Das Projekt Ganztagsschule: Aufbruche, Reformen Und Krisen in Der Bundesrepublik Deutschland 1955-1982 9783412223762, 341222376X

Ein Schultag, der um die Mittagszeit endet, gehorte bis zum PISA-Schock zu den stabilsten Einrichtungen in der alten Bun

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Das Projekt Ganztagsschule: Aufbruche, Reformen Und Krisen in Der Bundesrepublik Deutschland 1955-1982
 9783412223762, 341222376X

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Das Projekt Ganztagsschule

Zeithistorische Studien Herausgegeben vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam Band 56

Monika Mattes

Das Projekt Ganztagsschule Aufbrüche, Reformen und Krisen in der Bundesrepublik Deutschland (1955–1982)

2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Dieses Vorhaben wurde aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und der Europäischen Union – Europäischer Sozialfonds – gefördert.

Monika Mattes ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Berlin.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Freie Schule Frankfurt: Kinder beim Sägen (bpk /Abisag Tüllmann)

© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-22376-2

Inhalt Vorwort ............................................................................................................................. 7 Einleitung......................................................................................................................... 9 I.

Ganztagsschule zwischen Bildungspolitik und Gesellschaft ...... 23

1.

Aufbrüche: Bildung, Erziehung und die Zeitstruktur von Schule 1956–1959/60................................................................................ 23 1.1. Ausgangslage: Schule, Familie und Kinder in den 1950er-Jahren............. 24 1.2. Die ersten Tagesheimschulen: Akteure, Adressaten und die Problematik des »Bedarfs«.......................... 33 1.3. Ganztagsschule, Fünftagewoche und »Moderne« – eine Debatte .......... 43 2. 2.1. 2.2. 2.3.

Reformen: Ganztagsschule und Bildungsreform 1959/60–1970............. 63 Ganztagsschule und neue Referenzhorizonte................................................ 64 Der kurze Konsens in Politik und Gesellschaft ............................................. 82 Die Ganztagsschule in den Beratungen des Deutschen Bildungsrates..... 91

Blickwechsel: Schule und ganztägige Bildung und Erziehung in der DDR der 1950er- und 1960er-Jahre............................................................... 106 3.

Krisen: Ganztagsschule und das Ende des bildungspolitischen »Booms« 1970–1982 ................................................... 131 3.1. Ganztagsschule und der lange Schatten der Gesamtschule......................... 132 3.2. Schulische Kinderbetreuung, Familienbilder und Arbeitsmarkt in der Krise........................................................................... 151 II.

Historische Fallstudien von Ganztagsschulen in der Bundesrepublik der 1960er- bis 1980er-Jahre .................................... 167

Fallstudie 1: Das Ganztagsgymnasium Osterburken.............................................. 167 Fallstudie 2: Die Walter-Gropius-Schule in West-Berlin....................................... 189 Fallstudie 3: Die Gesamtschule Hegelsberg in Kassel............................................. 207 Schluss ............................................................................................................................. 231 Quellen- und Literaturverzeichnis.............................................................................. 241

Vorwort Das vorliegende Buch ist im Rahmen zweier Forschungsprojekte entstanden, die von Karen Hagemann (Universität Chapel Hill) und Konrad H. Jarausch (Universität Chapel Hill und Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam) geleitet wurden. Es handelt sich dabei um das von der VolkswagenStiftung geförderte Forschungsprojekt »Zwischen Ideologie und Ökonomie: Das Politikum der Ganztagsschule im deutsch-deutschen Vergleich« (2005–2008) und das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierte Projekt »Zwischen Realisierung und Verhinderung – Ganztagsschulen in der Bundesrepublik Deutschland in den 1960er bis 1980er Jahren – Historische Fallstudien« (2008–2010). Ich danke Karen Hagemann und Konrad Jarausch für vielfältige Anregungen und Unterstützung sowie der VolkswagenStifung und dem BMBF für die großzügige finanzielle Förderung. Einen engen Forschungszusammenhang gab es mit dem internationalen und interdisziplinären Forschungsprojekt »Das deutsche Halbtagsmodell: Ein Sonderweg in Europa? Eine Analyse der Zeitpolitiken öffentlicher Bildung im Ost-West-Vergleich (1945–2000)«, das von Karen Hagemann (Projektleitung), Cristina AllemannGhionda (Universität Köln) und Konrad H. Jarausch durchgeführt und von der VolkswagenStiftung finanziert wurde. Weiteren Dank schulde ich dem Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) für fruchtbaren Austausch und unterstützenden Zuspruch, insbesondere Martin Sabrow und den ehemaligen Kolleginnen und Kollegen der Abteilung »Regime des Sozialen im 20. Jahrhundert. Mobilisierung, Wohlfahrtsstaatlichkeit und Rationalisierung«. Sabine Reh und Gert Geissler von der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) haben Teile der Arbeit gelesen und kommentiert. Danken möchte ich schließlich auch den von mir interviewten pädagogischen »Expertinnen« und »Experten«, die mir Einblicke in den Kosmos Schule ermöglichten, sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aller von mir besuchten Archive und Bibliotheken für ihre hilfsbereite und kompetente Beratung. Gewidmet ist das Buch meinen Kindern. Berlin, Oktober 2014

Einleitung Es ist jedem pädagogisch Einsichtigen klar, dass unsere heutige Schule vor allem deshalb die ihr gestellten Aufgaben nicht mehr lösen kann, weil sie in das viel zu enge und zu kurz bemessene Bett eines Halbtagsplanes gezwängt wird, der es ihr nicht einmal ermöglicht, die dringlichsten Unterrichtsaufgaben zu erfüllen, geschweige denn Lebensformen zu entwickeln, die eine wirkliche Erziehungsarbeit in der Schule möglich machen. Denken wir daran, unsere Schulwoche auf fünf Tage zu verkürzen, so ist es vollends unvorstellbar, wie die Schule ihre ständig wachsenden Aufgaben erfüllen soll, ohne die Nachmittagszeit in ihre Arbeit einzubeziehen.1

Mit diesen Worten beschrieb der Direktor des Forschungskollegiums des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung Walter Schultze (1903–1984) im Frühjahr 1968 die schulische Zeitpolitik als ein dringendes bildungspolitisches Anliegen. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Bundesrepublik mitten in der ersten großen Bildungsreformära nach 1945, und die Forderung nach einer ganztägigen Schule gehörte nicht nur zum Reformkatalog des Deutschen Bildungsrates, sondern erfreute sich auch in der öffentlichen Diskussion allgemeiner Zustimmung. Die zeitgenössischen Argumente für eine ganztägige Schule waren in ihrer gesellschaftspolitischen Grundierung den heutigen erstaunlich ähnlich: So sollte diese Schulform unter anderem dazu beitragen, die soziale Benachteiligung von Kindern aus bildungsfernen Familien auszugleichen, oder die Erwerbstätigkeit beider Elternteile ermöglichen. Für eine kurze Zeitspanne schien Ende der 1960er-Jahre die Verwirklichung eines Ganztagsschulsystems in der Bundesrepublik zum Greifen nah. Indessen – auf die bildungsreformerischen Absichtserklärungen folgten keine Taten. Die Halbtagsschule mit einem Schultag, der um die Mittagszeit endet, war und blieb eine der stabilsten alltagsgeschichtlichen Signaturen der alten Bundesrepublik. Im Unterschied zu den meisten anderen Ländern Westeuropas konnte sich hier eine Schule mit einem verbindlichen Ganztagsangebot bis in die Gegenwart nicht durchsetzen.2 Im Jahr 1988/89 besuchten von allen Schülerinnen und Schülern im allgemeinbildenden Schulwesen der Bundesrepublik gerade einmal 5,4 Prozent eine Ganztagsschule. Bei Grundschülern waren es sogar nur 1,1 Prozent, weitere 4,4 Prozent wurden nachmittags in einem Schulhort, Internat oder Heim betreut.3 Spätestens mit dem schlechten Abschneiden Deutschlands beim ersten Durchgang 1 2 3

Vorwort von Walter Schultze in: Georg Rutz, Untersuchungen zur Ganztagsschule, Schwalbach 1968, S. 7. Karen Hagemann/Konrad H. Jarausch/Cristina Allemann-Ghionda (Hg.), Children, Families, and States. Time Policies of Childcare, Preschool, and Primary Education in Europe, New York/Oxford 2011. Tino Bargel/Manfred Kuthe, Ganztagsschule. Untersuchungen zu Angebot und Nachfrage, Versorgung und Bedarf, Bonn 1991, S. 102.

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Das Projekt Ganztagsschule

der internationalen Schulleistungsvergleichsstudie PISA im Jahr 2000 geriet die schulische Zeitpolitik erneut in den Fokus der Bildungspolitik.4 Mittlerweile gilt die Ganztagsschule zusammen mit einer hohen Frauenerwerbsquote auch in der Bundesrepublik als zukunftsfähige Formel, um den gesellschaftlichen Wandel unter dem Druck der globalen Wettbewerbsfähigkeit und sinkender Geburtenzahlen zu bewältigen.5 Das 2003 von der rot-grünen Bundesregierung aufgelegte Investitionsprogramm »Zukunft Bildung und Betreuung« (IZBB) (Laufzeit 2003-2009) initiierte die Weichenstellung für den Ausbau von Ganztagsschulen; die Länder entschieden mit zusätzlichen Investitionen über die konzeptionelle und personelle Ausstattung, über Schulformen und Kooperationen von Schulträgern und außerschulischen Partnern. Die vergleichsweise starke Zunahme von ungebundenen schulischen Nachmittagsangeboten, die der traditionellen Halbtagsschule lediglich angefügt werden, zeigt nicht nur die Präferenz für kostengünstigere und von außerschulischen Akteuren getragene Betreuungsmodelle. Sie verweist indessen auch auf die gesellschaftlichen und politischen Vorbehalte, die in Deutschland gegenüber einer für alle Schülerinnen und Schüler verpflichtenden ganztägigen Schule bestehen. Auf die aktuell diskutierte schultheoretische Frage, »ab wann eine Ganztagsschule eine Ganztagsschule« ist, hat die erziehungswissenschaftliche Forschung noch keine allgemein geteilte Antwort gefunden.6 Dies verweist auf eine lange Vorgeschichte, die mitten hineinführt in die gesellschaftlichen Kontroversen darüber, wie viel Einfluss Staat und Familie bei der Erziehung von Kindern im 20. Jahrhundert zukommen soll.7 4

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Für den Erziehungswissenschaftler Klaus-Jürgen Tillmann war das 2003 beschlossene 4 Milliarden-Investitionsprogramm zum Ausbau von Ganztagsschulen unter der rot-grünen Regierung unmittelbar mit dem »PISA-Schock« Ende 2001 verbunden. Die Vergleichsstudie aus dem Jahr 2000 hatte zutage gebracht, dass einerseits 15-jährige deutsche Schüler in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen weit hinter ihren Altersgenossen in europäischen Vergleichsländern zurücklagen und andererseits in keinem der anderen 32 Staaten die soziale Herkunft einen derartigen Einfluss auf den Erwerb von Lernkompetenzen hat wie im deutschen Schulsystem. Vgl. Klaus-Jürgen Tillmann u.a., PISA als bildungspolitisches Ereignis. Fallstudien in vier Bundesländern, Wiesbaden 2008. Vgl. kritisch dazu das Themenheft »Ganztagsschule – Hoffnung. Ernüchterung. Kritik« der Zeitschrift Widersprüche 28 (2008), Nr. 110; Fritz-Ulrich Kolbe/Sabine Reh, Der Erfolg der Ganztagsschule – reformpädagogische Ideen, pädagogische Praktiken der Individualisierung und politische Konstellationen, in: ebd., S. 39–54. Vgl. z.B. den Bericht über das BMBF-Symposium »Ganztagsschulforschung« am 9. Juli 2007 von Peer Zickgraf, Quo vadis Ganztagsschulforschung?, http://www.ganztagsschulen.org/ de/3708.php (Stand: 20.7.2014). Sabine Reh und Joachim Scholz verweisen aus schulhistorischer Perspektive darauf, dass die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Familie bereits bei Etablierung der modernen Schule auftaucht. Vgl. Sabine Reh/Joachim Scholz, Verwahrloste Familien – Familiarisierte Schulen. Zum Verhältnis von Schule und Familie in den Diskursen der deutschen

Einleitung

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Fragestellung Das vorliegende Buch befasst sich mit dem (schul-)zeitpolitischen »Sonderweg« der alten Bundesrepublik anhand der gesellschafts- und bildungspolitischen Debatten und Handlungen um das Projekt Ganztagsschule zwischen den 1950er- und 1980er-Jahren.8 »Ganztagsschule« bzw. in den 1950er-Jahren »Tagesheimschule« meint dabei einerseits auf der semantischen Ebene das politische Programm, die auf den Vormittagsunterricht beschränkte Halbtagsschule durch kognitive und nichtkognitive Lern- und Spielangebote zeitlich und inhaltlich zu erweitern, andererseits die praktische Umsetzung dieses Programms am Beispiel einzelner Schulen. Wie kam es, dass die Ganztagsschule im Bildungswesen der alten Bundesrepublik letztlich nicht durchsetzbar war? Welcher Stellenwert kam dieser Schulform in den wechselnden Phasen der Bildungspolitik zu? Woher rührte, anders gefragt, die große Beharrungskraft der Halbtagsstruktur im deutschen Schulwesen, wenn doch – wie das Eingangszitat nahelegt – die an westlichen Vorbildern orientierten Reformkräfte zeitweilig sehr stark waren? Die Studie untersucht den Wandel des Diskurs- und Handlungsfeldes »Ganztagsschule« in der Bundesrepublik der 1950er- bis 1980er-Jahre in einem gesellschaftsgeschichtlichen Kontext. Welche gesellschaftlichen und politischen Akteure fungierten jeweils wann und mit welchen Legitimationsstrategien als »Thematisierungsagenten«9 der Ganztagsschule und prägten auf diese Weise entsprechende Diskurskonjunkturen? Und wer bremste mit welchen Begründungsmustern entsprechende Reformprogramme? Wie veränderten sich hier die politischen

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Schulgeschichte seit 1800, in: Fritz-Ulrich Kolbe/Sabine Reh/Bettina Fritzsche u.a. (Hg.), Ganztagsschule als symbolische Konstruktion. Fallanalysen zu Legitimationsdiskursen in schultheoretischer Perspektive, Wiesbaden 2009, S. 159–177. Das Buch entstand im Rahmen zweier Forschungsprojekte – dem von der VolkswagenStiftung geförderten Projekt »Zwischen Ideologie und Ökonomie: Das Politikum der Ganztagsschule im deutsch-deutschen Vergleich« (2005–2008) und der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Studie »Zwischen Realisierung und Verhinderung – Ganztagsschulen in der Bundesrepublik Deutschland in den 1960er bis 1980er Jahren – Historische Fallstudien« (2008–2010) –, die von Karen Hagemann (Universität Chapel Hill) und Konrad H. Jarausch (Universität Chapel Hill und Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam) geleitet wurden. Einen Forschungszusammenhang gab es mit dem internationalen und interdisziplinären Forschungsprojekt »Das deutsche Halbtagsmodell: Ein Sonderweg in Europa? Eine Analyse der Zeitpolitiken öffentlicher Bildung im Ost-West-Vergleich (1945–2000)«, das von Karen Hagemann (Projektleitung), Cristina Allemann-Ghionda (Universität Köln) und Konrad H. Jarausch durchgeführt und von der VolkswagenStiftung finanziert wurde. Vgl. den Begriff bei Wilfried Rudloff, Im Schatten des Wirtschaftswunders. Soziale Probleme, Randgruppen und Subkulturen 1949 bis 1973, in: Thomas Schlemmer/Hans Woller (Hg.), Bayern im Bund, Bd. 2: Gesellschaft im Wandel 1949–1973, München 2002, S. 347–469, hier S. 415.

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Das Projekt Ganztagsschule

und kulturellen Argumente und Interessenlagen von Regierungen auf Bundes- und Landesebene, von Bildungspolitikern und -experten, politischen Parteien, Kirchen, Lehrern,10 Erzieherinnen, Eltern? In welchen gesellschaftlichen Akteurs- und Interessenkonstellationen gelang es, vom eingeschlagenen Pfad der Halbtagsschule abzuweichen und in Einzelfällen erfolgreich Ganztagsschulen zu etablieren? Der hier gewählte Zugriff möchte die Geschichte der Ganztagsschule nicht nur als eine Geschichte der politischen Versäumnisse und Verhinderungen erzählen, sondern am Beispiel Ganztagsschule auch das Verhältnis von Kontinuität und Wandel in der westdeutschen Bildungs- und Gesellschaftspolitik erkunden – und damit nicht zuletzt dazu beitragen, eine gesellschaftsgeschichtlich ausgerichtete Bildungsgeschichte stärker in der Zeitgeschichte zu verankern. Unter der Prämisse, dass pädagogische Diskurse immer auch »Resonanzphänomene« gesellschaftlicher Entwicklungen (Heinz-Elmar Tenorth) sind,11 soll die Ganztagsschule als analytische Sonde dienen, um Aufschluss über weitreichende gesellschaftliche und kulturelle Wandlungsprozesse zu gewinnen. Die teilweise hoch umstrittene zeitliche Organisationsform von Schule bildet damit eine Art Brennglas, in dem sich Entwicklungen in den Bereichen Bildung, Erziehung, Familie und Arbeit bündeln und das den Werte-, Normen- und Mentalitätswandel einschließlich seiner Widersprüche und Ambivalenzen nachvollziehbar macht, den die Bundesrepublik seit den späten 1950er-Jahren erfuhr. Um die ausgeprägte schulpolitische Kontinuität im Westen Deutschlands zu erklären, wird ein implizit vergleichs- und beziehungsgeschichtlicher Ansatz verfolgt, der die westdeutschen Auseinandersetzungen um die Ganztagsschule im Koordinatensystem von Kaltem Krieg und Systemkonkurrenz untersucht. Auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze waren Politikfelder wie Bildung, Erziehung und Familie durch scharfe Abgrenzung und ideologische Konfrontation zum jeweils anderen deutschen Staat geprägt.12 Wenn die Bundesrepublik jahrzehntelang an der Halbtagsschule festhielt, so tat sie dies immer auch mit Blick auf den sozialisti10

Der Text verwendet im Folgenden in der Regel die Schreibweise der weiblichen und männlichen Form, wenn es um schulische Akteure wie Lehrerinnen und Lehrer, Schulleiterinnen und Schulleiter, Schülerinnen und Schüler etc. geht. In Einzelfällen wird der besseren Lesbarkeit wegen nur die männliche Form genannt, ebenso in männlich dominierten Tätigkeitsbereichen wie bei Wissenschaftlern, Bildungsplanern oder Bildungsexperten. Wenn es sich wie bei Erzieherinnen um eine weitgehend von Frauen ausgeübte Tätigkeit handelt, wird explizit die weibliche Form verwendet. 11 Heinz-Elmar Tenorth, Wachstumsschübe des Bildungssystems und Konjunkturen seiner Thematisierung, in: Zeitschrift für Pädagogik 49 (2003), Nr. 1, S. 69–85, hier S. 70. 12 Karen Hagemann/Konrad H. Jarausch/Cristina Allemann-Ghionda (Hg.), Children, Families, and States: Time Policies of Childcare and Schooling in a Comparative Historical Perspective, in: dies. (Hg.), Children, Families, and States. Time Policies of Childcare, Preschool, and Primary Education in Europe, New York/Oxford 2011, S. 3–50.

Einleitung

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schen Gegenentwurf, den die DDR mit ihrem ganztägig ausgelegten Bildungs- und Betreuungssystem repräsentierte. Zu fragen ist, inwiefern im Westen die DDR instrumentalisiert wurde, um staatliche Einflussnahme auf die Kindererziehung abzuwehren, und wie sich die entsprechende Abgrenzungsrhetorik seit den 1960erJahren veränderte. Inwieweit blieb der andere deutsche Staat für die westdeutsche Bildungspolitik als Referenzgröße präsent, deren Abschreckungspotenzial jederzeit reaktivierbar war? Die Konzeption der Studie sieht vor, die schulische Zeitpolitik in der DDR zwar nicht gleichgewichtig symmetrisch-vergleichend zu behandeln, sie aber für die 1950er- und 1960er-Jahre genauer in den Blick zu nehmen, d.h. für den Zeitraum, in dem sich die Art und Weise, in der beide Teilstaaten wechselseitig aufeinander bezogen waren, zu verändern begann. Die Zeitinstitution Halbtagsschule setzte strukturell die Ernährer-Hausfrau/ Zuverdienerin-Familie voraus und praktisch die Hausfrau und Mutter, die ihren Kindern ein Mittagessen kocht und anschließend Hausaufgaben und Freizeit betreut.13 Einen zentralen Bezugsrahmen der Studie bildet daher die eng mit der Industriemoderne verbundene Geschlechterordnung, welche für Männer kontinuierliche, aufstiegsorientierte und lebenslange Vollzeitberufsarbeit vorsah, für Frauen komplementär dazu den vermeintlich natürlichen Beruf der Hausfrau, Gattin, Mutter. Dem Ernährer-Hausfrau/Zuverdienerin-Modell zufolge leitete sich wohlfahrtsstaatliche Sicherung für Männer aus Erwerbsarbeit und für Frauen aus der Ehe ab.14 Bis in die 1960er-Jahre hinein herrschte im Westen ein breiter, die politischen Parteien übergreifender Konsens hinsichtlich der normativen Gültigkeit dieses Modells. Wenn man mit Karin Hausen von einer historisch außerordentlich großen Anpassungsfähigkeit des Modells gerade in Zeiten gesellschaftlichen Wandels ausgeht,15 so lässt sich exemplarisch für das Verhältnis von Ganztagsschule und Frauenerwerbsarbeit fragen, inwieweit es in der hier interessierenden Epoche zwischen Reform und Krise unter Druck geriet und sich transformierte. Vor diesem Hintergrund beleuchtet die Studie die Wechselbeziehungen zwischen dem Ange13 Vgl. Karen Hagemann, Die Ganztagsschule als Politikum: Die westdeutsche Entwicklung in gesellschafts- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive, in: Zeitschrift für Pädagogik, Juli 2009, 54. Beiheft, S. 209–229; Karen Hagemann/Karin Gottschall, Die Halbtagsschule in Deutschland – ein Sonderfall in Europa?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 41/2002, S. 12–22; Hagemann/Jarausch/Allemann-Ghionda, Children, Families and States. 14 Vgl. zum Überblick Christiane Kuller, Soziale Sicherung von Frauen – ein ungelöstes Strukturproblem im männlichen Wohlfahrtsstaat: Die Bundesrepublik im europäischen Vergleich, in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), S. 199–236; vgl. auch Diane Sainsbury, Gender, Equality and Welfare States, Cambridge 1996; Jane Lewis (Hg.), Gender, Social Care and Welfare State Restructuring in Europe, Aldershot 1999. 15 Karin Hausen, Frauenerwerbstätigkeit und erwerbstätige Frauen seit 1945 in Deutschland. Anmerkungen zur Forschung, in: Gunilla-Friederike Budde (Hg.), Frauen arbeiten. Weibliche Erwerbstätigkeit in Ost- und Westdeutschland, Göttingen 1997, S. 19–45, hier S. 26ff.

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Das Projekt Ganztagsschule

bot an schulischer Ganztagsbetreuung und der Entwicklung der Frauenerwerbstätigkeit. Welche Bedeutung kam der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in den Reformdebatten um die Ganztagsschule in den 1960er-Jahren zu? Von wem und wie wurde Frauenerwerbsarbeit als Argument für oder gegen eine Verlängerung des Schultages herangezogen? In diesem Zusammenhang ist für die Analyse der bundesrepublikanischen Ganztagsschuldebatte auch nach kulturellen Einflüssen des Westens, vor allem der USA, zu fragen. Inwieweit lässt sich die Kategorie der »Westernisierung« fruchtbar machen, etwa wenn die Argumentationsmuster für die Ganztagsschule seit den späten 1950er-Jahren auf die Rezeption westlicher Gesellschafts- und Geschlechter­ modelle verweisen?16 Welche Brüche, Verschiebungen und Persistenzen sind in diesen Auseinandersetzungen feststellbar, und wie korrespondierten sie mit Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt? Inwiefern und für welchen Zeitraum lässt sich in der der Arbeitsmarkt- und schulischen Zeitpolitik zugrunde liegenden Geschlechter­ ordnung gar ein »Strukturbruch« nachweisen?17 Auch für den pädagogischen Diskurs über Schule sind die Tendenzen einer Westernisierung und Liberalisierung genauer zu erkunden.18 Schließlich muss auch für die Jahre nach dem »Boom« das spezifische Nebeneinander von bildungspolitischem und ökonomischem Stillstand, neokonservativen Diskursen über die Retraditionalisierung der Geschlechterrollen, über eine »Tendenzwende«19 und die »Wiedergewinnung des Erzieherischen« bei gleichzeitig zunehmender Frauenerwerbstätigkeit und einer sich weiter liberalisierenden Schulpraxis betrachtet werden. Schließlich sind bei der Untersuchung des Reformprojekts Ganztagsschule auch langfristig wirkende institutionelle Rahmenbedingungen zu berücksichtigen. Dies betrifft zum einen die Unterscheidung in höheres und niederes Schulwesen. So setzte sich die Vormittagsschule in Deutschland seit Ende des 19. Jahrhunderts zunächst an höheren Schulen, dann auch, zuerst in den Städten, an Volksschulen allmählich durch, wo sie den traditionell auf Vor- und Nachmittag verteilten Unterricht ablöste. Zum anderen knüpfte die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg an die in der Weimarer Republik gesetzlich fixierte Trennung der Handlungs16 17 18 19

Konrad H. Jarausch, Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945–1995, München 2004; Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008. Ulrich Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002. Axel Schildt, »Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten«. Zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 449–478.

Einleitung

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felder Bildung und Erziehung an, die Schulbildung als staatliche Aufgabe und Erziehung als »oberste Pflicht« und »natürliches Recht« der Eltern festschrieb und öffentliche Nachmittagsbetreuung in Horten ausschließlich für unbeaufsichtigte Arbeiterkinder vorsah.20 Inwieweit, so ist zu fragen, erwies sich diese Abgrenzung zwischen Bildung und Erziehung mit jeweils unterschiedlichen Gesetzesgrundlagen, konkurrierenden Verwaltungen und Berufsgruppen als Hindernis für die Durchsetzung von schulischen Ganztagsprogrammen? Methoden und Quellen Methodisch stützt sich die Studie auf eine Kombination unterschiedlicher Ansätze wie die diskursanalytische Rekonstruktion des bildungs- und gesellschaftspolitischen Feldes sowie auf sozial- und politikgeschichtliche Analysen. Eine Ausgangsüberlegung ist dabei, dass das komplexe Bedingungsgefüge, das den Ausbau von Ganztagsschulen verhinderte bzw. in Einzelfällen ermöglichte, nur in einer multiperspektivischen Betrachtung verständlich wird und entsprechend ökonomische, politische, soziale und kulturelle Faktoren einzubeziehen und in ihrem Zusammenwirken zu analysieren sind. In drei Fallstudien geschieht dies für die Mikroebene Schule, die in einem Geflecht unterschiedlicher vertikaler und horizontaler Akteure zu untersuchen ist. Zu berücksichtigen sind zum einen das jeweilige Bundesland, der Landkreis und die Kommune bzw. die dortigen politischen Entscheidungsträger und zum anderen die Schulleitung, Lehrer, Erzieherinnen, Schüler, Eltern bzw. weitere lokalpolitische Kräfte wie Parteien, Verbände und Kirchen. Die Quellenbasis bilden archivalische und veröffentlichte Quellen sowie qualitative Experteninterviews. Die Diskursanalyse stützt sich auf ein breites Korpus aus pädagogischer Periodika, grauer Literatur (Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung) und zeitgenössischer Presse einschließlich regionaler Zeitungen. Des Weiteren wurden die einschlägigen Bestände im Bundesarchiv Koblenz und Berlin sowie im Landesarchiv Berlin, im Hessischen Hauptstaatsarchiv und im 20

Joachim Lohmann, Das Problem der Ganztagsschule: Eine historisch-vergleichende und systematische Untersuchung, Ratingen 1964, S. 43ff.; Hans-Günther Homfeldt, Historische Aspekte zum Verhältnis von Jugendhilfe und Schule, in: Birger Hartnuß/Stephan Maykus (Hg.), Handbuch Kooperation von Jugendhilfe und Schule. Ein Leitfaden für Praxisreflexio­ nen, theoretische Verortungen und Forschungsfragen, Berlin 2004, S. 41–68, hier S. 47; Hilde von Balluseck, Die Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern. Geschichte der Zuständigkeiten, Strukturen und Argumentationslinien, in: Soziale Arbeit (1994), Nr. 4, S. 182–200; Jürgen Reyer, Einführung in die Geschichte des Kindergartens und der Grundschule, Bad Heilbrunn 2006; Diana Franke-Meyer, Kleinkindererziehung und Kindergarten im historischen Prozess: ihre Rolle im Spannungsfeld zwischen Bildungspolitik, Familie und Schule, Bad Heilbrunn 2011; Hagemann, Ganztagsschule als Politikum; Hagemann/ Gottschall, Ganztagsschule in Deutschland.

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Das Projekt Ganztagsschule

Hauptstaatsarchiv Stuttgart ausgewertet sowie kommunale Archive und Schularchive (Stadtarchiv Kassel, Archive der Walter-Gropius-Schule, der Gesamtschule Hegelsberg und des Ganztagsgymnasiums Osterburken) herangezogen. Eine wichtige Rolle spielen elf mit ehemaligen Schulleitern, Lehrerinnen und Lehrern und Erzieherinnen geführte Experteninterviews, um durch die in den Funktionskontext Schule eingebundenen Beteiligten fehlende Sachinformationen wie auch Einblicke in professionsspezifische Wahrnehmungsweisen und Erfahrungen zu gewinnen.21 Forschungsstand Befand sich die reformpädagogische Idee der Ganztagsschule jahrelang eher am Rand der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, so hat die Ganztagsschulinitiative des BMBF seit 2003 eine breite Forschungs- und Publikationstätigkeit entfacht. In der hauptsächlich von Erziehungswissenschaftlern und Bildungsverantwortlichen geführten Diskussion herrscht Übereinstimmung darin, dass schulische Ganztagsangebote einerseits einer neuen schulischen Lehr- und Lernkultur und andererseits einer stärkeren sozialen Inklusion förderlich sein können.22 Ein Großteil der Veröffentlichungen beschäftigt sich daher mit anwendungsorientierten Fragen der Konzipierung, Umsetzung und Wirkung ganztägiger Bildung und Erziehung.23 21 Zwei der Interviews sind mit Akteuren im Umfeld einer nordrhein-westfälischen Grundschule entstanden, die hier nicht in einer eigenen Fallstudie mit aufgenommen wurde. Gleichwohl enthalten die Interviews wertvolle Informationen, die insbesondere in Kap. 3 eingeflossen sind. 22 Über die Verbindung von Forschung und Praxis geben Sammel- und Tagungsbände Auskunft wie z.B. Anke Spies/Gerd Stecklina (Hg.), Die Ganztagsschule, Band 1: Dimensionen und Reichweiten des Entwicklungsbedarfs, Bad Heilbrunn 2005, und Band 2: Keine Chance ohne Kooperation – Handlungsformen und institutionelle Bedingungen, Bad Heilbrunn 2005; Ganztagsschule – Ganztagsbildung: Politik, Pädagogik, Kooperationen. Dokumentation einer Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll, 12. bis 14. Mai 2004, in Zusammenarbeit mit der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Bad Boll 2005. 23 Ein breit angelegtes Forschungsprogramm zur wissenschaftlichen Begleitung und Evaluierung der aktuellen Ganztagsschulentwicklung der Bundesrepublik bildet die »Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen« (StEG). Als eine der bislang größten Studien der empirischen Bildungsforschung bezog sie fast 400 Schulen ein, wo im Längsschnitt in drei Erhebungswellen 2005, 2007 und 2009 Schüler, Lehrkräfte, Schulleiter sowie weiteres pädagogisches Personal und außerschulische Kooperationspartner befragt wurden. Pro Erhebungswelle wurden jeweils über 30.000 Personen einbezogen. Vgl. den Überblick BMBF (Hg.), Ganztägig bilden. Eine Forschungsbilanz, Berlin 2012. Vgl. auch Heinz Günter Holtappels/Eckhard Klieme/Thomas Rauschenbach/Ludwig Stecher (Hg.), Ganztagsschule in Deutschland. Ergebnisse der Ausgangserhebung der »Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen« (StEG), Weinheim, 2. Aufl. 2008; Nathalie Fischer/Heinz Günter Holtappels/Eckhard Klieme/Thomas Rauschenbach/Ludwig Stecher/Ivo Züchner (Hg.), Ganztagsschule: Entwicklung, Qualität, Wirkungen: Längsschnittliche Befunde der Stu-

Einleitung

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Eine historische Verortung des Themas gibt es dagegen erst in Ansätzen. Die vorliegende Studie konnte von einem internationalen und interdisziplinären Projektrahmen profitieren, in dem ganztägige Bildung und Erziehung in einem breiteren Kontext von Zeitpolitik, Child Care und Wohlfahrtsstaat historisiert wird.24 In Standardwerken zur Bildungs- und Schulgeschichte taucht die Ganztagsschule kaum auf.25 Als Genese einer päda­gogischen Reformidee wurde sie bislang vor allem in erziehungswissenschaftlichen Überblicksarbeiten untersucht.26 Im Unterschied zur Ganztagsschule liegen für das politisch-ideologische Streitobjekt Gesamtschule

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die zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG), Weinheim 2011; Falk Radisch/Eckhard Klieme (Hg.), Ganztagsangebote in der Schule. Internationale Erfahrungen und empirische Forschungen, Bonn/Berlin 2005; Peter Wahler/Christine Preiß/Günther Schaub, Ganztagsangebote an der Schule. Erfahrungen, Probleme, Perspektiven, München 2005; Hans-Uwe Otto/Thomas Coelen (Hg.), Ganztägige Bildungssysteme: Innovation durch Vergleich, Münster 2005; Volker Ladenthin (Hg.), Die Ganztagsschule: Alltag, Reform, Geschichte, Theorie, Weinheim u.a. 2005. Vgl. auch ältere Arbeiten: Heinz Günter Holt­ appels, Ganztagsschule und Schulöffnung. Perspektiven für die Schulentwicklung, Weinheim/München 1994; ders. (Hg.), Ganztagserziehung in der Schule: Modelle, Forschungsbefunde und Perspektiven, Opladen 1995; Tino Bargel/Manfred Kuthe, Ganztagsschule. Untersuchungen zu Angebot und Nachfrage, Versorgung und Bedarf, hg. v. Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Bonn 1991. Hagemann/Jarausch/Allemann-Ghionda, Children, Families and States; Gottschall/Hagemann, Die Halbtagsschule in Deutschland – ein Sonderfall in Europa; Karen Hagemann/ Sonya Michel, Special Issue of the Journal Social Politics: International Studies in Gender, State, and Society 13 (2006), Nr. 2: Child Care in Transition: Eastern and Western Europe in Comparison; Karen Hagemann/Monika Mattes, Ideologie und Ökonomie: Ganztags­ erziehung im deutsch-deutschen Vergleich, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 23/2008, S. 7–14; Karen Hagemann, Die Ganztagsschule als Politikum: Die westdeutsche Entwicklung in gesellschafts- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive, in: Zeitschrift für Pädagogik (Beiheft) 55 (2009), Nr. 1, S. 209–229; dies., Between Ideology and Economy: The »Time Politics« of Child Care and Public Education in the Two Germanys, in: Social Politics 13 (2006), Nr. 2, S. 217–260. Kursorisch Erwähnung findet die Ganztagsschule bei Gert Geißler, Schulgeschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis in die Gegenwart, Frankfurt/M. 2011. Vgl. auch die Hinweise bei Kai S. Cortina/Jürgen Baumert/Achim Leschinsky (Hg.), Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland: Strukturen und Entwicklungen im Überblick (Arbeitsgruppe Bildungsbericht am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung), Reinbek bei Hamburg 2003, S. 368f.; Christoph Führ/Carl-Ludwig Furck (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. IV, 1945 bis zur Gegenwart, Erster Teilband: Bundesrepublik Deutschland und Zweiter Teilband: Deutsche Demokratische Republik, München 1998. Lohmann, Das Problem der Ganztagsschule; Harald Ludwig, Entstehung und Entwicklung der modernen Ganztagsschule in Deutschland, Bd. 2, Köln u.a. 1993; Cristina AllemannGhionda, Ganztagsschule im internationalen Vergleich, in: Jürgen Rekus (Hg.), Ganztagsschule in pädagogischer Verantwortung, Münster 2003, S. 49–62.

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Das Projekt Ganztagsschule

ungleich mehr historische Bestandsaufnahmen und Bilanzen vor, die größtenteils die Perspektive der aktiven Zeitzeugenschaft einnehmen.27 Für eine Gesellschaftsgeschichte der Ganztagsschule, die für einen längeren Zeitraum die diskursiven und politischen Konjunkturen dieser Schulform unter Verknüpfung sozial-, kultur-, politik- und geschlechtergeschichtlicher Perspektiven in den Blick nimmt, bietet eine Reihe von Arbeiten wertvolle Anstöße. Anregend sind etwa neuere Studien, welche sich nicht auf die äußeren Strukturen des nationalen Bildungssystems beschränken, sondern auch die inneren Wandlungsprozesse des Schulwesens akzentuieren. Dadurch werden gängige Interpretationsmuster und Periodisierungen, die eine Phase der bildungspolitischen »Restauration« im westlichen Nachkriegsdeutschland und eine Phase grundlegender Bildungsreformen scharf voneinander abgrenzen, in Frage gestellt.28 Mit der Mobilisierung von »Bildungsreserven« in den »langen« 1960er-Jahren wurden Kinder zunehmend als nationale Ressource betrachtet, und der Staat wurde dabei zu einem mächtigen Erziehungsakteur.29 In der Hochphase der Bildungsreform erfuhren Bildungsexperten als Politikberater einen beträchtlichen Bedeutungszuwachs.30 Darüber hinaus bieten Studien, die nach Veränderungen von Erziehungseinstellungen und -werten über einen längeren Zeitraum fragen, für die normative Einbettung des Ganztagsschuldiskurses wichtige Anregungen.31 Die gesellschafts- und geschlechtergeschichtliche Akzentuierung der Untersuchung kann bis zu den 1960er-Jahren auf einen beeindruckenden 27

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Hans-Georg Herrlitz/Dieter Weiland/Klaus Winkel (Hg.), Die Gesamtschule. Geschichte, internationale Vergleiche, pädagogische Konzepte und politische Perspektiven, Weinheim 2003; Henning Haft u.a., Gesamtschule. Geschichte, Konzeption, Praxis, Kiel 1989; Hellmut Becker, Gesamtschule heute, Nürnberg 1983; Herbert Gudjons/Andreas Köpke (Hg.), 25 Jahre Gesamtschule in der Bundesrepublik Deutschland. Eine bildungspolitische Bilanz, Bad Heilbrunn 1996, S. 63–78. Vgl. für das Gymnasium: Torsten Gass-Bolm, Das Gymnasium 1945–1980. Bildungsreform und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland, Göttingen 2005. Vgl. auch Brian M. Puaca, Learning Democracy. Education Reform in West Germany 1945–1965, New York 2009. Dirk Schumann (Hg.), Raising Citizens in the »Century of the Child«. The United States and German Central Europe in Comparative Perspective, Oxford 2010. Vgl. hierzu vor allem die Arbeiten von Wilfried Rudloff: Does science matter? Zur Bedeutung wissenschaftlichen Wissens im politischen Prozess. Am Beispiel der bundesdeutschen Bildungspolitik in den Jahren des »Bildungsbooms« (FÖV Discussion Papers 19), Speyer 2005; ders., Bildungspolitik als Sozial- und Gesellschaftspolitik. Die Bundesrepublik in den 1960erund 1970er Jahren im internationalen Vergleich, in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), S. 237–268; ders., Bildungsplanung in den Jahren des Bildungsbooms, in: Matthias Frese/ Julia Paulus/Karl Teppe (Hg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre in der Bundesrepublik, Paderborn 2003, S. 259–282. Miriam Gebhardt, Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert, München 2009. Vgl. zur Historizität von Werten: Andreas Rödder/ Wolfgang Elz (Hg.), Alte Werte – Neue Werte. Schlaglichter des Wertewandels, Göttingen 2008.

Einleitung

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Forschungsstand zurückgreifen,32 für die Phase nach dem »Boom« liegen indessen erst vereinzelt Deutungsversuche vor.33 Die gesellschaftlichen Auswirkungen der Bildungsreform werden dabei kaum thematisiert.34 Für die vergleichenden Schlaglichter, die das Buch auf die DDR als »asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte« (Christoph Kleßmann) wirft, liegen Studien über die politische Konkurrenzbeziehung zwischen beiden deutschen Staaten vor, die Aspekte von Abgrenzung, Bezugnahme und Verflechtung während des Kalten Krieges herausarbeiten.35 Im ostdeutschen Staat war Kindererziehung entschiedener als jemals zuvor als Staatsaufgabe festgeschrieben, und die Betreuungseinrichtungen für Kinder wurden zentralstaatlich geplant und bereitgestellt.36 Für die Charakteri32

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Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000; Christine von Oertzen, Teilzeitarbeit und die Lust am Zuverdienen. Geschlechterpolitik und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland 1948–1969, Göttingen 1999; Merith Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft. Studien zur Strukturgeschichte der Familie in Westdeutschland 1945 bis 1960, Göttingen 2001; Christiane Kuller, Familienpolitik im föderativen Sozialstaat. Die Formierung eines Politikfeldes in der Bundesrepublik 1949–1975, München 2004; Robert G. Moeller, Geschützte Mütter. Frauen und Familien in der westdeutschen Nachkriegspolitik, München 1997; vgl. auch den Forschungsüberblick von Robert G. Moeller, Unbenannt und allgegenwärtig. Die Familie in der Zeitgeschichtsschreibung, in: Karen Hagemann/ Jean H. Quataert (Hg.), Geschichte und Geschlechter. Revisionen der neueren deutschen Geschichte, Frankfurt/M. 2008, S. 317–346. Julia Paulus/Eva-Maria Silies/Kerstin Wolff (Hg.), Zeitgeschichte als Geschlechtergeschichte. Neue Perspektiven auf die Bundesrepublik, Frankfurt/M. 2012. Wiebke Kolbe, Elternschaft im Wohlfahrtsstaat. Schweden und die Bundesrepublik im Vergleich 1945–2000, Frankfurt/M./New York 2002; Monika Mattes, Ambivalente Aufbrüche. Frauen, Familie und Arbeitsmarkt zwischen Konjunktur und Krise, in: Konrad H. Jarausch (Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 215–228, hier S. 218f.; vgl. dies., Reformen und Krisen. Ganztagsschule und Frauenerwerbstätigkeit in der Bundesrepublik, in: Julia Paulus u.a. (Hg.), Zeitgeschichte als Geschlechtergeschichte. Neue Perspektiven auf die Bundesrepublik, Frankfurt/M. 2012, S. 179–201; dies., Krisenverliererinnen? Frauen, Arbeit und das Ende des Booms, in: Knud Andresen/Ursula Bitzegeio/Jürgen Mittag (Hg.), »Nach dem Strukturbruch?« Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) seit den 1970er-Jahren, Bonn 2011, S. 127–140. Vgl. zum Beispiel Christoph Kleßmann, Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Aus Politik und Zeit­ geschichte B 29–30/1993, S. 30–41; Udo Wengst/Hermann Wentker (Hg.), Das doppelte Deutschland. 40 Jahre Systemkonkurrenz, Berlin 2008; Frank Möller/Ulrich Mählert (Hg.), Abgrenzung und Verflechtung. Das geteilte Deutschland in der zeithistorischen Debatte, Berlin 2008. Vgl. Gert Geißler/Ulrich Wiegmann, Pädagogik und Herrschaft in der DDR, Frank­ furt/M. 1996; Gert Geißler, Zur Zeitgeschichte von Bildungs- und Schulpolitik in Deutschland, Berlin 2006.

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Das Projekt Ganztagsschule

sierung der frühen DDR erweist sich der Begriff »Erziehungsdiktatur« gerade als Folie für das hochideologische Feld von Schule und Erziehung als durchaus treffend.37 Für die späteren Jahre lässt sich eher mit Konrad Jarausch von einer »Fürsorgediktatur« sprechen, akzentuiert dieser Begriff doch das Element einer umfassenden, die politische Stabilität und Legitimität fördernden Sozialpolitik, die auch ein breites Kinderbetreuungsangebot einschloss.38 Gliederung Die Studie folgt einem zweigliedrigen Aufbau. Im ersten Teil richtet sich der Blick auf die diskursiven und politischen Konjunkturen der Ganztagsschule zwischen den späten 1950er -und frühen 1980er-Jahren. Hauptuntersuchungsfeld ist der Westen Deutschlands, wo die Halbtagsstruktur zusammen mit der Dreigliedrigkeit der Schule ein zentraler Pfeiler der Bildungspolitik blieb – ungeachtet der starken Veränderungsdynamik, die in Gesellschaft und Schule in den 1960er-Jahren einsetzte. Kapitel 1 widmet sich neben dem politischen Rahmen für Bildung und Erziehung in der frühen Bundesrepublik den ersten Tagesheimschulen und der um Ganztagsschule und Fünftagewoche kreisenden öffentlichen Debatte Ende der 1950er-Jahre. Kapitel 2 behandelt die Reformperiode der »langen sechziger Jahre«, als infolge des pädagogischen Paradigmenwechsels die ganztägige Schulform als bildungspolitisches Ziel erstmals konsensfähig wurde – sowohl gesamtgesellschaftlich als auch für die Experten und politischen Vertreter im Deutschen Bildungsrat. Es bietet sich an, an dieser Stelle einen »Blickwechsel« vorzunehmen und die schulische Ganztagserziehung der DDR einzubeziehen, die in den 1950/60er-Jahren für die Auseinandersetzungen um die Ganztagsschule im Westen eine Art Projektionsfläche bildete. Kapitel 3 setzt beim Zerbrechen des breiten Ganztagsschulkonsenses in der Bundesrepublik Anfang der 1970er-Jahre ein, als die Beratungen des Bildungsgesamtplanes den wachsenden ideologischen Dissens zwischen SPD und CDU-Vertretern offenbar37

Leonore Ansorg, Kinder im Klassenkampf. Die Geschichte der Pionierorganisation von 1948 bis Ende der fünfziger Jahre, Berlin 1997, S. 15f.; Heinz-Elmar Tenorth, Die Bildungsgeschichte der DDR – Teil der deutschen Bildungsgeschichte?, in: ders. (Hg.), Bildungsgeschichte einer Diktatur. Bildung und Erziehung in der SBZ und DDR im historischgesellschaftlichen Kontext, Weinheim 1997, S. 69–96, hier S. 83f.; Dorothee Wierling, Geboren im Jahr Eins. Der Jahrgang 1949 in der DDR. Versuch einer Kollektivbiographie, Berlin 2002, S. 107ff. 38 Konrad H. Jarausch, Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur. Zur begrifflichen Einordnung der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 20/1998, S. 33–46; Ralph Jessen, Zwischen Bildungsökonomie und zivilgesellschaftlicher Mobilisierung. Die doppelte deutsche Bildungsdebatte der sechziger Jahre, in: Heinz-Gerhard Haupt/Jörg Requate (Hg.), Aufbruch in die Zukunft – die 1960er Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel. DDR, CSSR und Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Weilerswist 2004, S. 209–231.

Einleitung

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ten und die Ganztagsschule in der öffentlichen Thematisierung gänzlich hinter den Querelen um die Gesamtschule zu verschwinden drohte. Durch Verknüpfung der schulischen Zeitpolitik mit Arbeitsmarkt- und Familienpolitik wird ein gegenseitig funktionales Wirkungsverhältnis aufgezeigt, das zur politischen Marginalisierung der Ganztagsschule spätestens Mitte der 1970er-Jahre beitrug. Im zweiten Teil werden anhand von drei lokalen Fallstudien die komplexen historischen Konstellationen beleuchtet, die – im Einzelfall und gegen die nationale Halbtagsschultradition – für die Entstehung von Ganztagsschulen förderlich waren. Auf der Mikroebene von Schule und Kommune werden die bildungspolitischen Rahmenbedingungen des jeweiligen Bundeslandes, sozial- und wirtschaftsräumliche Strukturen und die Interessen und Strategien der lokalen Akteure wie Schulräte, Eltern, Schulleitungen, Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen, aber auch von politischen Entscheidungsträgern analysiert, die in ihrem Zusammenwirken ein historisches »Gelegenheitsfenster« für die Gründung von Ganztagsschulen bildeten. Die Einbettung in einen lokalen Kontext ermöglicht es, exemplarisch die Kräfte der Veränderung und Beharrung und die zugrunde liegenden Handlungsmuster und Mechanismen empirisch besonders dicht zu erfassen und dabei das historisch geformte Geflecht von intendierten Politiken, ideologisierten Diskursen und den konkreten Praktiken vor Ort transparent zu machen. Bei den Fallbeispielen handelt es sich um das Ganztagsgymnasium Osterburken in Baden-Württemberg, die WalterGropius-Gesamtschule in West-Berlin und die Gesamtschule Hegelsberg in Kassel in Hessen. Die Schulen unterscheiden sich nach Faktoren wie Schultyp, Sozialraum, Entstehungskontext, christdemokratische oder sozialdemokratische Landes- bzw. Stadtregierung. Damit können die äußeren Einflussfaktoren und Kontexte miteinander verglichen werden. Gleichzeitig stellen die Schulen in sich geschlossene Fallgeschichten dar mit eigenen Bedingungskonstellationen und Entwicklungslogiken. Für alle drei Beispiele wird gefragt, in welchem Ausmaß schulexterne Akteure in Bildungspolitik und Schulverwaltung und schulintern Handelnde wie Schulleitungen bzw. Lehrerinnen und Lehrer zu den treibenden Kräften bei der Einführung der Ganztagsschule gehörten. Das Schlusskapitel fasst die Ergebnisse zusammen und ordnet diese in einen breiteren Fragehorizont hinsichtlich der historischen »Gelingensbedingungen« für schulische Veränderungsprozesse ein.

I. Ganztagsschule zwischen Bildungspolitik und Gesellschaft 1. Aufbrüche: Bildung, Erziehung und die Zeitstruktur von Schule 1956–1959/60 Die Bundesrepublik hatte nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Wiederaufbauprogramm des Marshallplans ein westlich-liberales Ordnungsmodell von Wirtschaft und Gesellschaft übernommen, das auf der Verbindung von Marktwirtschaft und parlamentarischer Demokratie beruhte. In ihrem Bildungssystem hatte sie hingegen an traditionelle Diskurse und Strukturen angeknüpft. Bei dieser Kontinuität setzten die frühen kritischen Stimmen an, die in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre begannen, ganztägige Schulformen zu fordern. Das folgende Kapitel geht den päda­ gogischen und bildungspolitischen Diskursen nach, die die Einrichtung der ersten Ganztagsschulen begleiteten. Das Ringen darüber, wie der schulische Alltag für Kinder zeitlich zu strukturieren sei, berührte nicht allein schulpädagogische Anliegen. Vielmehr wurde dabei auch der beschleunigte Wandel gesellschaftlicher Strukturen und sozialkultureller Normen verhandelt, der in der Bundesrepublik seit den 1950er-Jahren eingesetzt hatte. Unter dem Druck der dynamischen Wirtschaftsund Arbeitsmarktentwicklung begannen ehemals hegemoniale konservative Denkmuster in den Bereichen Schule und Familie brüchig zu werden zugunsten von vorsichtig formulierten Neuansätzen. Im Folgenden geht es zunächst um die rechtlich-strukturellen Rahmenbedingungen und institutionellen Akteure, die das im westdeutschen Bildungswesen vorherrschende Zeitmuster der Halbtagsschule konstituierten. In einem zweiten Schritt richtet sich der Blick auf die frühen Tagesheimschulen, deren soziale Zielgruppen und pädagogischen Akteure, und fokussiert dabei insbesondere die Schwierigkeit, angesichts des beschleunigten Wandels in Gesellschaft und Arbeitswelt den »Bedarf« an schulischer Tagesbetreuung zu ermitteln. Drittens wird anhand der vielgestaltigen Debatte um Tagesheim-/Ganztagsschulen und gesamtgesellschaftliche Arbeitszeitverkürzung aufgezeigt, wie sich verschiedene gesellschaftliche Interessengruppen mit großer öffentlicher Resonanz über wünschenswerte Ordnungsszenarien für die Bereiche von Schule, Familie und Arbeit verständigten.

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Aufbrüche: 1956–1959/60

1.1. Ausgangslage: Schule, Familie und Kinder in den 1950er-Jahren Nach dem Ausnahmezustand der Kriegs- und Nachkriegsjahre war die junge Bundesrepublik seit ihrer Gründung bestrebt, gesellschaftliche Ordnungssysteme wie Schule und Familie rasch wieder zu »normalisieren«. Im Bereich Bildung waren bereits vor 1949 die tradierten Formen des Weimarer Schulwesens re-installiert worden. In der Frage, ob die Schule jenseits ihres Bildungsauftrages eine erweiterte soziale Funktion übernehmen sollte, bestand lediglich in den unmittelbaren Nach­ kriegsjahren Einigkeit: So drängten die Alliierten bei Kriegsende in den vier Besatzungszonen darauf, die Schulen rasch wiederzueröffnen, um die Kinder von der Straße zu holen. Unter dem Eindruck der umfassenden Not schien es nur folgerichtig, dass die Schule angesichts »der überfüllten Wohnungen, des Mangels an Spielplätzen und Spielzeug, Ernährungsschwierigkeiten, nervösen Spannungen in der Familie, kurzen Schulstunden und anderen Einschränkungen« über den Unterricht hinaus umfassendere Erziehungsfunktionen einschließlich »Schulspeisung und Ruhezeiten« wahrnehmen sollte.1 Not und Zerstörung machten einen regulären Schulbetrieb in der »Zusammenbruchsgesellschaft« (Christoph Kleßmann) zunächst nicht möglich. Das Fehlen von Räumen, Lern- und Lehrmaterial, aber auch der durch die Entnazifizierung verschärfte Lehrermangel führte zu Schichtunterricht bis in die Abendstunden und enorm hohen Klassenfrequenzen.2 Die Knappheit von Lehrkräften und Räumen gehörte bis in die 1960er-Jahre zum Problembestand, mit dem Schulpolitiker vor Ort konfrontiert waren.3 Anders als die Sowjetunion hatten die westlichen Besatzungsmächte nach 1945 in ihren Zonen auf radikale Eingriffe in das Schulwesen verzichtet, nachdem ihre Umgestaltungspläne bei westdeutschen Landespolitikern und in der Bevölkerung auf erbitterten Widerstand gestoßen waren.4 Die amerikanische ReeducationPolitik zielte auf eine umfassende Strukturreform, bei der das vertikale, die Klassen1

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Das Zitat ist dem bekannten »Zook-Report« entnommen: Im September 1946 bereiste eine amerikanische Expertenkommission unter dem Vorsitzenden George F. Zook im Auftrag der US-Regierung die amerikanische Zone, um die Situation des Schulwesens zu analysieren und Schritte für eine Schulreform mit dem Ziel einer »kulturellen Gemeinschaft aller Bürger« zu entwickeln: Amerikanische Erziehungskommission. Der gegenwärtige Stand der Erziehung in Deutschland, München 1946, zitiert nach: Ludwig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2, S. 359. Oskar Anweiler, Bildungspolitik, in: Udo Wengst/Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung/Bundesarchiv (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 2/1 1945–1949 Die Zeit der Besatzungszonen, Baden-Baden 2001, S. S. 699–732, hier S. 706. Vgl. als Beispiel Fallstudie 3 in Teil II über die Schule Hegelsberg in Kassel. Vgl. hierzu die umfangreichen Literaturhinweise bei Anweiler, Bildungspolitik, S. 699ff. und Geißler, Schulgeschichte in Deutschland, S. 704ff.

Ausgangslage

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unterschiede begünstigende deutsche Schulsystem durch ein horizontales Modell mit einer 6-jährigen Grundschule und einer darauf aufbauenden Oberschule für die Klassen 7–12 abgelöst werden sollte. Die für die Oberschule favorisierte comprehensive school nach anglo-amerikanischem Muster setzte auf soziale Integration durch ein ganztägiges Schulkonzept.5 Ursprünglich beabsichtigten die westlichen Alliierten, insbesondere die Amerikaner, das deutsche Schulwesen tiefgreifend zu demokratisieren. Sie griffen dabei vor allem auf Ideen des amerikanischen Pädagogen John Dewey zurück, der die sozialerzieherische und integrative Funktion von Schule hervorhob.6 Auch unter deutschen Reformpädagogen, die zum Teil aus der Emigration zurückgekehrt waren, kursierten unterschiedlich konkretisierte Entwürfe für eine ganztägige Schulerziehung, die auf den Heimcharakter von Schule als »Lebens- und Erziehungsstätte« abhoben. Diese etwa von Herman Nohl, Minna Specht und Kurt Hahn vertretenen Konzepte wurden im Sinne eines pädagogischen Aufgabenkatalogs zur »sittlichen Erneuerung« der Deutschen formuliert, ohne damit jedoch eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen.7 Schulpolitische Kontinuitäten Wenn nach 1945 »die Chance einer qualitativen Neuordnung des Bildungssystems im Westen versäumt«8 wurde und jegliche schulischen Umstrukturierungspläne innerhalb kurzer Zeit jenseits realistischer Handlungsoptionen lagen, war dies vor allem dem manifesten Widerstand christdemokratischer Kultusminister und konservativbürgerlicher Interessenkoalitionen geschuldet. Darüber hinaus schloss sich mit der sich seit 1947 zuspitzenden Ost-West-Konfrontation das enge historische Zeit­ fenster, innerhalb dessen reformerisch gesinnten Kräften strukturelle Veränderungen überhaupt möglich erschienen waren. In der Rückschau der Bildungsreformer der 1960er-Jahre schien das Verdikt der »Restauration« die bildungspolitische Kontinuität der Nachkriegszeit zutreffend zu beschreiben. Auch wenn der Restaurationsbegriff schulische Innovationen der 1950er-Jahre zur Legitimierung des eige5 6 7

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Vgl. die Ziele der Amerikanischen Militärregierung bei der Neuordnung der deutschen Erziehung, in: Pädagogische Welt 2 (1948), Nr. 9, S. 550–560. Lohmann, Das Problem der Ganztagsschule, S. 68; Ludwig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2, S. 37f. Genauer dazu Ludwig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2, S. 437–454; Lina MayerKulenkampff, Gedanken zur Schule heute, in: Karlheinz Klinger/Georg Rutz, Die Tagesheimschule. Grundlagen und Erfahrungen, Frankfurt/M. 1964, S. 19–22. Vgl. zum reformpädagogischen Kontext auch Kap. 1.2. Heinz-Elmar Tenorth, Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung, Weinheim/München, 3. Auflage 2000, S. 277; Ludwig von Friedeburg, Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch, Frankfurt/M. 1989.

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Aufbrüche: 1956–1959/60

nen Reformprogramms vollkommen ausblendete, so bleibt doch unstrittig, dass der Westen Deutschlands in seiner frühen Schulpolitik institutionell, rechtlich, zumeist auch personell – und ohne eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der NSVergangenheit – an die Weimarer Republik anschloss.9 Die Frage, wie das deutsche Schulwesen demokratisch umgestaltet werden könnte, die bereits die Agenda der Reichsschulkonferenz von 1920 bestimmt hatte, blieb auch drei Jahrzehnte später praktisch unbeantwortet. So wurde in der Kontinuität der Weimarer Republik die Schulstruktur mit Volksschule, Mittelschule und Gymnasium reaktiviert, welche bis in die Gegenwart zur Spezifik des bundesdeutschen Bildungssystems gehört. Eine weitere Besonderheit war neben der Dreigliedrigkeit die Dezentralisierung, welche die Entscheidungshoheit in Schulangelegenheiten gemäß dem im Grundgesetz festgeschriebenen Föderalismus den Bundesländern zuwies.10 Auch dadurch wurden – wie es das Beispiel der Ganztagsschule zeigt – Schulreformen erschwert. Um länderübergreifende Bildungsfragen abstimmen zu können, war 1949 die Kultusministerkonferenz (KMK) gegründet worden. Die KMK war maßgeblich an der Vorbereitung des »Düsseldorfer Abkommens« beteiligt, das im Februar 1955 als Staatsvertrag zwischen den Ministerpräsidenten der Länder »zur Vereinheitlichung auf dem Gebiete des Schulwesens« geschlossen wurde. Mit diesem Abkommen, das u.a. die Dauer des Schuljahres, Fremdsprachenfolge und die Anerkennung von Prüfungen regelte, wurde die nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte dreigliedrige Schulstruktur für die folgenden zehn Jahre fixiert.11 Die faktische Blockade von Schulstrukturreformen durch das »Düsseldorfer Abkommen« zog indes bereits in den 1950er-Jahren die Kritik von Bildungs­ experten auf sich. Vor allem unter den Mitgliedern im »Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen« regte sich Widerspruch gegen die Festschreibung der hierarchisch gegliederten Schulstruktur. Dieses Gremium aus parteilosen Pädagogen, Philosophen, Lehrern, aber auch Wissenschaftlern, Publizisten und Industriellen hatte die KMK gemeinsam mit dem Bundesministerium des Innern 1953 einberufen und beauftragt, Empfehlungen für die Reform des Bildungswesens zu erarbeiten. 1954 gab der Deutsche Ausschuss eine »Empfehlung zur Errichtung

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Oskar Anweiler, Bildungspolitik, in: Michael Ruck/Marcel Boldorf, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 4 1957–1966: Sozialpolitik im Zeichen des erreichten Wohlstandes, Baden-Baden 2007, S. 611–642, hier S. 613. Lutz R. Reuter, Administrative Grundlagen und Rahmenbedingungen, in: Christoph Führ/ Carl-Ludwig Furck (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. VI, 1945 bis zur Gegenwart, Erster Teilband: Bundesrepublik Deutschland, München 1998, S. 58–67, hier S. 58. Baumert/Cortina/Leschinsky, Grundlegende Entwicklungen und Strukturprobleme im allgemeinbildenden Schulwesen, S. 55.

Ausgangslage

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von Versuchsschulen« heraus.12 Diese Empfehlung bildete den Rahmen für die ersten Modellversuche zur Erprobung ganztägiger Schulformen, die ihrerseits jedoch aufgrund des engen Rahmens des erwähnten »Düsseldorfer Abkommens« nur innerhalb des dreigliedrigen Schulsystems durchgeführt werden konnten.13 Die strukturellen Kontinuitäten zusammen mit der konservativen Dominanz in den Kultusministerien ergaben zunächst kaum Spielraum für weitergehende Reformen. Die Mehrheit von westdeutschen Bildungspolitikern und Pädagogen propagierte anstelle von Strukturreformen eine »innere« Reform, mit der sich das westdeutsche Schulwesen auf einen christlichen Humanismus rückbesinnen sollte. Bis in die SPD hinein waren Überzeugungen verbreitet, wonach sich die bildungspolitische Neuorientierung im Westen Deutschlands nur auf die – vom Nationalsozialismus vermeintlich nicht kontaminierten – zeitlosen geistigen Werte stützen könne, welche Christentum, Humanismus und Antike bereitstellten. Diese, die Pädagogik und Erziehungswissenschaft dominierende, konservative und kulturkritische Grundströmung, die in sich wiederum äußerst heterogen war, setzte sich von drei weltanschaulichen »Gegenspielern« ab – vom Nationalsozialismus, vom Sozialismus des Ostblocks und von der westlichen »Moderne«. Alle drei hätten sich, so die Vorstellung, von überzeitlich gültigen Werten abgewandt und stünden für die Abkehr der modernen Welt von Religion und der vermeintlich naturgegebenen sozialen Hierarchie seit der Aufklärung.14 Insbesondere die CDU, die Kirchen und berufsständische Organisationen von Gymnasiallehrern wie der Philologenverband gehörten zu den starken Beharrungskräften gegenüber jeglicher Strukturreform. Nach ihrer Auffassung waren Elitenund Massenbildung unbedingt scharf voneinander abzugrenzen. Das Gymnasium hatte der Vermittlung von Bildung, Kultur und einer spezifischen Elitenerziehung zu dienen und fungierte für die Kinder bürgerlicher Familien immer auch als gesellschaftliches Platzierungsinstrument. Der Auftrag der Volksschule bestand in der Elementarbildung sowie der sozialen und christlichen Erziehung.15 Sozialdarwinis12

In seiner Arbeit bis 1965 hat dieser Ausschuss in Empfehlungen und Gutachten zur Gesamtheit der Bildungsfragen, zum öffentlichen Schulwesen, der vorschulischen Erziehung, der Lehrerbildung, aber auch der politischen Bildung und Erziehung oder zur Erwachsenenbildung Stellung genommen. Vgl. Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 289; Lud­wig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2, S. 463; Gass-Bolm, Gymnasium, S. 95; Führ, Deutsches Bildungswesen seit 1945, S. 65ff. 13 Vgl. Kap. 1.2. 14 Gass-Bolm, Gymnasium, S. 87. Ausführlich Axel Schildt, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999. 15 Hans-Georg Herrlitz u.a. (Hg.), Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart, Weinheim und München, 5. Aufl. 2009, S. 29ff., S. 63ff.; Geißler, Schulgeschichte in Deutschland, S. 715ff.

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Aufbrüche: 1956–1959/60

tische Begabungstheorien, die von der Natürlichkeit und Erblichkeit von Begabung ausgingen, lieferten in den 1950er-Jahren die entsprechende psychologische und soziologische Begründung, indem sie die Verteilung von Begabungen in der Bevölkerung analog in der dreigliedrigen Struktur des Schulwesens abgebildet sahen. Im vermeintlich sachlogischen Rückgriff auf das hierarchische Beschäftigungssystem richtete sich die Volksschule an die »praktisch Begabten« und die mittlere Schule an die »technisch Begabten«, während die höhere Schule den »wissenschaftlich Begabten« vorbehalten sein sollte.16 Institutionelle Versäulung von Bildung und Erziehung Die Reformbestrebungen einzelner Bildungspolitiker und Pädagogen, die westdeutsche Schule durch verstärkte Durchlässigkeit und Umstellung auf ganztägigen Betrieb »demokratischer« zu machen,17 sollten auf ein weiteres Hindernis stoßen. Öffentliche Bildung und Erziehung waren in Deutschland seit dem Kaiserreich zwei institutionell getrennte und in sich versäulte Bereiche. Während das öffentliche Schulwesen in staatlicher und kommunaler Trägerschaft stand, wurde die außerschulische Jugendbildung und -erziehung neben den Gemeinden insbesondere von den Kirchen und ihren Wohlfahrtsverbänden getragen.18 Diese im 19. Jahrhundert historisch gewachsene Trennung pädagogischer Handlungsfelder definierte die Volksschule als verpflichtende Einrichtung für die breite Masse der Bevölkerung, während die jugendfürsorgerischen Angebote wie die Horte hauptsächlich als »Schutzeinrichtungen für aufsichtslose, schulpflichtige Kinder« dienten.19 Die Abgrenzung zwischen Bildung und Erziehung war in der Weimarer Republik mit jeweils unterschiedlichen Gesetzgebungskompetenzen, Verwaltungen und Berufsgruppen institutionalisiert worden. Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 hatte neben der Einführung der allgemeinen Schulpflicht Bildung und Schulwesen als staatliche Aufgaben festgeschrieben und Erziehung als »oberste Pflicht« und »natürliches Recht« der Eltern definiert. Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922/1924, mit dem erstmals die Zusammenarbeit zwischen Staat und freier Wohlfahrtspflege geregelt worden war, fixierte das sogenannte Subsidiaritätsprinzip: Dieses der katholischen Soziallehre entstammende Prinzip sah vor, dass der Staat nur eingreifen solle, wenn Familie 16 17 18 19

Vgl. z.B. Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 280. Vgl. Kap. 1.2. Reuter, Administrative Grundlagen und Rahmenbedingungen, S. 58. Hans-Günther Homfeldt, Historische Aspekte zum Verhältnis von Jugendhilfe und Schule, in: Birger Hartnuß/Stephan Maykus (Hg.), Handbuch Kooperation von Jugendhilfe und Schule. Ein Leitfaden für Praxisreflexionen, theoretische Verortungen und Forschungsfragen, Berlin 2004, S. 41–68, hier S. 47. Vgl. auch Balluseck, Die Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern, S. 182–200.

Ausgangslage

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und gesellschaftliche Kräfte die Probleme nicht mehr bewältigen könnten. Dies bedeutete, dass die von Wohlfahrtsverbänden getragene professionelle Jugendpflege subsidiär erst dann tätig werden sollte, wenn Eltern in ihrer Erzieherrolle versagten.20 Mit der subsidiären Überantwortung von Wohlfahrtsaufgaben an freie Träger gelang es den beiden großen, konfessionell geprägten Wohlfahrtsverbänden Caritas und Diakonischem Werk, sich in der jungen Bundesrepublik – auch unter Hinweis auf ihre Verdrängung im Nationalsozialismus – eine starke Position zu sichern.21 Begünstigt wurde die Einflussnahme der Verbände durch die Konstellation der unmittelbaren Nachkriegszeit, als diese sich der materiellen Not, geistigen Verunsicherung und der vielfältigen familiären Probleme in der Zusammenbruchsgesellschaft annahmen und sich mit Unterstützung der Länderregierungen etablieren konnten. Die zwischen Staat und Verbänden eingeübte Aufgabenteilung wurde von der Bundesrepublik bei ihrer Gründung 1949 übernommen.22 Die Folge der geteilten Zuständigkeit für Bildung und Erziehung war, dass den häufig von kirchlichen Trägern betriebenen Schulhorten und Tagesheimen auch weiterhin eine ausschließlich sozialpolitische Funktion zugeschrieben wurde, d.h. sie waren nur für jene Kinder vorgesehen, deren Eltern erwerbstätig oder alleinerziehend waren bzw. als »erziehungsunfähig« eingestuft wurden.23 Auch die ersten Tagesheimschulen folgten mit ihrer sozialfürsorgerischen Begründung dieser institutionellen Logik.24 Ernährer-Familie und Elternrecht Die frühe westdeutsche Familienpolitik bekräftigte das subsidiäre Prinzip und unterstrich die Bedeutung der Familie für die Kindererziehung. Die Familie wurde als »Keimzelle der Gesellschaft« definiert und im Grundgesetz unter den besonderen Schutz des Staates gestellt.25 Nach den Brüchen der Diktatur-, Kriegs- und Nachkriegserfahrungen bestanden hohe Erwartungen an die Familie und deren vermeintliche gesamtgesellschaftliche Heilkraft. Für Kirchen und konservative Poli20

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Richard Münchemeier, Geschichte der Sozialen Arbeit, in: Heinz-Hermann Krüger u.a. (Hg.), Einführung in die Geschichte von Erziehungswissenschaft und Erziehungswirklichkeit, Opladen, 2. Aufl. 1999, S. 271–310, hier S. 286ff.; Jürgen Reyer, Einführung in die Geschichte des Kindergartens und der Grundschule, Bad Heilbrunn 2006; Diana Franke-Meyer, Kleinkindererziehung und Kindergarten im historischen Prozess: ihre Rolle im Spannungsfeld zwischen Bildungspolitik, Familie und Schule, Bad Heilbrunn 2011; Hagemann, Ganztagsschule als Politikum; Hagemann/Gottschall, Ganztagsschule in Deutschland. Balluseck, Die Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern; Kuller, Soziale Sicherung, S. 209. Kuller, Familienpolitik, S. 15f. Hagemann, Between Ideology and Economy; Hagemann, Die Ganztagsschule als Politikum. Vgl. Kap. 1.2. Ruhl, Verordnete Unterordnung.

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tiker, Pädagogen und Soziologen war die Familie wie kaum eine andere Institution in ihrem Kern unbeschadet aus dem Nationalsozialismus hervorgegangen. Daher sollten die allgemein vorherrschende geistige Desorientierung und moralische Krise durch eine »Refamilialisierung« von Politik und Gesellschaft überwunden werden.26 Innerhalb der Familie wurde das Erziehen und Betreuen von Kindern in erster Linie als mütterliche Pflicht definiert, und folglich bekamen Mütter die Hauptverantwortung für das Gelingen des postnationalsozialistischen Erziehungsprojekts übertragen. Das rhetorisch überhöhte Konzept Mutterschaft und die an der Norm der Ernährer-Hausfrau-Ehe ausgerichtete Sozial- und Familienpolitik stützten sich gegenseitig.27 Nach der kriegsbedingten Selbstständigkeit von Frauen arbeitete man in den 1950er-Jahren an einer geschlechterpolitischen »Normalisierung«, indem familienrechtliche und sozialstaatliche Regelungen die untergeordnete Stellung von Frauen als abhängige Ehefrauen und Mütter neu festigen sollten.28 Analog zu den Bestrebungen einer Rechristianisierung der Schule, die in der Wiedereinführung der von den Nationalsozialisten beseitigten »Bekenntnisschulen«, d.h. konfessionell gegliederten Volksschulen, in CDU-geführten Ländern gipfelten,29 propagierten die Kirchen ein christliches Familienleitbild. So verstand man die Familie im Rückgriff auf die katholische Soziallehre als eine vorstaatliche natürliche Institution mit einer gottgegebenen inneren Ordnung.30 Insbesondere die Katholische Kirche sprach sich unter Hinweis auf den starken Staatseinfluss auf die Fami26 Vgl. z.B. Moeller, Geschützte Mütter; Elizabeth Heineman, What Difference Does a Husband Make? Women and Marital Status in Nazi and Postwar Germany, Berkeley 1999; Lukas Rölli-Alkemper, Familie im Wiederaufbau: Katholizismus und bürgerliches Familienideal in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1965, Paderborn 2000, S. 34–49. 27 Moeller, Geschützte Mütter; Hausen, Frauenerwerbstätigkeit; Kolbe, Elternschaft im Wohlfahrtsstaat, S. 59. 28 Moeller, Unbenannt und allgegenwärtig; Hanna Schissler, Normalization as Project. Some Thoughts on Gender Relations in West Germany during the 1950s, in: dies. (Hg.), The Miracle Years. A Cultural History of West Germany, 1949–1968, Princeton 2001, S. 359– 375, hier S. 72f. 29 Allerdings erfolgte mit Flüchtlingen und Vertriebenen eine konfessionelle Durchmischung der Gesellschaft, die eine konfessionelle Gliederung des Volksschulwesens auf Dauer unpraktikabel machte. Tatsächlich sind in den 1960er-Jahren die konfessionellen Grund- und Hauptschulen relativ unbeachtet von der öffentlichen Diskussion mit Zustimmung der Kirchen fast gänzlich verschwunden. Christoph Führ, Zur deutschen Bildungsgeschichte seit 1945, in: ders. (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. VI, 1945 bis zur Gegenwart, Erster Teilband: Bundesrepublik Deutschland, München 1998, S. 1–25; Oskar Anweiler, Bildungspolitik, in: Udo Wengst (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 2/1 1945–1949: Die Zeit der Besatzungszonen, Baden-Baden 2001, S. 699–732. 30 Kuller, Familienpolitik, S. 16; Rölli-Alkemper, Familie im Wiederaufbau, S. 71ff.

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lie während der NS-Zeit gegen jegliche staatliche Einmischung in Familienbelange und für ein starkes elterliches Erziehungsrecht aus. Gerade der erbitterte Kampf für die Wiedererrichtung der Bekenntnisschule wurde mit dem Argument des »Elternrechts« geführt. In diesem Zusammenhang wurde auf das Grundgesetz, Art. 6 Abs. 2 GG, verwiesen, wonach die Pflege und Erziehung der Kinder das »natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht« seien. Jeder Versuch – etwa durch Ganztagsschulen oder durch weltanschaulich neutrale Schulen –, »das schulpflichtige Kind […] zwangsweise den Eltern zu entziehen«, wurde als verfassungswidrig betrachtet.31 Konfessionelle Erziehungsauffassungen gerieten in den späten 1950er-Jahren mit dem ungeheuer raschen Wirtschaftswachstum immer stärker unter den Druck der Arbeitsmarkt- und Konsumentwicklung, welche aus Sicht vieler Zeitgenossen das hochgehaltene Erziehungsrecht der Eltern zu unterminieren drohte.32 So kon­ statierte die katholische Zeitschrift »Pädagogische Welt« 1957 sorgenvoll: »Die Eltern zeigen sich heute in erschreckender Leichtigkeit bereit, sich in ihrer Sorge und Erziehungspflicht gegenüber ihren Kindern durch dritte Personen oder außerfamiliäre Institutionen vertreten zu lassen. Ernst seien deshalb die Eltern an die ihnen verbleibende Erstverantwortlichkeit für die Erziehung ihrer Kinder erinnert.«33 Aus katholischer Sicht gefährdete diese Entwicklung vor allem die enge Verbindung zwischen Elternrecht und religiösem Bekenntnis, die als nicht mehr gewährleistet galt, wenn durch eine Ausweitung der öffentlichen Erziehung immer mehr Kinder in Schulhorten und Kindergärten betreut würden. Einig war man sich darin, dass, wenn sich außerhäusliche Kinderbetreuung schon nicht abwenden ließe, katholische Eltern »ihre Kinder nur solchen Einrichtungen und Persönlichkeiten anvertrauen [dürften], die eine katholische Erziehung ihrer Kinder gewährleisten«. Denn gemäß dem umfassenden katholischen Erziehungsanspruch verstand man konfessionell geführte Häuser nicht als »bloße Kinderverwahranstalt, sondern [als] eine Hege-, Pflege- und Pflanzstätte für Geist und Seele des Kindes«.34 Wenn das gesellschaftspolitische Programm der 1950er-Jahre die Familie als den Ort, an dem Erziehung hauptsächlich stattfinden sollte, wiederbelebte, ging damit eine klare Absage an alle Formen öffentlicher Erziehung einher.35 Um zu beweisen, wohin öffentliche Kindererziehungseinrichtungen führten, war die DDR im antikommunistischen Grundkonsens der Zeit eine häufig abgerufene Drohkulisse. 31

Willi Geiger, Eltern und Schule, in: Katholische Frauenbildung. Organ des Vereins katholischer deutscher Lehrerinnen 62 (1961), Nr. 2, S. 81–94, hier S. 89. 32 Vgl. Kap. 1.3. 33 Außerschulische Erziehung im Geist der Kirche, in: Pädagogische Welt 11 (1957), Nr. 7, S. 376f. 34 Ebd. 35 Vgl. Hausen, Frauenerwerbstätigkeit; Hagemann, Ganztagsschule als Politikum.

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Dort sah man die Ausweitung der staatlichen Erziehung Mitte der 1950er-Jahre vor allem durch ein Ziel motiviert: »Die Kinder durch eine stete, ganztägige Erziehung zu freiwilligen kommunistischen Sklaven kommunistischer Herrschaft zu machen, die das Instrument ihrer Unfreiheit, den totalitären Staat, ›bis zum Äußersten‹ ver­ teidigen.«36 Eine antimodernistische konservative Grundhaltung war nicht zuletzt in Gelehrten- und Pädagogenkreisen weit verbreitet.37 Aus deren Sicht galt es, die Familie zu stabilisieren, damit sie nicht zum »Einfallstor« für Einflüsse der Wirtschaft und der westlichen Moderne würde.38 Der mit der Arbeitsmarktentwicklung verbundene Ausbau ganztägiger Betreuungsangebote, etwa auch durch Tagesheimschulen, drohte in ihren Augen die gesellschaftserhaltende Vitalfunktion und Substanz der Familie zu zerstören. So malte der Regensburger Philosophieprofessor Jakob Hommes 1956 in einem Vortrag über »Kommunistische Ideologie und christliche Philosophie« an der Universität Frankfurt/M. das apokalyptische Szenario in zeittypischem Duktus wie folgt aus: Die Familie darf nicht [durch die Einführung von Tagesheimschulen, M.M.] […] der Entwicklung der Produktionsverhältnisse geopfert werden, es müssen vielmehr die Kräfte, die sich aus der väterlichen und mütterlichen Verantwortung stahlen, zu den tragenden Grundlagen auch des Staates gemacht werden. Wenn wir diese Kräfte weiter verkommen lassen und ihre fortschreitende Entmachtung dulden, dann gehen wir unaufhaltsam dem Abgrund entgegen.39

Dramatisierende Abwehrsemantiken wie diese suggerierten eine starke Expansion der öffentlichen Kinderbetreuung. Zwar suchten einige Großstädte und Regionen bereits früher als andere nach pragmatischen Betreuungslösungen für Schulkinder. Insgesamt jedoch blieb, wie im Folgenden genauer ausgeführt wird, die entsprechende Infrastruktur jahrzehntelang äußerst defizitär.

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Staatlich organisierte »außerschulische Erziehung«, in: Pädagogische Welt 9 (1955), Nr. 10, S. 555f. Allgemein dazu Bollenbeck, »Bildung« und »Kultur«; vgl. auch Jessen, Zwischen Bildungsökonomie und zivilgesellschaftlicher Mobilisierung. Rölli-Alkemper, Familie im Wiederaufbau; Ruhl, Unterordnung. Ludwig Hermann, Tagesheimschule und Fünftagewoche, in: Westermanns Pädagogische Beiträge. Eine Zeitschrift für die Volksschule 11 (1959), Nr. 4, S. 185.

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1.2. Die ersten Tagesheimschulen: Akteure, Adressaten und die Problematik des »Bedarfs« In der Sendereihe »Aus der Schule geplaudert« des Senders Freies Berlin (SFB) berichtete Friedrich Weigelt, Regierungsdirektor beim West-Berliner Senator für Volksbildung, Anfang 1957 über eine pädagogische Innovation. An einer Grundschule in Berlin-Mariendorf sollte der Schultag für das 3. bis 6. Schuljahr nicht mehr um die Mittagszeit enden, sondern ein ganztägiges Programm umfassen aus Blockunterricht am Vormittag, Mittagsbetreuung mit gemeinsamem Mittagessen und einer Nachmittagsbetreuung, die Weigelt wie folgt beschrieb: Als Überleitung zum Nachmittag gibt es eine Auslaufspielpause. Der Nachmittag wird ausgefüllt durch die verbindliche ruhige Beschäftigung mit den Schularbeiten oder einem persönlichen Studium; im Anschluß daran lösen die sich aus den Klassenverbänden gebildeten Arbeitsgemeinschaften in Beschäftigungs- und Spielgruppen auf. Da darf jeder seinem Hobby nachgehen, sein Steckenpferd reiten, singen, spielen, zeichnen, Blumen und Tiere betreuen, bei der Gartenarbeit helfen u.a.m. Diese Tätigkeit muß möglichst sinnvoll mit der Gemeinschaft verknüpft sein.40

Es handle sich bei dieser sogenannten Tagesheimschule, so Weigelt, um »eine normale Schule, die, getragen vom Idealismus der Lehrerschaft, die Probe machen will, ob man Kindern die Familie ersetzen und den Nachmittag mit einer häuslichen Atmosphäre gestalten kann«.41 Bei diesen schulreformerischen Planungen in WestBerlin handelte es sich um keinen Einzelfall.42 Seit Mitte der 1950er-Jahre lief meist in bundesdeutschen Großstädten eine größere Zahl von Schulversuchen mit Ganztagsbetrieb, die zunächst vornehmlich in Bundesländern mit sozialdemokratisch geführten Kultusministerien initiiert wurden. Vorreiter war Hessen, wo im April 1955 in Kassel das Herder-Gymnasium, im Mai 1956 die Frankfurter Volksschule am Bornheimer Hang und im Herbst 1957 ebenfalls in Kassel eine Realschule ein40

Friedrich Weigelt, Ganztagsschule, in: Pädagogische Blätter. Zeitschrift für Erziehung und musische Bildung 8 (1957), Nr. 3, S. 71–73, hier S. 72. Auch in den anderen frühen Fünftageschulen wurde der Schultag neu strukturiert. So plante etwa die Carl-Schomburg-Schule in Kassel den Tagesablauf wie folgt: Blockunterricht 8–12.30 Uhr, Mittagsbetreuung (einschließlich Mittagessen) 12.30–14.30 Uhr, Nachmittagsbetreuung 14.30–16.00 Uhr. Vgl. Wilhelm Werner, Die Fünftagewoche in der Schule – ein Kasseler Schulversuch, in: Der evangelische Erzieher 10 (1958), Nr. 7, S. 182–185. 41 Weigelt, Ganztagsschule, S. 72. 42 Der Schulversuch der Mariendorfer Schule fand ein lebhaftes Echo in der Fachpresse. Vgl. Carl-Heinz Evers, Die Tagesheimschule, in: Berliner Lehrer-Zeitung 13 (1959), Nr. 15/16, S. 333–336; Renate Kruschel, Ein Nein zur Tempelhofer Tagesheimschule, in: Die Berliner Schule 5 (1958), Nr. 6, S. 6f.

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gerichtet wurden.43 Auch Hamburg, wo ebenfalls Tagesheimschulen geplant und teilweise bereits eröffnet waren, erwies sich als Schrittmacher für Reformen in der Schulzeitpolitik.44 Eine zeitgenössische Bestandsaufnahme der Tagesheimschulen in der Bundesrepublik zählte für das Jahr 1962 drei Gymnasien, eine Realschule, vier Volksschulen sowie fünf Sonderschulen. Das Gros dieser Schulen war durch ihren Standort bzw. ihr Einzugsgebiet auf eine besondere Klientel von Schulkindern ausgerichtet, wie Kinder aus Arbeiterfamilien und von alleinstehenden Müttern und Kriegswitwen.45 Es ist davon auszugehen, dass es darüber hinaus weitere, zum Teil kurzlebige Initiativen gab, um mit einer neuen Zeiteinteilung in der Schule zu experimentieren und ein nachmittägliches Betreuungsangebot bereitzustellen. Die Initiatoren dieser frühen Tagesheimschulen beriefen sich dabei in der Regel auf die Empfehlung zur »Errichtung von Versuchsschulen« des Deutschen Ausschusses für das Erziehungsund Bildungswesen vom 2. Juli 1954.46 Zum wirksamsten Auslöser dieser frühen Tagesschulinitiativen sollte die im Frühjahr 1956 einsetzende Arbeitszeitdebatte werden, bei der die Einführung der Fünftagewoche auch im Schulwesen gefordert wurde.47 Pädagogische Netzwerke Treibende Kraft für die Propagierung und Realisierung von ganztägigen Schulen, in denen »sich unsere Kinder und Jugendlichen heimisch fühlen«,48 wurde eine Gruppierung aus reformpädagogisch orientierten, häufig in der SPD organisierten Schulräten, Pädagogen und Lehrern, die sich im Februar 1955 mit der Gründung der Gemeinnützigen Gesellschaft Tagesheimschule (GGT) in Frankfurt/M. institutio43

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Vgl. Emil Henn, Die Tagesheimschule in Frankfurt, in: Hessische Lehrerzeitung 14 (1961), Nr. 4, S. 55–57; Horst Glänzel, Schule mit offenen Türen, in: Hessische Lehrerzeitung 15 (1962), Nr. 21, S. 321–325; Karlheinz Klinger/Georg Rutz (Hg.), Die Tagesheimschule. Grundlagen und Erfahrungen, Frankfurt/M. 1964, Vorwort, S. 4. Das Herder-Gymnasium wurde als sogenannte offene Schule gegründet mit Nachmittagsangebot auf freiwilliger Grundlage. Vgl. zur Definition Kap. 1.3. Vgl. die Auflistung bei Christoph Führ, Schulversuche 1965/66, Teil I: Gesamtdarstellung, Weinheim 1967, S. 91. Neben Kassel, Frankfurt, Berlin und Hamburg werden in der Bestandsaufnahme Tagesheimschulen in Ahlhorn/Oldenburg, München sowie Hofheim erwähnt. Von den fünf gezählten Sonderschulen befanden sich alle in Hamburg. Vgl. Klinger/Rutz, Die Tagesheimschule, Anhang, S. 131. Vgl. Ludwig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2, S. 463. Vgl. Kap. 1.3. Herbert Schürmann, Die Tagesschule im Brennpunkt pädagogischer Auseinandersetzungen, in: Theorie und Praxis der Ganztagsschule, hg. von der Gemeinnützigen Gesellschaft Tagesheimschule, Frankfurt/M. u.a. 1958, S. 24–45, hier S. 26.

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nalisierte. Dieses Netzwerk aus pädagogisch Gleichgesinnten hatte sich bereits im November 1954 in der Zweigstelle Kassel des Hessischen Lehrerfortbildungswerks zu einer ersten Tagung getroffen, um sich über das Themenfeld Tagesheimschule zu verständigen. Auf der Tagesordnung standen überwiegend Referate über reformpädagogische Konzepte und deren teilweise Realisierung in den 1920/30er-Jahren in Deutschland.49 Ohne genauer auf die einzelnen Strömungen der Reformpädagogik und deren Vorläuferfunktion für die Ganztagsschulentwicklung einzugehen,50 sei an dieser Stelle auf die extreme Heterogenität dieser Bewegung hingewiesen, unter deren Dach völkisches Denken, konservative Kulturkritik, Überhöhung von Natur und Volkskultur ebenso firmierten wie die sozialliberale Idee einer Aufhebung der Klassenschranken und ein sozialpädagogisches Denken »vom Kinde aus«.51 Für die in den 1950er-Jahren kursierenden Pläne einer Tagesheimschule lagen die Ganztagsschulkonzepte der Sozialpädagogin Lina Mayer-Kulenkampff (1886–1971) und des Erziehungswissenschaftlers und Begründers einer geisteswissenschaftlichen Pädagogik Herman Nohl (1879–1960) zugrunde, die ihrerseits in der Tradition der Landerziehungsheimbewegung standen.52 Als Alternative zur traditionellen Unterrichtsschule entwickelte diese reformpädagogische Richtung das Ideal der Schule als einer »jugendgemäßen Lebensstätte und Lebensschule«.53 Das Schullandheim wurde dabei als Modell einer zukünftigen Reformschule betrachtet, zu deren Kernelementen eine enge Lehrer-Schüler-Beziehung, Gemeinschaft und Naturerlebnis

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Ludwig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2, S. 363f., weist auch auf ein Referat über die ganztägige Schule in England hin. Hierzu detailliert Ludwig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2, S. 364ff., 415ff. Jürgen Oelkers, Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte, Weinheim/München, 4. Aufl. 2005; Dietrich Benner/Herwart Kemper, Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, 3 Bde., Weinheim/Basel 2003; Winfried Böhm, Die Reformpädagogik. Montessori, Waldorf und andere Lehren, München 2012. Vgl. zu den seit den 1990er-Jahren diskutierten Fällen von sexuellem Missbrauch an schulischen Leuchttürmen der Reformpädagogik wie der Odenwaldschule: Jürgen Oelkers, Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik, Basel 2011. Lina Mayer-Kulenkampff hatte in der Weimarer Republik verschiedene Frauenschulen und Wohlfahrtsschulen geleitet. Sie wurde 1934 in den Ruhestand versetzt, weil sie sich geweigert hatte, den Diensteid auf Adolf Hitler zu leisten. 1948 wurde sie zur Direktorin des Pestalozzi-Fröbel-Hauses in Berlin berufen. Herman Nohl, Professor in Jena und Göttingen, war Hauptvertreter der auf Wilhelm Dilthey zurückgehenden geisteswissenschaftlichen Pädagogik. 1937 wurde er von der Universität Göttingen entlassen, 1949 erhielt er nach Ende von Krieg und NS-Diktatur erneut einen Ruf nach Göttingen. Vgl. Eva Matthes, Geisteswissenschaftliche Pädagogik nach der NS-Zeit. Politische und pädagogische Verarbeitungsversuche, Bad Heilbrunn 1998, S. 68ff. Hans Linde, Die Tagesschule, Heidelberg 1963, S. 14.

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gehörten. In die Entwürfe der ersten Tagesheimschulen floss insbesondere der Aspekt des »Schullebens« jenseits der schulischen Wissensvermittlung ein.54 Auch lassen sich Bezüge zu anderen pädagogischen Strömungen erkennen wie der Kunsterziehungsbewegung, der Arbeitsschulbewegung und der didaktischmethodischen Bewegung.55 Erziehungswissenschaftler wie Joachim Lohmann und Harald Ludwig haben zudem auf die ideellen Einflüsse westlicher Vorbilder seit Anfang des 20. Jahrhunderts hingewiesen, die sie am Beispiel der Schulspeisung, dem amerikanischen Playground Movement sowie dem Social Center Movement erläutern.56 Nach 1945 aus Großbritannien zurückgekehrte Emigranten, die die im Zweiten Weltkrieg gegründete englisch-deutsche Organisation »German Educational Reconstruction« (GER) mitgetragen hatten, ergänzten die pädagogische Debatte durch Erfahrungsberichte über das englische Schulwesen. Auf diese Weise gelangte durch pädagogische Tagungen der GER auch das britische Konzept von Ganztagsschule nach Deutschland. Demgegenüber beschränkten sich in den Kreisen des ehemaligen deutschen Widerstandes die Überlegungen für einen schulischen Neuanfang eher vage auf die geistige Ebene und die Wiederbelebung von den während des Nationalsozialismus bekämpften humanistischen Werten der Antike oder des Christentums.57 Bei den Gründungsmitgliedern der Gemeinnützigen »Gesellschaft Tagesheimschule« (GGT) handelte es sich hauptsächlich um die Pädagogengeneration der um die Jahrhundertwende oder früher Geborenen, darunter ehemalige Angehörige der Jugendbewegung bzw. Pädagogen aus dem Kreis der Landerziehungsheime.58 Ein Teil von ihnen, wie etwa die Pädagogin Minna Specht (1879–1961) und die spätere Marburger Pädagogikprofessorin Elisabeth Blochmann (1892–1972), hatte im Exil die Ganztagsschule angloamerikanischen Typs kennengelernt. Viele Verbandsmitglieder verfügten als Schulräte, Ministerialreferenten und Lehrer aller Schultypen über institutionelle Anbindungen, die sie zu einflussreichen Multiplikatoren der Ganztagsschulidee machen sollten. Zu ihrer Öffentlichkeits- und Netzwerkarbeit gehörten Vorträge und Publikationen zum Thema ganztägige Schulerziehung. Auch lancierten sie Vorstöße bei Schulverwaltungen und Politikern, um ganztägige Schulversuche anzuschieben, und berieten Schulträger in praktischen Fragen. Zu den Aktivitäten der Gesellschaft kamen auch organisierte Reisen in »Ganztagsschul54 55 56 57 58

Ludwig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2. Detailliert dazu Rutz, Die Tagesheimschule – Voraussetzung zur Schulreform?, in: Die Tagesheimschule. Wege und Möglichkeiten, Dortmund 1964, S. 21–46. Lohmann, Das Problem der Ganztagsschule; Ludwig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2. 1958 löste sich die GER auf. Ludwig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2, S. 356. Ludwig spricht von rund 30 Personen: »Lehrer aller Schularten, Schulverwaltungsbeamte«, eine Elternvertreterin, die Journalistin Brigitte Beer sowie die Universitätsprofessorin Elisabeth Blochmann, vgl. Ludwig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2, S. 464f.

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länder« wie Schweden, England und die USA oder auch nach Österreich hinzu, wo die Ganztagsschule weiter entwickelt war als in der Bundesrepublik. 1956 warb die GGT bei Herman Nohl dafür, eine Heftnummer der von ihm herausgegebenen renommierten erziehungswissenschaftlichen Zeitschrift »Die Sammlung« dem Thema Tagesheimschule zu widmen. Für einen Heftbeitrag konnten neben bekannten Pädagogen wie Kurt Hahn, Minna Specht und Lina Mayer-Kulenkampff auch der linkskatholische Publizist Walter Dirks gewonnen werden, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits als Bildungsexperte und Mitglied des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen einen Namen gemacht hatte.59 Ab 1961 gab der Verband vierteljährlich die Zeitschrift »Tagesheimschule« heraus, um die Verbands­ tätigkeit bekannt zu machen und den fachlichen Austausch anzuregen.60 Das Netzwerk der GGT bildete ein breites Dach für sehr unterschiedliche Anhänger und Konzeptionen von ganztägiger Schule, das von Vertretern der Kommunalpolitik wie dem Dortmunder SPD-Stadtrat und Schuldezernenten Herbert Frommberger (1910–1986) bis hin zu Reformpädagogen wie Hermann Klitscher (1900–1990) reichte, der 1952 den Plan einer »Gesamtschule mit Tagesheim« zusammen mit der Pädagogischen Gesellschaft Kassel erarbeitet hatte und Schulleiter der reformorientierten koedukativen Herder-Schule wurde. Während einige der Protagonisten wie Theo Gläss (1890–1982), Frankfurter Stadtrat und erster Verbandsvorsitzender der GGT, und Friedrich Minssen (1909–1988), Pädagoge und Referent im Hessischen Kultusministerium, die Tagesheimschule in erster Linie als soziale Hilfe verstanden, favorisierten andere wie der Erziehungswissenschaftler und kurzzeitige Hamburger Schulsenator Hans Wenke (1903–1971) und der Bremer Oberschulrat Wilhelm Berger (1901–1974),61 einer der führenden Köpfe der Schullandheimbewegung in der Weimarer Republik, die Ganztagsschule als moderne Schule für alle Kinder.62 Es wäre in einer eigenen Studie genauer auszuloten, in welchem Verhältnis bei den genannten Personen das reformpädagogische Engagement um die Ganztagsschule zu kollektivbiografischen und generationellen Prägungen stand.63 Wenn es dem Verband gelang, in den Folgejahren und -jahrzehnten das Thema Ganztagsschule durch Öffentlichkeitsarbeit, Publikationen, Kooperationen und 59

Vgl. Die Sammlung 11 (1956), Nr. 4/5. Die Heftbeiträge wurden auch abgedruckt in: Klinger/Rutz, Die Tagesheimschule. 60 Seit 1977 erscheint die Zeitschrift unter dem Namen »Die Ganztagsschule«. 61 Berger war sowohl von dem heute umstrittenen Jenaer Pädagogen Peter Petersen als auch von der amerikanischen Reformpädagogik beeinflusst. Ludwig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2. 62 Vgl. zu Ganztagsschulkonzepten Kap. 1.3. 63 Vgl. allgemein dazu Jürgen Reulecke/Elisabeth Müller-Luckner (Hg.), Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003.

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praktische Beratungstätigkeit mehr oder weniger kontinuierlich wach zu halten, so lag dies zum einen an der personellen und institutionellen Vernetzung seiner Mitglieder, zum anderen aber auch daran, dass man es vortrefflich verstand, die eigenen pädagogischen Anliegen an die jeweiligen bildungspolitischen Diskurse publizistisch anzuschließen. Die Adressaten: erwerbstätige Mütter und ihre Kinder Die frühen Tagesheimschulen richteten sich an Kinder, in deren Familie eine besondere soziale Belastung diagnostiziert wurde. Diese lag im Verständnis zeitgenössischer Beobachter insbesondere dann vor, wenn, abgesehen von unzureichenden Räumlichkeiten, die Mütter alleinstehend, verwitwet oder geschieden oder wenn beide Elternteile erwerbstätig waren. Die Entwicklung der Frauen- und Müttererwerbstätigkeit gehörte damit zu den Strukturbedingungen, die die frühen Auseinandersetzungen um die zeitliche Gestaltung des Schultages entscheidend bestimmten. Waren 1950 7,2 Millionen Frauen statistisch als erwerbstätig erfasst, waren es 1960 bereits 9,7 Millionen. Die Erwerbsquoten lediger, alleinerziehender, verwitweter und geschiedener Frauen blieben in den 1950er-Jahren unverändert hoch, gleichzeitig nahmen immer mehr junge Ehefrauen der Mittelschicht vor dem ersten Kind eine Erwerbsarbeit auf.64 In den 1960er-Jahren wurden mit der Durchsetzung der Teilzeitarbeit zunehmend auch verheiratete Mütter erwerbstätig.65 Zwischen 1950 und 1970 stieg die Erwerbsquote bei erwerbstätigen Müttern mit Kindern unter 15 Jahren in Westdeutschland von 23 auf 34 Prozent.66 Frauenerwerbstätigkeit war durch den Wandel der Arbeitsplätze in der Gesellschaft zunehmend sichtbarer geworden: Frauen arbeiteten immer weniger als mithelfende Familienangehörige in der Landwirtschaft oder im eigenen Handwerksbetrieb und immer zahlreicher auf außerhäuslichen Arbeitsplätzen des regulären Arbeitsmarktes – in der Industrie, in Handel und Dienstleistung.67 64 Friederike Maier, Zwischen Arbeitsmarkt und Familie. Frauenarbeit in den alten Bundesländern, in: Gisela Helwig/Hildegard Maria Nickel, Frauen in Deutschland 1945–1942, Bonn 1993, S. 257–279, hier S. 258. 65 Dazu Oertzen, Teilzeitarbeit. Vgl. auch Kap. 2.2. 66 Vgl. den Tabellenanhang bei Rosemarie Nave-Herz (Hg.), Wandel und Kontinuität der Familie in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1988, S. 299. Genauer Hermann Schubnell, Die Erwerbstätigkeit von Frauen und Müttern und die Betreuung ihrer Kinder, in: Wirtschaft und Statistik (1964), Nr. 8, S. 444–456; Die Erwerbstätigkeit der Mütter und die Betreuung ihrer Kinder, in: Wirtschaft und Statistik (1971), Nr. 15, S. 86–88. 67 Zum Wandel vgl. Angelika Willms-Herget, Frauenarbeit. Zur Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt, Frankfurt/M. 1985, Walter Müller/Angelika Willms-Herget/Johann Handl (Hg.), Strukturwandel der Frauenarbeit 1880–1980, Frankfurt/M., New York 1983. Allerdings sind die offiziellen Erwerbsstatistiken für die Frauenerwerbstätigkeit nur bedingt

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Kaum ein zeitgenössischer Bericht über Kinderbetreuungseinrichtungen verzichtete darauf, auf die »negativen erzieherischen Auswirkungen [hinzuweisen], die eine Erwerbstätigkeit der Mütter« nach sich ziehe.68 In der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft bestand bis in die 1960er-Jahre ein öffentlicher Konsens darüber, dass Ehe, Mutterschaft und Kindererziehung und nicht eine Berufskarriere den weiblichen Lebensplan strukturieren und Frauen deshalb lediglich übergangsweise in den Jahren vor der Eheschließung erwerbstätig sein sollten. Eine Berufsausbildung wurde mit Blick auf die demografisch-sozialen Kriegsfolgen zwar auch für Frauen befürwortet, aber nur als Risikoabsicherung für den Fall der Nichtverheiratung, der Scheidung oder Verwitwung erachtet. Auch wenn die familienpolitischen Diskurse und Politiken der frühen Bundesrepublik normativ wie strukturell in starkem Maße vom Ernährer-Hausfrau/Zuverdienerin-Modell durchdrungen waren, bedeutete dies nicht, dass sich alle Frauen ein modellkonformes Verhalten leisten konnten. Die große Zahl der Kriegswitwen und Geschiedenen bzw. kriegsbedingt Ledigen hatte für den eigenen Unterhalt zu sorgen ebenso wie in Arbeiterfamilien die Erwerbsarbeit von Ehefrauen und Müttern an der Tagesordnung war.69 Alle zeitgenössischen Versuche, den »Bedarf« an Kinderbetreuungsplätzen zu ermitteln, orientierten sich explizit oder implizit am Ernährer-Modell. Die frühen Tagesheimschulen waren an Kinder aus sogenannten unvollständigen oder erziehungsbehinderten Familien adressiert, in denen das männliche Ernährereinkommen nicht ausreichte oder der »Ernährer« ganz fehlte. Dabei glaubte man klar unterscheiden zu können zwischen Müttern, die einen legitimen Bedarf an einem Betreuungsplatz hatten, weil ihre Erwerbstätigkeit familienökonomisch notwendig war, und solchen Müttern, deren Erwerbstätigkeit als moralisch fragwürdig galt, weil sie durch gestiegene Konsumwünsche motiviert war.70 Hier wie bei Schulhorten und Ganztagskindergärten setzte sich in der Nachkriegszeit eine Traditionslinie fort, wonach öffentlicher Kinderbetreuung eine ausschließlich sozialpolitische Funktion zukam. Indem auch die Tagesheimschulen auf Kinder sozialer Randgruppen wie z.B. alleinerziehende Kriegswitwen zielten, schrieben sie diesen sozialpolitischen Begründungszusammenhang fort. Dies zeigt aussagekräftig, geben sie doch keinen genauen Aufschluss über das tatsächliche Erwerbsverhalten von Frauen, das häufig von statistisch nicht erfassten Nebentätigkeiten bestimmt war. 68 Werner Heise, Erwerbstätigkeit der Mütter als Problem eines Schuleinzugsgebietes am Stadtrand, in: Theorie und Praxis der Ganztagsschule, Band II, hg. von der Gemeinnützigen Gesellschaft Tagesheimschule, Frankfurt/M. u.a. 1962, S. 77–87, hier S. 81. 69 Vgl. genauer Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft; Moeller, Geschützte Mütter; Anna Schnädelbach, Kriegerwitwen. Lebensbewältigung zwischen Arbeit und Familie in Westdeutschland nach 1945, Frankfurt/M. 2009; aus zeitgenössischem Blickwinkel: Elisabeth Pfeil, Die Berufstätigkeit von Müttern. Eine empirisch-soziologische Erhebung, Tübingen 1961. 70 Vgl. genauer Kap. 1.3.

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sich etwa bei einer im Mai 1957 in Offenbach durchgeführten Befragung, mit der sich die Kommune eine »Arbeitsunterlage« für ihre Planungen einer Tagesheimschule schaffen wollte. […] bei fast 10.000 befragten Schulkindern [stellte man] fest: 1.000 haben keinen Vater mehr, 140 keine Mutter, 270 wachsen bei den Großeltern auf. Jede 3. Mutter ist berufstätig. 350 müssen sich ihr Frühstück allein zubereiten, 450 das Mittagessen, 150 bekommen kein warmes Mittagessen, 850 sind Schlüsselkinder, 400 Kinder werden nachmittags von einem Jugendhort betreut, 3.000 Kinder machen ihre Schularbeiten in der Küche, weil sie kein eigenes Zimmer haben. 875 teilen ihr Bett mit einem anderen, 637 teilen es sogar mit einem Erwachsenen.71

Darüber, wie Kinder in den 1950er-Jahren in öffentlichen Einrichtungen oder privaten Arrangements betreut wurden, liegen kaum verlässliche Quellen vor. Es ist davon auszugehen, dass die Infrastruktur an öffentlicher Kinderbetreuung zweifellos äußerst dürftig war und zudem große regionale Unterschiede erkennen ließ. Die meisten Einrichtungen unterstanden freien Trägern, wobei es sich zumeist um kirchliche Betreuungsstätten handelte. Geleitet von dem Kalkül, durch praktische Unterlassung mütterliche Erwerbsarbeit eindämmen zu können, waren sich die Kirchen mit dem ersten Familienminister Franz-Josef Wuermeling einig darin, das Angebot an Kindergärten und Horten möglichst knapp zu halten.72 Die meisten erwerbstätigen Mütter griffen daher auf privat organisierte Lösungen zurück, indem sie ihre Kinder durch Verwandte, in erster Linie die eigene Mutter oder Schwiegermutter, betreuen ließen. Mangels verlässlicher Daten über die Betreuungssituation gerade von Schulkindern73 konnten sich Horrorszenarien über Heerscharen unbetreuter »Schlüsselkinder« umso leichter verbreiten.74 So geisterte jahrelang die manipulative Zahl von drei Millionen »Schlüsselkindern« durch die westdeutsche Presse, mit der 71 72 73

74

Hessisches Elternblatt, Nr. 64, Mai 1957, zitiert nach: Herbert Schürmann, Die Tagesschule im Brennpunkt pädagogischer Auseinandersetzungen, in: GGT (Hg.), Theorie und Praxis der Ganztagsschule, Frankfurt/M. u.a. 1958, S. 24–45, hier S. 27. Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, S. 256–263. Nach dem von Merith Niehuss angeführten Daten des Mikrozensus von 1962 wurden 90 Prozent der Kleinkinder unter zwei Jahren ganztags von Verwandten oder Bekannten betreut, fünf Prozent besuchten Kinderkrippen. Von den Zwei- bis Sechsjährigen wurden 63 Prozent von verwandten Personen betreut, 26 Prozent besuchten einen ganztägigen Kindergarten. Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, S. 258f. Der Tag eines Schlüsselkindes, in: Pädagogische Welt 11 (1957), Nr. 7, S. 385; Christiane Urhammer, Diesen Kindern hilft nur die Mutter. Ärzte, Kriminalisten, Pädagogen warnen immer lauter, in: Elternblatt 15 (1965), Nr. 8, S. 174f.; Was ist mit den »Schlüsselkindern«?, in: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung 13 (1961), Nr. 3, S. 36; Christa Kleinert, »Ich war ein Schlüsselkind«, in: Elternblatt 15 (1964), Nr. 4, S. 78.

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Kirchen, Kinderärzte, Familienverbände und Sozialwissenschaftler mit Unterstützung des Familienministeriums in den 1950er-Jahren gegen die Erwerbstätigkeit von Müttern öffentlich mobil machten.75 Obschon ihre Berechnungsgrundlage bereits aus zeitgenössischer Sicht nicht mehr nachvollziehbar war, wurde die Zahl erst 1964 von der offiziellen Statistik als nicht stichhaltig zurückgewiesen.76 Die Soziologin Elisabeth Pfeil errechnete in ihrer vielzitierten Studie über die Berufstätigkeit von Müttern, dass von 100 Kindern über zehn Jahren 30 Kinder den »berüchtigten, um den Hals gehängten Schlüssel« trugen. Von diesen blieben vier Kinder bis zu zwei Stunden ohne elterliche oder anderweitige Betreuung, elf Kinder blieben über zwei Stunden und 16 Kinder über vier Stunden auf sich allein gestellt. In der Gruppe der ungelernten Arbeiterinnen lag der Anteil der für längere Zeit unbetreuten Kinder höher als in den gebildeten Schichten.77 Die wohl differenzierteste zeitgenössische Analyse der Betreuungssituation von Schulkindern hat der Soziologe Hans Linde für Dortmund durchgeführt. Linde war zum Zeitpunkt der Erhebung Abteilungsleiter an der Sozialforschungsstelle der Universität Münster in Dortmund.78 1959 hatte er vom Dortmunder SPD-Stadtrat und GGT-Mitglied Herbert Frommberger den Forschungsauftrag erhalten, den Betreuungsbedarf in solchen Schulbezirken des Dortmunder Stadtgebietes zu ermitteln, in denen die Stadt Schulneubauten plante. Ziel seiner Erhebung, die den Stand Februar/März 1960 wiedergibt, war es, einen als »Erziehungsnotstand« moralisierend diskutierten, pädagogischen und sozialen Tatbestand in eine soziologische Problemstellung zu überführen. Linde wollte sich daher der »beeinträchtigte(n) Erziehungsfähigkeit der Familie« ohne ideologische Bewertung nähern. Hierzu gehörte es, sich ein realistisches Bild über die Verbreitung des »pädagogisch beun­ ruhigenden Zeitphänomens« mütterlicher Erwerbstätigkeit zu verschaffen und den Anteil der »häuslich unzureichend beaufsichtigten und besorgten Volksschüler« zu ermitteln.79 Die Basis für eine erste Vorerhebung bildeten drei Dortmunder Schulbezirke mit drei katholischen, zwei evangelischen und vier simultanen Volksschulen. In 75 Vgl. allgemein Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, S. 258f.; vgl. auch Uta C. Schmidt, »Das Problem heißt: Schlüsselkind«. »Die Schlüsselkinderzählung« als geschlechterpolitische Inszenierung im Kalten Krieg, in: Thomas Lindenberger (Hg.), Massenmedien im Kalten Krieg: Akteure, Bilder, Resonanzen, Köln 2006, S. 171–202. 76 Hermann Schubnell, Die Erwerbstätigkeit von Frauen und Müttern und die Betreuung ihrer Kinder, in: Wirtschaft und Statistik (1964), Nr. 8, S. 444–456. 77 Pfeil, Die Berufstätigkeit von Müttern, S. 340. 78 Christoph Weischer, Das Unternehmen »Empirische Sozialforschung«: Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland, München 2004, S. 63f. 79 Linde, Tagesschule, S. 3; Lindenberger, Massenmedien im Kalten Krieg, S. 171–202.

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einem weiteren Schritt sollten zusätzlich zehn Dortmunder Volksschulbezirke (mit sechs katholischen, drei evangelischen und sieben simultanen Volksschulen) hinzugezogen und dabei auch elterliche Einstellungen zur Tagesheim- bzw. Ganztagsschule ermittelt werden. Insgesamt wurden Daten für die häuslichen Verhältnisse von 3081 Schülerinnen und Schülern erhoben, deren Familien zu etwa drei Viertel der »handarbeitenden Arbeitnehmerschaft« angehörten. Rund ein Zehntel lebte in »nicht vollständigen Familien«.80 Zur großen Verwunderung des Forschers blieb die Zahl der »Schlüsselkinder« (definiert als Kind, »welches nach Schulschluß in der elterlichen Wohnung keinen Erwachsenen antrifft«) mit 1,8 Prozent »über alle Erwartungen« gering; ähnlich niedrig lagen die Zahlen, die für »Verwahr­ kinder« (»bei Verwandten oder Bekannten untergebracht«) mit 2,9 Prozent und für Hortkinder (»in einer Tagesstätte«) ermittelt wurden. Auffallend gering erschien Linde auch der Anteil von »unbesorgten« und »fremdbesorgten« Kindern im 4. Schuljahr, d.h. in derjenigen »Ausleseklasse«, in der die Entscheidung über den Weg in eine weiterführende Schule anstand. Offenbar, so mutmaßte Linde, stellten deren Mütter ihre Erwerbstätigkeit vorübergehend ein.81 Wenn nicht alle Schulkinder, sondern nur solche mit einer erwerbstätigen Mutter die Bezugsgruppe bildeten, wurden 9,5 Prozent »Schlüsselkinder«, 3,8 Prozent »Hortkinder« und 7,1 Prozent »Verwahrkinder« gezählt. Bei knapp der Hälfte der Kinder erfolgte die »häusliche Versorgung« einschließlich der Bereitstellung einer warmen Mahlzeit durch die erwerbstätigen Mütter selbst. Daraus war zu schließen, dass die Mütter entweder einer Halbtagsbeschäftigung nachgingen oder als mithelfende Geschäftsfrauen im Haus erwerbstätig waren. Bei einem knappen Viertel der Kinder wurde die Versorgung »durch andere Erwachsene«, zumeist der Großmutter, übernommen.82 Unterschiede zwischen den Schularten, d.h. zwischen katholischen bzw. evangelischen Bekenntnisschulen und Gemeinschaftsschulen, ließen sich nicht ausmachen.83 An genauere Informationen zur mütterlichen Erwerbsarbeit gelangten Linde und seine Mitarbeiter über die Klassenlehrer sowie über eine schriftliche Eltern­ befragung. Von insgesamt 2317 vorliegenden Elternantworten bejahten 341 die Frage, ob die Mutter einer Erwerbsarbeit nachgehe, und spezifizierten nach Ganztags- oder Halbtagsarbeit bzw. Putzstelle. 1476 der Befragten verneinten dies. Auffallend war, dass die Frage nach mütterlicher Berufstätigkeit bei rund 500 Frage­ bogen, d.h. 21,5 Prozent, ganz unbeantwortet blieb. Dies verweist darauf, dass bei den Befragten offensichtlich große Unsicherheit bestand, ob sie angesichts des 80 81 82 83

Ebd., S. 22f. Ebd., S. 25. Vgl. die Tabelle bei Linde, Tagesschule, S. 28f. Ebd., S. 30.

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negativen gesellschaftlichen Meinungsklimas gegenüber Müttererwerbstätigkeit und »Schlüsselkindern« die Frage wahrheitsgemäß beantworten sollten.84 Für Hans Linde widersprachen seine Befunde denn auch den »zeitkritischen Pauschalurteilen«, wonach eine »erwerbstätige Mutter von schulpflichtigen Kindern (und nicht schulpflichtigen) Kindern ohne Rücksicht auf ihre familiären Pflichten und die Besorgung ihrer Kinder ihre Berufstätigkeit fortsetzt oder neu aufnimmt«. Er sah die Mütter vielmehr in »verantwortungsbewußter und liebevoller Umsicht« handeln, da sie »ihre aus welchen Gründen auch immer erstrebte Verdienstmöglichkeit in Übereinstimmung mit ihren familialen Funktionen auswählen bzw. ihre Verdienstmöglichkeiten unter diesen Rücksichten selbst begrenzen«.85 1.3. Ganztagsschule, Fünftagewoche und »Moderne« – eine Debatte Das Thema Tagesheimschule erhielt seine entscheidende mediale Schubkraft im letzten Drittel der 1950er-Jahre im Zuge einer breiten Debatte über die Frage, wie sich die mit der Fünftagewoche in der Arbeitswelt anstehende verkürzte Wochenarbeitszeit auf die Gesellschaft auswirken würde. Diese Debatte – angestoßen vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) mit seinem berühmt gewordenen Plakat vom 1. Mai 1956, auf dem der abgebildete Junge unter dem Motto »Samstags gehört Vati mir« für seinen Vater eine arbeitsrechtliche Forderung vertrat – hatte seit Mitte der 1950er-Jahre insbesondere in Lehrergewerkschaften und Elternverbänden die Frage aufgeworfen, ob und wie die Fünftagewoche auch im Schulwesen eingeführt werden könnte.86 Eine Möglichkeit, den schulischen Lernstoff in fünf Tagen zu bewältigen, sah man in der Verlängerung des Schultages in den Nachmittag hinein und einer stärkeren Integration sozialerzieherischer Aufgaben in die Institution Schule. Wie der unterrichtsfreie Samstag in den einzelnen Schultypen des dreigliedrigen Systems verwirklicht werden konnte, beschäftigte Tagespresse und Fachöffentlichkeit gleichermaßen. Die lebhaften Auseinandersetzungen um die Übertragung der Fünftagewoche auf die Schule sorgten dafür, dass die frühen ganztägigen Schulversuche in diesen Jahren auf große öffentliche Resonanz stießen. Die weltanschauliche Unversöhnlichkeit in der Debatte rührte vor allem daher, dass sie als ideologisierter Schlagabtausch zu einem Zeitpunkt geführt wurde, als in 84 85 86

Ebd., S. 31f. Ebd., S. 38f. Vgl. Aufruf zum 1. Mai 1956, in: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung 8 (1956), Nr. 9, S. 166. Bereits zum 1. Mai 1955 formulierte der DGB die Forderung nach der Fünftagewoche unter dem Motto »Fünf Tage sind genug«. Vgl. Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung 7 (1955), Nr. 9, S. 166; Fünftagewoche – auch für die Schule?, in: ebd., S. 169.

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der Bundesrepublik der rasante Wandel der lebensweltlichen Bezüge greifbar geworden war. Nach der »Modernisierung im Wiederaufbau« beschleunigte sich durch Innovationen in Wissenschaft und Technik, dem damit verbundenen wirtschaftlichen Strukturwandel, durch Vollbeschäftigung und die bis dahin nie da gewesenen Konsummöglichkeiten seit etwa Mitte der 1950er-Jahre ein Veränderungsprozess, der auch das Bildungssystem mit großer Wucht erfasste.87 Der Modernisierungsschub traf eine Gesellschaft, hinter der nach nationalsozialistischer Diktatur und Krieg erschütternde Umbrüche lagen und die nun im Kalten Krieg eine neue Bedrohung sah.88 In der Debatte um Tagesheimschulen und Fünftagewoche sollten, wie im Folgenden genauer ausgeführt wird, kulturpessimistisch-konservative Positionen in einer Kulturkritik kulminieren, die ihren idealistischen Humanismusbegriff zwar für die zeitgenössischen Herausforderungen durch Technik und Naturwissenschaft öffnen mochte, an ihrem Familienbild dafür umso leidenschaftlicher festhielt. Erste Sondierungen: Schule, Eltern und Fünftagewoche Der Deutsche Städtetag gehörte zu den ersten Institutionen, die sich mit der schulischen Fünftagewoche eingehender befassten, denn eine Verkürzung der wöchentlichen Schulzeit hätte die städtischen Kommunen als Schulträger unmittelbar betroffen. Der Schulausschuss des Städtetages vermied eine eindeutige Pro- oder Contra-Position, sondern sah in der Fünftagewoche eine unausweichliche Entwicklung. In jedem Fall sei die Schule dadurch zu einer eigenen Reform gezwungen, konnten doch die »Maßstäbe der Wirtschaft und Verwaltung nicht für die Schule gelten. Man kann sie nicht ›rationalisieren‹ und in verkürzter Arbeitszeit mit verringertem Personalaufwand das gleiche ›Produkt‹ wie bisher hervorbringen.«89 Mit den Auseinandersetzungen um die Arbeitszeitverkürzung stand fraglos mehr als eine bloß zeitliche Umstellung des Schultages an. Innerhalb kürzester Zeit wurde die bereits in der Weimarer Republik diskutierte Frage organisatorischer Schulreformen neu aufgeworfen wie die Einführung eines 9. und 10. Volksschuljahres oder kleinere Klassengrößen.90 Hier zeichneten sich bereits Reformpositionen ab, die die Debatte um Arbeitszeitverkürzung mit der frühen Bildungsreformdebatte verbanden.91 87

Allgemein dazu Axel Schildt/Arnold Sywottek, Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993. 88 Axel Schildt/Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009; Herbert, Liberalisierung, S. 38f.; Schildt/Sywotteck, Modernisierung im Wiederaufbau, S. 21–24. 89 Rüdiger Robert Beer, Fünf-Tage-Woche in der Schule?, in: Der Städtetag 1957, Nr. 5, S. 189– 191; Auf dem Wege des Schulversuches, in: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung 9 (1957), Nr. 9, S. 163. 90 Ludwig Beigler, Fünftagewoche auch im Schulwesen?, Köln 1962, S. 44. 91 Vgl. dazu Kap. 2.1.

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Die Kultusministerkonferenz zögerte angesichts der gesellschaftspolitischen Tragweite der mit der Fünftagewoche verbundenen Entwicklungen ebenfalls mit einer raschen Stellungnahme. Sie bekannte sich lediglich zu dem Standpunkt, dass »sich die Fünftagewoche in der Schule auf die Dauer nicht umgehen lasse, wenn Wirtschaft, Industrie und Verwaltungen zu der verkürzten Arbeitswoche übergegangen sind«.92 Intern war unter den Kultusministern zum Thema Arbeitszeitverkürzung ein weites Meinungsspektrum vertreten. Das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus warnte unter Verweis auf die kommunistische Jugendpolitik der DDR davor, den »schulfrei werdenden Samstag zu einer Art Staatsjugendtag zu machen«; wenn die Fünftagewoche unausweichlich sei, solle statt einer Verlängerung des Schultages eine Reform zur Reduzierung des Lernstoffs durchgeführt werden.93 Demgegenüber bekannten sich sozialdemokratische Kultusminister zum schulfreien Samstag, wie der hessische Minister für Erziehung und Volksbildung Arno Hennig, der in seinem euphorischen Plädoyer zeittypische sozial-, gesundheits- und kulturpolitische Argumente unter Anrufung des alten sozialdemokratischen Bildungsideals in Anschlag brachte: Frühreife nervöse Kinder, die wachsende Zahl der Schlüsselkinder in allen Schulgattungen, die Überschätzung des Stoffprinzips und die damit verbundene Überbürdung des Gedächtnisses und des häuslichen Fleißes, erschreckend hohe Erkrankungsziffern der Lehrkräfte rufen nach einem verlängerten Wochenende der Ruhe und Erholung genau so wie für den Arbeiter. Von dieser fruchtbaren Pause sind am ehesten ein vertieftes Familienleben, eine wirkliche Sonntagsheiligung, Erwanderung der Heimat, das Erlebnis der Kunstwerke und edler Lektüre zu erwarten.94

Schulbehörden, die Lehrerverbände der einzelnen Schultypen, Kirchen und Mediziner vertraten zum schulfreien Samstag eine große Bandbreite an Positionen, die im Zusammenhang mit der Tagesheimschule im Folgenden genauer beleuchtet werden sollen. Weitgehend stimmte man in der Einschätzung überein, dass sich die Schule zwar einerseits auf einschneidende Veränderungen durch die gesamtgesellschaftliche Arbeitszeitverkürzung vorbereiten müsste, andererseits aber der raschen Einführung der schulischen Fünftagewoche weiterhin ernstzunehmende Hindernisse entgegenständen wie fehlende Finanzmittel und der eklatante Lehrer- und Raummangel.95

92 93 94 95

Beigler, Fünftagewoche auch im Schulwesen?, Abschnitt Stellungnahmen, S. 43–63, hier S. 53. Ebd., S. 52f. Arno Hennig wird zitiert bei Beigler, Fünftagewoche auch im Schulwesen?, S. 53. Der »Spiegel« hatte ausgerechnet, dass angesichts eines Fehlbedarfs von 7000 Lehrern und 22.000 Klassenräumen die vom Deutschen Ausschuss propagierte Einführung der neunten Klasse und die Senkung der Klassenstärken auf 35 Schüler in der Volksschule erschwert würden, da sie den Lehrerbedarf zusätzlich verdreifachten und den Raumbedarf verdoppelten.

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Der nach wie vor praktizierte Schichtunterricht war für viele augenfälliges Signum dafür, dass die Nachkriegszeit im Schulwesen noch nicht zu Ende war.96 Einzelne Kultusminister und Schulstadträte größerer Städte ließen den Bedarf an Fünftageschulen entsprechend der wöchentlichen Arbeitszeit berufstätiger Eltern erheben.97 Damit einher gingen Meinungsumfragen, um ein elterliches Stimmungsbild gegenüber einer Reduzierung der wöchentlichen Schulzeit zu ermitteln.98 Deren Ergebnisse gaben für das bildungspolitische Entscheidungshandeln kaum eine eindeutige Richtung vor. Insbesondere bürgerliche Elternvertreter an Gymnasien standen der Fünftagewoche reserviert gegenüber.99 So ergab etwa eine schriftliche Befragung der Elternbeiräte der Höheren Schulen in Bayern Anfang 1958, dass die überwiegende Mehrheit den freien Samstag ablehnte mit dem Argument, die »Kontinuität des schulischen Lebens« und die Konzentrationsfähigkeit der Schüler würden durch ein verlängertes Wochenende gestört, was Folgen für die Leistungsbereitschaft des Kindes in seiner weiteren Laufbahn haben würde: »Wird die Jugend schon in der Schule an ein fünftägiges Arbeitsleben gewöhnt, so besteht Gefahr, dass sie später Berufe meidet, deren Arbeitsleistung sich nicht schematisch auf fünf Tage beschränken kann.«100

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97 98 99 100

Die Abiturientenzucht, in: Spiegel, 6.5.1959, S. 28. Vgl. auch Beigler, Fünftagewoche auch im Schulwesen?, S. 53f. Raumnot, Schichtunterricht und vor allem wenig gegliederte Volksschulen mit lediglich zwei oder drei Klassen existierten teilweise bis in die 1960er-Jahre hinein, wobei die Schulformen der verschiedenen Schulstufen oft zur gleichen Zeit völlig unterschiedlichen quantitativen Bedingungen im »noch lange Zeit nachwirkenden turbulenten Wechselspiels kurzfristig ebenso rasch steigender wie wieder sinkender Schülerzahlen« unterlagen. Während sich etwa ab Mitte der fünfziger Jahre die Situation in den Eingangsklassen der Volksschule mit nur leicht ansteigender Schülerzahl wieder stabilisiert zu haben schien, halbierte sich kurz darauf innerhalb von nur fünf Jahren die Zahl der auf die gymnasiale Oberstufe und die Berufsschulen zukommenden Jugendlichen. Vgl. Peter Drewek, Die Entwicklung des Bildungssystems in den Westzonen und in der Bundesrepublik von 1945/49 bis 1990. Strukturelle Kontinuität und Reformen, Bildungsexpansion und Systemprobleme, in: Detlef K. Müller (Hg.), Pädagogik, Erziehungswissenschaft, Bildung. Eine Einführung in das Studium, Köln 1994, S. 235–259, hier S. 244. Peter Ledig, Kinder, Opfer der Hochkonjunktur, in: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung 9 (1957), Nr. 5, S. 88f. Artikel auch abgedruckt in: Welt der Arbeit , 10.8.1956. Herbert Frommberger, Tagesheimschule hat Zukunft, in: Neue Deutsche Schule 13 (1961), Nr. 3, S. 53f. Brigitte Pross, Was sagen die Eltern zur Tagesheimschule? in: Die Sammlung. Zeitschrift für Kultur und Erziehung 11 (1956), Nr. 4, S. 182–185. Landeselternvereinigung der höheren Schulen in Bayern an den Staatsminister für Unterricht und Kultur Theodor Maunz vom 13.2.1958, in: Beigler, Fünftagewoche auch im Schulwesen?, S. 154–156, hier S. 155.

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In einer anderen, 1958 in Stuttgart durchgeführten Umfrage stimmten Eltern dem schulfreien Samstag zu unter der Voraussetzung, dass »die ausfallenden Stunden nicht irgendwie nachgeholt werden müssen, daß das 9. Schuljahr [dessen Einführung bundesweit geplant war, M.M.] eingeführt wird und daß Tagesheimschulen eingeführt werden«. Lediglich ein Teil der Eltern begrüßte es, mit ihren Kindern den Samstag gemeinsam zu verbringen. Für das Gros schien die Aussicht auf eine verlängerte »Freizeit« im Familienkreis indes noch ungewohnt. An einer Duisburger Schule sprachen sich von 400 befragten Eltern 58,8 Prozent für die Beibehaltung des Samstagsunterrichts aus. 42 Prozent der befragten Väter gingen hier noch regelmäßig am Samstag zur Arbeit.101 In einer Umfrage des Allensbacher Instituts votierte 1960 die Mehrheit (51 Prozent) der Bundesbürger gegen die »Fünftageschule«. Insbesondere von Müttern wurde laut »Süddeutscher Zeitung« der freie Samstag abgelehnt: »Fast alle Mütter sind Hausfrauen, denen am Samstag Hausputz, Wochenendeinkäufe und Vorbereitungen um die Ohren fliegen, und die froh sind, wenn ihre lieben Kinder sie nicht noch zusätzlich beschäftigen.«102 Bereits in der zeitgenössischen Publizistik wurde die Seriosität solcher Meinungsumfragen als höchst fragwürdig beurteilt und deren Aussagekraft angesichts hochsuggestiver Befragungsmethoden grundsätzlich angezweifelt. So bemängelte der Pädagoge und Schulexperte Ludwig Beigler, dass bei den vielen Umfragen vor allem solche Eltern befragt worden seien, die keinerlei eigene Erfahrung mit der Fünftagewoche hätten, sondern von dieser nur indirekt über den ideologisch in den Medien ausgetragenen Meinungskampf gehört hätten.103 Überall dort, wo Schulverwaltungen, engagierte Lehrer und Eltern bereits lokale Schulversuche initiiert hatten, um die Auswirkungen der Fünftagewoche auf den Schulunterricht zu prüfen, fiel das elterliche Votum zugunsten des schulfreien langen Wochenendes und zugunsten der Ganztägigkeit solcher Schulen aus.104 An einer der ersten Fünftagesschulen, der Carl-Schomburg-Schule in Kassel, hatten 1957 von allen Eltern der 480 Schüler bereits 147 einen arbeitsfreien Samstag. Die elterliche Nachfrage nach einem Schulplatz an dieser Schule war weit höher als das Angebot bzw. die vorhandenen Raumkapazitäten.105 Soziologische Studien registrierten einen starken Zuspruch von Eltern gegenüber einem Schulprogramm, das über die übliche Wissensvermittlung am Vormittag hinausging. So erhob der oben erwähnte Soziologe Hans Linde die elterlichen Einstellungen gegenüber der »Ta101 Walter Twellmann, Der unterrichtsfreie Samstag aus der Sicht der Eltern, in: Neue Deutsche Schule 13 (1961), Nr. 11, S. 187f. 102 Die Bildung und die Bequemlichkeit, in: Süddeutsche Zeitung, 11.5.1963. 103 Beigler, Fünftagewoche auch im Schulwesen?, S. 24ff. 104 Vgl. die Beispiele im zweiten Teil. 105 Wilhelm Werner, Die Fünftagewoche in der Schule – ein Kasseler Schulversuch, in: Der evangelische Erzieher 10 (1958), Nr. 7, S. 182ff.

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gesschule« auf der Basis von rund 50 Einzelgesprächen mit Eltern, deren Kinder bereits die Tagesheimschulen in Frankfurt und Hamburg-Altona besuchten. Die befragten Eltern, die zum weit überwiegenden Teil unteren Einkommensgruppen angehörten bzw. als alleinerziehende Mütter sozial marginalisiert waren, sahen in der Tagesheimschule in erster Linie eine Entlastung, die ihren Kindern eine warme Mittagsmahlzeit, Nachmittagsaufsicht sowie die Kontrolle der Hausaufgaben bot. Da der Bewertungsmaßstab für eine gute Schule in der Regel die schulische Leistung des Kindes war, verwundert es nicht, dass Tagesheimschulen mit ihrer intensiveren Betreuung hier besser abschnitten. Viele Eltern, so wurde von beteiligten Lehrern eingeschätzt, fassten diese Schulform »einfach als kostenlosen Nachhilfeunterricht auf«.106 Die Ganztagsschuldebatte als Auseinandersetzung um kulturelle Ordnungen Besonderen Widerhall erfuhr die Gründung von ganztägigen Fünftageschulen in der Fachöffentlichkeit der betroffenen Professionen, insbesondere in pädagogischen, erziehungswissenschaftlichen und medizinischen Zeitschriften sowie in Organen von kirchlich-weltanschaulich ausgerichteten Lehrer- und Erzieherverbänden unterschiedlicher Schultypen, unter Elternverbänden und Medizinern. Kennzeichnend war die Vielstimmigkeit der Debatte, die vor allem von der Heterogenität ihrer bürgerlichen Teilnehmer herrührte. Es ging dabei weniger um die praktischen Schwierigkeiten der zeitlichen Umstellung des Schultages als vielmehr hochgradig normativ um die davon berührten kulturellen Ordnungen. Die diskursiven Konstrukte Tagesheimschule und Ganztagsschule können gleichsam als mentalitätsgeschichtliche Sonden genaueren Aufschluss geben über die besondere Gemengelage von Persistenz und Wandel, die um 1959/60 hinsichtlich der gültigen Auffassungen und Werte gegenüber gesellschaftlichen Basisinstitutionen wie Familie und Schule bestand. Was die Debattenteilnehmer dabei jeweils unter den Bezeichnungen Tagesheimschule und Ganztagsschule verstanden, war höchst ungeklärt und schien vor allem vom eigenen Argumentationskontext abzuhängen.107 Zumeist blieb offen, von welchem Schultyp und Kindern welchen Alters eigentlich die Rede war. Im Folgenden ist genauer die These zu entfalten, dass die ganztägige Schule in den Auseinandersetzungen um die Fünftagewoche – positiv oder negativ – vor allem als Aufhänger für weltanschauliche Grundsatzpositionen diente. Ihre Definition, die pädagogische Programmatik und konkrete Realisierungsbedingungen traten dabei in den Hintergrund.

106 Vgl. Linde, Tagesschule, S. 156. Allgemein dazu Brigitte Pross, Elternhaus und THS, in: Karlheinz Klinger, Erfahrungen mit Tagesheimschulen, Köln 1961, S. 14–16. 107 Eine Begriffsklärung wurde erstmals 1961 vorgenommen. Vgl. Kap. 2.1.

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Auch innerhalb der Gesellschaft Tagesheimschule war man sich der starken suggestiven Wirkung der Begriffe Tagesheimschule und Ganztagsschule bewusst. So hieß es in einer Publikation der GGT: Erweckt der Ausdruck »Tagesheimschule« bei wenig wohlwollenden Beurteilern die Vorstellung, als wolle die Schule den Eltern das »Heim« für ihre Kinder streitig machen, so löst die nüchternere Bezeichnung »Ganztagesschule« oft einen gegenteiligen Schock aus: durch sie würden Kinder und Jugendliche zu einem ganztägigen Schuldasein mit all seinem »Schrecken« verurteilt.108

Um 1959/60 standen sich, grob vereinfacht, zwei Konzeptionen gegenüber: Zum einen die sozialkompensatorische Tagesheimschule für Kinder aus sozial schwachen Familien und zum anderen die »moderne« Ganztagsschule für alle Kinder. Im Zusammenhang mit der ersten Variante wurde häufig auf die Tagesheimschule Bornheimer Hang, eine überbezirkliche Volksschule in Frankfurt a.M., verwiesen, die ihre Schüler nach sozialen Aspekten auswählte.109 Die zweite Variante blieb mehr Anspruch als Realität – allenfalls weiterführende Schulen wie etwa die CarlSchomburg-Mittelschule in Kassel, deren Auswahlprinzip Leistung und Begabung war und deren Einzugsbereich das gesamte Stadtgebiet einschließlich der Vororte umfasste, kamen dieser Konzeption nahe.110 Unabhängig, welches Konzept sie favorisierten, war allen Ganztagsschulbefürwortern Ende der 1950er-Jahre klar, dass es nicht um die sofortige Einführung dieses Schultyps ging, sondern vielmehr um dessen Popularisierung im Rahmen der breit aufgefächerten Debatte um die Fünftagewoche, in der sich Angehörige der bürgerlichen Mittelschichten über einen stattfindenden Wandel gültiger Normen und Werte verständigten. Der Gegenstand Ganztagsschule erwies sich in hohem Maß anschlussfähig an die zeitgenössischen Diskurse über Modernisierung und Technisierung, die »Krise der Familie« infolge von Konsum und Müttererwerbstätigkeit. Die Begriffe Ganztagsschule respektive Tagesheimschule gerieten so zur Chiffre, zur Projektion oder auch zum Kampfbegriff, mit deren Hilfe über grundsätzliche Werthaltungen und Einstellungen gegenüber den gesellschaftlichen Folgen der Moderne gerungen wurde. Ganztagsschule als Antwort auf den Gesellschaftswandel Ende der 1950er-Jahre begrüßte nur eine Minderheit von Pädagogen, einzelnen sozialdemokratischen Schulräten und Ministerialräten die Ganztagsschule als eine 108 Schürmann, Die Tagesschule im Brennpunkt pädagogischer Auseinandersetzungen, S. 26f. 109 Kritisch dazu Rolf Osang, Tagesheimschule und Ganztagsschule. Berichtigung und Versuch einer Klarstellung, in: Lebendige Schule. Monatsschrift für Erziehung und Unterricht 13 (1958), Nr. 3, S. 143–151. 110 Ludwig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2, S. 501ff. und 508ff.

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moderne Schule und wünschenswerte bildungspolitische Vision. Für den Hamburger Schulsenator und Erziehungswissenschaftler Hans Wenke etwa entsprach die Ganztagsschule der »Lebensordnung unserer Zeit«.111 Er charakterisierte sie in einem Rundfunkbeitrag »nicht als Notbehelf, zu dem uns eine unbequeme Ordnung des sozialen Lebens zwingt, sondern als Ziel einer Entwicklung, in der unser Bildungswesen seit Beginn dieses Jahrhunderts und für alle deutlich seit dem Ende des ersten Weltkriegs steht«.112 Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) forderte mit Blick auf erste Versuche in evangelischen Tagesheimschulen in einer Grundsatzerklärung im Oktober 1958, die »evangelische Christenheit soll weltoffen alle Schulund Unterrichtsversuche bejahen, die die erzieherische Kraft der Schule stärken und ihre bildende Wirkung mehren. Manches Alte kann fallen, manches Neuerprobte sollte gefördert werden. So sind Kindergärten und Tagesheimschulen Maßnahmen der Barmherzigkeit für die in der modernen Industriegesellschaft besonders bedrohten Kinder.«113 Die EKD unterstrich mit solch vorsichtigen Reformbekenntnissen nicht zuletzt den eigenen Gestaltungsanspruch auf dem Feld der Bildungspolitik. Den Anstoß für ein modernisiertes Konzept von Ganztagsschule lieferte die sich internationalisierende Bildungsdebatte im Referenzsystem des Kalten Krieges, die stark von den Befürchtungen über den angeblichen bildungspolitischen Vorsprung der Sowjetunion geprägt war.114 Dort strebte man mit der Formel von der »Verbindung der Schule mit dem Leben« die Anpassung des Ausbildungssystems an die Fortschritte der industriellen Entwicklung und die frühzeitige Gewöhnung von Kindern und Jugendlichen an produktive Arbeit an.115 Schon bevor der »SputnikSchock« den sogenannten Bildungswettlauf zwischen den Systemgegnern in Gang setzte, stieß dieser Ansatz auch im Westen Deutschlands vermehrt auf Zustimmung, verband er doch die Schule stärker mit den Anforderungen der Berufswelt – im Gegensatz zur tradierten geisteswissenschaftlich fundierten Pädagogik.116 So war bereits Anfang 1957 in den »Pädagogischen Blättern. Zeitschrift für Erziehung und musische Bildung« ein leidenschaftliches Plädoyer für eine ganztägige Schule zu

111 Hans Wenke, »Die Ganztagsschule in der Lebensordnung unserer Zeit«, in: GGT (Hg.), Theorie und Praxis der Tagesheimschule, Frankfurt/M. 1958, S. 7–23; auch abgedruckt in: Klinger/Rutz, Die Tagesheimschule, S. 5–18. 112 Zitat abgedruckt in Rolf Osang, Tagesheimschule und Ganztagsschule. Berichtigung und Versuch einer Klarstellung, in: Lebendige Schule. Monatsschrift für Erziehung und Unterricht 13 (1958), Nr. 3, S. 143–151, hier S. 151. 113 Der evangelische Schulversuch »Tagesheimschule«, in: Elternblatt 14 (1964), Nr. 3, S. 46f. 114 Vgl. Kap. 2.1. 115 Oskar Anweiler/Klaus Meyer, Die sowjetische Bildungspolitik seit 1917. Dokumente und Texte, Heidelberg 1961, S. 44f. 116 Vgl. Kap. 2.1.

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lesen, die sich gegenüber der Gesellschaft öffnen und keinen wirklichkeitsfernen Schonraum darstellen solle. Die Schule darf sich nicht mit einer Dornröschenhecke umgeben. Sie führt kein Märchendasein in Abgeschiedenheit, sondern das Leben muß durch die Schulräume hindurchfluten. […] Von der Schule aus gesehen ist das, was man Leben heißt, »draußen«, und das ist die rauhe Wirklichkeit, die tägliche Arbeit, die stets sich verändernde Gesellschaft, das rasende Tempo, die vorwärts schreitende Wirtschaft mit der seelisch-geistigen Bedrohung der Rationalisierung und Automation.117

Ihre Befürworter schrieben der Ganztagsschule nicht nur einen pädagogischen, sondern gerade auch einen sozialen Nutzen zu, um die mit dem raschen Wandel verbundenen gesellschaftlichen und familiären Probleme aufzufangen. Die Familie, so wurde argumentiert, könne als traditionelle Erziehungsinstanz ihre Rolle nicht mehr ausfüllen, weil zukünftig immer häufiger beide Eltern erwerbstätig sein würden und Kinder immer häufiger Einzelkinder seien bzw. nur ein Geschwisterteil hätten. Da der modernen Familie die »sozialerzieherische Kraft« fehle, um auf diese Veränderungen zu reagieren, müsse hier die Schule einspringen und ihr altes, auf Wissensvermittlung beschränktes Selbstverständnis aufgeben. Damit wurde zum einen an die alte reformpädagogische Idee von der Schule als »Lebensraum« und »Heim« angeknüpft. Zum anderen tauchten Argumente auf, die auf die höheren emotionalen Ansprüche an ein »modernes« Familienleben abhoben: So verbessere sich das familiäre Miteinander, wenn die Kinder ihre Hausaufgaben bereits in der Ganztagsschule machten. Dadurch entstünde ein Zeitfenster, in dem alle Familienmitglieder unbelastet vom Streitpunkt Schule gemeinsam Zeit verbringen könnten. Indem die Ganztagsschule »den Lebensinhalt der Familie ganz auf die Freizeitverwendung einschränkt und ihre Sozialität auf eine intime und sentimentale Privatheit stellt«,118 würde sie den höheren Qualitätsansprüchen gerecht, die an das Familienleben gestellt würden. Von ihren Fürsprechern wurde die Tagesheimschule bzw. Ganztagsschule als zeitgemäße Antwort und vielseitiges Allheilmittel gegen die diversen sozialen Gebrechen der modernen Gesellschaft ins Feld geführt. Hans Wenke sah 1958 die Menschen »in einer reizüberfluteten Welt« von Leere und Nervosität bedroht. Daher sei es Aufgabe der Schule, »mehr als bisher dafür zu sorgen, dass der Mensch fähig wird zum ›Umgang mit sich selbst‹«. Die ganztägige Schule ermögliche die

117 Friedrich Weigelt, Ganztagsschule, in: Pädagogische Blätter. Zeitschrift für Erziehung und musische Bildung 8 (1957), Nr. 3, S. 71–73, hier S. 71. 118 Linde, Tagesschule, S. 155.

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Erziehung zur Konfliktfähigkeit und »Gemeinschaftsfähigkeit im Privatleben«.119 Ganztägige Schulen könnten durch ihre Nachmittagsaktivitäten auch die mangelnden Spielmöglichkeiten für Kinder infolge von Verstädterung und Autoverkehr auffangen. Manche Ganztagsschulbefürworter standen, wenn es um drastische Gegenwartsdiagnosen ging, den Gegnern in nichts nach. So wurden mit Bezug auf den »Schlüsselkind«-Diskurs die moralisch-pädagogischen Gefahren »der Straße« und der Konsumgesellschaft in grellen Farben ausgemalt. Ganztagsschulen, so argumentierte man, böten solchen Kindern Schutz und Sicherheit, die »aus engen Wohnungen, freudlosen und finsteren Hinterhöfen und Korridoren« auf die »Straße flüchten« und dort »mit sehnsüchtigem Erlebnishunger die Schaufenster und die Menschen (betrachten), die Kinos, deren erregende Plakate einladend winken, die Zeitungskioske, hinter deren Fenstern die spannenden Schmöker locken. Sie sehen die rasenden Autos mit den vornehmen Leuten und träumen von Reichtum und Glück.«120 Schließlich wurde schulischen Ganztagseinrichtungen eine prophylaktische Funktion bei der Reduzierung von Jugendkriminalität zugeschrieben. So sprach sich der damalige Bezirksschulrat von Berlin-Tempelhof und spätere Senator für Volksbildung Carl-Heinz Evers dafür aus, man solle – da der Staat den Eltern die Berufstätigkeit nicht verbieten könne – lieber durch Tagesheimschulen »die Gefahr der Verwahrlosung in der Grundschulzeit anzugehen suchen, als später über Halbstarkenkrawalle zu lamentieren und Erziehungsheime und Jugendgefängnisse zu bauen«.121 Bürgerliche Werte und die Abwehr ganztägiger Schulformen Die Mehrheit der Kirchenvertreter, Ärzte, Sozialwissenschaftler sowie der Lehrerund Elternverbände lehnte das moderne Konzept einer Ganztagsschule für alle Kinder scharf ab. Die Ganztagsschulgegner der einzelnen Interessengruppen und Bundesländer argumentierten dabei keineswegs einheitlich. Mediziner warnten vor einer »Überforderung« der Kinder. Kinderärzte wie Theodor Hellbrügge, die in der Öffentlichkeit als Familienexperten präsent waren, befürworteten zwar grundsätzlich die längere Erholungszeit am Wochenende, die durch die Fünftagewoche möglich würde, sie warnten jedoch vor der Überlastung von Kindern durch den mit Ganztagsschule verbundenen Nachmittagsunterricht.122 Lehrer befürchteten eine 119 Hans Wenke, Die Tagesheimschule in der Lebensordnung unserer Zeit, in: Theorie und Praxis der Tagesheimschule, Frankfurt 1958, S.7–23, hier S. 15. 120 Weigelt, Ganztagsschule, S. 71f. 121 Carl-Heinz Evers, Die Tagesheimschule, in: Berliner Lehrer-Zeitung 13 (1959), Nr. 15/16, S. 222–336, hier S. 333. 122 Vgl. die Auszüge aus Beiträgen von Theodor Hellbrügge und anderer Mediziner bei: Ludwig Beigler, Fünftagewoche auch im Schulwesen, Köln 1962.

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zusätzliche Belastung durch unterrichtsferne Aufgaben. Auch die hohen Kosten durch Nachmittagsbetreuung dienten häufig als Einwand gegen die Ganztagsschule.123 Die heftige Ablehnung ganztägiger Schulformen lässt sich aber auch als Selbstverständigung über einen bürgerlichen Lebensentwurf und Wertehaushalt und deren Verunsicherung durch gesellschaftliche Modernisierungsprozesse lesen. Aus dieser Perspektive standen mit der Ausdehnung des Schultages auf den Nachmittag zentrale bürgerliche Werte wie Freiheit, Individualität und Selbstverantwortung, aber auch tradierte Konzepte von Familie, Elternschaft und Kindheit auf dem Spiel. Kindern und ihren Familien, so befürchtete man, drohten »Zwang« und »Konformismus«, wenn das öffentliche Erziehungsangebot durch ganztägige Schulen ausgeweitet würde. Die Inanspruchnahme solcher Angebote würde die elterliche Verantwortungslosigkeit fördern und schade dadurch letztlich der gesamten Gesellschaft. Ein besonders dramatisches Szenario, bei dem die gegen »Schematismus« und »entseelte Bürokratie« gerichtete kulturpessimistische Grundmelodie des westdeutschen Konservatismus unüberhörbar war, zeichnete das evangelische »Sonntagsblatt« Ende 1957: Wir halten die Ganztagsschule für einen tödlichen Angriff auf den jungen Menschen. Sie macht aus dem Kinde, das nun außerhalb der Schulwände kaum noch etwas sehen und erleben kann, das nun für das Linsengericht des freien Sonnabendvormittags den Mittagstisch der Familie und die eigene Verantwortung für die Freizeit der Woche, die Pflicht zu selbsttätiger Gestaltung der Hausaufgaben und die elterliche Leitung an fünf Tagen entbehren muß, einen »Schülerbeamten«. […] Der Teufel der elterlichen Trägheit ist aber nicht durch den Beelzebub der Ganztagsschule auszutreiben. Sie würde nur aus dem schlechten Gewissen der Eltern ein gutes machen.124

Ein Schlüsselbegriff der Debatte war das Elternrecht.125 Viele Kirchenvertreter, Pädagogen- und Elternverbände sahen in der ganztägigen Schule einen nicht tolerierbaren Eingriff in das Erziehungsrecht der Eltern. Dieses Recht war bereits wenige Jahre zuvor im Kampf für die konfessionelle Bekenntnisschule ins Feld geführt worden und sollte auch in der Diskussion um einen demokratisierten Zugang zu höherer Bildung wieder eine Rolle spielen. So sah die Wochenzeitung die »Zeit« 1957 mit Blick auf die Schulversuche in Kassel das elterliche Erziehungsrecht von Auflösung bedroht: »Soll man die Kasseler Eltern wirklich dafür loben, daß sie so rasch bereit waren, einen Teil ihrer Verantwortung für etwas so Fragwürdiges wie die

123 Harald Ludwig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2, insbesondere S. 462–476. 124 Das nächste Experiment bitte, in: Sonntagsblatt Nr. 47, 24.11.1957, zitiert nach Beigler, Fünftagewoche auch im Schulwesen?, S. 51. 125 Vgl. Kap. 1.1.

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Betreuung aufzugeben? Das Opfer mag auf die Dauer schwerer wirken als alle äußeren Schwierigkeiten.«126 In den Auseinandersetzungen um Arbeitszeitverkürzung und Ganztagsschule verhandelten vor allem Vertreter der gebildeten Mittelschichten ihre Leitbilder und Lebensentwürfe auf der Folie einer allgemeinen Modernitätskritik, die um »Vermassung«, Nihilismus und Materialismus sowie die Angst vor der Entfremdung des Menschen durch die Technik kreiste.127 Veränderte Zeitrhythmen im familiären Alltag durch Industrialisierung und Urbanisierung, durch Technisierung und Massenkonsum erzeugten ein Bedrohungsgefühl, das nur durch das dem bürgerlichen Familienmodell innewohnenden Harmonieversprechen heilbar schien.128 Unter der Prämisse, dass sich das aus Wirtschafts- und Bildungsbürgertum sowie breiteren Mittelschichten zusammensetzende Bürgertum auch nach 1945 von anderen Schichten unterschied, nicht nur durch Besitz und Bildung, sondern gerade auch durch Lebensstil, Wertorientierungen, Normen und Verhaltensweisen – kurzum durch seine Bürgerlichkeit –, bildet das Thema Schule ein geeignetes Feld, dieser Bürgerlichkeit genauer nachzuspüren. Die in der zeitgenössischen Publizistik vehement verteidigten bürgerlichen Werte lassen die These von deren Renaissance nach 1945 zumindest für die charakteristische (bildungs-)bürgerliche Familiensemantik plausibel erscheinen.129 Bürgerliche Lebensführung vollzog sich an erster Stelle über das Familienleben. Das Kulturmuster Familie, das einen familiären sozialen Raum mit klar definierten elterlichen Rollen voraussetzte, wurde als Bollwerk gegen den wirtschaftlich-technischen Wandel beschworen. Gerade auch für (männliche) Lehrer besaßen die bürgerlichen Geschlechterrollenkonzepte eine große Anziehungskraft.130 So wurde in der »Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung« Mitte der 1950er-Jahre mit der sich angeblich auflösenden bürgerlichen Familienkultur der Verlust einer kulturellen Norm betrauert, die ehedem schichtenübergreifende Orientierungsfunktion besessen hätte und nun in der sich anbahnenden Freizeit- und Konsumgesellschaft insbesondere bei nichtbürgerlichen Schichten eine sinnvolle Zeitverwendung beeinträchtigen würde:

126 Heinrich David, Droht die Betreuungsschule? Ein gutes Experiment mit zwielichtigen Resultaten, in: Die Zeit, 14.11.1957. 127 Vgl. für die pädagogischen Diskurse über höhere Bildung Gass-Bolm, Gymnasium, S. 83– 90, S. 170. 128 Herbert, Liberalisierung, S. 38f.; Schildt/Sywotteck, Wiederaufbau, S. 21–24. 129 Vgl. hierzu die Sammelbände Gunilla Budde/Eckart Conze/Cornelia Rauh (Hg.), Bürgertum nach dem bürgerlichen Zeitalter. Leitbilder und Praxis seit 1945, Göttingen 2010; Manfred Hettling/Bernd Ulrich (Hg.), Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005. 130 Vgl. z.B. Ludwig Hermann, Ganztagsschule – Vorsicht!, in: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung 8 (1956), Nr. 9, S. 172.

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Wo ist heute noch eine Familie mit echter Familienkultur? Wo ist die Mutter, die ihrem Kind noch ein Märchen erzählt bzw. erzählen kann, die auch noch einen Schatz von Kinderreimen ihren Kinder vermittelt, die wärmend, wohltuend auf die Seele ihrer Kinder wirkt? Wo ist der Vater, der seinen Kindern auf dem Spaziergang noch dies und jenes zeigt und erklärt, wenn sie mit ihren tausend Fragen kommen? Wo wird überhaupt noch richtig mit den Kindern in der Familie gesprochen? […] Es müssen einmal Mittel und Wege gefunden werden, die Familienkultur zu heben. Die 40-Stundenwoche würde allein nichts nützen, wenn der Arbeiter mit seiner Freizeit nichts anzufangen weiß.131

Auch Elternverbände, in denen sich zum Großteil bürgerliche Eltern organisierten, teilten das klassenspezifische Selbstverständnis, das für Kinder ein privat, d.h. in der Regel von Müttern gestaltetes Nachmittagsprogramm vorsah. Insbesondere die Eltern von Gymnasiasten argumentierten gegen den fremdbestimmt in der Schule verbrachten Nachmittag, der ihrer Ansicht nach »Gängelung statt Freiheit, Vermassung statt individueller Weiterentwicklung« bedeutete.132 Rhetorisch wurde gefragt: Wo bleibt da noch die Gelegenheit zu eigenem Tun, zu freigewähltem Schaffen? Sollen die Kinder nur noch nach Kalendertagen, sozusagen nach Terminkalender, am freien Wochenende, nach Herzenslust träumen und spielen können? Sollen sie nur noch am Sonnabend und Sonntag die Gemeinschaft mit selbstgewählten Kameraden pflegen, sich einem Hobby widmen, Bücher lesen?133

Idyllische Schilderungen wie diese klammerten nicht nur die häufigen zeitgenössischen Klagen darüber aus, dass in vielen Familien die Hausaufgaben ein alltäglicher Streitanlass waren, der selbstbestimmtem kindlichen Spielen entgegenstand.134 Auch enthielten sie offensichtlich einen starken Klassen-Bias, der der Realität der meisten Familien krass gegenüberstand. Stadtkinder aus sozial schwachen Schichten bzw. von alleinerziehenden Müttern waren nach der Schule mit vielen häuslichen Pflichten wie Putzen, Einkaufen und Kochen belastet, für Kinder auf dem Land gehörte die Mitarbeit im landwirtschaftlichen Familienbetrieb selbstverständlich zum Alltag.135 Vermutlich wurden Attribute bürgerlicher Lebensführung wie das Mittagessen im Familienkreis und der Konnex von Mahlzeit und Familienglück136 auch deshalb 131 Karl Dern, Überwindungen gesellschaftlicher Hemmungen in der Schule, in: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung 7 (1955), Nr. 9, S. 177f. 132 Brigitte Pross, Was sagen die Eltern zur Tagesheimschule?, in: Klinger/Rutz, Die Tagsheimschule, S. 61–64, hier S. 63. 133 Beigler, Fünftagewoche auch im Schulwesen?, S. 70f. 134 Ebd., S. 38f. 135 Vgl. Fallstudie I zu Osterburken. 136 Vgl. allgemein Hans Jürgen Teuteberg, Die Revolution am Esstisch. Neue Studien zur Nahrungskultur im 19./20. Jahrhundert, Stuttgart 2004; Michael Wildt, Vom kleinen Wohlstand. Eine Konsumgeschichte der fünfziger Jahre, Frankfurt/M. 1996, S. 102–111.

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so leidenschaftlich verteidigt, weil sie faktisch im Schwinden begriffen waren. Arbeitsplatz und Wohnung waren immer häufiger getrennt, da mit dem quantitativen Rückgang von Familienbetrieben die Zahl von abhängig Erwerbstätigen stark anstieg. Durch Umstrukturierung ländlicher Räume pendelten immer mehr Arbeitnehmer in die nächstgelegene Stadt. All dies führte zu einer »Auflösung alter Ordnungen« (Michael Wildt), wie sie die mittägliche Familienmahlzeit darstellte. Eine steigende Zahl von Pendlern (30,7 Prozent aller abhängig Beschäftigten hatten ihren Arbeitsplatz 1961 nicht am Wohnort) sowie der Ausbau des Kantinenessens hatten zur Folge, dass das Mittagessen immer seltener die von allen Familienmitgliedern gemeinsam eingenommene Hauptmahlzeit darstellte.137 Für Pädagogen war die mit der Ganztagsschule angestrebte Verlängerung des Schultages in den Nachmittag hinein eine besonders heikle Angelegenheit. Die Erfahrung von Vormittagsschule, gemeinsamer Mittagsmahlzeit der Familie und anschließender Regenerationspause hatten deren bildungsbürgerlich-professionelles Selbstverständnis über einen langen Zeitraum geprägt. Folglich war das bürgerliche Familienmodell mit der nichterwerbstätigen Hausfrau und Mutter bei Lehrern, insbesondere bei Gymnasiallehrern, Teil ihrer beruflichen Identität und damit mental tief verankert. Wie selbstverständlich sich aber auch gewerkschaftlich organisierte Volksschullehrer das bildungsbürgerliche Zeitprivileg angeeignet hatten, zeigt die vehemente Leserreaktion auf einen Artikel in der »Neuen Deutschen Schule«, der Zeitschrift der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) NordrheinWestfalen, in dem Herbert Frommberger, Dortmunder Stadtrat und Ganztagsschulbefürworter, Anfang 1957 sorgfältig abwägend den Diskussionsstand zur schulischen Fünftagewoche wiedergab.138 Die Flut von Leserbriefen, die jegliche Ganztagsschulpläne erbittert ablehnten, mochte einerseits damit zusammenhängen, dass die Debatte zu einem Zeitpunkt einsetzte, als die starke körperliche und psychische Belastung von Lehrern durch riesige Klassen und fehlende Schulräume erst allmählich abnahm. Andererseits wurde darüber hinaus deutlich, dass offenbar politisch lagerübergreifend der hochgradig idealisierte Familienbegriff auch von gewerkschaftlich organisierten Lehrern geteilt wurde. So sei die Schule »bei allem Bemühen nie so individuell eingerichtet wie eine Wohnung«, und folglich sei »es für die Kinder nicht gut, wenn sie unbedingt länger als notwendig in der Schule zubringen«.139 Schulische Erziehung könne nur 137 Wildt, Vom kleinen Wohlstand, S. 105f. 138 Herbert Frommberger, Die Fünf-Tagewoche in der Schule, in: Neue Deutsche Schule 9 (1957), Nr. 2, S. 15–18; H. Seelbach, Fünf-Tage-Woche und Ganztagsschule, in: Neue Deutsche Schule 9 (1957), Nr. 4, S. 54f. 139 Zum Problem der Ganztagsschule, in: Neue Deutsche Schule 9 (1957), Nr. 4, S. 56–58, hier S. 56.

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ein unzureichender Ersatz für die durch mütterliche und väterliche Handlungskomponenten geprägte häusliche Erziehung sein: »Die Gerechtigkeit und gesunde Härte des Vaters und die Liebe und Güte der Mutter, wenn man es ein wenig vereinfachend sagen darf, beide sind zu einer ordentlichen Entwicklung des Kindes nötig.«140 Wie der Historiker Robert Moeller gezeigt hat, wurde Familie zum Platzhalter für alle Werte, die nach 1945 nicht mehr unproblematisch der »Nation« zugeordnet werden konnten.141 Auch im pädagogischen Diskurs fungierte die Ganztagsschule als entsprechende Drohkulisse: Entziehen wir den Eltern ihre Kinder, so gefährden wir in einem ungeahnten Maße den Fortbestand der Familie, und damit die Kinder selbst. Wir gefährden aber auch die Grundlagen unseres Volkes und damit wiederum unserer Kinder. Auflösung der Familie heißt letzten Endes Vereinzelung und Vereinsamung des Menschen, schutzlose Preisgabe und Fortnahme des notwendigen Haltes.142

Der antikommunistische Konsens In den 1950er-Jahren erhielten die westdeutschen Diskurse um Familie und Erziehung ihre besondere Schärfe im Bezugssystem des Kalten Krieges und der deutschdeutschen Systemauseinandersetzung.143 Die Ganztagsschule bildete damit für ihre Gegner eine besonders negative Projektion mit antimodernistischer, antitotalitärer bzw. antietatistischer Stoßrichtung. Die besondere Vehemenz, mit der vor der familienzerstörenden Wirkung und »Einheitsmentalität« ganztägiger Schulformen gewarnt wurde, speiste sich zum einen aus der im Nationalsozialismus gemachten Erfahrung des Eindringens des Staates in die Privatsphäre, zum anderen aus der deutsch-deutschen Teilungskonstellation während des Kalten Krieges. Das ostdeutsche Modell, das die Einbeziehung von Müttern in Erwerbsarbeit betrieb und das mit der Einführung der Einheitsschule einen radikalen Bruch im Schul- und Erziehungswesen vollzogen hatte, bildete in den westdeutschen Debatten um Familie, Bildung und Erziehung in den 1950er-Jahren den negativen Gegenentwurf, von dem man sich scharf abgrenzte.144 Für den Verband Deutscher Philologen lief die Ganztagsschule auf »staatliche Heimerziehung [hinaus], und was das im Zeitalter des Kollektivismus – selbst bei gutem Willen des Staates – heißt, können wir uns ausmalen: Erziehung einer Staatsjugend, eines Massen- und Normaltyps von

140 Ebd., S. 57. 141 Moeller, Unbenannt und allgegenwärtig. Die Familie in der Zeitgeschichtsschreibung, S. 334. 142 Zum Problem der Ganztagsschule, in: Neue Deutsche Schule 9 (1957), Nr. 4, S. 56–58, hier S. 58. 143 Hagemann, Between Ideology and Economy. 144 Ebd.; Hagemann/Mattes, Ideologie und Ökonomie.

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Mensch«.145 Der hessische Landesverband im Bunde der katholischen Erzieher Deutschlands lehnte auf seiner Jahresversammlung im Februar 1957 in Fulda die Tagesheimschule einhellig ab, denn sie sei »Ausdruck sozialistischer Verstaatlichungs­ tendenz und werde zur Schwächung der Familie führen, weil sie eine neue Einheitsmentalität schaffe«.146 Nicht nur für konservative Pädagogen, sondern auch für die GEW-Zeitschrift »Neue Deutsche Schule« stellte sich mit der Verlängerung des Schultages durch die Fünftagewoche »die furchtbare Frage […] – wollen wir eine Staatsjugend oder eine Kindheit haben? Wollen wir im Sommer Pionierlager oder Ferien haben? Wollen wir aus- und abgerichtete Schlafburschen oder Kinder haben?«147 Ein wichtiger Stützpfeiler des zeitgenössischen Antikommunismus war die Ablehnung mütterlicher Erwerbstätigkeit. Diskurse um erwerbstätige Mütter Der gemeinsame Nenner von Befürwortern und Gegnern ganztätiger Schulformen bestand darin, dass sie die bürgerliche Familiennorm samt geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung hochhielten und als zentrale Bastion gegen Konsumgesellschaft und Müttererwerbstätigkeit ins Feld führten. Die breite Einrichtung von Ganztageseinrichtungen käme, so war in der von der GEW herausgegebenen Verbandszeitschrift »Die Deutsche Schule« zu lesen, einer »Waffenstreckung vor den Absichten der Wirtschaft« gleich, mit der sich die Müttererwerbstätigkeit ausweiten und auch »intakte Familien« gefährdet würden.148 Die »Höhere Schule«, das Organ des Philologenverbandes, hielt es für »unverantwortlich, Kinder in die Welt zu setzen, und ihnen dann nicht die Mutter zu belassen«, und fragte klagend: »Wenn die Mutter nicht mehr die Familie zusammenhält, wer kann sie dann zusammenhalten?«149 Unabhängig davon, ob über die Ganztagsschule als Zukunftsprojekt oder über bereits laufende Schulversuche disputiert wurde, bestimmend blieb die Unterscheidung zwischen einer legitimen ökonomisch und einer illegitimen konsumistisch motivierten Müttererwerbstätigkeit. So äußerte sich »Die Berliner Schule«, Zeitschrift des Berliner Lehrer- und Lehrerinnenvereins im Deutschen Beamtenbund, 1958 negativ über einen gerade begonnenen Schulversuch in Berlin-Tempelhof, der vorsah, nach dem Vormittagsunterricht 200 Kinder mit einem Mix aus Hausaufgabenerledigung, freier Beschäftigung und festen Arbeitsgemeinschaften zu betreu145 Heinz Roth, Die Verantwortung der Eltern, in: Die Höhere Schule 11 (1958), Nr. 11, S. 221– 229, hier S. 225. 146 Sie sagen Nein zur pädagogischen Neuorientierung, in: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung 9 (1957), Nr. 6, S. 108–112. 147 Die Fünftagewoche in der Schule, in: Neue Deutsche Schule 9 (1957) Nr. 5, S. 70f., hier S. 70. 148 Ebd., S. 70f. 149 Roth, Die Verantwortung der Eltern, S. 225.

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en. Kritisiert wurde, dass, wenn 30 Prozent von Kindern berufstätiger Mütter dort betreut würden, dies keine Auskunft darüber [gebe], wieviele Frauen wirklich einer sozialen Notlage wegen arbeiten oder mitarbeiten müssen. Nur diese haben das Recht, ihre Kinder von einer öffentlichen Stelle betreuen zu lassen. Den anderen Frauen, die lediglich zur Erhöhung des Lebensstandards mitarbeiten, darf die Schule gar nicht die Sorge um die Betreuung ihrer Kinder abnehmen. Sie würde damit der Erhaltung der Familie entgegenarbeiten und sogar noch mehr Müttern die Möglichkeit geben, außer Hause berufstätig zu sein.150

Konsensfähig war um 1960 ausschließlich der sozialkompensatorische Typ der Tagesheimschule, d.h. ein schulisches Ganztagsangebot nur als »Notlösung und Erziehungshilfe für die Fälle, wo das Elternhaus tatsächlich nicht in der Lage ist, sich im erforderlichen Maße um die Kinder zu kümmern (zum Beispiel alleinstehende, berufstätige Mütter)«.151 Dies entsprach der zeitgenössischen öffentlichen Mehrheitsmeinung wie auch den wissenschaftlichen, sozial- und familienpolitischen Diskursen, in denen ausschließlich »Not«, nicht jedoch »Konsum« als akzeptable Gründe für mütterliche Erwerbstätigkeit galten. Nicht nur konservative Verbände, auch politisch eher links stehende Gewerkschaften wie die GEW argumentierten immer wieder mit der Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Müttererwerbsarbeit, wenn es um die Ausweitung des Schultages mit der Fünftagewoche ging. So sei es falsch, davon auszugehen, dass auf diese Weise allen Müttern die Gelegenheit gegeben werden muß, außerhalb der Familie tätig zu sein. Es muß vielmehr unterschieden werden zwischen solchen Müttern, denen der Ernährer fehlt, und die von den Fürsorgesätzen ihre Kinder nur hungern lassen und in Lumpen kleiden können, und solchen Müttern, die lediglich arbeiten, weil sie sich beispielsweise sonst kein Fernsehgerät leisten können. Den ersteren sollte, meine ich, jede vernünftige Unterstützung auf Kosten der Allgemeinheit gewährt werden.152

Die Virulenz der Debatte um die Tagesheimschule/Ganztagsschule rührte vor allem daher, dass diese eng mit dem Diskurs um Müttererwerbstätigkeit und »Schlüsselkinder« verwoben war.153 Sowohl Gegner als auch Befürworter einer zeitlichen Neuorganisation von Schule rekurrierten auf die mediale Debatte eines angeblichen 150 Renate Kruschel, Ein Nein zur Tempelhofer Tagesheimschule, in: Die Berliner Schule 5 (1958), Nr. 6, S. 6f., hier S. 6. 151 Schreiben der Landeselternvereinigung der höheren Schulen in Bayern an den Staatsminister für Unterricht und Kultur Theodor Maunz vom 13.2.1958, in: Beigler, Fünftagewoche auch im Schulwesen, S. 155. 152 Fünf-Tage-Woche und Ganztagsschule, in: Neue Deutsche Schule 9 (1957), Nr. 4, S. 54f. 153 Vgl. hierzu auch Kap. 1.2.

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»Erziehungsnotstands«, weil erwerbstätige Mütter »ihrer eigentlichen Aufgabe als Hausfrau und Mutter entzogen« seien.154 Weibliches Erwerbsstreben aus einer vermeintlich egoistischen Konsumorientierung heraus zu verurteilen, war ein wichtiger semantischer Baustein in der Debatte um Müttererwerbstätigkeit, der auch von Anhängern der Ganztagsschule benutzt wurde. Gerade jene schienen sich besonders heftig des Verdachts erwehren zu müssen, mütterliche Erwerbsarbeit gutzuheißen. Dass es sich bei erwerbstätigen Müttern um einen unerwünschten, da »unnatürlichen« Zustand handele, war ein die Auseinandersetzungen bis in die 1960er-Jahre begleitender fester Topos. Dies ging so weit, dass manche Ganztagsschulbefürworter sich den zeitgenössischen Forderungen von Frauenärzten nach einem Verbot außerhäuslicher Erwerbsarbeit für Mütter jüngerer Kinder anschlossen oder zumindest eine »Herdzulage für Mütter« guthießen, damit diese ihre Erwerbsarbeit aufgeben könnten.155 Einzelne Vertreter der Reformpädagogik legten indes besonderen Wert darauf, die Ganztagsschule als eine Innovation der Pädagogik und nicht der Sozialpolitik erscheinen zu lassen. Der Reformpädagoge Rolf Osang kritisierte etwa die FriedrichEbert-Schule in Frankfurt, die als normale Volksschule einen Tagesheimzweig als »Not-Hilfe« eingerichtet habe, der »aus der ganzen Stadt, also nicht nur aus dem eigentlichen Schulbezirk, von den Fürsorge- und Wohlfahrtsämtern mit solchen Kindern beschickt wird, deren häusliche oder elterliche Erziehung nicht genügt oder gar versagt«. 156 Aus Osangs Sicht widersprach eine solche Konzentration von »erziehungsschwierigen« Kindern aus armen Familien in Ganztagsschulen dem Amt des Schulpädagogen, das von Feldern wie Sozialpädagogik und Kinderbetreuung klar abzugrenzen sei. Ein Lehrer sei Volksbildner und Volkserzieher mit dem hohen Auftrag, die Kultur- und Wissensgüter des Volkes der Jugend zu vermitteln […] und beauftragt, die heranwachsenden Menschen lebenstüchtig zu formen und zu bilden. Er ist aber nicht mit dem Versuch beauftragt, ein versagendes Elternhaus zu ersetzen. Der Fachpädagoge jeglicher Schulgattung ist weder

154 So der Rektor der Ludwig-Heck-Grundschule in Berlin: Wilhelm Jung, Sind Tagesschulen notwendig?, in: Elternblatt 7 (1957), Nr. 4, S. 3f. Vgl. auch Karl-Heinz Lehmkuhl, Mütterarbeit – ein Schandfleck unserer Sozialverfassung, in: Berliner Lehrer-Zeitung 15 (1961), Nr. 17, S. 397f. 155 Vgl. z.B. Rolf Osang, Tagesheimschule und Ganztagsschule. Berichtigung und Versuch einer Klarstellung, in: Lebendige Schule. Monatsschrift für Erziehung und Unterricht 13 (1958), Nr. 3, S. 143–151, hier S. 148. Der Heidelberger Frauenarzt Alexander Rüstow schlug ein Verbot außerhäuslicher Erwerbsarbeit für Mütter von Kindern bis zu 6 Jahren vor, sein Göttinger Kollege Heinz Kirchhoff forderte gar ein Erwerbsverbot für Mütter von Kindern unter 15 Jahren. Vgl. Ruhl, Unterordnung, S. 178ff.; Kuller, Familienpolitik, S. 67. 156 Osang, Tagesheimschule und Ganztagsschule S. 147.

Ganztagsschule, Fünftagewoche und »Moderne«

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Kindergärtner noch Hortner. Ihm solche Aufträge zusätzlich zuzuweisen, hieße seine Kraft zersplittern, seinen Bildungsauftrag verwässern und sein Können verpulvern.157

In der Tat standen für die meisten Ganztagsschulaktivisten Kinder aus sozial marginalisierten, sogenannten erziehungsbehinderten Familien im Zentrum ihres Engage­ ments. Dabei mögen vereinzelt auch taktische Erwägungen eine Rolle gespielt haben, denn eine sozialpolitisch legitimierte Ganztagsschule schien politisch einfacher durchsetzbar als eine pädagogisch begründete. Allerdings dürfte in den 1950er-Jahren eine sozialfürsorgerische Ausrichtung der Ganztagsschule auch mehrheitlich den Grundüberzeugungen von Pädagogen und Schulexperten entsprochen haben.158 In der Debatte um die Fünftagewoche vertraten die Ganztagsschulbefürworter, so lässt sich aus der regen pädagogischen Publizistik schließen, keineswegs eine einheitliche Linie. Vielmehr offenbarte sich hier ein Amalgam unterschiedlicher pädagogischer Positionen und schulischer Entwürfe. Vereinzelte Debattenteilnehmer orientierten sich an modernen westlichen Leitbildern von Schule. Am anderen Ende des Meinungsspektrums und als Gegenpol zu einer solchen prowestlichen »modernen« Position verortete der Soziologe Hans Linde diejenigen reformpädagogischen Anhänger von Tagesheimschulen, die seiner Meinung nach einer kulturpessimistisch und völkisch raunenden »Volksgemeinschaftspädagogik«159 anhingen, obwohl doch gerade der Nationalsozialismus die reformpädagogischen Ideale der Gemeinschaft und volkstümlichen Naturverbundenheit politisch verschlissen habe.160 Solcherart reformpädagogisch gespeiste Argumente sollten im Laufe der 1960erJahre zunehmend aus der fachöffentlichen schulpädagogischen Debatte verschwinden. Bereits in den Auseinandersetzungen um Fünftagewoche und Tagesheimschule war immer wieder auf den Reformbedarf im westdeutschen Schulwesen hingewiesen worden. Im nächsten Kapitel wird gezeigt, wie innerhalb kürzester Zeit einerseits reformpädagogisch-ganzheitliche Denktraditionen und andererseits sozialkonservative, elitäre Bildungsvorstellungen in die Defensive geraten sollten zugunsten eines modernisierten Bildungsbegriffs, demzufolge sich die Schule nicht mehr an humanistischen Bildungstraditionen, sondern am Gleichheitsgebot westlicher Demokratien orientieren sollte.

157 158 159 160

Zitat in: ebd., S. 148. Ludwig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2, S. 468f. Linde, Tagesschule, S. 16. Vgl. ebd., S. 6, 18f.

2. Reformen: Ganztagsschule und Bildungsreform 1959/60–1970 Mit wachsendem internationalen Wettbewerb seit den späten 1950er-Jahren nahm in der Bundesrepublik wie auch in anderen europäischen Ländern der Reformdruck auf Politik und Gesellschaft zu. Eine zunehmend kritische Öffentlichkeit begann die vornehmlich quantitative und materielle Ausrichtung der vorangegangenen Dekade des Wiederaufbaus zu problematisieren.1 Als besonders vernachlässigter Bereich galt das Bildungssystem, dem bei den anstehenden Reformen eine Schlüsselrolle zugeschrieben wurde. Wenn sich die 1960er-Jahre als »Phase der Gärung, in der sich eine Fülle von Veränderungsimpulsen wechselseitig verstärkten«,2 beschreiben lassen, so ist die Ganztagsschule – als diskursives Konstrukt und realisiertes Modell – eine besonders geeignete Untersuchungssonde, um diesen weitreichenden Wandlungsprozess zu vermessen. Wie rasch sich mit dem gesamtgesellschaftlichen Normenund Wertewandel auch die Auffassungen über Schule, Familie und Erziehung in der Bundesrepublik veränderten, zeigt in der Tat die große Einmütigkeit, mit der die ganztägige Schulform innerhalb kurzer Zeit als eine mögliche Antwort auf die konstatierte »Bildungskatastrophe« (Georg Picht) verhandelt wurde. Die Ganztagsschule, eben noch ein randständiges, auf reformpädagogische Kreise beschränktes Projekt, das mehrheitlich abgelehnt wurde, avancierte Mitte der 1960er-Jahre zu einem zentralen Topos im bildungspolitischen Programm der Bundesrepublik. Im Folgenden wird zunächst nach dem Stellenwert zeitpolitischer Reformen in der frühen Bildungsdebatte gefragt und gezeigt, wie sich die Begründungsmuster für ganztägige Schulformen mit der zunächst bildungsökonomischen und dann zunehmend gesellschaftspolitischen Ausprägung der westdeutschen Bildungssemantiken wandelten. In einem zweiten Schritt wird der Blick auf den parteiübergreifenden Reformkonsens in Sachen Ganztagsschule gerichtet, in dem sich ein fundamentaler gesellschaftlicher Wandel widerspiegelte. Drittens wird gefragt, welche Bedeutung der Ganztagsschule in den Verhandlungen des Deutschen Bildungsrates zukam, d.h. des offiziellen »Think Tank« der westdeutschen Bildungspolitik, in dem öffentlichkeitswirksam die Kernelemente der Schulreform entwickelt wurden. Den zeitlichen Ausgangspunkt des Kapitels markiert der Rahmenplan des Deutschen Ausschusses von 1959, der gleichsam der Startschuss für die Reformdebatte in der Bundesrepublik war. Den Endpunkt des Untersuchungszeitraums bildet das Jahr um 1969/70, 1

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Axel Schildt, Materieller Wohlstand – pragmatische Politik – kulturelle Umbrüche. Die 60er Jahre in der Bundesrepublik, in: Schildt/Siegfried/Lammers, Dynamische Zeiten, S. 21–53, hier S. 37f. Vgl. auch Jessen, Zwischen Bildungsökonomie und zivilgesellschaftlicher Mobilisierung; Rudloff, Bildungsplanung in den Jahren des Bildungsbooms. Klaus Schönhoven, Aufbruch in die sozialliberale Ära. Zur Bedeutung der 60er Jahre in der Geschichte der Bundesrepublik, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 123–145, hier S. 127.

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Reformen: 1959/60–1970

als die Bildungsreform mit dem Regierungswechsel, dem Bildungsbericht der Bundesregierung und dem Strukturplan auf nationaler Ebene ihren Zenit erreichte, bevor sie kurz darauf in parteipolitischen Dissens umschlug. Über diese Periodisierung nationaler Bildungspolitik hinaus werden gesellschaftsgeschichtliche Deutungen einbezogen, die die »langen 1960er-Jahre« als einen besonderen »Transformationsraum« von den ausgehenden 1950er- bis in die frühen 1970er-Jahre begreifen, in dem die Bundesrepublik nicht nur einen bis dato ungekannten Wohlstand, sondern auch einen fundamentalen sozialen und kulturellen Modernisierungsschub erfuhr.3 Abschließend richtet sich der Blick in einem Exkurs auf die Entwicklung der ostdeutschen Schulzeitpolitik der 1950er- bis 1970er-Jahre. Die Bemühungen der DDR, um 1959/60 eine »Tagesschule« einzuführen, wiesen sowohl verblüffende Parallelen als auch deutliche Unterschiede zur westdeutschen Entwicklung auf. 2.1. Ganztagsschule und neue Referenzhorizonte Kann die übliche Schule in ihren bisherigen Grenzen ihrer Pflicht, den Übergang ins Arbeitsleben vorzubereiten, nachkommen? Kann sie den von ihr erwarteten Beitrag zur politischen Bildung und Erziehung leisten? Ist sie in der Lage, den veränderten ArbeitsFreizeitrhythmus der modernen Arbeitswelt anzupassen und zu sinnvoller Freizeitbeschäftigung anzuleiten? Einer solchen Argumentation gegenüber erheben sich Einwände, die nicht selten unter dem Schlagwort »Verschulung« zusammengefasst werden. Man meint, es sei die Tagesheimschule, die der Familie einschneidende »Funktionsberaubung«, dem einzelnen Jugendlichen eine »Freiheitsberaubung« zufügt. Ist jedoch ein partieller Funktionsverlust der Familie nicht in Wirklichkeit eines der ursprünglichen Motive der [reformpädagogisch motivierten, M.M.] Heimschul-Bewegung? Und droht von der Schule her wirklich die Gefahr der sogenannten »Zwangskollektivierung« des Kindes? Kann die Schule nicht gerade zum Schonraum gegen Vermassung durch die Straße und andere Einflüsse angesehen werden?4

Mit diesen rhetorischen Fragen umriss Saul B. Robinsohn (1916–1972), Erziehungswissenschaftler und Direktor des Hamburger UNESCO-Instituts für Pädagogik,5 das Konfliktfeld der ganztägigen Schule, als er im November 1961 eine internatio3 4 5

Axel Schildt, Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90, München 2007, S. 30. Pädagogische Erwägungen über die Ganztagsschule. Bericht über die Tagung des UNESCOInstituts für Pädagogik vom 27. bis 29. November 1961, Sonderheft Tagesheimschule Februar 1962, S. 1. Das Institut wurde 1951 im Zusammenhang mit dem Engagement der UNESCO für eine Reform des Bildungswesens im Nachkriegsdeutschland gegründet. In den 1960er-Jahren verschob sich sein Fokus stärker auf »Völkerverständigung« und Ost-West-Kooperation in Europa, seit den 1970er-Jahren rückten südliche Entwicklungsländer in den Blick.

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nale Tagung zum Thema Ganztagserziehung eröffnete, die das UNESCO-Institut gemeinsam mit der Gemeinnützigen Gesellschaft Tagesheimschule (GGT) veranstaltete.6 Die Hinweise auf die arbeitsmarktpolitische Funktion von Schule deuten bereits die Blickrichtung an, die innerhalb weniger Jahre auch in der Diskussion, wie der Schultag zeitlich zu organisieren sei, vorherrschen sollte. Die neuen Relevanzkriterien, auf die Erziehungswissenschaftler wie Saul Robinsohn in den frühen 1960er-Jahren rekurrierten, hießen Ökonomisierung, Internationalisierung und Verwissenschaftlichung. Mit ihrer Hilfe sollten die traditionell gegen die Ganztagsschule vorgebrachten Einwände entkräftet werden. Robinsohn, der 1964 einen Ruf an das neu gegründete Max-Planck-Institut für Bildungsforschung7 in Berlin (West) erhielt, formulierte als Tagungsziel, man wolle »die Voraussetzungen der Ganztagsschule klären, ihre Organisationsformen untersuchen und ihre Methoden und Instrumente entwickeln«. Das Teilnehmerspektrum war mit Pädagogen und Wissenschaftlern aus den USA, Großbritannien und Frankreich und auch der CSSR international. Aus Sicht der Ganztagsschulbefürworter waren Kooperationspartner und Ort der Tagung klug gewählt, um die hitzige Debatte um die Ganztagsschule durch einen nüchtern vergleichenden Blick über die nationalen Grenzen zu versachlichen, sah doch das UNESCO-Institut seine Aufgabe darin, »Kernfragen und Hauptlinien in der Entwicklung pädagogischer Theorie und Praxis vieler Länder aufzuzeigen und durch Analyse, Vergleich und Klärung zu weiteren Versuchen und Reformen anzuregen«.8 Ein Ergebnis der Hamburger Tagung war, dass die für ganztägige Schulen kursierenden Begriffe erstmals systematischer definiert wurden: So umfasse die Tagesheimschule nur einen bestimmten Kreis von Schülerinnen und Schülern, der »familienergänzend« an der Ganztagsbetreuung teilnehme. Bei der Ganztagsschule seien der Unterricht idealtypisch auf Vor- und Nachmittag verteilt und die Hausaufgaben in die Unterrichtszeit integriert. Alle Schülerinnen und Schüler hätten obligatorisch an den Nachmittagsangeboten teilzunehmen. Die sogenannte offene Schule stelle eine Mischform dar, die sich auf vormittäglichen Unterricht beschränken und Mittagessen, Hausaufgabenbetreuung und Arbeitsgemeinschaften auf freiwilliger 6

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Pädagogische Erwägungen über die Ganztagsschule, S. 1f. Saul B. Robinsohn hatte 1933 Deutschland verlassen und an der Hebräischen Universität Jerusalem Geschichte, Soziologie, Philosophie und Pädagogik studiert. 1959 ging er als Direktor an das UNESCOInstitut für Pädagogik nach Hamburg, bis er 1964 einem Ruf als Direktor am neu gegründeten Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin folgte. Robinsohn lieferte die theoretischen Grundlagen für eine eigenständige Curriculumforschung unter Berücksichtigung des sozialpolitischen Kontexts unterschiedlich strukturierter Gesellschaften. Durch ihn wurde der Begriff Curriculum statt Lehrplan gebräuchlich. Vgl. in diesem Kap. Fußnote 17. Ebd., S. 1.

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Basis anbieten würde.9 Der Begriff Tagesschule wurde indessen in der Bundesrepublik kaum benutzt, handelte es sich dabei doch um die offizielle Bezeichnung des in der DDR favorisierten ganztägigen Schulmodells.10 Rahmenplan und Ganztagsschule Als am Hamburger UNESCO-Institut Ende 1961 in Sachen Ganztagsschule getagt wurde, war die westdeutsche Bildungsdiskussion bereits im Gang. Deren offizieller Auftakt wird im Allgemeinen mit dem »Rahmenplan zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens« vom Februar 1959 markiert. In dieser vom »Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen« erarbeiteten Bestandsaufnahme wurden eine tiefe Krise und ein dringender Modernisierungsbedarf des bundesdeutschen Bildungssystems konstatiert.11 Die Bildungsexperten des Deutschen Ausschusses sahen die Ursachen für die Rückständigkeit vor allem darin, dass im Westen Deutschlands, anders als im Osten, grundlegende Reformen im Bereich Bildung und Erziehung nach 1945 unterblieben waren.12 Das westdeutsche Schulwesen sei, so resümierte etwa der »Spiegel« die Erkenntnisse des Rahmenplans, »den Umwälzungen nicht nachgekommen, die in den letzten fünfzig Jahren Gesellschaft und Staat verändert haben«.13 Das bildungspolitische Krisenbewusstsein war nicht allein auf den Start eines sowjetischen Erdsatelliten im Oktober 1957 zurückzuführen, der als »Sputnik-Schock« dem Westen die technische Fortschrittlichkeit des östlichen Systemgegners vor Augen führte, sondern auch auf die verstärkt wahrgenommene innerwestliche Konkurrenz. Mit Blick auf die Bildungsanstrengungen in Ost und West mehrten sich auch in der Bundesrepublik die öffentlichen Stimmen, die mahnten, man müsse »Schritt halten«, um sich »auch in der Zukunft behaupten und im ›Kalten Krieg der Hörsäle‹ bestehen zu können«.14 Als eines der zentralen Probleme identifizierte man zunächst die »Begabtenauslese«. Wurde Mitte der 1950er-Jahre noch eine »Überfüllung« der Universitäten 9

UNESCO-Institut für Pädagogik, Pädagogische Erwägungen über die Ganztagsschule. Bericht über die Tagung vom 27. bis 29. November 1961, S. 28. 10 Eine Ausnahme bildete die gleichnamige Studie des Soziologen Hans Linde. Vgl. dazu Kap. 1.2. sowie zur DDR den Exkurs nach Kap. 2.3. 11 Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 289; Klaus Hüfner/Jens Naumann, Konjunkturen der Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1 Der Aufschwung (1960– 1967), Stuttgart 1977, S. 117. 12 Christoph Führ, Deutsches Bildungswesen seit 1945. Grundzüge und Probleme, Neuwied u.a. 1997; Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 277f. 13 Die Abiturientenzucht, in: Spiegel, 6.5.1959, S. 21. 14 Heinrich Abel, Die Auswirkungen der Arbeitszeitverkürzung (40-Stunden-Woche) auf die Schule, in: Gegenwartskunde 6 (1957) Nr. 2, S. 49–56, hier S. 50f.

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durch gesteigerte Bildungsnachfrage beklagt, befürchtete man nur wenige Jahre später, dass zu wenig Schüler das Abitur erlangten. Da in einer zunehmend von der Wissenschaft beeinflussten Gesellschaft der Bedarf an Abiturienten steigen würde, hatte der Deutsche Ausschuss vorgeschlagen, den Aufstieg in das höhere Schul­ wesen unter anderem durch eine sogenannte Förderstufe und eine Studienschule zu erleichtern.15 Auf die Frage, ob westdeutsche Schüler künftig halbtags oder ganztags die Schulbank drücken sollten, gab es keine Antwort im Rahmenplan des Deutschen Ausschusses. Bemerkenswert ist an der Diskussion des Rahmenplans jedoch, dass es den daran beteiligten Bildungsexperten wenig aussichtsreich erschien, die ganztägige Schulform in den anvisierten Reformkatalog aufzunehmen. Darauf lassen Äußerungen von Hellmut Becker und Georg Picht schließen, deren protestantisch-pädagogisches Netzwerk schon früh Reformen auf dem Bildungssektor anschieben sollte. So betonte der Religionsphilosoph Georg Picht anlässlich des vom DGB initiierten »Achten Europäischen Gesprächs« in Recklinghausen zum Thema »Bildung und Erziehung in Europa im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Wandel unserer Zeit« im Juni 1959, die »ideologischen Vorurteile« gegenüber der Tagesheimschule seien seiner Meinung so stark, dass es in dieser Frage die nächsten 20 Jahre nicht gelänge, etwas zu bewegen. Picht, der dem Deutschen Ausschuss angehörte und 1964 das berühmte Wort der deutschen »Bildungskatastrophe« prägen sollte, sah in erster Linie »psychologische Hemmnisse« auf Seiten der Eltern, die einen Gegensatz zwischen Familie und Tagesheimschule in Erziehungsfragen befürchteten. Seiner pessimistischen Einschätzung zufolge, müsste für die anstehenden Bildungsreformen nicht die Ganztagsschule, sondern die herkömmliche Unterrichtsschule, »wie wir sie bisher haben«, zugrunde gelegt werden.16 Picht und der Deutsche Ausschuss sahen sich zu diesem Zeitpunkt dem scharfen Gegenwind ausgesetzt, den das konservative und kirchliche Lager gegen die Reformpläne des Rahmenplans entfacht hatte. Man war sich daher überaus bewusst, dass man mit ei-

15

Die sogenannte Förderstufe und die Studienschule stellten einen Kompromiss zwischen Gegnern und Befürwortern einer späteren Selektion von Schulkindern und einer stärkeren Durchlässigkeit des Schulsystems dar. Im Rahmenplan des Deutschen Ausschusses wurde vorgeschlagen, an die vierjährige Grundschule eine zweijährige »Förderstufe«, die später Orientierungsstufe genannt werden sollte, anzugliedern und somit die Selektion für das dreigliedrige Schulsystem um zwei Jahre nach hinten zu verschieben. Allerdings wurde eine Ausnahme vorgesehen: Das altsprachliche Gymnasium sollte weiterhin in Klasse 5 beginnen. Vgl. hierzu z.B. Hüfner/Naumann, Konjunkturen der Bildungspolitik. 16 Bildung und Erziehung in Europa im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Wandel unserer Zeit. Achtes Europäisches Gespräch in der Engelsburg Recklinghausen, Köln 1960, S. 134f.

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nem entschiedenen Plädoyer für die hochumstrittene Ganztagsschule zusätzlich Öl ins Feuer geschüttet hätte. Einschneidende Veränderungen in der schulischen Zeitpolitik schienen noch im Sommer 1959 mit Blick auf das verminte ideologische Gelände als politisch wenig opportun. Auch für Hellmut Becker – Jurist und als Gründungsdirektor des 1963 neu errichteten Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung17 und 1966–1975 Mitglied des Deutschen Bildungsrates einer der politisch einflussreichsten Netzwerker der Bildungsreform der 1960er-Jahre – waren es pragmatisch-taktische Gründe, die den Deutschen Ausschuss zur Zurückhaltung bei der Frage der Schulzeitgestaltung veranlassten. Seiner Einschätzung zufolge sei es auf jeden Fall zu vermeiden, zu den Protesten der Philologenverbände und Kirchen auch noch die Ablehnung der Familienverbände auf sich zu ziehen. Hinter einer solchen taktischen Haltung plädierte Hellmut Becker selbst jedoch für das reformpädagogische Konzept einer »Lebensschule« und begründete dies wie folgt: »Praktisch können wir die menschliche und gesellschaftliche Erziehungswirkung, die wir von der Schule erwarten, gar nicht erwarten, wenn wir sie auf den Unterricht beschränken.« Nach seinem Verständnis war eine Ausdehnung der schulischen Zeit sogar unabdingbar, da sich die Pläne mit Förderstufe und Studienschule insbesondere in ländlichen Regionen »bei grundsätzlichem Festhalten an der Vormittagsschule nicht verwirklichen« ließen.18 Als Picht und Becker ihre zurückhaltende Position gegenüber der Ganztagsschule als bildungspolitischem Ziel formulierten, befand sich die Bildungsreform Westdeutschlands noch in ihrer Inkubationsphase. Indes blieb der Deutsche Ausschuss auch in den Folgejahren zurückhaltend, wenn es um die Umsetzung der Fünftagewoche im Schulwesen ging. Noch 1964 zeigte das Gremium sich nicht gewillt, »die Frage in absehbarer Zeit zu diskutieren«.19 Der internationale »Bildungswettlauf« und die Ganztagsschule In den Quellen scheint sich die Spur der Ganztagsschule mit der sich internationalisierenden, vergleichend-kompetitiven Bildungsreformdebatte zunächst zu verlie17

Auf Initiative Hellmut Beckers, der 1961 der Max-Planck-Gesellschaft seine Denkschrift »Plan eines Instituts für Bildungsforschung« vorlegte, beschloss der Senat ein Jahr später die Gründung eines »Instituts zur Forschung auf dem Gebiet des Bildungswesens in der Max-Planck-Gesellschaft«. 1963 wurde das Institut als »Institut für Bildungsforschung in der Max-Planck-Gesellschaft« gegründet. Mit der Satzungsänderung erhielt das Institut 1971 seinen heutigen Namen »Max-Planck-Institut für Bildungsforschung« (MPIB). Vgl. https://www.mpib-berlin.mpg.de/de/institut/geschichte/zeittafel (Stand: 15.10.2014). 18 Bildung und Erziehung in Europa im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Wandel unserer Zeit, S. 134f., S. 118. 19 Kurt Günther, Vom Tabu der Fünf-Tage-Woche in der Schule, in: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung 16 (1964), Nr. 8, S. 119–121.

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ren. Seit den späten 1950er-Jahren konstatierten Bildungspolitiker in Ost wie West einen engen Zusammenhang zwischen Bildungssystem und wirtschaftlicher Entwicklung und identifizierten ähnliche Problemlagen wie einen verstärkten Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften und eine vermehrte Bildungsnachfrage in der Industriegesellschaft.20 Die stark bildungsökonomische Rezeption der internationalen Schulentwicklung war beeinflusst von der ersten Tagung der neu gegründeten OECD, die unter dem Thema »Economic Growth and Investment in Education« im Oktober 1961 in Washington stattfand.21 Die im anglo-amerikanischen Raum erörterten Thesen, wonach zwischen Bildungsentwicklung und Wirtschaftswachstum eine enge Wechselwirkung bestehe und »Humankapital« für das ökonomische Wachstum von zentraler Bedeutung sei, wurden in der Bundesrepublik erstmals von Friedrich Edding (1909-2002),22 Professor an der Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt am Main, Mitte der 1950er-Jahre aufgegriffen und stießen Anfang der 1960er-Jahre auf größere öffentliche Resonanz.23 Bildungspolitik wurde zunehmend als Planungsaufgabe aufgefasst und bedurfte der wissenschaftlich fundierten Politikberatung durch Bildungsexperten.24 Die Kultusminister ließen eigene Planungsabteilungen einrichten, wo Politik, Verwaltung und Wissenschaft gemeinsam zukunftsweisende Bildungsprogramme ausarbeiten sollten.25 20

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Vgl. Rudloff, Bildungsplanung in den Jahren des Bildungsbooms; Jessen, Zwischen Bildungsökonomie und zivilgesellschaftlicher Mobilisierung, S. 218. Allgemein dazu auch Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005, S. 181. Die OECD verstand Bildung als Basis jeder Demokratie und plädierte dafür, Bildung neben Kapital und Arbeit als dritte Produktivkraft zu betrachten. Vgl. Daniel Tröhler, The OECD and Cold War Culture: Thinking Historically about PISA, in: Heinz-Dieter Meyer/Aaron Benavot (Hg.), PISA, Power, and Policy. The Emergence of Global Educational Governance, Oxford 2013, S. 141–161. Nach der Promotion in Kiel 1935 war Edding bis 1943 im Statistischen Reichsamt in Berlin, 1948-1959 am Institut für Weltwirtschaft in Kiel und 1964-1977 Direktor des MPIB. Er sorgte dafür, dass auch der Bereich der beruflichen Bildung in die Reformdiskussion mit einbezogen wurde. Die »Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung« (HIPF) wurde 1951 auf Beschluss der hessischen Landesregierung und unter Beteiligung der amerikanischen Militärbehörde und der Stadt Frankfurt gegründet mit dem Ziel, nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus internationale Anregungen in die deutsche Bildungsforschung aufzunehmen. 1964 wurde die Hochschule in »Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung« (DIPF) umbenannt. Vgl. http://www.dipf.de/de/ueber-uns/institut/ geschichte/geschichte-des-dipf (Stand: 15.10.2014). Vgl. dazu Rudloff, Does science matter? Zur Bedeutung wissenschaftlichen Wissens im politischen Prozess. Am Beispiel der bundesdeutschen Bildungspolitik in den Jahren des »Bildungsbooms« (FÖV Discussion Papers 19), Speyer 2005. Vgl. auch Kap. 2.2. Vgl. ebd. und das Beispiel Baden-Württemberg in Fallstudie 1 über Osterburken.

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Die zeitliche Organisation des Schultages spielte in den neu entfachten bildungspolitischen Aktivitäten kaum eine Rolle. Zwar sollten SPD-geführte Kultus­ ministerien und auch einzelne CDU-Kultusminister Schulversuche mit Tagesheimschulen unterstützen,26 Hauptinteresse von Bund und Ländern war indes zunächst, die quantitative Expansion des bestehenden Schulsystems voranzutreiben, um im internationalen Bildungswettbewerb mithalten zu können.27 So sollte anhand einer »Bedarfsfeststellung« das vorhandene Netz von Gymnasien und Realschulen erweitert werden, um dadurch die in bildungsfernen ländlichen Schichten vermuteten »Begabungsreserven« zu erschließen.28 In der Tat sollten sich innerhalb eines Jahrzehnts die Schülerzahlen an Mittelschulen und Gymnasien verdoppeln und dabei vor allem die ehemals im Bildungszugang Benachteiligten wie Mädchen und Katholiken aufholen.29 So konzentrierten sich die Plenarsitzungen der Kultusministerkonferenz auf ein bildungsökonomisches Programm, ohne dass dabei von Ganztagsschule die Rede war. Im März 1964 formulierte die KMK auf ihrer 100. Plenarsitzung die Eckpunkte ihrer neuen Bildungspolitik: eine verbesserte Schulbildung, eine verstärkte Durchlässigkeit der Schulen sowie Ausbildungsmöglichkeiten, die »die Leistungsfähigkeit des einzelnen voll ausschöpfen«. In der daraus hervorgehenden »Berliner Erklärung« forderten die Kultusminister, dass der neue bildungspolitische Kurs der Bundesrepublik den »in allen Staaten gleichlautenden Bedürfnissen der modernen Industriegesellschaft« Rechnung tragen solle.30 Der Blick richtete sich dabei außer auf die OECD vor allem auf die schulreformerischen Trends in den europäischen Nachbarländern wie zum Beispiel die Modernisierung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts in Frankreich, den Niederlanden, in Großbritannien und Skandinavien.31 Aus heutiger Sicht hätte es nahegelegen, dass die Kultusministerkonferenz auch die Ganztagsschule als Reformprojekt auf dieser Ebene föderaler Kommunikation ins Spiel gebracht hätte. Immerhin war die ganztägige Schule in den meisten europäischen Ländern in den 1960er-Jahren bereits realisiert oder zumindest projektiert. Da dies aber nicht geschah und die europäische Integration 26 27

Vgl. Kap. 2.3. und Fallstudie 1 über Osterburken. Christoph Führ, Zur deutschen Bildungsgeschichte seit 1945, in: ders. (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. VI, 1945 bis zur Gegenwart, Erster Teilband: Bundesrepublik Deutschland, München 1998, S. 1–25, hier S. 14f. 28 Vgl. das Beispiel des Ganztagsgymnasiums Osterburken in Fallstudie 1. 29 Vgl. die Zahlen bei Rytlewski/Opp de Hipp, Bundesrepublik in Zahlen, S. 211; auch Peter Lundgreen, Sozialgeschichte der deutschen Schule im Überblick, Teil II: 1918–1980, Göttingen 1981, S. 149f. 30 Ludwig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2, S. 545; Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 287f. 31 Hüfner/Naumann, Konjunkturen der Bildungspolitik, S. 130f.

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seither dennoch zu einem festen Bestandteil der bildungspolitischen Semantik der Bundesrepublik wurde, zeigte sich hier einmal mehr die tiefe mentale Verwurzelung des Halbtagssystems als einer weiter nicht zu hinterfragenden Selbstverständlichkeit des deutschen Schulwesens. Mit der Europäisierung der schulpolitischen Argumente sahen sich viele Ganztagsschulbefürworter im Umkreis der Gemeinnützigen Gesellschaft Tagesheimschule (GGT) bestätigt, hatten sie selbst doch jahrelang auf die Ganztagsform der Schulsysteme »zahlreicher Kulturländer« hingewiesen.32 Allerdings gelang es diesem Netzwerk zunächst kaum, auf den anfahrenden Reformzug aufzuspringen. Das große öffentliche Interesse, das die frühen ganztägigen Schulversuche in der Debatte um die Arbeitszeitverkürzung Ende der 1950er-Jahre begleitet hatte, war abgeflaut. Inwieweit diese Versuche erfolgreich weiterliefen oder in manchen Fällen »trotz Elternzuspruch« abgebrochen wurden, war kaum noch eine Zeitungsmeldung wert. »In der pädagogischen Diskussion und Literatur scheint das Thema tabu geworden zu sein«, stellte die »Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung« 1964 fest.33 Im selben Jahr beklagte Georg Rutz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung34 (DIPF), dass die Ganztagsschule im Kontext schulreformerischer Ideen kaum auftauche.35 Wenn die Ganztagsschule in der anschwellenden Bildungsdebatte zunächst unterzugehen drohte, rührte dieser Eindruck vor allem daher, dass sich ihre bisherigen Fürsprecher im Umkreis der GGT seit den frühen 1960er-Jahren neu ausrichteten. Die allgemeine Neuorientierung von Pädagogik und Erziehungswissenschaft veränderte auch hier Akteursfeld, Begrifflichkeiten und Deutungsrahmen der pädagogischen Selbstverständigung. Neuorientierung in Wissenschaft und Praxis In dem Maße, wie Bildungsplanung vermehrt empirische wissenschaftliche Zuarbeit erforderlich machte, verschoben sich die Gewichte in der pädagogischen Forschungslandschaft von einer geisteswissenschaftlich-hermeneutisch ausgerichteten Pädagogik in Richtung einer stärker sozialwissenschaftlich orientierten Erziehungs32

Rolf Osang, Die deutsche Ganztagsschule, in: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung 8 (1956), Nr. 6, S. 112–115; Schüler-Fünftagewoche?, in: Berliner Lehrer-Zeitung 12 (1958), Nr. 5, S. 116; Minna Specht, Erfahrungen mit der Ganztagsschule. Bericht über eine Studienfahrt nach England, in: Die Sammlung 12 (1957), Nr. 5, S. 262–265; Erwin Ihring, Fünf-TageWoche für die Schule, in: Die Sammlung 12 (1957), Nr. 7/8, S. 408–412. 33 Fünf-Tage-Woche in der Schule – Tabu?, in: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung 16 (1964), Nr. 3, S. 35. 34 Vgl. in diesem Kap. Fußnote 23. 35 Georg Rutz, Die Tagesheimschule – Voraussetzung der Schulreform?, in: Tagungsbericht: Die Tagesheimschule. Wege und Möglichkeiten. Informationstagung am 5. und 6. März 1965 in Dortmund, Schulverwaltungsamt Dortmund, Dortmund 1964, S. 21–46.

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wissenschaft. Die neue Bildungsforschung war interdisziplinär, anwendungs- und problemorientiert, wenn es etwa darum ging, die Bildungsbenachteiligung in bestimmten ländlichen Regionen zu messen.36 Der Erziehungswissenschaftler und Pädagogikprofessor Heinrich Roth (1906–1983) hatte bereits Anfang der 1950erJahre eine solche »realistische Wende« und damit Öffnung der westdeutschen Pädagogik gegenüber den empirischen Methoden der angloamerikanischen Sozialwissenschaften gefordert.37 Roths Schriften, allen voran der von ihm herausgegebene Bestseller »Begabung und Lernen«, wurden in der Bundesrepublik seit den 1960er-Jahren breit rezipiert.38 Die Auffassung, dass menschliche Fähigkeiten dynamisch veränderbar sind, löste den bis dahin vorherrschenden genetisch begründeten statischen Begabungsbegriff ab.39 Dieses neue Bildungsverständnis prägte die pädagogischen Diskussionen über die anstehende Schulreform. Nun konnte das Bildungsprivileg bürgerlicher Kinder nicht länger biologistisch legitimiert und Kindern aus Arbeiterfamilien per se eine tenden­ziell niedrigere Begabung attestiert werden. Damit stand auch das hierarchisch gegliederte Schulsystem mit grundständigem Gymnasium, Mittelschule und Volksschule, das der Begabungsverteilung innerhalb der Bevölkerung angeblich entspreche, zur Disposition.40 Der Soziologe Helmut Schelsky hatte bereits 1957 die Schule als die »entscheidende zentrale soziale Dirigierstelle« für Lebenschancen bezeichnet. Nun gingen jüngere Soziologen wie Ralf Dahrendorf über die gesellschaftliche Lenkungsfunktion von Schule hinaus und betonten unter dem Schlagwort der »Chancengleichheit« die bürgerrechtliche Dimension von Bildung.41 Wenn Bildungspolitik in den Folgejahren immer expliziter als Gesellschaftspolitik verstanden wurde, blieb auch die in der erziehungswissenschaftlichen und pädagogischen Publizistik erfolgende 36 Vgl. Fallstudie 1 zu Osterburken. 37 Vgl. allgemein zu Heinrich Roth und zu dessen umstrittener Vergangenheit als Heeres­ psychologe im Nationalsozialismus: Walter Jungmann/Kerstin Huber (Hg.), Heinrich Roth – »moderne« Päda­gogik als Wissenschaft, Weinheim/München 2009; Margret Kraul/Jörg Schlömer­kemper (Hg.), Bildungsforschung und Bildungsreform – Heinrich Roth revisited, Weinheim 2007. 38 Vgl. Heinrich Roth, Begabung und Begaben, in: Die Sammlung 7 (1952), S. 395–407; im Auftrag des Deutschen Bildungsrats entstand die berühmte Gutachtensammlung: ders. (Hg.), Begabung und Lernen. Ergebnisse und Folgerungen neuer Forschungen, Stuttgart, 3. Aufl. 1969. 39 Dieter Hoffmann, The Adoption of American Educational Theory in West Germany after 1945 Heinrich Roth, in: Paedagogica Historica: International Journal of the History of Education 33 (1997), Nr. 1, S. 277–290. 40 Gass-Bolm, Gymnasium, S. 128f. 41 Helmut Schelsky, Zur Rolle der Schule in unserer Gesellschaftsverfassung, in: ders., Schule und Erziehung in der industriellen Gesellschaft, Würzburg 1957, S. 9–50, hier S. 17f.; Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, S. 284ff.; Rudloff, Bildungsplanung S. 269.

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Thematisierung der Ganztagsschule davon nicht unberührt. Der Paradigmenwechsel deutete sich dadurch an, dass die Ganztagsschule zunehmend aus ihren reformpädagogischen bzw. geisteswissenschaftlich-pädagogischen Wurzeln herausgelöst wurde und – wie bereits auf der erwähnten Tagung des UNESCO-Instituts Ende 1961 erkennbar – in das semantische Fahrwasser der neuen bildungsökonomischen und soziologischen Parameter geriet. Der Akzent lag nun nicht mehr auf der sozialpolitischen Funktion der Ganztagsschule, sondern auf deren besonderen pädagogischen Möglichkeiten. So hieß es jetzt, dass sich in dem erweiterten erzieherischen Raum der ganztägigen Schule nicht nur das »Üben von Verhaltensweisen im Leben miteinander« und das »Wecken der schöpferischen Kräfte«, sondern auch »neue Formen der Wissensvermittlung« besser realisieren ließen.42 Innerhalb weniger Jahre setzte sich ein neues soziologisches Begründungsvokabular für ganztägige schulische Einrichtungen durch. War um 1959/60 noch häufig von der durch die Berufstätigkeit beider Elternteile verursachten »Not der Stadtkinder«,43 von »gestörten Familien« und von der »reizüberfluteten Welt«44 die Rede, so hieß es Mitte der 1960er-Jahre in einer Bestandsaufnahme aller laufenden Ganztagsschulversuche, die ganztägigen Volksschulen seien auf die »leistungsschwachen und erziehungsschwierigen Kinder« gerichtet. Im Zusammenhang mit dem Ausbau von Gymnasien seien die Standorte dahingehend geprüft worden, inwieweit durch ein Tagesheimformat Kinder aus »Familien der unteren Bildungsschichten« als »Begabungsreserven besser ausgeschöpft« und vorhandene »Mentalitätssperren« abgebaut werden könnten.45 Mit den neuen Funktionszuschreibungen konnte die Ganztagsschule in der Praxis zwar weiterhin als soziale Hilfe betrieben werden, das schulische Ganztagsformat versprach jedoch gleichzeitig – insbesondere für Mittelstufenschulen und Gymnasien – die nationale Produktivkraft Bildung effizienter nutzbar zu machen, indem sich durch längere Anwesenheit der Schülerinnen und Schüler die allenthalben geforderte Begabungsförderung wirkungsvoller umsetzen ließ. So betonte Fritz Holthoff, Duisburger Schuldezernent und späterer Kultusminister von NordrheinWestfalen, auf einer GGT-Tagung 1965 anlässlich der Eröffnung des TagesheimGymnasiums in Duisburg, die Schule habe die Aufgabe, den jungen Menschen »zu begaben«. Die Bundesrepublik nutze allerdings verglichen mit anderen Ländern in 42

Die Ganztagsschule. Bericht des UNESCO-Instituts für Pädagogik vom 1.12.1961, in: Pädagogische Rundschau 16 (1962), Nr. 2, S. 156ff. 43 Karlheinz Klinger, Aufbau und Planung von Tagesheimschulen in der Bundesrepublik, in: Theorie und Praxis der Tagesheimschule, S. 77–109, hier S. 95. 44 Hans Wenke, Ganztagsschule, in: Theorie und Praxis der Tagesheimschule, S. 7–23, hier S. 12, 15. 45 Christoph Führ, Schulversuche 1965/66 Teil I: Gesamtdarstellung, Weinheim 1967, S. 91.

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Ost und West ihre Begabungsreserven nicht, welche insbesondere Arbeiterkinder darstellten.46 Reformpolitisch ließ sich die Ganztagsschule mit der bestehenden dreiglied­ rigen Schulstruktur verwirklichen. Eine wachsende Zahl von jüngeren Bildungsexperten und Pädagogen schrieb der Ganztagsschule in den 1960er-Jahren jedoch eine Modellfunktion zu, wenn es darum ging, die hohe Selektivität und mangelnde Leistungsfähigkeit des westdeutschen Schulsystems zu überwinden und alternative Schulmodelle zu entwerfen. Ein Schultyp, der die hierarchische Dreigliedrigkeit aufhob und ganztägig organisiert war, sollte bald zu den meistdiskutierten Modellen in der Bildungsdebatte gehören. Carl-Ludwig Furck (1923–2011), Erziehungswissenschaftler und Universitätsprofessor in Hamburg,47 entwarf 1963 eine solche »Schule für das Jahr 2000« und sprach sich damit als einer der ersten westdeutschen Universitätspädagogen für die ganztägige Gesamtschule aus, welche die einer demokratischen Gesellschaft angemessene Schulform sei: Die Schule im Jahr 2000 wird eine »Tagesheimschule« von 8.00 bis 16.30 Uhr sein. Das bedeutet keineswegs, daß die Zahl der Unterrichtsstunden einfach vermehrt wird, sondern man wird Erfahrungen der Jugendpflege und der Gruppenpädagogik weitgehend berücksichtigen. Dazu gehört auch all das, was in der schwedischen und zum Teil auch der angelsächsischen Schule selbstverständlich ist: das gemeinsame Mittagessen, die Mittagsruhe, Sport und Spiel. Die neue Schule bietet individuelle Studienmöglichkeiten in Werkstatt, Labor oder Bibliothek. Sie ist offen für die Initiative der Schüler und ein Ort jugendgemäßen Lebens und Arbeitens. Die Schülermitverwaltung und die interessierten Eltern werden wohl mehr als bisher an der Gestaltung des Schulalltags mitwirken können, zumal die neue äußere und innere Gliederung erlaubt, die Individualität des einzelnen Schülers besser zu berücksichtigen und diese Schule mehr als nur Stätte des Unterrichts ist. In der modernen Schule werden Pädagogen, Sozialarbeiter, Psychologen, der Arzt und der Zahnarzt eng zusammenarbeiten […].48

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Begabungsförderung durch Tagesheimschulen, in: Neue Deutsche Schule 18 (1966), Nr. 2, S. 41f. Carl-Ludwig Furck, der bei Herman Nohl promoviert hatte, war 1963 an der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft beteiligt; 1965 wurde er als Ordentlicher Professor an die Freie Universität Berlin berufen und zum Leiter des neu gegründeten Pädagogischen Zentrums in Berlin ernannt. Das Pädagogische Zentrum (PZ) war eine Einrichtung des Landes Berlin, das 1965 als Modelleinrichtung zur Verzahnung von pädagogischer Theorie und Praxis, von Forschung und Unterricht auf der Basis eines von Furck entwickelten Konzepts gegründet worden war. Vgl. auch Fallstudie 2 zur Walter-GropiusSchule. Carl-Ludwig Furck, Schule für das Jahr 2000 – Ein utopischer Plan, in: Neue Sammlung 3 (1963), S. 501–508, hier S. 506.

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Carl-Ludwig Furcks Vision einer ganztägigen Schule, auf die sich die Ganztagsschuldebatte der 1960er-Jahre immer wieder bezog, zeichnete sich durch das Bekenntnis zu westlichen Reformvorbildern wie Schweden und Großbritannien sowie zu modernen schulpädagogischen Ansätzen wie Gruppenpädagogik und Schulpsychologie aus. Sie war Teil eines Gesamtentwurfs, der alternativ zum drei­ gliedrigen Schulsystem ein Schulkonzept vertrat, nach dem Schülerinnen und Schüler länger gemeinsam lernen sollten. Angestrebt wurde eine Vollzeitschule vom 5. bis 18. Lebensjahr mit freiwilligem Kindergarten, Schulkindergarten, Grundstufe, Förderstufe, Hauptschule, Berufsfachschule bzw. höherer Fachschule/Studienkolleg. Bemerkenswert ist, dass der Erziehungswissenschaftler Furck Schule als päda­ gogisches Dienstleistungszentrum entwarf, an dem unterschiedliche Professionen arbeitsteilig zusammenwirkten. Furck bezog sich auf die neuen pädagogischen Prämissen, indem er darauf hinwies, dass »Bildung und Begabung [sind] nichts einfach Feststehendes« seien, sondern sie »herausgefordert werden« müssen. Insofern sei Bildung als »Hilfe zur Mündigkeit« zu verstehen.49 Furck blieb nicht der einzige Erziehungswissenschaftler, der sich dezidiert für eine Ganztagsorganisation des Schulwesens aussprach. Mitte der 1960er-Jahre kristallisierte sich in der Forderung nach Tagesheim- bzw. Ganztagsschulen so etwas wie ein pädagogischer Minimalkonsens heraus. Für das Projekt Ganztagsschule wurde die bildungsökonomische, sozialwissenschaftliche und zunehmend gesellschaftspolitische Legitimierung von Bildungspolitik in jedem Fall zum Resonanzverstärker. Je mehr sich unter jungen Pädagogen, häufig mit SPD-Parteibuch, die Gewissheit durchsetzte, dass »die Schulen außerstande sind, die Ungleichheit der Startchancen auszugleichen«, sondern vielmehr »das deutsche Schulsystem in seiner jetzigen Organisation die soziale Schichtung der Gesellschaft [zementiert]«, desto häufiger gehörte die Ganztagsschule zu den Vorschlägen, das »Versagen der Schule« zu beheben. Man war sich einig, dass diese Schulform nicht länger als soziale Noteinrichtung zu betrachten sei, sondern vielmehr modellhaft die »Schule der Zukunft« darstelle.50 Die neuen, von der pädagogischen Wissenschaft entwickelten schulischen Leitbilder verbreiteten sich über die dichten Kommunikationsnetze zwischen Bildungsforschung, Politik und Verwaltung. Auf diese Weise gelangte schulische Zeitpolitik als Reformhebel ins Bewusstsein der bildungspolitischen Akteure, und zwar nicht nur in den pädagogischen Reformzentren der Republik wie Hessen und Berlin, sondern auch in den Kultusministerien der anderen Bundesländer.51 Bei den neuen Pro49 50 51

Furck, Schule für das Jahr 2000. Joachim Lohmann, Die Ganztagsschule. Aufgaben und Möglichkeiten, Weinheim/Berlin 1966, Klappentext. Vgl. zu Baden-Württemberg Fallstudie I über das Ganztagsgymnasium Osterburken.

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tagonisten auf dem Diskurs- und Handlungsfeld Ganztagsschule handelte es sich einerseits um Akteure der schulischen Praxis wie Pädagogen und Schulleiter und andererseits um jüngere Erziehungswissenschaftler im Schnittbereich von Wissenschaft und Politik. Über die Gemeinnützige Gesellschaft Tagesheimschule waren sie mit einem weiten Akteursfeld verflochten, das sich in seinen generationellen, pädagogischen und politischen Zugehörigkeiten unterschied. Tonangebend waren hier in den 1960er-Jahren nicht mehr die älteren, sich der Reformpädagogik zurechnenden Verbandsmitglieder, sondern jüngere Pädagogen, welche die Ganztagsschule in der westlichen Moderne verorteten. Diese hatten zumeist einen wissenschaftlichen Hintergrund sowie Auslandserfahrung,52 zu der unter anderem die von der GGT organisierten Studienreisen in die USA, nach Großbritannien und Schweden, aber auch in die Sowjetunion beitrugen.53 Zu den Stichwortgebern, deren Studien die neue Argumentationsrichtung prägten, gehörten Georg Rutz und Joachim Lohmann mit ihrem im Folgenden genauer zu betrachtenden Konzept einer »westlichen« Ganztagsschule in dezidierter Abgrenzung zur östlichen Variante. Innerhalb der GGT verkörperten Rutz und Lohmann als Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Politik bzw. Ministerialverwaltung auch den verbandsinternen Generationswechsel. Ganztagsschule, Westernisierung und Systemkonkurrenz Es dürfte bekannt sein, daß der SED-Staat mehr und mehr darauf dringt, die Tagesschule in der Zone einzuführen. Dabei wird die Schule zum Machtinstrument des Staates. Über sein Ziel kann es dabei keinen Zweifel geben: der Staat will die Sicherung der Erfolge in der Erziehung zum sozialistischen Menschen. Die Tendenz ist deutlich gegen Familie und Kirche gerichtet. […] Als evangelische Christen sollten wir es nicht so halten, wie es in der Bundesrepublik schon fast zum guten Ton gehört: nämlich alles, was jenseits des Eisernen Vorhangs geschieht, von vornherein als tabu zu bezeichnen. Wir sollten der Frage nicht ausweichen, was wir im Westen der Entwicklung in Ostdeutschland wirklich entgegenzustellen haben. Eine sozialistische Tagesschule will die Erziehung des jungen Menschen im festgelegten ideologischen Sinne. Im Gegensatz dazu wird eine evangelische Tagesheimschule eine ideologiefreie Schule sein. Sie will den jungen Menschen nicht festlegen, sondern ihn in die Freiheit zur sachlichen Auseinandersetzung führen.54

Mit diesen Worten grenzte der Schulleiter des durch Ganztagsklassen erweiterten Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasiums in Ahlhorn (Niedersachsen) im Oktober 1963 52

Zu den engagierten Schulleitern gehörten z.B. Karlheinz Klinger, der Leiter der EbertSchule in Frankfurt/M., und Elmar Weiss, der zukünftige Schulleiter des Ganztagsgymnasiums Osterburken in Baden-Württemberg. Vgl. dazu genauer Fallstudie I. 53 Klinger/Rutz, Die Tagesheimschule. Grundlagen und Erfahrungen; Lohmann, Ganztags­ schule. 54 Der evangelische Schulversuch »Tagesheimschule«, in: Elternblatt 14 (1964), Nr. 3, S. 46f.

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auf der Nürnberger Tagung der Evangelischen Schulbünde seine Konzeption einer westlichen Ganztagsschule von der realsozialistischen östlichen Variante klar ab und beanspruchte zugleich, deutliche protestantische Akzente im Schulreformdiskurs zu setzen. Hatte man im Westen die Einführung erster Tagesschulen in der DDR noch kurz zuvor scharf verurteilt, war man nun entschlossen, das neu entdeckte Modell einer leistungsstarken ganztägigen Schule nicht dem anderen deutschen Staat zu überlassen.55 Vielmehr ging es auch bei der Ganztagsschule – wie bei der Enttabuisierung von bislang als östlich gebrandmarkten Konzepten von Bildungsplanung generell – darum, die äußere Struktur mit einem genuin »westlichen« Inhalt zu füllen. Der Verweis auf die DDR verlor seine abschreckende Wirkung in dem Maße, wie der internationale Vergleich die krasse Rückständigkeit des eigenen Bildungswesens hatte offenbar werden lassen und die wissenschaftlich gestützte Planung von Bildungsprozessen auch in der Bundesrepublik ein zentrales Instrument der Bildungspolitik wurde. Die ehedem scharf gezogenen Frontlinien zwischen sozialistischer Planung und freiheitlicher Grundordnung verblassten, auch wenn wiederholt klargestellt werden musste, dass der Osten einen Weg eingeschlagen habe, »der ideologiegebunden und darum für die freie Welt nicht gangbar ist«.56 Insgesamt versachlichte sich in den Reformjahren der Bundesrepublik auch im Politikfeld Bildung der Blick auf die Schulsysteme des Ostblocks, nicht zuletzt nachdem mit dem Mauerbau die Zweistaatlichkeit stabilisiert wurde. Auch in der sich konstituierenden westdeutschen Erziehungswissenschaft führten komparative und konvergenztheoretische Ansätze in den 1960er-Jahren zu einer Entdämonisierung der sowjetischen bzw. kommunistischen Schulpolitik. Vielmehr sah man das östliche und das westliche Bildungssystem vor ähnliche Probleme gestellt, für die die »moderne Industriegesellschaft« das systemübergreifende tertium comparationis bildete. So beschrieb der Herausgeber des »Gesamtdeutschen Pädagogischen Literaturbeobachters« Karl Knoop die neue Perspektive als »frei von unfruchtbaren Polemiken« und führte weiter aus: »Je klarer der denkende Mensch die Zusammenhänge erkennt, desto stärker werden die Kräfte des Vertrauens in die uns eigenen Werte, und um so mehr verliert die von vielen überschätzte Ost-Ideologie an Schrecken.«57 Oskar Anweiler, einer der frühen Verfechter einer vergleichenden Bildungsforschung, verwies auf die »vielfältigen geistigen Fäden« zwischen kom55 Vgl. den Exkurs zur DDR im Kap. »Blickwechsel«. 56 Bessere Begabtenauslese erstrebt, FAZ, 23.2.1961, abgedruckt in: Berliner Lehrer-Zeitung 15 (1961), Nr. 5, S. 98. 57 Der »Gesamtdeutsche Pädagogische Literaturbeobachter« war 1962 erstmalig erschienen. Vgl. Karl Knoop, Was uns trennt – was uns verbindet III, in: Die Berliner Schule 12 (1965), Nr. 5, S. 5f.

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munistischen Bildungsauffassungen und pädagogischen Aussagen des amerikanischen Pragmatismus hinsichtlich der Notwendigkeit technisch-ökonomischer Bildung.58 Der Vergleich mit der ostdeutschen Bildungspolitik bestärkte westdeutsche Bildungsforscher darin, das eigene Konzept von ganztägiger Schule noch expliziter entlang westlicher Wertbezüge zu konturieren und von der ostdeutschen Tagesschule abzugrenzen. So stellte beispielsweise der Erziehungswissenschaftler Franz-Josef Holtkemper von der Universität Münster in seinen »pädagogischen Überlegungen zur ganztägigen Bildung und Erziehung« mit Blick auf die Tagesschulinitiativen in der Sowjetunion und der DDR Mitte der 1960er-Jahre klar: »Ganztagsschule muß nicht den totalen Erziehungsanspruch des Staates bedeuten.« Eine Institution dürfe »nicht schon deswegen als schlecht angesehen, weil sie missbraucht werden kann. […] Gerade in alten freiheitlichen Demokratien des Westens, auch in einem Land mit so starkem Familiensinn wie Frankreich, hat ja die Ganztagsschule eine lange Tradition.«59 Der Westen war nicht mehr länger negativer Inbegriff für »Nivellierung« und »Vermassung«, sondern wurde für die Bildungsreformer, deren wissenschaftliche Sozialisation häufig durch längere USA-Aufenthalte geprägt war, zum Ideal und einflussreichen Leitbild.60 Diese Wende schlug sich auch im Sprachgebrauch nieder. Während Anfang der 1960er-Jahre die Begriffe »Tagesheimschule« und »Ganztagsschule« noch etwa gleich häufig Verwendung fanden – auch CarlLudwig Furck sprach, wie oben ausgeführt, in seinem programmatischen Aufsatz noch von der »Tagesheimschule« –, so war nur wenig später fast ausschließlich von der »Ganztagsschule« die Rede. Damit zirkulierte ein Label für ein modernes schulisches Reformkonzept, das schließlich auch der Bildungsrat vertreten sollte. Die Neuausrichtung der Debatte um die Zeitstruktur von Schule wurde von einer jüngeren Generation von Erziehungswissenschaftlern und Pädagogen getragen. Deren Argumente, so wird im Folgenden genauer gezeigt, waren vom allgemeinen Soziologisierungstrend auch in schulpolitischen Fragen gefärbt. Auch für die Reformdebatte um die Ganztagsschule trifft offenbar zu, was Wilfried Rudloff für die Bildungspolitik der 1960er-Jahre insgesamt feststellt, dass nämlich deren »Verwissenschaftlichung […] zugleich auch eine Versozialwissenschaftlichung« bedeutete.61

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Oskar Anweiler, Bildungswettstreit zwischen Ost und West – Schlagwort und Realität, in: Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft und Gestaltung der Schulwirklichkeit 58 (1966), Nr. 12, S. 721–729, hier S. 723. 59 Holtkemper, Pädagogische Überlegungen, S. 4 und S. 6. 60 Thomas Koinzer, Auf der Suche nach der demokratischen Schule. Amerikafahrer, Kulturtransfer und Schulreform in der Bildungsreformära der Bundesrepublik Deutschland, Bad Heilbrunn 2011; vgl. auch Karl-Heinz Füssel, Deutsch-amerikanischer Kulturaustausch im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2004. 61 Rudloff, Bildungsplanung in den Jahren des Bildungsbooms, S. 268.

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Der westliche Typ der Ganztagsschule Am Beispiel der Ganztagsschule in den 1960er-Jahren lässt sich prägnant nachvollziehen, wie sich westliche Wertbezüge im bildungspolitischen Reformkatalog der Bundesrepublik in den Vordergrund schoben. War die ganztägige Schule in den 1950er-Jahren in der Debatte um die Fünftagewoche noch als Schutzwall gegen die westliche Kultur konzipiert,62 so war es jetzt genau diese Öffnung gegenüber dem westlichen Wertesystem, aus der ihre genuine Legitimation abgeleitet wurde. Ihre (Für-)Sprecher nutzten mit dem Hinweis auf die politische Kultur des Westens einen wichtigen diskursiven Baustein. Betont wurde, dass die zeitliche Ausdehnung des Schultages bessere Ansatzmöglichkeiten böte, die Staatsbürger- und Demokratie­ erziehung zu intensivieren. Für Schulexperten wie Georg Rutz sprachen eben nicht allein ökonomische Gründe und »die Unzufriedenheit mit unserem Schulsystem, das ja schon von vorgestern stammt«, dafür, die westdeutsche Schule in Form einer Ganztagsschule zu reformieren. Vielmehr gehe es darum, die Jugendbildung so umzugestalten, dass sie »anteilnehmende, bewusste Staatsbürger« hervorbringe – anstelle von »Untertanen«, die gegenüber dem öffentlichen Leben gleichgültig seien. Mit dem Referenzrahmen Reeducation bzw. Demokratieerziehung bezog sich Rutz wie andere jüngere Erziehungswissenschaftler auf den amerikanischen Strukturfunktiona­ listen Talcott Parson, der den Erfolg der Nationalsozialisten auf die undemokratischen Einstellungen der preußisch-deutschen Herrschaftseliten zurückführt hatte.63 Die normative und wertbezogene Verortung der Ganztagsschule war ebenfalls stark geprägt von den einflussreichen Schriften des jungen Tübinger Soziologieprofessors Ralf Dahrendorf und dessen Konzepten von Öffentlichkeit und Privatheit. Dahrendorf unterschied zwischen den privaten Tugenden »Liebe, Opferbereitschaft, Hingabe, Innerlichkeit, Wahrhaftigkeit, Ehrfurcht, Treue« einerseits und den sogenannten öffentlichen Tugenden wie »Fairness, Toleranz, Selbstbewusstsein, Hilfsbereitschaft, Dank, Friedwilligkeit, Gerechtigkeit« andererseits, deren Einübung von der Kleinfamilie mangels eigener Möglichkeiten an gesellschaftliche Institutionen wie die Schule zu delegieren seien.64 Da diese Tugenden nicht »gelehrt« werden könnten, sondern »gelebt« werden müssten, und die Halbtagsschule in ihrer bisherigen Form hierfür keinen Rahmen bieten würde, brauche es einen neuen sozialen Raum Schule.65 Diesen Raum zum praktischen Trainieren sozialer und demokratischer Verkehrsformen bot das Projekt einer ganztägigen Schule. 62 Vgl. Kap. 1.3. 63 Georg Rutz, Die Tagesheimschule – Voraussetzung der Schulreform?, in: Tagungsbericht: Die Tagesheimschule. Wege und Möglichkeiten. Informationstagung am 5. und 6. März 1965 in Dortmund, Schulverwaltungsamt Dortmund, Dortmund 1964, S. 21–46. 64 Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, S. 284ff.; Ralf Dahrendorf, Die angewandte Auf­ klärung, München 1963. 65 Rutz, Die Tagesheimschule – Voraussetzung der Schulreform?, S. 30.

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Der Pädagoge und SPD-Schulpolitiker Joachim Lohmann66 rekurrierte in seiner Dissertation über die Ganztagsschule auf die Ergebnisse der angloamerikanischen Lernpsychologie und gehörte damit zu den Bildungsforschern, die die Forderung des Erziehungswissenschaftlers Heinrich Roth nach einer »empirischen Wende« aufgenommen hatten.67 Lohmann stellte der »sowjetischen und sowjetzonalen Tages­schule«, die einer »Steigerung der alten Lernschule« gleichkomme und politisch und wirtschaftlich motiviert sei, die westliche, am angelsächsischen Vorbild orientierte Ganztagsschule gegenüber, welche »eine liberale und offene Erziehung anstrebt«. Den Modellcharakter dieser modernen, demokratischen und »west­ lichen« Schule sah Lohmann einerseits in der »Individualisierung durch Wahlmöglichkeiten« nach Neigungen, Interessen und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler durch sogenannte extracurricular acitivities und andererseits in der Sozial­ erziehung begründet. Deutsche Schulen pflegten seiner Meinung nach die »Sach­ intelligenz«, würden aber die »soziale Intelligenz« nicht genügend fördern.68 Mit Bezug auf Dahrendorf konstatierte er: »Dem deutschen Halbtagsunterricht fehlt ein Schulleben, das zu freiem Verhalten erzieht und die öffentlichen Tugenden herausfordert, wie es sich durch Arbeiten in der Schülerbibliothek, beim gemein­ samen Schulessen und in den Arbeitsgemeinschaften und Klubs der angelsächsischen Schule ergibt.«69 Der Erziehungswissenschaftler Felix von Cube (geb. 1927) bezog sich in seinem Plädoyer für die Ganztagsschule ebenfalls positiv auf die »traditionell demokratischen Länder wie England und USA«. Die traditionelle Halbtagsschule habe keine Antwort auf die Entwicklung »hin zur ›egalitären‹ Gesellschaft […], in der Technisierung und Wissenschaft auch die sozialen und individuellen Belange der Menschen immer mehr prägen« würden. Weder Familie noch Schule seien »eine geeignete Form der Erziehung zur sozialen Selbstorganisation«. Diese lasse sich nicht im Unterricht der Halbtagsschule, sondern nur in einer »offenen, entwicklungsfähigen Umgebung«, wie sie die Tagesheimschule darstelle, realisieren.70

66 67 68 69 70

Nach seiner Promotion 1964 war Lohmann wissenschaftlicher Assistent an der Universität Würzburg, 1966–1969 Gesamtschulreferent am Pädagogischen Zentrum Berlin, 1969–70 Planungsreferent beim Berliner Senator für Schulwesen, 1970–79 Stadtschulrat in Kiel. Vgl. Heinrich Roth, Begabung und Begaben, in: Die Sammlung 7 (1952), S. 395–407; ders. (Hg.), Begabung und Lernen. Ergebnisse und Folgerungen neuer Forschungen, Stuttgart, 3. Auflage 1969. Lohmann bezieht sich hier auf die Charakterisierung der amerikanischen Schule bei Heinrich Roth. Lohmann, Das Problem der Ganztagsschule, S. 159f. Lohmann, Die Ganztagsschule, S. 37f., 41. Felix von Cube, Wo man mehr als Wissen lehrt: Eine solche Institution könnte die Tagesheimschule sein, in: Berliner Lehrer-Zeitung 19 (1965), Nr. 2, S. 21–23. Vgl. auch Kap. 2.2.

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Für Wolfgang Hilligen (1916–2003), Schulrat und seit 1970 Professor für Politik­ didaktik in Gießen, gehörte nicht nur die demokratische Wertevermittlung zu den zentralen Aufgaben des staatlichen Schulwesens, sondern auch die Ermöglichung kultureller Teilhabe. Er formulierte als Forderung an einen demokratischen Staat, dass dieser die »Kulturgüter« ebenso sozialisiere und demokratisiere wie die »Massenmedien und Konsumgüter«. Neben »rights, responsibility, relationship« gehe es auch im kulturellen Bereich um »common sense«, definiert als »allgemeines Bewusstsein von Werten, die das Leben tragen«.71 Für Hilligen bot die Zeitorganisation der Tagesheimschule nicht nur eine Auseinandersetzung mit diesen Kulturgütern, sondern diese Schule repräsentiere selbst en miniature das »Modell einer pluralistischen Gesellschaft, in der verschiedene Interessen und Begegnungen stattfinden können«.72 Westdeutsche Erziehungswissenschaftler rezipierten in den 1960er-Jahren die US-amerikanische Idee des »cultural enrichment« am Beispiel des berühmten »Demonstration Guidance Project«, das den positiven Einfluss von Schule auf die Begabungsentwicklung bei Kindern aus armen, sogenannten bildungsfernen Familien nachweisen wollte. Dieses empirisch an einer Junior High School im New Yorker Stadtteil Harlem entwickelte Erziehungsprogramm schien den Beweis zu erbringen, dass verstärkte Investitionen in zusätzliche Lehrer, Psychologen und Sozialarbeiter sowie in ein umfangreiches außerschulisches Kulturprogramm mit Theater-, Opern-, Kino- und Konzertbesuchen sowie Sportveranstaltungen bei schwarzen und farbigen Schülern zu einer messbaren Leistungssteigerung führen können.73 Ohne dass die rassistischen Implikationen der praktizierten Intelligenzquotientmessungen und Leistungstests in der zeitgenössischen Rezeption besonders auffielen, war der Kerngedanke des »cultural enrichment« für die westdeutschen Bildungsexperten vor allem deswegen so attraktiv, weil er schulische Benachteiligung aufzuheben versprach und sich damit in die pädagogische Argumentation für die Reformierung des dreigliedrigen Halbtagsschulsystems einpassen ließ.74 Internationale, insbesondere westliche Referenzhorizonte förderten zweifellos, wie hier skizziert, den wissenschaftlichen Konsens in Sachen Ganztagsschule und diffundierten überdies breit in Politik und Gesellschaft hinein. Damit einher gingen veränderte Einstellungen zu Bildung, Erziehung und Familie, die zu diesem Konsens beitrugen.

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Wolfgang Hilligen, Familienerziehung und Tagesheimschule in ihren Wechselbeziehungen, in: Klinger/Rutz, Tagesheimschule, S. 56–60. 72 Ebd., S. 59. 73 Lohmann, Die Ganztagsschule, S. 18. 74 Walter Schulze, Pädagogische Forschungen in den Vereinigten Staaten von Amerika, in: Eugen Lemberg (Hg.), Das Bildungswesen als Gegenstand der Forschung, Heidelberg 1965, S. 147–201, hier S. 176ff.

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2.2. Der kurze Konsens in Politik und Gesellschaft Im August 1966 wurden bei den Kultusministerien der Länder bundesweit insgesamt 23 Schulversuche mit öffentlichen Tagesheimschulen gezählt – mit steigender Tendenz, da zu diesem Zeitpunkt weitere Ganztagsversuche kurz vor der Realisierung standen.75 Ein Teil dieser Schulen war seit Oktober 1964 im Rahmen des »Hamburger Abkommens« gegründet worden, das im Gegensatz zu seinem Vorläufer, dem »Düsseldorfer Abkommen«, erstmals Schulversuche möglich machte, bei denen von der Grundstruktur des dreigliedrigen Schulwesens abgewichen werden durfte. Damit ließen sich gleichermaßen Versuche mit Ganztagsschulen wie auch mit Gesamtschulen begründen.76 Unter den 23 ganztägigen Schulen waren sieben Volksschulen, eine Realschule, zwei Gymnasien und – hier war die Zunahme besonders deutlich – 13 Sonderschulen.77 Eine schulische Ganztagsform für Kinder mit Lernbehinderung wurde zunehmend befürwortet und offenbar wesentlich rascher in die Tat umgesetzt als im herkömmlichen dreigliedrigen Schulsystem. Die Bemühungen, »Sonderschüler[n] die gleichen Bildungschancen wie dem gesunden Kind« zu verschaffen,78 wie es auf einer GGT-Arbeitstagung in Hamburg im September 1965 hieß, waren zurückzuführen auf eine auf »Normalisierung« zielende Behindertenpolitik in den Jahren der Vollbeschäftigung.79 Etwa Mitte der 1960er-Jahre hatten sich die zuvor stark auseinanderdriftenden Positionen über ganztägige Schulformen in Politik und öffentlicher Meinung weitgehend angeglichen. Joachim Lohmann schätzte 1965 auf der Grundlage von kommunalen Erhebungen und Umfrageergebnissen, dass »damit zu rechnen [sei], daß in den westdeutschen Städten wenigstens ein Drittel, wahrscheinlich bis zu 40 % der Eltern eine ganztägige Schulerziehung bejahen«.80 Hans Linde hatte bereits wenige Jahre zuvor auf Basis seiner soziologischen Erhebung für Dortmund vermutet, »bei nahezu der Hälfte aller Eltern [läge] die Bereitschaft vor, die pädagogischen Aufgaben von Elternhaus und Schule neu abzugrenzen, und zwar im Sinne eines Funktionsgewinnes der Schule«.81 Eine dem Baden-Württembergischen Kultusministerium vorliegende Meinungsumfrage der Wickert-Institute in Tübingen vom 29. Mai 1969 ergab, dass 70 Prozent der befragten Eltern die Ganztagsschule und 75 76 77 78

Christoph Führ, Schulversuche 1965/66 Teil I: Gesamtdarstellung, Weinheim 1967, S. 91. Vgl. Kap. 2.3. Führ, Schulversuche, S. 91. So lautete die Forderung einer Arbeitstagung der GGT in Hamburg im September 1965. Vgl. Sonderschulen als Tagesheimschulen, in: Neue Deutsche Schule 18 (1966), Nr. 1, S. 19. 79 Elsbeth Bösl, Politiken der Normalisierung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld 2009. 80 Lohmann, Das Problem der Ganztagsschule, S. 186. 81 Linde, Tagesschule, S. 172. Vgl. zu Lindes Studie Kap. 1.2.

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einen schulfreien Samstag wünschten.82 Auch wenn für diese hohen Zustimmungswerte die Erhebungsgrundlagen wie die Repräsentativität der Befragten (Bevölkerungsquerschnitt, Mütter oder Eltern schulpflichtiger Kinder) und der genaue Fragenkatalog nicht mehr rückwirkend zu rekonstruieren sind, lassen sie sich, abgestützt durch weitere Quellen, als plausibles Indiz dafür lesen, dass der schulpolitische Reformkurs in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre auf die Zustimmung breiter Bevölkerungsschichten stieß. Parteien und Verbände Um 1965 teilten alle politischen Lager die Idee, dass die Ganztagsschule die »Schule der Zukunft« in der modernen Industriegesellschaft sei. Die bildungspolitische Reformeuphorie, die schon vor der Großen Koalition eingesetzt hatte, wirkte hier offenbar homogenisierend. Von allen politischen Parteien hatte die SPD die Ganztagsschule zuerst in ihr Programm aufgenommen. So forderten die bildungspolitischen Leitsätze des SPD-Parteivorstandes im Juli 1964 die Errichtung weiterer Tagesheimschulen für Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern. Auch in dem bildungspolitischen Sofortprogramm der SPD vom 11. September 1964 wurde diese Forderung vertreten.83 Die SPD-Landesverbände in Hessen und Nordrhein-Westfalen votierten ebenfalls früh für ganztägige Schulen. Die Sozialdemokraten hatten erkannt, dass Bildungspolitik das zentrale politische Handlungsfeld der Zukunft sein würde, und waren deshalb bemüht, sich hier als moderne, reformfreudige Kraft zu profilieren, die gegen die Verkrustungen des überkommenen Bildungssystems antrat und neue Wege sozialen Aufstiegs öffnete. Damit setzte sie nicht zuletzt die Unionsparteien unter Druck, sich des Themenkomplexes Bildung und Gesellschaft stärker anzunehmen.84 Die Christdemokraten verhielten sich dem Thema Ganztagsschule gegenüber zögerlicher, hatte sich ihr Ideenhaushalt im Bereich Bildung und Erziehung doch jahrelang an einem »natürlichen« Elternrecht orientiert und ganztägige Erziehungssysteme mit Verweis auf die DDR pauschal abgelehnt. Dennoch lässt sich auch im konservativen Lager ein partieller Politikwechsel ausmachen. Zu den konservativen Fürsprechern der Ganztagsschule zählte etwa Paul Mikat, von 1962 bis 1964 Kultusminister in Nordrhein-Westfalen, der sich für Versuche mit Tagesschulen im Rahmen der Fünftagewoche aussprach. Auch der christdemokratische Kultusminis82 83 84

Die Zahlen werden in einem Schreiben des Baden-Württembergischen Kultusministeriums erwähnt. HStABW EA3/505 7180-4 II.B, Kultusministerium Baden-Württemberg an Herrn Braun vom 1.7.1969. Lohmann, Ganztagsschule, S. 53f. Wilfried Rudloff, Bildungspolitik als Gesellschaftspolitik. Die Bundesrepublik in den 1960erund 1970er Jahren im internationalen Vergleich, in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), S. 237–268, hier S. 241.

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ter Wilhelm Hahn,85 in Baden-Württemberg von 1964 bis 1978 im Amt, unterstützte Modellversuche mit Ganztagsschulen, die er als einen wichtigen »Schritt auf dem Weg zur Bildungsgesellschaft« betrachtete.86 Von den Lehrerverbänden gehörte die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zu den frühen Befürwortern von ganztägigen Schulversuchen. Eine Episode in Düsseldorf zeigt, wie die GEW auf lokaler Ebene unterstützend agierte: Im März 1963 drohte ein vom Düsseldorfer Schulamt angeregter und von Eltern und Lehrern unterstützter Ganztagsschulversuch an einer evangelischen Volksschule zu scheitern, nachdem die CDU-Fraktion im Rat der Stadt zu heftigen Protesten mobilisiert hatte. Offenbar gelang es dem GEW-Kreisverband daraufhin, durch Vermittlungsgeschick die Gemüter zu beruhigen und durch Pressekonferenzen und Kommunikationskanäle zum Kultusministerium das politische Meinungsklima zugunsten des Schulversuchs so zu beeinflussen, dass dieser durchgeführt werden konnte.87 Selbst der Philologenverband, der ganztägige Schulformen noch kurz zuvor unmissverständlich abgelehnt hatte, sah in deren Einrichtung Mitte der 1960er-Jahre »eine gezielte pädagogische Maßnahme zur Begabungsförderung«.88 Die Kirchen signalisierten ebenfalls Zustimmung. Beide Kirchen hatten in ihrer Eigenschaft als Schulträger eigene Tagesheimschulversuche gestartet. Die evangelische Kirche verstand sich ohnehin als treibende Kraft der Bildungsreform. Aber auch die katholische Kirche öffnete sich einem modernen Konzept von Ganztagsschule: Am deutlichsten war dies bei der katholischen Arbeiterbewegung der Fall, die im Mai 1965 in zeitgenössischer Reformdiktion »den Ausbau unserer Schulen zu Ganztagsschulen dringend« empfahl, »um die Milieusperren – unter Wahrung der subsidiären Funktion der Schule gegenüber dem Elternhaus – zu überwinden«.89 Für die katholische Zeitschrift »Pädagogische Welt« kam der Ganztagsschule unter allen schulischen Reformprojekten geradezu eine Modellfunktion zu: »Was zunächst aus der Erwerbstätigkeit der Mütter, aus der Destruktion von Familien gebo85 Vgl. genauer zu Wilhelm Hahn (1909–1996) die Fallstudie 1 über Osterburken. 86 Wilhelm Hahn, Die Ganztagsschule als Schritt auf dem Weg zur sozialen Bildungsgesellschaft, in: Kultusministerium Baden-Württemberg (Hg.), Modell einer Ganztagsschule – Programm und Auswertung des Wettbewerbs für das Gymnasium Osterburken, Schriftenreihe A »Bildung in neuer Sicht«, Nr. 13, Villingen 1968, S.VII–XIV. 87 Schulversuche sind wichtig. Streit um Düsseldorfer Tagesschule vor glücklichem Ende, in: Neue Deutsche Schule 15 (1963), Nr. 13/14, S. 218f. 88 Deutscher Philologenverband, Bildung und Schule – Ein Beitrag des Deutschen Philologenverbandes zur bildungspolitischen Diskussion, Düsseldorf 1965, S. 25, zit. nach Ludwig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2, S. 522. 89 Katholische Arbeiter-Bewegung Westdeutschland, Bildung – Weg zum Aufstieg, Köln 1965, S. 74f., zit.nach Lohmann, Ganztagsschule, S. 55.

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ren wurde, der Not gehorchend, erweist sich zunehmend als geheimes Leitbild, als stille Sehnsucht anderer Schultypen.«90 Gerade für die späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre lässt sich beobachten, dass je vehementer die SPD die Gesamtschule als Regelschule forderte und schließlich in den sozialdemokratisch regierten Ländern einführen sollte, desto stärker wurde die Ganztagsschule von konservativer Seite als das »kleinere Übel« begriffen.91 Wenn die Ganztagsschule innerhalb weniger Jahre vom weltanschaulichen Streitobjekt zur Modellschule nach westlichem Vorbild avancierte und parteiübergreifend befürwortet wurde, so deutet dies auf einen markanten Wandlungsprozess hin, der nicht nur das Bildungssystem, sondern die gesamte Gesellschaft und hier vor allem die Geschlechterbeziehungen erfasst hatte. Dieser Wandel wird für zwei Felder besonders greifbar – erstens für die steigende Erwerbsarbeit von Müttern und zweitens für die Debatte über die steigenden Anforderungen, die an eine »moderne« Erziehung gestellt wurden. Erwerbstätige Mütter Auf dem Arbeitsmarkt standen in den 1960er-Jahren alle Zeichen auf Vollbeschäftigung, und die Unternehmen richteten verstärkt Teilzeitarbeitsplätze ein, um zusätzliche Arbeitskräfte durch verheiratete Frauen und Mütter zu gewinnen. Konnten Mütter eine Erwerbsarbeit bislang nur durch familienökonomische Notwendigkeit legitim begründen, so waren im Laufe der 1960er-Jahre für ihre Erwerbsmotivation erstmals auch Gründe wie Selbstverwirklichung, Freude an der Arbeit und am selbstverdienten Geld und den damit verbundenen Konsummöglichkeiten gesellschaftlich akzeptabel geworden.92 Die Durchsetzung dieser neuen Sichtweisen wurde durch den eklatanten Arbeitskräftemangel, aber auch den Durchbruch der Massenkonsumgesellschaft und der damit verbundenen Technisierung der westdeutschen Haushalte erleichtert. Hinzu kam, dass sich die stärkere Identifikation der Bundesrepublik mit der westlichen Moderne auch im Geschlechterdiskurs niederschlug: Weibliche Erwerbsarbeit wurde nicht mehr unter Verweis auf die Frauenarbeitspolitik der DDR reflexhaft abgelehnt, sondern als inhärenter Bestandteil der Entwicklung moderner westlicher Industriegesellschaften diskutiert. Der Bestseller »Women’s Two Roles« von Alva Myrdal und Viola Klein war 1960 auf Deutsch unter dem Titel »Die Doppelrolle

90 Tagesheimschule, in: Pädagogische Welt. Monatsschrift für Unterricht und Erziehung 23 (1969), Nr. 1, S. 45f. 91 Vgl. dazu Kap. 2.3. und 3.1. 92 Von Oertzen, Teilzeitarbeit, S. 92f.

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der Frau in Familie und Beruf« erschienen und wurde breit rezipiert.93 Das dort propagierte »Dreiphasenmodell« wies der Erwerbstätigkeit im weiblichen Lebenslauf eine größere Bedeutung zu. Es sah vor, dass Frauen nach vorehelicher Berufs­arbeit mit anschließender Familienphase nach dem Heranwachsen der Kinder wieder in den Beruf zurückgehen. Die 1966 dem Bundestag übergebene Frauen-Enquete, die von der SPD 1963 in Auftrag gegeben worden war, verwies auf das weibliche »Streben nach personaler Entfaltung« und die partnerschaftlichen Eheleitbilder westlicher Länder und erkannte den tiefen gesellschaftlichen Einstellungswandel nunmehr regierungsoffiziell an.94 Ganztagsschulexperten wie Joachim Lohmann stellten die Ganztagsschule eindeutig nicht in den Kontext der Frauenemanzipation. Zwar hob er unter Verweis auf Studien wie die von Elisabeth Pfeil die positive psychologische Bedeutung von Berufsarbeit für Frauen hervor. Der Argumentationskontext blieb jedoch immer ein pädagogischer, kein gesellschaftspolitisch-feministischer. So pflichtete er dem Dreiphasenmodell bei, mit dem sich seiner Beobachtung nach in »den Vereinigten Staaten […] die pädagogisch richtigere Einstellung durchgesetzt« habe: »Mütterarbeit in der Kleinkindphase« würde dort, »wo nicht notwendig, sozial mißbilligt«, hingegen würde »Mütterarbeit während der Schulkindphase […] sozial gebilligt«.95 Lohmann bezieht sich hier auf die gesellschaftliche Debatte über Müttererwerbstätigkeit der frühen 1960er-Jahre, die ihrerseits auf westliche Normen und Werte rekurrierte und – ähnlich wie die Diskurse um Bildung und Erziehung – einen Baustein im Westernisierungs- und Liberalisierungsprozess der Bundesrepublik bildete.96 Staat, Familie und Kindererziehung Die wachsende politische und gesellschaftliche Akzeptanz der Ganztagsschulidee lässt sich zudem auf die Neujustierung des Verhältnisses von Familie und öffentlicher Erziehung in den beginnenden Reformjahren zurückführen.97 Während auf 93

Alva Myrdal/Viola Klein, Women’ Two Roles. Home and Work, London 1956 (dt. Die Doppelrolle der Frau in Familie und Beruf, Köln 1960); vgl. dazu von Oertzen, Teilzeitarbeit, S. 95–98. 94 Von Oertzen, Teilzeitarbeit; Kolbe, Elternschaft im Wohlfahrtsstaat; Kuller, Familienpolitik. 95 Lohmann, Das Problem der Ganztagsschule, S. 124–137, hier S. 136 u.a. mit Bezug auf Elisabeth Pfeil, Die Berufstätigkeit von Müttern. 96 Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1998; Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999; Ulrich Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002; Konrad H. Jarausch, Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945–1995, München 2004. 97 Vgl. allgemein dazu Jutta Ecarius/Carola Groppe/Hans Malmede (Hg.), Familie und öffentliche Erziehung. Theoretische Konzeptionen, historische und aktuelle Analysen, Wiesbaden 2009.

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der einen Seite die bildungspolitischen Reformpostulate dem Staat eine zentrale Rolle zuwiesen, geriet auf der anderen Seite die Familie als Erziehungsakteur zunehmend in die Kritik. Vor dem Hintergrund westlicher pluralistischer Vorstellungen von Staat und Gesellschaft, die den Staat nicht länger als eine transzendente, über den gesellschaftlichen Interessengegensätzen stehende Institution begriffen, veränderte sich auch das Bild der Familie. Diese idealisierte man nicht mehr als einen der Gesellschaft vorgelagerten Freiheits- und Werteraum, sondern ordnete sie nunmehr problemorientiert in einen gesellschaftlichen Funktionskontext ein.98 Es war insbesondere die Erziehungsfunktion von Familie, die seit Anfang der 1960er-Jahre nicht nur im liberalen Lager auf den Prüfstand gestellt wurde. So zeigte sich etwa für die junge CDU-Politikerin und spätere Bildungsministerin Dorothee Wilms angesichts der in »alle Daseinsbereiche« eingreifenden technisch-industriellen Entwicklung, dass die Familie die neuen Herausforderungen, die in »einer sich wandelnden Welt« an Erziehung gestellt würden, immer weniger allein zu leisten vermochte.99 Auch der Philologenverband konstatierte 1965, dass die Heilkraft der Familie begrenzt sei: »Die Familie hat in manchen Fällen nicht mehr die innere Kraft und die Möglichkeit, Schwierigkeiten zu meistern, die den Kindern aus entwicklungspsychologischen Gegebenheiten, ihrem Charakter, ihrer Begabungsart, ihrem Sozialverhalten, aber auch den sozial- und milieubedingten Schwierigkeiten der Familie erwachsen.«100 Wissenschaftliche Diagnosen zielten bereits früher in diese Richtung. So lieferte der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich 1963 in seinem bekannten, auch im Rahmen der Ganztagsschuldebatte rezipierten Buch »Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft« Indizien für die Auflösung der traditionellen Erziehungsinstanz Familie. Vaterlosigkeit bezeichnete dabei nicht ein reales kriegsbedingtes Schicksal, sondern stand als Metapher für die erodierenden paternalistischen Gesellschaftsstrukturen. Mitscherlich sah den Erziehungsraum der modernen Kleinfamilie und insbesondere die Mutter-Kind-Beziehung zunehmend pathologisch belastet durch »insuläre, zellenhafte« Wohnformen infolge der Urbanisierung sowie durch den

98 Vgl. Mark Jakob, Gesellschaftsbilder und Konzepte sozialer Steuerung über öffentliche Erziehung in der Familienpolitik und in der familienwissenschaftlichen Politikberatung Westdeutschlands, ca. 1950–1980, in: ebd., S. 291–312, hier S. 296f. 99 Dorothee Wilms, Die Notwendigkeit einer intensiven Ausbildung und Weiterbildung von Mädchen und Frauen, in: Die berufstätige Frau heute und morgen. Referate und Diskussionen auf einer Tagung der Gesellschaft für sozialen Fortschritt in Bad Godesberg am 3. Mai 1966, Berlin 1966, S. 81. 100 Deutscher Philologenverband, Bildung und Schule – Ein Beitrag des Deutschen Philologenverbandes zur bildungspolitischen Diskussion, Düsseldorf 1965, S. 25, zit. nach Ludwig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2, S. 522.

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»gesellschaftlichen Trend zur Bestimmungsfreiheit (in Freizeit und Konsum)«.101 In der Tat erfuhr die Familie als soziales Gebilde und ideell-ideologisches Konstrukt in den 1960er-Jahren eine tiefgreifende Transformation. Auch wenn die Geburtenraten erst Ende des Jahrzehnts einbrachen,102 war »die Familie« bereits davor strukturell und ideell eine andere geworden – durch den Anstieg von Ehescheidungen, den Wandel der Beschäftigungsformen, die anhaltende Erosion sozialer Milieus und den Rückgang der Großfamilien mit mehreren Kindern bzw. mit der Durchsetzung des Familientypus mit ein bis zwei Kindern.103 Aus zeitgenössischer Sicht war die »Erziehungsfähigkeit« von Familie zum einen durch äußere Faktoren der industriegesellschaftlichen Entwicklung beeinträchtigt wie verkürzte Arbeitszeiten bei steigenden Löhnen und zunehmenden Freizeit- und Konsummöglichkeiten, die die erwähnten demografischen Veränderungen mitbedingten. So war für den Soziologen Hans Linde beispielsweise der am meisten verbreitete Familientypus 1963 »im Zeichen der Vollbeschäftigung und des systemimmanenten Konsumdrucks« die »sozial expansive Familie«, die sich für ihn »durch den spezifisch modernen und progressiven Hang zur ökonomischen Statusverbesserung« auszeichnete. Hingegen sah er mit der wirtschaftlichen Hochkonjunktur die »sozialökonomisch entwurzelte Familie« und die kriegsbedingten »Teil- und Pseudofamilien« auf dem Rückzug, das heißt, diejenigen »Sozialfiguren der Familie, die zu allen Zeiten das Objekt karitativer Impulse […] und fürsorgerischer Aktivität« darstellten und denen er eine »verminderte Erziehungsfähigkeit« attestierte.104 Zum anderen fungierte, mehr als zuvor, die demokratische Gesellschaft als Bezugsrahmen, innerhalb dessen das Verhältnis von Staat und Familie in Erziehungs­ fragen neu zu bestimmen war. Infolge neuer, auf Werte wie Gleichheit und Gerechtigkeit rekurrierender Gesellschaftsvorstellungen wurde die Mittelstandsorientierung bisheriger Familienkonzepte problematisiert. Mit der anlaufenden Bildungsdebatte geriet zudem das in starkem Maße Ungleichheit (re-)produzierende Schulwesen in die Kritik. Gerade die Diskussion über Schule und Familie zeigt, dass hier eine Gewichtsverschiebung zugunsten des intervenierenden Staates akzeptabler erschien als noch wenige Jahre zuvor. Wenn die Grenze zwischen familialem und staatlichem 101 Alexander Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie, München 1963. Vgl. die Bezugnahme bei Georg Rutz, Die Tagesheimschule – Voraussetzung der Schulreform?, S. 29. 102 Der im Volksmund als »Pillenknick« titulierte Geburtenrückgang bedeutete nach dem Geburtenboom in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre vor allem ein Wiedereinschwenken auf eine langfristige demografische Entwicklungslinie nach der Jahrhundertwende. Vgl. genauer Kuller, Familienpolitik, S. 54ff.; Niehuss, Strukturgeschichte, S. 375ff. 103 Allgemein dazu Kuller, Familienpolitik; Niehuss, Strukturgeschichte. 104 Linde, Tagesschule, S. 38f.

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Erziehungsraum in den 1960er-Jahren neu gezogen wurde, geschah dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer auch auf »social engineering«105 gerichteten Bildungsreformpolitik, mit der der Staat »Chancengleichheit« auch durch Schaffung geeigneter Lernumgebungen für sozial benachteiligte Kinder herzustellen hatte.106 In der Fachöffentlichkeit warf dies gar die Frage auf, ob sich das in der Bundesre­ publik besonders strikte Subsidiaritätsprinzip überlebt habe.107 So vertrat der Kon­ stanzer Erziehungswissenschaftler Karl-Heinz Flechsig (1932–2010) die These, dass sich das Erziehungssystem der Bundesrepublik »im Übergang von einem System subsidiärer öffentlicher Erziehung zu einem System totaler öffentlicher Erziehung befindet«. Flechsig nahm dabei explizit auf die Zustimmung aller Parteien zur Ganztagsschule Bezug, »durch die in Zukunft der ›private‹, d.h. durch die Eltern wahrgenommene Bereich der Erziehung weiter zurückgedrängt wird«. Die »totale öffentliche Erziehung« begründete Flechsig u.a. mit der »Forderung nach sozialer Gerechtigkeit, d.h. der Verminderung des ungünstigen Milieueinflusses, aber auch mit der Unfähigkeit der modernen Familie, den Erziehungsauftrag in bisherigem Umfange wahrzunehmen«.108 Schließlich war es die sich in der wissenschaftlich-technischen Durchdringung des Arbeitsalltags bereits abzeichnende »Wissensgesellschaft«,109 die wenngleich in anderer Begrifflichkeit zum Argument dafür wurde, dass eine moderne Erziehung der Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche Rechnung tragen müsse. Buchtitel wie »Erziehung und Bildung in der Industriegesellschaft« (Keilhacker 1967) und »Bildung im Industriezeitalter« (Ruthel 1970) machten darauf aufmerksam, dass Wissenschaft und Technik im modernen Alltag dominierten und dem technischnaturwissenschaftlichen Verfügungswissen eine »persönlichkeitsbildende Qualität zugesprochen« werden müsste.110 Schon Anfang der 1960er-Jahre sah der Erziehungs105 Allgemein zum Begriff: Thomas Etzemüller (Hg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009; ders., Social Engineering, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.2.2010, http://docupedia.de/zg/Social_engineering?oldid=84654 (Stand: 16.6.2014). 106 Vgl. den Überblick von Hans-Werner Fuchs, Staatliche Eingriffe in den Zusammenhang von Bildungssystem, Familie und Gesellschaft in der Phase der Bildungsreform (1960/1970er Jahre) und ihre Wirkung, in: Zeitschrift für Pädagogik 52 (2006), H. 5, S. 671–681. 107 Zum Subsidiaritätsprinzip vgl. Kap. 1.1. 108 Edgar Hesse, Gesamtschule und Tagesheimschule, in: Neue Deutsche Schule 19 (1967), Nr. 2, S. 37–39. 109 Vgl. für weitere Literatur den Artikel von Christine Reinecke, Wissensgesellschaft und Informationsgesellschaft, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.2.2010, http:// docupedia.de/zg/Wissensgesellschaft?oldid=84670 (Stand: 11.7.2014). 110 Martin Keilhacker, Erziehung und Bildung in der Industriegesellschaft, Stuttgart 1967; Friedrich Ruthel, Bildung im Industriezeitalter, München 1970; vgl. außerdem ausführlicher Reinhard Uhle, Pädagogik der siebziger Jahre – zwischen wissenschaftsorientierter Bildung

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wissenschaftler Wolfgang Hilligen die Familie bei der Bevölkerungsmehrheit nicht mehr in der Lage, die Kinder »auf das Leben vorzubereiten«, weil es die Berufe der Väter in der zukünftigen Arbeitswelt nicht mehr gebe.111 Anders als noch wenige Jahre zuvor wurde nun ein stärkerer Einfluss öffentlicher Erziehungsagenten wie der Schule selbstverständlich akzeptiert und sogar gefordert. Wenn mit unterschiedlichen Argumenten postuliert wurde, den schulischen Erziehungseinfluss durch Ganztagsprogramme auszuweiten, ging es indes nie darum, das familiäre Erziehungsrecht einzuschränken. Unabhängig davon, ob man Ganztagsschulen eher als sozialkompensatorische Einrichtungen für »Schlüsselkinder« oder als modernes westliches Schulkonzept für alle Kinder befürwortete – unstrittig war dabei immer deren Ergänzungsfunktion. So sollte Ganztagsschule etwa für Georg Rutz »ein lebendiges Gebilde [sein], das Anreize für die Kinder von sich aus bietet und als gern besuchter Lebensraum das Elternhaus – nicht ersetzt, sondern […] ergänzt«.112 Auch wurde in allen Verlautbarungen zur Ganztagsschule immer wieder betont, dass es Elternentscheidung sei, ob ihre Kinder eine Ganztags- oder Halbtagsschule besuchen. Da es jeglichen Verdacht in Richtung einer ostdeutschen Ganztagsschulpolitik zu zerstreuen galt, bildete die DDR weiterhin eine Art implizite Hintergrundfolie.113 Während in der Bundesrepublik der 1950er-Jahre das konfessionell definierte Elternrecht als unantastbar galt, begann in den 1960erJahren eine Annäherung zwischen privaten und öffentlichen Erziehungsinstanzen: Erziehung und Wissensvermittlung wurden nun als »gemeinsame Aufgaben von Elternhaus und Schule« betrachtet.114 Von ganztägigen Schulsystemen versprach man sich zudem neue Möglichkeiten für Eltern, am Erziehungsprozess ihrer Kinder mitzuwirken, indem sie sich in der Schule engagierten.115 Öffentliche Gegenstimmen, die sich den Verstaatlichungsszenarien im Erziehungsbereich widersetzten, waren in den 1960er-Jahren kaum zu vernehmen. Eine solche Stimme war etwa der Mainzer Pädagogik- und Philosophieprofessor Theo­ dor Ballauff (1911–1995), der den Tendenzen, den öffentlichen Erziehungsraum aus-

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und repressionsarmer Erziehung, in: Werner Faulstich (Hg.), Die Kultur der 70er Jahre, Paderborn 2004, S. 49–64, hier S. 53. Wolfgang Hilligen, Familienerziehung und Tagesheimschule in ihren Wechselbeziehungen, in: Klinger/Rutz, Tagesheimschule, S. 56–60, hier S. 57. Rutz, Die Tagesheimschule – Voraussetzung der Schulreform?, S. 30. Vgl. zur DDR den Exkurs nach Kap. 2.3. Die Ganztagsschule. Bericht des UNESCO-Instituts für Pädagogik vom 1.12.1961, in: Pädagogische Rundschau 16 (1962), Nr. 2, S. 156ff. Manche, wie der Erziehungswissenschaftler Karl-Heinz Flechsig, gingen dabei so weit, dass sie anstelle des staatlichen Schulwesens für sogenannte Schulgemeinden, die als neuer Schulträger aus Eltern, Lehrern, Gemeinden, freien Verbänden fungieren sollten, plädierten. Edgar Hesse, Gesamtschule und Tagesheimschule, in: Neue Deutsche Schule 19 (1967), Nr. 2, S. 37–39.

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zudehnen, mit größter Skepsis begegnete. Zwar beurteilte er die bestehenden Beispiele von Tagesheimschulen als überwiegend positiv, da hier »keine Staatsschule« angestrebt würde, welche die Familie ersetzen wolle. Gleichwohl sei hier Vorsicht angezeigt, da solche Einrichtungen den »Familienzerfall« beschleunigen könnten. Auch drohten dort die Jugendlichen, »den Gefahren des Gemeinschaftslebens ausgeliefert« zu werden, welche »Gruppenzwang« und »Durchkreuzung der Individualität« des Einzelnen bedeuten.116 Die Sphären von Familie und Schule müssten klar getrennt bleiben: »Die Schule kann und darf nicht eine Fortsetzung oder ein Ersatz der Familienerziehung sein. Alle schönen Theorien von der Schule als Wohnstube oder Familienheim gehen an der Aufgabe der Schule grundsätzlich vorbei.« Vielmehr müsse die »Unersetzlichkeit der Familie« betont werden, da nur diese »Mütterlichkeit« und Heim- und Schutzfunktion gewähre und ursprüngliche Bindungserfahrung ermögliche.117 Von solchen, in den 1960er-Jahren eher altmodisch wirkenden geisteswissenschaftlichen Positionen abgesehen, waren die Erwartungen an Schule und Familie während der Reformdekade deutlich in Bewegung geraten. Mit der grundlegenden Gesellschaftskritik durch »1968« erfuhren beide Institutionen neue Funktionsbestimmungen. Nutzt man die Ganztagsschule als Sonde durch die schulische und gesellschaftliche Reformdebatte, zeigt sich, dass traditionelle Gesellschafts- und Erziehungskonzepte zwar an normativer Gültigkeit verloren, sie jedoch gleichzeitig mit neuen »progressiven« Gegenkonzepten in einem diskursiven Nebeneinander weiter bestanden. Damit erweisen sich gerade Schule und Familie als paradigmatische Felder, die, wie auch im Folgenden deutlich gemacht werden soll, die 1960erJahre kennzeichnen als eine »Phase des Übergangs und des Kampfes um kulturelle und politische Hegemonie«, die »erst nach langen Auseinandersetzungen zu neuen und konsensfähigen Grundlagen« führte.118 2.3. Die Ganztagsschule in den Beratungen des Deutschen Bildungsrates Im Konsensklima der Großen Koalition (1966–1969) erhielt die Ganztagsschule in den bildungspolitischen Reformplänen der Bundesregierung einen zunehmend wichtigen Stellenwert. Um 1968 schien erstmals eine Abkehr vom bisherigen Entwicklungspfad des deutschen Halbtagsschulsystems möglich – die Ganztagsschule 116 Theodor Ballauff, Schule der Zukunft, Bochum o.D. (um 1964), S. 24f. 117 Ebd., S. 22. 118 Ulrich Herbert, Liberalisierung als Lernprozeß. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze, in: ders. (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland, S. 7–49, hier S. 31.

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gehörte zu den wichtigsten Projekten des Deutschen Bildungsrates. Wie die Ganztagsschule in den Reformkatalog des Bildungsrates aufgenommen und welche Bedeutung ihr dabei zugeschrieben wurde, soll im Folgenden genauer verfolgt werden. Der 1965 eingerichtete Deutsche Bildungsrat, der den Deutschen Ausschuss als offizielles Beratungsgremium ablöste, markierte den Übergang zum kooperativen Föderalismus und hob die Bildungsdebatte endgültig auf Bundesebene.119 Sein Auftrag lautete, Bedarfs- und Entwicklungspläne für das Bildungswesen und Vorschläge für dessen Struktur zu entwickeln, den Finanzbedarf zu berechnen und Empfehlungen für eine langfristige Planung zu geben. Zum politischen Rahmen gehörte zum einen die Regierung der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD, welche die diskutierten bildungspolitischen Reformvorschläge zunächst aus der parteipolitischen Konfrontation heraushielt. Zum anderen stellte sich mit Aufbruch und Zerfall der Studentenbewegung und Außerparlamentarischen Opposition immer vehementer die Frage, wie grundlegend eine Reform des Bildungswesens die Gesellschaft verändern sollte.120 Die Verhandlungen im Bildungsrat repräsentieren die Hochphase der Reform- und Planungsbegeisterung besonders eindrucksvoll, ging es bei den avisierten Reformen doch darum, eine moderne, d.h. wissenschaftlich begründete Planung mit einer sich als emanzipatorisch verstehenden Gesellschaftspolitik zu verbinden.121 Dass der Bildungspolitik dabei eine zentrale Rolle zugewiesen wurde, zeigte sich an dem 1969 neu eingerichteten Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, das dem Bund durch eine Grundgesetzänderung ein Mitwirkungsrecht in Schulfragen quer zum Föderalismusprinzip eröffnete. Der Bildungsrat und seine Mitglieder Der Bildungsrat war ein Zweikammersystem, bestehend aus einer Bildungskommission, die vornehmlich besetzt war mit Fachleuten und Personen, die sich in der Öffentlichkeit mit Problemen des Bildungssystems beschäftigten, und einer Regierungskommission mit den Kultusministern aller Länder, vier Staatssekretären des Bundes und drei Vertretern der Kommunen. Während die Regierungskommission nur beratende Funktion hatte, stand die Bildungskommission als das Gremium,

119 Hans-Peter Füssel/Achim Leschinsky, Der institutionelle Rahmen des Bildungswesens, in: Kai S. Cortina u.a. (Hg.), Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland, Reinbek 2008, S. 131–204, hier S. 153f.; Rudloff, Does science matter, S. 25. 120 Anweiler, Bildungspolitik, in: Geschichte der Sozialpolitik, Bd. 5, S. 720. 121 Ebd.; vgl. auch Michael Ruck, Ein kurzer Sommer der konkreten Utopie? Zur westdeutschen Planungsgeschichte der langen 60er Jahre, in: Axel Schildt u.a. (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Staaten, Hamburg 2000, S. 362–401.

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das Empfehlungen aussprach, im medialen Rampenlicht.122 Die Bildungskommission gliederte sich, thematisch hochgradig arbeitsteilig organisiert, in Ausschüsse und Unterausschüsse, in denen die jeweiligen Reformgegenstände erarbeitet und beraten wurden. Mit dem Projekt Ganztagsschule war im Strukturausschuss der Unterausschuss »Experimentalprogramm« befasst. Es gab insgesamt fünf Unterausschüsse, die die Arbeit des Strukturausschusses vorbereiteten und während der ersten Amtsperiode des Bildungsrates (1965–1970) im Durchschnitt fünfzehnmal zu­sammen­traten. Die meisten Mitglieder der Bildungskommission waren gleichzeitig in einem Ausschuss oder Unterausschuss tätig. Hinzu kamen weitere, von der Bildungskommission berufene Ausschussmitglieder, die großenteils aus dem neu entstandenen Feld der Bildungsforschung kamen.123 Damit stellten die Aktivitäten des Bildungsrates nicht zuletzt den Auftakt für eine neue Form wissenschaftlicher Politikberatung dar, die ein enges Bündnis zwischen Bildungsexperten und Politik begründete.124 Zentralfiguren der sich institutionalisierenden Bildungsforschung wie der als »heimlicher Kultusminister« geltende Hellmut Becker und der Bildungsökonom Friedrich Edding prägten die Arbeit der Bildungskommission von Anfang an, indem sie die Themen und Arbeitsformen definierten.125 Wenn der Bildungsrat mit seinem Jahresetat und den eingerichteten Planstellen wesentlich besser ausgestattet war als sein Vorgänger, der Deutsche Ausschuss, so lag dies nicht zuletzt daran, dass der wissenschaftlichen Fundierung politischer Entscheidungsprozesse in den Reformjahren eine zentrale Bedeutung zugemessen wurde und sich die neue Disziplin der Erziehungswissenschaft »zumindest in Teilen als eine moderne Planungswissenschaft darstellen konnte«.126 Der Unterausschuss Experimentalprogramm, in dem über die Ganztagsschule verhandelt wurde, unterstand dem Strukturausschuss unter Vorsitz Hellmut Beckers. 122 In dieser Struktur des Bildungsrates lag, so Oskar Anweiler, dessen »Stärke und Schwäche zugleich«, denn: »Der konzeptionellen Freiheit entsprach nicht die Kraft, die Pläne im politischen Raum durchzusetzen.« Vgl. Anweiler, Bildungspolitik, in: Geschichte der Sozialpolitik, Bd. 5, S. 720. 123 Hüfner/Naumann, Konjunkturen, S. 177. 124 Allgemein: Rudloff, Does science matter? Vgl. aus Sicht des Experten: Helmut Fend, Bildungsforschung von 1965 bis 2008. Eine biografisch geprägte Geschichtsschreibung, in: Wischer/Tillmann, Erziehungswissenschaft auf dem Prüfstand, S. 15–33. 125 Auf Hellmut Beckers maßgebliche Initiative war 1963 in West-Berlin das Institut für Bildungsforschung in der Max-Planck-Gesellschaft gegründet worden, dessen erster Direktor Becker selbst wurde. Die Verzahnung mit dem Bildungsrat bot »die Chance, einen Ausweg aus dem Dilemma widersprüchlicher externer Erwartungen und Anforderungen an das neue Institut zu suchen«. Hüfner/Naumann, Konjunkturen, S. 189. Vgl. auch Fußnote 17. 126 Klaus-Jürgen Tillmann, Erziehungswissenschaft und Schulreform. Erfahrungen aus vierzig Jahren, in: Wischer/Tillmann, Erziehungswissenschaft auf dem Prüfstand, S. 51–68, hier S. 55.

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Mehrheitlich jüngere Erziehungswissenschaftler waren hier vertreten, die entweder wie der 1963 an das Pädagogische Seminar der Georg-August-Universität Göttingen berufene Erziehungswissenschaftler und Reformpädagoge Hartmut von Hentig127 einen Teil ihrer wissenschaftlichen Sozialisation in den USA erfahren hatten oder zumindest von den angloamerikanischen Sozialwissenschaften geprägt waren. Für nicht wenige von ihnen sollte sich an das Engagement im Bildungsrat die wissenschaftliche Karriere anschließen. Durch Hellmut Becker bestanden enge personelle Verbindungen zum Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (MPIB) in Berlin.128 So waren der Sozial- und Erziehungswissenschaftler Wolfgang Edelstein und der Schulentwicklungsforscher Hans-Günter Rolff, die beide dem Strukturausschuss des Bildungsrates angehörten, seit den frühen 1960er-Jahren wissenschaftliche Mitarbeiter am MPIB.129 Der frisch diplomierte Soziologe und spätere Erziehungswissenschaftler Jürgen Raschert war Beckers Assistent im Strukturausschuss.130 Neben den Vertretern der Wissenschaft versammelte der Strukturausschuss auch vereinzelt Akteure der pädagogischen Praxis. Dabei handelte es sich meist um die Initiatoren schulischer Reformprojekte, wie etwa den Schulreferenten im Bistum Münster, Josef Homeyer, ein katholischer Theologe und Philosoph, der zu den Mitbegründern der Friedensschule in Münster, der ersten deutschen Gesamtschule in katholischer Trägerschaft, gehörte, oder den Oberstudiendirektor Horst Mastmann, Begründer und erster Leiter der Gesamtschule Britz-Buckow-Rudow, der späteren Walter-Gropius-Schule.131 Darüber hinaus agierten in diesem Gremium bildungspolitisch aktive Vertreter der Kommunen wie der Ulmer Oberbürgermeister Theodor Pfizer, ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen und amtierender Präsident der Studienstiftung des deutschen Volkes. Dieter Sauberzweig vom geschäftsführenden Vorstand der Stu127 Von Hentig war ursprünglich studierter Altphilologe, der nach dem Studium in Göttingen und Chicago in den 1950er-Jahren als Lehrer am Birklehof (Schwarzwald) und in Tübingen arbeitete. 1968 wechselte er an die Universität Bielefeld, wo er die später bekannte »Laborschule« gründete. Mit dem Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule geriet von Hentig als Lebensgefährte des pädokriminellen Schulleiters Gerold Becker unter massive Kritik. 128 Vgl. Fußnote 17. 129 Nach dem Studium war Edelstein Lehrer und Studienleiter an der Odenwaldschule, bevor er wissenschaftlicher Mitarbeiter am MPIB und schließlich dessen Direktor wurde. HansGünter Rolff wurde 1968 Referent, 1970 Planungsleiter des Berliner Schulsenators, bevor er 1973 das Institut für Schulentwicklungsforschung der Universität Dortmund gründete. 130 Raschert wurde 1976 ordentlicher Universitätsprofessor an der FU Berlin und war dort langjähriger Dekan des Fachbereichs Erziehungs- und Unterrichtswissenschaften. Als Bildungsexperte war er in den 1970er-Jahren in den SPD-regierten Ländern an der Einführung der Gesamtschule beteiligt. 131 Vgl. die Fallstudie 2 zur Gropius-Schule.

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dienstiftung nahm in seiner Funktion als Beigeordneter des Deutschen Städtetages teil. Als dezidierter Interessenvertreter für die Ganztagsschule war der Dortmunder Schuldezernent Herbert Frommberger vertreten, der zu diesem Zeitpunkt Vorsitzender der Gemeinnützigen Gesellschaft Tagesheimschule sowie Mitglied des Schulausschusses des Deutschen Städtetages war. Verständigung über die Ganztagsschule im Strukturausschuss des Bildungsrates In den ersten Sitzungen des Unterausschusses Experimentalprogramm waren alle Anwesenden bemüht, sich zunächst grundsätzlich über den Gegenstand Ganztagsschule zu verständigen. Als eine erste Diskussionsgrundlage diente das Referat des Ganztagsschulexperten und damaligen wissenschaftlichen Mitarbeiters am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) Georg Rutz. Die Frage, welche zusätzlichen Funktionen die Ganztagsschule gegenüber der herkömm­ lichen Halbtagsschule übernehmen könnte, verband Rutz mit dem Hinweis auf den beschleunigten technischen und gesellschaftlichen Wandel. Schule müsse auf soziale Erscheinungen wie die »Auflösung der Großfamilie, Berufstätigkeit der Frau, Akzeleration bei Kindern und Jugendlichen« ebenso reagieren wie auf die Herausforderungen im »Zeitalter der Atome, der Automation und der Weltraumfahrt«. In der zukünftigen Berufswelt von Schülern seien Eigenschaften wie »Flexibilität« und »Anpassungsfähigkeit« gefragt, aber auch »Fähigkeiten, sich Wissen selbst anzueignen, mit der Freiheit etwas anfangen zu können und Konflikte sachlich und tolerant auszutragen«.132 Rutz schloss seine Analyse an den konvergenztheoretischen Zeitgeist an, wenn er die bildungspolitischen Diskurse diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs aufgriff. So standen die Bildungsreformen systemübergreifend im Dienst eines wissenschaftsorientierten technizistischen Konzepts von Fortschritt, galt es doch, Schüler in Ost und West darauf vorzubereiten, später im Berufsleben die gewaltigen technischen Modernisierungsprozesse zu steuern.133 Rutz berief sich sowohl auf die Forderung des sowjetischen Parteichefs Chruschtschow, die Schule solle »die Verbindung mit dem Leben halten«, als auch auf das an bildungsbenachteiligte Vorschulkinder adressierte US-amerikanische »Head Start Program«, wenn es darum ging, »Begabungen [zu] erkennen, wecken und pflegen« und »Maßnahmen zur Überwindung der Milieusperren« zu ergreifen.134 Der Unterausschuss Experimentalprogramm war nicht der Ort, an dem praxisbezogene Handlungsanleitungen zur Einführung der Ganztagsschule entwickelt 132 Bundesarchiv Koblenz (BAK), B 251/202, Georg Rutz, Welche zusätzlichen Funktionen kann die Ganztagsschule im Vergleich zur Halbtagsschule übernehmen? Kurzreferat. 133 Jessen, Zwischen Bildungsökonomie und zivilgesellschaftlicher Mobilisierung, S. 215. 134 Ebd.

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wurden. Vielmehr war der eigene Arbeitsauftrag eher grundsätzlich und ergebnis­offen formuliert, wenn es im Sitzungsprotokoll des Unterausschusses hieß, man wolle die »möglichen Chancen oder Gefahren« der Ganztagsschule in einem »repräsentativen Experimentalprogramm systematisch prüfen«.135 Wie für Schulversuche mit Gesamtschulen sollte auch für Ganztagsschulen ein großangelegter Modellversuch nach wissenschaftlichen Standards ausgearbeitet werden, um deren Realisierungsbedingungen, Wirkungen und Leistungsfähigkeit zu erproben.136 Alle Schulversuche, die bis dato zur Tagesheimschule durchgeführt worden waren, wies man als unwissenschaftlich zurück: Da diese Versuche »keine systematische Erfolgs­kontrolle« vorgenommen hätten, »vermögen sie nicht aus der Beliebigkeit des bloßen Meinens herauszuführen«.137 In der Tat ließen sich aus den ersten Modellschulen, die sich auf die Fünftagewoche und das Düsseldorfer Abkommen (1955) bezogen, kaum Parameter der Vergleichbarkeit ableiten.138 Es ist zudem davon auszugehen, dass die frühen Tagesheimschulversuche, die sich auf einen heterogenen reformpädagogischen und geisteswissenschaftlichen Ideenfundus beriefen, bei den Ausschussmitgliedern auf prinzipielle Ablehnung stießen, da sie den dort vorherrschenden Wissenschaftlichkeits- und Rationalitätsvorstellungen zuwiderliefen. Der Assistent Jürgen Raschert fasste diese Kritik wie folgt zusammen: Ja, da diesen Versuchen keine halbwegs geklärte pädagogisch-didaktische Konzeption zugrunde liegt, fehlen sogar weitgehend die Zielvorstellungen, die den Maßstab jeder Kontrolle und Prüfung abgeben können. Der oft vernommene Satz »Die Ganztagsschule hat sich bewährt« ist nicht nur unbewiesen, sondern auch sinnlos, da es an Kriterien mangelt, unter denen sich so etwas wie »Bewährung« ausmachen liesse. So ist es in der gegenwärtigen Situation nicht möglich, begründete Werturteile für oder wider die Ganztagsschule zu fällen.139

Einen Einblick in die ersten Beratungen des Unterausschusses gibt ein von Jürgen Raschert Ende 1966 zusammengestellter Katalog, der die zu diskutierenden Für-

135 BAK, B 251/331, Protokoll der 2. Sitzung des Unterausschusses Experimentalprogramm im Strukturausschuss der Bildungskommission am 9./10.12.1966 in Berlin. 136 BAK, 251/202, Zusammenstellung der Argumente für den Unterausschuss Experimentalprogramm. 137 Ebd. 138 Mitte der 1960er-Jahre unternahm das Deutsche Institut (ehemals Hochschule) für Internationale Pädagogische Forschung auf der Datenbasis der Kultusministerien erstmals den Versuch, alle laufenden Schulversuche an öffentlichen Schulen zu dokumentieren. Vgl. Christoph Führ, Schulversuche 1965/66 Teil I: Gesamtdarstellung, Weinheim 1967, S. 11–98. 139 BAK, 251/202, Zusammenstellung der Argumente für den Unterausschuss Experimentalprogramm.

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und Wider-Argumente zur Ganztagsschule auflistet.140 Die »Verwirklichung der Chancengleichheit im Bildungswesen« war dabei ein zentrales Begründungselement, das an den zeitgenössischen gesellschaftspolitischen Reformdiskurs anknüpfte. Als weiterer Pluspunkt wurden die besonderen zeitlichen und organisatorischen Möglichkeiten der Ganztagsschule genannt, eine »Differenzierung und Individualisierung der Schule« herzustellen. So ließe sich durch Förderstunden, Fachleistungskurse und frei wählbare Arbeitsgemeinschaften »Schülerpassivität überwinden und zur Mündigkeit erziehen«. Auch könnten in der Ganztagsschule »soziales Verhalten und öffentliche Tugenden« eingeübt und damit der »besonders in Deutschland naheliegenden Gefahr eines privatistischen Rückzugs der Menschen aus der Öffentlichkeit« begegnet werden. In Klammern vermerkt wurde in diesem Zusammenhang als prinzipielle Frage, inwieweit sich das schulische Setting überhaupt auf die »Grossgesellschaft« übertragen lasse. Des Weiteren versprach man sich von der Ganztagsschule mit Blick auf die diskutierte Freizeitgesellschaft »Anleitung zu aktivem und autonomem Freizeitverhalten«. Neben Sport könnten »Kooperationsformen« in Arbeitsgemeinschaften die »Eigenaktivität der Schüler« fördern. Als weiteres Pro-Argument wurde angeführt, dass schulische Ganztagsformen ein auf »Selbsthilfe« und »Selbstdisziplin« ausgerichtetes Schülerverhalten bewirken könnten. Alte sozialkompensatorische Begründungsmuster mischten sich hier mit neuen, an Leistungsmessung und Effektivität ausgerichteten Argumenten, wenn etwa die Überlegenheit der Ganztagsschule gegenüber dem traditionellen Schulhort damit begründet wurde, dass sie auch bei der »Förderung der Schlüsselkinder« mehr leiste als der Hort, »der die Kinder bloss verwahrt und schon bei der Beaufsichtigung der Hausaufgaben versagt«.141 Unter dem Stichwort »Familienzerstörung« wurden die der Ganztagsschule vermeintlich innewohnenden »Gefahren, Probleme« aufgeführt, die sich in ihrer gesellschaftskritischen Grundfärbung von den nur wenige Jahre zuvor hervorgebrachten Einwänden unterschieden. Nun problematisierte man die ambivalente »Emanzipation und Entfremdung von Unterschichten-Kindern vom Elternhaus«, die sich nur abschwächen ließe, wenn die Konzipierung der Ganztagsschule als »Zentrum auch für Erwachsene« weiterhin eine enge Verbindung zwischen Eltern und Schule erlaube. Anknüpfungspunkt war hier die bereits um 1960 im westdeutschen Ganztagsschullager rezipierte angloamerikanische Reformidee von der Schule als lokal ausgerichtetes Community Center. Das Argument, die Ganztagsschule »als Schonraum gegenüber der Strasse bietet wenig Möglichkeiten zur 140 BAK, B 251/33, Protokoll der 2. Sitzung des Unterausschusses Experimentalprogramm im Strukturausschuss der Bildungskommission am 9./10.12.1966 in Berlin; BAK, 251/202, Zusammenstellung der Argumente für den Unterausschuss Experimentalprogramm. 141 Ebd.

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Eigenaktivität«, wurde dadurch relativiert, dass diese Aussage ebenfalls auf die herkömmliche »Lernschule« bezogen werden konnte. Mit einem großen Fragezeichen markierte man als besonderen Problemkomplex die Konsequenzen, die die Ganztagsschule für den Lehrerberuf haben würde. So sei die Lehrerrolle genau zu definieren, und »keinesfalls darf der Lehrer neu anfallende Aufgaben und Funktionen übernehmen«.142 Hier wurde mit der Frage nach dem Zuschnitt schulischer Tätigkeitsbereiche ein gleichermaßen strukturelles, organisatorisches und mentales Problem benannt, das die Durchführung des Ganztagsbetriebs bremsen konnte.143 Auch gegenüber dem geschlechterpolitischen Aspekt von Ganztagsschule schien im Strukturausschuss des Bildungsrates eher Dissens, zumindest aber Distanz vorzuherrschen. Im Argumentekatalog tauchte die durch ganztägige Schulformen erleichterte Vereinbarkeit von mütterlicher Erwerbsarbeit und Familie nur am Rande auf. In eher gewundenem soziologischen Duktus hieß es, dass die Ganztagsschule zwar zur Entlastung der Hausfrau beitrage und damit die in Deutschland besonders starke Fixierung der Frau an häusliche Pflichten mindern [könne]. Allerdings eröffnen sich in Deutschland auch der so von einigen Verpflichtungen entlasteten Frau kaum gesellschaftliche Tätigkeitsfelder ausserhalb der Berufswelt. Eine Emanzipation der Frau und der Gewinn sozialer Kontaktmöglichkeiten ist unter diesen Umständen nahezu nur im Beruf möglich. Dass die Ganztagsschule die Berufstätigkeit der Frau möglich macht, kann freilich je nach Werthaltung des einzelnen als Argument für oder gegen sie betrachtet werden.144

Die Ambivalenz und Formelhaftigkeit der Textpassage lassen auf die Widerstände schließen, die auch in wissenschaftlichen und pädagogischen Kreisen gegenüber erwerbstätigen Müttern nach wie vor bestanden. Zwar waren in der Bildungspolitik die bis dahin dominierenden anthropologischen Vorstellungen einer natürlichen Geschlechterdifferenz zunehmend in den Hintergrund getreten zugunsten von Gleichheitskonzepten und einer stärker soziologischen Perspektive, die die Rollenbilder für Männer und Frauen problematisierte.145 Nicht zuletzt gehörte die Benachteiligung von Mädchen beim Zugang zu höherer Bildung zu den zentralen Themen im Bildungsrat. Die Ganztagsschule aber offensiv als Argument für eine gleichberechtigte Elternschaft zu propagieren, schien zum damaligen Zeitpunkt unter Bildungs­ experten und Politikern weder erwünscht noch vermittelbar. Aus geschlechterpoliti142 BAK, 251/202, Zusammenstellung der Argumente für den Unterausschuss Experimentalprogramm. 143 Vgl. zum Problem der Schulassistenten die Fallstudie 2 in Teil II. 144 BAK, 251/202, Zusammenstellung der Argumente für den Unterausschuss Experimentalprogramm. 145 Vgl. Gass-Bolm, Gymnasium, S. 251ff.

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schem Blickwinkel blieb ihr Begründungszusammenhang pädagogisch. Die meisten Bildungsratsmitglieder teilten vermutlich die Bedenken gegenüber der Erwerbs­ arbeit von Müttern. Welches arbeitsteilige Modell zwischen den Geschlechtern ihnen vorschwebte, zeigt der Hinweis auf die Möglichkeit, »durch stärkere Aktivierung der Eltern (z.B. Mütter für Hilfsdienste) den Personalbedarf von Ganztagsschulen zu verringern«.146 Offenbar begrüßten im Bildungsrat bzw. Unterausschuss Experimentalprogramm keineswegs alle Diskutierenden uneingeschränkt eine auf Ganztagsunterricht angelegte Modellschule. Ein Teil begegnete der zeitlichen Ausdehnung des schulischen Erziehungsraumes mit einer gewissen Skepsis. Hinter der Reformrhetorik bestanden entsprechende Vorbehalte fort, die sich nur mit der gesellschaftlich-mental tief eingegrabenen Norm der Halbtagsschule erklären lassen. Einige der im Unterausschuss versammelten Experten äußerten darüber hinaus ein unterschwelliges Unbehagen gegenüber dem zeitgenössischen Machbarkeitsdenken und der gesellschaftspolitischen Funktionalisierung von Schule. Sie warnten hinsichtlich der vermeintlichen Wunderwaffe Ganztagsschule vor einer »gefährlichen Realitätsverschätzung [!]«147 und begründeten dies mit einem Vorwurf, der später vor allem gegenüber der Gesamtschulbewegung erhoben werden sollte: »Die Chance der Ganztagsschule, die in der Erweiterung ihrer pädagogischen Funktionen liegt, kann ihr zur grössten Gefahr ausschlagen: die Ausweitung der Ganztagsschule leistet dem pädagogischen Traum Vorschub, die Übel der Welt liessen sich von der Schule her heilen, deren Möglichkeiten seien unbegrenzt.«148 Die Empfehlung des Bildungsrates zur Ganztagsschule Für die Mitglieder des Unterausschusses Experimentalprogramm war von Anfang an nicht die Ganztagsschule, sondern die von ihnen ebenfalls beratene Gesamtschule der entscheidende Dreh- und Angelpunkt der Bildungsreform. Die klare politische Präferenz für eine integrierte Gesamtschule, bei der die Trennung in drei unterschiedliche Schultypen aufgehoben sein würde, marginalisierte das Thema Ganztagsschule in den Beratungen des Unterausschusses. Nur so ist es zu erklären, dass nach der ersten Verständigung über den Problemkomplex Ganztagsschule keinerlei differenzierte Erörterung mehr stattfand. Immerhin hätte eine ganztägige Schule, die Bildungs- und Erziehungsfunktionen in sich vereint und die unterschiedlichen pädagogischen Professionen und institutionell getrennten Bereiche 146 BAK, B 251/331, Protokoll der 3. Sitzung des Unterausschusses Experimentalprogramm im Strukturausschuss der Bildungskommission am 10./11.2.1967 in Berlin. 147 BAK, 251/202, Zusammenstellung der Argumente für den Unterausschuss Experimentalprogramm. 148 Ebd.

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miteinander verbindet, einen tiefen Einschnitt in gewachsene Strukturen bedeutet. Nach der dritten Sitzung des Unterausschusses im Februar 1967 wurde im Protokoll als Diskussionsergebnis lediglich vermerkt, dass sich angesichts überzeugender ausländischer Erfahrungen mit Ganztagsschulen »weitere Diskussionen über das prinzipielle Für und Wider weitgehend erübrigen« und es »keine[r] regelrechten Experimente« mit Ganztagsschulen bedürfe. Zweifellos galt das Hauptinteresse aller Beteiligten der Gesamtschule und einem entsprechend breit anzulegenden Experimentalprogramm. Dem Projekt Ganztagsschule kam bei der Durchsetzung der Gesamtschule vor allem eine taktische Funktion zu. So hielt ein Sitzungsprotokoll des Unterausschusses Experimentalprogramm von 1967 fest: »Die im Experimentalprogramm empfohlenen Ganztagsschulen sollten vielmehr Modelle sein, die angesichts der in Deutschland verhärteten Vorstellungen eine Bresche für neue Schulformen schlagen.«149 Das öffentlich kaum umstrittene Projekt Ganztagsschule sollte, so scheint es, vor allem als Vehikel dienen, um in der Gesellschaft ein Klima der Akzeptanz auch für weitergehende Schulreformen zu erzeugen: Da eine Empfehlung für Ganztagsschulen in der Öffentlichkeit weitaus weniger umstritten sein wird als etwa die für Gesamtschulen und sehr viel weniger Probleme aufwerfen wird, sollte sie vorab erfolgen und sich auf die vorliegenden ausländischen Erfahrungen berufen. Ein Hinweis auf weitere Formen im Sinne der Gesamtschulen müsste enthalten sein; für die Aufnahme in der Öffentlichkeit wäre es aber wichtig, dass die Empfehlungen zu einzelnen Strukturveränderungen nicht zu komplex verknüpft sind.150

Im Februar 1968 veröffentlichte die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates schließlich eine Empfehlung zur »Einrichtung von Schulversuchen mit Ganztagsschulen« im Rahmen eines Experimentalprogramms.151 Wesentlich umfangreicher fiel die entsprechende Empfehlung zur »Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen« aus, die im Januar 1969 verabschiedet wurde.152 Oskar Anweilers Feststellung, der Bildungsrat sei mit seinen Empfehlungen der grundsätzlichen 149 BAK, B 251/331, Protokoll der 3. Sitzung des Unterausschusses Experimentalprogramm im Strukturausschuss der Bildungskommission am 10./11.2.1967 in Berlin. 150 Ebd. 151 Deutscher Bildungsrat, Empfehlungen der Bildungskommission: Anhang I: Einrichtung von Schulversuchen mit Ganztagsschulen, verabschiedet auf der 13. Sitzung der Bildungs­ kommission am 23./24. Februar 1968, Berlin 1969, S. 159–181. 152 Deutscher Bildungsrat, Empfehlungen der Bildungskommission: Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen, verabschiedet auf der 19. Sitzung der Bildungskommission am 30./31. Januar 1969, in: ebd., S. 15–157. Während die Gesamtschulempfehlung nicht nur besonders umfangreich war, sondern auch auf dem Frontcover der genannten Publikation des Bildungsrates plaziert wurde, findet sich die Ganztagsschulempfehlung lediglich im Anhang abgedruckt.

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Frage, wie tiefgehend eine Reform des Bildungswesens die Gesellschaft verändern sollte, durch eine Konsenspolitik ausgewichen, erscheint gerade mit Blick auf die kontrovers diskutierte Gesamtschule plausibel.153 Beide Empfehlungen für Experimentalprogramme mit Ganztags- und Gesamtschulen wurden als bildungspolitische Basisentscheidungen begriffen, auf der die Länderministerien aufbauen sollten.154 Sie gingen zudem in den »Strukturplan für das Bildungswesen« ein, den die Bildungskommission im Bildungsrat am 13. Februar 1970 vorlegte. Damit lag für die erste Amtsperiode des Bildungsrates zwar ein Ergebnis vor, das zuvor mit der Regierungskommission im Bildungsrat, in der alle Länderregierungen vertreten waren, einmütig beraten worden war. Allerdings blieb der Strukturplan durch das parteiübergreifende Konsensstreben letztlich ein »Kompendium normativer Aussagen« (Oskar Anweiler), das die entscheidende Frage nach dem Ausmaß der strukturellen Umgestaltung des Bildungswesens nicht thematisierte, sondern verdeckte. Das darin skizzierte Modell des zukünftigen Bildungswesens vom Kindergarten bis zur Sekundarstufe war nicht auf praktische Umsetzbarkeit hin angelegt, und viele Fragen etwa zur Unterrichtsgestaltung und zur Reform der Bildungsverwaltung blieben ungeklärt. Auch für den Vorsitzenden des Bildungsrates, Karl Dietrich Erdmann, bestand der Strukturplan aus Kompromissen von »gewollter Vorläufigkeit«.155 Sein richtungsweisender Charakter machte ihn zur Grundlage für den Bildungsbericht der Bundesregierung vom Juni 1970 und für den Bildungsgesamtplan der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung von 1973.156 Die Gesamtschulbewegung In der Art und Weise, wie der Bildungsrat in seiner ersten Amtsperiode das Reformprojekt Ganztagsschule behandelte, drängt sich der Eindruck auf, dieses Projekt sei politisch instrumentalisiert oder gar »geopfert« worden, um damit die Durchsetzungschancen für die Gesamtschule zu erhöhen. Dies mag für die internen Abstimmungslogiken im Strukturausschuss des Bildungsrates durchaus zutreffen. Um zu verstehen, warum die Gesamtschule die Ganztagsschule Ende der 1960er-Jahre vollkommen an den Rand der öffentlichen Aufmerksamkeit drängen konnte, muss der Blick auf die politischen und professionellen Akteure in dieser breiten pädagogischen Bewegung gerichtet werden. 153 Anweiler, Bildungspolitik, Bd. 5 Geschichte der Sozialpolitik, S. 720. 154 Heinz-Jürgen Ipfling/Ulrike Lorenz, Schulversuche mit Ganztagsschulen. Bericht der Projekt­ gruppe zur Begleitung der Schulversuche mit Ganztagschulen in Rheinland-Pfalz 1971– 1977, Mainz 1979. 155 Deutscher Bildungsrat (Hg.), Empfehlungen der Bildungskommission: Strukturplan für das Bildungswesen, Bonn 1970, S. 13–24. 156 Vgl. Kap. 3.1.

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Die Idee von einer sowohl egalitären wie leistungsdifferenzierten Schule für alle Kinder, welche die herkömmliche Ungleichheit (re)produzierende dreigliedrige Schule ablösen sollte, entfaltete ab Mitte der 1960er-Jahre gerade unter jüngeren Lehrern und Erziehungswissenschaftlern eine besondere Sogwirkung. Mit dem Hamburger Abkommen von 1964 waren erstmals Schulversuche möglich geworden, die über die dreigliedrige Schulstruktur hinausgingen. Ausgehend von den Reformzentren West-Berlin und Hessen verbreiterte sich die Gesamtschulbewegung rasch, deren Anhänger sich sowohl aus der praktischen als auch der wissenschaftlichen Pädagogik rekrutierten.157 Zwar hatte es in der Bildungsratsempfehlung noch geheißen, dass die Gesamtschulen »ihre Aufgabe nur dann erfüllen können, wenn sie als Ganztagsschulen eingerichtet werden«.158 Allerdings geriet die Frage der schulischen Zeitorganisation gegenüber dem Strukturaspekt vollkommen ins Hintertreffen, wie eine Bestandsaufnahme aller von den Länderregierungen initiierten Schulversuche von 1966 zeigt. Die aufgeführten Versuche waren größtenteils darauf ausgerichtet, die bisherige Trennung in separate Schularten zu überwinden und Förderstufen und ähnliche Modelle mit einer in der Schullaufbahn später angesiedelten Leistungsselektion zu erproben.159 Die Ganztagsschule, obgleich sie in den bildungspolitischen Bekenntniskatalogen aller Parteien und Verbände stand, geriet in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre zunehmend in den Schatten der öffentlich ungleich stärker exponierten Gesamtschule. So hieß es im Beschluss des durch demonstrierende Mittelschüler, Studenten und Lehrlinge turbulenten Nürnberger SPD-Parteitages160 im März 1968: »Um mehr Schüler als bisher zu Abschlüssen mit höheren Qualifikationen zu führen, sind ein 10. Pflichtschuljahr und die Ganztagsschule erforderlich. Wo immer es möglich ist, sind durch Gesamtschulen die tragenden Schulformen Hauptschule, Realschule und Gymnasien zu integrieren.«161 Der Gewerkschaftskongress der Lehrer und Erzieher in der GEW, der im Juni 1968 ebenfalls in Nürnberg stattfand, begrüßte die Ganztagsschule als »Schule der Zukunft« und befürwortete entsprechende Modellversuche.162 Aber wie für die SPD war auch für die GEW die Gesamtschule das zentrale Reformprojekt einer modernen Bildungspolitik, um das unzeitgemäße dreigliedrige Schulsystem, das den »Bedürfnissen einer ständischen Gesellschaft unter einem 157 Vgl. z.B. Gudjons/Köpke, 25 Jahre Gesamtschule. 158 Carl-Ludwig Furck, Das Schulsystem, in: Handbuch für Bildungsgeschichte, Bd. VI, Erster Teilband, S. 282-357, hier S. 331. 159 Christoph Führ, Schulversuche 1965/66, Teil I: Gesamtdarstellung, Weinheim 1967, S. 11–98. 160 Komplott bei Adelheid, in: Spiegel, 25.3.1968, Nr. 13. 161 Nürnberg 1968. Beitrag der SPD zu aktuellen Problemen der deutschen Politik, in: Vorstand der SPD, Programme und Entschließungen zur Bildungspolitik 1964–1975, S. 135. 162 Angenommene Anträge. Kongreß der Lehrer und Erzieher, Nürnberg 1968, in: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung 20 (1968), Nr. 7, S. 10–12, hier S. 10.

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autoritär-hierarchischen und klerikalen Herrschaftssystem« entspräche, zu überwinden. Die GEW forderte in einem angenommenen Antrag die »Errichtung und Entwicklung von Gesamtschulen in allen Ländern auf breiter Grundlage«.163 Der GEW-Kongress 1968 war auch in anderer Hinsicht aufschlussreich. Das gewerkschaftliche Bekenntnis zu einer ganztägig geführten Gesamtschule ließ auch Befürchtungen laut werden, dass sich der gewohnte »Arbeits- und Lebensrhythmus der Lehrerinnen und Lehrer« verändern könnte. Das Zeitprivileg des freien Nachmittags war fest im professionellen Selbstverständnis verankert und bot mit der Feminisierung des Lehrerberufs auch für die zunehmende Zahl von Müttern eine geeignete Lösung, Beruf und Familie zu vereinbaren.164 So hieß es: »Besonders problematisch wird er für die verheirateten Lehrerinnen. Bei den großen Entfernungen zwischen Arbeitsplatz und Wohnort wird ein Großteil der Lehrer wegen Präsenzpflicht in der Ganztagsschule die Mittagsmahlzeit nicht mehr im Kreise ihrer Familien einnehmen können und damit auf die Entspannungsmöglichkeit in der Familie verzichten müssen.«165 Schließlich übte das Projekt Gesamtschule auch auf das Umfeld des Ganztagsschulverbandes GGT eine hohe Anziehungskraft aus. Bereits auf der GGT-Jahrestagung im November 1966 schwenkte man ein auf die Linie der Gesamtschulbefürworter und plädierte für eine »Ehe« von Tagesheimschule und Gesamtschule.166 Ende der 1960er-Jahre galt die Gesamtschule nicht nur für den GGT-Verbandsvorsitzenden Herbert Frommberger als »vermutlich die beste Form«, die Ganztagsschule zu realisieren. Der Dortmunder Schulrat Frommberger, der zwischen 1967 und 1969 Mitglied des Bildungsrates war, wurde zudem der erste Geschäftsführer des 1969 neu gegründeten Verbandes »Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule e.V.« (GGG).167 Er gehörte damit zu einer Gruppe engagierter Ganztagsschulaktivisten, die Ende der 1960er-Jahre in das Gesamtschullager überwechselte. Auch für Joachim Lohmann begann die Karriere als Schulpolitiker und Gesamtschulexperte mit seiner Dissertation über die Ganztagsschule.168 Lohmann gehörte ebenfalls zu den Gründungsmitgliedern des Gesamtschulverbandes und war in den 163 Ebd. 164 Vgl. zur Feminisierung des Lehrerberufs Kap. 3.2. 165 Angenommene Anträge. Kongreß der Lehrer und Erzieher, Nürnberg 1968, in: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung 20 (1968), Nr. 7, S. 10–12. 166 Vgl. auch Edgar Hesse, Gesamtschule und Tagesheimschule, in: Neue Deutsche Schule 19 (1967), Nr. 2, S. 37–39. 167 Vgl. den Hinweis bei Daniel Blömer, Topographie der Gesamtschule: zum Zusammenhang von Pädagogik und Raum, Bad Heilbrunn 2011, S. 79. 168 Eine aktualitätsbezogene Kurzversion der Dissertation erschien in der am Pädagogischen Zentrum in Berlin angesiedelten Reihe »Pädagogische Provokationen«: Joachim Lohmann, Die Ganztagsschule. Aufgaben und Möglichkeiten, Weinheim/Berlin 1966.

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Jahren des Gesamtschulaufbaus in West-Berlin für den dortigen Bildungssenat tätig.169 Die Strahlkraft, die von der Gesamtschule ausging, rührte mithin auch daher, dass dieses Reformprojekt – das neben dem gesellschaftspolitischen Anliegen auf einen wissenschaftlich ausgerichteten, modernen Schulunterricht zielte – unmittelbar mit den maßgeblichen Forschungseinrichtungen wie dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und dem stärker praxisorientierten Pädagogischen Zentrum in Berlin verbunden war. Das Wechselverhältnis von beständig wachsender Nachfrage nach wissenschaftlich begründeter Expertise bzw. bildungspolitischem Planungswissen und der sich ausweitenden Infrastruktur der Bildungsforschung machte es für Wissenschaftler und pädagogische Praktiker in jedem Fall lohnender, sich mit dem Forschungskomplex Gesamtschule als mit der Ganztagsschule zu beschäftigen, denn damit waren im Rahmen von Forschungsprojekten und Schulversuchen, die das Experimentalprogramm vorsah, ungleich mehr finanzielle Mittel und Stellen verbunden.170 Wie oben ausgeführt, speiste sich die westdeutsche Bildungsdebatte unter anderem aus dem Blick über die Grenze, kam doch dem ostdeutschen Bildungssystem eine gewisse »Vorlauffunktion«171 zu. So war die Bildungspolitik der DDR im deutsch-deutschen Vergleich Schrittmacher etwa bei der Landschulreform, d.h. bei der Ablösung von »Zwergschulen« in ländlichen Gebieten durch zentraler gelegene »Mittelpunktschulen«, aber auch bei der Verlängerung der Pflichtschulzeit durch ein 9. Schuljahr, bei der Einführung des Schulfaches Arbeitslehre (in Anlehnung an die ostdeutsche polytechnische Bildung) oder auch beim Aufbau des Zweiten Bildungsweges.172 Die FDP-Bildungspolitikerin Hildegard Hamm-Brücher hatte 1965 auch die zentrale Bildungsplanung der DDR in einem aufsehenerregenden »Zeit«-Artikel als beispielhaft für die eigene Bildungsreform hervorgehoben.173 Die bildungspolitische Reformdebatte wies in beiden deutschen Staaten in der Tat durchaus Ähnlichkeiten auf, und zwar hinsichtlich ihrer Themen, Argumente, Sprecher sowie des Denkens in internationalen Wettbewerbskategorien. Anders als die wechselseitige scharfe ideologische Abgrenzung noch wenige Jahre zuvor, scheint die Ost-West-Konfrontation in den 1960er-Jahren insofern homogenisierend gewirkt zu haben, »als sie auf beiden Seiten ein technizistisch-szientifisches Fort-

169 Vgl. Fallstudie II zur Walter-Gropius-Schule. 170 Fend, Bildungsforschung von 1965 bis 2008, hier S. 22f.; Tillmann, Erziehungswissenschaften und Schulreform, S. 51–68, bes. S. 54f. Vgl. auch Kap. 3.1. 171 Führ, Deutsches Bildungswesen seit 1945, S. 15. 172 Ebd. 173 Vgl. die aus der »Zeit«-Serie entstandene Schrift: Hildegard Hamm-Brücher, Auf Kosten unserer Kinder? Wer tut was für unsere Schulen – Reise durch die pädagogischen Provinzen der Bundesrepublik und Berlin, Hamburg 1965, S. 123–126.

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schritts- und Modernitätskonzept stärkte«.174 Hüben wie drüben konzipierte man Bildung als Instrument, um die Möglichkeiten der »Wissenschaftlich-Technischen Revolution« (Ost) bzw. der »Zweiten Industriellen Revolution« (West) zu steuern, wirtschaftliches Wachstum zu sichern, mehr soziale Gerechtigkeit und kulturelle Teilhabe herzustellen und politische Herrschaft zu legitimieren. Im Folgenden ist für die DDR genauer zu untersuchen, welche Bedeutung der Ganztagserziehung in der Schul- und Gesellschaftspolitik vor und nach dem Mauerbau zukam.

174 Jessen, Zwischen Bildungsökonomie und zivilgesellschaftlicher Mobilisierung, hier S. 209 und S. 213.

Blickwechsel: Schule und ganztägige Bildung und Erziehung in der DDR der 1950er- und 1960er-Jahre Während den als förderungswürdig anerkannten Kindern der Bourgeoisie ein Maximum an Wissen vermittelt wird, werden die Kinder der Werktätigen im allgemeinen nur mit dem allernotwendigsten Wissen vertraut gemacht, das sie befähigen soll, auch unter den Bedingungen des Fortschritts dem Profitstreben der Bourgeoisie dienstbar zu sein. Sie sollen keine höhere Bildung erreichen, sondern in erster Linie zur demutsvollen, angeblich gottgewollten Unterwerfung unter die herrschende Klasse und zur rückhaltlosen Anerkennung der Führerposition einer volksfeindlichen »Elite« erzogen werden.175

Die Art und Weise, in der DDR-Pädagogen Ende der 1950er-Jahre die hierarchische Struktur und soziale Selektivität des westdeutschen Schulsystems beschrieben, lässt keinen Zweifel daran, dass man sich des eigenen bildungspolitischen Vorsprungs überaus bewusst war. Anders als im Westen war im Osten Deutschlands das Bildungs- und Erziehungswesen in der formativen Phase der späten 1940er- und frühen 1950er-Jahre tiefgreifend umgestaltet worden. Die sowjetische Besatzungsmacht und das SED-Regime nutzten Bildungspolitik von Anfang an als Hebel für ihre macht- und gesellschaftspolitischen Ziele. Die Lehrerschaft wurde, mittels Entnazifizierung und Neulehrer-Bewegung, weitgehend ausgetauscht und das Bildungswesen verstaatlicht; kirchliche Schulträger und der schulische Religionsunterricht wurden aus der Schule gedrängt. Die achtjährige Einheitsschule für alle mit anschließender vierjähriger Abiturstufe hob die traditionelle Differenzierung in Volksschule und Höhere Schule auf und brach mit dem bürgerlichen Bildungsmonopol. Kriterien sozialer Herkunft spielten neben Parteimitgliedschaft eine wachsende Rolle bei der staatlichen Förderung im Bildungswesen, indem sie Kindern aus bildungsfernen Familien durch Maßnahmen der Gegenprivilegierung den Zugang zur Hochschule öffneten.176 Bildung, Erziehung und Kinderbetreuung in den 1950er-Jahren Während der Westen Deutschlands bei der öffentlichen Kinderbetreuung an die plurale Wohlfahrtsträgerstruktur aus der Weimarer Republik angeknüpft hatte, begriff man in der SBZ/DDR die Erziehung von Kindern als Aufgabe und Hand175 Herbert Lauterbach, Die Elitetheorie – Grundlage der reaktionären Schulpolitik und Pädagogik in Westdeutschland, in: Pädagogik. Zeitschrift für Theorie und Praxis der sozialis­ tischen Erziehung 15 (1960), Nr. 10, S. 937–945, hier S. 944. 176 Vgl. den knappen Überblick bei Jessen, Zwischen Bildungsökonomie und zivilgesellschaft­ licher Mobilisierung, S. 210; ausführlicher dazu Gert Geißler, Schulgeschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis in die Gegenwart, Frankfurt/M. 2011, S. 748ff. und 822ff., sowie zur Periodisierung Gert Geißler/Ulrich Wiegmann, Pädagogik und Herrschaft in der DDR, Frankfurt/M. 1996, S. 4ff.

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lungsfeld des Staates. Kindergarten und Schulhort wurden in den Verantwortungsbereich des Ministeriums für Volksbildung integriert und damit die in der Weimarer Republik etablierte strikte institutionelle Trennung von Erziehung und Bildung gelockert. Die Familie als traditionelle Erziehungsinstanz galt als historisch belastet und somit ungeeignet, das weitreichende gesellschaftliche Umbauprojekt voranzubringen.177 Das Muster für den Umbau des ostdeutschen Erziehungswesens lieferte die Sowjetunion. Spätestens mit der »Verordnung zur Unterrichtsstunde als Grundform der Schularbeit«178 vom 4. Juli 1950 wurden Traditionen der Reformpädagogik als »reaktionär« und »imperialistisch« konsequent bekämpft.179 Neben der Festlegung der Unterrichtsstunde auf 45 Minuten standen nun die »führende Rolle des Lehrers« und die »Systematik des Unterrichts« im Vordergrund. Reformpädagogische Ansätze wie »Erziehung vom Kinde aus«, »freie Erziehung«, »Ar­beitsschulunterricht« und die »Auflösung des Klassenunterrichtssystems« durch »Gruppenunterricht« wurden strikt abgelehnt, stattdessen bezogen sich die Leitfäden zur schulischen und außerschulischen pädagogischen Arbeit nun ausschließlich auf sowjetische Pädagogen.180 Leitvorstellung war »eine ›ordentliche‹, in ihren pädagogischen Verhältnissen sozialistisch-konservative Schule«, in der zielgerichtet, diszipliniert und angestrengt gearbeitet werden sollte.181 Was die zeitliche Ausdehnung des Schultages in den Nachmittag angeht, so war das Netz staatlicher Kindererziehungseinrichtungen in den 1950er-Jahren noch sehr lose geknüpft. Zu den unterschiedlichen Angeboten der Kinderbetreuung gehörten neben dem traditionellen Hort improvisierte Formen wie Hausaufgabenzimmer oder aber neue Varianten wie Pioniergruppen und Schulklubs.182 Sie alle richteten ihre 177 Leonore Ansorg, Kinder im Klassenkampf. Die Geschichte der Pionierorganisation von 1948 bis Ende der fünfziger Jahre, Berlin 1997, S. 15f.; Hilde von Balluseck, Die Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern. Geschichte der Zuständigkeiten, Strukturen und Argumentations­ linien, in: Soziale Arbeit 4 (1994), Nr. 6, S. 182–200, hier S. 186; Heinz-Elmar Tenorth, Die Bildungsgeschichte der DDR – Teil der deutschen Bildungsgeschichte?, in: ders. (Hg.), Bildungsgeschichte einer Diktatur. Bildung und Erziehung in SBZ und DDR im historischgesellschaftlichen Kontext, Weinheim 1997, S. 69–96, hier S. 83f. 178 Verordnung über die Unterrichtsstunde als Grundform der Schularbeit, die Vorbereitung, Organisation und Durchführung der Unterrichtsstunde und die Kontrolle und Beurteilung der Kenntnisse der Schüler, in: Oskar Anweiler u.a. (Hg.), Bildungspolitik in Deutschland 1945–1990. Ein historisch-vergleichender Quellenband, Bonn 1992, S. 255–258. 179 Siegfried Baske, Allgemeinbildende Schulen, in: Christoph Führ/Carl-Ludwig Furck (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, 1945 bis zur Gegenwart, Bd. VI, Zweiter Teilband: Deutsche Demokratische Republik, München 1998, S. 159–201, hier S. 169f. 180 Ebd.; differenziert dazu: Geißler, Schulgeschichte in Deutschland, S. 829ff. 181 Geißler, Schulgeschichte in Deutschland, S. 832. 182 Vgl. zu den Anfängen der Pionierarbeit Geißler, Schulgeschichte in Deutschland, S. 832, sowie allgemein Ansorg, Kinder im Klassenkampf.

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nachmittäglichen Freizeitangebote vor allem an die Kinder erwerbstätiger Mütter. Die Tatsache, dass der Großteil der Kinder erwerbstätiger Eltern unbetreut blieb oder den Nachmittag bei Großeltern oder in anderen privaten Betreuungsarrangements verbrachte, wies ungewollt Ähnlichkeit zur westdeutschen Situation auf.183 1955 zählte man offiziell 100.000 Kinder in öffentlich-rechtlichen und betrieblichen Horten, die, so war in der »Deutschen Lehrerzeitung« zu lesen, »dank der Fürsorge unserer Regierung nicht mehr den unkontrollierbaren Einflüssen der Straße ausgesetzt« seien.184 Allerdings zeigte sich zu diesem Zeitpunkt immer deutlicher, dass sich Horte nicht mehr als reine Betreuungseinrichtungen verstanden, sondern durch ihre Verzahnung mit der Pionierorganisation auch der politischen Erziehung dienen sollten: Der Hort als Teil des Schulklubs kann seine Aufgaben nur in enger Verbindung mit der Pionierorganisation »Ernst Thälmann« lösen. Das bedeutet für unsere Horterzieher, daß sie nicht nur mit den Lehrern, sondern auch mit dem Freundschaftspionierleiter und vor allem mit dem Gruppenpionierleiter eng zusammenarbeiten und die Prinzipien der Pionierarbeit zur Grundlage ihrer pädagogischen Arbeit machen müssen.185

Dass Programm und Praxis in der außerschulischen Kindererziehung weit auseinanderfielen, war in den 1950er-Jahren Gegenstand häufiger Klagen.186 Einrichtungen wie Schulklubs, die »zur Steigerung der Lernfreudigkeit und zur Erhöhung der Lernergebnisse« dienen und »der Pionierorganisation für ihre Arbeit eine breite Basis geben« sollten, erreichten in manchen Gegenden der DDR nur wenige Kinder.187 Andernorts wurde hingegen eine Belastung der Schülerinnen und Schüler durch schulische bzw. außerschulische Nachmittagsaktivitäten beklagt. Lehrer, Eltern und Ärzte konstatierten, so hielt ein Inspektionsbericht des Ministeriums für Volksbildung für 17 allgemeinbildende Schulen fest, neben einer »Reizüberflutung der Kinder« und einer »zu hohe[n] Stundenzahl« an Unterrichtsstunden eine »Überforderung der Kinder durch außerschulische Arbeit«. Die Kinder seien 183 Gert Geißler, Ganztagsschule in der DDR. Großer Sprung, kleine Schritte und allmähliche Erschöpfung, in: Falk Radisch (Hg.), Ganztagsangebote in der Schule. Internationale Erfahrungen und empirische Forschungen, Bonn/Berlin 2005, S. 81–100, hier S. 88; Leonore Ansorg, Für Frieden und Sozialismus – seid bereit! Zur politischen Instrumentalisierung der Jungen Pioniere von Beginn ihrer Gründung bis Ende der 1950er Jahre, in: Jürgen Kocka (Hg.), Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993, S. 169–189, hier S. 183, 189. 184 Über die Grundlagen der pädagogischen Arbeit im Hort, in: Deutsche Lehrerzeitung 2 (1955), Nr. 6, S. 2. 185 Ebd., S. 2. 186 Schülerhorte – Stätten sozialistischer Erziehung. Zusammenfassender Bericht über die Horterzieherkonferenz in Magdeburg, in: Deutsche Lehrerzeitung 3 (1956), Nr. 27, S. 4. 187 Aus der Arbeit einiger Schulklubs, in: Deutsche Lehrerzeitung 2 (1955), Nr. 6, S. 1.

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durch außerschulische und Pionierarbeit an zwei bis drei Nachmittagen etwa zwei Stunden gebunden. Manche Schulen verlangten von ihren Schülerinnen und Schülern, dass sie »an 4–5 Nachmittagen in der Woche zu irgendwelchen Veranstaltungen gehen müssen«. Insbesondere »viele Eltern klagen [...] über die Überlastung der Kinder. Sie bezeichnen ihre Kinder als nervös, abgespannt und unlustig.« Es bleibe zu wenig Zeit für »Hilfe in der Familie und freies Spiel«.188 Auf der Horterzieherkonferenz in Magdeburg 1956 hatte man eine bessere Planung gefordert, um die Hortarbeit mithilfe eines Jahresarbeitsplans auf den Jahresplan der Schule abzustimmen. Die Freizeitgestaltung sollte stärker daraufhin ausgerichtet werden, dass sie der »patriotischen Erziehung« und der »polytechnischen Bildung« diente. Insbesondere wurde eine verbesserte Hortnerinnenausbildung gefordert, die zunächst ab September 1956 in Form von Fünfmonatslehrgängen zur Vorbereitung auf die praktische Arbeit im Hort stattfinden sollte. Ein weiterer Kritikpunkt auf dieser Konferenz war die generelle Vernachlässigung des Themas Schulhort auf Seiten der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung. Die gewerkschaftliche Geringschätzung gegenüber der in der Regel von Frauen ausgeübten Tätigkeit des Horterziehers zeigte sich auch daran, dass kein einziger Gewerkschaftssekretär an der Magdeburger Horterzieherkonferenz teilnahm. Der anwesende Staatssekretär aus dem Volksbildungsministerium versprach den Konferenzteilnehmerinnen in eher hilfloser Ankündigungsrhetorik: »Wir müssen durchsetzen, daß auch die Hort­ erzieher als vollwertige Pädagogen anerkannt werden.« Zu diesem Zeitpunkt hatte der Ministerrat der DDR bereits festgelegt, dass Horterzieher mit abgeschlossener Grundausbildung und Lehrberechtigung für die Unterstufe wie Lehrer besoldet werden sollten.189 Ganztagserziehung als bildungs- und arbeitspolitische Maßnahme Gleichzeitig mit der westdeutschen Debatte um die Fünftagewoche kam schulische Ganztagserziehung auch in der DDR Ende der 1950er-Jahre auf die pädagogische und politische Agenda.190 Wie nie zuvor in der deutschen Nachkriegsgeschichte waren Fragen von Kindererziehung, Familie und Frauenerwerbsarbeit so intensiv diskutiert und politisch forciert worden. Im Folgenden wird beleuchtet, wie dabei unterschiedliche, sich gegenseitig verstärkende Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, in der Bildungspolitik, aber auch hinsichtlich der politisch-ideologischen

188 Bundesarchiv Berlin (BAB), Ministerium für Volksbildung, DR 2/5373, Abt. Inspektion: Gesamteinschätzung Belastung der Schüler vom 1.11.1956. 189 Schülerhorte – Stätten sozialistischer Erziehung. Zusammenfassender Bericht über die Horterzieherkonferenz in Magdeburg, in: Deutsche Lehrerzeitung 3 (1956), Nr. 27, S. 4. 190 Vgl. Kap. 1.3.

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Konzepte und parteilichen Ambitionen zusammenwirkten und eine Situation schufen, die die Einführung von Ganztagserziehung begünstigte. Ende der 1950er-Jahre hatte der Arbeitskräftemangel erhebliche Ausmaße angenommen, sodass die DDR-Regierung die Realisierung des Siebenjahrplanes in Gefahr sah, mitsamt dessen Ziel, die Bundesrepublik auf wirtschaftlichem Gebiet zu überholen. Tausende Menschen, vornehmlich junge ausgebildete Männer, verließen die DDR über die noch offene deutsch-deutsche Grenze. Um die hochfliegenden wirtschaftlichen Planziele zu erreichen, war es nun unabdingbar geworden, auch verheiratete Frauen und Mütter für die Erwerbsarbeit zu mobilisieren.191 Der Frauenanteil an der erwerbstätigen Bevölkerung stagnierte seit 1955. Ähnlich wie in der Bundesrepublik waren bis dahin hauptsächlich unverheiratete Frauen, Kriegswitwen und alleinerziehende Mütter erwerbstätig geworden. Im Jahre 1958 leitete die SED auf ihrem V. Parteitag eine breite ideologische Offensive ein, indem sie ausgehend von der sozialistischen Emanzipationstheorie Frauen dazu aufrief, ihr Recht auf Arbeit zu realisieren. Die noch weit verbreitete traditionelle Vorstellung der Mutter und »unproduktiven Hausfrau« wurde scharf kritisiert. Die gesellschaftlich neu zu implementierende kulturelle Norm der »guten Mutter« war die erwerbstätige Mutter, die am »sozialistischen Aufbau« teilnimmt und deswegen einen günstigen Erziehungseinfluss auf ihre Kinder ausüben kann.192 Der Gewinnung von Müttern für die Erwerbsarbeit stand allerdings ein eklatanter Mangel an Kinderbetreuungseinrichtungen entgegen. Die SED erklärte die stagnierende Mütterbeschäftigung im November 1958 damit, dass insbesondere für Schulkinder kaum eine regelmäßige Nachmittagsbetreuung im Hort vorhanden wäre. Nur acht Prozent der Kinder zwischen sechs und elf Jahren würden nach einer dem ZK der SED vorliegenden Erhebung in einen Hort gehen. Vergleichsweise

191 Heike Trappe, Emanzipation oder Zwang? Frauen in der DDR zwischen Beruf, Familie und Sozialpolitik, Berlin 1995; Gunilla-Friederike Budde (Hg.), Frauen arbeiten. Weibliche Erwerbstätigkeit in Ost- und Westdeutschland, Göttingen 1997; Hildegard Maria Nickel, Mitgestalterinnen des Sozialismus. Frauenarbeit in der DDR, in: Gisela Helwig/Hildegard Maria Nickel (Hg.), Frauen in Deutschland 1945–1992, Bonn 1993, S. 233–256. Die Massenorganisation Demokratischer Frauenbund Deutschlands (DFD) initiierte im Rahmen dieser Offensive die Kampagne der sogenannten Hausfrauenbrigaden, um Frauen bei ihrer Emanzipation zu »helfen«, indem sie durch temporäre Arbeitseinsätze vornehmlich in der Industrie ihren häuslichen Horizont erweitern sollten. Vgl. Monika Mattes, »Vom Ich der Küche zum Wir des Kollektivs«. Hausfrauenbrigaden in der DDR 1958–1961, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 11 (1996), Nr. 2, S. 36–61. 192 Gesine Obertreis, Familienpolitik in der DDR 1945–1980, Opladen 1986, S. 140ff.; Mattes, »Vom Ich der Küche zum Wir des Kollektivs«.

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günstig sei die Betreuungssituation der jüngeren Kinder: Immerhin besuchten 1958 45 Prozent der Kinder zwischen drei und sechs Jahren einen Kindergarten.193 Auf dem Feld der Bildungspolitik verfolgten Partei und Regierung seit den späten 1950er-Jahren ebenfalls neue Ziele.194 Ein zentrales Element des Siebenjahrplanes war die Einführung der zehnklassigen allgemeinen polytechnischen Oberschule bis 1964, welche die achtklassige »demokratische Einheitsschule« ersetzen sollte. Faktisch wurde allerdings die flächendeckende Einführung der zehnklassigen Schule erst in den späten 1970er-Jahren erreicht.195 Um die sozialistische Bildungsreform voranzutreiben, berief das Politbüro der SED 1958 eine Schulkommission ein, in der neben Parteifunktionären auch Mitarbeiter des Ministeriums für Volksbildung sowie Bildungsexperten des Deutschen Pädagogischen Zentralinstituts (DPZI) vertreten waren und die bis 1961 die Schulpolitik der DDR mitbestimmte.196 Im Versuch, die Wissenschaft für die staatliche Bildungsplanung in Anspruch zu nehmen und damit Bildungspolitik wissenschaftlich zu fundieren, zeigen sich deutliche Parallelen zwischen der DDR und der Bundesrepublik, war doch auch im Westen die Politikberatung durch Bildungsexperten mit dem Bildungsrat 1965 institutionalisiert worden.197 Nachdem auf dem V. Parteitag der SED 1958 die Losung verbeitet worden war, an jeder Schule einen Hort einzurichten, spielte Ganztagserziehung mittels Hort und Ganztagsschule eine Schlüsselrolle in der parteilich initiierten Bildungsdebatte. Das Gesetz über den Siebenjahrplan vom 1. Oktober 1959 sah vor, bis 1965 die Hortplätze mehr als zu verdoppeln.198 Die neue Schulordnung von 12. November 1959 definierte den Schulhort als »festen Bestandteil der Schule«, dessen Hauptaufgabe es sei, den Schülerinnen und Schülern »beim Lernen zu helfen und sie in einer sinn-

193 Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (BBF), 2322, Auszüge aus Materialien und Dokumenten der Partei und Regierung zu Fragen der Ganztagserziehung, o.D. um 1960. 194 Christoph Führ/Carl-Ludwig Furck (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, 1945 bis zur Gegenwart, Bd. VI, Zweiter Teilband: Deutsche Demokratische Republik, München 1998; Tenorth, Die Bildungsgeschichte der DDR – Teil der deutschen Bildungs­ geschichte?, S. 69–96. 195 Gert Geißler, Zur Zeitgeschichte von Bildungs- und Schulpolitik in Deutschland, Ber­ lin 2006, S. 48f. 196 Schlußbemerkungen der Genossen Neugebauer und Prof. Hager auf der Sitzung der Schulkommission über Fragen der ganztägigen Bildung und Erziehung am 23.3.1960, BBF 2538. 197 Vgl. genauer Jessen, Zwischen Bildungsökonomie und zivilgesellschaftlicher Mobilisierung. Vgl. auch Kap. 2.3. 198 Deutsches Pädagogisches Zentralinstitut (Hg.), Aus der Arbeit in den Schulhorten. Gedanken und Erfahrungen, o.O. 1960, S. 6.

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vollen Freizeitgestaltung erzieherisch zu betreuen«.199 Für Erziehungswissenschaftler war dies ein wichtiger Schritt, »den Hort als Stätte systematischer Bildung und Erziehung« zu akzentuieren und »entsprechende Maßnahmen fest[zulegen], die seine Eingliederung in das pädagogische Geschehen der Schule sichern sollen«.200 Von einer ganztägigen pädagogischen Betreuung versprach man sich vor allem ein effektives Instrument zur Verbesserung der schulischen Leistungen gerade im Hinblick auf die neu eingeführte Zehnklassenschule. Es hatte sich gezeigt, dass viele Schülerinnen und Schüler, insbesondere Kinder aus Arbeiter- und Bauernfamilien, große Mühe hatten, den Lernstoff und die Hausaufgaben zu bewältigen. In einigen Regionen der DDR war die sogenannte Sitzenbleiberquote besonders hoch.201 Wissenschaftler des DPZI entwickelten Konzepte und Zeitpläne darüber, wie der ganztägige Lernprozess zu organisieren sei, damit alle Schüler den Schulabschluss der zehnklassigen allgemeinen polytechnischen Oberschule erfolgreich absolvierten. Damit stand hier wie in der Bundesrepublik bildungsökonomisches Denken im Vordergrund, das sich auf die Mobilisierung von Bildungsreserven richtete. Neben einer strukturellen Schulreform ging es für Partei und Regierung Ende der 1950er-Jahre auch um eine politisch-ideologische Erziehung und moralische Mobilisierung der gesamten Gesellschaft, um den Aufbau des Sozialismus voranzubringen. In allen Belangen der Erziehung entwickelte sich die Sowjetpädagogik zur neuen normativen Richtschnur. Dies betraf den Erziehungsalltag in der Familie, wenn etwa die Frauenzeitschrift »Frau von heute« ihre Leserinnen an die staatsbürgerliche Dimension ihrer Erzieherrolle erinnerte unter Verweis auf den bekanntesten sowjetischen Pädagogen Makarenko: So müssten Eltern »sich immer bewusst sein, dass sie ihren Sohn und ihre Tochter nicht zu ihrer eigenen Freude geboren haben und erziehen. In ihrer Familie und unter ihrer Anleitung wächst ein künftiger Staatsbürger, ein künftiger Mitarbeiter und Kämpfer heran.«202 Sowjetpädagogische Visionen des »Neuen Menschen«203 inspirierten zumindest mittelbar die auf Schule und 199 Verordnung über die Sicherung einer festen Ordnung an den allgemeinbildenden Schulen – Schulordnung – vom 12. November 1959, in: Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen (Hg.), Dokumente zur Bildungspolitik in der Sowjetischen Besatzungszone (ausgewählt und erläutert von Siegfried Baske und Martha Engelbert), Berlin 1966, S. 163–175, hier S. 165. 200 Werner Lindner, Zur Gestaltung des einheitlichen, ganztägigen pädagogischen Prozesses in der Tagesschule, in: Pädagogik 18 (1963), Nr. 12, S. 1091–1101, hier S. 1091f. 201 BBF 2538, Schreiben von Neugebauer (Sekretär der Schulkommission des ZK der SED) an Senf (DPZI) vom 5.2.1960. 202 Die Erziehung unserer Kinder zu sozialistischem Staatsbewusstsein, in: Frau von heute 17 (1962), Nr. 13, S. 12f. 203 Der Topos des »Neuen Menschen« war in der DDR weitaus weniger gebräuchlich als es seine weite Verbreitung in wissenschaftlichen Arbeiten zur Bildungs- und Erziehungspolitik der DDR seit 1990 suggeriert. Vgl. Emmanuel Droit, Vorwärts zum neuen Menschen? Die

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Schulhort bezogenen Diskurse über »die enge Verbindung der Schule mit dem sozialistischen Leben« und die »Entwicklung des Kinderkollektivs«.204 »In unserer Schule werden sozialistische Menschen herangebildet, die allseitig für die Aufgaben und das Leben im Sozialismus vorbereitet sind«, heißt es 1960 in einer einer vom DPZI herausgegebenen Schrift.205 Charakteristisch für die zahlreichen Beiträge in pädagogischen Zeitschriften war der erzieherische Optimismus jener Jahre mit seinem tiefsitzenden Glauben an die machtvolle Wirkung von Erziehung beim Aufbau des Sozialismus.206 Ein zeittypischer Beitrag in der DPZI-Zeitschrift »Pädagogik« bringt diese übersteigerten Erwartungen am Beispiel von Ganztagserziehung zum Ausdruck, von der man sich eine nachhaltigere politische Beeinflussung versprach: »Dadurch, daß die Kinder während des größten Teils des Tages der planmäßigen erzieherischen Einwirkung durch die Schule ausgesetzt sind, werden die Normen der sozialistischen Erziehung auch in die Familie eindringen.«207 Für den Erfolg des gesellschaftlichen Erziehungsprojektes war es aus Sicht der herrschenden Partei notwendig, den Einfluss konkurrierender und konfligierender Erziehungsagenturen wie Familie und Kirche zurückzudrängen. Die Tatsache, dass die breite Mehrheit der jüngeren Schulkinder ihren Nachmittag auf der Straße oder in von »altmodischen« Einstellungen geprägten Familien verbrachte, dürfte deren Erziehungsbedarf in den Augen von Staat und Partei umso notwendiger gemacht haben. Insbesondere bei den oft für die nachmittägliche Kinderbetreuung eingesetzten Großeltern, finden sich die Überreste der kapitalistischen Gesellschaft im Bewusstsein und in der Lebensführung, die einen ungünstigen Einfluß auf die heranwachsende Generation ausüben. Es ist bekannt, daß kleinbürgerliche Auffassungen und Verhaltensweisen in der Familie weitaus stärker in Erscheinung treten als zum Beispiel im Betrieb. Die ganztägige staatliche Erziehung schaltet diese unkontrollierbaren und oftmals negativen Einflüsse weitgehend aus und ersetzt sie durch eine planmäßige und systematische Erziehung.208 sozialistische Erziehung in der DDR (1949–1989), Köln u.a. 2014; vgl. hierzu die kritische Rezension von Gert Geißler, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 101 (2014), Nr. 2, S. 244f. 204 Deutsches Pädagogisches Zentralinstitut (Hg.), Aus der Arbeit in den Schulhorten. Gedanken und Erfahrungen, o.O. 1960, S. 5. 205 Ebd. 206 Dorothee Wierling, Die Jugend als innerer Feind. Konflikt in der Erziehungsdiktatur der sechziger Jahre, in: Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr (Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 404–425, hier S. 417. 207 Tagesheimschule als Schulversuch in der DDR, in: Pädagogik 13 (1958), S. 843. 208 Horst Drewelow, Die Schule der Zukunft. Die Tagesheimschule in der Deutschen Demo­ kratischen Republik und ihre Bedeutung für die Entwicklung der Ganztagserziehung, Ber­ lin (DDR) 1962, S. 11.

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Um 1959/60 strebten die Diskurse und schulpolitischen Aktivitäten um ganz­ tägige Bildung und Erziehung auf einen neuen Höhepunkt zu. Mit der sogenannten Tagesschule beherrschte eine neue Schulform als »Schule der kommunistischen Zukunft« für kurze Zeit das bildungspolitische Programm. Zu unterscheiden sind dabei eine Art Inkubationsphase um 1958/59, in der die ersten ganztägigen Versuchsschulen gegründet wurden und die Debatte um Ganztagserziehung weiter an Intensität gewann, von einer kurzen Hochphase um 1960, als durch eine parteigesteuerte Kampagne eine breite Gründungswelle von Tagesschulen initiiert wurde. Tagesschule zwischen sowjetischem Vorbild und deutscher Systemkonkurrenz Am Anfang des Tagesschulexperiments stand ein nahezu vollständiger personeller Austausch der Führungspositionen im Bereich Volksbildung im Jahr 1958. Damit sollten jedwede Reformimpulse, die der Entstalinisierungskurs des XX. Parteitages der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) auch in der DDR ausgelöst hatte, unterbunden werden.209 Die erste ostdeutsche »Tagesheimschule« war in Berlin-Treptow bereits 1957 gegründet worden im Kontext der kurzen Reformzeit nach Stalins Tod. Nun galt es nicht nur, den ebenfalls im Westen verwendeten Terminus »Tagesheimschule« durch die Bezeichnung »Tagesschule« zu ersetzen, sondern auch die alte reformpädagogische Idee des ganztägigen Lern- und Lebensortes Schule in den Dienst des propagierten »sozialistischen Aufbaus« zu stellen.210 Bereits Ende 1957 hatte die SED-Spitze das DPZI instruiert, einen Versuch mit Tagesschulen vorzubereiten. Ab 1958 sollten diese Experimentalschulen als dauerhafte Einrichtungen Ganztagserziehung insbesondere für »Arbeiter- und Bauernkinder« institutionalisieren.211 Bis Ende 1958 waren elf Tagesschulen als Versuchsschulen entstanden. Die ostdeutsche Tagesschule als Diskurs und Praxis hatte zwei zentrale Referenzpunkte: Erstens orientierte man sich am bildungspolitischen Vorbild Sowjetunion und damit an der sowjetpädagogischen Maxime der stärkeren »Verbindung der Schule mit dem Leben«. Seit 1957 wurden sowjetische Tagesschulen und, als deren Vorstufe, sogenannte Gruppen des verlängerten Tages gegründet, seit 1959 kamen verstärkt Internate hinzu.212 Schule war in der UdSSR das zentrale Feld, auf 209 Gert Geißler, Geschichte des Schulwesens in der Sowjetischen Besatzungszone und in der Deutschen Demokratischen Republik 1945 bis 1962, Frankfurt/M. 2000, S. 460ff. 210 Birgit Gebhardt, Die Tagesschule der DDR. Betrachtungen zum sozialistischen Konzept der Ganztagserziehung, in: Zeitschrift für Pädagogik 39 (1993), Nr. 6, S. 991–1006, hier S. 992. 211 BBF 2322, Auszüge aus Materialien und Dokumenten der Partei und Regierung zu Fragen der Ganztagserziehung, o.D., um 1960. 212 Anatoli Rakhkochkine, Beyond Ideology: The Time Policy of Russian School Education since 1945, in: Hagemann/Jarausch/Allemann-Ghionda, Children, Families, and States, S. 323–343, hier S. 331.

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dem Kinder und Jugendliche nach dem staatsbürgerlichen Ideal des »Sowjetmenschen« geformt werden sollten. Entsprechend richtete sich auch die Schulpolitik der DDR zum einen auf die zeitliche Ausweitung des staatlichen Erziehungseinflusses und zum anderen auf eine curriculare Mischung aus kognitivem Lernen, Sport und sozialen Aktivitäten.213 Zweitens nahmen ostdeutsche Bildungspolitiker und Pädagogen aufmerksam die Entwicklungen in der Bundesrepublik wahr, wo seit 1956 mit der Debatte um die Fünftagewoche die ersten Tagesheimschulen ins Leben gerufen worden waren.214 Für die Wissenschaftler und Mitarbeiter des Ministeriums für Volksbildung handelte es sich bei den Initiatoren der westdeutschen Tagesheimschulen im Umfeld des Verbandes Gemeinnützige Gesellschaft Tagesheimschule (GGT) um »ein Sammelbecken für fortschrittliche Pädagogen«.215 Bis zum Mauerbau 1961 nahmen ostdeutsche Pädagogen in Westdeutschland an Tagungen und anderen Veranstaltungen zum Thema Ganztagsschule teil216 und waren bemüht, wissenschaftliche Beiträge in westdeutschen Pädagogikzeitschriften zu platzieren, »da Fachkreise an polytechnischer Ausbildung und Tagesschulen sehr interessiert seien«. Auch lud man umgekehrt von DDR-Seite die westdeutschen Kollegen zu Tagungen zum Thema Tagesschule ein.217 Der Diskurs über Ganztagserziehung, der sich um 1958/59 öffentlich in päda­ gogischen Zeitschriften, aber auch intern entfaltete, setzte sich aus unterschiedlichen, häufig auch koexistierenden bildungsökonomischen, sozial- und gesellschaftspolitischen Argumenten und Denkfiguren zusammen. In Anlehnung an die sowjetische Idee der »Kollektiverziehung« versprach man sich von der ganztägigen Einbindung der Kinder und Jugendlichen im Schülerkollektiv einen günstigen Einfluss auf die Herausbildung der kommunistischen Persönlichkeit. Im Hinblick auf die polytechnische Bildung wurde die Ganztagserziehung als institutionelle Möglichkeit diskutiert, auch für Grundschüler bis zur sechsten Klasse, die noch keinen Unterrichtstag in der Produktion durchliefen, eine Verbindung zwischen Betrieb und Schule herzustellen, um sie dadurch früher auf die Arbeitswelt vorzubereiten.218 Ein anderes gängiges Begründungsmuster für ganztägige Erziehungseinrichtun213 Oskar Anweiler (Hg.), Die sowjetische Bildungspolitik seit 1917. Dokumente und Texte, Heidelberg 1961, S. 402f. 214 Vgl. Kap. 1.2. und 1.3. 215 BAB, Ministerium für Volksbildung, DR 2/23562, Protokoll der erweiterten Leitungssitzung der Forschungsgemeinschaft Tagesschule im DPZI am 29.3.1963. 216 BAB, Ministerium für Volksbildung, DR 2/23560, Protokoll der Arbeitstagung vom 2.4.1959. 217 BAB, Ministerium für Volksbildung, DR 2/23562, Protokoll der erweiterten Leitungssitzung der Forschungsgemeinschaft Tagesschule im DPZI am 29.3.1963. 218 Stiftung der Parteien und Massenorganisationen im Bundesarchiv (SAPMO-BAB), SED, DY 30//IV 2/9.05/9, Sektor Polytechnische Bildung und Oberschulen: Arbeitsplan für die Zeit vom 1.1.–10.6.1960.

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gen knüpfte an das traditionelle sozialpolitische Argument an, das mit paternalistischem Gestus von der »Sorge« für die »Kinder unserer werktätigen Mütter« sprach.219 Kinderbetreuung war so nach wie vor dem mütterlichen Pflichtenkreis zugeordnet und wurde nicht als gemeinsame Aufgabe beider Elternteile aufgefasst. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung blieb als ein Familie und Gesellschaft gleichermaßen prägendes Strukturprinzip und Handlungsmuster aufrechterhalten.220 Weitere im Diskurs über Ganztagserziehung zirkulierende Schlüsselbegriffe waren »Klasse« und »soziale Gleichheit«. Demgemäß wurden um 1960 beide organisatorischen Varianten von Ganztagserziehung, Tagesschulen ebenso wie Schulhorte, primär für die Zielgruppe der »Arbeiter- und Bauernkinder« eingerichtet. Dies hatte zum einen den praktischen Grund, dass es an Personal und Räumlichkeiten mangelte. Zum anderen wurde der »klassenmäßige« Fokus gesellschafts­ politisch damit begründet, dass »Arbeiter- und Bauernkinder« besonders gefördert werden sollten und Ganztagseinrichtungen dabei eine Kompensationsfunktion zukäme, um das soziale und kulturelle Kapital dieser Kinder zu erweitern. In einem Erfahrungsbericht beschrieben Horterzieherinnen diesen Aspekt am Beispiel ihres Schulhorts in Bühlau (Kreis Bischofswerda), den 40 von insgesamt 67 Grundschülern besuchten, deren Eltern größtenteils in den dortigen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) beschäftigt waren: »Zur Ausgestaltung unserer Dorfabende, die der Bevölkerung Einblick in unsere Arbeit geben soll, wurden vor allem Arbeiter- und Bauernkinder herangezogen. Zweck und Sinn ist es, den sprachlichen Ausdruck zu pflegen (Laienspiel, Gedichte usw.) und den Kindern Selbstbewusstsein und Sicherheit im Auftreten anzugewöhnen.«221 Ein weiterer argumentativer Baustein war, dass die Ganztagsunterbringung die Möglichkeit intensiver ideologischer Unterweisung böte, die darauf zielen müsse, dass »Arbeiterkinder ihre historische Aufgabe als die neue führende Klasse erkennen«.222 In solchen Redefiguren zeigte sich vor allem das Bemühen, Tagesschulen und Horte nicht nur als Einrichtungen für sozial benachteiligte Kinder zu installieren, sondern diese positiv umzuwerten in eine Art Eliteanstalt für die zukünftige sozialistische Führungsschicht. Solche Neuinterpretationen erschienen zudem anschlussfähig an die 219 Helga Schünemann, Mutti ist jetzt ganz beruhigt, in: Frau von heute 13 (1959), Nr. 5, S. 12–13; Autorenkollektiv unter der Leitung von Walter Günther, Rahmenplan für die Bildung und Erziehung im Schulhort. Empfehlungen für die Arbeit der Horterzieher, Berlin (DDR) 1972, S. 11. 220 Hierzu z.B. Carola Sachse, Der Hausarbeitstag. Gerechtigkeit und Gleichberechtigung in Ost und West 1939–1994, Göttingen 2002; vgl. auch Trappe, Emanzipation oder Zwang; Budde, Frauen arbeiten; Nickel, Mitgestalterinnen des Sozialismus. 221 Deutsches Pädagogisches Zentralinstitut (Hg.), Aus der Arbeit in den Schulhorten. Gedanken und Erfahrungen, o.O. 1960, S. 62. 222 BBF 2322, Gesichtspunkte für die Arbeit in den Ganztagsschulen vom 6. Mai 1958.

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unter Erziehungswissenschaftlern und Lehrern noch weit verbreiteten bildungsbürgerlichen Vorstellungen vom Hort als einer Fürsorgeeinrichtung für Arbeiter- und Unterschichtenkinder. Die in der DDR in den späten 1950er-Jahren entstandenen Tagesschulen wiesen in der sozialen Zusammensetzung ihrer Schülerschaft offenbar solch verblüffende formale Ähnlichkeiten mit den ersten Tagesheimschulen der Bundesrepublik auf, dass es auf beiden Seiten der Grenze geboten schien, sich vom Modell des politischen Systemgegners zu distanzieren. In beiden deutschen Staaten waren diese Schulen in industriellen Ballungsgebieten mit entsprechend hoher Frauenerwerbsquote errichtet worden; entsprechend stellten Arbeiterkinder die Mehrheit unter den Schülerinnen und Schülern. Offenbar konzentrierten sich in den ganztägigen Schulen diesseits und jenseits der deutsch-deutschen Grenze eher die »schwierigen Kinder«, ein Tatbestand, der gerade in der DDR den politischen und pädagogischen Erwartungen an die Kinder der neuen Elite der »Arbeiter und Bauern« zuwiderlief.223 Während in Westdeutschland die angeblich schwer vernachlässigten »Schlüsselkinder« die massenmedialen Debatten über Müttererwerbsarbeit beherrschten,224 passten solche Bilder und Reizbegriffe nicht zum Selbstverständnis des sozialistischen Staates und wurden im offiziellen Diskurs vermieden. Mit mäandernden Argumentationsschleifen versuchte etwa der Rostocker Erziehungswissenschaftler Horst Drewelow 1962, das Besondere des DDR-Modells von Ganztagsschule herauszustreichen: Die Tagesheimschule in der DDR ist keine Anstalt im Sinne der kapitalistischen Fürsorge­ erziehung und ist weit davon entfernt, eine Einrichtung für leistungsschwache Schüler oder für halb Verwahrloste zu sein. […] Die große Hilfe, die die Tagesheimschulen den Arbeiter- und Bauernfamilien gewähren, ist nicht eine sozialfürsorgerische Betreuung. Vielmehr geht es bei der Erziehung in der Tagesheimschule darum, daß in ihr die Arbeiterund Bauernkinder die Ausbildung erhalten, die sie befähigt, »das große Werk ihrer Väter fortzuführen«, das heißt, den sozialistischen Staat, seine Wirtschaft und Kultur zu lenken und zu leiten.225

Die Kampagne um die Tagesschule Im ersten Halbjahr 1960 verdichteten sich mit einer politischen und ideologischen Kampagne die Planungen für die flächendeckende Einführung der Tagesschule. Bereits im November 1959 hatte das ZK der SED in einem Schreiben alle Parteiorganisationen an den Schulen dazu aufgefordert, »dass mithilfe des Schulhortes 223 BBF 2538, A. Döbler, Bericht über die Konferenz der Pionierleiter der Tagesheimschulen am 13.2.1960 in der Zentralleitung; Helmut Dombrowski, Die Tagesschule kann sich nur schrittweise entwickeln, in: Ganztägige Bildung und Erziehung 2 (1964), Nr. 2, S. 6–10. 224 Allgemein dazu Schmidt, Das Problem heißt: Schlüsselkind; vgl. auch Kap. 1.3. 225 Drewelow, Die Schule der Zukunft, S. 49.

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schrittweise zur vollen Tageserziehung übergegangen wird«.226 Anders als zuvor ging es nicht mehr um eine Politik der Gegenprivilegierung, die ausschließlich »Arbeiter- und Bauernkinder« im Fokus hatte. Jetzt galt es, alle Kinder in diese »Schule der kommunistischen Zukunft« einzubeziehen. Bis 1975 sollte, so legte die Schulkommission der SED fest, der Übergang zur Tagesschule abgeschlossen sein.227 Bei der Tagesschule handele es sich, so die Kommission, um eine »höhere Stufe unserer sozialistischen Schule« und ein besseres Instrument, »unsere Erziehungsziele zu erreichen«.228 Eine institutionelle Verschmelzung von Schule und Hort sollte diesen neuen Schultyp hervorbringen. Allerdings besaß die neue Bildungspolitik auch eine versteckte Agenda, die, offenbar in Anlehnung an das sowjetische Beispiel, das erziehungspolitische Fernziel in einer Internatserziehung für alle Schüler sah. Tagesschulen wurden in diesem parteiinternen Szenario nur als eine Etappe auf dem Weg zur »internatsmäßigen Bildung und Erziehung« betrachtet. So sollten ab 1975 »zur Vorbereitung des Übergangs zur Internatserziehung aller Schüler« zunächst 150 Internatsschulen eingerichtet werden, um dadurch die »Höherführung des Prozesses der Ganztagserziehung« zu erproben.229 Als Walter Ulbricht im Januar 1960 die politische Kampagne mit einem Artikel im »Neuen Deutschland« eröffnete, in dem er die ganztägige Bildung und Erziehung in Form von Tagesschulen für alle Kinder propagierte, blieben die Internatsschulen unerwähnt.230 Während das Ministerium für Volksbildung noch mit komplizierten Berechnungen des Personal- und Mittelbedarfs befasst war, startete eine landesweite Kampagne in Form von »Massenaussprachen« vor Ort und Neugründungen von Tagesschulen. Bis Ende 1960 waren 56 Tagesschulen entstanden.231 Die Bildungsverwaltung, d.h. die Räte der Bezirke und Kreise, hatte zusammen mit Parteiorganisationen und Schulleitern zu entscheiden, ob die jeweilige Schule politisch und organisatorisch »reif« dafür sei, ein neues Zeitmodell einzuführen. Ausschlaggebende Kriterien hierfür sollten beispielsweise der Grad der Kooperation zwischen Lehrern und Erzieherinnen, deren politische Einstellungen ebenso wie ausreichend vorhandene Räumlichkeiten sein. Für kurze Zeit schien sich die Kampagne mit einer großen Eigendynamik zu entwickeln. In einigen Bezirken er226 BBF 2322, Auszüge aus Materialien und Dokumenten der Partei und Regierung zu Fragen der Ganztagserziehung, o.D., um 1960. 227 BAB, Ministerium für Volksbildung, DR 2/630, Thesen der Expertengruppe über die Entwicklung der gesellschaftlichen Erziehung in den Jahren 1965 bis 1980, Bl. 69f. 228 BBF 2538, Schlußbemerkungen der Genossen Neugebauer und Prof. Hager auf der Sitzung der Schulkommission über Fragen der ganztägigen Bildung und Erziehung am 23.3.1960. 229 BAB, Ministerium für Volksbildung, DR 2/5390, Beschluß über die Einführung der ganz­ tägigen Bildung und Erziehung in der DDR. 230 Neues Deutschland, 20.1.1960. 231 Drewelow, Die Schule der Zukunft, S. 44.

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klärten Schulräte und Parteisekretäre Schulen zu Tagesschulen, ohne dabei äußere Beschränkungen oder die vorgegebenen Planzahlen zu berücksichtigen. Auf dem Land überschnitt sich die Tagesschulkampagne mit der forcierten Kollektivierung der Landwirtschaft.232 Wie wurde nun die »von oben« von der Parteispitze angestoßene bildungspolitische Kampagne »unten« von den Adressaten, insbesondere von Lehrern, Erzieherinnen und Eltern, aber auch von den anderen institutionellen Akteuren wie der Schulverwaltung auf Kreis- und Bezirksebene und den Kirchen aufgenommen? Die weit verbreitete Reaktion schien Konfusion und Ablehnung gewesen zu sein. Ohne dies genauer quantifizieren zu können, deutet vieles darauf hin, dass die Tagesschule in der Bevölkerung der DDR um 1960 keineswegs mehrheitsfähig war. Die Argumente glichen in bemerkenswerter Weise denen, die zur gleichen Zeit in der Bundesrepublik gegen die Tagesheimschule vorgetragen wurden.233 Nach einem dem Ministerium für Volksbildung vorliegenden Inspektionsbericht unterstützte nur eine Minderheit von erwerbstätigen Eltern aus Arbeiterfamilien, die zumeist Parteimitglieder waren, die Ausweitung der Tageserziehung durch Tagesschulen und Horte. Die meisten Eltern lehnten den Tagesschulkurs der SED ab, in dem sie eine Bedrohung ihres elterlichen Erziehungsrechts sahen. Vor allem Ärzte, Lehrer und Pfarrer, also Angehörige des Bildungsbürgertums, sprachen sich gegen die Tagesschule aus. Ihr Hauptargument war, dass mit der Tageserziehung die Familie »zerstört« und die Kinder vom Elternhaus entfremdet würden. Die Inspekteure des Ministeriums notierten etwa für den Kreis Annaberg folgende Meinung: »Bei der Durchsetzung der Ganztagserziehung besteht die Gefahr, die Kinder zu einem Herdentier zu erziehen. Der Staat verfolgt den Zweck, den Eltern die Kinder wegzunehmen.« Im Kreis Auerbach im Vogtland sei vom Vorsitzenden der CDU die Besorgnis geäußert worden, »was aus der Religionsunterweisung der Schüler wird, wenn sich eine ganztägige Betreuung der Schüler durchgesetzt habe«.234 War das Schulfach Religion bereits aus dem Stundenplan verbannt worden, wurde nun nicht zu Unrecht befürchtet, auch der von den Kirchen organisierte nachmittägliche Religionsunterricht könne bei staatlicher Ganztagserziehung nicht mehr durchgeführt werden. Ärzte sahen die Gesundheit der Kinder durch Überforderung gefährdet235 und knüpften damit ähn232 Heinz Lindner/Hans Rettke, Die Schule im vollgenossenschaftlichen Dorf, in: Pädagogik 15 (1960), Nr. 5, S. 406–414; Paul Janke, Vom Mehrstufenunterricht zur Ganztagserziehung. Erfahrungen aus dem Kreis Sondershausen, in: Pädagogik 15 (1960), Nr. 6, S. 562–568. 233 Vgl. Kap. 1.3. 234 SAPMO-BAB, DY 6/3939, Schreiben vom 23.12.1959, Ministerium für Volksbildung Abt. Hauptinspektion. 235 SAPMO-BAB, DY 6/3939, Argumentation zu Verleumdungen des Schulgesetzes und der Schulordnung durch einige reaktionäre Kirchenkreise; SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/9.05/9, Maßnahmen kirchlicher Kreise gegen das Schulgesetz.

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lich wie in der Bundesrepublik an den weit in die Schulgeschichte zurückreichenden Überbürdungsdiskurs an. Selbst viele Arbeiterfamilien identifizierten sich nicht mit den bildungspolitischen Zielen von Partei und Regierung. Sie lehnten die Verlängerung der Schulzeit ab – ihre Kinder sollten möglichst früh arbeiten gehen und den Eltern nicht auf der Tasche liegen. Bei einem ganztägigen Erziehungssystem, so befürchteten manche, würden Kinder nicht mehr wie bisher im Haushalt helfen. Gerade im Arbeitermilieu beinhaltete die gesellschaftlich tief verwurzelte Vorstellung vom elterlichen Recht am Kind auch die Verfügung über dessen Arbeitskraft. Um dieses Argument zu entkräften, wurde von offizieller Seite entgegengehalten, dass Tageserziehung die Hilfsbereitschaft und das Pflichtbewusstsein erhöhen würden. Doch auch auf Seiten der Lehrerschaft war wenig Bereitschaft vorhanden, über den auf Wissensvermittlung ausgerichteten Unterricht am Vormittag hinaus für die Kinderbetreuung am Nachmittag eingesetzt zu werden.236 Diese Haltung hatte sich innerhalb von etwa zwei Lehrergenerationen, die nach 1920 mit der Vormittagsschule sozialisiert wurden, bereits tradiert und war so ebenfalls ähnlich im Westen zu finden. Offenbar schien sie systemübergreifend das spezifische Professionsverständnis von Lehrerinnen und Lehrern bis in die 1960er-Jahre zu prägen.237 Schließlich wurde der Plan, die Tagesschule innerhalb weniger Jahre flächendeckend einzuführen, im Sommer 1960 aufgegeben. Der Übergang zur Tagesschule wurde von der SED-Führung fortan nur noch »schrittweise und ohne zusätzliche Kosten« zu realisieren versucht. Hauptursache hierfür war die fehlende Finanzplanung für die Realisierung der Tagesschule. Das Ministerium für Volksbildung hatte es versäumt, seine Berechnungen der benötigten Personal- und Sachmittel im Konsens mit der Staatlichen Plankommission abzustimmen und den vorgegebenen Planzahlen anzupassen. Hinzu kam die sich unkalkulierbar zuspitzende gesellschaftliche und wirtschaftliche Krise vor dem Mauerbau. Der Anteil von Lehrern und Ärzten unter den aus der DDR Flüchtenden war sprunghaft angestiegen. Im ZK der SED interpretierte man dies als direkte Reaktion dieser Berufsgruppen auf die Tagesschulkampagne.238 Nachdem die Existenzkrise der DDR mit dem Mauerbau im August 1961 abgewendet worden war, begannen sich die ostdeutsche Wirtschaft und Gesellschaft zu stabilisieren. Gerade im Vergleich zur Bundesrepublik wies die DDR in den 1960er- und 1970er-Jahren auf Feldern wie Bildung und Frauenerwerbstätigkeit einen deutlichen Modernisierungsvorsprung auf, der sie teilweise auch für den west236 SAPMO-BAB, DY 6/3939, Einschätzung über den Stand der Volksdiskussion (Min. Volksbildung), 12.12.1959. 237 Vgl. Kap. 1.3. 238 Gebhard, Die Tagesschule der DDR, S. 1002.

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deutschen Konkurrenten zum heimlichen Vorbild machte. Die ganztägige Bildung und Erziehung in Form einer Kombination von Halbtagsschule und Hort schien der Garant für beides zu sein, nämlich Kinder besser auf das Leben und Arbeiten in der von der »Wissenschaftlich-Technischen Revolution« geprägten sozialistischen Gesellschaft vorzubereiten und es zugleich Frauen zu ermöglichen, mit Öffnungszeiten von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends oder später, Familie und berufliche Karriere zu vereinbaren. In den frühen 1960er-Jahren entstanden zwar neue Tagesschulen, im bildungspolitischen Programm der SED jedoch wurde das Konzept der ganztägigen Schule zunehmend an den Rand gedrängt. Die Tagesschule war nun weniger Gegenstand des politischen als vielmehr des wissenschaftlichen Interesses und fungierte mithin als politisches Abstellgleis für diejenigen Wissenschaftler mit Parteibuch, die sich mit diesem Projekt befasst hatten.239 Im Jahre 1962 wurde die Forschungsgemeinschaft Tagesschule unter Leitung des DPZI gebildet mit dem Ziel, den Übergang von der Halbtags- zur Ganztagsschule anhand von Versuchsschulen für die beiden Stadtteile Berlin-Köpenick und Leipzig-Südwest zu untersuchen.240 Mitte der 1960erJahre bilanzierte das Ministerium für Volksbildung, dass es in der Praxis keine signifikanten Unterschiede zwischen Tagesschulen und Halbtagsschulen gäbe.241 So sei nicht nachweisbar, ob besonders gute oder besonders schlechte Leistungen mit der schulischen Zeitorganisation zusammenhängen würden. Auch hätten sich für die Unterrichtsgestaltung laut Lehrerbefragungen und Hospitationen keine Unterschiede zu anderen Schulen ergeben. Die ernüchterte Einschätzung lautete: »Von einer ›Verschmelzung‹ von Unterricht und Außerunterrichtlichem, von einer ›inhaltlichen und strukturellen Veränderung‹ der Stunde, von einer ›grundlegenden Umgestaltung des Unterrichts‹ ist also wirklich nichts zu spüren.«242 Es war aber vor allem die fehlende politische Unterstützung der Tagesschule von Seiten der neuen Ministerin für Volksbildung Margot Honecker, die zusammen mit der mangelhaften personellen und materiellen Ausstattung der Schulen selbst zur Marginalisierung dieser Schulform beitrug. Das neue Bildungsgesetz von 1965 erwähnte die Tagesschulen nur noch mit dem vagen Versprechen, diese »entsprechend der ökonomischen Möglichkeiten auszubauen«.243 239 Geissler, Geschichte des Schulwesens, S. 554f. 240 Walter Goetze, Beratung der Forschungsgemeinschaft Tagesschule, in: Pädagogik 18 (1963), Nr. 2, S. 218–219; BAB, DR 2/23561, Beschluß des Präsidiums des Ministerrates über den schrittweisen Aufbau der Tagesschulen in Berlin-Köpenick und Leipzig-Südwest. 241 BAB, Ministerium für Volksbildung, DR 2/23569, Einschätzung des Entwicklungsstandes der Tagesschulen, um 1968. 242 Ebd. 243 Unser Bildungssystem – wichtiger Schritt auf dem Wege zur gebildeten Nation. Materialien der 12. Sitzung der Volkskammer der DDR und das Gesetz über das einheitliche sozialis-

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Das Konzept Tageserziehung in der »sozialistischen Bildungsgesellschaft« der 1960er-Jahre Statt auf Tagesschulen wurde seit Anfang der 1960er-Jahre unter dem Etikett der »Tageserziehung« auf die kostengünstigere Alternative der Kombination aus Halbtagsschule und Hort gesetzt. Es kam zu einer enormen Expansion der Hortbetreuung. Im Jahre 1960 besuchten nur 13 Prozent aller Kinder zwischen sechs und 14 Jah­ ren einen Schulhort.244 Zehn Jahre später, 1970, waren es bereits 47 Prozent aller Kinder zwischen sechs und zehn Jahren, 1980 75 Prozent und schließlich 1989 81 Prozent der gleichen Altersgruppe.245 Der hohe Grad an Hortbetreuung spiegelte aber nicht nur die reale Expansion wider, sondern war auch Effekt der demografischen Entwicklung. Seit Mitte der 1960er-Jahre ging die Geburtenrate zurück, ab 1971 brach sie tief ein, bevor sich der Trend ab Mitte der 1970er-Jahre vorübergehend wieder umkehrte.246 Ganztagserziehung definierte sich in den 1960er-Jahren, als die Diskurse über Schule und Erziehung stark von den Visionen einer auf Wissenschaft und Technik basierenden sozialistischen Gesellschaft bestimmt waren, auch über utilitaristische ökonomische und politische Ziele. Es ginge darum, »solche Menschen heranzubilden, die den Prozeß der wissenschaftlichen Revolution steuern und leiten können«. Da aber die Lehrpläne hinsichtlich der Stofffülle bereits ausgelastet seien, sollten Zeitreserven im außerunterrichtlichen Bereich erschlossen werden.247 Viele Artikel der Zeitschrift »Ganztägige Bildung und Erziehung«, die vor ihrer Umbenennung 1963 »Sozialistische Erziehung« hieß, widmeten sich dem Thema. Es galt, die Interessen und Fähigkeiten der Kinder zu fördern und auf den zukünftigen Bedarf an bestimmten Qualifikationen hinzulenken. Das sozialistische Bildungs­ gesetz von 1965, mit dem sich die DDR »auf dem Weg zur Bildungsnation« sah, zielte auf die Heranbildung »allseitig und harmonisch entwickelter sozialistischer Persönlichkeiten«, die eine bejahende Haltung gegenüber Arbeit und gesellschaftlicher Nützlichkeit einnehmen sollten. Tageserziehung wurde dabei als »feste[r] Bestandteil des einheitlichen Bildungs- und Erziehungsprozesses« definiert, der »für eine ständig wachsende Zahl von Schülern an allen Schulen mit hoher Qualität durchzuführen« sei.248

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tische Bildungssystem 1965 (Aus der Tätigkeit der Volkskammer und ihrer Ausschüsse), Berlin (Ost) 1965, S. 101. Statistisches Jahrbuch 1960/61 der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (DDR), S. 37. Gunnar Winkler (Hg.), Frauenreport ’90, Berlin 1990, S. 144. Winkler, Frauenreport ’90, S. 24. Der Klub ist kein Privileg der Tagesschule, in: Ganztägige Bildung und Erziehung 2 (1964), Nr. 7, S. 10–17, hier S. 11f. Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem vom 25. Februar 1965, in: Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen, Dokumente zur Bildungspolitik in der Sowje-

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Trotz seines modern anmutenden Labels der »Tageserziehung« veränderten sich die mit dem Schulhort verbundenen mentalen Bilder nur allmählich. Partei und pädagogische Wissenschaft bemühten sich um dessen Prestigesteigerung und Modernisierung, doch offenbar war die Vorstellung des Hortes als Fürsorgeeinrichtung für arme Arbeiterkinder insbesondere bei bürgerlichen Eltern tief verankert. Für Wissenschaftler und Bildungsreformer gaben diejenigen Eltern immer wieder Anlass zur Klage, die in der »Ganztagserziehung nicht den Ausdruck der großzügigen und wissenschaftlich fundierten Schulpolitik unseres Arbeiter-und-Bauern-Staates, sondern den Schulhort der Weimarer Republik sehen, der ein Asyl für ›Schlüssel­ kinder‹ war und sich in der Nähe der Armenhäuser und Barackenwohnungen be­ fand«.249 Auch würden viele Eltern den Hort als drohendes Strafinstrument bei der Kindererziehung einsetzen. So konstatierten Wissenschaftler des DPZI 1960: »Wir müssen unsere gesamte Bevölkerung dazu erziehen, von Äußerungen wie ›Wenn Du nicht gehorchst, dann kommst Du in den Hort‹ abzulassen.«250 Staat, Partei und Wissenschaft sahen großen Propagandabedarf, um neue positive Bilder vom Hort als attraktiven Bildungs- und Freizeitort in Umlauf zu bringen. Tageserziehung sollte für Kinder und Eltern gleichermaßen attraktiv werden. Ließen sich die Kinder über interessante Nachmittagsaktivitäten gewinnen, dann würden auch die Eltern dem sozialistischen Staat mehr Sympathie entgegenbringen, so die Vorstellung. Es galt, immer wieder den Bildungsaspekt anstelle der traditionellen Aufbewahrungsfunktion zu betonen und »Schulhorte zu modernen Erziehungsund Bildungsstätten für unsere Jugend zu entwickeln«. Dabei sei »Tageserziehung aus der Enge einer sich ausschließlich in einem Klassenkollektiv abspielenden Tätigkeit herauszuführen und den Schülern Gelegenheit zu geben, sich für bestimmte Tätigkeiten auf der Grundlage ihrer Interessen zu entscheiden«.251 Die gesellschaftliche Akzeptanz der nachmittäglichen Hortbetreuung nahm in den 1960er-Jahren nur langsam zu, zum einen weil sich alte Vorurteile und Einstellungen lange hielten, zum anderen aber auch, weil es in den Horten an qualifizierten Erzieherinnen fehlte und sie auch räumlich häufig improvisierte Notlösungen waren. Selbst noch in den 1970er-Jahren gaben viele Frauen bei Schuleintritt der Kinder ihre Vollzeitarbeit zugunsten einer Teilzeitstelle auf, um die nachmittägliche Hausaufgabenbetreuung und Versorgung ihrer Kinder zu übernehmen. In Frauenzeitschriften wurde daher regelmäßig auf positive Beispiele von Horten verwiesen, tischen Besatzungszone, S. 387–420, hier S. 399; Unser Bildungssystem – wichtiger Schritt auf dem Wege zur gebildeten Nation, S. 100f. 249 Paul Janke, Vom Mehrstufenunterricht zur Ganztagserziehung. Erfahrungen aus dem Kreis Sondershausen, in: Pädagogik 15 (1960), Nr. 6, S. 562–568, hier S. 562. 250 Deutsches Pädagogisches Zentralinstitut (Hg.), Aus der Arbeit in den Schulhorten. Gedanken und Erfahrungen, o.O. 1960, S. 33. 251 Roland Rudolf, Fachkonferenz Horterziehung, in: Pädagogik 19 (1964), Nr. 7, S. 651.

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in denen Schulkinder ihre Schulaufgaben sorgfältig erledigten und einem interessanten Nachmittagsprogramm nachgingen. Eine Horterzieherin akzentuierte noch 1968 eher unfreiwillig den Sonderstatus der »Hortkinder«: »Unsere Kinder, die die Tageserziehung besuchen, brauchen viel Liebe und Verständnis. Deshalb sei es doch sehr wichtig, diesen Schülern zu helfen, sich als Normalschüler zu betrachten und ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Unsere Hortkinder stehen in der Leistung den Hauskindern in keiner Hinsicht nach.«252 Die angestrebte Verzahnung von Halbtagsschule und Hort wurde in der Praxis nur sehr bedingt erreicht. Zumeist, so scheint es, handelte es sich dabei um zwei nebeneinanderher existierende Einrichtungen mit eigenen sozialen Logiken. Viele Schuldirektoren und Lehrer sahen im Hort auch in den 1970er-Jahren noch »ein Nachhilfeinstitut für leistungsschwache Schüler« und besaßen ein ausgesprochenes Distinktionsbedürfnis gegenüber den schlechter ausgebildeten Erzieherinnen.253 Diese klagten wiederum häufig darüber, im Erziehungsbetrieb das »fünfte Rad am Wagen« zu sein, wurden sie doch nur selten zu schulinternen Beratungen und Ver­ sammlungen eingeladen.254 Bis weit in die 1960er-Jahre hinein hatten die meisten Erzieherinnen hingegen keine formale Ausbildung, viele bestenfalls nur einen Kurzlehrgang besucht. »Diesen Kolleginnen fehlt nicht der gute Wille, oft aber die Idee. Haben sie diese, hapert es am Geschick sie umzusetzen«, stellte die »Deutsche Lehrerzeitung« 1970 fest und forderte, dass von Horterzieherinnen nicht nur »der Unterrichtsstoff beherrscht werden [müsste], um auch eine sinnvolle, interessante erzieherisch wertvolle Freizeit zu gestalten«, sondern diese auch »verantwortlich für die klassenmäßige Erziehung der Schüler« seien und deshalb »selbst einen Klassenstandpunkt« vertreten müssten.255 In den späten 1970er-Jahren wurden die Ausbildungen für Horterzieher/innen und für Grundschullehrer/innen vereinheitlicht – ein wichtiger Schritt hin in Richtung Professionalisierung und mehr Anerkennung.256 In dem zunehmend dichten Netzwerk unterschiedlicher Freizeitangebote hatten Schulhorte ihr Programm mit den Aktivitäten von Arbeitsgruppen, Klubs, Sport252 R. Eichelbaum, Unsere Hortkinder stehen den Hauskindern nicht nach, in: Deutsche Lehrerzeitung 15 (1968), Nr. 34, S. 4f. 253 Edith Zieber, Erfahrungen über die Tätigkeit der Fachkommission Tageserziehung zur schrittweisen Verbesserung der Arbeit in den Schulhorten des Kreises Angermünde, Angermünde 1971. 254 Eckard Milde/Hannelore Wasser, Wir beseitigen das Nebeneinander von Schule und Hort, in: Ganztägige Bildung und Erziehung 2 (1964), Nr. 1, S. 15–16; Clara Bolz, Alte Vorstellungen vom Hort hemmten unsere Arbeit, in: Ganztägige Bildung und Erziehung 2 (1964), Nr. 3, S. 18–20; Roland Rudolf, »Pädagogen dritter Klasse?«, Ganztägige Bildung und Erziehung 2 (1964), Nr. 8, S. 16–19. 255 Was nicht nur uns am Herzen liegt, in: Deutsche Lehrerzeitung 17 (1970), Nr. 13, S. 4. 256 Dietmar Waterkamp, Handbuch zum Bildungswesen der DDR, Berlin 1987, S. 384f.

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und anderen Zirkeln und mit den Kinder- und Jugendmassenorganisationen Junge Pioniere und Freie Deutsche Jugend (FDJ) abzustimmen. Für viele Schuldirektoren und Lehrkräfte schien es nicht einfach gewesen zu sein, die verschiedenen institutio­ nellen Aktivitäten der Schule selbst, der dort verankerten politischen Organisationen wie Pionieren und FDJ sowie der ebenfalls für Sport und Freizeit zuständigen Betriebe zu koordinieren und Unterricht, politische Erziehung und Freizeit durch effektive Zeitorganisation miteinander zu verbinden. Im Mai 1966 führte dies zur scharfen Kritik von der Ministerin für Volksbildung, Margot Honecker, die bei einem Arbeitstreffen mit Bezirks- und Kreisschulräten bemängelte, dass »an der Mehrzahl unserer Schulen die Qualität der Bildungs- und Erziehungsarbeit nicht befriedigen kann«.257 Von einem Kollektiv bestehend aus Lehrern und Erzieherinnen könne keine Rede sein. Die Pionierorganisation habe zu wenig Einfluss, und auch die Interessen der Kinder würden nicht berücksichtigt. Honecker forderte: »Es muß uns gelingen, ein vielseitiges, interessantes und gesellschaftlich nützliches Leben im Schülerkollektiv zu entwickeln, das eine optimistische und freudvolle Atmosphäre für die Kinder im Schulhort schaffen hilft.«258 In den Folgejahren schien sich die Situation nur allmählich zu verbessern, und zwar in dem Maße, wie sich das arbeitsteilige System der »ganztägigen Bildung und Erziehung«, an dem die tendenziell konkurrierenden Akteure Schule, Pionierund FDJ-Organisationen und Betriebe beteiligt waren, einspielte und vonseiten der Schule entwickelt und koordiniert wurde.259 Förderlich für das Funktionieren eines Schulhortes konnte es sein, wenn die »leitende Erzieherin gleichzeitig Parteisekretärin an der Schule« war und auf diese Weise das »Gewicht der Erzieher stärkte«.260 Dem Mangel an qualifizierten Erzieherinnen und an attraktiven Freizeitangeboten und -örtlichkeiten konnte indes nur allmählich Abhilfe geschaffen werden. Die anhaltende Virulenz der Hortthematik zeigte sich daran, dass seit den späten 1960er-Jahren erwerbstätige Mütter von schulpflichtigen Kindern zunehmend ihre Wochenarbeitszeit reduzierten. Auf einer Tagung des Zentralvorstands der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung war 1971 von »ernsten Mängeln« in vielen Schulhorten die Rede, und es wurde gemahnt: »Wenn die Hortplätze planmäßig erweitert werden, muß auch die Qualität der Arbeit gesichert sein, da sonst 257 Margot Honecker, Nächste Schritte bei der Verwirklichung des Gesetzes über das einheitliche sozialistische Bildungssystem. Referat des Ministers für Volksbildung, Margot Honecker, auf der zentralen Arbeitsberatung der Bezirks- und Kreisschulräte zur Vorbereitung des Schul- und Lehrjahres 1966/67 am 12. und 13. Mai 1966 in Berlin, in: Deutsche Lehrerzeitung 13 (1966), Nr. 21, S. 32f. 258 Ebd. 259 Gert Geissler, Ganztagsschule in der DDR, in: Ulrich Rother u.a. (Hg.), Jahrbuch Ganztagsschule 2005: Investitionen in die Zukunft, Schwalbach 2005, S. 160–170, hier S. 166. 260 Zwei Horte in einer Stadt, in: Für Dich 26 (1971), Nr. 35, S. 38–40, hier S. 39.

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die Mütter ihre Kinder dem Hort nicht mehr anvertrauen, kündigen oder zur Kurzarbeit übergehen, was unserem volkswirtschaftlichen Interesse widerspricht.«261 Auch die Redaktion der Zeitschrift »Für Dich« nahm sich dieser Thematik mit einer gelenkten »Aussprache« an.262 Die Frage lautete, warum »die Schule ihre ureigensten Angelegenheiten bei der Wissensvermittlung auf die Elternhäuser abwälze« und dadurch Frauen zwinge, von der Vollzeit- auf Teilzeiterwerbstätigkeit zu wechseln oder den Beruf ganz aufzugeben.263 Eine »Arbeiterin aus Potsdam« vertrat die Meinung: »Ich steh auf dem Standpunkt, daß die Schule es sich manchmal sehr einfach macht. Versagen die Kinder, muß Mutter aufhören zu arbeiten. Wirkliches Entgegenkommen findet sich nur bei den Lehrern, die sich ihrer politischen Aufgabe bewußt sind und sich deshalb mit den Kindern so beschäftigen, daß sie die Ursachen des Versagens herausfinden.« Eine Horterzieherin verwies darauf, dass ausgebildete Erzieherinnen lieber in den Lehrerberuf wechseln wollten und häufig selbst Vorurteile der Horterziehung gegenüber hätten, »die dann auch unter den Eltern verbreitet werden«. Zu Wort kam auch ein Studienrat, der darauf hinwies, dass »in einer Anzahl Horte die materiellen Voraussetzungen für eine gute Bildungsund Erziehungsarbeit noch nicht ausreichen«.264 Ein Jahrzehnt später berichtete dieselbe Zeitschrift in einer Artikelserie von ähnlichen Akzeptanzproblemen, die insbesondere Mütter gegenüber dem Schulhort hätten. Dabei verwies man gleichzeitig darauf, dass die DDR mit ihrem großzügigen Kinderbetreuungsangebot, in das »allein bei der Ausstattung mit Spiel- und Beschäftigungsmaterialien Millionen aus dem Staatshaushalt in die Horte [fließen]«, den Westen weit hinter sich lasse. In der Bundesrepublik gebe es weder ausreichend Hortplätze, noch seien diese für Eltern kostenfrei. In der DDR hingegen: Jedermann in unserem Land weiß: Der Hort kostet die Eltern selbst keinen Pfennig. All die Mühe und Anstrengungen, all die Liebe der Horterzieher an jeder Schule in unserem Staat, all die Anforderungen, die sich aus der verbrieften Pflicht ergeben, daß an jeder unserer Schulen, in Stadt und Land, die Hortarbeit Bestandteil des Schularbeitsplanes ist – wir könnten sie auch gar nicht bezahlen.265

Offensichtlich hielten sich, verstärkt durch Ausstattungsmängel, klischeehafte Vorstellungen über den Schulhort bei allen Beteiligten hartnäckig. Hinzu kamen die Erwartungen von Eltern und Funktionären, der Hort möge neben Freizeitangebo261 SAPMO-BAB, DY 51, 987, Referat zur 10. Tagung des Zentralvorstandes der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung, 1971/3, S. 31. 262 Kerstins »Vier« und die Halbtagsarbeit, in: Für Dich 26 (1971), Nr. 12, S. 9. 263 Dem Hort gegenüber voreingenommen?, in: Für Dich 26 (1971), Nr. 16, S. 38f. 264 Ebd. 265 Das Lachen im Hort, in: Für Dich 35 (1980), Nr. 7, S. 16–19, hier S. 18.

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ten die Schülerinnen und Schüler bei der Bewältigung des schulischen Lernstoffes unterstützen. Daran zeigt sich, dass entgegen aller offiziellen Rhetorik über die zentrale Bedeutung der schulischen Horterziehung und entsprechenden Bemühungen, diese zu verbessern, niemals außer Frage stand, dass Unterricht und Wissensvermittlung gegenüber dem Nachmittagsprogramm in jedem Fall Priorität hatten. Das Konzept der Lernschule, das dem Lehrer eine zentrale und dominierende Rolle zuschrieb, blieb mit bemerkenswerter Kontinuität vierzig Jahre lang in der DDR bestehen.266 Dabei handelte es sich faktisch um eine Halbtagsschule als Pflichtschule, die additiv vom Schulhort auf den Nachmittag erweitert wurde.267 Frauenerwerbstätigkeit und Kinderbetreuung in der DDR Die Halbtagsschule und Hort umfassende Ganztagserziehung wurde mit ihrer ste­ tigen Ausweitung zumindest für Schulkinder bis zur vierten Klasse zunehmend »nor­ mal«. Dies traf auch auf die gesellschaftliche Akzeptanz der »werktätigen Frau und Mutter« als kulturellem Leitbild zu. Die Frauenerwerbstätigkeit stieg in den 1960erund 1970er-Jahren kontinuierlich an. Im Jahre 1955 gingen 52 Prozent der weiblichen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter einer lohnabhängigen Beschäftigung nach, 1970 waren es bereits 66 Prozent, 1980 73 und 1989 schließlich 78 Prozent (ohne Auszubildende und Studierende).268 Frauen profitierten von einer allgemeinen Verbesserung des Bildungssystems wie auch von speziellen Qualifizierungs- und Förderprogrammen für Frauen. Allerdings blieben die Geschlechterhierarchien des Arbeitsmarktes bekanntlich aufrechterhalten. Wenn, wie oben angedeutet, immer mehr Frauen in den späten 1960er-Jahren zur Teilzeitarbeit übergingen, war das vermutlich eine Folge der 1967 eingeführten Fünftagewoche, mit der sich der Arbeitstag um 45 Minuten täglich verlängerte. Für erwerbstätige Mütter machte dies das Alltagsmanagement zwischen Erwerb und Familie noch schwieriger. Im Jahre 1970 arbeiteten bereits 32,5 Prozent der erwerbstätigen Frauen in Teilzeit.269 Die Familienpolitik der DDR trug dazu bei, die »zwei Ernährer-HausfrauFamilie« zu institutionalisieren und die staatssozialistische Gesellschaft zu stabilisieren. Das Familiengesetzbuch von 1965 betonte die prinzipielle Interessenidentität zwischen Staat und Familie und schrieb der Familie bei der Erziehung von Kindern wieder eine größere Bedeutung zu. Das Gesetz funktionalisierte die Familie für die Stabilisierung und Reproduktion der Gesellschaft, indem der alleinige Zweck der Heirat etwa damit begründet wurde, dass für die »sozialistische Gesellschaft« Kinder hervorgebracht und erzogen werden müssten. Die Gleichberechtigung der 266 267 268 269

Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 285. Geissler, Ganztagsschule in der DDR, S. 167. Winkler, Frauenreport’90, S. 63. Obertreis, Familienpolitik in der DDR, S. 306.

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Geschlechter war ein nachrangiger Aspekt. Kurz nachdem das Familiengesetzbuch in Kraft getreten war, zeigte sich mit der wachsenden Scheidungsrate und den zurückgehenden Geburtenzahlen, dass viele Frauen damit überfordert waren, bezahlte und unbezahlte Arbeit im Alltag zu vereinbaren. Seit den frühen 1970er-Jahren reagierte die neue Staatsführung unter Erich Honecker auf die besorgniserregende Entwicklung mit einem breit angelegten sozialpolitischen Programm, das auf die bessere Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Mutterschaft zielte. Die Verlängerung des Schwangerschafts- bzw. Wochenurlaubs, ein einjähriges Babyjahr, Verkürzung der Arbeitszeit für Mütter und bezahlte Freistellung bei Krankheit des Kindes waren Maßnahmen, die an Frauen als Mütter, nicht aber an Männer als Väter gerichtet waren. Diese Politik zielte auf die Aufwertung von Mutterschaft, indem sie Mütter der jüngeren Generation privilegierte, mit dem Ergebnis, dass nicht etwa Elternschaft, sondern die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern gestärkt wurde.270 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die volkswirtschaftlich notwendige Arbeitsmarktintegration von Frauen während der vierzigjährigen Existenz der DDR ohne Zweifel der Hauptgrund für den Ausbau staatlicher Ganztagserziehung war. Hinzu kam, insbesondere in der frühen Phase der 1950er- und 1960er-Jahre, das Motiv einer stark gesellschaftspolitisch und ideologisch ausgerichteten Bildungs­ politik – »soziale Gleichheit« und die Ausbildung der »sozialistischen Persönlichkeit« waren dabei wesentliche Prinzipien der mit Ganztagserziehung verbundenen politischen und pädagogischen Konzepte. Seit den 1970er-Jahren war das breite Netz staatlich bereitgestellter Kinderbetreuung ein Zentralelement der paternalistischen Wohlfahrtspolitik der DDR ebenso wie die unter Erich Honecker eingeleiteten und an Mütter adressierten sozialpolitischen Maßnahmen zur besseren Vereinbarung von Beruf und Familie. Bei genauerem Hinsehen wird allerdings deutlich, dass der Bruch mit dem westdeutschen Entwicklungspfad keineswegs so massiv war, wie es Partei und Staat behaupteten. Die Kontinuität traditioneller Geschlechterbeziehungen in der Familie und am Arbeitsplatz ist bereits gut erforscht. Aber auch im System von Schule und Kinderbetreuung lassen sich neben importierten Elementen, wie die auf die gesellschaft­liche Neuformierung ausgerichteten sowjetischen Erziehungskonzepte, Momente von mentaler Kontinuität aufzeigen. Bei vielen Lehrerinnen und Lehrern 270 Vgl. etwa Donna Harsch, Revenge of the Domestic: Women, the Family, and Communism in the German Democratic Republic, Princeton 2008; Ute Gerhard, Die staatlich institutionalisierte Lösung der Frauenfrage. Zur Geschichte der Geschlechterverhältnisse in der DDR, in: Kaelble/Kocka/Zwahr, Sozialgeschichte der DDR, S. 383–403, hier S. 391f.; allgemein: Mary Fulbrook, The People’s State: East German Society from Hitler to Honecker, New Haven/London 2005; Obertreis, Familienpolitik in der DDR, S. 292ff.

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blieben das traditionelle Selbstverständnis als Wissensvermittler und eine gegenüber dem Erzieherberuf distinktive Berufskultur erhalten, die auch ein weitgehendes Desinteresse am Hortgeschehen einschloss. Inwieweit die von ihnen dominierte Gewerkschaft Unterricht und Erziehung zur Verstärkung dieser Haltung beitrug, wäre genauer zu erforschen. Was die schulische Zeitorganisation betrifft, so bestand die traditionelle Halbtagsschule, wenn auch in der Form der Einheitsschule, mehr oder weniger fort, lediglich erweitert durch ein Mittagessen und ein von vielen Akteuren bestrittenes Nachmittagsprogramm. Unterschiede und Ähnlichkeiten Vergleicht man den Stellenwert schulischer Zeitorganisation in der Bildungs- und Gesellschaftspolitik beider deutscher Staaten, lassen sich sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede feststellen. Die ganztägige Schulform avancierte um 1959/60 in Ost und West zum intensiv verhandelten Gegenstand bildungspolitischer Reformprogramme – zu einem Zeitpunkt, als Bildung mit der internationalen Bildungsdebatte zum Schlüsselthema und auch zum Austragungsort für die Systemkonkurrenz wurde. Bildungspolitische Anliegen mit wirtschaftlich-technischen Herausforderungen zu begründen, bedeutete vor allem in der geistesgeschichtlichen Bildungs­ tradition der Bundesrepublik einen Paradigmenwechsel. In beiden deutschen Staaten galt die »Ganztagsschule« oder »Tagesschule« als »Schule der Zukunft«, die den Bedürfnissen der modernen Industriegesellschaft besser entsprechen würde. Auch Planungsoptimismus und die zunehmende Bedeutung wissenschaftlicher Experten als Politikberater gehörten zu den systemübergreifenden Gemeinsamkeiten. In beiden deutschen Gesellschaften stieß die Ganztagsschule zuerst auf Ablehnung: mit ähnlichen Redefiguren wie »Familienzerstörung« und »Verletzung des Elternrechts«. Es kursierten ähnliche Bilder und Vorstellungen über Betreuungseinrichtungen als Aufbewahrungsstätten für Kinder aus armen, bildungsfernen »Problemfamilien«. Schließlich erwies sich hüben wie drüben das Argument der hohen Kosten als zentrales Hindernis für die Realisierung des Ganztagsprojektes. Gleichwohl sind die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Ost und West nicht zu übersehen. Bereits die Art und Weise, wie die Ganztagsschule zum politischen Reformprojekt wurde, verweist auf höchst unterschiedliche Rahmenbedingungen: In der Bundesrepublik brachten Verbände und Gewerkschaften das Thema schulische Zeitpolitik in öffentlichen Umlauf, in der DDR entsprang die Tagesschule dem Willen der führenden Partei als eine parteilich-staatliche Kampagne von oben. Wenn es dem ostdeutschen Staat mittelfristig gelang, ein System der ganztägigen Bildung und Erziehung in Form der Schule-Hort-Kombination durchzusetzen, hatte dies viel mit dem parteilichen und zentralstaatlichen Anspruch zu tun, soziale und politische Prozesse durch zentrale Planung zu steuern. Im Westen unterlag die Bildungspolitik der föderalen Organisation und wurde – so zeigt das Beispiel

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von Ganztagsschule und Gesamtschule – von einem starken Länderpartikularismus und der Parteienkonkurrenz bestimmt und eben auch gelähmt. Charakteristisch für den Osten war ein strikt zentralistisches und diktatorisches Entscheidungssystem, das konkurrierende politische Kräfte und Ideen, d.h. eine Öffentlichkeit im westlichen Sinn nicht zuließ. Die staatlich organisierte Ganztagserziehung der DDR war schließlich immer auch ein Machtinstrument, um Familie und Gesellschaft zu stabilisieren. Sie gehörte zu den staatlich hoch subventionierten Selbstverständlichkeiten des DDR-Alltags und trug durch ihre Kostenintensität langfristig zu den wachsenden wirtschaftlichen Problemen bei, die schließlich in die finale Krise des zweiten deutschen Staates mündeten.

3. Krisen: Ganztagsschule und das Ende des bildungspolitischen »Booms« 1970–1982 Seit etwa 1970 schloss sich das historische Gelegenheitsfenster wieder, innerhalb dessen eine grundlegende Wende in der schulischen Zeitpolitik der Bundesrepublik möglich schien. Das parteiübergreifende Reformbündnis, welches das Projekt Ganztagsschule getragen hatte, löste sich mit Ende der Großen Koalition 1969 auf. Die finanzpolitischen Spielräume des Staates verengten sich, noch während die neu­ gegründete Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung (BLK) über einen Bildungsgesamtplan verhandelte. Dies nahmen gerade konservative Länderregierungen zum Anlass, unliebsame Reformprojekte mit dem Kostenargument wieder aufzugeben. Das folgende Kapitel fragt, ab wann, wie und warum die Ganztagsschule für die Bildungsreformer einerseits an politischer Relevanz verlor und andererseits jedoch weiterhin Projektionsfläche für gesellschaftliche Vorstellungen und Erwartungen in Bezug auf Schule blieb. Es verbindet mit Blick auf die Wandlungsprozesse in den Bereichen Bildung, Erziehung, Arbeit und Familie bildungs- und gesellschaftshistorische Perspektiven für die Phase nach dem »Boom«.1 In einem ersten Schritt wird am Beispiel der Ganztagsschule aufgezeigt, wie eng das Auslaufen der bildungspolitischen Reformära, der Konjunktureinbruch 1973/74 und neue Wertedebatten miteinander verwoben waren. Mit der einsetzenden Reideologisierung der Bildungspolitik verschwand die Ganztagsschule seit den frühen 1970er-Jahren für einige Jahre aus dem Fokus von Politik und Öffentlichkeit. Während die SPD alles daran setzte, die Gesamtschule einzuführen, nutzte die CDU die gesellschaftliche Reformmüdigkeit, um Gegenpositionen nicht nur in der Bildungspolitik zu formulieren. Zweitens wird mit Blick auf die Familien- und Arbeitsmarktpolitik gefragt, warum und wie hier erneut tradierte Geschlechterrollenkonzepte politisch gestärkt werden konnten, die die Erziehung und Betreuung von Kindern vorrangig als private, d.h. mütterliche Aufgabe definierten. In diesem Zusammenhang geht es darum, genauer die elterliche »Nachfrageseite« zu erkunden, die schulische Ganztagsangebote zwar vermehrt befürwortete, ohne dass da­ raus jedoch ein politisches Mobilisierungspotenzial für mehr Ganztagsbetreuung entstanden wäre.

1

Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom.

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3.1. Ganztagsschule und der lange Schatten der Gesamtschule Im Sommer 1971 stellte die OECD in ihrem sogenannten Länderexamen dem westdeutschen Bildungswesen mitten in der Bildungsreform das Gesamtprädikat »mangelhaft« aus. Die internationale Prüfergruppe diagnostizierte einen Modernitätsrückstand der Bundesrepublik, der sich unter anderem in der Ungleichheit der Bildungschancen durch eine zu frühe Auslese im dreigliedrigen Schulsystem zeigte.2 Lediglich die Ganztagsschule fand das Lob der OECD-Püfer, die sie als »vielleicht eine der bedeutendsten neuen Entwicklungen der Bundesrepublik« würdigten.3 Das internationale Prüfergremium beschrieb die Vorteile der »wholeday school« ganz ähnlich wie zuvor der Deutsche Bildungsrat: By reducing the child’s independence on home conditions, it [die Ganztagsschule, M.M.] promises substantially to improve equality of educational opportunity. The challenge is to remodel curricular offerings so that the extra is used not as a mere appendage to the regular morning hours, but as the opportunity to move education in the Federal Republic’s schools towards activity methods, pupil self-teaching, and cooperative learning. In particular it would appear worthwhile utilising the extra time partly to encourage the pupils to do independent work at school and to acquire study skills.4

Die internationale Anerkennung für die westdeutschen Ganztagsschulpläne durch die OECD, mit der dem bundesdeutschen Schulsystem zumindest bei diesem Reformprojekt eine partielle Westernisierung bestätigt wurde, löste allerdings keinen Umsetzungsschub aus. Die OECD-Kritik traf die Bundesrepublik mitten in der politischen Auseinandersetzung darüber, wie umfassend denn der strukturelle Umbau des Schulsystems überhaupt sein sollte. Nach dem Bruch der Großen Koalition 1969 hatten CDU und SPD ihren bildungspolitischen Konsens aufgekündigt, und die parteipolitischen Fronten zwischen den beiden großen Volksparteien verhärteten sich zunehmend. Die neue sozialliberale Regierungskoalition war fest entschlossen, gesellschaftliche Reformen voranzutreiben, und entsprechend standen Bildungsthemen auf ihrer innenpolitischen Agenda ganz oben. Die Ganztagsschule schien zunächst auch nach dem Regierungswechsel eines der Topziele der Schul­reform zu bleiben. Noch im Wahlkampf hatte sich Willy Brandt unter dem Stichwort »Bildungsgerechtigkeit« von allen Kanzlerkandidaten am deutlichsten für 2 3 4

Klaus Hüfner (Hg.), Bildungswesen: mangelhaft. BRD-Bildungspolitik im OECD-Länderexamen, Frankfurt/M. 1973. BAK, B 251/1362, OECD-Länderexamen der Bildungspolitik und -planung in der Bundesrepublik Deutschland (Bericht der Prüfer). BAK, B 122/09654, OECD, Education Committee. Reviews of National Politics for Education: Germany.

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eine Ganztagsschule ausgesprochen, die »allen Schülern mehr und bessere Bildung vermitteln« sollte.5 Warum nun kam das von allen Parteien befürwortete Projekt Ganztagsschule nicht voran und verschwand stattdessen innerhalb kürzester Zeit aus dem bildungspolitischen Diskurs? Indizien für den sukzessiven Bedeutungsverlust lassen sich zum einen in den parteipolitischen Auseinandersetzungen um den Bildungsgesamtplan zwischen 1970 und 1973 finden, die deutlich machen, dass das Verhältnis aller Parteien zur Ganztagsschule eben in starkem Maße immer auch ein taktisches war. Dies wird auch an der nur für wenige ganztägige Schulversuche installierten wissenschaftlichen Begleitforschung deutlich. Ebenso sind die Akzentverschiebungen und Umdeutungen innerhalb des pädagogischen Diskurses ab Mitte der 1970er-Jahre in Betracht zu ziehen, die mit neuen Schlüsselbegriffen wie der »Humanisierung« der Schule verbunden waren. Schließlich ist der Blick auf den neuen Anlauf von Bund und Ländern um 1980 zu richten, das Thema Ganztagsschule wieder auf die politische Tagesordnung zu setzen und als schulpolitische Antwort auf gesellschaftliche Probleme öffentlich zu bewerben. Politisches Tauziehen um den Bildungsgesamtplan Die Bildungsreform gehörte zu den Großbaustellen im gesellschaftlichen Modernisierungsprogramm der sozialliberalen Regierung – die Ganztagsschule war dabei nur ein Reformprojekt unter vielen. Das zentrale bildungspolitische Vorhaben war die Gesamtschule, in deren politischem Gravitationsfeld sich die Ganztagsschule nach wie vor befand. Der Deutsche Bildungsrat hatte in seinem 1970 vorgelegten Strukturplan eine möglichst große Durchlässigkeit zwischen den drei Schultypen und die Erprobung der Gesamtschule empfohlen und war damit zunächst bei allen Parteien auf Zustimmung gestoßen.6 Auch Konservative wie der Historiker Karl Dietrich Erdmann und Hans Maier, Politologe und seit 1970 bayerischer Kultusminister, votierten im Bildungsrat für eine stärker horizontale Ausrichtung des Schulwesens. Der christdemokratische Ministerpräsident Baden-Württembergs Hans Filbinger hatte sich in seiner Regierungserklärung 1968 für eine besondere Förderung von Gesamtschulversuchen ausgesprochen.7 Als die SPD nach ihrem Wahlsieg mit der Einführung der Gesamtschule beginnen wollte, trat an die Stelle des pragmatischen Reformkonsenses zwischen rechts und links ein jahrelanger erbitterter Kultur­ kampf. Wie davon das weitaus weniger exponierte Projekt Ganztagsschule vollkommen beherrscht zu werden drohte, zeigen die langwierigen Verhandlungen zum 5 6 7

Die GEW fragt – Parteien antworten, in: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung 21 (1969), Nr. 9, S. 3. Vgl. Kap. 2.3. Gass-Bolm, Gymnasium, S. 345.

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Bildungsgesamtplan zwischen 1970 und 1973 in der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung (BLK). Die im Juni 1970 aus Vertretern der Bundes- und der Landesregierungen gegründete BLK war das erste regelmäßig tagende Forum für Bund und Länder gemeinsam betreffende Fragen der Bildungspolitik. Ihr Auftrag bestand darin, einen »gemeinsamen langfristigen Rahmenplan für eine abgestimmte Entwicklung des gesamten Bildungswesens« und hierfür entsprechende »Stufenpläne« vorzubereiten, die forschungs-, finanz-, wirtschafts- und sozialpolitisch abgesichert sein sollten. Das riesenhaft anmutende Planwerk umfasste eine Fülle von Einzelvorhaben, darunter die Einführung der integrierten Gesamtschule, einer integrierten Orientierungsstufe für die Klassen 5 und 6 und eines zehnten Schuljahres. Verfolgt man die archivalische Spur der Ganztagsschule durch die Anhäufung Papier gewordenen Planungswillens, so wird deutlich, dass dieses Reformprojekt zerrieben wurde zwischen den parteipolitischen Strategien um die Gesamtschule, welche die SPD durchsetzen und die CDU verhindern wollte.8 Waren im vorausgegangenen Strukturplan von 1970 noch die durch Raum- und Lehrerbedarf anfallenden Mehrkosten der Ganztagsschule errechnet worden, konzentrierte sich der Bildungsgesamtplan lediglich auf quantitative Zielgrößen. Ursprünglich hatte man geplant, vor allem für die Sekundarstufe ab Klasse 5 eine großzügige Infrastruktur ganztägiger Schulen zu schaffen. In den ersten Beratungen zum Bildungsgesamtplan war von einem »regionalen Aufbauplan« die Rede, der »für jeden Schüler die Ganztagsformen als Alternativ-Angebot zugänglich machen« sollte.9 Im Bereich der Primarstufe waren Ganztagsschulen »als Versuche und Modelle« geplant.10 Der erste Entwurf des Bildungsgesamtplans von Januar 1971 legte die Zielmarke für den Ganztagsschulausbau zunächst in ehrgeizige Höhe: So sollte der Anteil von Ganztagsschülern im Primär- und Sekundarbereich bis 1975 aus dem Stand heraus auf zehn Prozent, bis 1980 auf 30 Prozent und bis 1985 gar auf 60 Prozent erhöht werden. Als Planungsalternative wurde eine Variante II mit fünf Pro8

Gegenstand war bei den Verhandlungen um die Gesamtschule das Prinzip der Stufenschule und eine weitgehend horizontale anstatt vertikale Gliederung des Schulwesens: Auf die vierjährige Grundschule sollte für die Klassen 5/6 eine Orientierungsstufe folgen, in der die Schüler nicht nach Schultypen, sondern nur in den einzelnen Fächern nach Leistungsniveau differenziert wurden. Gass-Bolm, Gymnasium, S. 281ff., Carl-Ludwig Furck, Das Schulsystem, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Band VI/1, S. 282–356; Führ, Deutsches Bildungswesen seit 1945, S. 20f. 9 BAK, B 136/9111, Schreiben von Gruppe III/1 vom 11.12.1970, Betr. Sitzung der BLK am 14.12.1970. 10 BAK, B 136/9111, Vorentwurf für den Bildungsgesamtplan und ein Bildungsbudget vom 27. Oktober 1970, S. 25; ebd., Schreiben von Gruppe III/1 vom 11.12.1970, Betr. Sitzung der BLK am 14.12.1970.

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zent 1975, 15 Prozent 1980 und 30 Prozent 1985 formuliert.11 Wie schon zuvor in der Empfehlung des Bildungsrates begründete man den Ausbau des ganztägigen Schulangebots mit der »gesellschaftlichen Entwicklung (5-Tage-Woche, Berufstätigkeit der Eltern)«. Angesprochen, aber nicht vertiefend erörtert wurde die mit dem Ausbau von Ganztagsschulen verbundene Problematik »entsprechender Curricula und neuer Ausbildungsinhalte für das Personal im Bildungswesen, einschließlich der für Schulassistenten«.12 Schulsozialarbeit tauchte zu dieser Zeit im Kontext der Gesamtschuldiskussion erstmals als Schlagwort auf, wenngleich sie als schulisches Praxisfeld im Halbtagsschulland Bundesrepublik auch nach Etablierung der Studiengänge Sozialpädagogik und Sozialarbeit an Fachhochschulen Anfang der 1970er-Jahre eher randständig blieb.13 Bereits ab dem zweiten Entwurf wurden die Planzahlen nach unten korrigiert, bis man sie schließlich in dem verabschiedeten Bildungsgesamtplan im Juni 1973 halbiert hatte. Entsprechend sollte nun in der Planungsalternative I der Anteil von Ganztagsschülern an Vollzeitschülern im Primar- und Sekundarbereich 1975 sukzessive auf fünf Prozent, 1980 auf 15 Prozent und 1985 auf 30 Prozent erhöht werden. Alternative II sah entsprechend eine flachere Ausbaukurve vor mit 1975 zwei Prozent, 1980 fünf Prozent und 1985 15 Prozent.14 War im Herbst 1971 in einem Zwischenbericht noch davon die Rede gewesen, jedem Schüler den Besuch einer Ganztagsschule »in erreichbarer Nähe« zu ermöglichen, ruderte die BLK weit zurück. Nun hieß es, dass die »bestehenden Schulen nur allmählich zu Ganztagsschulen umgewandelt werden können« und daher »längere Provisorien unvermeidbar« seien.15 Um die in der Zwischenzeit immer lauter gewordenen Zweifel an der Finanzierbarkeit des Plans zu entkräften, war in den finalen Entwurf folgender Passus neu eingefügt worden: »Die Quoten beziehen sich auf Ganztagsplätze, die aber auch durch Halbtagsbetreuung doppelt belegt werden können. Ganztagseinrichtungen sollen nur in dem Umfange geschaffen werden, wie aus sozialen und anderen Gründen (z.B. Mitarbeit der Frau) eine ganztägige Betreuung notwendig 11

BAK, B 136/9111, Vermerk vom 11. Dezember 1970 betr. Sitzung der BLK vom 14.12.1970; ebd., Erster Entwurf für den Bildungsgesamtplan und ein Bildungsbudget vom 22. Januar 1971, S. 42. 12 BAK, B 136/9111, Erster Entwurf für den Bildungsgesamtplan und ein Bildungsbudget vom 22. Januar 1971. 13 Heinz Abels, Schulsozialarbeit. Ein Beitrag zum Ausgleich von Sozialisationsdefiziten, in: Soziale Welt 21/22 (1971), S. 347–359; Karsten Speck/Thomas Olk (Hg.), Forschung zur Schulsozialarbeit. Stand und Perspektiven, Weinheim 2010. 14 BAK, B 136/9115, BLK, Ergebnisse der Sondersitzungen und der 7. Sitzung vom 12.7.1971. 15 Holger Lühring, Ganztagsschule zwischen schulpolitischer Illusion und gesellschaftlichen und pädagogischen Erfordernissen, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 31 (1980), Nr. 6, S. 191–195, hier S. 192.

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ist oder gewünscht wird.«16 Der radikale Kurswechsel vom reformoptimistischen Höhenflug eines extensiven Ganztagsschulausbaus in den frühen Planentwürfen zu diesen defensiven Formulierungen verweist auf das schwierige politische Verhandlungsklima innerhalb der BLK. Bereits im Frühjahr 1971 nahm das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (BMBW) den Stand der Verhandlungen in der Bund-Länder-Kommission als »sehr unbefriedigend« wahr.17 Dort hatte der schwelende Konflikt um die Gesamtschule das Ganztagsschulthema weitgehend verdrängt, nachdem die SPDMehrheit im März 1971 dafür gestimmt hatte, die Einführung der Gesamtschule in den Bildungsgesamtplan aufzunehmen. Die CDU/CSU-regierten Länder forderten die Einberufung einer Sondersitzung mit der Begründung, auch einzelne SPDVertreter in der BLK wären der Auffassung, dass »der bisher vorliegende Entwurf zu einem Bildungsgesamtplan in seinen Qualifikationen und Zeitangaben unrealistisch, problematisch und nicht entscheidungsreif sei, deshalb überprüft und durch Alternativen ergänzt werden müsse«.18 Während die von SPD und FDP gestellten Regierungen im Bund und in sechs Ländern, den sogenannten A-Ländern, ein Gesamtschulsystem anstrebten und damit den entscheidenden Schritt über den Strukturplan hinausgingen, waren die fünf von CDU/CSU regierten Länder, die sogenannten B-Länder, nicht bereit, das bisherige dreigliedrige Schulsystem aufzugeben. Für die SPD war die Gesamtschule die einzig mögliche Organisationsform, um ihre Reformziele wie Chancengleichheit, wissenschaftlich orientierte Grundbildung für alle sowie individualisiertes Lernen durchzusetzen. Die Union vertrat hingegen die Ansicht, die Unterschiede in den Lernvoraussetzungen von Kindern machten auch eine äußere Differenzierung erforderlich.19 Während Regierungsvertreter wie Hildegard Hamm-Brücher, Staatssekretärin im Bildungsministerium und Vorsitzende des BLK-Ausschusses Bildungsgesamtplan, aus strategischen Gründen für einen »Bildungsgesamtplan aus einem Guß […] zur Not ohne Rücksicht auf seine Finanzierbarkeit« plädierten,20 hakten die Vertreter CDU-regierter Länder gerade bei den mit der Gesamtschulreform verbundenen hohen Personal- und Sachkosten ein.21 So stießen sich die christdemokratischen Kultusminister bei den BLK-Verhandlungen zum dritten Entwurf daran, dass für den Ausbau des Schulwesens der zusätzliche Personal- und Finanzbedarf nicht ermit16 17

BAK, B 136/9115, BLK, Ergebnisse der Sondersitzungen und der 7. Sitzung vom 12.7.1971. BAK, B 136/9112, Vermerk vom 26. März 1971 für die Sitzung des Kabinettsausschusses für Bildung und Wissenschaft am 29. März 1971. 18 Ebd. 19 Gass-Bolm, Gymnasium, S. 284f. 20 BAK, B 136/9112, Vermerk vom 26. März 1971 für die Sitzung des Kabinettsausschusses für Bildung und Wissenschaft am 29. März 1971. 21 Ebd.

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telt worden sei und man lediglich bei Ganztagsschulen einen Zuschlag von 20 Prozent auf Fachkräfte und von 100 Prozent auf Hilfspersonal hinzugerechnet habe. Die finanziellen Konsequenzen hinsichtlich des Stellenbedarfs würden gar nicht erwähnt.22 Im SPD-Lager war man prinzipiell immer davon ausgegangen, den neuen Schultyp der Gesamtschule im Ganztagsbetrieb einzurichten. Unter dem reformpolitischen Handlungsdruck Anfang der 1970er-Jahre plädierten das Bundeskanzleramt und der Ausschuss Bildungsbudget der BLK allerdings dafür, die »Sachplanung von vornherein alternativ und offen zu gestalten«, zumal detaillierte Finanzplanungen der Länder noch nicht vorlagen.23 Mit Blick auf die zu erwartenden hohen Kosten, die – so befürchtete man – die CDU als argumentativen Hebel gegen die Gesamtschule nutzen würde, wurde hier offenbar beschönigend korrigiert. Insbesondere scheint beim Posten »Lehrerbedarf« die ursprünglich für den Ganztagsbetrieb für erforderlich gehaltene Zahl drastisch gekürzt worden zu sein, um den finanziellen Mehraufwand für Personal zu senken.24 Die sozialliberale Regierung wollte damit die CDU-Länder daran hindern, bereits im Vorfeld »strukturelle Reformen (Gesamtschule, Gesamthochschule) als ›zu teuer‹ abzulehnen«.25 Als die integrierte Gesamtschule im Bildungsgesamtplan schließlich 1973 aufgrund der sozialliberalen Mehrheit in der BLK durchgesetzt wurde, gaben die christdemokratischen Länder ein »besonderes Votum« zu dieser Entscheidung ab: So sprachen sie sich zum einen dafür aus, dass man vor einer regulären Einführung dieser Schulform erst die Schulversuche mit Gesamtschulen abwarten wolle. Zum anderen forderten sie, die Orientierungsstufe in der 5./6. Klasse einem der bestehenden drei Schultypen zuzuordnen.26 Der Bildungsgesamtplan war indes schon bei seiner Verabschiedung 1973 Makulatur. Die Finanzminister von Bund und Ländern hatten bereits während der langwierigen Beratungen moniert, die ehrgeizigen bildungspolitischen Reformvorhaben würden sich immer mehr von einer realistischen Finanzplanung abkoppeln. Im ersten Drittel der 1970er-Jahre teilte aber das Gros der Bildungsreformer einen Erwartungshorizont, der sich aus der Gewissheit von Kontinuität und Gestaltbarkeit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung speiste und 22 23 24 25 26

BAK, B 136/9115, Grundsatzaussprache in der 6. Sitzung der BLK zum 3. Entwurf des Bildungsgesamtplans am 28.5.1971. BAK, B 136/9112, Vermerk vom 26. März 1971 für die Sitzung des Kabinettsausschusses für Bildung und Wissenschaft am 29. März 1971. Vgl. den Hinweis bei Holger Lühring, Ganztagsschule zwischen schulpolitischer Illusion und gesellschaftlichen und pädagogischen Erfordernissen, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 31 (1980), Nr. 6, S. 191–195, hier S. 192. BAK, B 136/9112, Vermerk vom 10. März 1971. Vgl. ausführlicher Gass-Bolm, Gymnasium, S. 284f.

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der von einem stetig wachsenden finanziellen Spielraum des Staates ausging. Der Konjunktureinbruch infolge der ersten Ölkrise, mit dem die wirtschaftliche Prosperitätsphase nach dem Zweiten Weltkrieg 1973/74 an ihren Endpunkt gekommen war, dämpfte den politischen Reformwillen schlagartig.27 Nun standen bei leeren Staatskassen reformerische Großplanungen mit erhöhtem Sach- und Personalmittelbedarf grundsätzlich unter Finanzierungsvorbehalt. Vor allem die Bundesländer befürchteten höhere Aufwendungen für die Lehrerbesoldung; die Kommunen bzw. Kreise als Schulträger sahen sich aus haushaltlichen Gründen immer weniger in der Lage, ganztägige Einrichtungen auszubauen.28 Die Ganztagsschule schien den wenigsten Bildungsplanern als pädagogisches Programm wichtig genug, sich dafür auf politischer Ebene weiterhin einzusetzen.29 Ein Barometer für den politischen Bedeutungsverlust des Projekts Ganztagsschule war die unzureichende Umsetzung des vom Bildungsrat empfohlenen Experimentalprogramms. Schulversuche mit Ganztagsschulen und wissenschaftliche Begleitung Die in den 1970/80er-Jahren bestehenden Ganztagsschulen liefen formal als Schulversuche der Länder, die zusätzlich Bundesmittel erhielten, wenn sie durch eine wissenschaftliche Einrichtung begleitet wurden.30 Geprägt vom neuen Paradigma eines wissenschaftlich ausgerichteten Schulunterrichts hatte der Deutsche Bildungsrat 1968 die mangelnde Wissenschaftlichkeit der frühen Schulversuche mit Tagesheimschulen in Hessen, Hamburg und Berlin kritisiert und ein Experimentalprogramm zur wissenschaftlichen Begleitung von Ganztagsschulversuchen empfohlen, von dem man sich unter anderem Impulse für die Lehrerbildung versprach.31 Die Umsetzung von Schulversuchsprogrammen für Ganztags- und Gesamtschulen in den Ländern zeigt eine wachsende Einflussnahme des Bundes auf die Bildungspolitik, indem zunächst die Kultusministerkonferenz, dann stärker die Bund-LänderKommission für Bildungsplanung die Federführung übernahm.32 Die Bundesländer setzten gleichwohl deutliche eigene Akzente: So zielten Modellversuche in BadenWürttemberg seit Ende der 1960er-Jahre vor allem auf die »Begabungsförderung 27

Vgl. allgemein dazu Manteuffel/Raphael, Nach dem »Boom«; Jarausch, Das Ende der Zuversicht. 28 Hartmut Heck, Der Entwicklungsstand der Ganztagsschule und ihr Stellenwert in der Bundesrepublik Deutschland, in: Die Ganztagsschule 20 (1980), Nr. 4, S. 69–80, hier S. 73. 29 Vgl. Kap. 3.2. 30 Grundlage hierfür war eine Vereinbarung der KMK vom 3. Juli 1969 sowie eine Rahmenvereinbarung zur koordinierten Vorbereitung, Durchführung und wissenschaftlichen Begleitung von Modellversuchen vom 7. Mai 1971. 31 Vgl. Kap. 2.3. 32 Vgl. Horst Weishaupt, Schulversuche – Modellversuche, in: Führ/Furck, Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. IV, Erster Teilband, S. 378–389.

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im ländlichen Raum«.33 Andere, SPD-geführte Bundesländer förderten Ganztagsschulversuche vor allem im Zusammenhang mit dem Ausbau der Gesamtschulen. So plante die Landesregierung von NRW 1971 mit dem »Nordrhein-Westfalen Programm ’75« eine Verdopplung ihrer bestehenden Ganztagsschulen. Die wissenschaftliche Begleitung konzentrierte sich hier vor allem auf die neuen Gesamtschulund Kollegschulversuche. Auch Berlin und Niedersachsen realisierten ihre Gesamtschulen fast ausnahmslos als Ganztagsschulen.34 Andere Länder wie Hessen und Hamburg wiederum entschieden sich aus finanzpolitischen Erwägungen für eine Realisierung in Halbtagsform.35 Die Durchführung von wissenschaftlich begleiteten Schulversuchen mit Ganztagsschulen wurde durch den hochideologisierten Streit um die Gesamtschule erheblich gebremst. Als sich die von der KMK eigens für das Versuchsprogramm benannten Länderbeauftragten am 28. März 1972 im KMK-Sekretariat zu einer ersten Sitzung trafen, wurden die unterschiedlichen Auffassungen über die Zielrichtung eines solchen Programms offenkundig: Während einige Länder erproben wollten, ob die Gesamtschule sich für die generelle Einführung überhaupt eigne, ging es anderen Ländern darum festzustellen, »in welcher organisatorischen und pädagogischen Konzeption die im Grundsatz beschlossene Einführung zu verwirklichen ist«. Zwei Jahre später stellten die Länderbeauftragten übereinstimmend fest, dass »eine gemeinsame Durchführung im Sinne einer länderübergreifenden Arbeitsund Projektteilung innerhalb des Versuchsprogramms zur Zeit nicht möglich« ist. Aufgrund des paralysierenden Konflikts um die Gesamtschule wollte man »die Diskussion von Problemen, die sich aus Versuchen mit Ganztagsschulen ergeben, aus sachlichen und zeitlichen Gründen zunächst ausklammern«.36 Die schließlich realisierten Ganztagsschulversuche entsprachen nicht der ursprünglichen Intention von Bildungsrat und Kultusministerkonferenz, ein Experimentalprogramm mit mehr als 40 Versuchsschulen in allen Schulformen, in Stadt und Land und möglichst in allen Bundesländern zu starten und dafür eine wissenschaftliche Kontrolle durch erziehungswissenschaftliche Institute der Universitäten sowie Pädagogische Hochschulen zu installieren. Nur bei einem Teil der 34 Modellversuche war in den Jahren 1971 bis 1977 überhaupt eine den wissenschaftlichen Standards gerecht werdende Begleitung zustande gekommen. Von den übrigen Versuchen wurden nur »Erfahrungsdaten« festgehalten.37 Weder gab es, wie vor33 34 35 36 37

Vgl. Fallstudie I über Osterburken. Ludwig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2, S. 560ff. Vgl. zu Hessen die Fallstudie 3 über die Kasseler Gesamtschule Hegelsberg. BAK, B 304, 5243, Zwischenbericht der Beauftragten der Kultusminister der Länder für das Experimentalprogramm mit Gesamtschulen zur Vorlage an die Kultusministerkonferenz, 28.5.1974. Ludwig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2, S. 548.

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gesehen, eine Koordinierung der Schulversuche zu Beginn des Versuchsprogramms noch eine zentrale Dokumentation an dessen Ende. Darüber hinaus fehlte es an der Entwicklung gemeinsamer Kategorien, Untersuchungsinstrumentarien sowie einer einheitlichen Terminologie, die eine länderübergreifende Vergleichbarkeit der Schulversuche hätten ermöglichen können. 1976 beschloss die Bund-Länder-Kommission eine überregionale Auswertung der realisierten Modellversuche, die der Erziehungswissenschaftler Heinz-Jürgen Ipfling als Sachverständiger durchführte.38 Unter Hinweis auf die schwierige Datenlage lautete einer der Hauptbefunde, dass sich Schulleistungen und Schulerfolge von Schülern, die Ganztagsschulen besuchten, kaum von Halbtagsschülern unterschieden, obwohl die Ganztagsschüler zu einem höheren Anteil aus bildungsfernen Familien kamen.39 In der sich institutionalisierenden empirischen Schulforschung blieb die Ganztagsschule ein randständiges Thema. Im Gegensatz dazu wurden ungleich mehr Mittel und wissenschaftliche Ressourcen in die Schulversuche mit Gesamtschulen investiert. Die Forschungsergebnisse zu Gesamtschulen und dreigliedrigem Schulsystem wurden indessen zum politischen Spielball im Streit um den weiteren schulpolitischen Kurs. Nicht zuletzt dies war ein Grund dafür, dass sich das Reformbündnis zwischen Politik und Wissenschaft in den 1970er-Jahren wieder auflöste.40 »Mut zur Erziehung« und »humane Schule« – Ganztagsschule und neue pädagogische Wertesemantiken In den erhitzten Debatten um die Gesamtschule geriet die Ganztagsschule Mitte der 1970er-Jahre aus dem öffentlichen Fokus. Die Aufmerksamkeit richtete sich nun auf die lautstarken Proteste von CDU, Philologenverband und Eltern, die sich in Hessen 1972/73 gegen die Rahmenrichtlinien für Deutsch und Gesellschaftslehre41 und in Nordrhein-Westfalen 1978 gegen die Einführung der schulformübergreifenden Koop-Schule42 wandten. Das von neokonservativen Wertesemantiken beeinflusste 38

Heinz-Jürgen Ipfling, Modellversuche mit Ganztagsschulen und anderen Formen ganztägiger Förderung, Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung, Bonn 1981. 39 Ipfling, Modellversuche; Ipfling/Lorenz, Schulversuche mit Ganztagsschulen. 40 Helmut Fend, Bildungsforschung von 1965 bis 2008. Eine biografisch geprägte Geschichtsschreibung, in: Wischer/Tillmann, Erziehungswissenschaft auf dem Prüfstand, S. 15–33; Klaus-Jürgen Tillmann, Erziehungswissenschaft und Schulreform. Erfahrungen aus vierzig Jahren, in: Wischer/Tillmann, Erziehungswissenschaft auf dem Prüfstand, S. 51–68. 41 Bernhard Sutor, Politische Bildung im Streit um die »intellektuelle Gründung« der Bundesrepublik Deutschland. Die Kontroversen der siebziger und achtziger Jahre, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 45/2002, S. 17–27. 42 Die in NRW regierende SPD/FDP-Koalition beabsichtigte 1978, eine kooperative Schule einzuführen, bei der Hauptschule, Realschule und Sekundarstufe I des Gymnasiums in »Schulzentren« zusammengefasst und für alle Schüler der 5. und 6. Klasse gemeinsame »Orien-

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öffentliche Meinungsklima verhinderte in den Folgejahren eine breitenwirksame Wiederbelebung der Reformidee Ganztagsschule. Im Kreis der Ganztagsschulbefürworter registrierte man einen »Argwohn weiter Bevölkerungskreise gegenüber ausgedehnten schulpolitischen Experimenten oder Neuerungen«.43 Dieser Umschwung von Reformeuphorie in Reformskepsis im öffentlichen Reden über Bildung und Erziehung war auf eine allgemeine Krisenstimmung zurückzuführen – nicht nur aufgrund des ökonomischen Einbruchs, sondern auch wegen einer von vielen Beteiligten als gescheitert erlebten Bildungsreform. Ein Hauptkritikpunkt war, man habe bei der Bildungsplanung einerseits die Bedeutung der Schule für die Gesamtgesellschaft überschätzt und andererseits die Bedeutung innerschulischer erzieherischer Aspekte des Lebens in der Schule selbst unterschätzt.44 Die politische Polarisierung der Universitäten wie der breiteren Öffentlichkeit im Zuge der Studentenrevolte hatte dazu geführt, dass ehemalige Reformunterstützer aus dem konservativen wie auch teilweise linksliberalen Lager sich abwandten von den Grundpostulaten der Bildungsreform, einstige Konsensbegriffe wie Chancen­ gleichheit und »Mündigkeit« in Frage stellten und eine leistungsfeindliche, angeblich das Schulwesen infizierende »Reformitis« diagnostizierten.45 Bereits zeitgenössische Beobachter waren sich darüber einig, dass es den konservativen Stichwortgebern weniger um eine pädagogische als um eine politische »Tendenzwende« gehe.46

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tierungsstufen« eingerichtet werden sollten, die als »ein Zwischenstadium zur integrierten Gesamtschule« gedacht waren. Gegen den Widerstand der CDU verabschiedeten die SPD und FDP im Landtag Nordrhein-Westfalen am 26. Oktober 1977 das Gesetz. Eine breite Bürgeraktion Volksbegehren gegen die Kooperative Schule, die von der Landeselternschaft der Gymnasien und dem Philologenverband organisiert wurde, bereitete ein Volksbegehren gegen die Einführung der neuen Schulform vor. Der Bund Freiheit der Wissenschaft, katholische Bischöfe und die nordrhein-westfälische CDU unterstützten die Aktion. Im Volks­ begehren votierten annähernd 30 Prozent, d.h. 3,636 Millionen gegen die Koop-Schule. Der Landtag zog im April 1978 das »Gesetz zur Orientierungsstufe und Kooperativen Schule« zurück. Vgl. http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/Webmaster/GB_II/II.1/ Oeffentlichkeitstsarbeit/Informationen.jsp?oid=89162 (Stand: 20.7.2014). Hartmut Heck, Der Entwicklungsstand der Ganztagsschule und ihr Stellenwert in der Bundesrepublik Deutschland, in: Die Ganztagsschule 20 (1980), Nr. 4, S. 69–80, hier S. 73. Jutta Wilhelmi, Plädoyer für eine Kursänderung, in: Albin Dannhäuser/Heinz-Jürgen Ipfling/ Dieter Reithmeier (Hg.), Ist die Schule noch zu retten? Plädoyer für eine neue Bildungsreform, Weinheim und Basel 1988, S. 93–100, hier S. 94. Vgl. den kurzen Überblick bei Silke Hahn, Bildungspolitik, in: Georg Stötzel/Martin Wengeler (Hg.), Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin/New York 1995, S. 211–244; zur politischen Ideengeschichte der »Tendenzwende« jetzt auch Nikolai Wehrs, Protest der Professoren. Der »Bund Freiheit der Wissenschaft« in den 1970er Jahren, Göttingen 2014. So die Kritik des Münsteraner Erziehungswissenschaftlers Dietrich Benner auf einem Gesprächsforum der Bad Homburger Werner Reimers Stiftung über die im Kontext der Tagung »Mut

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Die katholische Kirche hatte schon im Zusammenhang mit dem Strukturplan 1970 angemahnt, es dürften bei aller Wissenschaftsorientierung der modernen Schule »die humanen Werte, die sich in Haltung und Gesinnung äußern, im Bildungs- und Erziehungsprozeß nicht vernachlässigt werden«.47 Wenig später stellte der bayerische Kultusminister Hans Maier auf einer Tagung des Verbandes Bildung und Erziehung die später vielzitierte Forderung nach einer »Wiedergewinnung des Erzieherischen« auf.48 Seit Mitte der 1970er-Jahre sammelten sich die Kritiker der angeblich fehlgeschlagenen Bildungsreform in einer konservativen Gegenbewegung, um eine »Wende« und eine neue »Werte- und Moralerziehung« in Schule und Familie zu fordern.49 Zu deren profiliertesten Protagonisten gehörte das intellektuelle Forum »Mut zur Erziehung«, das im Januar 1978 mit einer gleichnamigen Tagung an die Öffentlichkeit trat.50 An dieser medienwirksamen Veranstaltung war als führender Vertreter der Bildungsreform auch der baden-württembergische Kultusminister Wilhelm Hahn beteiligt, der wenige Jahre zuvor Modellversuche mit Ganztagsschulen initiiert und einen Stufenplan zur landesweiten Einführung dieser Schulform angestoßen hatte.51 Wilhelm Hahn und seine Mitstreiter prangerten nun die ihrer Meinung nach ausschließlich technisch-szientistische und ideologische Ausrichtung bisheriger Schulreformen an und forderten eine »neue Humanität« von Schule. Hahn selbst hatte 1974 mit der Kommission »Anwalt des Kindes« ein Beratungsgremium aus Erziehungswissenschaftlern, Lehrern, Psychologen, Ärzten und Eltern ins Leben gerufen, das auf eine entsprechende schulpolitische Kurskorrektur zielte. Unter dem Schlagwort einer »Humanisierung der Schule« war diese Debatte teilweise verflochten mit einem über die Medien artikulierten Unbehagen über Disziplin- und Motivationsprobleme bei Schülern, über »Schulstress« und »Schulangst«. Während diese Symptome für konservative Kritiker direkt aus einer zu weit getriebenen Reformpolitik resultierten, hatte man es dabei aus linker und

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zur Erziehung« publizierten Thesen. Vgl. hierzu: Mehr Mut zur Redlichkeit, Die Zeit, Nr. 20, 11.5.1979. Vgl. auch Axel Schildt, »Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten«. Zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 449–478. Katholischer Bildungsrat und der Strukturplan, in: Der Katholische Erzieher 23 (1970), Nr. 11, S. 333f. Dietmar Waterkamp, Erziehung in der Schule, in: Oskar Anweiler (Hg.), Vergleich von Bildung und Erziehung in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik, Köln 1990, S. 261–277, hier S. 263. Hahn, Bildungspolitik, S. 194ff. Mut zur Erziehung: Beiträge zu einem Forum am 9./10. Januar 1978 im Wissenschaftszentrum Bonn-Bad Godesberg, Stuttgart 1979; vgl. allgemein zu Werten und 1968: HeinzElmar Tenorth, Bildung als Wert und Werte in der Bildung, in: Rödder, Alte Werte – Neue Werte, S. 56–65, hier S. 59f. Vgl. Fallstudie I zu Osterburken.

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liberaler Sicht eher mit Problemen einer nicht zu Ende geführten Schulreform zu tun.52 Retrospektiv befanden auch ehemalige Protagonisten der Gesamtschulbewegung die ursprüngliche Reformagenda als bisweilen unrealistisch überfrachtet.53 So sei die Schulreform in einigen Bundesländern vor allem durch die Verbindung von Gesamtschule und Ganztagsschule erschwert worden. Die angestrebte Ganztagsform habe die Realisierung der Gesamtschule stark belastet, denn es fehlten hierfür entsprechende curriculare Konzepte wie auch eine entsprechende Vorbereitung der Lehrerinnen und Lehrer, die nach wie vor für die klassische deutsche Unterrichtsschule ausgebildet worden seien.54 Die zeitweise enge konzeptionelle Verschränkung von Ganztagsschule und Gesamtschule begann sich indes mit der allgemeinen bildungspolitischen Ernüchterung in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre aufzulösen. Gingen die Teilnehmer einer internationalen Tagung zu diesem Thema im Jahr 1975 noch davon aus, dass ein breites Angebot von Ganztagsschulen langfristig dem eigentlichen Reformziel Gesamtschule den Weg ebnen könnte, so herrschte fünf Jahre später auf einer Tagung zum gleichen Thema die gegenteilige Einschätzung vor. Nun sah man in der Ganztagsschule eher ein »systemstabilisierendes« Vehikel, mit der die Dreigliedrigkeit des Schulwesens aufrechterhalten würde.55 Im Umfeld der Gemeinnützigen Gesellschaft Tagesheimschule (GGT) rezipierten Lehrer, Schulräte und Wissenschaftler die neuen pädagogischen Diskurse in mehrere Richtungen. Für sie ließ sich die nunmehr geforderte »humane Schule« unter Rückgriff auf reformpädagogische Ideenbestände problemlos als ganztägige Schule entwerfen, die »vom Kinde aus« zu konzipieren sei. In diesem Zusammenhang wurde der Begriff des »Schullebens« reaktiviert, der die Schule als Lebensund Erfahrungsraum für Kinder in den Mittelpunkt rückte.56 Die Gesamtschulplaner hatten solchen nichtkognitiven, z.B. räumlichen, sozialen und emotionalen Aspekten des Schulalltags zumeist wenig Beachtung geschenkt. Negative Erfahrungen mit der Gesamtschule bildeten den Rahmen, von dem ausgehend Kriterien für 52 Gass-Bolm, Gymnasium, S. 394ff. 53 Vgl. hierzu die Einschätzungen von Hildegard Hamm-Brücher, Ludwig von Friedeburg, Carl-Heinz-Evers und anderen in: Gudjons/Köpke, 25 Jahre Gesamtschule. 54 Jürgen Raschert, Was ist mit der Gesamtschule in Deutschland schief gegangen?, in: Christian Petry/Hans-Henning Pistor (Hg.), Der lange Weg der Bildungsreform. Gisela und Hermann Freudenberg zum 80. Geburtstag, Weinheim, Basel 2004, S. 73–78, hier S. 74. 55 Horst Magdeburg, Ganztagsschule – Konzeptionen und Erfahrungen. Protokoll der internationalen Sonnenberg-Tagung vom 21.–27. September 1975 im internationalen Haus Sonnenberg bei St. Andreasberg/Oberharz; Internationaler Arbeitskreis Sonnenberg (Hg.), Leben und Lernen in der Ganztagsschule. Dokumentation zur Internationalen SonnenbergTagung vom 9.–15. November 1980, Braunschweig 1981. 56 Stefan Appel, Fünftage-Ganztagsschule auch heute noch eine pädagogische Herausforderung, in: Die Ganztagsschule 18 (1978), H. 2, S. 29–40.

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eine »humane Schule« entwickelt wurden. So ergaben sich aus der Kritik an den standardisierten Gesamtschulbauten, die vielen als inhumane, anonyme »Betonmonster« und »Mammutschulen« galten, neue Denkansätze über die Prinzipien einer »humanen« Schularchitektur. An die Stelle des »offenen Schulbaus« der 1960erJahre, der auf Rationalität und Flexibilität (z.B. durch verschiebbare Wände, keine festen Klassenräume) setzte,57 traten nun Konzepte, die neben natürlicher Belichtung und Belüftung überschaubare Raumstrukturen beinhalteten. Auch das besondere Gewicht, das Gesamtschulplaner auf den kognitiv ausgerichteten Lernprozess, auf die Rationalisierung und Wissenschaftlichkeit der zu vermittelnden schulischen Grundbildung und insbesondere auf Curriculumsfragen legten,58 wurde nun kritisch hinterfragt. So betonte der neue Begriff des »sozialen Lernens« stärker die sozialpsychologischen und sozialerzieherischen Anforderungen des schulischen Lernens und sollte in Schulversuchen praktisch erprobt werden.59 Der sich als Schulsozialarbeit neu konstituierende Bereich der Sozialpädagogik rekurrierte auf den zeitgenössischen Humanisierungsdiskurs, wenn es darum ging, der Gesamtschule als einer technokratischen, rein leistungsorientierten »Lernfabrik«60 das Ideal einer sozialpädagogisch ausgerichteten »ganzheitlichen« Ganztagsschule mit größeren erzieherischen Einwirkungsmöglichkeiten gegenüberzustellen.61 Nicht nur Sozialpädagogen entdeckten die Schule als eigenen sozialpädagogischen Handlungsraum; Kritik an der einseitigen Ausrichtung der Gesamtschule auf Lernen und Leistung kam auch von Seiten der Freizeitpädagogik, die sich als eigene erziehungswissenschaftliche Disziplin etablierte.62 Die in der GGT-Verbandszeitschrift »Tagesheimschule« bzw. »Die Ganztagsschule« (seit 1977) publizierten Beiträge konzentrierten sich vor allem auf die praktischen Fragen der ganztägigen Schulgestaltung wie Raumarchitektur, Mittagessen, 57 58

Vgl. hierzu das Beispiel des Ganztagsgymnasiums Osterburken in Fallstudie I. Ludwig von Friedeburg, Über das Erfordernis beständiger Bildungsreform, in: Henning Haft u.a. (Hg.), Gesamtschule. Geschichte – Konzeption – Praxis, Kiel 1989, S. 25–60. 59 Hartmut Heck, 10 Jahre Ganztagsschularbeit – Ein Problemaufriss, in: Internationaler Arbeitskreis Sonnenberg, Leben und Lernen in der Ganztagsschule, S. 1–18, hier S. 3; Klaus Hoyer, Leben und Lernen in der Ganztagsschule, in: ebd., S. 48–53. Vgl. auch Ludwig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2, S. 572f. 60 Gesamtschule – Lernfabrik oder Erziehungsidylle?, in: Spiegel, Nr. 15/1980, 7.4.1980. 61 Die Kritiker der Gesamtschule übersahen indessen zumeist, dass diese in einen Leistungswettbewerb mit dem sich rasch reformierenden Gymnasium hineingezwungen wurde. Vgl. Klaus-Jürgen Tillmann, Sozialpädagogische Arbeit in der Gesamtschule, in: Die Deutsche Schule 64 (1972), S. 808–816; Ludwig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2, S. 568ff. Vgl. dazu auch Fallstudie II über die Gropius-Schule. 62 Vgl. die Arbeiten eines der Begründer dieser sozialpädagogischen Subdisziplin Horst W. Opa­schowski, Pädagogik der Freizeit. Grundlegung für Wissenschaft und Praxis, Bad Heilbrunn 1976.

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Freizeitprogramm etc. Dezidierte Stellungnahmen zu den ideologischen Auseinandersetzungen um Bildungs- und Erziehungswerte finden sich in der um politische Neutralität bemühten Zeitschrift kaum. Indes gibt es Hinweise dafür, dass das Ende des bildungspolitischen Booms von den an ganztägigen Schulversuchen beteiligten Lehrerinnen und Lehrern vor allem als physische und psychische Mehrbelastung im Schulalltag wahrgenommen wurde. Diese rührte von personellen Engpässen her an Schulen, denen im Zuge des auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene durchgesetzten Sparkurses Stellen gestrichen worden waren.63 Auch hatten sich Aufbruchstimmung und Experimentierfreude der Reformjahre verflüchtigt. So war die Rede von einer »gewissen Ermüdung, einem gewissen, wenig artikulierbaren Enttäuschungs- und Alleingelassengefühl, einer partiellen Resignation bei denen, die an der praktischen Front stehen«.64 Neuer Konsens – ohne Folgen? Ende der 1970er-Jahre lässt sich für kurze Zeit erneut ein vermehrtes öffentliches Werben für die Ganztagsschule beobachten. Bis dahin waren neben Gesamtschulen vor allem Sonderschulen für den ganztägigen Betrieb ausgebaut worden und stellten 1978 mit fast 500 Schulen das Gros der rund 800 Ganztagsschulen der Bundesrepublik.65 Nun unternahm die Bund-Länder-Kommission einen neuen Anlauf, um angesichts des anhaltend virulenten Gesamtschulstreits doch noch eine Einigung zwischen SPD- und CDU-regierten Ländern herbeizuführen. Die Ganztagsschule schien sich als Verständigungsmedium anzubieten, den bis dato nicht realisierten Bildungsgesamtplan neu zu verhandeln und dadurch die parteipolitischen Fronten aufzulösen.66 War die Ganztagsschule in den 1960er-Jahren stärker in der sozialliberalen als in der christdemokratischen Bildungsprogrammatik verankert, wurde sie nun vermehrt von CDU-Politikern gefordert: So gab etwa die rheinland-pfälzische Kultusministerin Hanna-Renate Laurien die Devise aus, jedes Jahr fünf neue Ganztagsschulen errichten zu wollen. Ihr saarländischer Amtskollege Josef Jochem erwog für sein Bundesland einen eigenen Ganztagsschulplan, und der niedersächsische Kultusminister Werner Remmers hatte bereits ein Versuchsprogramm mit Ganztags­ angeboten anlaufen lassen. Taktische, vom Wahlkampf bestimmte Beweggründe dürften hier mindestens so ausschlaggebend gewesen sein wie echte Überzeugungen: 63 64 65 66

Walter Bachmann, Die gegenwärtige Situation der Ganztagsschulversuche in der BRD, in: Tagesheimschule 16 (1976), Nr. 3/4, S. 25–35, hier S. 34. Appel, Fünftage-Ganztagsschule auch heute noch eine pädagogische Herausforderung, S. 29 (vgl. Fußnote 56). Vgl. Bargel/Kuthe, Ganztagsschule, S. 52. Vgl. Hans H. Wilhelmi, Ganztagsschulen – Ein alternatives schulisches Angebot – Zu den Vorschlägen des Gesprächskreises Bildungsplanung, in: Internationaler Arbeitskreis Sonnenberg, Leben und Lernen in der Ganztagsschule, S. 32–47.

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Nachdem CDU-geführte Kultusministerien in einigen Bundesländern einen großen Schüleransturm auf die Ganztagsgesamtschulen festgestellt hatten, war mit derartigen Initiativen beabsichtigt, Schulen des dreigliedrigen Schulsystems durch Erweiterung zu Ganztagsschulen attraktiver zu machen.67 SPD-/FDP-regierte Flächenstaaten wie Hessen und Nordrhein-Westfalen blieben hingegen Ende der 1970er-Jahre zurückhaltend in der Ganztagsschulfrage. Im hessischen Wahlkampf 1978 hatte der SPD-Kandidat Holger Börner die »Ganztagsschule mit der Fünftagewoche« zwar als »vorrangige Aufgabe für die Bildungspolitik der 80er Jahre« angekündigt,68 denn: »die Mütter [sollen] nicht zu den Hilfslehrern der Nation werden«.69 Als Ministerpräsident des Landes, das den quantitativen Ausbau von Gesamtschulen im Bundesdurchschnitt am stärksten vorangetrieben hatte, setzte er jedoch aus Kostengründen auch weiterhin auf Halbtagsschulen.70 In Nordrhein-Westfalen, wo 1978 von 30 Gesamtschulen bereits 28 ganztägig waren und Gesamtschullehrer, Landeselternrat und Gewerkschaften auch für neue Gesamtschulen die Ganztagsform forderten, wich SPD-Kultusminister Jürgen Girgensohn von diesem Kurs ab. Auch in Hamburg wurden neue Gesamtschulen zu jener Zeit als Halbtagsschulen gegründet. Lediglich Berlin stellte eine Ausnahme dar, denn hier führte der FDP-Schulsenator Walter Rasch die unter seinem Vorgänger Carl-Heinz Evers eingeleitete Ganztagsschulpolitik für Gesamtschulen fort.71 Auch im gewerkschaftlichen Bildungsdiskurs wurde die Ganztagsschule Ende der 1970er-Jahre vermehrt thematisiert. Die Zeitschrift »Gewerkschaftliche Bildungspolitik« widmete dem Thema 1979/80 zahlreiche Beiträge.72 Dort warb beispiels-

67 Holger Lühring, Ganztagsschule zwischen schulpolitischer Illusion und gesellschaftlichen und pädagogischen Erfordernissen, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 31 (1980), Nr. 6, S. 191–195, hier S. 194. 68 Ganztagsschule. Schulsystem der 80er Jahre, in: Erziehung und Wissenschaft 30 (1978), Nr. 5, S. 4. 69 Hessen-Wahl: Es ist unser Kopf, der wackelt, in: Spiegel, Nr. 40/1978, 2.10.1978. 70 Vgl. die Fallstudie über die Gesamtschule Hegelsberg in Kassel. 71 Lühring, Ganztagsschule zwischen schulpolitischer Illusion und gesellschaftlichen und päda­ gogischen Erfordernissen, S. 194. 72 Maria Weber, Wie sehr brauchen wir die Ganztagsschule?, in: Gewerkschaftliche Bildungspolitik 30 (1979), Nr. 4, S. 79–84; Baulich-organisatorische Anforderungen an die Ganztagsschule, in: ebd., S. 84–90; Monika August-Neukirchen, Ganztagsschule aus der Sicht der Eltern, in: ebd., S. 91–97; Walter Ueberbach, Ganztagsschule – am Beispiel einer integrierten Gesamtschule, in: Gewerkschaftliche Bildungspolitik 30 (1979), Nr. 10, S. 264–268; Klaus Hoyer, Erfahrungen aus dem Ganztagsbetrieb der Gesamtschule in Niedersachsen, in: Gewerkschaftliche Bildungspolitik 31 (1980), Nr. 6, S. 196–199; Dieter Wunder, Ganztagsschule. Einführungsreferat auf der bildungspolitischen Konferenz des DGB 1979, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 31 (1980), Nr. 1, S. 33–42.

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weise die Christdemokratin und stellvertretende DGB-Vorsitzende Maria Weber73 unter Hinweis auf den »Schulstreß« und Leistungsdruck in der real existierenden halbtägigen »inhumanen Schule« für eine Ganztagsschule, »die nicht nur Schule sein«, sondern »zugleich Elemente eines Freizeitzentrums und einer Tagesstätte enthalten« solle.74 Die treibende Kraft für die neuerliche Platzierung der Ganztagsschule im (fach-) öffentlichen Bildungsdiskurs lag beim Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft. Nachdem sich der Deutsche Bildungsrat als Beratungsgremium nach seiner zweiten Amtsperiode 1975 aufgelöst hatte, sollte ein sogenannter Gesprächskreis Bildungsplanung ab 1977 für eine »kontinuierliche Politikberatung aus dem Expertenbereich« sorgen. Dieses Gremium, in dem Wirtschaft, Gewerkschaften, Lehrerverbände und Wissenschaft repräsentiert waren,75 warb in seinen im April 1980 publizierten »Vorschlägen« für den Ausbau von Ganztagsschulen als einem »alternativen schulischen Angebot«.76 Nachdem die Errichtung von Ganztagsschulen »erheblich hinter den Planungswerten« zurückgeblieben war – 1979 betrug der Anteil von Ganztagsschülern zwischen drei und vier Prozent –, peilte man jetzt eine wesentlich moderatere Steigerung an mit Zielwerten, die sich je nach Ausgangslage des jeweiligen Bundeslandes für 1985 zwischen fünf und 15 Prozent und für 1990 zwischen zehn und 20 Prozent bewegten.77 Die politisch letztlich folgenlos gebliebenen »Vorschläge« des Gesprächskreises Bildungsplanung lassen sich vor allem als bildungspolitische Selbstverständigung über die Ganztagsschule um 1980 lesen. Wie bereits in der Ganztagsschuldiskussion der 1960er-Jahre schien diese Schulform den Beteiligten auch jetzt die 73

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Maria Weber gehörte zu den Ausnahmen im arbeitnehmernahen Flügel der CDU, die sich für die ganztägige integrierte Gesamtschule einsetzte, die ihrer Ansicht nach die beste Schulform zur Förderung von Arbeiterkindern und Mädchen war. Webers Einsatz war es zudem zu verdanken, dass im Düsseldorfer CDU-Programm 1971 der Satz »Leitbild der Familienpolitik ist die partnerschaftliche Familie« verankert wurde. Vgl. Stefan Remeke, Ihrer Zeit voraus, http://www.boeckler.de/20741_20745.htm (Stand: 18.10.2014). Weber, Wie sehr brauchen wir die Ganztagsschule?, S. 81. Der Gesprächskreis Bildungsplanung bestand aus insgesamt 16 Personen, bei denen es sich um Wissenschaftler und Verbandsvertreter (Deutscher Gewerkschaftsbund, Deutsche Angestelltengewerkschaft, Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände, Deutscher Industrie- und Handelstag, Zentralverband des Deutschen Handwerks, Lehrerverbände) handelte. Vgl. Hans H. Wilhelmi, Ganztagsschulen – Ein alternatives schulisches Angebot – Zu den Vorschlägen des Gesprächskreises Bildungsplanung, in: Internationaler Arbeitskreis Sonnenberg, Leben und Lernen in der Ganztagsschule, S. 32–47, hier S. 33. Wilhelmi, Ganztagsschulen – Ein alternatives schulisches Angebot. Ganztagsschulen. Vorschläge des »Gesprächskreises Bildungsplanung« des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft zu einem alternativen schulischen Angebot vom 16. April 1980, in: informationen-bildung-wissenschaft Nr. 5, 22.3.1980, S. 85–91, hier S. 87.

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plausible schulpolitsche Antwort auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse zu sein. Als politisches Kompromisspapier oszillierte diese Initiative zwischen den zwei altbekannten Polen Sozialpolitik und moderne Pädagogik. So wurde der neue Vorstoß zum einen sozialpolitisch mit dem langfristig wachsenden »Bedürfnis nach ganztägigen Angeboten für Schüler und Jugendliche« begründet und dabei auf die »veränderten Lebenssituationen von Familien« hingewiesen, insbesondere bei ganztägig erwerbstätigen Alleinerziehenden (1977 wurden für die Bundesrepublik 788.000 Alleinstehende mit 1,2 Millionen Kindern unter 18 Jahren gezählt) und Familien mit zwei voll erwerbstätigen Eltern. Begründungsmuster war wie schon in den 1960er-Jahren die »übermäßige Beanspruchung vieler Eltern und Familien, insbesondere aus bildungsfernen Schichten, durch Hausaufgaben« sowie die »Benachteiligungen bei der sozialen und schulischen Integration von Kindern«.78 Allerdings warnte man in diesem Zusammenhang vor einem Ganztagsschultyp, der sich auf eine sozial schwache Schülerklientel beschränke und von bürgerlichen Eltern abgelehnt werde: »Je mehr Ganztagsschulen alternativ angeboten und gewährt werden, desto weniger ist die Sorge begründet, dass Kinder in Ganztagsschulen in eine Sonderrolle geraten und etwa die Schülerschaft nicht in wünschenswertem Maß heterogen zusammengesetzt ist.«79 Als neues soziales Problemfeld, mit dem sich Schule auseinandersetzen müsse, benannte das Papier die rasch wachsende Zahl von Kindern »ausländischer Arbeitnehmer«.80 Nach dem Anwerbestopp 1973 hatte die migrantische Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik durch Familiennachzug kontinuierlich zugenommen. Als ab 1975 das Kindergeld nur noch für die in der Bundesrepublik lebenden Kinder gewährt wurde, holten immer mehr Migrantinnen und Migranten ihre Kinder aus den Herkunftsländern nach. Manche zeitgenössischen Beobachter sahen mit der verstärkten Niederlassung von Migrantenfamilien bereits eine neue Unterschicht im gesellschaftlichen Ordnungsgefüge entstehen.81 Kinder und Jugendliche waren als Schüler vom migrationspolitischen Zielkonflikt des erklärten Nichteinwanderungslandes Bundesrepublik in besonderer Weise betroffen. Das Prinzip »improvisierter Zweigleisigkeit« zwischen einer gesellschaftlichen und schulischen Integration einerseits und der Aufrechterhaltung ihrer »Rückkehrfähigkeit« andererseits wurde auf ihrem Rücken ausgetragen.82 Wissenschaftliche Studien kamen 78 79 80 81 82

Ganztagsschulen. Vorschläge des »Gesprächskreises Bildungsplanung, S. 87. Ebd., S. 89. Ebd., S. 87f. Karen Schönwälder, Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Großbritannien und der Bundesrepublik von den 1950er bis zu den 1970er Jahren, Essen 2001, S. 542. Karin Hunn, »Nächstes Jahr kehren wir zurück ... « Die Geschichte der türkischen »Gastarbeiter« in der Bundesrepublik, Göttingen 2005, S. 293.

Ganztagsschule und der lange Schatten der Gesamtschule

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zu dem Ergebnis, dass der Großteil ausländischer Kinder in der Schule die Zeit absitzen würde, »ohne dem Unterricht folgen zu können«, da kaum in sprachliche Fördermaßnahmen investiert würde. Der »Spiegel« konstatierte Mitte der 1970erJahre, dass die Kultusminister trotz einer eindeutigen Einwanderungssituation noch immer von der Fiktion ausgingen, »die Ausbildung von Ausländer-Kindern in deutschen Schulen sei nur ein vorübergehendes Phänomen«.83 Schon vor der Initiative des Gesprächskreises Bildungsplanung warb Björn Engholm als parlamentarischer Staatssekretär im Bildungsministerium für die Ganztagsschule als migrationspolitisches Instrument. Angesichts der sich von Bundesland zu Bundesland unterscheidenden Praxis der »Beschulung von Ausländerkindern«, die von muttersprachlichen nationalen Ausländerklassen bis hin zur Integration in deutsche Regelklassen reichte, schlug er 1978 vor, vorhandene Schulkomplexe, die wegen rückläufiger Schülerzahlen aufgelöst würden, zu Ganztageseinrichtungen umzubauen.84 Integrationspolitische Vorschläge wie diese blieben indes ohne Folgen. Die Schulen waren bei der Integration von ausländischen Schülern in den Unterricht weitgehend auf ihre eigene Improvisationsfähigkeit zurückgeworfen, wenngleich sich an einigen Hochschulen Lehrerfortbildungen zum Thema »Ausländerpädagogik«, der gleichnamige Studiengang als Zusatz- oder Aufbaustudium sowie das Fach »Deutsch als Fremdsprache« institutionalisierten.85 Neben seiner sozialpolitischen Stoßrichtung zielte das Konzeptpapier des Gesprächskreises Bildungsplanung zum anderen darauf, die Ganztagsschule mit den sich wandelnden gesellschaftlichen Erziehungsvorstellungen zu versöhnen. Es definierte diese Schulform als »wichtigste[n] Partner der Eltern in der Erziehung und Bildung ihrer Kinder, Fähigkeiten und Neigungen der Kinder weiterzuentwickeln sowie ihre Persönlichkeit zu entfalten«.86 Daher dürfe eine Ganztagsschule »keine verlängerte Halbtagsschule mit Mittagessen sein«, sondern müsse zeitliche Rhythmisierung, die »ganzheitliche Förderung« und die »Gewinnung neuer Erfahrungsbereiche« anbieten.87 Die hohe publizistische Wellen schlagende Tagung »Mut zur Erziehung«88 hatte auch im schulpädagogischen Diskurs Fragen nach Ziel und Sinn von Erziehung neu aufgeworfen. Das Papier des Gesprächskreises griff dies auf, wenn es auf die neu konzipierte Rolle des Lehrers abhob: »Den Schüler ganzheitlich als werdende Persönlichkeit zu begreifen, stellt besondere Ansprüche an den

83 84 85 86 87 88

Gemeine Lumpen, Saulgeis – rauswerfen, in: Spiegel, Nr. 53, 26.12.1977. Mehr Ganztagsschulen, in: betrifft: erziehung 11 (1978), Nr. 11, S. 46f. Vgl. dazu auch die Fallstudie zur Gesamtschule Hegelsberg. Ganztagsschulen. Vorschläge des »Gesprächskreises Bildungsplanung«, S. 87 (vgl. Fußnote 77). Wilhelmi, Ganztagsschulen – Ein alternatives schulisches Angebot, S. 38. Ebd., S. 36f.

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Lehrer in der Rolle als Erzieher und Berater, als Partner in Spiel und Freizeit sowie in Interessengruppen.« Der Gesprächskreis Bildungsplanung hielt es offenbar für notwendig darauf hinzuweisen, dass man mit den Vorschlägen keinesfalls Ängste schüren wollte, durch Ganztagsschulen könnte das elterliche Erziehungsrecht in Frage gestellt werden. Man teile »nicht die Bedenken, eine Ganztagsschule schmälere die Erziehungsmöglichkeiten der Eltern und Familien oder trete gar an die Stelle ihrer Erziehungsfunktion«.89 Ausschlaggebend für die Schaffung ganztägiger Schulange­ bote müsse der »Wunsch der Eltern nach solchen Angeboten« sein. Eltern, so wurde mehrfach betont, sollten »Wahlfreiheit« haben. »Es muß also ihrer erzieherischen Verantwortung überlassen bleiben, ob sie statt der Halbtagsschule eine Ganztagsschule für ihre Kinder wählen.«90 In solchen Aussagen scheint der Kompromiss­ charakter des Papiers auf, das ja unterschiedliche politische Positionen bedienen sollte. Die klare Betonung des elterlichen Erziehungsrechts implizierte mit Blick auf konservative Rezipienten die Abgrenzung vom ostdeutschen Beispiel, zumal Teile der CDU im Gesamtschulstreit versuchten, das ganztägige Bildungs- und Erziehungswesen der DDR als abschreckendes Negativklischee zu reaktivieren. Der Gesprächskreis Bildungsplanung hatte zwar das Thema Ganztagsschule wieder auf die öffentliche Agenda gesetzt und institutionell breit adressiert: Neben dem Bundestagssausschuss für Bildung und Wissenschaft, der BLK und KMK gingen die ausgearbeiteten Vorschläge als »persönliches Schreiben« des Bundesbildungsministers an die Spitzenverbände der Wirtschaft, an Gewerkschaften und Kirchen sowie an die kommunalen Spitzenverbände, Lehrerverbände, Familienverbände, schulischen Verbände und Elternverbände.91 Politisch blieb die Initiative jedoch ebenso erfolglos wie der Bildungsgesamtplan insgesamt, denn es gelang nicht, eine Einigung der Länder herbeizuführen. Die festgefrorenen ideologischen Fronten um die Gesamtschule überlagerten jedes bildungspolitische Reformvorhaben. Für die kooperative Bildungsplanung wäre ein parteiübergreifender politischer Wille unabdingbar gewesen, um einen Konsens zwischen Bund und Ländern bzw. zwischen konservativ und sozialdemokratisch regierten Ländern herzustellen. Hier kam erschwerend hinzu, dass man nun auch auf Seiten ehemaliger sozialdemokratischer Bildungsreformer die Möglichkeiten einer effizienten gesamtstaatlichen Bildungsplanung wesentlich skeptischer beurteilte als in der Reformhochphase um 1970.

89 90 91

Ganztagsschulen. Vorschläge des »Gesprächskreises Bildungsplanung«, S. 88 (vgl. Fußnote 77). Ebd., S. 87. Wilhelmi, Ganztagsschulen – Ein alternatives schulisches Angebot, S. 43.

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3.2. Schulische Kinderbetreuung, Familienbilder und Arbeitsmarkt in der Krise Bis Anfang der 1970er-Jahre schienen im gesellschaftspolitischen Programm der sozialliberalen Regierung eine Bildungspolitik, die auf den Ganztagsschulausbau setzte, und eine die Frauenerwerbsarbeit fördernde moderne Arbeitsmarktpolitik ineinanderzugreifen. Um zu verstehen, warum das Projekt Ganztagsschule in den 1970/80er-Jahren kaum vorankam, müssen neben der bildungspolitischen Stagnation auch die Auswirkungen der ökonomischen Krise auf Arbeitsmarkt, Familie und Geschlechterverhältnisse berücksichtigt werden. Nach dem »Boom« schien mit dem Ansteigen der Arbeitslosenzahlen die Nachmittagsbetreuung von Schulkindern als politisches Handlungsfeld für den Staat zunächst verzichtbar geworden zu sein, auch wenn in der Langzeitperspektive die Frauenerwerbsquote und damit auch der Bedarf an öffentlich bereitzustellender Kinderbetreuung anstiegen. Im Folgenden werden die Querverbindungen zwischen der staatlichen Arbeitsmarktund Familienpolitik und der schulischen Halbtagspolitik hinsichtlich der zugrunde liegenden Geschlechterbilder ausgelotet. In den Blick genommen werden zuerst die mit der Rezession einsetzende Trendwende auf dem weiblichen Arbeitsmarkt und die damit einhergehenden Debatten über »neue Weiblichkeit« und »Wahlfreiheit«. Zu fragen ist, inwieweit mit der Stärkung traditioneller Rollenbilder Kinderbetreuung wieder vermehrt als weibliche Aufgabe festgeschrieben wurde. Darüber hinaus soll die Nachfrage von Eltern nach ganztägigen Schulangeboten genauer auf die elterlichen Einstellungen und Erwartungen hin ausgeleuchtet und nach dem damit verbundenen kulturellen Wandel gefragt werden. Frauenerwerbstätigkeit: von der Konjunktur zur Krise Die Geschlechterbeziehungen im Sinne des Partnerschaftsmodells zu modernisieren, gehörte zu den wichtigen Anliegen der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt.92 Junge Frauen waren erzieherisch-schulisch nun nicht mehr auf ihre spätere Hausfrauen- und Mutterrolle vorzubereiten, sondern es galt stattdessen, sie zu befähigen, »das Leben selbst zu gestalten, um es den Frauen zu ermöglichen, sich vom traditionellen weiblichen Rollenbild zu lösen und frei und kritisch ihren Standort und ihre Aufgabe in der Gesellschaft zu wählen«.93 In der ersten Hälfte der 1970er-Jahre hatte sich die öffentliche Meinung zur Erwerbsarbeit von Frauen und Müttern deutlich gewandelt. Nun standen weniger berufstätige Mütter als vielmehr Hausfrauen im erwerbsfähigen Alter unter Rechtfertigungsdruck. Während Haus- und Familien92 93

Die neue Bundesregierung kündigte bereits in ihrer Regierungserklärung im Oktober 1969 an, dass die »Frauenenquête« von 1966 »beschleunigt fortgeführt« werde. Vgl. Eberhard Glaß, Frauenbericht ’72, in: Bundesarbeitsblatt 24 (1973), Nr. 1, S. 8–13. Ebd., S. 9, 10f.

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arbeit ihre in der Nachkriegszeit so hoch veranschlagte gesellschaftliche Anerkennung weitgehend verloren hatte, wurde nun das Recht der Frauen auf Berufsausübung bisweilen auch als deren moralisch-gesellschaftliche Pflicht diskutiert.94 Wissenschaftler, Wirtschaftsvertreter, Gewerkschafterinnen und Regierung propagierten einhellig, dass Mütter mit älteren Kindern wieder in den Beruf zurückkehren sollten.95 Auch das ehemals sehr einflussreiche Argument, die mütterliche Erwerbstätigkeit wirke sich negativ auf die Kindesentwicklung aus, wurde 1970 in einem vom Bundesfamilienministerium in Auftrag gegebenen Gutachten durch Experten entkräftet.96 Auf Befürchtungen, die Bildungsreform könnte dem Arbeitsmarkt zu viele Arbeitskräfte entziehen, reagierte das Bildungsministerium 1971 mit dem Hinweis, dass Frauen und Mütter ein künftig weiter zu erschließendes und zu förderndes Arbeitskräftepotenzial seien. »Die Aussichten [weibliche Erwerbstätigkeit auszuweiten, M.M.] hängen nicht zuletzt davon ab, wie schnell weitere Kindergärten ausgebaut werden und der Übergang zu Ganztagsschulen erfolgt, damit auch Mütter wieder zeitweilig Arbeit aufnehmen können.«97 Diesem Zukunftsszenario war mit der ökonomischen Krise 1973/74 die Grundlage entzogen. Die weibliche Arbeitslosenquote verneunfachte sich zwischen 1972 und 1986 von 1,2 auf 10,5 Prozent, allein zwischen 1978 und 1988 verdreifachte sich die Zahl der registrierten weiblichen Arbeitslosen auf über 1,5 Mio.98 War die Geschlechterordnung des Arbeitsmarktes in den Jahren der Vollbeschäftigung beträchtlich unter Druck geraten – auch durch das Arbeitsförderungsgesetz von 1969, das Frauen erstmals als förderungswürdiges Arbeitskräftepotenzial anerkannte –, vollzog die Arbeitsmarktpolitik nun eine scharfe Bremsbewegung gerade in Bezug auf Frauen.99

94 Vgl. zu dieser Diskussion das Kap. »Erwerbstätigkeit – Recht oder Pflicht der Frau« mit vielen Beispielen bei Rosemarie Nave-Herz, Das Dilemma der Frau in unserer Gesellschaft: Der Anachronismus in den Rollenerwartungen, Neuwied/Berlin 1972, S. 52ff. 95 Brigitte, 1969, Nr. 19, S. 129. 96 Ursula Lehr, Die Rolle der Mutter für die Entwicklung des Kindes – überbewertet oder unterbewertet, in: Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt. Organ des Deutschen Instituts für Vormundschaftswesen 62 (1975), Nr. 10, S. 413–420. 97 BAK, B 136/9113, Schreiben des BM Bildung und Wissenschaft an Bundeskanzleramt, BM Wirtschaft, MB Arbeit und Sozialordnung, Betr. 3. Entwurf für den Bildungsgesamtplan und ein Bildungsbudget vom 26.5.1971. 98 Zahlen bei Friederike Maier, Zwischen Arbeitsmarkt und Familie. Frauenarbeit in den alten Bundesländern, in: Helwig/Nickel, Frauen in Deutschland 1945–1942, Bonn 1993, S. 257–279, hier S. 259. 99 Vgl. zum Folgenden: Monika Mattes, Krisenverliererinnen? Frauen, Arbeit und das Ende des Booms, in: Andresen/Bitzegeio/Mittag, Nach dem Strukturbruch, S. 127–140, und dies., Reformen und Krisen. Ganztagsschule und Frauenerwerbstätigkeit in der Bundesrepublik, in: Paulus/Silies/Wolff, Zeitgeschichte als Geschlechtergeschichte, S. 179–201.

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Mit Krise und Massenarbeitslosigkeit verloren Anliegen wie »Emanzipation« und »Gleichberechtigung« ihre gesellschaftspolitische Dringlichkeit.100 Frauen wurden gerade auch durch die Praxis der Arbeitsämter zugunsten der Arbeitsplatzsicherung für männliche Ernährer wieder stärker auf den Familienbereich verwiesen. So verweigerten diese etwa erwerbslos werdenden Frauen mit betreuungsbedürftigen Kindern die staatliche Arbeitslosenunterstützung mit dem Hinweis, dass sie dem Arbeitsmarkt nicht zu den »üblichen Bedingungen« zur Verfügung stünden.101 Die feministische Zeitschrift »Courage« brachte es auf den Punkt mit dem Hinweis, dass »Frauen den Skandal der fehlenden öffentlichen Kinderversorgung mit dem Verzicht auf Arbeitslosenunterstützung bezahlen«.102 Das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung errechnete für den Zeitraum zwischen September 1974 und September 1975 unter der Gesamtzahl der arbeitslosen Frauen mit Kindern einen »Abgang« von 44 Prozent, d.h. diese Frauen tauchten anschließend auch nicht mehr in der Erwerbslosenstatistik auf.103 Waren Hausfrauen und Mütter noch 1973 von den Arbeitsämtern durch Trainings, Schnellkurse und Schulungen als Arbeitskräfte umworben worden, lehnte man ihre Wünsche nach Umschulung nur zwei Jahre später mit dem Hinweis ab, »mit einem Mann und zwei Kindern hätten sie ja wohl zu Hause genug zu tun«.104 Mit der ansteigenden Arbeitslosigkeit schien sich zunächst die These von der weiblichen Reservearmee, die sich am Ende des Booms »zurück an den Herd«105 schicken lässt, zu bestätigen. Der politische Handlungsbedarf, außerhäusliche Kinderbetreuungslösungen zu schaffen, schien nun geringer, zumal das öffentliche Meinungsklima wieder verstärkt ein traditionelles Geschlechterrollenkonzept favorisierte. Retraditionalisierung von Geschlechterbildern Mit den reformkritischen Debatten um Erziehungswerte, öffentliche Betreuung und kindlichen »Schulstress« formte sich etwa Mitte der 1970er-Jahre ein Gegendiskurs zu dem in den Reformjahren entstandenen öffentlich-politischen Konsens, mit dem Müttererwerbstätigkeit und institutionalisierte Kinderbetreuung zuneh100 Mattes, Krisenverliererinnen. 101 Vgl. die Zahlen bei Maier, Zwischen Arbeitsmarkt und Familie, in: Helwig/Nickel (Hg.), Frauen in Deutschland 1945–1992, S. 259. 102 Geld vom Arbeitsamt, in: Courage 1977, Nr. 1, S. 38f. 103 Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, zitiert nach: ebd., S. 39. 104 Aussagen von betroffenen Hausfrauen in der WDR-Hörfunk-Sendung »Daheim und Unterwegs«, WDR II, 26.8.1975, zitiert nach Claudia Pinl, Das Internationale Jahr der Frau und die Bundesrepublik – Versuch einer vorläufigen Bilanz, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 1975, Nr. 11, S. 678–685, hier S. 682f. 105 Herta Däubler-Gmelin, Frauenarbeitslosigkeit oder Reserve zurück an den Herd!, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 185f.

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mend als Normalität moderner Industriegesellschaften akzeptiert worden waren.106 Die konservative Gegenströmung speiste sich nicht zuletzt aus der Ablehnung, auf die die Frauenbewegung mit ihrer radikalen Verneinung des Geschlechtervertrags der bürgerlich-patriarchalen Familie gestoßen war. Zu einer ersten medienwirksamen Debatte über den etwaigen negativen Einfluss öffentlicher Betreuungseinrichtungen kam es mit dem Entschluss der Bundesfamilienministerin Katharina Focke 1973, zusammen mit vier Bundesländern ein dreijähriges Modellprojekt »Tagesmütter« nach schwedischem Vorbild zu initiieren. Dieses Projekt rief umgehend eine Gruppe von Kinderärzten, Psychiatern, Verhaltensbiologen und konservativen Politikern auf den Plan, die sich bei der Kinderbetreuung vehement und öffentlichkeitswirksam gegen jegliche Form von »Fremdbetreuung« und »mütterlicher Deprivation« aussprachen und einen Zusammenhang zwischen Müttererwerbstätigkeit und Verhaltensauffälligkeiten von Kindern konstruierten. Der Erregungsgrad der Debatte war unter anderem zurückzuführen auf die späte und verkürzte Rezeption der angloamerikanischen Hospitalismusforschung in der Bundesrepublik mit der Folge, dass die »Mutterentbehrung« von Heimkindern auf die Situation von Kindern berufstätiger Mütter übertragen wurde. Hinzu kamen psychoanalytische und tiefenpsychologische Ansätze, die Kindern psychische Folgeschäden aufgrund mütterlicher Erwerbsarbeit prognostizierten.107 Solche Debatten unterhöhlten die gesellschaftliche Akzeptanz öffentlicher Betreuungseinrichtungen auch für ältere Kinder. Es verwundert daher kaum, dass Kinderärzte auch bei dem zeitgleich wieder aufflammenden Thema der schulischen Fünftagewoche vor Überlastung der Kinder durch eine zu hohe Stoffverdichtung warnten.108 Mitte der 1970er-Jahre konstatierten feministische Journalistinnen wie Claudia Pinl »eine Art konservative Hausfrauen-Renaissance« in der Bundesrepublik.109 Die erste soziologische Studie über nichterwerbstätige Frauen von Helge Pross, die im Auftrag der überwiegend von Hausfrauen der Mittelschicht gelesenen Frauen-

106 Vgl. Kap. 2.2. 107 1972 erschien die einflussreiche Studie des britischen Kinderarztes und Psychoanalytikers John Bowlby von 1951 über den Zusammenhang von mütterlicher Pflege und seelischer Gesundheit auf Deutsch unter dem Titel: Mutterliebe und kindliche Entwicklung, München/ Basel 1972. Vgl. zu dieser Debatte: Brigitte, 1975, Nr. 10, S. 118–125; Yvonne Schütze, Mütterliche Erwerbstätigkeit und wissenschaftliche Forschung, in: Uta Gerhardt/Yvonne Schütze, Frauensituation. Veränderungen in den letzten zwanzig Jahren, Frankfurt/M. 1988, S. 114–138, hier 124ff.; auch Kolbe, Elternschaft im Wohlfahrtsstaat, S. 151ff. und S. 173f. 108 Vgl. z.B. Die Politik der Stunden, in: Deutsche Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 11, 16.3.1975. 109 Claudia Pinl, Das Internationale Jahr der Frau; Erziehungsgeld – ja oder nein?, in: Emma, August 1977, S. 23; Lohn für Hausarbeit, in: Courage 1976, Nr. 3, S. 16–18; vgl. auch: Heile Welt, in: Spiegel, Nr. 10, 4.3.1974.

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zeitschrift »Brigitte« entstand,110 attestierte Hausfrauen eine subjektive Zufriedenheit bei gleichzeitig objektiver Benachteiligung und finanzieller Abhängigkeit. Mit Schlagzeilen in der »Bild«-Zeitung wie »Unsere Hausfrauen sind zufrieden« popularisierte die Boulevardpresse den Befund.111 Zeitgleich begann die öffentliche Diskussion über eine Bezahlung von elterlicher Erziehungsarbeit. Die CDU/CSU unternahm mit dem Gesetzesantrag über die Einführung von Erziehungsgeld für Mütter im Jahr 1974 erste Vorstöße, eine familienpolitische Wende einzuleiten.112 Wenn die Christdemokraten dabei Mutterschaft, Hausarbeit und Kindererziehung expliziter als zuvor als Arbeit definierten, knüpften sie rhetorisch geschickt an die kontroverse Debatte über »Lohn für Hausarbeit« innerhalb der autonomen Frauenbewegung an.113 Zu diesem Zeitpunkt kristallisierten sich in der Frauenbewegung bereits mehrere Strömungen heraus, die in unterschiedlichem Maß weibliche Differenz betonten und Positionen selbstbestimmter »Weiblichkeit« und »neuer Mütterlichkeit« vertraten.114 Ende der 1970er-Jahre förderte der als dramatisch wahrgenommene Geburtenrückgang einen sozial- und familienpolitischen Diskurs, der einen ursächlichen Zusammenhang zwischen weiblicher Erwerbstätigkeit und Kinderzahl herstellte und »Wahlfreiheit« für Frauen zwischen Beruf und Familie forderte. Nicht allein in der CDU, auch in der Bildungsdiskussion von SPD und Gewerkschaften wurde Kindererziehung wieder verstärkt als weibliche Aufgabe definiert.115 Das unter der neuen konservativen Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl verabschiedete Erziehungsgeldgesetz von 1986, mit dem privat geleistete Erziehungsarbeit erstmals monetär anerkannt wurde, orientierte sich am überkommenen Ernährer-Hausfrau/ Zuverdienerin-Modell.116 Offenbar erschien es weiterhin opportun, in wirtschaft110 Helge Pross, Die Wirklichkeit der Hausfrau. Die erste repräsentative Untersuchung über nichterwerbstätige Ehefrauen. Reinbek bei Hamburg 1975. 111 Heile Welt, in: Spiegel, Nr. 10, 4.3.1974. 112 Sarah Summers, Mehr Möglichkeiten für Mütter? Die Erziehungsgelddebatte und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in Westdeutschland, in: Paulus/Silies/Wolff, Zeitgeschichte als Geschlechtergeschichte, S. 169–178; auch Karin Jurczyk, Frauenarbeit und Frauenrolle. Zum Zusammenhang von Familienpolitik und Frauenerwerbstätigkeit in Deutschland von 1918–1975, Frankfurt/M. 1977, S. 117ff. 113 Ilse Lenz (Hg.), Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden, 2. Aufl. 2010 , S. 155ff. 114 Imke Schmincke, Von der Politisierung des Privatlebens zum neuen Frauenbewusstsein: Körperpolitik und Subjektivierung von Weiblichkeit in der Neuen Frauenbewegung Westdeutschlands, in: Paulus/Silies/Wolff, Zeitgeschichte als Geschlechtergeschichte, S. 297-317. 115 Peter Kaßner, Auf dem Weg zur Ganztagsbetreuung, in: Tobias Rülcker (Hg.), Modell Berlin. Schule und Schulpolitik in Berlin in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2007, S. 103–111. 116 Vgl. Kolbe, Elternschaft im Wohlfahrtsstaat, S. 167ff.

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lichen Krisenzeiten die Familie als weibliche Option zu stärken. Für vergleichsweise wenig Geld sollten sich Mütter nunmehr wieder verstärkt der Kindererziehung widmen und damit die Arbeitsmarktstatistik entlasten. Die rhetorische Aufwertung von familiärer bzw. mütterlicher »Erziehungsarbeit« auf der einen Seite korrespondierte mit der verstärkt geäußerten Unzufriedenheit gegenüber der Institution Schule auf der anderen Seite. Die Schulkritik blieb dabei nicht auf konservative Kreise beschränkt. So pflichtete etwa die gewerkschaftseigene Wochenzeitung »Welt der Arbeit« einer im Auftrag des SPDregierten Kultusministeriums Nordrhein-Westfalen entstandenen Studie bei, die zu dem Ergebnis kam, dass »in der Euphorie der 60er Jahre die Wirkungsmöglichkeiten der Schule überschätzt« und die der Familie unterschätzt worden seien. Die »Emanzipationsdiskussion«, so lautete der Tenor, habe »nur eine industrielle Reservearmee von Frauen mobilisiert«. Es brächten »jene Kinder die besten Leistungsvoraussetzungen für die Schule mit, die aus Familien kommen, in denen nur ein Elternteil arbeitet«.117 Dass Mütter den nichterwerbstätigen Elternteil bildeten, der sich der Hausaufgabenbetreuung der Kinder widmete, verstand sich dabei von selbst. Eine derart klare normative Bekräftigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, wie sie seit der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre im Kontext neokonservativer Diskurse wieder öffentlich an Terrain gewann, stützte ohne Zweifel vorherrschende gesellschaftliche Zeitmodelle wie die Halbtagsschule. Dennoch: Werden die Diskurse über Schule, Arbeit und Geschlechterbeziehungen zueinander in Beziehung gesetzt, erscheinen die Jahre nach dem »Boom« eher als mentale und normative Übergangszeit, in der grundlegende Neuaushandlungen in diesen gesellschaftspolitischen Fragen anstanden und divergierende Werte und Normen in der vielzitierten »neuen Unübersichtlichkeit« ( J. Habermas) nebeneinander standen.118 Arbeitsmarkt, erwerbstätige Frauen und Kinderbetreuung In längerer Perspektive sind gesellschaftliche Entwicklungstrends nicht zu übersehen, die eine partielle Abwendung vom tradierten Ernährer-Modell als Folge von Bildungsreformen, Arbeitsmarktentwicklung und feministischen Diskursen anzeigen: Die Erwerbsbeteiligung von Frauen und Müttern stieg seit Ende der 1970er-Jahre kontinuierlich an. Betrug die Erwerbsquote bei Frauen im Alter zwischen 15 und

117 Die Familie ist wichtiger als Kindergarten und Schule, in: Welt der Arbeit, Nr. 51/52, 21.12 1978. 118 Zur Historisierung des sozialwissenschaftlichen Paradigmas des Wertewandels vgl. Rödder u.a., Alte Werte – Neue Werte, Göttingen 2008; auch Isabel Heinemann, Wertewandel, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22.10.2012, http://docupedia.de/zg/ Wertewandel?oldid=84709 (Stand: 20.7.2014).

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65 Jahren im Jahr 1972 47,6 Prozent, waren es 1989 bereits 55,5 Prozent.119 Bei Müttern mit Kindern unter 15 Jahren erhöhte sich die Erwerbsquote von 34 Prozent 1970 auf 41 Prozent 1980. Mädchen und junge Frauen profitierten von der Bildungsreform, zu deren Hauptzielgruppen sie gehörten. Schulausbau und weit­ gehende Umstellung auf koedukativen Unterricht begleiteten den Aufholprozess der Mädchen während der bildungspolitischen Reformphase. Besuchte im Jahre 1960 von allen 14-jährigen Mädchen nur jede Vierte ein Gymnasium, war es 1980 bereits jede Zweite. Immer mehr junge Frauen entschieden sich für ein Studium. So stieg die Quote weiblicher Studienanfänger von 25 Prozent im Jahr 1969 auf 43 Prozent 1980.120 Auf diskursiver Ebene trugen die internationalen feministischen Debatten dazu bei, dass die Geschlechterdifferenz nicht mehr explizit zur Legitimierung der Geschlechterhierarchien auf dem Arbeitsmarkt herangezogen werden konnte. Im Zeichen von »Chancengleichheit« durfte die nunmehr mit sozialem Rollenverhalten und nicht mehr biologisch begründete Geschlechterdifferenz für Mädchen den Zugang zu höherer Schulbildung nicht mehr behindern, sondern sollte diese vielmehr besonders dazu ermutigen.121 Die Entwicklung des weiblichen Arbeitsmarktes nach dem »Boom« trug zumindest mittelbar zur Festigung des bestehenden schulischen Halbtagssystems bei. Mit den Bildungsreformprozessen auf der einen Seite und dem wirtschaftlichen Strukturwandel, der mit der Expansion bestimmter Bereiche des Dienstleistungssektors verbunden war, auf der anderen Seite ergibt sich ein ambivalentes Bild, das auf eine wachsende Polarisierung unter den erwerbstätigen Frauen hinweist. Eine kleine, wenn auch allmählich größer werdende Gruppe von Frauen drang in qualifizierte Angestelltentätigkeiten bzw. prestigereiche Berufe in vormaligen Männer­ domänen vor (z.B. Studienräte, Ärzte, Anwälte). Abiturientinnen, die sich für ein Studium entschieden, wählten häufig den Lehrerinnenberuf. Gerade unter jungen Frauen wurde in den 1960/70er-Jahren aufgrund des Lehrermangels für eine entsprechende Ausbildung als Grund- oder Volksschullehrerin, aber auch für das höhere Lehramt stark geworben. Einen besonderen Anreiz schuf man durch die Möglichkeit, während der »Familienphase« mit Rückkehrgarantie zeitweilig auszusteigen und nach dem beruflichen Wiedereinstieg die Stundenzahl wegen familiärer Verpflichtungen zu reduzieren. Indem der ursprünglich zölibatär angelegte Lehrerinnenberuf für Frauen eine optimale Vereinbarung von Beruf und Familie zu gewähr-

119 Maier, Zwischen Arbeitsmarkt und Familie, S. 259. 120 Ute Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt/M. 1986, S. 261; Gass-Bolm, Gymnasium, S. 430. 121 Gass-Bolm, Gymnasium, S. 251ff.

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leisten versprach, setzte sich die Feminisierung dieses Berufszweiges rasch fort.122 Anfang der 1970er-Jahre betrug der Frauenanteil unter Studienräten bereits rund 40 Prozent.123 Unter Grundschullehrern nahm er noch stärker zu. 1977 waren fast zwei Drittel aller Pädagogikstudenten weiblich bzw. 80 Prozent aller Lehrer unter 25 Jahren. Die Halbtagsstruktur des westdeutschen Schulwesens trug zur Attraktivität des Lehrerinnenberufs für Frauen zweifellos bei. Aus feministischer Perspektive wurde die besondere Familienkompatibilität bereits in den 1970er-Jahren kritisch bewertet: Immer mehr Frauen wollen heute einen Beruf ausüben, der des Lehrers erscheint ihnen dafür besonders geeignet: die Ausbildung ist relativ kurz und finanziell erschwinglich. [...] Die gegenüber anderen Berufen größere Freiheit in der Zeitgestaltung führt zu der Vorstellung, daß Lehrerinnen ihrer Doppelrolle als Berufstätige sowie Hausfrau und Mutter besonders gerecht werden könnten. Das drängt Frauen geradezu in diesen »typischen Frauenberuf«.124

Auf der anderen Seite schien die wachsende Erwerbsbeteiligung von Frauen mit der Tertiarisierung und dabei insbesondere mit der Ausweitung zumeist wenig gesicherter und qualifizierter Teilzeitarbeitsplätze einherzugehen, die schlecht bezahlt und ohne Aufstiegsmöglichkeiten waren. Derartige Beschäftigungsverhältnisse richte­ten sich an verheiratete Frauen, die zusätzlich von einem männlichen Ernährereinkommen abhängig waren.125 Teilzeitarbeitnehmerinnen benötigten zwar in der Regel keine Ganztagsbetreuung für ihre Kinder. Allerdings waren diese Frauenarbeitsplätze nur bedingt kompatibel mit dem bestehenden Halbtagsschulsystem. Gerade im Grundschulbereich verhinderten nicht verlässliche Unterrichtszeiten, die teilweise bereits vor der Mittagszeit endeten, die Ausübung selbst einer Teilzeitbeschäftigung.126 Arbeitsmarktentwicklung, Familienpolitik und die bestehende Halbtagsschule standen in einem gegenseitig funktionalen Wirkungsverhältnis zueinander, wodurch das Ernährer-Modell neu stabilisiert und das Problem der Nachmittagsbetreuung 122 Vgl. hierzu allgemein Peter Lundgreen (Hg.), Die Lehrer an den Schulen in der Bundes­ republik Deutschland 1949–2009, Göttingen 2013. 123 Gunilla-Friederike Budde, Paradefrauen. Akademikerinnen in Ostdeutschland, in: dies. (Hg.), Frauen arbeiten. Weibliche Erwerbstätigkeit in Ost- und Westdeutschland nach 1945, Göttingen 1997, S. 183–211, hier S. 194. 124 Renate Mreschar, Zufrieden in der Sackgasse? Lehrerinnen machen selten Karriere – Motive für einen »typischen Frauenberuf«, in: Erziehung und Wissenschaft 29 (1977), Nr. 10, S. 37f. 125 Elke Holst/Friederike Maier, Normalarbeitsverhältnis und Geschlechterordnung, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 31 (1998), Nr. 3, S. 506–518. 126 Hagemann, Between Ideology and Economy, S. 226f.

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von Kindern nach wie vor als Privatangelegenheit betrachtet werden konnte. Der gebremste Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen in den 1970/80er-Jahren spiegelt diese Konstellation wider: Der Kindergartenbau war lediglich während einer kurzen, durch die Bildungsreform angestoßenen Phase mit dem bildungspolitischen Ziel der frühkindlichen Förderung vorangetrieben worden.127 Dadurch stieg die Betreuungsquote bei den drei- bis sechsjährigen Kindern zwischen 1970 und 1980 von 38 Prozent auf 79 Prozent an.128 Allerdings waren die Kindergärten fast ausschließlich halbtägig offen bzw. durch eine mittägliche Schließzeit in einen Vormittagsund Nachmittagsbetreuungsblock zweigeteilt und machten es Müttern nahezu unmöglich, auch nur Teilzeit zu arbeiten. Wesentlich schlechter war es um die Betreuung für Kleinkinder unter 3 Jahren bestellt.129 Auch bei Schulkindern war das Angebot nachmittäglicher Betreuung verschwindend gering. Der Ausbau von Ganztagsschulen blieb – wie oben ausgeführt – seit Mitte der 1970er-Jahre auf niedrigstem Niveau stecken und sollte sich vor allem auf Sonderschulen konzentrieren. Noch 1988 waren von allen allgemeinbildenden Schulen der Bundesrepublik nur 3,3 Prozent Ganztagsschulen.130 Die Tatsache, dass sich die absolute Zahl der Ganztagsschulen von 300 im Jahre 1978 auf 629 1988 verdoppelt hatte, fiel prozentual kaum ins Gewicht. 1988 wurden ingesamt 4041 Angebote an ganztägiger Betreuung gezählt: Neben den 629 Ganztagsschulen und 191 Heimen/Internaten machten 3169 Horte mit 78,4 Prozent den mit Abstand größten Teil der Nachmittagsbetreuung aus.131 Das unzureichende Angebot unterschied sich zudem stark nach Schularten und Regionen. Im besonders betreuungsintensiven Primarbereich lag der Anteil an Ganztagsschulen an allen Grundschulen unter 1 Prozent. Dort erfolgte die ganztägige Betreuung weitgehend in Horten. Nur jeder 18. Grundschüler, d.h. 5,5 Prozent aller Grundschüler wurden in einem Hort oder einer Ganztagsschule ganztägig betreut. Bei Schülern der Sekundarstufe 1 (5.–10. Klasse) lag der Anteil bei 8,4 Prozent. In der Regel war die Versorgung mit Nachmittagsbetreuung in größeren Städten besser als in ländlichen Regionen.132 Eltern und Ganztagsschule – eine Annäherung Verschiedene kommunale Umfragen und Bedarfserhebungen zeigen, dass es unter Eltern in den 1970er- und 1980er-Jahren einen gleichbleibend hohen Anteil von rund 40 Prozent gab, der auf die Frage »Es sollten mehr Ganztagsschulen eingerichtet 127 Vgl. Kuller, Familienpolitik, S. 285ff. 128 Hagemann, Between Ideology and Economy, S. 236; Günter Erning/Karl Neumann/Jürgen Reyer, Geschichte des Kindergartens, Bd. 2, Freiburg 1994, S. 37. 129 Kolbe, Elternschaft im Wohlfahrtsstaat, S. 370f. 130 Manfred Kuthe, Angebote ganztägiger Betreuung, in: Bargel/Kuthe, Ganztagsschule, S. 61. 131 Bargel/Kuthe, Ganztagsschule, S. 44. 132 Ebd., S. 52, 106, 110.

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werden« mit Ja antwortete. Ein ebenso großer Anteil der Befragten verneinte diese Frage.133 Die Schulforscher Tino Bargel und Manfred Kuthe, die eine Sekundäranalyse der vorhandenen Erhebungen vornahmen, schlossen aus diesem disparaten Befund, dass die Zustimmung oder Ablehnung in Bezug auf die Ganztagsschule von weiteren Faktoren, insbesondere vom jeweiligen Schultyp und vom sozialen Hintergrund der Befragten, abhängig sei. Tendenziell befürworteten mehr Hauptschulund Gesamtschuleltern die Ganztagsschule, während Gymnasialeltern diese eher ablehnten.134 Um Einflussfaktoren wie die Familienkonstellation der Befragten auf die Nachfrage nach und Akzeptanz von Ganztagsschulen zu überprüfen, zogen Bargel und Kuthe unter anderem eine Umfrage der Dortmunder Arbeitsstelle für Schulforschung (AFS) von 1980 heran mit dem wenig überraschenden Ergebnis, dass mehr alleinerziehende (45 Prozent) als verheiratete Eltern (37 Prozent) der Aussage »Es sollten mehr Ganztagsschulen eingerichtet werden« zustimmten. Bemerkenswerter erscheint indes der Befund, dass zwischen der Berufstätigkeit von Müttern und der Forderung nach Ganztagsschulen eine weniger ausgeprägte Korrelation bestand, als man erwarten könnte; vielmehr war sowohl unter berufstätigen und nichtberufstätigen Müttern die Nachfrage nach Ganztagsschulangeboten relativ hoch.135 Derartige Umfrageergebnisse sind nur eingeschränkt aussagekräftig. Die FrageItems und die Bewertung der Aussagen unterliegen Normalitätsannahmen und kulturellen Konstrukten, die genauer zu analysieren wären. Die auf der Seite der Befragten bestehenden Vorstellungen, Assoziationen und mentalen Dispositionen gegenüber dem Begriff »Ganztagsschule« entziehen sich weitgehend der wissenschaftlichen Kontrolle. Wenn in den 1970er-Jahren nach den elterlichen Einstellungen und Erwartungen gegenüber der Ganztagsschule gefragt wird, ist immer auch zu berücksichtigen, dass Ganztagsschulen im gesellschaftlichen Kollektivbewusstsein gemeinhin gar nicht präsent waren, da es zum einen diese Schulform kaum gab und zum anderen nicht alle schulischen Nachmittagsangebote unter dieser Bezeichnung firmierten. Auch hingen bei Pro- und Contra-Befragungen zur Ganztagsschule die elterlichen Antworten davon ab, ob die eigenen Kinder eine solche Schule besuch-

133 Ebd., S. 140f. 134 Ebd., S. 143f. 135 Bargel/Kuthe rahmen diesen Wert in ihrer Studie durch weitere Daten: zum einen aus der Umfrage des Frankfurter Stadtschulamtes von 1969, nach der 54 Prozent der berufstätigen und 42 Prozent der nichtberufstätigen Mütter Ganztagsschulangebote bejahen, und durch eine Meinungsumfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach von 1985, nach der 58 Prozent der berufstätigen und 41 Prozent der nichtberufstätigen Mütter dies tun. Bargel/ Kuthe, Ganztagsschule, S. 150.

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ten oder nicht. Lagen eigene Erfahrungen mit Ganztagsschulen vor, fiel die Zustimmung wesentlich höher aus.136 Hinzu kam, dass Ganztagsschulen und Gesamtschulen im öffentlichen Schuldiskurs der 1970/80er-Jahre gleichgesetzt wurden – unabsichtlich oder aber politisch absichtsvoll, um diese Schulform zu diskreditieren. Mit der Reideologisierung bildungspolitischer Fragen sahen manche bürgerlichen Eltern in Ganztagsschulen wieder vermehrt unerwünschte sozialistische Verstaatlichungstendenzen in der Erziehung. Indem insbesondere die Unionsparteien in den Auseinandersetzungen um die Gesamtschule auf eine gegen das ganztägige Einheitsschulsystem der DDR gerichtete Rhetorik zurückgriffen, entstand ein Resonanzraum, der ablehnende Haltungen gegenüber der Ganztagsschule vermutlich verstärkte.137 Aber auch von wissenschaftlicher Seite wurden das öffentliche Meinungsklima beeinflussende, pädagogische Schreckensszenarien über die ostdeutsche Ganztagspädagogik geliefert: So beschrieb zum Beispiel Hans Mieskes, ein aus der DDR geflüchteter Erziehungswissenschaftler und Experte für das ostdeutsche Schulwesen, die ostdeutsche Tagesschule zu einem Zeitpunkt, als dieses Reformprojekt längst ad acta gelegt worden war:138 Die Erstarrung, Vereinseitigung des Schüleralltags sind mit Händen zu greifen. Wo bleibt, fragt man besorgt, das für das Kind unaufgebbare existenzielle Minimum an zweckfreier Lebensäußerung, wo die erforderliche Freiheit, wenigstens über etliche Augenblicke seines Tagesablaufs eigenständig verfügen zu dürfen? Der Hospitalismus kann ins Grenzenlose steigen! Die DDR-Tagesschule gleicht strukturell einer anhaltenden, zeitlich voll ausgeschöpften und arbeitsmäßig anstrengenden Klausurtagung auf Dauer. Wer wollte sie ertragen! Wer könnte es! Das Kind muß einfach.139

Die Einstellungen von Eltern gegenüber der Ganztagsschule lassen sich nur in Form einer Annäherung beschreiben. Dabei können über die teilweise hochselektiven und suggestiven Meinungsumfragen hinaus weitere qualitative Quellen herangezogen werden, in denen sich Eltern oder Pädagogen über elterliche Erwartungen an die Schule und deren Zeitorganisation äußern. Da eine Historisierung der hochgradig 136 Bargel/Kuthe unterscheiden zwischen Meinungsumfragen, Nachfrageerhebungen und Akzeptanzumfragen und reflektieren die Aussagekraft ihrer Daten kritisch. Vgl. Bargel/ Kuthe, Ganztagsschule, 138ff. 137 Vgl. die Hinweise bei Führ, Deutsches Bildungswesen seit 1945, S. 15; indirekt auch: Bargel/ Kuthe, Ganztagsschule, S. 3. 138 Vgl. das Kap. »Blickwechsel: Schule und ganztägige Bildung und Erziehung in der DDR der 1950er- und 1960er-Jahre«. 139 Hans Mieskes, Die Pädagogik der DDR in Theorie, Forschung und Praxis. Entwicklung und Entwicklungsstand, Zweiter Teil: Das pädagogische Gesicht der Erziehungs- und Bildungswirklichkeit in der DDR, Oberursel/Ts. 1971, S. 202f.

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politisierten Schuldebatten der 1970/80er-Jahre noch weitgehend aussteht, kann es im Folgenden lediglich um einen ersten Sondierungsversuch gehen, um die von der zeithistorischen Wertewandelsforschung konstatierte Verdichtung mentaler und normativer Transformationsprozesse am Beispiel des Verhältnisses von Eltern und Schule auszuleuchten. Die elterlichen Erwartungen und Projektionen auf (Ganztags-)Schule schienen sich seit den 1970er-Jahren weiter ausdifferenziert zu haben. Anders als in den 1960erJahren, wo vorrangig Eltern bildungsferner Schichten, die ihre Kinder bei Schulaufgaben nicht unterstützen konnten, von einer ganztägigen Schule »Chancengleichheit« durch Förderung erwarteten, schien die Ganztagsschule nun vermehrt auch für gebildete jüngere Mittelschichteltern, d.h. der Trägerschicht des historisch so schwer zu fassenden Wertewandels,140 zur Projektionsfläche für ihre veränderten Erwartungen an Schule zu werden. Erfahrungen des eigenen Bildungsaufstiegs, die politisch-kulturelle Sozialisation nach »1968« und entsprechende Werteverschiebungen durch Liberalisierung und Individualisierung führten zu wachsenden elterlichen Ansprüchen an Schule, insbesondere nachdem die Bildungsreform politisch stillgelegt worden war. So resümierte zum Beispiel eine Mutter und schulische Elternvertreterin aus weiblich-feministischer Sicht ihre Erfahrungen mit einer Schule, welche nicht nur die Kinder überlaste, sondern auch als Halbtagsveranstaltung Müttern den Part der Kinderbetreuung und Hausaufgabenkontrolle selbstverständlich zuweise: Wir haben uns, ohne darüber nachzudenken, an Zustände, an Missstände [sic] gewöhnt, die in Zusammenhang mit Schule gebracht werden. Wir haben uns daran gewöhnt, Schule mit Unfreude, Streß, frühzeitigem Konkurrenzkampf, Ausleseverfahren, Chancenverteilung gleichzusetzen. Mütter, und besonders die berufswilligen oder schon berufstätigen, empfinden Schule als ständige Bedrohung für ihren eigenen gehetzten Stundenplan. Besonders in der Grundschule, wo Kindern noch nicht so ohne weiteres ohne Betreuung in der Wohnung bleiben können, ist es eine schlimme Sache, wenn die Schule, statt wie im Stundenplan vorgesehen um 13 Uhr, schon um 10 Uhr aus ist. Wir haben uns scheinbar daran gewöhnt, denn die wenigsten mucken dagegen auf. Die Schule rechnet fest auf die Mütter, die »Hilfslehrer der Nation«, wenngleich die Kritik daran massiver geworden ist. Entschuldigt und befreit sind nur diejenigen unter den Frauen, die »arbeiten müssen«. Von »arbeiten wollen« ist in diesem Zusammenhang ohnehin nie die Rede.141

Elterliche Unzufriedenheit mit dem Halbtagsschulsystem führte indessen nicht zu einer breiten Mobilisierung von Eltern für die Idee der Ganztagsschule. Vielmehr schienen sich in den 1970/80er-Jahren bei Eltern die Vorstellungen darüber, was eine »gute Schule« ausmache, im Fluss zu befinden. Auch bei der Ganztagsschule ging 140 Rödder u.a. , Alte Werte – Neue Werte. 141 Monika August-Neukirchen, Ganztagsschule – aus der Sicht der Eltern, in: Gewerkschaftliche Bildungspolitik, 30 (1979), Nr. 4, S. 91–97, hier 92.

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es offenbar vielen Eltern weniger um das grundsätzliche Für und Wider, sondern vielmehr um konkrete, den schulischen Einzelfall betreffende Fragen wie Unterrichtsinhalte, Leistungsbewertung, Freiräume für Schüler etc. So zeigen Bargel und Kuthe auf der Basis ihrer Datenauswertung, dass für die befragten Eltern Aspekte wie »Leistung« und »Wohlfühlen« des Kindes in der Schule in jedem Fall weit vor der Frage der Schulzeitgestaltung standen.142 Der Befund, dass es auf Akteure und Praxis der individuellen Schule ankam, entsprach auch dem Trend in der Schulpädagogik, die nach der unentschiedenen Systemfrage, Gesamtschule versus dreigliedriges Schulsystem, den Blick nun vor allem auf die Qualität der Einzelschule richtete.143 Offenbar war es eine Mischung aus dem weit verbreiteten elterlichen Unbehagen gegenüber immer neuen Schulreformen, traditionellen Befürchtungen einer »Verschulung« des kindlichen Alltags und dem zeitgenössischen Humanisierungsdiskurs, die die Aussicht auf die ganztägige schulische Anwesenheit von Kindern wenig reizvoll erscheinen ließ. Dass eine Ganztagsschule auch Zeit »fürs Träumen, fürs ›Gammeln‹ und auch für den ganz ungezwungenen Kontakt mit Gleichaltrigen« bieten könnte, wie es auf einer Tagung 1980 hieß, brachten die wenigsten mit dieser Schulform in Verbindung.144 Hinzu kamen die Erfahrungen mit kurzlebigen und unbefriedigenden Ganztagsschulversuchen in den Reformjahren. So resümierte man in der kritischen, im Umfeld der Studentenbewegung entstandenen Zeitschrift »betrifft: erziehung«, die sich der Idee der ganztägigen integrierten Gesamtschule verpflichtet sah, die reale Umsetzung des Projekts Ganztagsschule Ende der 1970er-Jahre eher ernüchtert: Ganztagsschulen sind in der Vergangenheit zum Teil eingegangen an mangelnder pädagogischer Phantasie. Wenn eine traditionelle Schule auch noch über Mittag hinaus bis zum Abend verlängert wird, dann kann man als Schüler dagegen eigentlich nur revoltieren. Um eine Schule ganztägig sinnvoll und mit einigem Vergnügen erträglich zu machen, müsste man sie wohl mehr in ein Gemeindewesenzentrum verwandeln mit Lern- und Handlungschancen für ausländische wie deutsche Kinder und Erwachsene.145

Auch Dieter Wunder, Leiter einer Hamburger Gesamtschule, der in der GEW dem Referat »Aus- und Fortbildung« vorstand, bevor er GEW-Vorsitzender wurde, sah in den »konzeptionellen Schwächen« der Ganztagsschule den eigentlichen 142 Bargel/Kuthe, Ganztagsschule, S. 168. 143 Damit verbunden war die Institutionalisierung von Schulentwicklungsforschung. Vgl. z.B. Hans-Günter Rolff, Schule im Wandel. Kritische Analysen zur Schulentwicklung, Essen 1984. 144 Hartmut Heck, 10 Jahre Ganztagsschularbeit – Ein Problemaufriss, in: Internationaler Arbeitskreis Sonnenberg, Leben und Lernen in der Ganztagsschule, S. 14. 145 Mehr Ganztagsschulen, in: Betrifft: erziehung 11 (1978), Nr. 11, S. 46f.

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Grund für deren »mangelnde Beliebtheit«. Anstatt den Schülerinnen und Schülern einen »Lebensraum, der vielfältige menschliche Erfahrungen ermöglicht«, zu bieten und sich gegenüber den Eltern und der Kommune zu öffnen, verlängerten seiner Beo­bachtung nach die bislang realisierten Ganztagsschulen zumeist nur den Unterricht in den Nachmittag hinein.146 Offenbar krankten manche frühen Ganztagsschulversuche daran, dass sie es nicht vermochten, die normative Idee Ganztagsschule mit pä­dagogischer und sozialer Praxis so zu füllen, dass diese zu einem attraktiven Magnet für Kinder aller gesellschaftlichen Schichten wurde. Auch in den 1970/80er-Jahren schienen die traditionellen Vorbehalte gegenüber schulischer Nachmittagsbetreuung fortzubestehen, nach denen die Schulhorte und Ganztagsschulen weiterhin als soziale Einrichtungen für jene Schüler gedacht waren, deren Mütter es »nötig« hatten, erwerbstätig zu sein. Dieter Wunder stellte selbstkritisch fest, dass es bislang nicht gelungen sei, im Konzept wie in der praktischen Umsetzung den sozialen Klassencharakter von ganztägigen schulischen Einrichtungen zu überwinden. So gelte die Halbtagsschule vielen Eltern als die »›natürliche‹, familien­ gemäße Schulform«, die Ganztagsschule hingegen als »Zugriff des Staates auf die letzten Freiheitsreservate des Bürgers«. Durch die mental tief verankerte Überzeugung, bei der Ganztagsschule handele es sich um eine Schule für die unteren Schichten, würden »Ressentiments wach, die sich aber keiner eingestehen will«.147 Es war offenbar den wenigsten staatlichen Ganztagsschulen gelungen, das Attribut einer sozialkompensatorischen Einrichtung für tendenziell leistungsschwache, aus »Problemfamilien« stammende Schülerinnen und Schüler abzulegen. Gleichzeitig zeigt sich jedoch auch mit der kontinuierlichen Zunahme von privaten, häufig konfessionell gebundenen Ganztagsschulen in den 1980er-Jahren, dass Ganztägigkeit verstärkt auch zum Bestandteil eines elitären Schulkonzepts wurde. Während 1982 von allen Ganztagsschulen (267) in der Bundesrepublik 60 Prozent öffentliche Schulen und 40 Prozent Privatschulen waren, verschob sich das Verhältnis bis 1988 auf 56 Prozent öffentlicher und 44 Prozent privater Schulen.148 Wenn die halbtägige Schule auch in den Jahren nach dem »Boom« in der staatlichen Schulpolitik wie in der Alltagspraxis von Pädagogen, Schülern und Familien weiterhin tief verwurzelt blieb, so lässt sich dies nur durch das funktionale Zusammenwirken mehrerer Faktoren erklären: Zur parteilich-föderalen Konkurrenz in der Bildungspolitik allgemein, einem rigiden staatlichen Sparkurs und der breiten 146 Dieter Wunder, Ganztagsschule. Einführungsreferat auf der bildungspolitischen Konferenz des DGB 1979, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 31 (1980), Nr. 1, S. 33–42, hier S. 34. 147 Ebd. 148 Bargel und Kuthe verweisen bei diesen Zahlen indessen auf die lückenhafte Überlieferung des Ganztagsschulverbandes und gehen von Doppelzählungen, Vermischung von Ganztagsschulen mit Internaten und Heimen etc. aus. Vgl. Bargel/Kuthe, Ganztagsschule, S. 53f.

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Reformmüdigkeit infolge der vehementen ideologischen Auseinandersetzungen um die schulische Systemfrage kamen ökonomische Faktoren wie der Beschäftigungseinbruch und Strukturwandel gerade auch auf dem weiblichen Arbeitsmarkt. Neben der wirtschaftlichen Krise hatte der gesellschaftlich-kulturelle Wandel in Richtung Pluralisierung und Individualisierung Teile der westdeutschen Gesellschaft offenkundig verunsichert.149 Mit der Vervielfältigung der gesellschaftlichen Erwartungen, Wunschprojektionen und Lebensentwürfe in Bezug auf Schule und Familie versprachen kulturelle Institutionen wie die tradierte Geschlechterordnung und die herkömmliche Halbtagsschule mentale Sicherheit und Orientierung. Dies belegen die neu einsetzenden wertbezogenen Debatten, die um eine erziehungsbetonte »humane Schule« und um die vermeintlich »neue Weiblichkeit« bzw. die »Wahlfreiheit« von Frauen zwischen Beruf und Familie kreisten. Eine gesellschaftliche Lobby, die sich über den Ganztagsschulverband hinaus für die Ganztagsschule hätte engagieren können, entwickelte sich nicht einmal in Ansätzen. Auch in der sich zunehmend aufsplitternden Frauenbewegung, die sich Ende der 1960er-Jahre – in kritischer Sicht auf das staatliche Bildungssystem – mit antiautoritären Erziehungsprojekten befasst hatte und in den 1970/80er-Jahren teilweise einer neuen »Mütterlichkeit« zuwandte, war die Forderung nach staatlichen Ganztagsschulen nicht populär.150 Damit unterschied sich die Bundesrepublik von einem Großteil Westeuropas, wo wie etwa in Frankreich oder Schweden die Forderung nach Ganztagsbetreuung in Schule und Kindergarten von einer starken feministischen Bewegung gemeinsam mit sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften durchgesetzt wurde.151 Zu den Bremsfaktoren »langer Dauer« gehörte die in Bund und Ländern fortbestehende administrative Trennung von Bildung und Erziehung, aus der sich ein latentes Konkurrenzverhältnis von Schulverwaltung und Jugendhilfe ergab. Hilde von Balluseck beschreibt, dass sozialpädagogisch ausgebildete Vertreter der Jugendhilfe während der Jahre der Bildungsreform befürchteten, von der Bildungspolitik institutionell absorbiert zu werden. Dort, wo sich sozialpädagogische Arbeit in der Schule als Schulsozialarbeit etablieren konnte, orientierte sich diese mit zunehmendem professionellen Selbstbewusstsein an Erziehungszielen wie Eigenverantwortung und Kooperation und verstand sich als Gegenpol zu der auf Wissensvermittlung

149 Zu »Sicherheit« als Analysekategorie siehe Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009. Vgl. hierzu auch Paulus/Silies/Wolff, Zeitgeschichte als Geschlechtergeschichte, S. 24. 150 Meike Sophia Baader (Hg.), »Seid realistisch, verlangt das Unmögliche!« Wie 1968 die Pädagogik bewegte, Weinheim u.a. 2008, S. 16–35; Lenz, Neue Frauenbewegung. 151 Hagemann/Jarausch/Allemann-Ghionda, Children, Families, and States, S. 29.

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und sozialer Kontrolle basierenden Schule.152 Dieses Selbstverständnis bestätigte die institutionelle Trennung von Bildung und Erziehung, die zudem in ihren Ausbildungs­ wegen, Tarifstrukturen und beruflichen Prestigeordnungen eine ausgesprochene Pfad­ abhängigkeit aufwies. Ohne dass alle genannten Aspekte in ihren lokalen Auswirkungen detailliert nachvollzogen werden können, sollen im Folgenden drei Fallbeispiele genauer untersucht und mit einem regional- und schulgeschichtlichen Zugriff der Perspektive von Akteuren, aber auch der Eigenlogik schulischer Entwicklungen Rechnung getragen werden.

152 Hilde von Balluseck, Die Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern. Geschichte der Zuständigkeiten, Strukturen und Argumentationslinien, in: Soziale Arbeit 4 (1994), Nr. 6, S. 182–200, hier S. 188.

II. Historische Fallstudien von Ganztagsschulen in der Bundesrepublik der 1960er- bis 1980er-Jahre Fallstudie 1: Das Ganztagsgymnasium Osterburken Im Dezember 1972 berichtet eine WDR-Fernsehreportage unter dem Titel »Martin macht Abitur, Paul bleibt sitzen« über den Einsatz von ersten Schulpsychologen und modernen Unterrichtsmethoden im ländlichen Baden-Württemberg. Schauplatz des bildungspolitischen Fortschritts ist unter anderem das neu errichtete Ganztagsgymnasium in der Kleinstadt Osterburken in der südwestdeutschen Neckar-Odenwald-Region. Mit ausführlichen Kamerafahrten zwischen hochmodern-rationalem Schulneubau und ländlichem Kuhstall wird die Geschichte des 11-jährigen Bauern­ jungen Martin erzählt, dessen Alltag aus einem täglichen »Zeitsprung« bestehe – zwischen Tradition und bildungspolitischer Moderne, zwischen dem »ständigen Wechsel von einer Welt in eine andere, 20 Kilometer und ein Jahrhundert von seinem Elternhaus, seiner Umwelt und seiner bisherigen Schule entfernt«.1 Schon vor dem Fernsehbeitrag hatte das neu gegründete Ganztagsgymnasium Osterburken innerhalb kürzester Zeit großen Zuspruch unter der lokalen Bevölkerung erfahren. Seine Entstehungsgeschichte lässt sich in der frühen Schulreform­ politik des Baden-Württembergischen Kultusministeriums unter Wilhelm Hahn verorten, als sich der Blick von Bildungspolitikern und -experten verstärkt auf die Bildungsreserven in der ländlichen Bevölkerung richtete. Mit einem ganztägigen Gymnasium sollte das Bildungsangebot auf dem Land erweitert und – durch die Umstellung auf Ganztagsbetrieb – an die besonderen Lernbedürfnisse von Schülern aus bäuerlichen Familien angepasst werden. An diesem Prestigevorhaben des Stuttgarter Kultusministeriums lässt sich exemplarisch nachvollziehen, wie in einem konservativ regierten Bundesland internationaler Wettbewerbsdruck und dessen bildungsökonomische Theoreme, zeittypische Diskurse über Chancengleichheit und der tiefe Glaube an die wissenschaftliche Planbarkeit von Bildungsprozessen ineinander griffen und entsprechende Schulprojekte beflügelten. Darüber hinaus ist an diesem Fallbeispiel die ausgeprägte Konjunkturabhängigkeit von Bildungspolitik aufzuzeigen, die in Phasen der Hochkonjunktur durch schulische Reforminvestitionen zu einem Ausbau des Bildungsangebots führt, in Stagnationsphasen jedoch eine Verstetigung und dauerhafte finanzielle Absicherung dieses Angebots reformorientierter Schulen nicht gewährleisten kann oder will. 1

Martin macht Abitur, Paul bleibt sitzen. Möglichkeiten und Mängel der Schulpsychologie, WDR 1972 (DVD des ehemaligen Schulpsychologen).

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Historische Fallstudien von Ganztagsschulen

Der weiße Fleck auf der Bildungslandkarte Das CDU-regierte Baden-Württemberg gehörte in den 1960er-Jahren zu den Vorreiterländern der Bildungsplanung. Während eines überschaubaren Zeitraums war hier in der Bildungspolitik das Zusammenspiel von Staat und Wissenschaft besonders intensiv: So wurden einerseits im Kultusministerium interne Planungsgremien etabliert und andererseits aber auch in hohem Maße externe Politikberatung durch Bildungsexperten in Anspruch genommen. Impulsgeber für eine solcherart dynamisierte und modernisierte Bildungspolitik war der Theologieprofessor und christ­ demokratische Bundestagsabgeordnete Wilhelm Hahn. Dieser hatte 1964 für seinen Amtsantritt als Kultusminister im Kabinett von Kurt Georg Kiesinger zur Bedingung gemacht, dass eine eigene ministerielle Planungsabteilung eingerichtet würde. Hahn selbst berief einen Beirat für Bildungsplanung ein, dem so prominente Kritiker des Bildungssystems wie der Soziologe Ralf Dahrendorf, der Philosoph Georg Picht und der Pädagoge Andreas Flitner angehörten.2 Baden-Württemberg stellte somit ein besonders frühes Beispiel für die Verwissenschaftlichung von Bildung und Bildungspolitik dar. Für das Ganztagsgymnasium Osterburken lässt sich exemplarisch aufzeigen, wie politisches Handeln auf eine wissenschaftlich erhobene Datenbasis gründete und sich parteipolitisches Lagerdenken zumindest vorübergehend zugunsten des bildungspolitischen Modernisierungsprogramms neutralisieren ließ. Die im Kultusministerium neu eingerichtete Planungsabteilung legte mit dem Schulentwicklungsplan I von 1965 eine bildungsökonomisch und sozialtechnologisch inspirierte Gesamtkonzeption für das baden-württembergische Bildungssystem vor, die vom Kindergarten bis zu Hochschule und Weiterbildung reichte.3 Ziel war es, Schüler in sogenannten Regionen geringerer Bildungsdichte durch den Ausbau weiterführender Schulen gezielter zu fördern und dadurch das soziale und regionale Bildungsgefälle des Landes zu verringern. Als solche »weißen Flecken« auf der Bildungslandkarte identifizierte man diejenigen ländlichen Gebiete, in denen der Besuch von Realschulen und Gymnasien weit unter dem Landesdurchschnitt lag und das vorhandene Schulangebot eine beträchtliche Anzahl begabter Kinder mutmaßlich nicht erfasste. Die empirischen Mess- und Kartierungsverfahren, die sich während der Reformjahre in der Bildungsplanung nicht nur in Baden-Württemberg durchsetzten, verweisen auf den Durchbruch eines sozialwissenschaftlichen Paradigmas, mit dessen Hilfe Bildungsprozesse auf einer vermeintlich rationaleren Grundlage berechenbar gemacht werden sollten. 2

3

Wilfried Rudloff, Does science matter? Zur Bedeutung wissenschaftlichen Wissens im politischen Prozess am Beispiel der bundesdeutschen Bildungspolitik in den Jahren des »Bildungsbooms«, Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, FÖV Discussion Papers 19, Speyer 2005, S. 20–23. Reinhold Weber/Hans Georg Wehling, Baden-Württemberg: Gesellschaft, Geschichte, Politik, Stuttgart 2006, S. 20f.

Ganztagsgymnasium Osterburken

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Bereits 1964 hatte das Kultusministerium den Erziehungswissenschaftler Kurt Aurin von der Landesanstalt für Erziehung und Unterricht in Stuttgart mit einer empirischen Untersuchung beauftragt, die unter dem Titel »Ermittlung und Erschließung von Begabungen im ländlichen Raum« später als eines der Schlüsseldokumente der Bildungsreform gelten sollte. Dafür wurden im nordbadischen Gebiet Bauland-Ahornwald (das Teile der Landkreise Buchen, Tauberbischofsheim, Künzelsau umfasste) zunächst Schülerinnen und Schüler der 4. Klasse hinsichtlich ihrer kognitiven Fähigkeiten getestet und anschließend nach ausführlichen »TestBatterien« entsprechende »Begabungsdiagnosen« erstellt.4 Aurin und sein Team kamen zu dem Befund, dass »neben den äußeren Umständen [wie fehlende Bildungseinrichtungen und sehr schlechte Verkehrsverbindungen, M.M.] mangelnde Information über Bildungseinrichtungen und daraus resultierende Angst, aber auch Bildungsunwilligkeit, keinesfalls aber eine geringere Intelligenz Ursachen des bis dahin geringen Zugangs zu weiterführenden Schulen waren«.5 Diese als begabt diagnostizierten Schüler und Schülerinnen und deren »schulferne Elternhäuser« galt es nun, gezielt anzusprechen und durch eine wissenschaftlich fundierte Bildungs­ beratung über »die ihren Kindern möglichen und zu empfehlenden Bildungswege« zu informieren.6 Die ministerielle Standortentscheidung für Osterburken hing unmittelbar mit der Ermittlung eines Pools »gymnasialfähiger« Kinder im näheren Umkreis zusammen. Wie reformentschlossen die Bildungspolitik jener Jahre war, zeigte sich daran, dass der wissenschaftlichen Bestandsaufnahme rasches politisches Handeln 4

5

6

1967/68 folgten erneute diagnostische Untersuchungen unter Kurt Aurins wissenschaft­ licher Leitung. Vgl. Bildungsberatungsstellen Baden-Württemberg. Gleiche Chancen im Bildungsgang. Bericht der Bildungsberatungsstellen von Baden-Württemberg über Begabung und Schuleignung in ländlichen Gebieten von Kurt Aurin und Mitarbeitern (Bildung in neuer Sicht: Schriftenreihe des Kultusministeriums Baden-Württemberg zur Bildungsforschung, Bildungsplanung, Bildungspolitik, Reihe A Nr. 9), Villingen 1968. Kurt Aurin, Ermittlung und Erschließung von Begabungen im ländlichen Raum – Untersuchung zur Bildungsberatung in Baden-Württemberg, hg. vom Kultusministerium BadenWürttemberg, Villingen 1966, S. 22; Elmar Weiss, GTO – Ganztagsschule Osterburken, in: Die Ganztagsschule 19 (1979), Nr. 4, S. 61–69. Hans-Georg Schönwälder, Elternmeinungen zur Ganztagsschule. Bericht über eine Panel­ untersuchung der Entwicklung von Elternmeinungen im Zusammenhang mit der Einführung des Ganztagsbetriebs an einem Gymnasium, Dissertation Universität Mannheim 1972, S. 7; Aurin, Ermittlung und Erschließung von Begabungen im ländlichen Raum, S. 53. Auch Hansgert Peisert, Soziale Lage und Bildungschancen in Deutschland, München 1967; Hansgert Peisert/Ralf Dahrendorf (Hg.), Der vorzeitige Abgang vom Gymnasium. Studien und Materialien zum Schulerfolg an den Gymnasien in Baden-Württemberg 1953– 1963 (Bildung in neuer Sicht: Schriftenreihe des Kultusministeriums Baden-Württemberg zur Bildungsforschung Bildungsplanung Bildungspolitik, Reihe A Nr. 6), Villingen 1967.

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folgte. Unmittelbar nachdem mit Aurins Untersuchung das Vorhandensein von »Begabungsreserven« bewiesen war, gab der Kultusminister im Januar 1965 die Gründung eines Progymnasiums bekannt. Bereits an Ostern 1965 nahm die neue Schule mit 83 Sextanern ihre Arbeit in provisorischen Räumlichkeiten auf.7 Mit dem Progymnasium, das nur die unteren Gymnasialklassen 5 und 6 umfasste und anschließend den Wechsel der Schüler auf ein Aufbaugymnasium vorsah, setzte das Kultusministerium zunächst nicht auf ein voll ausgebautes Gymnasium.8 Schon im ersten Jahr zeigte die Schulgründung, die durch eine ebenfalls neu eingerichtete Realschule und ein Schulbusnetz ergänzt wurde, einen ersten Effekt in der Region: Der Anteil der Viertklässler, die nach der Grundschule auf ein Gymnasium oder eine Realschule wechselten, hatte sich innerhalb eines Jahres von rund 14 Prozent (1964) auf 28 Prozent (1965) verdoppelt.9 Initiativen von unten und von oben Wie bei anderen erfolgreichen Ganztagsschulgründungen wirkten auch in Osterburken bildungsreformerische Bestrebungen von oben und ein besonderes soziales und pädagogisches Engagement von unten zusammen. Schlüsselfigur war von Beginn an der damals 29-jährige promovierte Studienrat Elmar Weiss. Man habe ihn, so erinnert sich Weiss, bei einem »Anruf aus dem Kultusministerium« gebeten, er möge den Aufbau des Progymnasiums in die Hand nehmen.10 Offenbar hielt die Bildungsverwaltung ihn, der ursprünglich selbst aus Osterburken stammte, für besonders geeignet, das Vertrauen der Landbevölkerung zu gewinnen und bildungspolitischen Pioniergeist zu verbreiten. Weiss, der sich zudem bereits mit ganztägigen Schulformen und deren angloamerikanischen Traditionen im Rahmen seines Rigorosums beschäftigt hatte, war überzeugt, dass eine Ganztagsstruktur für den Erfolg eines ländlichen Gymnasiums unabdingbar war. Den Grund sah er nicht nur in dem ausgedehnten Einzugsgebiet mit einem hohen Anteil an Fahrschülern, sondern auch darin, dass es den »Kindern aus Bauern- und Arbeiterfamilien und aus den meisten sozial schlechter gestellten und gefährdeten Familien […] häufig im Elternhaus an den nötigen geistigen Anregungen und nicht selten überhaupt am Verständnis für die Schule und Schularbeit« fehle.11 7 8 9 10 11

Information GTO Ganztagsschule Osterburken. Gymnasium mit Realschulzug, Osterburken (o.D. um 1971), S. 38. Vgl. auch »Modellfall Osterburken« in der Bewährung, in: Rhein-Neckar-Zeitung, 2.4.1969. Aurin, Ermittlung und Erschließung von Begabungen im ländlichen Raum. Ebd., S. 104. Interview mit Herrn Weiss vom 8.9.2009. Elmar Weiss, Vorschläge zur Gestaltung des Gymnasiums Osterburken, in: Information GTO Ganztagsschule Osterburken. Gymnasium mit Realschulzug, Osterburken (o.D. um 1971), S. 9–12, hier S. 10.

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Vermutlich hatten das Engagement und die Ideen von Elmar Weiss erheblichen Anteil am Entschluss des Kultusministeriums, das Progymnasium Osterburken zu einem ganztägigen Vollgymnasium zu erweitern. Sobald dort der Schulbetrieb im Frühjahr 1965 angelaufen war, setzte sich Weiss dafür ein, dass mit ganztägigen Zeitmustern in Form von Hausaufgabennachmittagen, Förderunterricht und Blockstunden experimentiert wurde.12 Im Juli des gleichen Jahres stellte er den Osterburkener Gemeindevertretern und Eltern sein eigenes Konzept vor, das, obgleich unter dem älteren Label »Tagesheimschule« firmierend, inhaltlich an westliche Ideen einer demokratischen Moderne anschloss. Die Gymnasiumsgründung hatte zusammen mit den neu installierten Bildungsberatungsstellen offensichtlich die Bevölkerung in ihren Reformerwartungen bestärkt, denn im Oktober 1965 folgte eine an den Kultusminister gerichtete Petition der ortsansässigen Elternschaft, welche die Einrichtung eines ganztägigen Gymnasiums forderte. Im November gründete sich eine Vereinigung der »Förderer und Freunde des Gymnasiums Osterburken«.13 Elmar Weiss, dessen Credo zufolge »nicht der Bücherschrank des Vaters ausschlaggebend sein darf für den Erfolg des Kindes«, sah in der Ganztagsschule die am besten geeignete Form, das Ziel der sozialen Chancengleichheit auch auf dem Land zu erreichen. Diese Grundüberzeugung schien er gegenüber der Bevölkerung und der Politik glaubwürdig zu verkörpern: Es waren Eltern, die das Milieu oder die Atmosphäre eines Gymnasiums nicht kannten, eher Ängste entwickelt haben: Weil sie gesagt haben, wir sind nicht in der Lage, den Kindern zu helfen. Ich habe dann den Eltern die Idee der Tagesheimschule vorgetragen und die Eltern waren alle begeistert. […] Ich hab das dann zu Papier gebracht und hab das jedem Wahlredner überreicht, unter anderem auch dem Kultusminister Hahn damals, der auch eine Wahlversammlung hier gehabt hat. Und solche Dinge entwickeln sich ja nicht von heute auf morgen. Ich habe immer gesagt: Eine solche Schule kann nur dann wirklich Erfolg haben, wenn sie neben der Pädagogik auch die entsprechende Architektur hat […]. Also bin ich damals für eine Schulbibliothek eingetreten, die auf recht abenteuerliche Weise dann zustande gekommen ist.14

Offenbar traf Elmar Weiss nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch im Kultusministerium den Nerv der Zeit. Dort entschied man im Januar 1966, nunmehr in Osterburken eine ganztägige Modellschule einzurichten, die sowohl den Mittleren

12 13 14

Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HStAS), EA 3/505 7044-11 I, Protokoll der konstituierenden Sitzung der Planungsgruppe Osterburken am 2.2.1968 im Kultusministerium. Information GTO Ganztagsschule Osterburken. Gymnasium mit Realschulzug, Osterburken (o.D. um 1971), S. 38. Vgl. auch »Modellfall Osterburken« in der Bewährung, in: Rhein-Neckar-Zeitung, 2.4.1969. Interview mit Herrn Weiss vom 8.9.2009.

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Schulabschluss als auch die Hochschulreife ermöglichen sollte.15 Der pädagogischen Reformexperimenten gegenüber aufgeschlossene Minister Wilhelm Hahn sah in Ganztagsschulen den Weg zu einer »Intensivierung der pädagogischen und erzieherischen Möglichkeiten«. Seiner Ansicht nach war der reformpädagogische Ansatz im staatlichen Schulwesen auf breiter Basis nicht durchsetzbar, da dieser auf dem pädagogischen Engagement von Einzelpersonen beruhe. Darum müsse der Modernisierungsprozess im Bildungswesen durch eine von Staat und Wissenschaft getragene effektive Bildungsplanung begleitet und gesteuert werden.16 Schulische Modellversuche spielten dabei eine besonders wichtige Rolle, gerade wenn ihnen die »wissenschaftliche Begleitung« zusätzliche Legitimation verlieh. Zeittypisches Planungsdenken bestimmte die Reformaktivitäten auf mehreren Ebenen. Im Juni 1966 entstand eine erste Planungsgruppe zur baulichen »Programmierung einer Tagesheimschule«, der Vertreter des Kultusministeriums, des Instituts für Schulbau der Universität Stuttgart, des Oberschulamtes Nordbaden sowie mit Studienrat Weiss lediglich ein einziger schulischer Vertreter angehörten.17 Den Architekturwettbewerb für den Schulneubau, durchgeführt vom Institut für Schulbau der Universität Stuttgart, gewann eine Berliner Architektengemeinschaft im September 1967.18 Anfang Februar 1968 konstituierte sich eine neue »Planungsgruppe Osterburken« mit dem Auftrag, eine eigene pädagogische Konzeption zu entwerfen und zudem als Ansprechpartner für die Architekten zu fungieren.19 Unter dem Vorsitz des Mannheimer Erziehungswissenschaftlers Gunther Eigler waren hier neben dessen wissenschaftlichen Mitarbeitern und dem als zukünftigen Schulleiter vorgesehenen Elmar Weiss auch Bildungsforscher Kurt Aurin, Landrat, Bürgermeister, Beamte aus dem Kultusministerium sowie Vertreter des Regierungspräsidiums und des Oberschulamts Nordbaden vertreten.20 Als »Gesamtziel« formulierte die Planungsgruppe auf ihrer konstituierenden Sitzung, man wolle mit dem Modell Osterburken eine »Ganztagsschule in ländlichem Einzugsgebiet« schaffen, die »geeignet ist, verschiedene Startschwierigkeiten bei Schülern mit schulischen Mitteln auszugleichen«.21 15

Gunther Eigler u.a., Lernen in einer Ganztagsschule, Frankfurt/M. 1977; Schönwälder, Elternmeinungen zur Ganztagsschule. 16 Wilhelm Hahn, Konkrete Planung für eine neue Schulwirklichkeit, in: Kultusministerium Baden-Württemberg (Hg.), Modellschulen in Baden-Württemberg – Konzeptionen und Bei­ spiele konkreter Planung (Schriftenreihe »Bildung in neuer Sicht« A Nr. 15), Villingen 1968, S. V–XI, hier S. VIII. 17 Modellschulen in Baden-Württemberg – Konzeptionen und Beispiele konkreter Planung, S. 295. 18 Ebd., S. 4. 19 HStAS, EA 3/505 7044-11 I, Nr. P 1410-70.14/1, Aktenvermerk vom 17.1.1968. 20 Ebd. 21 HStAS, EA 3/505 7044-11 I, Protokoll der konstituierenden Sitzung der Planungsgruppe Osterburken am 2.2.1968 im Kultusministerium.

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Schulplanung zwischen Reißbrett und Alltagspraxis Das ländliche Osterburken schien als Ort besonders geeignet, den optimistischen Glauben an die gesellschaftspolitische Veränderungskraft von Schule unter Beweis zu stellen. Veröffentlichungen der Planungsgruppe verankerten den Schulversuch entsprechend im bildungspolitischen Reformdiskurs der Zeit, ginge es doch darum zu ermitteln, wie eine Ganztagsschule in einem Einzugsgebiet mit einem Anteil von Arbeiter-, Handwerker- und Bauernkindern von 70 Prozent (Schuljahr 1967/68)22 »sozio-kulturelle Defizite verringern und damit zur Chancengleichheit beitragen« könne. Primär war in diesem Zusammenhang nicht der Betreuungsaspekt, sondern die Frage, ob es auch für ein auf Leistung ausgerichtetes Gymnasium möglich sei, »eine Ganztagsschule organisatorisch zu bewältigen, ohne dass curriculare Abstriche gemacht werden müssen«. Das bedeutete, die Ganztagsform sollte den Kindern aus bildungsfernen Familien ermöglichen, den gymnasialen Lernstoff besser zu verarbeiten. Mit dem projektierten Schulversuch bot sich zudem an, Aspekte der zeitgenössischen pädagogischen Diskussion aufzugreifen und praktisch zu erproben. Hierzu gehörte etwa die Erprobung innovativer Unterrichtsformen mit Medieneinsatz oder auch die Frage, ob in der Ganztagsschule ein »neues Verhältnis des Schülers zum Lehrer und zur Schule« erreicht werden könne.23 Zentrale Aspekte waren – mit Blick auf den modernen Architekturentwurf – die räumlichen Bedingungen des Schulgebäudes und deren Einfluss auf das Unterrichtsgeschehen und Freizeitverhalten der Schüler.24 Man ging davon aus, dass mit dem Schulneubau modernste architektonische und technische Standards ihre erzieherische Wirkung unmittelbar entfalten und eine »Rationalisierung« und »Flexibilisierung« des Unterrichts ermöglichen würden. Das Raumkonzept folgte US-amerikanischen Modellvorstellungen einer modernen »Schule ohne Wände«, welche über flexibel verstellbare Raumteiler verfügte, die wahlweise kleine Lerngruppen oder offenen, klassenübergreifenden Unterricht ermöglichten.25 Dem ersten Schulleiter Elmar Weiss war es ein besonderes Anliegen, im Bauplan für die Schulbibliothek »einen beherrschenden Platz« durchzusetzen, der räumlich offen direkt zur Aula überging und auf diese Weise die zeittypischen Forderungen nach »Chancengleichheit« und demokratischer Teilhabe in Architektur übersetzte.26 In diesem Zusammenhang ist auch auf die zeitgenössische Vorstellung eines technologisch-pädagogischen Wirkungszusammenhangs zu verweisen, bot der Modell22 23 24 25 26

Eigler u.a., Lernen in einer Ganztagsschule, S. 5. Elmar Weiss, GTO – Ganztagsschule Osterburken, in: Die Ganztagsschule 19 (1979), Nr. 4, S. 61–69, hier S. 62. Ebd., S. 62. HStAS, EA 3/505 7044-11 I, Protokoll der konstituierenden Sitzung der Planungsgruppe Osterburken am 2.2.1968 im Kultusministerium. Interview mit Herrn Weiss vom 8.9.2009.

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versuch doch den Rahmen, um die »Voraussetzungen und Möglichkeiten eine[r] audiovisuelle[n] Schule«27 zu erforschen. Dabei richtete sich das Interesse gerade auch auf die Sprachförderung, mit der nicht nur der Dialekt, sondern auch der herkunftsbezogene »Soziolekt« mithilfe einer »Sprachlehranlage« bearbeitet und insbesondere Wortschatz und Syntaxmuster auf Seiten der Schüler verbessert werden sollten.28 Generell sahen die geplanten neuen Unterrichtsmethoden eine Vollausstattung mit TV-Verkabelung in allen Räumen, Tonbandgeräten, Overheadprojektoren u.a. vor. Hierfür sollte ein eigenes technisches Zentrum in der Nähe des zukünftigen Sprachlabors eingerichtet werden.29 In der praktischen Umsetzung verflog indessen so manche technikeuphorische Idee. Generell fehlte es an kompetenter technischer Unterweisung für die Lehrerinnen und Lehrer. Elektronische Innovationen wie Magnetbänder sollten sich zudem, wie sich der ehemalige Schulleiter Weiss erinnert, als viel zu kostspielig für die Dauernutzung erweisen.30 Die pädagogische »Planungsgruppe Osterburken« nahm ihre Arbeit Anfang 1968 bei laufendem Schulbetrieb auf, zu einem Zeitpunkt, als die Schule 14 Klassen der Klassenstufen 5-9 umfasste.31 In den ersten Treffen der Planungsgruppe verständigte man sich grundsätzlich über die anzustrebende pädagogische Konzeption für das Modellgymnasium und die wissenschaftliche Begleitung von dessen Umsetzung in die Schulpraxis.32 Die überlieferten Sitzungsprotokolle vermitteln eindrücklich die offenbar sehr unterschiedlichen Erwartungen der Beteiligten an die Planungsarbeit, die je nach Hintergrund von der pädagogischen Theorie oder von der Unterrichtspraxis her gedacht wurde. Ging es den Wissenschaftlern darum, die Auswirkungen zeitorganisatorischer Veränderungen auf Schülerleistungen wissenschaftlich zu messen, kämpften die Lehrer in den ersten Jahren mit den praktischen Schwierigkeiten des von »Improvisation in völlig unzulänglichen Räumen« gekennzeichneten Schulalltags, »der physisch und psychisch alles von den Beteiligten forderte«.33 Erst 1971/72 konnte die Schule in den fertiggestellten Neubau einziehen. Der große Zulauf, den das Gymnasium Osterburken von Anfang an erfuhr, verweist nicht nur auf die breite Reformstimmung, sondern auch auf einen langfristigen Prozess, mit dem sich in der ländlichen Bevölkerung die Einstellungen gegenüber höherer Schulbildung grundlegend wandelten. Die Planungsgruppe hielt 27 28 29 30 31 32 33

Weiss, GTO – Ganztagsschule Osterburken, S. 62 (vgl. Fußnote 23). Eigler u.a., Lernen in einer Ganztagsschule, S. 11f. HStAS, EA 3/505 7044-11 I, Protokoll der konstituierenden Sitzung der Planungsgruppe Osterburken am 2.2.1968 im Kultusministerium. Interview mit Herrn Weiss vom 8.9.2009. Eigler u.a., Lernen in einer Ganztagsschule, S. 5. HStAS, EA 3/505 7044-11 I, Protokoll der konstituierenden Sitzung der Planungsgruppe Osterburken am 2.2.1968 im Kultusministerium. Weiss, Vorschläge zur Gestaltung des Gymnasiums Osterburken, S. 12 (vgl. Fußnote 11).

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angesichts der gestiegenen Gymnasialanmeldungen in zeittypischer Diktion fest, dass es offenbar gelungen sei, die »Milieusperre« zu überwinden. Nun galt es, für die Schule einen besonderen pädagogischen Ansatz zu entwickeln, denn: »Wenn aber die neu geweckte Bildungswilligkeit der Eltern des Einzugsgebiets nicht wieder enttäuscht werden sollte, musste versucht werden, das Milieuhandicap der Schüler durch ein schulisches Angebot auszugleichen oder zumindest zu reduzieren.«34 Mit dem sozialkompensatorischen Programm wollte man nicht bis zum Einzug in das neue Gebäude warten.35 Vielmehr sollten bereits im Schuljahr 1968/69 zwei »Nahziele« realisiert werden: Erstens ging es darum, die Unterrichtsorganisation auf Blockstunden und Ganztagsbetrieb umzustellen, sodass der Schulerfolg der Kinder von elterlicher Hilfe bei Hausaufgaben unabhängig würde. Zweitens war beabsichtigt, durch spezielle Förderkurse »mittels Sprachlehranlage« die »Sprachbarriere« anzugehen.36 Zu einem späteren Zeitpunkt sollten Leistungsgruppen in Mathematik und Fremdsprachen, Werkunterricht am Nachmittag, eine Modellbibliothek zur Weckung des Lese-Interesses, sogenannter programmierter Unterricht37 und Abendkurse für Eltern eingerichtet werden. Der Wunsch, durch Elternkurse auch das Schulumfeld einzubeziehen, zeigte, dass für Schulleiter und beteiligte Lehrer mit Elementen von community education auch anglo-amerikanische reformpädagogische Ideenbestände eine Rolle spielten.38 Die erste Zeit war, so lässt sich aus den Protokollen der Planungsgruppe schließen, durch eine Vielzahl organisatorischer Probleme, durch »learning by doing« und Improvisation bestimmt. Die betraf die Umsetzung der anspruchsvollen Unterrichtskonzepte ebenso wie die allgemeine Organisation: Die Schulbusse waren »unzumutbar überbelegt« und verspäteten sich, sodass manche Kinder erst gegen 20.00 Uhr zu Hause waren. Essenspreis und Fahrtkosten stellten für die Eltern zunächst eine »gravierende finanzielle Belastung« dar, bevor diese durch finanzielle Zuschüsse der Stadt gemildert werden konnte. Aufgrund der rasch anwachsenden Schülerzahl verteilten sich die neu hinzukommenden provisorischen Schulräume über die gesamte Stadt. Neben den zeitraubenden Wegstrecken und der fehlenden 34 35 36 37

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Weiss, GTO – Ganztagsschule Osterburken (vgl. Fußnote 23). HStAS, EA 3/505 7044-11 I, Protokoll der konstituierenden Sitzung der Planungsgruppe Osterburken am 2.2.1968 im Kultusministerium. Eigler u.a., Lernen in einer Ganztagsschule, S. 8. Der programmierte Unterricht ist eine didaktisch-pädagogische Möglichkeit der Unterrichts­ gestaltung. Dabei soll das Lernen in einzelne Lernschritte aufgeteilt und an den einzelnen Schüler individuell angepasst werden. Begabte Schüler werden so gefördert; die Methode eröffnet aber auch gleichzeitig weniger begabten Schülern die Möglichkeit, den Stoff in ihrem eigenen Tempo zu erarbeiten. Allgemein dazu die bei Ludwig genannte Literatur: Vgl. Ludwig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2, S. 573f.

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Telefonverbindung ergab sich daraus vor allem ein Aufsichtsproblem. Da wegen des Lehrermangels der anvisierte Personalschlüssel von 1,6 Lehrern pro Klasse nicht erreicht werden konnte, gelang es weder die ursprüngliche Stundenplankonzeption umzusetzen noch die für die Freizeit geplanten Arbeitsgemeinschaften zu realisieren. Aus der permanenten Überlastung resultierte ein weiteres Problem: Die Lehrer, die »im Grunde unvorbereitet in den Schulversuch« gingen, hätten nach Ansicht des Schulleiters Elmar Weiss dringend ein unterrichtsbegleitendes »Teacher Training« benötigt. Hierfür fehlte allerdings ebenso die Zeit wie für die eigentlich im zwei­ wöchigen Rhythmus geplanten Schulkonferenzen.39 Als zusätzlich zum belastenden Schulalltag der ursprünglich für Herbst 1969 vorgesehene Einzug in das neue Schulgebäude wegen baulicher Verzögerungen nicht einzuhalten war, geriet die gesamte Planungsarbeit vorrübergehend in eine Krise. Unter dem Druck der öffentlichen Aufmerksamkeit, die der Modellschule Osterburken zuteil wurde, erörterte die Planungsgruppe im Oktober 1969, ob es nicht besser wäre, wieder zum Halbtagsprogramm zurückzukehren. Man befürchtete, die schlechten Rahmenbedingungen könnten zu einer generellen Ablehnung der Ganztagsschule sowohl in der Bevölkerung als auch bei den Lehrern führen.40 Zwar wurde der Ganztagsbetrieb weitergeführt, die wissenschaftliche Begleitung des Modellversuchs erwies sich allerdings für die praktischen Schwierigkeiten als wenig hilfreich. Die Beteiligung von Schulforschern schien mehr Anspruch als Realität gewesen zu sein, tagte die pädagogisch-wissenschaftliche Planungsgruppe doch nur in großen zeitlichen Abständen. Hinzu kam, dass Elmar Weiss dort zunächst der einzige schulische Vertreter war41 und weitere Lehrerinnen und Lehrer sowie Elternvertreter erst Anfang 1971 in die Planungsgruppe einstiegen.42 Schulleiter Weiss resümierte 1972 eher ernüchtert das Zusammenwirken von Wissenschaft und Praxis: »Große Erfahrungen, die wissenschaftlich abgesichert gewesen wären, waren da nicht zu machen.«43 Auch die Planungsgruppe unter der wissenschaftlichen Leitung von Gunther Eigler sah sich durch die Anbindung an die Mannheimer Universität zu weit weg von den schulischen Problemen und auf die »Rolle der Feuer-

39 HStAS, EA 3/505 7044-11 II, Protokoll der Pädagogischen Untergruppe der Planungsgruppe Osterburken am 3.7.1969; HStAS, EA 3/505 7044-11 I, Protokoll der Sitzung der Planungsgruppe Osterburken am 10.10.1968 in Osterburken. 40 Ebd. 41 HStAS, EA 3/505 7044-11 I, Protokoll der konstituierenden Sitzung der Planungsgruppe Osterburken am 2.2.1968 im Kultusministerium. 42 HStAS, EA 3/505 25 34-12 III, Bericht der Ganztagsschule Osterburken für die Auswertung von Modellversuchen zur Ganztagsschule durch die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung vom 10.1.1978. 43 Weiss, Vorschläge zur Gestaltung des Gymnasiums Osterburken, S. 12.

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wehr« beschränkt. Als Eigler im März 1971 einen Ruf an die Universität Göttingen erhielt, löste sich die wissenschaftliche Begleitung endgültig auf.44 Sichtweisen: Eltern, Lehrer und Schüler Wenn sich das Modell Osterburken ungeachtet der anfänglichen Probleme in länger­ fristiger Perspektive als Erfolgsgeschichte herausstellte, hatte dies vor allem mit der hohen Identifikation aller Beteiligten mit dieser Schule zu tun. Lediglich in der ersten Zeit misstrauten viele Eltern der Institution Gymnasium und sahen in dem mit seinen Kollegen über die Lande fahrenden und Aufklärung betreibenden Schulleiter einen »Bauernfänger«.45 Auch bestanden zunächst Irritationen gegenüber der Ganztagsstruktur, die zu einer längeren Abwesenheit der Kinder in der Familie führte. Das Oberschulamt Karlsruhe berichtete von »Anfeindungen« und »Skepsis« in Teilen der Bevölkerung.46 So befürchteten Eltern, ihre Kinder stünden tagsüber nicht mehr für Arbeiten im bäuerlichen oder handwerklichen Betrieb zur Verfügung, entfremdeten sich kulturell oder lägen ihrer Familie durch einen mehrjährigen Gymnasiumsbesuch zu lange auf der Tasche. Der ehemalige Schulpsychologe, der die schulischen Tests potenzieller Gymnasialkandidaten durchführte, berichtet von Einzelfällen, »wo wir trotz bester Noten, trotz bester Test­ergebnisse auf Widerstand gestoßen sind. Insbesondere bei Mädchen war der Widerstand am größten. Aber es ist ja eine ländliche Region, auch da waren die Kinder ja häufig noch eingebunden in den elterlichen bäuerlichen Betrieb damals, und das waren Argumente gegen einen Schulbesuch.«47 Schon sehr bald war jedoch klar, dass die Idee aufging, traditionelle Schwellen­ ängste einer bildungsfernen ländlichen Bevölkerung gegenüber der höheren Schule mithilfe von ganztägigem Unterricht abzubauen. Neben dem besonderen Förderkonzept machte auch das weite Einzugsgebiet mit langen Schulwegen die Ganztagsstruktur der Schule akzeptabel. Hinzu kam als persönlicher Faktor die Überzeugungsarbeit, die Schulleiter und Pädagogen unter den Eltern leisteten. Der ehemalige Schulpsychologe, der nach kurzem Einsatz in Osterburken an die nahe gelegene Bildungsberatungsstelle Mosbach gewechselt war, beschreibt den Zusammenhang zwischen der vertrauensbildenden Öffentlichkeitsarbeit der Schule und der elterlichen Schulwahl wie folgt:

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HStAS, EA 3/505 7044-11 II, Protokoll der Pädagogischen Untergruppe der Planungsgruppe Osterburken am 3.7.1969; HStAS, EA 3/505 7044-11 I, Protokoll der Sitzung der Planungsgruppe Osterburken am 10.10.1968 in Osterburken. 45 Interview mit Herrn Weiss vom 8.9.2009. 46 HStAS, EA 3/505 7220-2 Bd. 13, Bericht des Oberschulamtes Karlsruhe über die Ganz­ tagesschule Osterburken gem. Erlaß des Kultusministeriums. 47 Interview mit Herrn S. vom 9.9.2009.

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Im Wesentlichen denke ich, dass es gelungen ist, viel mehr Kinder in die höheren Schulen zu bringen. Wir haben sicher, denke ich, einen Beitrag dazu geleistet, aber ich glaube auch, dass die Schule selbst durch die Person von Dr. Weiss und dem engeren Team, das mit ihm zusammengearbeitet hat und die Idee dieser Ganztagesschule weiterentwickelt hat, dass die sehr viel dazu beigetragen haben, den Zugang zu erleichtern, weil sie vor Ort gegangen sind. Die haben Elternabende in den Dörfern gemacht, die haben mit den Eltern gesprochen und, ich denke, den Eltern den Eindruck vermittelt, dorthin kann man unser Kind geben. Ich denke, die wichtigste Voraussetzung war eben das Wissen: Es ist eine Ganztagesschule, und die kümmern sich dort um die Kinder. Wir können ihnen ja nicht helfen.48

Die Schwierigkeit für Osterburken, angesichts des verbreiteten Lehrermangels der frühen 1970er-Jahre überhaupt ausreichend pädagogisches Personal zu rekrutieren, war zurückzuführen auf den von Gymnasiallehrern als wenig attraktiv empfundenen ländlichen Standort wie auch auf den geforderten Nachmittagsunterricht. Kaum jemand von den in Osterburken unterrichtenden Lehrern habe »sich freiwillig dorthin gemeldet«, stellte das Oberschulamt Karlsruhe nach einem Unterrichtsbesuch im Februar 1977 fest und zeigte sich verwundert über ihr dennoch »hohes Engagement«.49 Interviews mit ehemaligen Pädagogen zufolge ist das innovative und experimentelle Schulklima einschließlich der intensiven Diskussionskultur gerade in der Anfangszeit von den größtenteils jungen Lehrerinnen und Lehrern als äußerst anregend empfunden worden. Die selbst aufgestellte Regel von wöchentlich maximal zwei Nachmittagseinsätzen pro Person ließ sich dabei nicht immer ein­halten.50 Auch macht dieses Schulbeispiel deutlich, dass das zeitintensive pä­dagogische Engagement für den Erfolg zentral war. Einer der Interviewten sprach von einer »Kerntruppe, die sich für den Gedanken des Ganztagsgymnasiums engagierte«.51 Für die Schülerinnen und Schüler selbst bedeutete das Ganztagsgymnasium eine biografische Weichenstellung durch den einfacheren Zugang zu höherer Bildung. Die Abiturergebnisse Osterburkener Absolventen fielen im Vergleich zu halbtägigen Gymnasien mit einer sozial anders zusammengesetzten Schülerschaft nicht schlechter aus.52 Darüber hinaus bot die Modellschule ihren Schülern mit Schulorchester, 48 Ebd. 49 HStAS, EA 3/505 7220-2 Bd. 13, Bericht des Oberschulamtes Karlsruhe über die Ganz­ tagesschule Osterburken gem. Erlaß des Kultusministeriums. 50 Interviews mit Herrn Weiss vom 8.9.2009, mit Herrn H. vom 8.9.2009, mit Herrn S. vom 9.9.2009. 51 Interview mit Herrn S. vom 9.9.2009. 52 HStAS, EA 3/505 25 34-12 III, Bericht der Ganztagsschule Osterburken für die Auswertung von Modellversuchen zur Ganztagsschule durch die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung vom 10.1.1978.

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Chor, Schulband, diversen Arbeitsgemeinschaften, Spiel- und Sportgruppen die Gelegenheit zu kultureller und sportlicher Betätigung. Dies erhöhte zweifellos die Attraktivität der Schule in einem diesbezüglich stark unterversorgten ländlichen Ort, dessen Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche sich bis dahin auf Fußballverein und Blaskapelle beschränkt hatten.53 Bildungserfolge und steckengebliebene Reformen Auf Landesebene verfolgte das Kultusministerium Anfang der 1970er-Jahre zunächst noch einen Expansionskurs in Sachen Ganztagsschule. Parallel zu den Beratungen der BLK über den Bildungsgesamtplan unterbreitete man dem Ministerrat der Landesregierung von Baden-Württemberg Anfang 1972 »Vorschläge für einen Stufenplan für die Einführung von Ganztagesschulen in Baden-Württemberg«. Zahlengrundlage war der vierte Entwurf des Bildungsgesamtplans, der zwischen 1975 und 1980 einen Anstieg bei Ganztagsschulen von zehn auf 30 Prozent bzw. alternativ von fünf auf zehn Prozent vorsah.54 Das Kultusministerium geriet mit seinen Ausbauplänen jedoch rasch in die Defensive, denn das Finanzministerium zweifelte die Finanzierbarkeit durch eigene Kostenszenarien grundsätzlich an.55 Im Oktober 1972 ruderte die Planungsabteilung im Kultusministerium zurück mit der Klarstellung, dass »auch langfristig vom Kultusministerium nicht angestrebt wird, die Ganztagsschule als Regelschule einzuführen«. Stattdessen wolle man »jährlich etwa 5 Ganztagsschulen mit ca. 7500 Schülern insbesondere in Regionen mit schwierigen topografischen Verhältnissen und in städtischen Gebieten mit einem hohen Anteil von Arbeiterkindern oder von berufstätigen Eltern bzw. Müttern ein[zu]richten«.56 In Bevölkerung und öffentlicher Meinung gab es für die Ganztagsschulinitiative der Regierung große Zustimmung. Anfang der 1970er-Jahre waren »zahlreiche Anträge [von Schulen bzw. Schulträgern, M.M.] auf Einrichtung von Ganztagsschulen« in Stuttgart eingegangen.57 Zustimmung kam nicht nur von SPD und GEW, 53 Ebd. 54 HStAS, EA 3/505 7180-4 II. B, P 7180-4/74, Aktenvermerk vom 24.2.1972, Betr. Vorschläge für einen Stufenplan für die Einführung von Ganztagsschulen und Berechnung der Kosten bei einer generellen Einführung der Ganztagsschulen in Baden-Württemberg. Vgl. auch Kap. 3.1. 55 Die Finanzpolitiker hatten ausgerechnet, dass für die generelle und sofortige Einführung der Ganztagsschule allein im ersten Jahr 3,9 Milliarden DM aufgewendet werden müssten. Offenbar war beabsichtigt, durch überzogene Kostenszenarien die Ganztagsschulpläne grundsätzlich zu torpedieren mit der Folge, dass analog zu den Verhandlungen des Bildungsgesamtplans die Planungwerte sukzessive reduziert wurden. Vgl. ebd. 56 HStAS, EA 3/505 7180-4 III, P 7180-4/90, Aktenvermerk vom 25.10.1972, Betr. Vorschläge für einen Stufenplan für die Einführung von Ganztagsschulen und Berechnung der Kosten bei einer generellen Einführung der Ganztagsschulen in Baden-Württemberg. 57 Ebd.

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gerade in ländlichen Gegenden begrüßten viele Eltern den Vorstoß. Der Bauernverband forderte, beim Ganztagsschulausbau agrarische Regionen besonders zu berücksichtigen: Da gerade in kinderreichen Bauernfamilien durch Betriebs- und Haushaltsarbeit die Belastung der Bauersfrauen besonders groß ist, würde eine schulische Vollbetreuung nach dem System der Ganztagsschule den heute so kompliziert gewordenen Arbeitsablauf für die meist nur mit wenig Arbeitskräften ausgestatteten landwirtschaftlichen Betriebe erleichtern.58

Mit der wachsenden Technisierung der Landwirtschaft war das Argument, durch Ganztagsschulen fehle dem bäuerlichen Betrieb die kindliche Arbeitskraft, offenbar gegenstandslos geworden. Als mit dem ökonomischen Einbruch bildungspolitische Reformvorhaben gänzlich ins Abseits gerieten, traf dies auch den Beschluss der Landesregierung, jährlich fünf neue Ganztagsschulen zu errichten.59 Das Kultusministerium begründete dies im November 1974 in einem Antwortschreiben auf eine diesbezügliche GEW-Anfrage wie folgt: »Angesichts der miserablen Finanzsituation des Landes kann bedauerlicherweise an eine Intensivierung der Ausbauplanung nicht gedacht werden.«60 Nicht nur die Wirtschaftskrise, auch der politische Kurswechsel, den die CDU in der Bildungspolitik einschlug, brachten die baden-württembergische Ganztagsschulpolitik zum Erliegen. Wie sich dies konkret auf der schulischen Ebene niederschlug, lässt sich am staatlichen Umgang mit dem Ganztagsgymnasium Osterburken exemplarisch nachzeichnen. Während in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre auf politischer Ebene bereits das Ende der bildungspolitischen Hochkonjunktur eingeleitet wurde, hielt der Schüleransturm auf die neue Schule unvermindert an. Das Zusammenwirken beider Entwicklungen ergab für Osterburken die paradoxe Situation, dass der sich in steigenden Schülerzahlen abbildende Erfolg der Schule gleichzeitig ihre Existenz gefährdete. Die Einweihung des neuen Schulgebäudes am 8. März 1972 in Anwesenheit des Kultusministers markierte gleichzeitig Höhepunkt und Umschlag des Reformprojekts. Eben noch von den Medien hochgelobte Modellschule und preisgekröntes »Architekturwunder« wurde Osterburken ab Sommer 1972 in der öffentlichen Meinung jahrelang zum »Dauerbrenner« und »Sorgenkind« des Stuttgarter Kultusministeriums. 58 59 60

HStAS, EA 3/505 7180-4 III, Informationen aus Agrarpolitik und Landwirtschaft, Ganztagsschulen auf dem Lande (Pressemitteilung vom 29.5.1973). Ebd., GEW Baden-Württemberg an Ministerpräsidenten Hans Filbinger vom 29.4.1974. HStAS, EA 3/505 7180-4 IV, Staatsministerium Baden-Württemberg an GEW BadenWürttemberg vom 5.11.1974.

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Unmittelbarer Anlass war der Schulneubau, der sich bereits kurz nach seiner Eröffnung als wenig alltagstauglich erwies. Das neue Gebäude, das in der Zielvorstellung seiner Planer einen Ort darstellen sollte, »an dem sich eine flexible Raumanordnung, eine moderne Unterrichtstechnologie und eine dichte pädagogische Atmosphäre zu einer Einheit verbinden«,61 wies schwerwiegende bauliche Mängel auf, die, wie in der »Zeit« zu lesen war, den Schulalltag von Schülern und Lehrern extrem belasteten: »Die Schüler sind krank und die Lehrer verschnupft. […] Von der ›dichten pädagogischen Atmosphäre‹ ist heute nur noch dicke Luft geblieben.«62 Die Klimaanlage stellte sich für die Raumbelüftung und Luftfeuchtigkeit als eine Fehlkonstruktion heraus; Fenster waren entweder gar nicht vorhanden oder ließen sich nicht öffnen. Die schalldurchlässigen flexiblen Wände führten zu starker Lärmbelästigung.63 Unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit forderten Landtagsabgeordnete, Bürgermeister und Lehrer eine Sanierung der »innenarchitektonischen, akustischen und klimatischen Missgeburt«.64 Über annähernd ein Jahrzehnt sollten sich zwischen Kultusministerium, Landkreis, Stadt und Schule die Auseinandersetzungen hinziehen, in denen es nicht nur um Schulsanierung und Schülerzahlen, sondern bald auch um die Schulform gehen sollte. Das Ganztagsgymnasium, dem 1971 ein Realschulzweig angegliedert worden war, stieß bereits kurz nach Einzug in den Neubau an seine Kapazitätsgrenzen. Schon im Juni 1972 musste von 400 interessierten Sextanern die Hälfte abgewiesen werden, was in der Region »zu einer starken Erregung [führte] und zu der Forderung, dass die Kapazität der Ganztagsschule erweitert werden müsste«.65 Die Eltern der Schule, aber auch die Stadt Osterburken selbst forderten vom Kultusministerium neben der Sanierung auch eine räumliche Erweiterung. Man war überzeugt, dass auch bei landesweit rückläufigen Schülerzahlen in der Region die Nachfrage nach einem Schulplatz anhalten würde. Das Kultusministerium sah sich einer Elternschaft gegenüber, die den Bildungsappell der Politik ernst genommen hatte. Der mit den Eltern verhandelnde Ministerialdirigent vermerkte hierzu: »Die Elternvertreter machten mit Nachdruck darauf aufmerksam, dass die Ganztagesschule Osterburken die in sie gesetzten pädagogischen und sozial-politischen Erwartungen voll 61

Wilhelm Hahn, Die Ganztagsschule Osterburken – Eine Modellschule des Landes BadenWürttemberg, in: Information GTO Ganztagsschule Osterburken. Gymnasium mit Real­ schulzug, Osterburken (o.D. um 1971), S. 5f. 62 Schule ohne Fenster, in: Die Zeit, 27.2.1981. 63 HStAS, EA 3/610 6014, Bd. 3, Der Personalrat an der GTO zu den Arbeitsbedingungen, November 1974. 64 HStAS, EA 3/610 6014, Bd. 7, Manfred Pfaus, MdL, an Minister für Kultus und Sport Gerhard Mayer-Vorfelder vom 1.8.1980. 65 HStAS, EA 3/505 7044-11 IV, P7044-11/13 Aktenvermerk vom 7. August 1972: Gespräch mit Elternvertretern im Kultusministerium am 27. Juni 1972.

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und ganz erfülle.« Der einmal angerufene Reformgeist war offenbar nicht mehr zurückzudrängen und ließ das Argument des Ministeriums hilflos erscheinen, wonach bei Erhöhung der Schülerzahl auf über 1000 der Modellcharakter der Schule »in Gefahr geraten könnte, weil die Quantität in die Qualität umschlagen könnte, d.h. dass hohe Schülerzahlen die inneren pädagogischen und curricularen Reformen ersticken könnten«.66 Das Kultusministerium ließ sich auch durch mehrere Besuche von Elternvertretern nicht umstimmen und verweigerte jede weitere Investition. Die Kapazitätsprobleme der Reformschule Osterburken fielen genau in jenen Zeitraum, als in Baden-Württemberg wie auch in anderen Bundesländern heftige Grundsatzkonflikte über die Reichweite der Bildungsreform aufbrachen und für kostspielige Reformprojekte wie Ganztagsschulen die Aussicht auf finanzielle Absicherung verschlechterten.67 Als die Modellschule Anfang des Schuljahres 1973/74 rund 1100 Schüler umfasste, überlegte die Schulleitung in zwei Richtungen: Entweder sollte das auf 24 Klassen ausgelegte Gymnasium seine Schülerzahl wieder entsprechend der 750 vorgesehenen Schülerplätze reduzieren oder aber durch einen Erweiterungsbau das »Raumprogramm eines 33-klassigen Gymnasiums« realisieren. Der Raummangel spitzte sich im Lauf der 1970er-Jahre weiter zu. Im November 1974 besuchten bereits 1140 Schüler das Ganztagsgymnasium,68 1980 war die Schule mit rund 1400 Schülern vollkommen überbelegt.69 Spätestens mit der unumgänglich gewordenen Schulsanierung wurde die Frage der Schulträgerschaft mit neuer Virulenz aufgeworfen. Unbestritten war, dass die Kleinstadt Osterburken als bisheriger Schulträger die finanzielle Last der Ganztagsschule nicht dauerhaft würde schultern können. Die Stadt hatte 1966 die Trägerschaft nur übernommen, weil dadurch ein höherer staatlicher Zuschuss zu den Baukosten gewährt werden konnte. Nun machte man dort die Ganztagsschule für die wachsende kommunale Verschuldung verantwortlich. Im Februar 1973 stellte die Stadt erstmals einen Antrag beim Kultusministerium auf Übernahme der Schulträgerschaft durch das Land. Argumentiert wurde, dass die hohen Unterhaltskosten für die Stadt unzumutbar seien, zumal nur 20 Prozent der Schüler aus Osterburken selbst kämen.70 In den folgenden Jahren forderten Stadt, Landkreis, Eltern, Lehrer und Schüler immer wieder, das Land solle Schulträger des Ganztagsgymnasiums werden – ohne Erfolg. Landesregierung und Kultusministerium schreckten nicht 66 Ebd. 67 Vgl. hierzu Kap. 3.1. 68 HStAS, EA 3/610 6014, Bd. 3, Der Personalrat an der GTO zu den Arbeitsbedingungen, November 1974. 69 Grünes Licht für Umbau der Ganztagesschule, in: Fränkische Nachrichten, Nr. 257, 5.11.1980. 70 HStAS, EA 3/610 6014, Bd. 2, Kulturpolitischer Ausschuss des 6. Landtags von BadenWürttemberg, 21. Sitzung vom 18.9.1973: Informationsfahrt.

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nur vor der finanziellen Belastung durch steigende Schülerzahlen und kostspielige bauliche Mängel zurück, sondern zunehmend auch vor der politischen Verantwortung für ein ideologisch zunehmend unerwünschtes Reformprojekt. Die »Quasi-Gesamtschule« als politischer Zankapfel Die große Beliebtheit der Schule in der Region war nicht nur auf die beschriebene Ganztagsorganisation zurückzuführen, sondern auch auf ihre besondere Struktur, die sich aus dem 1971 angegliederten Realschulzug ergab. Damit erweiterte das Ganztagsgymnasium sein Profil und orientierte sich an den integrativen, in Richtung Gesamtschule weisenden Schulformen, die auch in Baden-Württemberg in den Jahren der Bildungsreform erprobt wurden. Die offiziell als »Gymnasium mit Realschulzug« firmierende Schule besaß zudem eine teilintegrierte Orientierungsstufe für die Klassen 5 und 6, in der Realschüler und Gymnasiasten im Kern-Kurs-System gemeinsam unterrichtet wurden. Erst ab Klasse 7 wurde in einen Gymnasialzug und einen Realschulzug differenziert.71 Das Oberschulamt Karlsruhe begründete die besondere Schulkonstruktion damit, dass in den ersten Jahren infolge der »an der Schule zweifellos bestehenden ›Begabungsweckungseuphorie‹« mehr Schüler aufgenommen worden seien, als es von deren gymnasialer Eignung her hätte der Fall sein dürfen, und man deshalb diese »Fehlentwicklung« mit der Einrichtung einer Realschule korrigiert habe.72 In der Bevölkerung traf die Zusammenfassung von mittlerer und höherer Bildung unter einem Dach auf begeisterte Zustimmung, versprach sie doch informelle Durchlässigkeit und Wechselmöglichkeit zwischen gymnasialer und realschulischer Schiene. Auf diese Weise würde ein »Abstieg« vom Gymnasium auf die Realschule, der normalerweise in der ländlichen Gesellschaft als besonders stigmatisierend wahrgenommen wurde, öffentlich gar nicht mehr sichtbar werden.73 Für die Ganztagsschule Osterburken zeigte sich das Ende des »Bildungsbooms« in der Weigerung des Kultusministeriums, die Trägerschaft zu übernehmen. Schließlich übernahm der Landkreis Neckar-Odenwald 1977 die Schulträgerschaft für das Gymnasium, der Realschulteil verblieb bei der Stadt Osterburken.74 Während des Intermezzos von Roman Herzog als Kultusminister zwischen 1978 und 1980 wurde zwar die Zusage für eine baldige Sanierung gemacht, ohne dass jedoch etwas 71 HStAS, EA 3/505 25 34-12 III, Bericht der Ganztagsschule Osterburken für die Auswertung von Modellversuchen zur Ganztagsschule durch die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung vom 10.1.1978. 72 HStAS, EA 3/505 7220-2 Bd. 13, Bericht des Oberschulamts Karlsruhe über die Ganztagesschule Osterburken (Unterrichtsbesuch am 25. Februar 1977). 73 Interviews mit Herrn S. am 9.9.2009 und mit Herrn Weiss am 8.9.2009. 74 Schularchiv Osterburken, Zusatzvertrag zum Übernahmevertrag zwischen der Stadt Osterburken und dem Neckar-Odenwald-Kreis vom 4.4.1977.

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geschah. Neben den komplizierten Zuständigkeiten infolge der nunmehr getrennten Trägerschaft war es vor allem die, laut »Rhein-Neckar-Zeitung«, »unheilvolle Kopplung von Sanierung und organisatorischer Veränderung«, die die Verhandlungen über die Sanierung des Neubaus lähmte.75 Kultusministerium, Landkreis und Oberschulamt forcierten mit einem geplanten Realschulneubau eine eigenständige Realschule, demgegenüber sprachen sich Schulleitung und Kollegium strikt gegen jegliche Abtrennung des Realschulzweiges aus.76 Für sie besaß das Modell Osterburken mit integriertem Realschulzweig und praktizierter Orientierungsstufe durchaus gewollten Gesamtschulcharakter. Mit Ernennung des rechtskonservativen Christdemokraten Gerhard MayerVorfelder zum Kultusminister wurde Anfang 1980 das einstige Prestigeprojekt Osterburken nicht mehr nur als finanzielle, sondern endgültig auch als ideologische Last wahrgenommen. Als ganztägige »Quasi-Gesamtschule« war sie für den neuen Kultusminister, der wieder ganz auf die Tradition des dreigliedrigen Schulsystems setzte, nicht mehr tragbar. Argumentativ bediente sich das Kultusministerium der selbstkritischen Äußerungen ehemaliger Bildungsreformer, die nach den teilweise negativen Erfahrungen mit großen Gesamtschulzentren für räumlich überschaubare Schulen plädierten. Tatsächlich ging es in Stuttgart jedoch darum, jegliche auf Integration gerichtete Reformversuche wie in Osterburken einzustellen. Auch Ganztagsschulen passten nicht zu den traditionellen Bildungsvorstellungen von Gerhard Mayer-Vorfelder.77 Der Kampf um die Ganztagsschule Für das Kultusministerium war die bereits durchgesetzte getrennte Schulträgerschaft durch Landkreis und Stadt die Sollbruchstelle, wo der Hebel für eine endgültige institutionelle Trennung von Gymnasium und Realschule angesetzt werden sollte. Die ministeriellen Trennungspläne stießen auf breiten öffentlichen Widerspruch. Nicht nur die GEW und die SPD in Gemeinderat und Landtag bewerteten das Vorgehen des Kultusministeriums als Erpressung, bei der ein schulischer Erweiterungsbau und die Sanierung des Schulgebäudes nur für den Preis einer schul­ organisatorischen Trennung von Gymnasium und Realschule zu haben waren.78 Auch 75

So viel wie möglich von der pädagogischen Konzeption retten, in: Rhein-Neckar-Zeitung, 2.12.1980. 76 HStAS, EA 3/505 7220-2 Bd. 13, Bericht des Oberschulamtes Karlsruhe über die Ganztagesschule Osterburken gem. Erlaß des Kultusministeriums. 77 Dies legt indirekt ein Schreiben des CDU-Landtagsabgeordneten Pfaus an den Minister nahe. HStAS, EA 3/610 6014 Bd. 7, Manfred Pfaus, MdL, an Herrn Minister für Kultus und Sport Gerhard Mayer-Vorfelder vom 1.8.1980. 78 HStAS, EA 3/610 6014 Bd. 8, GEW an Herrn Minister Mayer-Vorfelder vom 2.12.1980; HStAS, EA 3/505 7220-2 Bd. 13, Bericht des Oberschulamtes Karlsruhe über die Ganz-

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der Philologenverband,79 die örtliche CDU-Basis, der CDU-Landtagsabgeordnete des Landkreises und die Schülerunion appellierten an den Kultusminister, das bewährte teilintegrierte Schulmodell Osterburken beizubehalten.80 Das Wochenmagazin »Stern«, das ausführlich über das bildungspolitische Tauziehen zwischen dem neuen Kultusminister und einer – nicht zuletzt durch die Bildungsreform – selbstbewusst auftretenden Landbevölkerung berichtete, ließ beispielsweise einen mittelständischen Unternehmer und CDU-Gemeinderat zu Wort kommen, dessen drei Kinder die Ganztagsschule Osterburken besuchten. Aus dessen Sicht war der integrierte Schultyp und insbesondere die Orientierungsstufe »wie zugeschnitten« für Kinder, deren Eltern fast ausschließlich Volksschulabschluss hatten. Den Artikel durchzog die Frage, die sich um 1980 die gesamte Region Osterburken stellte: »Warum soll man etwas beenden, was so gut funktioniert?«81 Das Kultusminis­ terium suchte indes weder das Gespräch mit den Betroffenen, noch schickte es Vertreter zu den Diskussionsveranstaltungen, die das breite Unterstützungsbündnis in Osterburken organisierte.82 An der Schule selbst führte der schwelende Konflikt mit dem Ministerium zur wachsenden Politisierung von Schülern und Eltern. Als die Sanierung sich im Oktober 1980 weiter zu verzögern drohte, wollte man das Kultusministerium zunächst durch eine Massenbriefaktion mit 1500 Briefen unter Druck setzen.83 Für die Eltern war klar, dass sie, so die »Rhein-Neckar-Zeitung«, »eine Zerschlagung der Ganztagesschule im Interesse ihrer Kinder nicht hinnehmen können. Sie werden alle zur Verfügung stehenden Mittel ausschöpfen, um diesen Beschluss des Ministeriums für Kultus und Sport [Trennung Gymnasium – Realschule, M.M.] rückgängig zu machen.«84 Schüler, Lehrer und Eltern sahen sich der Hinhalte-Taktik des Ministeriums hilflos ausgeliefert. Dieses hatte den in Stuttgart vorsprechenden Osterburkener Elternvertretern mitgeteilt, es sei noch nichts entschieden, obwohl zu diesem Zeitpunkt, wie die lokale Bevölkerung kurz darauf aus der Zeitung erfuhr, der Kultusminister das Ende des Schulversuches bereits per Erlass entschieden hatte.85 tagesschule Osterburken gem. Erlaß des Kultusministeriums. Weiterer Kampf um Beibehaltung der Schule, in: Rhein-Neckar-Zeitung, 10.12.1980. HStAS, EA 3/610 6014 Bd. 7, Manfred Pfaus, MdL, an Herrn Minister für Kultus und Sport Gerhard Mayer-Vorfelder vom 1.8.1980; HStAS, EA 3/610 6014 Bd. 8, SU – Schülerunion – an den Kultusminister Gerhard Mayer-Vorfelder vom 17.11.1980. 81 Vom Minister aufs Kreuz gelegt, in: Stern, Nr. 12, 12.3.1981. 82 Neuer Informationsabend in Osterburken: Die heftigen Debatten um die Ganztagsschule drehte ein Fernsehteam gleich mit, in: Fränkische Nachrichten, 10.12.1980. 83 HStAS, EA 3/610 6014 Bd. 7, Schülermitverwaltung an Eltern und Schüler vom 10.10.1980. 84 Kampfmaßnahmen gegen die Zerschlagung, in: Fränkische Nachrichten, 25.10.1980; Enttäuschung und Empörung bei der Elternschaft, in: Rhein-Neckar-Zeitung, 25./26.10.1980. 85 Vom Minister aufs Kreuz gelegt, in: Stern, Nr. 12, 12.3.1981. 79 80

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Als Ministerialbeamte im Oktober 1980 die Schule besuchten, spitzte sich die Situation schließlich zu. Auf Schülerseite fühlte man sich durch die demonstrative Uninformiertheit und Gleichgültigkeit der Stuttgarter Beamten offenbar provoziert, die lediglich zu einer knappen Unterredung mit Schüler- und Elternvertretern bereit waren. Vorab hatten die Schüler mehrheitlich einen Sitzstreik beschlossen, um sich bei den Ministerialbeamten Gehör zu verschaffen.86 Die Schüler waren von der Schülermitverwaltung (SMV) darauf vorbereitet worden, sobald die Ministeriumsbesucher das Gebäude verlassen wollten, eine »sitzende Meinungskundgebung« zu organisieren: »Sämtliche Ausgänge waren durch sitzende Kinder versperrt. So mussten die Beamten etwa eine Stunde länger als vorgesehen im Haus bleiben«, berichtete der »Stern«.87 Dieser offensichtlich von der Schulleitung tolerierte Streik schlug hohe politische Wellen, und die Kommunikation zwischen »oben« und »unten« vereiste nun gänzlich. Nach Informationen der regionalen Juso-Gruppe untersagte das Kultusministerium den Lehrern der Ganztagsschule »unter Androhung disziplinarrechtlicher Konsequenzen […] zu dem Erlaß öffentlich kritisch Stellung zu nehmen«.88 Als im Schulausschuss des Landtags von Baden-Württemberg über Osterburken beraten wurde, beklagte der Kultusminister die »unwürdigen« Verhältnisse, unter denen der Schulbesuch seiner Behördenvertreter verlaufen sei, »weil Lehrer unter anderem Kinder aufgehetzt hätten«. Das Lehrerkollegium verwahrte sich daraufhin in einem Brief an den Minister scharf gegen eine derart pauschale Diffamierung.89 Kurz vor Weihnachten 1980 demonstrierten über 1000 Schüler ein letztes Mal mit einem »Trauermarsch« gegen die unwiderruflich beschlossene Trennung der beiden Schultypen und betrauerten damit ausdrücklich auch »den Verlust unseres Demokratieverständnisses«.90 Versuche von Eltern und Schülern, den Vollzug der Trennung zunächst noch hinauszuzögern und die Sanierung des Gebäudes abzuwarten, blieben ohne Wirkung. Das Kultusministerium drängte – auch gegen die eigene CDU-Basis vor Ort – darauf, den Realschulzweig möglichst rasch auszulagern und die integrierte Orientierungsstufe umgehend zu beenden, um damit jegliche integrierenden Reformelemente zu eliminieren. So sollte mit Beginn des Schuljahres 1983/84 die separierte Realschule ihren Betrieb aufnehmen und eine »Orientie86

HStAS, EA 3/610 6014 Bd. 7, Schülermitverwaltung an Eltern und Schüler vom 10.10.1980. Vgl. auch die Presse: Massiver Schülerprotest an der Ganztagsschule, in: Rhein-NeckarZeitung, 20./21.9.1980. Trennung der GTO in zwei Schulen endgültig, in: Rhein-NeckarZeitung, 23.10.1980. 87 Vom Minister aufs Kreuz gelegt, in: Stern, Nr. 12, 12.3.1981. 88 Gelungener Schulversuch rücksichtslos zerschlagen, in: Fränkische Nachrichten, 8.12.1980. 89 Mayer-Vorfelder diffamiert weiter, in: GEW-Lehrerzeitung Baden-Württemberg, 4.4.1981. 90 Ganztagsschule: »Wie ein Bunker anzusehen …« Trauermarsch in Osterburken, in: Tage­ blatt, 19.12.1980.

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rungsstufe der Regelform« eingeführt werden.91 Das Ganztagsgymnasium wurde nach einer umfassenden Sanierung mit reduzierter Schülerzahl ohne Realschulzweig und Orientierungsstufe weitergeführt; die Realschule hatte einen Neubau in unmittelbarer Nachbarschaft erhalten. Das nunmehr ebenfalls getrennte Lehrerkollegium versuchte, durch einen gemeinsamen Ganztagsbetrieb die möglichst enge Verbindung zwischen beiden Schulen aufrechtzuerhalten.92 Mitte der 1980er-Jahre entstand unter Eltern, Schülern und Lehrern des Ganztagsgymnasiums erneut »große Unruhe und emotionale Auflehnung, als bekannt wurde, daß der Ganztagsbetrieb nicht automatisch über 1986 sichergestellt ist«.93 Das bisherige Agieren des Kultusministers ließ die Beteiligten befürchten, mit Auslaufen des Modellstatus als Ganztagsschule 1986 könnten die bisherigen finanziellen Zuschüsse wegfallen und dadurch die Schule in ihrer Existenz erneut bedroht sein. Man forderte in einer Petition, dass nach Ende der Modellphase eine »Festschreibung des Ganztagsbetriebs erfolgen« müsse, und verwies dabei auf das Beispiel anderer Bundesländer, die die Ganztagsschule als Angebotsschule im Schulgesetz verankert hätten.94 Auch hier wurde auf breiter Basis unter Einschluss der örtlichen CDU mobilisiert. Die CDU-Mitglieder unter den Ganztagsschullehrern appellierten an ihre Partei, sie beim Kampf um den Erhalt des Ganztagsbetriebes zu unterstützen. So argumentierte ein Studienrat, auch die CDU als pluralistische »größte Volkspartei« solle »den Mut haben, in der Pädagogik neue Wege zu beschreiten« und, wenngleich »auf der Basis des dreigliedrigen Schulsystems«, durch eine Schule wie Osterburken eine weitsichtigere »experimentelle Schulpolitik« ermöglichen.95 Es gelang schließlich, das Gymnasium als gebundene Ganztagsschule zu erhalten und langfristig in der schulischen Landschaft des Neckar-OdenwaldKreises zu verankern. Wenn das in den Jahren der Bildungsreform initiierte und von deren politischen Ideen wie »Chancengleichheit« inspirierte Modell eines ländlichen Ganztagsgymnasiums sich auf längere Sicht als Erfolg erwies, lag dies an mindestens zwei Faktoren: Zum einen gab es die äußerst engagierte Schulleitung, die das auf Ganztags­ betrieb plus Gymnasium beruhende Reformkonzept (zunächst unter Einschluss eines Realschulzweigs) glaubwürdig gegenüber Lehrern und Eltern vertrat. Zum 91

Schularchiv Osterburken, Ministerium für Kultus und Sport an das Bürgermeisteramt Osterburken vom 8.3.1983. 92 Interview mit Herrn Weiss vom 9.9.2009. 93 Schularchiv Osterburken, Undatiertes, an Eltern, Lehrer und Schüler gerichtetes Petitionsschreiben mit Unterschriften der Schulleitungen, Eltern und Schülervertretungen jeweils von Gymnasium und Realschule (vermutlich Sommer/Herbst 1985). 94 Ebd. 95 Schularchiv Osterburken, Schreiben des Oberstudienrates J. G. an Parteifreunde vom 24.10.1985.

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anderen war es gelungen, das ganztägige Schulangebot passgenau mit den lokalen Bildungsbedürfnissen abzustimmen mit der Folge, dass sich eine ganze Region in hohem Maße mit »ihrem« Ganztagsgymnasium identifizierte. Daraus resultierte die Mobilisierungsfähigkeit der ansässigen Bevölkerung einschließlich deren Honoratioren, die ein breites Unterstützungsbündnis gegenüber der offiziellen Bildungspolitik bildeten, als es um die Rettung der Modellschule ging. Gerade die starke Identifikation der ehemals bildungsfernen Bevölkerung mit ihrem Gymnasium macht den bildungsbezogenen Aneignungsprozess deutlich, der auch nach dem äußeren bildungskonjunkturellen Abschwung breit in die ländliche Gesellschaft hineinwirkte.

Fallstudie 2: Die Walter-Gropius-Schule in West-Berlin West-Berlins Jugend – 178 Kilometer vom westdeutschen Bildungsnotstand entfernt – experimentiert für die Schule von morgen. Was viele westdeutsche Lehrer nur dem Namen nach kennen – beispielsweise »Sprachlabors«, in denen mit Tonband und Kopfhörer gelernt wird –, ist vielen West-Berliner Schülern längst vertraut […]. Acht­ jährige büffeln Englisch. Fünfzehnjährige gehen ein Jahr länger zur Schule, als das Gesetz es befiehlt. Volksschüler beiderlei Geschlechts arbeiten mit Hobel und Feile; Gymnasiasten machen sich mit Begriffen wie »Input« und »Output« vertraut.96

Mit diesen Worten beschrieb das Wochenmagazin der »Spiegel« im Frühjahr 1967 den Modernitätsvorsprung der West-Berliner Schullandschaft gegenüber der Bundesrepublik. Die Berliner Senatsschulverwaltung gehörte zu dieser Zeit bundesweit zu den Vorreitern einer modernen Bildungspolitik. Bereits gute zwei Jahre früher war am 27. September 1965 in der entstehenden Satellitenstadt Britz-BuckowRudow in Berlin-Neukölln der Grundstein für eine Schule gelegt worden, die, so der Berliner »Tagesspiegel«, »einen neuen Frühling im Bildungswesen einleiten« sollte. Als eine sogenannte Gesamtschule würde sie von der Grundschule bis zur Oberschule alle herkömmlichen Schulzweige unter ihrem Dach vereinen.97 In der Gründungsgeschichte der Schule, die nach ihrem berühmten Architekten Walter Gropius benannt wurde, verschränkten sich mit Stadtplanung und Bildungspolitik zwei dezidiert gesellschaftspolitische Motivstränge, die das planungseuphorische Denken und Handeln der 1960er-Jahre besonders beispielhaft repräsentieren. Die Schule gehörte erstens zu einem stadtplanerischen Großentwurf für mehrere neue Trabantensiedlungen. Für den Süden Neuköllns plante der West-Berliner Senat unter Willy Brandt mit der zukünftigen Gropiusstadt eine Großsiedlung, welche die von Bruno Taut entworfene Hufeisensiedlung in Britz bis an die südliche Stadtgrenze Berlins erweitern sollte. Als weitere Neubaugebiete wurden das Falkenhagener Feld (Spandau), das Märkische Viertel (Reinickendorf ) und Lichtenrade (Tempelhof ) abgesteckt. Zweitens war die von Walter Gropius geplante Schule als erste integrierte Gesamtschule der Bundesrepublik ein bildungspolitisch gewolltes Projekt. Wie die Walter-Gropius-Schule als ganztägig organisierte Gesamtschule in jenen Jahren der bildungspolitischen Hochkonjunktur geplant und realisiert wurde und inwieweit sie zum Modell für die bundesdeutsche Bildungsreform werden sollte, wird im Folgenden genauer untersucht. Inwiefern begünstigten Faktoren wie Gesamtberliner Reformtraditionen, die unmittelbare Systemkonkurrenz zur DDR entlang der Stadtgrenze sowie die bildungspolitischen Profilierungsbestrebungen der Berliner SPD die Schulgründung »von oben«? Auf welchen Ebenen wirkten Politik, Wis96 97

Bildung nach Maß, in: Spiegel, Nr. 12/1967, S. 77. Grundstein für erste Gesamtschule, in: Tagesspiegel, 28.9.1965.

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senschaft und pädagogische Akteure zusammen, und welche Bedeutung maßen sie der Ganztagsorganisation der neuen Schule bei? West-Berlin – »Reformlabor« der Bildungspolitik Die Pionierrolle West-Berlins auf dem Feld der Schulpolitik erklärte sich zum einen aus der reformpädagogischen Prägung vieler ihrer Akteure, die sich großenteils bereits in der Weimarer Republik an schulischen Reformversuchen beteiligt hatten. Zum anderen war sie auf die besondere Situation in der Nachkriegszeit zurückzuführen, als mit dem »Schulgesetz für Groß-Berlin« von 1948 die »Einheitsschule« sektorenübergreifend eingeführt worden war. Zwar beschritt der Westen der ehemaligen Reichshauptstadt mit der Teilung Berlins seit 1951 schulpolitisch den Weg der Bundesrepublik und gab die frisch eingeführte »Einheitsschule« zugunsten des dreigliedrigen Schulsystems wieder auf. Dennoch behielt das Modell der »Berliner Schule« einzelne Reformelemente wie die neunjährige Schulpflicht und die sechsjährige Grundschule bei, mit denen es sich von der westdeutschen Schulnorm mit achtjähriger Volksschule und Gymnasium ab Klasse 5 unterschied. Vereinzelt konnten im Westteil Berlins auch nach der politischen Spaltung innovative Schulexperimente unter dem Etikett »Schule besonderer Prägung« fortbestehen wie die horizontal gegliederte Fritz-Karsen-Schule in Neukölln, die auf Einheitsschulkonzepte der 1920er-Jahre zurückging.98 Die mit der Nähe zur DDR unmittelbar erfahrbare Systemkonkurrenz trug in den 1950er-Jahren dazu bei, die parteipolitischen Fronten in der West-Berliner Bildungspolitik zu verhärten: Während die SPD Reformen wie die sechsjährige Grundschule vehement verteidigte, forderten Konservative um CDU und Philologenverband die Wiederherstellung des grundständigen Gymnasiums von Klasse 5 bis 13. Die große Koalition (1957–1963) regierte somit bildungsprogrammatisch auf dünnem Eis – in einer Art »Frontstadt«-Konsens bekannte man sich lediglich dazu, dass der Stadtstaat Berlin als »Leuchtturm realen Menschentums inmitten der kommunistischen Unfreiheit« im Bereich Bildung und Kultur seinen Hauptstadtanspruch aufrechterhalten müsse und ein »gesundes Schulwesen« dabei von eminenter Bedeutung sei.99 98

Benno Schmoldt (Hg.), Das Schulwesen in Berlin seit 1945. Beiträge zur Entwicklung der Berliner Schule, Berlin 1990; Tobias Rülcker (Hg.), Modell Berlin: Schule und Schulpolitik in Berlin in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2007; Wolfgang Keim/ Norbert H. Weber (Hg.), Reformpädagogik in Berlin – Tradition und Wiederentdeckung, Frankfurt/M. u.a. 1998; für SBZ und DDR vgl. Sonja Häder, Schülerkindheit in OstBerlin. Sozialisation unter den Bedingungen der Diktatur (1945–1958), Köln u.a. 1998. 99 Jahresberichte des Senats von Berlin 1951 und 1956, zitiert nach Karl-Heinz Füssl/Christian Kubina, Berliner Schule zwischen Restauration und Innovation: Zielkonflikte um das Berliner Schulwesen 1951–1968, Frankfurt/M. 1983, S. 199.

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Noch in der Amtszeit des christdemokratischen Volksbildungssenators Joachim Tiburtius profilierte sich die Berliner SPD als schulpolitische Reformpartei. Als zentraler Protagonist agierte hier der Tempelhofer SPD-Bezirksschulrat und ehemalige Lehrer Carl-Heinz Evers, der seit 1959 als Landesschulrat die Schulabteilung in der Senatsverwaltung für Volksbildung leitete, bevor er 1963 selbst den Posten des Schulsenators übernahm. Evers’ 1962 verfasste und bundesweit rezipierte »Denkschrift zur inneren Schulreform« brachte die frühe West-Berliner Bildungsdebatte in Gang, indem sie nicht nur eine Bestandsaufnahme der Mängel des Schulwesens lieferte, sondern auch Empfehlungen für dessen Ausbau und Modernisierung gab. Als Reformschritte skizziert wurden etwa die Verlängerung der Schulzeit für die Hauptschule durch ein zehntes Schuljahr, eine stärkere Berufsorientierung mit dem Betriebspraktikum für Hauptschüler, kern- und neigungsorientierter Fachunterricht für Gymnasiasten, kleinere Klassenverbände zur Stärkung des dialogischen Prinzips zwischen Lehrern und Schülern, Schulkindergarten, Englischunterricht in der Grundschule. Die Schrift formulierte zudem statistisch detaillierte Planungsschritte und Kostenaufstellungen für »pädagogische Verbesserungen« für den Zeitraum 1963–1967.100 Aus Evers’ Sicht waren Bildungsinvestitionen gerade für das eingemauerte West-Berlin das Gebot der Stunde. Die ungeheure Herausforderung der Menschheit durch den kommunistischen Totalitarismus hat dazu geführt, dass die großen Nationen der freien Welt ihre Ausgaben für Erziehung, Unterricht, Wissenschaft und Volksbildung erheblich erhöhen […]. Deutschland wird als freies Land nur fortbestehen, wenn es sich der Herausforderung durch den kommunistischen Totalitarismus gewachsen erweist. […] Es ist ein Maßstab für die Kultur eines Volkes, welche Wichtigkeit es der Erziehung seiner Jugend und damit der Vorsorge für die Zukunft beimisst. Nachdem Berlin nach den Willkürmaßnahmen des totalitären Ulbricht-Regimes vorerst nicht mehr Begegnungsstätte der Menschen aus beiden Teilen Deutschlands sein kann, muß es sein Schulwesen vorbildlich und modellhaft gestalten. Ein modernes demokratisches Schulwesen wird anziehend und beispielgebend auf freie und unfreie Menschen wirken. Es zeugt vom Lebenswillen und vom Vertrauen in die Zukunft, wenn Berlin mit der Verbesserung seines Schulwesens eine entscheidende Tat für die Zukunft vollbringt – für unsere Stadt, für unser Volk und für die Gemeinschaft der freien Völker, zu der wir gehören.101

In der frühen Berliner Reformdiskussion um schulische Lern- und Erziehungsziele war die Frage nach der Zeitstruktur von Schule ein nachrangiger Aspekt. Einzelne Be­zirke hatten bereits Ende der 1950er-Jahre mit Schulversuchen begonnen, 100 Die Denkschrift wurde von Evers 1962 im Auftrag der SPD- und CDU-Fraktionen im Abgeordnetenhaus verfasst. Senator für Volksbildung (Hg.), Denkschrift zur inneren Schulreform, Berlin 1962, S. 47–51. 101 Ebd., S. 51.

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neue zeitpolitische Wege zu beschreiten. An einer Oberschule mit wissenschaftlichem Zweig in Berlin-Siemensstadt wurde im Rahmen der Debatte um Arbeitszeitverkürzung die schulische Sechstagewoche durch Stoffkürzung und Formen exemplarischen Lernens auf eine Fünftagewoche umgestellt und so der von Eltern praktizierten Wochenarbeitszeit mit freiem Samstag angepasst.102 Auf Widerstand konservativer Gruppen traf hier insbesondere die Organisation des Religionsunterrichts als freiwillige Arbeitsgemeinschaft am Nachmittag.103 Weitere Schulen übernahmen die verkürzte Wochenschulzeit. Zu den bekannteren Versuchen mit Tagesheimschule zählte auch der vom Senat 1958 genehmigte, knapp dreijährige Modellversuch an der Ludwig-Heck-Grundschule in Berlin-Mariendorf, die im Zuständigkeitsbereich von Carl-Heinz Evers als Tempelhofer Bezirksschulrat lag. Dabei sollte eine »ganztägige unterrichtliche und erzieherische Betreuung« für sogenannte Schlüsselkinder nicht nur die fehlende elterliche Betreuung ersetzen, sondern auch durch Nachmittagsaktivitäten Leistung und Verhalten der Schüler positiv beeinflussen.104 Insbesondere die SPD machte sich für entsprechende Versuche mit Tagesheimschulen stark.105 Eine vom Senat im Juni/ Juli 1963 durchgeführte nichtrepräsentative Befragung zur Akzeptanz von Tagesheimschulen ergab eine vergleichsweise hohe Zustimmung: Von 557 befragten Personen sprachen sich 46 Prozent für Tagesheimschulen und 32 Prozent dagegen aus, 22 Prozent blieben unentschieden.106 Wenn West-Berlin sich in den 1960er-Jahren den Ruf einer pädagogischen »Labor­ küche« erwarb, trug hierzu ganz wesentlich die forschungspolitische Entscheidung bei, die Halbstadt nunmehr zu einem Zentrum von Bildung, Wissenschaft und Kultur auszubauen. Mit einer entsprechend neu zu errichtenden Infrastruktur wollte man hauptstädtische Funktionsverluste kompensieren und damit auch die Medien-

102 Eva Ronsfeld-Sieburg, Ein Schulversuch, der wichtige Aufschlüsse gibt, in: Elternblatt 10 (1960), Nr. 6, S. 6. 103 Karl-Heinz Füssl/Christian Kubina, Der Erziehungsbeirat beim Senat von Berlin (1953– 1968), Berlin 1979, S. 34. 104 Der Versuch wurde schließlich aufgegeben, weil das Schulgebäude trotz zusätzlicher Ausstattung räumlich wenig geeignet war und zudem durch das Prinzip der Freiwilligkeit die Teilnehmerzahlen an dem Nachmittagsprogramm permanent schwankten. Carl-Heinz Evers, Die Tagesheimschule, in: Berliner Lehrer-Zeitung 13 (1959), Nr. 15/16, S. 333–336; Renate Kruschel, Ein Nein zur Tempelhofer Tagesheimschule, in: Die Berliner Schule 5 (1958), Nr. 6, S. 6f.; vgl. auch Füssel/Kubina, Erziehungsbeirat, S. 34f. 105 Landesarchiv Berlin (LAB), B Rep 015 Nr. 346, Auszug aus dem stenografischen Bericht des Abgeordnetenhauses von Berlin, 8.5.1958. 106 LAB, B Rep 015 Nr. 310, Meinungsumfrage zu den Themen Schulwesen, Beruf, Fünf-TageWoche für Schüler und Ganztagschule (Befragung im Juni/Juli 1963).

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debatte darüber, ob Berlin »Weltstadt oder Provinz«107 sei, klar beantwortet sehen. Neben dem Regierenden Bürgermeister Willy Brandt machte sich vor allem Carl-Heinz Evers für die Ansiedlung von neuen Forschungsinstituten stark. Damit sollte die Mauerstadt als Standort einer modernen Bildungspolitik profiliert und ein Gegengewicht geschaffen werden angesichts der Verlagerung von Unternehmensleitungen und Forschungsabteilungen und der starken demografischen Verluste durch Abwanderung.108 So wurden 1963 das Institut für Bildungsforschung in der Max-Planck-Gesellschaft und das Schulbauinstitut als Gemeinschaftseinrichtung der deutschen Länder gegründet.109 1965 öffnete das auf eine Verbindung von pädagogischer Wissenschaft und Praxis ausgerichtete Pädagogische Zentrum (PZ) seine Pforten.110 Die Planung von Modellschulen wie der Walter-Gropius-Schule war Teil der Strategie, West-Berlin zur »Bildungshauptstadt« der Bundesrepublik zu machen. Planungen und Protagonisten Der Eröffnung der Walter-Gropius-Schule am 19. April 1968 ging eine längere Phase voraus, die von den frühen Entwürfen für die neue Großsiedlung Britz-BuckowRudow Ende der 1950er-Jahre bis zur konkreten Schulplanung seit Mitte der 1960er-Jahre reichte. Nachdem der Senat im Frühjahr 1958 im südlichen Neukölln bereits die ersten Grundstücke angekauft hatte, entstand für die Bauvorhaben mit dem 13. August 1961 schlagartig eine neue Situation. Da nach dem Mauerbau keine zusätzlichen Flächen mehr zur Verfügung standen, musste der bebaubare Raum – gegen den erklärten Willen des Architekten Walter Gropius – durch höhere Gebäude und mehr Infrastrukturgebäude auf engem Raum verdichtet werden. Der West-Berliner Senat trieb die Neubauplanungen voran, im November 1962 legte der Regierende Bürgermeister Willy Brandt den Grundstein für die entstehende Gropiusstadt. In der Gesamtkonzeption für die Großsiedlung war zunächst eine kombinierte Grundund Realschule vorgesehen.111 107 So der vielzitierte Ausspruch, der auf eine Artikelserie in der »Berliner Morgenpost« zurückgeht. Vgl. Carl-Ludwig Furck, Das Pädagogische Zentrum in Berlin – eine Verbindung von Wissenschaft und Praxis. Rückblick auf ein gescheitertes Projekt, in: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 9 (2003), S. 269–282. 108 Füssl/Kubina, Berliner Schule, S. 210f. 109 Zum Institut für Bildungsforschung, das 1971 seinen heutigen Namen Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (MPIB) erhielt, und zu Hellmut Becker als treibender Kraft bei der Etablierung des Instituts vgl. Fußnote 17 in Kap. 2.1. sowie Kap. 2.3. 110 Vgl. Furck, Das Pädagogische Zentrum in Berlin. 111 Gudrun Wedel, Bildung für alle – Die erste zehnte Klasse für Hauptschüler, in: Gerd Radde u.a. (Hg.), Schulreform – Kontinuitäten und Brüche. Das Versuchsfeld Berlin-Neukölln, Bd. II 1945–1973, Opladen 1993, S. 86–94, hier S. 93.

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Die Schulplanungen für das Neubaugebiet Britz-Buckow-Rudow überschnitten sich mit der einsetzenden Bildungsdebatte, die in der Berliner SPD Anfang der 1960er-Jahre vor allem in Gestalt der Gesamtschule rasch Fahrt aufnahm. Landesschulrat Carl-Heinz Evers gehörte hier zu den entschiedensten Befürwortern einer Vereinheitlichung des Schulwesens durch eine leistungsdifferenzierte Gesamtschule.112 Nachdem bereits seine »Denkschrift zur inneren Schulreform« von 1962 in diese Richtung wies, sprach Evers auf dem SPD-Kongress »Deutsche Gemeinschaftsaufgaben« im Oktober 1962 erstmals öffentlich von einem Gesamtschulsystem. Wenn sich die SPD als Zugpferd für mehr Bildungsgerechtigkeit empfahl, wurde sie auch für junge Erziehungswissenschaftler attraktiv, die moderne, egalitär ausgerichtete Schulkonzepte verfolgten. So forderte beispielsweise Carl-Ludwig Furck auf dem gleichen SPD-Kongress ebenfalls eine Gesamtschule, wobei er selbstverständlich von deren Ganztagsstruktur ausging.113 Auf Drängen Evers’, der stellvertretender Vorsitzender der Bildungspolitischen Kommission im SPD-Parteivorstand war, wurde die Gesamtschule mit den »Bildungspolitischen Leitsätzen« 1964 in den Zielkatalog sozialdemokratischer Schulreform aufgenommen.114 Die für den Süden Neuköllns geplante Schule begann für die sozialdemokratischen Reformpläne zunehmend eine Schrittmacherrolle zu spielen. Bereits 1962 initiierte Evers erste Gespräche zwischen dem Architekten Walter Gropius, reform­ orientierten Pädagogen und den an der Planung der Neubausiedlung beteiligten Senats- und Bezirksverwaltungen. Gropius, der nach seinen US-amerikanischen Exilerfahrungen für die ursprünglich vorgesehene konventionelle Grund- und Realschule nicht zu gewinnen war, ließ sich auf Evers’ Konzept einer »Gesamtschule« ein. Gropius und Evers einigten sich darauf, die neue Schule nach dem Muster der US-amerikanischen »Comprehensive High School« zu errichten, und fanden dafür die Zustimmung des CDU-Volksbildungssenators Joachim Tiburtius.115 Der Neuköllner Schulrat Herbert Werner, der als Hauptschulrektor bereits praktische Erfahrungen mit Schulversuchen gemacht hatte, erklärte sich auf Evers’ Bitte bereit, gemeinsam mit anderen Lehrern eine bauliche und pädagogische Konzeption für eine »besondere Schule« zu entwickeln.116 Nach dem großen Wahlerfolg der SPD bei den Abgeordnetenhauswahlen 1963 übernahm Evers die Senatsverwaltung für Schulwesen und trieb dort die Gesamtschulplanungen voran. Neben der Gropiusstadt plante man weitere Gesamtschulen 112 Senator für Volksbildung, Denkschrift zur inneren Schulreform, S. 5f. 113 Vgl. zu Carl-Ludwig Furck Kap. 2.1. 114 Klaus-Jürgen Tillmann, Carl-Heinz Evers – Der Vater der Gesamtschule? – Eine SchreibtischReise in die 60er Jahre, in: Lutz van Dijk (Hg.), Heute noch! Carl-Heinz Evers – politischpädagogische Biografie, Weinheim 1987, S. 153–168. 115 Ebd., S. 163. 116 Füssl/Kubina, Berliner Schule, S. 323f.

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für die entstehenden Satellitenstädte Falkenhagener Feld in Spandau, Märkisches Viertel in Reinickendorf und für eine Wohnsiedlung in Lichtenrade.117 Für diese Formen des Großsiedlungsbaus waren großdimensionierte integrierte Schulsysteme vorgesehen, konnten diese doch effektiver genutzt werden als traditionelle Schulen und würden langfristig sogar kostensparend sein. Alle vier Schulneubauten entsprachen dem zeitgenössischen, gerade auch in der SPD ausgeprägten Rationalisierungsund Funktionalitätsdenken und trugen wie die Siedlungen, in denen sie errichtet wurden, die Handschrift des modernen Städtebaus einschließlich dessen sozialtechnologisch integrierenden Impetus,118 bei dem es laut Evers darum gehe, »im Sinne einer als offen verstandenen Gesellschaft soziale Schichten auch räumlich [zu] integrieren, nicht [zu] separieren, um Kontakt- und Milieusperren abzubauen«.119 Mit der Institutionalisierung von Bildungsforschung und Pädagogik erweiterte sich das bisher mit der West-Berliner Gesamtschulplanung befasste Akteursspektum im Umfeld von SPD-Schulsenat um Mitarbeiter des Instituts für Bildungsforschung in der Max-Planck-Gesellschaft und des Pädagogischen Zentrums.120 Das von der ersten, weitgehend ehrenamtlich tätigen Planungsgruppe um Herbert Werner vorgelegte Schulkonzept von 1965 entsprach offenbar nicht den Erwartungen dieser jüngeren bildungspolitischen Akteure, die sich als wissenschaftliche Experten auch als Bündnispartner der Reformpolitik verstanden.121 Der Schulsenator rief daher im April 1966 eine neue Arbeitsgruppe ins Leben, die mit Blick auf die fortgeschrittene Bau-Entwicklung in Gropiusstadt die Schulplanung effizienter und professioneller machen sollte und deren hauptamtliche Leitung Evers’ persönlicher Referent Horst Mastmann im Sinne einer Politik der »kurzen Dienstwege« übernahm.122 Mastmann und der Neuköllner Stadtrat für Volksbildung Erich Frister123 koordinierten die Zusammenstellung dieses Planungsgremiums mit rund 20 ständigen und 25 wechselnden wissenschaftlichen und pädagogischen Referenten, Beratern und Interessierten, das den Auftrag bekam, einen pädagogisch-didaktischen Strukturplan 117 Ebd., S. 267. 118 Vgl. allgemein Christiane Reinecke, Vom schlechten Ruf der Neuen Städte: Trabantenstädte und die Herstellung sozialer Topographien in Westdeutschland, in: ZeitRäume. Potsdamer Almanach des Zentrums für Zeithistorische Forschung (2011), S. 160–171; allgemein zu social engineering: Etzemüller, Ordnung der Moderne. 119 Gespräch mit Evers in der »Berliner Lehrerzeitung«, zitiert nach Füssel/Kubina, Berliner Schule, S. 266. 120 Zur wissenschaftlichen Politikberatung vgl. auch Kap. 2.3. 121 Wedel, Bildung für alle. 122 Peter Gaude/Günter Reuel, Die erste integrierte Gesamtschule Deutschlands – Erfahrungen als Planer der Walter-Gropius-Schule, in: Gerd Radde u.a. (Hg.), Schulreform – Kontinuitäten und Brüche. Das Versuchsfeld Berlin-Neukölln, Bd. II 1945–1973, Opladen 1993, S. 130–140. 123 Erich Frister wurde 1968 Bundesvorsitzender der GEW.

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für eine integrierte, von der Vorschule bis zum Abitur reichende Gesamtschule zu erarbeiten. Gerade jüngere, von pädagogischen Aufbruchideen und Diskursen um Chancengleichheit geprägte Lehrer aller Schulzweige trafen in diesem Forum auf Gleichgesinnte, mit denen sie sich als Schulpraktiker in die didaktische und methodische Ausgestaltung des neuen Schultyps Gesamtschule einbringen wollten. Ein Teil von ihnen bildete bereits den Kern des zukünftigen Lehrerkollegiums, Horst Mastmann war für den Posten des Schulleiters vorgesehen. Die pädagogischen Planer, von denen die meisten schulpolitisch in Berufsverbänden und politischen Parteien aktiv waren, standen in Kontakt mit ähnlichen Planungsgruppen, die sich für die Schulplanung in den drei anderen Neubaugebieten gebildet hatten.124 Die im Auftrag des Schulsenats produzierten Planungspapiere und Analysen verweisen auf ein Netzwerk aus Pädagogen, Wissenschaftlern und sozialdemokratischen Politikern, das in den Folgejahren über Berlin hinaus den Kurs der westdeutschen Gesamtschulplanung mitprägen sollte. Neben Horst Mastmann, dessen praktische Expertise in Sachen Gesamtschulplanung zu seiner Berufung in den Unterausschuss »Experimentalprogramm« des Strukturausschusses des Bildungsrates führte, agierten hier weitere Personen, welche die Gesamtschule zu ihrer Sache gemacht hatten, wie z.B. Hans-Günter Rolff, zuerst als Mitarbeiter des MPIB und 1968 als Leiter der Unterabteilung Planung des Berliner Schulsenators und ebenfalls im Unterausschuss »Experimentalprogramm« des Bildungsrates aktiv,125 sowie Joachim Lohmann zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Pädagogischen Zentrums, danach kurzzeitiger Planungsreferent beim Schulsenator.126 Konzepte und Kontroversen Wenn die Planungen für »Schulen besonderer pädagogischer Prägung« Mitte der 1960er-Jahre in die Kritik gerieten, hatte dies zum einen finanzpolitische Gründe. So übertrafen die vom Hauptausschuss Schulwesen und Volksbildung im Mai 1967 genehmigten Mittel von rund 15 Millionen DM die ursprünglich veranschlagten Kosten um ein Vielfaches und sollten noch weiter steigen. Die Finanzverwaltung hatte ihre Bedenken nur zurückgestellt mit Blick auf die übergeordnete Zielsetzung der Senatspolitik, wonach Berlin zu einer »Stätte der Bildung, der Wissenschaft und Kultur werden« sollte und daher auch »im Schulwesen Modellanlagen

124 Werner Danne, Versuchsansatz demokratische Leistungsschule – Vier Modell-Gesamtschulen legen das Fundament der Regelschule (1966–1972), in: Ulrich-Johannes Kledzik/Peter Kaßner/Bernd Roland, Berliner Gesamtschule ’68 bis ’88. Dokumente zu einer Reformbewegung, München 2000, S. 10–16, hier S. 11f. 125 Vgl. dazu Kap. 2.3. sowie Klaus-Jürgen Tillmann, Carl-Heinz Evers – Der Vater der Gesamt­ schule?, S. 156. 126 Vgl. zu Lohmann Kap. 2.1

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geschaffen« werden müssten.127 Zum anderen erhoben sich immer lauter werdende Stimmen aus der CDU-Opposition gegen die laufenden Schulplanungen des SPDSenats. Die CDU befürchtete, dass über neu errichtete Modellschulen die Weichen schleichend in Richtung »Einheitsschule« gestellt werden könnten. Auf Seiten des Schulsenators begegnete man der Fundamentalkritik des politischen Gegners mit einer Strategie der Versachlichung, Entideologisierung und Internationalisierung der Schuldiskussion. Carl-Heinz Evers war bestrebt, jegliche Nähe zum Einheitsschulmodell à la DDR zu vermeiden. Dies dürfte mit ein Grund dafür gewesen sein, dass der ursprüngliche Entwurf der ersten Planungsgruppe um Herbert Werner nicht zum Zuge kam, war dieser doch konzeptionell von der Einheitsschule der 1920er-Jahre geprägt, die Werner als Schüler der Karl-Marx-Schule, Vorläufer der späteren Fritz-Karsen-Schule, selbst kennengelernt hatte.128 Der Everssche Plan einer »Berliner Gesamtschule« verstand sich stattdessen als ein dezidiert westliches Konzept, das sich neben den USA an den Erfahrungen Skandinaviens und Englands orientierte und mithilfe von pädagogisch-didaktischen Versuchen mit Frühenglisch, Betriebspraktikum und zehntem Schuljahr für Hauptschüler, kern- und neigungsorientiertem Fachunterricht für Gymnasiasten auf die Berufspraxis ausgerichtet sein sollte.129 Erklärtes Ziel war es, im Rückgriff auf die bildungsökonomisch ausgerichtete internationale Bildungsdebatte, die Leistungsfähigkeit des Berliner Bildungssystems insgesamt zu steigern und die Abiturientenquote von 12 Prozent aller 19- bis 21-Jährigen im Jahre 1967 zu verdreifachen. Darüber hinaus sollten Bildungschancen konsequent demokratisiert werden, um der Korrelation von sozialer Herkunft und Bildungserfolg entgegenzuwirken und Kinder aus bildungsfernen Familien entsprechend zu fördern. Der selbstgesetzte Anspruch für die Gropius-Schule lautete, eine Schulreform in Gang zu setzen, die »den Anforderungen der Zukunft zu entsprechen vermag, die die Forderungen eines sozialen Rechtsstaats (GG Art. 20) in Hinblick auf reale Chancengleichheit erfüllen kann«.130 Entsprechend sah das Modell eine ganztägige Gesamtschule vor, die von der Vorschule bis zum Abitur führte und deren Grundelemente Durchlässigkeit, soziales Lernen in Groß- und Kleingruppen und Differenzierung hießen.131

127 Im September 1967 waren die Kosten u.a. aufgrund des höheren Architektenhonorars weiter auf 19 Mio. DM gestiegen. LAB, B Rep. 002 8508, Protokolle der 5. Sitzung und der 15. Sitzung des Hauptausschusses Schulwesen und Volksbildung vom 24. Mai bzw. 28. Juni 1967. 128 Füssl/Kubina, Berliner Schule, S. 323f. 129 Bildung nach Maß, in: Spiegel, Nr. 12/1967, S. 78f. Vgl. auch Füssl/Kubina, Berliner Schule, S. 277f. 130 Horst Mastmann, Gesamtschule: Ein Handbuch, Bd. 1, Schwalbach bei Frankfurt/M. 1968, S. 9. 131 Ebd.

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Die Schulplanungen für die Gropiusstadt wurden, so scheint es, ganz den sozialdemokratischen Konzepten und Durchsetzungsstrategien für die Gesamtschule untergeordnet. Dies führte offenbar auch zu Verständigungsschwierigkeiten unter den beteiligten Akteuren aus Wissenschaft und Praxis. Die Schulplaner um Evers und die Berliner SPD verfolgten mit ihrem Gesamtschulkonzept eine alle drei Schul­ typen integrierende »demokratische Leistungsschule«, deren Bildungsabschlüsse bis zur allgemeinen Durchsetzung der Gesamtschule anschlussfähig an das herkömmliche Schulsystem sein sollten. Sowohl »integriert« als auch »differenziert« sollte die Berliner Gesamtschule durch ihr Curriculum und ihre ganztägige Organisationsstruktur »allen das Gleiche – jedem das Seine«, so die zeitgenössische Leitvokabel, garantieren.132 Das politisch bereits vorgefertigte Konzept stieß bei den Erziehungswissenschaftlern des Pädagogischen Zentrums auf Skepsis, dessen Leiter Carl-Ludwig Furck 1967 ein »Koordinierungszentrum für Gesamtschulplanung« ins Leben gerufen hatte.133 Die Wissenschaftler wollten sehr viel grundsätzlicher über das Prinzip »soziale Integration« von Schule forschen und verweigerten sich politischer Auftragsforschung und vorschnellen pragmatischen Lösungen.134 In der Rückschau ehemaliger Praktiker der Planungsgruppe hingegen sei die wissenschaftliche Beratung und Begleitung der Planungsgruppe trotz der Fülle an wissenschaftlichen Institutionen vor allem deswegen »dürftig« ausgefallen, weil mit dem »Wissensstand« und dem »Problembewusstsein der als Berater in Frage kommenden Wissenschaftler in Sachen Gesamtschule im europäischen Zusammenhang […] kaum Antworten auf die die Planer beschäftigenden Fragen zu erwarten waren«. Praxisnahe Anregungen habe man vielmehr durch »Orientierungsreisen« zu den Vorbildländern nach Schweden, Großbritannien und Frankreich erhalten.135 Die Gründer der Walter-Gropius-Schule sahen sich nicht nur dem Gegenwind aus dem konservativen Lager gegenüber. Die Schuleröffnung im April 1968 fiel auch in die Hochphase der Studenten- und Schülerbewegung, welche die Repressivität und Selektivität des westdeutschen Schulsystems radikal kritisierten und zum Teil eigene schulpädagogische Aktivitäten entwickelten.136 In Berlin improvisierten studentische 132 Die Planungsgruppe der Walter-Gropius-Schule stand dadurch in engem Kontakt zu den Arbeitsgruppen für die anderen Berliner Gesamtschulen wie der Thomas-Mann-Oberschule in Reinickendorf, der Martin-Buber-Oberschule in Spandau und der Carl-ZeissOberschule in Lichtenrade. Vgl. Gaude/Reuel, Die erste integrierte Gesamtschule. 133 Danne, Versuchsansatz demokratische Leistungsschule, S. 11f. 134 Füssl/Kubina, Berliner Schule, S. 286f.; vgl. auch Furck, Das Pädagogische Zentrum. 135 Gaude/Reuel, Die erste integrierte Gesamtschule, S. 137. 136 Vgl. Meike Sophia Baader/Ulrich Herrmann (Hg.), 68 – engagierte Jugend und kritische Pädagogik: Impulse und Folgen eines kulturellen Umbruchs in der Geschichte der Bundesrepublik (Materialien zur historischen Jugendforschung), Weinheim u.a. 2011.

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Initiativen im Rahmen der »Aktion Bildungswerbung« mit der Nachmittagsförderung von Schulkindern. Unterstützt von der Berliner Bildungsverwaltung und in Kooperation mit dem Pädagogischen Zentrum und dem Institut für Bildungsforschung versuchten die »studentischen Bildungsaktivisten«, so beschrieb es der »Spiegel« 1969, Arbeitereltern in Betrieben und Gewerkschaftsversammlungen »vom Nutzen einer besseren Schulbildung für ihre Kinder zu überzeugen«.137 Der Senat stellte für die Schularbeitszirkel, die an mehreren Nachmittagen in der Woche rund 1500 Kinder an 40 Grundschulen betreuten, finanzielle Mittel bereit.138 Die aus linken Elterninitiativen entstandenen Kinder- und Schülerläden richteten sich grundsätzlich kritisch gegen das hierarchische und repressive »System Schule«.139 Auch an der Walter-Gropius-Schule waren die pädagogischen Auseinandersetzungen der ersten Jahre von jungen Lehrern und Sozialpädagogen bestimmt, die das revolutionäre Klima und den festen Willen, das Schulwesen zu verändern, von der Pädagogischen Hochschule oder Universität mit in den schulischen Alltag trugen. Dort entstanden Kontroversen, hielten doch die Schulgründer unter den Lehrern am leistungsorientierten Grundprinzip ihrer Modellschule fest. Nicht wenige Pädagogen waren offenbar davon abgeschreckt, dass sich an der Gropius-Schule die pädagogische Diskussion auf Themen wie standardisierte Schülerbeurteilungen, detaillierte Lernziele und Unterrichtspläne konzentrierte. Ohne dass K-Gruppen und die Sozialistische Einheitspartei West-Berlin (SEW) an der Schule Fuß gefasst hatten, lehnten indessen auch viele junge, in der GEW organisierte Lehrer eine »technokratische Schulreform Gesamtschule« ab und zeigten sich durch MarxLektüren inspiriert, an die Einheitsschulideen der 1920er-Jahre anzuknüpfen.140 Für die Gruppe der Schulgründer war es im politisierten pädagogischen Diskursklima der 1970er-Jahre nicht einfach, Kurs zu halten und im praktischen Schulalltag die leistungsdifferenzierte Gesamtschule mit der Ganztagsschule zu verbinden. Ganztägiger Schulbetrieb in der Praxis Nach der Schuleröffnung zeigte sich rasch, dass der Ganztagsorganisation des Schulbetriebs im Vorfeld wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden war. Dies betraf zum einen den Architekturentwurf des aus fünf Pavillons bestehenden Schulgebäudes, den Walter Gropius ursprünglich für eine US-amerikanische Schule realisieren wollte und der keinen schulischen Ganztagsbetrieb vorsah. Bereits in der Bauphase 137 Bildungsförderung – grau und duster, in: Spiegel, Nr. 49/1969. 138 Ebd. 139 Sozialistische Projektarbeit im Berliner Schülerladen Rote Freiheit, hg. vom Autorenkollektiv am Psychologischen Institut der Freien Univ. Berlin, Frankfurt/M. 1971. 140 Brigitte Kath, Ohne sie läuft nichts. Pädagogische Mitarbeiter in der Walter-GropiusSchule, in: Gerd Radde u.a. (Hg.), Schulreform – Kontinuitäten und Brüche. Das Versuchsfeld Berlin-Neukölln, Bd. II 1945 – 1973, Opladen 1993, S. 143–152, hier S. 145.

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waren daher zusätzliche, für eine Ganztagsschule notwendige Funktionsräume wie Speise- und Freizeiträume eingefügt worden. Zum anderen aber hatte es in päda­ gogischer Hinsicht an Vorüberlegungen gefehlt. Die erzieherischen Herausforderungen, die sich aus dem ganztägigen Aufenthalt von Schülern und Lehrern in der Schule ergaben, standen nicht im Fokus der Gründergeneration. Vielmehr konzentrierte man sich auf den Bereich der Unterrichtsorganisation und curricularen Inhalte. Das Hauptaugenmerk galt Aspekten wie Leistungsmessung, Lernzielen und Wissenschaftsorientierung des Unterrichts. Dreh- und Angelpunkt blieb die Leistungsfähigkeit der Gesamtschule im Vergleich zu anderen Schultypen, insbesondere dem Gymnasium. Die schulische Praxis unterlag dem Anspruch bzw. der administrativen Vorgabe, dass die Anerkennung von Gesamtschulabschlüssen über Bundeslandgrenzen hinaus gewährleistet sein müsste. Zu den Fragen, die an der Schule bis in die 1980er-Jahre höchst kontrovers diskutiert wurden, gehörte die Leistungsdifferenzierung, die gleichsam als das Herzstück einer differenzierten Gesamtschule galt. Das von Wolfgang P. Teschner eigens für die Gropius-Schule entwickelte sogenannte FEGA-Modell unterschied für Schüler vier Leistungsstufen: Ausgehend von Grund- und Erweiterungskursen (G und E) konnte nach »oben« (Fortgeschrittene F) und »unten« (Anschlusskurs A) weiter ausdifferenziert werden.141 Das FEGA-Modell wurde später von vielen Gesamtschulen übernommen.142 Die stete Konkurrenz zwischen Gesamtschule und herkömmlichem Schulsystem trug maßgeblich dazu bei, auch an der Walter-Gropius-Schule an der Fokussierung auf den Unterricht weitgehend festzuhalten – selbst dann noch, als die Gesamtschule in Berlin nach 1970 Regelschule geworden war. Es fehlte somit an Handlungsspielräumen dafür, einen neuen Schultyp mit einer zeitlichen Neuverteilung von Freizeit- und Schulstunden bzw. einem anders akzentuierten Fächerkanon zu konzipieren. Die verbindliche Ganztagsstruktur der Gropius-Schule sah für die Schüler der 3. bis 10. Klasse eine Anwesenheit von 8–16 Uhr vor. Der Tagesplan bestand aus Unterricht und sogenannten Schülerarbeitsstunden (SAS). Der Anspruch lautete, Unterrichtsinhalte und -methoden so aufzubereiten, dass »Hausaufgaben« als »Unterrichtsaufgaben« während des Unterrichts bzw. ohne Lehrerhilfe in den »Arbeitsstunden« ausgeführt werden könnten.143 Was darüber hinaus die ganztägige Präsenz für alle Beteiligten bedeutete, wurde von den Planern nicht weiter erörtert. Mit der Organisation als Ganztagsschule verband man lediglich normative Ziele wie »Chancengleichheit«, wie sie in dem von der Planungsgruppe Horst Mastmanns 1966/67 vorgelegten und in den Folgejahren kaum veränderten Handbuch formuliert worden waren. So seien die »wesentlichen 141 Danne, Versuchsansatz demokratische Leistungssschule, S. 13. 142 Gaude/Reuel, Die erste integrierte Gesamtschule, S. 138. 143 Ebd., S. 136.

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Aufgaben der Ganztagsschule« das »Vorbereiten auf das Leben in der Gesellschaft durch Entwicklung vielfältiger Kommunikationsformen« und die Vermittlung von »Anregungen für Kinder aller sozialer Schichten der Gesellschaft, die Unterschiede in der sozialen Herkunft der Kinder wirksam auszugleichen«.144 Die Schüler seien durch die »systematische Einübung der Kooperation […] vorzubereiten auf eine Welt zunehmender Abstraktion, Verflechtung, Veränderlichkeit, die Zusammenarbeit, Toleranz und gegenseitiges Verstehen fordert«.145 Die praktischen Schwierigkeiten, die sich an einer großen Schule aus dem Ganztagsbetrieb ergeben konnten, wurden erheblich unterschätzt. Als Personalausstattung für eine dreizügige Grundstufe ab dem 3. Schuljahr und eine fünfzügige Mittelstufe hatten die Planer zunächst nur zwölf pädagogische Mitarbeiter (PM) sowie 14 halbtägig beschäftigte Küchenhilfen vorgesehen. Die Tatsache, dass der Schulgründer und erste Schulleiter Horst Mastmann die pädagogischen Mitarbeiter im Stellenplan als »Schulassistenten« aufführte, zeigt deutlich, dass die GropiusSchule zunächst als erweiterte Halbtagsschule konzipiert war. Das Hauptinteresse galt dem von Fachlehrern getragenen Unterricht und sah zwischen Lehrern und sozialpädagogischen Kräften keine Begegnung auf Augenhöhe vor.146 Von den zwölf pädagogischen Kräften kündigten in den ersten Jahren allein sieben, weil sie ihre Vorstellungen einer sozialpädagogisch orientierten Ganztagsschule nicht realisieren konnten und nicht auf die subalterne Rolle von Schulassistenten reduziert werden wollten.147 Zur Stärkung der eigenen professionellen Identität scheint es bei den pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erst mit einer neuen didaktischen Leiterin im Jahr 1972 gekommen zu sein. Dies geschah zum einen über neue sozialpädagogische Konzepte, die in Zusammenarbeit mit dem Pädagogischen Zentrum in selbst organisierten Seminaren entwickelt wurden. Die pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die für den sogenannten außerunterrichtlichen Bereich (AUB) eingesetzt waren, sollten nun nicht mehr nur Betreuungsaufgaben übernehmen, sondern auch Projekte sozialen Lernens initiieren und auf diese Weise ein sozialpädagogisches Verständnis von Ganztagsschule schärfer konturieren. Zum anderen wurde für Mit­arbeiter ohne pädagogische Ausbildung von der Schulleitung zusammen mit dem beim Schulsenator angesiedelten Oberschulrat Wilfried Seiring die Möglichkeit geschaffen, berufsbegleitend die Erzieherausbildung nachzuholen.

144 Horst Mastmann, Gesamtschule: Ein Handbuch, Teil II, Schwalbach 1975, S. 53f. 145 WGS Schularchiv, Strukturplan o.D. (um 1967); der Strukturplan wurde auch abgedruckt in Horst Mastmann, Gesamtschule: Ein Handbuch, Teil I, Schwalbach 1968. 146 Kath, Ohne sie läuft nichts. 147 Ebd.

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Anfang der 1970er-Jahre besaßen von 22 pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern 15 keine pädagogische Ausbildung. Die mangelnde sozialpädagogische Ausrichtung der Schule und die Unterrichtslastigkeit der Tagesgestaltung wurden allerdings auch in den Folgejahren von den mit pädagogischen Aufgaben Beschäftigten immer wieder beklagt. Die hierar­ chische Arbeitsteilung zwischen den erziehungsverantwortlichen pädagogischen Mitarbeitern und den bildungsverantwortlichen Lehrern blieb aufrechterhalten, auch wenn perspektivisch immer wieder eine Angleichung beider Ausbildungswege gefordert wurde. In der Praxis kam es häufig zu Abstimmungsproblemen zwischen Lehrern und pädagogischen Kräften wie etwa bei den »Schülerarbeitsstunden«, in denen die pädagogischen Mitarbeiter die Schüler beaufsichtigen und die Fachlehrer die Kontrolle der Schulaufgaben vornehmen sollten. Aus Sicht der pädagogischen Kräfte blieb wegen der Dominanz des Unterrichts über den »außerunterrichtlichen Bereich« für Freizeitprojekte zu wenig Zeit. Schülerinnen und Schüler der Mittelstufe hatten beispielsweise lediglich eine Stunde Freizeit. Je stärker sich in den 1980er-Jahren die sogenannte Freizeitpädagogik als eine eigene Subdisziplin etablierte, desto klarer zeigte sich an der Gropius-Schule wie auch an anderen Gesamtschulen die schwierige Stellung der für die Ganztagsorganisation zuständigen pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Berichte von Praktikanten im Freizeitbereich der Gropius-Schule problematisierten etwa die Tatsache, dass die AUB-Mitarbeiter als Erzieher und Sozialpädagogen nicht speziell für den Ganztagsbetrieb ausgebildet seien sowie auch deren Status im schulischen Gesamtgefüge. Hinzu komme ihre faktische Rolle, die Reibungslosigkeit des Schulbetriebs zu gewährleisten: Dies beinhaltete etwa Hausmeisterdienste zu übernehmen wie z.B. Kreide, Schwamm etc. besorgen, »auf Sauberkeit und Ordnung in Klassenräumen zu achten, Entschuldigungen entgegenzunehmen, Lehrer kurzfristig zu vertreten, Schulveranstaltungen vorzubereiten«.148 Die arbeitsteilige Aufgabenzuweisung für Lehrer und Sozialpädagogen entsprang der in Bund und Ländern aufrechterhaltenen institutionellen Trennung von Bildung und Erziehung. Um die Unterrichtslastigkeit von ganztägigen Gesamtschulen wie der Walter-Gropius-Schule zu erklären, sind aber auch abschließend die sich verändernden bildungspolitischen und sozialen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen. Zwischen Aufbruch und Ernüchterung In ihren frühen Jahren gehörte die Walter-Gropius-Schule zweifellos zu den prominenten Modellschulen mit Leuchtturmfunktion für die Gesamtschulbewegung der Bundesrepublik, deren Gründung »von oben« auf das Netzwerk des Berliner 148 Walter-Gropius-Schule (WGS) Schularchiv, Bericht vom Orientierungspraktikum an der Walter Gropius Schule 5.9.–30.9.88.

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Schulsenators Carl-Heinz Evers und anderen sozialdemokratischen Politikern sowie SPD-nahen Pädagogen zurückging. Das Beispiel der Gropius-Schule trug mit den anderen drei Modellschulen dazu bei, eine Gründungswelle von Gesamtschulen in Westdeutschland und West-Berlin auszulösen. Der Rückenwind der bildungspolitischen Hochkonjunktur einerseits und der Anspruch andererseits, dass das »Modell Berlin« im Bereich Bildungspolitik seine »Hauptstadtaufgabe« erfülle, bildeten hierfür die entscheidenden Rahmenbedingungen. Unter Evers’ vielzitiertem Etikett als »Mutterkloster der Gesamtschulen« zog die Gropius-Schule Bildungsbeamte und pädagogische Experten aus dem In- und Ausland an.149 Bereits 1970 trat Schulsenator Evers zurück, nachdem ihm die für die Realisierung seines Schulreformprogramms benötigten Finanzmittel nicht gewährt worden waren.150 Die von ihm geplanten Gesamtschulen in sogenannten Mittel- und Ober­ stufenzentren konnten indes noch verwirklicht werden, bevor die Schulreformpolitik weitgehend zum Stillstand kam. Noch während Evers’ Amtszeit plante das Land Berlin eine Expansion von Gesamtschulen, ausgehend von demografischen Prognosen, wonach die Zahl der Jugendlichen zwischen zwölf und 16 Jahren im Zeitraum von 1969 bis 1978 um 50 Prozent zunehmen sollte. Ein entsprechendes Neubauprogramm sah die Errichtung von 15 sogenannten Bildungszentren in Serienbauweise vor, die als Gesamtschulen für 1200 Schüler und Schülerinnen ausgelegt waren und zusätzlich Einrichtungen für Erwachsenenbildung und Jugendpflege mitaufnehmen konnten.151 13 Bildungszentren wurden schließlich realisiert und trugen mit zehn weiteren Gesamtschulen in den 1970er-Jahren zur Expansion dieser Schulform bei.152 Berlin wies in den 1980er-Jahren mit rund 25 Prozent eines Schülerjahrganges den höchsten relativen Gesamtschulbesuch aller Bundesländer auf und lag damit noch vor Hessen und Hamburg.153 Die Gesamtschule hatte hier aus der Sicht ihrer Befürworter mehr Schülerinnen und Schülern zu höheren Schul-

149 Das vielzitierte Wort ging zurück auf den ersten Gesamtschulkongress der frisch gegründeten Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule im Winter 1969. Vgl. Detlef Srok, Walter-Gropius-Schule, Britz-Buckow-Rudow, in: Ulrich-Johannes Kledzik/Peter Kaßner/ Bernd Roland, Berliner Gesamtschule ’68 bis ’88. Dokumente zu einer Reformbewegung, München 2000, S. 94–97, hier S. 94. 150 Evers trat 1970 kompromisslos zurück, als ihm der eigene SPD-Vorstand den Finanzetat für die Realisierung seiner Gesamtschulpläne nicht bewilligt hatte. 151 Jürgen Baumert, Auf dem Weg zur neuen Dreigliedrigkeit? Zur Differenzierung des Sekundarschulangebots in Berlin (West), in: Klaus-Jürgen Tillmann (Hg.), Sekundarschulen unter Konkurrenzdruck. Fallstudien aus dem viergliedrigen Schulsystem, Wiesbaden 1986, S. 79–101. 152 Erfahrung und Ermutigung. Professor Ulrich-Johannes Kledzik und die sozialdemokratische Bildungspolitik (Teil 4), in: Berliner Stimme, 1.3.2008, S. 11. 153 Baumert, Auf dem Weg zur neuen Dreigliedrigkeit.

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abschlüssen verholfen als aus der Grundschulempfehlung ableitbar gewesen wäre.154 Von 27 Gesamtschulen im Jahre 1988 waren 21 im Ganztagsbetrieb organisiert.155 Wie andere Gesamtschulen auch geriet die Gropius-Schule seit den späten 1970er-Jahren zunehmend unter Anpassungsdruck, die Wochenstundenpläne für die einzelnen Fächer und die äußere Fachleistungsdifferenzierung stärker am traditio­nellen dreigliedrigen Schulsystem auszurichten. Mit der Rahmenvereinbarung der KMK für die gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen der integrierten Gesamtschulen und des dreigliedrigen Schulsystems von 1982 wurde die Schule zur großen Enttäuschung der Schulleitung nicht als »besondere Schule« registriert.156 Daher stellte die Gropius-Schule beim Senator für Schulwesen einen Antrag, mit dem sie als »langjähriges Strukturmodell« ihre »gewachsene Struktur« und ihre »besondere päda­gogische Prägung« fortführen wollte. Auch wenn der Berliner Schulsenator den Antrag 1984 genehmigte, schienen sich Engagement und Reformgeist innerhalb des Kollegiums mit dem Älterwerden bzw. mit der Ablösung der Gründergeneration zunehmend zu verflüchtigen. Die Dominanz von Unterricht in »homogenen Lern- und Leistungsgruppen«, denen die Schülerinnen und Schüler nach dem FEGA-Prinzip halbjährlich zugewiesen wurden, wurde von einem Teil der Pädagoginnen und Pädagogen als problematisch oder zumindest, wie es eine Lehrerin formulierte, als hoher »pädagogischer Preis« wahrgenommen.157 Die Fokussierung auf Leistungsdifferenzierung bei gleichzeitiger Vernachlässigung des Freizeitbereichs erschwerte den pädagogischen Alltag und wog umso schwerer, als sich die Bewohnerschaft der Gropiusstadt stark veränderte. Galt die neue Großsiedlung vielen jungen Familien der unteren Mittelschicht zunächst als attraktiver Wohnort mit Lebensqualität, so wurde sie seit den späten 1970er-Jahren als sozialer Brennpunkt beschrieben. Der Anteil an Sozialwohnungen betrug nun rund 90 Prozent, die Familienverhältnisse galten als zunehmend schwierig, und Jugendliche gerieten vor allem durch wachsenden Drogenkonsum in den öffentlichen Blick.158 Der soziale Wandel im Einzugsgebiet und damit der »häuslichen Bedingungen unserer Schülerschaft« wurden auch auf Seiten der Schule registriert: »An die Stelle von Wärme und Geborgenheit in Familie und Elternhaus treten heute häufig eher Beziehungslosigkeit, Beziehungswechsel.« Der Anteil von Sozial­ 154 So lautete die Einschätzung des ehemaligen Oberschulrats in der Senatsverwaltung für Schulwesen Ulrich-Johannes Kledzik: Erfahrung und Ermutigung, S. 11. 155 Ulrich-Johannes Kledzik, Gesamtschule ’85 und ’88. Standortbeschreibung der Regelschule im Sekundarbereich I der Berliner Schule, in: Kledzik/Kaßner/Roland, Berliner Gesamt­ schule ’68 bis ’88, S. 63. 156 WGS Schularchiv, Oberstudiendirektor W. Flößner an das Kollegium vom 18.6.1982. 157 WGS Schularchiv, U.B., Ein paar Gedanken … (o.D., um 1978). 158 Vgl. den Bestseller Christiane F., Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, Hamburg 2009 (51. Aufl.), zuerst 1978.

Walter-Gropius-Schule in West-Berlin

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hilfeempfängern, Arbeitslosen und alleinerziehenden Müttern unter der Elternschaft stieg, und die Pädagoginnen und Pädagogen der Gropius-Schule sahen ihre Schule zunehmend als »willkommene Aufbewahrungsstätte« nachgefragt, an die die Eltern »einen Teil ihres erzieherischen Auftrags [delegieren] – sei es aus Zeitmangel, aus Überlastung oder aus Bequemlichkeit«.159 Während in der Anfangszeit das Verhältnis der Schüler und Eltern von Zufriedenheit und starker Identifikation mit der Schule geprägt war, verschoben sich später die Gründe vieler Eltern für die Schulwahl: »War das Konzept der Gesamtschule und die Hoffnung auf den bestmöglichen Schulabschluß in den Anfängen offenbar ein Motiv für viele Eltern, ihre Kinder hierher zu schicken, so ist der Grund heute wohl eher die Möglichkeit, die Kinder bis 16.00 Uhr beaufsichtigt unterbringen zu können.«160 Mit dem Wegfall des großzügigen Bundeszuschusses für die Berliner Städtebauförderung 1989/90 verlor das Wohnumfeld in Gropiusstadt weiter an Attraktivität. Es zogen vermehrt arme bzw. migrantische Familien in die Großsiedlung, und die Jugendarbeitslosigkeit stieg rasch an. Diesen Entwicklungen wird seit einigen Jahren mit Instrumenten wie dem Quartiersmanagement aktiv gegengesteuert. Um den Wohnungsleerstand und die soziale Entmischung einzudämmen, bedarf es seit 2001 für den Bezug einer Wohnung keinen Wohnberechtigungsschein mehr, und die sogenannte Fehlbelegungsabgabe wurde abgeschafft.161 2007 entstand auf Initiative des Wohnungsbauunternehmens Degewo der »Bildungsverbund Gropiusstadt« aus den dort ansässigen Schulen, Kitas und Jugendfreizeiteinrichtungen.162 Die Walter-Gropius-Schule blieb trotz des Rückgangs der Schülerzahlen seit den 1980er-Jahren – bei wechselnder Schüler- und Elternschaft – eine gleichbleibend stark nachgefragte Schule. Im Zuge der Berliner Schulreform wurde sie im Schuljahr 2008/2009 eine von elf Gemeinschaftsschulen, mit deren Einrichtung auf längeres gemeinsames Lernen von Schülerinnen und Schülern und auf die intensivierte Förderung von deren individuellen Fähigkeiten abgezielt wurde.163 Ihre Beliebtheit hat nicht zuletzt mit der Aussicht auf einen höheren Bildungsabschluss zu 159 WGS Schularchiv, U.B., Ein paar Gedanken … (o.D., um 1978). 160 WGS Schularchiv, Bericht vom Orientierungspraktikum an der Walter Gropius Schule 5.9.–30.9.88. 161 Eine Fehlbelegungsabgabe zahlten Personen in staatlich geförderten Sozialwohnungen als Ausgleich, weil diese ihnen aufgrund ihres Einkommens nicht zustand. Vgl. allgemein zur Gropiusstadt: Karin Kramer/Dorothea Kolland (Hg.), Der lange Weg zur Stadt. Die Gropius­stadt im Umbruch. Aufsatzsammlung, Berlin 2002; Frank Bielka/Christoph Beck (Hg.), Heimat Großsiedlung. 50 Jahre Gropiusstadt. Entwicklungsmöglichkeiten für die Zukunft, Berlin 2012. 162 http://www.akademie-einer-neuen-gropiusstadt.de/wp-content/uploads/2013/11/ CAMPUS-EFEUWEG-Reader.pdf (Stand: 15.10.2014). 163 Siehe http://www.berlin.de/sen/bildung/bildungswege/gemeinschaftsschule/(Stand: 15.10.2014) .

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tun, die das besondere Konzept einer von der ersten Klasse bis zum Abitur reichenden Schule verspricht. Die langjährigen Erfahrungen mit den spezifischen Herausforderungen und Gestaltungsproblemen, die ein gebundener Ganztagsbetrieb aufwirft, dürfte die Walter-Gropius-Schule auch weiterhin konkurrenzfähig machen.

Fallstudie 3: Die Gesamtschule Hegelsberg in Kassel Die Gesamtschule Hegelsberg in Kassel war eine der ersten Schulen der Bundes­ republik, die bereits in den 1960er-Jahren den Schultag versuchsweise auf den Nachmittag ausdehnte. Anders als im Fall der Schulneugründungen in Osterburken und Berlin hat diese Schule eine über hundertjährige Geschichte, die mit mehreren Namenswechseln, Umzügen und Erweiterungsbauten verbunden ist. Ihre historischen Wurzeln reichen bis zu einer 1908 gegründeten Mädchenschule zurück, die als »Bürgerschule 28« zusammen mit der für Jungen bestimmten »Bürgerschule 27« die einzige Volksschule im Norden Kassels stellte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die nunmehr koedukative Schule umbenannt in Schule Struthbachweg. Von der Form handelte es sich zunächst um eine Volksschule, 1962 kam ein Realschulzweig hinzu. Im Jahr 1972 beschloss der Kasseler Magistrat, die Grund-, Haupt- und Realschule Struthbachweg zu einer Gesamtschule auszubauen. Noch bevor die Gesamtschule realisiert war, änderte sich der Name der Schule 1979 erneut, als auf dem »Hegelsberg«, einem Wohngebiet im Norden Kassels, ein neues Schulgebäude bezogen wurde. Im August 1986 wurde die Organisationsstruktur schließlich in eine schulformbezogene, d.h. additive Gesamtschule umgewandelt und 1988/89 um einen Gymnasialzweig erweitert.164 Kassel gehörte im 20. Jahrhundert zu den schulpolitisch besonders profilierten Städten Hessens. Die besondere Reformtradition Kassels bildete zusammen mit dem Schulstandort in der »Nordstadt« eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass an der Schule Hegelsberg der Weg in Richtung Ganztagsschule eingeschlagen wurde. Der Stadtteil »Nordstadt« war im Laufe des 19. Jahrhunderts als Industriestandort entlang der Holländischen Straße, einer nach Norden führenden Ausfallstraße, entstanden, wo neben Ziegeleien, Webereien und Papierfabriken Arbeiterwohnquartiere angesiedelt wurden. Seine entscheidende soziale Prägekraft erhielt das schulische Einzugsgebiet durch die Henschel-Werke, die, 1810 als Gießerei gegründet, zum führenden Lokomotivhersteller in Deutschland und im Zweiten Weltkrieg zu einem wichtigen NS-Rüstungsbetrieb wurden.165 Auch nach 1945 standen die Schulplanungen für die Nordstadt in engem Zusammenhang mit der Personalpolitik dieses Großbetriebs, d.h. dessen neuerlicher Expansion im Boom der Nachkriegszeit, der langsamen Schrumpfung seit den 1960er-Jahren und schließlich der Werksschließung 1973. Diese Entwicklungen prägten wiederum das soziale und stadträumliche Gesicht des Stadtteils und mithin auch des schulischen Einzugsgebiets.

164 80 Jahre Nordstadtschule – 10 Jahre Hegelsberg ( Jubiläumsheft), Kassel 1988; Ganztags­ schule Hegelsberg (Heft zum 100-jährigen Schuljubiläum), Kassel 2008. 165 Gesamthochschule Kassel (Hg.), Nordstadt-Geschichte(n), Kassel 1979, S. 17f.

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Im Folgenden wird das Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren genauer beleuchtet, welche die Entwicklung von den ersten schulischen Reformversuchen an der Schule Struthbachweg in den 1950er-Jahren bis hin zur Etablierung der Ganztagsschule im neuen Schulgebäude im Stadtteil Hegelsberg bestimmten. Zu berücksichtigen sind hier Prozesse wie der einschneidende sozialräumliche Wandel, einschließlich der demografischen Veränderungen im Schuleinzugsgebiet und der sich wandelnden Bildungsstrategien von Familien, aber auch die Kräfte und Akteurskonstellationen innerhalb der Schule selbst, in der städtischen Schulpolitik sowie in der Bildungsplanung Hessens. Inwieweit handelte es sich bei der Installierung von ganztägigen Schulformen um eine aktive bildungspolitische Strategie, den sozialen Wandel im Stadtteil mitzugestalten? Oder lässt sich die eingeführte Ganztagsschule eher als reaktive Maßnahme gegen eine Entwicklung zunehmender gesellschaftlicher Desintegration beschreiben? Nachkriegszeit und frühe Reformen Im Jahr 1945 waren von den Klassenräumen der 61 Kasseler Schulen (Stand 1939) 83 Prozent zerstört.166 In der Nordstadt legte man bei der Wiedereröffnung der Kasseler Schulen im Oktober 1945 die vor dem Krieg nach Geschlecht getrennten Bürgerschulen 27 und 28 zusammen. An der stark beschädigten Schule Struthbachweg/Hegelsberg konnte der Unterricht erst im Frühjahr 1946 wieder aufgenommen werden. Wie andernorts sah man sich auch hier gezwungen, angesichts der akuten Notsituation Ganztagselemente in den Schulalltag einzuführen: Um Schüler von den zerstörten Straßen und Ruinen fernzuhalten, gab es beispielsweise freiwillige Spielnachmittage, oder es wurde auf Initiative der amerikanischen Besatzungsmacht eine warme Schulmahlzeit ausgeteilt. Nur acht Lehrer unterrichteten 25 Klassen mit 1450 Schülern in neun Räumen.167 Während es an Spielzeug, Heizmaterial, Büchern und Heften mangelte, versuchte man, mit einem täglichen Schichtunterricht von 14 Stunden die Raumnot zu bewältigen.168 Die große Zahl an Flüchtlingen und Vertriebenen, die in Kassel Aufnahme fanden, ließ die Schülerzahlen an den städtischen Schulen rasch ansteigen.169 Der Schulalltag normalisierte sich nur langsam; aufgrund des dramatischen Raummangels 166 Die Nordstadt hatte mit den Henschel-Werken als Schwerpunkt der Rüstungsproduktion im Fokus des alliierten Luftkriegs gelegen. Vgl. genauer Franz H. Schlung, Sozialgeschichte des Schulwesens in Hessen-Kassel, Kassel 1987, S. 195. 167 Gesamthochschule Kassel (Hg.), Nordstadt-Geschichte(n), Kassel 1979, S. 44f. 168 Schularchiv Hegelsbergschule, Geschichtlicher Überblick über die Schule Struthbachweg 1908–1958, zusammengestellt von Lehrer H. W. Baumann, Oktober 1958, S. 9–11. 169 1956 machten die Flüchtlinge und Vertriebenen 11,4 Prozent der Stadtbevölkerung und 16,9 Prozent der Bevölkerung des Landkreises aus. Schlung, Sozialgeschichte des Schulwesens, S. 195.

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waren Schichtunterricht und Auslagerung von Klassen auch noch in den 1950erJahren an der Tagesordnung. Mit Einführung des 9. Schuljahres 1954 sollte sich die räumliche Not erneut verschärfen. In der Nordstadt hatte man mit wachsenden Schülerzahlen die beiden kurz zuvor zusammengelegten Bürgerschulen 1950 erneut getrennt – in die »Schule am Struthbachweg« (und spätere Schule Hegelsberg) und die Schule Holländische Straße (seit 1958 Carl-Anton-Henschel-Schule). An der Schule am Struthbachweg blieb, auch nachdem der Schichtunterricht an Kasseler Schulen 1956 offiziell für beendet erklärt worden war, die permanente Raumknappheit eine Grundkonstante des schulischen Lebens. Bis zur endgültigen Fertigstellung des Schulneubaus am Hegelsberg kam es immer wieder zu räumlichen Umbauten, Erweiterungen und Umnutzungen: 1960 wurde etwa die Turnhalle für die Freizeitnutzung umgebaut. 1962/63 entstand ein Pavillon als Erweiterungsbau mit weiteren Unterrichtsräumen, da man nach Errichtung neuer Wohnblöcke für die Henschel-Arbeiter und deren Familien mit einem weiteren Anstieg an Schülern rechnete.170 Die Schule Struthbachweg/Hegelsberg ist ein Beispiel dafür, dass übliche Perio­ disierungen der bundesdeutschen Bildungsgeschichte für die föderale und lokale Ebene nicht immer zutreffen. Die These, die die »Restauration« der 1950er-Jahre mit dem Aufbruch der späten 1960er- und 1970er-Jahre kontrastiert, lässt sich auf die Schulentwicklung Kassels kaum übertragen. In Hessen, das eine vergleichsweise fortschrittliche Bildungspolitik verfolgte, begannen die Reformen früher als in den meisten anderen Bundesländern. Der Erziehungswissenschaftler Christoph Führ charakterisierte die schul- und sozialpolitischen Normen der hessischen Nachkriegsverfassung von 1946 in mehrerlei Hinsicht als »bahnbrechend«: Hessen hatte als erstes Land in den westlichen Besatzungszonen Unterrichtsgeld- und Lernmittelfreiheit eingeführt. Erziehungsbeihilfen waren in der Verfassung verankert, um jedem befähigten Kind, unabhängig von seiner sozialen Herkunft, den Besuch weiterführender Schulen zu ermöglichen. Den Eltern kam ein starkes Mitbestimmungsrecht zu. Der hessische Kultusminister Erwin Stein (CDU) setzte sich für die Verlängerung der Grundschule mit differenzierendem Unterricht ein.171 In Städten wie Kassel oder Frankfurt/Main wurden bereits früh intensive bildungs- und schulpolitische Debatten geführt, »oft angeregt von oder in Auseinandersetzung mit der amerikanischen Besatzungsmacht«.172 Viele Lehrer waren nach 1945 wegen ihrer Nähe zum Nationalsozialismus zeitweilig oder dauerhaft aus dem Schuldienst ent170 Schularchiv Hegelsbergschule, Chronik der Schule Struthbachweg von 1959–1962, o.P. 171 Christoph Führ, Schulpolitik in Hessen 1945–1994, in: Bernd Heidenreich (Hg.), Hessen. Gesellschaft und Politik, Stuttgart 1995, S. 157–177, hier S. 161f. 172 So favorisierte die US-amerikanische Besatzungsmacht z.B. die sechsjährige Grundschule. Vgl. Führ, Schulpolitik in Hessen, S. 160.

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lassen und durch »Schulhelfer« mit Schnellausbildung ersetzt worden. Die Nachkriegsakteure in Schule und Schulverwaltung gehörten meist einer Generation an, die bereits in der Weimarer Republik pädagogisch aktiv war und nun, wie die ersten Tagesheimschulen in Frankfurt/Main und Kassel zeigten, an Weimarer Reform­ ideen anknüpften oder auch, nach zwölfjähriger Abschottung Deutschlands von internationalen pädagogischen Debatten, an ausländische Erfahrungen.173 An der Schule am Struthbachweg begann man relativ früh, Reformspielräume auszuloten; die pädagogische Aufmerksamkeit richtete sich dabei zunächst auf Aspekte des »inneren Schullebens«, insbesondere auf die Möglichkeiten einer stärkeren schulinternen Differenzierung, nachdem das äußere Gehäuse des dreigliedrigen Schulsystems mit dem Düsseldorfer Abkommen 1955 fixiert worden war.174 Die Reformimpulse gingen hier sowohl von der städtischen Bildungsverwaltung als auch von der Schulleitung und Teilen des Kollegiums aus. Der Schulchronik zufolge herrschte trotz anhaltend widriger Rahmenbedingungen ein relativ offenes reformund experimentierfreudiges Schulklima. Mit dem ersten Schulrektor und der Konrektorin waren moderne pädagogische Ansätze aus der Weimarer Republik und westlich-angloamerikanische Auffassungen von »demokratischer Pädagogik« an der Schule präsent. Der Rektor hatte das englische Schulwesen als städtischer Fachberater für Schulen während einer Reise nach England kennengelernt und wurde in der Schulchronik als »Initiator und unermüdliche[r] Vorwärtstreiber« der frühen Schulversuche charakterisiert. Gleiches traf vermutlich auch auf die reformpädagogisch inspirierte Konrektorin zu, die von 1920 bis 1955 an der Schule tätig war und bereits Erfahrungen in der Jugendhilfe gesammelt hatte.175 Die ersten Schulversuche an der Schule Struthbachweg/Hegelsberg im Schuljahr 1953/54 wiesen bereits in Richtung Gesamtschule: Durch sogenannten Kernund Kursunterricht wollte man eine stärkere innere Differenzierung erreichen und damit die strikte Trennung nach Schultypen überwinden.176 Das dabei entwickelte Modell der »differenzierten Volksschuloberstufe« zielte darauf, begabte Volksschul173 Vgl. genauer Kap. 1.1. 174 Vgl. allgemein dazu Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 286; vgl. auch Kap. 1.1. 175 Die Konrektorin verstarb 1956, der Rektor Herr Mendel wurde als Schulrat versetzt. Der berufene Nachfolger Herr Finkenstädt verließ 1959 die Schule, um eine Stelle als Schulrat im Kreis Kassel zu übernehmen. 1960 kam Herr Steglich als neuer Rektor an die Schule. Schularchiv Hegelsbergschule, Geschichtlicher Überblick über die Schule Struthbachweg 1908–1958, S. 9–11; Chronik der Schule Struthbachweg von 1959–1962, o.P. 176 Dabei begann man bei Kindern ab dem 5. Schuljahr zu differenzieren zwischen einer Gruppe der »praktischen Bildung« und einer der »praktisch-kritischen Bildung«. Letztere absolvierte einen sechsjährigen Kurs bis zum 10. Schuljahr und erhielt ein dem Mittelschulzeugnis vergleichbares Abgangszeugnis. Vgl. Schularchiv Hegelsbergschule, Chronik der Schule Struthbachweg von 1959–1962, o.P.

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Oberstufenschüler auf den Mittelschulabschluss vorzubereiten. Dabei wurde der Unterrichtsplan für die Klassen 5 bis 7 unterteilt in einen »ganzheitlich-lebenskund­ lichen, ungefächerten Kernunterricht«, der sich an alle Kinder einer Jahrgangsklasse gemeinsam richtete, und einen fachlich ausgerichteten »Kursunterricht«, der für die Volksschul- und die Kursklassen getrennt erteilt wurde.177 Die Schulaufsicht erkannte diesen Ansatz als sogenannten Kasseler Versuch an und erklärte ihn außer an der Schule Struthbachweg an fünf weiteren Kasseler Schulen als verbindlich.178 Der Schulversuch hinterließ seine Spuren auch im Namen der Schule, die nun »Bürgerschule Struthbachweg – Volksschule mit Kursklassen« hieß. Im Frühjahr 1962 wurden die Kursklassen in einen Realschulzug umgewandelt, und mit der neuerlichen Umbenennung der Schule in »Volks- und Realschule Struthbachweg« war der »Kasseler Versuch« offiziell abgeschlossen.179 Aus Sicht der Schule erwiesen sich die mit der Kursklassenarbeit gesammelten Erfahrungen retrospektiv als sehr hilfreich für die Vorbereitung auf den neuen Schulversuch mit Fünftagewoche und Ganztagsschule. Dies betraf insbesondere die Freizeit- und Lernangebote in neu gegründeten Arbeitsgemeinschaften am Nachmittag, die so organisiert wurden, dass Schüler aus Volks- und Realschulklassen diese gemeinsam wahrnehmen konnten und auf diese Weise die Trennung nach Schultyp vermieden wurde.180 Erste Schritte in Richtung Ganztagsschule mit der Fünftagewoche Durch ihr schulpolitisches Reformklima wurden SPD-regierte hessische Städte wie Kassel und Frankfurt/M. in der Frage der Schulzeitpolitik zu Schrittmachern, deren Erfahrungen und Diskussionen bald auch auf die Bundesebene ausstrahlten.181 In der Zweigstelle Kassel des Hessischen Lehrerfortbildungswerks wurde auf einer Tagung über ganztägige Schulerziehung Ende 1954 die Gemeinnützige Gesellschaft Tagesheimschule (GGT) gegründet.182 Kurz nachdem der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen im selben Jahr eine Empfehlung zur Errichtung von Versuchsschulen veröffentlicht hatte,183 entstanden zwei neue Schulen in Kassel: Im April 1955 wurde die Herder-Schule, ein Gymnasium mit pädagogischem Nachmittagsangebot, als eine sogenannte offene Schule gegründet, im September 1957 kam mit der Carl-Schomburg-Schule eine der frühen Ganztagsschulen der Bundesrepublik hinzu. 177 Schularchiv Hegelsbergschule, Geschichtlicher Überblick über die Schule Struthbachweg 1908–1958, S. 9–11. 178 Schlung, Sozialgeschichte des Schulwesens, S. 195. 179 Schularchiv Hegelsbergschule, Chronik der Schule Struthbachweg von 1959–1962, o. P. 180 Ebd. 181 Vgl. Kap. 1.3. 182 Vgl. hierzu genauer Kap. 1.2. 183 Vgl. genauer zur Entwicklung auf der Bundesebene Kap. 1.1.

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Der Blick auf die lokale Ebene macht nachvollziehbar, wie stark sich die Schulverwaltung durch die Arbeitszeitverkürzung in der Industrie unter Druck sah. Treibende Kraft in der Kasseler Schulzeitpolitik war der sozialdemokratische Stadtschulrat Herbert Redl, der in der Umstellung auf ganztägige Schulformen den geeigneten Weg sah, die Schulwoche von sechs auf fünf Tage zu verkürzen. Redls Interesse richtete sich dabei vor allem auf Fragen der Zeitorganisation und weniger auf soziale oder pädagogische Aspekte. Wie mithilfe des ganztägigen Schulformats die Fünftagewoche auf das Schulwesen übertragen werden konnte, ließ Redl 1957 in einem Versuch an der bereits erwähnten Carl-Schomburg-Schule erproben.184 Als zunehmend mehr Kasseler Betriebe Anfang der 1960er-Jahre die fünftägige Arbeitswoche bei freiem Samstag einführten, geriet das Schulamt immer stärker unter Handlungsdruck. 1963/64 ließ es für unterschiedliche Schuleinzugsgebiete erheben, wie viele Eltern bereits fünf statt sechs Tage in der Woche arbeiteten. In der Nordstadt ergab eine Elternbefragung vom Herbst 1963, dass »etwa 80 Prozent der Hauptverdiener der Familien im Genuß der Fünftagewoche sind«.185 Die auf Ganztagsbetrieb umgestellte Carl-Schomburg-Schule wurde offenbar von interessierten Eltern regelrecht überrannt, und die Schulverwaltung musste viele Anmeldungen zurückweisen. Der »Hessischen Allgemeinen« zufolge, gab es dort seit Einführung der Fünftagewoche »jeweils zu Ostern Kämpfe der Eltern darum, ihre Kinder in dieser Schule unterzubringen«.186 Mit der steigenden Nachfrage nach Ganztagsunterricht sahen sich die städtischen Schulplaner gezwungen, das Realisierungstempo für weitere Schulversuche zu beschleunigen. Anfang November 1963 lancierte das Schulamt einen Leitartikel in der Presse, der für fünf namentlich genannte Schulen – darunter die »Volks- und Realschule Struthbachweg« (spätere Hegelsbergschule) und die benachbarte CarlAnton-Henschel-Schule – den Übergang zur Fünftagewoche ankündigte. Für beide Schulen war aufgrund der engen räumlichen und sozialstrukturellen Verbindung eine synchrone Einführung der Fünftagewoche vorgesehen, denn diese »beschulen den großen Teil der Arbeiterkinder aus der Kasseler Nordstadt, in der die HenschelWerke liegen«.187 Allerdings hatte es die Schulverwaltung versäumt, die Schulen vorab über ihre Pläne zu informieren. Die Schule Struthbachweg/Hegelsberg erfuhr erst aus der Presse, dass sie im Frühjahr 1965 mit dem Fünftageunterricht

184 Ludwig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2, S. 501ff. und 508ff. 185 Schularchiv Hegelsbergschule, Schreiben Schule Struthbachweg an den Hessischen Kultusmi­ nister vom 14.12.1964. Betr. Antrag auf versuchsweise Einführung einer Fünftagesschule, o.P. 186 Nach Ostern die dritte Fünftageschule, in: Hessische Allgemeine, 30.3.1966. 187 Schularchiv Hegelsbergschule, Schreiben Schule Struthbachweg an den Hessischen Kultusmi­ nister vom 14.12.1964. Betr. Antrag auf versuchsweise Einführung einer Fünftagesschule, o.P.

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beginnen sollte.188 Entsprechend gering war zunächst die Bereitschaft unter den Lehrerinnen und Lehrern, diese Reform mitzutragen. Bis Ostern 1965, so der Plan, sollte die Fünftagewoche nach Beschlüssen des Lehrerkollegiums und des Elternbeirats simultan an beiden Schulen eingeführt werden – d.h. im Volksschulteil der Volks- und Realschule am Struthbachweg und an der Carl-Anton-Henschel-Schule. Schuldeputation, Magistrat und Stadtverordnete erhoben zunächst keine Einwände, und die Schulverwaltung ging davon aus, dass Kinder, deren Eltern weiterhin die Sechstagewoche wünschten, an nahe gelegene Volksschulen ausweichen könnten.189 Während die Fünftagewoche an der Carl-Anton-Henschel-Schule tatsächlich planmäßig nach Ostern 1965 eingeführt werden konnte, bremsten an der Schule Struthbachweg/Hegelsberg inner- und außerschulische Konflikte die Realisierung. Zum einen sprach sich in der Stadtverordnetenversammlung die CDU-Fraktion dagegen aus, dass alle zwei Volksschulen der Nordstadt zur Fünftagewoche übergingen. Die CDU vertrat nachdrücklich die Position, dass es für Eltern in einem Schulbezirk eine freie Wahl geben müsse zwischen Schulen mit und solchen ohne Fünftagewoche.190 Zum anderen wandte sich an der Schule selbst ein nicht unbeträchtlicher Teil der Lehrerschaft vehement gegen eine rasche Einführung von ganztägigen Schulversuchen.191 Innerschulische Kontroverse um den Schulversuch Fünftagewoche Die Abneigung im Lehrerkollegium gegenüber einer »Nachmittagsschule« verschärfte sich offenbar dadurch, dass Schulverwaltung und Schulleitung ihren Reformkurs unzureichend kommunizierten. Jene hätten, so lautete der Vorwurf einiger Lehrer, »ohne das Kollegium vorher zu unterrichten, die Dinge in Richtung Fünf­ tagesschule vorangetrieben«.192 Viele Lehrer sahen sich noch von den vorausgegangenen Reformen wie den Kursklassenversuch und die Umwandlung in eine Volks- und Realschule über Gebühr belastet. Ihre erlahmende Reformbereitschaft charakterisierte der Schulleiter als »die verständliche Sehnsucht nach Ruhe und ›nicht schon wieder etwas Neuem‹«.193 Eine ehemalige Lehrerin erinnerte sich im Interview rückblickend an den »erheblichen Widerstand« unter den Lehrern gegenüber dem drohenden Nachmittagsunterricht. Ihrer Ansicht nach handelte es sich dabei um einen »bestimmten Lehrertyp«, dessen professionelles Selbstbild 188 Nach Ostern die dritte Fünftageschule, in: Hessische Allgemeine, 30.3.1966. 189 Ab Ostern zwei neue Fünftageschulen, in: Kasseler Post, 24.2.1965. 190 Einführung der Fünftagewoche an der Schule Struthbachweg erhofft, in: Kasseler Post, 13.4.1965. 191 Schularchiv Hegelsbergschule, Problem der 5-Tages-Schule am 6.3.1964, o.P. 192 Ebd. 193 Schularchiv Hegelsbergschule, Schreiben Schule Struthbachweg an den Hessischen Kultusmi­ nister vom 14.12.1964. Betr. Antrag auf versuchsweise Einführung einer Fünftagesschule, o.P.

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durch nachmittägliche Anwesenheit in der Schule bedroht schien, denn: »Lehrer hatten eben studiert auf gutbezahlte Halbtagsbeschäftigung.«194 Ohne dass sich die pädagogische Abwehrfront nach Geschlecht und Familienstand genauer aufschlüsseln lässt, dürfte es sich bei einem Teil der Ganztagsschulgegner um Frauen gehandelt haben, die sich um Kinder oder pflegebedürftige Angehörige kümmerten. Einige lehnten eine Ganztagspräsenz aufgrund ihres längeren Arbeitsweges ab, wohnten doch von 24 Lehrern nur zwei im Schulgebiet. Der Schulleiter und die Ganztagsschulbefürworter im Kollegium waren sich indessen sicher, dass nur wenige die Fünftagesschule »aus echter pädagogischer Gewissensentscheidung ablehnen«. Bei der Mehrheit, so der Schulleiter, handle es sich vielmehr um die »Zögernden und Verzagten, die anderweitig Beschäftigten und Belasteten«, die »bei allem Respekt vor demokratischen Entscheidungen die notwendige Arbeit einer Schule nicht bestimmen dürfen«.195 Der Schulleiter und seine Unterstützer setzten auf aktive Überzeugungsarbeit, um die Abwehrfront gegenüber der Fünftagewoche aufzulösen. Sie bedienten sich dabei aus dem Arsenal der kursierenden antimodernistischen Grundsatzargumente196 und wendeten diese positiv: So griffen sie etwa das von Kritikern der Fünftagewoche gezeichnete Szenario auf, wonach das durch mehr verfügbare Zeit entstehende »Vakuum« zu einem »falschen Gebrauch und Missbrauch der Freizeit« führen könne – was sich in Arbeitergegenden wie der Nordstadt insbesondere in Form von Schwarzarbeit äußern würde –, und setzten dem die Notwendigkeit von »Freizeit­ erziehung« für Kinder und Jugendliche entgegen, die gerade in Form von »Arbeitsgemeinschaften und Neigungsgruppen« eine zentrale Aufgabe der Ganztagsschule sei.197 Um der Befürchtung, die Schule wolle in der Erziehung die Familie ersetzen, entgegenzuwirken, gab es innerhalb des Befürworterkreises der Fünftagewoche offenbar auch Diskussionen darüber, wie das Verhältnis Eltern-Schule insgesamt vertrauensvoller und dialogischer gestaltet werden könnte. Man sei »bereit, mit den Eltern in ein neues, intensives und anhaltendes Gespräch über die Probleme der Fünftagewoche in Schule und Elternhaus einzutreten«; dabei wolle man den Eltern »helfen und raten, nicht um in die Familie hinein zu schulmeistern, sondern auch im eigenen Interesse der Schule […]«.198 Nach Einschätzung der Schulleitung gelang es jedoch nicht, auf Seiten der Gegner die »Barriere der vorgefaßten Meinungen zu überwinden«, auch wenn eine 194 Gruppeninterview mit Frau D., Herrn A. und Herrn T. vom 9.12.2009. 195 Schularchiv Hegelsbergschule, Schreiben Schule Struthbachweg an den Hessischen Kultusmi­ nister vom 14.12.1964. Betr. Antrag auf versuchsweise Einführung einer Fünftagesschule, o.P. 196 Vgl. Kap. 1.3. 197 Schularchiv Hegelsbergschule, Schreiben Schule Struthbachweg an den Hessischen Kultusmi­ nister vom 14.12.1964. Betr. Antrag auf versuchsweise Einführung einer Fünftagesschule, o.P. 198 Ebd.

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»kleine Gruppe von Kollegen unter tüchtigem Einsatz die Klärung von Einzelfragen vorantreiben« konnte.199 Ein harter Kern von Reformgegnern agierte offenbar hinter dem Rücken des Schulleiters und beeinflusste den Elternbeirat dahingehend, die Fünftagesschule einstimmig abzulehnen. Auch hatten sich einige Lehrer zu einer Sechstagesschule weggemeldet, ohne den Schulleiter davon zu unterrichten. Zehn Lehrer unterschrieben eine Eingabe an den Schulleiter, in der sie forderten, eine Gesamtkonferenz zur Beschlussfassung über die Einführung der Fünftagesschule einzuberufen. Der Schulleiter wertete dies als Misstrauensantrag gegen sich und lehnte ab. Er war sich darüber bewusst, dass es neben unverhohlener Kritik an dem geplanten Schulversuch auch eine schwer einzuschätzende, nicht offen artikulierte Ablehnung gab: »Einige Kollegen warteten ohne mitzuarbeiten oder zu argumentieren auf die Stimmabgabe, um ihr Nein zu sagen.« Wie die Haltung des Schulrektors, der »die Weiterarbeit mit Kollegen ablehnt, die die Vorarbeit diesen Jahres mit verdeckten Argumenten erschwerten«, im Kultusministerium aufgenommen wurde und ob sich aus dieser Situation personelle Umsetzungen ergaben, ist nicht überliefert.200 Die Befürworter der Fünftagewoche sahen sich in der Rolle als Vollstrecker einer unaufhaltsamen Entwicklung: Die Fünftagesschule sei »keine Erfindung des Schulleiters […], ob es dem Schulleiter oder dem Kollegium paßt oder nicht, sie haben sich damit auseinanderzusetzen«. Schließlich seien die »Lehrer für die Schule und ihre Probleme da […] und nicht umgekehrt«. Offensichtlich mangelte es aus der Sicht des Schulrektors an einer entsprechenden Öffentlichkeitsarbeit von Seiten des hessischen Kultusministeriums, um die Einzelschulen bei der Einführung der Fünftagewoche stärker zu unterstützen: »Ich persönlich halte die Frage der Fünf­ tagesschule besonders in Arbeiterwohngebieten für so wichtig, dass ich wünschte, der Herr Minister selbst würde etwa in einer Pressekonferenz hier in Kassel oder in irgendeinem anderen Orte des Landes zu diesem Problem einmal öffentlich Stellung nehmen.«201 Der Meinungsbildungsprozess innerhalb des Lehrerkollegiums zog sich insgesamt 14 Monate hin und umfasste acht Konferenzen sowie mehrere Beratungen mit Elternbeiräten und Lehrern. Schließlich wurde die Fünftagewoche nach Ostern 1966, d.h. ein Jahr später als geplant, eingeführt.202 Das Ganztagsformat wurde in dem Schulversuch zunächst lediglich partiell und provisorisch realisiert. Die Verpflegung in der Schule und die Mittags- bzw. Nachmittagsbetreuung waren für 199 Ebd. 200 Schularchiv Hegelsbergschule, Problem der 5-Tages-Schule am 6.3.1964, o.P. 201 Schularchiv Hegelsbergschule, Schreiben Schule Struthbachweg an den Hessischen Kultusmi­ nister vom 14.12.1964. Betr. Antrag auf versuchsweise Einführung einer Fünftagesschule, o.P. 202 Nach Ostern die dritte Fünftageschule, in: Hessische Allgemeine, 30.3.1966.

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höchstens 80 bis 100 sogenannte Härtefälle vorgesehen, da entsprechende Funktionsräume noch weitgehend fehlten. Für das Mittagessen bestand die Notlösung darin, zwei Klassenräume, in denen bis Mittag unterrichtet wurde, zum Speisesaal umzufunktionieren. Der größte Teil der Schülerinnen und Schüler ging mittags weiterhin nach Hause. Ein Aufenthalts- und Leseraum konnte zunächst nur auf provisorischer Grundlage geschaffen werden. Nachmittagsunterricht war nur für die höheren Klassenstufen vorgesehen. Die Klassen 1-3 waren davon ganz ausgenommen, die Viertklässler hatten einmal und die Klassen 5-10 zweimal Nachmittagsunterricht. Ein Teil des Fachunterrichts sollte auf Arbeitsgemeinschaften umgelegt werden. Der weiter bestehende Personalmangel erschwerte den Unterricht und die Nachmittagsbetreuung. Offen blieb zunächst die Frage, ob »Lehrer oder andere beauftragte Hilfspersonen« Aufsicht führen sollten.203 Im praktischen Schulalltag wurde der Schulversuch an der Schule Struthbachweg/Hegelsberg vor allem durch die mangelnde Zuweisung von Lehrerstellen durch das Kultusministerium belastet.204 Unterdessen schienen sich die Pädagogen allmählich mit der neuen Zeitstruktur arrangiert zu haben. Eine vom Personalrat im Lehrerkollegium durchgeführte Befragung ergab 1972 eine mehrheitliche Zustimmung zur Fünftagewoche. Auf die Frage, welche Organisationsform sie sich für ihre Schule nach den Erfahrungen mit der Fünftagewoche wünschten, äußerten von 27 Befragten sieben den Wunsch, wieder zum Sechstage-Unterricht zurückzukehren, zehn begrüßten es, wenn die Fünftagewoche bestehen bliebe, und weitere zehn waren in dieser Frage unentschieden. Auf die Frage, wie sie die »psychischen und physischen Anstrengungen des Lehrers in der Fünftage-Woche« einschätzten, antworteten 23, diese seien größer geworden, zwei waren der Meinung, diese seien gleich geblieben, und zwei enthielten sich.205 Zum Zeitpunkt der Befragung war mit der Gesamtschule längst ein neues Thema ins Zentrum der pädagogischen Aufmerksamkeit gerückt. Neue Herausforderungen: Bildungsreform und Schulneubau Als die Schule Struthbachweg 1966 versuchsweise die Ganztagsorganisation einführte, hatte die hessische Gesamtschuldiskussion bereits begonnen. Diese stand zunächst im Kontext der Landschulreform, bei der durch den Ausbau sogenannter Mittelpunktschulen das Bildungsgefälle zwischen Stadt und Land verringert werden sollte. Seit 1967 trieb eine von Kultusminister Schütte initiierte Arbeitsgruppe unter 203 Schularchiv Hegelsbergschule, Schreiben Schule Struthbachweg an den Hessischen Kultusmi­ nister vom 14.12.1964. Betr. Antrag auf versuchsweise Einführung einer Fünftagesschule, o.P. 204 Schularchiv Hegelsbergschule, Schreiben Stadtschulamt an die Schule Struthbachweg vom 16.8.1968. 205 Schularchiv Hegelsbergschule, Fragebogen über die Fünftage-Woche in der Schule Struthbachweg, Ergebnisse (27 Kollegen), o.D., um 1972.

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Leitung der Staatssekretärin Hildegard Hamm-Brücher die Gesamtschulpolitik auch im Kontakt mit Berliner Gesamtschulplanern voran. Auf dem Weg zu einer »Schule für alle« sollten differenzierte Förderangebote eine bessere »Begabtenauslese« und mehr soziale Gerechtigkeit gewährleisten.206 Für die Schulleitung am Struthbachweg und die Reformkräfte unter den Lehrerinnen und Lehrern war es selbstverständlich, dass man für die »Arbeiterkinder der Nordstadt« zukünftig sowohl Gesamtschule als auch Ganztagsschule sein wollte. Anhand der Quellen aus dem Schularchiv lässt sich verfolgen, wie »Chancengleichheit« in der Schule und in der städtischen Schulpolitik insgesamt seit den späten 1960er-Jahren zum allgegenwärtigen Leitbegriff bei schulorganisatorischen Veränderungen wurde, unabhängig ob es sich dabei um die anvisierte Gesamtschule oder um schulische Ganztagselemente handelte. Auch in der Lokalpresse fand sich dieses Begründungsmuster wieder, etwa wenn es im Herbst 1971 anlässlich des an der Schule Struthbachweg von Oberbürgermeister Karl Branner eingeweihten Speisesaals hieß, dass im »Stadtbezirk […] mit seiner vorwiegend in der Industrie tätigen Einwohnerschaft die ganztägige Betreuung der Schüler nunmehr lückenlos betrieben werden« könne. Man habe an einer Nordstadt-Schule, so wurde aus der Eröffnungsrede zitiert, eine besondere Verantwortung, »die Unterschiede, die sich aus der sozialen Lage der Eltern für die Leistungen der Kinder in der Schule ergäben, auszugleichen, wenn die Chancengleichheit kein leeres Versprechen sein soll«.207 Das SPD-regierte Hessen gehörte neben West-Berlin zu den frühesten und vehementesten Befürwortern von Gesamtschulen. Angestrebtes Zielprojekt war hier der Typ der integrierten Gesamtschule, bei dem die Trennung in einzelne Schularten ganz aufgelöst war. Additive Gesamtschulen, die die drei getrennten Schultypen unter einem Dach zusammenführten, betrachtete man als Übergangsform.208 Auch für den sozialdemokratischen Magistrat in Kassel stand die integrierte Gesamtschule seit den mittleren 1960er-Jahren ganz oben auf der schulpolitischen Agenda. 1969 sicherte die Stadt der Schule Struthbachweg/Hegelsberg zu, diese sei im Entwicklungsprogramm der städtischen Gesamtschulen als erste Gesamtschule der Nordstadt projektiert. Das Lehrerkollegium sprach sich für die Realisierung einer integrierten Gesamtschule aus, »ohne eigentlich genau zu wissen, was es war«, wie der ehemalige Schulleiter rückblickend vermutet.209 Der Schulentwicklungsplan des Magistrats vom Februar 1972 zielte darauf, die Schule Struthbachweg als Gesamtschule zum einzigen Mittelstufenstandort (Klassen 5–10) in der Nordstadt 206 Vgl. allgemein zur Bildungsreformdiskussion Kap. 2.1. und Kap. 2.2. 207 Zum Mittagessen nicht mehr nach Hause, in: Hessische Allgemeine, 29.10.1971. 208 Hessisches Institut für Bildungsplanung und Schulentwicklung (Hg.), 25 Jahre Gesamt­ schule in Hessen. Bestandsaufnahme IGS 1994, Wiesbaden 1994. 209 Interview mit Herrn A. vom 22.1.2009.

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zu machen, um in diesem Stadtteil ein »wohnortnahes umfassendes Bildungsangebot« zu schaffen. Die benachbarten bisherigen Grund- und Hauptschulen (Schule am Warteberg und Carl-Anton-Henschel-Schule) sollten in reine Grundschulen umgewandelt und deren Mittelstufen zusammen mit der Haupt- und Realschule Struthbachweg zur zukünftigen Nordstadtgesamtschule zusammengefasst werden. Mittelfristig war ein gymnasialer Zweig geplant. Zudem sollte eine gemeinsame Förderstufe für die Klassen 5 und 6 eingeführt werden.210 Die Entwicklung der Schule Struthbachweg/Hegelsberg ist aufschlussreich für die besondere Dynamik, mit der in Hessen innerhalb kürzester Zeit Fragen der schulischen Zeitorganisation von der Kontroverse um die Gesamtschule vollkommen in den Hintergrund gedrängt wurden. Paradoxerweise sah das Hessische Schul­verwaltungsgesetz in der Fassung vom 30.5.1969 explizit eine Förderung von ganztägigen Schulen vor, wenn es dazu in § 4 unter dem Punkt »Gesamtschulen, Ganztagsschulen und Tagesheimschulen« ausführte: »(1) Gesamtschulen sollen errichtet werden, wenn dies die örtlichen Verhältnisse zulassen. (2) Die Errichtung von Ganztagsschulen und Tagesheimschulen ist zu fördern. Sie sollen als Fünftagesschulen gefördert werden.«211 Tatsächlich blieb es bei dieser Absichtserklärung: Je vehementer die CDU-regierten Bundesländer ihre Einwände gegen die Gesamtschule auf Bundesebene geltend machten und das Projekt blockierten, desto entschiedener sollte es von sozialdemokratisch regierten Ländern wie Hessen durchgesetzt werden.212 Anfang der 1970er-Jahre wandten sich die Schulleiter von insgesamt 15 hessischen Ganztagsschulen, darunter auch der Schulleiter der Schule Struthbachweg/ Hegelsberg, alarmiert an den hessischen Kultusminister, denn sie befürchteten, dass der forcierte Expansionskurs in Sachen Gesamtschule den Pädagogenmangel und den Kostendruck zu Lasten der bereits bestehenden Ganztagsschulen weiter zu verschärfen drohte. Aus Sicht der Schulleiter war aufgrund der Unterfinanzierung ein verantwortungsvoller Ganztagsbetrieb vielerorts kaum noch aufrechtzuerhalten: Nach anfänglichen Erfolgen verschlechterten sich die schulischen Voraussetzungen in personeller und materieller Hinsicht derart, dass die Fortführung dieser Versuchsarbeit gefährdet ist. Diese Tatsache muß auch gerade wegen der unbestrittenen Bedeutung dieser Schulversuche für die Entwicklung der Gesamtschulen bedauert werden. Aus diesem Grund kann u.E. nicht vertreten werden, weitere Ganztagsschulen einzurichten, wenn 210 Schularchiv Hegelsbergschule, Protokoll über das Schulgespräch am 5.12.1978 in der Schule Struthbachweg; 80 Jahre Nordstadtschule – 10 Jahre Hegelsberg ( Jubiläumsheft), Kassel 1988, S. 9. 211 Schularchiv Hegelsbergschule, Stellungnahme der Leiter der Hessischen Ganztagsschulen zur Gegenwärtigen Situation des Schulversuchs Ganztagsschulen, (24.11.72 handschriftliches Datum unleserlich). 212 Vgl. auch Kap. 3.1.

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nicht die zuvor bestehenden Versuchsschulen so ausgestattet werden, dass sie ihrer Aufgabe gerecht werden können. Gegenwärtig ist die Entwicklung rückläufig; immer mehr ganztägige Veranstaltungen müssen aufgegeben werden, um in den Ganztagsschulen wenigstens einen vertretbaren Halbtagsunterricht sicherzustellen.213

Die Schulleiter forderten für ihre Schulen ein Sofortprogramm, um den Ganztagsbetrieb fortführen zu können. Im Fall der Schule Struthbachweg/Hegelsberg ging es um Mittel für eine »verstärkte und regelmäßige Förderung der Mittagsfreizeit und der Arbeitsgemeinschaften durch rechtzeitige Geldzuweisungen«, »Betreuungsstunden in der Mittagsfreizeit« sowie »Gewährleistung einer schulpsychologischen Beratung«.214 Im Rahmen des Schulversuchs war 1968 bereits eine Erzieherstelle geschaffen worden. 1973 beantragte der Schulleiter erfolgreich deren Umwandlung in eine Stelle für eine Sozialpädagogin, da die Stelleninhaberin neben der Aufsichtsund Betreuungsfunktion mit der Hinwendung zu den »sozial- und erziehungsschwierigen Fällen« faktisch sozialpädagogische Aufgaben übernahm.215 Tatsächlich erforderte die zeitliche Ausweitung des Schultages eine pädagogische Fachkraft, war doch auf dem noch kaum umrissenen Feld der Freizeitpädagogik, wie sich die ehemalige Sozialpädagogin erinnert, »Pionierarbeit« zu leisten.216 Wenn für ganztägige Schulversuche die Personalausstattung unzureichend blieb, lag das vor allem an der Vielzahl personal- und kostenintensiver Reformen in Hessen. Die Expansion von weiterführenden Schulen seit den 1960er-Jahren führte bei gleichzeitigem Lehrermangel zu starken Belastungen des pädagogischen Personals. Hinzu kamen infolge des rasanten Tempos beim Gesamtschulausbau auch ideologische Verhärtungen, die der Erziehungswissenschaftler Christoph Führ wie folgt beschrieb: Was Hessen von anderen Ländern unterschied, war vor allem der Zeitdruck und das Wagnis von Konzepten, die Eltern, Lehrer, Schüler, selbst die Schulverwaltung, polarisierten […]. Denn der Versuch, eine egalitäre, herrschaftsfreie Gesellschaft durch Schulreformen zu erzwingen, gesellschaftlichen Entwicklungen gewissermaßen vorzugreifen, überschätzte den begrenzten Rahmen von Schule und stabilisierte eher die Gegenkräfte.217

213 Schularchiv Hegelsbergschule, Stellungnahme der Leiter der Hessischen Ganztagsschulen zur Gegenwärtigen Situation des Schulversuchs Ganztagsschulen, (24.11.72 handschrift­ liches Datum unleserlich) 214 Ebd. 215 Schularchiv Hegelsbergschule, Schule Struthbachweg an den Herrn Regierungspräsidenten, Schulabteilung, vom 14.3.1973. 216 Interview mit Frau Z. vom 23.1.2009. 217 Christoph Führ, Schulpolitik in Hessen 1945–1994, in: Bernd Heidenreich (Hg.), Hessen. Gesellschaft und Politik, Stuttgart 1995, S. 157–177.

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Es sollte zu einem hessischen Spezifikum werden, Ganztagsschulen trotz deren gesetzlicher Verankerung faktisch nicht zu bauen. Stattdessen setzte man in der Landesregierung und im Kultusministerium die finanzpolitischen Prioritäten so, dass bei der als wichtiger angesehenen Reform der Gesamtschule bildungspolitisch Fakten geschaffen und in relativ kurzer Zeit (halbtägige) Gesamtschulen in großer Zahl gegründet wurden. In Hessen war Mitte der 1970er-Jahre mit 65 integrierten Gesamtschulen zwar fast die Hälfte der 142 westdeutschen Gesamtschulen angesiedelt, keine davon war jedoch eine Ganztagsschule.218 Der ehemalige Schulleiter der Hegelsbergschule wies auf diesen eigentümlichen Widerspruch hin, dass in Hessen bewusst eine Politik gegen Ganztagsschulen betrieben wurde, obwohl gerade dort Ministerialräte und Schulräte von Beginn an den Motor der Ganztagsschuldiskussion darstellten und sich in der Gemeinnützigen Gesellschaft Tagesheimschule engagierten.219 Die heftigen Auseinandersetzungen, die 1972–1974 mit den Rahmenricht­ linien um den hessischen Gesamtschulkurs entbrannten, führten nicht nur zum Rücktritt des Kultusministers Ludwig von Friedeburg, sondern auch zu einer tiefen Ernüchterung gegenüber Schulreformen.220 Es liegt nahe, dass auch die Verzögerungen beim Neubau der Schule Struthbachweg/Hegelsberg auf diesen Konflikt zurückzuführen waren. Die Bauarbeiten für das neue Schulgebäude im Stadtteil Hegelsberg begannen erst 1978, drei Jahre später als geplant. Immer wieder beschwer­ten sich Schulleitung und Elternbeirat beim Kultusminister und beim Ministerpräsidenten über die Verschleppung bei der Mittelbewilligung.221 In den Presseberichten über die Grundsteinlegung im Stadtteil Hegelsberg für den Schulneubau war unzutreffend von einer Ganztagsschule die Rede. Tatsächlich sahen die Baupläne für Hegelsberg eine Halbtagsschule vor, entsprechend der hessischen Linie, Gesamtschulen aus Kostengründen als Halbtagsschulen zu konzipieren. Die Schulleitung hatte deshalb bei der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung (BLK) zusätzliche Mittel für den Bau von Ganztagseinrichtungen beantragt, die jedoch nicht rechtzeitig bewilligt worden waren.222

218 Ludwig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2, S. 551. 219 Interview mit Herrn A. vom 22.1.2009. 220 Hessens oberstes Verwaltungsgericht hatte 1975 in Kassel ein Grundsatzurteil gefällt, das Elternrecht über staatliche Reform stellte. Damit durften Gymnasien nicht zugunsten integrierter Gesamtschulen aufgelöst werden, wenn genügend Eltern ihre Kinder weiterhin ins Gymnasium schicken wollten. Die Füße tragen nicht so weit. »Spiegel«-Interview mit Hessens SPD-Kultusminister Krollmann über Gesamtschulen, in: Spiegel, Nr. 26, 23.6.1975. 221 Schularchiv Hegelsbergschule, Elternbeirat H. Lampey an den Ministerpräsidenten Börner vom 20.11.1978. 222 Der kurze Schulweg hat Vorrang, in: Hessische Allgemeine, 26.9.1978.

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In den Folgejahren entstand durch die Bauarbeiten eine extrem belastende Situation, da das langjährige räumliche Provisorium an zwei Standorten die Durchführung des Ganztagskonzepts erschwerte. Im Oktober 1979 zogen die ersten zwölf Klassen in das neu errichtete Schulgebäude ein, und die Schule trug ab jetzt den neuen Namen Hegelsberg. Die Mehrheit der insgesamt 31 Klassen blieb zunächst im alten Gebäude am Struthbachweg zurück. Nur hier fand der Ganztagsbetrieb mit Mittagessen und nachmittäglichen Freizeitangeboten statt. Erst mit dem sukzessiven Umzug weiterer Klassen in das neue Schulgebäude wurde auch dort der Ganztagsbetrieb aufgenommen und konnte ab 1981/82 mit Mehrzweckhalle, Tee­ stube, Sporthalle auf eine breitere Grundlage gestellt werden. Der letzte Bauabschnitt wurde erst im Sommer 1987 fertig gestellt. Das Ganztagsprogramm am Hegelsberg erfolgte weiterhin in ungebundener Form, d.h. man war eine Schule mit angeschlossenem Freizeitbereich, dessen Nachmittagsangebote freiwillig waren. Eine gebundene Ganztagsschule wäre nicht nur wesentlich kostspieliger, sondern auch politisch umstrittener und daher beim Land Hessen, beim Schulträger, bei Lehrern und Eltern nicht durchsetzbar gewesen. Ganztagsschule und Migration Die Entwicklung der Schule Struthbachweg/Hegelsberg zur ganztägigen Gesamtschule war eng verbunden mit einem durch Migrationsprozesse angestoßenen tiefgreifenden Wandel des schulischen Umfelds. Bereits in den 1960er-Jahren kamen vereinzelt die ersten nichtdeutschen Kinder an die Schule, ihre Zahl nahm im Laufe der 1970er-Jahre stetig zu.223 Der industrielle Strukturwandel, der sich seit den 1960erJahren durch die steigende Zahl an Betriebsschließungen bemerkbar machte, wurde zu einem entscheidenden Auslöser für die einschneidenden sozialräumlichen Veränderungen in der Kasseler Nordstadt. Auch in den Henschel-Werken an der Holländischen Straße wurde 1973 der Betrieb eingestellt und das historische Fabrikgelände anschließend als Hauptstandort der Gesamthochschule Kassel in die städtebaulichen Planungen einbezogen.224

223 Schularchiv Hegelsbergschule, Protokoll über das Schulgespräch am 5.12.1978 in der Schule am Struthbachweg. Anwesend waren neben dem Oberbürgermeister Hans Eichel, der Dezernent für das Schulwesen in Kassel, zwei Vertreter des staatlichen Schulamts, Elternbeirat, Schulleitung, Personalrat sowie die Schulleitung der Carl-Anton-Henschel-Schule. 224 Henschel war seit 1957 nicht mehr direkt in Familienbesitz. Teile wurden übernommen von den Rheinischen Stahlwerken (später Thyssen) und Daimler-Benz, die zu den wichtigsten Arbeitgebern für Arbeitsmigranten in Kassel zählten. 1984 beschäftigten beide HenschelNachfolger zusammen noch 1045 ausländische Arbeitskräfte. Das ehemalige Familienunternehmen Henschel produzierte in Kassel an mehreren Standorten Lokomotiven, Nutzfahrzeuge, Omnibusse und diverse Motoren und Maschinen. Vgl. Stadtmuseum Kassel (Hg.),

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Parallel zur Deindustrialisierung veränderte sich die Bevölkerungsstruktur im Norden Kassels – einerseits nahm die Zahl deutschstämmiger Stadtbewohner durch Geburtenrückgang und Umzug ins Umland sukzessive ab, andererseits ließen sich verstärkt Arbeitsmigranten mit ihren Familien nieder.225 Spätestens Mitte der 1970er-Jahre fand sich die Nordstadt als sozialer Brennpunkt in der Presseberichterstattung wieder. »Was soll aus der Nordstadt werden?«, titelte die Kasseler Ausgabe der »Hessischen Allgemeinen« bereits im Januar 1974 und diagnostizierte die Lage wie folgt: »Die Abwanderung alteingesessener Bewohner, eine starke Umweltbeeinträchtigung und zum Teil verkommener Altbaubestand« würden die Nordstadt zu einem »Problemkind unter den Kasseler Stadtteilen« machen. Die Lärmbelästigung durch die Holländische Straße sei der »wesentliche Grund für das Abwandern deutscher Bewohner« aus der Nordstadt, wo die mehrspurige Ausfallstraße den Stadtraum zerschneidet. Ob schon »von Ausländergettos in der Nordstadt [zu] sprechen« sei, wurde unterschiedlich eingeschätzt.226 Eine soziale Problemzone identifizierte der Oberbürgermeister Karl Branner im Sommer 1975 jedenfalls in den »ehemaligen ›Henschelhäusern‹ mit ihrer massierten Ausländerbeschäftigung«.227 Da migrantische Familien generell vor dem Problem standen, überhaupt bezahlbaren Wohnraum zu finden, ließen sie sich bevorzugt in Stadtteilen mit unsanierten Häusern nieder.228 In der Nordstadt, aber auch im Nordosten und Osten Kassels lag der nichtdeutsche Bevölkerungsanteil 1978 bei fast 60 Prozent. Seit den 1980er-Jahren veränderte sich die Struktur durch den starken Zuzug von Asylsuchenden, Bürgerkriegsflüchtlingen und anderen Gruppen wie den Russlanddeutschen.229 In den 1990er-Jahren entwickelten sich türkische und arabische Staatsangehörige zu den stärksten Gruppen. Die Nordstadt erlebte ein Phänomen, das die Migrationssoziologie als »residentielle« oder »ethnische Segregation« bezeichnet. Für die räumliche Konzentration bestimmter ethnischer Gruppen dürften zweierlei Faktoren wirksam gewesen sein: zum einen die Mecha-

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Neu-Kasseler aus dem Mittelmeerraum. Veränderungen einer Stadt durch »Gastarbeiter«, Kassel 2002, S. 49; Gesamthochschule Kassel, Nordstadt-Geschichte(n), Kassel 1979, S. 20. Vgl. auch Kap. 3.1. Was soll aus der Nordstadt werden?, in: Hessische Allgemeine, 25.1.1974. Nordstadt: Verbesserungen durch Gemeinschaftseinrichtungen, in: Hessische Allgemeine, 20.1.1975. Der Skandal um die sogenannten Henschelhäuser schlug hohe Wellen in der Kasseler Öffentlichkeit. Ehemalige Wohnungen für Mitarbeiter der Firma Henschel in der Oestmannstraße, Fichtnerstraße, Holländischen Straße und Niedervellmarer Straße waren 1957 verkauft worden und wechselten bis 1971 viermal den Besitzer. Der letzte Besitzer ließ die Häuser bewusst verfallen, um eine Abrissgenehmigung zu erhalten, und vermietete die Wohnungen ohne sanitäre Anlagen zu stark überhöhten Mieten an ausländische Familien. Vgl. Stadtmuseum Kassel, Neu-Kasseler aus dem Mittelmeerraum, S. 70. Stadtmuseum Kassel, Neu-Kasseler aus dem Mittelmeerraum, S. 26f.

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nismen des Wohnungsmarktes, d.h. der Zugang zu bezahlbarem Wohnraum, zum anderen die verbreitete Präferenz, in der Nähe von Landsleuten zu wohnen.230 Mit der sozialen Veränderung im Einzugsgebiet der Schule Struthbachweg/ Hegelsberg wurde Migration zum schulpolitischen Argument. So wandte sich der Elternbeiratsvorsitzende der Schule 1977, als sich der Baubeginn des neuen Schulgebäudes am Hegelsberg weiter zu verzögern drohte, mit dem eindringlichen Appell an den Kultusminister, dass der »schnellstmögliche Beginn des Neubaus […] ein Zeichen [wäre], das von der Bevölkerung so verstanden würde, dass die Politiker unseren Stadtteil noch nicht aufgegeben haben«.231 Als der neue SPD-Oberbürger­ meister Hans Eichel schließlich im September 1978 den Grundstein für den Neubau legte, verband er dies mit der Ankündigung, die Nordstadt zur »ersten kommunalpolitischen Entwicklungsaufgabe« machen zu wollen und versprach: »Wir wollen den Kindern deutscher und besonders ausländischer Arbeiter mehr Bildungs- und Lebenschancen bieten.«232 Faktisch geschah von städtischer Seite allerdings wenig. Es war vor allem die Schule selbst, die aktiv wurde. Mit dem wachsenden Migrantenanteil unter den Schülerinnen und Schülern entstand der Ruf, eine »Ausländerschule« zu sein, mit der Folge, dass die Schule Struthbachweg/Hegelsberg seit etwa Mitte der 1970er-Jahre von deutschen Schülern gemieden wurde.233 Die Schülerzahl war ungeachtet dessen innerhalb von fünf Jahren von rund 750 Schülern im Jahr 1978 auf rund 1040 1983 angestiegen. Während die Realschule 1978 noch einzügig lief, gab es im Schuljahr 1983/84 für den Hauptschul- und Realschulzweig je drei Züge.234 Der Schüleranstieg hing nicht zuletzt mit dem wachsenden Anteil ausländischer Kinder an der Gesamtzahl der Schüler zusammen: Gab es 1974 22 Erstklässler mit Migrationshintergrund, waren es vier Jahre später, 1978, bereits 105 von insgesamt 140 Erstklässlern. 1976 waren von 740 Schülern insgesamt 135 nichtdeutscher Nationalität, 1977 waren es bereits 180 Schüler. Aufgeschlüsselt nach Schulzweigen stieg der Anteil ausländischer Kinder im Hauptschulzweig innerhalb eines Schuljahres von 25,9 Prozent (1976/77) 230 Karen Schönwälder/Janina Söhn, Siedlungsstrukturen von Migrantengruppen in Deutschland: Schwerpunkte der Ansiedlung und innerstädtische Konzentrationen, WZB Discussion Paper Nr. SP IV 2007-601, S. 3 und 27. 231 Schularchiv Hegelsbergschule, H. Lampey an den hessischen Kultusminister vom 7.7.1977. 232 Der kurze Schulweg hat Vorrang, in: Hessische Allgemeine, 26.9.1978. 233 Über dieses seit den späten 1970er-Jahren entstehende Etikett der Schule bestand Übereinstimmung bei allen Interviewpartnern. Vgl. das Interview mit dem ehemaligen Schulleiter Herrn Appel und der ehemaligen Sozialpädagogin Frau Z. am 23.1.2009. Vgl. auch Schularchiv Hegelsbergschule, H. Lampey an den hessischen Kultusminister vom 7.7.1977. 234 Gerd Jungblut/Elmar Philipp, Schulentwicklung unter Konkurrenzbedingungen. Oder: Bestandsgefährdungen können auch eine Verbesserung des schulischen Angebots zur Folge haben – Zwei Fallbeispiele für verbundene Systeme, in: Die Deutsche Schule (1994), Nr. 2 (Sonderdruck).

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auf 35,6 Prozent (1977/78).235 1983 betrug der Migrantenanteil 31,75 Prozent bei einer Schülerzahl von 1040.236 Der ehemalige Schulleiter machte im Interview darauf aufmerksam, dass die Hegelsbergschule als weiterführende Schule vom jeweiligen Zuschnitt des Schul­ bezirks betroffen gewesen sei, da die dort ansässigen Grundschulen als »Zuliefererschulen« auch über die ethnische Schülerzusammensetzung an der weiterführenden Schule mitentschieden.237 Offenbar wurden Straßenzüge des ehemaligen Einzugsgebiets der Schule Struthbachweg/Hegelsberg, in denen überwiegend ethnisch deutsche Familien wohnten, dem Einzugsgebiet einer anderen, als sozial unproblematischer geltenden Schule zugeordnet. Die Schulfestschrift beschreibt diesen bewusst segregierenden Eingriff rückblickend als neuerliche Weichenstellung in Richtung einer sogenannten Ausländerschule: »Die Verkleinerung des Schulbezirks bedeutet für uns Abgabe von Kindern aus vorwiegend deutschen Wohnbereichen an die Valentin-Traudt-Schule, unser Ausländeranteil erhöht sich erneut.«238 Aus heutiger Sicht mag der Anteil migrantischer Schulkinder mit einem guten Drittel um 1980 für eine städtische Schule eher gering scheinen. Wenn die Protokolle der Gesamtkonferenzen dennoch eine Dramatisierung erkennen lassen und Schulleitung und Kollegium die Schule als »›deutsche‹ Schule akut bestandsgefährdet« sahen,239 so hing dies vor allem mit dem staatlichen Versäumnis zusammen, dem schulischen Handeln einen klaren integrationspolitischen Rahmen zu geben. Die Widersprüchlichkeit und Doppelgleisigkeit der bundesdeutschen »Ausländerpolitik« schlug sich mit hohen sozialen Folgekosten auch im Bereich Schule nieder, wo man die kurzfristige Integration von migrantischen Kindern förderte, langfristig aber auf deren Rückkehr und Reintegration in das Herkunftsland hinarbeiten sollte. Anstelle eines Gesamtkonzepts beschränkte sich der Staat auf Einzelmaßnahmen, die den von praktischen Integrationsfragen betroffenen Schulen wenig Hilfestellung boten.240 Im Fall von Hegelsberg wurden lediglich kurze Lehrerweiterbildungen in Fragen der »Ausländerpädagogik« angeboten, die der Fachbereich Sozialarbeit/ 235 Die Zahlen nannte der Elternbeiratsvorsitzende in einem Schreiben an den Kultusminister über ein seiner Meinung nach entstehendes »Ausländerproblem an der Schule Struthbachweg«. Schularchiv Hegelsbergschule, H. Lampey an den hessischen Kultusminister vom 7.7.1977. 236 Jungblut/Philipp, Schulentwicklung unter Konkurrenzbedingungen. 237 Interview mit Herrn A. vom 22.1.2009. 238 Schularchiv Hegelsbergschule, Ganztagsschule Hegelsberg (Heft zum 100-jährigen Schuljubiläum), Kassel 2008, S. 15. 239 Schularchiv Hegelsbergschule, Protokoll der Gesamtkonferenz vom 3.5.1983. 240 Vgl. die frühe Kritik bei: Ünal Akpinar/Andrés López-Blasco/Jan Vink, Pädagogische Arbeit mit ausländischen Kindern und Jugendlichen. Bestandsaufnahme und Praxishilfen, München, 3. Aufl. 1980.

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Sozialpädagogik an der unmittelbar benachbarten Gesamthochschule Kassel organisierte. Mochten solche Trainings die Pädagogen für die multikulturelle Zusammensetzung von Schulklassen auch sensibilisieren, so zementierten sie mit dem Leitkonzept »Ausländerpädagogik« indessen auch ein stereotypes und defizitäres Migrantenbild.241 Seit den frühen 1980er-Jahren richteten sich am Hegelsberg alle Bemühungen darauf, die labile ethnische Balance in der Schülerschaft zu erhalten. Das Ganztagskonzept gehörte dabei zu den Strategien, die die Schule gezielt daraufhin entwickelte, verstärkt deutschstämmige Kinder aus dem weiteren Umland Kassels zu gewinnen. Mit einem auf »Förderung und Integration« setzenden attraktiven Ganztagsschulprogramm wollte man sich als »Schule besonderer pädagogischer Prägung« profilieren.242 Der ganztägige Schulbetrieb mit nachmittäglichen Freizeitaktivitäten, Arbeitsgemeinschaften, Mittagessen und Hausaufgabenbetreuung verband sich mit einem Lehrerzuschlag von 30 Prozent, mit einem gut ausgestatteten Freizeitheim und dem Schulneubau. In den rund 50 initiierten Interessengemeinschaften aus dem musisch-kulturellen, sportlichen und berufsvorbereitenden Bereich kamen die Schüler schulzweig- und jahrgangsübergreifend zusammen.243 Auch verstärkte man die Werbung unter den Eltern, um diese in Schulaktivitäten einzubinden. Eine intensivierte Öffentlichkeitsarbeit trug stark zur positiven Außenwirkung der Schule bei, war hier doch nicht nur vom Ganztagscharakter als einem Alleinstellungsmerkmal gegenüber den anderen Kasseler Schulen die Rede, sondern auch von einem besonderen Schulklima, dem Hegelsberger »Fluidum«.244 Mit diesen Aktivitäten orientierte sich die Hegelsbergschule am sogenannten Magnetschul-Konzept nach US-amerikanischem Vorbild: Durch attraktive curriculare Angebote sollten der Wegzug »weißer Schüler« (»white-flight-Phänomen«) 241 Zu den frühen Kritikern der »Ausländerpädagogik« gehörte Frank-Olaf Radtke. Vgl. z.B. Mechtild Gomolla/Frank-Olaf Radtke, Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule, Wiesbaden 2009. 242 Stadtarchiv Kassel, III I bb Heg 002, Ganztagsschule Hegelsberg in Kassels Nordstadt (Broschüre, Stand 1979/80); Schularchiv Hegelsbergschule, Schule Hegelsberg an den Hessischen Kultusminister vom 25.10.1982, Betr. Stellungnahme von Schulleitung und Gesamtkonferenz zum Schulversuch »Pädagogische Unterstützung verbundener Schulen bei sinkenden Schülerzahlen«. 243 Vgl. die im Schularchiv Hegelsberg überlieferten Broschüren zu den Freizeitangeboten. 244 Modellcharakter: Tagesheim an der Hegelsbergschule, in: Hessische Allgemeine, 7.11.1981; Hegelsbergschule: Neue Projekte mit überregionaler Bedeutung!, in: Kasseler Freizeitmagazin, August 1983; Schule Hegelsberg: gleich drei Anlässe zum Feiern, in: Für uns. Die lokale Wochenzeitung/HNA (Hessisch-Niedersächsische Allgemeine), 4.2.1988; »Modellhafte Schule« der Stadt Kassel – wissen die Nordstadtbürger davon?, in: Kassel Express Philippinenhof/Warteberg, 18./19.2.1989; Wohlfühlen und Lernen: Ganztagsunterricht in der Praxis, in: Magazin der HNA (Hessisch-Niedersächsische Allgemeine), 30.4.1989.

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Historische Fallstudien von Ganztagsschulen

gestoppt und die schulischen und sozialräumlichen Segregationsprozesse aufgehalten werden. Erziehungswissenschaftler bewerteten dieses Schulhandeln als überaus erfolgreich, um sich als Schule unter den aufgrund zurückgehender Schülerzahlen verschärften Konkurrenzbedingungen zu behaupten. So zog die Hegelsbergschule in den frühen 1980er-Jahren eine beträchtliche Zahl von Schülern anderer Schul­ einzugsgebiete an. 1983 kamen bei 1040 Schülerinnen und Schülern insgesamt 115 aus dem Landkreis Kassel und 121 aus anderen städtischen Schulbezirken. Diese Schülerinnen und Schüler, die knapp 25 Prozent der Gesamtschülerschaft stellten, hatten fast ausschließlich einen ethnisch deutschen Hintergrund. Ohne diese Gruppe hätte der Anteil nichtdeutscher Schüler – so rechnete man schulintern hoch – in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre bei rund 70 Prozent gelegen.245 Die Schule war permanent darauf angewiesen, zusätzliche Finanzmittel zu beantragen, um den Ganztagsbetrieb im Rahmen schulischer Versuchsprogramme aufrechterhalten zu können. In den Förderanträgen wurde das Faktum Migration zur Hauptbegründung für die Notwendigkeit der Ganztagsstruktur. Dies war der Fall bei dem 1981 errichteten Freizeitgebäude, das im Rahmen des Modellversuchs »Regionales Verbundsystem Kassel« (RVK) entstand, einem Programm, das auf die Verbesserung der ganztägigen Förderung durch Schulsozialarbeit und Berufsberatung zielte und durch Mittel von Bund, Land und Kommune finanziert wurde. Auch an anderen Modellversuchen des hessischen Kultusministeriums wie dem Programm »Pädagogische Unterstützung verbundener Schulen bei sinkenden Schülerzahlen« (PUSCH), an denen sich die Schule beteiligte, wurde integrationspolitisch argumentiert. Eine über Anträge zu bewerkstelligende Finanzierung der Ganztagsschule bedurfte einer aktiven Schulleitung. Drei ehemalige Lehrer stimmen überein, dass der seit 1978 als Konrektor und seit 1983 als Schulleiter amtierende Stefan Appel nicht nur als Bauherr für den Schulneubau, sondern auch bei der Antragstellung im Rahmen solcher Förderprogramme die treibende Kraft war: »Auch für die interne Entwicklung hat er sich da ganz stark bemüht, klar. Er wusste auch immer Bescheid, wo sind Kanäle, wo man irgendwelche Fördergelder, Fördermittel bereit gestellt bekommen kann, und was müssen wir tun, um diese Mittel abzugreifen. Also da war er Künstler drin, einmalig.«246 Gesamtschule, Förderstufe und kurze »goldene Jahre« 1986 wurde die Schule Hegelsberg offiziell additive bzw. schulformbezogene Gesamtschule und vereinte nach der für alle Fünft- und Sechstklässler gemeinsamen Förderstufe ab Klasse 7 unterschiedliche Schularten unter ihrem Dach. Eine integrierte Gesamtschule wie ursprünglich geplant schien nach den erbitterten 245 Jungblut/Philipp, Schulentwicklung unter Konkurrenzbedingungen. 246 Gruppeninterview mit Frau D., Herrn A. und Herrn T. vom 9.12.2013.

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Auseinandersetzungen um die hessische Gesamtschulpolitik politisch nicht mehr opportun. Auch in Kassel hatte sich Widerstand auf Elternseite formiert, wo man das Elternrecht gefährdet sah. Die bildungsbürgerlich geprägte »Bürgerinitiative für freie Schulwahl – auch in Kassel« verbreitete hier einen »Gegenentwurf« zum neuen Kasseler Schulentwicklungsplan von 1980, der an die Linie der Gesamtschulpolitik von 1972 anzuknüpfen schien, indem er mit der Zusammenlegung der bestehenden drei Schulformen zu Gesamtschulen auf den Rückgang der Schülerzahlen zu reagieren beabsichtigte. Die Elterninitiative verfolgte hingegen das Ziel, neben der Gesamtschule das gegliederte Schulsystem aufrechtzuerhalten und die Förderstufe lediglich auf freiwilliger Basis einzuführen. Zentral war dabei das »Recht der Eltern, […] ihre Kinder nach dem vierten Grundschuljahr je nach Eignung in die fünfte Klasse einer Schule des dreigliedrigen Systems, in eine Gesamtschule oder auch in eine Förderstufe übergehen zu lassen«.247 Für die Haupt- und Realschule Hegelsberg setzte Mitte der 1980er-Jahre mit der Umwandlung in eine schulformbezogene Gesamtschule mit Hauptschul-, Realschul- und schließlich auch Gymnasialzweig eine kurze Phase relativer Entspannung ein. Diese Organisationsänderung trat zusammen mit der ebenfalls neu eingeführten sechszügigen Förderstufe zum Schuljahr 1985/86 in Kraft.248 Aus der Sicht des ehemaligen Schulleiters Stefan Appel hatte die Schule mit der Einführung der obligatorischen Förderstufe für Kinder nach der 4. Klasse »ihre beste Zeit. In der Zeit kriegten wir also genügend deutsche Kinder. […] Die Kinder aus dem Landkreis haben wir hier ja jahrelang gekriegt, weil wir sozusagen ein Modell waren, das alles konnte, also auch für bildungsbewusste Eltern.«249 In diesen Jahren profitierte die Schule zudem davon, dass sie in der Großregion Kassel mit ihrem ganztägigen Betreuungsangebot konkurrenzlos war. Der ehemalige Schulleiter beschrieb die günstige Konstellation: Und im Landkreis gab es auch nur integrierte Gesamtschulen, und die wenigen anderen Gesamtschulen der Stadt und wir auch waren kooperative, also mit drei Schulzweigen unter einem Dach. Und wir waren sozusagen für den Landkreis ein Alternativmodell. Wer integrierte Gesamtschule nicht wollte, und das wollten viele nicht, schickte die Kinder sozusagen zu uns. Wir waren voll ausgebaute Ganztagsschule, die einzige in Kassel im additiven Modell, mit drei Schulzweigen, integrierte [Gesamtschulen] wurden eher ab- als angewählt, und haben von außen aus anderen Stadtteilen, aus etwa 20 bis 25 Grundschulen Schüler hierher gezogen und haben damit im Grunde genommen unsere Schulstruktur saniert, wenn man so will […]. Das hat lange Jahre geklappt, bis man 247 Stadtarchiv Kassel, K-2005/6438, Gegenentwurf zum Schulentwicklungsplan der Stadt Kassel (o.D. um 1980). 248 Schularchiv Hegelsbergschule, Schreiben Staatliches Schulamt Kassel an Schulleiter der Schule Hegelsberg vom 29.10.1985. 249 Interview mit Herrn A. vom 22.1.2009.

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Historische Fallstudien von Ganztagsschulen

angefangen hat, dann in den 90ern und um das Jahr 2000 im Landkreis auch aufzurüsten, also Ganztagsangebote, zumindest so Betreuungsversionen zu schaffen. Die Eltern halten Ganztagsangebote und Ganztagsschule nicht auseinander.250

Als die CDU 1987 die Wahlen gewann, wurde die hessenweite obligatorische Förderstufe wieder abgeschafft. Unter dem Motto »freie Schulwahl« wurden Gymnasien, die bereits in Gesamtschulen umgewandelt worden waren, wieder in ihre ursprüngliche Form zurück überführt. Dies bedeutete für die Hegelsbergschule und andere Gesamtschulen neuerliche Konkurrenz bei der Gewinnung von Kindern aus Mittelschichtsfamilien. Die Handlungsmöglichkeiten der Schule wurden seit den 1990er-Jahren von weiterhin rückläufigen Schülerzahlen, neuen Migrationsbewegungen und weniger Finanz- und Personalmitteln geprägt. Der Schulfestschrift zum 100-jährigen Jubiläum ist zu entnehmen, dass – nachdem in den 1980er-Jahren zwei zusätzliche sozialpädagogische Kräfte beschäftigt werden konnten – es seit 1990 nur noch eine Sozialpädagogin auf einer ABM-Stelle gab, finanziert durch den neu gegründeten Förderverein der Schule. 2003 sei die Stelle der pädagogischen Leiterin schließlich gestrichen worden. Was die Schülerzahl betraf, so besuchten im Schuljahr 2007/8 lediglich 662 Schülerinnen und Schüler die Schule Hegelsberg (im Vergleich dazu waren es 1984/85 noch 1034 Schülerinnen und Schüler). Dies bedeutete für die Schulleitung nicht nur Schwierigkeiten bei der Bildung von Klassen (insbesondere auch Gymnasialklassen) und Benachteiligung bei der Lehrerzuweisung, sondern letztlich auch eine latent anhaltende Gefährdung des Schul­ standorts.251 Entsprechend der jüngsten Anforderung an Schulen, ein eigenes Schulprogramm und Leitbild zu definieren, begreift sich die Ganztagsschule Hegelsberg heute programmatisch als »ein Lebens- und Lernort für alle« mit dem Anspruch, »offen, tolerant, kreativ […] eine möglichst große Zahl von Schülerinnen und Schülern, insbesondere auch solche mit ungünstigen Sozialisationsbedingungen, zu einem sicheren und möglichst hohen Schulabschluss zu führen«.252 Damit begegnet sie dem Ziel der Bildungsverwaltung nach PISA, die Zahl der Schulabbrecher zu senken und Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten zu »fördern und fordern«253 durch spezifische Angebote wie Förderstunden (für die 5. bis 7. Klasse)

250 Ebd. 251 Schularchiv Hegelsbergschule, Ganztagsschule Hegelsberg (Heft zum 100-jährigen Schuljubiläum), Kassel 2008, S. 16. 252 Vgl. die Website der Schule: http://www.hegelsbergschule.de/index.php/konzept (Stand: 25.10.2014). 253 Vgl. zur Vokabel vom »Fördern und Fordern« http://www.hegelsbergschule.de/index.php/ konzept (Stand: 25.10.2014).

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und sogenannte Support-Stunden für »lernschwache Schüler älterer Jahrgänge«.254 Der aktuelle Web-Auftritt der Schule Hegelsberg legt die Vermutung nahe, dass man sich dort heute selbstbewusster als »Lebensort in der Nordstadt, an dem viele Kulturen und Nationalitäten zusammentreffen«, begreift und den Anteil von »Schülerinnen und Schüler[n] mit Migrationshintergrund« aus 39 Nationen mit 48,3 Prozent offen benennt.255 Im Begründungszusammenhang von Schule als »Lebensort« erscheint es nur folgerichtig, dass das neue Schulkonzept die zentrale Bedeutung der schuleigenen Ganztagsangebote und der »externen Ganztagsanbieter« betont und diesen Aufgabenbereich durch den Einsatz einer »Ganztagskoordinatorin« zukünftig weiter aufwerten will.256

254 Schularchiv Hegelsbergschule, Ganztagsschule Hegelsberg (Heft zum 100-jährigen Schuljubiläum), Kassel 2008, S. 16. 255 Siehe http://www.hegelsbergschule.de/images/konzept/paedagogisches_konzept.pdf (25.10.2014). 256 Ebd.

Schluss Die Studie verfolgte ein doppeltes Anliegen, nämlich einerseits zu erklären, warum die Ganztagsschule in der Bildungsgeschichte der Bundesrepublik ein marginales Phänomen blieb, und andererseits zu zeigen, dass die Auseinandersetzungen um diese Schulform aufschlussreich sind für die Ambivalenzen gesellschaftlicher und kultureller Wandlungsprozesse im westlichen Nachkriegsdeutschland. Die wechselvollen diskursiven und politischen Konjunkturen um das bildungspolitische und pädagogische Projekt Ganztagsschule wurden dabei für die Bundesrepublik auf nationaler, lokaler bzw. einzelschulischer Ebene in den Blick genommen und für die DDR in einem vergleichend angelegten Exkurs beleuchtet. In der Bundesrepublik bildete die vom DGB angestoßene Debatte um Arbeitszeitverkürzung in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre einen ersten Höhepunkt, um am Beispiel der Fünftagewoche die Anpassung von schulischer Zeitorganisation an die gesellschaftliche Entwicklung erstmals breiter in der Öffentlichkeit zu thematisieren. Dabei gelang es einer Gruppe von Pädagogen und Schulräten, die sich zuvor als Gemeinnützige Gesellschaft Tagesheimschule in Kassel institutionalisiert hatte, ihren heterogenen reformpädagogischen Ideenfundus von einer kindgerechten »Tagesheimschule« öffentlichkeitswirksam mit der Diskussion um die Fünf­ tagewoche zu verknüpfen. Die Resonanz war äußerst kontrovers. Die Mehrheit der konservativ-bürgerlichen Wortführer aus Kirchen, Sozialwissenschaften, Medizin sowie Lehrer- und Elternverbänden lehnte eine ganztägige Schule scharf ab. Ihre antimodernistischen, antiwestlichen und antikommunistischen Argumente thematisierten Ganztagsschulen als Einfallstor für »Vermassung«, »Konformismus« und »Staatssozialismus«. Sie richteten sich einerseits gegen Entwicklungen wie Industrialisierung, Technisierung und Konsumgesellschaft, die sie pauschal der west­ lichen Moderne anlasteten, und andererseits gegen die sozialistische Gesellschaftspolitik, welche die DDR auf den Feldern von Bildung, Erziehung und Familie vorantrieb. Während nach 1945 im Osten Deutschlands mit der Einheitsschule und der Integration von Institutionen wie Kindergarten und Schulhort in das Bildungssystem ein weitgehender Bruch mit den tradierten Strukturen vollzogen worden war, dominierten im Westen die schulstrukturellen Kontinuitäten in Gestalt der dreigliedrigen, auf die Wissensvermittlung am Vormittag beschränkten Schule und eines ausgeprägten, konfessionell definierten »Elternrechts«. Ende der 1950er-Jahre gerieten die Norm der Halbtagsschule und die mit ihr verschränkten geschlechtsspezifischen Konzepte der Ernährerfamilie unter den Druck des Wirtschaftswachstums und der steigenden Frauenerwerbstätigkeit. Einige Städte und Kommunen begannen Ende der 1950er-Jahre mit der Planung von Tagesheimangeboten, um vorbereitet zu sein, wenn sich analog zur Arbeitswelt auch die Schulwoche auf fünf Tage verkürzen und

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der Schultag in den Nachmittag ausgedehnt werden sollte. Bis zu diesem Zeitpunkt war ganztägige öffentliche Kinderbetreuung durch Tagesheimschulen oder Schulhorte nur als sozialfürsorgerische Notmaßnahme legitimiert für diejenigen Kinder, deren Mütter familienökonomisch einer Erwerbsarbeit nachgehen »mussten« und daher nicht in der Lage zu sein schienen, ihr elterliches Erziehungsrecht auszuüben. Die Schwierigkeiten, den Bedarf an schulischer Nachmittagsbetreuung überhaupt zu ermitteln, zeigen, dass die Auffassungen darüber, wann die Erwerbsarbeit einer Mutter legitim sei, in Fluss gerieten. Die Auswertung eines breiten Zeitschriftenkorpus hat gezeigt, dass ganztägige Schulen zunächst noch in der großen Mehrheit der Äußerungen abgelehnt wurden, da sie Müttern die Aufnahme einer womöglich konsumistisch motivierten Erwerbsarbeit erleichtern konnten. Anfang der 1960er-Jahre verschoben sich mit der sich internationalisierenden Bildungsdebatte die Sprechergruppen und Legitimationsstrategien für die ganztägige Schule, für die sich zudem der modernere Begriff »Ganztagsschule« durchsetzte. Über den Kreis reformpädagogisch geprägter Pädagogen hinaus stieß die Ganztagsschule nun auch bei jungen Erziehungswissenschaftlern und Bildungsexperten auf Zustimmung, die diese Schulform in den Modernisierungsdebatten um Ökonomisierung und Demokratisierung verorteten. Als bildungsökonomisches und gesellschaftspolitisches Instrument konzipiert, waren die bessere »Ausschöpfung der Bildungsreserven« und die Herstellung von »Chancengleichheit« die zentralen, international anschlussfähigen Legitimationsfiguren. Die Ganztagsschule wurde zu einer realen bildungspolitischen Option, über die sich im westdeutschen Bildungsföderalismus für kurze Zeit Einvernehmen zwischen christdemokratisch und sozialdemokratisch regierten Bundesländern herstellen ließ. Das Reformbündnis aus sozialdemokratischen Bildungspolitikern und wissenschaftlichen Bildungsexperten nutzte die um 1968 breite gesellschaftliche und politische Akzeptanz der Ganztagsschule, um Politik und Gesellschaft auf eine umfassendere Reform des Sekundarschulwesens durch die Gesamtschule vorzubereiten. Dabei war die alle drei Schulzweige in sich vereinigende Gesamtschule als ganztägige Schule konzipiert. Für den Strukturausschuss im Deutschen Bildungsrat, dem es von Anfang an weniger um eine zeitpolitische als um eine grundlegende Strukturreform ging, fungierte die Ganztagsschule als Konsensinstrument bei der verfolgten Strategie, die Gesamtschule durchzusetzen. Konservative Gegner der Gesamtschule führten ihrerseits die Ganztagsschule gern als Reformprojekt zum Abbau von Bildungsbenachteiligung ins Feld, in der Hoffnung, den von der sozialliberalen Regierung seit 1969 angestrebten horizontalen Umbau des dreigliedrigen Schulsystems aufhalten zu können. Befand sich die öffentliche Themenkarriere der Ganztagsschule um 1968/69 auf ihrem Höhepunkt, so verliert sich ihr diskursiver Faden in den Verhandlungen um den Bildungsgesamtplan Anfang der 1970er-Jahre zunehmend. Zwar legte der

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Gesamtplan 1973 noch eine planungsoptimistische Anstiegskurve fest, wonach bis 1985 der Anteil von Ganztagsschülern an allen Schülern auf 30 Prozent anwachsen sollte – ein erster Entwurf erwog gar 60 Prozent –, doch hatte zu diesem Zeitpunkt die Gesamtschulkontroverse die bildungspolitischen Fronten zwischen christ­ demokratisch und sozialdemokratisch geführten Landesregierungen wieder verhärtet. Schließlich schwand mit Ende des ökonomischen »Booms« für bildungspolitische Großplanungen nicht nur der Glaube in die gesellschaftspolitische Veränderungskraft von Bildung und Schule als Instrument zur Schaffung von Chancengleichheit, sondern durch leere öffentliche Kassen auch das materielle Substrat für eine expansive Bildungspolitik. Die massive Verengung finanzieller Spielräume trug durch Kürzungen des pädagogischen Personals zur allgemeinen bildungspolitischen Ernüchterung bei. Hinzu kam, dass die Wirtschaftskrisen 1974 und 1980 das Schulsystem vor das Problem stellten, Kinder und Jugendliche für eine »Leistungsgesellschaft« in der wirtschaftlichen Dauerrezession auszubilden, die längst nicht mehr für alle Schulabsolventen einen Arbeitsplatz bereithielt. Wenn die Ganztagsschule in dieser Phase überhaupt öffentlich auftauchte, dann eher – wie die Berichterstattung über den ministeriellen Gesprächskreis Bildungsplanung und den Bildungsgesamtplan zeigt – als pädagogische Projektion und politische Lösungsformel: für die einen als Mittel, die Schule zu »humanisieren«, für die anderen als sozialpolitisches Instrument, um die Kinder der neuen migrantischen Unterschicht zu beschulen. Auch wenn die Ganztagsschule in der bundesdeutschen Schullandschaft realhistorisch kaum ins Gewicht fiel, so ist sie als Sonde und vieldeutige Chiffre für gesellschaftliche Aushandlungen durchaus aufschlussreich für zeitgeschichtliche Fragestellungen. In den Auseinandersetzungen um diese Schulform bündelten sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten kulturelle und soziale Veränderungsprozesse, die weit über die unmittelbare Schulpolitik hinauswiesen. Dies konnte insbesondere für den eng verwobenen Wirkungszusammenhang von Halbtagsschulwesen und den geschlechterpolitischen Ordnungsvorstellungen in Familie und Arbeitsmarkt ausgelotet werden. Noch um 1960 war die »natürliche« Geschlechterordnung in der Familie der zentrale Einwand gegen die Verlängerung des Schultages im Zuge der Fünftagewoche. Wenn die Debatte um Tagesheimschule und Fünftagewoche als Verständigungsprozess über gesellschaftliche Normen und Wertmuster gelesen wird, so zeigt sich, dass trotz scharfer Pro- und Contra-Positionen alle Beteiligten ein normatives Bezugssystem teilten, das die Familie als zentralen, auf geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung basierenden Erziehungsort mit der mütterlichen Haupt­ erzieherin festschrieb. Nicht zuletzt waren es die Pädagogen selbst, die mit dem freien Nachmittag das Zeitprivileg des Lehrerberufs verteidigten und dabei essenzialistische Familienbilder in Anschlag brachten gegen eine Moderne, die ihnen in Gestalt von Tagesheimschulen, Konsumgesellschaft und erwerbstätigen Müttern

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gegenübertrat. Nur wenig später waren solche Argumente aus dem öffentlichen Schuldiskurs verschwunden. Während der Reformphase der 1960er-Jahre gerieten die gesellschaftspolitischen Überzeugungen in den Bereichen Schule, Familie und Frauenerwerbsarbeit so in Bewegung, dass in der Frage der schulischen Zeitpolitik erstmals eine Abkehr vom bisherigen Entwicklungspfad möglich schien und die Ganztagsschule in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit als Westernisierungsprojekt verhandelt werden konnte. Seit etwa Mitte der 1960er-Jahre schien die Bundesrepublik mit der Ganztagsschule bildungspolitisch Anschluss an die westliche Reformdiskussion gefunden zu haben: Die Verlängerung der täglichen Schulzeit galt als Mittel zur Demokratie- und Sozialerziehung in einer Zeit, in welcher der Familie eine nachlassende Erziehungsfähigkeit attestiert wurde, und als Möglichkeit, sozial benachteiligte Schüler etwa durch Hausaufgabenbetreuung und Freizeitaktivitäten zu fördern. Im Bildungsrat blieben die Diskussionen um das Reformprojekt Ganztagsschule indes pädagogisch-bildungspolitisch verengt, d.h. die Ganztagsschule wurde gerade nicht als wünschbare Option für mehr Frauenerwerbstätigkeit und gleichberechtigte Elternschaft thematisiert. Ungeachtet der gesamtgesellschaftlichen Reformrhetorik und des feministischen Aufbruchs war das Ernährer-Hausfrau-/ Zuverdienerin-Modell für die mit der Schulplanung befassten Pädagogen, Bildungsexperten und Politiker mehrheitlich handlungsleitend und bildete auch weiterhin ein wichtiges Element bei der mentalen Verankerung der Halbtagsschule in einzelnen Professionskulturen wie in der Gesamtgesellschaft. Als weiterer Stützpfeiler kam mit der wachsenden Feminisierung des Lehrerberufs die Kompatibilität der Halbtagsschule mit den Familienaufgaben von Lehrerinnen hinzu, für die sich der freie Nachmittag nun weniger berufsständisch als vielmehr alltagspraktisch begründete. Zur Persistenz des Halbtagssystems trug zudem die in der Bundesrepublik besonders ausgeprägte institutionelle und professionelle Trennung von Bildung und Erziehung bei, die ein hohes Maß an Pfadabhängigkeit aufwies. Wie sich die Kluft zwischen den beiden pädagogischen Praxisfeldern Schule und Jugendhilfe möglicherweise in den 1970/80er-Jahren noch vertiefte, wäre noch genauer zu untersuchen, um zu verstehen, warum bis in die Gegenwart die Kooperation im Rahmen von Ganztagsprogrammen schwerfällt. Gerade das Beispiel Ganztagsschule macht deutlich, wie vielschichtig, ungleichzeitig und wenig linear die historischen Wandlungsprozesse auf den Feldern Bildung, Erziehung und Frauenerwerbsarbeit verliefen. Während sich die in zeithistorischer Begrifflichkeit beschreibbaren Tendenzen von Westernisierung und Liberalisierung vor allem auf der Ebene politisch-pädagogischer Programmatiken finden, ergibt sich beim Blick auf die kulturellen Vorstellungen, die Ideen und Handlungen der am Projekt Ganztagsschule Beteiligten ein eher ambivalentes Bild aus Aufbruch und Veränderungswillen einerseits und mentalem Strukturkonservativismus andererseits.

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Das in der zeitgeschichtlichen Forschung vorgeschlagene Deutungskonzept eines in den 1970er-Jahren einsetzenden Strukturbruchs scheint nur bedingt geeignet, die Veränderungen in den Jahren nach dem »Boom« fassbar zu machen. Mit Blick auf die Bildungsreform und den Wandel weiblicher Arbeitsverhältnisse lässt sich kaum von einem strukturellen Bruch Mitte der 1970er-Jahre sprechen. Vielmehr wurden hier die entscheidenden Weichen bereits in den 1960er-Jahren gestellt, insbesondere was die beispiellose Bildungsexpansion, von der gerade Mädchen profitierten, und die Ausweitung und partielle Akzeptanz von Müttererwerbsarbeit betraf. Die 1970er-Jahre lassen sich eher als Zeitraum fassen, in der die durch Bildungsreform und Individualisierungsprozesse aufgebrochenen Erwartungen an Schule und Familie sich in emanzipatorischen wie neokonservativen Erziehungsdiskursen neu ausformten. Was den Zusammenhang zwischen der deutschen Zweistaatlichkeit und der Beharrungskraft der bundesdeutschen Halbtagsschule angeht, so war in der Bundesrepublik der andere deutsche Staat als negativ besetzter Gegenentwurf ohne Frage permanent präsent. Die Bedeutung, die der DDR als Bezugsrahmen für die westdeutschen Auseinandersetzungen um die Ganztagsschule zukam, wandelte sich indessen während des hier betrachteten Zeitraums: Während der ostdeutsche Staat in den 1950er-Jahren zum bedrohlichen Synonym für kommunistische Staatserziehung schlechthin wurde, verschob sich diese Einschätzung mit dem Reformdenken der 1960er-Jahre zugunsten einer differenzierteren Betrachtung. In reformorientierten politischen und pädagogischen Kreisen wurde der DDR durch ihren Vorsprung in der Politikplanung und auf den Feldern von Bildung und Frauenemanzipation nun durchaus Vorbildcharakter zugeschrieben. Im Gesamtschulstreit der 1970/80er-Jahre reaktivierten vor allem die Unionsparteien den rhetorischen Abwehrreflex gegenüber der DDR-Einheitsschule. In der DDR zeichnete sich um 1959/60 ähnlich wie im Westen eine Diskurskonstellation ab, bei der das Zusammenwirken von Arbeitskräftemangel und bildungspolitischem Ehrgeiz, für alle Schüler die »10-klassige allgemein bildende poly­ technische Oberschule« einzuführen und sowjetpädagogische Erziehungsvisionen zu schaffen, die SED veranlasste, die Tagesschule auf ihre politische Agenda zu setzen. Die Tagesschule war indes nur als Zwischenstadium auf dem Weg zu einem zukünftigen Netz von Internatsschulen nach sowjetischem Vorbild gedacht. Nicht nur in kirchennahen bildungsbürgerlichen Milieus und bei Ärzten stieß die Tagesschulkampagne auf massiven Widerstand, sondern auch bei Arbeiterfamilien. Lehrerinnen und Lehrer lehnten es aus berufsständischem Interesse ab, über die Wissensvermittlung hinaus erzieherische Aufgaben zu übernehmen. Die Pläne, die Tagesschule flächendeckend einzuführen, wurden schließlich im Sommer 1960 von der SED gestoppt, da sich einerseits die Finanzierung als unrealistisch herausstellte und andererseits durch die Massenflucht – mit einem ver-

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gleichsweise hohen Anteil an Lehrern und Ärzten unter den Flüchtenden – sich die gesellschaftliche und wirtschaftliche Krise unkalkulierbar zuspitzte. Nach dem Mauerbau 1961 kam der Kinderbetreuungsfrage eine gleichbleibend hohe Bedeutung zu, vor allem als die DDR-Bildungspolitik Frauen als förderungswürdige Gruppe entdeckte und entsprechende Qualifizierungsprogramme auflegte. Anstelle der Tagesschule wurde von nun an unter dem Begriff »Tageserziehung« auf die additive Lösung einer Kombination aus Schule und Hort gesetzt. Im Ost-West-Vergleich zeigen sich in der schulischen Zeitpolitik neben systembedingten Unterschieden verblüffende Ähnlichkeiten hinsichtlich zeitlicher Ko­ inzidenz und Semantik. Die Ganztagsschule/Tagesschule avancierte ab 1959/60 in beiden deutschen Staaten zum Gegenstand bildungspolitischer Reformprogramme, nachdem die internationale Reformdebatte Bildung zur Schlüsselressource moderner Industriegesellschaften und die Schule zum Austragungsort für die Systemkonkurrenz gemacht hatte. In Ost wie West beschäftigten sich wissenschaftliche Experten mit dem Thema ganztägiger Bildung und Betreuung und fungierten als Politikberater. In beiden deutschen Gesellschaften stieß die Ganztagsschule vornehmlich in akademischen, bürgerlichen Schichten zuerst auf Ablehnung – mit ähnlichen Argumenten wie »Familienzerstörung« und »Verletzung des Elternrechts« und klassenbezogenen kulturellen Vorstellungen über Ganztagseinrichtungen als Aufbewahrungsstätten für Kinder aus armen, bildungsfernen »Problemfamilien«. Am Ende waren die hohen Kosten auf beiden Seiten der Haupteinwand gegen die breite Einführung ganztägiger Schulen. Wenn man die unterschiedlichen politischen Bezüge in Betracht zieht, erscheinen Ganztagsschule, Tagesheimschule bzw. Schule-Hort-Kombination weniger als systemübergreifendes Reformprojekt. Vielmehr lässt sich als Befund zeigen, dass sich die schulischen Ganztagsinitiativen zwar im Spannungsfeld von Westernisierung und Sowjetisierung einordnen lassen, zugleich aber mentale Traditionen etwa im professionellen Selbstverständnis des Lehrerberufs als Wissensvermittler oder in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung weiter bestanden. Für die Entwicklung von schulischer Kinderbetreuung und Müttererwerbsarbeit seit den 1970/80erJahren zeigt sich aus einer europäisch vergleichenden Perspektive indessen, dass es sich bei der alten Bundesrepublik mit ihrer auf dem Halbtagsmodell basierenden Zeitpolitik für Kindergarten und Schule nicht um den westlichen Normalfall, sondern eher um einen Sonderfall handelte.1 Die DDR wies hinsichtlich der hohen Frauenerwerbsquote und der Ganztägigkeit ihres Bildungs- und Erziehungssystems mehr Parallelen mit westeuropäischen Staaten wie Frankreich und Schweden auf als mit dem westdeutschen Nachbarstaat.

1

Hagemann/Jarausch/Allemann-Ghionda, Children, Families and States.

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Für den Westen Deutschlands wurde im zweiten Teil der Studie anhand von drei Fallbeispielen untersucht, wie es im Einzelfall gelang, ganztägige Schulen zu installieren. Es handelt sich dabei um ein Gymnasium in Osterburken (Baden-Württemberg), eine additive Gesamtschule in Kassel (Hessen) sowie eine integrierte Gesamtschule im Stadtstaat Berlin. Die Schulen unterscheiden sich nach dem jeweiligen Schultyp (Gesamtschule oder Gymnasium), nach der parteipolitischen Prägung der Bildungspolitik im jeweiligen Bundesland (Berlin und Hessen hatten im Untersuchungszeitraum eine sozialdemokratische und Baden-Württemberg eine christdemokratische Landesregierung) und nach der Parteizugehörigkeit der jeweiligen Stadtregierung (Osterburken war CDU-regiert, Berlin-West und Kassel SPDregiert), nach der sozialen Lage (Gropiusstadt als großstädtische Trabantenstadt mit sozial gemischter Bevölkerung, die Kasseler Nordstadt als klassisches Arbeiterviertel, Osterburken als ländliche Kleinstadt in strukturschwacher Region). Anhand der Fallstudien lassen sich Bedingungskonstellationen beschreiben, die im Sinne eines historischen »window of opportunity« die Entstehung und Durchsetzung von Ganztagsschulen begünstigen konnten. Bei einer bereits bestehenden Schule wie der Hegelsbergschule spielten etwa die kommunalen Reformtraditionen Kassels in Sachen Schulreform eine wichtige Rolle, ebenso innerschulische Traditionen, die als pädagogische Reformhaltung von der Schulleitung und einem Teil der Lehrerschaft vertreten wurden. Bei der Walter-Gropius-Schule und dem Ganztagsgymnasium Osterburken handelte es sich um prestigereiche schulische Neugründungen im Kontext der westdeutschen Bildungsreform. Die Berliner WalterGropius-Schule als erste integrierte Gesamtschule und das Ganztagsgymnasium Osterburken waren beide »von oben« initiierte bildungspolitische Großprojekte in den Jahren der politischen Reformentschlossenheit und Planungseuphorie, als über die Neugestaltung von Schule ökonomische und gesellschaftspolitische Ziele erreicht werden sollten. Die Forderung, soziale Herkunft über Schule zu kompensieren und »Chancengleichheit« herzustellen, war zum zentralen Impetus einer politisch breiten Reformkoalition geworden. Das Beispiel des Ganztagsgymnasiums Osterburken zeigt, dass die Überzeugung von der wissenschaftlichen Planbarkeit von Bildungsprozessen nicht nur im linksliberalen Reformlager verbreitet war, sondern auch von sich modernisierenden konservativen Parteien wie der CDU in Baden-Württemberg geteilt wurde. Die Rekonstruktion von in sich geschlossenen Fallgeschichten macht die jeweils eigenen Entstehungskonstellationen, Entwicklungslogiken und Zeitfenster auf lokaler bzw. schulischer Ebene deutlich, die nicht immer mit der Ebene der nationalen und föderalen Bildungspolitik korrespondierten. So zeigen frühe Reforminitiativen an der Hegelsbergschule in Kassel, dass entgegen der pauschalen These von der Nachkriegsrestauration bereits in den 1950er-Jahren eine komplizierte Gemengelage aus einem dominierenden konservativen Bildungsdiskurs und punktueller pädagogi-

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Schluss

scher Neuorientierung vorlag. Anfang und Ende der Bildungsreform wären somit auf der kommunalen und einzelschulischen Ebene anders zu periodisieren als auf Bundesebene. Als auf der nationalen Ebene der nie in Kraft getretene Bildungs­ gesamtplan von 1973 das Scheitern der Bildungsreform dokumentierte, konnte sich, wie das Beispiel Kassel zeigt, auf der Ebene der schulischen Praxis die Reform durch Modellversuche bis in die 1980er-Jahre hinein verlängern. Demgegenüber schlug in Osterburken der scharfe Kurswechsel der Landesregierung Baden-Württemberg dramatisch auf die Schule durch. An allen Beispielen und an Berlin insbesondere wird deutlich, welche Bedeutung Netzwerke zwischen Pädagogen, Wissenschaftlern, Politikern und Bildungsverwaltung für schulpolitische Initiativen hatten. Die Fähigkeit, mit der Schulen die von der Landes- und Bundespolitik gesetzten Rahmenbedingungen für ihre eigenen schulischen Interessen zu nutzen verstanden, spielte für die erfolgreiche Implementierung von Ganztagsschule ebenfalls eine zentrale Rolle. In allen Fallbeispielen gehörten die Schulleitung und zum Teil die Lehrerinnen und Lehrer zu den treibenden Kräften bei der Umsetzung des Ganztagsbetriebs. Sie mussten nicht nur selbst von den Ideen der Bildungsreform der 1960er- und 1970er-Jahre überzeugt und von weiterreichenden pädagogischen und sozialen Reformvorstellungen geprägt sein. Ihnen musste es auch gelingen, das Lehrerkollegium für diese Ideen zu gewinnen und ein entsprechendes Reformklima an den Schulen zu verankern. Entscheidende Erfolgsfaktoren waren hier offenbar Veränderungswillen, hohe persönliche Einsatzbereitschaft und Hartnäckigkeit. Von Schulleitung und Kollegium gemeinsam getragene pädagogische Anschauungen und Reformbereitschaft scheinen zu einer breiten Akzeptanz der Schule unter der Schüler- und Elternschaft geführt zu haben. Während es an der Walter-Gropius-Schule einen von Sozialpädagogen getragenen »außerunterrichtlichen Bereich« gab, der sich, da als nachrangig definiert, in einem schwer aufzulösenden Spannungsverhältnis zum Unterricht befand, leiteten an den anderen beiden Schulen großenteils die Lehrer selbst die nachmittäglichen Aktivitäten. Die Problematik unterschiedlicher pädagogischer Berufskulturen an der Gropiusschule lässt sich als Beleg für die von Erziehungswissenschaftlern aufgestellte These heranziehen, die Organisation als Ganztagsschule habe das Projekt Gesamtschule enorm belastet.2 Bei allen beteiligten Akteuren, Stadt- und Landesregierungen, Schulleitungen, Lehrern etc. kam im gesellschaftlichen Klima der Bildungsreform dem sozialen Hintergrund der Schülerschaft eine besondere Bedeutung zu. Die Arbeiterkinder und später die Kinder aus Migrantenfamilien der Kasseler Nordstadt oder die sozial schwachen Kinder bzw. Bauern- und Handwerkerkinder in der ländlichen Region um das württembergische Osterburken wurden gleichermaßen zur Zielgruppe für 2

Raschert, Was ist mit der Gesamtschule in Deutschland schief gegangen?

Schluss

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das Ganztagsprogramm der Schule. Das zeitgenössische Begründungsmuster, die ganztägige Schule könne die herkunftsbedingten Probleme dieser Kinder auffangen, gehörte zu den zentralen Diskursstrategien der Ganztagsschulakteure. Die Fallbeispiele machen indes deutlich, dass sich das Ganztagsangebot einer Schule zusammen mit dem Kriterium Einzugsgebiet zu einem Faktor entwickeln konnte, der auch bildungsinteressierte Mittelschichteltern überzeugte. Allerdings zeigt der bundesweite Trend, dass für Eltern bei der Wahl der weiterführenden Schule die Schulstruktur ein zunehmend wichtiges Kriterium wurde, das noch vor dem Faktor Zeitorganisation kam. Gesamtschulen, die in SPD-regierten Ländern wie Hessen und Berlin zu Regelschulen geworden waren, unterlagen – bei gleichzeitig steigenden Erwartungen von Eltern an die Leistungsfähigkeit von Schule – dem starken Konkurrenzdruck des dreigliedrigen Schulsystems. In den 1970/80er-Jahren schickten bildungsbewusste Eltern der Mittelschicht ihre Kinder mehr denn je aufs Gymnasium, unabhängig davon, ob dieses ein Nachmittagsprogramm bot oder nicht. Nach den kollektiven Erfahrungen eines Bildungsaufstiegs in den Jahren der Bildungsreform war die Stagnationsphase durch Massenarbeitslosigkeit, Strukturwandel und ökonomische Verunsicherung im Bemühen um den sozialen Statuserhalt geprägt. Bis heute ist die Forderung nach einer kompensatorischen Ganztagsschule für sozial schwache Kinder weniger legitimierungsbedürftig als die nach der gebundenen Ganztagsschule für alle Kinder. Es gibt Anzeichen, dass sich dies ändern könnte. Die mittlerweile auch in Deutschland hohe Frauenerwerbsquote und die Durchsetzung eines »adult worker model«, das mit der Entstandardisierung geschlechtsspezifischer Erwerbsbiografien das Ende der männlichen Ernährernorm bedeutet, hat auch die Politik veranlasst, die Weichen in Richtung ganztägiger Betreuungsprogramme unter anderem in Ganztagsschulen zu stellen. Wenn heute mit neuen Legitimationsfiguren wie dem politischen Handlungsdruck nach PISA für Ganztagsschulen geworben wird, geht es nicht allein darum, Eltern die Vereinbarung von Berufskarriere und Familie zu ermöglichen. Stärker als in dem hier untersuchten Zeitraum gilt die in der Schule verbrachte Zeit heute als zu bewirtschaftende Ressource, die im Zeichen von Leistungsmessung und »Output-Steuerung« für eine Intensivierung von schulischen Lernprozessen effizienter genutzt werden soll. Auf diese Weise verbinden sich pädagogische Fragen von schulischer Zeitorganisation immer deutlicher mit einer »Ökonomisierung des Sozialen«.3

3

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Interviews mit ehemaligen Pädagoginnen und Pädagogen Gruppeninterview mit zwei ehemaligen Lehrern und einer Lehrerin am 9.12.2013 in Kassel Einzelinterviews mit ehemaligem Schulleiter Herrn A. am 22.1. und 18.12.2009 in Kassel Einzelinterview mit ehemaliger Sozialpädagogin Frau Z. am 23.1.2009 in Kassel Einzelinterview mit ehemaligem Schulleiter Herrn H. am 8.9.2009 in Osterburken Einzelinterview mit ehemaligem Schulleiter Herrn W. am 8.9.2009 in Osterburken Einzelinterview mit ehemaligem Schulpsychologen Herrn S. am 9.9.2009 in Osterburken Einzelinterview mit Erziehungswissenschaftler Herrn R. am 16.1.2009 in Berlin Einzelinterview mit ehemaliger Sozialpädagogin Frau H. am 11.2.2009 in Münster

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KOMMUNISTEN (1895–1961)

IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCH-

2013. 759 S. GB. | ISBN 978-3-412-21014-4

LAND (1955–1982) 2015. 254 S. GB.

SZ733

ISBN 978-3-412-22376-2

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