet die Tathandlung jedoch mit dem Einverständnis oder gar auf Wunsch des Kindes statt, so erklärt das Gesetz diese Zustimmung gerade für unmaßgeblich. Wenn aber bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 176 StGB kraft Gesetzes stets von einer fehlenden Einwilligung des Kindes ausgegangen werden muss, kommt es denknotwendig nicht darauf an, ob das Kind mit der Tathandlung einverstanden war oder sie abgelehnt hat. Wenn es jedoch für die Tatbestandsverwirklichung nicht auf eine Ablehnung der Tathandlung durch das Kindes ankommt, ist es unstimmig, die sexuelle Selbstbestimmung im engeren Sinn, die gerade die Freiheit meint, eine sexuelle Interaktion abzulehnen, als geschütztes Rechtsgut des § 176 StGB anzusehen. Zunächst könnte in Frage gestellt werden, ob Kinder dazu in der Lage sind, einen natürlichen Willen zu bilden. Dies erscheint jedoch geradezu absurd, wenn man sich vor Augen führt, dass ein erheblicher Teil der elterlichen Erziehung häufig darin besteht, ein dem natürlichen Willen des Kindes entgegenstehendes Verhalten durchzusetzen. Kinder haben ganz offenkundig einen, oft recht starken, natürlichen Willen. Dieser ist auch häufig leicht feststellbar, da Kinder ihre Wünsche häufig unumwunden zum Ausdruck bringen. Es ist kein Grund ersichtlich, warum ein solcher natürlicher (zustimmender oder ablehnender) Wille eines Kindes nicht auch hinsichtlich sexueller Handlungen vorliegen oder feststellbar sein sollte.349 Es könnte allerdings eingewandt werden, dass Kinder tatsächlich nie mit einem Sexualkontakt einverstanden sind, sondern stets eine ablehnende Haltung zu sexuellen Handlungen haben. Dieses Argument kann jedoch leicht mit dem Hinweis auf die Fälle von Liebesbeziehungen zwischen 12- und 348 Anders bei der Strafzumessung; s. dazu Fischer, StGB, § 176 Rn. 35; LK / Hörnle, § 176 Rn. 47, 51. 349 s. auch bereits Aaron, Unzüchtige Handlungen mit Kindern, S. 38; Schetsche, MSchrKrim 1994, 201 (206).
II. Derzeitiger Meinungsstand zum Rechtsgut des § 176 StGB 225
13-jährigen Kindern verworfen werden, bei denen es aus eigenem Antrieb zu sexuellen Handlungen kommt. Auch jenseits dieser in der Nähe der Schutzaltersgrenze zu verortenden Fallkonstellationen kommt es durchaus vor, dass Kinder beispielsweise aus Neugierde aus eigenem Antrieb sexuelle Handlungen vornehmen wollen. Dies zeigt sich beispielsweise am immer wieder dokumentierten Interesse von Kindern an sogenannten Doktorspielen.350 Des Weiteren könnte eingewandt werden, dass eine etwaige Zustimmung des Kindes aus Rechtsgründen351 stets unwirksam ist und daher eine sexuelle Interaktion stets ohne sein Einverständnis stattfindet. Der Begriff der sexuellen Selbstbestimmung im engeren Sinn würde damit normativ angereichert, indem er um das Merkmal der Einwilligungsfähigkeit ergänzt wird, deren generelles Fehlen bei Kindern zugleich unterstellt würde. Mit anderen Worten würde der tatsächliche Wille durch den normativ bestimmten wahren Willen ersetzt.352 Eine solche normative Anreicherung überzeugt jedoch im Kontext der Rechtsgutsermittlung nicht, denn sie stellt systematisch einen Fremdkörper dar. Das Vorhandensein eines Willens oder Nicht-Willens wird im Rahmen der Freiheitsdelikte anhand der faktischen psychologischen Sachlage geprüft.353 Dementsprechend wird auch der Begriff der sexuellen Selbstbestimmung im engeren Sinn dahingehend verstanden, dass es allein auf die tatsächliche Willensbildung ankommt.354 Dementsprechend liegt unstreitig keine strafbare (sexuelle) Nötigung vor, wenn die letztlich erteilte Zustimmung des erwachsenen Partners in den Sexualkontakt durch Überredung oder verbales Bedrängen erwirkt wurde.355 Selbst das durch Täuschung erlangte Einverständnis reicht zur Vermeidung der Nötigungsstrafbarkeit wohl aus.356 Auch bei Kindern wird von diesen Grundsätzen keine Ausnahme gemacht. Vielmehr wird ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung durchaus auch rechtlich 350 s.
auch C. II. 1. b) aa). entsprechenden Begründungsversuchen s. Schetsche, MSchrKrim 1994, 201 (205 ff.). 352 Bung, in Thiée, Menschen Handel, S. 49 (51). 353 NK / Toepel, § 240 Rn. 19. 354 Vgl. zum tatsächlichen Einverständnis Fischer, ZStW 112 (2000), 75 (88); MK / Renzikowski, § 177 Rn. 53; s. auch Schönke / Schröder / Lenckner / Sternberg-Lieben, vor § 32 Rn. 31 ff. 355 BeckOK / Valerius, § 240 Rn. 3; Fischer, StGB, § 240 Rn. 7; ders., ZStW 112 (2000), 75 (82 f.); LK / Träger / Altvater (11. Aufl.), § 240 Rn. 5; MK / Sinn, § 240 Rn. 27. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht: Lautmann, Die Lust am Kind, S. 94. 356 BeckOK / Valerius, § 240 Rn. 3; Fischer, StGB, § 177 Rn. 2; ders., ZStW 112 (2000), 75 (82); MK / Renzikowski, vor § 174 Rn. 11; Schönke / Schröder / Eisele, § 177 Rn. 2; s. aber auch NK / Toepel, § 240 Rn. 34, 129; Renzikowski, NStZ 2011, 696 (697). 351 Zu
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
anerkannt. So wird die Willensfreiheit eines Kindes anerkanntermaßen durch den Tatbestand der Nötigung (§ 240 StGB) geschützt.357 Das Strafrecht unterscheidet insoweit danach, ob das Kind ein Dulden, Tun oder Unterlassen wollte oder ablehnte, und erklärt damit den Willen und die Entscheidung des Kindes für maßgeblich. In systematischer Hinsicht wäre es daher inkonsistent anzunehmen, dass das Recht Kindern generell die Einwilligungsfähigkeit abspricht und daher deren tatsächlichen Willen für unmaßgeblich erachtet. Nun ließe sich einwenden, dass sexuelle Handlungen eine andere Dimension aufweisen, sodass der Wille des Kindes diesbezüglich niemals maßgeblich sein kann.358 Indes wird anerkanntermaßen auch bei sexuellen Handlungen rechtlich danach differenziert, ob eine Zustimmung des Kindes vorlag oder nicht. So liegt eine sexuelle Nötigung beziehungsweise Vergewaltigung eines Kindes nur bei einem Handeln gegen den Willen des Kindes vor, wobei auf das faktische Fehlen der Zustimmung abgestellt wird (und nicht etwa deren generelles Fehlen unterstellt wird).359 Demnach kann ein Täter, der („unnötigerweise“) gegenüber einem Kind qualifizierte Nötigungsmittel angewendet hat, um es zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen zu bringen, bei tatsächlichem Vorliegen eines Einverständnisses des Kindes in die sexuellen Handlungen nicht wegen (vollendeter) sexueller Nötigung bestraft werden. Dies ist auch rechtsdogmatisch richtig, denn bei den Nötigungstatbeständen kommt es lediglich auf das tatsächliche Vorliegen eines (tatbestandsausschließenden) Einverständnisses an, das heißt es müssen nicht die weiteren Anforderungen an eine rechtfertigende Einwilligung erfüllt sein.360 Dies gilt auch für den Tatbestand der sexuellen Nöti357 s. nur LK / Rönnau, vor § 32 Rn. 158; LK / Träger / Altvater (11. Aufl.), § 240 Rn. 5; MK / Sinn, § 240 Rn. 26; NK / Toepel, § 240 Rn. 31. 358 Soweit Nelles (Streit 1995, 91 [101]) auf ein „Macht- und Autonomiegefälle zwischen Erwachsenen und Kindern“ abstellt, das eine „Wehrlosigkeit und Abhängigkeit des Kindes begründet“, geht dies bereits deshalb fehl, weil Täter auch ein Jugendlicher sein kann, der nur unwesentlich älter als das Opfer ist. Zudem stellt das Gesetz bei § 176 StGB – anders als etwa bei § 174 StGB – nicht auf ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Täter und Opfer ab. Problematisch sind daher auch die Ausführungen von Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf (Strafrecht BT, § 10 Rn. 17) zum ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal der „Überlegenheit“. Vgl. auch die Kritik an auf Machtgefälle rekurrierende Begründungsversuche bei Schetsche, MSchrKrim 1994, 201 (209 f.). 359 Fischer, StGB, vor § 174 Rn. 9b; § 177 Rn. 4; LK / Hörnle, § 177 Rn. 19; MK / Renzikowski, § 177 Rn. 21; Roxin, Strafrecht AT / 1, § 13 Rn. 81; anders mag dies bei einem Kleinstkind sein, vgl. LK / Hörnle, § 177 Rn. 19; SK / Wolters, § 177 Rn. 4. 360 Zu dieser Differenzierung Kindhäuser, Strafrecht AT, § 12 Rn. 9 ff., 33 ff.; Rengier, Strafrecht AT, § 23 Rn. 3, 7 ff., 40 ff.; Roxin, Strafrecht AT / 1, § 13 Rn. 2 ff.; Schönke / Schröder / Lenckner / Sternberg-Lieben, vor § 32 Rn. 29 ff.
II. Derzeitiger Meinungsstand zum Rechtsgut des § 176 StGB 227
gung.361 Wenn aber die sexuelle Selbstbestimmungsfähigkeit des Kindes im Rahmen des § 177 StGB bejaht wird,362 also angenommen wird, dass es sexuellen Handlungen zustimmen oder sie ablehnen kann, so erscheint es inkonsistent, ihm diese Fähigkeit im Rahmen der Rechtsgutsbestimmung des § 176 StGB aus normativen Gründen generell abzuerkennen. Fischer versucht diesen Widerspruch zu erklären, indem er die Einwilligung aufspaltet. Ein Kind könne zwar wirksam in das Handlungs- oder Duldungselement einwilligen, nicht aber in den sexuellen Charakter von Handlungen.363 Damit ist wohl gemeint, dass das Kind sich zwar mit der Nötigung einverstanden erklären kann, nicht aber mit der Einbeziehung in eine sexuelle Interaktion. Diese künstliche Aufspaltung überzeugt nicht, denn die Nötigungshandlung kann nicht getrennt von ihrem Ziel, der Vornahme oder Duldung einer sexuellen Handlung, betrachtet werden. Auch Fischer verkennt nicht die argumentative Schwäche seiner Konstruktion, jedoch meint er, sie sei „wohl die einzige Möglichkeit, den Tatbestand in die Systematik des gesetzlichen Schutzkonzepts zu integrieren.“364 Wie noch zu zeigen sein wird,365 ist es jedoch durchaus möglich, das Rechtsgut des § 176 StGB ohne Rückgriff auf die sexuelle Selbstbestimmung zu bestimmen und damit ohne die von Fischer vorgeschlagene Konstruktion auszukommen. Folglich überzeugt es auch nicht, die sexuelle Selbstbestimmung im engeren Sinn als Rechtsgut des § 176 StGB anzusehen. Die sexuelle Selbstbestimmung im engeren Sinn als Freiheit, einen einer sexuellen Betätigung entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu betätigen, wird nicht in allen nach § 176 StGB tatbestandsmäßigen Fällen verletzt. Das Kind kann nach seinem tatsächlichen Willen, auf den es für den Begriff der sexuellen Selbstbestimmung im engeren Sinn allein ankommt, durchaus mit der Tat einverstanden sein, ohne dass sich dies auf die Tatbestandsmäßigkeit des Täterverhaltens auswirkt. Darin unterscheidet sich § 176 StGB grundlegend von § 177 StGB, sodass im Ergebnis das Rechtsgut beider Normen nicht mit demselben Begriff umschrieben werden kann.
361 Fischer, ZStW 112 (2000), 75 (87 f.); Laubenthal, Sexualstraftaten, Rn. 112; MK / Renzikowski, § 177 Rn. 53; Schönke / Schröder / Lenckner / Sternberg-Lieben, vor § 32 Rn. 31; Sick, ZStW 103 (1991), 43 (62); a. A. (rechtfertigende Einwilligung): Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 1, § 18 Rn. 17 f. 362 Dies übersieht Brüggemann (Entwicklung und Wandel, S. 315), wenn er auf das regelmäßige Fehlen der sexuellen Selbstbestimmung bei Kindern abhebt. 363 Fischer, StGB, § 176 Rn. 2. 364 Fischer, StGB, § 176 Rn. 2. 365 s. die Entwicklung des eigenen Ansatzes unter C. IV.
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
c) Abgleich mit den Konstruktionsregeln des Rechtsguts Abschließend soll abgeglichen werden, ob die „sexuelle Selbstbestimmung“ mit den Konstruktionsregeln des Rechtsguts in Einklang steht oder ob auch insoweit Einwände gegen diese Rechtsgutsauffassung bestehen. Im Hinblick auf die Anforderung, dass Rechtsgüter klar und bestimmt sein sollen, erscheint es ungünstig, dass der Begriff der sexuellen Selbstbestimmung in verschiedener Weise verwendet wird. Der Begriff der sexuellen Selbstbestimmung im weiteren Sinn ist zudem zu weit und erfüllt als Oberbegriff nicht die Konstruktionsregel, dass Rechtsgüter möglichst eng zu fassen sind. Der letztgenannte Einwand kann hingegen dem Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung im engeren Sinn nicht entgegen gehalten werden. Seine grundsätzliche Tauglichkeit zur Beschreibung eines Rechtsguts zeigt sich im Hinblick auf § 177 StGB. Indes liegt ein Verstoß gegen Konstruktionsregeln vor, wenn die sexuelle Selbstbestimmung im engeren Sinn als Rechtsgut des § 176 StGB herangezogen werden soll. Insbesondere ist sie nicht mit der Regel vereinbar, dass das Rechtsgut ein „umfassender Begriff“ sein muss, der alle tatbestandsmäßigen Verhaltensweisen erfasst. In den Fällen, in denen die Tathandlung mit dem Einverständnis des Kindes erfolgt, ist dies, wie dargelegt, nicht der Fall. Allenfalls über Hilfskonstruktionen können diese Fälle unter den Begriff der „sexuellen Selbstbestimmung“ subsumiert werden. Die Hinzuziehung von weiteren normativen Annahmen verstößt jedoch wiederum gegen die Konstruktionsregel der möglichst klaren und präzisen Fassung der Rechtsgüter. Dementsprechend zeigt sich, dass die sexuelle Selbstbestimmung im Hinblick auf § 176 StGB die Konstruktionsregeln für Rechtsgüter nicht erfüllt. d) Zwischenergebnis Die Rechtsgutsauffassung, die die sexuelle Selbstbestimmung des Kindes als Rechtsgut des § 176 StGB einordnet, vermag nicht zu überzeugen. Der Widerspruch zwischen den tatbestandlichen Anforderungen, die kein Handeln gegen den Willen des Kindes erfordern, und dem Begriff der Selbstbestimmung beziehungsweise Freiheit von Fremdbestimmung, der ein Handeln gegen den Willen des Kindes impliziert, lässt sich nicht auflösen. Insbesondere erweisen sich Versuche, die sexuelle Selbstbestimmung durch normative Elemente anzureichern, als systemfremd. Es kann folglich nicht überzeugend begründet werden, dass § 176 StGB ein gegen die sexuelle Willensfreiheit gerichtetes Delikt ist.366 366 Frühsorger (Straftatbestand, S. 17) spricht von einer Vermischung der Schutzgüter von § 176 StGB und § 177 StGB.
II. Derzeitiger Meinungsstand zum Rechtsgut des § 176 StGB 229
Es bliebe nur der Ausweg, neben die beiden Begriffe der sexuellen Selbstbestimmung im weiteren Sinn und der sexuellen Selbstbestimmung im engeren Sinn einen weiteren treten zu lassen, der auf § 176 StGB zugeschnitten ist. Dies erscheint angesichts der drohenden Begriffsverwirrung nicht wünschenswert. Im Übrigen ist der Begriff der „Selbstbestimmung“ auch im Hinblick auf den Wortsinn ungeeignet, die normativ angereicherte Konzeption der fehlenden Einwilligungsfähigkeit trefflich zu erfassen. Unter sexueller Selbstbestimmung müsste dann die normativ unterstellte Ablehnung einer sexuellen Interaktion verstanden werden. Der einer solchen Konzeption innewohnende Widerspruch wurde von Schetsche als „Selbstbestimmungs-Paradoxon“ bezeichnet und wie folgt beschrieben: „Wie kann im Rahmen eines – zumindest programmatisch – auf die sexuelle Selbstbestimmung abhebenden Strafrechts der Schutz der Individuen begründet werden, denen (z. B. aus Altersgründen) ein Selbstbestimmungsrecht gerade nicht zugestanden wird.“367
Wohlgemerkt folgt hieraus nicht, dass die generelle Ablehnung der Möglichkeit einer rechtfertigenden Einwilligung bei § 176 StGB aufzugeben wäre.368 Vielmehr sind die inhaltlichen Argumente, mit denen die Unmaßgeblichkeit der Zustimmung des Kindes für die Frage der Strafbarkeit begründet wird, durchaus zutreffend.369 Das Selbstbestimmungs-Paradoxon spricht nicht dagegen, Kindern generell die Fähigkeit abzusprechen, in Sexualkontakte einzuwilligen, sondern nur dagegen, die sexuelle Selbstbestimmung – gleich in welcher Lesart – als Rechtsgut des § 176 StGB einzuordnen. 3. Exkurs: die Rechtsgutsbestimmung bei Fischer Fischer verknüpft die vorstehend diskutierten Rechtsgutsauffassungen, die die „ungestörte Entwicklung“ beziehungsweise die „sexuelle Selbstbestimmung“ als von § 176 StGB geschützt ansehen, miteinander.370 Er beschreibt das Rechtsgut folgendermaßen: 367 Schetsche, MSchrKrim 1994, 201 (202); vgl. auch Frühsorger, Straftatbestand, S. 17. 368 Dazu noch näher D. I. 1. 369 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Einordnung der Ergebnisse narrativer Interviews bei Lautmann, Die Lust am Kind, S. 78 ff., 93 ff., der sich – trotz aller geäußerten Vorbehalte – allerdings zu sehr die Schilderungen der „Täter“ zu Eigen macht. 370 Eine Verknüpfung dieser Rechtsgutsauffassungen, allerdings ohne klare Herausstellung der eigenen Position, findet sich auch bei AnwKomm / Deckers, § 176 Rn. 2 ff.
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
„§ 176 schützt die Möglichkeit zur freien Entwicklung sexueller Selbstbestimmungsfähigkeit […] von Kindern.“371
Er zitiert hierbei Fundstellen, bei denen zum Teil die sexuelle Selbstbestimmung, zum Teil die ungestörte sexuelle Entwicklung als Rechtsgut des § 176 StGB angesehen wird. Dies belegt, dass er um eine Synthese beider Rechtsgutsauffassungen bemüht ist. Das Ziel der zu schützenden Entwicklung erblickt Fischer in der Ausbildung „sexueller Selbstbestimmungsfähigkeit“ beziehungsweise einer sexuellen Identität.372 Er engt damit den Entwicklungsbegriff bewusst auf einen Teilaspekt ein. Dieser wird auch nicht präzisiert, obwohl der Begriff „sexuelle Selbstbestimmungsfähigkeit“ erläuterungsbedürftig erscheint. Er findet sich zwar im Rahmen des § 182 Abs. 3 StGB wieder, wird jedoch auch dort nicht präzisiert. Es ist damit wohl die Kompetenz gemeint, eigenständig reflektierte Entscheidungen im sexuellen Bereich zu fällen. Durch die Einengung des Bezugspunkts der Entwicklungsstörung setzt sich Fischer in noch stärkerem Maße der Kritik aus, der ein Rechtsgut der „ungestörten (sexuellen) Entwicklung“ ohnedies begegnet. Zwar mag ein sexueller Missbrauch im Sinne des § 176 StGB im Einzelfall die sexuelle Identitätsfindung373 und die Entwicklung „sexueller Selbstbestimmungsfähigkeit“ erschweren, doch dürften solche sexuellen Störungen insgesamt eher selten auftreten.374 Es dürfte sogar nicht wenige Fälle geben, bei denen Personen aufgrund ihrer Erfahrung als Opfer eines sexuellen Missbrauchs später besonders reflektiert mit ihrer Sexualität umgehen. Die von Fischer vertretene Mittelposition überzeugt daher im Ergebnis nicht, sondern sie vereint vielmehr die Nachteile beider Rechtsgutsauffassungen.375 371 Fischer,
StGB, § 176 Rn. 2. StGB, § 176 Rn. 2; dem folgend: OLG München, Beschluss vom 30.01.2006 – Az. 5St RR 206 / 05; Roggenwallner / Herrmann / Jansen, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, Rn. 34; Kett-Straub, ZRP 2007, 260 (261). 373 Möglicherweise schimmert bei der Erwähnung der sexuellen Identität auch eine alte Vorstellung durch, nach der die Ausbildung einer „normalen“ heterosexuellen sexuellen Orientierung durch Einflüsse in der Kindheit verhindert werden kann. In diese Richtung wohl noch Bockelmann (FS Maurach, S. 391 [410]): „‚Störung‘ ist die Vermittlung eines Prägungserlebnisses, das zur Annahme eines verfehlten sexuellen Habitus führt (oder doch führen kann).“ 374 Vgl. auch LK / Hörnle, § 176 Rn. 1. 375 Entsprechendes gilt für die von Laue in Anlehnung an Fischer gewählte Formulierung, wonach § 176 StGB „den Schutz vor Beeinträchtigungen der Gesamtentwicklung v. Kindern durch sexuelle Handlungen bezweckt […], und im Speziellen die Entwicklung sexueller Selbstbestimmungsfreiheit schützt.“ (HK-GS / Laue, § 176 StGB Rn. 1). Der hier gewählte Begriff der „Selbstbestimmungsfreiheit“ dürfte mit Fischers „Selbstbestimmungsfähigkeit“ übereinstimmen, sodass in der Sache kein Unterschied zwischen den Positionen besteht. 372 Fischer,
II. Derzeitiger Meinungsstand zum Rechtsgut des § 176 StGB 231
4. Der Jugendschutz als Rechtsgut des § 176 StGB Verschiedentlich wird die Ansicht vertreten, dass das Rechtsgut des § 176 StGB im Jugendschutz zu erblicken sei. Teilweise wird der Jugendschutz dabei explizit als Rechtsgut bezeichnet,376 in anderen Fällen lässt sich aus der kontextuellen Einbettung ableiten, dass der „Jugendschutz“ von den betreffenden Autoren als Rechtsgut angesehen wird.377 Häufig erfolgen in diesem Zusammenhang ergänzende Begründungen zur Legitimation des Jugendschutzes, die diesen Schutzzweck präzisieren und erläutern sollen.378 a) Erläuterung der Rechtsgutsauffassung Diese Rechtsgutsauffassung begnügt sich mit einer globalen Umschreibung der Zielrichtung des § 176 StGB, nämlich die Jugend zu schützen. Wenn der „Jugendschutz“ in den Vordergrund gerückt wird, so ist damit eine Hervorhebung des Alters des Opfers verbunden. Außerdem wird die inhaltliche Nähe zu anderen (Sexual-)Delikten, die an das Alter anknüpfen, in den Fokus gerückt.379 b) Kritik der Rechtsgutsauffassung Wenn geäußert wird, der Straftatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern diene dem Jugendschutz, so wird sich damit nicht selten um eine klare Aussage zum Rechtsgut dieser Norm herumgewunden.380 Der Jugendschutz ist offensichtlich bereits begrifflich kein Rechtsgut. Ansonsten müsste § 176 StGB den Jugendschutz schützen; die Norm soll aber allenfalls die Jugend schützen. Doch auch mit „der Jugend“ wäre das Rechtsgut nicht zutreffend beschrieben. So verwundert zunächst der Begriff der „Jugend“, denn dieser wird im rechtlichen Kontext regelmäßig für das Alter von der Vollendung des 14. bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres verwendet.381 Eine solche Einord376 So bei LK / Laufhütte (11. Aufl.), vor § 174 Rn. 7; Heghmanns, Strafrecht BT, Rn. 675; Kramer, Sexualdelikte, S. 51. 377 So bei Barabas, Sexualität und Recht, S. 45. 378 So etwa bei LK / Laufhütte (11. Aufl.), vor § 174 Rn. 7; Maurach / Schroe der / Maiwald, Strafrecht BT / 1, § 20 Rn. 4. 379 Vgl. LK / Laufhütte (11. Aufl.), vor § 174 Rn. 7; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 1, § 17 Rn. 8; Schroeder, Das neue Sexualstrafrecht, S. 17. 380 Vgl. auch bereits Jäger, Strafgesetzgebung, S. 50; daran anschließend Frommel, FS Heinz, S. 71 (82). 381 s. auch Gnüchtel, Jugendschutztatbestände, S. 6 f.
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
nung findet sich beispielsweise in § 1 Abs. 2 JGG und in § 1 Abs. 1 Nr. 2 JuSchG.382 Auch § 182 StGB, der den sexuellen Missbrauch von Jugendlichen erfasst, betrifft trotz fehlender gesetzlicher Altersuntergrenze faktisch vor allem 14- bis 17-jährige Opfer, denn für Tatopfer unter 14 Jahren enthält § 176 StGB eine speziellere Regelung.383 Daher ist der Begriff „Jugendschutz“ verfehlt, denn § 176 StGB schützt nicht Jugendliche, sondern Kinder, also Personen unter 14 Jahren.384 Zudem ist der Begriff Jugendschutz zu weit und daher zu unbestimmt, denn er verdeutlicht nicht, wovor die Tatopfer geschützt werden sollen.385 Auch außerhalb des 13. Abschnitts des Strafgesetzbuches gibt es Jugendschutzvorschriften, beispielsweise § 225 StGB. Eine Rechtsgutsbestimmung, die auf den Jugendschutz abstellt, blendet somit insbesondere die für den Tatbestand wesentliche sexuelle Komponente vollständig aus. Außerdem neigt eine Auffassung, die die Jugend beziehungsweise den Jugendschutz als geschützt ansieht, zu einer Kollektivierung des Rechtsguts.386 Die Jugend kann in diesem Sinne als gesellschaftliche Gruppe aufgefasst werden, deren Schutz im öffentlichen Interesse liegt.387 Eine solche Kollektivierung des Rechtsguts überzeugt nicht, denn § 176 StGB schützt nicht über individuelle Rechtspositionen der Betroffenen hinausgehende Gemeinwohlbelange.388 Selbst wenn mit der Jugend aber die einzelnen Personen der gesellschaftlichen Gruppe gemeint sein sollten, eignet sich der Begriff der Jugend nicht zur Bezeichnung des Rechtsguts, denn die Jugend wäre dann allenfalls der Rechtsgutsträger, nicht aber das geschützte Rechtsgut.389 Der Begriff des Jugendschutzes taugt daher allenfalls zur Zu382 s.
aber auch § 2 Abs. 2 JArbSchG. soll noch keine Aussage zum Konkurrenzverhältnis getroffen werden; vielmehr wird auf das Verhältnis von § 182 StGB und § 176 StGB noch näher eingegangen werden [D. I. 2. c)]. 384 Konsequenterweise blendet Gnüchtel (Jugendschutztatbestände, S. 4) § 176 StGB aus seiner Untersuchung aus. 385 s. auch Ostman von der Leye, Zur Reform des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs, S. 52: „[…], denn die Jugend ist ein biologischer Zustand, gegen den man keine Straftaten verüben kann.“ 386 Dazu Beck, Die sexuelle Handlung, S. 58; Hörnle, FS Eisenberg, S. 321 (334); Jäger-Helleport, Konstruktive Tatverarbeitung, S. 37; Schroeder, FS Welzel, S. 859 (870); kritisch auch Funcke-Auffermann, Symbolische Gesetzgebung, S. 109; Kramer, Sexualdelikte, S. 25 f. 387 In diese Richtung Fischer, StGB, vor § 174 Rn. 5; dazu Hörnle, FS Eisenberg, S. 321 (334). 388 Zutreffend Hörnle, FS Eisenberg, S. 321 (334). Gegen eine Kollektivierung des Rechtsguts wendet sich auch Bottke, FS Otto, S. 535 (545 ff.) in Auseinandersetzung mit Ottos Aufassung (Otto, Die einzelnen Delikte, § 66 Rn. 1). 389 Jäger, Rechtsgüterschutz, S. 50. 383 Hiermit
II. Derzeitiger Meinungsstand zum Rechtsgut des § 176 StGB 233
sammenfassung der Normen aus dem Sexualstrafrecht, die auf das geringe Alter des Tatopfers abstellen.390 Da er auch insofern die Gefahr birgt, Missverständnisse zu verursachen, erscheint es vorzugswürdig, ihn nicht zu verwenden. c) Abgleich mit den Konstruktionsregeln des Rechtsguts Die vorstehenden Ausführungen weisen bereits darauf hin, dass die Auffassung, die den Jugendschutz als Rechtsgut ansieht, gegen mehrere Konstruktionsregeln für Rechtsgüter verstößt. So missachtet sie, dass Rechtsgüter möglichst präzise gefasst werden sollten. Vielmehr erweist sich die Rechtsgutsbestimmung als ungenau und missverständlich. Vor allem aber wird gegen die Regel verstoßen, dass Rechtsgüter möglichst eng gefasst werden sollten, denn unter der Überschrift Jugendschutz können beispielsweise auch nichtsexuelle, jugendgefährdende Verhaltensweisen strafrechtlich erfasst werden. Eine solch weite Rechtsgutsbezeichnung ist insbesondere nicht erforderlich, um der weiteren Konstruktionsregel Rechnung zu tragen, dass das Rechtsgut sämtliche tatbestandsmäßigen Verhaltensweisen erfassen soll. 5. Fazit Bei der Analyse des derzeitigen Meinungsstands zum Rechtsgut des § 176 StGB fällt auf, dass die in der Literatur vertretenen Auffassungen zum geschützten Rechtsgut kaum einmal begründet werden.391 Desgleichen erfolgt zumeist keine Auseinandersetzung mit anderen Rechtsgutsformulierungen. So wird häufig weder deutlich gemacht, wo die Unterschiede zu anderen Auffassungen liegen, noch, warum der jeweils vertretene Standpunkt vorzugswürdig erscheint. Stattdessen beschränken sich die Ausführungen zumeist auf die Benennung eines Rechtsguts. Mitunter erfolgt anstelle der Benennung eines bestimmten Rechtsguts eine umfangreiche Erklärung der Zweckrichtung der Norm. In der Sache begegnen alle zum Rechtsgut des § 176 StGB vertretenen Auffassungen Bedenken, wie die vorangehende Darstellung gezeigt hat. Diese sind zum einen inhaltlicher Natur, insofern als sich die vertretenen Rechtsgutsbegriffe mit den vom Straftatbestand erfassten Phänomenen nur mit Schwierigkeiten in Einklang bringen lassen. Dies betrifft sowohl die fehlende empirische Belegbarkeit von Störungen der (sexuellen) Entwick390 So die Verwendung etwa bei Laubenthal, Sexualstraftaten, Rn. 322; MK / Renzikowski, vor § 174 Rn. 22 ff.; Schönke / Schröder / Eisele, vor § 174 Rn. 1b; SK / Wolters, vor § 174 Rn. 3. 391 Kritisch auch Frühsorger, Straftatbestand, S. 14.
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
lung als auch die Friktionen bei der Begründung, warum der sexuelle Missbrauch von Kindern die sexuelle Selbstbestimmung verletzen soll. Zum anderen sind die Bedenken formaler Natur, weil die vertretenen Rechtsgutsauffassungen nicht den Anforderungen an die Konstruktion von Rechtsgütern genügen. Dies gilt im besonderen Maße für das Rechtsgut „Jugendschutz“, aber auch für die „ungestörte (sexuelle) Entwicklung“ und die „sexuelle Selbstbestimmung“. Es fehlt mit unterschiedlicher Gewichtung an der Bestimmtheit dieser Rechtsgutsbezeichnungen und / oder an der vollständigen Erfassung der tatbestandsmäßigen Verhaltensweisen durch das Rechtsgut. Im Ergebnis besteht daher die Notwendigkeit, nähere Untersuchungen zur Ermittlung des Rechtsguts des § 176 StGB zu unternehmen. Dies soll nach einem Exkurs zur Deliktsnatur des § 176 StGB geschehen.
III. Derzeitiger Meinungsstand zur Deliktsnatur des § 176 StGB Nachdem bereits im Rahmen der Darstellung der Rechtsgutsdiskussion wiederholt Bezüge zur Deliktsnatur des § 176 StGB hergestellt wurden, sollen die hierzu vertretenen Ansichten im Folgenden kurz systematisch dargestellt werden. Dabei erfolgt eine Konzentration auf die Frage, wo der Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern auf dem Spektrum von Verletzungs- bis Gefährdungsdelikt einzuordnen ist. 1. Abstraktes Gefährdungsdelikt Die ganz herrschende Meinung ordnet § 176 StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt ein.392 Dies erfolgt insbesondere vor dem Hintergrund eines angenommenen Rechtsguts der „ungestörten (sexuellen) Entwicklung“. Da es für die Tatbestandsverwirklichung nicht darauf ankomme, ob tatsächlich eine Entwicklungsstörung eintritt, der Eintritt eines „Erfolges“ also mithin nicht Tatbestandsmerkmal sei, handele es sich um ein abstraktes Gefähr392 BGH NJW 1987, 2450; OLG München, Beschluss vom 30.01.2006 – Az. 5St RR 206 / 05; auch BSGE, 77, 7 (8); BVerwGE 136, 173 (181); Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 10 Rn. 4; Barabas, Sexualität und Recht, S. 98; Campbell, Der intrafamiliäre sexuelle Kindesmißbrauch, S. 55; Dölling / Laue, in Amann / Wipplinger, Sexueller Missbrauch, S. 889 (892); Fischer, StGB, § 176 Rn. 2; Frühsorger, Straftatbestand, S. 23; Gössel, Das neue Sexualstrafrecht, § 6 Rn. 2; Gössel / Dölling, Strafrecht BT, § 27 Rn. 2; HK-GS / Laue, § 176 StGB Rn. 1; Ilg, Der strafrechtliche Schutz, S. 42; Kett-Straub, ZRP 2007, 260 (261); Laubenthal, Sexualstraftaten, Rn. 327; LK / Laufhütte (11. Aufl.), § 176 Rn. 1; Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176 Rn. 5; Molketin, NStZ 1992, 179; NK / Frommel, § 176 Rn. 11; Schönke / Schröder / Eisele, § 176 Rn. 1a; SK / Wolters, § 176 Rn. 2.
III. Derzeitiger Meinungsstand zur Deliktsnatur des § 176 StGB 235
dungsdelikt. Die konkrete Gefahr oder der Schaden für das psychische oder physische Wohl des Kindes seien nur „gesetzgeberisches Motiv“.393 Der Gesetzgeber habe sich aufgrund der Schwierigkeiten, einen Gefährdungsoder Verletzungserfolg im Einzelfall festzustellen, für die Normierung als abstraktes Gefährdungsdelikt entschieden.394 Mitunter wird diese Auffassung dahingehend modifiziert, dass § 176 StGB als „Risikodelikt“ eingestuft wird.395 Armin Kaufmann, auf den dieser Deliktstyp zurückgeht, subsumierte unter den Begriff „Risikodelikt“ de lege ferenda zu schaffende Strafnormen, bei denen ein Verhalten pönalisiert wird, dessen mögliche Kausalität für einen Erfolg nach dem Stand der Wissenschaft zweifelhaft ist, wobei diese Zweifel in der Tatbestandsfassung unmittelbar zum Ausdruck kommen.396 Dogmatisch wären solche Strafnormen zwischen abstrakten Gefährdungsdelikten und (Gefahr-)Erfolgsdelikten zu verorten. Soweit die lex lata § 176 StGB als Risikodelikt eingeordnet wird, wird dies mit den wissenschaftlichen Zweifeln am Kausalzusammenhang zwischen Tathandlung und Schädigung begründet.397 Indes wird § 176 StGB hierdurch nicht zu einem Risikodelikt im Sinne Kaufmanns, denn der Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern enthält in seiner derzeitigen Fassung keinen Verweis auf die unklare Kausalität.398 Die Einordnung als Risikodelikt käme demnach allenfalls dann in Betracht, wenn dieser Begriff so verstanden würde, dass er Tatbestände erfasst, die ein Verhalten pönalisieren, bei dem die „generelle Eignung“ zur Rechtsgutsbeeinträchtigung ungewiss ist.399 Selbst bei dieser Lesart überzeugt die Einstufung des § 176 StGB als Risikodelikt jedoch nicht, weil die Eignung, Entwicklungs393 Kramer,
Sexualdelikte, S. 53; NK / Frommel, § 176 Rn. 11. Deliktstypen, S. 65; Frommel, in Salgo, Vom Umgang der Justiz mit Minderjährigen, S. 31 (33) = KritV 1995, 177 (181). 395 Schönke / Schröder / Perron / Eisele (28. Aufl.), § 176 Rn. 1; SK / Wolters, § 176 Rn. 2. 396 Vgl. Armin Kaufmann JZ 1971, 569 (576); s. auch Graul, Präsumtionen, S. 128 ff.; Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter, S. 204 ff. 397 Schönke / Schröder / Perron / Eisele (28. Aufl.), § 176 Rn. 1; SK / Wolters, § 176 Rn. 2. Das Bundessozialgericht geht in einer Entscheidung zum Opferentschädigungsrecht (BSGE 77, 7) davon aus, dass Zweifel an der Kausalität nicht mehr bestünden und moniert deshalb die Einordnung als „abstraktes Gefährdungsdelikt“. Das Gericht verkennt damit, dass das Vorhandensein oder Fehlen von Zweifeln an der Kausalität nichts an der Einordnung von § 176 StGB als „abstraktes Gefährdungsdelikt“ ändert, sondern nur den Weg zur Schaffung eines (Gefährdungs-)Erfolgsdelikts eröffnet. 398 Hierfür müsste der Wortlaut in Anlehnung an Armin Kaufmann heißen: „Wer sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahre (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt, ohne dass eine Schädigung der Entwicklung des Kindes auszuschließen ist, wird … bestraft“. 399 So die Lesart von Graul, Präsumtionen, S. 128. 394 Anastasopoulou,
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
störungen herbeizuführen, hinsichtlich zahlreicher tatbestandsmäßiger Verhaltensweisen außer Zweifel steht. Ebenfalls im Hinblick auf die unklaren Verursachungszusammenhänge geht Schroeder von einem abstrakten Gefährdungsdelikt „eigener Art“ aus.400 Der Unterschied zu den klassischen Gefährdungsdelikten liege darin, dass die Gefahr nicht nur in einzelnen Fällen vermutet werde, sondern sich in allen Fällen nicht exakt nachweisen lasse.401 Gleichfalls relativierend ist die Formulierung, dass § 176 StGB „einem abstrakten Gefährdungsdelikt vergleichbar“402 sei. Dabei wird zwar nicht erläutert, warum § 176 StGB nicht unmittelbar als abstraktes Gefährdungsdelikt eingeordnet wird, doch dürften der begrifflichen Zurückhaltung dieselben Überlegungen zu Grunde liegen wie der Einstufung als „Risikodelikt“. Aus rechtshistorischer Sicht bemerkenswert ist, dass die Unzucht mit Kindern im E1962403 im Bereich bestimmter geringfügiger Tathandlungen (§ 212 Abs. 2 Nr. 1) als Eignungsdelikt ausgestaltet werden sollte. Nach diesem nicht in Kraft getretenen Gesetzesentwurf wäre die Strafbarkeit in bestimmten Fällen von der „Eignung, Kinder in geschlechtlicher Hinsicht zu gefährden“ abhängig gewesen, die im Einzelfall zu prüfen gewesen wäre.404 Damit wäre die Unzucht mit Kindern insoweit zwischen einem abstrakten und einem konkreten Gefährdungsdelikt anzusiedeln gewesen.405 2. Verletzungsdelikt Diejenigen, die die „sexuelle Selbstbestimmung“ als geschütztes Rechtsgut des § 176 StGB ansehen, ordnen den Tatbestand hingegen als Verletzungsdelikt ein.406 Pointiert drückt Hörnle dies wie folgt aus: „Sexuelle Handlungen zu Lasten von Kindern verletzen zum Zeitpunkt der Handlung Rechte der Betroffenen.“407 400 Schroeder,
Das neue Sexualstrafrecht, S. 43. Das neue Sexualstrafrecht, S. 43; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 1, § 20 Rn. 4. 402 BGHSt 38, 68 (69); BeckOK / Ziegler, § 176 Rn. 6. 403 BT-Drucks. IV / 650. 404 Dazu Hanack, ZStW 77 (1965), 398 (464); s. auch die Begründung BTDrucks. IV / 650, S. 371. 405 Zum Eignungsdelikt grundlegend Hoyer, Die Eignungsdelikte, S. 201; ders., JA 1990, 183 (186 ff.); s. auch Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 76 ff.; Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 35 Rn. 81 ff. 406 LK / Hörnle, § 176 Rn. 3; MK / Renzikowski, § 176 Rn. 4; jüngst auch AnwKomm / Deckers, § 176 Rn. 7. Vgl. zudem Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176 Rn. 3. 407 LK / Hörnle, § 176 Rn. 3. 401 Schroeder,
IV. Eigener Ansatz237
Renzikowski spricht ohne inhaltliche Abweichung von einem „aktuellen Eingriff in die Rechtssphäre des Kindes“.408 Er stellt hierbei klar, dass die Einordnung als Verletzungsdelikt sich auf die Alternativen des § 176 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 4 Nr. 1, 2 und 4 StGB beschränkt.409 Hingegen handele es sich bei § 176 Abs. 4 Nr. 3 und Abs. 5 StGB um abstrakte Gefährdungsdelikte.410 Im Hinblick darauf, dass die letztgenannten Tatbestandsvarianten Vorfeldbeziehungsweise Vorbereitungsdelikte betreffen, ist diese Differenzierung sicherlich richtig. Insbesondere kann gegen diese Unterscheidung nicht eingewandt werden, dass in der Folge innerhalb des § 176 Abs. 4 StGB bei gleicher Strafdrohung sowohl Verletzungs- als auch Gefährdungsdelikte enthalten sind,411 denn bei den einzelnen Ziffern des Absatz 4 handelt es sich um inhaltlich voneinander verschiedene Tatbestände. 3. Zwischenergebnis Die vorstehende Darstellung belegt den engen Zusammenhang zwischen Rechtsguts und Deliktsnatur. Vor dem Hintergrund des jeweils zu Grunde gelegten Rechtsguts sind die Ausführungen zur Deliktsnatur jeweils folgerichtig.412 Da, wie dargelegt,413 keine der vorgestellten Rechtsgutsbestimmungen überzeugend ist, muss die korrekte Einordnung von § 176 StGB als Verletzungs- oder Gefährdungsdelikt einstweilen offen gelassen werden.414
IV. Eigener Ansatz Nachdem die vorstehende Untersuchung ergeben hat, dass die im Schrifttum vertretenen Ansichten zum Rechtsgut des § 176 StGB nicht überzeugend sind, soll im Folgenden ein eigener Ansatz entwickelt werden. Dabei wird zu berücksichtigen sein, dass der Tatbestand des § 176 StGB sich aus mehreren Delikten zusammensetzt,415 sodass mehrere Rechtsgüter geschützt sein könnten. Allerdings kann es auch sein, dass – wie bei den meisten 408 MK / Renzikowski,
§ 176 Rn. 3. § 176 Rn. 4; s. auch AnwKomm / Deckers, § 176 Rn. 7. 410 MK / Renzikowski, § 176 Rn. 6; ebenso LK / Hörnle, § 176 Rn. 7. 411 So aber tendenziell Frühsorger, Straftatbestand, S. 19. 412 Diesen Zusammenhang verkennt Frühsorger (Straftatbestand, S. 19), dessen Kritik an der Einordnung des § 176 StGB als „Verletzungsdelikt“ daher fehlgeht. Nicht nachvollziehbar sind im Übrigen auch die dort geäußerten Bedenken, die sich aus der grammatikalischen und der systematischen Auslegung ergeben sollen. 413 C. II. 414 s. zum Ergebnis der eigenen Auffassung unten C. IV. 4. 415 MK / Renzikowski, § 176 Rn. 4. 409 MK / Renzikowski,
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
Strafnormen – ein einheitliches Rechtsgut bestimmt werden kann, da die Zusammenfassung mehrerer Verbote in einer Strafvorschrift häufig gerade wegen ihrer einheitlichen Schutzrichtung erfolgt. 1. Rechtsgutsermittlung durch Auslegung Zur Ermittlung des geschützten Rechtsguts des § 176 StGB ist der Straftatbestand auszulegen.416 Zugrunde gelegt werden hierbei die vier klassischen Auslegungsmethoden, also die Untersuchung der Strafvorschrift im Hinblick auf Wortlaut, Historie, Systematik und Zweck. a) Grammatikalische Auslegung Wie bereits dargelegt wurde, ist die Wortlautauslegung für die Ermittlung des Rechtsguts von besonderer Bedeutung.417 Insbesondere die in der Strafnorm umschriebene Tathandlung ermöglicht Rückschlüsse auf das geschützte Rechtsgut. Hierfür ist eine Perspektive zu wählen, die den Rechtsgutsträger, also das Opfer, in den Blick nimmt. Dabei ist zu untersuchen, was durch die Tathandlung im Hinblick auf den Rechtsgutsträger beeinträchtigt wird. Die ersten beiden Absätze des § 176 StGB betreffen aus Perspektive des Rechtsgutsträgers die Vornahme von sexuellen Handlungen durch den Rechtsgutsträger an einer anderen Person sowie das Stattfinden von sexuellen Handlungen am Rechtsgutsträger.418 Wesentliche Bedeutung kommt demnach dem Begriff der sexuellen Handlung zu, der trotz seiner Schlüsselstellung im Sexualstrafrecht nicht im Gesetz definiert wird und lediglich in § 184g Nr. 1 StGB eine gewisse Präzisierung erfährt. Weiteren Tatbestandsmerkmalen wie „vornehmen“, „vornehmen lassen“ und „bestimmen“ kommt demgegenüber keine wesentliche Bedeutung zu, da sie weitgehend inhaltsleer sind. Als weitere aus Perspektive des Rechtsgutsträgers relevante Tathandlung ist die in § 176 Abs. 4 Nr. 1 und 4 StGB enthaltene Konfrontation mit sexuellen Reizen zu nennen. Als solche sexuelle Reize kommen reale (Nr. 1) oder medial reproduzierte (Nr. 4) sexuelle Handlungen in Betracht. Es ist demnach ein Substantiv zu suchen, mit dem umschrieben werden kann, welches Gut des Opfers beeinträchtigt wird, wenn es sexuelle Handlungen vornimmt, wenn solche Handlungen an ihm vorgenommen werden 416 Dazu
oben B. II. 1. c) bb).
417 B. II. 1. c) bb).
418 Entsprechendes gilt auch für die Varianten des § 176 Abs. 4 Nr. 2 und Nr. 3 StGB, in denen es ebenfalls um die Vornahme bzw. das Vornehmen-Lassen sexueller Handlungen durch den Rechtsgutsträger geht.
IV. Eigener Ansatz239
und wenn es mit ihnen konfrontiert wird. Gerade bei der Vornahme von sexuellen Handlungen am Rechtsgutsträger wird deutlich, dass ein Eingriff in seine Sphäre, eine Grenzüberschreitung stattfindet. Es erfolgt ein Eingriff in den Nahbereich, also eine Integritätsverletzung. Gleiches gilt aber für die Konfrontation mit sexuellen Handlungen, denn insoweit wird in den Nahbereich zwar nicht körperlich, aber mittels sinnlich wahrnehmbarer Reize eingedrungen. Des Weiteren stellt die Aufforderung zur Vornahme sexueller Handlungen eine Beeinträchtigung der sexuellen Sphäre dar. Entsprechendes gilt für die schlichte Vornahme sexueller Handlungen in Bezug auf einen anderen. Damit wird nicht nur in die Sphäre des anderen eingegriffen, sondern auch der eigene sexuelle Nahbereich geöffnet. Es zeigt sich also, dass alle beschriebenen Tathandlungen sich als Beeinträchtigungen einer sexuellen Sphäre beschreiben lassen. Für diese wird der Begriff der „sexuellen Integrität“ vorgeschlagen. Als Rechtsgut des § 176 StGB wäre demnach bei einer Annäherung an den Wortlaut der Tathandlungen die sexuelle Integrität oder – mit einem deutschen Synonym419 – die sexuelle Unversehrtheit anzusehen. Diese Rechtsgutshypothese soll nunmehr auch anhand der weiteren Auslegungsmethoden geprüft werden. b) Historische Auslegung Die historische Entwicklung des Straftatbestands des sexuellen Missbrauchs von Kindern und die zugehörige Rechtsgutsdiskussion wurden in den vorstehenden Abschnitten eingehend erörtert. In den Materialien zum Gesetzgebungsprozess finden sich rechtsgutsbezogene Stellungnahmen nur im Hinblick auf einen kriminalpolitischen Rechtsgutsbegriff. Die dort vorgeschlagene Rechtsgutsformulierung hat sich aus strafrechtsdogmatischer Perspektive als nicht tragfähig erwiesen. Daher ist die historische Auslegung für die Ermittlung des Rechtsguts des § 176 StGB nicht ergiebig. Allerdings findet sich in den Gesetzgebungsmaterialien immerhin eine gewisse Bestätigung dafür, dass der Begriff der „sexuellen Integrität“ treffend das Schutzobjekt des § 176 StGB beschreibt. So hat der Gesetzgeber diesen Begriff zur Darlegung seiner Intentionen im Hinblick auf das Sexualdelikteänderungsgesetz 2003420 herangezogen. In den Materialien heißt es: „Der derzeitige Rechtszustand kann nicht länger hingenommen werden. Es ist dringend erforderlich, verwerflichen Handlungen gegen die körperliche und sexuelle Integrität von Kindern […] mit allem Nachdruck entgegenzuwirken.“421 419 Zweifelhaft ist die Annahme Schroeders, der von einer Inkongruenz der Begriffe ausgeht; vgl. Schroeder, FS Hirsch, S. 725 (735). 420 BGBl. I 2003, S. 3007 ff. 421 BT-Drucks. 14 / 6709, S. 7.
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
Dies belegt, dass auch der Gesetzgeber die sexuelle Integrität von Kindern als Schutzgut ansieht, mag er es auch nicht ausdrücklich als „Rechtsgut“ bezeichnen. Damit bestätigt sich, dass der Begriff der sexuellen Integrität sich dazu eignet, zu umschreiben, was die Vorschrift des § 176 StGB schützt. c) Systematische Auslegung Bei der systematischen Auslegung des § 176 StGB erscheint es sinnvoll, sich um eine Einordnung des Tatbestands in zwei Richtungen zu bemühen. Zum einen kann § 176 StGB zu anderen Regelungen des Sexualstrafrechts in Beziehung gesetzt werden [dazu aa)], zum anderen zu anderen Delikten, bei denen der Schutz von Kindern im Vordergrund steht [dazu bb)]. aa) Das systematische Verhältnis zu anderen Regelungen des Sexualstrafrechts In der Literatur finden sich vielfältige Bemühungen, die Tatbestände des 13. Abschnitts des Strafgesetzbuchs zu systematisieren. Viele Bemühungen gehen dahin, die Tatbestände nach dem jeweils geschützten Rechtsgut zu gruppieren.422 Dieser Ansatz ist im vorliegenden Kontext deshalb nicht zielführend, weil hier das geschützte Rechtsgut erst ermittelt werden soll. Eine weitere naheliegende Unterscheidung ist die Differenzierung von Missbrauchs- und Nötigungsdelikten.423 Hierbei wird der Tatbestand der sexuellen Nötigung (§ 177 StGB) den zahlreichen Missbrauchstatbeständen gegenübergestellt. In Anlehnung hieran soll sich im Folgenden auf das systematische Verhältnis von § 176 und § 177 StGB konzentriert werden. Beiden Vorschriften ist gemeinsam, dass sie Verbote von sexuellen Interaktionen enthalten. Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass § 177 StGB unterschiedslos Personen aller Altersgruppen schützt, während durch § 176 StGB nur Kinder geschützt werden. Kinder werden hiernach in einem weiteren Umfang vor sexuellen Interaktionen geschützt als Erwachsene.424 Der Schutz von Erwachsenen richtet sich, wie § 177 StGB zeigt, insbesondere gegen den Zwang zu sexuellen Interaktionen, während Kinder vor jedweder sexuellen 422 So bei Gössel / Dölling, Strafrecht BT / 1, § 27 Rn. 2 ff.; Heghmanns, Strafrecht BT, Rn. 677; Laubenthal, Handbuch, Rn. 94 ff.; Otto, Die einzelnen Delikte, § 66 Rn. 2 f.; Sonnen, Strafrecht BT, S. 68. 423 Etwa LK / Hörnle, vor § 174 Rn. 50 ff. 424 Jugendliche seien an dieser Stelle zur Erfassung des wesentlichen Unterschieds bewusst ausgeklammert. Vgl. insoweit insbesondere § 182 StGB.
IV. Eigener Ansatz241
Interaktion bewahrt werden sollen. Dieser Unterschied lässt sich zum einen mit Argumenten begründen, die das Kind und seine besondere Schutzbedürftigkeit in den Blick nehmen. Es kann aber auch der Fokus auf die Erwachsenen gerichtet werden: deren geringere Schutzbedürftigkeit ergibt sich daraus, dass im „Normalfall“425 eine sexuelle Interaktion mit ihnen faktisch nur mit ihrem Einverständnis oder eben aufgrund von Zwang426 stattfinden kann. Auf Rechtsgutsebene lässt sich dieser Zusammenhang anhand der Begriffe der sexuellen Integrität und der sexuellen Selbstbestimmung illustrieren. Ein Eingriff in die sexuelle Integrität ist bei Erwachsenen im „Normalfall“ nur denkbar, wenn das Einverständnis des Erwachsenen vorliegt oder wenn der Eingriff erzwungen ist. Der praktische Regelfall ist dabei, dass sexuelle Interaktionen mit Einverständnis der Beteiligten stattfinden. Eine allgemeine Kriminalisierung von Eingriffen in die sexuelle Integrität Erwachsener, die nur durch eine Einwilligung gerechtfertigt sein könnten, würde der sozialen Realität der Sexualität Erwachsener deshalb nicht gerecht. Dementsprechend wird bei Erwachsenen grundsätzlich nicht die sexuelle Integrität im Allgemeinen, sondern nur die Freiheit, Eingriffe in die sexuelle Integrität abzulehnen, also die sexuelle Selbstbestimmung, geschützt. Die Pönalisierung setzt also auf einer anderen Ebene an, die nicht isoliert das Faktum „Eingriff in die sexuelle Integrität“ betrachtet, sondern die darauf bezogene Haltung des Betroffenen, seinen Willen beziehungsweise seine Entscheidung in den Blick nimmt.427 Der Dualismus von Einverständnis und Zwang gilt auch bei Erwachsenen nicht uneingeschränkt, sondern eben nur im „Normalfall“. So gilt er nicht für überraschende Eingriffe in die sexuelle Integrität (beispielsweise überraschendes „Begrapschen“), vor denen Erwachsene dementsprechend auch nicht umfassend strafrechtlich geschützt sind.428 Weiterhin muss von dem Dualismus in den Fällen des § 179 StGB, der den sexuellen Missbrauch 425 Zu Sonderfällen vgl. insbesondere § 179 StGB und §§ 174a bis § 174c StGB sowie die nachfolgenden Ausführungen im Text. 426 Der Zwang muss nicht mittels qualifizierter Nötigungsmittel im Sinne des § 177 StGB erfolgen, sondern es kommen auch einfache Nötigungsmittel in Betracht (vgl. § 240 Abs. 1, Abs. 4 S. 2 Nr. 1 StGB). 427 Entsprechende Strukturen finden sich im Bereich der Vermögensdelikte. Ein strafrechtlicher Schutz des Vermögens findet nicht generell, sondern nur bei bestimmen Verhaltensmustern des Täters statt (zum Beispiel Täuschung [§ 263 StGB), Nötigung [§ 253 StGB] oder Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht [§ 266 StGB]). 428 Kritisch Adelmann, JURA 2009, 24 ff.; Schaefer / Wolf, ZRP 2001, 27 f., jeweils auch zur möglichen Erfassung durch Ehrdelikte. Kritisch zur strafrechtlichen Behandlung der Fälle des ohne Nötigungsmittel, jedoch ohne bzw. gegen den Willen des Opfers durchgeführten Sexualkontakts Pott, KritV 1999, 91 (104 ff.).
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
widerstandsunfähiger Personen regelt, abgewichen werden. Bei dieser Vorschrift stellt sich die Frage nach dem geschützten Rechtsgut nicht nur in ähnlicher Weise wie bei § 176 StGB, sondern sie ist wohl auch in ähnlicher Weise zu beantworten.429 Des Weiteren gilt der Dualismus von Einverständnis und Zwang nicht für den Fall der Konfrontation mit fremder Sexualität. Deshalb gibt es hierfür gesonderte Straftatbestände, insbesondere §§ 183 und 183a StGB. Insoweit werden also auch Erwachsene vor Eingriffen in ihre sexuelle Integrität geschützt. Freilich können sie – anders als Kinder – mit der Konfrontation einverstanden sein.430 Dass es bei den §§ 183 f. StGB um den Schutz der sexuellen Integrität geht, wird mitunter auch bei der Benennung des von diesen Vorschriften geschützten Rechtsguts deutlich, wenn es etwa mit der „Privatsphäre“431 oder der „psychischen und persönlichen Integrität“432 umschrieben wird.433 Das systematische Verhältnis von § 176 StGB zu anderen Vorschriften des Sexualstrafrechts lässt sich folglich gut erklären, wenn als geschütztes Rechtsgut des sexuellen Missbrauchs von Kindern deren sexuelle Integrität zugrunde gelegt wird. Die systematische Betrachtung des § 176 StGB im Hinblick auf das Gefüge des 13. Abschnitts des Strafgesetzbuchs stützt somit die hier vorgeschlagene Rechtsgutsformulierung. 429 Die Beiträge zur Rechtsgutsdiskussion bei § 179 StGB weisen auffallende Parallelen zu den Ansichten und Argumentationsmustern auf, die in der entsprechenden Diskussion zu § 176 StGB anzutreffen sind. Vgl. BeckOK / Ziegler, § 179 Rn. 5; Bungart, Sexuelle Gewalt gegen behinderte Menschen, S. 170 f.; Fischer, StGB, § 179 Rn. 2; Lackner / Kühl, § 179 Rn. 1; Laubenthal, Sexualstraftaten, Rn. 212; LK / Hörnle, § 179 Rn. 2; Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 179 Rn. 1; MK / Renzikowski, § 179 Rn. 1; NK / Frommel, § 179 Rn. 12; Schönke / Schröder / Eisele, § 179 Rn. 1; SK / Wolters, § 179 Rn. 2. Mitunter wird im Rahmen des § 179 StGB auch mit dem Begriff der sexuellen Integrität argumentiert, ohne ihn freilich zum Rechtsgut zu erheben; s. etwa BGHSt 32, 183 (186); Fahl, JURA 1998, 456 (459); Laubenthal, Handbuch, Rn. 322; MK / Renzikowski, § 179 Rn. 35; Reichenbach, GA 2003, 550 (559, 565). 430 Zur Einwilligung bei §§ 183 f. StGB, vgl. nur Fischer, StGB, § 183 Rn. 6; § 183a Rn. 5. 431 So MK / Hörnle, § 183 Rn. 1 und § 183a Rn. 1; Sick / Renzikowski, FS Schroe der, S. 603 (613). Vgl. auch BT-Drucks. VI / 3521, S. 53 („grober Eingriff in die Persönlichkeitssphäre“); ähnlich SK / Wolters, § 183 Rn. 1a. 432 So NK / Frommel, § 183a Rn. 1. 433 Zu weiteren Ansichten und zur Diskussion s. BeckOK / Ziegler, § 183 Rn. 2 und § 183a Rn. 2; Benz, Sexuell anstößiges Verhalten, S. 184 f.; Fischer, StGB, § 183 Rn. 2 und § 183a Rn. 2; Gössel, Das neue Sexualstrafrecht, § 7 Rn. 3; Heghmanns, Strafrecht BT, CD 21-05 Rn. 7; Horstkotte, JZ 1974, 84 (90); Lackner / Kühl, § 183 Rn. 1 und § 183a Rn. 1; Laubenthal, Handbuch, Rn. 719 und 744; LK / Laufhütte / Roggenbuck, § 183 Rn. 1 und § 183a Rn. 1; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 1, § 22 Rn. 3; Marx JZ 1972, 112 (113); Schönke / Schröder / Eisele, § 183 Rn. 1 und § 183a Rn. 1.
IV. Eigener Ansatz243
bb) Das systematische Verhältnis zu weiteren Kinderschutznormen Der Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern lässt sich aus gesetzessystematischer Sicht nicht nur zu anderen Vorschriften des Sexualstrafrechts, sondern auch zu anderen Kinderschutznormen in Bezug setzen. Die Straftaten zum Schutze von Kindern sind über das Strafgesetzbuch und die Nebengesetze verstreut.434 Abgesehen von einigen Normen im Sexualstrafrecht, handelt es sich insbesondere435 bei § 171 StGB (Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht), § 225 StGB (Misshandlung von Schutzbefohlenen), § 235 StGB (Entziehung Minderjähriger) und § 236 StGB (Kinderhandel) um spezifisch Kinder (sowie gegebenenfalls weitere hervorgehobene Personengruppen) schützende Normen. Im Folgenden soll zunächst dargelegt werden, welches welche Rechtsgüter bei diesen Delikten als geschützt angesehen werden. Dabei wird nicht verkannt, dass auch bei diesen Delikten das geschützte Rechtsgut zumeist umstritten ist. Gleichwohl kann die Untersuchung der Rechtsgüter dieser verwandten Vorschriften dazu herangezogen werden, das Rechtsgut des § 176 StGB besser zu erfassen. Recht einmütig ist der Meinungsstand bei § 171 StGB, insofern als die ganz herrschende Meinung die gesunde beziehungsweise ungestörte körperliche und psychische Entwicklung als geschütztes Rechtsgut ansieht.436 Dafür spricht zumindest, dass der Tatbestand die konkrete Gefahr für den Betroffenen, in seiner körperlichen und psychischen Entwicklung erheblich geschädigt zu werden, ausdrücklich voraussetzt. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zum Tatbestand des § 176 StGB, dessen Verwirklichung gerade nicht die Herbeiführung einer Entwicklungsstörung erfordert. Die herrschende Meinung sieht beim Tatbestand des Kinderhandels (§ 236 StGB) ebenfalls die „ungestörte körperliche und seelische Entwicklung“ als geschützt an.437 Wie bei § 176 StGB ist die Störung der Entwicklung jedoch bei Schroeder, FS Rolinski, S. 155 ff. werden hier zum einen Normen, bei denen es sich lediglich strafschärfend auswirkt, wenn ein Kind Opfer ist (insb. §§ 221 Abs. 2 Nr. 1, 232 Abs. 3 Nr. 1, 233a Abs. 2 Nr. 1 StGB) sowie Normen des Nebenstrafrechts. 436 BeckOK / Heuchemer, § 171 Rn. 1; Fischer, StGB, § 171 Rn. 2; Lackner / Kühl, § 171 Rn. 1; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 2, § 63 Rn. 49; Neuheuser, NStZ 2000, 174; NK / Frommel, § 171 Rn. 5; Otto, Die einzelnen Delikte, § 65 Rn. 31; Schönke / Schröder / Lenckner / Bosch, § 171 Rn. 1; kritisch MK / Ritscher, § 171 Rn. 2; zu den mit dieser Rechtsgutsbestimmung verbundenen Problemen: Bohnert, ZStW 117 (2005), 290 (293 ff.); Schramm, Ehe und Familie im Strafrecht, S. 355; SK / Wolters, § 171 Rn. 2. 437 BeckOK / Valerius, § 236 Rn. 1; Fischer, StGB, § 236 Rn. 2; Lackner / Kühl, § 236 Rn. 1; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 2, § 63 Rn. 58; MK / Wieck-Noodt, § 236 Rn. 1; Otto, Die einzelnen Delikte, § 65 Rn. 43; Schönke / Schröder / Eser / Eisele, § 236 Rn. 1; Schramm, Ehe und Familie im Strafrecht, 434 Überblick
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
nicht Voraussetzung für die Tatbestandserfüllung und auch empirisch dürfte die Tatbestandsverwirklichung nicht zwingend mit der Herbeiführung einer Entwicklungsstörung einhergehen, auch wenn zumindest § 236 Abs. 1 StGB ein Handeln „unter grober Vernachlässigung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht“ verlangt. Dementsprechend wird auch § 236 StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt eingestuft.438 Wie beim sexuellen Missbrauch von Kindern wird die Herbeiführung einer Gefahr der Schädigung der körperlichen oder seelischen Entwicklung im Rahmen einer Qualifikation strafschärfend berücksichtigt (vgl. § 236 Abs. 4 Nr. 2 StGB und § 176a Abs. 2 Nr. 3 StGB). Die Rechtsgutsbestimmung des § 236 StGB dürfte ähnlichen Bedenken begegnen wie die des § 176 StGB. Obwohl beim Kinderhandel „Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit“ unbestritten sind,439 fällt auch bei diesem Tatbestand eine präzise Rechtsgutsfassung schwer. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass zum Teil auch das Kindeswohl und die Menschenwürde als geschützte Rechtsgüter angesehen werden,440 also extrem weite und nicht klar definierbare Begriffe zum Rechtsgut erhoben werden. Beim Tatbestand der Misshandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 StGB) werden die „körperlichen Unversehrtheit und die psychische Integrität“,441 mit anderen Worten die psychische und physische Unversehrtheit, als geschützte Rechtsgüter angesehen.442 Mit dem Rechtsgut der psychischen Integrität443 wird die Tatvariante des „Quälens“ in den Blick genommen. Bei dieser Variante setzt die Tathandlung keine physische Substanzbeeinträchtigung voraus, sondern es wird ein immaterielles, unsichtbares, aber gleichwohl existentes Gut verletzt. Im vorliegenden Zusammenhang ist S. 469; Schroeder, FS Rolinski, S. 155 (160 f.); SK / Wolters, § 236 Rn. 2; Wessels / Hettinger, Strafrecht BT / 1, Rn. 445. 438 BT-Drucks. 13 / 8587, S. 40 f.; BeckOK / Valerius, § 236 Rn. 1; Fischer, StGB, § 236 Rn. 2; Lackner / Kühl, § 236 Rn. 1; LK / Gribbohm (11. Aufl.), § 236 Rn. 24; MK / Wieck-Noodt, § 236 Rn. 3; Otto, Die einzelnen Delikte, § 65 Rn. 43; Schönke / Schröder / Eser / Eisele, § 236 Rn. 1; SK / Wolters, § 236 Rn. 2; Wessels / Hettinger, Strafrecht BT / 1, Rn. 445. 439 So NK / Sonnen, § 236 Rn. 12. 440 So insb. NK / / Sonnen, § 236 Rn. 9. Diese Rechtsgutsbestimmung findet eine Stütze in den Gesetzgebungsmaterialien: BT-Drucks. 13 / 6038, S 6. 441 Fischer, StGB, § 225 Rn. 2. 442 Vgl. mit nur geringfügigen Unterschieden in der Formulierung: BeckOK / Eschelbach, § 225 Rn. 1; MK / Hardtung, § 225 Rn. 1; Schönke / Schröder / Stree / Sternberg-Lieben, § 225 Rn. 1 / 2; s. aber auch eingehend NK / Paeffgen, § 225 Rn. 2 f. Die körperliche und geistig-seelische Entwicklung sehen SSW / Momsen / Momsen-Pflanz, § 225 Rn. 3 als geschützt an. 443 s. zum strafrechtlichen Schutz der psychischen Integrität eingehend Bloy, FS Eser, S. 233 ff.; Knauer, Schutz der Psyche, S. 39 ff., 80 ff.; Steinberg, JZ 2009, 1053 (1059 f.).
IV. Eigener Ansatz245
diese Rechtsgutsumschreibung insofern bemerkenswert, als sie die Annahme stützt, dass eine Koppelung der Substantive „Unversehrtheit“ und „Integrität“ mit einem präzisierenden Adjektiv zur Beschreibung eines – auch unkörperlichen – Rechtsguts Sinn ergibt. Zugleich ist aber eine Differenzierung bei der Rechtsgutsdefinition zwischen § 225 StGB und § 176 StGB erforderlich. Es erscheint richtig, als Rechtsgut des § 225 StGB unter anderem die seelische Unversehrtheit anzusehen, da die Tathandlung des „Quälens“ gerade die Herbeiführung seelischen (oder körperlichen) Leidens bedeutet.444 Das Rechtsgut des § 176 StGB kann nicht ebenfalls in der „seelischen Integrität“ erblickt werden,445 denn ein „Schaden für die Seele“ geht mit der Tatbestandsverwirklichung nicht notwendigerweise einher. Insofern kann auf die Ausführungen zum Rechtsgut der „ungestörten (sexuellen) Entwicklung“ verwiesen werden.446 Der Tatbestand der Entziehung Minderjähriger (§ 235 StGB) schützt zum einen ein Rechtsgut des Sorgeberechtigten, dem der Minderjährige entzogen wird. Daneben wird nach herrschender Auffassung seit der Neufassung durch das 6. Strafrechtsreformgesetz aber auch ein Rechtsgut des Minderjährigen geschützt. Dieses wird teilweise als „körperliche und seelische Integrität“,447 überwiegend aber als „ungestörte körperliche und seelische Entwicklung“ bezeichnet.448 Mit diesen unterschiedlichen Bezeichnungen sind aber keine inhaltlichen Abweichungen verbunden, wie sich auch daran zeigt, dass sie beispielsweise von Wieck-Noodt miteinander verknüpft werden.449 Das Rechtsgut wird dabei aus dem mit der Reform eingeführten Qualifikationstatbestand des § 235 Abs. 4 Nr. 1 StGB hergeleitet, der eine schärfere Bestrafung für den Fall vorsieht, dass der Täter „das Opfer durch 444 Vgl. BGHSt 41, 113 (115); BGH NStZ 2004, 94; NStZ-RR 07, 304; NStZ 2013, 466 (467); BeckOK / Eschelbach, § 225 Rn. 16; Eisele, Strafrecht BT I, Rn. 405; Gössel / Dölling, Strafrecht BT / 1, § 14 Rn. 11; Lackner / Kühl, § 225 Rn. 4; MK / Hardtung, § 225 Rn. 11; NK / Paeffgen, § 225 Rn. 13; Rengier, Strafrecht BT / 2, § 17 Rn. 5; Schönke / Schröder / Stree / Sternberg-Lieben, § 225 Rn. 12; SK / Horn / Wolters, § 225 Rn. 10; Wessels / Hettinger, Strafrecht BT / 1, Rn. 313. 445 So aber Kohlrausch / Lange, StGB, § 176 Rn. I. 446 Dazu oben C. II. 1. b). 447 BeckOK / Valerius, § 235 Rn. 1; Schönke / Schröder / Eser / Eisele, § 235 Rn. 1; s. auch Nelles, in Dencker / Struensee / Nelles / Stein, Einführung in das 6. Strafrechtsreformgesetz 1998, Teil 3 Rn. 28; Schroeder, FS Rolinski, S. 155 (161). SSW / Schluckebier, § 235 Rn. 2 spricht vom „körperliche[n] und seelische[n] Wohlergehen“; s. auch eingehend zum Rechtsgut des § 235 StGB: Schramm, Ehe und Familie im Strafrecht, S. 461 ff., der uneinheitlich in den Begrifflichkeiten ist (vgl. S. 468 f.). 448 So bei BT-Drs 13 / 8587, S. 38; BGHSt 44, 355 (357); Eisele, Strafrecht BT I, Rn. 540; LK / Gribbohm (11. Aufl.), § 235 Rn. 32 ff.; NK / Sonnen, § 235 Rn. 5; SK / Wolters, § 235 Rn. 2; Wessels / Hettinger, Strafrecht BT / 1, Rn. 438. 449 MK / Wieck-Noodt, § 235 Rn. 8.
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
die Tat in die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung oder einer erheblichen Schädigung der körperlichen oder seelischen Entwicklung bringt“. Dieses Argument ist deshalb bemerkenswert, weil die Formulierung mit der in § 176a Abs. 2 Nr. 3 und Abs. 5 StGB übereinstimmt, nur mit dem Unterschied, dass bei § 176a StGB eine weitere Ausdifferenzierung der Strafrahmen erfolgt. Dieselbe Formulierung wird also im einen Fall als argumentative Stütze zur Begründung des Rechtsguts der „ungestörten (sexuellen) Entwicklung“, im anderen Fall zur Begründung des Rechtsguts der „körperlichen und seelischen Integrität“ herangezogen. Im Ergebnis zeigt sich beim systematischen Vergleich mit den anderen Kinderschutznormen, dass im Wesentlichen zwei Rechtsgutsbestimmungen bei diesen Delikten vorherrschen, nämlich solche, bei denen auf die ungestörte Entwicklung des Kindes abgestellt wird, und solchen, die die Integrität des Kindes, insbesondere dessen körperliche und psychische Integrität, in den Vordergrund rücken. Diese Rechtsgutsbestimmungen unterscheiden sich weniger im Hinblick auf ihre inhaltliche Bedeutung als auf ihre formale Konstruktion, wie sich insbesondere bei den zu § 235 StGB vertretenen Auffassungen zeigt. Aufgrund der Vielfalt der Rechtsgutsbezeichnungen bei anderen kinderschützenden Vorschriften, vermag die systematische Auslegung auf den ersten Blick sowohl die herrschende Meinung als auch die eigene Auffassung zum Rechtsgut des § 176 StGB zu stützen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass das Rechtsgut der „ungestörten Entwicklung“ bei § 171 StGB anders als bei § 176 StGB eine Stütze im Gesetzeswortlaut findet. Bei § 236 StGB steht die auf die „ungestörte Entwicklung“ abstellende Rechtsgutsbestimmung auf einem ähnlich wackeligen Fundament wie bei § 176 StGB. Hingegen bereitet die dogmatische Arbeit mit dem Rechtsgut der psychischen beziehungsweise seelischen Integrität keine Schwierigkeit, wie sich vor allem bei § 225 StGB zeigt. Angesichts der inhaltlichen und formalen Nähe zum anerkannten Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit verwundert dies nicht. Die Einbeziehung anderer Kinderschutznormen in eine systematische Betrachtung des § 176 StGB stützt somit die Annahme, dass das von dieser Norm geschützte Rechtsgut mit dem Begriff der sexuellen Integrität erfasst werden kann. d) Teleologische Auslegung Der Sinn und Zweck des § 176 StGB geht dahin, Kinder von äußeren sexuellen Einflüssen freizuhalten, ihnen mit anderen Worten eine „Schutz zone“450 zu geben, in der sie aufwachsen können, ohne dass sie mit Sexualität in Berührung kommen. Kinder sollen nicht aktiv oder passiv an sexu450 LK / Laufhütte
(11. Aufl.), vor § 174 Rn. 7; Schroeder, FS Welzel, S. 859 (870).
IV. Eigener Ansatz247
ellen Interaktionen beteiligt sein, beziehungsweise allgemeiner gesprochen nicht sexuellen Reizen ausgesetzt sein. Der Bundesgerichtshof hat dies wiederholt so ausgedrückt, dass die Strafbestimmung die „Zielsetzung“ verfolge, „die Gesamtentwicklung eines Kindes von vorzeitigen sexuellen Erlebnissen freizuhalten.“451 Dies ist in zweierlei Hinsicht ungenau, zum einen insofern als sämtliche sexuelle Erlebnisse bei Kindern als „vorzeitig“ anzusehen sind, die Strafbestimmung also nicht nur vor vorzeitigen, sondern vor jeglichen sexuellen Erlebnissen schützen soll. Zum anderen suggeriert das Wort „Erlebnis“ fälschlicherweise, dass tatsächlich eine bewusste Wahrnehmung des sexuellen Reizes erfolgen muss.452 Abgesehen von diesen Unschärfen erfasst die vorgenannte Beschreibung des Normzwecks durch die Rechtsprechung jedoch zutreffend den Gesetzeszweck. Zu betonen ist, dass dieser Zweck nicht durch weitere Zwecke präzisiert oder gar überlagert ist. Vielmehr handelt es sich um einen Selbstzweck, um einen „Wert an sich“, ähnlich wie die körperliche Unversehrtheit oder das Leben. Hier wie dort geht das Gesetz davon aus, dass ein strafrechtlicher Schutz unabhängig von den Konsequenzen der Tat im Einzelfall bestehen muss. Es kommt somit nicht auf die Relevanz der Tathandlung im Hinblick auf weitere potentielle „Zwecke“ an. Was das bedeutet, lässt sich anhand des Körperverletzungstatbestands illustrieren. Bei der Körperverletzung kommt es für die Begründung der Strafbarkeit nicht darauf an, ob die Tathandlung Schmerzen, eine Infektionsgefahr, eine Lebensverkürzung, eine ästhetische Entstellung oder ähnliches herbeiführt, sondern die körperliche Unversehrtheit ist als solche geschützt, mögen auch die vorgenannten Aspekte wichtige Gründe dafür zu sein, warum die Körperverletzung als strafwürdig und strafbedürftig angesehen wird. Entsprechend kommt es beim sexuellen Missbrauch von Kindern für die Strafbarkeit nicht darauf an, ob das Kind psychische oder physische Folgeschäden erleidet oder sein Selbstbestimmungsrecht missachtet wird. Vielmehr haben sexuelle Kontakte mit Kindern generell zu unterbleiben. Bei diesen weiteren Aspekten handelt es sich lediglich um gesetzgeberische Motive.453 Indem das Rechtsgut der Körperverletzungstatbestände als „körperliche Unversehrtheit“ bezeichnet wird, wird bereits mit der Rechtsgutsformulierung deutlich, dass die Strafbarkeit unabhängig von etwaigen Tatfolgen besteht. Eine entsprechende Bestimmung des Rechtsguts empfiehlt sich auch für die Vorschrift des § 176 StGB, bei der das Rechtsgut mit dem Begriff der „sexuellen Unversehrtheit“ bezeichnet werden kann. Hingegen 451 BGH (bei Dallinger) MDR 1974, 544 (545); StV 1989, 432; s. auch Fischer, StGB, § 176 Rn. 3. 452 s. dazu näher unten sub D. II. 1. a). 453 Zum Begriff des gesetzgeberischen Motivs s. B. II. 1. a) bb).
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
überzeugt es nicht, anstelle einer Rechtsgutsbestimmung eine Reihe von Zwecken anzugeben, wie es beispielsweise Albrecht vorgeschlagen hat: „Nach allem ist hinsichtlich des Sinn und Zwecks der Strafvorschrift der Unzucht mit Kindern von folgender Absicht des Gesetzgebers auszugehen: Jedes Kind soll unabhängig von seinem oder vom Willen seines Erziehungsberechtigten während seiner geistigen und sittlichen Entwicklungszeit in einer Sphäre aufwachsen, die so weit wie irgend möglich von Umständen und Vorgängen frei ist, die eine ungünstige Beeinflussung des Kindes in geschlechtlicher Hinsicht zur Folge haben und insbesondere den Sexualtrieb des Kindes frühzeitig zum Erwachen bringen können.“454
Eine solche Umschreibung des Gesetzeszwecks ist nicht überzeugend, weil es auf die „ungünstige Beeinflussung des Kindes in geschlechtlicher Hinsicht“ nicht ankommt. Vielmehr kommt es nur darauf an, dass die Kinder – in Anlehnung an Albrechts Formulierung – in einer Sphäre aufwachsen, die so weit wie irgend möglich von sexuellen Umständen und Vorgängen frei ist. Dieser umfassende Schutz des Kindes vor äußeren sexuellen Einflüssen kann gerade durch den Begriff der sexuellen Integrität oder sexuellen Unversehrtheit auf den Punkt gebracht werden. Der Tatbestand des § 176 StGB schützt eben, um verwandte (aber auch unschärfere) Begriffe heranzuziehen, die „Intimsphäre“455 beziehungsweise „Sexualsphäre“456 als solche. Anklänge einer solchen Rechtsgutsbestimmung finden sich bereits bei Renzikowski, der in seiner Kommentierung des § 176 StGB unter der Überschrift „Geschützte Rechtsposition“ folgende Überlegungen anstellt: „Ausgangspunkt für die Bestimmung des Schutzzwecks muss die Prämisse sein, dass jede sexuelle Handlung mit Körperkontakt in die Rechtssphäre des anderen eingreift und seine körperliche Integrität berührt.“457
Dies trifft insofern zu, als § 176 StGB Kinder vor einem Eingriff in ihre Rechtssphäre schützen soll. Allerdings kann Renzikowski nicht darin gefolgt werden, dass die körperliche Integrität berührt sei. Die Heranziehung dieses Rechtsguts der Körperverletzungstatbestände im Kontext des § 176 StGB ist zumindest irreführend, da der sexuelle Missbrauch von Kindern gerade keinen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit mit sich bringen 454 Albrecht, Die Unzucht mit Kindern, S. 207 mit Verweisen zu Niethammer, ZStW 57 (1938), 107 (111); Peters, JZ 1953, 207 (209). 455 Vgl. auch LK / Hörnle, vor § 174 Rn. 29; § 176 Rn. 3; aufgegriffen durch BGH NStZ 2011, 570 (571). 456 Vgl. Laubenthal, Sexualstraftaten, Rn. 344. 457 MK / Renzikowski, § 176 Rn. 1. Ähnlich Gnüchtel, Jugendschutztatbestände, S. 114.
IV. Eigener Ansatz249
muss. Beispielsweise sind intime Berührungen des Kindes einerseits tatbestandsmäßig, andererseits beeinträchtigten sie nicht die körperliche Integrität. Kritisch erscheint zudem die Betonung des Körperkontakts im Hinblick auf § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB, demzufolge sexuelle Handlungen vor einem Kind einen Unterfall des sexuellen Missbrauch von Kindern bilden. Diese Ungenauigkeiten dürften auch Renzikowski bewusst gewesen sein und haben vermutlich dazu beigetragen, dass er das Rechtsgut des § 176 StGB im Ergebnis nicht in der körperlichen Integrität, sondern in der „sexuellen Selbstbestimmung“ des Kindes erblickt.458 Diese Rechtsgutsbestimmung beruht bei ihm vor allem auf der Erwägung, dass das Rechtsgut nicht überzeugend mit dem Begriff der „ungestörten (sexuelle) Entwicklung“ erfasst werden kann. Er sieht den „Umweg über zukünftige Folgen“, den die herrschende Meinung gehe, als „überflüssig“ an.459 Es sei vielmehr „eine Position vorzuziehen, die den sexuellen Übergriff als aktuellen Eingriff in die Rechtssphäre des Kindes beschreibt.“460 Die „Rechtssphäre“ des Kindes, die in den Fällen des § 176 StGB beeinträchtigt wird, lässt sich mit dem Begriff der „sexuellen Integrität“ auf den Punkt bringen. So wird einerseits den zutreffenden Erwägungen, die sich bereits bei Renzikowski finden, Rechnung getragen. Andererseits braucht das Rechtsgut nicht unter Bezugnahme auf unpassende Begriffe wie die „körperliche Integrität“ oder die „sexuelle Selbstbestimmung“ beschrieben werden. e) Rechtsvergleich Abschließend soll kurz ein Blick auf andere Rechtsordnungen geworfen werden, um zu überprüfen, ob sich aus deren Rechtsdogmatik für die Frage nach dem Rechtsgut des § 176 StGB Erkenntnisse ableiten lassen. In den meisten anderen Rechtsordnungen ist der Rechtsgutsbegriff entweder nicht bekannt oder er spielt nur eine untergeordnete Bedeutung. Vor allem die spanische Strafrechtsdogmatik rezipiert seit langem die deutsche Rechtsgutslehre.461 Dabei weisen die Argumentationsmuster im Bereich des Sexualstrafrechts bemerkenswerte Ähnlichkeiten zur deutschen Diskussion auf. Der sexuelle Missbrauch von Kindern unter 13 Jahren ist nach Art. 183 des spanischen Strafgesetzbuchs (Código Penal) strafbe458 Dazu
oben C. II. 2. § 176 Rn. 3. 460 MK / Renzikowski, § 176 Rn. 3. Hervorhebung im Original fett gedruckt. 461 s. zu rechtsvergleichenden Aspekten der Rechtsgutslehre Bacigalupo, FS Jakobs, S. 1 ff. Der anglo-amerikanische Rechtskreis kennt den Rechtsgutsbegriff (bzw. ein entsprechendes Synonym) nicht, vgl. von Hirsch, in Hefendehl / von Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 13; Roxin, GA 2013, 434 (435). 459 MK / Renzikowski,
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
wehrt.462 Der Gesetzeswortlaut stellt auf einen Angriff auf die „indemnidad sexual“, also auf einen Angriff auf „die Freihaltung von Sexuellem“ beziehungsweise auf die sexuelle Integrität463 ab. In der spanischen Literatur werden unter dem Begriff des „bien jurídico“ (Rechtsgut) die Schwierigkeiten diskutiert, angesichts des empirischen Forschungsstandes den Zweck der Norm im Schutz der Persönlichkeitsentwicklung (desarrollo de su personalidad) oder des psychischen Gleichgewichts (equilibrio psíquico) zu erblicken.464 Es herrscht wohl die Ansicht vor, dass der Straftatbestand die im Werden begriffene sexuelle Freiheit („la libertad sexual in fieri“) schützt.465 Dies wird im Hinblick darauf kritisiert, dass ein noch nicht bestehendes, sondern erst künftiges Rechtsgut unschwer ge462 Articulo 183 1. El que realizare
actos que atenten contra la indemnidad sexual de un menor de trece años será castigado como responsable de abuso sexual a un menor con la pena de prisión de dos a seis años. 2. Cuando el ataque se produzca con violencia o intimidación el responsable será castigado por el delito de agresión sexual a un menor con la pena de cinco a diez años de prisión. 3. Cuando el ataque consista en acceso carnal por vía vaginal, anal o bucal, o introducción de miembros corporales u objetos por alguna de las dos primeras vías, el responsable será castigado con la pena de prisión de ocho a doce años, en el caso del apartado 1 y con la pena de doce a quince años, en el caso del apartado 2. 4. Las conductas previstas en los tres números anteriores serán castigadas con la pena de prisión correspondiente en su mitad superior cuando concurra alguna de las siguientes circunstancias: Cuando el escaso desarrollo intelectual o físico de la víctima la hubiera colocado en una situación de total indefensión y, en todo caso, cuando sea menor de cuatro años. Cuando los hechos se cometan por la actuación conjunta de dos o más personas. Cuando la violencia o intimidación ejercidas revistan un carácter particularmente degradante o vejatorio. Cuando, para la ejecución del delito, el responsable se haya prevalido de una relación de superioridad o parentesco, por ser ascendiente, o hermano, por naturaleza o adopción, o afines, con la víctima. Cuando el autor haya puesto en peligro la vida del menor. Cuando la infracción se haya cometido en el seno de una organización o de un grupo criminales que se dedicaren a la realización de tales actividades. 5. En todos los casos previstos en este artículo, cuando el culpable se hubiera prevalido de su condición de autoridad, agente de ésta o funcionario público, se aplicará, además, la pena de inhabilitación absoluta de seis a doce años. 463 Bei Gimbernat Ordeig (GA 2011, 284 [285]) ist die Überschrift des 8. Titels des spanischen Strafgesetzbuchs „Delitos contra la libertad e indemnidad sexuales“ sogar mit „Straftaten gegen die sexuelle Freiheit und die sexuelle Unversehrtheit“ übersetzt. 464 Muñoz Conde, Derecho Penal, S. 177. 465 Morales Prats / García Albero, in Quintero Olivares / Valle Muñiz, Comentarios al Nuevo Código Penal, S. 892.
IV. Eigener Ansatz251
schützt sein könne.466 Deshalb wird auch die Ansicht vertreten, der Straftatbestand schütze das Recht einer jeden Person, ihre sexuelle Aktivität in Freiheit entfalten zu dürfen („el derecho de toda persona a ejercer la actividad sexual in libertad“).467 Die Diskussion kreist also ähnlich wie in Deutschland um eine Rechtsgutsbegründung anhand der Konsequenzen für das Kind einerseits und den Begriff der sexuellen Selbstbestimmung andererseits. Es werden jedoch auch Begriffe als Rechtsgüter vorgeschlagen, die diesen Schwierigkeiten enthoben sind, wie beispielsweise die Intimität („la intimidad“), die Unantastbarkeit („la intangibilidad“) oder eben die „indemnidad sexual“.468 Es verwundert nicht, dass der Begriff der „indemnidad sexual“ in den Mittelpunkt der Umschreibung des tatbestandsmäßigen Verhaltens bei der Reform der Strafvorschrift des sexuellen Missbrauchs von Kindern in Spanien im Jahr 2010 gerückt wurde, denn mithilfe dieses Begriffs, der inhaltliche Parallelen zu dem der sexuellen Integrität aufweist, können die Schwierigkeiten einer folgenorientierten Betrachtung des Kindesmissbrauchstatbestandes umgangen werden. Auch in anderen Rechtsordnungen hat der Gesetzgeber erkannt, dass mit dem Begriff der „sexuellen Integrität“ die Schutzrichtung des sexuellen Missbrauchs von Kindern gut erfasst werden kann, mag dies auch nicht im Rahmen einer Rechtsgutsdiskussion geschehen, wie sie in Deutschland geführt wird. So werden in Österreich und in der Schweiz die Sexualstraftaten unter der Überschrift „Strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität“469 („und Selbstbestimmung“470) zusammengefasst.471 Teilweise wird dementsprechend das Rechtsgut der § 176 StGB entsprechenden Vorschrift in der 466 Muñoz
Conde, Derecho Penal, S. 178. Conde, Derecho Penal, S. 178. 468 Gómez Tomillo, in ders., Comentarios al Código Penal, Art. 183 § 1. S. auch die Online Quelle „enciclopedia juridica“ (http: / / www.enciclopedia-juridica.biz14. com / d / abusos-sexuales / abusos-sexuales.htm, letzter Abruf: 31.07.2014): El bien jurídico protegido es la libertad sexual. Ahora bien, […] cuando el sujeto pasivo resulta ser un menor de 12 años o persona que se halle privada de sentido o padezca un trastorno mental del que abusa el agresor, se evidencia que no puede hablarse en tales casos de la libertad sexual como bien jurídico protegido, por la sencilla razón de que la libertad sexual sólo puede apoyarse en la capacidad para conocer y entender el significado de la entrega sexual, y faltándole tal capacidad a menores, personas que padezcan trastorno mental o que se hallen privadas de sentido, también estará ausente la libertad sexual que no podrá ser menoscabada […]. Así y para tales supuestos, más que de la libertad sexual como bien jurídico protegido, debería hablarse de la „intimidad“, la „intangibilidad“ o la „indemnidad“. 469 Überschrift zu Art. 187 ff. des schweizerischen StGB. 470 Überschrift zu §§ 201 ff. des österreichischen StGB. 471 Um noch ein spanischsprachiges Land zu erwähnen: in Argentinien heißt die Titelüberschrift entsprechend „Delitos contra la integridad sexual“. 467 Muñoz
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sexuellen Integrität, teilweise aber auch im Anschluss an die deutsche Rechtsgutslehre in der „ungestörten sexuellen Entwicklung“ erblickt.472 Der Blick auf ausländische Rechtsordnungen offenbart, dass dort der Straftatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern ähnliche Fragen aufwirft wie hierzulande. Der Begriff der sexuellen Integrität und verwandte Termini sind dort teilweise etabliert, während sie in der deutschen Rechtsgutsdiskussion zu § 176 StGB bislang weitgehend unbeachtet sind. Der Rechtsvergleich bestätigt somit zumindest, dass mithilfe dieses Begriffs das Schutzgut der Vorschriften gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern gut umschrieben werden kann. Zugleich erstaunt bei der rechtsvergleichenden Analyse, dass auch in Rechtsordnungen, bei denen die sexuelle Integrität im Gesetz ausdrücklich erwähnt wird, das Schrifttum Schwierigkeiten hat, das Rechtsgut der Vorschriften gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern zu bestimmen. Dies dürfte teilweise in der unreflektierten Übernahme der deutschen Rechtsgutsdiskussion in diesen Rechtsordnungen begründet liegen, teilweise aber auch mit der unzureichenden Auseinandersetzung mit dem Rechtsgutsbegriff. f) Zwischenergebnis Nach Auslegung des § 176 StGB lässt sich festhalten, dass viel dafür spricht, das Rechtsgut des § 176 StGB in der „sexuellen Integrität“ beziehungsweise der „sexuellen Unversehrtheit“ zu erblicken. Diese Rechtsgutsbestimmung erlaubt es die Vielfalt der vom Straftatbestand erfassten Verhaltensweisen unter einen Begriff zu fassen, ohne dass es argumentativer Hilfskonstruktionen oder -argumentationen bedarf. Diese Rechtsgutsformulierung fügt sich zudem zwanglos in die Systematik anderer Rechtsgutsbestimmungen ein und bringt schließlich auch den Sinn und Zweck des § 176 StGB auf den Punkt. 2. Zum Begriff der sexuellen Integrität Bislang wurde der Begriff der sexuellen Integrität nicht näher erläutert. Im Hinblick auf das Problem der Zirkularität bei der Rechtsgutsbestimmung ist eine streng deduktive Begriffsbestimmung auch nicht möglich, da die nähere 472 Zum österreichischen Recht, s. Kienapfel / Schmoller, Grundriß des österreichischen Strafrechts BT / III, vor §§ 201 ff. Rn. 10 ff.; § 206, 207 Rn. 3; Wiener Kommentar / Philipp, § 206 Rn. 1; zum schweizerischen Recht, s. Basler Kommentar / Maier, Art. 187 Rn. 1 ff.; Stratenwerth / Jenny, Schweizerisches Strafrecht BT / 1, § 7 Rn. 2; Suter-Zürcher, Die Strafbarkeit der sexuellen Handlungen mit Kindern nach Art. 187 StGB, S. 31 ff.
IV. Eigener Ansatz253
Bedeutung des Begriffs Ausgangspunkt und Ergebnis der Tatbestandsauslegung zugleich ist.473 Im Bewusstsein dieses Grundsatzproblems soll im Folgenden gleichwohl eine Präzisierung des Begriffs der sexuellen Integrität erfolgen. Ausgangspunkt sind hierbei zum einen das Gesetz, zum anderen humanwissenschaftliche Erkenntnisse zum Phänomen der Sexualität. Die sexuelle Integrität kann definiert werden als das Freisein einer Person von äußeren sexuellen Reizen. Die sexuelle Integrität ist demnach dann beeinträchtigt, wenn sexuelle Reize von außen in die personale Sphäre eindringen. Jede Person verfügt unabhängig von ihrem Alter und ihren geistigen Fähigkeiten über eine solche sexuelle Integrität, die sie gewissermaßen als unsichtbare Hülle mit sich herumträgt. Diese Hülle wird versehrt, wenn sexuelle Reize in sie eindringen. Diese sexuellen Reize müssen exogen sein, also von außen kommen. Endogene sexuelle Reize, also beispielsweise sexuelle Phantasien und Träumereien, die ohne äußeren Einfluss entstehen, beeinträchtigen die sexuelle Integrität demnach nicht. Wesentlich für die Bestimmung der Begriffskonturen der sexuellen Integrität ist, was unter einem sexuellen Reiz zu verstehen ist. Ein Reiz oder Stimulus ist eine Einwirkung, die geeignet ist, eine Reaktion herbeizuführen. Wichtig ist, dass ein Reiz nicht zwingend eine Reaktion herbeiführt, sondern lediglich die entsprechende generelle Eignung besitzen muss. Sexuelle Reize sind dementsprechend solche Einwirkungen, die eine sexuelle Reaktion herbeizuführen vermögen. Als sexuelle Reaktion kommen sowohl körperliche als auch psychische Veränderungen in Betracht. Sie können mit unterschiedlichen Empfindungen einhergehen, die das gesamte Spektrum von lustvoll-erregend bis abstoßend oder beängstigend umfassen. Die Reaktionen, die sexuelle Reize auslösen, werden demnach nicht notwendig als angenehm empfunden, sondern können auch entgegengesetzte Emotionen auslösen. Es gibt verschiedene Arten sexueller Reize, wie sich anhand der Physiologie der Sexualität veranschaulichen lässt.474 Die Sexualität wird einerseits über das Gehirn gesteuert, daneben gibt es aber auch Anteile der Sexualität, die ohne Mitwirkung des Gehirns funktionieren. So lassen sich sogenannte Sexualreflexe, auch ohne Beteiligung des Gehirns durch Stimulation erogener Zonen herbeiführen.475 Die einfachste Form der Sexualität ist also eine 473 s.
oben B. II. 2. zu den physiologischen Grundlagen der sexuellen Reaktionen Buddeberg, Sexualberatung, S. 25 ff.; Masters / Johnson, Die sexuelle Reaktion, S. 19 ff., 38 ff.; 157 ff. Außen vor gelassen ist hier die Bedeutung sexueller Phantasien als sexueller Reiz. 475 Buddeberg, Sexualberatung, S. 25; Kinsey, Das sexuelle Verhalten der Frau, S. 544 ff.; s. auch Jänig, in Schmidt / Lang / Heckmann, Physiologie des Menschen, S. 403 (425 ff.); Silverthorn, Physiologie, S. 1196. 474 s.
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
solche, die durch simple Nervenstimulation erfolgt. Obwohl menschliche Sexualität praktisch fast immer unter Beteiligung der Sexualregionen des Gehirns abläuft, ist es für das Verständnis der Sexualität und zur korrekten Beschreibung des Spektrums der sexuellen Reize wichtig zu erkennen, dass es eine basale Form der Sexualität gibt, die auf einem sehr niedrigen Verarbeitungsniveau ohne Beteiligung des Gehirns abläuft. Als erste Gruppe sexueller Reize lassen sich demnach solche beschreiben, die über eine Stimulation peripherer Nervenendigungen erfolgen und nicht notwendigerweise zerebral verarbeitet werden müssen. Es handelt sich in der Terminologie der Sexualwissenschaftler Masters und Johnson um „somatogene Sexualstimuli“, also um Reize somatischen Ursprungs.476 Hierunter fallen vor allem Berührungen erogener Zonen,477 wobei die Berührung entweder unmittelbar durch einen Haut-Haut-Kontakt aber auch mittelbar durch einen Objekt-Haut-Kontakt erfolgen kann. Deshalb können auch Berührungen durch die Wäsche oder mithilfe eines Gegenstandes sexuelle Reize darstellen. Es genügt dabei nicht jede Berührung des Körpers, sondern es müssen sogenannte erogene Zonen berührt werden. Das sind zunächst die Genitalien, der Anus und die weibliche Brust, aber auch sonstige Körper- beziehungsweise genauer Hautregionen.478 Bei den „sonstigen Hautregionen“ kommt es für die Eignung zur Herbeiführung von sexuellen Reaktionen wesentlich auf die Art und Weise der Berührung an, die insbesondere bei zärtlichem Streicheln oder Massieren gegeben ist. Ähnliches gilt für Reizungen der Mundschleimhäute und der Zunge beim Küssen. Im juristischen Kontext wird aus Gründen der tatbestandlichen Bestimmtheit über die Eignung zur Herbeiführung sexueller Reaktionen hinaus ein klarer Sexualbezug verlangt, sodass beispielsweise ein zärtliches Streicheln der Arme oder des Nackens nicht als „sexuelle Handlung“ eingeordnet wird, mag es auch physiologisch geeignet sein, sexuelle Erregung herbeizuführen.479 In den Tatbeständen des Sexualstrafrechts werden die sexuellen Reize, die mit einer Stimulation peripherer Nervenendigungen verbunden sind, und hier als sexuelle Reize der ersten Gruppe beschrieben werden, als die „Vornahme sexueller Handlungen an einer Person“ umschrieben. Neben den vorgenannten sexuellen Reizen der ersten Gruppe gibt es diejenigen, die nur bei einer Verarbeitung im Gehirn geeignet sind, eine Reaktion herbeizuführen. In den Begrifflichkeiten von Masters und Johnson Masters / Johnson, Die sexuelle Reaktion, S. 21, 65 et passim. schon Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, S. 50 ff. 478 Überblick bei Kinsey, Das sexuelle Verhalten der Frau, S. 427 ff.; Silverthorn, Physiologie, S. 1195. 479 Vgl. Beck, Die sexuelle Handlung, S. 27; SK / Wolters, § 184g Rn. 6. 476 Vgl. 477 Vgl.
IV. Eigener Ansatz255
sind dies die Sexualstimuli psychischen Ursprungs.480 Diese körperliche oder emotionale Reaktion kann dabei sowohl positiv als auch negativ sein. Das Spektrum reicht von einem Empfinden als erregend und lustvoll bis hin zu einem als beängstigend und abstoßend, wobei die Reaktion sowohl von individuellen, also in der Person liegenden Faktoren, als auch von sozialen und situationalen Gegebenheiten abhängt. Sexuelle Reize bringen also nicht zwangsläufig positive Empfindungen mit sich, sondern können auch unangenehme Reaktionen herbeiführen. Damit führt die zerebrale Verarbeitung sexueller Reize zu einer hohen Komplexität des Phänomens der Sexualität. Bei den sexuellen Reizen, die nur bei einer Verarbeitung im Gehirn geeignet sind, eine Reaktion herbeizuführen, kann eine weitere Unterteilung in unmittelbare sexuelle Reize und mittelbare sexuelle Reize erfolgen. Diese unterscheiden sich hinsichtlich der erforderlichen Verarbeitungstiefe. Als unmittelbarer sexueller Reiz soll ein solcher bezeichnet werden, bei dem fremde Sexualität gleich in welcher Form wahrgenommen wird. Als wichtigstes Beispiel sei hier die Wahrnehmung des Sexualverhaltens anderer Personen genannt.481 Daneben sind die Wahrnehmung der Geschlechtsorgane oder der weiblichen Brust in einem sexuell konnotierten Zusammenhang sowie die Wahrnehmung von Sexualabsonderungen (insbesondere Ejakulat) in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Die Wahrnehmung kann sich auf ein reales Geschehen beziehen oder auf dessen mediale Wiedergabe, beispielsweise durch Bilder, Filme, aber auch durch erotische oder pornographische Literatur. Die Wahrnehmung kann sogar selbst generiert werden, indem innere Bilder (sexuelle Phantasien und Träume beziehungsweise Träumereien) erzeugt werden.482 Bei der Wahrnehmung dieser unmittelbaren sexuellen Reize spielt die visuelle Perzeption eine bedeutende Rolle. Zudem kommt taktilen, akustischen und olfaktorischen Sinneseindrücken eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung zu.483 Wie auch im Tierreich (dies stützt die Annahme vom vergleichsweise niedrigen zerebralen Verarbeitungsniveau) ist die Konfrontation mit fremder Sexualität oder fremden Geschlechtsorganen beim Menschen geeignet, (sexuelle) Reaktionen herbeizuführen, wobei diese von Lust- bis hin zu Ekelgefühlen reichen können. Es kann also eine zweite Gruppe sexueller Reize beschrieben werden, die zwar einer Verarbeitung im Gehirn bedürfen, um eine Reaktion herbeizuführen, die aber zugleich auf einem niedrigen Verarbeitungsniveau wirken. Strafrechtlich spielt diese Masters / Johnson, Die sexuelle Reaktion, S. 21, 65 et passim. Das sexuelle Verhalten der Frau, S. 496 ff. 482 Diese selbst generierten sexuellen Reize spielen im vorliegenden Kontext keine Rolle, sodass auf sie nicht weiter eingegangen werden soll. 483 Vgl. Buddeberg, Sexualberatung, S. 105. 480 Vgl.
481 Kinsey,
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
Gruppe sexueller Reize bei den Tatbeständen gegen exhibitionistisches Verhalten und im Pornographiestrafrecht eine wichtige Rolle. Im Rahmen des § 176 StGB betrifft dies die Tatalternativen des § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB (Vornahme sexueller Handlungen vor einem Kind) und des § 176 Abs. 4 Nr. 4 StGB (Einwirken auf ein Kind durch Vorzeigen pornographischer Abbildungen oder Darstellungen, durch Abspielen von Tonträgern pornographischen Inhalts oder durch entsprechende Reden). In der dritte Gruppen sexueller Reize sind solche zusammengefasst, die ebenfalls nur bei einer Verarbeitung im Gehirn Reaktionen hervorzurufen geeignet sind, wobei die Verarbeitung im Gehirn jedoch auf einem höheren Niveau stattfindet. Hiermit sind die Phänomene gemeint, bei denen ein komplexerer Gedankengang vorliegt, der dem Betroffenen die sexuelle Dimension der Situation erst offenbart. Ein sexueller Reiz der dritten Gruppe ist ein solcher, der geeignet ist, im Betroffenen das Bewusstsein hervorzurufen, dass die eigene Person oder das eigene Verhalten einen sexuellen Reiz für jemand anderen darstellt. Das Bewusstsein, dass die eigene Person oder das eigene Verhalten für eine andere Person einen sexuellen Reiz darstellt, kann wiederum positiv oder negativ, also als lustvoll oder abstoßend empfunden werden. Konkret geht es in dieser Gruppe darum, dass der Betroffene einen sexuellen Reiz der ersten oder zweiten Gruppe bei einer anderen Person herbeiführt, also beispielsweise deren erogene Zonen stimuliert oder sie mit seiner Sexualität oder seinen Geschlechtsorganen konfrontiert. Dies stellt jeweils nicht nur für das Gegenüber einen sexuellen Reiz dar, sondern auch für den Betroffenen selbst, weil er aufgrund seiner kognitiven Fähigkeiten (zumindest potentiell) in der Lage ist, zu erkennen, dass er für den anderen ein sexueller Reiz ist. Das Bewusstsein, für einen anderen ein sexueller Reiz zu sein, ist aber wiederum ein sexueller Reiz.484 Strafrechtlich kommt diese dritte Gruppe sexueller Reize vor allem zum Tragen, wenn der Tatbestand das „Vornehmenlassen einer sexuellen Handlung an sich oder einem Dritten“ verlangt. Im Rahmen des § 176 StGB ist sie darüber hinaus bei der Variante des Bestimmens eines Kindes zu sexuellen Handlungen (§ 176 Abs. 4 Nr. 2 StGB) von Bedeutung. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass unter sexueller Integrität das Freisein einer Person von äußeren sexuellen Reizen zu verstehen ist. Ein sexueller Reiz in diesem Sinne liegt vor, erstens wenn bei der Person sexuell relevante periphere Nervenendigungen stimuliert werden, zweitens sie 484 Dieses Phänomen wird in der sexualwissenschaftliches Literatur – soweit ersichtlich – nur am Rande angedeutet; s. etwa Kinsey, Das sexuelle Verhalten der Frau, S. 499: „In einer zwischenmenschlich-sexuellen Beziehung können die Sexualpartner sowohl aufeinander reagieren, als auch durch ihre gegenseitigen Reaktionen stimuliert werden.“
IV. Eigener Ansatz257
fremde Sexualität oder fremde Geschlechtsorgane wahrnimmt sowie drittens, wenn sie oder ihr Verhalten für eine andere Person einen sexuellen Reiz darstellt und ihr dies bewusst werden kann. Im vorliegenden Kontext, in dem die Kinder als Träger des Rechtsguts der sexuellen Integrität im Vordergrund stehen, ist nochmals zu betonen, dass sexuelle Reize solche sind, die generell geeignet sind, eine Reaktion herbeizuführen. Ob eine solche Reaktion ausbleibt, beispielsweise weil die sexuelle Dimension vom Betroffenen nicht erkannt wird, ist unerheblich.485 Etwas anderes gilt in den Fällen, in denen es auf eine bewusste (also zerebral verarbeitete) Wahrnehmung ankommt. Wenn bereits keine solche Wahrnehmung stattfindet, kann der sexuelle Reiz nicht „ankommen“ und deshalb auch keine Reaktionen herbeiführen. Rechtlich findet diese Überlegung in § 184g Nr. 2 StGB ihren Niederschlag, der besagt, dass sexuelle Handlungen vor einem anderen nur solche sind, „die vor einem anderen vorgenommen werden, der diesen Vorgang wahrnimmt.“ 3. Abgleich mit den Konstruktionsprinzipien des Rechtsguts Im Folgenden soll das Rechtsgut der „sexuellen Integrität“ mit den Konstruktionsprinzipien des Rechtsguts abgeglichen werden. Der Begriff ist zunächst inhaltlich bestimmt, wie auch die vorstehenden Erörterungen hierzu zeigen. Vor allem erfüllt er die beiden wichtigen Voraussetzungen, dass er zum einen ein umfassender, zum anderen zugleich ein möglichst eng gefasster Begriff ist. Sämtliche tatbestandsmäßige Verhaltensweisen stellen sich als Beeinträchtigungen der sexuellen Integrität dar. Die Vornahme sexueller Handlungen am Kind, das Vornehmenlassen sexueller Handlungen durch das Kind und die Tathandlungen des § 176 Abs. 4 Nr. 1, 2 und 4 StGB greifen unmittelbar in die sexuelle Integrität des Kindes ein. Die Tathandlungen des § 176 Abs. 4 Nr. 3 und Abs. 5 StGB liegen im Vorfeld einer solchen Verletzung der sexuellen Unversehrtheit des Kindes. Zugleich ist der Begriff der sexuellen Integrität so eng, dass er nicht auch eine Vielzahl weitere Phänomene, die nicht vom Straftatbestand des § 176 StGB erfasst sind, umfasst. Des Weiteren handelt es sich bei dem Begriff der sexuellen Integrität weder um einen relationalen Begriff noch ist das Rechtsgut als „Recht“ oder „Norm“ konstruiert. Es handelt sich damit um einen Rechtsgutsbegriff, der sämtliche konstruktiven Erfordernisse, die an ein Rechtsgut zu stellen sind, erfüllt. Dies ist angesichts der inhaltlichen und formalen Nähe zum Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit nicht überraschend. 485 Vgl. Fischer, StGB, § 176 Rn. 6; Laubenthal, Sexualstraftaten, Rn. 351; LK / Hörnle, § 176 Rn. 10; SK / Wolters, § 176 Rn. 3 f.; s. auch unten sub D. II. 1. c).
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C. Rechtsgut und Deliktsnatur des § 176 StGB
Abschließend sei – wie bereits an anderer Stelle allgemein geschehen486 – darauf hingewiesen, dass der Begriff der sexuellen Integrität als Idealbegriff konstruiert ist, aber als Relativbegriff zu verstehen ist. Eine bereits verletzte sexuelle Integrität kann daher ohne Weiteres nochmals oder tiefergehend beeinträchtigt werden. Zudem sei bemerkt, dass es sich bei der sexuellen Integrität, obgleich als solche nicht unmittelbar wahrnehmbar, nicht um ein Abstraktum, sondern um etwas tatsächlich Vorhandenes handelt. 4. Zur Deliktsnatur des § 176 StGB Legt man die sexuelle Integrität als Rechtsgut des § 176 StGB zugrunde, so bereitet die Bestimmung der Deliktsnatur dieser Vorschriften keine Schwierigkeiten. Es handelt sich beim Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern (mit Ausnahme der Vorfeldtatbestände des § 176 Abs. 4 Nr. 3 und Abs. 5 StGB487) um ein Verletzungsdelikt, da die Vornahme der Tathandlungen eine unmittelbare Beeinträchtigung des Rechtsguts mit sich bringt. Der Rechtsgutsträger, das Kind, erleidet durch die Tat eine unmittelbare und gegenwärtige Einbuße seines Rechtsguts, also seiner sexuellen Integrität. Die in den unterschiedlichen Varianten beschriebenen Tathandlungen beinhalten das Zufügen sexueller Reize, die den Zustand des „Freiseins“ von sexuellen Reizen unmittelbar beeinträchtigen. Es bleibt also festzuhalten, dass die meisten Varianten des § 176 StGB Verletzungsdelikte darstellen. Bei der „sexuellen Integrität“ handelt es sich zudem um ein Individualrechtsgut, sodass § 176 StGB in die Kategorie der individualrechtsgüterschützenden Delikte fällt. Dies entspricht bereits bisher der herrschenden Meinung488 und kann auch vor dem Hintergrund der hier vorgenommenen Rechtsgutsbestimmung bestätigt werden. 5. Fazit Es lässt sich also festhalten, dass § 176 StGB das Rechtsgut der sexuellen Unversehrtheit des Kindes schützt. Bei diesem Rechtsgut handelt es sich um einen „Wert an sich“, den der Gesetzgeber ohne Weiteres schützen darf, wenn nicht sogar schützen muss.489 Unter sexueller Integrität ist das Frei486 s.
dazu oben B. II. 1. b) dd). dieser Einschränkung s. auch MK / Renzikowski, § 176 Rn. 6. 488 s. aber auch Blei, Strafrecht AT, S. 91; Dreher, JR 1974, 45 (47); Otto, Die einzelnen Delikte, § 66 Rn. 1; gegen letzteren eingehend Bottke, FS Otto, S. 535 (545 ff.). 489 Vgl. auch Roxin, FS Hassemer, S. 573 (577 f.), der interessanterweise die „sexuelle Integrität“ in einer Reihe mit dem Leben, dem Eigentum, der Freiheit und der körperlichen Integrität als wichtiges Rechtsgut ansieht. 487 Zu
IV. Eigener Ansatz259
sein von äußeren sexuellen Reizen zu verstehen. Die sexuellen Reize, vor denen das Gesetz schützen will, sind vielschichtig und umfassen insbesondere Berührungen, die Konfrontation mit sexuellen Inhalten sowie das Bewusstsein, wiederum für einen anderen ein sexueller Reiz zu sein. Die von § 176 StGB erfassten Verhaltensweisen beeinträchtigen die sexuelle Integrität auf die ein oder andere vorgenannte Weise. Da die Beeinträchtigung unmittelbar mit der Tathandlung verbunden ist, handelt es sich bei § 176 StGB um ein Verletzungsdelikt.490 Abschließend sei darauf hingewiesen, dass das Rechtsgut der sexuellen Integrität von allen Varianten des § 176 StGB geschützt wird. Auch die Qualifikationen des § 176a StGB schützen dieses Rechtsgut, wobei der Schutz weiterer Rechtsgüter dort teilweise hinzutritt.491 Entsprechendes gilt für die Erfolgsqualifikation des § 176b StGB, die neben der sexuellen Integrität das Rechtsgut Leben schützt.492
490 Mit
StGB.
Ausnahme der Vorfeldtatbestände des § 176 Abs. 4 Nr. 3 und Abs. 5
491 Matt / Renzikowski / Eschelbach, 492 LK / Hörnle,
§ 176a Rn. 2; SK / Wolters, § 176a Rn. 1a. § 176b Rn. 1; Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176b Rn. 1.
D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB Nachdem das Rechtsgut des § 176 StGB durch Auslegung ermittelt wurde, sollen nun die sich aus der Rechtsgutsbestimmung ergebenden Folgerungen für ausgewählte strafrechtsdogmatische Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB erörtert werden. Dabei soll untersucht werden, ob und in welchen Bereichen sich aus der hier begründeten Rechtsgutsauffassung neue Antworten auf Auslegungsfragen ergeben, beziehungsweise bestimmte Rechtsauffassungen auf eine andere Argumentationsgrundlage gestellt werden können. Es wird dabei zu berücksichtigen sein, dass sich die Auslegung nicht allein am Rechtsgut orientieren kann, sondern auch weiteren Aspekten Rechnung tragen muss.1 Die Auswahl der Streitfragen folgt nicht dem Ziel einer vollständigen Darstellung und Kommentierung der Rechtsprobleme, die im Zusammenhang mit dem Straftatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern aufgeworfen werden. Vielmehr erfolgt die Auswahl lediglich mit dem Ziel, exemplarisch (und damit zwangsläufig auch fragmentarisch) die Folgerungen aus der gefundenen Rechtsgutsbestimmung aufzuzeigen. Hierbei erfolgt eine Unterteilung nach Problemen, die sich im Zusammenhang mit den allgemeinen Strafrechtslehren ergeben (dazu I.), und solchen, die unmittelbar die Normauslegung des § 176 StGB berühren (dazu II.)
I. Allgemeine Strafrechtslehren Hinsichtlich der allgemeinen Strafrechtslehren wurden bereits die Bereiche aufgezeigt, bei denen der Rechtsgutsbegriff eine Rolle spielt oder üblicherweise als argumentativer Anknüpfungspunkt herangezogen wird.2 Im Hinblick auf § 176 StGB werfen nicht alle diese Bereiche dogmatische Schwierigkeiten auf. Beispielsweise bedarf es zur Begründung der Verletzteneigenschaft des Kindes bei § 176 StGB keines Rückgriffs auf den Rechtsgutsbegriff.3 Deshalb werden im Folgenden nur die auf die allgemeinen Strafrechtslehren bezogenen Fragen behandelt, die im Rahmen des § 176 StGB dogmatische Schwierigkeiten aufwerfen. 1 Zu
den dazu 3 s. aber bach, § 176 2 s.
Grenzen der rechtsgutsbezogenen Auslegung B. II. 3. c). B. II. 3. auch OLG Stuttgart NStZ-RR 2012, 116; Matt / Renzikowski / EschelRn. 4.
I. Allgemeine Strafrechtslehren261
1. Die Einwilligung des Kindes in die Tat nach § 176 StGB Nach nahezu einhelliger Auffassung in der strafrechtswissenschaftlichen Literatur4 wirkt es sich rechtlich auf der Tatbestandsebene5 nicht aus, ob das Kind als Tatopfer dem sexuellen Missbrauch zugestimmt hat oder gar die Initiative von ihm ausgegangen ist.6 Erstaunlicherweise ist die dogmatische Begründung dieser Ansicht oftmals dürftig. So wird zumeist nicht dargelegt, ob es sich um eine Frage des tatbestandsausschließenden Einverständnisses oder der rechtfertigenden Einwilligung handelt.7 Vor allem wird aber zumeist nicht8 oder nur kursorisch9 herausgearbeitet, welche Voraussetzungen dieser Rechtsfiguren nicht erfüllt sind mit der Folge, dass die Zustimmung des Kindes im Ergebnis unerheblich ist. a) Überblick über die in der Literatur zu § 176 StGB vertretenen Begründungsansätze In der Literatur zu § 176 StGB finden sich vor allem auf einer kriminalpolitischen Ebene anzusiedelnde Begründungen, warum einvernehmliche Sexualkontakte mit Kindern unter Androhung von Strafe verboten werden sollten.10 Diese führen jedoch im Rahmen der Normauslegung des § 176 StGB nicht weiter, wenn rechtsdogmatisch nachgewiesen werden soll, warum die Zustimmung des Kindes für die Tatbestandsverwirklichung irrelevant ist, mit anderen Worten wie der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Norm der kriminalpolitischen Forderung Rechnung getragen hat. Im Folgenden erfolgt eine Auseinandersetzung mit den wenigen Begründungsansätzen, die sich in der Literatur zu dieser Frage finden.
4 Einen abweichenden rechtspolitischen Standpunkt vertritt Schetsche, MSchrKrim 1994, 201 ff. 5 Anders aber auf der Strafzumessungsebene, insbesondere (aber nicht nur) in Fällen von „Liebesbeziehungen“; vgl. BayObLGSt 1990, 138 (139); BGH StV 1989, 432 f.; BGH NStZ-RR 2009, 72; NStZ-RR 2013, 291; StraFo 2013, 520; Fischer, StGB, § 176 Rn. 35; LK / Hörnle, § 176 Rn. 51; MK / Renzikowski, § 176 Rn. 68; Schönke / Schröder / Eisele, § 176 Rn. 29. 6 RGSt 10, 158 (159); Barabas, Sexualität und Recht, S. 99; Kett-Straub, ZRP 2007, 260; Laubenthal, Handbuch, Rn. 440; Schönke / Schröder / Eisele, § 176 Rn. 1a; SK / Wolters, § 176 Rn. 2. 7 Laubenthal, Handbuch, Rn. 440. 8 Fischer, StGB, § 176 Rn. 3; Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176 Rn. 4; NK / Frommel, § 176 Rn. 10; Schönke / Schröder / Eisele, § 176 Rn. 1a. 9 Dazu sogleich unter D. I. 1. a). 10 Kritischer Überblick bei Ilg, Der strafrechtliche Schutz, S. 29 ff.
262
D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
Renzikowski weist zur Begründung der Irrelevanz der Einwilligung apodiktisch auf das „Fehlen der Dispositionsfähigkeit“11 hin. Dieser Begriff ist in der Einwilligungsdogmatik wenig gebräuchlich, sodass unklar bleibt, ob die Einwilligungsfähigkeit des Rechtsgutsträgers oder die Disponibilität des Rechtsguts gemeint ist. Renzikowski präzisiert folglich nicht, ob die Einwilligung im Hinblick auf eine Eigenschaft der Person oder im Hinblick auf ein Merkmal des preisgegebenen Rechtsguts im Ergebnis unbeachtlich ist. Laubenthal begründet seine Aussage, dass das durch § 176 StGB geschützte Rechtsgut nicht zur Disposition eines Kindes stehen könne, wie folgt: „Denn [sic!] nicht selten, sind es gerade kognitive Verzerrungen und Verdrehungen, die pädophilen Straftätern dazu dienen, ihre Verantwortung für das Tatgeschehen zu vernebeln, indem sie einer pädophilen Ideologie gemäß eine kindliche Einwilligung in das sexualbezogene Geschehen annehmen.“12
Unabhängig davon, ob diese phänomenologische Betrachtung zutrifft, vermag sie bereits deshalb nichts zur dogmatischen Frage beitragen, wie sich eine Zustimmung des Kindes rechtlich auswirkt, weil sie auf einer anderen argumentativen Ebene angeordnet ist. Die zugrunde gelegte empirische Perspektive ist zwar für die kriminalpolitische Entscheidung maßgebend, der Einwilligung keine Relevanz für die Strafbarkeit zuzuerkennen; sie führt jedoch nicht zur Entbehrlichkeit einer dogmatischen Einordnung dieser Entscheidung. Zudem gibt es durchaus Fälle, wie auch Laubenthal nicht verkennt,13 in denen die Einwilligungsproblematik nicht mit dem auf der Tatsachenebene angesiedelten Argument, es liege bloß die Schutzbehauptung eines pädophilen Straftäters vor, umschifft werden kann. Als Beispiel sind hier die Fälle echter Liebesbeziehungen zwischen einem Kind und einem Jugendlichen zu nennen. Hörnle begründet die fehlende Fähigkeit von Kindern zur wirksamen Einwilligung damit, dass „ihnen das Wissen um die soziale Bedeutung sexueller Handlungen fehlt“ sowie dass „sie im Verhältnis zu Erwachsenen und Jugendlichen infolge des altersbedingten Machtunterschiedes nicht in der Lage sind, eigene Interessen durchzusetzen“.14 Diese Ausführungen sind wiederum auf einer kriminalpolitischen Ebene angesiedelt. Sie können zwar herangezogen werden, um zu begründen, warum der sexuelle Missbrauch von Kindern unter Strafe gestellt ist, beantworten jedoch nicht hin11 MK / Renzikowski,
§ 176 Rn. 22. Handbuch, Rn. 440. 13 Dies zeigt sich an den einleitenden Worten „nicht selten“. 14 LK / Hörnle, § 176 Rn. 4; vgl. auch MK / Renzikowski, vor § 174 Rn. 26. 12 Laubenthal,
I. Allgemeine Strafrechtslehren263
reichend, warum eine im Einzelfall vorliegende Zustimmung stets unerheblich ist. Nach Deckers ist eine faktische Gestattung deshalb unerheblich, weil „im Verhältnis von Kindern zu Erwachsenen“ die „hohen Anforderungen“, die an eine wirksame Einwilligung in sexuelle Kontakte zu stellen seien, „regelmäßig“ nicht erfüllt seien.15 Diese Argumentation begegnet mehreren Bedenken. So pönalisiert § 176 StGB nicht nur Sexualkontakte zwischen Kindern und Erwachsenen, sondern auch zwischen Kindern und Jugendlichen. Des Weiteren suggeriert das Wort „regelmäßig“, dass es Ausnahmen gibt, bei denen durchaus eine rechtfertigende Einwilligung in Betracht kommt. Soweit ersichtlich, geht aber auch Deckers davon aus, dass eine faktische Gestattung auf Tatbestandsebene ausnahmslos unerheblich ist. Vor allem aber trifft es nicht zu, dass an eine Einwilligung in sexuelle Kontakte gemeinhin hohe Anforderungen gestellt werden. Vielmehr nimmt die Rechtsprechung im Rahmen des § 179 StGB an, dass auch geistig behinderte und mittelgradig intelligenzgeminderte Personen (deren kognitive Fähigkeiten die eines 13-Jährigen unterschreiten) in sexuelle Handlungen wirksam einwilligen können.16 Dies ist freilich dem Umstand geschuldet, dass man auch behinderten und psychisch kranken Menschen ein Sexualleben ermöglichen möchte.17 Gleichwohl zeigt sich hieran, dass Deckers Annahme, an eine wirksame Einwilligung in sexuelle Handlungen seien hohe Anforderungen zu stellen, in dieser Allgemeinheit unzutreffend ist.18 Vielmehr werden solche hohen Anforderungen nur bei § 176 StGB gestellt, was wiederum die Frage nach der dogmatischen Begründung aufwirft. Die vorstehende Analyse zeigt, dass in der Literatur zwar durchgehend erkannt wird, dass eine zustimmende Haltung des Kindes sich nicht auf die Strafbarkeit des Täters wegen § 176 StGB auswirkt. Die Begründungen, die sich im Schrifttum hierfür finden, sind jedoch zumeist erstaunlich oberflächlich und unpräzise und vermischen häufig dogmatische mit kriminalpolitischen Argumenten.
15 AnwKomm / Deckers,
§ 176 Rn. 3. nur Bungart, Sexuelle Gewalt gegen behinderte Menschen, S. 178 ff., 192 ff.; Fischer, StGB, § 179 Rn. 11a; BGH NStZ-RR 2005, 232 f.; NStZ-RR 2009, 14 f. 17 Vgl. nur Fischer, StGB, vor § 174 Rn. 9a; § 179 Rn. 16; s. auch Schall, JuS 1979, 104 f. 18 s. näher noch sogleich unter D. I. 1. b). 16 s.
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D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
b) Systematische Prüfung der rechtlichen Bedeutung des Einvernehmens Überlegungen zur rechtlichen Bedeutung der Zustimmung des Kindes für die Verwirklichung des Tatbestandes des sexuellen Missbrauchs von Kindern sollten an der Dogmatik zu Einverständnis und Einwilligung anknüpfen. Zunächst ist hierbei zu klären, welche dieser beiden Rechtsfiguren bei § 176 StGB einschlägig ist.19 Ein tatbestandsausschließendes Einverständnis kommt nur bei den Strafvorschriften in Betracht, die ein Handeln pönalisieren, das nach dem Gesetzeswortlaut gegen oder ohne den Willen des Tatopfers erfolgt.20 Dies ist bei § 176 StGB anders als etwa bei § 177 StGB nicht der Fall, sodass allein die Voraussetzungen der rechtfertigenden Einwilligung zu prüfen sind. aa) Disponibilität des Rechtsguts Eine rechtfertigende Einwilligung setzt zunächst voraus, dass das geschützte Rechtsgut disponibel ist, also ein Verzicht generell möglich ist.21 Diese Anforderung ist bei den Individualrechtsgütern mit Ausnahme des Lebens (vgl. § 216 StGB) im Allgemeinen erfüllt. Die sexuelle Integrität ist ähnlich wie die körperliche Integrität offensichtlich ein Individualrechtsgut, dessen Disponibilität jedenfalls bei Erwachsenen außer Frage steht.22 19 Zu dieser Unterscheidung grundlegend Geerds, Einwilligung und Einverständnis des Verletzten, S. 142 ff.; ders., ZStW 72 (1960), 42 ff.; s. auch Amelung / Eymann, JuS 2001, 937 (938); Beckert, JA 2013, 507 ff.; Geppert, ZStW 83 (1971), 947 (950); B. Heinrich, Strafrecht AT, Rn. 440; Krey / Esser, Strafrecht AT, Rn. 655 ff.; Kühl, Strafrecht AT, § 9 Rn. 25; Rengier, Strafrecht AT, § 23 Rn. 1 ff.; Schönke / Schröder / Lenckner / Sternberg-Lieben, vor § 32 Rn. 29 ff. Kindhäuser, FS Rudolphi, S. 135 ff. Teilweise wird die Differenzierung auch abgelehnt, vgl. etwa MK / Schlehofer, vor § 32 Rn. 126 ff.; Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT, § 9 Rn. 11. Andere erkennen an, dass es hinsichtlich der Voraussetzungen zu unterscheidendene Rechtsfiguren gibt, siedeln jedoch beide auf der Tatbestandsebene an, vgl. etwa Kindhäuser, FS Rudolphi, S. 135 (136 f.); Maurach / Zipf, Strafrecht AT / 1, § 17 Rn. 32 ff.; Rönnau, JURA 2002, 595 (597 f.); ders., JURA 2002, 665 (666); Weigend, ZStW 98 (1986), 44 (61). Zum Ganzen s. Roxin, Strafrecht AT / 1, § 13 Rn. 11. 20 Geerds, ZStW 72 (1960), 42 (45); B. Heinrich, Strafrecht AT, Rn. 441; Kühl, Strafrecht AT, § 9 Rn. 25; Schönke / Schröder / Lenckner / Sternberg-Lieben, vor § 32 Rn. 31; Rengier, Strafrecht AT, § 23 Rn. 3; Wessels / Beulke / Satzger, Strafrecht AT, Rn. 366. 21 B. Heinrich, Strafrecht AT, Rn. 455; Krey / Esser, Strafrecht AT, Rn. 663; Maurach / Zipf, Strafrecht AT / 1, § 17 Rn. 42; Wessels / Beulke / Satzger, Strafrecht AT, Rn. 372. 22 Nach Jescheck / Weigend, Strafrecht AT, S. 380 soll bei Sittlichkeitsdelikten grds. keine Einwilligung möglich sein, weil ein Rechtsgut der Allgemeinheit geschützt wird (wohl zustimmend LK / Rönnau vor § 32 Rn. 177).
I. Allgemeine Strafrechtslehren265
Die Beurteilung der Disponibilität führt bei Zugrundelegung anderer Ansichten zum Rechtsgut des § 176 StGB zu keinem anderen Ergebnis. So ist auch die „ungestörte (sexuelle) Entwicklung“ grundsätzlich disponibel, denn zumindest ein Erwachsener darf sich sexuellen Reizen aussetzen, die zu einer Gefährdung oder Schädigung seiner (sexuellen) Entwicklung führen.23 Bei Zugrundelegung des Rechtsguts der sexuellen Selbstbestimmung stellt sich die Frage der Disponibilität als solche nicht, denn bei den Selbstbestimmungsdelikten ist nicht die rechtfertigende Einwilligung, sondern das tatbestandsausschließende Einverständnis einschlägig. Die Möglichkeit einer strafbarkeitsausschließenden Zustimmung in die Tat, also eine Dispositionsmöglichkeit, ist damit jedoch impliziert. Nun könnte aus § 176 StGB eine altersmäßig beschränkte Disponibilität24 abgeleitet werden dergestalt, dass die sexuelle Integrität nur für Personen ab 14 Jahren als verfügbar anzusehen ist. Damit ließe sich gut begründen, warum eine Einwilligung beim sexuellen Missbrauch von Kindern stets ausscheidet. Diese Lösung überzeugt jedoch aus dogmatischen Gründen nicht, denn die Disponibilität ist eine Voraussetzung der Rechtsfigur der rechtfertigenden Einwilligung, die am Rechtsgut und nicht an der Person des Rechtsgutsträgers anknüpft. Wenn man das Alter in die Prüfung der Disponibilität einbezöge, würde man die Trennung zwischen rechtsgutsbezogenen und personenbezogenen Voraussetzungen der rechtfertigenden Einwilligung aufgeben. bb) Verfügungsberechtigung des Einwilligenden Weitere Voraussetzung einer rechtfertigenden Einwilligung ist die Verfügungsberechtigung des Einwilligenden. Dispositionsbefugt ist die Person des Rechtsgutsträgers.25 Im Hinblick auf die sexuelle Integrität wäre das jeweilige Kind als alleiniger Rechtsgutsträgers dispositionsbefugt. Eine rechtfertigende Einwilligung in eine Tat nach § 176 StGB scheidet in Fällen, in denen beispielsweise die Eltern oder andere gesetzliche Vertreter (zum Beispiel Vormund) ihre Zustimmung erteilen, daher aufgrund fehlender Dispositionsbefugnis des Einwilligenden aus.26 Mit der fehlenden 23 Dies dürfte beispielsweise nicht selten bei der Prostitution geschehen, wobei hier nur die Fälle des „freiwilligen“ Verkaufs der eigenen Sexualität von Interesse sind. 24 In diese Richtung Gropp, ZJS 2012, 602 (603); Kindhäuser, Strafrecht AT, § 12 Rn. 10. 25 B. Heinrich, Strafrecht AT, Rn. 458; Krey / Esser, Strafrecht AT, Rn. 665. 26 Die Ablehnung der Möglichkeit der Stellvertretung kann damit begründet werden, dass es sich bei Sexualkontakten um „unvertretbare Entscheidungen existentieller Art“ handelt (vgl. Roxin, Strafrecht AT / 1, § 13 Rn. 93 zur Einwilligung
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D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
Dispositionsbefugnis kann hingegen nicht begründet werden, warum auch das Kind selbst nicht wirksam in die Tat einwilligen kann. cc) Einwilligungsfähigkeit Für eine wirksame Einwilligung muss auch die Einwilligungsfähigkeit des Kindes gegeben sein. Ob dies der Fall ist, richtet sich nach dessen Einsichtsfähigkeit, also dessen kognitiver Entwicklung und dessen Urteilsfähigkeit. Es kommt darauf an, ob der Betroffene die Tragweite und die Auswirkungen des seine Interessen berührenden Eingriffs voll erfasst.27 Diese Voraussetzung ist im konkreten Einzelfall zu prüfen, wobei Alter und Geschäftsfähigkeit allenfalls indizielle Bedeutung haben, sodass Kindern nicht generell verwehrt ist, in die Beeinträchtigung eines ihrer Rechtsgüter wirksam einzuwilligen.28 Nun könnte argumentiert werden, dass ein Kind aufgrund seiner eingeschränkten Urteilsfähigkeit nie die Tragweite einer Beeinträchtigung seiner sexuellen Integrität erfassen könne und deshalb eine Einwilligung stets ausscheide.29 Allerdings werden, wie bereits erwähnt,30 im Rahmen des Tatbestands des sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen (§ 179 StGB) nur niedrige Anforderungen an die kognitiven Fähigkeiten einer Person gestellt, damit sie wirksam in sexuelle Handlungen einwilligen von Eltern in die Organspende ihres Kindes). Selbst wenn man die grundsätzliche Dispositionsbefugnis der Eltern als gesetzliche Vertreter bejaht, ist deren Einwilligung jedenfalls deshalb unbeachtlich, weil die Ausübung der elterlichen Sorge am Kindeswohl ausgerichtet sein muss (§ 1627 S. 1 BGB). Dazu Kühl, Strafrecht AT, § 9 Rn. 34; MK / Schlehofer, vor § 32 Rn. 141; Schönke / Schröder / Lenckner / Sternberg-Lieben, vor § 32 Rn. 41; Schramm, Ehe und Familie im Strafrecht, S. 219 f. 27 Beckert, JA 2013, 507 (509); B. Heinrich, Strafrecht AT, Rn. 456; Rönnau, JURA 2002, 665 (669); Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT, § 9 Rn. 24 f.; Wessels / Beulke / Satzger, Strafrecht AT, Rn. 374. 28 Amelung, ZStW 104 (1992), 821 (830); Frister, Strafrecht AT, 15. Kap. Rn. 8 ff.; B. Heinrich, Strafrecht AT, Rn. 456, 465 ff.; Kindhäuser, Strafrecht AT, § 12 Rn. 11; Krey / Esser, Strafrecht AT, Rn. 660; Kühl, Strafrecht AT, § 9 Rn. 33; Neyen, Einwilligungsfähigkeit, S. 60 ff. et passim, LK / Rönnau vor § 32 Rn. 195; Rengier, Strafrecht AT, § 23 Rn. 15 f.; Schönke / Schröder / Lenckner / Sternberg-Lieben, vor § 32 Rn. 32a, 40; Schramm, Ehe und Familie im Strafrecht, S. 216 ff.; Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT, § 9 Rn. 24 f.; s. aber auch Roxin, Strafrecht AT / 1, § 13 Rn. 85. 29 In diese Richtung tendenziell Hörnle (NStZ 2000, 310), die jedoch Ausnahmen anerkennt. So zu § 176 Abs. 1 Nr. 3 StGB a. F. bereits Peters, JZ 1953, 207 (210); s. auch Campbell, Der intrafamiliäre sexuelle Kindesmißbrauch, S. 112 ff. Neyen (Einwilligungsfähigkeit, S. 49, 52) erblickt in § 176 Abs. 1 StGB wohl eine Regelung zur Untergrenze der Einwilligungsfähigkeit. 30 D. I. 1. a).
I. Allgemeine Strafrechtslehren267
kann.31 Dafür werden Fähigkeiten als ausreichend angesehen, die erheblich niedriger sind, als die eines durchschnittlichen 13-jährigen Kindes.32 Dies dürfte auch jenseits von kriminalpolitischen Überlegungen (mit dem Ziel, geistig behinderten Menschen ein Sexualleben zu ermöglichen33) richtig sein, denn es sind keine besonders ausgereiften kognitiven Fähigkeiten erforderlich, um zu begreifen, wie sich die Vornahme sexueller Handlungen auf einen selbst und auf das Gegenüber auswirkt. Dies gilt jedenfalls für die konkrete Situation, in der die mit den sexuellen Handlungen verbundenen (positiven oder negativen) Empfindungen unmittelbar gespürt werden können. Anders mag es hinsichtlich zeitlich nachgelagerter Empfindungen liegen, denn es bedarf einer besonderen Reflexionsfähigkeit, um zu antizipieren, dass man sich möglicherweise später einmal wegen des früheren sexuellen Kontakts beschämt oder ausgenutzt fühlen wird. Allerdings werden (nicht nur bei § 179 StGB) nur geringe Anforderungen an diese Antizipationsfähigkeit gestellt, da Bezugspunkt der Einwilligung primär die Tathandlung und nicht etwaige Spätfolgen sind. Vor allem aber sollen sexuelle Kontakte nicht im Sinne einer paternalistischen Bevormundung an Maßstäben wie der Sinnhaftigkeit, Nachvollziehbarkeit oder Vernünftigkeit gemessen werden, zumal auch sexuelle Kontakte gesunder Erwachsener ihnen allzu häufig nicht genügen.34 Bei einer konsistenten Anwendung dieser im Rahmen des § 179 StGB weitgehend anerkannten Leitlinien auf § 176 StGB kann Kindern nicht generell die Fähigkeit abgesprochen werden, einzusehen, was eine Preisgabe ihrer sexuellen Integrität bedeutet. Es überzeugt daher nicht, die fehlende Möglichkeit der Einwilligung bei § 176 StGB mit der stets fehlenden Einwilligungsfähigkeit des Kindes zu begründen. Es erscheint auch nicht notwendig, die im Einzelfall zu prüfende Frage der Einwilligungsfähigkeit im Rahmen des § 176 StGB normativ dergestalt aufzuladen, dass Kindern im sexuellen Bereich generell diese Fähigkeit abgesprochen wird, denn das Einwilligungsproblem lässt sich auch ohne 31 Die rechtliche Bedeutung der Einwilligung wird dabei in der Regel nicht auf der Ebene der „Rechtswidrigkeit“ des Täterverhaltens, sondern innerhalb des Tatbestandsmerkmals der „Widerstandsunfähigkeit“ erörtert. 32 Vgl. BGH NStZ-RR 2005, 232 f.; Bungart, Sexuelle Gewalt gegen behinderte Menschen, S. 192 ff.; Fischer, StGB, § 179 Rn. 13; Gössel, Das neue Sexualstrafrecht, § 3 Rn. 17; Keller, JR 1986, 343 (344); Laubenthal, Handbuch, Rn. 309, 312, 324; MK / Renzikowski, § 179 Rn. 30. 33 BGHSt 32, 183 (186); KG NJW 1977, 817; Fischer, StGB, § 179 Rn. 16; Geerds, JR 1984, 430 (432); Laubenthal, Handbuch, Rn. 309, 322; MK / Renzikowski, § 179 Rn. 35; Schönke / Schröder / Eisele, § 179 Rn. 9; SK / Wolters, § 179 Rn. 10. Vgl. aber auch Bungart, Sexuelle Gewalt gegen behinderte Menschen, S. 197 ff.; Herzberg / Schlehofer, JZ 1984, 481 (482). 34 Vgl. Fischer, StGB, § 179 Rn. 13, 16; s. auch aus erfahrungswissenschaftlicher Sicht Finkelhor, American Journal of Orthopsychiatry 49 (1979), 692 (696).
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D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
eine solche systemwidrige Argumentation dogmatisch überzeugend lösen, wie sogleich gezeigt wird. dd) Freiheit von Willensmängeln Des Weiteren setzt die rechtfertigende Einwilligung die Freiheit von Willensmängeln voraus, also insbesondere dass die Zustimmung im Einzelfall nicht durch Täuschung erschlichen oder durch Nötigung erzwungen ist. Die Schwelle, bei der die Einwilligung aufgrund fehlerhafter Willensbildung als unwirksam angesehen wird, wird tendenziell hoch angesetzt.35 Auch im Sexualstrafrecht werden Abhängigkeitsverhältnisse und Disparitäten in der Fähigkeit, den eigenen Willen durchzusetzen, weitgehend hingenommen, wenn nicht eine explizite Nötigung vorliegt (§ 177 StGB). Nur in hervorgehobenen Konstellationen, in denen insbesondere aufgrund besonderer situationaler oder persönlicher Gegebenheiten ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis besteht (beispielsweise bei Strafgefangenen im Verhältnis zu Anstaltsbediensteten, § 174a StGB, oder bei psychisch Kranken im Verhältnis zum Therapeuten, § 174c StGB), verlangt das Gesetz eine eingehende Prüfung, ob eine Einwilligung willensfehlerfrei war.36 Aber selbst hier lassen die Rechtsprechung und Teile des Schrifttums tendenziell den Gegenbeweis zu, dass das Einvernehmen nicht durch die situationalen Gegebenheiten bedingt war.37 Vor diesem Hintergrund ist fragwürdig, ob bei Kindern stets Willensmängel anzunehmen sind, die eine wirksame Einwilligung ausschließen. Gerade bei sexuellen Beziehungen mit nahezu Gleichaltrigen kann eine willenseinschränkende Überlegenheit des „Täters“ gegenüber dem „Opfer“ nicht generell unterstellt werden. Zudem ist es nicht überzeugend, das Fehlen einer einzelfallbezogen zu prüfenden Voraussetzung generell, also ohne Einzelfallprüfung, zu unterstellen.
Schönke / Schröder / Lenckner / Sternberg-Lieben, vor § 32 Rn. 45 ff. wird dogmatisch an den Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses angeknüpft. 37 Zu § 174a StGB: BGH NStZ 1999, 29 (30), 1999, 349; OLG München NStZ 2011, 464 (465); Bungart, Sexuelle Gewalt gegen behinderte Menschen, S. 211 f.; Lackner / Kühl, § 174a Rn. 4, 8; Laubenthal, FS Gössel, S. 359 (366 f.); MK / Renzikowski, § 174a Rn. 17; Schönke / Schröder / Eisele, § 174a Rn. 6, a. A. Fischer, StGB, § 174a Rn. 10; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 1, § 19 Rn. 13; zu § 174c: BGHSt 56, 226 (232 ff.); OLG Karlsruhe BeckRS 2009, 20082; Bungart, Sexuelle Gewalt gegen behinderte Menschen, S. 221 f.; Schönke / Schröder / Eisele, § 174c Rn. 6b; a. A. MK / Renzikowski, § 174c Rn. 28; SK / Wolters, § 174c Rn. 5; Zauner, Sexueller Missbrauch, S. 111 f., 140. 35 Vgl.
36 Dabei
I. Allgemeine Strafrechtslehren269
ee) Gesetzliche Einwilligungsschranke Die vorstehenden Ausführungen legen möglicherweise nahe, dass eine Einwilligung in den sexuellen Missbrauch von Kindern im Einzelfall durchaus möglich ist, vorausgesetzt eine solche Einwilligung wird erklärt und der Täter handelt in Kenntnis und aufgrund derselben. Dies ist indes nicht der Fall, denn § 176 StGB enthält eine gesetzliche Einwilligungsschranke, das heißt das Gesetz lässt eine Einwilligung selbst dann nicht zu, wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind, die herkömmlich für eine wirksame Einwilligung verlangt werden.38 Solche Einwilligungsschranken finden sich auch an anderer Stelle im Gesetz.39 Das prominenteste Beispiel dürfte § 228 StGB sein, demzufolge die Einwilligung in eine Körperverletzung unbeachtlich ist, wenn die Tat gegen die guten Sitten verstößt. Im Nebenstrafrecht finden sich ebenfalls Vorschriften, die die Möglichkeit zu einer wirksamen Einwilligung eingrenzen, beispielsweise in §§ 2, 3 KastrG, §§ 8, 19 TPG und in §§ 40 f. AMG.40 Eine weitere gesetzliche Schranke zur Einwilligung findet sich in § 1631c BGB, der die Einwilligung in die Sterilisation eines Kindes sowohl durch seine Eltern als auch durch das betroffene Kind ausschließt. In weiteren Fällen, etwa beim Wucher (§ 291 StGB) ist anerkannt, dass eine rechtfertigende Einwilligung ausscheidet, weil die Vorschrift gerade den Schutz des Zustimmenden bezweckt.41 Mitunter werden diese Vorschriften als Einschränkungen der Disponibilität oder Dispositionsbefugnis des Rechtsgutes angesehen.42 Richtiger erscheint es das Fehlen einer gesetzlichen Einschränkung der Einwilligungsmöglichkeit als eigenständige Voraussetzung der Einwilligung anzusehen, die neben der allein an das Rechtsgut anknüpfenden Disponibilität und neben der nur bestimmten Personen zustehenden Dispositionsbefugnis zu prüfen ist. Im Unterschied zu den meisten anderen vorgenannten gesetzlichen Einwilligungsschranken nimmt § 176 StGB nicht ausdrücklich auf die Einwil38 Vgl. auch Fischer, ZStW 112 (2000), 75 (92); Roxin, Strafrecht AT / 1, § 23 Rn. 36. 39 Amelung / Eymann, JuS 2001, 937 (940); LK / Rönnau, vor § 32 Rn. 187; Rönnau, JURA 2002, 665 (667 f.). 40 s. auch Schönke / Schöder / Lenckner / Sternberg-Lieben, vor § 32 Rn. 37. 41 Fischer, ZStW 112 (2000), 75 (91 f.); B. Heinrich, Strafrecht AT, Rn. 455; Lackner / Kühl, vor § 32 Rn. 12; Rönnau, JURA 2002, 665 (668); Roxin, Strafrecht AT / 1, § 13 Rn. 36. 42 So bei Beckert, JA 2013, 507 (509); Schönke / Schöder / Lenckner / SternbergLieben, vor § 32 Rn. 37. In diesem Sinne dürfte auch Renzikowski zu verstehen sein, der Kindern die „Dispositionsfähigkeit“ im Rahmen des § 176 StGB abspricht: MK / Renzikowski, § 176 Rn. 22; s. dazu D. I. 1. a).
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D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
ligung Bezug. Dies lässt sich damit erklären, dass die fehlende Einwilligungsmöglichkeit seit jeher als selbstverständlich angesehen wurde. Der Sinn der Vorschrift gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern besteht gerade darin, Kindern einen absoluten Schutz vor sexuellen Übergriffen zu gewähren. Zudem ist die rechtfertigende Einwilligung im Strafgesetzbuch ohnehin nicht näher geregelt, sondern es ergibt sich aus § 228 StGB nur, dass auch der Gesetzgeber diese Rechtsfigur anerkennt.43 Dementsprechend ist es nicht verwunderlich – und auch unter dem Gesichtspunkt des Art. 103 Abs. 2 GG hinzunehmen – dass der ungeschriebene Rechtfertigungsgrund durch eine ungeschriebene Voraussetzung eingeschränkt wird. ff) Ergebnis Im Ergebnis bleibt also festzuhalten, dass eine wirksame Einwilligung in den sexuellen Missbrauch nicht möglich ist. Der Grund hierfür liegt aber nicht darin, dass es Kindern ausnahmslos an der Einwilligungsfähigkeit fehlen würde oder eine Einwilligung stets mit Willensmängeln behaftet wäre. Auch ist die sexuelle Integrität kein indisponibles Rechtsgut. Vielmehr enthält § 176 StGB eine ungeschriebene Schranke der Einwilligungsmöglichkeit. 2. Konkurrenzfragen im Zusammenhang mit § 176 StGB Das Rechtsgut wird häufig als Argument bei der Klärung des Konkurrenzverhältnisses von Strafnormen, also der Gesetzeskonkurrenz, herangezogen.44 Im Folgenden soll das Konkurrenzverhältnis von § 176 StGB zu § 177 StGB (sexuelle Nötigung, Vergewaltigung), § 179 StGB (sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen) und § 182 StGB (sexueller Missbrauch von Jugendlichen) näher betrachtet werden. Die Auswahl dieser Vorschriften beruht darauf, dass dort jeweils die Konkurrenzsituation im Ergebnis oder zumindest in der dogmatischen Begründung nicht restlos geklärt ist.
43 Die Einwilligungsschranken außerhalb des Strafgesetzbuchs sind durchgehend jüngeren Ursprungs. 44 s. oben B. II. 3. a) bb).
I. Allgemeine Strafrechtslehren271
a) Das Konkurrenzverhältnis zu § 177 StGB Es ist allgemein anerkannt, dass bei gleichzeitiger Verwirklichung eines sexuellen Missbrauchs von Kindern (§ 176 StGB) und einer sexuellen Nötigung (§ 177 StGB) eine Verurteilung wegen tateinheitlicher Tatbegehung zu erfolgen hat.45 Der Bundesgerichtshof führt hierzu aus: „§ 176 Abs. 1 StGB setzt nicht voraus, dass die sexuelle Handlung gegen den Willen des Kindes ausgeführt wird; ist dies […] der Fall, so ist dem erhöhten Unrechtsgehalt durch tateinheitliche Verurteilung wegen sexueller Nötigung Rechnung zu tragen.“46
Eine rechtsgutsbezogene Betrachtung stützt diese Annahme auf den ersten Blick, denn § 176 StGB schützt mit der sexuellen Integrität ein anderes Rechtsgut als § 177 StGB, der Eingriffe in die sexuelle Selbstbestimmung pönalisiert.47 Allerdings weisen beide Rechtsgüter insofern eine Nähe zueinander auf, als ein Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung ohne einen Eingriff in die sexuelle Integrität nicht denkbar ist. Ein Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung lässt sich als gleichzeitige Beeinträchtigung der sexuellen Integrität und der Willensfreiheit auffassen. § 177 StGB schützt damit ähnlich wie der Raub (§ 249 StGB)48 zwei Rechtsgüter zugleich, wobei diese bei § 177 StGB im Begriff der sexuellen Selbstbestimmung zusammengefasst werden. Bei einer isolierten Betrachtung des Rechtsguts wäre § 177 StGB daher als speziellere Vorschrift anzusehen, die zusätzlich zu einer Beeinträchtigung der sexuellen Integrität eine Beeinträchtigung der Willensfreiheit verlangt. Gleichwohl ist es richtig, klarstellende Tateinheit zwischen § 176 StGB und § 177 StGB anzunehmen, denn ansonsten würde nicht dem Umstand Rechnung getragen werden, dass es sich beim Tatopfer um ein Kind handelt. Das Konkurrenzverhältnis wird folglich im Ergebnis nicht maßgeblich vom Rechtsgut, sondern durch das Erfordernis, einen unrechtsrelevanten Umstand (das kindliche Alter des Opfers) hervorzuheben, beeinflusst. Deshalb ist das Konkurrenzverhältnis letztlich auch davon unabhängig, welche Rechtsgutsauffassung zugrunde gelegt wird. Selbst die Auffassung, die bei § 176 StGB und § 177 StGB dasselbe Rechtsgut, nämlich die sexuelle Selbstbestimmung, als geschützt ansieht, muss zum Ergebnis kommen, 45 BGH bei Dallinger MDR 1974, 544 (546); NStZ-RR 2000, 139; NStZ 2004, 440 (441); Lackner / Kühl, § 176 Rn. 10; LK / Hörnle, § 176 Rn. 71; MK / Renzikowski, § 176 Rn. 64; NK / Frommel, § 176 Rn. 31; Schönke / Schröder / Eisele, § 176 Rn. 26; SK / Wolters, § 176 Rn. 12; § 177 Rn. 22. 46 BGH NStZ 2004, 440 (441). 47 Zum systematischen Verhältnis dieser Normen s. auch C. IV. 1. c) aa). 48 Vgl. zu § 249 StGB: MK / Sander, § 249 Rn. 2.
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D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
dass eine Gesetzeseinheit ausscheidet, weil sonst entweder die Tatmodalität (Nutzung von Nötigungsmitteln) oder das Alter des Opfers beim Strafausspruch nicht hinreichend Berücksichtigung fände. Dies übersieht Eschelbach, wenn er die Annahme von Idealkonkurrenz unter der Prämisse für „streitbar“ hält, dass beide Vorschriften das sexuelle Selbstbestimmungsrecht schützen.49 Tateinheit ist in den Fällen des Zusammentreffens von § 176 StGB und § 177 StGB also im Ergebnis deshalb anzunehmen, weil zum Ausdruck kommen muss, dass der Eingriff in die sexuelle Integrität mit Nötigungsmitteln erfolgt und zugleich gegen ein Kind gerichtet ist. b) Das Konkurrenzverhältnis zu § 179 StGB Beim Konkurrenzverhältnis von § 176 StGB und § 179 StGB ergibt sich die Besonderheit, dass beide Strafvorschriften die sexuelle Integrität schützen. Gegen die häufig anzutreffende Ansicht, § 179 StGB schütze das sexuelle Selbstbestimmungsrecht,50 lassen sich vergleichbare Einwände anführen wie bei § 176 StGB. So trägt diese Auffassung nicht hinreichend dem Umstand Rechnung, dass das Tatopfer bei § 179 StGB durchaus mit der sexuellen Interaktion einverstanden sein kann.51 Zwar gibt es Konstellationen, in denen § 179 StGB gerade die Missachtung eines entgegenstehenden Willens unter Strafe stellt, beispielsweise wenn die körperliche Widerstandsunfähigkeit eines Querschnittsgelähmten dazu ausgenutzt wird, um an ihm gegen seinen Willen sexuelle Handlungen vorzunehmen.52 Es gibt jedoch auch Fallgestaltungen, in denen ein Einvernehmen des Opfers mit den sexuellen Handlungen besteht, dieses jedoch aus normativen Gründen als unmaßgeblich eingestuft wird.53 Mit diesen letztgenannten Fällen lässt sich die Annahme, § 179 StGB schütze die „sexuelle Selbstbestimmung“ nicht in Einklang bringen, sodass es überzeugender erscheint, insgesamt die sexuelle Integrität als geschütztes Rechtsgut anzusehen.54 49 Matt / Renzikowski / Eschelbach,
§ 176 Rn. 36. § 179 Rn. 7; BeckOK / Ziegler, § 179 Rn. 5; Fischer, StGB, § 179 Rn. 2; Lackner / Kühl, § 179 Rn. 1; Laubenthal, Handbuch, Rn. 300; LK / Hörnle, § 179 Rn. 2; Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 179 Rn. 1; MK / Renzikowski, § 179 Rn. 1; Reichenbach, GA 2003, 550 (562); Schönke / Schröder / Eisele, § 179 Rn. 1; Schroth, Strafrecht BT, S. 142; Wetzel, Die Neuregelung der §§ 177–179 StGB, S. 177; a. A. NK / Frommel, § 179 Rn. 12. Zutreffend hingegen zur parallelen Vorschrift im österreichischen Recht: Wiener Kommentar / Philipp, § 205 Rn. 3. 51 Kritisch auch SK / Wolters, § 179 Rn. 2. 52 Wetzel, Die Neuregelung der §§ 177–179 StGB, S. 178. 53 s. nur Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 179 Rn. 8. 54 Interessanterweise wird im Rahmen des § 179 StGB mitunter mit dem Begriff der sexuellen Integrität argumentiert, indes ohne ihn zum Rechtsgut zu erheben; s. etwa BGHSt 32, 183 (186): „Die im Spannungsfeld zwischen umfassendem 50 AnwKomm / Endler,
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Geht man zutreffend davon aus, dass § 176 StGB und § 179 StGB dasselbe Rechtsgut schützen,55 stellt sich die Frage, ob ein Rangverhältnis aufgestellt werden kann, das dazu führt, dass bei einem Zusammentreffen die eine Norm die andere verdrängt. Hierzu müssen die weiteren Voraussetzungen der Tatbestandsverwirklichung betrachtet werden. Während die Tathandlungen von § 176 StGB und § 179 StGB sich zumindest in den ersten beiden Absätzen entsprechen, unterscheiden sich die Taten hinsichtlich der vorausgesetzten Eigenschaften des Verletzten. Da das Alter und die Widerstandsunfähigkeit grundsätzlich unabhängig voneinander sind, kann kein Vorrang einer dieser Eigenschaften angenommen werden. Deshalb muss wiederum bei einem Zusammentreffen der Tatbestandsverwirklichung beider Normen Tateinheit angenommen werden, um klarzustellen, dass das Opfer einerseits kindlichen Alters und andererseits widerstandsunfähig gewesen ist. Etwas anderes gilt allerdings, wenn die Widerstandsunfähigkeit allein auf dem Alter beruht, also nicht auch weitere Umstände (zum Beispiel Schlaf56) zur Widerstandsunfähigkeit geführt haben. Dieses Problem wird überwiegend bereits auf Tatbestandsebene gelöst, indem der Begriff der Widerstandsunfähigkeit restriktiv ausgelegt wird, sodass rein altersbedingte Defizite in der Widerstandskraft nicht darunter subsumiert werden.57 Richtiger erscheint es, von einer Verwirklichung des Tatbestandes auszugehen, die allerdings auf Konkurrenzebene hinter § 176 StGB zurücktritt. Dogmatisch ist dies als Konsumtion des § 179 StGB durch § 176 StGB einzuordnen, da zwar nicht alle Tatbestandsmerkmale des § 179 StGB in § 176 StGB enthalten sind,58 jedoch der Unrechtsgehalt des § 179 StGB in diesen Fällen aufgrund der typischen und regelmäßigen Mitverwirklichung von der Strafbarkeit nach § 176 StGB miterfasst ist.59 Schutz der sexuellen Integrität widerstandsunfähiger Personen und ihrem Recht auf geschlechtliche Betätigung stehende Vorschrift des § 179 StGB […]“, daran anschließend Laubenthal, Handbuch, Rn. 322; MK / Renzikowski, § 179 Rn. 35; s. auch Fahl, JURA 1998, 456 (459); Reichenbach, GA 2003, 550 (559, 565). 55 Geht man hingegen von verschiedenen Rechtsgütern aus, so kann die Annahme von Tateinheit leichter begründet werden. 56 Vgl. BGHSt 38, 68 (70). 57 BGHSt 30, 144 (146); BGH NJW 1986, 1053; AnwKomm / Endler, § 179 Rn. 25; BeckOK / Ziegler, § 179 Rn. 10; Bungart, Sexuelle Gewalt gegen behinderte Menschen, S. 177 f.; Fischer, StGB, § 179 Rn. 10; Gössel, Das neue Sexualstrafrecht, § 3 Rn. 15; Hermann-Kolb, Systematik, S. 81; LK / Hörnle, § 179 Rn. 27; Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 179 Rn. 5; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / I, § 18 Rn. 30; Schönke / Schröder / Eisele, § 179 Rn. 7; SK / Wolters, § 179 Rn. 6. 58 Mitunter wird gleichwohl unzutreffend „Spezialität“ angenommen, etwa bei Fischer, StGB, § 179 Rn. 10; Laubenthal, Handbuch, Rn. 315. 59 Problematisch ist, welches der beiden Delikte rezessiv und welches dominant ist. In der Regel konsumiert das Delikt mit der höheren Strafdrohung das mit der
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D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
Nur bei einer auf Konkurrenzebene angesiedelten Lösung kommt man in dem Fall zu einer sachgerechten Entscheidung, dass jemand (beispielsweise durch „Schmierestehen“) einem Haupttäter Beihilfe leistet, wobei der Gehilfe zwar weiß, dass sich der Haupttäter an einer Person sexuell vergeht, die sich körperlich nicht wehren kann, jedoch keine Kenntnis davon hat, dass der Grund für die Widerstandsunfähigkeit darin liegt, dass es sich beim Opfer um ein Kleinkind handelt. Die herrschende Meinung müsste hier eine Strafbarkeit gemäß §§ 279, 27 StGB an der fehlenden Haupttat und eine Strafbarkeit gemäß §§ 276, 27 StGB am Vorsatz scheitern lassen. Richtigerweise ist jedoch der Haupttäter wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern (§ 276 StGB) zu bestrafen60 und der Gehilfe wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauch widerstandsunfähiger Personen gemäß §§ 279, 27 StGB. Im Ergebnis ist nach alledem – mit der herrschenden Meinung61 – in der Regel Tateinheit zwischen § 176 StGB und § 179 StGB anzunehmen. Allerdings wird die Strafbarkeit nach § 179 StGB durch § 176 StGB konsumiert, wenn die Widerstandsunfähigkeit allein auf dem kindlichen Alter des Opfers beruht. Eine restriktive Auslegung des § 179 StGB auf Tatbestandsebene ist entgegen der herrschenden Meinung in diesem letztgenannten Fall hingegen abzulehnen. c) Das Konkurrenzverhältnis zu § 182 StGB Das Konkurrenzverhältnis der Tatbestände über den sexuellen Missbrauch von Kindern einerseits (§ 176 StGB) und von Jugendlichen andererseits (§ 182 StGB) wird in der Literatur intensiv diskutiert und wurde auch von den einzelnen Senaten des Bundesgerichtshofs unterschiedlich beurteilt. Dabei wird häufig zwischen den Tatvarianten differenziert, indem einerseits das Verhältnis zu den ersten beiden Absätzen, andererseits zum Absatz 3 des § 182 StGB beleuchtet wird. § 182 Abs. 1 beziehungsweise Abs. 2 StGB setzen voraus, dass eine Person unter achtzehn Jahren dadurch missbraucht wird, dass sie unter Ausnutzung einer Zwangslage oder gegen Entgelt zur Beteiligung an näher beschriebenen sexuellen Kontakten veranlasst wird. milderen (vgl. MK / von Heintschel / Heinegg, vor § 52 Rn. 49). Allerdings sind die Strafdrohungen von § 176 StGB und § 179 StGB nahezu identisch. Dass § 176 StGB das schwerere Delikt ist, ließe sich damit begründen, dass sich bei § 179 StGB keine Entsprechung zur Vorschrift des § 176a Abs. 1 StGB findet. § 176 StGB ist jedoch vor allem deshalb als dominantes Delikt anzusehen, weil es das Tatunrecht spezifischer umschreibt, auch wenn keine Spezialität im technischen Sinn vorliegt (s. vorherige Fußnote). 60 Die Strafbarkeit nach § 179 StGB wird konsumiert. 61 BGHSt 38, 68 (71); Fischer, StGB, § 179 Rn. 31; MK / Renzikowski, § 176 Rn. 72; Schönke / Schröder / Eisele, § 179 Rn. 16; SK / Wolters, § 179 Rn. 19.
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§ 182 Abs. 3 StGB verlangt demgegenüber, dass der Täter über 21 Jahre und das Opfer unter 16 Jahre alt ist und es zu näher beschriebenen sexuellen Handlungen kommt, wobei der Täter die „fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung ausnutzt“. Die überwiegende Meinung in der Literatur und der höchstrichterlichen Rechtsprechung nimmt an, dass eine Verwirklichung der Absätze 1 und 2 des § 182 StGB hinter die Strafbarkeit gemäß § 176 StGB im Wege der Gesetzeskonkurrenz zurücktritt.62 Dies wird damit begründet, dass der „Unrechtsgehalt des § 182 StGB […] durch die wesentlich höhere Strafen androhende Vorschrift des § 176 StGB voll abgegolten“63 sei. Während § 176 StGB nicht nach der Vorgehensweise des Täters differenziere, würden im Rahmen des § 182 Abs. 1 und Abs. 2 StGB die Ausnutzung einer Zwangslage und das Zahlen eines Entgelts zwar hervorgehoben. Hiermit sei aber, wenn die Tat an einem Kind verübt wurde, kein spezifisches Tatunrecht verbunden, das besonders hervorzuheben sei.64 Nach dieser Ansicht besteht also keine Notwendigkeit, eine klarstellende Tateinheit anzunehmen. Vielmehr lässt diese Auffassung § 182 StGB hinter § 176 StGB im Wege der Gesetzeskonkurrenz zurücktreten. Auch wenn die Vertreter dieser Ansicht dieses Verhältnis nicht weiter präzisieren, spricht ihre Argumentationslinie dafür, dass sie von einem Fall der Konsumtion ausgehen. Eine starke Gegenansicht, die sich letztlich in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht durchsetzen konnte,65 nimmt hingegen Tateinheit zwischen § 182 Abs. 1 und 2 StGB und § 176 StGB an.66 Dies wird damit begründet, dass bei Vorliegen der Tatmodalitäten der Absätze 1 und 2 zusätzliches Unrecht vorliege oder vorliegen könne, das ähnlich wie beim Zusammentreffen von § 176 StGB mit § 177 StGB durch Tateinheit kenntlich gemacht werden müsse.67 62 BGHSt 42, 27 ff.; 42, 51 (53 ff.); BGH NStZ-RR 1997, 66; AnwKomm / Mack, § 182 Rn. 40; BeckOK / Ziegler, § 182 Rn. 16; Lackner / Kühl, § 182 Rn. 11; Laubenthal, Handbuch, Rn. 675; LK / Rissing-van Saan, vor § 52 Rn. 104; Schönke / Schröder / Eisele, § 182 Rn. 19; SK / Wolters, § 182 Rn. 5, 26; Stephan, Sexueller Missbrauch von Jugendlichen, S. 133. 63 BGHSt 42, 51 (53); vgl. auch Schönke / Schröder / Eisele, § 182 Rn. 19. 64 BGHSt 42, 51 (54). 65 Vgl. das Absehen von einer Vorlage an den Großen Senat für Strafsachen durch den 3. Strafsenat des BGH, BGH NJW 2001, 2186. In Verkennung dieser Entwicklung wird die Rechtsprechungsansicht unrichtig wiedergegeben bei NK / Frommel, § 182 Rn. 15. 66 BGH NJW 2000, 3726 f. (s. hierzu aber auch BGH NJW 2001, 2186); LK / Hörnle, § 182 Rn. 52; Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 182 Rn. 24; MK / Renzikowski, § 182 Rn. 73; NK / Frommel, § 182 Rn. 15, wohl auch Fischer, StGB, § 182 Rn. 19, 26. Gössel, Das neue Sexualstrafrecht, § 6 Rn. 128; Maurach / Schroe der / Maiwald, Strafrecht BT / 1, § 20 Rn. 2; Schroeder, JR 1996, 40 f. 67 Vgl. MK / Renzikowski, § 182 Rn. 73.
276
D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
Im Hinblick auf das Konkurrenzverhältnis von § 182 Abs. 3 StGB und § 176 StGB besteht insofern größere Einigkeit, als ganz überwiegend die Verdrängung des § 182 Abs. 3 StGB im Wege der Gesetzeskonkurrenz angenommen wird.68 Dabei wird die Konstellation teilweise als Fall der Spezialität,69 teilweise als Fall der Konsumtion70 eingeordnet. Ausgangspunkt für die zutreffende Einordnung der Konkurrenzverhältnisse sollten die von den Varianten des § 182 StGB geschützten Rechtsgüter sein.71 Diese sind wiederum Gegenstand intensiver Diskussionen in der Literatur, wobei mit zahlreichen Nuancierungen überwiegend die sexuelle Selbstbestimmung Jugendlicher als Rechtsgut angesehen wird.72 Teilweise wird in Anlehnung an die herrschende Meinung zum Rechtsgut des § 176 StGB die „ungestörte sexuelle Entwicklung von Jugendlichen“ im Rahmen des § 182 StGB als geschützt angesehen.73 Richtigerweise ist zwischen den in Absätze untergliederten Tatvarianten zu differenzieren.74 Es erscheint zutreffend, bei § 182 Abs. 1 StGB die sexuelle Selbstbestimmung des Jugendlichen als geschütztes Rechtsgut anzusehen, denn diese Variante verlangt gerade die „Ausnutzung einer Zwangslage“. Damit wird die Willensfreiheit auf sexuellem Gebiet tangiert, wobei dies auf eine Weise geschieht, die nicht die Qualität eines Nötigungsmittels (im Sinne des 68 BGHSt 42, 27 ff.; 42, 51 (53 ff.); BGH NJW 2000, 3726; NStZ 2007, 329; BayObLG NStZ 1997, 500 (501); BeckOK / Ziegler, § 182 Rn. 16; Fischer, StGB, § 182 Rn. 26; Gössel, Das neue Sexualstrafrecht, § 6 Rn. 128; Laubenthal, Handbuch, Rn. 675; LK / Rissing-van Saan, vor § 52 Rn. 104; LK / Hörnle, § 182 Rn. 82; MK / Renzikowski, § 182 Rn. 73; Schönke / Schröder / Eisele, § 182 Rn. 19. 69 BGHSt 42, 27 (29); AnwKomm / Mack, § 182 Rn. 40; Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 182 Rn. 15, 24; MK / Renzikowski, § 182 Rn. 73; LK / Rissing-van Saan, vor § 52 Rn. 104; LK / Hörnle, § 182 Rn. 82; Schönke / Schröder / Eisele, § 182 Rn. 19. 70 BayObLG NStZ 1997, 500 (501) mit kritischer Anm. Schroeder, JR 1996, 40 f. 71 Hierauf wies auch der 3. Strafsenat in seinem Anfragebeschluss hin (BGH NJW 2000, 3726). 72 Vgl. BeckOK / Ziegler, § 182 Rn. 2; Fischer, StGB, § 182 Rn. 2; Laubenthal, Handbuch, Rn. 670; Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 182 Rn. 2; MK / Renzikowski, § 182 Rn. 1 f.; NK / Frommel, § 182 Rn. 4 ff.; Schönke / Schröder / Eisele, § 182 Rn. 2. Vgl. auch eingehend Stephan, Sexueller Mißbrauch von Jugendlichen, S. 67 ff.; SK / Wolters, § 182 Rn. 2; s. auch Amelung, GA 1999, 182 (186, 201 f.), der die „sexuelle Reifung“ als geschützt ansieht, und zwar vor Preisgabe in einer „Situation beschränkter Dispositionsfähigkeit“. 73 AnwKomm / Mack, § 182 Rn. 1; HK-GS / Laue, § 182 StGB Rn. 1; Ilg, Der strafrechtliche Schutz, S. 88; Lackner / Kühl, § 182 Rn. 1; Kusch / Mössle NJW 1994, 1504 (1505 f.); Schroeder, NJW 1994, 1501 (1502); vgl. auch BeckOK / Ziegler, § 182 Rn. 2; kritisch Fischer, StGB, § 176 Rn. 2; Schönke / Schröder / Eisele, § 182 Rn. 2. 74 Vgl. Gnüchtel, Jugendschutztatbestände, S. 175 ff.
I. Allgemeine Strafrechtslehren277
§ 177 StGB) erreichen muss. Dahinter steht die Erwägung, dass eine Person unter 18 Jahren leichter als ein Erwachsener auch aufgrund milderer Drucksituationen als die in § 177 StGB beschriebenen, zur ansonsten nicht gewollten Teilnahme an sexuellen Interaktionen veranlasst werden kann.75 Dies gilt insbesondere auch für Situationen, in denen die Bedrängnis vom Täter nicht herbeigeführt, sondern lediglich ausgenutzt wird, und somit keine Nötigung oder nur eine Nötigung mit einem Unterlassen vorliegt.76 Bei § 182 Abs. 3 StGB wird demgegenüber nicht die sexuelle Selbstbestimmung geschützt, sondern das Gesetz verlangt gerade, dass dem Opfer die „Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung fehlt“.77 Damit schützt § 182 StGB wie § 176 StGB die sexuelle Integrität, allerdings speziell bei Personen, die unter 16 Jahre alt sind und denen – nachweislich78 – die Reife fehlt, um in sexuelle Handlungen wirksam einwilligen zu können. Mit anderen Worten handelt es sich um Fälle, bei denen das Opfer aufgrund seiner Unreife keinen gegen die sexuellen Handlungen gerichteten Willen bildet.79 Die Feststellung des Rechtsguts des § 182 Abs. 2 StGB bereitet Schwierigkeiten, weil diese Variante nicht nur formal, sondern auch inhaltlich zwischen den Absätzen 1 und 3 angesiedelt ist. Die Veranlassung zu sexuellen Handlungen durch Entgelt weist insofern eine Nähe zu § 182 Abs. 1 StGB auf, als durch das Inaussichtstellen eines Vermögensvorteils (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 9 StGB) ein Druck aufgebaut wird, der die Willensfreiheit beeinträchtigen kann. Andererseits besteht im Ausgangspunkt ein Unterschied dazwischen, ob ein positiver Anreiz gesetzt wird oder das Bestehen eines unangenehmen Einflusses ausgenutzt wird, wobei die Übergänge allerdings fließend sind.80 Im Verhältnis der Absätze 2 und 3 des § 182 StGB beruht SK / Wolters, § 182 Rn. 2. Problem der „Nötigungsähnlichkeit“ vgl. Fischer, § 182 Rn. 9; MK / Renzikowski, § 182 Rn. 40; LK / Hörnle, § 182 Rn. 18; Schönke / Schröder / Eisele, § 182 Rn. 5; SK / Wolters, § 182 Rn. 7; aber auch BGHSt 42, 399 (402); Kusch / Mössle, NJW 1994, 1504 (1506). 77 Brüggemann, Entwicklung und Wandel, S. 340. 78 BGHSt 42, 399 (402); BGH StV 2008, 238 (239); StV 2014, 415; Fischer, StGB, § 182 Rn. 12; Gössel, Das neue Sexualstrafrecht, § 6 Rn. 124; Lackner / Kühl, § 182 Rn. 6; MK / Renzikowski, § 182 Rn. 56; Schönke / Schröder / Eisele, § 182 Rn. 13; s. aber auch Kusch / Mössle, NJW 1994, 1504 (1507); SK / Wolters, § 182 Rn. 20; zu letzterem s. wiederum Hörnle, FS Schöch, S. 401 (405 f.). 79 Gnüchtel (Jugendschutztatbestände, S. 191) weist zutreffend auf die Nähe von § 182 Abs. 3 StGB und § 179 StGB hin. Damit gleichzusetzen sind Fälle eines „unterentwickelten und deshalb nur bedingt durchsetzbaren Willens“, vgl. BGH StV 2014, 415 (416). Allerdings wird man nicht allein aus der fehlenden Durchsetzbarkeit des Willens folgern können, dass er „unterentwickelt“ war. 80 Vgl. Kusch / Mössle, NJW 1994, 1504 (1506). 75 Vgl.
76 Zum
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D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
das Näheverhältnis darauf, dass es als Zeichen fehlender Reife,81 mit anderen Worten also fehlender Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung angesehen werden kann, wenn sich jemand durch ein (möglicherweise geringes) Entgelt zur Teilnahme an sexuellen Handlungen bewegen lässt. Auch unter Berücksichtigung der mit § 182 Abs. 2 StGB verbundenen gesetzgeberischen Zielsetzung, nämlich die Prostitution Minderjähriger zu verhindern,82 lässt sich die Schwierigkeit der Einordnung des Absatzes 2 verdeutlichen. Geht man davon aus, dass eine willensfreie Entscheidung eines Jugendlichen (oder Kindes) zur Prostitution möglich ist,83 so liegt es näher, die sexuelle Integrität als (gegen entgeltliche Preisgabe) geschützt anzusehen. Nimmt man hingegen an, dass eine Entscheidung zur Prostitution stets gegen den „wahren“ Willen des Minderjährigen erfolgt, so ist die sexuelle Selbstbestimmung berührt. Welche dieser Annahmen richtig ist, lässt sich nur schwer beurteilen. Die These, dass die Entscheidung zur Prostitution stets gegen den „wahren“ Willen des Minderjährigen erfolgt, ist zwar nicht beweisbar, aber doch plausibel. Letztlich wird man sich damit behelfen müssen, dass der historische Gesetzgeber eher von einer Verletzung des Rechtsguts der „sexuellen Selbstbestimmung“ ausgegangen ist. Das zeigt sich insbesondere daran, dass die nun in den Absätzen 1 und 2 aufgegliederten Tatvarianten in einer Vorschrift (§ 182 Abs. 1 Nr. 1 StGB a. F.) zusammengefasst waren. Daher erweist es sich als vorzugswürdig, das Rechtsgut des § 182 Abs. 2 StGB in der „sexuellen Selbstbestimmung“ zu erblicken. Es lässt sich also festhalten, dass die sexuelle Selbstbestimmung als Rechtsgut des § 182 Abs. 1 und Abs. 2 StGB anzusehen ist, während Absatz 3 die sexuelle Integrität schützt. Damit ergibt sich für das Konkurrenzverhältnis zu § 176 StGB, dass bei den Absätzen 1 und 2 Tateinheit anzunehmen ist, um klarzustellen, dass zusätzlich zur Beeinträchtigung der sexuellen Integrität eine Beeinträchtigung der Willensfreiheit vorliegt.84 Umgekehrt scheidet eine Konsumtion des § 176 StGB durch § 182 StGB aus, da im Strafausspruch zugleich verdeutlicht werden muss, dass das Tatopfer ein Kind war. § 182 Abs. 3 StGB tritt im Wege der Konsumtion hinter § 176 StGB zurück, da bei beiden Vorschriften dasselbe Rechtsgut betroffen ist und auch 81 Im Referentenentwurf war ursprünglich deie Formulierung „Ausnutzung der Unreife“ vorgesehen; vgl. näher Kusch / Mössle, NJW 1994, 1504 (1507). 82 Vgl. BT-Drucks. 16 / 3439, S. 8; AnwKomm / Mack, § 182 Rn. 5; Gnüchtel, Jugendschutztatbestände, S. 180 f.; Hörnle, FS Schöch, S. 401 (403); LK / Hörnle, § 182 Rn. 4; Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 182 Rn. 9. 83 So wohl SK / Wolters, § 182 Rn. 2. 84 Hinsichtlich des Absatzes 2 lässt sich mit Blick auf die vorstehenden Ausführungen jedoch mit guten Gründen auch ein Zurücktreten hinter § 176 StGB im Wege der Konsumtion annehmen.
I. Allgemeine Strafrechtslehren279
die Tatmodalität der Ausnutzung der fehlenden Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung im Falle ihres Vorliegens durch die Bestrafung wegen einer Tat nach § 176 StGB miterfasst ist. Es handelt sich bei § 182 Abs. 3 StGB insoweit um eine typischerweise beziehungsweise regelmäßig mitverwirklichte Tat. Ein Fall der Spezialität liegt bereits deshalb nicht vor, weil die in § 182 Abs. 3 StGB geforderte Tätereigenschaft des Alters über 21 Jahren nicht von § 176 StGB verlangt wird, sodass § 182 Abs. 3 StGB nicht stets begriffsnotwendig mitverwirklicht ist. Außerdem ist es zumindest zweifelhaft, ob in den Fällen des § 176 StGB stets die Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung fehlt.85 Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass zwischen den ersten beiden Absätzen des § 182 StGB und § 176 StGB mit einer starken Literaturmeinung Tateinheit anzunehmen ist. § 182 Abs. 3 StGB wird demgegenüber von § 176 StGB im Wege der Gesetzeskonkurrenz verdrängt, wobei richtigerweise von einem Fall der Konsumtion auszugehen ist. 3. Strafzumessung, insbesondere im Hinblick auf das Doppelverwertungsverbot Im Rahmen der Strafzumessung kommt dem geschützten Rechtsgut insbesondere insoweit Bedeutung zu, als die Verletzung des Rechtsguts als solche aufgrund des Doppelverwertungsverbots (§ 46 Abs. 3 StGB) nicht strafschärfend berücksichtigt werden darf.86 Für die Auffassung, die die „ungestörte (sexuelle) Entwicklung“ als Rechtsgut des § 176 StGB ansieht und die Vorschrift als abstraktes Gefährdungsdelikt einordnet, ergibt sich hieraus die Konsequenz, dass die Herbeiführung der (abstrakten) Gefahr von Entwicklungsstörungen nicht strafschärfend berücksichtigt werden darf.87 Dies gilt hingegen nicht für den tatsächlichen Eintritt von Entwicklungsstörungen, denn das Doppelverwertungsverbot verbietet bei enger Betrachtung bei abstrakten Gefährdungsdelikten nur die strafschärfende Berücksichtigung des Herbeiführens einer abstrakten Gefahr, nicht aber des Eintritts einer konkreten Gefahr oder der Verwirklichung derselben.88 85 Vgl. BGH NStZ 2007, 329 f.; dazu kritisch Fischer, StGB, § 182 Rn. 13a; Laubenthal, Handbuch, Rn. 699; MK / Renzikowski, § 182 Rn. 56; Schönke / Schröder / Eisele, § 182 Rn. 13. LK / Hörnle § 182 Rn. 72; s. auch SK / Wolters, § 182 Rn. 22, der die vorgenannte BGH-Entscheidung für folgerichtig hält. 86 s. oben B. II. 3. a) cc). 87 BGH StV 1998, 657; StV 2002, 74 (75); StV 2004, 479 (480); MK / Miebach, § 46 Rn. 200; LK / Theune, § 46 Rn. 275; LK / Hörnle, § 176 Rn. 57. 88 Schäfer / Sander / van Gemmeren, Strafzumessung, Rn. 1613. Zum Doppelverwertungsverbot bei abstrakten Gefährdungsdelikten s. BGH Urt. v. 01.06.1989 –
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D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
Unklar ist, wie sich die Zugrundelegung des Rechtsguts der „sexuellen Selbstbestimmung“ auf die Strafzumessung auswirkt. Einerseits könnte argumentiert werden, dass nicht strafschärfend berücksichtigt werden darf, dass der Täter einen entgegenstehenden Willen des Kindes missachtet hat, weil damit die Verwirklichung der Rechtsgutsverletzung strafschärfend bewertet würde. Andererseits wird der entgegenstehende Wille von dieser Rechtsgutsauffassung zunächst nur unterstellt, sodass eine tatsächliche Willensbeugung durchaus strafschärfend berücksichtigt werden kann. Die Vertreter dieser Rechtsgutsauffassung neigen der zweiten Lesart zu, setzen sich jedoch nicht mit der alternativen Lösung auseinander. Stattdessen wird schlicht festgestellt, dass die Anwendung von Nötigungsmitteln strafschärfend zu berücksichtigen sei, soweit nicht ohnehin § 177 StGB einschlägig ist.89 Dies legt nahe, dass auch die schlichte Missachtung des Willens des Kindes strafschärfend berücksichtigt werden darf. Umgekehrt wird das positive Einverständnis des Kindes mit den Tathandlungen auf der Ebene der Strafzumessung als grundsätzlich unerheblich erachtet, also als strafzumessungsneutral angesehen. Lediglich bei echten Liebesbeziehungen zwischen nahezu Gleichaltrigen wird eine Strafmilderung als zulässig angesehen.90 Insgesamt wird damit der Zustimmung des Kindes eine geringere Bedeutung für die Strafzumessung beigemessen als durch die Ansicht, die die „ungestörte sexuelle Entwicklung“ als geschütztes Rechtsgut ansieht. Diese hält es für zulässig, in größerem Umfang Einwilligungen des Kindes strafmildernd zu berücksichtigen.91 Legt man schließlich die „sexuelle Integrität“ als geschütztes Rechtsgut des § 176 StGB zugrunde, so folgt daraus zunächst, dass in deutlich geringerem Umfang einzelne Strafzumessungserwägungen aufgrund des Doppelverwertungsverbots unzulässig sind. Lediglich die Beeinträchtigung der sexuellen Integrität als solche darf nicht strafschärfend herangezogen werden. Da die Rechtsgutsauffassung keine Annahmen über Tatfolgen oder das fehlende Einvernehmen des Kindes impliziert, steht deren Berücksichtigung bei der Strafzumessung das Doppelverwertungsverbot bei enger Auslegung nicht entgegen. Allerdings ist zu beachten, dass das Doppelverwertungsverbot nach verbreiteter Ansicht über den Wortlaut des § 46 Abs. 3 StGB hinaus ergänzt wird. Nicht strafschärfend berücksichtigt werden dürfen danach zusätzlich 4 StR 222 / 89 (insoweit nicht abgedruckt in NStZ 1989, 430); StV 1998, 658; Bay ObLG NStZ 1998, 261; Schönke / Schröder / Stree / Kinzig, § 46 Rn. 48. 89 MK / Renzikowski, § 176 Rn. 68; LK / Hörnle, § 176 Rn. 47. 90 MK / Renzikowski, § 176 Rn. 70; LK / Hörnle, § 176 Rn. 51; s. auch BGH NStZ-RR 2013, 291. 91 BGH StV 1989, 432 (433); NStZ-RR 2009, 72; Fischer, StGB, § 176 Rn. 35; Schäfer / Sander / van Gemmeren, Strafzumessung, Rn. 1610.
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zu den Umständen, die Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, solche, die das „Regeltatbild“ kennzeichnen.92 Es handelt sich hierbei um Umstände, die regelmäßig oder typischerweise mit der Deliktsverwirklichung einhergehen.93 Folglich ist der Umkehrschluss unzutreffend, dass kein Verstoß gegen § 46 Abs. 3 StGB vorliegt, wenn Umstände außerhalb der Rechtsgutsgefährdung oder -verletzung als solcher berücksichtigt wurden. Die Bedeutung der Rechtsgutsbestimmung wird infolgedessen bei der Abgrenzung zulässiger von unzulässigen Strafzumessungserwägungen von der Bestimmung des Regeltatbildes überlagert. Dies schlägt sich im Hinblick auf § 176 StGB in einer reichhaltigen Kasuistik nieder, welche Umstände strafschärfend (oder -mildernd) herangezogen werden dürfen und welche nicht.94 Insbesondere hat der Bundesgerichtshof wiederholt entschieden, dass die Beeinträchtigung der ungestörten sexuellen Entwicklung des Kindes nicht strafschärfend berücksichtigt werden darf, weil beim sexuellen Missbrauch eines Kindes in aller Regel dessen Entwicklung nachteilig beeinflusst werde.95 Nur bei außergewöhnlich schweren Tatfolgen soll eine strafschärfende Berücksichtigung zulässig sein.96 Umgekehrt soll es einer strafmildernden Bewertung zugänglich sein, wenn davon auszugehen ist, dass das Opfer keinen nachhaltigen seelischen Schaden erlitten hat.97 In der Literatur wird demgegenüber teilweise die 92 Vgl. Fahl, ZStW 111 (1999), 156 (159 f.); MK / Miebach, § 46 Rn. 187 f.; NK / Streng, § 46 Rn. 133; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 548. Vgl. auch Schäfer / Sander / van Gemmeren, Strafzumessung, Rn. 705 ff.; Hettinger, Doppelverwertungsverbot, S. 155; ders., FS Frisch, S. 1153 (insb. 1167 ff.); Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 201 f.; SSW / Eschelbach, § 46 Rn. 184 f.; Schall / Schirrmacher, JURA 1992, 624 (627). Theune weist zutreffend darauf hin, dass das Regeltatbild und ähnliche Figuren auch nach der viel beachteten Entscheidung BGHSt 37, 153 weiterhin in der höchstrichterlichen Rechtsprechung herangezogen werden, wenn die Grenze zulässiger Strafzumessungserwägungen erörtert wird, s. LK / Theune, § 46 Rn. 267. 93 Vgl. Fahl, ZStW 111 (1999), 156 (159). 94 Vgl. die Darstellungen bei BeckOK / Ziegler, § 176 Rn. 45 ff.; Fischer, StGB, § 46 Rn. 77 u. § 176 Rn. 36; HK-GS / Laue, § 176 StGB Rn. 14 ff.; LK / Hörnle, § 176 Rn. 39 ff.; MK / Miebach, § 46 Rn. 200; MK / Renzikowski, § 176 Rn. 66 ff.; Schönke / Schröder / Eisele, § 176 Rn. 29; SK / Wolters, § 176 Rn. 13. 95 BGH StV 1987, 146; NStZ-RR 1998, 321 (326) [bei Janßen, Nr. 26]; StV 1998, 656 (657); StV 2002, 74 (75); NStZ-RR 2004, 41 (42); Beschl. v. 20.10.2004 – 2 StR 398 / 04 (JURIS); Beschl. v. 17.07.2008 – 4 StR 221 / 08 (JURIS); OLG Koblenz StV 2012, 541. 96 BGH StV 1987, 146; Urt. v. 25.04.2001 – 5 StR 123 / 01 (JURIS); s. aber auch BGH StV 2002, 75 (76) mit kritischer Anm. Wolters, der zutreffend moniert, dass das Gericht nicht begründet, dass die „konkret festgestellten Folgen sich vom ‚Regelfall‘ abheben“ (S. 78). 97 BT-Drucks. VI / 3521, S. 35; BGH StV 1986, 149; NStZ-RR 2007, 71 (72); NStZ-RR 2009, 72; SK / Wolters, § 176 Rn. 13; kritisch LK / Hörnle, § 176 Rn. 43; MK / Renzikowski, § 176 Rn. 66.
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D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
Ansicht vertreten, dass lediglich das Verursachen der abstrakten Gefahr körperlicher oder seelischer Schäden beim Kind nicht strafschärfend berücksichtigt werden darf, wohl aber eine konkrete Gefahr oder Störung.98 Recht pauschal wird hierbei die Annahme, dass gewisse Störungen im Regeltatbild enthalten sind, verworfen. Eschelbach, der die Heranziehung des Regeltatbildes im Rahmen des § 46 Abs. 3 StGB generell ablehnt, fordert demgegenüber eine Berücksichtigung „von Abstufungen im Grad der Beeinträchtigung des Opfers bei der Strafbemessung“.99 Demnach sollen Traumatisierungsfolgen nicht nur anhand dreier idealtypischer Kategorien, die mit „nicht feststellbar“, „vorhanden“ und „außerordentlich stark ausgeprägt“ überschrieben werden könnten, auf der Strafzumessungsebene berücksichtigt werden. Die Forderung, auch Zwischenstufen bei der Strafzumessung zu berücksichtigen, ist sicherlich berechtigt. Die Reichweite des Doppelverwertungsverbots lässt sich jedoch anhand einer schematisierenden Betrachtung besser verdeutlichen. Richtigerweise sollte sich die Strafzumessung an den empirisch feststellbaren und anderer Stelle bereits erörterten100 Folgen des sexuellen Missbrauchs orientieren. Wie dargelegt, zeigen sich bei vielen, jedoch nicht bei allen Opfern des sexuellen Missbrauchs psychische, körperliche oder soziale Beeinträchtigungen. Vor dem Hintergrund der empirischen Erkenntnisse können leichtere psychische, körperliche oder soziale Beeinträchtigungen als regelmäßige und typische Folge des sexuellen Missbrauchs angesehen werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Streubreite groß ist, also dass es sowohl Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern gibt, bei denen das Kind infolge der Tat erheblich traumatisiert ist, als auch solche, bei denen keine psychischen, körperlichen oder sozialen Beeinträchtigungen des Kindes feststellbar sind. Im Rahmen der Strafzumessung sollte dieser Befundlage dadurch Rechnung getragen werden, dass leichte und kurzzeitige Irritationen oder Beeinträchtigungen, die die Tat bei dem Opfer herbeigeführt hat, als „neutral“ bewertet werden. Gravierendere Folgen sind hingegen strafschärfend zu berücksichtigen, da insoweit die Typizität und Regelmäßigkeit des Eintritts nicht mehr gegeben ist. Sollte umgekehrt feststellbar sein,101 dass der Eintritt von nachteiligen Folgen beim Opfer ausgeschlossen ist, so ist dies im Einklang mit der Rechtsprechung strafmildernd zu berücksichtigen.102 98 Fischer, StGB, § 176 Rn. 36; MK / Renzikowski, § 176 Rn. 66; Schönke / Schröder / Eisele, § 176 Rn. 29. 99 Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176 Rn. 3. 100 C. II. 1. b) bb). 101 Zu praktischen Bedenken: LK / Hörnle, § 176 Rn. 43; MK / Renzikowski, § 176 Rn. 66.
II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB 283
II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB Obwohl der Grundtatbestand des § 176 StGB sich nur aus wenigen Tatbestandsmerkmalen zusammensetzt, ergeben sich im Hinblick auf das große Spektrum von Sachverhalten, die als tatbestandsmäßig angesehen werden können, eine Reihe von Auslegungsproblemen. Die Ergebnisse der Normauslegung sind teilweise unmittelbar vom Rechtsgut abhängig, nach der hier zugrundegelegten Rechtsgutsauffassung folglich vom Verständnis des Begriffs der sexuellen Integrität. Im Hinblick auf das bereits erörterte Zirkularitätsproblem103 hängen die Konturen des Begriffs der sexuellen Integrität zugleich ihrerseits von der Auslegung der Norm ab. 102
Die nachfolgenden Ausführungen sollen einen Überblick darüber geben, welche Folgerungen sich für strafrechtsdogmatische Einzelfragen in Bezug auf den Grundtatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern bei Zugrundelegung dieses Rechtsguts auch im Vergleich zu anderen Rechtsgutsauffassungen ergeben. Auch zu dogmatischen Streitfragen im Hinblick auf die Tatbestandsvarianten des § 176 Abs. 4 StGB und die Qualifikationstatbestände des § 176a Abs. 2 StGB lassen sich Erkenntnisse mittels rechtsgutsbezogener Auslegung gewinnen. Im Folgenden werden wiederum ohne Anspruch auf Vollständigkeit ausgewählte Problempunkte der Tatbestandsauslegung näher beleuchet. Ausgeklammert werden hingegen die Varianten des § 176 Abs. 5 StGB,104 da es sich um Vorfeldtatbestände handelt, zu deren Aufhellung eine rechtsgutsbezogene Auslegung wenig beitragen kann.105 Auch für die Auslegung der Regelungen zur Versuchsstrafbarkeit in § 176 Abs. 6 StGB und zur Strafzumessung (§§ 176 Abs. 3, 176a Abs. 1106, 4 und 6) ist die konkrete Rechtsgutsbestimmung von untergeordneter Bedeutung. Ebenfalls ausgeblendet werden die Strafschärfungen aus nicht sexualbezogenen (§§ 176a Abs. 5, 176b StGB) Gründen, weil insoweit vor allem die weiteren Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit betroffen sind. Die Strafschärfung des § 176a Abs. 3 StGB kann ebenfalls außer Betracht bleiben, weil sie aus rein subjektiv-täterbezogenen Gründen erfolgt und damit nicht durch eine weitere Rechtsgutsverletzung bedingt ist. Insoweit sei an die 102 Vgl. AnwKomm / Deckers, § 176 Rn. 5. Zur Strafzumessung bei psychischen Beeinträchtigungen, s. auch Bloy, FS Eser, S. 233 (255). 103 B. II. 2. 104 Eingehend Frühsorger, Straftatbestand, S. 209 ff. 105 s. bereits B. II. 3. c). 106 Dazu eingehend Labitzky, Die Strafrahmenschärfung bei Rückfall nach § 176a Abs. 1 StGB.
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D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
Ausführungen zu den Grenzen des systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs erinnert.107 1. Das Tatbestandsmerkmal „Kind“ Die erste Voraussetzung der Tatbestandsverwirklichung ist das Vorhandensein eines tauglichen Opfers. Als solches kommen im Rahmen des § 176 StGB nur Kinder in Betracht, wobei der Begriff des Kindes als „Person unter vierzehn Jahren“ legaldefiniert wird. Über § 187 Abs. 2 S. 2 BGB i. V. m. § 188 Abs. 2 Alt. 2 BGB bedeutet dies, dass Handlungen, die bis zum Vortag des 14. Geburtstags einer Person (bis 24:00 Uhr) vorgenommen werden, tatbestandsmäßig sein können.108 Obwohl damit das Tatbestandsmerkmal „Kind“ erschöpfend und eindeutig präzisiert ist, werden häufig noch eine Reihe von Sonderkonstellationen genannt und diskutiert, ob auch insoweit ein taugliches Opfer vorliegt. a) Das tiefschlafende oder bewusstlose Kind und vergleichbare Konstellationen Dies betrifft zunächst den Fall des tiefschlafenden oder bewusstlosen Kindes. Der Erörterungsbedarf rührt in diesem Fall daher, dass bei strenger Orientierung am von der herrschenden Meinung zugrunde gelegten Rechtsgut der „ungestörten (sexuellen) Entwicklung“ allenfalls mit Hilfserwägungen die Tatbestandsmäßigkeit begründet werden kann. Zwar mag ein Kind unter Umständen durch schmerzhafte oder sonstige reizintensive Missbrauchshandlungen aufwachen oder, wenn es nicht durch sie aufgewacht ist, nachträglich Auswirkungen spüren. Es sind aber auch Fälle denkbar, in denen ein Kind die Tathandlung in keiner Weise wahrnimmt, beispielsweise bei Berührungen im Intimbereich, während sich das Kind im Tiefschlaf befindet oder narkotisiert ist. Aufgrund der veränderten Reizschwelle erscheint insoweit eine Wahrnehmung schlechterdings ausgeschlossen mit der Folge, dass keine Gefahr für die ungestörte (sexuelle) Entwicklung des Kindes, folglich keine Rechtsgutsverletzung begründet werden kann. Man könnte jedoch darauf abstellen, dass das Kind nachträglich (beispielsweise durch entsprechende Berichte des Täters oder Dritter) von der Tat erfährt und hierdurch traumatisiert wird. Ein solches nachgelagertes Geschehen ist jedoch nicht tauglicher Anknüpfungspunkt für die Rechtsgutsbeeinträchtigung, da diese gerade durch die Tathandlung herbeigeführt 107 B. II. 3. c). 108 Vgl.
BGH NStZ-RR 2010, 205.
II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB 285
werden muss. Es fehlt somit an der Zurechenbarkeit der Tatfolgen. Andererseits ist auch die Herbeiführung einer Störung beim Kind dadurch, dass ihm – gleich, ob dies wahr oder falsch ist – berichtet wird, es sei Opfer eines sexuellen Missbrauchs geworden, nicht gemäß § 176 StGB strafbar. Des Weiteren könnte die Rechtsgutsverletzung damit begründet werden, dass nie ausgeschlossen werden kann, dass das Kind während der Vornahme der Tathandlung aufwacht, sei es zufällig oder sei es aufgrund derselben.109 Jedoch kann insbesondere bei einer medikamentös herbeigeführten und ärztlich überwachten Narkose ausgeschlossen werden, dass das Kind aufwacht. Zudem stellen sich Schwierigkeiten in den Fällen, in denen der Täter vom Opfer ablässt, sobald er erste Anzeichen eines Wachwerdens bemerkt, und es ihm dadurch gelingt, dass das Opfer die Tat nicht bemerkt. Außerdem könnte argumentiert werden, § 176 StGB sei eben ein abstraktes Gefährdungsdelikt und bei diesen Delikten entfalle die Tatbestandsmäßigkeit selbst dann nicht, wenn die Realisierung der Gefahr faktisch ausgeschlossen ist.110 Dass dieses Argument sehr schwach ist, ist von der entsprechenden insbesondere im Rahmen des Tatbestands der schweren Brandstiftung (§ 306a StGB) geführten dogmatischen Diskussion bekannt.111 Insbesondere bestehen Bedenken im Hinblick auf das Schuldprinzip, wenn eine Bestrafung auch dann erfolgt, wenn eine Rechtsgutsverletzung ausgeschlossen ist.112 Schließlich könnte auf eine mögliche „Beeinflussung über das Unbewusste“ abgestellt werden. Danach wäre eine Traumatisierung aufgrund nicht bewusst, aber unterschwellig wahrgenommener sexueller Reize tauglicher Anknüpfungspunkt für die Annahme einer Rechtsgutsgefährdung. Der Bundesgerichtshof lehnt eine solche Argumentation zutreffend als spekulativ ab.113 Zwar ist es psychologisch belegbar, dass subliminale (also unterhalb 109 So BGHSt 38, 68 (70); BeckOK / Ziegler, § 176 Rn. 12; Campbell, Der intrafamiliäre sexuelle Kindesmißbrauch, S. 57; Ilg, Der strafrechtliche Schutz, S. 64; Wilmer, Sexueller Mißbrauch, S. 27; kritisch Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 1, § 17 Rn. 28. 110 Vgl. BGHSt 38, 68 (69); Molketin, NStZ 1992, 179; BeckOK / Ziegler, § 176 Rn. 12; Ilg, Der strafrechtliche Schutz, S. 64; SK / Wolters, § 176 Rn. 2. 111 Vgl. BGHSt 26, 121 (123 ff.); Bohnert, JuS 1984, 182 (184 ff.); Geppert, JURA 1989, 417 (424); ders., FS Weber, S. 427 ff.; Hillenkamp, 40 Probleme Strafrecht BT, S. 70 ff.; LK / Wolff, § 306a Rn. 3 f.; MK / Radkte, § 306a Rn. 39 ff.; NK / Herzog / Kargl, § 306a Rn. 3; Otto, Die einzelnen Delikte, § 78 Rn. 3 ff.; Schönke / Schröder / Heine / Bosch, § 306a Rn. 2; Schünemann, JA 1975, 787 (797); SK / Wolters, § 306a Rn. 17; Wessels / Hettinger, Strafrecht BT / 1, Rn. 968. 112 Bohnert, JuS 1984, 182 (184 f.); Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176 Rn. 3. 113 BGHSt 38, 68 (70); a. A. Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 1, § 17 Rn. 28; Schroeder, Das neue Sexualstrafrecht, S. 20.
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D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
der Wahrnehmungsschwelle liegende) Reize trotz fehlender bewusster Wahrnehmbarkeit unter bestimmten Umständen Auswirkungen auf psychische Prozesse haben können; jedoch setzt auch dies einen gewissen Wachheitsgrad voraus, der im Tiefschlaf nicht gegeben ist.114 Auch bei Zugrundelegung des Rechtsguts der sexuellen Selbstbestimmung bestehen Schwierigkeiten, die Strafbarkeit des sexuellen Missbrauchs eines schlafenden oder bewusstlosen Kindes zu begründen, denn ein solches Kind hat im Zeitpunkt der Tat keinen entgegenstehenden Willen.115 Insoweit könnte man sich argumentativ damit behelfen, dass das Kind seinen entgegenstehenden Willen „mit in den Schlaf (oder die Bewusstlosigkeit) nimmt“.116 Damit würde man jedoch bloß einen entgegenstehenden Willen unterstellen anstatt ihn zu belegen. Wegen der mit strafbarkeitsbegründenden Vermutungen verbundenen Schwierigkeiten hat der Gesetzgeber jedoch die Norm des § 179 StGB (sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen) geschaffen, aus der sich im Umkehrschluss folgern lässt, dass es für die sexuelle Selbstbestimmung im engeren Sinn auf das tatsächliche Vorliegen eines entgegenstehenden Willens ankommt.117 Allerdings könnte das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung auch dahingehend interpretiert werden, dass es nicht nur in den Fällen des entgegenstehenden Willens, sondern auch in denen des fehlenden Willens als verletzt angesehen wird. Wegen der fehlenden Zustimmung wäre die so verstandene sexuelle Selbstbestimmung bei der Vornahme sexueller Handlungen an einem tiefschlafenden oder bewusstlosen Kind verletzt.118 Eine solche Ausweitung des Begriffs der sexuellen Selbstbestimmung ist nicht fernliegend, wird doch das Handeln „ohne den Willen“ häufig dem Handeln „gegen den Willen“ gleichgesetzt, weil beiden Situationen das fehlende Einverständnis gemein ist. Es erscheint zumindest fraglich, ob eine solche extensive Auslegung den Begriff der Selbstbestimmung nicht überdehnt, denn der, der keinen Willen hat, kann gerade nicht selbst bestimmen, sodass seine Selbstbestimmung auch nicht verletzt werden kann. Andererseits ist zuzugeben, dass derjenige, der es unterlässt, ein Einverständnis einzuholen, die sexuelle Selbstbestimmung nicht respektiert.
114 Vgl. zu subliminaler Wahrnehmung, s. Kiefer, in Müsseler, Allgemeine Psychologie, S. 155 (167 ff.); Solso, Kognitive Psychologie, S. 135 ff. Zur Physiologie des Schlafes, s. Speckmann / Hescheler / Köhling, Physiologie, S. 263 ff. 115 s. aber auch MK / Renzikowski, § 176 Rn. 3. 116 Vgl. Frühsorger, Straftatbestand, S. 52; s. auch im Kontext des § 179 StGB: Oberlies, ZStW 114 (2002), 130 (138 ff.). 117 s. bereits oben C. II. 2. Vgl. auch Molketin, NStZ 1992, 179 f. 118 So Sick / Renzikowski, FS Schroeder, S. 603 (607).
II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB 287
Trotz der aufgezeigten argumentativen Schwierigkeiten wird jedoch von der ganz herrschenden Meinung die Strafbarkeit des sexuellen Missbrauchs eines schlafenden oder bewusstlosen Kindes für tatbestandsmäßig erachtet.119 Das häufige Fehlen einer argumentativen Begründung legt nahe, dass insoweit ergebnisorientiert gedacht wird, ohne die Folgerichtigkeit anhand der jeweiligen Rechtsgutsauffassung zu überprüfen. Legt man die sexuelle Integrität als Rechtsgut zugrunde, so besteht nicht die Notwendigkeit, mit ergebnisorientierten Hilfserwägungen die Tatbestandsmäßigkeit des Missbrauchs tiefschlafender oder bewusstloser Kinder zu begründen, denn die sexuelle Integrität besteht unabhängig vom Bewusstseinszustand des Kindes fort. Der Begriff der sexuellen Integrität knüpft nicht an Vermutungen oder Behauptungen über die Psyche des Kindes an, sondern beschreibt einen Zustand des Freiseins von äußeren sexuellen Reizen, der unabhängig von den Eigenschaften der betroffenen Person, insbesondere auch ihres Bewusstseinszustandes, Achtung beansprucht. Somit gelangt die hier vertretene Rechtsgutsauffassung zu demselben Ergebnis wie die anderen Ansichten, ohne jedoch mit dürftigen Argumenten Begründungsschwierigkeiten überwinden zu müssen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Argumentation des Bundesgerichtshofs in seiner Entscheidung zum sexuellen Missbrauch eines schlafenden Kindes: „Vor sexuellen Handlungen, die den Körper des Kindes in Mitleidenschaft ziehen (‚sexuelle Handlungen an einer Person unter 14 Jahren‘), soll das Kind nach der Wertentscheidung des Gesetzgebers schlechthin geschützt sein. Dementsprechend hat bereits der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs entschieden, daß Handlungen, die an einem Kind vorgenommen werden oder die das Kind an dem Täter oder einem Dritten vornimmt, auch dann sexuelle Handlungen im Sinne der §§ 176, 184c Nr. 1 StGB sind, wenn das Kind die Sexualbezogenheit nicht erkennt oder noch nicht erkennen kann (BGHSt 29, 336). In Fällen, in denen das Kind zur Zeit der Handlung schläft, kann nichts anderes gelten: Auch hier handelt es sich um ein körperliches Eindringen Älterer in die Sexualsphäre des Kindes, die nach der Wertentscheidung des Gesetzgebers ganz unterbunden werden soll.“120
In dieser Entscheidung stellt das Gericht gerade auf ein Eindringen in die „Sexualsphäre“ ab, sodass sich die Frage stellt, warum nicht eben diese 119 BGHSt 15, 197 (198); 38, 68 (69 ff.) mit Anm. Molketin, NStZ 1992, 179; Barabas, Sexualität und Recht, S. 99; BeckOK / Ziegler, § 176 Rn. 12; Fahl, JURA 1998, 456 (459); Frühsorger, Straftatbestand, S. 52 f.; Günther, Die Beteiligung von Frauen, S. 106; Lackner / Kühl, § 176 Rn. 3; Laubenthal, Sexualstraftaten, Rn. 344; LK / Hörnle, § 176 Rn. 10; LK / Laufhütte (11. Aufl.), § 184c Rn. 17 (anders noch in der 10. Aufl.); Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176 Rn. 3, 11; Otto, Die einzelnen Delikte, § 66 Rn. 46; Schönke / Schröder / Eisele, § 184g Rn. 18 (anders noch Schönke / Schröder / Lenckner / Perron / Eisele [27. Aufl.], § 184f Rn. 11, 18); Sick / Renzikowski, FS Schroeder, S. 603 (607); SK / Wolters, § 176 Rn. 2 f. 120 BGHSt 38, 68 (70).
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D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
Sexualsphäre beziehungsweise mit dem hier präferierten Begriff die „sexuelle Integrität“ des Kindes als Rechtsgut des § 176 StGB angesehen wird.121 Es zeigt sich folglich, dass bei Zugrundelegung des Rechtsguts der „sexuellen Integrität“ das auch von anderen Rechtsgutsauffassungen für richtig gehaltene Ergebnis, dass sexuelle Handlungen an schlafenden oder bewusstlosen Kindern gemäß § 176 StGB strafbar sind, zwanglos begründet werden kann. Der mit dem Rechtsgut der „sexuellen Integrität“ verbundene Vorzug, nicht auf Hilfsbegründungen zur Darlegung der Strafbarkeit angewiesen zu sein, besteht auch in Fällen, in denen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine Gefahr für die ungestörte (sexuelle) Entwicklung des Kindes besteht und auch kein entgegenstehender Wille des Tatopfers feststellbar ist. Gemeint sind beispielsweise die Fälle des Kleinstkindes oder Säuglings, das die Tat nicht in einer Weise verarbeiten kann, die Entwicklungsstörungen herbeiführen könnte. Ähnliches gilt für geistig schwerstbehinderte Kinder, bei denen zu erwarten ist, dass sie selbst als Erwachsene nie ein auch nur annäherndes Verständnis der Tat entwickeln werden. Freilich kann auch in diesen Fällen versucht werden, mithilfe auf tatsächlicher oder rechtlicher Ebene angesiedelter Hilfsargumentationen eine Beeinträchtigung der ungestörten (sexuellen) Entwicklung oder der sexuellen Selbstbestimmung zu konstruieren. Allerdings sind solche Umwege unnötig, da bei Zugrundelegung des Rechtsguts der sexuellen Integrität die Strafbarkeit in diesen Fällen unproblematisch begründet werden kann. b) Das sexuell erfahrene Kind Eine weitere in den Kommentierungen häufig erwähnte Fallgruppe betrifft das sexuell erfahrene Kind. Es wird in der strafrechtlichen Literatur regelmäßig klargestellt, dass auch ein Kind, das bereits Erfahrungen auf sexuellem Gebiet hat, Opfer einer Tat nach § 176 StGB sein kann.122 Dieses Ergebnis ist unabhängig von der zugrundegelegten Rechtsgutsauffassung zutreffend. Wie bereits erörtert,123 handelt es sich beim Rechtsgut um einen Relativbegriff, insofern als eine bereits vorhandene Rechtsgutsbeeinträchtigung einer erneuten Tatbestandsverwirklichung (also Rechtsgutsbeeinträch121 Entsprechendes gilt für die Ausführungen Hörnles (LK / Hörnle, § 176 Rn. 10), die mit dem Begriff der „Intimsphäre“ argumentiert. 122 Campbell, Der intrafamiliäre sexuelle Kindesmißbrauch, S. 55; Günther, Die Beteiligung von Frauen, S. 105; Lackner / Kühl, § 176 Rn. 1; Laubenthal, Sexualstraftaten, Rn. 344; Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176 Rn. 3; Schönke / Schröder / Eisele, § 176 Rn. 1a; SK / Wolters, § 176 Rn. 3; Wilmer, Sexueller Mißbrauch, S. 26. 123 B. II. 1. b) dd).
II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB 289
tigung) nicht entgegensteht. So wie in die körperliche Unversehrtheit eines Kranken oder Verletzten nochmals eingegriffen werden kann, kann auch an einem Kind, dessen sexuelle Integrität bereits verletzt wurde, nochmals ein sexueller Missbrauch begangen werden. Dasselbe gilt, wenn man die „ungestörte (sexuelle) Entwicklung“ als Rechtsgut des § 176 StGB ansieht, denn die Gefahr einer Entwicklungsstörung ist ebenso wie die realisierte Entwicklungsstörung durch weitere tatbestandsmäßige Handlungen steigerbar. Schließlich ist auch eine wiederholte Beeinträchtigung der sexuellen Selbstbestimmung möglich, sodass auch die Zugrundelegung des Rechtsguts der sexuellen Selbstbestimmung zu keinem anderen Ergebnis führt. Es ist wohl auf eine unzureichende Auseinandersetzung mit den dogmatischen Grundlagen des Rechtsgutsbegriffs zurückzuführen, dass gleichwohl die Notwendigkeit gesehen wird, zu betonen, dass auch ein sexuell erfahrenes Kind taugliches Opfer einer Tat nach § 176 StGB sein kann. Außerdem wirkt hier wohl auch das antiquierte Denken nach, wonach das Verbot des sexuellen Missbrauchs von Kindern die betroffenen Kinder vor einem Verlust ihrer „Geschlechtsehre“ oder „Sittsamkeit“ schützen soll, wobei davon ausgegangen wird, dass diese durch die erste Tat zerstört wird.124 Diese an der Zerstörung der Jungfräulichkeit orientierte Vorstellung hat in früherer Zeit das Verständnis der Vorschrift gegen die Unzucht mit Kindern mitgeprägt.125 Weder die damaligen noch die heutigen Rechtsgutsauffassungen sind jedoch so zu interpretieren, dass nur der erstmalige Missbrauch mit einer Rechtsgutsverletzung einhergeht. c) Das die sexuelle Bedeutung nicht erkennende Kind Des Weiteren wird häufig darauf hingewiesen, dass ein sexueller Missbrauch auch dann vorliegen kann, wenn das Kind die sexuelle Dimension des tatbestandsmäßigen Verhaltens nicht erkennt.126 Dieses zutreffende Ergebnis lässt sich unabhängig von der zugrundegelegten Rechtsgutsauffassung begründen. Ein Eingriff in die sexuelle Integrität setzt nicht voraus, 124 Brüggemann,
Entwicklung und Wandel, S. 295, 299. Der strafrechtliche Schutz, S. 40 f. mit Verweis auf Albrecht, Die Unzucht mit Kindern, S. 207. 126 Fischer, StGB, § 176 Rn. 3, 9; § 184g Rn. 4; Frühsorger, Straftatbestand, S. 55 ff.; Gössel, Das neue Sexualstrafrecht, § 1 Rn. 23, 30; Horn, JR 1981, 251 ff.; Ilg, Der strafrechtliche Schutz, S. 66 ff.; Lackner / Kühl, § 184g Rn. 4; LK / Hörnle, § 176 Rn. 10; Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176 Rn. 11; Maurach / Schroe der / Maiwald, Strafrecht BT / 1, § 17 Rn. 27 f.; MK / Hörnle, § 184g Rn. 28; Schönke / Schröder / Eisele, § 184g Rn. 11, 18 (anders noch Schönke / Schröder / Lenckner / Perron / Eisele [27. Aufl.], § 184f Rn. 21 f.); SK / Wolters, § 176 Rn. 2; § 184g Rn. 4. A. A. Beck, Die sexuelle Handlung, S. 102. 125 Ilg,
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D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
dass dieser vom Opfer als solcher erkannt und verstanden wird. Zudem sind Störungen der (sexuellen) Entwicklung auch dann möglich, wenn das Kind die Bedeutung der Tathandlung nicht verstanden hat, beispielsweise weil es sie gerade deshalb als beängstigend oder verstörend empfindet. Schließlich kann unabhängig davon, ob die Bedeutung einer sexuellen Handlung verstanden wird, das Einverständnis mit ihr verweigert werden mit der Folge, dass ihre Vornahme sich als Beeinträchtigung der sexuellen Selbstbestimmung darstellt. Dass gleichwohl häufig die Frage erörtert wird, ob § 176 StGB verwirklicht sein kann, wenn das Kind die sexuelle Dimension nicht erkennt, erklärt sich vor dem Hintergrund von mehreren einschlägigen höchstrichterlichen Entscheidungen.127 Dort ging es jeweils um Fälle, in denen Handlungen von Kindern vorgenommen wurden, die von den Kindern nicht als sexuelle erkannt wurden, wohl aber vom Angeklagten als solche angesehen wurden. Konkret hatte der Angeklagte Mädchen zum Anheben ihres Rocks beziehungsweise zur Vornahme eines Handstands aufgefordert, wobei er sich daran erregte, dass hierdurch die Unterwäsche der Kinder sichtbar wurde. Problematisch ist an diesen Fällen jedoch nicht, dass die Kinder die sexuelle Dimension der Situation nicht erkannten, sondern, ob eine sexuelle Handlung im Sinne des § 184g StGB vorliegt.128 So erscheint es fraglich, ob der erforderliche Sexualbezug des Verhaltens sowie die Erheblichkeit im Sinne des § 184g Nr. 1 StGB gegeben sind.129 Jedenfalls trifft die ganz herrschende Meinung zu, dass es für die Tatbestandsverwirklichung des § 176 StGB unerheblich ist, ob das Kind die sexuelle Bedeutung des inkriminierten Verhaltens erkennt. d) Der kindliche oder jugendliche Täter Der Fall der nur geringen Altersdifferenz zwischen Täter und Opfer wird vor allem rechtspolitisch diskutiert.130 Es lassen sich hierbei Extremfälle bilden wie der der gerade 14 Jahre alten „Täterin“, die ihren gerade noch 127 BGHSt 2, 212 (213); 17, 280 (286); 29, 336 (339); s. auch RGSt 22, 33; KG JR 1982, 507 f. Missverständlich: BGH GA 1969, 378. 128 MK / Renzikowski, § 176 Rn. 36; Schönke / Schröder / Eisele, § 184g Rn. 11; s. auch bereits Schmidt-Leichner, NJW 1952, 713. 129 Zum Begriff der sexuellen Handlung sogleich unter D. II. 2. 130 Campbell, Der intrafamiliäre sexuelle Kindesmißbrauch, S. 115 ff.; KettStraub, ZRP 2007, 260 ff.; Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176 Rn. 5; NK / Frommel, § 176 Rn. 10; SK / Wolters, § 176 Rn. 2; s. auch Heghmanns, Strafrecht BT, CD 21-04 Rn. 7. Zur empirischen Bedeutung der Begehung von Sexualdelikten durch Jugendliche, s. Günter, in Venzlaff / Foerster, Psychiatrische Begutachtung, S. 697 (721).
II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB 291
13-jährigen Freund ihre Brüste berühren lässt und hierfür wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern bestraft werden kann. An der Tatbestandsverwirklichung kann man hier vor allem dann berechtigte Zweifel üben, wenn man als geschützte Rechtsgüter die „ungestörte (sexuelle) Entwicklung“ oder die „sexuelle Selbstbestimmung“ ansieht, weil – je nach den Umständen des Einzelfalls – deren Beeinträchtigung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist.131 Gleichwohl wird auch insoweit von der herrschenden Meinung132 im Hinblick auf die angenommene „abstrakte Gefährlichkeit“ der Taten beziehungsweise die unterstellte Unwirksamkeit des Einverständnisses des Kindes von der Tatbestandsmäßigkeit ausgegangen. Bei Zugrundelegung der sexuellen Integrität als geschütztem Rechtsgut bedarf es keines Rückgriffs auf solche Behelfsargumente, da dieses Rechtsgut auch in solchen „Grenzfällen“ faktisch beeinträchtigt wird. Aus rechtspolitischer Sicht erscheinen die Fälle indes weitaus unproblematischer, als es teilweise dargestellt wird. So meint Frommel, dass „nur noch auf der Ebene des Sanktionenrechts ein angemessenes Ergebnis erzielt werden“133 könne. Mitunter wird auch auf die Möglichkeiten zur Verfahrenseinstellung nach den Vorschriften des JGG und der StPO hingewiesen.134 Tatsächlich dürfte es häufig bereits an der Schuld fehlen, was deshalb übersehen wird, weil in der Praxis eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den einschlägigen Normen unterbleibt. Wenn man das Vorliegen eines Verbotsirrtums (§ 17 StGB) im Einzelfall sorgfältig prüfen und die an die Vermeidbarkeit desselben zu stellenden Anforderungen nicht überspannen135 würde, so ließe sich die Straflosigkeit des Verhaltens mitunter schon mit der Schuldlosigkeit des Täters begründen. Auch wenn keine empirischen Untersuchungen ersichtlich sind, so liegt es nahe, dass bei weitem nicht jedem Jugendlichen die in § 176 StGB normierte 14-Jahres-Grenze und die Reichweite des strafrechtlichen Verbots136 ge131 So auch NK / Frommel, § 176 Rn. 10 im Hinblick auf Renzikowskis Ansicht, die § 176 StGB als Verletzungsdelikt gegen die sexuelle Selbstbestimmung einstuft. KettStraub, ZRP 2007, 260 (263) zum Rechtsgut der ungestörten sexuellen Entwicklung; s. auch Frommel, FS Heinz, S. 71 (82); Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176 Rn. 5. 132 s. aber auch Otto, Die einzelnen Delikte, § 66 Rn. 46, wonach Täter nur der „Inhaber der Autoritätsstellung“ sein kann. 133 NK / Frommel, § 176 Rn. 10; s. auch Frommel, GedS Walter, S. 687 (696, Fn. 9). 134 Laubenthal, Handbuch, Rn. 441; Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176 Rn. 5. 135 Kritisch zu den überhöhten Anforderungen an die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums: Lackner / Kühl, § 17 Rn. 7; NK / Neumann, § 17 Rn. 60; Schönke / Schröder / Sternberg-Lieben / Schuster, § 17 Rn. 15. 136 Als Stichworte seien genannt: Zungenkuss, Streicheln der Brüste, Petting, gemeinsames Masturbieren.
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läufig sind. Desgleichen dürfte der Jugendliche häufig keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit seines Verhaltens haben, sodass der Verbotsirrtum bereits deshalb unvermeidbar ist, weil kein Anlass besteht, eine Rechtsauskunft einzuholen. Zudem wird nicht beachtet, dass jedenfalls in den oft skizzierten Extremfällen häufig die Verantwortungsreife im Sinne des § 3 JGG fehlen dürfte, sodass es (auch137) aus diesem Grund an einer schuldhaft verwirklichten Tat fehlt. Wenn sich schon Strafrechtsprofessoren damit schwer tun, das Unrecht in solchen Fällen einzusehen, wie soll dann ein sich zumeist in einer hormonellen Ausnahmesituation befindender Jugendlicher mit der alterstypischen „geistigen und sittlichen Reife“ das Unrecht der Tat einsehen können?138 Je nachvollziehbarer die Strafbarkeit jedoch für einen Erwachsenen wird (beispielsweise im Verhältnis eines 17-jährigen „Täters“ und eines 11-jährigen „Opfers“), desto eher wird auch – die freilich im Einzelfall positiv festzustellende139 – Verantwortungsreife im Sinne des § 3 JGG gegeben sein.140 Selbst wenn die Einsichtsfähigkeit gegeben ist, kann gerade im sexuellen Kontext die Fähigkeit fehlen, in der konkreten Situation entsprechend dieser Einsicht zu handeln.141 Die Rechtsprechung erkennt allerdings die Problematik des § 3 JGG im Zusammenhang mit § 176 StGB nicht142 und auch die strafrechtliche Literatur geht eher beiläufig auf die Thematik ein.143 So weist Eisenberg zumin137 Zum Verhältnis von § 3 JGG und § 17 StGB, s. Diemer / Schatz / Sonnen / Diemer, JGG, § 3 Rn. 22 ff.; Eisenberg, JGG, § 3 Rn. 32; Laubenthal / Baier / Nestler, Jugendstrafrecht, Rn. 77; MK / Altenhain / Laue, § 3 JGG Rn. 21 ff.; Streng, GedS Walter, S. 423 (431 ff.); zu inhaltlichen Unterschieden zwischen den Vorschriften Walter / Kubink, GA 1995, 51 (56 ff.). 138 Eine ähnliche Überlegung findet sich – bezogen auf einen minderbegabten Angeklagten – jüngst auch in dem Beschluss BGH StraFo 2013, 520 (521). 139 Laubenthal / Baier / Nestler, Jugendstrafrecht, Rn. 65; MK / Altenhain / Laue, § 3 JGG Rn. 1. 140 s. auch Dallinger / Lackner, JGG, § 3 Rn. 11. 141 Dazu Böhm / Feuerhelm, Jugendstrafrecht, S. 40; Brunner / Dölling, JGG, § 3 Rn. 4b; Dallinger / Lackner, JGG, § 3 Rn. 11; Diemer / Schatz / Sonnen / Diemer, JGG, § 3 Rn. 10; Eisenberg, JGG, § 3 Rn. 25; Laubenthal / Baier / Nestler, Jugendstrafrecht, Rn. 72; MK / Altenhain / Laue, § 3 JGG Rn. 14; Ostendorf, JGG, § 3 Rn. 10; Streng, Jugendstrafrecht, Rn. 51, s. auch OLG Karlsruhe NStZ 2000, 485. 142 s. aber RGSt 47, 385 ff. Kritisch zur Handhabung des § 3 JGG in der Praxis: P.-A. Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 99 f.; Eisenberg, JGG, § 3 Rn. 10; Miehe, ZStW 89 (1977), 420 (425 f.); Nix / Cabanis / Nix, § 3 Rn. 2 ff.; Schaffstein / Beulke, Jugendstrafrecht, S. 63 f.; Walter / Kubink, GA 1995, 51 (52); Zieger, StV 1988, 308 (309); differenzierend Brunner / Dölling, JGG, § 3 Rn. 3; HK-GS / Verrel / Linke, § 19 StGB Rn. 5. 143 Böhm / Feuerhelm, Jugendstrafrecht, S. 39; Ostendorf, Jugendstrafrecht, Rn. 37; ders., JGG, § 3 Rn. 7; ders., in Briken / Spehr / Romer / Berner, Sexuell grenzverlet-
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dest in einem Nebensatz im Zusammenhang mit Sexualstraftaten auf die „insoweit erhöhte[n] Problematik der Einsichtsfähigkeit“ hin.144 In der älteren Literatur war das Bewusstsein für die Fraglichkeit der Verantwortungsreife in den genannten Fällen demgegenüber deutlich größer. So legte Peters in seiner Abhandlung zur Beurteilung der Verantwortungsreife aus dem Jahr 1967 ausführlich dar, warum die Prüfung des § 3 JGG bei der „Unzucht mit Kindern“ notwendig ist.145 Desgleichen widmete der 1965 in zweiter Auflage erschienene Kommentar zum Jugendgerichtsgesetz von Dallinger / Lackner dieser Problematik längere Ausführungen.146 Somit müsste sich die kriminalpolitische Diskussion in erster Linie an der Handhabung des § 3 JGG in der Praxis entfachen. Im zweiten Schritt könnte dann die Angemessenheit der strafrechtlichen Konsequenzen bei fehlender Verantwortungsreife im Sinne des § 3 JGG erörtert werden, also insbesondere die Angemessenheit der Einstellung des Verfahrens (§ 170 Abs. 2 StPO oder § 47 Abs. 1 Nr. 4 JGG). Die insoweit vorgesehene Eintragung im Erziehungsregister (§ 60 Abs. 1 Nr. 6, 7 BZRG) und die mögliche Anordnung familiengerichtlicher Maßnahmen (§ 3 S. 2 JGG) sind jedoch aus kriminalpolitischer Sicht gut vertretbar, da diese Folgen keinen unverhältnismäßigen Eingriff in die Rechte des jugendlichen „Täters“ darstellen. In den Fällen hingegen, in denen die Verantwortungsreife (§ 3 JGG) zu bejahen ist, lassen sich aufgrund des ausgefeilten Sanktionsinstrumentariums des Jugendstrafrechts, insbesondere auch unter Berücksichtigung der Diversionsmöglichkeiten, im Einzelfall sachgerechte Ergebnisse finden.147 Damit erweist sich die Kritik an der möglichen Strafbarkeit jugendlicher Täter gemäß § 176 StGB in ihrer Pauschalität als überzogen.148 zende Kinder und Jugendliche, S. 83 (91); Streng, GedS Walter, S. 423 (427 f.); s. auch Lempp, in König, Gestörte Sexualentwicklung bei Kindern und Jugendlichen, S. 53 (61 f.). Eher erkannt wird die Problematik der Verhaltenssteuerung, dazu s. die Nachweise in Fn. 141. Auch in der psychiatrischen Literatur besteht ein größeres Problembewusstein, s. etwa Günter, in Venzlaff / Foerster, Psychiatrische Begutachtung, S. 697 (713). 144 Eisenberg, JGG, § 3 Rn. 25. 145 Peters, in Undeutsch, Handbuch der Psychologie, Bd. 11: Forensische Psychologie, S. 260 (264 f.). 146 Dallinger / Lackner, JGG, § 3 Rn. 11; s. auch Finckh, Das sexuell geschädigte und gefährdete Kind, S. 178. 147 Vgl. auch NK / Frommel, § 176 Rn. 10; SK / Wolters, § 176 Rn. 2; eine Notwendigkeit zur Gesetzesänderung sieht hingegen Kett-Straub, ZRP 2007, 260 (263). 148 Auf einem anderen Blatt steht, wie das jugendstrafrechtliche Instrumentarium in der Praxis tatsächlich umgesetzt wird. So hat das LG Limburg (Urt. v. 1.9.2014 – 4 Js 17641 / 13 – 1 Ns [JURIS]) zutreffend in einem Fall des einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs zwischen einem knapp 18-Jährigen und einer fast 14-Jährigen den Rechtsfolgenausspruch aufgehoben. Die Vorinstanz hatte eine Jugendstrafe im
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Kaum Beachtung findet in diesem Zusammenhang die Relevanz der Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens des Jugendlichen im Hinblick auf eine Strafbarkeit (älterer) Dritter.149 So ist unter Umständen im Hinblick auf die Strafbarkeit dritter Personen von erheblicher Bedeutung, dass eine rechtswidrige Handlung (§ 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB) auch dann vorliegt, wenn beide Beteiligte eines Sexualkontakts Kinder sind. So können strafmündige Personen, die an Sexualkontakten von Kindern teilnehmen, über die Vorschriften zur Anstiftung und Beihilfe (§§ 26, 27 StGB) auch insoweit belangt werden, als § 176 Abs. 2 StGB nicht eingreift. Zu denken wäre an Fälle, in denen ein Strafmündiger einem Kind Beihilfe zum sexuellen Kindesmissbrauch leistet, indem er ihm Verhütungsmittel, Sexspielzeug oder pornographisches Material zur Verfügung stellt, die das Kind zur Begehung tatbestandsmäßiger Verhaltensweisen im Sinne des § 176 StGB haben möchte.150 Des Weiteren ist der Fall der Kettenanstiftung in den Blick zu nehmen, der nach zutreffender Ansicht nicht von § 176 Abs. 2 StGB erfasst ist.151 So kann ein Strafmündiger wegen einer Tat nach §§ 176 Abs. 2, 26 StGB strafrechtlich belangt werden, wenn er ein Kind (K1) erfolgreich dazu auffordert, ein anderes Kind (K2) zur Vornahme von sexuellen Handlungen an einem Dritten zu bestimmen. Würde man hingegen tatbestandsmäßige Handlungen Hinblick auf die „Schwere der Schuld“ (§ 17 JGG) für erforderlich gehalten. Die Entscheidung der Vorinstanz zeigt exemplarisch, wie mitunter Vorschriften und Grundgedanken des Jugendstrafrechts von den Instanzgerichten fehlinterpretiert werden. 149 Hierzu gehören jedoch nicht Auswirkungen auf den Umfang der Strafbarkeit nach § 184b StGB (so aber NK / Frommel, § 176 Rn. 10), da diese Vorschrift nur auf das Vorliegen von sexuellen Handlungen vor, an oder vor Kindern abstellt, ohne dass es auf das Alter weiterer Beteiligter ankäme. Es ist gerade nicht die Darstellung eines im Sinne des § 176 Abs. 1 StGB tatbestandsmäßigen Verhaltens erforderlich. 150 Zum Sonderfall der Verschreibung von Kontrazeptiva durch Ärzte, s. Fischer, StGB, § 176 Rn. 11; Kett-Straub, ZRP 2007, 260 (262 f.); LK / Hörnle, § 176 Rn. 27; Tröndle, MedR 1992, 320 (321 ff.); ders., FS Schmitt, S. 231 (234 ff.). Generell wird man bei der Zurverfügungstellung von Verhütungsmittel zunächst eine Pflicht annehmen müssen, das Kind von der Vornahme sexueller Handlungen abzubringen, gegebenenfalls durch Einschaltung Dritter (Eltern, Jugendamt). Nur wenn sich die Zurverfügungstellung von Verhütungsmitteln als Maßnahme der Gefahrverringerung darstellt, weil davon auszugehen ist, dass das Kind nicht von der Ausübung des – notfalls ungeschützten – Geschlechtsverkehrs abzubringen ist, ist von der Straflosigkeit des Verhaltens auszugehen (vgl. Tröndle, FS Schmitt, S. 231 [239]). Insoweit lassen sich die Grundsätze zur „Abstiftung“ (vgl. dazu MK / Joecks, § 26 Rn. 34 ff.) heranziehen. Zur Möglichkeit der Rechtfertigung nach § 34 StGB, s. LK / Hörnle, § 176 Rn. 27 einerseits und Tröndle, a. a. O., andererseits. 151 Gössel, Das neue Sexualstrafrecht, § 6 Rn. 11; Laubenthal, Sexualstraftaten Rn. 357; MK / Renzikowski, § 176 Rn. 56; NK / Frommel, § 176 Rn. 15; Schönke / Schröder / Eisele, § 176 Rn. 8; SK / Wolters, § 176 Rn. 7; a. A. Fischer, StGB, § 176 Rn. 7; LK / Hörnle, § 176 Rn. 16; LK / Laufhütte (11. Aufl.), § 176 Rn. 6.
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von Kindern nicht dem Anwendungsbereich des § 176 StGB unterstellen, so bliebe insoweit eine Strafbarkeitslücke, da keine tatbestandsmäßige Haupttat des Kindes K1 vorläge. Es könnte allenfalls mit der geringen praktischen Bedeutung der genannten Fälle begründet werden, dass diese Lücke hinzunehmen ist. Zudem ermöglicht die Erfassung einschlägiger Verhaltensweisen von Kindern durch den Tatbestand des § 176 StGB das Verhalten von Eltern und anderen Garanten des Kindeswohls auch jenseits des § 171 StGB angemessen strafrechtlich zu würdigen. Wenn solche Personen sexuelle Handlungen zwischen Kindern vorsätzlich nicht unterbinden, können sie sich wegen Beihilfe zu sexuellem Missbrauch von Kindern durch Unterlassen strafbar machen.152 Umgekehrt kann ein beispielsweise im Sinne des § 240 StGB tatbestandsmäßiges Verhalten im Hinblick darauf als gerechtfertigt angesehen werden, dass es zur Verhinderung einer rechtswidrigen Tat im Sinne des § 176 StGB erfolgt, beispielsweise weil mit Nötigungsmitteln sexuelle Handlungen zwischen Kindern unterbunden werden.153 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Strafbarkeit in Fällen geringer Altersdifferenz zwischen Täter und Opfer nur bei Zugrundelegung des Rechtsguts der sexuellen Integrität überzeugend begründet werden kann. Aus kriminalpolitischer Sicht besteht in diesen Fällen keine Notwendigkeit zur Einschränkung der Reichweite der Strafvorschrift, sondern es erscheint zur Vermeidung von Strafbarkeitslücken sogar geboten, die Tatbestandsmäßigkeit auch von sexuellen Handlungen zwischen Kindern anzunehmen. Wenn Desiderata formuliert werden, sollten sich diese stattdessen in erster Linie auf eine sorgfältige Prüfung der §§ 3 JGG und 17 StGB richten. 2. Das Tatbestandsmerkmal „sexuelle Handlung“ Das Tatbestandsmerkmal „sexuelle Handlung“ hat nicht nur im Rahmen des § 176 StGB, sondern in zahlreichen Normen des Sexualstrafrechts eine tragende Bedeutung.154 Obwohl es sich um einen Schlüsselbegriff des 13. Abschnitts des Strafgesetzbuchs handelt, sind seine Konturen dogmatisch kaum geklärt. 152 Vgl. auch DIJuF-Rechtsgutachten vom 24.06.2004, JAmt 2004, 533 ff.; LK / Hörnle, § 176 Rn. 28; Tröndle, MedR 1992, 320 (321); ders., FS Schmitt, S. 231 (233). Vgl. zur Vorschrift der Unzucht mit Kindern BGH GA 1966, 309. 153 Freilich dürfte es in diesen Fällen zumeist auch an der „Verwerflichkeit“ im Sinne des § 240 Abs. 2 StGB fehlen. 154 s. die Aufzählung bei Laubenthal, Handbuch, Rn. 101; MK / Hörnle, § 184g Rn. 1.
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a) Das Begriffsverständnis der herrschenden Meinung Nach der herrschenden Meinung liegt eine sexuelle Handlung vor, „wenn sie nach ihrem äußeren Erscheinungsbild eine ‚Beziehung zum Geschlechtlichen‘ aufweist“155, beziehungsweise wenn sie „das Geschlechtliche im Menschen zum unmittelbaren Gegenstand hat“156. Mit nur geringfügigen sprachlichen Abweichungen hat diese Umschreibung sowohl in der Rechtsprechung157 als auch in der Literatur158 verbreitete Anerkennung gefunden. Indes ist die inhaltliche Aussagekraft dieser Umschreibungen so gering, dass sich kaum von einer Definition sprechen lässt. Der Begriff des „Geschlechtlichen“ stellt eine behelfsmäßige Übersetzung des „Sexuellen“ dar. Abgesehen davon, dass er in der Alltagssprache kaum verwendet wird, ist der Begriff des „Geschlechtlichen“ ungenauer. Er erzeugt Assoziationen zu den gebräuchlicheren Begriffen des „Geschlechtsverkehrs“ und der „Geschlechtsorgane“. Damit droht jedoch eine begriffliche Einengung, denn sexuelle Handlungen liegen nicht nur beim Geschlechtsverkehr oder der Einbeziehung der Geschlechtsorgane vor. Überdies kommt es für die Einstufung einer Handlung als sexuelle nicht auf das Geschlecht der beteiligten Akteure an, denn anerkanntermaßen werden homosexuelle Handlungen genauso wie heterosexuelle und autoerotische Handlungen von diesem Begriff erfasst.159 Belässt man es beim ursprünglichen Begriff des „Sexuellen“, so wird jedoch die Inhaltsarmut der Definition der sexuellen Handlung durch die herrschende Meinung offenkundig. Eine sexuelle Handlung wäre danach eine solche, die nach ihrem äußeren Erscheinungsbild einen Bezug zum Sexuellen aufweist. Damit wird also zunächst nur ein Sexualbezug, also eine irgendwie geartete Verknüpfung zur Sexualität, verlangt. 155 SK / Wolters,
§ 184g Rn. 2. StGB, § 184g Rn. 2. 157 BGHSt 29, 336 (338); BGH NStZ 1983, 167; NStZ 1985, 24; NJW 1992, 325; NJW 1993, 2252 (2253); (bei Miebach) NStZ 1996, 124; (bei Pfister) NStZ-RR 1999, 357; NStZ 2002, 431 (432); NStZ-RR 2008, 339 (340); NStZ 2009, 29; NStZRR 2013, 10 (12); OLG Köln NJW 1974, 1830 (1831); KG JR 1982, 507; OLG Jena NStZ-RR 1996, 294 f.; OLG Zweibrücken NStZ 1998, 357; OLG Oldenburg NStZRR 2010, 240 (241). 158 AnwKomm / Deckers, § 184g Rn. 2; Beck, Die sexuelle Handlung, S. 25 ff.; Gössel, Das neue Sexualstrafrecht, § 1 Rn. 14; Ilg, Der strafrechtliche Schutz, S. 58; Laubenthal, Handbuch, Rn. 102 f.; Lackner / Kühl, § 184g Rn. 2; LK / Laufhütte / Roggenbuck, § 184g Rn. 5; MK / Hörnle, § 184g Rn. 2; NK / Frommel, § 184g Rn. 1; Otto, Die einzelnen Delikte, § 66 Rn. 5; Schönke / Schröder / Eisele, § 184g Rn. 6; Sick, Sexuelles Selbstbestimmungsrecht, S. 258 f. 159 s. nur MK / Hörnle, § 184g Rn. 2. 156 Fischer,
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Immerhin weist die Erläuterung darauf hin, dass es auf das „äußere Erscheinungsbild“ ankommt. Damit wird die Frage berührt, die seit langem im Mittelpunkt der dogmatischen Betrachtungen zur sexuellen Handlung steht, und zwar ob die sexuelle Handlung objektiv, subjektiv oder gemischt objektiv-subjektiv zu bestimmen ist. Bei dieser Diskussion wird jedoch über die eigentliche Frage, was eine sexuelle Handlung ist, hinweggegangen, obwohl dies eigentlich zu klären wäre, bevor erörtert wird, ob die sexuelle Dimension nach dem äußeren Erscheinungsbild oder der inneren Haltung (der Absicht, dem Motiv) des Handelnden zu dem Verhalten zu bestimmen ist. Die Frage, ob das Vorliegen einer sexuellen Handlung objektiv oder subjektiv zu bestimmen ist, wird umso ausführlicher diskutiert,160 obwohl im Ergebnis nur geringe Divergenzen bestehen. Dass sie gleichwohl in Lehrbüchern und Kommentaren eingehend erörtert wird, lässt sich nur historisch erklären. Der vor dem 4. Strafrechtsreformgesetz maßgebliche Begriff der „unzüchtigen Handlung“ hatte eine starke subjektive Komponente, denn er setzte jedenfalls nach der Rechtsprechung eine „wollüstige Absicht“ voraus.161 In der kriminalpolitischen Debatte der 1960 / 70er Jahre wurde dies scharf kritisiert, sodass sich der Gesetzgeber für eine objektive(re) Begriffsbestimmung entschied,162 die dementsprechend auch heute vorherrscht. Bei näherer Betrachtung des Meinungsstandes ist zunächst festzuhalten, dass seit jeher Einigkeit darüber besteht, dass eine Handlung nicht dadurch zu einer sexuellen wird, dass sie aus einer sexuellen Motivation heraus vorgenommen wird. Eine solche innere Haltung ist, anders als vor der Strafrechtsreform, auch keine Voraussetzung für die Einordnung einer Handlung als eine sexuelle.163 Die subjektive Komponente spielt somit eine untergeordnete Bedeutung, was sich dogmatisch zunächst mit einem Verweis auf § 174 Abs. 2 StGB begründen lässt.164 Daraus, dass dort neben der sexuellen Handlung die Absicht, sich oder den Schutzbefohlenen hierdurch zu erre160 s. bereits Hanack, NJW 1974, 1 (8); Nachweise zu den vertretenen Standpunkten in den Fn. 168 und 169. 161 Vgl. RGSt 28, 77 (79 f.); 57, 239; BGHSt 13, 138 (142); 15, 276 (278); LK / Mösl (9. Aufl.), vor § 173 Rn. 6; s. auch LK / Laufhütte / Roggenbuck, § 184g Rn. 3. 162 BT-Drucks. VI / 3521, S. 36. 163 BGHSt 29, 336 (338); BGH NStZ 1983, 167; NJW 1993, 2252 (2253); Urt. v. 10.05.1995 – 3 StR 150 / 95 (JURIS); NStZ-RR 2008, 339 (340); NStZ-RR 2013, 10 (12); Fischer, StGB, § 184g Rn. 4; LK / Laufhütte / Roggenbuck, § 184g Rn. 5. Missverständlich: BeckOK / Ziegler, § 184g Rn. 3: „Sexuelle Handlung ist ein Tun […], das aus der Sicht eines objektiven Beobachters unmittelbar der Befriedigung sexueller Bedürfnisse eines Menschen dient.“ 164 Laubenthal, Handbuch, Rn. 107; NK / Frommel, § 184g Rn. 1; s. auch bereits Dreher, JR 1974, 45 (47).
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gen, tatbestandlich verlangt wird, lässt sich folgern, dass es auch sexuelle Handlungen geben muss, die nicht in dieser Absicht vorgenommen werden.165 Zudem würde eine subjektive Auslegung der sexuellen Handlung im Rahmen des § 176 StGB zu Schwierigkeiten führen, da eigentlich als einschlägig erachtete entsprechende Handlungen von Kindern (vgl. § 176 Abs. 2, Abs. 4 Nr. 2, 3 StGB) nicht unter die Norm subsumiert werden könnten, wenn das Kind nicht aus einer sexuellen Motivation heraus agiert. Damit würde beispielsweise das Bestimmen von Kleinkindern zu sexuellen Handlungen weitgehend straffrei bleiben, weil Kinder dieser Altersstufe kaum einmal aus einer sexuellen Motivation heraus handeln. Hieraus folgt, dass primär objektiv, also nach dem äußeren Erscheinungsbild, beurteilt werden muss, ob eine sexuelle Handlung vorliegt. Da es sich als schwierig erweist, aufgrund der isolierten Betrachtung einer bestimmten Handlung festzustellen, ob diese einen Sexualbezug aufweist, ist anerkannt, dass eine Einbeziehung der „Gesamtumstände“ erforderlich ist.166 So lässt sich etwa nur beurteilen, ob das Einführen eines Metallspatels in die Vagina eine sexuelle Handlung ist, wenn berücksichtigt wird, ob dies beispielsweise durch eine Gynäkologin im Rahmen einer lege artis durchgeführten ärztlichen Untersuchung erfolgt oder im Rahmen von sado-masochistischen Praktiken eines Liebespaars. Unklar kann dann allenfalls sein, ob bei der Würdigung der „Gesamtumstände“ auch subjektive Motive und Absichten einbezogen werden dürfen. Vergegenwärtigt man sich, dass Rückschlüsse auf diese subjektiven Motive und Absichten letztlich auch nur aufgrund objektiver Umstände möglich sind,167 erscheint es richtiger, „rein“ objektiv zu bestimmen, ob eine sexuelle Handlung vorliegt. Auch bei einer solchen objektiven Betrachtung bleiben die Motive und Absichten nicht außen vor, sondern gewinnen über äußere Indikatoren der subjektiven Haltung durchaus Bedeutung. Die Auffassung, 165 Dem lässt sich auf den ersten Blick entgegen halten, die Erregungsabsicht beziehe sich auf die Vornahme „vor dem Schutzbefohlenen“, sodass Fälle ausgeschieden werden, bei denen es dem Täter nicht um die Einbeziehung des Schutzbefohlenen geht, sondern dieser gewissermaßen nur zufällig zugegen ist (in diese Richtung Beck, Die sexuelle Handlung, S. 36 f.; Schönke / Schröder / Eisele, § 184g Rn. 7). Dieses Argument kann jedoch nur für § 174 Abs. 2 Nr. 1 StGB, nicht aber für § 174 Abs. 2 Nr. 2 StGB Geltung beanspruchen, denn bei der zweiten Alternative geht es nicht um die Vornahme sexueller Handlungen vor einem Schutzbefohlenen. 166 LK / Laufhütte / Roggenbuck, § 184g Rn. 6. 167 Beck, Die sexuelle Handlung, S. 44 f. A. A. wohl Fischer, StGB, § 184g Rn. 4a, der eine solche Betrachtung verwirft, weil gerade die äußeren Umstände zur Bewertung als „ambivalent“ führen würden (zustimmend Krehl, NStZ 2013, 708; ähnlich Schönke / Schröder / Eisele, § 184g Rn. 9). Tatsächlich kann sich zwar eine isolierte Handlung als „ambivalent“ erweisen, jedoch löst sich diese Ambivalenz bei Einbeziehung weiterer Randumstände regelmäßig auf.
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die das Vorliegen einer sexuellen Handlung „rein“ objektiv bestimmen will,168 gelangt daher grundsätzlich nicht zu anderen Ergebnissen als die Vertreter, die bei ambivalenten Handlungen der subjektiven Einstellung des Handelnden besonderes Gewicht beimessen.169 Bei ambivalenten Handlungen gibt stets die aufgrund objektiver Umstände feststellbare innere Haltung des Handelnden den Ausschlag für die Einordnung als sexuelle Handlung.170 Es zeigt sich also, dass im Rahmen der dogmatischen Erörterung der sexuellen Handlung einer Diskussion eine übermäßige Bedeutung eingeräumt wird, bei deren Anwendung auf praktische Fälle im Ergebnis kaum Divergenzen bestehen. Mit der Erörterung dieser Diskussion hat die strafrechtsdogmatische Analyse des Begriffs der sexuellen Handlung zumeist ihr Bewenden. Insbesondere unterbleibt eine eigentlich vorrangige abstrakte Definition dieses Begriffs. Stattdessen folgt in der strafrechtlichen Literatur regelmäßig eine (mehr oder weniger kritische) kasuistische Darstellung der Rechtsprechung zur Frage des Vorliegens einer sexuellen Handlung sowie zur Frage der „Erheblichkeit“ derselben. b) Zur Schwierigkeit einer Definition der sexuellen Handlung Obwohl der Begriff der „sexuellen Handlung“ auf den ersten Blick klar und verständlich ist und auch der juristische Laie unmittelbar eine Vorstellung davon hat, was damit gemeint ist, erweist es sich als außerordentlich schwierig, eine Definition der sexuellen Handlung zu finden. Hörnle schreibt hierzu: „Rspr. und Lehre haben darauf verzichtet, zu definieren, welche Umstände auf der objektiv-deskriptiven Ebene den notwendigen Sexualbezug ausmachen. Eine allgemeine Definition des Sexuellen ist auch kaum möglich, weil sehr unterschiedliche Handlungen darunter fallen und die Einordnung kontextabhängig ist. Da der sexuelle Charakter nicht mit wenigen Merkmalen eindeutig zu umschreiben ist, bleibt keine andere praktikable Lösung, als auf einen Konsens der Urteilenden 168 So Beck, Die sexuelle Handlung, S. 42; Benz, Sexuell anstößiges Verhalten, S. 56; Gössel, Das neue Sexualstrafrecht, § 1 Rn. 17; Laubenthal, Handbuch, Rn. 103 ff.; LK / Laufhütte / Roggenbuck, § 184g Rn. 3; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT / 1, § 17 Rn. 30; MK / Hörnle, § 184g Rn. 3; NK / Frommel, § 184g Rn. 1; Schroeder, Das neue Sexualstrafrecht, S. 21: Sick, Sexuelles Selbstbestimmungsrecht, S. 261; SK / Wolters, § 184g Rn. 2; Stephan, Sexueller Mißbrauch von Jugendlichen, S. 87. 169 So BeckOK / Ziegler, § 184g Rn. 3; Fischer, StGB, § 184g Rn. 4 f.; Frühsorger, Straftatbestand, S. 31; Krehl, NStZ 2013, 708; Lackner / Kühl, § 184g Rn. 2; Otto, Die einzelnen Delikte, § 66 Rn. 6; Schönke / Schröder / Eisele, § 184g Rn. 9; wohl auch Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 184g Rn. 2. 170 Ähnlich Ilg, Der strafrechtliche Schutz, S. 60; Sick, Sexuelles Selbstbestimmungsrecht, S. 262.
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abzustellen. Man verweist deshalb auf das allgemeine Verständnis. Unproblematisch sind Fälle, in denen die Handlung nach dem äußeren Erscheinungsbild eindeutig als sexuell zu erkennen ist.“171
Der Verweis auf das allgemeine Verständnis ist jedoch problematisch, gilt es doch im strafrechtlichen Bereich dem Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB) Rechnung zu tragen. Das „allgemeine Verständnis“ eröffnet jedoch den Weg zu beliebigen Wertungen. Erstaunlicherweise lässt sich gleichwohl häufig ein Konsens darüber erzielen, ob ein Verhalten als sexuelle Handlung einzuordnen ist, obwohl sich selbst für „eindeutig als sexuell“ einzustufende Verhaltensweisen keine abstrakte Definition findet. Woher dieser Konsens rührt, lässt sich jedoch kaum erklären. In diesem Zusammenhang hat eine Äußerung des US-Bundesrichters Potter Stewart Berühmtheit erlangt. Im Rahmen eines Gerichtsverfahrens ging es um die Frage, ob ein Film obszön beziehungsweise pornographisch war, also mit anderen Worten ob er die Darstellung sexueller Handlungen zum Gegenstand hatte. Potter Stewart äußerte, dass er zwar nicht definieren könne, was Hard-Core Pornographie ist, aber wenn er sie sehe, wisse er, ob es welche ist („I know it when I see it“).172 Versucht man, die sexuelle Handlung, unter Bezugnahme auf die Hauptmerkmale „eindeutig“ einschlägiger Verhaltensweisen zu definieren, stößt man rasch auf die Schwierigkeit, dass Gegenbeispiele auf der Hand liegen. Stark mit Sexualität assoziierte Begriffe wie Nacktheit, Berührung der Geschlechtsorgane und des Intimbereichs,173 zärtliches Streicheln und körperliche Nähe eignen sich allenfalls begrenzt zur Definition, da die entsprechenden Phänomene auch in asexuellen Kontexten (zum Beispiel ärztliche Maßnahmen, Pflege,174 Liebkosung durch die Eltern, Stillen175) vorkommen. Selbst bei einem äußerlich identischen Verhalten wird man in Abhängigkeit von der Beziehung der Beteiligten zu unterschiedlichen Einschätzungen gelangen, ob eine sexuelle Handlung vorliegt. Man stelle sich etwa vor, 171 MK / Hörnle, 172 Das
§ 184g Rn. 2. Zitat aus dem Verfahren Jacobellis vs. Ohio (378 U.S. 184 [1964]) lautet
wie folgt: „[…] I have reached the conclusion, […] that, under the First and Fourteenth Amendments, criminal laws in this area are constitutionally limited to hard-core pornography. I shall not today attempt further to define the kinds of material I understand to be embraced within that shorthand description, and perhaps I could never succeed in intelligibly doing so. But I know it when I see it, and the motion picture involved in this case is not that.“ (Hervorhebung hinzugefügt) 173 Missverständlich aber Michel, NStZ 1998, 357: „Der Bezug zum Geschlechtlichen ist bei der Berührung der Geschlechtsteile und deren unmittelbare[r] Umgebung evident.“ 174 Vgl. Schroeder, ZRP 1971, 14 (15); dazu Hanack, NJW 1974, 1 (8). 175 Zu Letzterem OLG Oldenburg NStZ-RR 2010, 240 (241).
II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB 301
dass ein nur mit einer Badehose bekleidetes Kleinkind am ganzen Körper mit Sonnenmilch eingerieben wird, wobei dies entweder durch die Mutter oder unaufgefordert durch einen fremden Mann erfolgt.176 Während ersterenfalls eine sexuelle Dimension vermutlich für abwegig gehalten wird, drängt sie sich im zweiten Fall geradezu auf. Die Relevanz der Situation für die soziale Einordnung eines Verhaltens lässt sich auch gut am Beispiel der räumlichen Nähe illustrieren. So wird die Annäherung eines Mannes an eine (möglicherweise junge, attraktive) Frau auf weniger als 50 cm im Normalfall als sexuelle Aufdringlichkeit (allerdings nicht als sexuelle Handlung) angesehen werden, nicht aber wenn dies „unvermeidbar“ im dichten Gedränge (voller Bus, vor der Bühne bei einem Pop-Konzert) geschieht. Im Bereich ärztlicher Maßnahmen behilft sich die strafrechtliche Literatur damit, dass eine sexuelle Handlung dann nicht angenommen wird, wenn die entsprechende Manipulation mit Einwilligung des aufgeklärten Patienten und lege artis geschieht.177 Diese Abgrenzung erfolgt in Anlehnung an die Rechtsprechung zum ärztlichen Heileingriff im Rahmen der Körperverletzungsdelikte.178 Die genannten Kriterien taugen jedoch allenfalls179 zur Abgrenzung in eine Richtung, erlauben also nicht den Umkehrschluss, dass bei Fehlen von Einwilligung oder Indikation oder bei Verstoß gegen die lex artis eine sexuelle Handlung vorliegt. Denn ein Frauenarzt, der versehentlich das falsche ärztliche Instrument in die Scheide der Patientin einführt (und sie hierdurch womöglich verletzt), hat trotz Verstoßes gegen die lex artis keine sexuelle Handlung vorgenommen, sondern allenfalls eine fahrlässige Körperverletzung.180 Und führt ein Arzt eine indizierte gynäkologische 176 Vgl. zu einem ähnlichen Fall LG Kaiserslautern BeckRS 2008, 23608; s. auch Beck, Die sexuelle Handlung, S. 31 f. 177 AnwKomm / Deckers, § 184g Rn. 6; Beck, Die sexuelle Handlung, S. 30 f.; Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 184g Rn. 3; MK / Hörnle, § 184g Rn. 4; NK / Frommel, § 184g Rn. 1; Schönke / Schröder / Eisele, § 184g Rn. 10; SK / Wolters, § 184g Rn. 7. Vgl. auch OLG Hamm NJW 1977, 1499 ff.; LG Kaiserslautern BeckRS 2008, 23608. 178 So ausdrücklich SK / Wolters, § 184g Rn. 7. 179 Es erscheint sogar vorstellbar, dass aufgrund der Gesamtumstände eine indizierte und lege artis durchgeführte gynäkologische Behandlung zur sexuellen Handlung wird, wenn beispielsweise auf der Bühne eines Rotlicht-Etablissements Prostituierte fachgerecht und mit deren Einwilligung vor Publikum von einem Arzt gynäkologisch untersucht und behandelt werden. Brüggemann (Entwicklung und Wandel, S. 34) stellt insoweit genauer auf den fehlenden „medizinischen Hintergrund“ ab. Allerdings fehlt es insoweit an der Abgrenzungsschärfe, weil sich ein solcher bei jedem Tätigwerden eines Arztes leicht behaupten lässt. 180 Eine Strafbarkeit wegen eines Sexualdelikts scheidet jedenfalls mangels Vorsatz in aller Regel aus.
302
D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
Operation lege artis im Bewusstsein durch, die Patientin nicht hinreichend über die damit verbundenen Risiken aufgeklärt zu haben, so mag er sich zwar einer (gefährlichen) Körperverletzung schuldig machen, nicht jedoch eines sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen (§ 179 StGB) oder einer anderen Sexualstraftat.181 Allein durch die unzureichende Aufklärung wird die Operation nicht zu einer sexuellen Handlung, mag es auch an einer wirksamen Einwilligung fehlen. Es zeigt sich also, dass eine Präzisierung des Begriffs der sexuellen Handlungen schwierig ist, da die sexuelle Dimension nicht allein anhand der Beschreibung der konkreten Handlung erfasst werden kann, sondern auch kontextuelle soziale Bedingungen einbezogen werden müssen. Nun könnte dieses Problem dadurch gelöst werden, dass in einem ersten Schritt ein weiter Bedeutungsumfang der sexuellen Handlung zugrunde gelegt wird, unter den beispielsweise sämtliche Handlungen an einer nackten Person sowie alle Berührungen von Geschlechtsorganen subsumiert werden, um in einem zweiten Schritt sozialadäquate Verhaltensweise wieder auszuscheiden.182 Damit würde jedoch die Reichweite der Strafbarkeit vom unbestimmten Begriff der Sozialadäquanz abhängig gemacht, was im Hinblick auf das Gesetzlichkeitsprinzip kritisch zu sehen ist. Folglich bleibt es bei der Notwendigkeit, den Begriff der sexuellen Handlung genauer zu erfassen. c) Eigener Ansatz Richtigerweise ist die nähere Bedeutung des Begriffs der sexuellen Handlung durch Auslegung zu ermitteln. Wiederum sind die klassischen Auslegungsmethoden heranzuziehen. Der Wortlaut ist recht unergiebig, wie sich auch daran zeigt, dass selbst in einschlägigen Wörterbüchern eine Erläuterung des Wortsinns der „sexuellen Handlung“ unterbleibt und stattdessen auf § 184g StGB verwiesen wird.183 Die Vorschrift des § 184g Nr. 1 StGB trägt zumindest insoweit zur Klärung bei, als sie verdeutlicht, dass zwischen zwei Begriffen der sexuellen Handlung zu differenzieren ist. Einem weiten Begriff, der als sexuelle Handlung „im natürlichen Sinn“ bezeichnet werden kann, wird ein enger gegenübergestellt, der als sexuelle Handlung „im juristischen Sinn“ aufgefasst werden kann. Nach § 184g Nr. 1 StGB sind zur Ermittlung der juris181 Zur Abgrenzung von § 177 StGB und § 179 StGB bei sexuellen Handlungen während der Narkose, MK / Renzikowski, § 179 Rn. 69. 182 Das Gesetz folgt tendenziell diesem Zweischritt, s. dazu sogleich unter D. II. 2. c). 183 Vgl. Pschyrembel, Wörterbuch Sexualität, S. 197 f. (Stichwort „sexuelle Handlung“).
II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB 303
tisch relevanten sexuellen Handlungen von den sexuellen Handlungen im natürlichen Sinn diejenigen auszuscheiden, die „im Hinblick auf das jeweils geschützte Rechtsgut“ nicht „von einiger Erheblichkeit sind“. Zwar wird in § 184g Nr. 1 StGB demnach der Begriff der sexuellen Handlung ausdifferenziert. Letztlich ist diese Vorschrift für die Wortlautauslegung jedoch nicht ergiebig, da der Begriff der sexuellen Handlung dort nicht (legal-)definiert, sondern vorausgesetzt wird.184 Der historische Ursprung des Begriffs der sexuellen Handlung liegt darin, dass ein Ersatz für den der „unzüchtigen Handlung“ gesucht wurde.185 Darunter wurde eine das Scham- und Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlicher Beziehung verletzende Handlung verstanden, die aus wollüstiger Absicht heraus vorgenommen wird.186 Gegen diese Begrifflichkeit sprach aus Sicht der Reformbewegung neben ihrer Unbestimmtheit, dass Strafnormen nicht dem Schutz der Sittlichkeit, also moralischer Anschauungen, sondern von Rechtsgütern dienen sollten.187 Das Wort „unzüchtig“ enthielt in der Tat eine stark wertende Komponente, indem es den Verstoß gegen die vorherrschenden moralischen Vorstellungen in den Vordergrund rückte. So wurde beispielsweise der außereheliche Geschlechtsverkehr von Verlobten von der Rechtsprechung als unzüchtige Handlung angesehen.188 Eine weitere Kritik, die gegen den Begriff der unzüchtigen Handlung erhoben wurde, betraf dessen Unbestimmtheit, wobei der neue Begriff der „sexuellen Handlung“ aus demselben Grund bemängelt wurde.189 Obwohl der Begriff der unzüchtigen Handlung Angriffsfläche für Kritik bietet, kann die damalige Definition als Anknüpfungspunkt für die Definition der sexuellen Handlung herangezogen werden. Indem die Definition in objektiver Hinsicht auf die Verletzung des Scham- und Sittlichkeitsgefühls abstellte, wurden die Wirkungen der Handlungen in den Blick genommen. Diese Fokussierung der Wirkungen der Handlungen erweist sich auch im 184 Vgl. SK / Wolters, § 184g Rn. 1. Unrichtig ist die Annahme Gössels (Das neue Sexualstrafrecht, § 1 Rn. 5), dass die Vorschrift „eine gesetzliche Definition der sexuellen Handlungen“ enthält. 185 Zur Historie s. LK / Laufhütte / Roggenbuck, § 184g Rn. 1 ff.; Wahle, Zur Reform des Sexualstrafrechts, S. 14 f. 186 Vgl. RGSt 22, 33 (34); 67, 170 (171); BGHSt 1, 293 (294 f.); 4, 323 (324); 23, 40 (41 f.); Binding, ZStW 2 (1882), 450 (453); Binter, NJW 1953, 1815; Haubach, Der strafrechtliche Schutz des Schamgefühls, S. 46 f.; s. auch Brüggemann, Entwicklung und Wandel, S. 34 et passim. 187 Vgl. BT-Drucks. VI / 1552, S. 15; Bockelmann, FS Maurach, S. 391 (404 f.); Hanack, JZ 1970, 41 (43 ff.); Schroeder, ZRP 1971, 14 (15); Sturm, JZ 74, 1 (4); s. auch Baumann, MSchrKrim 1969, 158 (163). 188 BGHSt 6, 46 ff.; 17, 230 (232 ff.). 189 Dreher, JR 1974, 45 (47). s. auch Peters, MSchrKrim 1969, 41 (45).
304
D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
Hinblick auf den Begriff der „sexuellen Handlung“ als zielführend. Wenn Hörnle darauf hinweist, dass auf den „Konsens der Urteilenden“ abzustellen ist,190 lässt sich das auch so ausdrücken, dass darauf abzustellen ist, ob die Handlung sexuell „wirkt“, also die Wahrnehmung hervorruft, dass eine sexuelle Dimension zumindest mitschwingt. Diese Überlegung kann zumindest als Aspekt bei der Definition der sexuellen Handlung Berücksichtigung finden, wie sich sogleich zeigen wird. In systematischer Hinsicht lässt sich zunächst aus § 176 Abs. 4 Nr. 4 StGB ableiten, dass das Vorzeigen pornographischer Abbildungen, das Abspielen von Tonträgern pornographischen Inhalts sowie entsprechende Reden keine sexuelle Handlungen darstellen, da ansonsten eine Redundanz zwischen § 176 Abs. 4 Nr. 1 und Nr. 4 StGB bestünde.191 Eine weitere Abgrenzung ermöglicht § 3 Abs. 4 AGG, der definiert, was eine sexuelle Belästigung im (arbeits)rechtlichen Sinne ist und dabei neben sexuellen Handlungen insbesondere „sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornographischen Darstellungen“ nennt.192 Obwohl diese Bestimmung außerstrafrechtlichen Ursprungs ist, lässt sie gewisse Rückschlüsse darauf zu, was unter einer sexuellen Handlung zu verstehen ist, beziehungsweise welche Verhaltensweisen nicht unter diesen Begriff fallen. Insbesondere wird deutlich, dass eine sexuelle Handlung nur dann vorliegt, wenn ein körperbezogenes Verhalten in Rede steht, da verbale Äußerungen und das Präsentieren von pornographischem Material als solche nicht ausreichen. Schließlich lassen sich aus teleologischer Sicht Schlüsse daraus ziehen, dass mit dem Begriff der sexuellen Handlung zumindest im Rahmen des § 176 StGB Angriffe auf die sexuelle Integrität erfasst werden sollen, weil deren Verhinderung von der Norm bezweckt wird. Die sexuelle Integrität wurde wiederum als das „Freisein einer Person von äußeren sexuellen Reizen“ definiert.193 Unter sexuellen Reizen sind die Einwirkungen zu verstehen, die geeignet sind, eine sexuelle Reaktion hervorzurufen.194 Im Hinblick auf diese rechtsgutsbezogene, teleologische Betrachtung lässt sich festhalten, dass sich die sexuelle Handlung durch ihre Eignung auszeichnet, sexuelle Reaktionen hervorzurufen.195 190 MK / Hörnle,
§ 184g Rn. 2. StGB, § 176 Rn. 2. 192 Vgl. dazu auch SK / Wolters, § 184g Rn. 1a. 193 s. oben C. IV. 2. 194 s. oben C. IV. 2. 195 Dass hier wieder das Problem der Zirkularität auftaucht (s. dazu B. II. 2) sei nur am Rande erwähnt. 191 Fischer,
II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB 305
Unter Hinzuziehung der Erkenntnisse, die mithilfe der weiteren Auslegungsmethoden gewonnen wurden, kann man die sexuelle Handlung demnach definieren als „ein Verhalten im Bezug auf den eigenen oder einen fremden menschlichen Körper, das unter Berücksichtigung insbesondere der sozialen und situativen Umstände typischerweise bestimmt ist, bei sich oder einem anderen eine sexuelle Reaktion hervorzurufen.“
Der Definitionsbestandteil „Verhalten im Bezug auf den eigenen oder einen fremden menschlichen Körper“ soll sexuell gefärbte Reden und das Präsentieren sexualbezogener Medien ausscheiden.196 Die Beurteilung, ob ein Verhalten eine sexuelle Handlung darstellt, hat, wie auch nach Ansicht der herrschenden Meinung,197 unter Einbeziehung der Gesamtumstände zu erfolgen. Dabei haben die sozialen Umstände, also die Beziehung zwischen den Beteiligten, sowie die Situation (beispielsweise ärztlicher Eingriff) besondere Bedeutung. Hingegen sind in der Person des Handelnden liegende Umstände nebensächlich, insbesondere ob die betreffende Person aus sexuellen Motiven heraus handelt. So hindert es das Vorliegen einer sexuellen Handlung nicht, dass deren sexueller Charakter aufgrund des kindlichen Alters des Handelnden nicht bemerkt wird. Dass individuelle beziehungsweise subjektive Umstände bei der Bestimmung, ob eine sexuelle Handlung vorliegt, außer Betracht gelassen werden, lässt sich dogmatisch unter Hinweis auf § 174 Abs. 2 StGB begründen.198 Vor allem dient die Ausklammerung individueller Umstände auch der begrifflichen Klarheit. Sie lässt auch keine Umkehrung der Unschuldsvermutung im Sinne einer Unterstellung von sexuellen Motiven befürchten, da von einem Angeklagten, dem vorgeworfen wird, dass er eine sexuelle Handlung vorgenommen habe oder an sich vornehmen lassen habe, der Vorsatz (§ 15 StGB) auch hinsichtlich der sexuellen Handlung nachgewiesen werden muss. Die typische Zweckbestimmung des Verhaltens muss für ihn also erkennbar gewesen sein.199 Wesentliches Definitionsmerkmal ist schließlich die Zweckbestimmung, eine sexuelle Reaktion hervorzurufen.200 Diese wird nicht individuell, sondern typisierend festgestellt, also nicht nach der subjektiven Vorstellung des auch Beck, Die sexuelle Handlung, S. 28 ff. § 184g Rn. 6; MK / Hörnle, § 184 Rn. 3. 198 s. auch zur weiteren Begründung oben D. I. 2. a). 199 Vgl. BGH NStZ 1983, 167; NJW 1993, 2252 (2253); NStZ 2009, 29; Fischer, StGB, § 184g Rn. 4; LK / Laufhütte / Roggenbuck, § 184g Rn. 8; MK / Hörnle, § 184g Rn. 7; Schönke / Schröder / Eisele, § 184g Rn. 8; SK / Wolters, § 184g Rn. 3. 200 Vgl. auch Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 184g Rn. 5; SSW / Wolters, § 184g Rn. 6; s. auch bereits Aaron, Unzüchtige Handlungen mit Kindern, S. 14, 31 f. 196 s.
197 LK / Laufhütte / Roggenbuck,
306
D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
Handelnden, sondern aufgrund einer objektiven Betrachtung der Umstände. Auf die konkret vorliegenden Motive des Handelnden kommt es demnach nicht an. Vielmehr kann auch eine aus nicht-sexuellen Motiven heraus vorgenommene Handlung eine sexuelle sein. Die „sexuelle Reaktion“ muss nicht in der Herbeiführung von Lust oder einer Steigerung von Erregung liegen. Auch emotional gegenläufige Reaktionen, wie die Erzeugung von Ekel oder Scham, können als „sexuelle Reaktion“ aufgefasst werden. Vom Begriff der sexuellen Reaktion erfasst werden sämtliche typischerweise durch sexuelle Reize entstehende physiologische und / oder psychologische Reaktionen. Es kommt dabei nicht darauf an, ob diese Reaktionen tatsächlich auftreten oder beispielsweise wegen Alters, Krankheit oder Behinderung ausbleiben. Entscheidend ist nur die typische Zweckrichtung des Verhaltens, solche Reaktionen herbeizuführen. Anhand der vorgeschlagenen Definition kann geprüft werden, ob ein bestimmtes Verhalten das Tatbestandsmerkmal der „sexuellen Handlung“ erfüllt. Über das Ergebnis wird häufig Einigkeit erzielt werden können, denn de facto stellt bereits jetzt die herrschende Meinung im Zweifel auf die typische Zweckbestimmung der Handlung ab, ohne dieses Kriterium jedoch zu benennen. So verwundert es nicht, dass Schroeder bereits im Jahr 1971 die sexuelle Handlung als „durch und durch final[en]“ Begriff bezeichnet hat.201 Soweit sich im Einzelfall gleichwohl Beurteilungsschwierigkeiten ergeben, resultieren diese zumeist daraus, dass nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden kann, ob unter Berücksichtigung der Gesamtumstände das Verhalten typischerweise bestimmt ist, bei sich oder einem anderen eine sexuelle Reaktion hervorzurufen. Stellt man auf diese Weise fest, ob eine sexuelle Handlung (im natürlichen Sinn) vorliegt, so kommt der Erheblichkeitsschwelle (§ 184g Nr. 1 StGB) kaum noch eine Bedeutung zu. Sie dient in Zweifelsfällen als Zünglein an der Waage, das den Ausschlag gegen die Annahme einer sexuellen Handlung (im juristischen Sinn) geben kann. Bei näherer Betrachtung der im Zusammenhang mit der Erheblichkeitsschwelle diskutierten Fälle, ist zumeist bereits zweifelhaft, ob eine sexuelle Handlung im natürlichen Sinn vorliegt.202 Das gilt jedenfalls im hier besonders interessierenden Zusammenhang mit § 176 StGB, da bei sexuellen Handlungen an, vor oder von Kindern die Erheblichkeit zumeist bejaht werden kann.203 201 Schroeder,
ZRP 1971, 14 (15). auch Fischer, StGB, § 184g Rn. 5; SK / Wolters, § 184g Rn. 12. Am konkreten Beispiel wird dies auch aufgezeigt von Krehl (NStZ 2013, 708) in seiner Anmerkung zu BGH NStZ 2013, 708. 203 Vgl. BGH NStZ 1983, 553; 1999, 45; NStZ 2007, 700; OLG Zweibrücken NStZ 1998, 357; Gössel, Das neue Sexualstrafrecht, § 1 Rn. 26; Lackner / Kühl, 202 Vgl.
II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB 307
Nach alledem lässt sich festhalten, dass kennzeichnend für sexuelle Handlungen ist, dass es sich um Verhaltensweisen handelt, die typischerweise bestimmt sind, sexuelle Reaktionen hervorzurufen. Die anhand objektiver Umstände zu prüfende Zweckrichtung des Verhaltens erweist sich demnach als entscheidendes Kriterium zur Feststellung, ob eine sexuelle Handlung vorliegt. Zugleich zeigt sich, dass die Rechtsgutsbestimmung, also insbesondere das Verständnis des Begriffs der sexuellen Integrität, maßgeblich die Auslegung des eng auf ihn bezogenen Begriffs der sexuellen Handlung beeinflusst. So kann mithilfe des Rechtsguts ein in sich widerspruchsfreies Gesamtverständnis der Strafvorschrift des § 176 StGB erreicht werden. 3. Die Tatbestandsmerkmale „vornehmen“ und „vornehmen lassen“ Das Gesetz verwendet das Verb „vornehmen“, um die Verknüpfung zwischen der sexuellen Handlung und dem Handlungssubjekt herzustellen. Im Rahmen des § 176 StGB erfolgt dies in unterschiedlichen Wort-Kombinationen, nämlich „vornehmen an“,204 „vornehmen lassen“,205 „vornehmen vor“206 und schließlich auch schlicht „vornehmen“.207 Für die Konstellation des Vornehmens „vor“ einem anderen, enthält § 184g Nr. 2 StGB die Klarstellung, dass derjenige, vor dem die sexuelle Handlung vorgenommen wird, diesen Vorgang wahrnehmen muss. Dem Verb „vornehmen“ kommt insgesamt keine tiefergehende Bedeutung zu und es bereitet dementsprechend auch fast keine Probleme bei der Normauslegung. Es ist lediglich umstritten, wie der Begriff „vornehmen lassen“ zu verstehen ist. Zum einen kann man darunter jedes Zulassen einer sexuellen Handlung, also auch das schlichte Gewährenlassen eines anderen verstehen.208 Zum anderen kann man den Begriff enger im Sinne von „veranlassen“ verstehen, sodass ein gewisses Einwirken mit dem Ziel der Herbeiführung § 184g Rn. 6; Laubenthal, Handbuch, Rn. 116; LK / Laufhütte / Roggenbuck, § 184g Rn. 12; Michel, NStZ 1998, 357; MK / Hörnle, § 184g Rn. 25 f.; NK / Frommel, § 184g Rn. 3; Renzikowski, NStZ 2000, 367 (368); Schönke / Schröder / Eisele, § 184g Rn. 16; Sick, Sexuelles Selbstbestimmungsrecht, S. 268; SK / Wolters, § 184g Rn. 11 ff.; kritisch zu dieser Differenzierung wegen der Gefahr der sekundären Viktimisierung Benz, Sexuell anstößiges Verhalten, S. 57. 204 § 176 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 4 Nr. 3. 205 § 176 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 4 Nr. 3. 206 § 176 Abs. 4 Nr. 1, 3. 207 § 176 Abs. 4 Nr. 2 StGB. 208 So Frühsorger, Straftatbestand, S. 70; Lackner / Kühl, § 176 Rn. 2 und § 174 Rn. 12; Schroeder, Das neue Sexualstrafrecht, S. 20; wohl auch SK / Wolters, § 176 Rn. 4.
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D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
oder Aufrechterhaltung einer sexuellen Handlung erforderlich wäre, ein bloßes Unterlassen von Abwehrmaßnahmen also nicht ausreichen würde.209 Die Bedeutung der Streitfrage ist gering, da nicht trennscharf abgegrenzt werden kann, wo ein rein passives Erdulden sexueller Handlungen aufhört und die konkludente Zustimmung beziehungsweise Aufforderung zu sexuellen Handlungen beginnt.210 Wenn jemand jegliche Abwehrmaßnahmen gegen sexuelle Handlungen eines Kindes unterlässt, wird dies häufig als Zustimmung zu diesen gedeutet werden können. Dies gilt insbesondere dann, wenn das Kind es ansonsten gewöhnt ist, dass ihm schnell mitgeteilt wird, wenn es ein Verhalten unterbleiben lassen soll. Da es gleichwohl Fälle geben mag, bei denen eine konkludente Zustellung nicht festgestellt werden kann, soll versucht werden, die dogmatische Streitfrage zu beantworten. Welche Anforderungen an das Tatbestandsmerkmal „vornehmen lassen“ zu stellen sind, hängt nicht zuletzt von der zugrunde gelegten Rechtsgutsauffassung ab. Erblickt man das Rechtsgut in der sexuellen Selbstbestimmung, so erscheint es folgerichtig, ein schlichtes Gewährenlassen nicht als tatbestandsmäßig aufzufassen, denn ein passiv bleibender Täter akzeptiert gerade den Willen des Kindes und beeinträchtigt diesen nicht. Vielmehr könnte sogar das Abwehren von sexuellen Handlungen, die das Kind aus eigener Initiative vornimmt, als Eingriff in dessen Selbstbestimmung angesehen werden. Demgegenüber ist es bei Zugrundelegung des Rechtsguts der sexuellen Integrität gleichgültig, ob der Täter passiv bleibt oder das Kind zu den sexuellen Handlungen veranlasst, denn die Vornahme von sexuellen Handlungen durch ein Kind beeinträchtigt per se seine sexuelle Integrität. Nicht eindeutig zu beantworten ist, wie sich die Zugrundelegung des Rechtsguts der „ungestörten (sexuellen) Entwicklung“ auf die Streitfrage auswirkt. Zum einen könnte argumentiert werden, dass es auch dann zu Entwicklungsstörungen beim Kind kommen kann, wenn der Täter rein passiv geblieben ist. Andererseits geht diese Rechtsgutsauffassung davon aus, dass sich eine gesunde sexuelle Entwicklung dadurch auszeichnet, dass sie endogen stattfindet. Eine aus eigenem Antrieb heraus vom Kind vorgenommene sexuelle Handlungen, der lediglich kein Einhalt geboten wird, könnte daher auch als Bestandteil einer ungestörten sexuellen Entwicklung angesehen werden. Da die Vertreter dieser Rechtsgutsauffassung diese nicht ausreichend präzisieren, kann nicht abschließend beantwortet werden, wie im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut der ungestörten sexuellen Entwicklung die Streitfrage zu beantworten wäre. 209 AnwKomm / Deckers, § 176 Rn. 11; BeckOK / Ziegler, § 176 Rn. 13; Fischer, StGB, § 176 Rn. 6; LK / Hörnle, § 176 Rn. 11; MK / Renzikowski, § 176 Rn. 25; so nun auch BGH, Urt. v. 09.07.2014 – 2 StR 13 / 14. 210 Vgl. LK / Hörnle, § 176 Rn. 11.
II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB 309
Legt man hingegen das Rechtsgut der sexuellen Integrität zugrunde, so genügt ein schlichtes Gewährenlassen für die Verwirklichung des Tatbestandsmerkmals „vornehmen lassen“. Wenn das Kind eine sexuelle Handlung an einem dies zulassenden Dritten vornimmt, wird seine sexuelle Integrität beeinträchtigt, da auch die schlichte Vornahme sexueller Handlungen einen sexuellen Reiz für das Kind darstellt. Zudem stützen systematische Erwägungen die These, dass ein schlichtes Gewährenlassen für die Tatbestandserfüllung ausreicht. Die Vertreter der Gegenansicht möchten anscheinend nicht, dass eine strafbewehrte Handlungspflicht besteht, nach der man sexuelle Handlungen eines Kindes abwehren muss. Diese Ansicht nimmt also § 176 Abs. 1 StGB in den Blick, wonach jemand dafür bestraft wird, dass er ein Kind sexuelle Handlungen an sich vornehmen lässt. Insoweit ein bloßes (echtes) Unterlassen zu bestrafen, erscheint den betreffenden Strafjuristen unangemessen.211 Es wird dabei verkannt, dass das „Vornehmen-Lassen“ auch im 2. Absatz des § 176 StGB Tatbestandsvoraussetzung ist. In dieser Variante muss das Kind eine sexuelle Handlung durch einen Dritten an sich vornehmen lassen. Insoweit erscheint es aber richtig anzunehmen, dass auch ein rein passives Erdulden des Kindes ausreicht und kein Einwirken des Kindes auf den Dritten erforderlich ist.212 Nach § 176 Abs. 2 StGB soll nämlich auch derjenige bestraft werden können, der ein Kind auffordert, absolut still zu halten, während ein Dritter es intim berührt. Entsprechendes gilt für § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB, insoweit als dort verlangt wird, dass das Kind dazu gebracht werden soll, sexuelle Handlungen an sich vornehmen zu lassen. Wenn man richtigerweise davon ausgeht, dass das Tatbestandsmerkmal „Vornehmen-Lassen“ im gesamten § 176 StGB einheitlich auszulegen ist, ergibt sich damit auch im Hinblick auf Absatz 1, dass hierfür ein rein passives Verhalten genügen muss. § 176 Abs. 1 StGB enthält insoweit ein echtes Unterlassungsdelikt. 4. Das Tatbestandsmerkmal „bestimmen“ Das Tatbestandsmerkmal „bestimmen“, das in § 176 Abs. 2, Abs. 4 Nr. 2 StGB Verwendung findet, schreibt anstiftungsähnlichen Verhaltensweisen eine tatbestandliche Qualität zu.213 Eine rechtsgutsbezogene Auslegung vermag zur Klärung der dogmatischen Probleme, die dieses Tatbestandsmerk211 Über die Beweggründe lässt sich dabei nur mutmaßen, da die Ansicht nicht begründet wird. Vgl. dazu auch Frühsorger, Straftatbestand, S. 71. 212 Schönke / Schröder / Eisele, § 176 Rn. 9; SK / Wolters, § 176 Rn. 6. 213 Vgl. nur Fischer, StGB, § 176 Rn. 7. Eingehend Demko, Relativität der Rechtsbegriffe, S. 261 ff.
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D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
mal aufwirft,214 wenig beizutragen. Denn nicht die Handlung des Bestimmens, sondern dessen Ziel beziehungsweise Ergebnis, führen zur Rechtsgutsbeeinträchtigung. Daher sollen nähere Ausführungen zu dem Tatbestandsmerkmal „bestimmen“ an dieser Stelle unterbleiben. 5. Zur Auslegung des § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB Nach § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB wird bestraft, wer sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmt. In diesem Zusammenhang wird vielfach über Einschränkungen des Tatbestands im Hinblick auf sozialadäquate Verhaltensweisen diskutiert. Die diskutierten Fälle lassen sich jedoch zumeist durch sorgfältige Prüfung des Vorliegens einer sexuellen Handlung adäquat durft lösen.215 So stellen beispielsweise das Nacktsonnenbad,216 die Not verrichtung,217 das Duschen oder die Intimpflege218 in Gegenwart von Kindern im Normalfall bereits deshalb keine strafbaren Handlungen im Sinne des § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB dar, weil es an einer sexuellen Handlung fehlt. Noch intensiver diskutiert wird die Frage, ob § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB auch dann verwirklicht wird, wenn jemand sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmt, dem die Wahrnehmung der sexuellen Handlung durch das Kind gleichgültig oder sogar unerwünscht ist, wenn also die Wahrnehmung durch das Kind für den Täter nicht handlungsbestimmend ist. Zur Illustration seien vorab die Sachverhalte von zwei einschlägigen Gerichtsentscheidungen dargestellt. In einem Fall, der dem Oberlandesgericht Hamm zur Entscheidung vorlag, hatte ein Erwachsener, der von Kindern beim Onanieren entdeckt worden war, damit fortgefahren, auch nachdem er die Beobachtung durch die Kinder bemerkt hatte.219 In einem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Sachverhalt hatte der Angeklagte das Kind vor der Vornahme sexueller Handlungen an seiner Ehefrau220 wiederholt dazu aufgefordert, sich umzudrehen.221 Das Kind widersetzte sich der Anweisung und drehte sich zumindest kurz um, sodass es einen Teil der sexuellen Handlung Frühsorger, Straftatbestand, S. 79 ff. zum Begriff der sexuellen Handlung oben D. II. 2. 216 BGH JR 1962, 26. 217 RGSt 7, 168; BGH NJW 1954, 520; GA 1969, 378. 218 Vgl. Frühsorger, Straftatbestand, S. 102. 219 OLG Hamm StV 2005, 134 f.; vgl. auch OLG Stuttgart NStZ 2002, 34. 220 Hierbei handelte es sich im Übrigen nicht um freiwillige sexuelle Handlungen, sondern um eine Vergewaltigung der Ehefrau. Für das hier erörterte Problem ist dies jedoch ohne Relevanz. 221 BGHSt 49, 376 mit Anm. Schroeder, JR 2005, 258. 214 Eingehend 215 Vgl.
II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB 311
optisch wahrnahm. Darüber hinaus nahm es das gesamte Geschehen akustisch wahr.222 Konsens besteht darüber, dass der Täter im Rahmen des § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB wissen muss, dass ein Kind die Vornahme der sexuellen Handlung wahrnimmt, und dies billigend in Kauf nimmt. Dem ist im Hinblick auf § 15 StGB zuzustimmen. Darüber hinaus verlangt die herrschende Meinung jedoch, dass die Wahrnehmung der sexuellen Handlung durch das Kind für den Täter handlungsbestimmend ist.223 Damit sollen Verhaltensweisen, die den Vertretern der herrschenden Meinung nicht strafwürdig erscheinen, aus dem Bereich des Strafbaren herausgenommen werden. Der Bundesgerichtshof nennt ausdrücklich als Beispiele für eine „unangemessene Ausdehnung der Strafbarkeit“ den „Austausch von Zärtlichkeiten der Eltern in Gegenwart ihres Kindes“, „Handlungen im Rahmen der Sexualerziehung“ und „Fälle, die ausschließlich auf beengte Wohnverhältnisse zurückzuführen sind“.224 Zudem wird argumentiert, dass ein Wertungswiderspruch zu den anderen Varianten des § 176 Abs. 4 StGB vorliege, wenn keine gesteigerten Anforderungen an die subjektive Haltung des Täters gestellt würden, weil dort nach dem Gesetzeswortlaut stets eine bewusste Einbeziehung des Kindes verlangt werde. In der Literatur wird zudem argumentiert, der Schutzzweck des § 176 StGB sei in den hier diskutierten Fällen nicht berührt, weil § 176 StGB nur bezwecke, „die Gesamtentwicklung von Kindern von sexuellen Erlebnissen fernzuhalten, die nicht in der kindlichen Entwicklung selbst, sondern in sexuellen Motiven Erwachsener begründet sind.“225
Bei Zugrundelegung einer rechtsgutsbezogenen Betrachtung verwundert es, dass die herrschende Meinung den Anwendungsbereich des § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB in den genannten Fällen einschränkt. Zwar mag vor dem Hintergrund eines Rechtsguts der „ungestörten (sexuellen) Entwicklung“ noch 222 Dies ergibt sich zwar nicht ausdrücklich aus der Entscheidung, kann jedoch daraus abgeleitet werden, dass sich das Kind nur einen Meter vom Geschehen entfernt aufhielt. 223 BGHSt 49, 376 (381); BGH NStZ 2011, 633; NStZ 2013, 278; Beschl. v. 21.11.2013 – 2 StR 459 / 13 (JURIS); NJW 2014, 3672 (3673); OLG Stuttgart NStZ 2002, 34; OLG Hamm StV 2005, 134 (135); AnwKomm / Deckers, § 176 Rn. 16; BeckOK / Ziegler, § 176 Rn. 21; Fischer, StGB, § 176 Rn. 9; Gössel, Das neue Sexualstrafrecht, § 6 Rn. 16; HK-GS / Laue, § 176 StGB Rn. 5; MK / Renzikowski, § 176 Rn. 47; Lackner / Kühl, § 176 Rn. 4; Laubenthal, Handbuch, Rn. 465 f.; LK / Laufhütte / Roggenbuck, § 184g Rn. 19; Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176 Rn. 18; Schönke / Schröder / Eisele § 176 Rn. 18; SK / Wolters, § 176 Rn. 16; a. A. Frühsorger, Straftatbestand, S. 115 ff.; LK / Hörnle, § 176 Rn. 76 f., 110; Schroeder, JR 2005, 258; s. auch Bussmann, StV 1999, 613 (618 f.). 224 BGHSt 49, 376 (379). 225 Renzikowski, NStZ 1999, 440 (441); s. auch SK / Wolters, § 176 Rn. 16.
312
D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
argumentiert werden, dass in den vom Bundesgerichtshof aufgeführten Beispielsfällen, etwa beim Austausch von Zärtlichkeiten der Eltern in Gegenwart ihres Kindes, keine gesteigerte Gefahr von Entwicklungsstörungen besteht. Indes kann nicht überzeugend dargetan werden, dass dieses Rechtsgut generell nicht beeinträchtigt wird, wenn dem Täter die Wahrnehmung der sexuellen Handlung durch das Kind gleichgültig ist. Eine Entwicklungsstörung kann durch die schlichte Konfrontation mit fremder Sexualität herbeigeführt werden, also unabhängig von den Motiven desjenigen, der die sexuellen Handlungen vornimmt.226 Desgleichen ist bei Zugrundelegung des Rechtsguts der sexuellen Selbstbestimmung unerheblich, ob dem Täter die Wahrnehmung der sexuellen Handlung gleichgültig oder unerwünscht ist. Ein (etwaiger) Wille des Kindes, nicht mit sexuellen Handlungen konfrontiert zu werden, wird auch dann missachtet, wenn vor dem Kind sexuelle Handlungen durch jemanden vorgenommen werden, dem die Wahrnehmung durch das Kind gleichgültig oder unerwünscht ist. Schließlich wird auch das Rechtsgut der sexuellen Integrität des Kindes bei einer Konfrontation mit sexuellen Reizen unabhängig davon verletzt, ob es demjenigen, der eine sexuelle Handlung vornimmt, auf die Wahrnehmung durch das Kind ankommt. Bei den beschriebenen Fällen aus der Rechtsprechung überzeugt es demnach nicht, die Strafbarkeit nach § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB abzulehnen. Wer bemerkt, dass er bei der Vornahme sexueller Handlungen von einem Kind beobachtet wird, hat mit diesen aufzuhören beziehungsweise dafür zu sorgen, dass das Kind die sexuellen Handlungen nicht mehr wahrnehmen kann. Ansonsten verletzt er vorsätzlich die sexuelle Integrität des Kindes, das davor geschützt werden soll, mit fremder Sexualität konfrontiert zu werden. Für die Rechtsgutsverletzung ist es unerheblich, ob der Täter in die sexuelle Integrität eingreift, um sich daran zu erregen, oder ob er es aus Gleichgültigkeit tut. Auch die schlichte Aufforderung an ein Kind, wegzusehen oder wegzuhören, während vor ihm sexuelle Handlungen vorgenommen werden, ändert nichts daran, dass eine Konfrontation mit fremder Sexualität und damit ein Eingriff in die sexuelle Integrität des Kindes vorliegt. Eine rechtsgutsbezogene Betrachtung stützt daher die Annahme, dass die Wahrnehmung der sexuellen Handlung für den Täter nicht handlungsbestimmend sein muss.227 Nicht nur rechtsgutsbezogene Argumente sprechen gegen die herrschende Meinung, wonach die Wahrnehmung der sexuellen Handlung durch das Kind handlungsbestimmend sein muss. So missachtet sie die Entscheidung LK / Hörnle, § 176 Rn. 77; Schroeder, JR 2005, 258. dem Hintergrund eines anderen angenommenen Rechtsguts ähnlich Frühsorger, Straftatbestand, S. 117 f. 226 Zutreffend 227 Vor
II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB 313
des Gesetzgebers, der im 6. Strafrechtsreformgesetz die „Erregungsabsicht“ als weitere Voraussetzung des § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB (vormals § 176 Abs. 5 StGB228) gestrichen hat.229 Dem mag zwar noch unter Verweis auf die Gesetzgebungsmaterialien230 entgegengehalten werden, dass der Gesetzgeber diese Streichung aus anderen Gründen vorgenommen hat.231 Allerdings wird der Wortlaut des Gesetzes nicht ernst genommen, wenn ungeschriebene Tatbestandsmerkmale in ihn hineingelesen werden. Zudem steht eine unangemessene Ausdehnung der Strafbarkeit nicht zu befürchten. So ist der „Austausch von Zärtlichkeiten der Eltern“232 solange nicht strafbar, als es sich um Verhaltensweisen unterhalb der Schwelle von sexuellen Handlungen handelt. Bei einer sorgfältigen Prüfung des Tatbestandsmerkmals der sexuellen Handlung werden die „sozialadäquaten“ Verhaltensweisen wie das gegenseitige Küssen, Umarmen oder Streicheln von Eltern in Gegenwart ihres Kindes ausgeschieden werden müssen.233 Andererseits erscheint es sachgerecht, Eltern wie anderen Personen auch zu verbieten, dass sie sich in Gegenwart ihrer Kinder wechselseitig im Intimbereich berühren. Wenn im Einzelfall eine sexuelle Handlung vorliegt, so ist für die Beurteilung der Strafbarkeit unerheblich, ob diese von den Eltern oder von Dritten vorgenommen wird.234 Das geschützte Rechtsgut der sexuellen Integrität ist gleichermaßen tangiert, egal ob Eltern oder Fremde sexuelle Handlungen vor Kindern vornehmen.235 Auch bei den vom Bundesgerichtshof problematisierten „Handlungen im Rahmen der Sexualerziehung“ erlaubt eine sorgfältige Prüfung des Tatbestandsmerkmals der sexuellen Handlung die Grenze zwischen Erlaubtem und Strafbarem in angemessener Weise zu ziehen. Schließlich kann auch bei „beengten Wohnverhältnissen“ verlangt werden, dass eine auch nur bedingtvorsätzliche Konfrontation der Kinder mit der elterlichen Sexualität unterbleibt. Die soziale Tragik einschlägiger Fälle kann nicht durch eine Einschränkung der Strafbarkeit, sondern nur sozialrechtlich oder -politisch gelöst werden.236 228 In
der von 1973 bis 1998 gültigen Fassung. Frühsorger, Straftatbestand, S. 116. 230 BT-Drucks. 13 / 9064, S. 11. 231 So BGHSt 49, 376 (379). 232 s. auch Renzikowski, NStZ 1999, 440; daran anschließend Dölling / Laue, in Amann / Wipplinger, Sexueller Missbrauch, S. 889 (896). 233 Vgl. auch Frühsorger, Straftatbestand, S. 116; LK / Hörnle, § 176 Rn. 76. 234 Dazu eingehend Frühsorger, Straftatbestand, S. 104 ff. 235 Es ist sogar anzunehmen, dass die Konfrontation mit der Sexualität der Eltern von Kindern als besonders verstörend empfunden wird. 236 s. auch Schroeder, JR 2005, 258. 229 Vgl.
314
D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
Es trifft auch nicht zu, dass eine restriktive Auslegung erforderlich ist, um einen Wertungswiderspruch zu den anderen Varianten des § 176 Abs. 4 StGB im Hinblick darauf zu vermeiden, dass diese eine Einbeziehung des Kindes in die sexuelle Handlung verlangen. Bei § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB erfolgt diese Einbeziehung gerade dadurch, dass die sexuelle Handlung zumindest bedingt-vorsätzlich vor einem Kind vorgenommen wird.237 Wer weiß, dass er sexuelle Handlungen so vornimmt, dass sie von einem anderen wahrgenommen werden, bezieht diesen dadurch in diese sexuelle Handlungen ein, ohne dass weitere subjektive Erfordernisse bestünden. Schließlich spricht für die hier vertretene Gegenauffassung auch eine systematische Betrachtung. Im Hinblick auf den weiten Umfang, in dem durch strafrechtliche Verbote verhindert werden soll, dass Minderjährige auch nur zufällig mit pornographischen Schriften in Berührung kommen oder mit diesen konfrontiert werden (vgl. § 184 StGB), erscheint es inkonsequent, wenn durch restriktive Auslegung des § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB der Schutz von Kindern vor der unmittelbaren Konfrontation mit sexuellen Handlungen deutlich enger ausgestaltet werden soll.238 Es bleibt daher festzuhalten, dass § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB bereits dann verwirklicht ist, wenn mit Eventualvorsatz sexuelle Handlungen vor einem Kind vorgenommen werden. Es ist nicht erforderlich, dass die Wahrnehmung der sexuellen Handlung durch das Kind für den Täter handlungsbestimmend ist. 6. Zur Auslegung des § 176 Abs. 4 Nr. 2 StGB Nach § 176 Abs. 4 Nr. 2 StGB wird bestraft, wer ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen vornimmt. Das Tatbestandsmerkmal „bestimmen“ wirft einige Auslegungsfragen auf, auf die im vorliegenden Kontext nicht näher eingegangen werden soll.239 Hier soll lediglich näher erörtert werden, wie Fälle zu behandeln sind, in denen die Vornahme der sexuellen Handlung nicht vom Täter oder einem Dritten wahrgenommen oder in sonstiger Weise (insbesondere video- oder fotographisch) aufgezeichnet wird. Der Wortlaut des § 176 Abs. 4 Nr. 2 StGB verlangt – anders als früher240 – keinen auch nur mittelbaren Kontakt zwischen dem Kind und dem Täter oder auch Frühsorger, Straftatbestand, S. 116. MK / Hörnle, § 184g Rn. 15; daran anschließend auch Frühsorger, Straftatbestand, S. 116 f. 239 Vgl. bereits oben D. II. 4; zu diesen Fragen s. Frühsorger, Straftatbestand, S. 126 ff. 240 Seit dem 6. StrRG ist es nicht mehr erforderlich, dass die sexuelle Handlung des Kindes vor dem Täter oder einem Dritten vorgenommen wird. 237 Vgl.
238 Zutreffend
II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB 315
einem Dritten während der Vornahme der sexuellen Handlung durch das Kind.241 Insoweit wird mitunter eine Überkriminalisierung, mit anderen Worten die Erfassung sozialadäquater Verhaltensweisen durch den Straftatbestand befürchtet.242 Dementsprechend wird verschiedentlich eine einschränkende Auslegung des § 176 Abs. 4 Nr. 2 StGB vorgeschlagen. So forderte Renzikowski anfänglich eine „sinnliche Wahrnehmung“ der sexuellen Handlung des Kindes durch den Täter oder einen Dritten.243 Hörnle zufolge soll kein Eingriff in die Intimsphäre vorliegen, wenn das Kind bei der Vornahme der sexuellen Handlung allein ist.244 Überwiegend wird nun, soweit das Problem erörtert wird, vorgeschlagen, es dadurch zu lösen, dass strenge Anforderungen an das Überschreiten der Erheblichkeitsschwelle im Sinne des § 184g Nr. 1 StGB gestellt werden.245 Teilweise wird demgegenüber eine einschränkende Auslegung „als mit dem Gesetzeswortlaut nicht vereinbar“ angesehen.246 Wiederum soll zunächst eine rechtsgutsbezogene Betrachtung vorgenommen werden. Legt man die ungestörte sexuelle Entwicklung als Rechtsgut zugrunde, so erscheint eine restriktive Auslegung nicht geboten. Die Veranlassung eines Kindes zu sexuellen Handlungen kann unabhängig davon Entwicklungsstörungen hervorrufen, ob die veranlasste Vornahme dieser Handlungen wahrgenommen oder aufgezeichnet wird. Stellt man demgegenüber auf das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung ab, so ist eine Rechtsgutsbeeinträchtigung in den genannten Fällen nur schwer vorstellbar. Es ist unwahrscheinlich, dass ein Kind, das in keiner Weise beobachtet wird, sexuelle Handlungen auf Veranlassung eines Dritten durchführt, obwohl es dies nicht will. Sollte dies jedoch gleichwohl geschehen, beispielsweise weil das Kind befürchtet, dass die weisungswidrige Nichtvornahme sexueller Handlungen aufgedeckt wird, so wäre auch das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung beeinträchtigt. Schließlich ist auch das Rechts241 AnwKomm / Deckers, § 176 Rn. 19; BeckOK / Ziegler, § 176 Rn. 24; Fischer, StGB, § 176 Rn. 12; Frühsorger, Straftatbestand, S. 133; Gössel, Das neue Sexualstrafrecht, § 6 Rn. 17; Laubenthal, Handbuch, Rn. 473; MK / Renzikowski, § 176 Rn. 35 (anders noch Renzikowski, NStZ 1999, 440); NK / Frommel, § 176 Rn. 21; Schönke / Schröder / Eisele, § 176 Rn. 13b; SK / Wolters, § 176 Rn. 18a. 242 Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176 Rn. 20; MK / Renzikowski, § 176 Rn. 35; Schönke / Schröder / Eisele, § 176 Rn. 13b. 243 Renzikowski, NStZ 1999, 440; s. aber nun MK / Renzikowski, § 176 Rn. 35. 244 LK / Hörnle, § 176 Rn. 85. 245 Fischer, StGB, § 176 Rn. 12; MK / Renzikowski, § 176 Rn. 35; Schönke / Schröder / Eisele, § 176 Rn. 13b; SK / Wolters, § 176 Rn. 18a; kritisch AnwKomm / Deckers, § 176 Rn. 19, dessen Vorschlag einer „Begrenzung unter Rückgriff auf das geschützte Rechtsgut, so dass sich sozialadäqute Handlungen nicht nachteilig auf die sexuelle Entwicklung auswirken“, jedoch keine schärfere Abgrenzung liefert. 246 Gössel, Das neue Sexualstrafrecht, § 6 Rn. 17.
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D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
gut der sexuellen Integrität verletzt, wenn ein Kind dazu veranlasst wird, sexuelle Handlungen vorzunehmen, unabhängig davon, ob die Vornahme sexueller Handlungen wahrgenommen oder aufgezeichnet wird. Für einen Eingriff in die sexuelle Integrität genügt es, dass sexuelle Handlungen auf Veranlassung eines anderen vorgenommen werden. Eine rechtsgutsbezogene Betrachtung führt somit dazu, dass keine generelle tatbestandliche Restriktion erforderlich ist.247 Allerdings ist durchaus sorgfältig das Vorliegen einer sexuellen Handlung zu prüfen. Dadurch können auch die scheinbar problematischen Fälle gelöst werden, ohne dass es einer Korrektur über den unbestimmten Begriff der „Erheblichkeit“ bedarf. Unproblematisch sind danach die Fälle, in denen das Kind zu einem Verhalten aufgefordert wird, das typischerweise dazu bestimmt ist, sich selbst sexuell zu stimulieren, also zu masturbatorischen Verhaltensweisen.248 Mit durch einen Dritten veranlassten masturbatorischen Handlungen ist, unabhängig von einer Wahrnehmung des Verhaltens durch eine andere Person, ein Eingriff in die sexuelle Integrität des Kindes verbunden.249 Anders liegt es aber in den Fällen, in denen das Verhalten unter Berücksichtigung der Gesamtumstände in keiner Weise bestimmt ist, sich oder einen Dritten sexuell zu erregen. Fordert jemand ein Mädchen dazu auf, sich bei Gelegenheit einmal, wenn es allein ist, nackt hinzusetzen oder -zulegen und die Beine zu spreizen oder die bereits entwickelte Brust zu entblößen, so stellen das später tatsächlich solcherart vorgenommene Spreizen der Beine oder die Entblößung der weiblichen Brust keine sexuellen Handlungen dar. Anders liegt es aber, wenn dieses Verhalten vom Täter oder einem Dritten – nicht nur heimlich – wahrgenommen oder aufgezeichnet wird. Es kommt entscheidend darauf an, dass das Kind davon ausgeht, dass sein Verhalten von jemand anderem registriert wird, mag dies auch tatsächlich nicht der Fall sein. Nur unter dieser Voraussetzung liegt das für eine sexuelle Handlung wesentliche Kriterium vor, dass das Verhalten typischerweise dazu bestimmt ist, bei einem anderen eine sexuelle Reaktion herbeizuführen. Eine Pose kann, um es anders auszudrücken, nur dann „aufreizend“ (und damit eine sexuelle Handlung) sein, wenn sie im Hinblick auf die Wahrnehmung durch einen anderen vorgenommen Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176 Rn. 20. (NJW 2008, 3521 [3522]) meint, dass sich ein „Jugendlicher, der mit einem dreizehnjährigen Freund über Masturbation spricht“, wegen § 176 Abs. 4 Nr. 2 StGB strafbar machen könne (zustimmend Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176 Rn. 20). Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn ein vorsätzliches „Bestimmen“ zur Masturbation vorliegt. Bei einem bloßen Gespräch über Masturbation, das dazu führt, dass ein Kind entsprechend „experimentiert“, fehlt es hieran. 249 Zutreffend MK / Renzikowski, § 176 Rn. 35. 247 A. A.
248 Hörnle
II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB 317
wird. Beispielsweise stellt die Einnahme einer solchen Pose vor dem Spiegel250 mit dem Ziel, sich selbst so zu betrachten, keine sexuelle Handlung dar, wenn und soweit das Verhalten – wie in aller Regel – nicht dazu bestimmt ist, bei sich oder einem anderen eine sexuelle Reaktion herbeizuführen.251 Es bleibt somit festzuhalten, dass im Rahmen des § 176 Abs. 4 Nr. 2 StGB das Vorliegen einer sexuellen Handlung sorgfältig zu prüfen ist.252 Dies gebietet auch eine rechtsgutsbezogene Betrachtungsweise. Der Eingriff in die sexuelle Integrität ist davon abhängig, dass eine sexuelle Handlung im hier verstandenen Sinne253 vorliegt, also das Verhalten des Kindes typischerweise dazu bestimmt ist, bei sich oder einem anderen eine sexuelle Reaktion herbeizuführen. 7. Zur Auslegung des § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB Nach § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB macht sich strafbar, wer auf ein Kind durch Schriften (§ 11 Abs. 3 StGB) einwirkt, um es zu sexuellen Handlungen zu bringen, die es an oder vor dem Täter oder einem Dritten vornehmen oder von dem Täter oder einem Dritten an sich vornehmen lassen soll. Damit wird ein Verhalten im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung, also eine Vorbereitungshandlung, unter Strafe gestellt. Schwierigkeiten wirft der erforderliche Inhalt der Schrift auf, insofern als es für die Tatbestandsverwirklichung nach dem Gesetzeswortlaut nicht erforderlich ist, dass die Schrift sexuelle Themen zum Gegenstand hat. Dementsprechend wird überwiegend der Inhalt der Schriften für unerheblich erachtet.254 Zur Begründung wird mit der Gesetzgebungshistorie255 argumentiert, aus der sich ergibt, dass der Gesetzgeber die Verleitung von Kindern zu Treffen durch entsprechende Zuschriften über das Internet (beispielsweise in Chatrooms) unter Strafe stellen wollte.256 Dabei sollten auch die Fälle erfasst werden, bei denen der Täter seine sexuellen Absichten nach SK / Wolters, § 176 Rn. 18a. auch SK / Wolters, § 176 Rn. 18a f. 252 s. auch MK / Renzikowski, § 176 Rn. 36 mit Beispielen aus der Rechtsprechung. 253 Dazu oben D. II. 2. c). 254 Fischer, StGB, § 176 Rn. 14; Laubenthal, Handbuch, Rn. 477; LK / Hörnle, § 176 Rn. 86; MK / Renzikowski, § 176 Rn. 38 f.; Schönke / Schröder / Eisele, § 176 Rn. 14a; s. auch SK / Wolters, § 176 Rn. 24b. 255 Vgl. BT-Drucks. 15 / 350, S. 17 f. 256 Eisele, FS Heinz, S. 697 (698); Fischer, StGB, § 176 Rn. 14. Zum Phänomen des Groomings eingehend Lederer, Hemmschwellen im Strafrecht, S. 81 ff. 250 Beispiel 251 Vgl.
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D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
verschleiert und sich beispielsweise als ein anderes Kind ausgibt und dementsprechend Texte „harmlosen“ Inhalts verfasst.257 Mitunter wird – über die häufige kriminalpolitische Kritik258 hinaus – eine restriktive Auslegung des § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB für geboten erachtet. So meint Frühsorger, dass zur Vermeidung von Widersprüchen und im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ein tatbestandsmäßiges Verhalten nur bei einer Verwendung von „Schriften mit sexuellem Inhalt“ angenommen werden könne.259 Ansonsten verkomme die Vorschrift „zu einem reinen Gesinnungsstrafrecht“.260 Zudem spreche für die restriktive Auslegung der Vergleich mit der Vorschrift des § 176 Abs. 4 Nr. 4 StGB, die das Einwirken mit pornographischen Inhalten verlange. Wolters setzt sich ebenfalls für eine restriktive Auslegung des § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB ein, schlägt jedoch weniger starke Einschränkungen als Frühsorger vor. Wolters zufolge lässt sich ein „Bezug zum geschützten Rechtsgut […] überhaupt nur dann herstellen, wenn die Tathandlung auch objektiv ein sexualisiertes Klima schafft, das die geplante nachfolgende sexuelle Handlung begünstigt; hierfür ist es zwar nicht erforderlich, dass die Schrift explizit ein sexuelles Geschehen […] enthält, wohl aber, dass sie durch einen eindeutigen Körperbezug objektiv dazu geeignet ist, die Neigung des Einwirkungsopfers zu spezifischem Sexualverhalten zu erhöhen.“261
Es erscheint im Ausgangspunkt zutreffend, danach zu differenzieren, ob das konkrete Verhalten eine Rechtsgutsverletzung begünstigt.262 Eine Rechtsgutsgefährdung ist bei einer Kontaktaufnahme mit einem Kind über Schriften objektiv nur dann zu befürchten, wenn auf das Kind mit sexuellen Inhalten eingewirkt wird oder die Einwirkung unabhängig vom Inhalt der Schriften mit dem Ziel erfolgt, einen unmittelbaren Kontakt mit dem Kind herzustellen, der zu sexuellen Handlungen ausgenutzt werden soll. Damit fehlt in den Fällen der hinreichende Rechtsgutsbezug, in denen durch Austausch von Belanglosigkeiten lediglich der Kontakt mit dem Kind aufrechterhalten wird, mag dies auch in der Absicht geschehen, langfristig das Kind 257 Vgl.
BT-Drucks. 15 / 350, S. 17. etwa Amelung / Funcke-Auffermann StraFo 2004, 265 (267); BeckOK / Ziegler, § 176 Rn. 24; Duttge / Hörnle / Renzikowski, NJW 2004, 1065 (1067 f.); Eisele, FS Heinz, S. 697 (701 ff.); Fischer, StGB, § 176 Rn. 15; Lackner / Kühl, § 176 Rn. 4a; MK / Renzikowski, § 176 Rn. 17; LK / Hörnle, § 176 Rn. 87; SK / Wolters, § 176 Rn. 24a f.; s. aber auch Pape, Legalverhalten, S. 48. 259 Frühsorger, Straftatbestand, S. 141. 260 Frühsorger, Straftatbestand, S. 142. 261 SK / Wolters, § 176 Rn. 24b; ablehnend Eisele, FS Heinz, S. 697 (705). 262 Es kommt hier nicht darauf an, welches Rechtsgut zugrunde gelegt wird, da § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB ein Verhalten im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung pönalisiert. 258 s.
II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB 319
entweder unmittelbar zu sexuellen Handlungen oder zu einem Treffen zu bringen, das für sexuelle Handlungen genutzt werden soll. Für eine solche restriktive Betrachtung sprechen nicht nur rechtsgutsbezogene Erwägungen. Bereits der Wortlaut des § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB verlangt, dass die Einwirkung erfolgen muss, um das Kind zu sexuellen Handlungen zu bringen. Dies schließt es aus, Einwirkungen als tatbestandsmäßig zu erfassen, die das Kind lediglich zur Aufrechterhaltung des Kontakts bringen sollen, bei denen die sexuellen Handlungen also allenfalls ein Fernziel darstellen. Allerdings verdeutlicht der Wortlaut zugleich, dass keine unmittelbare Aufforderung zu sexuellen Handlungen erforderlich ist. Es genügt vielmehr, dass der Täter nach seiner Vorstellung sein Ziel, dass das Kind sexuelle Handlungen vornimmt oder an sich vornehmen lässt, ausgehend von der Einwirkungshandlung mit wenigen Zwischenschritten erreichen wird.263 Die Abgrenzung darf zur Vermeidung eines verfassungsrechtlich bedenklichen Gesinnungsstrafrechts nicht allein im subjektiven Bereich vorgenommen werden. Vielmehr muss mit der Absicht, das Kind zu sexuellen Handlungen zu bringen, im objektiven Tatbestand die Eignung korrespondieren, diese Absicht durch das Einwirken auch zu verwirklichen. Hierzu ist es indes nicht erforderlich, dass eine Eignung besteht, die Neigung des Kindes zu Sexualverhalten zu erhöhen.264 Vielmehr genügt es, dass die Einwirkung geeignet ist, einen unmittelbaren Kontakt des Kindes mit dem Täter oder einem Dritten herbeizuführen, der dann absichtsgemäß zur Veranlassung des Kindes zu sexuellen Handlungen genutzt werden soll. Damit wird dem Wortlaut des § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB auch dahingehend Rechnung getragen, dass sich die Absicht des Täters auch darauf beziehen kann, dass das Kind an ihm sexuelle Handlung vornimmt oder an sich vornehmen lässt. Daraus lässt sich ableiten, dass der Gesetzgeber, wie auch die Gesetzgebungshistorie bestätigt, auch die Fälle mit § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB erfassen wollte, in denen jemand auf ein Kind durch „harmlose“ Texte mit dem Ziel einwirkt, ein Treffen mit ihm herbeizuführen, das er zu sexuellen Handlungen (aus)nutzen will. Freilich muss sich die sexuelle Absicht des Täters in diesen Fällen aus anderen Umständen eindeutig ergeben und auf diese Weise bewiesen werden können. Konkret bedeutet dies, dass sich beispielsweise nach § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB strafbar macht, wer einem Kind gegenüber im Rahmen von Schriften anregt, sich zu treffen, um Fußballbilder zu tauschen, wenn dies mit der Absicht geschieht, das Treffen zu sexuellen Handlungen zu nutzen. Demge263 s.
auch Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176 Rn. 21. SK / Wolters, § 176 Rn. 24b.
264 A. A.
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D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
genüber macht sich entgegen der wohl herrschenden Meinung nicht strafbar, wer mit entsprechender Absicht schriftlich Belanglosigkeiten mit einem Kind austauscht, ohne hierbei objektiv auf die Herstellung eines unmittelbaren Kontakts zwischen dem Kind und dem Täter oder einem Dritten hinzuwirken, da in diesem Fall der Schrift jede Eignung fehlt, zur Erreichung des beabsichtigten Ziels beizutragen. Im Hinblick auf die zu fordernde objektive Eignung der Schrift, zur Erreichung des beabsichtigten Ziels beizutragen, sind Schriften mit Sexualbezug unproblematischer. Allerdings ist es zu weitgehend, wie Frühsorger265 einen explizit sexuellen Inhalt der Schriften zu verlangen. Ansonsten würde man beispielsweise zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen, je nachdem, ob eine Schrift nur einen Verweis auf einen Text sexuellen Inhalts oder diesen selbst enthält. Es macht jedoch keinen Unterschied, ob ein Text sexuellen Inhalts an ein Kind übersandt wird oder nur eine Empfehlung, sich einen näher bezeichneten Text (beispielsweise auf einer Internetseite, in einer Zeitschrift oder einem Buch) zu Gemüte zu führen. Anders als bei § 176 Abs. 4 Nr. 4 StGB ist auch kein pornographischer Inhalt erforderlich, sodass auch die Übersendung von Aufklärungsliteratur grundsätzlich als Anknüpfungspunkt für eine Tat nach § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB in Betracht kommt, vorausgesetzt sie ist geeignet, zur Erreichung des beabsichtigten Ziels beizutragen. Die Ausscheidung von Fällen sozialadäquaten Verhaltens266 hat hierbei über die subjektive Tatseite zu erfolgen. Dies erscheint auch ohne Weiteres möglich, denn bei einer adäquaten Sexualaufklärung verfolgt der Aufklärende eben nicht die Absicht (dolus directus!), das Kind zu sexuellen Handlungen zu veranlassen.267 Es bleibt festzuhalten, dass § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB dahingehend restriktiv auszulegen ist, dass die beabsichtigten sexuellen Handlungen des Kindes oder am Kind nicht lediglich ein Fernziel des Täters darstellen dürfen. Um dieser Einschränkung Rechnung zu tragen, ist auf der objektiven Tatseite erforderlich, dass die Schriften objektiv geeignet sind, zur Erreichung des beabsichtigten Ziels beizutragen. Dies kann sich entweder aus dem sexuellen Inhalt der Schrift ergeben oder daraus, dass mit der Schrift auf die Herbeiführung eines Treffens mit dem Kind hingewirkt wird. Wohlgemerkt ist allein das Vorliegen dieser objektiven Voraussetzungen nicht ausreichend, sondern ergänzend muss stets die tatbestandlich geforderte Absicht feststellbar sein. 265 Frühsorger,
Straftatbestand, S. 141. dazu BT-Drucks. 15 / 350, S. 18. 267 A. A. Frühsorger, Straftatbestand, S. 144; tendenziell auch Eisele, FS Heinz, S. 697 (700 f.); NK / Frommel, § 176 Rn. 22; Schönke / Schröder / Eisele, § 176 Rn. 14a u. 14c. Vgl. auch Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176 Rn. 21. 266 Vgl.
II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB 321
8. Zur Auslegung des § 176 Abs. 4 Nr. 4 StGB Nach § 176 Abs. 4 Nr. 4 StGB macht sich strafbar, wer auf ein Kind durch Vorzeigen pornographischer Abbildungen oder Darstellungen, durch Abspielen von Tonträgern pornographischen Inhalts oder durch entsprechende Reden einwirkt. Im Hinblick auf diese Tatbestandsvariante soll sich näher der Streitfrage gewidmet werden, ob über den Eventualvorsatz hinausgehende subjektive Voraussetzungen beim Täter vorliegen müssen. Historischer Nährboden dieser Streitfrage ist die Abschaffung der „Erregungsabsicht“ als weiterem subjektiven Element im Rahmen des § 176 Abs. 4 Nr. 4 StGB durch das 6. Strafrechtsreformgesetz. Teilweise wird versucht auch auf Grundlage der geltenden Rechtslage eine Eingrenzung des Tatbestandes in subjektiver Hinsicht vorzunehmen, vor allem mit dem Ziel „sozialadäquate Verhaltensweisen“ aus dem Bereich des Strafbaren herauszunehmen.268 Zur Erreichung dieses Ziels wird zum einen vorgeschlagen, die Tathandlung einer Erheblichkeitsprüfung analog § 184g Nr. 1 StGB zu unterziehen.269 Zum anderen wird verlangt, dass das tatbestandliche Verhalten in subjektiver Hinsicht „aus sexueller Motivation“ erfolgen müsse.270 Der Gegenansicht271 zufolge ist keine sexuelle Motivation des Täters erforderlich. Sie stützt sich dabei auf Wortlaut und Historie des Gesetzes.272 Zudem wird die Notwendigkeit einer solchen Eingrenzung rechtstatsächlich relativiert. Renzikowski meint etwa: „Insofern ist es bereits objektiv in gewissem Umfang möglich, sozialadäquates von strafbarem Handeln abzugrenzen, denn es ist kaum vorstellbar, wie die Vermittlung der Sexualität als Bestandteil einer partnerschaftlichen Beziehung durch die Verwendung von pornographischem Material gefördert werden sollte. Übliches Aufklärungsmaterial ist schon objektiv nicht tatbestandsmäßig.“273
Indes sind durchaus Fälle denkbar, bei denen aus einer nicht-sexuellen Motivation heraus mit pornographischem Material auf ein Kind eingewirkt 268 Fischer, StGB, § 176 Rn. 16; Laubenthal, Handbuch, Rn. 483; Renzikowski, NStZ 1999, 440 f. (s. nun aber MK / Renzikowski, § 176 Rn. 42); Schönke / Schröder / Eisele, § 176 Rn. 17; s. auch Bussmann, StV 1999, 613 (618 f.). 269 Fischer, StGB, § 176 Rn. 16; Laubenthal, Handbuch, Rn. 483; Lackner / Kühl, § 176 Rn. 5. Ähnlich auch AnwKomm / Deckers, § 176 Rn. 25. 270 BeckOK / Ziegler, § 176 Rn. 29; Fischer, StGB, § 176 Rn. 16; Laubenthal, Handbuch, Rn. 483; NK / Frommel, § 176 Rn. 22; SK / Wolters, § 176 Rn. 26. 271 Dölling / Laue, in Amann / Wipplinger, Sexueller Missbrauch, S. 889 (897); Gössel, Das neue Sexualstrafrecht, § 6 Rn. 24; LK / Hörnle, § 176 Rn. 99; MK / Renzikowski, § 176 Rn. 41. 272 Gössel, Das neue Sexualstrafrecht, § 6 Rn. 24. 273 MK / Renzikowski, § 176 Rn. 41. Inhaltlich ähnliche Ausführungen finden sich bei Gössel, Das neue Sexualstrafrecht, § 6 Rn. 24.
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D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
wird. Aus der Rechtsprechung274 ist beispielsweise ein Fall bekannt, bei dem ein Mann einem Kind pornographische Bilder aus dem Internet vorgelegt hat,275 auf denen die Mutter des Kindes zu sehen war, die eine EscortAgentur betrieb. Mit der Vorlage der Bilder verfolgte der Mann allein den Zweck, die Mutter des Kindes zu diskreditieren. Obwohl das beschriebene Verhalten nicht auf einer sexuellen Motivation beruhte, wird es kaum als sozialadäquat bezeichnet werden können. Auch jenseits einer kasuistischen Betrachtung sprechen gewichtige Argumente gegen die Erweiterung des Tatbestands um ein subjektives Element. Neben der Gesetzgebungsgeschichte, die zur Streichung der Erregungsabsicht im Wortlaut des § 176 Abs. 4 Nr. 4 StGB geführt hat, lässt sich vor allem das geschützte Rechtsgut als Argument ins Feld führen. Das Rechtsgut der sexuellen Integrität des Kindes wird durch eine Konfrontation mit pornographischem Material beziehungsweise entsprechenden Reden beeinträchtigt, ohne dass es hierfür auf die Motivation des Täters ankommt. Pornograpisches Material beziehungsweise entsprechende Reden stellen als solche einen sexuellen Reiz dar, von dem Kinder freigehalten werden sollen. Legt man hingegen das Rechtsgut der ungestörten (sexuellen) Entwicklung zugrunde, ist dieses Ergebnis weniger eindeutig. Dies liegt zunächst daran, dass die empirischen Auswirkungen von Pornographie auf die sexuelle Entwicklung unklar sind.276 Selbst wenn unterstellt wird, dass die Konfrontation mit pornographischem Material im Allgemeinen schädlich ist, so mag diese Wirkung abgemildert sein, wenn die Konfrontation beispielsweise pädagogisch begleitet wird.277 Demnach kann diese Rechtsgutsauffassung nicht mit derselben Klarheit zur Entscheidung des Meinungsstreits beitragen. Geht man schließlich davon aus, dass § 176 StGB die sexuelle Selbstbestimmung schützt, so ist deren Beeinträchtigung davon unabhängig, aus welcher Motivation die Konfrontation mit pornographischem Material erfolgt. Diese Rechtsgutsauffassung stützt daher tendenziell auch die Auffassung, dass eine einschränkende Auslegung des § 176 Abs. 4 Nr. 4 StGB nicht geboten ist. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass eine besondere Motivation des Täters in den Fällen des § 176 Abs. 4 Nr. 4 StGB nicht erforderlich ist. Auch eine generelle Eingrenzung des Kreises einschlägiger Fälle über eine 274 OLG
Hamburg StV 2009, 234 ff. konkreten Fall ist unklar geblieben, ob dies tatsächlich so geschehen ist. 276 Köhne, JR 2012, 325 (326); Schönke / Schröder / Eisele, § 184 Rn. 1; Schreibauer, Das Pornographieverbot des § 184 StGB, S. 42 ff.; Palm, Kinder- und Jugendpornographie im Internet, S. 22 ff. 277 Zur Idee der medienpädagogischen Entwicklung einer Pornografie-Kompetenz Döring, Zeitschrift für Sexualforschung 2011, 228 ff. 275 Im
II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB 323
analoge Anwendung des § 184g Nr. 1 StGB erscheint nicht geboten. Bagatellfällen, wie dem nur flüchtigen Vorzeigen einer pornographischen Abbildung,278 kann mit den üblichen Methoden Rechnung getragen werden. Insoweit besteht kein Unterschied zu anderen Tatbeständen. 9. Zur Auslegung des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB Die Qualifikation des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB enthält eine Strafschärfung für den Fall, dass – unter den Voraussetzungen des § 176 Abs. 1 oder 2 StGB – eine Person über achtzehn Jahren mit dem Kind den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an ihm vornimmt oder an sich von ihm vornehmen lässt, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind. Die erhöhte Strafdrohung beruht darauf, dass die beschriebenen Verhalten besonders intensive Eingriffe in die sexuelle Integrität des Kindes mit sich bringen.279 Dabei werden intensive Rechtsgutsbeeinträchtigungen sowohl durch sexuelle Handlungen am Körper des Kindes als auch durch sexuelle Handlungen des Kindes am Körper des Täters oder eines Dritten erfasst. Vor diesem Hintergrund trifft die Auffassung der ganz herrschenden Meinung zu, dass kein Eindringen in den Körper des Kindes erfolgen muss, sondern ein Eindringen in den Körper des Täters beziehungsweise eines Dritten genügt.280 Eine Verletzung der sexuellen Integrität des Kindes setzt kein Eindringen in den Körper des Kindes voraus. Zu beachten ist jedoch stets, dass neben dem Eindringen281 die Beischlafsähnlichkeit des Verhaltens als weitere Voraussetzung vorliegen muss. Vor allem über dieses Merkmal erfolgt die gebotene Differenzierung zwischen nur dem Grundtatbestand und auch der Qualifikation unterfallenden Fallkonstellationen.282 Umstritten ist, ob bei einem Zungenkuss die Qualifikation des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB erfüllt sein kann. Dies wird teilweise unter der Prämisse von BGH bei Dallinger MDR 1974, 546. LK / Hörnle, § 176a Rn. 22. 280 BGHSt 45, 131 (133) mit Anm. Hörnle, NStZ 2000, 310 (311); BGHSt 53, 118 (119); BeckOK / Ziegler, § 176a Rn. 11; Fischer, § 176a Rn. 7; Laubenthal, Handbuch, Rn. 525; Lackner / Kühl, § 176a Rn. 2; LK / Hörnle, § 176a Rn. 29; MK / Renzikowski, § 176a Rn. 22; NK / Frommel, § 176a Rn. 11; Schönke / Schröder / Eisele, § 176a Rn. 8a; SK / Wolters, § 176a Rn. 17; a. A. LG Oldenburg NStZ 1999, 408 f.; Bauer, StraFo 2000, 196 ff.; Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176a Rn. 17; ebenfalls ablehnend, jedoch im Bezug auf § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB: Folkers, Ausgewählte Probleme bei sexueller Nötigung und Vergewaltigung, S. 90 f.; dies., NStZ 2000, 471 (472). 281 Dazu etwa BGH NStZ 2000, 27 f. 282 Vgl. SK / Wolters, § 176a Rn. 16. 278 Beispiel 279 Vgl.
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D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
bejaht, dass die Erheblichkeitsschwelle des § 184g StGB überschritten ist.283 Es sei jedoch dann ein minder schwerer Fall (§ 176a Abs. 4 StGB) anzunehmen.284 Die herrschende Meinung verneint hingegen die Möglichkeit, dass bei einem Zungenkuss der Qualifikationstatbestand erfüllt sein kann, da es an der Beischlafsähnlichkeit fehle.285 Der Bundesgerichtshof führt hierzu aus: „Die Ähnlichkeit der sexuellen Handlung mit dem Beischlaf ist aber vor allem auch an der Gewichtung der Rechtsgutsverletzung zu messen. Geschütztes Rechtsgut ist in den Fällen des § 176a StGB die ungestörte sexuelle Entwicklung des Kindes […]. Der Zungenkuss wirkt hierauf regelmäßig nicht so intensiv ein wie ein Vaginal-, Oral- oder Analverkehr.“286
Es erscheint im Ergebnis zutreffend, dass es beim Zungenkuss an der Beischlafsähnlichkeit fehlt. Es überzeugt auch, die Intensität der Rechtsgutsverletzung als Indikator für die Beischlafsähnlichkeit heranzuziehen. Der Bundesgerichtshof beachtet jedoch nicht, dass die mit einem Zungenkuss verbundene Intensität der Rechtsgutsbeeinträchtigung davon abhängt, welcher Rechtsgutsauffassung gefolgt wird. Bei Zugrundelegung des Rechtsguts der „ungestörten sexuellen Entwicklung des Kindes“ ist die Schlussfolgerung des Bundesgerichtshofs gerade nicht zwingend, denn die psychischen Konsequenzen können durchaus erheblich sein, wenn ein Kind einen intensiven, langdauernden Zungenkuss über sich ergehen lassen muss. Der Vergleich der Auswirkungen eines Zungenkusses mit denen des „Vaginal-, Oral- oder Analverkehrs“ ist dabei irreführend, weil dabei der Zungenkuss den intensivsten denkbaren Tathandlungen gegenübergestellt wird. Vergleicht man die Auswirkungen eines Zungenkusses hingegen mit den bei anderen tatbestandsmäßigen Handlungen zu erwartenden, so gerät die These des Bundesgerichtshofs von der vergleichsweise geringen Intensität des Zungenkusses für das Rechtsgut der ungestörten sexuellen Entwicklung ins Wanken. So erscheint es durchaus fraglich, ob die möglichen psychischen Auswirkungen auf ein Kind bei einem Zungenkuss nicht größer sind als bei einer an einem schlafenden Kind vorgenommenen und von diesem nicht bemerkten vaginalen / analen Penetration mit einem Finger oder einem dün283 Laubenthal, Handbuch, Rn. 523; NK / Frommel, § 176a Rn. 11; Renzikowski, NStZ 1999, 440 (441), anders nun aber ders., NStZ 2000, 367 und MK / Renzikowski, § 176a Rn. 22. 284 Laubenthal, Handbuch, Rn. 523; NK / Frommel, § 176a Rn. 11. 285 BGH NJW 2000, 672; NJW 2011, 3111; AnwKomm / Deckers, § 176a Rn. 11; BeckOK / Ziegler, § 176a Rn. 12; Fischer, StGB, § 176a Rn. 8; Folkers, JR 2007, 11 (15, Fn. 34); Frühsorger, Straftatbestand, S. 45; Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176a Rn. 16; LK / Hörnle, § 176a Rn. 27; Schönke / Schröder / Eisele, § 176a Rn. 8a; SK / Wolters, § 176a Rn. 16. 286 BGH NJW 2011, 3111.
II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB 325
nen Gegenstand (zum Beispiel Bleistift). Da letztere aber unzweifelhaft tatbestandsmäßig sein dürfte,287 ist es wenig überzeugend, die Tatbestandsmäßigkeit des Zungenkusses mit der geringeren Gefahr für die ungestörte Entwicklung des Kindes zu begründen. Legt man hingegen richtigerweise das Rechtsgut der sexuellen Integrität des Kindes zugrunde, so erweist sich die Ansicht des Bundesgerichtshofs im Ergebnis als zutreffend. Dieses Rechtsgut wird bei einem Zungenkuss weniger intensiv als bei anderen denkbaren Handlungen beeinträchtigt. Dies ergibt sich zunächst daraus, dass kein primäres Geschlechtsorgan beteiligt ist.288 Außerdem ist zu bedenken, dass in den Mund im Unterschied zu Vagina und Anus auch in zahlreichen nichtsexuellen Kontexten Gegenstände (Nahrung, Zahnbürste, etc.) hineingegeben werden. Damit ist im Ergebnis die Beischlafsähnlichkeit des Zungenkusses zu verneinen. Erst recht gilt dies für das Einführen sonstiger Gegenstände und Körperteile (mit Ausnahme des männlichen Glieds) in den Mund des Kindes.289 Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass bei Zugrundelegung der sexuellen Selbstbestimmung als Rechtsgut die Intensität der Rechtsgutsbeeinträchtigung kein ergiebiges Abgrenzungskriterium darstellt. Einen entgegenstehenden Willen des Kindes unterstellt, führt die Art der vorgenommenen Tathandlung nicht zu einem wesentlichen Unterschied hinsichtlich des Gewichts des Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass ein Zungenkuss keine taugliche Tathandlung im Sinne des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB darstellt. Insoweit fehlt es an der Beischlafsähnlichkeit, insbesondere weil der Eingriff in die sexuelle Integrität verhältnismäßig gering ist. 10. Zur Auslegung des § 176a Abs. 2 Nr. 2 StGB Der Qualifikationstatbestand des § 176a Abs. 2 Nr. 2 StGB führt zu einer Strafschärfung, wenn in den Fällen des § 176 Abs. 1 oder 2 StGB die Tat von mehreren gemeinschaftlich begangen wird. Bei unbefangener Betrachtung liegt es nahe, den Grund für die Strafschärfung in der größeren Intensität der Rechtsgutsbeeinträchtigung bei einer gemeinschaftlichen Tatbegehung zu erblicken. Dementsprechend wird im überwiegenden Schrifttum der 287 Vgl. BT-Drucks. 13 / 2463, S. 7; 13 / 7324, S. 6; BGHSt 53, 118 (120); BGH NJW 2000, 672; NStZ 2005, 152 (153); LK / Hörnle, § 176a Rn. 27; Laubenthal, Handbuch, Rn. 522; Schönke / Schröder / Eisele, § 176a Rn. 8a; a. A. Folkers, JR 2007, 11 (15); Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176a Rn. 19. 288 Vgl. auch BGH NJW 2011, 3111. 289 Renzikowski, NStZ 2000, 367; s. auch Schönke / Schröder / Eisele, § 176a Rn. 8a.
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D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
Grund für die Strafschärfung des § 176a Abs. 2 Nr. 2 StGB in der intensiveren Beeinträchtigung der Rechtsgüter der ungestörten sexuellen Entwicklung und der sexuellen Selbstbestimmung erblickt. So wird mit den geringeren Abwehrchancen des Opfers und den Gefahren für das Kind aufgrund gruppendynamischer Prozesse argumentiert.290 Außerdem wird auf gesteigerte Gefahren für die ungestörte Entwicklung des Kindes, „das sich gegenüber dem gemeinsamen sexuellen Verlangen mehrerer in besonderem Maße als bloßes Objekt fremder Wünsche und Überlegenheit empfinden muss“, hingewiesen.291 Die Zugrundelegung einer solchen ratio legis hat insofern auch Auswirkungen auf die Tatbestandsauslegung, als aus ihr gefolgert wird, dass sich aus dem Zusammenwirken der Täter eine „objektiv erhöhte Schutzlosigkeit des Opfers ergeben“ müsse.292 Diese Auffassung zum Strafgrund des § 176a Abs. 2 Nr. 2 StGB findet ihre Ursache in der weitgehend unreflektierten Übernahme der Gesetzesbegründung, die ihrerseits nicht überzeugt. Die Entwurfsbegründung zu § 176a Abs. 2 Nr. 2 StGB beschränkt sich auf einen schlichten Verweis auf die Begründung zur Einführung des die gemeinschaftliche Tatbegehung betreffenden Regelbeispiels in § 177 StGB.293 Dort wurde wiederum mit den geringeren Abwehrchancen des Opfers argumentiert und damit, dass es „in solchen Fällen regelmäßig zu besonders massiven sexuellen Handlungen kommt.“294 Die Übertragung dieser Argumentation von § 177 StGB auf § 176a Abs. 2 Nr. 2 StGB überzeugt jedoch nicht, da der sexuelle Missbrauch von Kindern gerade kein Gewalt- oder Nötigungsdelikt ist.295 Der Tatbestand setzt keine adversatorische Situation voraus, bei der einem Opfer gegen seinen natürlichen Willen „Gewalt angetan“ wird, mag auch eine solche faktisch nicht selten gegeben sein.296 Anders als bei einer sexuellen Nötigung oder einer Körperverletzung kann bei einer Tat nach § 176 StGB nicht unterstellt wer290 BGH NStZ 2014, 34; Demko, Relativität der Rechtsbegriffe, S. 193; HKGS / Laue, § 176a StGB Rn. 4; Laubenthal, Handbuch, Rn. 529; LK / Hörnle, § 176a Rn. 32; MK / Renzikowski, § 176a Rn. 51; Schönke / Schröder / Eisele, § 176a Rn. 9. 291 Schönke / Schröder / Eisele, § 176a Rn. 9; s. auch BGH NStZ 2014, 34; Campbell, Der intrafamiliäre sexuelle Kindesmißbrauch, S. 64; HK-GS / Laue, § 176a StGB Rn. 4; LK / Hörnle, § 176a Rn. 32. 292 Fischer, StGB, § 176a Rn. 9; ähnlich AnwKomm / Deckers, § 176a Rn. 14; BeckOK / Ziegler, § 176a Rn. 13. 293 BT-Drucks. 13 / 8587, S. 31 f. 294 BT-Drucks. 13 / 2463, S. 7. 295 Vgl. LK / Hörnle, § 176a Rn. 32. 296 So wurden in dem Sachverhalt, der der BGH-Entscheidung vom 10.10.2013 (BGH NStZ 2014, 34) zugrunde liegt, die Geschädigten überwiegend durch die Zahlung eines Entgelts zur Teilnahme an den sexuellen Handlungen veranlasst.
II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB 327
den, dass das Opfer die Tat auch abwehren will. Es erscheint daher wenig überzeugend, die Qualifikation mit den verringerten Abwehrchancen des Opfers zu begründen. Man könnte einwenden, dass zumindest in den Fällen, in denen das Kind den Missbrauch abwenden will, durch die „gemeinschaftliche Tatbegehung“ seine Erfolgschancen gemindert sind. Konsequenterweise müsste dann jedoch der Anwendungsbereich des Qualifikationstatbestands im Wege der teleologischen Reduktion auf die Fälle beschränkt werden, in denen das Kind einen Abwehrwillen hat.297 Ebenfalls fehl geht die Begründung, dass das Kind „sich gegenüber dem gemeinsamen sexuellen Verlangen mehrerer in besonderem Maße als bloßes Objekt fremder Wünsche und Überlegenheit empfinden“298 müsse. Hier wird ebenfalls verkannt, dass das tatbestandsmäßige Verhalten im Einklang mit dem Willen des Kindes erfolgen kann. Auch ist tatbestandlich keine Unterlegenheit des Kindes gefordert, kann doch der weitere Beteiligte anerkanntermaßen ebenfalls ein Kind (und damit sogar jünger und schwächer als das Opfer) sein.299 Schließlich werfen die Hinweise auf mögliche gruppendynamische Prozesse und die gesteigerte Gefahr besonders massiver sexueller Handlungen (die gerade auf gruppendynamischen Prozessen beruht) die – zunächst kriminalpolitische – Frage auf, ob insoweit nicht ausreichender Schutz über § 176a Abs. 2 Nr. 1 und 3 StGB besteht. Insoweit wäre es überzeugender an die Intensität der Tathandlung anzuknüpfen. Für die dogmatische Frage nach dem Sinn und Zweck des § 176a Abs. 2 Nr. 2 StGB bedeutet diese kriminalpolitische Überlegung, dass dieser möglicherweise ein anderer als der Schutz vor gruppendynamischen Prozessen ist. Die überwiegend vorgenommene Einordnung des Strafgrundes des § 176a Abs. 2 Nr. 2 StGB überzeugt daher nicht. Sie legt implizit zugrunde, dass der Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern vorrangig das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung schützt. Damit erfasst sie den Unrechtsgehalt der Strafnorm nur unzureichend. Geht man hingegen davon aus, dass auch bei § 176a Abs. 2 Nr. 2 StGB das geschützte Rechtsgut in der sexuellen Integrität des Kindes liegt, so lässt sich der Grund für die Strafschärfung besser erfassen. Die sexuelle Integrität wird dann besonders stark beeinträchtigt, wenn mehrere Beteiligte zugleich in sie eingreifen. Auf 297 In diese Richtung wies Renzikowskis Auffassung, dass einvernehmlicher Gruppensex nicht tatbestandsmäßig sei (MK / Renzikowski [1. Aufl.], § 176a Rn. 23; nun aber kommentarlos gestrichen, vgl. MK / Renzikowski, § 176a Rn. 24). Vgl. auch LK / Hörnle, § 176a Rn. 33. 298 Schönke / Schröder / Eisele, § 176a Rn. 9. 299 Laubenthal, Handbuch, Rn. 529; LK / Hörnle, § 176a Rn. 33; Schönke / Schröder / Eisele, § 176a Rn. 9.
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D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
gruppendynamische Prozesse und etwaige Folgegefahren für das Kind sowie auf eine etwa erhöhte Schutzlosigkeit kommt es insoweit nicht an. Dementsprechend ist auch Gruppensex, an dem ein Kind einvernehmlich teilnimmt, gemäß § 176a Abs. 2 Nr. 2 StGB strafbar.300 Im Ergebnis lässt sich damit der Strafgrund des § 176a Abs. 2 Nr. 2 StGB in der erhöhten Intensität der Beeinträchtigung des Rechtsguts der sexuellen Integrität erblicken. Dies gilt jedenfalls für die Fälle, in denen beide Beteiligte eine Tat nach § 176 Abs. 1 StGB begehen. Darüber hinaus erfasst § 176a Abs. 2 Nr. 2 StGB die gemeinschaftliche Tatbegehung in den Fällen des § 176 Abs. 2 StGB, also das gemeinschaftliche Bestimmen eines Kindes dazu, dass es sexuelle Handlungen vornimmt oder an sich vornehmen lässt.301 Dies liegt darin begründet, dass die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Eingriff in die sexuelle Integrität kommt, vergrößert wird, wenn auf das Kind durch mehrere Personen in diese Richtung eingewirkt wird. Diese Einwirkung braucht freilich nicht nötigend beziehungsweise nötigungsähnlich zu sein, sondern es kommt auch das gemeinsame Überreden oder „Verführen“ des Kindes in Betracht. Umstritten ist, ob eine gemeinschaftliche Tatbegehung auch dann vorliegen kann, wenn in Bezug auf dieselbe Tat ein Täter § 176 Abs. 1 StGB und ein anderer § 176 Abs. 2 StGB verwirklicht. Einigkeit besteht darüber, dass ein zeitversetzter Ablauf, bei dem zunächst von einem Täter eine Bestimmungshandlung (§ 176 Abs. 2 StGB) vorgenommen wird, die dann in Abwesenheit dieses Täters zur „erfolgreichen“ Vornahme der sexuellen Handlung (§ 176 Abs. 1 StGB) führt, mangels Zusammenwirkens bei der Tat keine gemeinschaftliche Begehungsweise darstellt, folglich nicht die Qualifikation erfüllt.302 Sind hingegen beide Täter gleichzeitig anwesend, so soll nach herrschender Meinung eine gemeinschaftliche Tatbegehung grundsätzlich möglich sein.303 Dabei ist allerdings zu beachten, dass der Tatbestand nicht nur gleichzeitiges, sondern gemeinschaftliches Handeln voraussetzt, sodass im Hinblick auf den Gesetzeswortlaut ein einverständliches Zusammenwirken erforderlich ist.304 Eine insbesondere von Wolters vertretene Gegenauffassung verneint die Möglichkeit der Verwirklichung des § 176a 300 A. A. MK / Renzikowski [1. Aufl.], § 176a Rn. 23; aufgegeben in der Neuauflage: MK / Renzikowski, § 176a Rn. 24. 301 Vgl. LK / Hörnle, § 176a Rn. 36; SK / Wolters, § 176a Rn. 19. 302 Fischer, StGB, § 176a Rn. 9; LK / Hörnle, § 176a Rn. 36. 303 Fischer, StGB, § 176a Rn. 9; HK-GS / Laue, § 176a StGB Rn. 4; Laubenthal, Handbuch, Rn. 530; LK / Hörnle, § 176a Rn. 36; MK / Renzikowski, § 176a Rn. 24; Schönke / Schröder / Eisele, § 176a Rn. 9. 304 Vgl. BGH NStZ 2014, 34; Demko, Relativität der Rechtsbegriffe, S. 194; LK / Hörnle, § 176a Rn. 37 „koordinierte Aktivitäten“; vgl. zu § 224 Nr. 4 StGB: MK / Hardtung, § 224 Rn. 32; Wessels / Hettinger, Strafrecht BT / 1, Rn. 281.
II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB 329
Abs. 2 Nr. 2 StGB in den Fällen, in denen bei einem Beteiligten eine Tat nach dem ersten Absatz und beim anderen Beteiligten eine Tat nach dem zweiten Absatz des § 176 StGB vorliegt, und begründet dies wie folgt: „Dies folgt für den Täter des § 176 Abs. 2 bereits daraus, dass die Beteiligung von zwei Personen auf der Täterseite in der Natur der Vorschrift angelegt ist, sich die „Gemeinschaftlichkeit“ also als das typische Unrecht schon des Grundtatbestands darstellt; hinsichtlich der konkreten Ausführungshandlung der Tat des § 176 Abs. 1 fehlt es zudem an der (mit-)beherrschenden Stellung des nach § 176 Abs. 2 Bestimmenden.“305
Für diese Ansicht spricht, dass in solchen Fällen die Intensität der Rechtsgutsverletzung nicht erhöht wird. Bei der Tat nach § 176 Abs. 2 StGB führt nicht die Bestimmenshandlung als solche zur Verletzung der sexuellen Integrität, sondern die Vornahme beziehungsweise das Vornehmenlassen der sexuellen Handlung durch das Kind. Gerade diese Rechtsgutsverletzung entspricht jedoch derjenigen, die nach § 176 Abs. 1 StGB geahndet wird. Gleichwohl ist die herrschende Auffassung zutreffend, denn die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer Verletzung der sexuellen Integrität kommt, wird dadurch erhöht, dass mehrere Beteiligte dem Kind gegenüberstehen. Hierin liegt gerade der Grund für die Strafschärfung des § 176a Abs. 2 Nr. 2 StGB in den Fällen des § 176 Abs. 2 StGB. Die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung der sexuellen Integrität wird auch dann erhöht, wenn ein Täter eine Bestimmenshandlung im Sinne des § 176 Abs. 2 StGB vornimmt und ein anderer Täter nach § 176 Abs. 1 StGB strafbare Handlungen begeht. In der Vornahme beziehungsweise dem Vornehmenlassen im Sinne des § 176 Abs. 1 StGB liegt gerade konkludent auch ein „Bestimmen“, nämlich die Aufforderung dieses Verhalten zu dulden beziehungsweise damit fortzufahren. Damit nehmen beide Täter der Sache nach eine Bestimmenshandlung im Sinne des § 176 Abs. 2 StGB vor, auch wenn derjenige, der die Tat nach Absatz 1 begeht, mangels Drittbezug seiner Bestimmenshandlung nicht den Tatbestand des § 176 Abs. 2 StGB verwirklicht. Wenn aber bereits die gemeinschaftliche Begehung einer Tat nach § 176 Abs. 2 StGB den Qualifikationstatbestand erfüllt, muss dies erst recht gelten, wenn ein Täter nach § 176 Abs. 2 StGB und der andere nach § 176 Abs. 1 vorgeht, da auch in diesem Fall der Sache nach ein doppeltes „Bestimmen“ vorliegt. Bei einer solchen Auslegung steht auch nicht zu befürchten, dass in den Fällen des § 176 Abs. 2 StGB stets auch die Qualifikation des § 176a Abs. 2 Nr. 2 StGB als erfüllt anzusehen ist. Dagegen spricht bereits, dass die Qualifikation im Gegensatz zum Grundtatbestand306 nur bei gleichzeitiger Anwesenheit beider Täter erfüllt ist. Zudem sind Konstellationen denkbar, bei 305 SK / Wolters, 306 s.
§ 176a Rn. 9. nur Fischer, StGB, § 176 Rn. 7.
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D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
denen trotz gleichzeitiger Anwesenheit kein gemeinschaftliches Vorgehen des Bestimmenden und des Dritten im Sinne des § 176 Abs. 2 StGB vorliegt. Zu denken ist etwa daran, dass der Dritte, an dem das Kind sexuelle Handlungen vornehmen soll, schläft oder ein Kleinkind ist, sodass kein einverständliches Zusammenwirken zwischen zwei Tätern vorliegt. Schließlich erscheint es nicht überzeugend, generell eine (mit)beherrschende Stellung des Täters nach § 176 Abs. 2 StGB beim Zusammentreffen mit einer Person, die eine Tat nach § 176 Abs. 1 StGB begeht, zu verneinen. So ist durchaus vorstellbar, dass ein Kind dazu bestimmt wird, nach detaillierten fortwährenden Anweisungen sexuelle Handlungen an einem Dritten vorzunehmen, der diese an sich vornehmen lässt. In einem solchen Fall würde derjenige, der die Tat nach § 176 Abs. 2 StGB begeht, die beherrschende Stellung innehaben. Allerdings ist richtigerweise sorgfältig zu prüfen, ob ein tatbestandsmäßiges Bestimmen im Sinne des § 176 Abs. 2 StGB vorliegt, oder ob das Kind (unter Umständen aufgrund von vorherigen Bestimmungshandlungen des nach § 176 Abs. 1 StGB zu bestrafenden Beteiligten) bereits fest entschlossen war (omnimodo facturus), sexuelle Handlungen vorzunehmen oder an sich vornehmen zu lassen, mit der Folge, dass die Beiträge des weiteren Beteiligten als bloße Beihilfehandlungen anzusehen sind. Solche Beiträge eines Gehilfen erfüllen nicht die Voraussetzung der gemeinschaftlichen Begehungsweise.307 Es bleibt festzuhalten, dass der Grund für die Strafschärfung des § 176a Abs. 2 Nr. 2 StGB in den Fällen des § 176 Abs. 2 StGB in der Erhöhung der Wahrscheinlichkeit liegt, dass es zu einer Rechtsgutsverletzung kommt. Vor diesem Hintergrund kann die Qualifikation auch dann verwirklicht werden, wenn ein Beteiligter eine Tat nach § 176 Abs. 1 StGB und ein weiterer Beteiligte eine nach § 176 Abs. 2 StGB begeht. 11. Zur Auslegung des § 176a Abs. 2 Nr. 3 StGB Die Qualifikation des § 176a Abs. 2 Nr. 3 StGB sieht eine Strafschärfung für den Fall vor, dass in den Fällen des § 176 Abs. 1 und 2 der Täter das Kind durch die Tat in die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung oder einer erheblichen Schädigung der körperlichen oder seelischen Entwicklung bringt. Diese Vorschrift erfasst die Herbeiführung einer konkreten 307 Fischer, StGB, § 176a Rn. 9; Laubenthal, Handbuch, Rn. 530; MK / Renzikowski, § 176a Rn. 23 mit Verweis auf § 177 Rn. 70 f.; Schönke / Schröder / Eisele, § 176a Rn. 9; SK / Wolters, § 176a Rn. 19; a. A. LK / Hörnle, § 176a Rn. 34.
II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB 331
Gefahr308 für Körper oder Seele des Kindes, wobei der Täter auch insoweit zumindest bedingt vorsätzlich309 handeln muss. Hinsichtlich dieser Qualifikation wird häufig diskutiert, wie die Abgrenzung vom Grundtatbestand zu erfolgen hat. Da die Gefahr von Entwicklungsstörungen bereits in gewissem Umfang von der ratio legis beziehungsweise dem Strafrahmen des Grundtatbestands310 umfasst sei, sei die Qualifikation eng auszulegen.311 Dahinter steht wohl die Überlegung, dass ansonsten regelmäßig nicht nur der Grundtatbestand, sondern auch die Qualifikation verwirklicht wäre, was im Hinblick auf die Strafdrohung im Ergebnis als fragwürdig angesehen wird. Dem tritt vor allem Frommel entgegen, die darauf hinweist, dass vom Grundtatbestand die abstrakte Gefahr solcher Störungen erfasst werde und die Qualifikation für den Fall der Konkretisierung dieser Gefahr eine Strafschärfung vorsehe.312 Sie benennt eine Reihe von praktisch bedeutsamen Fällen, in denen regelmäßig nur der Grundtatbestand verwirklicht sei, etwa einvernehmliche sexuelle Kontakte zwischen Kindern und Jugendlichen sowie weniger gravierende Handlungen.313 Die Diskussion um die Abgrenzung der Qualifikation vom Grundtatbestand hängt eng mit der unrichtigen Rechtsgutsbestimmung durch die herrschende Meinung zusammen. Einhergehend mit der Annahme, dass § 176 StGB das Rechtsgut der „ungestörten (sexuellen) Entwicklung“ schützt, wird angenommen, dass der Grundtatbestand diese ungestörte Entwicklung zumeist verletzt oder zumindest erheblich gefährdet. Tatsächlich erfasst der Grundtatbestand auch Verhaltensweisen, bei denen kein Risiko einer Entwicklungsstörung besteht oder dieses Risiko zumindest gering ist. Insoweit ist Frommel darin zuzustimmen, dass das Abgrenzungsproblem sich nicht in der Schärfe stellt, wie es häufig angenommen wird. 308 Fischer, StGB, § 176a Rn. 12; Dölling / Laue, in Amann / Wipplinger, Sexueller Missbrauch, S. 889 (899); LK / Hörnle, § 176a Rn. 39; Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176a Rn. 21. Otto, Die einzelnen Delikte, § 66 Rn. 50. 309 Fischer, StGB, § 176a Rn. 12; LK / Hörnle, § 176a Rn. 44; Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176a Rn. 21; MK / Renzikowski, § 176a Rn. 29; Schönke / Schröder / Eisele, § 176a Rn. 11. 310 Zur Berücksichtigung der Gefahr von Schädigungen bzw. des Eintritts von Schädigungen im Grundtatbestand s. BT-Drucks. VI / 3521, S. 35; BGH StV 1986, 149; StV 1987, 146; StV 1995, 470; 1998, 656 (657); NStZ-RR 2007, 71 (72); Fischer, StGB, § 176 Rn. 36; MK / Renzikowski, § 176 Rn. 66; Schönke / Schröder / Eisele, § 176 Rn. 29; SK / Wolters, § 176 Rn. 13. 311 Fischer, StGB, § 176a Rn. 11; HK-GS / Laue, § 176a StGB Rn. 5 ff; Laubenthal, Handbuch, Rn. 534; MK / Renzikowski, § 176a Rn. 27; Renzikowski, NStZ 1999, 440 (441); Schönke / Schröder / Eisele, § 176a Rn. 10. 312 NK / Frommel, § 176a Rn. 5. 313 NK / Frommel, § 176a Rn. 8.
332
D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
Geht man hingegen davon aus, dass § 176 StGB das Rechtsgut der sexuellen Integrität schützt, so wird deutlich, dass mit der Verwirklichung des Grundtatbestands keine Gefährdung des physischen oder psychischen Wohls verbunden sein muss. Der tatsächliche Eintritt der Gefahr von Schädigungen, wie sie von § 176a Abs. 2 Nr. 3 StGB verlangt wird, stellt vor diesem Hintergrund eine abgrenzbare Vertiefung des Unrechts dar. Dies gilt umso mehr, als nach dem Wortlaut des § 176a Abs. 2 Nr. 3 StGB in zweierlei Hinsicht eine Abgrenzung vom Grundtatbestand vorzunehmen ist. Einerseits muss das Kind in die (konkrete) Gefahr einer Schädigung seiner Gesundheit oder seiner körperlichen oder seelischen Entwicklung gebracht werden. Es ist also eine hohe Wahrscheinlichkeit des Eintritts entsprechender Folgen nachzuweisen. Zum anderen müssen diese Folgen gravierend sein, wie die Adjektive „schwer“ und „erheblich“ verdeutlichen, die der Gesetzgeber zur Präzisierung des geforderten Ausmaßes der Gesundheits- oder Entwicklungsschädigung verwendet. Werden diese im Tatbestand angelegten Restriktionen sorgfältig geprüft, so ist eine hinreichende Differenzierung zwischen Grundtatbestand und Qualifikation ohne Weiteres möglich. Eine darüber hinausgehende einschränkende Auslegung ist dann, anders als die herrschende Meinung nahelegt, nicht mehr erforderlich. Gegen eine besonders restriktive Auslegung spricht auch, dass bei § 176a Abs. 2 Nr. 3 StGB insoweit kein struktureller Unterschied zu anderen gefahrerfolgsqualifizierten Delikten314 besteht. So wird beispielsweise auch keine restriktive Auslegung des § 315c Abs. 1 Nr. 1 StGB mit dem Argument gefordert, es müsse eine klare Abgrenzung zu § 316 StGB erfolgen. Es ist jedoch zuzugeben, dass die Qualifikation des § 176a Abs. 2 Nr. 3 StGB in anderer Hinsicht Schwierigkeiten bereitet, nämlich im Hinblick auf die Beweisbarkeit des Eintritts der konkreten Gefahr, insbesondere der Gefahr für die „seelische Entwicklung“. Dies liegt zunächst darin begründet, dass sich bei § 176a Abs. 2 Nr. 3 StGB der Eintritt der Gefahr oder deren Verwirklichung im Zeitpunkt der Tatvollendung oder -beendigung häufig nicht sicher feststellen lässt. Insoweit besteht ein grundlegender Unterschied zwischen § 176a Abs. 2 Nr. 3 StGB und den meisten anderen konkreten Gefährdungsdelikten.315 Typischerweise kommt bei konkreten dazu LK / Vogel, § 18 Rn. 15; LK / Hörnle, § 176a Rn. 38. etwa beim Eintritt einer (konkreten) Gesundheits- oder Lebensgefahr beim Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 Abs. 2 Nr. 2 StGB), der Gefangenenmeuterei (§ 121 Abs. 3 Nr. 3 StGB), der sexuellen Nötigung (§ 177 Abs. 3 Nr. 3 StGB), dem Schwangerschaftsabbruch (§ 218 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 StGB), der Aussetzung (§ 221 Abs. 1 StGB), der Nachstellung (§ 238 Abs. 2 StGB), der Freiheitsberaubung (§ 239 Abs. 3 Nr. 2 StGB), dem Raub (§ 250 Abs. 1 Nr. 1c, Abs. 2 Nr. 3b StGB) oder der Brandstiftung (§ 306a Abs. 2 StGB). Eine ähnliche Problematik wie bei § 176 Abs. 2 Nr. 3 StGB stellt sich hingegen bei der Verletzung der 314 s.
315 So
II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB 333
Gefährdungsdelikten als Zeitpunkt der Beinahe-Schädigung nur der Zeitraum zwischen Versuch und Vollendung beziehungsweise Beendigung in Betracht. Dementsprechend prüft die Rechtsprechung den Eintritt einer konkreten Gefährdung anhand einer „objektiv-nachträglichen Prognose“.316 Im Hinblick auf § 315c StGB wird dementsprechend der gesamte Verlauf einer Trunkenheitsfahrt rückblickend dahingehend analysiert, ob es währenddessen zu einer brenzligen Situation beziehungsweise einem Beinaheunfall gekommen ist. Hat es im Zeitraum zwischen Beginn und Beendigung der Trunkenheitsfahrt keine solche Situation gegeben, so hat die Trunkenheitsfahrt nicht zu einer konkreten Gefahr geführt, sodass eine Strafbarkeit wegen des konkreten Gefährdungsdelikts § 315c StGB ausscheidet. Beim sexuellen Missbrauch von Kindern kann hingegen der Zeitpunkt, in dem es zu einer Schädigung der seelischen Entwicklung kommt, auch noch deutlich nach der Tatbeendigung liegen. Das Opfer realisiert sogar in der Regel erst nach Beendigung der Tat, was ihm widerfahren ist, und kann demnach erst im Zuge dessen eine traumabedingte psychische Störung entwickeln.317 Der Bezugspunkt für die Prüfung der konkreten Gefahr ist daher nicht lediglich der Zeitraum zwischen Vollendung und Beendigung. Vielmehr erstreckt sich der Zeitraum, auf den sich der mögliche Gefahreintritt bezieht, auf einen Zeitraum nach der Tat, dessen Reichweite im Übrigen ungewiss ist. Wenn Weber über die Gefährdungsdelikte schreibt, dass „zunächst an die Selbstverständlichkeit zu erinnern [ist], dass die Gerichte auch in Gefährdungsfällen […] ein in der Vergangenheit liegendes abgeschlossenes Geschehen zu beurteilen haben, nicht anders als in Verletzungsfällen […]“,318 dann ist die Formulierung dieser „Selbstverständlichkeit“ im Hinblick auf § 176a Abs. 2 Nr. 3 Alt. 2 StGB zumindest ungenau. Zwar muss der Gefahrauslöser zwischen Vollendung und Beendigung liegen, also innerhalb eines abgeschlossenen Geschehens, der Gefahr- oder Fürsorge- oder Erziehungspflicht (§ 171 StGB), dem sexuellen Missbrauch widerstandsunfähiger Personen (§ 179 Abs. 5 Nr. 3 StGB), der Misshandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 Abs. 3 Nr. 2 StGB) und der Entziehung Minderjähriger (§ 235 Abs. 4 Nr. 1 StGB), und zwar jeweils im Hinblick auf die tatbestandlich verlangte konkrete Gefahr für die psychische bzw. seelische Entwicklung. 316 BGH NJW 1985, 1036; NJW 1995, 3131; NStZ 1999, 32 (33); NStZ-RR 2010, 120; s. auch Bennemann, Strafbarkeit, S. 45; MK / Pegel, § 315 Rn. 60. Zum Zeitpunkt des Urteils über die Gefahr, s. Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 72. 317 Wissenschaftliche Befunde deuten darauf hin, dass sich die Traumatisierungsfolgen in vielen Fällen erst zeitversetzt manifestieren, beispielsweise wenn das Kind Jahre später erkennt, dass es sich beim Täterverhalten um sexuellen Missbrauch gehandelt hat (vgl. eingehend Clancy, The Trauma Myth; dazu Loftus / Frenda, Science 2010, 1329 f.). 318 Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 35 Rn. 75.
334
D. Zu ausgewählten Streitfragen in Bezug auf § 176 StGB
Schadenseintritt findet hingegen nicht notwendigerweise in diesem Zeitraum statt. Zur Beurteilung des Tatbestandsmerkmals der konkreten Gefahr im Sinne des § 176a Abs. 2 Nr. 3 StGB ist daher, falls der Gefahr- oder Schadenseintritt nicht bereits feststellbar ist,319 eine Prognose erforderlich, zu der unter Umständen auch Sachverständige herangezogen werden müssen.320 Eben diese Prognose ist wiederum schwierig, da die Mechanismen, die dazu führen, dass ein Erlebnis (wie das Berührtwerden im Intimbereich) zur späteren Ausbildung einer psychischen Störung führt, komplex und langdauernd sind.321 Ob eine Schädigung der seelischen Entwicklung eintritt, hängt stark von der kognitiv-emotionalen Verarbeitung des Erlebten ab, die sich jedoch schwer prognostizieren lässt, vor allem weil die dabei stattfindenden Prozesse zu wenig bekannt sind.322 Diese Beweisschwierigkeiten hinsichtlich des Eintritts einer Gefahr für die seelische Entwicklung haben jedoch keinen unmittelbaren Einfluss auf die Tatbestandsauslegung, sondern sind nach allgemeinen prozessualen Grundsätzen, insbesondere unter Berücksichtigung des Zweifelssatzes, zu lösen. Die Feststellung einer konkreten Gefahr dürfte die Gerichte in vielen Fällen auch nicht vor unüberwindliche Schwierigkeiten stellen,323 da durchaus Faktoren bekannt sind, bei deren Vorliegen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit mit Traumatisierungsfolgen zu rechnen ist.324 Liegen entsprechende Umstände vor, kann ohne Verstoß gegen den Zweifelssatz eine 319 Teilweise wird problematisiert, dass die Kausalität eines sexuellen Missbrauchs für aufgetretene Traumatisierungsfolgen wegen möglicher Alternativursachen Schwierigkeiten aufwerfe (Bennemann, Strafbarkeit, S. 51). Tatsächlich stellt sich dieses Problem nicht in der angenommenen Schärfe, da Mitursächlichkeit des Missbrauchs genügt, um den Zurechnungszusammenhang herzustellen. 320 Vgl. LK / Hörnle, § 176a Rn. 43; Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176a Rn. 23; MK / Renzikowski, § 176a Rn. 27. 321 Vgl. Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176a Rn. 21, 23. 322 Matt / Renzikowski / Eschelbach, § 176a Rn. 23. 323 Eher pessimistisch äußern sich jedoch MK / Renzikowski, § 176a Rn. 27; ders., NStZ 1999, 440 (441); Schönke / Schröder / Eisele, § 176a Rn. 10. 324 Bange, Die dunkle Seite der Kindheit, S. 138 ff.; ders. / Deegener, Sexueller Mißbrauch an Kindern, S. 68 ff.; Beitchman / Zucker / Hood / DaCosta / Akman, Child Abuse & Neglect 1991, 537 (547 ff.); Beitchman / Zucker / Hood / DaCosta / Akman / Cassavia, Child Abuse & Neglect 1992, 101 (109 ff.); Beier / Bosinski / Loewit, Sexualmedizin, S. 561; Browne / Finkelhor, Psychological Bulletin 1986, 66 (72 ff.); Campbell, Der intrafamiliäre sexuelle Kindesmißbrauch, S. 139 ff.; Engfer, in Egle / Hoffmann / Joraschky, Sexueller Mißbrauch, Mißhandlung, Vernachlässigung, S. 3 (17); Görgen / Rauchert / Fisch, FPPK 2012, 3 (11); Schmidt, in Egle / Hoffmann / Joraschky, Sexueller Mißbrauch, Mißhandlung, Vernachlässigung, S. 663 (674); Schneider, Kriminalistik 1997, 458 (463 f.).
II. Zu Einzelfragen der Normauslegung der §§ 176, 176a StGB 335
konkrete Gefahr bejaht werden, weil es „vom Zufall abhängt“, ob es tatsächlich zu Entwicklungsschäden kommt.325 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die dogmatische Einordnung der Qualifikation des § 176a Abs. 2 Nr. 3 StGB nicht die von der herrschenden Meinung angenommenen Schwierigkeiten bereitet, wenn zugrunde gelegt wird, dass der Grundtatbestand bereits die bloße Verletzung des Rechtsguts der sexuellen Integrität pönalisiert. Die von der Qualifikation verlangte konkrete Gefahr von erheblichen körperlichen oder psychischen Schäden stellt eine rechtlich klar abgrenzbare Vertiefung des Unrechts dar. Probleme können allerdings auf der Ebene der Beweisbarkeit auftreten, vor allem wenn sich die Gefahr (noch) nicht realisiert hat.
325 LK / Hörnle, § 176a Rn. 43; NK / Frommel, § 176a Rn. 5 ff., 13; a. A. MK / Renzikowski, § 176a Rn. 27.
E. Schlussbetrachtung Das selbst gesetzte Ziel dieser Arbeit bestand darin, einen Beitrag zum besseren Verständnis der Vorschrift des § 176 StGB zu leisten. Zu diesem Zweck sollte das Rechtsgut der Vorschrift als anerkanntes Hilfsmittel der Auslegung fruchtbar gemacht werden. Es hat sich dabei zunächst gezeigt, dass die erforderliche Klarheit über den Rechtsgutsbegriff nicht besteht, vor allem weil dieser in der Strafrechtswissenschaft zwei Herren zu dienen hat. Einhergehend mit der Heranziehung des Rechtsguts im kriminalpolitischen Kontext wurde in den letzten Jahrzehnten die Auseinandersetzung mit dem Rechtsgut als Hilfsmittel der Auslegung vernachlässigt. Dementsprechend wurde sich in dieser Arbeit zunächst um die nähere Konturierung des systemimmanenten Rechtsgutsbegriffs bemüht. Dabei zeigte sich, dass ein richtig konstruiertes Rechtsgut zwar ein wertvolles Hilfsmittel der Auslegung ist, jedoch stets auch die Grenzen des dogmatischen Nutzens des Rechtsgutsbegriffs zu beachten sind. Auf dieser Grundlage konnte die Annäherung an das Rechtsgut des § 176 StGB erfolgen. Dabei zeigte sich, dass die in der Literatur vertretenen Rechtsgutsauffassungen weder inhaltlich noch formal überzeugen. Dies wurde zum Anlass für die Entwicklung einer eigenen Rechtsgutsauffassung genommen. Diese führte zu dem Ergebnis, dass § 176 StGB das Rechtsgut der „sexuellen Integrität“ schützt. Anhand ausgewählter Einzelfragen der Normauslegung des § 176 StGB konnte gezeigt werden, dass mithilfe dieses Rechtsguts häufig tragfähigere Auslegungsergebnisse erzielt werden können als bei Zugrundelegung anderer Rechtsgutsauffassungen. Es erstaunt, dass in der Strafrechtswissenschaft die sexuelle Integrität nicht als Rechtsgut des § 176 StGB zu dessen Auslegung herangezogen wird. Ähnliche Rechtsgutsformulierungen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts insbesondere von Aaron ausgearbeitet und vertreten wurden, sind in Vergessenheit geraten. Stattdessen bemüht sich die strafrechtliche Literatur, die Unstimmigkeiten, die sich bei Zugrundelegung der „ungestörten (sexuellen) Entwicklung“ und der „sexuellen Selbstbestimmung“ als Rechtsgut des § 176 StGB ergeben, „wegzudiskutieren“. Der Hauptgrund für diese Situation liegt darin, dass die Rechtsgutsdiskussion im (Sexual-)Strafrecht seit der Nachkriegszeit von kriminalpolitischen Erwägungen geprägt ist, das Rechtsgut also zur Überprüfung der Legitimität
E. Schlussbetrachtung337
der Strafnorm herangezogen wird.1 Diese Überprüfung erfolgt überaus streng und kritisch, da die Normen des Sexualstrafrechts immer wieder im Generalverdacht stehen, unzulässigerweise Moralvorstellungen zu schützen.2 Dadurch wird auch der Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern einer kritischen Prüfung ausgesetzt, obwohl seine Legitimität eigentlich außer Zweifel steht.3 Gleichwohl werden wegen des Generalverdachts im kriminalpolitischen Diskurs dieselben hohen Anforderungen an die Begründung der Legitimität des § 176 StGB gestellt wie an andere Normen des Sexualstrafrechts. Dies betrifft vor allem die empirische Überprüfung der Schädlichkeit des inkriminierten Verhaltens4, aber auch das theoretische Fundament der Normbegründung.5 Es ist nicht unproblematisch, wenn die Anforderungen an die Begründung der Legitimität der Strafnorm derart hoch angesetzt werden, denn damit wird leicht der Nährboden für krude politische Ansichten geschaffen. Vor allem wird dabei verkannt, dass in vielen anderen Bereichen des Strafrechts weit geringere Anforderungen an die Begründung der Legitimität der Normen gestellt werden. Würden in ähnlicher Weise wie bei § 176 StGB Anfragen an die empirisch belegbare Schädlichkeit bei anderen Normen gestellt, so könnte und müsste deren Legitimität in gleicher Weise in Zweifel gezogen werden.6 So dürften jedenfalls in den leichten Fällen einer einfachen Körperverletzung (§ 223 StGB) regelmäßig keine langanhaltenden psychischen oder körperlichen Schäden zu befürchten sein; gleichwohl wird die Legitimität des § 223 StGB nicht bestritten.7 Dies geschieht freilich vor dem Hintergrund eines anderen Rechtsgutes, nämlich dem der körperlichen Unversehrtheit. Aber müsste konsequenterweise der strafrechtliche Schutz der körperlichen Unversehrtheit nicht auch kritisch gesehen werden im Hinblick da rauf, dass in nicht wenigen Fällen deren Beeinträchtigung empirisch keine bereits im Rahmen der Monographie von Jäger (Rechtsgüterschutz). sei auf die Argumentationslinie von Jäger-Helleport (Konstruktive Tatverarbeitung, S. 39 f.) verwiesen. 3 s. aber Borneman, in König, Gestörte Sexualentwicklung bei Kindern und Jugendlichen, S. 120 ff., Lautmann, ZRP 1980, 44 (47); weitere Nachweise bei NK / Frommel, § 176 Rn. 2. 4 s. insoweit aus jüngerer Zeit Funcke-Auffermann, Symbolische Gesetzgebung, S. 112 ff. 5 s. insoweit insbesondere die Ausführungen von Schetsche, MSchrKrim 1994, 201 ff. 6 Zur Bedeutung kriminologischer Erkenntnisse für den Gesetzgeber jüngst auch Knauer, Schutz der Psyche, S. 133 ff. 7 Eine entsprechende Parallele zieht auch Wegener, MSchrKrim 1978, 203 (206); dem folgend Krück, MSchrKrim 1989, 313 (323). 1 So
2 Exemplarisch
338
E. Schlussbetrachtung
relevanten Folgen zeitigt? Hiergegen würde sicherlich eingewandt, dass die körperliche Unversehrtheit eben ein „Wert an sich“ ist, bei dem der strafrechtliche Schutz keiner weiteren Begründung bedarf.8 Auch im Vergleich zu anderen Normen zeigt sich, dass die Anforderungen, die mitunter an die Begründung der Legitimität bei § 176 StGB gestellt werden, sehr hoch sind. So soll der Straftatbestand des Kinderhandels (§ 236 StGB) nach einhelliger Auffassung „die ungestörte körperliche und seelische Entwicklung des Kindes“ schützen,9 also ein Rechtsgut, das dem von der herrschenden Meinung bei § 176 StGB zu Grunde gelegten sehr nahe kommt. Gleichwohl sieht sich der Tatbestand des Kinderhandels keiner kritischen Überprüfung seiner Legitimität ausgesetzt; vielmehr lässt man die Plausibilität der Annahme genügen, dass das tatbestandmäßige Verhalten die Entwicklung des Kindes abstrakt gefährdet.10 Allein mit den größeren Fallzahlen beim Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern im Verhältnis zum Kinderhandel wird sich diese Diskrepanz kaum erklären lassen. Es zeigt sich also, dass bei § 176 StGB im Vergleich besonders hohe Anforderungen an die Begründung der Legitimität der Norm gestellt werden. Bei Lichte besehen ist das empirische Fundament, auf das der Tatbestand des § 176 StGB gestützt werden kann, nicht geringer als bei anderen Normen, sondern es wird nur kritischer hinterfragt. Damit erweisen sich vor allem die Prämissen fragwürdig, die zu solchen Anfragen führen. Dies gilt insbesondere dann, wenn vor dem Hintergrund des Postulats „in dubio pro libertate“ eine unanfechtbare Beweisführung vom Staat bei der Pönalisierung von Verhaltensweisen verlangt wird.11 Die Unrichtigkeit dieses Postulats ergibt sich daraus, dass die Kriminalpolitik nicht nur die Folgen einer Pönalisierung für diejenigen in den Blick nehmen muss, die aufgrund einer 8 Zu „alltagstheoretischen Evidenzerlebnissen“ auch Nelles, Streit 1995, 91 (93). 9 BeckOK / Valerius, § 236 Rn. 1; Fischer, StGB, § 236 Rn. 1; Lackner / Kühl, § 236 Rn. 1; LK / Gribbohm (11. Aufl.), § 236 Rn. 4; MK / Wieck-Noodt, § 236 Rn. 1; Schönke / Schröder / Eser / Eisele, § 236 Rn. 1; SK / Wolters, § 236 Rn. 2; SSW / Schluckebier, § 236 Rn. 1; vgl. auch NK / Sonnen, § 236 Rn. 9. 10 Selbst in der umfangreichen Bestandsaufnahme von H.-J. Albrecht [Kinderhandel – Der Stand des empirischen Wissens im Bereich des (kommerziellen) Handels mit Kindern] wird der Frage nach den psychischen Folgen des Kinderhandels für das betroffene Kind nicht empirisch nachgegangen. 11 Kritisch bereits Amelung, ZStW 92 (1980), 19 (71); Arzt, Kriminalistik 1981, 117 (118); Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht BT, § 1 Rn. 6; Günther, JuS 1978, 8 (10); Laufhütte, JZ 1974, 46 (49); vgl. auch Ilg, Der strafrechtliche Schutz, S. 49. Im Hinblick auf den fragmentarischen Charakter des Strafrechts und verfassungsrechtliche Anforderungen (Art. 2 Abs. 1 GG!) ist es freilich abwegig, ein Verbot für jedes nicht nachweislich unschädliches Verhalten zu verlangen (so aber Frühsorger, Straftatbestand, S. 23).
E. Schlussbetrachtung339
Strafvorschrift bestraft werden könnten. Sie muss vielmehr als Kehrseite auch bedenken, welche Folgen es für potentielle „Opfer“ hat, wenn eine Strafvorschrift nicht geschaffen beziehungsweise abgeschafft wird. Dem „Gewinn“ für die eine Seite steht ein „Verlust“ für die andere Seite gegenüber und es ist Aufgabe des Gesetzgebers insoweit Freiheitsräume gegeneinander abzugrenzen.12 Straffreiheit kann daher aus prinzipiellen Gründen allenfalls für solche Verhaltensweisen gefordert werden, bei denen außer Zweifel steht, dass es keine „Opfer“ gibt – so wie bei einigen früheren Vorschriften des Sittlichkeitsstrafrechts. Im Übrigen hat der demokratisch legitimierte Gesetzgeber die Entscheidungsprärogative, wie er die Abwägung zwischen den Freiheitsräumen trifft.13 Deshalb trifft es auch zu, dass die Vorschrift des § 176 StGB „keineswegs unzulässig“ ist, nur weil sie „vor allem auf Hypothesen basiert“.14 Die Orientierung an den schädlichen Folgen des sexuellen Missbrauchs ist nicht nur im kriminalpolitischen Kontext kritisch zu sehen. Sie führt auch zu Schwierigkeiten im Umgang mit Opfern und Tätern in der Strafrechtspflege. Frommel formuliert für die Opfersicht zutreffend: „Nicht das sexuelle Selbstbestimmungsrecht, sondern die „ungestörte sexuelle Entwicklung“ stand im Vordergrund der Rechtsgutsüberlegung zur Zeit der Strafrechtsreform. § 176 n. F. ging also wieder […] von einem denkbar diffusen Rechtsgut aus. Diese Unklarheit wirkt bis heute kontraproduktiv. Kinder, die Aussagen über einen Mißbrauch machen, aber nicht „gestört“ wirken, werden nicht ernst genommen. Gestörte Kinder hingegen sind keine „brauchbaren“ Zeugen.“15
Anders ausgedrückt wäre es wichtig, den kindlichen Opfern zu vermitteln, dass ihre sexuelle Integrität unabhängig davon vom Strafrecht als wertvoll angesehen wird, ob sie unter deren Beeinträchtigung leiden oder diese „folgenlos weggesteckt“ haben. Umgekehrt ist den Tätern nahezubringen, dass die sexuelle Integrität als solche zu achten ist. Dies kann zwar mit 12 Arzt, Kriminalistik 1981, 117 (118). Nicht zu vergessen ist hierbei auch die „Tragik“, die § 176 StGB für pädophile Männer bedeuten kann (dazu NK / Frommel, § 176 Rn. 10; s. auch Schorsch, MSchrKrim 1989, 141 ff.); diese ist jedoch hinzunehmen. Zugleich kann versucht werden, pädophile Männern präventiv beim Umgang mit ihrer sexuellen Orientierung zu unterstützen, wie es beispielsweise beim Charité-Projekt „Kein Täter werden“ geschieht (www.kein-taeter-werden.de; letzter Abruf: 31.07.2014). 13 Vgl. auch Schroeder, Das neue Sexualstrafrecht, S. 43: „Solche Tatbestände sind zulässig, da der Grundsatz „in dubio pro reo“ […] nicht auf die Gesetzgebung übertragen werden kann und wegen der Vorwarnung des Täters auch nicht übertragen zu werden braucht.“ s. auch Schroeder, ZRP 1971, 14. 14 SK / Wolters, § 176 Rn. 2. 15 Frommel, in Salgo, Vom Umgang der Justiz mit Minderjährigen, S. 31 (35) = KritV 1995, 177 (181).
340
E. Schlussbetrachtung
Überlegungen zur Einwilligungs- und Einsichtsfähigkeit, zu Machtdiskrepanzen und Folgen solcher Handlungen untermauert werden.16 Wichtig erscheint aber, den Eigenwert der sexuellen Integrität in den Vordergrund zu rücken, also deutlich zu machen, dass diese wie die körperliche Integrität oder die Freiheit unabhängig davon zu achten ist, welche Konsequenzen ihre Beeinträchtigung in concreto hat. In dogmatischer Hinsicht führt dies zunächst dazu, dass die sexuelle Integrität als solche als Rechtsgut des § 176 StGB anzusehen ist. Eine weitere Konsequenz dieser Sichtweise ist, dass § 176 StGB als Verletzungsdelikt und nicht „bloß“ als abstraktes Gefährdungsdelikt zu konzipieren ist. Durch eine sexuelle Missbrauchshandlung wird das Kind eben in seiner sexuellen Integrität unmittelbar verletzt. Gerade das Abstellen auf „Spätfolgen“ verdeutlicht, dass die Vorschrift des § 176 StGB allzu oft aus der Perspektive des Erwachsenen interpretiert wird. Danach gilt es, das Kind davor zu bewahren, dass es „später einmal“ unter der Tat leidet. Aber auch das Abstellen auf die „sexuelle Selbstbestimmung“ oktroyiert dem Kind eine Erwachsenen-Perspektive, denn seine Wünsche werden durch ein Wollen ersetzt, das aus Sicht der Erwachsenen sinnvoll oder vernünftig erscheint. Richtiger erscheint es, den Tatbestand des § 176 StGB aus der Sicht des Kindes zu begreifen, das Kind im „hier und jetzt“ als Träger eines Rechtsguts der sexuellen Integrität zu betrachten, das von jedermann zu achten ist. Eine solche kindzentrierte Sichtweise ermöglicht eine überzeugende Auslegung des § 176 StGB. Es steht daher zu wünschen, dass die sexuelle Integrität des Kindes als Rechtsgut des § 176 StGB künftig die Auslegung dieser Vorschrift leitet.
16 s. auch den berühmten Aufsatz von Finkelhor, American Journal of Orthopsychiatry 49 (1979), 692 mit dem Titel „What’s Wrong With Sex Between Adults and Children? Dem folgend LK / Hörnle, vor § 174 Rn. 61.
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