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German Pages 119 [120] Year 1966
JOACHIM BIRKE CHRISTIAN WOLFFS METAPHYSIK UND DIE ZEITGENÖSSISCHE LITERATUR- UND MUSIKTHEORIE
QUELLEN UND F O R S C H U N G E N ZUR SPRACH- UND KULTURGESCHICHTE DER GERMANISCHEN VÖLKER
BEGRÜNDET VON BERNHARD TEN BRINK UND WILHELM SCHERER
NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON HERMANN KUNISCH 21 (145)
B E R L I N 1966 W A L T E R D E G R U Y T E R & CO VORMALS G. J . GDSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG — J . GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J . TRÜBNER — VEIT & COMP.
CHRISTIAN WOLFFS METAPHYSIK UND DIE ZEITGENÖSSISCHE
LITERATUR-
UND
MUSIKTHEORIE: GOTTSCHED, SCHEIBE,
MIZLER
VON
JOACHIM
BIRKE
IM A N H A N G : NEUAUSGABE ZWEIER MUSIKTHEORETISCHER TRAKTATE AUS DER MITTE DES 18. JAHRHUNDERTS
B E R L I N 1966 WALTER D E G R U Y T E R & C O VORMALS G. J. GDSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG — J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J. TRÜBNER — VEIT & COMP.
Archiv-Nr. 43 30 66/3
© Copyright 1966 by Walter de Gruyter 8c C o . , vormals G . J . Gös dien'sehe Verlagshandlung J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung
—
Georg Reimer —
K a r l J . Trübner —
V e i t 8c Comp.
Printed in Germany. — Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanisdien Wiedergabe, Herstellung von Mikrofilmen, audi auszugsweise, vorbehalten. Satz und Druck: Thormann ßc Goetsch, Berlin 44
— — der
MEINEN
ELTERN,
ALBERT U N D G E R T R U D IN DANKBARKEIT
BIRKE,
I N H A L T
IX
Vorwort KAPITEL I :
Christian Wolffs Metaphysik als Ausgangspunkt einer neuen Kunsttheorie KAPITEL
II:
Gottscheds poetische Grundbegriffe KAPITEL
21
III:
Johann Adolph Scheibes Critischer Musikus KAPITEL
1
49
IV:
Lorenz Mizlers Musikalische Bibliothek
67
Anhang Vorbemerkung
83
I. „Erörterung der Frage: Warum zwo unmittelbar auf einander folgende Quinten und Octaven in der geraden Bewegung nicht wohl ins Gehör fallen" 84 II. Ernst Gottlieb Baron, Abriß einer Abhandlung Melodie (Berlin, 1756)
von der 91
Bibliographie
97
Namenregister
103
Sachregister
105
VORWORT In seinem bedeutsamen Buch Die Philosophie der Aufklärung (Tübingen, 1932) schreibt Ernst Cassirer über die Ausgangsposition der deutschen Ästhetik: „Wenn man die Entwicklung der d e u t s c h e n Ä s t h e t i k im achtzehnten Jahrhundert mit dem Gange der französischen und der englischen Ästhetik vergleicht, so tritt sofort ein charakteristischer Unterschied in der gedanklichen Grundtendenz und in der geistigen Gesamtstimmung hervor. . . . Zum erstenmal stellt sich jetzt die gesamte Problematik des Ästhetischen unter die Leitung und gewissermaßen unter die Obhut der s y s t e m a t i s c h e n P h i l o s o p h i e . " 1 Der systematische Geist, der der deutschen Philosophie von Leibniz eingepflanzt worden sei, habe „seine Ausbildung und seine strenge Schulung durch die Lehre Christian Wolfis" erfahren. „Eine derartig strenge Zucht, eine solche theoretische ,Disziplin' der Ästhetik hat weder in Frankreich noch in England bestanden."8 In der folgenden Studie wird versucht, den Einfluß der deutschen Metaphysik Wolfis auf die Werke dreier Kunsttheoretiker, die sich alle uneingeschränkt zur Philosophie Wolfis bekennen, nachzuweisen. Es sei zunächst begründet, warum die Wahl auf Gottsched und seine Schüler Mizler und Scheibe, also auf einen sehr begrenzten Kreis fiel, obwohl doch in fast jeder Geschichte der Ästhetik zu lesen ist, daß die eigentliche deutsche Ästhetik mit Alexander Gottlieb Baumgarten beginnt. Das mag zutreffen, solange man unter Ästhetik eine philosophische Disziplin versteht, die sich mit der sinnlichen Anschauung der Kunst schlechthin beschäftigt. Bezieht man jedoch die an der systematischen Philosophie orientierte Poetik und Musiktheorie mit ein, dann ist die deutsche Ästhetik etwa mit Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730) 3 anzusetzen, wie im 2. Kapitel gezeigt wird. Dieses heißumstrittene Werk, dessen Bedeutung erst in jüngster Zeit erkannt wurde,4 im Lichte der Wölfischen Philoa. a. O., S. 444. ebd., S. 445. * Weitere Auflagen erschienen 1737, 1742 u. 1751. 4 Es würde zu weit führen, hier ausführlich auf die Geschichte der Gottsdiedforsdiung einzugehen. Für verdienstvoll halte idi die Arbeiten von Danzel, Markwardt und S. v. Lempicki. Die beiden großen Gottsched-Biographien von 1
2
X
Vorwort
sophie zu untersuchen, schien mir in Hinblick auf das noch immer überwiegend schablonenhafte Urteil ein dringendes Bedürfnis zu sein, zumal Gottsched sich nicht nur als Poetiker, sondern auch als Popularisierer Wolfis einen Namen gemacht hat. Trotz des Siegeszuges der Gefühlsseligkeit, den der verbitterte Aufklärer noch miterlebte, führten seine Werke in deutschen Schulstuben ein zählebiges Dasein. Die Forschung kann es sich meines Erachtens nicht erlauben, sie als verschrobene Produkte der ohnehin verdächtigen Zopfzeit abzutun. Das Beispiel der Barockforschung beweist zur Genüge, daß es sich lohnt, die subjektiv verfärbte ästhetische Brille abzusetzen und unvoreingenommen in die Eigenart einer uns heute gefühlsmäßig fremden Welt einzudringen, die zwar angeblich keine große Literatur, aber immerhin einen Giganten wie Bach hervorbrachte, der zur gleichen Zeit wie Gottsched in Leipzig lebte. Auch für die Wahl der Musiktheoretiker Mizler und Scheibe lassen sich Gründe beibringen. Beide standen nachweislich unter dem Einfluß Gottscheds. Vielleicht gehörten sie sogar zu seinem Schülerkreis. Obgleich es ihnen nicht gelang, ihre von der Dichtkunst inspirierte Musiktheorie in ein geschlossenes System zu bringen, spricht manches dafür, daß sie die strenge Zucht der systematischen Philosophie auf die Musiktheorie anwenden wollten. Gottsched, Mizler und Scheibe gingen von den gleichen Voraussetzungen aus und verfolgten die gleichen Intentionen. Mizler und Scheibe empfingen ihre Anregungen von Gottsched. Diese in der Geschichte seltenen Umstände, daß ein Poetiker, der in Neuland vorstieß, auf die Musiktheorie einwirkte, forderten zu einem Vergleich heraus, der in der vorliegenden Studie angestrebt wird. Sie soll nicht etwa eine Geschichte der Ästhetik sein, sondern sie ist auf den engen Themenkreis beschränkt. Im 1. Kapitel wird untersucht, welche für die Ästhetik fruchtbaren Ansätze in Wolffs deutscher Metaphysik enthalten sind. Im Mittelpunkt der drei folgenden Kapitel stehen Gottscheds Critische Dichtkunst, Scheibes Critischer Musikus und Mizlers Neu eröffnete Musikalische Bibliothek. Es ging mir darum, in allen drei Werken den Einfluß Wolffs nachzuweisen. Die beiden Anhänge sollen demonstrieren, daß Gedankengut und Terminologie Wolffs auch in andere Schriften zur Musiktheorie eindrangen. Die Schule Baumgarten-Georg Friedrich Meier bleibt hingegen unberücksichtigt. Die Darstellung ist referierend und kommentierend, wobei die Autoren in langen Zitaten selbst zu Worte kommen. Ich bin mir bewußt, daß dieses „Nacherzählen" seine Schwächen hat. Wenn man jedoch nicht Waniek und Reichel dürften wohl überholt sein. Wanieks Unvermögen, sich in die Gottschedzeit einzufühlen, stößt genau so ab wie Reichels hochgestochene Vergötterung des Meisters. Weder mit Gehässigkeit noch mit einer blindwütigen Ehrenrettung ist der Gottschedforschung gedient. — Genaue Titel sind in der Bibliographie nachzuschlagen.
XI
Vorwort
nur auf den Inhalt, sondern auch auf die Form der Darbietung sieht, z. B. auf das z. T . holprige Deutsch und die verschrobene Orthographie Wolfis und Mizlers, dann wird man auch in der sprachlichen Unsicherheit, in der sich das Ringen um Ordnung und Ausdruck widerspiegelt, eine nicht unwesentliche Eigentümlichkeit dieser Zeit erkennen. Die Vorarbeiten zu diesem Büchlein entstanden während eines Studienaufenthaltes in Deutschland (1963/64), den mir ein großzügiges Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft ermöglichte. Unbeschwert von den Belastungen des Broterwerbs konnte ich midi endlich einmal ganz der Forschung widmen. Den verantwortlichen Herren möchte ich an dieser Stelle meinen herzlichsten Dank aussprechen. Dank gebührt auch Herrn Professor Dr. Heinrich Husmann, der mir die Bibliothek des musikwissenschaftlichen Seminars der Universität Göttingen zur Verfügung stellte, und den Beamten der Göttinger Universitätsbibliothek, insbesondere Frau Christel Hinze. Herr Professor Dr. P. M. Mitchell von der University of Illinois führte midi in die Probleme der Gottschedforschung ein. Ihm gilt mein besonderer Dank. Meine geduldige Frau und Sigrid Weinmann unterstützten mich beim Nachprüfen der Zitate. Ann Arbor, Michigan Im Juni 1965
Joadiim Birke
I.KAPITEL C H R I S T I A N WOLFFS M E T A P H Y S I K ALS A U S G A N G S P U N K T EINER NEUEN KUNSTTHEORIE Von Kant stammt vielleicht das gerechteste Urteil, das über den Eklektiker Wolff gefällt wurde. In der Vorrede zur 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1787) rühmt er ihn als den „Urheber des bisher noch nicht erloschenen Geistes der Gründlichkeit in Deutschland." Er habe überzeugend demonstriert, „wie durch gesetzmäßige Feststellung der Prinzipien, deutliche Bestimmung der Begriffe, versuchte Strenge der Beweise, Verhütung kühner Sprünge in Folgerungen der sichere Gang einer Wissenschaft zu nehmen sei." 1 Was f ü r Kant bereits überwundene Historie ist, die aus sicherer Distanz bedächtig abgewogen werden kann, empfanden die Zeitgenossen Wolffs als Erlösung aus der Dumpfheit der verstockten orthodoxen Theologie, die in der Philosophie bestenfalls eine Hilfswissenschaft erblickte. Die Mehrheit der akademischen Jugend feierte Wolff als den Befreier des Geistes von der Sklaverei der überkommenen muffigen Dogmatik und Scholastik, die sich nicht mit dem neuen Weltbild, das die Naturwissenschaft entwickelt hatte, abfinden mochte. Das scheinbar lükkenlose System Wolffs schien eine Antwort auf jede Frage bereitzuhalten. Es zerstreute die Zweifel und wies einen Weg zur Mündigkeit und Freiheit des Geistes. Die Philosophie etablierte sich als selbständige Disziplin, die Grundlage und Ausgangspunkt aller übrigen Wissenschaften sein wollte. Auch Gottsched versteht sie so, wenn er schreibt: „Sie [die Weltweisheit] hält anfangs die ersten Grundsätze aller übrigen Künste und Wissenschaften in sich" und „gewöhnet . . . unsern Verstand zu deutlichen Begriffen, und zu gründlichen Beweisen: weswegen man sie auch vorher, nicht aber allererst nach andern Wissenschaften lernen muß." 2 Er knüpft mit dieser Feststellung an Wolff an, der bereits auf dem Titelblatt seiner 1
2
1
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hrsg. v. R a y m u n d Schmidt ( H a m burg, 1952), Philosophische Bibliothek Bd. 37 a, S. 31. Erste Gründe der gesummten Weltweisheit [theor. Tl.] . . . Siebente vermehrte und verbesserte Auflage . . . Leipzig . . . 1762, „Einleitung zur Weltweisheit überhaupt," § 15. Erstausgabe 1733. Birke
2
I. Kapitel
deutschen Metaphysik verspricht, von „allen Dingen überhaupt" zu handeln. In der Vorrede zur 2. Auflage (von 1721) umreißt er den Nutzen der Metaphysik weit präziser: „Man sehe die Moral, man sehe die Politick, ja, man sehe selbst diejenigen Versuche an, wodurch ich zu genauer Erkäntniß der Natur und Kunst den Weg bahne; so wird man finden, daß ich mich überall auf die Metaphysick beruffe . . ." 3 Wie viele andere hatte auch Gottsched in seiner Jugend die Lehren Wolfis enthusiastisch begrüßt. In der Vorrede zur 2. Auflage seiner Weltweisheit schildert er den nachhaltigen Eindruck, den Wolfis deutsche Metaphysik auf ihn machte: „Ich lernte . . . auch Herrn Hofrath Wolfs Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen kennen. Hier gieng mirs nun wie einem, der aus einem wilden Meere wiederwärtiger Meynungen in einen sichern Hafen einläuft, und . . . endlich auf ein festes Land zu stehen kömmt. Hier fand ich diejenige Gewißheit, so ich vorhin allenthalben vergeblich gesucht hatte . . . Nirgends habe ich diejenige Ordnung und Gründlichkeit gefunden, und nirgends habe ich mich mehr befriedigen können, als in Herrn Wolfs Schriften: Ungeachtet freylich hier und da einige Puñete übrig geblieben, darinn ich noch nicht völlig seiner Meynung habe beypflichten können." 4 Auch Lorenz Mizler steht ganz im Banne des Wölfischen Systems, für dessen mathematische Aspekte er eine besondere Vorliebe zeigt. Wie sehr er die neue Philosophie als radikale Umwälzung und Anbruch eines besseren Weltalters deutete, bezeugt die überschwengliche Einschätzung der Gegenwart: „Gluckseelige Zeiten! in welchen der menschliche Verstand sich hauptsächlich bemuhet, nutzliche Wahrheiten zu erfinden, solche brauchbar zu machen, und dagegen das unvollkommene auszurotten. Herrliche Denkmahle der Vernunft, wen sie die Unwissenheit, die Thorheit, die Einbildung, den Stolz, den Eigensinn, als heßliche Schandflecken der Menschen, zu vertilgen sich angelegen seyn lässet! Beneidenswurdige Nachkommen, die die Fruchte solcher klugen, aufmerksamen und fleisigen Voreltern geniesen!"5 Johann Adolph Scheibe äußert sich weniger enthusiastisch über die Gegenwart, in der er lebt, weil er noch manches an ihren Errungenschaften 5
4 5
Vernünfftige Gedancken Von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt . . . neunte Auflage . . . Halle . . . 1743, B o gen X X v . Weltweisheit, theor. T l . , 2. Aufl. (1736), Bogen [*7r] f . Musikalischer Staarstecher in welchem rechtschaffener Musikverständigen Fehler bescheiden angemerket, eingebildeter und selbst gewachsener sogenannten Componisten Thorheiten aber lächerlich gemachet werden . . . Leipzig [1740], 1. Stück, S. 2. In dem benutzten Exemplar fehlen z. T. die umlautenden Tremata.
"Wolffs Metaphysik als Ausgangspunkt einer neuen Kunsttheorie
3
a u s z u s e t z e n findet. T r o t z d e m e r k e n n t er a n , d a ß d e r K r i t i k j e t z t d a n k der Fortschritte der Philosophie verfeinerte Methoden zur V e r f ü g u n g stünden, die geeignet seien, die K ü n s t e u n d Wissenschaften z u verbessern. D e s h a l b f o r d e r t er v o m M u s i k t h e o r e t i k e r „eine gründliche Einsicht in die W e l t weisheit u n d i h r e T h e i l e . " 6 A u f W o l f i s P h i l o s o p h i e b e z i e h t er sich allerdings n u r z w e i m a l . I m m e r h i n v e r r a t e n seine „ d e m o n s t r a t i v i s c h e " L e h r a r t u n d seine deutsche T e r m i n o l o g i e , d a ß er d i e Schriften W o l f i s o d e r z u m i n d e s t Gottscheds, d e m er ja in m e h r f a c h e r H i n s i c h t verpflichtet ist, eingehend studiert hat. W i e sehr auch die G e n e r a t i o n j u n g e r , aufgeschlossener G e l e h r t e r dem S y s t e m W o l f i s h u l d i g t e , so beweist d a s noch nicht, d a ß seine P h i l o s o p h i e G e d a n k e n e n t h ä l t , die f ü r die K u n s t t h e o r i e f r u c h t b a r gemacht w e r d e n können. Wolff setzt seine E r ö r t e r u n g e n n u r a n v e r s c h w i n d e n d w e n i g e n Stellen in B e z i e h u n g z u r K u n s t . M i z l e r w ü n s c h t , „ d a ß die vielen B e m ü h u n g e n eines besonders g r u n d l i c h d e n k e n d e n Wolfs
i h n nicht a b g e h a l t e n h ä t t e n
d e r H a r m o n i c k einige Z e i t zu w i e d m e n ! " 7 Obgleich sich bei Wolff k a u m A n s ä t z e z u einer Ä s t h e t i k Metaphysik
finden,
e n t h ä l t insbesondere seine deutsche
manches, w a s die N e u o r i e n t i e r u n g
d e r deutschen
Kunst-
t h e o r i e a n r e g t e u n d schließlich i n d i r e k t z u r Ä s t h e t i k B a u m g a r t e n s f ü h r t e . Wesentliches K e n n z e i c h e n d e r W ö l f i s c h e n P h i l o s o p h i e ist i h r allgem e i n e r C h a r a k t e r , d e r d e n A n s p r u c h e n t h ä l t , f ü r alle speziellen V e r h ä l t nisse v e r b i n d l i c h z u sein. D i e R e l a t i o n allgemeiner philosophischer E r k e n n t n i s s e u n d A u s s a g e n z u r K u n s t f ü h r t n o t w e n d i g e r w e i s e z u Syllogismen, deren Wahrheitsgehalt angezweifelt werden kann, wie überhaupt jede D e d u k t i o n F r a g e n o f f e n l ä ß t . D e n n o c h erscheint diese M e t h o d e ger e c h t f e r t i g t , d a , w i e s p ä t e r z u zeigen sein w i r d , W o l f i s Zeitgenossen, die seine L e h r e f ü r p r a k t i s c h e Z w e c k e a u s w e r t e t e n , g e n a u so v o r g i n g e n . W ö l f l selbst g i b t i h n e n die Berechtigung d a z u , w e n n er schreibt: „ M e i n V o r h a b e n ist die Wissenschafften in bessere O r d n u n g u n d m e h r e r e G e w i ß h e i t z u b r i n g e n , d a m i t V e r s t a n d u n d T u g e n d z u r Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechts z u n e h m e . " 8 L e g t m a n sich n u n die F r a g e v o r , w a s W o l f i s S y s t e m f ü r d i e K u n s t wissenschaft z u leisten v e r m a g , d a n n müssen aus p r a k t i s c h e n G r ü n d e n z u nächst die verschiedenen A s p e k t e des K u n s t w e r k e s v o n e i n a n d e r geschieden w e r d e n , obgleich zwischen i h n e n eine u n a u f l ö s l i c h e organische V e r k n ü p • Johann Adolph Scheibens . . . Critischer Musikus. Neue, vermehrte und verbesserte Auflage. Leipzig . . . 1745, 3. Stück, S. 33. 7 Staarstecher, 1. Stück, S. 4. 8 Christian Wolffens . . . Erinnerung, Wie er es kiinfftig mit den Einwürffen halten will, Die Wieder seine Schrijften gemacht werden. Halle .. . 1743, § 1.
Die Schrift ist vom Dez. 1719 datiert. t*
4
I. Kapitel
fung besteht. Das Werk existiert ja nicht in einem Vakuum, sondern es steht in Beziehung zu den Intentionen seines Schöpfers, dem Schaffensvorgang und der Wirkung auf den Aufnehmenden. Dennoch empfiehlt sich der Anschaulichkeit halber, mit der Bestimmung des isolierten Werkes zu beginnen, wobei vorausgesetzt wird, d a ß ein solches in der Wirklichkeit existiert. Der Wirkung des opus und seiner Beziehung zum artifex sind dann weitere Untersuchungen gewidmet. Durch seine Wirklichkeit beweist das opus, daß es möglich ist, „da nichts würcklich werden kan, als was möglich i s t . . . so ist alles würckliche auch möglich, und kan man von der Würcklichkeit auf die Möglichkeit jederzeit ohne Anstoß schliessen."9 Damit gibt Wolff selbst eine Rechtfertigung der hier angewandten Methode an die H a n d . „Alles, was seyn kan, es mag würcklich seyn oder nicht, nennen wir ein Ding."10 Demzufolge ist ein jedes opus ein Ding, und zwar ein wirkliches, da sich seine Möglichkeit erfüllt hat. Im Sinne der Wölfischen Philosophie gelten somit die allgemeinen Aussagen, die ein Ding bestimmen, auch uneingeschränkt f ü r das Kunstwerk. N u n lehrt die Erfahrung, daß Dinge nicht gleich sind. „Wenn man . . . mancherley in einem Dinge von einander unterscheiden kan; so muß einiges unter ihnen den Grund in sich enthalten, warum das übrige ihm zukommet, und weil dieses nicht wiederum seinen Grund, warum das übrige ihm zukommet, in einem von den übrigen haben kan, wie es durch den Grund des Widerspruches sich gar leicht begreiffen lasset . . . so muß es ihm nothwendig zukommen. Denn, was nothwendig so ist, braucht keinen weiteren Grund, 1 1 warum es so ist. Nehmlich in jedem Dinge ist etwas nothwendiges, wodurch es in seiner Art determiniret wird, und das übrige hat seinen Grund darinnen." 1 2 Wolff argumentiert hier mit dem Satz des Widerspruchs und dem des zureichenden Grundes, um zu einem Schluß zu gelangen. Er sagt ja verschiedentlich nicht ohne Stolz, daß er stets von der sicheren Erfahrung ausgeht, auf die er die beiden H a u p t gründe der Vernunft anwendet. Mit jeder Folgerung ist der Grund aufgehoben, da sie innerhalb der Schlußkette selbst Grund wird. In diesem Fall gelangt er zu dem Schluß, daß einem jeden Dinge etwas Notwendiges innewohnt. „Dasjenige, darinnen der Grund von dem übrigen zu finden, was einem Dinge zukommet, wird das 'Wesen genennet. Wer also das Wesen eines Dinges erkennet, der kan den Grund anzeigen von allem, was ihm zukommet. Man erkennet aber das Wesen eines Dinges, wenn man 9
10 11 12
Vernünfftige Gedancken Von Gott, 9. Aufl., § 15. Wenn nicht anders vermerkt, folgen die Zitate dieser Auflage. ebd., % 16. Im Original verdruckt „ G r a n d . " ebd., § 32.
Wolfis Metaphysik als Ausgangspunkt einer neuen Kunsttheorie
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verstehet, wodurch es in seiner Art determiniret wird." 13 Das Sein eines Dinges setzt seine Möglichkeit voraus. „Daher ist das Wesen eines Dinges seine Möglichkeit, und derjenige verstehet das Wesen, welcher weiß, auf was für Art und Weise ein Ding möglich ist. Man weiß aber, wie etwas möglich ist, wenn man verstehet, wie es in seiner Art determiniret wird." 14 Der deutlichen Erkenntnis des Wesens kommt demnach eine überragende Bedeutung zu. Das macht es verständlich, warum Gottsched wenige Jahre später immer wieder die bohrende Frage nach dem Wesen der Poesie stellt und damit einen in der Poetik bisher unbekannten Begriff einführt, ja, eine radikal neue Perspektive aufzeigt, deren ganze Tragweite erst bewußt wird, wenn man die Konsequenzen, die sich aus Wolfis Bestimmung des Wesens ergeben, näher ins Auge faßt. Zunächst beweist er auf Grund seiner Voraussetzungen, daß das Wesen der Dinge notwendig ist. Etwas Notwendiges hat seiner Natur nach weder Anfang noch Ende, besteht also zumindest als Möglichkeit in Ewigkeit. „Da nun das Wesen der Dinge nothwendig ist . . . so ist dasselbe auch ewig, das ist, man kan keine Zeit setzen, da ein Ding hat angefangen möglich zu seyn, und da es aufhören wird möglich zu seyn." l : Damit erschöpft sich die Bestimmung des Wesens noch nicht. Als etwas Notwendiges muß es auch unveränderlich sein, d. h. es kann ihm nichts Fremdes mitgeteilt werden. Nicht unabsichtlich widmet Wolff der Bestimmung des Wesens einen so breiten Raum. Es wurde oben gesagt, in jedem Dinge befinde sich etwas Notwendiges, „wodurch es in seiner Art determiniret wird, und das übrige hat seinen Grund darinnen." Dieses Notwendige, das sich einzig aus dem Wesen begründen läßt, nennt Wolff die Eigenschaft oder Eigenschaften eines Dinges. Sie können von ihm nicht abgesondert werden, „und sind so wohl als das Wesen selbst unveränderlich . . . und dasjenige, was einem Dinge nothwendig . . . und also beständig zukommet."1® Obwohl Wolfis Definition der Eigenschaften eindeutig und unmißverständlich ist, bleibt die Frage offen, ob totale Beschaffenheit eines Dinges und Eigenschaft gleichzusetzen sind. Gottsched gibt in seiner Weltweisheit eine Antwort hierauf, wenn er die Beschaffenheit eines Dinges als die Summe von Eigenschaften und Zufälligkeiten definiert. Damit gibt er zu verstehen, daß an einem Dinge auch Qualitäten wahrzunehmen sind, die sich nicht aus seinem Wesen begründen lassen. Hierüber wird später zu sprechen sein. Hier könnte die Frage aufgeworfen werden, was denn die allgemeine Bestimmung von Wesen und Eigenschaften eines Dinges mit Poetik und 13
ebd.,
14
ebd., § 3 5 . ebd., § 4 0 . ebd., § 4 4 .
15 1S
§33.
6
I. Kapitel
Kompositionslehre zu tun habe. Eine befriedigende Antwort darauf zu geben, ist an dieser Stelle noch nicht möglich. Immerhin sei daran erinnert, daß man die Eigenschaften eines Dinges nur begründen kann, wenn man sein Wesen deutlich erkannt hat. Aus diesem Grunde beschäftigt sich Gottsched so eingehend mit dem Wesen der Poesie, das es aufzuspüren gilt, um zu verbindlichen Aussagen über ihre Eigenschaften zu gelangen. Die bisher allgemeinen Bestimmungen lassen sich weiter präzisieren. Wolff beginnt wieder bei der Erfahrung: „Alle . . . Dinge, deren wir uns als ausser uns bewust sind, bestehen aus vielen Theilen: denn wir finden in einem jeden vieles, so wir von einander unterscheiden können, und dieses viele zusammen genommen machet doch nur ein Ding aus, weil die Theile mit einander verknüpffet sind . . . Ein dergleichen aus vielen von einander unterschiedenen, aber in gewisser Ordnung auf einander folgenden und mit einander verknüpften Theilen bestehendes Ding, nennen wir ein zusammengesetztes Ding."17 Die Wörter, Sätze, Abschnitte, Strophen, Kapitel etc. sowie die Töne, Motive, Melodien, Sätze etc. sind Teile von musikalischen bzw. dichterischen Werken, f ü r die demnach die Bezeichnung „zusammengesetztes Ding" zutrifft. Außerdem existieren Kunstwerke „ausser uns." Hier könnte man einwenden, daß ein Dichter oder Komponist sein Werk in der Vorstellung vollendet haben kann. Dann wäre es wenigstens ihm innerhalb seines Vorstellungsvermögens bewußt. Diesem Einwand sei mit der Voraussetzung Woffs begegnet, die vom wirklichen Ding ausgeht. Das allein im Kopfe des Künstlers konzipierte Werk existiert nur als Möglichkeit eines zusammengesetzten Dinges, die sich noch nicht erfüllt hat. Somit kann man folgern, daß alle wirklichen Kunstwerke zusammengesetzte Dinge sind. Bei seiner Bestimmung des zusammengesetzten Dinges nennt Wolff auch den Begriff der Ordnung. Was er hierunter versteht, und in welcher Weise die Ordnung die Verknüpfung der Teile bestimmt, wird weiter unten zu erläutern sein. „Ein zusammengesetztes Ding ist dadurch möglich, daß gewisse Theile auf eine gewisse Art können zusammengesetzet werden . . . In der Art und Weise, wie etwas möglich ist, bestehet das Wesen eines Dinges . . . Derowegen bestehet das Wesen eines zusammengesetzten Dinges in Art der Zusammensetzung, und wer demnach diese sich vorstellen kan, der verstehet sein Wesen." 18 Hieraus folgert, daß, obgleich auch das Wesen eines zusammengesetzten Dinges ewig ist, das Ding selbst entstehen und aufhören kann zu existieren, da die Teile nicht notwendigerweise einen Ort einnehmen müssen, der ihre Verknüpfung verbürgt. 17 18
ebd., §51. ebd., § 59.
Wolfis Metaphysik als Ausgangspunkt einer neuen Kunsttheorie
7
Bei der Definition des zusammengesetzten Dinges nennt Wolff als die Kraft, die die Verknüpfung der Teile bewirkt, die Ordnung. Er bezeichnet also mit dieser bisher noch unbekannten Größe den zureichenden Grund f ü r die Verknüpfung. Soweit folgt er dem strengen logischen Verfahren. Die Erfahrung bestätigt nun, daß man ein zusammengesetztes Ding „als eines" empfindet. Die Sinne nehmen in erster Linie nicht mehr einzeln^ Teile wahr, sondern eher ein Ganzes, dessen Teile mehr oder minder, d. h. in unterschiedlichen Graden, zu einem geschlossenen Eindruck verschmelzen. Logischer Schluß und Erfahrung decken sich also. Bei der Bestimmung der O r d n u n g geht Wolff von der Erfahrung aus. indem er untersucht, auf welche Weise die Teile im Räume nebeneinander sind oder wie sie in der Zeit aufeinander folgen. Er betrachtet also das Verhältnis der mannigfaltigen Teile zueinander, und kommt zu dem Ergebnis, daß Ordnung dort herrsche, wo eine „Aehnlichkeit des mannigfaltigen in dessen Folge auf und nach einander" 1 ' vorhanden sei. Bezieht man diesen Satz auf eine Dichtung oder eine Komposition, dann kann man sagen, daß in einem Gedicht unzählige verschiedene Wörter auf eine bestimmte Art verknüpft sind, oder daß das Nacheinander von Tönen verschiedener Dauer, Tonhöhe und Intensität eine Melodie ergibt. Hier interessiert vor allem „die bestimmte A r t " der Verknüpfung, denn sobald man ihrer habhaft wird, erkennt man ja das Wesen eines zusammengesetzten Dinges. Diese Untersuchung muß f ü r jedes einzelne Ding gesondert durchgeführt werden und wäre in diesem Zusammenhang verfrüht. Allgemein läßt sich eine Ordnung erkennen, wenn man den Grund untersucht, „warum mannigfaltige Dinge auf diese Art neben einander sind, oder auf einander erfolgen." Man muß „dabey acht eeben, ob er einerley ist, oder auf einerley Art abwechselt . . . Auf solche Weise findet man in jeder Ordnung allgemeine Regeln, daraus sie beurtheilet wird. U n d wo man demnach ordentlich verfähret, richtet man sich nach Regeln." 80 Wolff vermischt hier zwei Vorgänge, nämlich den erkennenden und den schaffenden. Der erste setzt ein zusammengesetztes Ding voraus, dessen Ordnung es zu ermitteln gilt. Im zweiten gelangen bereits bekannte Regeln zur Anwendung, um eine Ordnung hervorzubringen. Der schöpferische Mensch muß also die Regeln kennen, um ein ordentliches Werk zu komponieren. Der Kritiker hingegen prüft, ob das Werk den Regeln entsprechend eingerichtet ist. Um was f ü r Regeln es sich dabei handelt, wird nicht untersucht. Hier interessiert zunächst nur, daß jede Ordnung ihre Regel besitzt. 19 20
ebd., § 132. ebd., § 140 f.
I. Kapitel
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Wesentlich Neues ist damit freilich nicht gesagt. Poetik und Kompositionslehre des Barock, also die ars schlechthin, besteht fast ausschließlich aus Regeln, deren Anwendung zum opus führen soll. Ja, die Theoretiker des 17. Jahrhunderts setzen ein unverbrüchliches Vertrauen in die Regel, wie z. B. die zahlreichen Anweisungspoetiken dieser Zeit beweisen. Wenn Gottsched sich nun genötigt sieht, eine Critische Dichtkunst zu veröffentlichen, um ihre Regeln an die Stelle des barocken Regelsystems zu setzen, dann scheint in der Qualität der Regeln ein Unterschied zu bestehen. Erinnert man sich nun daran, daß das Wesen eines zusammengesetzten Dinges in der Art seiner Zusammensetzung besteht, die eine Ähnlichkeit der mannigfaltigen Teile, also Ordnung voraussetzt, dann leuchtet ein, daß die Qualität der Regel, die ja eine Ordnung bestimmt, von dem Grad der Erkenntnis des Wesens abhängt. Dieser Gedanke wird später weiter ausgeführt. Wenn bisher von der Ordnung in einem Dinge schlechthin die Rede war, dann stellt das eine Vereinfachung dar. Genauer müßte man sagen, daß jede Ähnlichkeit des Mannigfaltigen einen Grad der Ordnung ergibt. Demnach hat eine Ordnung genau so viele Regeln wie Grade, denn f ü r jede Ähnlichkeit läßt sich eine Regel aufstellen. Auch kann in einem zusammengesetzten Ding mehr als eine Ordnung vorhanden sein. Objektiv verbürgt das Vorhandensein von Ordnung oder Ordnungen die Verknüpfung von Teilen, also das Sein eines zusammengesetzten Dinges. Im Bereich der Erfahrung ermöglicht Ordnung eine mehr oder minder einheitliche Zusammenschau von Teilen. Ordnung der Teile ist also die notwendige Voraussetzung eines zusammengesetzten Dinges und somit von seinem Wesen untrennbar. Man könnte noch hinzufügen, daß sich in der Sprache eine Entsprechung f ü r diesen Zusammenhang findet. Der Mensch, das anschauende Subjekt, hat sich f ü r zusammengesetzte Dinge Begriffe geschaffen, die die Verknüpfung der Teile zum Ausdruck bringen. Die Qualität des Ganzen freilich wird durch ein wertendes Adjektiv bestimmt. Damit ist gesagt, daß ein qualitatives Urteil ein zusammengesetztes Ding, also Ordnung voraussetzt. Wie nun freilich Ordnung und Qualität zusammenhängen, bedarf weiterer Erläuterungen, die sich als fruchtbar erweisen, da sie zu den unanfechtbaren Maßstäben führen, um die die Kritik der Gottschedzeit rang. Besonders hier wird zu zeigen sein, was die Wolffsche Philosophie f ü r die Ästhetik zu leisten vermag. Wolff bezeichnet die qualitative Vollendung eines Dinges als seine Vollkommenheit. Er erklärt sie als „die Zusammenstimmung des mannigfaltigen." 2 1 Zur Erläuterung führt er das Beispiel der Uhr an, die danach beurteilt werde, wie genau sie die Zeit anzeige. Er bringt hier unvermittelt !1
ebd., § 152.
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einen neuen Begriff, nämlich den Zweck eines Dinges, in die Diskussion. Die Teile der Uhr wirken zusammen, um die Zeit anzuzeigen. Wird dieser Zweck erreicht, dann ist die Uhr vollkommen, d. h. es herrscht „Zusammenstimmung des mannigfaltigen." Demnach dient die Uhr als Mittel zur Erfüllung eines Zweckes, was wiederum eine Absicht voraussetzt. Diese Gedanken berührt Wolff in seiner deutschen Metaphysik nur kurz. Er betrachtet nur die Vollkommenheit an sich, ohne sie in Beziehung zu Intention und Wirkung zu setzen. Diese Arbeit leistet Gottsched wenige Jahre später in seiner Weltweisheit und gelangt zu bemerkenswerten neuen Gesichtspunkten. Jede Vollkommenheit hat Wolff zufolge einen Grund, aus dem sie erkannt und beurteilt wird. Seinen Beispielen kann man entnehmen, daß er die Erfüllung des Zweckes, bzw. die Verwirklichung der Absicht dafür ansieht. Ist dem urteilenden Subjekt der Grund einer Vollkommenheit bekannt, dann wird es die Beschaffenheit des Mannigfaltigen daraufhin untersuchen. Umgekehrt läßt sich aus der Beschaffenheit eines vollkommenen Dinges auf den Grund der Vollkommenheit schließen. Die eine Methode setzt also bei der Absicht an, die andere bei der Beschaffenheit, die die Erfüllung eines Zweckes verbürgen soll. „Wo eine Vollkommenheit ist, da beziehet sich alles auf :einen gemeinen Grund, daraus man erklären kan, warum eines neben dem andern zugleich da ist, oder eines auf das andere folget . . . U n d hierinnen ist das mannigfaltige, so in einem angetroffen wird, einander ähnlich . . . Derowegen da die Ordnung in der Aehnlichkeit bestehet, wie das mannigfaltige neben einander und auf einander folget . . . so ist in der Vollkommenheit lauter Ordnung." 2 2 Wenn vorhin von mehreren Ordnungen in einem zusammengesetzten Dinge die Rede war, so bedeutete das nicht, daß sie einander ähnlich seien, also zur Erfüllung eine Zweckes zusammenwirkten. Wenn Wolff nun von „lauter O r d n u n g " spricht, dann meint er nicht notwendigerweise nur eine Ordnung, sondern die Ähnlichkeit von Ordnungen in einem Ding. In der Ordnung liegt ja der Grund f ü r die Verknüpfung der Teile, und sobald alle Ordnungen wiederum auf Grund einer höheren Ordnung verknüpft sind, gehorchen sie einem übergeordneten Prinzip. Diese Pyramide zusammenstimmender Ordnungen läßt sich theoretisch bis ins Unendliche weiterführen. „Wievielerley Gründe angetroffen werden, daraus die Zusammenstimmung beurtheilet wird, so viel treffen wir Vollkommenheiten an." 23 Damit gesteht Wolff ein, daß in einem Dinge mehrere Vollkommenheiten vorkommen können, die nicht notwendigerweise zusammenstimmen müs22 23
ebd., § 156. ebd., § 160.
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I. Kapitel
sen. Stimmen sie jedoch zusammen, dann nennt er die entstehende Vollkommenheit zusammengesetzt. Aus Wolfis Kommentar geht hervor, daß nicht zusammenstimmende Vollkommenheiten dort auftreten, wo das Werk letztlich unvereinbare Zwecke erfüllen soll. Für die Poetik und Kompositionslehre sind diese spitzfindigen Unterscheidungen nur von geringem Nutzen. In der Poetik der Aufklärung wird, wie schon in der des Barock, das Belustigen und Belehren als Endzweck der Dichtung angegeben. Gottsched sieht darin keinen Gegensatz, wenn er das Belustigen als verzuckernde Verpackung unbequemer Lehren verstanden wissen will. In der Kompositionslehre wird allgemein nur ein Endzweck genannt, nämlich „die Vergnügung des Gehörs." 2 4 Schließlich erläutert Wolff den Zusammenhang von Vollkommenheit und Regel „Da eine jede Vollkommenheit ihren besondern Grund hat, daraus sie erkannt und beurtheilet wird . . . so hat auch jede Vollkommenheit ihre Regeln." 2 5 Und er fährt fort: „Da die Regeln aus dem Grunde der Vollkommenheit entstehen . . . so ist vollkommener, was den Regeln gemässer ist, und daher machen die Menge der Regeln, die alle zusammen stimmen, Grade der Vollkommenheit aus: aus den Graden aber erwächset eine Grösse." 2 6 Rein theoretisch ist das zwingend gefolgert. Skeptisch steht Wolff jedoch der Frage gegenüber, ob es dem Menschen immer möglich sei, Vollkommenheit zu erkennen. Er gibt folgendes zu bedenken: „ W e n n . . . die Anzahl des mannigfaltigen, so mit einander übereinstimmen soll, sehr groß ist, fället es schweer von der Vollkommenheit des Gantzen zu urtheilen. Und dieses ist die Ursache, warum die meisten sich betrügen, wenn sie von der Vollkommenheit der natürlichen Dinge urtheilen wollen. J a es gehet ihnen auch wohl in den Wercken der Kunst nicht besser." 27 Wenn auch Wolff unter „Wercken der Kunst" nicht nur das zum Zwecke des ästhetischen Vergnügens Geschaffene versteht, sondern umfassender alles auf Grund einer Fertigkeit Hervorgebrachte, wozu freilich auch die Produkte der Dichtkunst und Tonkunst gehören, so zeugt doch der letzte Satz davon, daß er sich der Kompliziertheit einer jeden Kunstbetrachtung bewußt ist. Aus den bisherigen Gedankengängen ergeben sich folgende Konsequenzen für die Betrachtung eines Werkes der Kunst. Jedes Kunstwerk ist ein zusammengesetztes Ding. Es besitzt ein notwendiges, ewiges und un24
25 28 27
So z. B. bei Johann Adolph Scheibe, Compendium Musices, S. 5, abgedr. als Anhang zu Peter Benary, Die deutsche Kompositionslehre des 18. Jahrhunderts (Leipzig [1961]), Jenaer Beiträge zur Musikforschung Bd. 3. Mizler und Scheibe unterstellen der Musik freilich auch moralische Absichten. Vernünftige Gedancken Von Gott, 9. Aufl., § 164. ebd., § 168. ebd., § 171.
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veränderliches Wesen, das den Grund f ü r seine Eigenschaften enthält, die demnach auch notwendig, ewig und unveränderlich sind. Das Wesen zusammengesetzter Dinge besteht in der Art der Zusammensetzung oder Aufeinanderfolge seiner Teile in Raum bzw. Zeit. Wirkliche zusammengesetzte Dinge, d. h. Dinge, deren Möglichkeit sich erfüllt hat, wozu sämtliche Kunstwerke gehören, existieren, weil in ihnen eine Kraft wirksam ist, die die Teile zusammenhält. Ihr Grund liegt in einer Ordnung, die bestimmt, in welcher Weise die Teile nebeneinander sein oder aufeinander folgen müssen, und somit hat jede Ordnung ihre Regel. Wird die O r d nung gestört, d. h. ist eine Regel aufgehoben, dann fehlt die Kraft, die die Ähnlichkeit der mannigfaltigen Teile in Nebeneinader oder Aufeinanderfolge verbürgt, was in letzter Konsequenz bedeutet, das Ding hört auf zu existieren, da sein Wesen aufgehoben worden ist. Hieraus ergibt sich, daß zusammengesetzte Dinge endlich sind. Sie entstehen und vergehen. Ihr wirkliches Dasein hat seinen Grund in der Absicht eines verständigen Wesens, die Werke der Kunst (im Gegensatz zu den natürlichen Dingen) in der Absicht eines Menschen, der mit ihnen einen Zweck zu erfüllen sucht. In Hinblick auf ihn wird das Werk beurteilt. In jedem zusammengesetzten Dinge herrscht ein gewisser G r a d von Ordnung. Sind die Teile nun nicht nur ähnlich, sondern stimmen sie überein, dann ist das Ding objektiv vollkommen. Das setzt zunächst eine vollkommene Kenntnis des Wesens voraus, ferner eine vollkommene Verwirklichung dei erkannten Möglichkeit. Über das spezifisch Künstlerische oder Ästhetische sagen diese Bestimmungen, die sich ja auf alles von einem verständigen Wesen Geschaffene beziehen, noch nichts aus, obgleich sie zu den Werken der „schönen Künste" bereits in Beziehung gesetzt wurden. Den vorausgegangenen Erläuterungen war jedoch schon zu entnehmen, d a ß die Vollkommenheit eines Werkes der Ton- oder Dichtkunst in Zusammenhang steht mit dem Zweck, zu dem ein Werk geschaffen wird. Worin dieser besteht, sagt Wolff nicht. Wohl aber äußert er sich über die geistigen und seelischen Vermögen, die der schöpferische Mensch besitzen muß. „ D a ß die Kunst zu erfinden im Witz und Verstände, absonderlich der Fertigkeit zu schliessen gegründet ist, habe ich schon oben . . . gezeiget. Die Vollkommenheit demnach in der Kunst zu erfinden entspringet aus der Vollkommenheit des Witzes und des Verstandes. Wo viel Witz, Scharfsinnigkeit und Gründlichkeit ist, da ist die Kunst zu erfinden in einem grossen Grade." 2 8 D a der „Erfinder" neue Wahrheiten aus bereits bekannten mittels logischer Schlüsse ableitet, „so wird zur Vollkommenheit der 26
ebd., § 861.
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I. Kapitel
Erfindungs-Kunst . . . auch eine grosse Erkäntniß erfordert." 29 In den Anmerkungen zu den Verniinfftigen Gedancken bezieht WolfF seine Ausführungen auch ausdrücklich auf die Poesie, was einmal mehr bestätigt, daß der hier beschrittene Weg gerechtfertigt ist. Wolff schreibt: „Witz oder Ingenium erfordert eine gute Einbildungs-Krafft und Gedächtniß, wie jederman aus der Erfahrung zugestehet, und man auch findet, daß Leute von einem grossen Ingenio alles für die Imagination sehr lebhafft vorzustellen wissen . . . Allein wo keine Scharffsinnigkeit dabey ist, da ist nur ein gemeines Ingenium . . . Hingegen wo sich Scharffsinnigkeit darzu gesellet, da siehet man verborgene Aehnlichkeiten ein, und nimmet der Witz mit der Scharffsinnigkeit und Tieffsinnigkeit zu. Was ich von dem Witze gelehret habe, dienet nicht allein die Redner und Poeten, auch Comödien- und Tragödien-Schreiber, sondern auch selbst die Autores, welche die Disciplinen und dahin gehörige Sachen beschrieben, zu beurtheilen, und bey den Erfindern und ihren Erfindungen hat man auch darauf gesehen. Ja, wenn man die Regeln der Redner-Kunst, der Poesie, der Kunst zu erfinden, demonstrativisch untersuchen solte, so würde man auch nöthig haben, unterweilen diese Gründe zu brauchen."30 Hier wird unzweideutig festgestellt, daß die Kraft zu erfinden gewissen Kräften der Seele direkt proportional ist. Diese setzt Wolff auch in Beziehung zu den Regeln der Poesie, und, wie man hinzusetzen darf, zu denen der Musik. Einmal spricht er von Vermögen, die den Menschen befähigen, etwas zu erfinden. Zum anderen erfordert auch die Kritik, das Urteil, Einsicht in die Vermögen. Diesen seien die folgenden Abschnitte gewidmet, zumal Gottsched im 2. Kapitel seiner Dichtkunst, „Von dem Charactere eines Poeten," die Wölfischen Bestimmungen auf die speziellen Vermögen des Dichters anwendet. Scheibe folgt ihm hierin in bescheidenem Maße, wogegen Mizler sich kaum über die Vermögen des Komponisten äußert. Wolff definiert Witz als die „Leichtigkeit die Aehnlichkeiten wahrzunehmen."31 Wie aus den vorangegangenen Zitaten hervorgeht, handelt es sich dabei um ein zusammengesetztes Vermögen, das Einbildungskraft, Gedächtnis und Scharfsinnigkeit voraussetzt. „Die Vorstellungen solcher Dinge, die nicht zugegen sind, pfleget man Einbildungen zu nennen. Und die Kraft der Seele dergleichen Vorstellungen hervorzubringen, nennet man die Einbildungs-Kraft."32 Diese Definition präzisiert Wolff später 29 ebd. 30 Der Vernünftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen . . . Anderer Theil, bestehend in ausführlichen Anmerckungen . . . von Christian Wolffen . .. Die vierdte Auflage . . . Franckfurt am Mayn, 1740, § 320. Erstausgabe 1724. 31 Vernünftige Gedancken Von Gott, 9. Aufl., § 366. 3 8 ebd., § 235.
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durch den Zusatz: „Die Einbildungs-KrafFt bringet nichts hervor, als was wir vor diesem empfunden oder gedacht . . . und also sind die Einbildungen nichts anders als Vorstellungen von vergangenem Zustande der Welt." 33 An einer anderen Stelle faßt Wolff den Begriff Einbildungskraft bedeutend weiter, so daß man fast vermeint, er widerspreche sich. Freilich kommt es ihm, wie die folgenden Zitate beweisen, nur darauf an, die leeren Einbildungen von den vernünftigen zu trennen. „Es gehet aber die Einbildungs-Kraft nicht allein auf diejenigen Dinge, daran wir schon zu anderer Zeit gedacht haben, sondern wir können uns auch vorstellen, was wir vorhin noch niemahls empfunden haben. . . . Es geschiehet aber solches auf zweyerley Weise. Die erste Manier bestehet darinnen, daß wir diejenigen Dinge, welche wir entweder würcklich gesehen, oder nur im Bilde vor uns gehabt, nach Gefallen zertheilen, und die Theile von verschiedenen Dingen nach unserem Gefallen zusammensetzen: wodurch etwas heraus kommet, dergleichen wir noch nicht gesehen. Auf solche Weise hat man die Gestalt der Melusine, so halb Mensch und Fisch ist; die Gestalt der Engel, wenn sie als geflügelte Menschen gemahlet werden; die seltsame Gestalten der heydnischen Götter und dergleichen heraus gebracht. Und hierinnen bestehet die Krafl zu erdichten, wodurch wir öfters etwas heraus bringen, so nicht möglich ist, und daher eine leere Einbildung genennet wird." 3 4 Hiermit gibt Wolff zu verstehen, daß es der Einbildungskraft möglich ist, sich das Unmögliche vorzustellen. Was er davon hält, und wem er solche leeren Einbildungen oder Hirngespinste zutraut, sagt er im folgenden Zitat. „Aus dieser Quelle entspringen die Einbildungen der Mahler, Bildhauer und anderer Künstler, die sie durch die Kunst vorstellen, wenn sie allerhand Abendtheure zu Marckte bringen." 35 Wolff hatte offenbar die Kunst der Antike und des Barock im Auge, die mit Chimären recht großzügig umging, um sie verächtlich als Abenteuer abzutun. D a ß er insbesondere nicht gut auf die Litterateure zu sprechen war, geht aus einer Stelle hervor, wo er ihnen mangelnde Scharfsinnigkeit vorwirft, die ein „gemeines Ingenium" zufolge habe, mit dem nur Ähnlichkeit zwischen „gemeinen Sachen" wahrzunehmen sei, „wie wir insgemein bey Rednern und Poeten, auch Pickelheringen antreffen, welche letztere durch ihr Ingenium geschickt sind alles lächerlich zu machen." 3 0 Der bissige Vorwurf, die Kraft zu erdichten läge in der Fähigkeit, leere Einbildungen hervorzubringen, muß Gottsched tief getroffen haben. Gerade diese Sätze Wolfis mögen ihm Ansporn gewesen sein, die Litera33 34 35
36
ebd., § 807. ebd., § 241 f. ebd., § 2 4 4 .
Der Vernünfftigen Gedancken . . . Anderer Theil, § 320.
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tur von dem Makel der Hirngespinste zu befreien. Auch die Dichtkunst sollte den Bereich des Möglichen nicht verlassen. Die von Wolff mitleidig belächelte „Kraft zu erdichten" mußte der wahren Erfindungskunst weichen, die auf Verstand und Witz beruht. Welchen Weg der vernünftige „Erfinder" zu beschreiten habe, deutet Wolff ebenfalls an. „Die andere Manier der Einbildungs-Kraft Dinge hervorzubringen, die sie niemahls gesehen, bedienet sich des Satzes des zureichenden Grundes, und bringet Bilder hervor, darinnen Wahrheit ist."37 Wenn Wolff auch in diesem Zusammenhang vornehmlich von der Architektur spricht, so ist in Hinblick auf seine Ablehnung poetischer Hirngespinste doch leicht einzusehen, daß er mehr als nur die Architektur im Auge hat. Eine Einbildungskraft, die nach dem Satze des zureichenden Grundes verfährt, kann unmöglich Widersprüchliches oder Ungereimtes hervorbringen. Somit weist er die Bahn zur vernünftigen Fiktion, die wenig später sein gelehriger Schüler Gottsched begeistert beschreiten sollte, um die Literatur von Miltonschen oder Klopstockschen Fabelwesen und Zaubereien zu befreien. Daß er dabei in seinem missionarischen Übereifer zu weit ging und die Literatur vom Zauber des Irrationalen befreite, ist nur allzugut bekannt. Es wurde gesagt, daß der Witz, der eine Voraussetzung der Erfindungskunst ist, u. a. aus der Einbildungskraft entsteht, die sich auf verschiedene Art äußert. Einmal bringt sie bereits Empfundenes wieder in die Vorstellung zurück, zum anderen ermöglicht sie dem schöpferischen Menschen, nie zuvor Empfundenes aus bekannten Wahrheiten abzuleiten. Wird dabei der Satz des zureichenden Grundes nicht beachtet, so besteht die Gefahr, daß er nichts als leere Einbildungen hervorbringt. Gelangt er jedoch zur Anwendung, dann ist die „Erfindung" wahr. Auf die Möglichkeiten, die sich dem nach vernünftigen Fiktionen strebenden Dichter hier auftun, wurde bereits hingewiesen. Es bleiben als weitere Voraussetzungen des Witzes noch Scharfsinnigkeit und Gedächtnis zu untersuchen. „Das Gedächtniß ist . . . das Vermögen Gedancken, die wir vorhin gehabt haben, wieder zu erkennen, daß wir sie schon gehabt haben, wenn sie uns wieder vorkommen." 38 Das Gedächtnis speichert also nicht Eindrücke, denn das besorgt ja die Einbildungskraft, sondern es ermöglicht die Wiedererkennung. Schon dem Publikum des frühen 18. Jahrhunderts muß diese Erklärung fremd vorgekommen sein, denn sonst hätte Wolff es kaum für nötig befunden, die Begriffe Gedächtnis und Einbildungskraft scharf gegeneinander abzugrenzen. " 88
Vernünftige ebd., § 249.
Gedancken
Von Gott, 9. Aufl., § 245.
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„Wer viele Deutlichkeit in den Begriffen der Dinge hat, u n d also genau heraus zu suchen weiß, worinnen eines einem a n d e r n von seiner A r t ähnlich u n d worinnen es hinwiederum von ihm unterschieden ist, derselbe ist scharfsinnig. U n d also ist die Schar ff sinnigkeit die erste A r t der Vollkommenheit des Verstandes, die sich sowohl auf die anschauende, als figürliche E r k ä n t n i ß erstredtet." 3 9 Für den Dichter, der ja seine Stoffe aus dem menschlichen Lebensbereich wählt, k o m m t es demnach in erster Linie auf die Scharfsinnigkeit an, die die anschauende Erkenntnis f ö r d e r t . Der Komponist hingegen, der nicht von der direkten Anschauung ausgeht, sondern seine Regeln aus bestimmten G r u n d w a h r h e i t e n ableitet, k a n n auf figürliche Erkenntnis nicht verzichten, wie die spekulative Musiktheorie zur Genüge beweist. A u ß e r dem W i t z n a n n t e Wolff noch Verstand u n d die K r a f t zu schließen als Voraussetzungen der Erfindungskunst. Völlig lassen sich diese Begriffe nicht voneinander trennen, wie oben schon gezeigt wurde. So ist die K r a f t zu schließen nötig, u m zu vernünftigen Einbildungen zu gelangen, u n d die Scharfsinnigkeit bezeichnete Wolff als die erste Vollkommenheit des Verstandes. „Das Vermögen das Mögliche deutlich v o r zustellen ist der Verstand. U n d hierinnen ist der Verstand von den Sinnen u n d der Einbildungs-Kraft unterschieden, d a ß w o diese allein sind, die Vorstellungen nur höchstens klar, aber nicht deutlich seyn: hingegen w o der Verstand dazu kommet, dieselben deutlich werden." 4 0 D e r Verstand verbürgt also die Deutlichkeit der Vorstellungen, die n u r klar sind, wenn m a n sie voneinander unterscheiden k a n n , ohne den G r u n d d a f ü r angeben zu können. Hieraus folgt ferner, d a ß der Verstand auch zur Erkenntnis, zu deutlichen Begriffen von einem Dinge f ü h r t . „Wir haben dreyerley Würckungen des Verstandes, die Begriffe, die Urtheile u n d die Schlüsse. D a n u n die G r a d e der Vollkommenheit des Verstandes aus den G r a d e n der Deutlichkeit erwachsen . . . die Deutlichkeit der Urtheile aber in der Deutlichkeit der Begriffe bestehet . . . so sind zweyerley A r t e n der Vollkommenheit bey dem Verstände anzutreffen, nehmlich eine äussert sich durch die Deutlichkeit der Begriffe, die andere durch die Deutlichkeit der Schlüsse." 41 Die erste v o n diesen nennt Wolff Scharfsinnigkeit, über die schon gesprochen wurde. „Wer viele Deutlichkeit in Schlüssen hat, den nennet m a n gründlich. U n d demnach zeiget sich die Gründlichkeit durch die Deutlichkeit der Schlüsse."" D a m i t ist in großen Zügen dargelegt, welche Vermögen bei einem Menschen ausgebildet sein müssen, damit er schöpferisch tätig sein k a n n . " ebd., ebd., 41 ebd., 42 ebd., 40
§ 850. §277. § 849. § 854.
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Merkwürdigerweise unterscheidet Wolff nicht zwischen natürlichen Anlagen und durch Übung erlernten Fertigkeiten. Die Begriffe Naturell oder Talent bleiben also bezeichnenderweise im Dunkeln. Nachdem das zusammengesetzte Ding und die Kräfte, die es hervorbringen, ihre Bestimmung erfuhren, bleibt noch zu untersuchen, welche Wirkungen das Ding beim anschauenden Subjekt auslöst. Genauer gesagt: es gilt zu zeigen, wie Werk und Wirkung kausal zusammenhängen. Dies ist um so wichtiger, als ein zusammengesetztes Ding nur auf Grund der Absicht eines verständigen Wesens entsteht. Die Werke der Dicht- und Tonkunst wurden ja nicht um ihrer selbst willen geschaffen, sondern sie sollten einen Zweck erfüllen. Um diesen erreichen zu können, mußten sie in einer Weise beschaffen sein, die die beabsichtigte Wirkung in hohem Grade gewährleistete. Die ältere Forschung hat sich eingehend mit der Affektenlehre beschäftigt, sich dabei jedoch hauptsächlich auf die Beschreibung der poetischen und musikalischen Mittel und deren angebliche Wirkung beschränkt. Die Lehre von den Affekten wird ja bereits von Aristoteles angedeutet, und nach ihm spielt sie in der gesamten abendländischen Kunsttheorie eine wechselnde, aber nie mehr wegzudenkende Rolle. Insbesondere die Musiktheorie des 18. Jahrhunderts widmete ihr breiten Raum. Im folgender; soll versucht werden, Wolfis Gedanken, die die wissenschaftliche Grundlegung der Kunstpsychologie darstellen, in großen Zügen zu vermitteln. Später wird dann zu zeigen sein, inwieweit sie die Kunsttheorie seines Schülers Gottsched und dessen Schüler Scheibe und Mizler befruchtete. Es gibt wohl kaum einen Kunsttheoretiker, der sich nicht die Frage vorgelegt hätte, welchen Zweck das Kunstwerk erfüllen soll. Die Barockpoetik nennt an Horaz anknüpfend das delectare und prodesse. Gottsched hingegen will das delectare nur als verzuckernde Verpackung strenger Lehren verstanden wissen. Immerhin lehnt er die Belustigung nicht rundweg ab. Die deutschen Kompositionslehrer des Barock nennen oft die Verherrlichung Gottes als Endzweck der Musik, deren erbauende Wirkung häufig beschrieben wird. Die weit weltlichere Aufklärung nimmt auf religiöse Zwecke weniger Rücksicht. Scheibe nennt als Endzweck der Musik an erster Stelle „die Vergnügung des Gehörs". Das sich allmählich aus der orthodoxen Umklammerung befreiende 18. Jahrhundert war dem reinen Genuß gegenüber weit aufgeschlossener als das 17. Somit ist es gerechtfertigt, Wolfis Untersuchung der Lust (Ergötzen, Belustigung), insbesondere ihrer Ursachen, hier einzurücken, wobei allerdings ausdrücklich betont sei, daß er die Lust nicht zu den Affekten zählt. „Indem wir die Vollkommenheit anschauen, entstehet bey uns die Lust, daß demnach die Lust nichts anders ist, als ein Anschauen der Voll-
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kommenheit." 43 Diese Definition könnte mißverstanden werden, da nur von visueller Perzeption die Rede ist und Wolfis Beispiele ausschließlich dem Bereich des Visuellen entnommen sind. Aus den weiteren Erläuterungen geht allerdings hervor, daß auch andere Sinneseindrücke das Gefühl der Lust bewirken können. Wolff zufolge entsteht Lust auch, wenn ein Mensch etwas Unvollkommenes anschaut, das er f ü r vollkommen hält, ohne sichere Gründe dafür angeben zu können. Erst die Untersuchung des Werkes befreie ihn von seinem Irrtum. „Da nun die Wissenschaft Gewißheit h a t . . . so ist die Lust beständig, wenn man die Vollkommenheit einer Sache weiß, oder demonstriren kan." 4 4 Damit gibt Wolf! eindeutig zu verstehen, daß das anschauende Subjekt geistige Vermögen und die Kenntnis der Regeln der Vollkommenheit besitzen muß, um Gewißheit, die die beständige Lust bedingt, erlangen zu können. N u n entsteht sie meistenteils spontan, so daß sich das Subjekt erst später über ihre Ursachen Rechenschaft ablegt. Deshalb sieht sich Wölfl genötigt, die Art der Erkenntnis der Vollkommenheit näher zu bestimmen: „Es ist aber wohl zu mercken, daß zu der Lust eben keine deutliche Erkäntniß erfordert wird, sondern nur eine klare." 4 5 D a die klare Erkenntnis nur zum Unterscheiden von Begriffen ausreicht und keine Gründe f ü r ihre Unterschiede zu nennen vermag, leistet sie letztlich doch der Scheinlust Vorschub, was darauf hinausläuft, daß die wahre, beständige Lust doch nur auf Grund deutlicher Erkenntnis zustande kommt. Wolf! gibt das später auch zu, wenn er schreibt: „Wer demnach nicht die Gabe deutlicher Erkäntniß hat, der hat seine Lust nicht in seiner Gewalt." 4 9 Den Affekt definiert Wölfl als einen merklichen Grad „der sinnlichen Begierde und des sinnlichen Abscheues." 47 Lust bzw. Unlust können seiner Meinung nach auch ohne einen Affekt f ü r sich bestehen, wogegen „bey den angenehmen Afiecten empfindliche Lust; bey den wiedrigen empfindliche Unlust" 4 8 vorhanden ist. Er unterscheidet angenehme, unangenehme und vermischte Affekte, die auf Grund einer undeutlichen Vorstellung vom Guten bzw. Bösen bzw. ihrer Vermischung entstehen. Von den zahlreichen Affekten, die Wolff aufzählt, seien hier nur Mitleid und Schrecken näher erläutert, weil sie f ü r Gottscheds Theorie des Trauerspiels von Bedeutung sind. Wenn sich der Dichter über die Wirkung seines Werkes Gewißheit verschaffen will, muß er wissen, wie sie zustande kommen, und worin sie bestehen. 43 44 45 46 47 48
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ebd., ebd., ebd., ebd., ebd., ebd., Birke
§404. § 408. §414. §416. § 439. §442.
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Über das Mitleid schreibt Wolff: „Wer den andern liebet, der ist bereit aus seinem Wohlstande Vergnügen zu schöpften . . . Also ist er auch bereit aus seinem Unglück Mißvergnügen zu schöpften, oder gar darüber sich zu betrüben . . . Das Mißvergnügen und die Traurigkeit über eines andern Unglück heisset Mitleiden. U n d demnach entstehet das Mitleiden aus der Liebe." 48 Der Held der Tragödie darf also, wenn man mit ihm Mitleid haben soll, nicht so dargestellt sein, daß man ihm jegliche Zuneigung versagen muß, wie schon in Aristoteles' Poetik nachzulesen ist.50 Uber den Schrecken sagt Wolff: „Eine plötzliche Traurigkeit in hohem Grade über einem unvermutheten Unglücke wird das Schrecken genennet." 51 Es beruht also auf einem Unglück, das unerwartet hereinbricht und den Menschen, den es trifft, unvorbereitet findet, wodurch der hohe Grad der Traurigkeit entsteht. Auch dieser Gedanke findet sich schon bei Aristoteles. Die hier gedrängt wiedergegebenen Gedankengänge Wolfis sind f ü r die drei wichtigsten Aspekte der Kunsttheorie, die Vermögen des Künstlers, das Werk und seine Wirkung, von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Sie erklären die geistigen Fähigkeiten, die ein Mensch besitzen muß, um ein Kunstwerk schöpferisch hervorbringen zu können. Ferner unterziehen sie das Werk einer strengen Prüfung, um über den Zusammenhang von Wesen, Regel und Vollkommenheit etwas in Erfahrung zu bringen. U n d schließlich erläutern sie, welche Beschaffenheit ein Werk haben muß, um auf das anschauende Subjekt in einer der Absicht des Künstlers gemäßen Weise wirken zu können. Den einzigen Unterschied zwischen dem Werk schlechthin und dem Kunstwerk sieht er in dem fiktiven Charakter der Kunst, wie oben bed der Erklärung der „Kunst zu erfinden" erläutert wurde. Sie beruht auf dem Witz, dem Verstände und der Fertigkeit zu schließen. Damit fordert er Wahrscheinlichkeit im Rahmen der gegebenen Voraussetzungen. Diese selbst brauchen freilich mit den Gegebenheiten dieser Welt nicht übereinzustimmen. Er erkennt die Möglichkeit einer anderen Welt, in der ein anderer Zusammenhang der Dinge besteht, durchaus an, wenn er schreibt: „Man kan solches auch mit den erdichteten Geschichten, die man Romainen zu nennen pfleget, erläutern. Wenn dergleichen Erzehlung mit solchem Verstände eingerichtet ist, daß nichts widersprechendes darinnen anzutreffen; so kan ich nicht anders sagen, als es sey möglich, daß dergleichen geschiehet . . . Fraget man aber, ob es würcklich geschehen sey oder nicht; so wird man freylich finden, daß es der gegenwärtigen Verknüpfung der Dinge widerspricht, 49 50
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ebd., § 4 6 1 . Poetik, Übers., Einl. u. Anm. v. Olof Gigon (Stuttgart, 1961), Reclams Universal-Bibliothek Nr. 2337, S. 44. Verniinfftige Gedancken Von Gott, 9. Aufl., § 479.
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und dannenhero in dieser Welt nicht möglich gewesen. Unterdessen bleibet es wahr, daß dasjenige, was noch fehlet, ehe es würcklich werden kan, ausser dieser Welt zu suchen . . . nehmlich in einem anderen Zusammenhange der Dinge, das ist, in einer anderen Welt . . . U n d solcher gestalt habe ich eine jede dergleichen Geschichte nicht anders anzusehen als eine Erzehlung von etwas, so in einer anderen Welt sich zutragen kan." 5 2 Gottsched beruft sich auf diese Stelle bei der Erklärung der äsopischen Fabel. Wenn Tiere und Pflanzen menschliche Qualitäten, nämlich Vernunft und Sprache besitzen, und die Erzählung keine Widersprüche enthält, dann ist sie auf Grund der gegebenen Bedingung in einer anderen Welt möglich. Wolff faßt also vornehmlich Kriterien des Inhalts ins Auge. Die sinnlichen Qualitäten der Dichtung wie Metrum und Reim bleiben unerwähnt. Es versteht sich, daß eine so sinnliche Kunst wie die Musik von diesen Gedankengängen so gut wie nichts profitiert. Der Zusammenhang von Vollkommenheit und Lust eröffnet freilich auch f ü r die Musiktheorie bemerkenswerte Perspektiven, sobald gezeigt werden kann, worin die Vollkommenheit der Musik besteht. Wenn auch Wolfis System keine Ästhetik enthält, so war es doch den Kritikern seiner Zeit Ansporn, die Möglichkeiten der Kunst unter Anwendung seiner Kategorien neu zu durchdenken. Schon Die Discourse der Mahlern, die Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger zwischen 1721 und 1723 in Zürich herausgaben, setzen sich vereinzelt mit Wolff sehen Gedanken auseinander. Im Jahre 1727 veröffentlichten dann dieselben Herausgeber eine Untersuchung Von dem Einfluß und Gebrauche Der Einbildungs-Kraffl, die in der Serie Vernünftige Gedancken und Urtheile Von der Beredsamkeit erschien. Der Serientitel erinnert lebhaft an Wölfische Buchtitel, die ja fast alle mit den Worten „Vernunfttige Gedanken" beginnen. Bezeichnenderweise widmen die Verfasser ihre Arbeit auch Wolff. Wie sie in dem Widmungsschreiben darlegen, beabsichtigen sie, „alle Theile der Beredsamkeit in mathematischer Gewißheit auszuführen / und den wahren Quellen so wol des Ergötzens / das uns gute Schriften geben; als der Kaltsinnigkeit 1 in welcher uns schlimme Werdte stehen lassen / nachzuspühren." Es geht ihnen also um die Ergründung der Ursachen des Vergnügens, wobei sie sich fast ausschließlich auf Wolfis Erklärung der Lust stützen. Der Hinweis auf die „mathematische Gewißheit" bezeugt ihren Glauben an eine unumstößliche Ordnung innerhalb der Kunst, die sich ohne Bruch in das allgemeine, in Wolfis Philosophie entwickelte rationale Weltbild einfügt. Diese Arbeit der Schweizer zeugt trotz ihrer guten Vorsätze von einem wenig systematischen Geist. Sie konzentrieren ihre Untersuchungen 52
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ebd., § 5 7 1 .
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auf die Einbildungskraft des Dichters und die Ursachen des Vergnügens, wobei sie eklektisch vorgehen. Ihre Hauptquellen sind Wolffs Metaphysik und der Spectator Addisons und Steeles. Erst Gottsched unternahm den Versuch, auf der Grundlage der Wölfischen Philosophie die Poesie in ein lückenloses System zu bringen. Seine Critiscbe Dichtkunst wiederum regte Scheibe an, ähnliches f ü r die Musiktheorie zu leisten. Sein Critischer Musikus, dessen Titel dem der Dichtkunst nachgebildet ist, erschien als Zeitschrift zwischen 1737 und 1740. In loser Folge behandelt Scheibe darin eine Vielfalt von musikalischen Problemen. Dem Charakter einer Zeitschrift widersprach es freilich, die Gedanken in einen systematischen Zusammenhang zu bringen. Das gelang auch Mizler nicht, der in seinen Schriften nur Einzelprobleme beleuchtet.
I I.KAPITEL GOTTSCHEDS POETISCHE
GRUNDBEGRIFFE
Im vorigen Kapitel wurde bereits angedeutet, daß sich Gottsched mit nur geringfügigen Vorbehalten zur Philosophie Wolfis bekennt. In der Vorrede zur 7. Auflage seiner Weltweisheit gibt er unumwunden zu, dieses philosophische Handbuch fuße auf „den wolfischen Lehrsätzen." N u r hätte er „anstatt der wolfischen Definition der Philosophie, die leibnitzische, als einen weit fruchtbarem und praktischem Begriff von der Weltweisheit" angenommen. 1 Überhaupt darf man Gottscheds Weltweisheit als kaum mehr als die aus pädagogischer Rücksichtnahme gestraffte und in ungekünsteltes Deutsdi gebrachte Philosophie Wolffs ansehen. Das beweist nun noch nicht, daß Gottsched die in ihr enthaltenen Ansätze zur Lösung ästhetischer Probleme erkannt hätte. Die Gründe, die ihn bewogen, seine Critische Dichtkunst zu verfassen, sowie einige Zitate machen es jedoch wahrscheinlich, daß er sich der Bedeutung von Wolffs Metaphysik f ü r die Poetik durchaus bewußt war, obgleich auch andere Einflüsse nachgewiesen werden können. Grundsätzlich stellt Gottsched fest, daß die Philosophie „die ersten Grundsätze aller übrigen Künste und Wissenschaften" enthält und „unsern Verstand zu deutlichen Begriffen, und zu gründlichen Beweisen" erzieht. 2 Deshalb betrachtet er sie als Propädeutik einer jeden wissenschaftlichen oder künstlerischen Tätigkeit. Ihre Bedeutung erschöpft sich hierin freilich nicht. Als Beispiel einer „Schlußrede" gibt er in seiner Weltweisheit folgendes Muster: „N 0 D
W a s den Grund v o n den Regeln enthält, darnach gelehrte Kunstwerke verfertiget werden müssen, das hält den Grund der freyen Künste in sich; D i e Philosophie hält aber den Grund der Regeln in sich, darnach gelehrte Kunstwerke verfertiget werden müssen: A l s o hält die Philosophie den Grund der freyen Künste in sich." 3
U n d er fährt f o r t : „Es ist bekannt, daß heutiges Tages eigentlich die Sprachkunst, Dichtkunst und Redekunst, nebst der Historie und Kritik 1
Weltweisheit, * Weltweisheit, 3 ebd., S. 168.
praktischer Teil, 7. Aufl., Vorrede, Bogen c 5. theor. Teil, „Einleitung zur Weltweisheit überhaupt," § 15.
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zu den freyen Künsten gerechnet werden." 4 Damit beweist er eindeutig, daß die Philosophie den Grund für die Regeln der Dichtkunst enthält. Es bleibt freilich zu untersuchen, ob Gottsched aus dieser Einsicht in seiner Dichtkunst die Konsequenzen zieht. Schon im Titel dieses Werkes deutet sich an, daß er davon überzeugt ist, in seiner Dichtkunst völlig neue Wege beschritten zu haben. Er nennt es vorsichtig einen Versuch, und das Adjektiv „kritisch" taucht hier zum erstenmal im Titel einer Poetik auf. In der Vorrede zur 1. Auflage sieht sich Gottsched deshalb genötigt, vorsorglich die Bedenken auszuräumen, die gegen diese Betrachtungsweise der Poetik erhoben werden könnten, indem er seinen Begriff davon in Anlehnung an Shaftesbury erläutert.5 „Kritisch" bedeutet demnach auf philosophischer Erkenntnis beruhend, und ein Kritiker ist „ein Gelehrter, der die Regeln der freyen Künste philosophisch eingesehen hat, und also im Stande ist, die Schönheiten und Fehler aller vorkommenden Meisterstücke oder Kunstwercke, vernünftig darnach zu prüfen und richtig zu beurtheilen."8 Titel und Anlage der Dichtkunst lassen keinen Zweifel darüber aufkommen, daß Gottsched mit dem Anspruch auftritt, ein Kritiker im Sinne seiner Definition zu sein. Sein Bekenntnis zur Philosophie Wolffs und seine Weltweisheit zeigen unmißverständlich, welches philosophische System und welche Denkformen er meint, wenn er von philosophischer Einsicht spricht. An zwei Stellen berichtet Gottsched, wie es dazu kam, daß er den Entschluß faßte, seine Critische Dichtkunst zu verfassen. Die Vorrede zur 1. Auflage enthält „eine kurtze Historie... die zu desto besserm Verstände derselben viel beytragen wird." 7 Obgleich man vermuten darf, daß die vermittelten Daten und Fakten den Tatsachen entsprechen, ist bei ihrer Auswertung Vorsicht geboten, da der nicht einmal dreißigjährige Magister sein Publikum davon überzeugen will, daß die Zeit für eine kritische Poetik, die an die Stelle der überlebten Regelpoetik zu treten habe, reif geworden sei. Der angehende Gelehrte, der gleichsam um die Gunst des Publikums warb, mußte sich davor hüten, sich das Wohlwollen seiner Leser durch radikale Meinungen zu verscherzen. Das erklärt seine geschmeidige und konziliante Prosa. Ja, um sich nicht dem Verdacht auszusetzen, die Dichtkunst ernster zu nehmen, als ein rechtschaffener junger 4
ebd., S. 169.
5
Vgl. „Soliloquy: Or, Advice to an Author," S. 1 5 1 — 3 6 4 in Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times .. . By . . . Anthony, Earl of Shaftesbury. The Fourth Edition. 1727 [Vol. 1]. Erstausgabe 1711. Dichtkunst, 1. Aufl., Vorrede, Bogen *5 V .
8 7
ebd., Bogen [ : ; '7 r ].
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Dozent sie nehmen sollte, bekennt er freimütig: „Da ich übrigens die Poesie allezeit vor eine Brodtlose Kunst gehalten, so habe ich sie auch nur als ein Neben-Werck getrieben, und nicht mehr Zeit darauf gewandt, als ich von andern ernsthafftern Verrichtungen erübern können." 8 Seine dickleibige Dichtkunst, die innerhalb von rund zwanzig Jahren drei weitere Auflagen erlebte und den Anstoß zu den Auseinandersetzungen mit Bodmer, Breitinger und Georg Friedrich Meier gab, beweist zur Genüge, daß Gottsched dieses Bekenntnis nicht ernst gemeint haben kann. Bezeichnenderweise verschwindet auch die Vorrede zur 1. Auflage aus den späteren Auflagen. Die wahren Gründe für die Entstehung der Dichtkunst sind deshalb in der Vorrede zum praktischen Teil der 6. Auflage der Weltweisheit zu suchen, „darinn eine Nachricht von des Verfassers ersten Schriften, bis zum 1734sten Jahre enthalten ist." Gottsched wiederholt sie in erweiterter Form als „Fortgesetzte Nachricht . . . bis zum 1745sten Jahre" in der 7. Auflage. Um den Wert dieser Quelle richtig einschätzen zu können, muß man sich vergegenwärtigen, daß er die Vorrede 1755 verfaßte, als sein Stern bereits im Sinken begriffen war. Der Anbruch einer neuen Zeit, die mit seiner philosophischen Regelpoetik nichts mehr anzufangen wußte, konnte ihm kaum entgangen sein. Ränke waren gegen ihn gesponnen worden, und im Laufe der Jahre hatte er manche ungestümen Angriffe, sowohl sachliche Kritik als auch hämische Pasquille, über sich ergehen lassen müssen, so daß seine Autorität allmählich zerbröckelt war. Deshalb griff er die Anregung einiger Freunde freudig auf, in einem seiner bekanntesten und verbreitetesten Bücher gleichsam als Rechtfertigung f ü r die Nachwelt die Bilanz seines Lebenswerkes zu ziehen. Hier sind die wahren Gründe f ü r die Entstehung der Dichtkunst zu suchen. In der Vorrede zur 7. Auflage des praktischen Teiles der Weltweisheit, nach der hier zitiert wird, berichtet er, wie er als junger Dozent Vorlesungen hielt, aus denen sein Grundriß Zu einer Vernunfflmäßigen Redekunst (1729) erwachsen war. „Kaum hatte ich dergestalt der Redekunst einen geringen Dienst erwiesen, als sich eine Anzahl von Studirenden fand, die auch in der Dichtkunst meinen Unterricht begehreten. Ich konnte es ihnen nicht abschlagen; nur sah ich abermals nicht, was f ü r ein Buch ich zum Grunde meiner Vorlesungen legen sollte." 9 Die ihm bekannten Poetiken von Opitz, Buchner, Kindermann, Zesen, Harsdörffer, Rotth, Omeis und Menantes 10 genügen seinen Ansprüchen nicht, denn in ihnen vermißt er „einen recht vernünftigen deutlichen Begriff, von dem wahren Wesen 8
ebd., Bogen [**4 r ]. • a. a. O., Vorrede, Bogen [b 6 V ]. 10 Die Titel sind in der Bibliographie nachzuschlagen.
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der Dichtkunst; aus •welchem alle besondere Regeln derselben hergeleitet werden könnten." 11 Insbesondere wendet er sich gegen die darin angeblich vertretene Ansicht, „das Wesen der Dichtkunst bestünde im scandiren und reimen; und die Poesie sey nichts anders, als eine gebundene Beredsamkeit."" Da er mit den deutschen Poetiken nichts anzufangen wußte, suchte er sich den Stoff für seine Vorlesungen in den gleichsam kanonischen, über den Zeiten stehenden Poetiken der Antike und der Renaissance. In der Vorrede zur Weltweisheit nennt er die monumentale Poetik Julius Cäsar Scaligers von 1561, die Ausgaben bzw. Ubersetzungen der Poetik Aristoteles' von Heinsius (1611) und Dacier (1692), Rappolts Poetica Aristotelica (1678) und Horaz' De Arte Poetica,13 von der er eine Ubersetzung anfertigte, die er allen vier Auflagen der Dichtkunst als Einleitung voranstellte. Das Studium dieser Werke brachte ihm die ersehnte Klarheit. „Ich begriff den großen Grundsatz von der Nachahmung der Natur, welcher der Poesie mit so vielen Künsten gemein ist." 14 Nun machte er sich daran, seine Erkenntnisse zu ordnen und als Vorlesung vorzutragen. „Je weiter ich darinn kam, destomehr wickelten sich meine Begriffe aus; und alles bestätigte mich, in dem wahren aristotelischen Grundsatze, von der Nachahmung der Natur: weil sich alle übrige Regeln der Dichtkunst daraus herleiten ließen; andere willkührliche Grillen aber, dadurch vom Parnasse verbannet wurden." 15 Gottsched war davon überzeugt, mit der Wiederentdeckung des aristotelischen Grundsatzes die Poesie auf ein radikal neues Fundament gestellt zu haben. Selbstbewußt berichtet er: „Kaum war ich mit diesen Vorlesungen zum Ende; als ich schlüssig ward, diese meine Entdeckung nicht für mich allein zu behalten, sondern sie unsern Landesleuten bekannt zu machen. Ich konnte es nämlich leicht begreifen, wie weit unsere deutschen Poeten schon im vorigen Jahrhunderte gegangen seyn würden, wenn ihnen seit Opitzens Zeit, dieser so fruchtbare wesentliche Begriff der Dichtkunst wäre eingeprediget worden. Ich sah es vorher, wie das ganze Reich der Poesie bey uns aufgekläret und erweitert werden würde . . ." 19 Diese selbstherrlichen Sätze bezeugen, daß sich der alternde Gottsched noch uneingeschränkt zu seiner Dichtkunst bekennt, durch die die gesamte Barockpoetik überholt worden sei. Und er schleudert seinen Gegnern 11 12 13 14 15 16
Weltweisheit, prakt. Tl., 7. Aufl., Bogen [b 6v]. ebd., Bogen [ b 7 * ] . Die ausführlichen Titel sind in der Bibliographie nachzuschlagen. Wellweisheit, prakt. Tl., 7. Aufl., Bogen [b 7 ' ] . ebd., Bogen [ b 7 r u - v ] . ebd., Bogen [ b 7 v ] .
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triumphierend ins Gesicht, sie allein hätte den Grundstein für die aufgeklärte Poesie gelegt, die frei von Laune und Willkür den ehernen, ewigen Gesetzen der Natur gehorcht. Bevor nun erläutert wird, worin Gottscheds radikale Umschichtung der poetischen Grundbegriffe besteht, und in welcher Weise Wolfis Gedankengut ihn dabei inspirierte, sei kurz ein Blick auf die deutsche Poetik zu Anfang des 18. Jahrhunderts geworfen. Mit seinem Buch von der Deutschen Poeterey, das erstmals 1624 erschien, gab Martin Opitz das Signal zu einer Massenproduktion von Poetiken. Das angeblich hastig hingeworfene Büchlein erlebte im 17. Jahrhundert nicht weniger als dreizehn Auflagen,17 und in seiner Nachfolge entstanden bis zu Gottscheds Dichtkunst einschließlich der Aerarien und Reimlexika rund siebzig Poetiken. Zusammen mit den Neuauflagen erhöht sich diese Zahl auf etwa hundert.18 Diese imponierenden Zahlen bezeugen, daß die Zeit für eine theoretische Auseinandersetzung mit den Problemen des Dichtens und der Dichtung reif geworden war. Auch zu Beginn des 18. Jahrhunderts hielt die Flut von Poetiken unvermindert an. Christian Weisens Curiöse Gedancken Von Deutschen Versen, die erstmals 1692 erschienen waren, erlebten 1702 ihre dritte Auflage. Mit ihnen zog der Primat der Prosakonstruktion in die deutsche Poetik ein. Martin Grünwalds Reicher und Ordentlicher Vorrath der Männlichen und Weiblichen Reime von 1695 soll den Poesiebeflissenen in den Stand setzen, „ohne die geringste Mühe / und ohne hinderliches Nachdencken" (Titelblatt) Reimwörter zu finden. Johann Hübners Poetisches Handbuch / Das ist / Ein vollständiges Reim-Register (1696 und öfter)18 sucht einen ähnlichen Zweck zu erfüllen. Aus dem Bereich der Sprachgesellschaften stammt Johann Hofmanns (des Taurenden) Lehrmässige Anweisung I Zu der Teutschen Verß- und Ticht-Kunst (1702), die als Nachzügler einer absterbenden Schule zu verstehen ist, deren letzte großangelegte Poetik wohl die von Magnus Daniel Omeis sein dürfte, die 1704 unter dem Titel Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst erschien und 1712 ein zweites Mal aufgelegt wurde. Im Jahre 1703 erschienen nicht weniger als vier Poetiken, Jacob Friderich Reimmanns Poesis Germanorum Canonica et Apocrypha, ein schrulliges Buch voller Geheimniskrämerei, Conrad Dunckelbergs Zur Teutschen Prosodi Vierstuffichte Lehr-Bahn, Gottfried Ludwigs Teutsche 17
18 19
Siehe die Liste der Drucke in Martin Opitz, Buch von der deutschen Poeterei [hrsg. v. Henrik Becker], 6. erl. Aufl. (Halle, 1955), S. 55 f. Diese Angaben beruhen auf eigenen bibliographischen Ermittlungen. Vgl. hierzu Joachim Birke, „Johann Hübners Text zu einer unbekannten Festmusik Telemanns," Die Musikforschung X V I I (1964), S. 403, Anm. 8.
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Poesie dieser Zeit, die noch 1745 eine Neuauflage erfuhr, und Erdmann Uhses Wobl-informirter Poet, der ursprünglich anonym erschien. Dieses magere Bändchen wurde zum Bestseller, wie die mindestens neun Neuauflagen bis 1742 beweisen. Der Europaeische Helicon . . . Das ist eine Kurtze und deutliche Anweisung Zu der Deutschen Dicht-Kunst lautet der Titel der Poetik, die Johann Christoph Männling 1704 veröffentlichte. Zu einem beliebten Lehrbuch wurde Erdmann Neumeisters Allerneueste Art / Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen, die Menantes (Pseudonym für Christian Friedrich Hunold) 1707 herausgab. Dieses Werk markiert die Hinwendung zum galanten Stil. Von geringerer Bedeutung sind die überwiegend f ü r den Schulgebrauch bestimmten Poetiken von Johann Ernst Weise (1708), Johann Samuel Wahll, Johann Grüwel (beide 1709), Christoph Weißenborn (1713), Franz Woken (1715), Johann Joachim Statius (1716), Musophilus (Pseudonym f ü r Johann Georg Gressel) (1717) und Johann George Neukirch (1724). 20 Dazwischen liegt Männlings Poetisches Lexicon (1715), das 1719 und 1737 neu aufgelegt wurde. Derartige „Dichthilfen " florierten auch nach Gottscheds Dichtkunst. 1725 erschien Johann Georg Hamanns Poetisches Lexicon, von dem sich noch 1765 eine Auflage nachweisen läßt. Die bemerkenswerteste Poetik vor Gottscheds Dichtkunst ist die anonym erschienene Anleitung zur Poesie . . . Breßlau, Bey Michael Hubert, 1725,21 die im Keime bereits Gedanken enthält, die auch Gottsched in seiner Dichtkunst darlegt, wenn auch weit ausführlicher. Der Traktat beginnt: „Die Poesie ist eine Nachbildung der N a t u r . . . Die Nachbildung aber bestehet darinnen: Wenn man etwas, es sey gleich in der Welt oder nicht, so natürlich, klar und angenehm vorstellet, wie es entweder an sich selber ist, oder doch der vernünfftigen Einbildung nach beschaffen sein sollte" (S. 1 f.). Die Poesie ist demnach die Darstellung von etwas Wirklichem oder etwas Fiktivem, das den Rahmen der „ver20 11
Die genauen Titel sind in der Bibliographie nachzuschlagen. Die Verfasserschaft dieses Werkes ist umstritten. Angeblich stammt es von Christian Stieff. Vgl. Bruno Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik, Bd. 1, 2. Aufl. (Berlin, 1958), S. 433 f. N u n sagt der Verfasser der Anleitung in der Vorrede, er gebe nur „die Manuscripta" einiger berühmter Männer heraus, „die sich durch ihre Poetische Schrifften sehr verdient gemacht, als B.N. E.M. C.S." (Bogen 5). Die Initialen B.N. und C.S. bedeuten wahrscheinlich Benjamin Neukirch bzw. Christian Stieff. Wer E.M. ist, bleibt ungeklärt. Demnach wäre Stieff nicht der Verfasser des Büchleins. Diese Ansicht findet eine Bestätigung in der von Markwardt nicht ausgewerteten ausführlichen Lebensbeschreibung Stieffs, die kurz nach seinem Tode in Gottscheds Zeitschrift Das Neuesie aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Weinmonat, 1751, S. 717—734, erschien. Ihr Verfasser, der Stieff offenbar genau kannte, erwähnt die Anleitung in seinem detaillierten Werkverzeichnis nicht.
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nünfftigen Einbildung" nicht überschreiten soll, also möglich sein muß. Der Verfasser mahnt ausdrücklich, „daß man nicht über die Wahrscheinlichkeit gehet" (S. 3). Somit erfüllt die Poesie alle Bedingungen, die Wolff an ein Ding stellt. Mit der Forderung nach einer „ v e r n ü n f t i g e n Einbildung," die ja stets eine Nachbildung der N a t u r sein soll, gibt der Verfasser zu verstehen, daß die Vernunft ein Prinzip der N a t u r ist, denn was mit der N a t u r genau übereinstimmt, muß notwendigerweise vernünftig sein und darf also keinen Widerspruch enthalten. Wenn er von N a t u r spricht, meint er die „schöne N a t u r , " denn „wir müssen uns . . . die N a t u r in ihrer Vollkommenheit, und nicht in ihren Mißgeburten und Fehlern vorstellen" (S. 94). Den Primat der Prosakonstruktion, den die Weiseaner propagierten, bedenkt er mit herzhaftem Spott, weil er ungeeignet sei, „des Lesers H e r t z zu gewinnen" (S. 100). N u r „unverhoffte und schöne Gedancken" verursachten „die Bewegung der Affecten" (S. 100). Schön seien sie, wenn sie aus Aerarien und berühmten Büchern stammten. „Unverhoffte Gedancken" jedoch, die sich direkt an das Gefühl, das Herz, wenden, „erfindet die Seele selbst" (S. 101). Wie diese bemerkenswerte Idee mit der „vernünfftigen Einbildung" in Einklang gebracht werden kann, verrät der Verfasser nicht. Offenbar billigt er der Seele, die ja ohne Einschaltung der Vernunft zu Worte kommt, eine gewisse künstlerische Autonomie zu. Dieser Gedanke f ü h r t bereits über Gottsched hinaus. Dieser sah sich einem vielfältigen Erbe gegenüber, als er sich zur Aufgabe machte, das Wesen der Dichtkunst zu ergründen und aus ihm alle besonderen Regeln abzuleiten, denn trotz des unverbrüchlichen Vertrauens in die Regeln entbehrt die Poetik des Spätbarode und der galanten Zeit eines verbindlichen Prinzips. Eine gewisse Kontinuität läßt sich nur f ü r die Regeln nachweisen, die Metrum und Reim bestimmen. Bereits die f ü r Gattungen variieren beträchtlich, und die für Inhalt und Aufbau eines Werkes bezeugen ein Höchstmaß an Subjektivität, weil die Poetiker das Horazsche delectare und prodesse, zu dem sie sich bekennen, im Sinne ihres höchst individuellen Kunstideals auslegen. Aristoteles kannten sie meist nur aus zweiter H a n d , und wenn sie ihn tatsächlich als Gewährsmann zitieren, dann nur aus optischen Gründen. Weder Dichtung als Nachahmung im Sinne Aristoteles' noch die Horazsche Zweckbestimmung der Poesie dienten als objektive Begründung f ü r die Regeln. Die Betonung des Formalen deutet Gottsched als vordergründige Mechanik, wenn er der Barockpoetik vorwirft, sie glaube, „das Wesen der Dichtkunst bestünde im scandiren und reimen," und die schwankenden Regeln f ü r den Inhalt als Willkür. Seinem an der Philosophie Wolfis geschulten Geist war es unmöglich, die Poesie anders als einen sinnvoll integrierten Teil der Vielheit zu sehen, die die Totalität des Weltgebäudes ausmacht. Schon
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der französische Klassizismus, auf dessen Leistungen er stets neidvoll blickt, obgleich er an ihnen manches auszusetzen findet, h a t t e die Vernunft als gemeinsames P r i n z i p von N a t u r - u n d Geisteswissenschaften a n e r k a n n t u n d der Mannigfaltigkeit z u m T r o t z die Einheitlichkeit des Weltbildes imponierend demonstriert. Angesichts dieser Leistungen und ausgerüstet mit den D e n k f o r m e n Wolfis f ü h l t e sich Gottsched aufgerufen, die deutsdie Poetik v o n ihrer Eigenbrötelei zu befreien, sie aus ihrer hausbackenen, provinziellen Beschaulichkeit herauszuführen, u n d ihr einen P l a t z in der neuen O r d n u n g der Welt, die sich der menschliche Verstand erschlossen hatte, zuzuweisen. Es galt zu beweisen, d a ß Dichtung kein W e r k v o n Laune u n d Willkür ist, das sich nach den Einfällen u n d dem sich w a n d e l n d e n Geschmack der Zeiten u n d Dichter richtet, sondern von Ewigkeit her ehernen, unverbrüchlichen Gesetzen gehorcht, die ihre Zeitlosigkeit u n d Universalität verbürgen. W e n n im folgenden der Versuch unternommen wird, die Einflüsse der Wölfischen Philosophie auf Gottscheds Dichtkunst zu ermitteln, dann darf m a n sich das nicht etwa so vorstellen, daß Gottsched die Wolffschen Kategorien P u n k t f ü r P u n k t auf die Poetik übertrug. Die Philosophie enthielt die Grundlagen einer jeden Wissenschaft, sie vermittelte deutliche Begriffe u n d erzog zu sauberem Denken. Ihre D e n k f o r m e n u n d Methoden waren Gottsched so geläufig, daß es ihm gar nicht in den Sinn kam, ihrem Urheber D a n k zu sagen. D e m allgemeinen philosophischen System stand die im L a u f e der J a h r h u n d e r t e gewachsene Poesie gegenüber. D i e Werke der A n t i k e galten gemeinhin als unantastbare Muster, denen m a n uneingeschränkte Bewunderung zollte. Auch Gottsched w a r nicht frei von dieser blinden Mustergläubigkeit, obgleich er die Thesen der französischen Modernes genau kannte, die die Literatur der Griechen an den E r k e n n t nissen der modernen Naturwissenschaft gemessen hatten u n d zu dem Ergebnis gelangt waren, sie sei ein H a u f e von Ungereimtheiten u n d repräsentiere eine tiefe Stufe der Zivilisation. Gottsched kritisiert antike Schriftsteller nur selten, denn er glaubt: „. . . die Griechen w a r e n die vernünftigsten Leute v o n der Welt." 2 2 M i t diesem Bekenntnis distanziert er sich von den Bestrebungen der Modernes u n d verrät zugleich seine N e b e n absicht, die Übereinstimmung der antiken Poetik mit den Ideen der A u f klärung nachzuweisen, Antike u n d Moderne miteinander zu versöhnen. Vieles deutet darauf hin, d a ß er das Mittelalter u n d das Barock, insbesondere die zweite Schlesische Schule, f ü r barbarische Geschmacksverirrungen hielt, die die geistesgeschichtliche Einheit v o n Antike u n d M o derne störten u n d deshalb aufs schärfste b e k ä m p f t werden m ü ß t e n . I n diesem Sinne ist seine Dichtkunst eine Kampfschrift. 22
Dichtkunst,
2. Aufl., S. 124.
Gottscheds poetische Grundbegriffe
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In der Vorrede zur 1. A u f l a g e geht Gottsched nur k u r z auf seine Quellen ein. Wohl aber nennt er sein „Werckchen" einen Versuch, „den ich gewiß nicht aus meinem Gehirne angesponnen; sondern aus allen oberwehnten berühmten Scribenten . . . gesammlet u n d in einige O r d n u n g gebracht . . . Ich hatte mir nur vorgesetzt dasjenige, was in so unzehlich vielen Büchern zerstreut ist, in einem einzigen Wercke zusammen zu fassen." 2 3 In der Vorrede zur 2. Auflage äußert er sich ausführlich über seine Gewährsmänner. U n t e r den N a m e n u n d Werktiteln fehlt Wolff. H i e r k ö n n t e eingewandt werden, der Einfluß Wolfis werde überschätzt, da Gottsched es nicht f ü r nötig hält, ihn anzuerkennen. Diese Bedenken erweisen sich als unbegründet, w e n n m a n streng zwischen D e n k f o r m e n u n d Materialquellen unterscheidet. Z u r eigentlichen Poetik k o n n t e Wolff sicherlich k a u m etwas beitragen. W o h l aber versetzte sein System G o t t sched in die Lage, die in unzähligen Büchern verstreuten G e d a n k e n „in einige O r d n u n g " zu bringen. Ferner ist zu bedenken, d a ß der „angehende Scribent" k a u m mit dem Erfolg seines Buches rechnen konnte, wenn er nicht vorgab, die Ergebnisse anerkannter A u t o r i t ä t e n zu berücksichtigen. Die Quellenhinweise dienen also in erster Linie optischen Gründen. D a v o n u n b e r ü h r t bleibt Gottscheds Überzeugung, die Philosophie — d. h. die Wolfis, die auch er in seiner Weltweisheit propagierte —, enthalte die G r ü n d e f ü r die freien Künste, also auch die f ü r die Poesie. Die dominierende Methode der folgenden Untersuchung ist die D e d u k t i o n . Obgleich sie in mehrfacher Hinsicht f r a g w ü r d i g erscheint, erweist sie sich z u m Verständnis der Gedankengänge Gottscheds als fruchtbar. Es soll ja gezeigt werden, wie das System Wolfis in der Dichtkunst wirksam w i r d . D a s bedeutet keinen Verzicht auf die Auswertung des historisch Gegebenen. I m Sinne der Wolffschen Philosophie ist die Poesie ein zusammengesetztes Ding, denn sie erfüllt einen R a u m oder eine Zeit, besitzt G r ö ß e und Figur, die v e r ä n d e r t werden können, h a t einen A n f a n g und ein Ende. Gottsched sieht „ihre erste Qvelle in den Gemüthsneigungen des Menschen. So alt also diese sind, so alt ist auch die Poesie." 24 D e r Mensch hält den G r u n d in sich, w a r u m Poesie v o r h a n d e n ist. Gottsched bezeichnet ihn als Quelle ihres Wesens oder als ihre Ursache. 25 „Giebt diese nun, vermöge ihrer Wirkung, den G r u n d zu etwas: so heißt sie eine wirkende Ursache . . . Ein Gedicht ist das W e r k des Poeten, der es gemachet h a t ; er aber ist desselben wirkende Ursache." 2 6 Dieses Beispiel zeigt einmal mehr, 23
24 25 28
a. a. O., Bogen !:"*lv. Dichtkunst, 2. Aufl., S. 67. Vgl. Weltweisheit, theor. Tl., 7. Aufl., § 309 f. ebd., § 3 1 0 .
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daß Gottsched selbst die philosophische Terminologie auf die Poetik anwendet. „Dasjenige, um wessentwillen eine Ursache wirket, das wird die Absicht genennet . . . Hieraus erhellet, daß die Absicht mit zu den Ursachen gehöret, die einen Einfluß in ein Ding haben." 2 7 Der Mensch, die Quelle des Wesens der Poesie, bringt Dichtung nur hervor, wenn er damit eine Absicht verfolgt. Diese setzt ein mit Verstand begabtes Wesen (hier im Sinne von lebendig Seiendem) voraus, das sich das Mögliche vorstellen kann, woraus zu folgern ist, daß ein zusammengesetztes Ding nur auf Grund der Absicht eines verständigen Wesens entsteht. „Was entweder ganz, oder zum Theil den Grund in sich hält, warum die Absicht erreichet wird, das heißt ein Mittel."2* Demnach ist das Werk des Dichters ein Mittel, mit dem er eine Absicht zu verwirklichen sucht. Wirkt das Werk im Sinne der Absicht, so erfüllt es seinen Zweck. Das bedeutet nicht, daß Dinge nur auf Grund einer Absicht entstehen und nur einen Zweck erfüllen, sondern eine wirkende Ursache, das Werk, kann mehrere Absichten haben. „Diejenige nun, die sie zum Wirken antreiben würde, wenn gleich keine andere mehr vorhanden wäre, heißt die Hauptabsicht; die andern aber, um derenthalben sie nicht wirken würde, heißen die Nebenabsichten."2° In der Dichtkunst schreibt Gottsched z. B., es sei möglich, „die Lust mit dem N u t z e n zu verbinden," 3 0 wobei er keinen Zweifel darüber läßt, daß er im N u t z e n die Hauptabsicht des Dichters sieht, im Belustigen jedoch nur eine Nebenabsicht, um derentwillen eine Ursache nicht wirken sollte. Wie wichtig ihm die saubere Trennung von Absicht, Mittel und Zweck ist, geht aus einer anderen Stelle der Dichtkunst hervor, wo er behauptet, die ältesten Dichter seien Philosophen gewesen, denen man schwerlich streitig machen könnte, „daß sie auch Absichten bey ihren Arbeiten gehabt haben. So mannigfaltig nun dieselben gewesen seyn mögen, so leicht sind sie doch zu errathen. Ihre Gedichte sind ja die Mittel, wodurch sie dieselben zu erlangen gesucht, und wirklich erlanget haben: wozu also dieselben geschickt gewesen sind, das ist f ü r einen Endzweck ihrer Verfasser anzusehen." 31 Hier muß gefragt werden, worin denn nun die Absicht der Dichter besteht, denn sie schreibt ja die Beschaffenheit des Mittels, insbesondere dessen Eigenschaften vor, die zur Erreichung des Endzweckes nötig sind. Die Eigenschaften haben ihren Grund im Wesen eines Dinges, und somit f ü h r t die Ermittlung der Absichten der Dichter gleichzeitig zur Erkennt27 28 28 30 31
ebd., § 313. ebd., § 315. ebd., § 316. 2. Aufl., S. 151. Dichtkunst, 4. Aufl., S. 88.
Gottscheds poetische Grundbegriffe
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nis des Wesens der Dichtkunst. Gottsched vertritt genau diese Ansicht, wenn er schreibt, d a ß die Kenntnis der „Absichten, so die Erfinder und Fortpflanzer der Poesie vor Augen gehabt . . . uns in Untersuchung des w a h r e n Wesens der Poesie, nicht ein geringes Licht geben wird." 3 2 Gottscheds Überlegungen stehen ganz im Banne H o r a z ' , der behauptet, es habe anfänglich eine Identität von Dichter u n d Philosoph bestanden. Diese Lehre wirkte nachhaltig auf die deutsche Barockpoetik ein, in deren K o n z e p t es vorzüglich zu passen schien, den Dichter u n d sein A m t zu mystifizieren. O p i t z schreibt, zur Erziehung der ungeschlachten menschlichen Gesellschaft hätten „weise Männer, was sie zue erbawung der Gottesfurcht, gutter sitten v n d wandels erfunden, in reime v n d fabeln, welche sonderlich der gemeine pöfel zue hören geneiget ist, verstecken v n d verbergen müssen." 33 Ähnlich äußert sich e t w a J o h a n n H o f m a n n , bei dem es heißt, „ d a ß die Poeten vor Alters zugleich N a t u r Kündiger / Sitten Lehrer / u n d Saiten Spieler gewesen," 31 was i m G r u n d e auch f ü r die Gegenwart gelte, denn ein Dichter „ m u ß ein solcher M a n n seyn / der in artigen und annehmlichen Gedichten die göttliche u n d menschliche Weißheit vorstellen könne." 3 5 Gottsched pflichtet dieser Auffassung bei: „Die alten Poeten waren . . . die ersten Weltweisen: O d e r umgekehrt, die ältesten Weltweisen bedienten sich der Poesie, das rohe Volk dadurch zu zähmen. H o r a t . Dichtk. v. 576. Das war vor grauer Zeit die Weisheit jener Alten, Zu zeigen, was für gut und strafbar sey zu halten, Was recht und schändlich war, der Unzucht feind zu seyn, Den Beysdilaf abzuthun, den Ehstand einzuweihn, Die Städte zu erbaun, Gesetze vorzuschreiben, So muste Ruhm und Preis den Dichtern eigen bleiben."38
Die stereotype Phrase, mit der die Barockpoetik die W ü r d e des Poeten zu beweisen suchte, erhält durch Gottsched einen neuen Sinn. D e m von der Autoritätsgläubigkeit des Barock inspirierten Lippenbekenntnis stellt er seine Zweckbestimmung der Philosophie und der Philosophen zur Seite: „Die 'Weltweisheit nenne ich . . . die Wissenschaft v o n der Glückseligkeit des Menschen; . . . ein Weltweiser . . . ist also ein Mensch, der die Wissenschaft der Glückseligkeit . . . zu erlangen und auszuüben bemühet i s t . " " Diese Leibnizschen Definitionen ergänzt er durch den Gedanken Augusti32
33 34 35 36 37
ebd., 2. Aufl., S. 86.
Poeterei, S. 7 f. Lehr-mässige Anweisung, Vorrede. ebd., S. 3. Dichtkunst, 2. Aufl., S. 87. Weltweisbeit, theor. Tl., 7. Aufl., „Einleitung zur Weltweisheit," § 3.
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II. Kapitel
nus', „der Mensch habe keine andere Ursache zu philosophiren; als damit er sich glücklich machen wöge." 38 Gottsched zufolge konnten die ältesten Philosophen ihrer Natur nach nichts anderes beabsichtigen, als die Menschheit glücklich zu machen. Sie „bedienten sich der Poesie, das rohe Volk dadurch zu zähmen." Damit bekennt er sich zum Lehrcharakter einer jeden Dichtung. Das Wunderbare und Ungewöhnliche des Inhalts und die Besonderheit der poetischen Sprache hält er nur für Lockmittel. Er gelangt also zu dem Ergebnis, die Hauptabsicht des Dichters sei das Belehren, das Belustigen jedoch nur eine Nebenabsicht, „ . . . da es möglich ist, die Lust mit dem Nutzen zu verbinden." Das bedeutet ein nicht unwesentliches Abrücken von der Zielsetzung der Barockpoetik, die Horaz' berühmte Stelle „aut prodesse volunt aut delectare poetae aut simul et iucunda et idónea dicere vitae" 39
durchaus wörtlich verstand. Der dichtende Philosoph oder der philosophische Dichter, der über seine Hauptabsicht und seine Nebenabsichten Klarheit gewonnen hat, wird, wie Gottsched meint, sein Werk so einrichten, daß es in der beabsichtigten Weise wirken kann. Das führt zu einer näheren Bestimmung des Dinges und mithin seines Wesens. Aus den im 1. Kapitel dargelegten Gedankengängen Wolfis geht hervor, daß die Eigenschaft eines Dinges ihren Grund in seinem Wesen hat. Die Erkenntnis des Wesens eines Dinges ist also notwendige Voraussetzung, um über die Eigenschaft verbindliche Aussagen machen zu können. Bei der allgemeinen Bestimmung des Wesens geht Gottsched wie Wolff von der Erfahrung aus. Er schreibt: „An einem Dinge wird zwar viel verschiedenes wahrgenommen: allein etliches davon ist so beschaffen, daß von seiner Bestimmung, auch das übrige seine Gewißheit erhält, was dem Dinge beständig z u k ö m m t . . . Weil nun an einem jeden Dinge, seiner Natur nach, eines eher, als alles andere gedacht werden kann: so ist auch etwas darinnen vorhanden, welches den Grund . . . alles übrigen, in sich hält. Dieses aber nennet man das Wesen eines Dinges. Wer also das Wesen eines Dinges versteht, der kann von allem übrigen, was ihm zukömmt, Grund anzeigen . . . Hieraus erhellet ferner: Daß die innere Möglichkeit jedes Dinges sein Wesen ausmachet."40 Die „innere Möglichkeit" eines Dinges, die den Grund für alles enthält, was einem Dinge „seiner Natur nach" beständig zukommt, könne dem Satz des Widerspruchs zufolge 38 38
40
ebd., § 1. De Arte Poética Liber, Einf., Obers, u. Erl. von Horst Rüdiger (Zürich, 1961), V. 333 f. Weltweisheit, theor. Tl., 7. Aufl., §§ 230—232.
Gottscheds poetische Grundbegriffe
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nicht zugleich unmöglich sein. Demnach sei das Wesen unumgänglich, d. h. metaphysisch notwendig, folglich auch unveränderlich und unveräußerlich, denn „nothwendig ist alles dasjenige, dessen Gegentheil einen Widerspruch in sich hält." 4 1 „Was nun aber unveränderlich ist, das ist auch ewig." 42 Die hier gedrängt wiedergegebenen Gedankengänge krönt Gottsched mit der Schlußfolgerung, „daß auch das Wesen aller Dinge nothwendig und ewig sey."13 Hier wird erkennbar, welches Gewicht der stets wiederkehrenden Frage Gottscheds nach dem Wesen der Dichtkunst zukommt. Überträgt man die Ergebnisse der allgemeinen Erörterungen auf den speziellen Fall der Poesie, dann läßt sich zwingend folgern: Das unveränderliche, ewige Wesen der Poesie enthält den unwandelbaren Grund f ü r ihre vielfältigen Erscheiungsformen. Er allein verbürgt die umfassende, universale Einheit im mannigfaltigen Reich der Poesie. Hierbei darf allerdings nie vergessen werden, daß die Poesie ein zusammengesetztes Ding ist, dessen Wesen in bestimmter Weise von der Absicht des Dichters abhängt. Die Ergebnisse dieser Überlegungen besitzen also nur Gültigkeit, wenn man die Konstanz der Absicht, die Gottsched bewiesen zu haben glaubt, nicht in Frage stellt. Vom zusammengesetzten Ding wurde bereits gesagt, daß es auf Grund einer Absicht entsteht und in der Wirklichkeit endlich ist. Das bedeutet nun nicht, daß das Wesen eines zusammengesetzten Dinges endlich sei. Als „innere Möglichkeit" besteht es in Ewigkeit, auch wenn das Ding längst aufgehört hat zu existieren. Somit besitzen die allgemeinen Erkenntnisse über das Wesen auch f ü r das des zusammengesetzten Dinges uneingeschränkte Gültigkeit. D a ein zusammengesetztes Ding aus Teilen besteht, die in bestimmter Weise zusammenwirken, ist zu vermuten, daß sie nicht beliebig zusammengefügt werden dürfen. Die Absicht, deren Konstanz hier als gesichert vorausgesetzt wird, will ja ein Werk hervorbringen, dessen Beschaffenheit die Erreichung des Endzweckes gewährleistet. Deshalb fordert Gottsched, die Teile müßten „auf einige Weise zusammen gehören; so, daß man das daraus entstehende Ding f ü r Eins ansehen kann." 4 4 Wenn Gottsched auch sagt, „der Zusammenhang alles dessen, was zum Wesen eines Dinges gehöret, machet die Einheit eines Dinges aus," und „weil nun dieser Zusammenhang bey jedem Dinge statt findet: so kann man jedes Ding als Eins betrachten,"*5 so scheint das der vorigen Feststellung, die Teile müßten „auf einige Weise zusammen gehören," zu widersprechen. Dieser schein41 42 43 44 45
3
ebd., ebd., ebd., ebd., ebd., Birke
§240. §242. § 243. § 268. §247.
II. Kapitel
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bare Widerspruch hebt sich freilich auf, wenn man die Erfahrung zu Hilfe nimmt. Theoretisch gesehen ist alles Endliche, also jedes zusammengesetzte Ding, eine Einheit, das durch seine Existenz gleichzeitig seine innere Möglichkeit beweist, was jedoch noch nicht bedeutet, daß man es auch „als Eins ansehen kann." Für das willkürlich zusammengesetzte Ding fehlt der Begriff, weil die Absicht seines Schöpfers unerkannt bleibt, wogegen sich die Sprache für ein Ding, dessen Teile auf „einige Weise zusammen gehören," ein Zeichen geschaffen hat, in dem der sinnvolle, von einer erkennbaren Absicht geschaffene Zusammenhang der Teile als gesichert vorausgesetzt wird. Wenn also der Art und Weise des Beieinanderseins der Teile einige Bedeutung zukommt, dann muß sie in Beziehung zum Wesen stehen. Ja, Gottsched sieht darin das Wesen. Er schreibt: „Eines zusammengesetzten Dinges Wesen besteht in der Art und Weise seiner Zusammensetzung."46 Auch in diesem Falle hält er sich an Wolff, dessen Gedankengänge hierüber bereits im vorigen Kapitel dargelegt wurden. Es gilt noch zu klären, welche Veränderungen in einem zusammengesetzten Dinge möglich sind, die seine Wirklichkeit nicht aufheben. Gottsched demonstriert, daß keine andere Veränderung zulässig ist „als im Absehen auf die Größe . . . Figur . . . Lage der Theile . . . innerliche Bewegung . . . und den Ort des Ganzen." 47 Es wäre im Sinne Wolffs noch hinzuzufügen, daß das Wesen zusammengesetzter Dinge, deren Teile nicht alle auf einmal beieinander sind, in der Art und Weise der Aufeinanderfolge der Teile besteht. Nach dieser allgemeinen Bestimmung des Wesens eines zusammengesetzten Dinges ist zu untersuchen, wie Gottsched dazu kommt, das Wesen der Dichtkunst als Nachahmung der Natur zu bezeichnen. In der Weltweisheit sagt er nur, die Lektüre der Poetiken von Aristoteles, Horaz und Scaliger „bestätigte midi, in dem wahren aristotelischen Grundsatze, von der Nachahmung der Natur: weil sich alle übrige Regeln der Dichtkunst daraus herleiten ließen . . ." 4S Die Begründung findet sich im 1. Kapitel der Dichtkunst, das überschrieben ist „Vom Ursprünge und Wachsthume der Poesie überhaupt." Aus dem spärlichen Material, das ihm seine Quellen boten, entwickelt Gottsched eine Theorie von der Entstehung der Poesie und der Evolution der Gattungen. Seiner Meinung nach begann die Dichtung als gesungene Lyrik. Solange sich die Gefühle des Menschen im Gleichgewicht befänden, hätte er keine Ursache, seinen Gebärden oder Worten ein besonderes Gewicht beizulegen. In dem Augenblick jedoch, in dem das innere Gleichgewicht gestört sei, d. h. wenn ein 46 47 48
ebd., § 2 8 0 . ebd., § 285. Weltweisheit,
prakt. Tl., Vorrede, Bogen [b 7"].
Gottscheds poetische Grundbegriffe
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Affekt dominiere, löse der Mensch die Spannung durch einen Ausruf, der trotz seiner Formlosigkeit den Kern des Lyrischen enthalte. Auf einer höheren Stufe der Zivilisation sei dann das überfließende Gefühl durch die Form (Metrum, Reim) gebändigt worden. Diese anthropologische Begründung des Dichtens, die sich schon in Aristoteles' Poetik findet, steht nur bedingt in Zusammenhang mit dem Wesen der Poesie, weil noch die Absicht zu wirken fehlt. Überhaupt mißt Gottsched den noch ungeschlachten Versuchen der ersten Dichter nur geringe Bedeutung bei, obwohl er anerkennt, daß der Antrieb zum Dichten in den Gemütsneigungen des Menschen begründet sei. In dem Augenblick, in dem der unkontrollierte Reflex der bewußten, von einer Absicht gesteuerten und beherrschten Sprachschöpfung weichen mußte, die ein Gegenüber voraussetzt, ist Gottsched zufolge der Schritt zur echten Dichtung getan. Der dichtende Philosoph suche sich im Gedicht nicht selbst zu verwirklichen, sondern er wolle im Sinne seiner Berufung als Seher, Künder und Erzieher, bewußt wirksam sein. Seine Aufgabe sei es also gewesen, dem Menschen die Ursachen und Wirkungen des Bösen und der Torheit deutlich vor Augen zu führen, damit er sie erkenne und verabscheue. Das setzt, wie Gottsched glaubt, die Kenntnis der menschlichen Psyche voraus. Der Mensch könne nur beeinflußt werden, wenn er das Werk als möglich akzeptiert, also wenn Stoff, Thema und Darbietungsform die Grenzen menschlicher Einsicht nicht überschreiten. Diese zieht die Natur im weitesten und die menschliche Natur im engeren Sinne. Das veranlaßt Gottsched zu sagen: „Die Nachahmung der Handlungen und Leidenschaften des Menschen, wird wohl allemal das Hauptwerk der Dichtkunst bleiben," 48 denn durch sie allein könne der Dichter seinen Endzweck erreichen. Damit ist zunächst die Abhängigkeit des Wesens von der Absicht erwiesen. Im Zentrum von Gottscheds Wesensbestimmung der Dichtkunst steht der Naturbegriff, dessen Interpretation über den Rahmen des in der Poesie Zulässigen Aufschluß gibt. Wenn auch der Mensch das wichtigste Objekt der Nachahmung ist, so schließt Gottsched die Körperwelt nicht aus, denn „die Natur . . . begreift alle endliche Kräfte der Dinge zusammen genommen in sich."50 Deshalb mahnt er auch, „nicht [nur] die Natur der Körper; sondern auch der Seelen und Geister" 51 in die Untersuchung mit einzubeziehen. Die Dichtkunst, in der ein Kapitel über den Naturbegriff fehlt, hilft hierbei nicht weiter. Gottsched spricht nur beiläufig von einer „natür4
» Dichtkunst, 4. Aufl., S. 93. Weltweisheit, theor. Tl., 7. Aufl., § 405. 51 ebd., §405. 50
3»
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II. Kapitel
liehen Sache," einem Körper, der nicht von Menschenhand geschaffen wurde. Vermutlich setzte er bei seinen Lesern voraus, daß ihnen der philosophische Naturbegriff Wolfis vertraut war. In seiner Weltweisheit führt er diesen näher aus. „Natürlich nennet man in der Welt alles das, was in dem Wesen und in der Natur derselben seinen Grund hat. Nun besteht das Wesen der Welt in der Art ihrer Zusammensetzung, und in der Vermischung ihrer Theile . . . und die Natur derselben in der wirkenden Kraft: die aus den Elementen und andern einfachen Substanzen, die darinnen vorhanden sind, ihren Ursprung hat . . . Was sich also aus diesen beyden Quellen herleiten, das ist, gut erklären und beweisen läßt, so, daß man begreifen kann, wie es damit zugeht, das ist eine natürliche Sache, oder Begebenheit in der Welt." 52 Der Mensch, der das Natürliche erkennen will, muß also Einsicht in Wesen und Natur der Welt besitzen, Ursache und Wirkung mit den Hauptgründen der Vernunft erklären können. Die Natur der Welt bezeichnet Gottsched als wirkende Kraft, die er schon vorher als Ursache des Beharrens oder der Bewegung erklärt hatte. Die Quelle dieser in jedem Körper vorhandenen Kraft sieht er wie Leibniz in den einfachen Substanzen, den Monaden, die sich in einer Vielheit von Bestimmungen und in einer Fülle von Wirkungen dynamisch entfalten. Außer der Natur der unbelebten Körperwelt und der belebten, doch nur triebhaften, unvernünftigen Tierwelt gehören zur Gesamtheit der Natur auch die Seelenkräfte des Menschen. Gottsched beweist in seiner Psychologie ausführlich, daß die Seele „denket, das ist, gegenwärtiges empfindet... sich abwesendes e i n b i l d e t . . . v e r s t e h t . . . urtheilet. . . schließt. . . erfindet . . . begehret und verabscheuet. . . will. . . und nicht w i l l . . . ja endlich eine Willkühr . . . und Freyheit besitzt . . . Alle dieser Veränderungen gehen nun in der Seele so vor, daß sie sich derselben bewußt i s t . . . : und das Bewußtseyn machet also das Wesen aller ihrer Gedanken aus."53 Hiermit beweist Gottsched auch, daß die Seele eine einfache Substanz sein muß, denn in einem zusammengesetzten Ding kann eine Veränderung nur durch die Bewegung der Teile oder des Ganzen stattfinden. Auch fehlen ihr die bereits oben genannten Eigenschaften eines zusammengesetzten Dinges. Wie jedes einfache Ding besitzt auch die Seele nur eine einzige Kraft, aus der alles erklärt werden kann, was ihr zukommt. Wenn Gottsched nun von verschiedenen Kräften der Seele spricht, so tut er das nur der Deutlichkeit halber. Sie sind als Äußerungen „der einzigen Kraft zu denken" 54 zu verstehen, die er auch als „vorstellende Kraft" der Seele be52 53 64
ebd., § 4 0 3 . ebd., § 1009. ebd., § 1016.
Gottscheds poetische Grundbegriffe
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zeichnet. Diese Überlegungen führen zu einer bemerkenswerten Erkenntnis: „Da nun in den zusammengesetzten Dingen, das Wesen von der Natur bloß deswegen unterschieden ist; weil sie, außer einer wirkenden Kraft, auch die Art und Weise der Zusammensetzung zum Grunde ihrer Eigenschaften legen: so ist hergegen hier bey den Seelen, als einfachen Dingen, die Natur derselben mit ihrem Wesen einerley. Denn eben die vorstellende Kraft der Seele, die ihr Wesen ausmachet, ist auch zugleich die Quelle ihrer Veränderungen und Wirkungen; und folglich die Natur derselben: weil alle ihre Thätigkeit oder Wirksamkeit aus den unabläßigen Bemühungen dieser Kraft entsteht." 55 Diese Gedanken sind für Gottscheds Naturbegriff von weitreichender Konsequenz. Außer den vielfältigen Kräften, die in der Körperwelt wirken, gehört zur Natur auch jede Tätigkeit der menschlichen Seele. Diese geht an sich ohne körperliche Bewegung vor sich. Erst indem die Seele den Gliedmaßen und Sinnesorganen Befehle erteilt, wirkt sie in einem Körper, einem zusammengesetzten Ding. Zwar ist es möglich, daß der Dichter mit sprachlichen Mitteln seelische Vorgänge darstellt, die auf der Kraft zu denken beruhen und noch nicht auf den Bereich der Körperwelt Einfluß nehmen. Die Handlungen des Menschen jedoch vollziehen sich im Bereiche der Körperwelt. Somit wirkt die einzige Kraft der Seele, ihre Natur, auf den Körper, und dieser wiederum verursacht Bewegung. Sinnlich wahrnehmbar wird somit die Natur der Seele stets im Körper. Sie bedient sich seiner als Mittel zur Tätigkeit in der Welt. Dieser Vorgang ist auch umkehrbar. Über den Körper, insbesondere seine Sinnesorgane, gewinnt die Seele Einblick in das Geschehen der Welt. Da die Natur der Seele in der Kraft zu denken besteht, ist der Akt der Erkenntnis bereits ein Akt der Natur. Man könnte auch sagen, daß der Natur alles angehört, was einer rein immanenten Begründung fähig ist, was der Erhellung durch die Offenbarung nicht bedarf. Nicht mehr die Inhalte und Gegebenheiten der Erscheinungswelt, sondern Wahrheiten, für die ein zureichender Grund beigebracht werden kann, sind das Objekt der Nachahmung. Gottsched glaubt allerdings nicht, daß die Erkenntnis die Grenzen der Natur bestimmt, wenn er schreibt: „Da wir nicht aller besondern Körper Wesen vollkommen einsehen, am wenigsten aber verborgene Kräfte der Welt erkennen können: so sieht man leicht, daß man unsere Einsicht und Erkenntniß nicht zum Maaße dessen, was natürlich ist, annehmen müsse." 5 ' Diese philosophische Interpretation der Begriffe Wesen und Natur, der Gottscheds Weltweisheit, also indirekt auch Wolifs Metaphysik zugrunde 55 56
ebd., § 1020. ebd., § 4 0 4 .
II. Kapitel
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gelegt wurde, zeigt die Schranken auf, die der Dichter Gottscheds Meinung nach nicht überschreiten sollte. Obgleich er bei seinen Überlegungen nur die Gründe der Vernunft anwandte, so ist es nicht ausgeschlossen, daß er sich von theologischer Rücksichtnahme leiten ließ. Indem der Dichter ein Werk schafft, wirkt er als schöpferisches Wesen. Solange seine Fiktion den Kriterien der Vernunft standhält, d. h. wenn er einzig die Welt nachahmt, die Leibniz zufolge die beste aller möglichen Welten ist, dann hält er sich an die perfekte Vorlage Gottes. Ihre Schranken zu durchbrechen hieße, die Schöpfung Gottes korrigieren zu wollen. Wer also den Bereich seiner Erkenntnis überschreitet, d. h. wer für seine poetischen Kreationen keinen zureichenden Grund anzugeben vermag, versündigt sich. Hiergegen könnte man einwenden, die künstlerische Phantasie, die kühn die Fesseln der Vernunft abstreift, sei genau so gut eine Schöpfung Gottes wie die Ordnung der Natur. Gottsched selbst konstruiert ja eine hypothetische Wahrscheinlichkeit bei der Erklärung der äsopischen Fabel, die nur möglich ist, wenn man voraussetzt, daß einmal Tiere und Pflanzen wie Menschen denken, sprechen und handeln konnten. Wie Gottsched sich aus dieser Schlinge zieht, steht hier nicht zur Diskussion. An dieser Stelle sei noch einmal ins Gedächtnis zurückgerufen, was er über die Bedeutung des Wesens schreibt: „Wer . . . das Wesen eines Dinges versteht, der kann von allem übrigen, was ihm zukömmt, Grund anzeigen. Es wurde auch schon angedeutet, daß man weiß, wie ein Ding möglich ist, oder wie es entstehen kann, wenn man sein Wesen erkannt hat. „Wer also weis, wie ein Ding entsteht, oder wie es gemachet wird, der kann von allem, was demselben eigentümlich ist, oder was ihm beständig zukömmt, Rede und Antwort geben: das ist, er kann den Grund anzeigen, warum es vielmehr so, als anders ist."58 Die Nachahmung der Natur muß also den Grund für alles Beständige und Notwendige der Poesie enthalten. Alles, was mit Grund von einem Ding gesagt werden kann, nennt Gottsched seine Beschaffenheit. Diese setzt sich zusammen aus Eigenschaften, die sich einzig aus dem Wesen begründen lassen, und Zufälligkeiten, deren Grund außerhalb des Wesens liegt. Man sieht hier leicht, daß Gottsched die Hauptabsicht zu den Eigenschaften und die Nebenabsichten zu den Zufälligkeiten in Beziehung setzt. Da, wie bereits erläutert wurde, das Wesen, das den zureichenden Grund für die Eigenschaften eines Dinges liefert, notwendig, unveränderlich und unveräußerlich ist, müssen auch die Eigenschaften notwendig, unveränderlich und unveräußerlich sein, denn was den zureichenden Grund für die Eigenschaften eines be57 118
ebd., § 231. ebd., § 2 3 2 .
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stimmten Dinges abgibt, k a n n nicht gleichzeitig die Eigenschaften eines zweiten Dinges begründen. Die Zufälligkeiten hingegen sind beliebig variabel, da sie dem feststehenden G e f ü g e v o n Eigenschaften u n d Wesen nicht angehören. W o r i n sieht n u n Gottsched die spezielle Eigenschaft der Poesie? Eine direkte A n t w o r t auf diese Frage findet sich in der Dichtkunst nicht, da in ihr von einer Eigenschaft der Poesie nie die Rede ist. Sie läßt sich jedoch unter A n w e n d u n g der bereits erarbeiteten allgemeinen Kriterien erschließen. Sie m u ß demnach der Dichtkunst beständig zukommen und in der N a c h a h m u n g der N a t u r begründet sein. In seiner Poetik sagt Gottsched: „Die Fabel ist hauptsächlich dasjenige, so der U r s p r u n g u n d die Seele der ganzen Dichtkunst ist." 58 A n einer anderen Stelle heißt es, m a n könne „mit G r u n d e der W a h r h e i t sagen . . . d a ß die Fabel das H a u p t w e r k der ganzen Poesie sey; indem die allerwichtigsten Stücke derselben einzig und allein darauf ankommen." 6 0 Es ist zu p r ü f e n , ob „Ursprung," „Seele" und „ H a u p t w e r k " mit der Eigenschaft identisch sind. Gottscheds Anweisung, wie eine Fabel zu „verfertigen" sei, u n d wie sie beschaffen sein müsse, hilft bei der Lösung dieses Problems weiter. Sein berüchtigtes Rezept, das übrigens nicht von ihm stammt, 8 1 lautet: „Zu allererst w ä h l e m a n sich einen lehrreichen moralischen Satz, der in dem ganzen Gedichte z u m G r u n d e liegen soll, nach Beschaffenheit der Absichten, die m a n sich zu erlangen, vorgenommen. H i e r z u ersinne man sich eine ganz allgemeine Begebenheit, w o r i n n eine H a n d l u n g v o r k ö m m t , d a r a n dieser erwählte Lehrsatz sehr augenscheinlich in die Sinne fällt." 6 2 Eine derartige poetisdi-moralische Fabel „hat die folgenden vier Eigenschaften. 1) Ist sie allgemein, 2) nadigeahmt, 3) erdichtet, 4) allegorisch, weil eine moralische W a h r h e i t darinn verborgen liegt."6® Erst nachdem diese Vorarbeit geleistet ist, darf der Dichter sich entschließen, ob er „eine äsopische, comische, tragische, oder epische Fabel" 6 4 aus der allgemeinen Fabel machen will. Diese k a n n demnach als G r u n d l a g e jeder poetischen G a t t u n g dienen, w o m i t bewiesen ist, d a ß sie als unveräußerliches, gemeinsames Kennzeichen allen Erscheinungsformen der Poesie angehört. Diese Schlußfolgerung w i r f t die Frage auf, ob denn poetische Beschreibungen, denen keine Fabel zugrunde liegt, nicht zur Poesie gehören. Gottsched hält „diese A r t der poetischen N a c h a h m u n g " f ü r „die geringste: Wes59
Dichtkunst, 2. Aufl., S. 141. «® ebd., S. 158. 61 Er übernahm es fast wörtlich aus Le Bossus Traité du Poëme épique (Paris, 1675), S. 37. 62 Dichtkunst, 2. Aufl., S. 153. 63 ebd., S. 154. « ebd., S. 154.
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wegen sie auch H o r a z im Anfange seiner Dichtkunst f ü r unzulänglich erkläret, einen wahren Poeten zu machen." 65 Mit halbem Herzen erkennt er sie als Schmuck der Poesie an, solange sie nur sparsam verwendet wird. Eine eigenständige Rolle billigt er ihr nicht zu. Damit ist zunächst erwiesen, daß Gottsched die allgemeine Fabel für die gemeinsame Eigenschaft aller Gattungen, also der Poesie schlechthin, hält. Die Form der Darbietung versteht er demnach als Zufälligkeit, denn sie ändert nichts an der Vermittlung des in die Fabel gekleideten moralischen Satzes. Welche Gattung der Dichter wählt, hängt also lediglich von seinen Nebenabsichten ab, womit nicht gesagt ist, daß Gottsched keine Rangordnung der Gattungen anerkenne. Es bleibt noch zu untersuchen, ob sich die Fabel aus dem Wesen der Dichtkunst begründen läßt. Wenn das zutrifft, dann dürfte feststehen, daß sie tatsächlich die Eigenschaft der Poesie ist. Zu diesem Zweck sei noch einmal ein Blick auf die Qualitäten geworfen, die sie besitzen muß. Ihr allgemeiner Charakter verbürgt ihre Zeitlosigkeit, macht sie den Menschen aller Zeiten und Völker verständlich und glaubhaft. Allgemein heißt demnach, den unwandelbaren Gesetzen der N a t u r verpflichtet sein. Alles, was nicht aus der N a t u r begründet werden kann, bleibt der erkennenden Kraft der Seele unverständlich. Die allgemeine Fabel muß demnach notwendigerweise nachgeahmt sein. Als Erdichtung unterscheidet sie sich von der Geschichte und bietet dem Dichter die Möglichkeit, den moralischen Satz, dessen Wahrheit er in seinem Werk zu erweisen gedenkt, im Sinne seiner Absicht zu arrangieren. Der allegorische Charakter der Fabel erlaubt dem Dichter, den moralischen Satz hinter einer Maske zu verstecken. Indem er seinem Publikum verheimlicht, daß er es belehren will, versichert er sich dessen Bereitschaft, sich der Illusion unbefangen hinzugeben. Die Form der Allegorie erhöht also die Eindringlichkeit der Fabel. Diese Überlegungen führen zu dem Ergebnis, daß sich die Fabel eindeutig aus dem Wesen der Dichtkunst begründen läßt. Sie ist demnach die Eigenschaft der Poesie. Der durch und durch philosophische Charakter der Fabeltheorie Gottscheds, die mehr, als der Anschein erwecken mag, der Fiktionslehre Wolffs verpflichtet ist, wird durch das folgende Zitat erhärtet. Gottsched sdireibt, die Fabel „sey eine unter gewissen Umständen mögliche, aber nicht wirklich vorgefallene Begebenheit, darunter eine nützliche moralische Wahrheit verborgen liegt. Philosophisch könnte man sagen, sie sey ein Stücke aus einer andern Welt. Denn da man sich in der Metaphysik die Welt als eine Reihe möglicher Dinge vorstellen muß; ausser derjenigen aber, die wir wirklich vor Augen sehen, noch viel andre der85
ebd., S. 137.
Gottscheds poetische Grundbegriffe
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gleichen Reihen gedacht werden können: So sieht man, daß eigentlich alle Begebenheiten, die in unserm Zusammenhange wirklich vorhandener Dinge nicht geschehen, an sich selbst aber nichts Wiedersprechendes in sich haben, und also unter gewissen Bedingungen möglich sind, in einer andern Welt zu Hause gehören, und Theile davon ausmachen. Herr Wolf hat selbst, wo mir recht ist, an einem gewissen Orte seiner philosophischen Schriften gesagt, daß ein wohlgeschriebener Roman, das ist ein solcher, der nichts Wiedersprechendes enthält, für eine Historie aus einer andern Welt anzusehen sey. Was er von Romanen sagt, das kan mit gleichem Rechte von allen Fabeln gesagt werden.**" Diese scharfsinnige Begründung der vernünftigen Fiktion läßt offen, was denn nun unter den gewissen Umständen oder Bedingungen zu verstehen sei. Gottsched behauptet z. B., die unwahrscheinliche äsopische Fabel sei möglich, wenn man annimmt: „Es sey einmal eine Zeit gewesen, da alle Pflanzen und Thiere hätten reden können. Setzt man dieß zum voraus; so läßt sich hernach alles übrige hören."' 7 In der 3. und 4. Auflage seiner Dichtkunst versucht er, diesen Pferdefuß zu beseitigen, indem er die Fabeln in unglaubliche, glaubliche und vermischte einteilt. Aber auch diese Spitzfindigkeiten bewahren ihn nicht davor, sich in Widersprüche zu verstricken. Seine Bemühungen sind allerdings verständlich, wenn man sich vor Augen führt, daß er sich den als kanonisch anerkannten Kulturleistungen der Griechen verpflichtet fühlt. Die „klügsten Leute von der ganzen Welt** konnten unmöglich Ungereimtes geschrieben haben. Deshalb setzt er alles daran um nachzuweisen, daß die Erkenntnisse seiner Zeit bestätigen, was vor zweitausend Jahren schon als richtig erkannt worden war. Ehrfurcht und Autoritätsgläubigkeit sind also die durchaus respektablen Motive, die Gottsched veranlaßten, die äsopische Fabel für das Zeitalter der Vernunft zu retten. Die bisherigen Überlegungen setzten bei der Absicht des Dichters an und führten dann zur Ermittlung von Wesen und Eigenschaft der Dichtkunst. Es wurde gleichsam der Rahmen abgesteckt, in dem Poesie im Sinne Gottscheds möglich ist. Diese allgemeinen Erkenntnisse mögen dem Dichter und Kritiker als Maßstäbe dienen; zur kunsthandwerklichen Anweisung sind sie jedoch untauglich. Das System, das Gottsched im 1. Teil seiner Dichtkunst bietet, soll nun zwar die poetischen Grundbegriffe vermitteln, aber gleichzeitig auch den Grundstein für praktische Hinweise legen, denn mit der Dichtkunst verfolgt Gottsched einen doppelten Zweck. Sie ist für diejenigen bestimmt, „die entweder selbst Poeten werden, oder doch von Poesien vernünftig wollen urtheilen lernen." 68 Um den Poesie•• ebd., S. 143. Vgl. auch Wolff, Vernünftige 87 Dichtkunst, 2. Aufl., S. 146. 68
Dichtkunst,
Gedancken
1. Aufl., Vorrede, Bogen [ * * l r ] .
Von Gott, § 571.
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II. Kapitel
beflissenen etwas in die Hand zu geben, was sich nicht in Abstraktionen verliert, sondern ihm in der Praxis zugute kommt, schreibt Gottsched einen ausführlichen Regelkodex vor, der in Zusammenhang mit dem Wesen der Dichtkunst stehen muß, wenn die philosophische Ableitung der poetischen Grundbegriffe einen Sinn haben soll. Der Dichter, der zu der Erkenntnis gekommen ist, daß er seine Absicht nur verwirklichen kann, wenn er die Natur nachahmt, muß zunächst wissen, wie er sie erkennt und worin sie besteht. Gottsched sieht in ihr die Summe aller Kräfte, die die Hindernisse überwunden haben, die ihrer Entfaltung im Wege stehen und also Veränderungen verursachen. Es sind demnach wirkende Kräfte, deren Summe die Natur ausmacht. Kraft allein ist Gottsched zufolge nur „die wirkliche Bemühung . . . eine Wirkung hervor zu bringen."68 Bei Wolff heißt es philosophischer: „Die Quelle der Veränderungen nennet man eine Kraft."'" Da das Wesen eines Dinges ewig sei, können die Veränderungen, wie Gottsched glaubt, nur in den Zufälligkeiten stattfinden. Wolff nennt noch eine andere, weit wichtigere Wirkung der Kraft. Er schreibt: „Es erlanget. . . durch die Kraft seine Erfüllung, was nur bloß möglich war, das ist, das mögliche wird zur Würcklichkeit gebracht."71 Umgekehrt bedarf es der Kraft, die Wirklichkeit eines zusammengesetzten Dinges aufzuheben. Die Natur, die Summe aller wirkenden Kräfte, erfüllt sich also in ständiger Veränderung der Zufälligkeiten oder im Hervorbringen oder Aufheben der Wirklichkeit zusammengesetzter Dinge. In diesen Vorgängen zeigt sich gleichsam der Lauf der Natur. Nun entstehen zusammengesetzte Dinge nur, „wenn gewisse Theile in gewisser Ordnung zusammen kommen."72 Das bedeutet, die Natur entfaltet sich in ständiger Ordnung. Wer also, wie der Dichter, die Natur nachahmt, muß die Ordnung der Dinge kennen. Gottsched schreibt: „Die Aehnlichkeit in der Art und Weise, wie die Dinge neben einander sind, und auf einander folgen, heißt die Ordnung."'" Die Ähnlichkeit entstehe „aus der Gleichförmigkeit der Bestimmung, darnach eine gewisse Zahl von Dingen eingerichtet wird. Jede Bestimmung aber giebt eine Regel ab; und daher hat eine jede Ordnung ihre Regel."71 Der Dichter, der ja die Natur nachahmt, wenn er das wahre Wesen der Dichtkunst erkannt hat, muß seine Regeln aus der Ordnung der Dinge ableiten, in der sich die Natur erfüllt. 69 70 71 72 73 74
Weltweisheit, theor. Tl., 7. Aufl., § 300. Vernünfftige Gedancken Von Gott, § 115. ebd., § 120. ebd., § 9 2 . Weltweisheit, theor. Tl., 7. Aufl., § 253. ebd., § 2 5 4 .
Gottscheds poetische Grundbegriffe
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Ein zusammengesetztes Ding entsteht auf Grund einer Hauptabsicht und möglicherweise einer Nebenabsicht. Der schöpferische Mensch wird also sein Werk so einrichten, daß seine Eigenschaften und Zufälligkeiten ihm die Beschaffenheit verleihen, der es zur Erfüllung seines H a u p t zweckes und möglicherweise seines Nebenzweckes bedarf. Der H a u p t zweck „giebt die wichtigste Regel, und von dieser muß niemals eine Ausnahme gemachet werden." 7 5 Wenn also Hauptzweck und Nebenzweck einander beeinträchtigen oder gar ausschließen, dann entscheidet allein der Hauptzweck über die Beschaffenheit. „Wenn vieles an einem Dinge wohl übereinstimmet, so, daß es nach einerley allgemeinen Regeln eingerichtet worden: so nennet man solch ein Ding vollkommen. Die Vollkommenheit ist also die Uebereinstimmung des Mannichfaltigen." 7 8 Unter „einerley allgemeinen" Regeln versteht Gottsched solche, deren Anwendung dem Ding genau die Beschaffenheit verleiht, die es besitzen muß, um im Sinne der Absicht seines Schöpfers wirken zu können. Die Hauptabsicht des philosophischen Dichters ist das Belehren, damit dadurch die Menschheit glücklicher werde. Alles, was dagegen verstößt, zerstört die Übereinstimmung des Mannigfaltigen. Die Gedanken über Ordnung und Vollkommenheit übernahm Gottsched dem Sinne nach von Wolff. Sie beziehen sich auch auf ein „künstliches" Werk, also auf alles, was der Mensch hervorbringt, somit auch auf die Poesie. Über deren spezifisch künstlerischen Charakter vermögen sie freilich nichts auszusagen. Auch der Begriff der Schönheit, den Gottsched wahrscheinlich von Leibniz übernahm, erfaßt nicht das Künstlerische im eigentlichen Sinne. Dennoch ist seine philosophische Begründung f ü r den Schritt von der Poetik zur Ästhetik nicht unwesentlich. Gottsched zufolge ist Vollkommenheit im Werk objektiv vorhanden. Es bedarf nicht des anschauenden Subjekts, um vollkommen zu sein. Wenn sie jedoch „in die Sinne fällt, und, ohne deutlich eingesehen zu werden, nur klar empfunden wird, so heißt sie eine Schönheit."'''' Schönheit ist also nur unter drei Bedingungen möglich. 1. Das Werk muß vollkommen sein. 2. Es muß von einem Menschen betrachtet werden und bei ihm eine Empfindung hervorrufen. 3. Diese darf nur klar sein. Man kann auch sagen, als sinnlicher Eindruck ist Vollkommenheit Schönheit, solange nur klar empfunden und nicht mit dem Verstand eingesehen wird. Bei dieser Definition muß man sich Gottscheds strenge Unterscheidung von klaren und deutlichen Empfindungen vor Augen führen. Er 75 78 77
ebd., §260. ebd., § 256. ebd., § 256.
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schreibt: „Die Empfindungen sind klar, wenn w i r die e m p f u n d e n e Sache von andern unterscheiden können." 7 8 Es genügt also ein sinnlicher Eindruck, der ohne Angabe von G r ü n d e n mit keinem anderen verwechselt werden k a n n . Hingegen „wenn wir das verschiedene, so wir an einem Dinge wahrnehmen, auch angeben k ö n n e n ; oder eine Beschreibung davon zu machen vermögend sind: so ist unsere E m p f i n d u n g deutlich,"79 D a m i t erkennt Gottsched an, d a ß die nur sinnliche Erkenntnis der Vollkommenheit Schönheit ist. G e h t man einen Schritt weiter, dann k a n n m a n auch folgern, d a ß er zugebe, sinnliche Erkenntnis sei möglich. Wie später bei der E r k l ä r u n g seines Geschmacksbegriffes gezeigt werden wird, hält er diese A r t der Erkenntnis f ü r unvollkommen, weshalb er das Urteil des Verstandes doch über das der sinnlichen E m p f i n d u n g setzt. Das f ü h r t dann freilich zur Erkenntnis der Vollkommenheit und nicht der Schönheit. D i e Abhängigkeit der Schönheit v o n der Vollkommenheit erklärt den Zusammenhang v o n Regel u n d Schönheit. D e r schöpferische Mensch k a n n ein vollkommenes W e r k n u r schaffen, w e n n er Regeln befolgt. D a die Vollkommenheit, die unter Beachtung v o n Regeln entsteht, die Schönheit bedingt, ist mithin auch die Regel Voraussetzung der Schönheit. Diese G e d a n k e n bestätigen spekulativ den Satz, das Wesen der Dichtkunst bestehe in einer N a c h a h m u n g der N a t u r , w e n n man folgendes in der Dichtkunst gegebene Axiom a n e r k e n n t : „Die Schönheit eines künstlichen Werkes beruht nicht auf einem leeren D ü n k e l ; sondern sie hat ihren festen u n d nothwendigen G r u n d in der N a t u r der Dinge. G o t t hat alles nach Zahl, M a a ß u n d Gewicht geschaffen. Die natürlichen D i n g e sind schön." 80 D a r a u s folgert Gottsched: „ U n d wenn also die Kunst auch was schönes hervorbringen will, so muß sie dem Muster der N a t u r nachahmen. Das genaue Verhältniß, die O r d n u n g u n d richtige Abmessung aller Theile, daraus ein D i n g besteht, ist die Quelle aller Schönheit. Die N a c h a h m u n g der N a t u r k a n also einem künstlichen W e r k e die Vollkommenheit geben, dadurch es dem Verstände gefällig u n d angenehm wird." 8 1 D i e philosophische Bestimmung der Schönheit u n t e r m a u e r t den einen bereits von H o r a z geforderten Zweck der Poesie, das Ergötzen, das G o t t sched f ü r den geringeren hält. Schon Wolff, der sich hier auf Descartes beruft, beschreibt die Lust als eine W i r k u n g der Vollkommenheit, wenn er schreibt: „ I n d e m wir die Vollkommenheit anschauen, entstehet bey uns die Lust."*2 Wenn Gottsched nun die klar, jedoch undeutlich e m p f u n d e n e 78 79
ebd., § 877. ebd., § 878.
80
Dichtkunst, 2. Aufl., S. 126 f.
81
ebd., S. 127.
82
Wolff, Vernünfftige
Gedancken Von Gott, § 404.
Gottscheds poetische Grundbegriffe
45
Vollkommenheit als Schönheit definiert, dann bewirkt auch sie Lust. Damit begründet er philosophisch, daß außer der intelligiblen auch die sensible Perzeption Lust hervorrufen kann. Wohl unter dem Einfluß von Wolff w a r n t er vor einer Scheinlust, die auf einer Täuschung der Sinne beruht, die manchmal etwas für vollkommen halten, was in Wahrheit unvollkommen ist. Deshalb müsse man letztlich doch nachprüfen, ob das Werk den Regeln entsprechend eingerichtet sei. Es wurde gezeigt, daß Gottsched bei der Ableitung der poetischen Regeln von der allgemeinen Philosophie Wolfis ausgeht. Damit ist seine Methode als deduktiv gekennzeichnet, auch wenn er bei praktischen Fragen stets das historisch Gegebene berücksichtigt. Man muß hier zwischen den allgemeinen Voraussetzungen und den Problemen der Praxis unterscheiden. Gottsched bemüht sich nachzuweisen, daß seine auf der Philosophie beruhenden Erkenntnisse dem Kunstwollen der Griechen, die er als unerreichte Muster bewundert, nicht widersprechen. Die Griechen hätten sich eben an die N a t u r gehalten, und deshalb seien ihre Werke so vollendet. Die systematische Philosophie gelange mittels der Vernunft im Grunde zu denselben Regeln. Wenn Gottsched nun schreibt: „Das Gesetz der Natur ist . . . einerley mit demjenigen, was einem die gesunde Vernunft giebt, oder was sie lehret,"63 dann erklärt er die Regeln, die er vorschreibt, f ü r Gesetze der N a t u r , die ewig und unverbrüchlich von alters her Gültigkeit besitzen und stets wahr bleiben werden. Dies ist die letzte Konsequenz, die man aus Gottscheds Dichtkunst ziehen muß, wenn man sein philosophisches Weltbild berücksichtigt. Es liegt kein Grund vor zu glauben, Gottsched habe auf zwei voneinander getrennten Ebenen gedacht, der philosophischen und der poetischen. Eine derartige intellektuelle Schizophrenie ist nach seinem Bekenntnis, die Philosophie enthalte die Wahrheiten aller Wissenschaftten, schlechterdings undenkbar. Die Vergötterung der Vernunft machte Gottsched blind f ü r andere Aspekte der Kunst. Sie trieb ihn in eine Sackgasse, aus der es kein Entrinnen gab. Mit dem ihm eigenen Starrsinn kämpfte er gegen alle, die sich seine künstlerische Askese nicht aufzwingen lassen mochten. Verständnislos stand die junge Generation seinem starren Regelsystem gegenüber, das angeblich dem Pegasus der zornigen jungen Männer von einst die Flügel stutzen wollte. Spott und H o h n ergossen sich über den „Diktator" von Leipzig, um den sich bald gehässige Legenden rankten, die Stoff zu manchem Germanistenwitz abgaben. Besonders die ältere Germanistik gab sich mit dem Urteil derer zufrieden, die Gottsched ebensowenig verstanden, wie er Milton oder Klopstock verstand. H ä l t man sich vor Augen, daß Gottsched f ü r die Poesie ein System schaffen wollte, das dem 83
Weltweisheit,
prakt. Tl., 7. Aufl., § 35.
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II. Kapitel
philosophischen Wolfis ebenbürtig war, und berücksichtigt man, daß er sich auf keinerlei Vorarbeiten stützen konnte, sondern praktisch Neuland betrat, dann erscheint seine Dichtkunst nicht mehr als ein Sammelsurium pedantischer Platitüden, sondern als bewundernswerte geistige Leistung. Die Untersuchung des Einflusses der Metaphysik Wolfis auf Gottscheds Dichtkunst wäre hier zu Ende, wenn die Kapitel „Von dem Charactere eines Poeten" und „Vom guten Geschmacke eines Poeten" nicht noch Wolffsche Gedanken enthielten, die hier noch kurz erwähnt seien. Gottsched gibt folgende Definition des Dichters: „Ein Poet sey ein geschickter Nachahmer aller natürlichen Dinge: Und dieses hat er mit den Malern, Musikverständigen u. a. m. gemein. Er ist aber zum andern, auch von ihnen unterschieden, und zwar durch die Art seiner Nachahmung, und durch die Mittel, wodurch er sie vollziehet." 84 Nach der vorangegangenen Untersuchung des Naturbegriffs Gottscheds ist dem Objekt der Nachahmung eine klare Grenze gesetzt, die Gottsched nur gelegentlich aus Gründen der Pietät gegenüber historisch bedingten Bräuchen überschreitet. Dazu gehört etwa die äsopische Fabel, die auf einer unnatürlichen Voraussetzung basiert. Die natürliche Fähigkeit zum Nachahmen, die im Barock als Naturell bezeichnet und oft mit dem Göttlichen in der Poesie gleichgesetzt wurde, führt Gottsched auf Einbildungskraft:, Witz und Scharfsinnigkeit zurück. „Alle diese Gemüthskräfte nun, gehören in einem hohen Grade für denjenigen, der geschickt nachahmen soll. Und ein Poet muß dergestalt . . . eine starke Einbildungskraft, viel Scharfsinnigkeit und einen großen Witz schon von Natur besitzen, wenn er den Namen eines Dichters mit Recht führen will." 85 Gottscheds Erklärungen dieser Vermögen in der Dichtkunst und Weltweisheit sind fast wörtlich der Metaphysik Wolfis entnommen. Es erübrigt sich, sie hier noch einmal zu erläutern, da dies schon im 1. Kapitel geschah. Außer den natürlichen Anlagen müsse der Dichter eine profunde Gelehrsamkeit, Menschenkenntnis, „ein ehrliches und tugendliebendes Gemüthe" 86 und einen guten Geschmack besitzen. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang die Erwähnung des guten Geschmacks. In der deutschen Poetik taucht der Begriff Geschmadk (gusto, goüt) schon vereinzelt bei Harsdörffer, Menantes, der sogenannten Breslauei Anleitung und in den Discoursen der Mahlern87 auf, ohne daß er deutlich 81 85 88 87
Dichtkunst, 2. Aufl., S. 94 f. ebd., S. 99. ebd., S. 106. Über den physischen Geschmack verbreiten sich die Maler eingehend im XVIII. Discours des 2. Teiles, ohne die Analogie zum metaphorischen Geschmack herzustellen. Sie würde auch gemäß den dort entwickelten Begriffen
Gottscheds poetisdie Grundbegriffe
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definiert würde. Zwei Veröffentlichungen, die im selben Jahr erschienen, sind es, die den Geschmacksbegriff der deutschen Poetik zuführten und ihn in ihr heimisch machten. Bodmers und Breitingers bereits erwähnter Traktat Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Kraffi (1727) trägt den Untertitel Zur Ausbesserung des Geschmackes. Johann Ulrich König fügte seine Untersuchung Von dem guten Geschmack In der Dichtund Rede-Kunst seiner Ausgabe der Gedichte Canitz* bei. 88 Beide Abhandlungen erwähnt Gottsched lobend in der 1. Auflage seiner Dichtkunst. Von der 2. Auflage an, nachdem er sich sowohl mit König als auch mit den Schweizern zerstritten hatte, fehlt der Hinweis. König definiert: „Der Geschmack des Verstandes ist . . . die zusammen gesetzte Krafft der Seele zu empfinden und zu urtheilen, vermitteltst welcher sie durch die Werck-Zeuge der Sinnen einen gewissen Eindruck empfindet, und über denselben alsdann ihre Entscheidung, durch eine Zuneigung oder Abneigung äußert." 89 Demnach rechnet König den metaphorischen Geschmack zum Verstand. Er bezeichnet den guten Geschmack als „eine aus gesundem Witz und scharfier Urtheilungs-Krafft erzeugte Fertigkeit des Verstandes, das wahre, gute und schöne richtig zu empfinden, und dem falschen, schlimmen und heßlichen vorzuziehen; wodurch im Willen eine gründliche Wahl, und in der Ausübung eine geschickte Anwendung erfolget." 90 Diese Definition enthält einige begriffliche Schwächen. Schön und gut kann ein Ding nur sein, wenn sich zureichende Gründe dafür beibringen lassen, und dann ist es auch wahr. Unklar bleibt auch, was König unter einer richtigen Empfindung versteht. Gottsched, der den Geschmack auch für eine Kraft des Verstandes hält, definiert den guten weit philosophischer, wenn er schreibt, er sei „der von der Schönheit eines Dinges nach der bloßen Empfindung richtig urtheilende Verstand, in Sachen, davon man kein deutliches und gründliches Erkenntniß hat." 9 1 Im Gegensatz zu König sagt er, daß das Geschmacksurteil nur dann eine echte Funktion erfülle, wenn klare, nicht deutliche Begriffe vorliegen, an
88
89 90 91
nicht unbeträchtlich hinken. In der Widmung der Discourse „An den Erlauditen Zuschauer der Engeländischen Nation" geben die Schweizer als ihre Absicht an, „die Tugend und den guten Geschmack in unsern Bergen einzuführen." Des Freyherrn von Caniz Gedichte . .. Nebst dessen Leben, und Einer Untersuchung Von dem guten Geschmack in der Dicht- und Rede-Kunst, ausgefertiget von Johann Ulrich König . . . Leipzig und Berlin, 1727. ebd., S. 257 f. ebd., S. 259. Dichtkunst, 2. Aufl., S. 119. Gottsched verweist an dieser Stelle auf Leibniz, der mit ihm einer Meinung sei. Vgl. Leibniz, „Jugement sur les Oeuvres de Mr. le Comte de Shaftsbury," S. 3 3 5 — 3 5 3 in Recueil de diverses Pièces.. .par Messieurs Leibniz, Clarke, Newton . .. Troisième édition .. . Tome second. A Lausanne . .. 1759 (Erstausgabe 1720). Siehe dort S. 351 f.
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II. Kapitel
denen das Urteil des Verstandes versagen würde. Gottsched weist auf die exakten Naturwissenschaften, „wo man aus deutlich erkannten Grundwahrheiten die strengesten Demonstrationen zu machen vermögend ist" 9 2 und also des Geschmacksbegriffes nicht bedarf. U n d er fährt f o r t : „Diese Anmerkung ist von grossem Nutzen. Sie lehrt uns nemlich, daß der metaphorische Geschmack . . . nur mit klaren, aber nicht ganz deutlichen Begriffen der Dinge zu thun habe." 9 3 Die Wölfische Terminologie verhilft hier Gottsched zur Rechtfertigung der Geschmacksdebatte, die nicht nötig wäre, wenn stets deutliche Begriffe und Empfindungen vorlägen, die ein Urteil des Verstandes zuließen und das Geschmacksurteil
überflüssig
machten. Dieses ermöglicht eine spontane Zustimmung oder Ablehnung, bevor das Regelbuch aufgeschlagen werden kann. Eine andere Funktion billigt Gottsched ihm nicht zu. Somit entscheidet dann letztlich doch der Verstand, welcher Geschmack gut ist, nämlich der, „der mit den Regeln übereinkömmt, die von der Vernunft in einer A r t von Sachen allbereit fest gesetzet worden." 9 4 Auf diese Weise bringt Gottsched die Vernunft, mit der sein System steht und fällt, wieder zur Hintertür hinein, damit kein irrationaler Rest verbleibe.
82 93 94
Dichtkunst, 2. Aufl., S. 117. ebd., S. 117. ebd., S. 120.
III.
KAPITEL
J O H A N N A D O L P H SCHEIBES CRITISCHER
MUSIKUS
Im Jahre 1737, in dem Gottscheds Dichtkunst zum zweiten Male aufgelegt wurde, begann unter dem Titel Der critische Musikus in Hamburg eine musikalische Zeitschrift zu erscheinen, die wegen ihrer ungewöhnlichen Anlage und ihres aggressiven Tones bald Aufmerksamkeit erregte. Im Gegensatz zu früheren Journalen fehlen in ihr Nachrichten von musikalischen Tagesereignissen oder biographische Notizen. Einzig musikwissenschaftliche Abhandlungen, die mit der Absicht geschrieben wurden, das Niveau der musikalischen Theorie und Praxis in Deutschland zu heben, fanden Aufnahme. Sie stammen fast alle von Johann Adolph Scheibe, einem unbekannten Musiker aus Leipzig, der die dortige Universität aus finanziellen Gründen ohne akademischen Grad verlassen hatte. Seine Zeitschrift erschien anfänglich alle zwei Wochen. Nach dem 26. Stück vom 18. Februar 1738 stellte sie ihr Erscheinen vorläufig ein. Mit dem 27. Stück vom 3. März 1739 wurde die Veröffentlichung wieder aufgenommen. Von nun an bis zum 23. Februar 1740 erschien jede Woche ein Stück. Mit dem 78. Stück beschloß Scheibe sein inzwischen umstrittenes Unternehmen. Im Jahre 1745 gab er dann eine „Neue, vermehrte und verbesserte Auflage" heraus, die auch die polemischen Sdiriftten, die den Musikus aufs Korn nahmen, nebst Scheibes Erwiderungen enthält. Nach dieser Auflage wird im folgenden zitiert. Als Scheibe sich im Herbst 1725 an der Leipziger Universität immatrikulierte, hatte der junge brilliante Dozent Gottsched gerade damit begonnen, regelmäßig Vorlesungen über die Wolffsche Philosophie zu halten. 1 Das war ein mutiges Unternehmen, wenn man bedenkt, daß Wolff seiner Lehren wegen ein Jahr zuvor „bei Strafe des Stranges" die Universität Halle hatte verlassen müssen. Als Herausgeber der moralischen Wochenschriften Die Vernünftigen Tadlerinnen (1725/26) und Der Biedermann (1727/28) machte sich Gottsched bald einen Namen, und seine Poetik Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730), die bereits 1729 ausgeliefert wurde, brachte ihm in jungen Jahren R u h m und Ansehen. Kein 1
4
Gottsched, Weltweisheit, prakt. Tl., 7. Aufl., Vorrede, Bogen a 7V. Birke
50
III. Kapitel
aufgeschlossener Student konnte sich dem Einfluß dieser Persönlichkeit entziehen, und auch der junge Scheibe mag von Gottsched in die Wölfische Philosophie, die damals als etwas radikal Neues empfunden wurde, eingeweiht worden sein. Sein Critischer Musikus verrät auf Schritt und Tritt den Einfluß Wölfischer Gedanken. Schon sein Titel erinnert an den der Dichtkunst Gottscheds. Daß diese Ähnlichkeit nicht zufällig ist, gibt Scheibe selbst zu. Er schreibt: „Als der berühmte Herr Professor Gottsched, einer der scharfsinnigsten Critikverständigen unserer Zeiten, seine critische Dichtkunst, im Jahre, 1730, zu Leipzig heraus gab: so machte ich mir dieses wohlgeschriebene Buch nicht allein bekannt, sondern ich nahm dadurch Gelegenheit, verschiedenes in der Musik, auf ganz andere Art, einzusehen und zu prüfen, als es so wohl von mir, als von andern, zuvor noch nie geschehen war. Ein weiteres Nachdenken brachte mich auch endlich auf den Einfall, mit der Zeit einen Versuch zu wagen, ob man nicht auch die Theile der Musik, insonderheit aber die zur Composition und zu den moralischen Absichten derselben gehören, auf critische Art untersuchen und abhandeln könnte. Als ich aber bald darauf Leipzig verließ, und kurze Zeit hernach nach Hamburg kam, und überdieses noch durch verschiedene andere Umstände an der völligen Ausführung meines Vorhabens verhindert ward: so entschloß ich mich, solches doch zum Theil ins Werk zu richten, und durch ein wöchentliches Blatt den Grund zu einer dergleichen vollständigen Abhandlung zu legen. Weil ich nun zugleich in diesem Blatte den Musikverständigen und Musikanten zeigen wollte, wie genau die Dichtkunst und die Musik mit einander verwandt sind, und daß die Regeln der erstem auch in der letztem gelten, und weil ich sie ferner auf die Nachahmung der Natur führen, und ihnen solche Materien vorlegen wollte, die man fast noch gar nicht, oder doch nur sehr kaltsinnig, oder undeutlich, abgehandelt hat, ungeachtet sie doch zur Beförderung des guten Geschmacks allerdings nöthig sind: so war auch ein so wichtiges Unternehmen, nicht ohne die Vortheile auszuführen, welche uns eine vernünftige Critik allemal entdecket. Weil nun also meine Absichten zum Theil mit den Absichten des Herrn Professor Gottscheds überein kamen, indem ich einigermaßen nach der Art, wie dessen critische Dichtkunst eingerichtet war, von der Musik schreiben wollte, ob ich schon meine Schrift nicht in gewisse Abtheilungen und Capitel einschränken konnte: so gab ich auch meinen Blättern den Titel: Der critische Musikus."2 Diese Zeilen machen klar, daß der Einfluß der Dichtkunst auf den Musikus weit über Äußerliches hinausgeht. Wie Gottsched will auch Scheibe kritisch vorgehen, d. h. die Erkenntnisse der Philosophie auf die 2
Musikus, 2. Aufl., 40. Stüde, S. 375 f.
Johann Adolph Scheibes Critischer Musikus
51
Untersuchung der K u n s t anwenden. Er empfindet dies als etwas bahnbrechend Neues. Auch ihm schwebt vor, die N a c h a h m u n g der N a t u r als das Wesen der Musik nachzuweisen. U n d schließlich hat er die „Beförderung des guten Geschmacks" im Auge. Kurz, er möchte auf der Grundlage der Wölfischen Philosophie f ü r die Musik leisten, was Gottsched bereits f ü r die Poetik geleistet hatte, mit dem einzigen Unterschied, d a ß er seine G e d a n k e n nicht in Buchform, sondern in loser Folge als Zeitschriftenaufsätze veröffentlichen konnte. Deshalb folgt diese Untersuchung nicht der im Musikus vorliegenden A n o r d n u n g der Abhandlungen, sondern versucht, Parallelen zwischen Gottscheds und Scheibes Ideen aufzudecken. Anspielungen auf Gottsched finden sich bereits im 1. Stück des Musikus, in dem Scheibe darlegt, weshalb er sich genötigt sieht, sein Werk zu verfassen. Er schreibt: „Endlich ist die in den Wissenschaften herrschende Barbarey in einigen Theilen unsers werthen Deutschlandes bey nahe gänzlich vertilget worden. W i r sehen die Dichtkunst u n d die Redekunst durch die besten critischen Untersuchungen in einer so großen Vollkommenheit, d a ß wir den Franzosen, die sonst darinnen die einzigen Meister seyn wollen, nichts mehr nachgeben dörfen. D e r gute Geschmack beginnet zu herrschen, u n d dadurch fangen wir an, zu empfinden, wie glücklich diejenigen sind, welche der Vernunft u n d der N a t u r in einer wohlgeprüften Beurtheilungskraft folgen. Die Musik allein ist noch übrig. Diese edle Wissenschaft brauchet noch alle Bemühungen, die in jenen sind angewendet w o r d e n . Sie liegt noch in einer so großen Verwirrung, d a ß es uns und unsern Nachkommen noch Zeit u n d Mühe genug kosten wird, sie in eine vernünftigere O r d n u n g zu bringen."* Mit den „besten critischen Untersuchungen" zur Dichtkunst und Redekunst meint Scheibe offenbar die Dichtkunst (1730) u n d die Ausführliche Redekunst (1736) Gottscheds. Er scheint die Verbesserung des Geschmacks dem Einfluß dieser Bücher zuzuschreiben. Nicht ohne Selbstgefälligkeit registriert auch Gottsched ein Ansteigen des Niveaus der Poesie, „daraus denn nicht undeutlich zu spüren gewesen, daß die in meiner Dichtkunst enthaltenen Regeln . . . zur Richtschnur gedienet hätten." 4 Auf die Bedeutung der Philosophie f ü r die Erarbeitung eines ästhetischen Systems f ü r die Musik geht Scheibe bereits k u r z im 3. Stück ein. Ausführlicher ä u ß e r t er sich hierüber in seinem „ E n t w u r f einer Eintheilung der Musik, zur Erläuterung des dritten Stückes des critischen Musi-
« ebd., S. 3 f. * Dichtkunst, 2. Aufl., Vorrede, Bogen 2V. 4»
52
III. Kapitel
kus." 5 Er beginnt mit dem Axiom, die Musik sei eine Wissenschaft der Töne. „Eine Wissenschaft bemerket aber eine gründliche Erkenntniß eines Dinges: sie zeiget also eine Fertigkeit des Verstandes an, alles, was man behauptet, mit unwidersprechlichen Gründen darzuthun." 6 Aus diesen beiden Sätzen zieht er den Schluß: „Wenn nun aber die Tonkunst eine Wissenschaft ist; alle Wissenschaften aber durch die Weltweisheit erkannt, untersuchet und geprüfet werden müssen: so folget dahero, daß auch die Musik die Theile der Weltweisheit, zu deutlicher Erkenntniß und Prüfung ihrer eigenen Theile, voraussetzen müsse, wenn sie anders deutlich erkannt, mit gehöriger Fertigkeit des Verstandes behauptet, und also mit unwidersprechlichen Gründen befestiget werden soll. Hieraus folget ferner, daß ein jeder wahrer Musikus, der in allen zur Musik gehörigen Theilen den höchsten Grad der Gewißheit erreichen will, allerdings, entweder ein Weltweiser selbst seyn müsse, oder sich doch wenigstens die Theile der Philosophie deutlich und gründlich müsse bekannt gemacht haben." 7 Die Parallele zu dem philosophischen Dichter, den Gottsched fordert, könnte nicht deutlicher sein. Die weiteren Ausführungen Scheibes setzen voraus, daß die Musik ein zusammengesetztes Ding ist, das auf Grund einer Absicht entsteht und als Mittel zu einem Zweck dient. „ D a . . . alle gelehrten Wissenschaften ihren Grund in der Weltweisheit finden, und also gemeinschaftlich an dem allgemeinen Endzwecke derselben, nämlich an der Glückseligkeit der Menschen, arbeiten müssen . . . so folget, daß man in der Musik bemühet seyn müsse, durch die Kenntniß der Wissenschaft der Musik die Ausübung zu befördern, um sich auch dadurch dem allgemeinen Endzwecke alles menschlichen Wissens zu nähern, und also aus dem völligen Genüsse ihrer Vollkommenheiten ein wahres Vergnügen zu schöpfen." 8 Damit gibt Scheibe zu verstehen, daß die Bemühungen um die Erkenntnis der Grundlagen der Musik nicht Selbstzweck sind, sondern der Praxis zugute kommen müssen, damit der Endzweck der Musik erreicht werden könne. Für die Erarbeitung der Grundwahrheiten, die hier zur Diskussion stehen, legt er Richtlinien fest, die noch deutlicher die Abhängigkeit der Musiktheorie von der Philosophie zeigen. „Wenn wir nun unsere Erkenntniß von vorne anfangen, und die Vollkommenheiten aller Dinge, die mit der Musik verknüpft sind, und dann alles, was zur Untersuchung der Töne gehöret, vernünftig und gründlich einsehen wollen: so müssen wir gleich anfangs auf die ersten Gründe der Weltweisheit überhaupt zu5
6 7 8
Musikus, S. 721 ff. Die A b h a n d l u n g e n des 4. Teiles sind in der 2. Aufl. e n t halten. ebd., S. 722. ebd., S. 722. ebd., S. 723.
Johann Adolph Sdieibes Critischer
Musikus
53
rücke gehen. Wir müssen uns also in der Erkenntniß der wahren Grundursachen musikalischer Dinge recht sicher machen, zugleich aber auch den natürlichen Zusammenhang aller musikalischen Wahrheiten mit den philosophischen erfahren. Das wird nun gleichsam eine musikalische Grundlehre, und also der erste Theil der theoretischen Musik seyn." 9 „Diese trägt vor: 1) alle Grundwahrheiten, welche aus der Metaphysik in der Musik vorkommen; 2) alle Grundsätze, die aus der Physik zu merken sind; 3) und endlich erläutert sie alle der Musik selbst eigene Grundwahrheiten, die man voraus setzen muß, und hierzu gehören die Erklärungen aller musikalischer Zeichen." 10 Die weiteren drei Abschnitte des theoretischen Teils sowie die vier des praktischen Teils bleiben hier unberücksichtigt, da es einzig zu ermitteln gilt, inwieweit Wolfis Metaphysik direkt oder indirekt über Gottsched die Grundlagen der Theorie Scheibes beeinflußte. Scheibes Problemstellung ist der Gottscheds gleich. Beide geben sich nicht mit überkommenen Regeln zufrieden, sondern sie wollen den metaphysischen Realgrund f ü r sie ermitteln. Deshalb stellte Gottsched die Frage nach dem unveränderlichen Wesen der Dichtkunst, und deshalb warnt Scheibe vor blinder Mustergläubigkeit, die nicht viel nach Gründen fragt. Auch er konnte sich auf keinerlei Vorarbeiten stützen. Wie die Barodkpoetik gaben auch die Satz-, Harmonie-, Melodie- und Akkordlehren eine Menge von Vorschriften, die aus der Praxis erwachsen waren. Der bunten Vielheit der Regeln fehlte jedoch das gemeinsame Prinzip, das die Einheit des Mannigfaltigen verbürgt. Die spekulative Musiktheorie, die auf die Bedürfnisse der Praxis kaum Rücksicht nahm, betrieb eine Art von musikalischer Alchemie und kümmerte sich nicht um die Ergebnisse der modernen Philosophie. Scheibe fühlte sich wie Gottsched aufgerufen, den Geist der Aufklärung in die Musiktheorie hineinzutragen und ihrer „Verwahrlosung" ein Ende zu bereiten. Wie jedes zusammengesetzte Ding entsteht die Musik auf Grund einer Absicht, oder ihretwegen wirkt eine Ursache, damit ein Endzweck erreicht wird. Als den allgemeinen Endzweck allen Wissens bezeichnete Scheibe oben die Glückseligkeit der Menschen, zu der die Musik beitrage, wenn ihre Ausübung auf Grund philosophischer Erkenntnis einen hohen Grad der Vollkommenheit erlangt habe. Das ist die Zweckbestimmung des aufgeklärten Theoretikers, der wie Gottsched glaubt, „der Mensch habe keine andere Ursache zu philosophiren; als damit er sich glücklich machen möge."11 Unter dieser Voraussetzung ist der Endzweck einer jeden philo• ebd., S. 723 f. ebd., S. 731. Im Original verdruckt „GrudWahrheiten" anstatt „Grundwahrheiten." 11 Gottsched, Weltweisheit, theor. Tl., 7. Aufl., „Einleitung zur Weltweisheit," § 1. 10
54
III. Kapitel
sophischen Wissenschaft der gleiche. Wie Gottsched sucht jedoch auch Scheibe eine Bestätigung dieser Bestimmung in der Historie. Im 2. Stück, das im Inhaltsverzeichnis als „Entwurf einer Historie der Musik" aufgeführt wird, berichtet er über die Verwendung der Musik bei den Griechen. „Unter diesem berühmten Volke trug man die besten Sittenlehren, die Aufmunterung zur Tugend, und die Verehrung der Götter durch abgesungene Lieder musikalisch vor: und man weis, daß die Musik und die Dichtkunst die Vorzüge der ersten Weisen Grieciienlandes gewesen sind." 12 Diese Worte erinnern lebhaft an das 1. Kapitel in Gottscheds Dichtkunst, wo es heißt: „Die alten Poeten waren . . . die ersten Weltweisen." 13 An anderer Stelle ruft Scheibe begeistert aus: „Glückselige Zeiten! da die größten Weltweisen zugleich die größten Meister in der Musik waren, durch welche die Jugend, ihre Schüler, ja das ganze gemeine Wesen, zur Erlernung und Ausübung derselben auf das Nachdrücklichste angereizet wurde: weil sie in ihr die ersten Funken der Tugend, der Geduld und der allerannehmlichsten Aufmunterung zu den Wissenschaften nicht nur suchten, sondern auch wirklich fanden." 1 4 Eine moralische Lehre konnte die Musik demnach nicht vermitteln, wohl aber die Eindringlichkeit des Wortes erhöhen und auch selbständig zur Tugend inspirieren. Dieses Argument hält Scheibe denjenigen entgegen, die die Musik aus dem Gottesdienst verbannen wollen. Diese allgemeinen Gedanken über den Endzweck der Musik ergänzt Scheibe durch eine „Uebersetzung aus dem V I I I Buche des Aristoteles, von der Einrichtung eines Staates," 15 die von Johann Elias Schlegel stammt. Hierin werden drei mögliche Endzwecke genannt: die Erquickung, die Verbesserung des Gemütes und der Sitten und die Zerstreuung. Die kathartische Wirkung der Musik unterstreicht Sdieibe auch an anderen Stellen, um ihren N u t z e n f ü r das Glückseligkeitsstreben der ganzen Menschheit zu beweisen. In seinem Compendium Musicesdas nach Benary um 1730 entstanden sein soll,17 bezeichnete er noch schlicht „die Vergnügung des Gehörs" 18 als den Endzweck der Musik. E r mochte ihm später angesichts seiner philosophischen Orientierung zu gering erschienen sein. Als eines der Mittel hingegen, die zur Glückseligkeit beitrugen, d. h. die sich im Sinne Piatos und Wolfis für Staat, Gesellschaft und Religion nützlich 12 13 14 15
17 18
Musikus, S. 16. Dichtkunst, 2. Aufl., S. 87. Musikus, 1. Stück, S. 8. ebd., S. 811—832. Neuausgabe als Anhang zu Peter Benary, Die deutsche Kompositionslehre des 18. Jahrhunderts (Leipzig, [1961]), Jenaer Beiträge zur Musikforschung, Bd. 3. ebd., S. 55. ebd., Anhang, S. 5.
Johann Adolph Scheibes Critischer
Musikus
55
erwiesen, durfte die M u s i k beanspruchen, den gleichen R a n g wie die a n deren K ü n s t e einzunehmen. J a , Scheibe h ä l t sie sogar f ü r die h u m a n s t e K u n s t , w e s h a l b er ausruft: „ D i e V e r ä c h t e r der M u s i k entsagen sich der Menschlichkeit." 1 9 D e n Z u s a m m e n h a n g v o n E n d z w e c k und W e s e n der M u s i k
sucht
Scheibe aus der natürlichen V e r a n l a g u n g des Menschen zu e r k l ä r e n . „Es entsteht a b e r die N e i g u n g zur M u s i k eigentlich aus der Seele, und ich w e r d e nicht unrecht h a b e n , w e n n ich sage, d a ß in der Seele der erste G r u n d der M u s i k zu suchen, u n d zu
finden
ist. D a s höchste Wesen h a t , nach
seiner unbegreiflichen Weisheit, der Seele, v o m A n f a n g e her, diese süße und entzückende N e i g u n g beygeleget. Es h a t dem Menschen nicht nur durch die L i e b e zu den Wissenschaften die G ö t t l i c h k e i t des V e r s t a n d e s verliehen, sondern es h a t ihm auch die S ü ß i g k e i t der M u s i k zu einem zärtlichen V e r g n ü g e n m i t g e t h e i l e t ; welches unser G e m ü t h a u f die a n genehmste A r t z u f r i e d e n stellen, unsere S i n n e n a b e r aufs beste rühren, u n d entzücken soll, u n d welches endlich der Seele selbst zu einem g ö t t lichen Vorschmacke der ewigen Z u f r i e d e n h e i t d i e n e t . " 2 0 M u s i k ist d e m n a c h eine W i r k u n g der S e e l e n k r ä f t e , die d e m M e n s c h e n v o n G o t t eingepflanzt w u r d e n , u n d somit der menschlichen N a t u r . A b e r auch in der übrigen belebten u n d unbelebten N a t u r g l a u b t Scheibe eine p r i m i t i v e U r m u s i k finden zu k ö n n e n , das Singen der V ö g e l , das Rauschen der W e l l e n etc. S e i n e M e i n u n g deckt sich v ö l l i g m i t der Gottscheds, der schreibt: „ D e r Mensch w ü r d e meines E r a c h t e n s gesungen h a b e n , w e n n er gleich k e i n e V ö g e l in der W e l t gefunden h ä t t e . L e h r t uns nicht die N a t u r , alle unsre G e m ü t h s b e w e g u n g e n , durch einen gewissen T o n der Sprache, ausdrücken?"21 „daß
Gottsched
die allerersten
schließt
Menschen
freilich
nicht
das Singen
von
die
Möglichkeit
den V ö g e l n
aus,
gelernet
h a b e n . " 2 2 D e r erste G r u n d der M u s i k befindet sich also i n n e r h a l b und a u ß e r h a l b des Menschen. Der
dem Menschen
eingepflanzte T r i e b
äußert
sich, w i e
Scheibe
schreibt, „vornehmlich durch die M e l o d i e , u n d z w a r durch eine solche, die nach k e i n e n R e g e l n erfunden, u n d also noch nicht ordentlich u n d musikalisch eingerichtet u n d abgetheilet i s t . " 2 3 E i n e derartige
ungeschlachte
U r m e l o d i e sei freilich z u r Erreichung des E n d z w e c k e s der M u s i k
un-
geeignet. D i e Lust oder das E r g ö t z e n entsteht W o l i f z u f o l g e b e i m A n schauen einer V o l l k o m m e n h e i t . D e s h a l b müssen auch die T ö n e in eine
Musikus, 5. Stück, S. 47. ebd., 5. Stück, S. 48. " Dichtkunst, 2. Aufl., S. 68. " ebd., S. 67. 23 Musikus, 5. Stück, S. 48. 18
M
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III. Kapitel
gewisse Ordnung gebracht werden, wenn die Musik einen Grad der Vollkommenheit erlangen will. Wendet man nun wiederum Wolfische Erkenntnisse an, dann darf man sagen, Ordnung entsteht, wenn Regeln beachtet werden, und man erkennt sie mittels der Vernunft. Was die menschliche N a t u r spontan und ungeordnet hervorbringt, beruht auf undeutlichen Vorstellungen oder ist rein körperlicher Reflex. Die Wirkung findet statt, bevor der Verstand tätig werden kann. Der Komponist jedoch, der den Endzweck der Musik nicht aus den Augen läßt, wird von deutlichen Vorstellungen ausgehen und sie mittels seiner Vernunft zu Ordnungen zusammenfügen. Scheibe kann mithin sagen: „Unsere Pflicht erfordert also unumgänglich, die Musik durch vernünftige Regeln auf solche Art einzurichten, daß sie denen Endzwecken gemäß wird, die uns Gott, die N a t u r und die Vernunft auf das deutlichste zu erkennen geben." 24 Diese Gedankengänge f ü h r e n zur Bestimmung des Wesens der Musik. Scheibe schreibt: „Das wahre Wesen der Musik besteht in einer vernünftigen Nachahmung der Natur." 2 5 An anderer Stelle heißt es: „Die Nachahmung der N a t u r i s t . . . das wahre Wesen der Musik so wohl, als der Redekunst und Dichtkunst." 2 6 Der N a t u r „nachzuahmen haben wir die musikalischen Töne." 2 7 Die Musik unterscheidet sich demnach von Dichtkunst und Redekunst nur in den Mitteln der Nachahmung. Diese allgemeine, vieldeutige Bestimmung konnte Scheibe sowohl in Aristoteles' Poetik als auch in Gottscheds Dichtkunst finden. Ihre spezifische Bedeutung erschließt sich erst, wenn man untersucht, was er unter N a t u r und vernünftiger Nachahmung versteht. Man sucht im Musikus freilich vergeblich nach einer unmißverständlichen Erklärung dieser Begriffe. Scheibe sagt zwar, was alles aus der N a t u r abgeleitet und erklärt werden kann, etwa: „Aus der N a t u r entspringen die Regeln der schönen Wissenschaften, und folglich auch der Musik." 28 Der Naturbegriff selbst bleibt vage. Dennoch soll versucht werden, diese schwierige Materie zu erhellen, soweit Scheibes verstreute Hinweise dies zulassen. Gottsched definierte die N a t u r als die Summe aller seelischen und körperlichen Kräfte. Wenn nun der Mensch, wie Scheibe schreibt, imstande ist, spontan eine Folge von Tönen hervorzubringen, die von einer Stimmung der Seele angeregt wurde, dann kann man diese rohe, nicht vom Verstand kontrollierte Urmelodie als unmittelbare Wirkung der menschlichen N a t u r bezeichnen. Diese Art der Musik hat ihren Grund im Men24 25 28 27 28
ebd., 5. Stück, S. 54. ebd., 60. Stück, S. 554. ebd., 28. Stüde, S. 266. ebd., 28. Stück, S. 268. ebd., „Abhandlung vom Ursprünge, Wachsthume und von der Beschaffenheit des itzigen Geschmacks in der Musik," S. 771 f.
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sehen selbst. Er ahmt mittels Töne einen Zustand seiner Seele nach. Andererseits behauptet Scheibe, auch in der belebten und unbelebten N a t u r außerhalb des Menschen gäbe es Klänge, die nachzuahmen sidi der Mensch befleißige. Die Objekte der Nachahmung rühren also von zwei Quellen her. Der spontane Akt der Hervorbringung von Tönen geschieht ohne bewußte Absicht. Unwillkürlich formt sich z. B. ein Jauchzen oder ein Klagen, dem die Ordnung fehlt, und das also keine ästhetische Qualität besitzt. Die Absicht des Komponisten rückt den Schaffensvorgang ins Bewußtsein und unterzieht ihn der Gestaltung, denn das Werk soll ia so beschaffen sein, daß es den Endzweck der Musik hinreichend erfüllt. Gestalten heißt nun in jedem Fall, das Material nach bestimmten Prinzipien zu ordnen. Wenn Scheibe nun von einer vernünftigen Nachahmung spricht, so meint er damit die Anwendung rationaler Kriterien auf den Schaffensvorgang. Er setzt damit die „einzige Kraft zu denken," die erhabenste Selbstverwirklichung der menschlichen N a t u r , in der er Gott am nächsten ist, zum H e r r n über den Rohstoff ein. Die dem Menschen natürliche Vernunft wirkt, um Ordnung und Vollkommenheit zu schaffen, die Voraussetzung des Ergötzens sind. Die genauere Betrachtung des Schaffensvorganges trägt nur in bescheidenem Maße zur Klärung der noch unbeantworteten Frage bei, worin denn nun eigentlich die N a t u r bestehe, die der Komponist nachahme, und wie er die zur „vernünftigen" Nachahmung nötigen Regeln findet. Das ist verständlich, wenn man bedenkt, daß hier ein äußerst schwieriges Problem vorliegt, geht es doch darum, f ü r den Bereich der Töne und Klänge, ihr Beieinandersein und Aufeinanderfolgen, ein semantisches System zu entwickeln, dessen Ordnungsprinzipien der am Wort geschulten Vernunft einleuchten. Leibniz apostrophierte das Wort als Zeichen der Gedanken, als Träger eines festumrissenen Sinnes. Scheibe behauptet, auch Ton, Tonfolge, Akkord und Akkordfolgen repräsentieren einen Sinn und wollen als solcher auch erkannt sein. Er geht freilich nicht auf den essentiellen Unterschied zwischen Musik und Sprache ein, der doch darin besteht, daß die Musik nicht an das Wort gebunden ist, also aussagen kann, was das Kommunikationspotential der Sprache übersteigt. Die Musik gehorcht deshalb nicht den Gesetzen der verbalen Logik, die von sprachlich fixierbaren Erkenntnissen ausgeht, sie miteinander vergleicht und möglicherweise aus dem Bekannten neue Erkenntnisse ableitet, die der Vernunft einleuchten. Die Musik kann und will nicht Nebenbuhlerin der Sprache sein. Sie entspringt Dimensionen, die der sprachlichen Logik verschlossen sind, und sie richtet sich auch nicht an die oberen Erkenntniskräfte, sondern sie wirkt im rein Sinnlichen. Es wird zu zeigen sein, worin Scheibe die Eigentümlichkeit und Eigengesetzlichkeit der
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III. Kapitel
Musik sieht, denn daraus w i r d sich erschließen lassen, was er unter dem zur vernünftigen musikalischen N a c h a h m u n g geeigneten O b j e k t versteht. Komponieren bedeutet f ü r Scheibe, „sich in N o t e n auszudrücken" 2 9 oder „Gedanken in N o t e n auszudrücken." 3 0 Den Begriff „ G e d a n k e " f a ß t er sehr weit. Er versteht darunter jede bewußte, identifizierbare Ä u ß e r u n g der Seele. D a s Gewicht liegt auf dem Wörtchen „ b e w u ß t " . D e r Komponist soll wissen, was er musikalisch darzustellen gedenkt, u n d nicht etwa aus einem A f f e k t heraus schreiben, der nicht v o m Verstand geprüft wurde. D a m i t f o r d e r t Scheibe einen inneren Abstand z u m O b j e k t . Auch Gottsched glaubt, daß „der Affect . . . schon ziemlich gestillet seyn" müsse, „wenn man die Feder z u r H a n d " 3 1 nimmt. Beide m i ß t r a u e n der spontanen Äußerung, über die keine Rechenschaft abgelegt wird. Scheibe unterscheidet zwei Stufen des Schaffensvorganges, Erfindung u n d Schreibart. „Durch die Regeln, welche zur E r l ä u t e r u n g u n d Erlernung des Letzten gehören, k o m m e n wir dem ersten, nämlich der Erfindung, zu H ü l f e . Die Kunst m u ß insgemein verschaffen, d a ß die N a t u r ihre K r ä f t e ordentlich u n d vernünftig an den T a g bringen kann." 3 2 In der A n m e r k u n g zu dieser Feststellung heißt es weiter: „Wenn man in der Musik keine Regeln beobachten will, so w i r d auch die N a t u r nimmermehr die W i r kung thun, welche m a n durch H ü l f e der Kunst u n d des Fleißes erhält. So habe ich also die K u n s t nur als eine geschäfftige A m m e der N a t u r vorgestellt, die nämlich dazu e r f u n d e n ist, dieser zu dienen, ihr beyzustehen, und nichts anders zu verrichten, als was zu ihrem eigenen Vortheile selbst gehöret." 3 3 Diesen Sätzen zufolge begreift Scheibes Naturbegriff das gesamte T o n - u n d Klangmaterial in sich, das in der Vorstellung des Menschen v o r h a n d e n ist oder d o r t entsteht. Gottsched f ü h r t alle K r ä f t e der Seele auf die K r a f t zu denken zurück, die er auch als ihre vorstellende K r a f t bezeichnet. I n ihr erblickt er, wie im vorigen Kapitel dargelegt wurde, Wesen u n d N a t u r der Seele. Die N a t u r der Seele ermöglicht demnach die Vorstellung v o n Tönen u n d Klängen. Gottscheds Begriffe erklären auch Scheibes anfänglich verwirrende Formulierung, Musik sei die klangliche Darstellung v o n Gedanken, womit also nicht logische Zusammenhänge gemeint sind, sondern Vorstellungen. Diese Überlegungen f ü h ren freilich nicht zu einem spezifischen N a t u r b e g r i f f , zumal nichts über das Zustandekommen u n d den G r a d der Deutlichkeit dieser Vorstellungen ausgesagt w i r d . Scheibe bezeichnet sie schlicht als W i r k u n g e n der menschlichen N a t u r . M 80 31 82
33
ebd., 8. Stüde, S. 81. ebd., S. 81. Dichtkunst, 4. Aufl., S. 145. Musikus, 8. Stüde, S. 78 f.
ebd., S. 79, 2. Sp.
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Mittels der Kunst gelangen die Vorstellungen aus dem Bereich des Seelischen in den des sinnlich Wahrnehmbaren, wobei die Kunst eine doppelte Funktion erfüllt. Sie ermöglicht dem Komponisten Niederschrift und Ordnung seiner Vorstellungen. Scheibe trennt zwar zwischen Kunst unc! Natur, behauptet aber gleichzeitig, ohne die Kunst, „die geschäftige Amme der N a t u r , " könne sich die N a t u r nicht entfalten. Die Regeln der Kunst kämen sogar der Erfindung zu Hilfe. Ruft man sich nun ins Gedächtnis zurück, daß die Kräfte der menschlichen N a t u r sich in der Vernunft, die ja die Regeln erkennt und ihre Anwendung überwacht, zur vollkommensten Wirkung vereinen, dann kann man daraus folgern, daß die Kunst selbst auf ein natürliches Prinzip zurückzuführen ist. Intuition und Intellekt vereinen und ergänzen sich beim Schaffensvorgang zu natürlicher Tätigkeit. „Erfindung" und „Schreibart" sind also letztlich Äußerungen der menschlichen N a t u r , die sich nur in der Deutlichkeit der Begriffe unterscheiden. Diese Gedanken finden ihre Bestätigung in Scheibes Satz: „das Natürliche eines musikalischen Satzes besteht in der Beobachtung der Regeln der Tonkunst zur Erlangung des bestimmten Endzweckes."®4 Die Regeln verbürgen die Übereinstimmung des Mannigfaltigen und machen die Nachahmung vernünftig, wobei die N a t u r die Grenzen setzt und die Absicht die Regeln innerhalb dieser Grenzen vorschreibt. Mit diesem allgemeinen Ergebnis kann kein Komponist etwas anfangen, solange er nicht weiß, worin denn nun die Korrespondenz von Klangvorstellung und Empfindung, die sie hervorruft, besteht. Darf man überhaupt von der Voraussetzung ausgehen, daß ein bestimmter Klang die eindeutige musikalische Fixierung einer Stimmung darstellt, oder vermag eine Vielheit von Klängen dasselbe auszusagen? Philosophisch betrachtet wäre das falsch, denn jeder Klang ist ein Ding mit unveränderlichen Eigenschaften, die nur ihm zukommen. Obgleich Scheibe dieser Frage ausweicht, scheint er davon überzeugt zu sein, daß die spezifische Eigenheit eines jeden Klanges eine bestimmte Äußerung der Seele darstellt. Der Reichtum an verschiedenen Klängen entspricht also dem Reichtum verschiedener Zustände der Seele, die sich der Komponist bewußt machen soll, bevor er sie in Musik umformt. Folglich muß ihm auch die klangliche Entsprechung seelischer Vorstellungen bewußt sein. Dieses Problem erklären Scheibes Grundsätze nicht. Seine Deduktion versagt da, wo der Bereich des sprachlich Fixierbaren verlassen wird. Unerklärt bleibt auch, wie die Vernunft in der Kunst wirken kann. Gottsched schreibt über ihre Funktion: „Dasjenige wird der Vernunft gemäß genennet, was mit den bereits bekannten allgemeinen Wahrheiten zusammenhängt; oder durch richtige Folgerungen daraus hergeleitet wer34
ebd., S. 772.
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III. Kapitel
den kann." 3 5 U n d er f ä h r t f o r t : „Wie nun die Vernunft, z u m gründlichen Erkenntnisse der bereits erfundenen Wahrheiten, unentbehrlich ist: also ist sie auch sehr behülflich, zur Erfindung neuer Wahrheiten." 3 6 Es k ä m e also zuerst darauf an, die allgemeinen Wahrheiten der Musik u n d ihre Ordnungen, die ja die Regeln abgeben, zu erkennen, um dann die Regeln mittels der Vernunft den Absichten entsprechend w i r k e n zu lassen. Scheibe t u t so, als ob die G r u n d s ä t z e der Musik so b e k a n n t seien, daß er sie stillschweigend voraussetzen könnte. U n d doch h ä t t e man gern gewußt, worauf er a u f b a u t . Seine Regeln beziehen sich auf das Allgemeine oder die Ausarbeitung der Erfindung. I h r e strenge philosophische Begründung bleibt jedoch im D u n k e l n . Somit unterscheiden sich die allgemeinen Regeln nicht v o n denen der Dichtkunst, denn sie berühren die Eigentümlichkeit der Musik nicht. Die speziellen hingegen, z. B. die der musikalischen Figurenlehre, entspringen nicht den neuen philosophischen Erkenntnissen, sondern versuchen lediglich, die A n w e n d u n g des historisch Überkommenen zu regulieren. Wie Gottsched stellt auch Scheibe etwa die „verblümten Redensarten" nicht in Frage. E r will sie nur „vernünftig" a n g e w a n d t wissen. Dies darf nicht bei der folgenden Besprechung der Eigenschaften der Musik, dem C h a r a k t e r des Komponisten u n d dem guten Geschmack in der Musik aus den Augen gelassen werden. Scheibe hält Melodie u n d H a r m o n i e f ü r die Eigenschaften der Musik. „Durch die Melodie äußert sich die Erfindung, u n d was ferner zur Auszierung eines Gesanges e r f o r d e r t w i r d , als die verschiedenen Gattungen der Schreibarten, die Figuren, die Einrichtungen u n d Abtheilungen der musikalischen Stücke, die Verbindungen der Sätze, u n d endlich auch der erste u n d einfache Ausdruck der Sachen. Durch die H a r m o n i e aber geben wir der E r f i n d u n g u n d den übrigen melodischen Theilen den Nachdruck. U n d wir begreifen dadurch die Eintheilungen u n d Abtheilungen der Klänge, der Töne u n d ihrer R ä u m e ; ferner die Zusammensetzung u n d Uebereinandersetzung der Intervallen, den Fortgang derselben, wie auch alle künstliche oder arbeitsame Gattungen der Contrapuncte, Fugen, C a n o n e n u n d dergleichen." 37 Mit Ausnahme des Rezitativs, dem Scheibe Melodie abspricht, 38 sind demnach Melodie u n d H a r m o n i e u n v e r ä u ß e r 35 36 37 38
Weltweisheit, theor. Tl., 7. Aufl., § 945. ebd., § 946. Musikus, 4. Stück, S. 39 f. ebd., „Abhandlung vom Recitativ", S. 743. Dort heißt es: „Ich weis nicht, ob ich nicht bald sagen dürfte: man habe im Recitative mit der Melodie sehr wenig und fast gar nichts zu thun. Ich verstehe nämlich unter der Melodie, alles, was man singt; vom Recitative aber kann man nicht sagen, daß es ein Gesang ist; sondern man kann es vielmehr eine Reihe verschiedener aufeinander folgender Töne nennen, die dazu erfunden sind, die Rede des Menschen nachzuahmen, oder vielmehr ordentlicher abzumessen. Es ist also eine singende
61
Johann Adolph Sdieibes Critischer Musikus liehe Eigenschaften eines j e d e n M u s i k w e r k e s . A u f
den Einwand,
eine
M e l o d i e sei bereits M u s i k u n d b e d ü r f e der H a r m o n i e nicht, a n t w o r t e t Scheibe, d a ß es d u r c h a u s möglich sei, d a ß „eine e i n z e l n e M e l o d i e f ü r sich selbst b e s t e h e n " k ö n n e . „Sie k a n n a b e r w e d e r deutlich, noch kenntlich, noch d e r g e r i n g s t e n B e u r t h e i l u n g f ä h i g seyn, w e n n sie sich nicht auf einen H a u p t t o n b e z i e h t . . . E i n e M e l o d i e m u ß also so beschaffen seyn, d a ß sie k a n n m i t a n d e r n z u s a m m e n g e f ü g e t w e r d e n . . . Sie m u ß d e n G r u n d i h r e r eigenen H a r m o n i e in sich selbst h a b e n . " 3 9 D e m n a c h v e r w i r f t Scheibe eine M e l o d i e , die nicht als Teil eines h a r m o n i s c h e n G e f ü g e s k o n z i p i e r t ist. A l s o g e h ö r t die H a r m o n i e — w e n n auch in diesen F ä l l e n n u r als O r d n u n g s p r i n z i p t o n a l e r Sukzession — z u d e n Eigenschaften d e r M u s i k . Es ist freilich noch z u beweisen, d a ß M e l o d i e u n d H a r m o n i e i h r e n G r u n d i m Wesen d e r M u s i k h a b e n , w o z u noch e i n m a l Scheibes D e f i n i t i o n e n b e i d e r B e g r i f f e h e r a n g e z o g e n w e r d e n sollen. E r schreibt: Melodie ander
ist eine wohlgeordnete zu Gehöre
kommen."40
Reihe
verschiedener
Töne,
die nach
„Die ein-
E i n t h e o r e t i s d i gesehen unendliches T o n -
m a t e r i a l findet sich a u ß e r h a l b des Menschen in d e r b e l e b t e n u n d u n b e l e b ten K ö r p e r w e l t . E r k a n n sich T ö n e v o r s t e l l e n u n d sie r e p r o d u z i e r e n . A b e r auch o h n e d a s M u s t e r h a t er T o n v o r s t e l l u n g e n , d e n n d e r erste G r u n d d e r M u s i k b e f i n d e t sich, w i e Scheibe im 5. Stück sagt, a u ß e r h a l b und i n n e r h a l b des Menschen. J e d e T o n f o l g e ist d e m n a c h bereits N a c h a h m u n g d e r N a t u r , w e n n m a n d e n ersten G r u n d d e r M u s i k als w a h r a k z e p t i e r t . W o h l g e o r d n e t w i r d sie d u r c h die A n w e n d u n g v o n R e g e l n , die v o n d e r d e m Menschen n a t ü r l i c h e n K r a f t z u d e n k e n g e f u n d e n w e r d e n , u n d die im M a n n i g f a l t i g e n Ä h n l i c h k e i t schaffen. A u f d e r G r u n d l a g e des empirisch e r m i t t e l t e n ersten G r u n d e s d e r M u s i k u n d d e r o r d n e n d e n K r a f t d e r V e r n u n f t ist d a m i t erwiesen, d a ß die M e l o d i e i h r e n G r u n d in d e r v e r n ü n f t i g e n N a c h a h m u n g d e r N a t u r h a t , w o b e i a l l e r d i n g s noch u n b e a n t w o r t e t bleibt, nach welchen P r i n z i p i e n die V e r n u n f t o r d n e t , o d e r w o r i n die Ä h n l i c h k e i t d e r T ö n e besteht. Diese F r a g e leitet ü b e r z u r B e s t i m m u n g d e r H a r m o n i e , d e r e n G r u n d Scheibe z u f o l g e in d e r M e l o d i e liegen soll. 41 D a s k l i n g t widersprüchlich, d a doch die Ä h n l i c h k e i t d e r T ö n e u n d d a m i t O r d n u n g u n d R e g e l n d e r M e l o d i e aus d e r H a r m o n i e bewiesen w e r d e n soll. Es w u r d e
allerdings
auch schon gesagt, d a ß die M e l o d i e sich auf einen H a u p t t o n b e z i e h e n u n d
30 40 41
Rede. Wer weis aber nicht, daß man einen Gesang unmöglich eine singende Rede nennen kann?" ebd., 21. Stück, S. 204, Sp. 2. ebd., S. 209. ebd., 21. Stück, S. 204, Sp. 1: „Der Grund der ganzen Harmonie liegt schon in der Melodie selbst. Es könnte aber dieses nicht seyn, wenn sich diese nicht auf ihren Hauptton bezöge."
III. Kapitel
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als möglicher Bestandteil einer Akkordfolge konzipiert sein müsse. Liegt hier ein circulus vitiosus vor? Tatsache ist, daß sich Scheibe im 4. und 21. Stück widerspricht. Im 4. wendet er sich gegen den circulus demonstrandi, die Harmonie begreife die Melodie in sich, und die Melodie sei eine Harmonie. „Den eigentlichen Misverstand, oder vielmehr die vorhandene Zweydeutigkeit verursachet das Wort: Harmonie. Dieses sollte billig in keiner Beschreibung der Melodie stehen, weil man vorher schon weis, daß eines dem andern entgegen gesetzet wird." 42 Im 21. Stück verstößt er gegen seine eigene Vorschrift, wenn er schreibt, die Melodie müsse „den Grund ihrer eigenen Harmonie in sich selbst haben," 43 und stiftet damit Verwirrung. Seine Definition der Harmonie vermag auch keine Klarheit zu schaffen. Daß Harmonie auf natürlichen Prinzipien beruhe, setzt er voraus, ohne einen Beweis zu liefern. Damit bleibt auch unbewiesen, daß sie, die zweite Eigenschaft der Musik, ihren Grund in der Nachahmung der Natur habe. Gleichzeitig entbehren auch Ordnung und Regeln der Musik des zureichenden Grundes. Die ausschließlich deskriptive Harmonielehre im 2. Teil des Compendium Musices gibt über das angeblich natürliche Prinzip der Harmonie keine Auskunft. Von dem anspruchsvollen Vorhaben, eine Metaphysik der Musik vorzulegen, bleibt also wenig übrig. Das Gehör als Kriterium anzuerkennen, verbietet schon die Methode. Scheibe selbst hält es für trügerisch. Er schreibt: „Wenn wir einem Stücke bloß das Gehör, nicht aber den Verstand gönnen: so werden wir insgemein betrogen." 44 Unterzieht man nun diese Ergebnisse einer strengen Prüfung, dann kann man nur folgern, daß Scheibe das verbindliche Ordnungsprinzip der Musik nicht ermittelt. Er setzt es voraus, zieht Schlüsse und gelangt zu allen möglichen allgemeinen Forderungen. Die Wölfischen Kategorien, die er so eifrig auf die Musiktheorie anwendet, bedurften der Umformung, um der Musik, die anderen Gesetzen als denen des Wortes unterliegt, ihre Geheimnisse entreißen zu können. Scheibe war es nicht vergönnt, diese wesentliche Arbeit zu leisten, so sehr man seinem ehrlichen Bemühen die Anerkennung nicht versagen kann. Im 1. Stück des Musikus sagt Scheibe, er beabsichtige, mit seiner Schrift reinigend und klärend auf die gesamte Musikkultur einzuwirken, die sich in einer so großen Verwirrung befände, „daß es uns und unsern Nachkommen nodi Zeit und Mühe genug kosten wird, sie in eine vernünftigere Ordnung zu bringen." 45 Die Qualität der Musik hängt in erster Linie von der Qualität des Komponisten ab, weshalb Scheibe es für nötig erachtet, 42 43 44 45
ebd., ebd., ebd., ebd.,
4. Stüdk, S. 44. 21. Stüde, S. 204, Sp. 2. 9. Stüde, S. 89, Sp. 2. 1. Stück, S. 3 f.
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Musikus
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nach dem Vorbild des Kapitels „Von dem Charactere eines Poeten" in Gottscheds Dichtkunst gelegentlich auf die natürlichen Anlagen und erlernbaren Fertigkeiten des Komponisten einzugehen. Auch in diesem Falle geht er nicht systematisch vor. Er behauptet, ein Komponist müsse von N a t u r aus Scharfsinnigkeit, Witz und Einbildungskraft besitzen. „Alle Componisten müssen Witz haben; dieser machet ihre Arbeiten scharfsinnig. Das Scharfsinnige in der Tonkunst muß aber von solcher Beschaffenheit seyn, daß es, in der Entdeckung der Aehnlichkeiten, neue, sonderbare, und nicht gemeine oder bekannte Mittel gebrauchet." 48 Die Terminologie Wolfis und Gottscheds wird hier recht unscharf angewandt. Der Witz hat seinen Grund in der Scharfsinnigkeit, womit nicht gesagt ist, daß er ein Werk scharfsinnig mache. Es handelt sich hierbei überhaupt um Eigenschaften des Menschen und nicht der Dinge. Im 70. Stüde behauptet Scheibe: „Ein Componist muß, so wie ein Dichter, einen großen Witz, und einen göttlichen Geist haben . . . wenn er diesen Namen mit Recht verdienen will." 47 An einer anderen Stelle heißt es dagegen: „Der Componist muß vornehmlich eine starke Einbildungskraft, und denn ein vernünftiges Nachdenken besitzen." 48 Was ist n u n wichtiger, u n d worin besteht der göttliche Geist? Gottsched formuliert weit bündiger f ü r den Dichter: „ . . . ein Poet muß dergestalt, sowohl als ein Maler, Bildschnitzer u.s.w. eine starke Einbildungskraft, viel Scharfsinnigkeit und einen großen Witz schon von N a t u r besitzen, wenn er den N a m e n eines Dichters mit Recht führen will." 49 Die spezielle wissenschaftliche Ausbildung des Komponisten muß, wie Scheibe mehrere Male nachdrücklich betont, mit dem Studium der Philosophie beginnen. „Zur Erkenntniß musikalischer Wahrheiten gehören die Vernunftlehre, die Metaphysik, die Naturlehre und die Mathematik. Wem wird es also möglich seyn, alle diese Wahrheiten zu erkennen, zu beurtheilen und anzuwenden, wenn er sich nicht in der Weltweisheit wohl umgesehen hat?" 5 0 Als die spezifisch musikalischen Fächer, in denen ein guter Komponist bewandert sein müsse, nennt Scheibe Geschichte und Theorie der Musik, Instrumentenkunde, Stimmkunde, Harmonielehre, Aufführungspraxis, Akustik und Klavierspiel. Ihre Kenntnis solle jedoch stets im Dienste der Absicht stehen, die, wie es im 3. Stück heißt, moralisch ist. 51 Offenbar schreibt Scheibe der Ergötzung des Gemüts, der sonst genannten Absicht des Komponisten, eine kathartische Wirkung zu. Im " 47 48 48 50 51
ebd., S. 774. ebd., 70. Stüde, S. 643. ebd., 10. Stück, S. 101. Dichtkunst, 2. Aufl., S. 99. Musikus, 60. Stück, S. 555. Vgl. ebd., S. 33.
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übrigen bringt er kaum mehr als eine Liste von Anlagen, Kenntnissen und Fertigkeiten, unter denen die Vernunft und, wie weiter unten gezeigt wird, auch der gute Geschmack eine bevorzugte Stellung einnehmen. Wie nun die Vernunft in der Tonkunst zur Anwendung gelangt, bleibt der Vorstellungskraft des Lesers überlassen. Der Neuauflage des Musikus von 1745 fügte Scheibe eine ausführliche „Abhandlung vom Ursprünge, Wachsthume und von der Beschaffenheit des itzigen Geschmacks in der Musik" bei, die offenbar von dem Kapitel „Vom guten Geschmacke eines Poeten" in der Dichtkunst Gottscheds inspiriert wurde. Schon im 21. Stück gibt Scheibe eine Definition und rechtfertigt sie. Er schreibt: „Ein bloßer sinnlicher Geschmack in Wissenschaften und Künsten würde lächerlich seyn; noch lächerlicher aber wäre es, wenn man gar vorgeben wollte, man brauche zur Erkenntniß des Guten und Schönen in den Wissenschaften und Künsten keine Fähigkeit des Verstandes, sondern nur eine bloße Empfindung der Sinne. Wenn wir aber die Empfindung gesunder Sinne mit der Fähigkeit des Verstandes verbinden: so werden wir dasjenige Urtheil, welches hieraus entsteht, den guten Geschmack nennen können." 52 In der „Abhandlung", die mit einer allgemeinen historischen Einleitung beginnt, baut Scheibe diese Gedanken weiter aus. Er definiert zunächst den Geschmack schlechthin als „eine Fähigkeit des Verstandes, dasjenige zu beurtheilen, was die Sinne empfinden." 53 In der Definition des 21. Stückes wurde das Urteil selbst und nicht die Fähigkeit als Geschmack bezeichnet. Da die Fähigkeit nur die Möglichkeit darstellt, in bestimmter Weise wirken zu können, der Geschmack sich jedoch als Urteil äußern muß, wenn er von irgendeiner praktischen Bedeutung sein soll, ist Scheibes ursprüngliche Definition vorzuziehen. Das Urteil setzt ja ohnehin eine Fähigkeit voraus. Diese Kritik richtet sich allerdings gegen einen weniger wichtigen Punkt in Scheibes Abhandlung. Es erscheint weit schwerwiegender, daß er es unterläßt, genau zu sagen, in welchen Fällen der Geschmack zur Anwendung gelangt. Seiner Definition zufolge ist jede Fähigkeit, über etwas sinnlich Empfundenes ein Urteil zu fällen, bereits Geschmack. Wozu eine derartig weite Bestimmung führt, braucht hier nicht näher erläutert zu werden. Im Grunde verwischt Scheibe den Unterschied zwischen dem Urteil des Geschmacks und dem des Verstandes. Dabei sagt Gottsched deutlich, wann überhaupt ein Geschmacksurteil nötig und zulässig ist, wenn er schreibt: „Von dem metaphorischen Geschmacke unsrer Seelen bemerket man, daß man sich dieses Wortes fast ganz allein in freyen Künsten, und in etlichen andern sinnlichen Dingen bedienet: Hergegen 52 53
ebd., 21. Stück, S. 201, Sp. 1. ebd., S. 767.
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Musikus
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wo es auf die Vernunft allein ankömmt, da pflegt man dasselbe nicht zu brauchen. Der Geschmack in der Poesie, Beredsamkeit, Musik, Malerey und Baukunst . . . ist sehr bekannt. Aber niemals habe ich noch vom Geschmacke in der Arithmetik und Geometrie, oder in andern Wissenschaften reden hören, wo man aus deutlich erkannten Grundwahrheiten die strengesten Demonstrationen zu machen vermögend ist. I n solchen Wissenschaften aber, wo das deutliche und undeutliche, erwiesene und unerwiesene noch vermischt ist, da pflegt man auch wohl noch vom Geschmacke zu reden." 5 4 Gottsched will darauf hinaus zu zeigen, „daß der metaphorische Geschmack eben sowohl als der gemeine, nur mit klaren, aber nicht ganz deutlichen Begriffen der Dinge zu thun habe." 5 5 In Fällen also, wo aus verschiedenen Gründen der Verstand kein Urteil fällen kann, beruhen spontane Zustimmung oder Ablehnung nur auf einer sinnlichen Empfindung, die notwendigerweise undeutlich, also nur klar ist, da entweder der Eindruck zu kurz war oder überhaupt Kriterien fehlen. Scheibe umgeht geflissentlich die Frage, wann der Geschmack das Urteil des Verstandes vertreten darf, indem er beide als identisch ausgibt. Dieses Ausweichen geschieht freilich nicht ohne Grund. Wenn sich Scheibe nämlich an Gottscheds Erklärung und Begründung des Geschmacks gehalten hätte, wäre es ihm nicht erspart geblieben, die BegrifTswelt der Musik näher zu untersuchen. Zweifelsohne gehören auch die Töne und ihr Zusammenhang zu den Objekten der Gedanken, weshalb von musikalischen Begriffen gesprochen werden darf. Zu fragen ist freilich, ob Töne und alles das, was sich aus ihnen zusammensetzt, zu den klaren oder deutlichen Begriffen gehören. Für Scheibe scheint es keinen Zweifel zu geben, daß der Komponist mit deutlichen Begriffen arbeitet, sein Werk also ein Urteil des Verstandes zuläßt. Erkennt man jedoch Gottscheds Kriterien an, nämlich „daß man andern seine deutlichen Begriffe mit bloßen Worten beybringen kann: undeutliche oder verwirrte hingegen, vermag man keinem mitzutheilen, wenn man ihn die Sachen nicht selbst empfinden läßt," 5 6 dann kommt man zu dem Schluß, daß die Musik bestenfalls mit klaren Begriffen arbeitet, denn niemand vermag das Erlebnis eines Tones, einer Melodie etc. durch eine Wortbeschreibung zu ersetzen. Anders wäre es, wenn man die Musik als Lesekunst betrachtet. Das tut offenbar Scheibe, der dem Gehör keine Urteilsfähigkeit zubilligt. Die willkürlichen Symbole der Musik (Noten etc.) sind nun sicher noch nicht die Musik selbst, deren Wirklichkeit sich einzig als Klang erfüllt. Indem Scheibe diesen ontologischen Problemen ausweicht, verkennt er den wahren Sinn der ganzen Geschmacksdebatte. 51 55 58
5
Dichtkunst, 2. Aufl., S. 116 f. ebd., S. 117. Weltweisheit, theor. Tl., 7. Aufl., § 28. Birke
III. Kapitel
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Das wird noch deutlicher, wenn man sich in die Rolle des empfindenden Zuhörers versetzt. Er sieht sich gleichsam mit einem Zusammenhang klarer Begriffe konfrontiert, dessen Gesetzmäßigkeiten ihm im Augenblick des Erlebens bestenfalls klar werden können. Verfolgte er das Werk in einer Partitur, dann bliebe ihm wahrscheinlich kaum Zeit, zu deutlichen Begriffen zu gelangen und deren Verknüpfung seinem Verstand zur Prüfung vorzulegen. Also ist er auf eine vorausgegangene Erfahrung ähnlicher klarer Begriffe angewiesen, um ein Urteil, d. h. ein Geschmacksurteil, fällen zu können. Ein anderes ist unter den gegebenen Umständen überhaupt nicht möglich. Nach diesen Überlegungen muß auch Scheibes Definition des guten Geschmacks fragwürdig erscheinen. Er schreibt: „Es besitzt . . . derjenige den guten Geschmack in der Musik, welcher bey Anhörung eines musikalischen Stückes, vermöge der gesunden Fähigkeit seines Verstandes, so fort urtheilen kann, ob das Stück gut oder schlecht gesetzet ist: das ist, ob es regelmäßig, natürlich, und ohne Verstandsfehler ist. Derjenige Componist aber beweist den guten Geschmack in seinen Werken, welcher sie so einrichtet, daß sie dem Gehöre und dem Verstände zugleich gefallen; das ist, daß er darinnen weder Musikfehler, noch Verstandsfehler, begeht, überall aber eine gesunde und reife Urtheilskraft zu erkennen giebt."57 Trotz der Inkonsequenz und Unschärfe, mit der Scheibe Wolffs und Gottscheds Kategorien auf die Musiktheorie überträgt, bedeutet sein Musikus den ersten Ansatz zu einer philosophisch begründeten Musikästhetik. Pionierleistungen, die kaum auf Vorarbeiten aufbauen können — es sei an Gottscheds Dichtkunst erinnert — sind selten frei von Mängeln. Ihr Verdienst besteht doch in erster Linie darin, unbekannte Möglichkeiten aufzuzeigen, die Dimensionen des Denkens zu erweitern und damit den Weg für eine neue Entwicklung zu bereiten. Wenn dann das Wollen das Können übersteigt, weil die Menge der Probleme sich als erdrückend und unüberschaubar erweist, sollte die Geschichte mit einfühlendem Verständnis urteilen. Scheibe war sicherlich kein Gelehrter vom Schlage Wolffs oder Gottscheds, aber er sah dennoch, daß die Zeit reif geworden war, die Grundlagen der gesamten Musiklehre neu zu durchdenken.
"
Musikus,
S. 770 f.
IV. K A P I T E L LORENZ MIZLERS MUSIKALISCHE
BIBLIOTHEK
Etwa ein halbes Jahr vor Scheibes Musikus begann in Leipzig eine Musikalische Bibliothek zu erscheinen, die von dem rührigen Magister Lorenz Mizler, der an der Leipziger Universität „Weltweisheit" und „freye Künste" lehrte, herausgegeben wurde.1 In ihrem Charakter unterscheidet sich diese Zeitschrift von der Scheibes nicht unerheblich. Sie bringt nicht vorwiegend Abhandlungen über musikalische Themen, sondern zumeist Besprechungen älterer und neuerer Werke zur Musiktheorie im weitesten Sinne. Was Mizler dazu bewog, berichtet er in der Vorrede zum 1. Teil. „Da ich mir . . . vorgenommen bey müßigen Stunden, alles was von der Musik geschrieben worden durchzulesen, habe ich zu meiner eigenen Nachricht bey Durchlesung etlicher Bücher so wohl das beste und nothwendigste ausgezeichnet, als das nach meinen Bedüncken schlimme angemercket, und mehrentheils auch meine eigene Gedancken hinzu gethan. Nachdem ich solches einigen gelehrten guten Freunden und Musikverständigen gezeiget, haben Sie geglaubet, ich würde so wohl den Gelehrten, als auch den Liebhabern der Musik einen Gefallen thun, wenn ich diesen Nutzen mit ihnen theilen wolte . . ." 2 Die Musikalische Bibliothek gibt sidi zwar anfänglich als Referatenorgan, ist aber weit mehr, da die Besprechungen fast ausschließlich von Mizler stammen, also durchgehend dessen Anschauungen einheitlich vertreten, was bei mehreren Mitarbeitern kaum der Fall gewesen sein würde. Diese Einheitlichkeit ermöglichte der Bibliothek, sich einen größeren Wirkungskreis zu erschließen, als er einem 1
D e r Titel des 1. Bandes lautet Lorenz Mizlers .. . Neu eröffnete Musikalische Bibliothek Oder Gründliche Nachricht nebst unpartheyischem Urtheil von musikalischen Schriften und Büchern . . . Leipzig im Jahr 1739. Im Verlag des Verfassers und bey Brauns Erben in Commission. E r enthält die sechs 1 7 3 6 (1. T l . ) , 1 7 3 7 (2. u. 3. T l . ) , 1738 ( 4 . - 6 . T l . ) einzeln erschienenen Teile. 1 7 4 0 , 1 7 4 2 , 1 7 4 2 und 1 7 4 3 folgten die vier Teile des 2. Bandes. Das Titelblatt des 3. Bandes zeigt die J a h r e s z a h l 1 7 5 2 . Die vier Teile erschienen 1746, 1746, 1 7 4 7 und 1 7 5 2 . V o m 4. B a n d gelangte nur noch der 1. Teil ( 1 7 5 4 ) zur Auslieferung. In MGG, 9. Bd., Sp. 3 8 9 , w i r d 1 7 4 0 als Erscheinungsjahr für den 2. Teil des 2. Bandes angegeben.
2
1. Bd., V o r r e d e z u m 1. T l . , Bogen 2 V .
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IV. Kapitel
Referatenorgan gewöhnlich z u k o m m t . Mizler e r k a n n t e dieses Potential deutlich, wie die weiteren G r ü n d e zur Veröffentlichung beweisen. Er beabsichtigt nämlich, „die Musikalischen Wissenschaften, w o nicht selbsten höher zu bringen, doch Gelegenheit dazu zu geben, d a ß selbige in vollk o m m e n e m Stand möchten gesetzet werden." 3 Ferner will er Laien und Fachleuten etwas in die H a n d geben, „das sie vergnügen, u n d von vielen unbekandten Musikalischen Sachen Nachricht ertheilen könnte." 4 U n d schließlich möchte er seinen „ Z u h ö r e r n in der Musik, welchen ich selbige als eine Philosophische Wissenschafft auf hiesiger Academie dermahlen lehre, zugleich was z u m nachlesen überreichen." 5 Wie i m 1. Kapitel bereits k u r z e r w ä h n t w u r d e , war Mizler ein begeisterter Anhänger der Wölfischen Philosophie. Möglicherweise lernte er sie durch Gottsched kennen, der sie 1731, als Mizler an der Leipziger Universität zu studieren begann, d o r t mutig v e r t r a t . Freilich gehen Mizlers Kenntnisse weit über das hinaus, was Gottsched in seiner Weltweisheit bietet. Besonders die mathematischen Schriften Wolfis scheint er eingehend studiert zu haben. Mehr noch als Gottsched und Scheibe glaubt er, d a ß die Wölfische Philosophie f ü r die Kunsttheorie fruchtbar gemacht werden könne. In der Bibliothek verspricht er: „Den N u t z e n der Wolfischen Weltweisheit in der Musik w e r d e ich in einer besondern Schrift: de usu ac praestantia philosophiae Wolfianae in musica, zeigen." 6 D a dieses W e r k bibliographisch nicht nachgewiesen werden konnte, scheint es nicht erschienen zu sein. Vielleicht ist es auch, wie z. B. die Oden Mizlers, verschollen. 7 Es sei zunächst d a r a n erinnert, d a ß Mizler a n der Leipziger U n i versität die Musik als eine „Philosophische Wissenschafft" lehrte. Er gilt als erster Vertreter des Faches Musikwissenschaft in Deutschland. Wie auch Scheibe sah er sich einer Musiklehre gegenüber, die auf überkommenen Regeln aufbaute, ohne nach ihrer Stichhaltigkeit zu fragen. Was dem P r a k t i k e r als H a n d w e r k s l e h r e genügte, wollte er der strengen wissenschaftlichen P r ü f u n g unterziehen, um verbindlich u n d eindeutig feststellen zu können, welche Regeln die Q u a l i t ä t der Musik verbesserten. D e n n auch seine Bemühungen zielten auf ein Anheben der gesamten Musikkultur ab, obgleich er noch weniger P r a k t i k e r w a r als sein Gegenspieler Scheibe. A m A n f a n g der Mizlerschen Schriften steht programmatisch eine Dissertatio quod musica scientia sit et pars eruditionis philosophicae von 3 4 5 6 7
ebd., Bogen u n d 3r. ebd., Bogen 5 r . ebd., Bogen 5 r . 1. Bd., 4. Tl., S. 75, Anm. Vgl. MGG, 9, Sp. 390, Werkverzeichnis.
Lorenz Mizlers Musikalische
Bibliothek
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1734, 8 in der er noch mit jünglingshafter Begeisterung für die Antike nachzuweisen sucht, daß die Musik Teil der klassischen Philosophie und damit wissenschaftlicher Erkenntnis zugänglich gewesen sei. Er schreibt: „Sed antequam Musicam, eruditionis philosophicae partem esse, argumentis demonstrare incipimus, plane necesse erit, ut prius dicamus, quid intelligatur per eruditionem philosophicam, deinde, quali in sensu Musica eruditionis philosophicae pars, atque scientia, appellanda sit." 9 Die folgenden Ausführungen sind allerdings eher historisch als systematisch orientiert. In der Bibliothek geht Mizler verschiedentlich kurz auf die Bedeutung der Philosophie für die Musiklehre ein, ohne etwa ein System wie Scheibe zu entwerfen, 10 da er nicht glaubt, seinen Lesern etwas Selbstverständliches beweisen zu müssen. Mathematische Überlegungen nehmen dagegen einen breiten Raum ein. Vor der Untersuchung der Mizlerschen Theorien im Lichte der Wölfischen Philosophie sei noch kurz auf das Verhältnis Mizlers zu Gottsched hingewiesen. Der berühmte Leipziger Professor scheint auf den jungen Magister großen Eindruck gemacht zu haben, denn Mizler druckte in der Bibliothek verschiedene Auszüge aus der 2. Auflage der Dichtkunst und den ganzen Opernstreit, den ihr Opernkapitel ausgelöst hatte, mit Kommentaren versehen ab. 11 Gottsched, der Scheibes Musikus in der 4. Auflage der Dichtkunst verschiedentlich lobend erwähnt, scheint von Mizler kaum Notiz genommen zu haben. Immerhin muß es ihm nicht unlieb gewesen sein, daß seine Stellungnahme zu musikalischen Fragen durch die Bibliothek in Musikkreisen bekannt wurde. Inwieweit Mizler sich die Dichtkunst zunutze machte, wird weiter unten erläutert. 8
9 w 11
Es wurde nur die 2. Aufl. von 1736, die u. a. auch Badi gewidmet ist, eingesehen.
Dissertatio, 2. Aufl., S. 4 f. Critischer Musikus, 2. Aufl., S. 721 ff.
Die Bibliothek enthält folgende Auszüge aus der 2. Aufl. der Dichtkunst: 1. Die Kapitel „Vom Ursprünge und Wachsthume der Poesie überhaupt," § 1—5, S. 6 7 — 6 9 , und „Von Oden, oder Liedern," § 1—14, S. 371—381 (von § 11 an gekürzt) erschienen kommentiert und eingeleitet unter dem Titel „Herrn Prof. Gottscheds Gedanken vom Urpsrung und Alter der Musik, und von der Beschaffenheit der Oden," im l . B d . , 5. Tl., S. 1—31. 2. Das Kapitel „Von Cantaten," S. 4 0 9 — 4 1 8 , erschien ungekürzt, jedodi ohne die Textbespiele, als „Hrn. Prof. Gottscheds Gedanken von Cantaten . . im l . B d . , 6 . T l . , S. 1—16. 3. Das Kapitel „Von Opern oder Singspielen," S. 7 1 0 — 7 3 6 , findet sich leicht gekürzt als „Herrn Professor Gottscheds Gedanken von Opern" im 2. Bd., 3. Tl., S. 1—49. Außerdem übernahm Mizler auch den ganzen Opernstreit aus Gottscheds Zeit-
schrift Beyträge Zur Critischen Historie Der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit.
Vgl. Joachim Birke, „Gottsched's Opera Criticism and ItsLiter-
ary Sources," Acta Musicologica, 32 (1960), S. 195.
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IV. Kapitel
Die in der Bibliothek verstreuten Gedanken über die Grundlagen der Musik kreisen immer wieder um den Endzweck der Musik. Der Komponist muß seine Mittel so wählen, daß er ihn erreichen kann. Der Endzweck diktiert gleichsam die gesamte Beschaffenheit der Musik. Mizler schreibt: „Die Musik hat die Bewegung und Beruhigung der Leidenschafften zum Endzweck nebst der Belustigung des G e h ö r s . . . Es wäre . . . unvernünftig, Mittel zur Erhaltung des Endzweckes anzuwenden, von denen man doch gewiß weiß, daß sie solchem entgegen sind, und die gute Ordnung verdunkeln, zumal da man viel bessere an der Hand hat. Der Vernunft zufolge müssen wir allzeit suchen das beste zu erwählen . . ," 12 Neben der Belustigung des Gehörs, die allein nur sinnliches Vergnügen ist und nicht zur Besserung des gesamten Menschen beiträgt, nennt Mizler an erster Stelle die Bewegung und Beruhigung der Leidenschaften. Er rügt Euler, der in seinem Tentamen novae theoriae musicae (1739) einzig das Vergnügen des Gehörs als Endzweck der Musik nennt, mit den Worten: „Den vornehmsten Endzweck der Musik hat der gelehrte Herr Verfasser vergessen, nemlich die Erregung und Stillung der Leidenschaften. Es wäre kaum der Mühe werth, daß man die Musik mit so vieler Mühe untersuchte, wenn sie zu weiter nichts nütze wäre, als nur das Gehör zu vergnügen. Sie reiniget die Leidenschaften, und sind als von einer ausgemachten Sache die alten und neuen Scribenten davon voll." 13 Wenn auch Mizler den Beweis für seine Auffassung nicht beibringt, so kann sie kaum als blinde Autoritätsgläubigkeit gewertet werden. Als philosophische Wissenschaft mußte auch die Musik zur Glückseligkeit der Menschheit beitragen. Es war ihm undenkbar, sie nur als Sinnenkitzel zu verstehen. Ja, er glaubt, ihr Endzweck unterscheide sich nicht von dem der Poesie, die mit anderen Mitteln dasselbe bewirke. In der Einleitung zu „Herrn Prof. Gottscheds Gedanken vom Ursprung und Alter der Musik" schreibt er: „So unzertrennlich sind die Kräffie dieser zwey Schwestern, daß sie einander auf das nachdrücklichste unterstützen, wenn man sie nach ihrer Absicht, die sie mit einander gemein haben, verbindet. Beyde suchen die Menschen zu vergnügen und geschickter zu machen. In beyden Fällen gehet bey den Menschen eine Veränderung vor. Diese Veränderung muß sich auf das Wesen der menschlichen Gemüther gründen, und also in derselben Natur stecken. Wenn wir nun genau acht haben, wie die Veränderungen in den Gemüthern der Menschen von sich selbst entstehen, und solche bey vorkommenden Fällen auf eben die Art wieder zu erwecken suchen, so ahmen wir der Natur nach. Da aber nur ein Weg ist die Leidenschaft, würcklich zu erregen oder zu stillen, nehmlich die Nachahmung der Natur, 12
13
Bibliothek, 2. Bd., 4. Tl., S. 63 f.
ebd., 3. Bd., 1. Tl., S. 77.
Lorenz Mizlers Musikalische Bibliothek
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und der Musik ganze Absicht ist, die Leidenschafften zu erregen und zu stillen, so kan solches gleichfalls nicht anders als in Nachahmung der N a t u r bestehen. D a nun also die Dicht-Kunst und die Musik einerley Absichten haben, so müssen sie auch einerley Regeln die Mittel geschickt zu ihren Absichten zu gebrauchen haben." 14 Mit diesen Sätzen beweist Mizler nicht nur, daß Musik und Poesie dieselben Absichten verfolgen, sondern auch einerlei Wesen besitzen. Er geht freilich nicht so weit wie Scheibe, der ausdrücklich von spezifisch moralischen Absichten der Musik spricht. Mizler ist sich des fundamentalen Unterschiedes zwischen sprachlichen und musikalischen Mitteln bewußt, weshalb er überhaupt nur die emotionale Wirkung der Musik berücksichtigt. Auf der sprachlich-logischen Ebene vermag sie nicht mit der Dichtung zu konkurrieren. In ihrer sinnlichen Wirkung haben beide Künste jedoch etwas gemeinsam, nämlich die Erregung und Stillung der Leidenschaften. Sie sind gewissermaßen Therapie, und man darf also Musik im weitesten Sinne auf eine moralische Absicht zurückführen, denn wenn sie seelische Schlacken entfernen kann, dann befördert sie Gesundheit und Tugend des Mensdien, kurz, seine und der ganzen Menschheit Glückseligkeit. Damit beweist Mizler einmal mehr Würde und Kraft dieser ältesten Wissenschaft. Er läßt aber keinen Zweifel darüber, daß nur gute Musik eine heilsame Wirkung haben kann. Deshalb müsse man sich der strengen Methoden der Philosophie und Mathematik bedienen, um das wahre Wesen, Ordnung und Regeln der Musik deutlich zu erkennen, damit Fehler, die den Absichten entgegenwirken, vermieden werden. Von besonderem Interesse ist Mizlers Begründung des Wesens der Musik, das wie das der Dichtkunst in einer Nachahmung der N a t u r bestehe. Er sucht den Anreiz zum Nachahmen nicht primär in den Lauten der Körperwelt oder in den Tonvorstellungen des Menschen, sondern in der Absicht, auf das Gemüt einwirken zu wollen. Dies setzt offenbar die experimentell ermittelte Kenntnis von Tonfolgen voraus, die im Sinne der Absicht zu wirken vermögen. D a eine bestimmte, nicht wahllos zusammengefügte Tonfolge die beabsichtigte Wirkung hervorruft, die einer zufälligen versagt bleibt, muß etwas in ihr der menschlichen N a t u r entsprechen, denn nur was in der N a t u r begründet ist, könne auf das Gemüt wirken. Damit erkennt Mizler die Wirkung von Tonfolgen als Kriterium des Natürlichen an, womit er sich gegen Scheibe und audi Gottsched stellt, die dem Gehör, das die sinnliche Erkenntnis vermittelt, mißtrauen. Besonders deutlich wird Mizlers Haltung in seiner Besprechung des 9. Stückes des Musikus Scheibes, wo es heißt: „Die Sinnen aller gesunden Menschen verhalten sich gegen die Dinge, die in sie würken können, nach einerley 14
ebd., 1. Bd., 5. Tl., S. 2 f.
IV. Kapitel
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Regeln . . . Alle Körper, die wir mit unserm Körper bewegen, und auch von welchen unser Körper beweget wird, werden bey allen nach einerley Regeln beweget. Alle Körper, von welchen in unsere Augen Strahlen fallen können, mahlen sich hinter der crystallenen Feuchtigkeit nach einerley Gesetzen der N a t u r ab, und endlich alle Tone werden durch die Gliedmassen der Ohren auf einerley Art durch die subtilen Nerven im Gehirne empfunden. U n d so wie sich die Nerven der Menschen untereinander verhalten, so müssen sich auch die Empfindungen untereinander verhalten . . . D a ß dieses alles wahr sey, wenn änderst die Sinnen in einem gesunden Zustand sind, brauchet keines Beweises. Denn es sind Erfahrungen und Grundsätze, die nur Unwissende leugnen. Es folget also auch hieraus, daß die Sinnen unmöglich betrüglich seyn können." 1 5 Wenn also Mizler davon überzeugt ist, daß sich das Gehör aller Menschen akustischen „Dingen" gegenüber nach einerlei Regeln verhält, dann muß auch zumindest die qualitative Wirkung von Tonfolgen bei allen Menschen die gleiche sein. Im Gehör, dem Organ, das den Sinneseindruck vermittelt, und in der Seele, in der dieser zur Wirkung gelangt, erblickt er also die Konstanten der N a t u r , die beurteilen, ob eine Tonfolee den Absichten gemäß beschaffen ist. Er glaubt also an ein universales, zeitloses Kriterium, das seinen Grund in der menschlichen N a t u r hat. Soäter hält er diese Ansicht nicht mehr in vollem U m f a n g aufrecht. Auf dieser Voraussetzung aufbauend müsse ermittelt werden, „welche Verbindungen und Veränderungen der Tone eben diese und keine andere Leidenschaft hervorzubringen geschickt sey. Wenn das hätte unser H e r r Euler," den er kritisiert, „zeigen können, so wäre wenigstens eine Stuffe zum höchsten Gipfel der musikalischen Vollkommenheit derweil vorhanden. " M Jeder bestimmten Zusammensetzung von Tönen kommt demnach nur eine spezifische Wirkung zu. Wer also das Geheimnis zu entschlüsseln vermag, wie Töne zusammengefügt werden müssen, um die erstrebte Wirkung zu erlangen, kennt die unwandelbaren ewigen Gesetze der Musik, die ihre Vollkommenheit und Schönheit verbürgen. Diese Gedanken leiten über zu Mizlers Naturbegriff, der über die Übereinstimmung des Mannigfaltigen Aufschluß zu geben vermag, wenn man den Satz akzeptiert, „daß das innere Wesen der Musik in einer Nacha h m u n g der N a t u r bestehe." 17 An einer anderen Stelle heißt es freilich: „Alle Künste bestehen in einer Nachahmung der Natur." 1 8 Vom Wesen der Kunst ist hier nicht mehr die Rede. Für die Ermittlung des N a t u r 15 16 17 18
ebd., ebd., ebd., ebd.,
1. Bd., 6. Tl., S. 62 f. 3. Bd., 1. Tl., S. 78, Anm. 1. Bd., 5. Tl., S. 2. 1. Bd., 5. Tl., S. 55.
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begriffs sind diese Unterschiede jedoch ohne Bedeutung. Mizler zufolge sucht die Kunst „etwas der N a t u r ähnliches durch allerhand ihr bekannte Mittel hervor zu bringen, und gehet also alles auch natürlich zu. Denn eine übernatürliche Kunst ist . . . ein Unding. D a es nun ferner wahr ist, daß die N a t u r nach ihren weisen Absichten allen Dingen in der Welt von einer Art und Gattung nicht gleiche Vollkommenheit, sondern einem bald mehr bald weniger zutheilet, so muß auch folgen, daß unter den Menschen einer bald mehr bald weniger Kräffle hat, die natürliche Logick zu erlernen . . . Die N a t u r bringet also ihre Kräften nicht bey einem allein, sondern hier und dar aus sehr weisser Absicht zertheilet an, welche zusammen genommen, das vollkommenste vorstellen und N a t u r heiset. N u n ist bekannt, daß, wenn die Kunst was sehr gutes machen will, sie sich das beste Muster vorstellen muß. Weil sie nun bey einem nicht alle Schönheiten antrifft, so suchet sie solche aus verschiedenen Dingen, von der Art oder Gattung, die sie nachahmen will zusammen, und stellet also nach möglichsten Fleiß etwas der N a t u r ähnliches vor. . . . D a es also wahr ist, daß die N a t u r die Vollkommenheiten nicht bey einem Ding allein, sondern in vielen zertheilet anbringet, die Kunst aber die Vollkommenheit der N a t u r im ganzen, durch Verbindung der Vollkommenheiten, so sie in einzeln Dingen wahrnimmet, nachzuahmen sich bemühet, viele einzelne verbundene nachahmende Vollkommenheiten aber, so noch zu einer würcklichen von der N a t u r hervorgebrachten Vollkommenheit hinzu kommen, besser sind, als eine einzige weniger vollkommene würkliche, so folget auch, daß die künstliche Logick besser als die natürliche ist. 019 In diesem langen Zitat Stedten einige bemerkenswerte Gedanken, mit denen sich beweisen läßt, daß die „künstliche" Musik tatsächlich eine Nachahmung der N a t u r ist. Mizler glaubt, die Vollkommenheiten der N a t u r fänden sich selten in einem Dinge, wobei er unter N a t u r durchaus die wirklichen Phänomene der Körperwelt versteht. Mittels seiner Vernunft vermag der Mensch verstreute Vollkommenheiten zu erkennen, und wenn sie von einer Art sind, lassen sie sich auch verknüpfen. In der N a t u r gibt es nun zwar Töne, aber keine Musik. Indem der Mensch nun lernt, wie sich Töne zu Akkorden und Melodien zusammenfügen lassen, wozu ihm sein Gehör neben natürlichen Gegebenheiten, von denen noch zu sprechen sein wird, Anleitung gibt, wendet er seine „künstliche Logik" an. Er vereint Vollkommenheiten zu einer größeren, die in der N a t u r kein unmittelbares Vorbild hat und doch nichts enthält, was es nicht auch schon in der N a t u r gäbe. Die Kunst muß Vollkommenheiten konzentrieren, denn sie verfolgt Absichten, zu deren Erreichung sich das natürliche Ding als ungeeignet erweist, weil es zu einem ganz anderen Zweck als die Kunst 19
e b d , 1. Bd., 5. Tl., S. 55 ff.
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existiert. Der Künstler trifft eine Auswahl der Mittel, die seinen Absichten dienlich sind. Seine Vernunft, die die Verknüpfung der Dinge erkennt und nachvollzieht, ist ebenso wie das Gehör, das zustimmt oder ablehnt, ein Prinzip der menschlichen Natur. Und so entfaltet sich in der Kunst die Natur in höchster Vollendung, solange die natürliche Beschaffenheit der Dinge richtig erkannt wird, und ihr Zusammenfügen nach natürlichen Prinzipien erfolgt. Obwohl Mizler dem Gehör Urteil zubilligt, erkennt er es nicht als einziges Kriterium an, denn es vermag nicht, die Beschaffenheit der natürlichen Dinge zu erkennen. Es unterscheidet nur Klänge und äußert sich über ihre Wirkung. Nun wurde schon gesagt, daß er glaubt, eine bei allen Menschen konstante Wirkung müsse eine konstante Ursache haben. Die menschliche Natur könne sich unmöglich irren. Um also einer bestimmten Wirkung sicher zu sein, und das ist ja die Absicht des Komponisten, müsse die objektive Beschaffenheit der Ursache ermittelt werden. Erst dann gewänne der Komponist Einsicht in die Regeln, deren Anwendung Ordnung in die mannigfaltige Welt der Töne bringt und die beabsichtigte Wirkung verbürgt. Bei seinen Überlegungen geht Mizler von dem Grundsatz aus: „Alle wahre menschliche Weißheit bestehet in der Erkenntniß der Verhältnisse so die Dinge in der Welt gegen einander haben."'1'1 Auf die Musik übertragen bedeutet das, der erste Schritt zur Einsicht in musikalische Zusammenhänge ist die Erkenntnis der Proportionen der Intervalle, in denen das Verhältnis der Tonhöhen zueinander exakt ausgedrückt werden kann. Töne sind ja Dinge von einer Art, die man also miteinander vergleichen kann. Dann wird zu fragen sein, welche Töne einander ähnlich sind, wie sie, das Mannigfaltige, zusammenstimmen. Dabei sind stets die allgemeinen Lehren der Metaphysik im Auge zu behalten. Mizler, dessen Gedanken zu diesem Thema nicht beisammen stehen, beginnt mit der Untersuchung einer natürlichen Tonfolge, wie sie etwa die Naturtöne einer Trompete darstellen. Er vergleicht ihre Schwingungszahlen miteinander und drückt die Verhältnisse in Zahlen aus. Er ermittelt somit etwas in der Natur Gegebenes exakt durch Zählen und Messen. Aus den Zahlenverhältnissen der Naturtonreihe, die er mit denen der Obertonreihe eines Einzeltones gleichsetzt, zieht er folgenden Schluß: „Die Natur gehet in Hervorbringung der Tone den vollkommensten und leichtesten Weg."*1 Damit meint er, daß sich die Verhältnisse der Naturtöne zum Grundton in gleichmäßig fortschreitenden ganzen Zahlen darstellen lassen. Diese Beobachtungen sind zwar so alt wie die Musiktheorie 20 21
ebd., 1. Bd., 5. ebd., 1. Bd., 3.
Tl., S. 38. Tl., S. 42.
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selbst. Sie dienen hier jedoch zur Entwicklung eines Naturbegriffs der Töne, der zur W i r k u n g in Beziehung gesetzt wird. Mizler sieht in der N a t u r t o n r e i h e geradezu eine R a n g o r d n u n g der Intervalle. Die O k t a v e ist das einfachste Verhältnis, das zwei Töne zueinander haben können. Gleichzeitig stellt sie den ersten N a t u r t o n dar. Auf sie folgen Quinte, Q u a r t e u n d Terz in natürlicher Sukzession. Die ersten vier N a t u r - b z w . Obertöne ergeben den Durdreiklang, das Grundgerüst der H a r m o n i e . Dieses N a t u r p h ä n o m e n verursacht Lust, was Mizler in seiner Überzeugung bestätigt, d a ß die R a n g o r d n u n g der Intervalle dem G r a d des Lustgefühls direkt proportional ist, d. h. d a ß die in der N a t u r vorgezeichnete Zusammenstimmung des Mannigfaltigen, die Vollkommenheit, auch im Bereich des Sinnlichen als solche erkannt wird. Die N a t u r der K ö r p e r welt u n d die des Menschen stimmen also in ihren Prinzipien überein. Von der Empfindung ausgehend k a n n Mizler also auch sagen: „Eine angenehme Zusammenstimmung der Töne ist ein regelmäßiger Zusammenh a n g verschiedener guten u n d leicht in die Sinnen fallenden P r o p o r t i o n e n . Diese sind was würkliches und in der N a t u r gegründet." 2 2 Dieser Satz bezieht sich auf das Nebeneinander u n d das Aufeinanderfolgen von Tönen. Das Vertrauen in die Methode der modernen Naturwissenschaft, die durch Messungen der N a t u r ihre Geheimnisse zu entreißen versucht, veranlaßte Mizler, sich nicht mit allgemeinen, f ü r die Praxis untauglichen D e d u k tionen zu befassen, sondern die objektive Beschaffenheit u n d O r d n u n g der Töne und ihres Zusammenhanges empirisch zu ermitteln u n d in Beziehung zur W i r k u n g zu setzen. Seine Ergebnisse, die besonders in Anbetracht der Forschungen Eulers k a u m etwas Neues darstellen, sind jedoch im Lichte der Wolffschen Philosophie als Beginn einer metaphysisch orientierten Musiklehre zu verstehen, die sich nicht mehr in Spekulationen ergeht oder sich einzig in den Dienst rein praktischer Bedürfnisse stellt, sondern die als Teil der gesamten W e l t o r d n u n g begriffen werden will. Deshalb lag Mizler so viel daran, durch die Erarbeitung eines exakten Naturbegriffs der vieldeutigen Bestimmung des Wesens der Musik einen klar umrissenen Sinn zu geben. So k a n n er auf G r u n d seiner Messungen auch behaupten, „daß das Wesen der Musik die sich gut untereinander verhaltenden klingenden Größen ausmachen." 2 3 Diese Wesensbestimmung widerspräche der allgemeinen, die die Musik mit der Poesie gemein hat, nicht, solange nicht widerlegt werde, „ d a ß die Mathesis nicht selbst das sey, was andere durch das W o r t N a t u r verstehen. Vielmehr halten die alten u n d neuern Weltweisen gar vernünftig davor, d a ß alles in Zahl, M a a ß u n d Gewicht bestehe, u n d auch das innerste Wesen der Dinge sich auf die Verhältnisse 22 28
ebd., 2. Bd., 1. Tl., S. 3, Anm. ebd., 2. Bd., 1. Tl., S. 56.
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derselben Theile gründe." 2 4 Bei Gottsched heißt es v o m G r u n d e der Schönheit ganz ähnlich: „Die Schönheit eines künstlichen Werkes beruht nicht auf einem leeren D ü n k e l ; sondern sie h a t i h r e n . . . nothwendigen G r u n d in der N a t u r der Dinge. G o t t hat alles nach Zahl, M a a ß u n d Gewicht geschaffen. Die natürlichen Dinge sind schön: U n d wenn also die Kunst auch was schönes hervorbringen will, so m u ß sie dem Muster der N a t u r nachahmen. Das genaue Verhältniß, die O r d n u n g u n d richtige Abmessung aller Theile, daraus ein Ding besteht, ist die Quelle aller Schönheit. Die Nachahmung der N a t u r k a n also einem künstlichen Werke die Vollkommenheit geben, dadurch es dem Verstände gefällig u n d angenehm wird." 2 5 D o r t , w o das Verhältnis der Teile so deutlich ermittelbar ist wie in der Musik, müsse sich, wie Mizler glaubt, ein hoher G r a d der Vollkommenheit erzielen lassen. A u ß e r d e m können verstreute Vollkommenheiten zu höchster W i r k u n g vereinigt werden, da die Musik auf verbal-logische Zusammenhänge, die dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit gehorchen müssen, keine Rücksicht zu nehmen brauche. E r erahnt die unendlichen Möglichkeiten der Zusammenstimmung, die einzig natürlichen Prinzipien unterliegen und nicht, wie etwa die Poesie, der E r f a h r u n g als Bestätigung der Möglichkeit bedürfen. In der Musik könne sich die Kunst, die Nachahmung der N a t u r , am reinsten entfalten, denn sie besäße ein unveräußerliches Medium, das nicht wie die Sprache einer Vielfalt von Bestimmungen diene. Als Klang werde die Mathematik, die reinste Vollendung der unveränderlichen Prinzipien der N a t u r u n d der höchste intellektuelle Genuß, zum höchsten sinnlichen. 2 ' Bei der Bestimmung der Haupteigenschaft der Musik gelangt Mizler zu einem Ergebnis, das sich prinzipiell nicht v o n d e m Scheibes u n t e r scheidet. Er v e r k ü n d e t als unantastbare Wahrheit, „ d a ß die Melodie, oder einfache H a r m o n i e , das H a u p t w e r k in der gantzen Musik ist, u n d m a n iederzeit eher auf die Melodie bey Verfertigung eines musikalischen Stückes, als auf die d a r z u gehörigen harmonischen Sätze denken muß." 2 7 H i e r taucht der Begriff „ H a u p t w e r k " auf, den Gottsched, wie bereits gezeigt wurde, auf die Fabel anwendet. Es ist zu fragen, ob ihn auch Mizler im Sinne v o n Eigenschaft versteht. Seine verstreuten Aussagen lassen erkennen, d a ß er die Melodie f ü r einen unveräußerlichen Teil der Musik hält, der seine Begründung aus ihrem Wesen e r f ä h r t . Eine melodielose Musik ist ihm ein U n d i n g . Folglich erfüllt die Melodie alle Bedingungen, die Wolff a n eine Eigenschaft stellt.
" ebd., S. 56. Dichtkunst, 2. Aufl., S. 126 f. 29 Ober das Wesen der Musik siehe auch Mizlers Staarstecher,
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Bibliothek, 2. Bd., 1. Tl., S. 65.
6. Stück, S. 83 f.
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Nun sagt Mizler an anderer Stelle, er sei zu der Überzeugung gelangt, „daß . . . die Melodie aus der Harmonie entspringet."28 Seine Definition der Melodie erläutert, was er unter Harmonie versteht: „Die HauptMelodie ist eine solche natürliche und abgemessene Verbindung verschiedener hoher und tiefer Tone nach einander, welche ihr beständiges Absehen auf den harmonischen Dreyklang hat, und auf welche sich die ganze Ausarbeitung eines musikalischen Stückes gründen muß."29 Außer der Feststellung, daß „die ganze Ausarbeitung eines musikalischen Stückes" auf der Melodie beruhe, will Mizler ihre Bewegung stets auf den harmonischen Dreiklang bezogen wissen, denn die Regeln der künstlichen Melodie hätten „ihren Grund im harmonischen Dreyklang," 30 den er auch als natürliche Melodie bezeichnet. Diese Gedanken führen zurück auf Mizlers Naturbegriff. Er schreibt: „Der harmonische Dreyklang . . . hat seinen Grund in der Seele," 31 deren Wesen nach Wolff mit ihrer Natur identisch ist, und die die psychische Seite der menschlichen Natur darstellt. Ferner behauptet er, „daß in der Musik ordentlich und natürlich einerley ist. Denn die Natur selbsten ordnet die Tone, nach welcher wir uns richten müssen. Aus dieser natürlichen Ordnung der Tone entspringen alle andere Wahrheiten in der Musik." 32 In der Naturtonreihe steckt der harmonische Dreiklang, und auch die Wahrheiten der Melodie müssen in ihm begründet sein. Daß sie letztlich auf Gott zurückgehen, beweist Mizler in einer weit umfassenderen Bestimmung des Grundes der Harmonie: „Die Harmonie hat ihren Grund in der Luft, in dem Bau des Ohres, und hauptsächlich in der Verhältnis, so die durch einen zitternden Körper bewegte Luft, zu einer andern auf gleiche Art bewegte Luft hat, welches alles Dinge sind, die von GOtt kommen, und also kommt auch die Harmonie von GOtt." 3 3 Diese akustische Erklärung ist offenbar als Ergänzung der oben genannten psychischen zu verstehen. In beiden kommt Mizlers Überzeugung zum Ausdruck, daß die Seele sowohl natürliche als auch künstliche Ordnung erkennen kann. Damit ist die eigentliche ästhetische Seite seiner Musiklehre berührt. Als einen der Endzwecke der Musik nennt Mizler die Vergnügung des Gehörs. Sie entstehe, wie er in Anlehnung an Wolff schreibt, „aus dem Anschauen und Genuß der Vollkommenheiten."34 Der Hörer erkennt nun nicht mit dem Verstand sondern mit seiner Seele. Die Erfahrung, die 28 29 30 31 32 32
"
ebd., ebd., ebd., ebd., ebd., ebd., ebd.,
2. Bd., 1. Bd., S. 60. S. 60. S. 60. 1. Bd., 1. Bd.,
1. Tl., S. 64. 4. Tl., S. 60.
5. Tl., S. 68 f. 3. Tl., S. 37.
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Mizler bei seinen Überlegungen stets zu Rate zieht, bestätigt, daß das vom Verstand als vollkommen Erkannte im Bereich des Sinnlichen Vergnügen hervorruft. Die oberen und unteren Erkenntniskräfte stimmen also in ihrem Urteil überein. „Wenn wir nun wohl auf uns Achtung geben, und nachforschen, welche Tone vor andern unser Gehör vergnügen, so werden wir finden, daß es der übereinstimmende Dreyklang, oder die Octav, Quint, und Terz ist." 35 Aus ihm lasse sich jede melodische und harmonische Vollkommenheit erklären. Auf spezielle Regeln der Komposition wird hier nicht eingegangen, da nur die musikalischen Grundbegriffe zur Diskussion stehen. Dagegen beansprucht Mizlers Lehre vom Charakter der Tonarten und der musikalischen Darstellung von Affekten einige Aufmerksamkeit, denn sie steht in engstem Zusammenhang mit dem zweiten Endzweck der Musik. Es geht hier um Probleme des musikalischen Ausdrucksvermögens, um deren Lösung sich die abendländische Musiktheorie seit ihren Anfängen bemühte. Kein Abschnitt der Musiklehre Mizlers ist so stark der Tradition verpflichtet wie dieser. In Hinblick auf die Glückseligkeitslehre der Wölfischen Philosophie, in deren Dienst er die Musik stellt, erhalten seine Anschauungen einen moralisierenden Akzent. Freilich verbietet ihm seine naturwissenschaftliche Orientierung, z. B. die Lehre von dem Charakter der Tonarten blindlings zu übernehmen. Seine Anmerkungen zur angeblichen Wirkung des Mixolydischen erläutern seinen Standpunkt: „Diese Thon-Art soll also Traurigkeit machen, und zugleich selbige auch wieder vertreiben können, welches sich selbsten zu wiedersprechen scheinet. Heut zu Tag können geschickte Componisten aus einer Thon-Art, die an und vor sich traurig klinget, lustige, und wieder aus einer von Natur muntern Tho'n-Art, traurige Sachen setzen, welches man nicht den Thon-Arten an und vor sich, sondern der Geschicklichkeit des Setzers zuschreiben muß. Wahrhafftig alle die, so einer Thon-Art schlechter dings diese und jene Würckung zuschreiben, irren sich, will geschweigen, daß sie es würcklich beweisen könnten. Das ist gewiß, daß alle Dur-Thone munter scharff und lustig, hingegen alle Moll-Thone, sittsam angenehm und traurig klingen, welches die Erfahrung beweiset. Weiter muß man aber nicht gehen. Man halte die Meinungen so wohl der alten als neuern Thonverständigen von den Würckungen der Thon-Arten zusammen, so wird man mehr als einen Wiederspruch finden. Dieser hält eine Thon-Art vor kriegerisch, jener vor friedsam, u.s.w. Ich weiß gar wohl, daß eine jede Thon-Art, was eigenes und besonderes hat, es läßt sich aber solches in Ansehung des mancherleyen Geschmacks, so die Menschen von der Musik haben, nicht ausdrucken. Rechtschaffene Musici haben wohl einen dunckeln Begriff davon, aber 35
ebd., S. 37 f.
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eben weil ihr Begriff dunckel ist, können sie solchen andern nicht deutlich machen. So weit ist man aber noch nicht gekommen, daß man das, was eine Thon-Art vor der andern besonders hat, aus den ersten Grundsätzen und N a t u r der Thone unterscheiden könnte, oder mit einem Wort, einen vollständigen Begriff davon hätte." 3 6 Mizler sieht also in erster Linie in der „Schreibart" des Komponisten die Kunst, die vorausberechenbare Wirkungen hervorbringen kann. Obgleich er den Tonarten einen bestimmten Charakter nicht grundsätzlich abspricht, steht er der alten Lehre von ihrem spezifischen Charakter skeptisch gegenüber. Seinem philosophisch geschulten Intellekt, der genau zwischen deutlichen und dunklen Begriffen unterscheidet, genügen dunkle und außerdem unvollständige nicht als Grundlage verbindlicher Aussagen, die er doch anstrebt. Indem Mizler sein Erkenntnisvermögen einer strengen P r ü f u n g unterzieht, tut er einen ersten Schritt, sich aus der Umklammerung der Tradition zu befreien. Sein gesunder Skeptizismus f ü h r t ihn freilich nicht so weit wie Gottsched, der die ästhetische Erfahrung nur gelten läßt, wenn sie durch die „gesunde Vernunft" bestätigt wird. Gerade weil Mizler die Geschichte kennt, hütet er sich, vorschnell zu urteilen. Er bezweifelt sogar „in Ansehung des mancherleyen Geschmacks" seine eigene These, daß alle Menschen gleich reagieren. Deshalb vermeidet er, sich auf einen bestimmten Charakter der Tonarten verbindlich festzulegen. Andererseits glaubt Mizler an eine bestimmbare Korrespondenz von Affekt und Stil. Er schreibt: „Die Erfahrung läßt uns nicht zweifeln, daß eine Leidenschaft überhaupt die Theile des menschlichen Körpers, sonderlich die flüßigen, in eine solche Bewegung setzet, die zuvor nicht da gewesen ist. D a nun also eine Bewegung vorhanden ist, so muß auch eine Ursach dieser Bewegung vorhanden seyn. Die Ursachen müssen entweder in unsern eigenen Körpern, oder in andern Körpern auser uns liegen. Liegen sie in andern Körpern auser uns, so werden die Bewegungen der Körper auser uns auf unsern Körper durch die äuserlichen Sinnen den innerlichen mitgetheilet, welche vermittelst der nervösen Fäserlein zum Gehirn fortgepflanzet werden, allwo sie zurück prallen und eigentlich die Empfindung verursachen. Lieget die Ursach in uns selbsten, so können die Bewegungen aus nichts anders als entweder aus den äuserlichen Theilen des Körpers oder aus den innerlichen Sinnen, welche vermittelst der Einbildungskrafft, das ist der Wiederherstellung der ehemals eingedruckten Ideen, in Bewegung gesetzet werden, herkommen." 3 7 Mit diesen Worten umreißt Mizler seine Ausgangsposition. Im folgenden Absatz versucht er, s
° ebd., 1. Bd., 1. Tl., S. 33 f., Anm. " ebd., 3. Bd., 1. Tl., S. 156 f.
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das Verhältnis der Ursache zur Wirkung exakt mathematisch zu bestimmen. „Weil nun die Wirkungen sich wie die Ursachen verhalten, so müssen auch die Bewegungen der Leidenschafften sich untereinander wie derselben Ursachen verhalten, das ist, so viele verschiedene Leidenschafften der Menschen sind, so viele verschiedene Ursachen haben auch dieselben. Nun wird man leicht begreifen können, daß die Ursachen der Bewegungen, die Bewegungen selber, die Empfindungen und die dadurch veranlasseten Leidenschafften in einer geometrischen Proportion stehen. Wie sich nemlich die Krafft oder die Ursach A zu der Bewegung B verhält, so muß sich auch die Bewegung B zu der Empfindung C verhalten, und wie sich ferner die Bewegung B zu der Empfindung C verhält, so muß sich auch die Empfindung C zu der Leidenschafft D verhalten, und also stehen die Ursachen der Bewegungen, die Bewegungen selbsten, die innerlichen Empfindungen, und die davon hervorbrechenden Leidenschafften in einer geometrischen Proportion." 38 Diese Erkenntnis sucht Mizler für die Praxis nutzbar zu machen, wobei er allerdings nur textgebundene Kompositionen berücksichtigt. „Wenn nun . . . der Componist einen Affect vollkommen ausdrücket und erreget, so muß seine Composition sich nothwendig zu der daher entstehenden Leidenschafft eben so verhalten, wie sich der Text zu der darinn liegenden Leidenschafft verhält, das ist in einer geometrischen Proportion stehen. Und eben hierinn bestehet die gröste Vollkommenheit eines Philosophischen Componisten. Diese geometrische Proportion zu treffen, welches grosse Geheimnis nur ein groser Verstand, der die Wahrheiten erstlich theoretisch wohl begriffen, hernach aber sich lange Zeit unter Anfährung groser Meister geübet hat, einsehen und ausüben kan. Eine iede Leidenschafft hat verschiedene Stuffen, welche vor allem ein Componist zuvor wohl betrachten und darnach seine Composition einrichten muß. Hiervon kan man wohl allgemeine aber keine Regeln ins besondere geben . . ." 39 Der letzte Satz kommt einem Eingeständnis gleich, denn was sich trotz genauer Prüfung der exakten Normierung verschließt, kann kaum Anspruch darauf erheben, verbindlicher Maßstab zu sein. Immerhin muß man Mizlers Aufrichtigkeit bewundern. Er gibt unumwunden zu, daß die Anwendung exakter Methoden nicht alle Geheimnisse der Kunst zu entschleiern vermag, daß ein kleiner Rest verbleibt, dessen man nicht habhaft werden kann. Gelehrsamkeit und Kenntnis von Regeln machen eben doch noch keinen Komponisten. Zum höchsten Grad „in der Composition kan nur ein groser Geist, ein in der Beurtheilung menschlicher 38 39
ebd., S. 157 f. ebd., S. 158.
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Leidenschafften erleuchteter Verstand, durch eine langwierige Uebung, und vernünftige Betrachtung der besten Meisterstücke sich hinauf schwingen, welches durch das Monochord und die mathematischen Lehrsätze allein nimmermehr geschehen wird." 4 0 Also auch Mizler empfiehlt die Nachahmung von Mustern, ohne freilich unanfechtbare Kriterien dafür zu nennen. Allgemeine Regeln mögen zwar die Richtung anzeigen. Zur Schaffung und Beurteilung von Musik erweisen sie sich letztlich doch als untauglich, da sie der individuellen Interpretation zu viel Spielraum lassen. Dies ist keinesfalls als Kritik gemeint. Es sollte vielmehr zeigen, daß Mizler die Vernunft nicht zum uneingeschränkten Abgott der Kunst erhebt. Als treuer Gefolgsmann Bachs, den er unter seine „guten Freunde und Gönner zu zehlen die Ehre habe," 41 beweist er mehr künstlerisches Einfühlungsvermögen als der weit engherzigere Gottschedianer Scheibe, der sich berufen fühlte, den Leipziger Kantor als einen Komponisten anzuprangern, der in der Musik das sei, „was ehmals der Herr von Lohenstein in der Poesie war." 4 2 Trotz seines Vertrauens in die Vernunft gibt sich Mizler über den Zwiespalt von Theorie und Kunst keinen Täuschungen hin. Die technischen Voraussetzungen der Kunst vermag die Theorie zu erklären. Die Erfindung selbst könne sie jedoch nicht lehren. Er war freilich nicht selbstkritisch genug, diese Einsicht immer zu beherzigen. Seine Kompositionsversuche brachten ihm von seinen Zeitgenossen, allen voran Scheibe, nur H o h n und Spott ein. Seinem berühmten Lehrmeister Gottsched, dessen schöpferische Talente ebenfalls hinter seinen theoretischen Kenntnissen verblaßten, erging es bekanntlich nicht viel besser. Dabei behaupten beide, der Theoretiker bzw. Kritiker brauche selbst nicht schöpferisch tätig zu sein. Gemäß seiner Einsicht in die Grenzen aller theoretischen Überlegungen vermeidet es Mizler, ein Porträt vom vollkommenen Komponisten zu entwerfen. Er weist nur darauf hin, daß jemand unmöglich komponieren könne, der nicht Mathematik und Philosophie studiert habe. „ . . . welcher wahrer Virtuos in der Musik hat in Wahrheit sagen können, die Geometrie und Arithmetik mit den Philosophischen Wissenschaftten wären einem Componisten ganz unnöthig?" 43 In dieser rhetorischen Frage erschöpft sich sein Beitrag zum Thema des Komponisten. Ebensowenig beschäftigt er sich mit dem Geschmacksproblem, das bei Gottsched und Scheibe einen breiten Raum einnimmt. Er benutzt den Begriff „Geschmack" nur selten und wenn, dann in einer sehr vagen Bedeutung. Offenbar sieht er nicht ein, warum für das spontane Urteil des Verstandes, das er ja dem des Ge40 41 is 48
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ebd., S. 159. ebd., 1. Bd., 4. Tl., S. 61. Musikus, 6. Stück, S. 62. Bibliothek, 3. Bd., 1. Tl., S. 159. Birke
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hörs gleichsetzt, ein neuer Terminus eingeführt werden soll. Der Hörende urteilt ja auch gar nicht mit dem Verstand, sondern er äußert nur Zustimmung oder Ablehnung. Etwas anderes ist es, wenn eine Partitur zur Beurteilung vorgelegt wird. Hier tritt der Verstand, soweit er für eine Komposition zuständig ist, in Aktion. Daraus kann man schließen, daß Mizler „in Ansehung des mancherleyen Geschmacks" diesen Begriff für überflüssig hält. In Methode und Ergebnissen unterscheiden sich Mizler und Scheibe, obgleich doch beide von der Wölfischen Philosophie ausgehen, was einmal mehr beweist, daß sie trotz aller fruchtbaren Anregungen zur Lösung ästhetischer Probleme der Musik nicht genügt. Der Hauptgrund dafür scheint in den Mitteln und dem Wirkungsziel der Musik zu liegen, an denen z. B. der Wahrscheinlichkeitsbegriff versagt. Klänge stellen keine verbal-logische Abfolge dar. Sie können nur voneinander unterschieden und ihre Wirkungen beschrieben werden. Sie richten sich an die unteren Erkenntnisvermögen, die zur Erfassung deutlicher Begriffe untauglich sind. Eine Musiklehre kann auf psychoakustischen Verhältnissen aufbauen. Mizler tut das und gelangt zu allgemeinen Regeln, die bestenfalls einen akustisch richtigen Zusammenhang bestimmen. Das eigentlich Ästhetische widersetzt sich der Kodifizierung und entzieht sich der durchgehenden Bestimmung. Mizler, der vorwiegend empirisch vorgeht, respektiert diese Grenze. Er glaubt, daß die exakten Naturwissenschaften zwar der Natur ihre Geheimnisse entreißen können, aber er sieht auch ein, daß die theoretisch unendliche Vielfalt möglicher, d. h. akustisch richtiger Zusammensetzungen von Tönen noch keine Kunst zu sein braucht. Deshalb schweigt er gewöhnlich, wenn er keine spezifische Aussage machen kann. Scheibe dagegen geht überwiegend deduktiv vor, weshalb er zu Regeln gelangt, die weder dem Kritiker noch dem Komponisten nützen, weil sie nur das Allgemeine und nicht das spezifisch Musikalische bestimmen. Das Wort von der Nachahmung der Natur, das beide als Wesensbestimmung der Musik anerkennen, schillert in mannigfachen Farben. Das letzte Geheimnis der Intuition, des eigentlichen Schöpferischen, sowie des musikalisch Schönen entreißen sie ihm nicht. Und das ist tröstlich, denn wenn nichts unentschleiert bliebe, dann würde die Kunst ein Spiel des Intellekts, d. h. unkünstlerisch. Jede Zeit versucht, Kunstwerke zu erklären, und es gelingt ihr, immer wieder neue Perspektiven zu entdecken. Das taten auch Mizler und Scheibe, die nach endgültigen Antworten suchten, und nur bisher ungenutzte Aspekte der Musiktheorie fanden. In ihrem Streben bewährte sich der Geist der Aufklärung, und gleichzeitig erschöpfte er sich auch. Dieses Streben und seine geistesgeschichtlichen Voraussetzungen vorurteilsfrei darzustellen, war das Anliegen dieser Arbeit.
ANHANG VORBEMERKUNG Im Anhang gelangen zwei Schriften zum Abdruck, in denen sich noch klarer als bei Gottsched, Mizler und Scheibe der Einfluß der Metaphysik Wolfis auf die Kunsttheorie bemerkbar macht, da in ihnen zwei begrenzte Probleme auf engstem Räume abgehandelt werden. Die prägnante Hervorhebung des Grundsätzlichen duldete kein Abschweifen. Die Verfasser übernehmen kritiklos die Definitionen und Axiome Wolfis, wie ein Vergleich mit dem 1. Kapitel zeigt. Es erübrigt sich daher, nochmals auf die Voraussetzungen einzugehen. Freilich bewerten die Verfasser die Gültigkeit ihrer Ergebnisse unterschiedlich. Der ungenannte Verfasser der „Erörterung" versucht, den Anschein zu erwecken, er habe den unumstößlichen Beweis geliefert, daß zwei in gerader Bewegung unmittelbar aufeinander folgende Quinten oder Oktaven unmöglich schön sein könnten. Die entsprechende überkommene Regel entbehre nicht eines Realgrundes. Baron hingegen ist sich des allgemeinen Charakters seiner Voraussetzungen und Ergebnisse bewußt, weshalb er bezweifelt, daß man „von der schönsten Melodie in der Welt, wird dauerhafte Regeln setzen können" (Theorema I I ) . Ungeachtet des Wertes beider Abhandlungen beanspruchen sie im Zusammenhang mit dem Thema zumindest historische Beachtung. Da sie bei den heutigen Bibliotheksverhältnissen nur schwer zugänglich sind, empfiehlt es sich, sie dieser Studie als Anhang beizugeben.
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(Quelle: Lorenz Mizlers . . . Musikalische Bibliothek . . . Des andern Bandes Vierter Theil . . . Leipzig, im Jahr 1743, S. 65-77.) I. Erörterung
der Frage:
Warum zwo unmittelbar auf einander folgende Quinten und Octaven in der geraden Bewegung nicht wohl ins Gehör fallen, da doch solches in den Orgeln, da Quinten und Octaven durchgehends in den Mixturen von den Orgelmachern angebracht werden, nicht geschiehet. Plato: Die Seele ist ein vernünftiges Wesen, welches sich nach der harmonischen Zahl beweget. §•1 Die Musik ist eine Kunst, verschiedene Tone nach und neben einander zu verknüpfen, damit durch derselben Schall das menschliche Gemüthe nach Verlangen beweget werden könne. §. 2. Verschiedene nach einander verknüpfte Tone heissen eine Melodie. § . 3 . Verschiedene neben einander verknüpfte Tone werden eine Harmonie genennet. § . 4 . Da die Beantwortung der vorgelegten Frage auf dem Grunde der fortgesetzten Harmonie beruhet; und die fortgesetzte Harmonie eine Verknüpfung verschiedener Melodien ist; hier aber zu weitläuftig fallen würde, die Einrichtung der Melodien genau zu untersuchen: so will ich dismal zweyerley vor ausgemacht annehmen: 1) daß eine Melodie nicht vollständig seyn könne, wenn sie nicht auf eine vollständige Tonart gegründet worden. 2) D a ß in jeder vollständigen Tonart die Terz, Quinte und Octave hervorrage, mithin die Secunde, Quarte, Sexte und Septime auf die Terz, Quinte und Octave sich beziehen, welche letztere zusammen der harmonische Dreyklang genennet werden, und zur Harmonie die erste Gelegenheit gegeben. D a nun die Vernunft und die Erfahrung uns nur zwey vollständige Tonarten zeigen, welche in Betrachtung der grösern und kleinern Terz die harte und weiche Tonart genennet werden; so kan man mit Wahrheit sagen, daß unsere Vorfahren, als sie die fälschlich genannten zwölf griechischen Tonarten und andere ungegründete Dinge ausgehecket, ihre Musik mehr vor das Gesicht als vor das Gehör eingerichtet. §. 5. „Das Gehör ist bekannter massen das Vermögen der Seele, den Schall sich vorzustellen, wodurch Veränderungen im O h r veranlasset werden." Dieses Vermögen kan weder der Tonkünstler noch der Zuhörer
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nach Belieben ändern, indem beyde, währender Musik, einerley empfinden. §. 6. Da die Musik eine Kunst ist (§. I.); die Kunst aber in Nachahmung der Natur bestehet; und die Natur selbst einem gewissen Gesetze unterworfen, welches mit einem Worte: Ordnung heisset; so wird nicht undienlich seyn, aus der Grundlehre die hieher gehörigen Sätze zu entlehnen. §. 7. „Die Vollkommenheit ist die Uebereinstimmung des Mannigfaltigen." §. 8. „Ein jedes Ding hat seinen besondern Raum und seine besondere Zeit. Da nun der Raum die Ordnung der Dinge ist, welche neben einander zugleich sind; hingegen die Zeit die Ordnung der Dinge ist, welche nach einander folgen; so kan die Vollkommenheit ohne Ordnung nicht erlanget werden." §. 9. „Da jedes Ding seinen besondern Raum und seine besondere Zeit hat (§. 8.); so machet die Natur keinen Sprung, sondern verfähret in allen Dingen ordentlich." §. 10. „Die Ordnung ist die Aehnlichkeit des Mannigfaltigen in dessen Folge neben und nach einander." §. 11. „Weil iedes Ding seine Ordnung hat (§. 8. bis 10.); mithin kein Ding dem andern gänzlich gleich ist; so gibt es verschiedene Grade der Ordnung." §. 12. „Weil die Vollkommenheit ohne Ordnung nicht erlanget werden kan (§. 8.); die Ordnung aber verschiedene Grade hat (§. 11); so gibt es auch verschiedene Grade der Vollkommenheit." §. 13. „Jeder Grad der Ordnung und der Vollkommenheit gibt eine besondere Regel." §. 14. „Indem wir die Vollkommenheit eines Dinges empfinden und betrachten, so haben wir ein Vergnügen daran. Je gröser die Vollkommenheit, desto gröser ist das Vergnügen." §. 15. „Da der Raum und die Zeit die Ordnung der Dinge ist (§. 8.); so hat ein iedes Ding sein besonderes Verhältniß." §. 16. In folgender doppelten Vorstellung der arithmetischen Verhältnisse findet man oben die, auf den Einklang gegründeten, drey vornehmsten vollkommenen Consonanzen, nemlich die Octave, Quinte und grösere Terz. Unten aber wird gezeiget, wie sich iede harmonische Stuffe zu der vorhergehenden verhalte: da sich denn, nebst der kleinen Terz als der vierten vollkommenen Consonanz, noch die drey unvollkommene Consonanzen, namentlich die Quarte, die grösere und kleinere Sexte angeben. Siehe Tab. IV. Fig. 1. §. 17. Obgleich sonst der Octavraum alle einfache Klangstuffen in sich fassen kan; so erhellet doch aus dem vorhergehenden §. und noch mehr
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aus dem folgenden, daß zu ordentlicher Stellung aller Consonanzen drey Octaven erfordert werden, welche man billig mit Beynamen unterscheidet, und die darzwischen vorkommende harmonische Stellen besonders bemerket: 1:2 1 :3 1:4 1 :5 1 :6 1:8 2:3 2:4 2 :5 2 :6 2 :8 3:4 3:5 3 :6 3:8 4 :5 4:6 4 :8 5:6 5:8 6 :8
§ . 1 8 . Es gibt nemlich das Verhältniß: die einfache Octave. die erste zusammengesetzte Quinte, als die beste. die zweyfache Octave. die zweyte zusammengesetzte grösere Terz, als die beste. die zweyte zusammengesetzte Quinte. die dreyfache Octave. die einfache Quinte. die zweyte Octave. die erste zusammengesetzte grösere Terz. eine zusammengesetzte Quinte, welche 1 : 3 ähnlich ist. eine doppelte Octave. die einfache Quarte. die einfache grösere Sexte.
eine Octave von der Quinte. die erste zusammengesetzte Quarte. die einfache grösere Terz. die höhere einfache Quinte, welche 2 : 3 ähnlich ist. die dritte Octave. die einfache kleinere Terz. die einfache kleinere Sexte. die höhere einfache Quarte, welche 3 : 4 ähnlich ist. § . 1 9 . Aus diesen verschiedenen Graden der Ordnung und der Vollkommenheit (§. 11. 12. und 18.) erhellet, daß die Natur niemals zwey Tone von einerley Art hervorbringe, sondern in stets verknüpfter Veränderung fortgehe. D a nun unser Gehör unwidersprechlich sich auf die harmonische Tonordnung (§. 16. und 18.) beziehet; so ist ihm die unmittelbare Folge zweyer harmonischen Sätze von einerley Art höchst eckelhafft. §. 20. Weil mir aus der Erfahrung bekannt, daß dieser Winck der Natur von iedem Componisten nicht vermerket wird; so sehe ich mich genöthiget, noch einige Betrachtungen anzustellen, und stärkern Beweis zu geben. § . 2 1 . Wenn die Octaven in geometrischer Folge: 1 : 2, 2 : 4, und s. f. über einander gestellet sind, und keine andere Tone darzwischen gesetzet worden, so können selbige, wegen ihrer ähnlichen Verhältnisse, ohne Mislaut angehöret werden. Alsdenn ist dergleichen Octavenfolge eigentlich keine Harmonie, sondern wird nur zur Verstärkung der Melodie bisweilen gebrauchet. Zum Beyspiel dienen die verschiedenen Stimmen in
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Orgeln von 16, 8, 4, und höhern oder tieffern Fuß; Ingleichen, wenn eine Tenormelodie von sanftgestrichenen Violinen, oder die achtfüßige Grundstimme von 16 oder 4füßigen Werkzeugen begleitet und verstärket wird. Andere Umstände zu geschweigen. §. 22. Hingegen ist die Folge dieser Octaven: 1 : 4, oder 1 : 8, oder 1 : 16, u.s.w. wegen ihrer entlegenen Verhältnisse verdrüßlich anzuhören. Man nehme zum Beyspiel zwo Stimmen zusammen, deren eine von 16, die andere von 2 oder 1 Fuß ist, so wird man von der Wahrheit dieses Satzes, zumal in tieffen Tonen, mit höchstem Eckel überzeuget werden. §. 23. Da die Musik aus verschiedenen verknüpften Tonen bestehet (§. 1.); und die Tone alsdenn mit einander verknüpfet sind, wenn ein jeder unter ihnen den Grund in sich enthält, warum der andere neben ihm zugleich ist, oder nach demselben folget; so muß ieder Ton seinen zureichenden Grund haben, warum er so und nicht anders, dort und nicht hier, ietzt und nicht eher oder später ist. §. 24. Die Musikverständigen werden mir verhoff entlich zugestehen, daß, wenn in einem zweystimmigen Satze zwey Quinten in gerader Bewegung unmittelbar nach einander gehöret worden, man zu gleicher Zeit zwey Terzen von einerley oder verschiedener Art bemerket habe, welche nebst den vorigen Quinten zwey sogenannte Accorde oder harmonische Dreyklänge von einerley Weite ausmachen. §. 25. Unter einerley Dingen kan keine Ordnung seyn. (Ex principio contradictionis.) Da nun zwey Quinten in gerader Bewegung schon vor sich einerley Dinge sind, und überdis noch zwey harmonische Dreyklänge von einerley Weite ausmachen (§. 24.); so ist unter ihnen keine Ordnung. §. 26. Wo Unordnung ist, da entstehet Unvollkommenheit (§. 8.). Da nun unter zwo Quinten in gerader Bewegung keine Ordnung ist (§. 25.); so entstehet aus solcher Quintenfolge Unvollkommenheit. §. 27. Die Empfindung und Betrachtung der Unvollkommenheit erwecket Unlust (§. 14.). Da nun aus der Quintenfolge in gerader Bewegung Unvollkommenheit entstehet (§.26.); so erwecket solche Quintenfolge unserm Gehör Unlust. §. 28. Ich habe zwar oben (§. 24.) gesaget, daß bey der unmittelbaren Quintenfolge in einem zweystimmigen Satze zugleich zwey Terzen von einerley oder verschiedener Art bemerket werden. Es folget aber daraus nicht, daß bey der Terzenfolge in einem zweystimmigen Satze zugleich die Quinten können bemerket werden: Denn da die Quinte aus der harmonischen Theilung der Octave entstehet; die grösere und kleinere Terzen aber erst bey verschiedener Theilung der Quinte sich angeben; so müssen die Terzen nach den Quinten, diese aber nidit nach jenen sich richten.
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§. 29. Wie nun § . 1 9 , ingleichen §. 24. bis 27. in möglichster Kürze gezeiget worden, warum zwo unmittelbar nach einander folgende Quinten und Octaven in der geraden Bewegung (oder zwo Accorde von einerley Weite) nicht wohl ins Gehör fallen; also würde es leichte seyn zu untersuchen, welche Sextenfolge dem Gehör angenehm oder eckelhafft sey. Allein da nicht mehr beantwortet werden darf, als gefraget worden; so ist mir hier auch nicht erlaubet zu beweisen, daß dasjenige grundfalsch sey, was auf der 15. Seite der Vorrede zu dem neuesten musikalischen Folianten wegen der Folge der kleinern Sexten beygebracht worden. Ingleichen hat die klüglich eingeschränkte Frage mir nicht befohlen, bey dem 16. §. zu sagen, daß die aristoxenische Abhandlung von den musikalischen Intervallen und Geschlechten das neueste Muster sey, wie man verschiedene Tone durch willkührliche Zeichen feste setzen, und deren nützlichen Gebrauch beweisen solle, ohne derselben Verhältnisse mit einem Worte zu berühren. §. 30. Wenn die N a t u r sagt: Sonus est infinitus; so antwortet die Vernunft: Sit modus in rebus, sint certi denique fines. So bekannt es ist, daß eine vollständige Tonreyhe sieben Stuffen haben müsse; und die siebende Zahl von der harmonischen Tonordnung ausgeschlossen sey; so unbekannt ist vielen, daß der richtige Gebrauch der siebenden Zahl allen musikalischen Streitigkeiten ihr Ziel setzen könne. Folgende neun Säze sollen diesen Vortrag in etwas erläutern. §.31. In den drey ersten Octaven: 1 : 2, 2 : 4, 4 : 8, bemerket man bekannter maassen die ordentliche Stellung aller Consonanzen. (§. 16. bis 18.). §. 32. In der vierten Octave: 8 : 16, befinden sich, nebst den vorigen in der H ö h e wiederhohlten Consonanzen, die Verhältnisse der grösern und kleinern Secunde; ingleichen der kleinern und grösern Septime. §. 33. In der fünfften Octave: 16 : 32, zeigen sich die Verhältnisse des so genannten grösern Einklanges, der kleinern Octave, der grösten Quinte und der kleinsten Quarte. §. 34. In der sechsten Octave: 32 : 64, gibt sich die grösere Quarte und kleinere Quinte an. §. 35. In der siebenden Octave: 64 : 128, zeiget sich die gröste Secunde und Sexte; wie auch die nicht viel taugende gröste Terz und Septime; ingleichen die kleinste Septime, Terz, Sexte, und die großmächtige Dieses des wieder aufgelebten Aristoxenus. Hier saget das vernünfftige Gehör: H a l t ! gehe nicht weiter in der Tonforschung: denn du wirst lauter unnützliche Kleinigkeiten finden, welche bey dem Auf- und Niedergange der Tonarten zu entbehren sind. §. 36. Unser Aristoxenus aber kehret sich nicht daran: denn weil er, durch einen langwierigen Glückesfall, schon vielerley Secunden, Terzen,
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Sexten und Septimen gefunden, so will er auch vielerley Quarten und Quinten haben: drum muß seine liebe Diesis stets herhalten, so ist alles mit leichter Mühe gründlich abgethan. §. 37. Da nun weder Aristoxenus noch sein ungewisser Beystand angezeiget, wo diese Sächelgen eigentlich zu Hause gehören, so nehme mir die Ehre zu melden, daß zwar in der achten Octave: 128 : 256, nichts neues zu hören sey, hingegen aus der neunten Octave: 256 : 512, die wunderthätige gröste Quarte und kleineste Quinte in fürchterlicher Gestalt hervorkomme. §.38. In der zehenden Octave: 512 : 1024, gibt es wiederum nichts neues. §. 39. Die eilfte Octave: 1024 : 2048 könnte die aristoxenische vierfache Klangordnung mit dem unerhörten grösten Einklänge und der kleinesten Octave beschliessen: da denn diese letztere Octave ihren harmonischen Sitz etwa in den Molltonen auf dem vierten erhöheten Klange, unter Begleitung der kleinsten Sexte, nach erhaltener Erlaubnis, nehmen könte. §. 40. Was ich oben im 19 und 24 §. wegen der Accordfolge behauptet, das gilt auch den ungegründeten Stimmen in Orgeln, nemlich der Mixtur von mancherley Fachen, und der Sesquialtera; ingleichen der Quinte und Terz von verschiedenen Fuß. Denn wenn gleich andere H a u p t stimmen darzu genommen werden, so empfindet das Gehör doch, vornemlich in der Tiefe, derselben Unordnung (§. 25.), und Unvollkommenheit (§. 26.) mit gröstem Eckel (§. 14. und 27.). In der H ö h e scheint dieser Mislaut zwar nach und nach in etwas sich zu verlieren; jedoch mit fortgesetztem Geschwirre: es sey denn, daß ein scharfhörender Orgelmacher dieses Uebel mit Zudrükung der Pfeifen auf einmal gehoben hätte. Es sollten also die Orgelbauer, woferne sie vernünftige Einsicht bezeigen, und wahren Ruhm erlangen wollten, an statt der oben genannten vielen schwirrenden und unvernehmlichen Pfeifgen lieber mehr Principalstimmen von verschiedener Art verfertigen, und dem gebräuchlichen Schlendrian nicht weiter blindlings folgen. §. 41. Nach dieser und der vorigen unschädlichen Ausschweifung rede ich schlüßlich diejenigen Componisten an, welche nicht verstehen, was sie bey Verfertigung und Aufführung ihrer Arbeit eigentlich hören; geschweige, daß sie einmal untersuchet, was unpartheyische Zuhörer davon urtheilen. Diese Componisten gestehen, daß die unmittelbar nach einander folgende Quinten und Octaven greßlich klingen, und daher nicht erlaubet sind. Findet sich aber ein guter Freund, der einem solchen Setzer bescheidene Nachricht gibt, dergleichen grobe Schnitzergen währender Musik wahrgenommen zu haben, und ihm selbige nachgehends aus der Partitur vorhält, so folget die kahle Antwort: Das sind Kleinigkeiten, die sich in
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der Geschwindigkeit durcharbeiten, (vielleicht wie die Pohlnische Bäre,) und die kein Zuhörer bemerken kan, wenn er nicht selbst ein theoretischer Musikus ist. Ich erwiedere: ein solcher Componist widerspricht sich selbst: denn vorhin hat er freywillig bekennet, daß die unmittelbar nach einander folgende Quinten und Octaven greßlich klingen; jetzt aber sollen es Kleinigkeiten seyn, die er doch, aus väterlicher Liebe, seinen Zuhörern als grose Schönheiten angepriesen, und zugleich als unmerkliche Dinge hat anhören lassen. Will man überzeuget seyn, daß jeder verständiger Mensch, ob er gleich von der Musik nichts erlernet, bey solchen unnatürlichen Tonveränderungen einen Eckel empfinde; so frage man ihn nach Anhörung eines Satzes, in welchem hin und wieder solche Quinten und Octaven gesetzet sind: Wie ihm die Musik gefallen? so wird er, wofern er unpartheyisch ist, ohnfehlbar antworten: Da und dort klang es nicht gut: ich konte nicht begreifen, was es seyn solte, oder wie es zusammenhieng, und dergleichen. Worauf gründet sich dieses vernünftige Urtheil eines unpartheyischen musikalischen Fremdlinges? Antwort: lediglich auf das Gehör, welches das Vermögen der Seele ist, den Schall sich vorzustellen, wodurch Veränderungen im Ohr veranlasset werden (§.5.). Jede Ton Veränderung hat ihren Grund in den vorher gehörten Tonen, so, wie jeder Ton wiederum seinen Grund hat, warum er so und nicht anders, ietzt und nicht eher oder später, dort und nicht hier ist (§. 23.). Weil nun das Gehör die Tone niemals anders empfindet, als sie ihm vorgebracht werden (§. 5.), und in der unmittelbaren Folge der Quinten und Octaven keinen Grund noch Zusammenhang bemerken kan; so erwecken ihm dergleichen unnatürliche Tonveränderungen einen Eckel. §.42. Die Musik ist eine Kunst, verschiedene verknüpfte Tone hören zu lassen (§. 1.). Verschiedene verknüpfte Tone machen eine Ordnung aus (§. 10. und 23.). Durch Ordnung wird die Vollkommenheit erlanget (§. 8.). Die Empfindung der Vollkommenheit erwecket Lust (§. 14.). Die Lust oder die Bewegung des menschlichen Gemüthes ist die Absicht bey der Musik (§. 1.). Suchte nun iemand die unmittelbare Folge der Quinten und Octaven zu behaupten, so wäre es eben so viel, als wenn er die Lust durch Unvollkommenheit, die Vollkommenheit durch Unordnung oder durch einerley Dinge erlangen, und die Natur übermeistern wollte.
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II. Ernst Gottlieb Barons, Königl. Preußischen Kammermusici Abriß einer Abhandlung von der Melodie. Eine Materie der Zeit. BERLIN, Bey A. Haude und J. C. Spener, Königl. und der Academie der Wissenschaften Buchhändlern. 1756.
VORBERICHT Als vorige Woche in einer ansehnlichen Gesellsdiafft zu seyn die Ehre hatte; so wurde von unterschiedenen nützlichen Materien gesprochen, bis man endlich unvermerkt auf die Musik und Melodie kam. Einige meinten, es wäre unmöglich, daß man Regeln, die beständig und auf alle Zeiten Stich hielten, geben könnte: andere aber von der Gesellschafft behaupteten, daß, wenn sich gleich der Geschmack änderte, so könnten sich doch die Grundsätze nicht ändern, die einmahl vor allemahl in der Natur lägen, welcher Meinung ich sogleich beyfiel. Die Gesellschafft ginge auseinander, und ich nach Hause. Ich war allein, ich dachte nadi und fand bey Erwägung der menschlichen Natur, daß sie geschickt sey, sich nicht allein Töne in Gedanken vorzustellen sondern auch vermittelst der Stimme von sich zu geben, wobey ich anmerkte, daß sich Leute fänden, die öfters durch Singen und durch Pfeiffen solche Passagen machten, ja gar kleine Melodien erfänden, darüber man sich verwundern muß, ohne die geringste Redienschafft davon geben zu können. Idi sähe ein, daß bey soldien Leuten zwar viel Naturel, solches aber noch nicht ausgebessert sey, und glaubte nicht unrecht zu thun, zu zeigen was eine Melodie sey, und durch was vor Mittel und Wege man darzu gelangen könnte, wie aus gegenwärtigem Abriß einer Abhandlung von der Melodie zu sehen. Es giebt Leute die sich gerne von allen Dingen einen Begriff machen wollen, solchen werden sie auch hier finden; Diejenigen aber, welche einmahl selbst dermahleins Hand anlegen wollen, werden hieraus ersehen, was vor Mittel man sich bedienen müsse, um diesen vortrefflichen Endzweck zu erreichen. Lebe wohl nach
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Standesgebühr hochgeehrtester Leser, gedenke hierbey nichts Arges, und beehre mich ferner mit deiner Wohlgewogenheit! Berlin den lOten August 1 7 5 5. Zur Schöpfung einer guten Melodie wird erfordert 1. ein gut Naturell welches a) in einem guten Verstände bestehet, nemlich in dem Vermögen, sich alles was in der Musik möglich ist, deutlich vorzustellen. ß) auch in Witz, der ist eine Fertigkeit, die Aehnlichkeiten warzunehmen, und wer solchen besitzt, ist sinnreich und zu allerhand Erfindungen geschickt. y) auch Einbildungskrafl, welche eine Kraft der Seele, sich Melodien und deren Einrichtung leicht vorzustellen.