Das rationale Pflichtenrecht Christian Wolffs: Bedeutung und Funktion der transzendentalen, logischen und moralischen Wahrheit im systematischen und theistischen Naturrecht Wolffs [1 ed.] 9783428473687, 9783428073689


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German Pages 353 Year 1992

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Das rationale Pflichtenrecht Christian Wolffs: Bedeutung und Funktion der transzendentalen, logischen und moralischen Wahrheit im systematischen und theistischen Naturrecht Wolffs [1 ed.]
 9783428473687, 9783428073689

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BENEDICT WINIGER

Das rationale Pflichtenrecht Christian Wolffs

Schriften zur Rechtstheorie Heft 152

Das rationale Pflichtenrecht Christian Wolffs Bedeutung und Funktion der transzendentalen, logischen und moralischen Wahrheit im systematischen und theistischen Naturrecht Wolffs

Von

Bénédict Winiger

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Winiger, Bénédict: Das rationale Pflichtenrecht Christian Wolffs : Bedeutung und Funktion der transzendentalen, logischen und moralischen Wahrheit im systematischen und theistischen Naturrecht Wolffs / von Bénédict Winiger. - Berlin : Duncker und Humblot, 1992 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 152) Zugl.: Genf, Univ., Diss., 1991 ISBN 3-428-07368-1 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-07368-1

"Ohne Zweifel wollt ihr, daß Freiheit zu denken ungekränkt erhalten werde; denn ohne diese würde es selbst mit euren freien Schwüngen des Genies bald ein Ende haben"

I. Kant, Was heißt: Sich im Denken orientieren?

"Wie Schiffer sind wir, die auf offenem Meer ihr Schiff umbauen müssen, ohne je von unten frisch anfangen zu können. Wo ein Balken weggenommen wird, muß gleich ein neuer an die Stelle kommen, und dabei wird das übrige Schiff als Stütze verwendet. So kann das Schiff mit Hilfe der alten Balken und angetriebener Holzstücke vollständig neu gestaltet werden - aber nur durch allmählichen Umbau".

O. Neurath, Anti-Spengler

Vorwort In der gegenwärtigen Phase der europäischen Rechtsentwicklung, die sich zusehends von den säkularen Kodifikationen entfernt und nach Vereinheitlichung drängt, gewinnt die Frage, was das europäische Rechtsbewußtsein zusammenhält, eine neue Aktualität. Zwei lang verdrängte Gegebenheiten treten wieder ins Licht: dem Inhalt nach beruht die Grundschicht des europäischen Rechtes auf dem ius commune, dem gemeinen Recht, das als lingua franca keine Grenzen kannte, der Form nach entstammt sie dem rationalen Naturrecht, das ihr die Systemreife und Ausrichtung auf die ratio naturalis, die umfassende universelle Rechtseinheit verlieh. Auch noch im gegenwärtigen Prozeß der Rechtsvereinheitlichung formen diese beiden Elemente die Verständigungsbasis, die es ermöglicht, die europäischen nationalen Rechtsordnungen als Einheit zu verstehen und sich in ihnen rasch zurecht zu finden. Vielleicht sind die geschlossenen nationalen Kodifikationen, die an allen Ecken und Enden Risse zeigen, tatsächlich nur eine Zwischenphase auf dem Weg zu einem gemeineuropäischen Zivilrecht. Dem rationalistischen Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts verdanken wir zwei bleibende Einsichten, die im Werk Christian Wolffs in exemplarischer Weise hervortreten: das Recht ist vernünftig, denn das Maßbild der Natur ermöglicht es, Kriterien des wahren Rechtes aufzustellen. Zugleich aber ist das Recht werthaft, denn die Übereinstimmung mit der Natur verleiht ihm die natürliche Finalität zur Vollkommenheit. Die Natur ist der Wahrheits- und Pflichtrahmen des Rechtes. Gewiß haben die Naturrechtsjuristen diesen Rahmen zu rasch mit ihren hypertrophen Pflichtsystemen angefüllt, so daß die kritische Reaktion nicht ausbleiben konnte. Aber das Umschlagen des europäischen Rechtes in den nationalen Gesetzespositivismus und der Verzicht auf die gemeinsame übergreifende ratio naturalis, haben die europäische Rechtstradition nicht weniger gefährdet. Der Kernsatz des europäischen Rechtes: ius a iustitia

appellatum

galt

während Jahrhunderten unumstritten. Er dürfte heute wieder breiteres Gehör finden. Zwar sind wir nicht mehr gewillt, die Verbindung vom Recht zur Gerechtigkeit über den Naturbegriff herzustellen. Dennoch bestreitet niemand

8

Vorwort

ernsthaft, daß auch die Privatrechtsordnung an Grundrechte und Grundpflichten zu binden und in eine rationale Normenhierarchie einzuordnen ist. Rechtsbefugnis und Rechtspflicht werden wieder in eine direkte Beziehung gebracht. Ohne der naiven Rechtsyllogistik Wolffs zu folgen, verfehlen Naturrechtslehrsätze, wie die folgenden, nicht ihren Effekt. "Da uns nun deswegen ein Recht gegeben wird,

damit wir der

Verbindlichkeit ein Genügen leisten können, so ist das der rechte Gebrauch des Rechts, welchen die Pflichten erfordern" (Grundsätze, § 66). "Da die Nachkommen Menschen sind, die an unsere Stelle nach unserm Tode kommen, die Menschen aber mit verbundenen Kräften sich und ihren Zustand vollkommen zu machen verbunden sind; so sind wir verbunden alles zu thun, was wir zum Vortheil der Nachkommen thun können, z.E. wenn wir uns bemühen, daß die Wissenschafften, Künste und Tugenden auf dieselben fortgepflantzt werden, daß ihnen keine fruchtbringenden Bäume, noch auch wilde zur Holtzung fehlen" (Grundsätze, § 832). Das barocke Naturrechtssystem Wolffs stellt den letzten großen Versuch dar, die kosmologische, vernünftige und moralische Natur von Welt und Mensch in eine umfassende Ordnung zu stellen. Ens et bonum convertuntur: dieses aus der scholastischen Transzendentalienlehre stammende Prinzip übersetzt Wolff in das Prinzip einer universalen, vollkommenen Ordnung, nach der alles Naturhafte strebt und der alles Geistige verpflichtet ist. Hier setzt die Arbeit Winigers ein. Er zeigt die Systemlinien auf, die den Kern

des

Naturrechtssystems

bilden.

Das

Naturrecht

als

Teil

der

Moralphilosophie verwandelt sich in ein rationales Pflichtenrecht, das auf einem

dreifachen

Wahrheitsbegriff

ontologischen Wahrheit

beruht:

auf

der

transzendental-

als der Übereinstimmung der geschaffenen Welt mit

dem Schöpfungsplan, auf der logischen Wahrheit

als Übereinstimmung der

apriorischen Vernunfterkenntnis und der aposteriorischen Erfahrung und schliesslich auf der axiologischen

Wahrheit, die unser Handeln nach

vernunftgemäßen Regeln bestimmt. Winiger stellt dieses System in seinen historischen Zusammenhang und zeigt die Verbindung zu Leibniz, Grotius und Pufendorf auf, ohne die das Werk Wolffs nicht hätte entstehen können. Der Ausblick auf die aus der Naturrechtstradition schöpfenden Kodifikationen, denen Winiger im letzten Teil seiner Arbeit nachgeht, ermöglicht es, Bleibendes und Vergängliches im Werk Christian Wolffs zu unterscheiden. Den systematischen Aufbau des Woffschen Rechtsystems, seine

Vorwort

Voraussetzungen und sein Weiterwirken in minuziöser Weise aufgezeigt zu haben, ist das Verdienst dieses Beitrages zur europäischen Rechtsgeschichte. Man

mag

mit

einigem

Befremden

vor

den

Lehrgebäuden

der

Aufklärungszeit stehen. Ihr Naturbegriff und ihre vernünftelnde Sprache sind nicht mehr die unseren. Entfernt man aus ihnen jedoch die historische Stukkatur, so wird sichtbar, daß in diesen Rechtssystemen dennoch die Probleme aufscheinen, die unter anderen Umständen und im wandelnden Spektrum der Geschichte wiederkehren: Die äußere Natur als Pflichtobjekt unseres Umweltverhaltens, die vernünftige Natur als Gegenpol zu fundamentalistischen und diskriminatorischen Strömungen in unserer Gesellschaft und die Pflichtnatur des Menschen, die in unseren modernen Grundrechtskatalogen wieder erstehen. Die Zeit der Aufklärung ist noch nicht zu Ende.

Prof. Bruno Schmidlin

Avant-Propos Cet ouvrage, mis à jour au 31 octobre 1991, a été présenté comme thèse de doctorat (No. 686) à la Faculté de Droit de l'Université de Genève qui en a autorisé le 29 octobre 1991 l'impression sans avoir émis par là aucune opinion sur les propositions qui s'y trouvent énoncées.

Je tiens à remercier mon directeur de thèse, le professeur Bruno Schmidlin, pour l'engagement exceptionnel qu'il a pris au cours de la rédaction de ce travail ainsi que pour les suggestions importantes qu'il y a apportées.

Mes remerciements vont également au co-directeur de ma thèse, le professeur Alfred Dufour, pour ses commentaires et conseils précieux.

Et je remercie très chaleureusement mon amie et épouse Anastazja pour son soutien moral et l'attitude critique qu'elle m'incitait à garder face à mon travail.

Bénédict Winiger

Inhaltsverzeichnis

Α. Allgemeine Einführung Β.

21

Historische Einführung zum Wahrheitsbegriff und zum theistischrationalistischen Naturrecht

25

1. Hugo Grotius (1583-1645) 1 .Gott als causa omnium a) Attribute Gottes: Perfectio

30

und omnipotentia

b) Herrschaft Gottes: Universum a Deo regi 2.Naturrecht und Vernunft

31 31 32 34

a) Formen des Rechts: Gottliches Recht, Naturrecht und positives Recht aa) Definition des jus als das Gerechte bb) Definition des göttlichen, des positiven und des Naturrechts b) Erkenntnisquellen und Erkenntnisformen des Naturrechts: Erkenntnis a prion

35 35 36

und a posteriori c) Der Bezug zwischen Rationalität, Theologie und Recht: Etiamsi daremus

38

I I . Samuel Pufendorf (1632-1694)

42

46

3.Voluntaristische Theologie und Rationalität als Grundlegung des Naturrechts a) Gott als creator und gubemator liber b) Impositio: Entstehung der entia moralia

48 48 50

c) Scienti a moralis und ratio: Erkenntnis der Norminhalte mittels der Vernunft

51

d) Demonstratio und Naturrecht

53

4.Pflichtenlehre: Zentrale Bedeutung der Pflicht in Pufendorfs Naturrecht

54

a) Bedeutung des Pflichtbegriffs im Naturrecht

54

b) Definition der Pflicht

55

c) Bestimmung der Pflichtinhalte

56

5.Moralische Handlung und moralische Wahrheit im Naturrecht Pufendorfs a) Actio moralis: Freie, nach dem Gesetz bestimmte Handlung

60 60

b) Moralische Wahrheit: Allgemeine und rechtsspezifische Bedeutung

61

nsverzeichnis

14

I I I . Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716)

65

6.Beste aller möglichen Welten: Ratio und Natura als Grundbegriffe des Naturrechts bei Leibniz

66

a) Vollkommenheit als oberster Naturrechtsbegriff

67

b) Ratio enim anima legis est: Unveränderbarkeit des Rechts c) Jus und justitia:

70

Bestimmung des Gerechtigkeitsbegriffs

durch die recta ratio 7.Naturrecht und Beweis: Begriff, Urteil und Schluß a) Demonstratio und logischer Schluß im Recht b) Begriffs- und Urteilstheorie

73 78 77 80

C. Wahrheitsbegriffe und Rechtsbegriffe in Wolffs Naturrecht. Ihre konstitutive Funktion im Naturrecht

85

I V . Transzendentale Wahrheit und materiale Grundbegriffe des Naturrechts. Richtigkeit der Nonn- und Handlungsinhalte

86

8.Definition der transzendentalen Wahrheit a) Transzendentale Wahrheit als Begriff ontologischer Ordnung

86 87

b) Zureichende Begründung der transzendentalen Wahrheit in der Wesensordnung

89

c) Regelform der transzendentalen Wahrheit

90

d) Unterwerfung der transzendentalen Wahrheit unter die Satze des Widerspruchs und des zureichenden Grundes 9.'Natur' als materialer Grundbegriff des Naturechts a) Definition der Natur als causa efficiens

92 95 96

aa) Natur als Prinzip der Bewegung und Veränderung

97

bb) Die Natur des Körpers als bewegende Kraft

99

cc) Die Natur der Seele als vorstellende Kraft

101

b) Die zureichende Begründung der Natur des Dinges durch das Wesen des Dinges aa) Das Wesen als Ordnungsprinzip der Natur

103 105

bb) Das Wesen des Körpers des Menschen

107

cc) Das Wesen der Seele des Menschen

108

c) Die grundlegende Funktion von 'Natur und Wesen' im Naturrecht: Das Maß der Norminhalte

109

aa) 'Natur und Wesen' des Menschen als grundlegende Begriffe des Naturrechts

110

bb) Natur als Ausdruck von Moral und Recht

113

10. 'Gut' und 'Böse' als Ausdruck der Übereinstimmung und des Widerspruchs einer Handlung mit der Natur

115

a) Definition von 'gut' und 'böse' anhand der Ordnung der Natur

115

aa) 'Gut' und 'böse' als Bezugsbegriffe zwischen Naturordnung und Handlungsinhalt

116

bb) Verschiedene Arten von 'gut' und 'böse'

116

nsverzeichnis

b) Erkenntnis des Guten und Bösen durch sinnliche Lust und Unlust

122

aa) Bestimmung des Willens und der freien Handlung gemäß dem Guten

123

bb) Die Rolle der Erfahrung bei der Erkenntnis des Guten

126

11. Transzendentale Wahrheit der Norm: Ein ontologisch richtiger Ausdruck der Schöpfung

129

a) Zusammenhang zwischen Ontologie, praktischer Philosophie und Naturrecht

130

aa) Ontologie als Ausdruck von Natur und Wesen

131

bb) Praktische Philosophie als Wissenschaft der freien Handlung

132

cc) Naturrecht als Wissenschaft des Rechts und der Verbindlichkeiten

137

b) Ontologische und deontologische Ordnung der Natur: Ontologie als Ausdruck der Möglichkeit

138

aa) Ontologische Ordnung als Ordnung der Möglichkeiten des Seienden bb) Ontologische Ordnung als Maß deontologischer Ordnung c) Transzendentale Wahrheit und Norminhalt

138 139 141

aa) Transzendentale Wahrheit: Richtiger Ausdruck der Ordnung in der Natur

141

bb) Transzendentale Wahrheit als Kriterium fur den naturrechtlichen Norminhalt

142

d) Aposteriorische und apriorische Erkenntnis der transzendentalen Ordnung

143

aa) Naturerkenntnis a posteriori

und a priori

bb) Apriorität der Normerkenntnis V.

Logische Wahrheit und formaler Aufbau des Naturrechts

12. Definition der logischen Wahrheit

143 151 154 154

a) Nominaldefinition der logischen Wahrheit

156

b) Realdefinition der logischen Wahrheit

158

13. Wahrheitskriterium und Wahrheitserkenntnis der logischen Wahrheit a) Das criterium

163 logischer Wahrheit: Unterscheidbare Merkmale

in der Sache und deutliche Begriffe in der Proposition

164

b) Wahrheitserkenntnis anhand des zureichenden Grundes: Grundlegende Funktion des Satzes des zureichenden Grundes in der praktischen Philosophie

166

14. Systematischer Aufbau des Naturrechts: Die Normenhierarchie a) Lex Naturae als Ausgangsbegriff des Naturrechts

170 171

aa) Lex Naturae und ratio: Zureichende Begründung der Norm in der ontologischen Ordnung

174

bb) Lex Naturae als Ausdruck des göttlichen Willens cc) Naturgesetz und Handlungsbestimmung b) 'Verbindlichkeit' {obligatio)

als Grundzug des Gesetzes

177 181 185

aa) Inhaltsbestimmung der Verbindlichkeit (