Das Politische System Frankreichs 9783658082079, 9783658082086, 3658082070

Im Mittelpunkt dieser Einfuhrung in die franzosische Politik, die fur die 5. Auflage umfassend aktualisiert wurde, steht

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Table of contents :
Vorwort......Page 5
Inhalt......Page 7
Verzeichnis der Schaubilder, Karten und Tabellen......Page 10
Abkürzungsverzeichnis......Page 12
Einleitung......Page 15
1 Übergangsphase und Ausarbeitung der neuen Verfassung......Page 21
2Aspekte politischer Kultur......Page 27
3.1 Zur staatsrechtlichen Stellung......Page 37
3.2.1 Wahlverfahren......Page 41
3.2.2 Wahlkampffinanzierung......Page 43
3.2.3 Kandidaten......Page 44
3.3 Die Machtbefugnisse des Staatspräsidenten......Page 54
3.3.1 Die Bestellung des Premierministers......Page 56
3.3.2 Die Auflösung der Nationalversammlung......Page 63
3.3.3 Der Rückgriff auf den Volksentscheid......Page 65
3.3.4 Verfassungsänderungen......Page 68
3.3.5 Notstandsbefugnisse......Page 69
3.4 Kontakte zum Parlament und zum Verfassungsrat......Page 70
3.5 Die » Domaine réservé «......Page 72
3.6 Das Zusammenwirken der doppelköpfigen Exekutive......Page 75
3.7 Die » Augen und Ohren « des Präsidenten......Page 79
3.8 Der Staatspräsident als » Parteiführer « ?......Page 82
4Die Regierung und die Verwaltungselite......Page 87
4.1 Der Premierminister......Page 89
4.2 Die Minister......Page 100
4.3 Die Verwaltungselite......Page 110
5.1 Von der » Herrschaft der Kammern « zum » rationalisierten « Parlamentarismus......Page 118
5.2.1 Die interne Struktur......Page 123
5.2.2 Sitzungsperioden......Page 126
5.2.3 Die Ausschüsse......Page 127
5.2.4 Die Tagesordnung......Page 130
5.3 Zur rechtlichen Stellung der Abgeordneten......Page 131
5.4 Zur Sozialstruktur der Abgeordneten......Page 134
5.5 Gesetzgebung im » rationalisierten « Parlamentarismus......Page 135
5.6 Das Verfahren zwischen den Kammern......Page 142
5.7 Die Wahrnehmung der Kontrollfunktion......Page 145
5.8 Der Senat......Page 153
5.9 Konsequenzen des » rationalisierten « Parlamentarismus......Page 159
6Der Verfassungsrat......Page 164
7Der Staatsrat......Page 169
8Der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrat......Page 171
9Der Défenseur des droits (der Bürgerbeauftragte)......Page 172
10.1 Zur Lagerbildung......Page 175
10.2 Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Parteien......Page 180
10.3.1 Entwicklungstendenzen......Page 182
10.3.2 Organisationsstruktur......Page 190
10.3.3 Ideologie und Programmatik......Page 192
10.3.4 Sozialstruktur der Mitglieder und Wähler......Page 194
10.5.1 Entwicklungstendenzen......Page 197
10.5.2 Ideologie und Programm......Page 201
10.5.3 Zur Mitglieder- und Wählerstruktur......Page 203
10.6.1 Entwicklungstendenzen......Page 205
10.6.2 Zur Programmatik......Page 207
10.6.4 Mitglieder und Wählerschaft......Page 208
10.7.1 Entwicklungstendenzen......Page 210
10.7.2 Organisationsstruktur......Page 215
10.7.3 Zur Ideologie und Programmatik......Page 216
10.7.4 Mitglieder- und Wählerstruktur......Page 218
10.8.1 Entwicklungstendenzen......Page 221
10.8.2 Programmatik......Page 225
10.8.3 Organisationsstruktur......Page 226
10.8.4 Mitglieder- und Wählerstruktur......Page 227
10.10.1 Entwicklungstendenzen......Page 228
10.10.2 Ideologie und Programmatik......Page 231
10.10.3 Organisationsstruktur......Page 232
10.10.4 Mitglieder und Wähler......Page 233
11Wahlen, Wählerverhalten und Wahlfinanzierung......Page 236
11.1 Wahlsystem......Page 237
11.2 Wähler......Page 241
11.3 Wahlresultate......Page 242
11.4.1 Wahlbeteiligung......Page 252
11.4.2 Zur sozialen Zusammenammensetzung der Wählerschaft......Page 254
11.5 Kandidatenrekrutierung......Page 255
11.6 Parteien und Wahlkampffinanzierung......Page 257
11.6.1 Zur staatlichen Finanzhilfe an Parteien......Page 258
11.6.2 Zur privaten Finanzhilfe an Parteien......Page 259
11.6.4 Ausgaben......Page 260
11.6.6 Kontrolle......Page 261
12Interessenverbände......Page 264
12.1 Die Gewerkschaften......Page 265
12.1.1 Die » repräsentativen « Gewerkschaften......Page 268
12.1.2 Zur Krise der Gewerkschaften......Page 274
12.1.3 Gewerkschaften als Arbeitnehmervertretungen......Page 276
12.2 Die Arbeitgeberverbände......Page 279
12.3 Die Agrarverbände......Page 282
12.4 Einflussnahmen der » Patrons « auf die Politik......Page 284
13.1 Zur Krise der französischen Presse......Page 286
13.2 Die Tageszeitungen......Page 288
13.2.1 Die überregionalen Tageszeitungen......Page 289
13.2.2 Die regionalen Tageszeitungen......Page 292
13.3 Nachrichtenmagazine......Page 293
13.4 Rundfunk und Fernsehen......Page 294
13.4.1 Die Rundfunkprogramme......Page 295
13.4.2 Die Fernsehprogramme......Page 296
14Kommunal- und Regionalpolitik......Page 300
14.1 Die Gemeinden......Page 301
14.2 Die Departements......Page 307
14.3 Die Regionen......Page 310
15.1 Grunddaten und strukturelle Probleme der französischen Wirtschaft......Page 318
15.2 Wirtschaftspolitik seit 1945......Page 323
15.3 Landwirtschaft......Page 328
15.4 Industrie......Page 331
15.5 Dienstleistungen......Page 341
16.1 Die demographische Entwicklung......Page 344
16.2 Geographische Bevölkerungsverteilung......Page 346
16.3 Einwanderung......Page 348
16.4 Elemente der sozialen Schichtung......Page 355
16.5.1 Durchschnittsverdienste......Page 357
16.5.2 Arbeitslosigkeit......Page 359
16.6.1 Alterssicherung......Page 364
16.6.2 Das Sozialversicherungssystem......Page 365
17Frankreich und Europa......Page 371
Anmerkungen......Page 380
Literaturauswahl......Page 414
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 9783658082079, 9783658082086, 3658082070

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Udo Kempf

Das politische System Frankreichs 5. Auflage

Das politische System Frankreichs

Udo Kempf

Das politische System Frankreichs 5., aktualisierte und erweiterte Auflage

Udo Kempf ­Freiburg, Deutschland

ISBN 978-3-658-08207-9 ISBN 978-3-658-08208-6  (eBook) DOI 10.1007/978-3-658-08208-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 1975, 1980, 1997, 2007, 2017 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer VS ist Teil von Springer Nature Die eingetragene Gesellschaft ist Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Für die fünfte Auflage dieses Buches wurden sämtliche Beiträge vollständig aktua­ lisiert und überarbeitet. Wahlen, Wählerverhalten, Regierungsbildungen, Bezie­ hungen zwischen Exekutive und Legislative, Verschiebungen im Parteiensystem, Einstellungen und Grundüberzeugungen der Franzosen nach den Terroranschlä­ gen im Januar und November 2015 wurden ebenso wie die wirtschaftliche und so­ ziale Entwicklung des Landes auf den neuesten Stand gebracht. Meinen Kollegen Jürgen Hartmann (Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg) und Wolfgang Ismayr (Technische Universität Dres­ den) danke ich sehr für die zahlreichen Anregungen und die Durchsicht etlicher Kapitel. Kirchzarten bei Freiburg, im Juli 2016

V

Frankreichs Großregionen Nordsee

VEREINIGTES KÖNIGREICH

DEUTSCHLAND

BELGIEN

Ärmelkanal

Nord-Pasde-CalaisPicardie

Normandie

LUXEMBURG

Île-deFrance

Alsace-ChampagneArdenne-Lorraine

Bretagne Centre-Val de Loire

Pays de la Loire

BourgogneFranche-Comté

SCHWEIZ

ATLANTIK Aquitaine-LimousinPoitou-Charentes

AuvergneRhône-Alpes

Languedoc-RoussillonMidi-Pyrénées

SPANIEN

Provence-AlpesCôte d’Azur

ANDORRA

Mittelmeer

ITALIEN

MONACO

Korsika

Übersee-Regionen

Guadeloupe

SURINAME

FranzösischGuayana

BRASILIEN

Guadeloupe

Réunion

Martinique FranzösischGuayana Mayotte

Martinique

Mayotte

Réunion

Quelle: Karte der französischen Regionen (seit 1 . Januar 2016) von TUBS, Nutzung unter CC BY_SA 3 .0 de, https://de .wikipedia .org/ wiki/Region_(Frankreich)#/media/File:France,_administrative_divisions_-_de_(%2Boverseas)_-_colored_2016 .svg, sowie gemeinfreie Daten; eigene Überarbeitungen

Inhalt

Vorwort  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Schaubilder, Karten und Tabellen  . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Einleitung 

V XIII XV

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Übergangsphase und Ausarbeitung der neuen Verfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

2

Aspekte politischer Kultur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8

Der Staatspräsident  . . . . . . . . . . . . . . . . Zur staatsrechtlichen Stellung  . . . . . . . . . . . . Wahlen, Wahlfinanzierung, Stellvertretung  . . . . . Die Machtbefugnisse des Staatspräsidenten  . . . . . Kontakte zum Parlament und zum Verfassungsrat  . . Die » Domaine réservé «  . . . . . . . . . . . . . . . Das Zusammenwirken der doppelköpfigen Exekutive  Die » Augen und Ohren « des Präsidenten  . . . . . . Der Staatspräsident als » Parteiführer « ?  . . . . . . .

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23 23 27 40 56 58 61 65 68

4 4.1 4.2 4.3

Die Regierung und die Verwaltungselite  Der Premierminister  . . . . . . . . . . . . Die Minister  . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verwaltungselite  . . . . . . . . . . .

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73 75 86 96

1

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IX

X Inhalt

5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9

Das Parlament  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der » Herrschaft der Kammern « zum » rationalisierten « Parlamentarismus  . . . . . . . . . Der Funktionsverlust des » rationalisierten « Parlaments  . . Zur rechtlichen Stellung der Abgeordneten  . . . . . . . . Zur Sozialstruktur der Abgeordneten  . . . . . . . . . . . Gesetzgebung im » rationalisierten « Parlamentarismus  . . Das Verfahren zwischen den Kammern  . . . . . . . . . . Die Wahrnehmung der Kontrollfunktion  . . . . . . . . . . Der Senat  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konsequenzen des » rationalisierten « Parlamentarismus  . .

6

Der Verfassungsrat  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

7

Der Staatsrat  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

8

Der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrat 

9

Der Défenseur des droits (der Bürgerbeauftragte)  . . . . . . . . 161

. . . . . 105 . . . . . . . . .

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105 110 118 121 122 129 132 140 146

. . . . . . . . . . . . . 159

10 Die politischen Parteien  . . . . . . . . . . . . 10.1 Zur Lagerbildung  . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Parteien  10.3 Die Parti Socialiste  . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Parti Radical de Gauche (PRG)  . . . . . . . . . . 10.5 Die Parti Communiste Français  . . . . . . . . . 10.6 Les Verts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.7 Les Républicains  . . . . . . . . . . . . . . . . 10.8 Der Niedergang des Zentrums  . . . . . . . . . 10.9 Die Parti Radical  . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.10 Der Front National  . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 Wahlen, Wählerverhalten und Wahlfinanzierung  11.1 Wahlsystem  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Wähler  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Wahlresultate  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4 Wahlverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.5 Kandidatenrekrutierung . . . . . . . . . . . . . . 11.6 Parteien und Wahlkampf‌finanzierung  . . . . . . .

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165 165 170 172 187 187 195 200 211 218 218

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227 228 232 233 243 246 248

Inhalt XI

12 Interessenverbände  . . . . . . . . . . . . 12.1 Die Gewerkschaften  . . . . . . . . . . . . . 12.2 Die Arbeitgeberverbände  . . . . . . . . . . 12.3 Die Agrarverbände  . . . . . . . . . . . . . 12.4 Einflussnahmen der » Patrons « auf die Politik 

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255 256 270 273 275

13 Massenmedien  . . . . . . . . . . . 13.1 Zur Krise der französischen Presse  . . 13.2 Die Tageszeitungen  . . . . . . . . . 13.3 Nachrichtenmagazine . . . . . . . . 13.4 Rundfunk und Fernsehen  . . . . . .

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277 277 279 284 285

14 14.1 14.2 14.3

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291 292 298 301

Kommunal- und Regionalpolitik  Die Gemeinden  . . . . . . . . . . Die Departements  . . . . . . . . . Die Regionen  . . . . . . . . . . .

. . . .

15 Wirtschaftspolitik  . . . . . . . . . . 15.1 Grunddaten und strukturelle Probleme der französischen Wirtschaft  . . . . . 15.2 Wirtschaftspolitik seit 1945  . . . . . . 15.3 Landwirtschaft  . . . . . . . . . . . . 15.4 Industrie  . . . . . . . . . . . . . . . 15.5 Dienstleistungen  . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . 309 . . . . .

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309 314 319 322 332

16 Gesellschaft und sozialer Wandel  . . . . 16.1 Die demographische Entwicklung  . . . . . 16.2 Geographische Bevölkerungsverteilung  . . 16.3 Einwanderung  . . . . . . . . . . . . . . 16.4 Elemente der sozialen Schichtung  . . . . . 16.5 Soziale Realitäten  . . . . . . . . . . . . . 16.6 Das soziale Netz  . . . . . . . . . . . . . .

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335 335 337 339 346 348 355

17

. . . . .

Frankreich und Europa  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363

Anmerkungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Literaturauswahl  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407

Verzeichnis der Schaubilder, Karten und Tabellen

Schaubilder 1. Instabilitäten und Stabilität des französischen politischen Systems  . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schema des Gesetzgebungsprozesses  . . . . . . 3. Die Entwicklung der französischen Parteien  . . . 4. Wahlergebnisse 1958 bis 2012  . . . . . . . . . . 5. Wahlsysteme in Frankreich  . . . . . . . . . . . . 6. Wahlergebnisse und Sitzverteilung 1958 bis 2016  7. Entwicklung des Gewerkschaftssystems  . . . . . 8. » Jedem das Seine «  . . . . . . . . . . . . . . . .

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2 130 173 181 231 234 258 299

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305 325 329 351

Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen 1965 – 2012  Die Premierminister der V. Republik 1959 – 2016  . . Die Volksentscheide seit 1959  . . . . . . . . . . . Die Fraktionen der Nationalversammlung 2016  . .

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. . . .

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36 47 52 112

Karten 1. 2. 3. 4.

Frankreichs Überseegebiete  . . . . . . . . Standorte ausgewählter Industriebranchen  Dekonzentrierte Automobilindustrie  . . . . Arbeitslosigkeit in Regionen (2014)  . . . .

. . . . . . . .

. . . .

Tabellen 1. 2. 3. 4.

XIII

XIV

Verzeichnis der Schaubilder, Karten und Tabellen

5. Fraktionsstärken im Senat nach der Teilwahl 2014  . . . . . . . 6. Entwicklung der Liberalen und Zentrumsparteien  . . . . . . . 7. Mehrheitsfraktionen in Städten mit mehr als 10 000 Einwohnern  . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Politische Zuordnung der Departementpräsidenten im Mutterland  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Die größten Industrieunternehmen Frankreichs  . . . . . . . . 10. Anteil der einzelnen Sektoren am BIP  . . . . . . . . . . . . . 11. Die Industriesektoren nach Branchengruppen 2004  . . . . . . 12. Die Struktur des tertiären Sektors  . . . . . . . . . . . . . . . 13. Großstädte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Die stärksten Ausländergruppen in Frankreich  . . . . . . . . . 15. Veränderungen in den Berufskategorien der Aktivbevölkerung 

. . . . 144 . . . . 214 . . . . 297 . . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

300 310 319 323 333 338 341 348

Abkürzungsverzeichnis

BAC pro BEP BNP BT BTn CAC 40 CAP CAPE CAPES CAPET CCPF CDS CFDT CFTC CGC CGPME CGT CNI CNPF CSA DATAR DEA DESS DEUG DEUST

Baccalauréat Professionnel Brevet d’Etudes Professionnelles Banque Nationale de Paris Brevet de Technicien Baccalauréat Technologique Compagnie des Agents de Change 40 Index Certificat d’Aptitude Professionnelle Certificat d’Aptitude au Professorat des Ecoles Certificat d’Aptitude au Professorat de l’Enseignement du Second Degré Certificat d’Aptitude au Professorat de l’Enseignement Technique Commission Nationale des Comptes de Campagne et des Financements Politiques Centre des Démocrates Sociaux Confédération Française Démocratique du Travail Confédération Française des Travailleurs Chrétiens Confédération des Cadres (offiziell: CFE-CGC) Confédération Générale des Petites et Moyennes Entreprises Confédération Générale du Travail Centre National des Indépendants bzw. CNIP [et Paysans] Conseil National du Patronat Français Conseil Supérieur de l’Audiovisuel Délégation à l’Amenagement du Territoire et à l’Action Régionale Diplôme d’Etudes Approfondies Diplôme d’Etudes Supérieures Spécialisées Diplôme d’Etudes Universitaires Générales Diplôme d’Etudes Universitaires Scientifiques et Techniques XV

XVI Abkürzungsverzeichnis

DL DOM-TOM EVSP EWS EZB ENA FD FEN FGDS FN FNL FO HLM INSEE IUFM IUP IUT LR MEDEF MNR MoDem MPF MRG PCF PR PRG PS PSU RMI RPF RPR RSA SFIO SMIC SOFIRAD STS SUD TGV UAP UDF

Démocratie Libérale Départements et Territoires d’Outre Mer Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europäisches Währungssystem Europäische Zentralbank Ecole Nationale d’Administration Force Démocrate Fédération de l’Education Nationale Fédération de la Gauche Démocrate et Socialiste Front National Front National de Libération Force Ouvrière (offiziell: CGT-FO) Habitation à Loyer Modéré Institut National de la Statistique et des Etudes Economiques Institut Universitaire de Formation des Maîtres Institut Universitaire Professionnalisé Institut Universitaire de Technologie Les Républicains Mouvement des Entreprises de France Mouvement National Républicain Mouvement Démocrate Mouvement pour la France Mouvement des Radicaux de Gauche Parti Communiste Français Parti Républicain Parti Radical de Gauche Parti Socialiste Parti Socialiste Unifié Revenu Minimum d’Insertion Rassemblement du Peuple Français Rassemblement pour la République Revenu de Solidarité Active Section Française de l’Internationale Ouvrière Salaire Minimum Interprofessionnel de Croissance Société Financière de Radiodiffusion Section de Techniciens Supérieurs Solidaires, Unitaires, Démocratiques Train à Grande Vitesse Union des Assurances Parisiennes Union pour la Démocratie Française

Abkürzungsverzeichnis XVII

UDI UDR UDSR UIMM UMP UNR UNSA UPF URC

Union des Démocrates et Indépendants Union des Démocrates pour la République Union Démocratique et Sociale de la Résistance Union des Industries et des Métiers de la Métallurgie Union Pour un Mouvement Populaire Union pour la Nouvelle République Union Nationale des Syndicats Autonomes Union pour la France Union du Rassemblement du Centre

Einleitung

Zwischen 1789 und 1958 orientierte sich das politische Leben Frankreichs an nicht weniger als zwölf Verfassungen (unter Einbezug der lediglich nominalen, d. h. nicht wirksamen, existierten sogar 16).1 Von diesen war lediglich derjenigen der III. Republik (1870/75 – 1940) eine längere Lebensdauer beschieden – wohl deshalb, weil es sich weniger um einen umfangreichen Verfassungstext handelte als um drei Verfassungsgesetze, die letztlich nichts anderes als Richtlinien über die Organisa­ tion der französischen Staatsgewalten enthielten. Bis zum Beginn der V. Rep­u­blik prägten politische Systeme unterschiedlichs­ ter Art die Verfassungsgeschichte des Landes: vier Republiken, drei Königreiche und zwei Kaiserreiche  – dabei die » Hundert-Tage-Herrschaft « Napoleons I. am Anfang des Jahres 1815 und das diktatorische Vichy-Regime des Marschall Pétain (1940 – 1944) nicht berücksichtigt (s. Schaubild 1). Dass nach dem politisch unru­ higen Jahrzehnt der IV. Republik die Nachfolgeordnung auf einem einzigen und unbestrittenen Verfassungsdokument gründete, verweist, trotz der » Maiereignis­ se « von 1968, auf eine in der jüngeren Geschichte Frankreichs einmalige System­ stabilität. Ein Grund dafür mag in der Tatsache liegen, dass das von General de Gaulle und seinen Mitarbeitern geschaffene Institutionengefüge über alle Partei­ grenzen hinweg voll akzeptiert und die anfänglich von Politikern und Wissen­ schaftlern geäußerte Kritik geradezu von Lobpreisungen abgelöst wurde. Hatte der spätere Staatspräsident François Mitterrand 1964 in einer Kampfschrift de Gaulle einen » permanenten Staatsstreich « vorgeworfen,2 so hielt diese Auffassung ihn nach seinem ersten Amtsantritt nicht von der Aussage ab, er habe zwar nicht die Verfassung geschaffen, aber er glaube, gut mit ihr arbeiten zu können. Zweifellos versöhnte Mitterrands Wahl zum Präsidenten der Republik (1981) sowie die anschließende Bildung einer sozialistisch-kommunistischen Koalitions­ regierung die Linke zu einem großen Teil mit der einst bekämpften Verfassung. Damit wurde schon ein nach der Wahl des liberal-konservativen Valéry Giscard 1

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Schaubild 1  Instabilitäten und Stabilität des französischen politischen Systems -- 14. Juli 1789 --------- 1789–1799 Konstitutionelle ------- 1792–1799 I. Republik* ------- 9.11.1799 Staatsstreich -------- 1799–1814 Diktatur Napoléons, ------------------Revolution

Monarchie

Napoléon Bonapartes

seit 2.12.1804 Kaiser Napoléon I.

1814–1830 Rückkehr der Bourbonen ----------- Juli Revolution 1830 ------------------- Revolution März 1848 ---------- 1848–1852 II. Republik -----------7.8.1830 Louis Philippe König Abdankung Louis Philippes 2.12.1852 2. Kaiserreich unter ----------------- 1870 Niederlage im deutsch ---------- 1870–1940 III. Republik ----------- 1940 Niederlage Frankreichs ------- 1940–1944 Diktatur französischen Krieg gegen Deutschland Marschall Pétains Napoléon III. --- August 1944 Befreiung von Paris ------------- Provisorische Regierung unter -------- 1946–1958 IV. Republik ---------- Mai 1958 Aufstand der -------------- Juni 1958 Wahl General de Gaulle bis 20.1.1946 Franzosen in Algerien de Gaulles zum letzten -------------------------- September 1958 Referendum ------- seit 4. Oktober 1958 V. Republik über die neue Verfassung Ministerpräsidenten der IV. Republik *

Formell ging sie 1804 mit der Krönung Bonapartes zum Kaiser Napoléon I. zu Ende.

d’Estaing (1974) erkennbarer Sachverhalt bestätigt – nämlich dass die Verfassung der V. Republik nicht eine ausschließlich den Intentionen ihres Schöpfers dien­ liche Konstruktion war, sondern vielmehr ein Instrument von erstaunlicher Fle­ xibilität. Offenbar wurde dieselbe an der Abfolge unterschiedlichster Regierungs­ konstellationen: Eine sozialistische Mehrheitsregierung ebenso wie ein Minder­ heitskabinett der Partei des Präsidenten, das fünf Jahre lang sich nur auf Adhoc-Mehrheiten stützte, dazu zwei » Cohabitation «-Koalitionen von bürgerlicher Parlamentsmehrheit und linkem Staatsoberhaupt (1986 – 1988 und 1993 – 1995) so­ wie einer Linksregierung unter dem konservativen Staatschef Chirac (1997 – 2002) demonstrierten die Anpassungsfähigkeit der Verfassung. Vor dem Hintergrund dieser historischen Fakten bedeutete die Vereinigung der beiden wichtigsten Staatsämter 1995 bis 1997 und erneut 2002 bis 2012 in » gaullistischen Händen « sowie in » linken « seit 2012 nicht einmal eine Rückkehr zur verfassungspolitischen Normallage. Für die wissenschaftliche Analyse folgt daraus, neben dem Verfassungstext be­ sonders die Verfassungswirklichkeit sowie ihre im Laufe der Jahrzehnte beobacht­ baren Ausprägungen und Modifikationen in den Blick zu nehmen. Die Frage, ob Frankreichs politische Ordnung als parlamentarisches Regie­ rungssystem oder eher als semi-präsidentielles zu charakterisieren ist, wurde von Winfried Steffani eindeutig und überzeugend geklärt:3 Da die Verantwortung der Regierung vor dem Parlament besteht, handelt es sich um den ersten Typ. Diese Feststellung bedarf jedoch infolge der besonderen Befugnisse des Präsidenten in bestimmten Krisensituationen einer gewissen Korrektur. Die Einflussmöglichkei­ ten des Präsidenten bei Regierungsbildungen wie im Gesetzgebungs- und Dekret­ prozess, ferner seine weitreichenden außenpolitischen Kompetenzen veranlassten Steffani, vom » parlamentarischen System mit Präsidialdominanz, kurz: PräsidialParlamentarismus «4 zu sprechen. Ein Präsident könne nämlich » seine Befugnisse

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nur solange voll ausnutzen, wie das (aus welchen Gründen auch immer) von der Parlamentsmehrheit hingenommen und ermöglicht wird. « Wenn die parlamentarische Mehrheit das Staatsoberhaupt unterstützt, ist die­ ser der wahre Regierungschef. Erobert jedoch die Opposition die Mandatsmehr­ heit im Palais Bourbon, dem Sitz der Nationalversammlung, dann ist der aus ihren Reihen hervorgehende Premierminister der eigentliche Regierungschef. Dass dennoch lange Zeit die Interpretation als Präsidialdemokratie vor­ herrschte, ist auf einige Entwicklungen vor allem in der Frühzeit der V. Republik zurückzuführen. Zu erwähnen ist insbesondere die überragende Statur des Ver­ fassungsschöpfers de Gaulle, der in seiner zehnjährigen Amtszeit nicht nur den Verfassungstext einseitig zu seinen Gunsten auslegte, sondern der auch die Re­ gierung auf die Ausführung präsidialer Weisungen beschränkte. Seine Nachfol­ ger übernahmen diese Regierungsmaximen, die durch die 1962 eingeführte Di­ rektwahl des Präsidenten zusätzliche Rechtfertigung erfahren hat. Diese » Lesart « der Verfassung, die » einen Bruch mit der französischen, republikanischen Ver­ fassungstradition bedeutete «5, verteidigte de Gaulle auf einer Pressekonferenz am 31. Januar 1964 mit dem Argument, der Geist der neuen Verfassung bestehe dar­ in, dass die Regierungsgewalt nicht länger eine Angelegenheit von Parteigängern sei, sondern direkt aus dem Volk hervorgehe; » dies beinhaltet (implique), dass der von der Nation gewählte Staatschef ihre Quelle und ihr Inhaber ist. « Im Un­ terschied zur III. und IV. Republik, die eine klare Suprematie des Parlaments ge­ genüber der Regierung kannten, besitzt die Nationalversammlung – selbst unter den Auspizien der drei » Cohabitation «- und der Minderheitsregierungen zwi­ schen 1988 und 1993 – lediglich eine » subalterne Bedeutung «.6 Die schon im Ver­ fassungstext sichtbare Rangordnung: ■■ Präsident (unmittelbar hinter dem Abschnitt » Die Souveränität «) ■■ Regierung ■■ Parlament zieht sich wie ein roter Faden durch das Verfassungsleben der V. Republik. Fragt man nach den Leitideen der Verfassung der V. Republik, so fällt auf, dass im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Grundgesetzen ein ausführlicher Bürgerrechtskatalog fehlt. Sie beschränkt sich vielmehr in ihrer Präambel auf den Hinweis ihrer Verbundenheit mit der Erklärung der Menschenrechte und mit den in der Präambel der Verfassung von 1946 niedergelegten » politischen, wirtschaft­ lichen und sozialen Grundsätzen «. Durch die Berufung des französischen Verfas­ sungsrates auf eben diese Grundrechte in seinen Entscheidungen ab 1971 erhielten diese inzwischen gleichsam Verfassungsrang. Weitere Staatszielbestimmungen enthält Artikel 1; danach ist Frankreich eine » unteilbare, laizistische, demokrati­

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sche und soziale Republik «. Diese republikanischen Prinzipien bringen zum Aus­ druck, dass ■■ sich der Staat hinsichtlich der Religion für neutral erklärt ■■ die Demokratie besonders die Gleichheit aller, ungeachtet ihrer Herkunft, Rasse oder Religion, vor dem Gesetz beinhaltet und in Anlehnung an Abraham Lincoln eine Regierung nur als » Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk « existieren darf ■■ sich die V. Republik als Sozialstaat versteht, dessen wesentliche Aufgabe in der Beseitigung wirtschaftlicher Ungleichheiten und in der Vermeidung sozialer Ausgrenzung liegt. Ergänzt werden diese Leitideen durch die Gewaltenteilung (Artikel 16 der Men­ schenrechtserklärung von 1789) und durch die Koalitionsfreiheit nach Artikel 4 der gegenwärtigen Verfassung.7 Im Jahr 2004 wurde auf Drängen von Staatsprä­ sident Chirac eine Umweltcharta eingefügt, die unmittelbar an die Präambel an­ schließt. Sie soll gewährleisten, dass » Der Schutz der Umwelt in gleichem Maße verfolgt [wird] wie die übrigen grundlegenden Interessen der Nation «. Die große von Staatpräsident Nicolas Sarkozy initiierte Verfassungsreform vom 23. Juli 2008 passte den Verfassungstext aktuellen Entwicklungen an. Insbesondere wurde die Rolle des Parlaments aufgewertet und die Kompetenzen des Staatschefs in einigen Bereichen » gemildert «. Seit Erscheinen der vierten Auflage im Januar 2007 haben zwei Staatspräsiden­ ten unterschiedlicher politischer Herkunft das politische System der V. französi­ schen Republik nachhaltig geprägt. Der konservative Nicolas Sarkozy (2007 – 2012) und der Sozialist François Hollande seit Mai 2012. Bleibende Verdienste erwarb sich der  – trotz seiner Sprunghaftigkeit und Hyperaktivität schon kurz nach Amtsbeginn wenig geschätzte – konservative Staatschef mit der von ihm initi­ ierten und am 23. Juli 2008 in Kraft getretenen Verfassungsreform. Diese refor­ mierte die eingangs erwähnten Institutionen, schränkte die umfassenden Rech­ te des Staatspräsidenten ein und wertete das Parlament auf. Nie zuvor wurden so viele Verfassungsartikel, die u. a. Exekutive und Legislative betreffen, novelliert. Auch die Rechte des Verfassungsrates wurden erweitert. Nunmehr kann sich je­ der in Frankreich Lebende, zwar über einen » Filter «, aber immerhin, erstmals an das oberste französische Gericht wenden. Folglich widmet die fünfte Auflage die­ sen institutionellen Änderungen ein Hauptmerkmal. Das Kapitel über den Ge­ setzgebungsprozess erlaubt nach der Verfassungsänderung und der Novellierung der Geschäftsordnungen beider Häuser neue Einblicke in den Willensbildungsund Entscheidungsprozess.

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François Hollandes Amtszeit enttäuschte insbesondere seine Wählerklientel. Mittlerweile ist er der unbeliebteste Staatspräsident der V. Republik. Sein Wahl­ versprechen, für einen deutlichen Rückgang der hohen Arbeitslosigkeit und mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen, konnte er nicht einhalten. Er und seine Regie­ rungen versäumten es, die verkrusteten Strukturen der französischen Arbeitswelt aufzubrechen und durch beherzte Wirtschafts- und Sozialreformen Frankreichs » schlimmste Geißel «, die Arbeitslosigkeit, zu bekämpfen. Erst im Frühjahr 2016 entschied er sich für einen Kurswechsel. Allerdings ist dieses späte Reformpaket, mit dem vor allem die hohe Erwerbslosigkeit unter Jugendlichen gesenkt werden soll, vor dem Hintergrund landesweiter Proteste stark » entkernt « worden, so dass seine Wirkung für den Arbeitsmarkt fragwürdig ist. Wegen des Widerstandes in der sozialistischen Parlamentsfraktion musste Premierminister Valls zur Durch­ setzung des Reformwerks auf den berühmt-berüchtigten Verfassungsartikel 49 Absatz 3 zurückgreifen, um eine Abstimmungsniederlage zu vermeiden. Nahezu alle seiner Vorgänger hatten diese » Brechstange « genutzt, um Gesetze ohne for­ melle Abstimmung durchs Parlament zu bringen. In einem Interview im Mai 2016 verhehlte Hollande nicht, mit Arbeits- und Sozialreformen zu lange gewartet zu haben. Ob er sein in der Öffentlichkeit häu­ fig kritisiertes Zaudern vor einer » Agenda 2010 à la française « mit der verabschie­ deten mutigen, in den Augen vieler Linkssozialisten zu unternehmerfreundlichen Arbeitsmarktreform korrigieren kann, bleibt abzuwarten. Das Kapitel zu Frankreichs Parteiensystem wurde gleichfalls überarbeitet und grundlegend aktualisiert, denn das Parteiensystem durchlief ebenfalls einen Wandlungsprozess. Zwar gelang es Sarkozy nach seiner Wahlniederlage 2012, er­ neut die konservative Sammlungsbewegung – im Frühjahr 2015 in Les Républi­ cains umbenannt – zu führen. Im Vorfeld des Präsidentschaftswahlkampfes 2017 wurden aber tiefgehende Risse offenkundig, die seine Bewerbung um das höchste Staatsamt gefährden könnten. Die sozialistische Regierungspartei ist über die längst notwendigen sozialen Reformanstrengungen, um Frankreichs Haushalt zu konsolidieren, zutiefst zer­ stritten. Parteidissidenten drohen mit eigenen Kandidaturen bei der Wahl im Frühjahr 2017. Der rechtspopulistische Front National hat unter der seit 2011 amtierenden Parteichefin Marine Le Pen in mittlerweile fast allen Gesellschaftsschichten, be­ sonders unter Arbeitern, Fuß gefasst. Der Parteivorsitzenden war es erfolgreich gelungen, die Partei zu » entdämonisieren « und sie vom antisemitischen Image, das ihr Vater durch seine Äußerungen erzeugt hatte, zu » säubern «. Die program­ matischen Grundaussagen der Partei, Xenophobie, Schüren eines Angstsyndroms insbesondere bei sozial Schwachen, die sich u. a. von der Globalisierung an den

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Rand gedrängt fühlen, die Verteufelung der Europäischen Union und des Euro als Erzübel für Frankreichs schwache Wirtschaft, wurden nur in Nuancen » refor­ miert «. Bei der Europawahl im Jahr 2014 wurde der Front National stärkste politi­ sche Kraft. Bei den Wahlen im Dezember 2015 zu den Parlamenten der 13 neugebil­ deten Regionen übertrumpfte er im ersten Wahlgang ebenfalls die Konkurrenten. Nur durch Absprachen zwischen Sozialisten und Konservativen für den zweiten Wahlgang konnte ein » Durchmarsch « der Rechtspopulisten verhindert werden. Das absolute Mehrheitswahlsystem mit zwei Wahlgängen erlaubt es den Wäh­ lerinnen und Wählern im ersten Urnengang, » Dampf abzulassen «, also ihren Pro­ test gegen die » classe politique « zu äußern. In der Stichwahl siegte bislang die » republikanische Tradition «, die Wahl demokratischer Kandidatinnen und Kan­ didaten. Ob dieses Abstimmungsverhalten auch im Superwahljahr 2017 Bestand haben wird, dürfte wesentlich von den offiziellen Bewerbern der Republikaner und der Sozialisten abhängen. Bislang entschieden sich die Franzosen in den na­ tionalen Stichwahlen immer für einen demokratischen Bewerber. Im Jahr 2015 wurde Frankreich von einer beispiellosen Terrorwelle getroffen. Die Folgen dieser Attentatsserie für das Zusammenleben der » waschechten « Franzo­ sen mit ihren etwa sechs Millionen muslimischen Mitbürgern spiegeln die Umfra­ geergebnisse wider, die das Kapitel » Politische Kultur « enthält. Die Verunsicherung vieler Franzosen durch die weltweite Finanz- und Wirt­ schaftskrise seit 2008 sowie durch die Globalisierung und vor einem möglichen sozialen Abstieg zieht sich wie ein » roter Faden « durch alle Bereiche der V. Repu­ blik. Zwar werden die Institutionen der von General de Gaulle geschaffenen Ver­ fassung ungebrochen geschätzt. Der » classe politique «, den politischen Parteien, aber auch den Gewerkschaften schlägt ungebrochen ein hohes Maß an Abneigung entgegen.

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Übergangsphase und Ausarbeitung der neuen Verfassung

Fanal für die Agonie der IV. Republik und somit zugleich für de Gaulles » Stunde zur Rettung der Nation «1 war der Aufstand der französischen Siedler im übersee­ ischen Departement Algerien im Mai 1958, in dessen Folge die dort stationierten französischen Truppen gegen die Pariser Regierung meuterten. Die Frage, ob Frankreich in diesen Mai-Wochen 1958 vor einem Bürgerkrieg stand, ist von vielen Autoren kritisch untersucht worden. Eine einhellige Beurtei­ lung erfolgte jedoch nicht. Stellvertretend sei hier nur auf die Bemerkung des Po­ litikwissenschaftlers André Siegfried verwiesen, Frankreich sei noch einmal dem Schlimmsten, nämlich einem Bürgerkrieg entronnen.2 Gestützt wird diese The­ se durch die Tatsache, dass die letzten Regierungen der Nachkriegsrepublik nicht mehr jene Handlungsmöglichkeiten hatten, derer sie zur Meisterung der schweren Krise bedurft hätten. Die Meuterei ganzer Armee- und Polizeieinheiten in Alge­ rien und Korsika einerseits, Forderungen der Linken nach einer Volksfront ande­ rerseits bewirkten eine politische Polarisierung, die aufzuheben die Regierung we­ der die Lösungskompetenzen noch die Machtmittel besaß. Augenscheinlich war die algerische Krise seit der Mitte der fünfziger Jahre zu einem unkalkulierbaren Konflikt eskaliert. Zwar besaßen die in Algerien stationierten Militärs erhebliche Machtbefugnisse auch ziviler Art, andererseits führten ununterbrochene Rück­ zugsgefechte und Niederlagen gegen die algerische Befreiungsfront FLN sowie die Ungewissheit des Schicksals der rund 1,2 Millionen Algerienfranzosen zu einer ständig sich vermehrenden Demoralisierung der Armee, die sich immer mehr von den Politikern in Paris verraten und in ihren Zukunftschancen bedroht fühlte. Als die Regierung Félix Gaillard über eine unbedeutende Frage stürzte und dem designierten Ministerpräsidenten Pierre Pflimlin erst nach endlosen Verhandlun­ gen eine Kabinettsbildung gelang, die im Parlament jedoch nur eine ganz knappe Mehrheit erhielt – ein Großteil der Kommunisten und Sozialisten enthielt sich der Stimme –, brach in Algier am 13. Mai 1958 der Aufstand los. Schon einige Wochen 7 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 U. Kempf, Das politische System Frankreichs, DOI 10.1007/978-3-658-08208-6_1

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Übergangsphase und Ausarbeitung der neuen Verfassung

vorher hatten maßgeblich von Gaullisten gesteuerte Demonstrationen stattgefun­ den, auf denen die Forderung nach Einsetzung von Wohlfahrtsausschüssen – in An­ lehnung an die Ereignisse während der » Großen Revolution « – gefordert wurden. In seinen Memoiren3 betont de Gaulle, dass er von den Ereignissen am 13. Mai zwar nicht überrascht worden sei, da er ständig von einigen seiner früheren engs­ ten Mitarbeitern (u. a. Jacques Soustelle) über die Lage informiert wurde, dass er sich jedoch nicht im geringsten daran beteiligt habe. Als er am 19. Mai – überzeugt, die » Inkarnation Frankreichs « zu sein – vor der in- und ausländischen Presse seine Bereitschaft erklärte, als » neutrale Persön­ lichkeit, die keiner Partei und keiner Organisation angehört «4, die Regierungsge­ schäfte zu übernehmen, machte ihn dieses Angebot » von Stund an « sowohl für die Aufständischen in Algier wie für die Politiker in Paris zur im Hinblick auf die Beilegung der Staatskrise zentralen Figur. Vornehmlich zwei Ziele leiteten sein auf die Regierungsübernahme gerichte­ tes Handeln: Ein Schisma innerhalb der Armee wie im Zweiten Weltkrieg galt es ebenso wie eine Spaltung zwischen Armee und Nation unter allen Umständen zu verhindern, und eine Übertragung der Macht durfte nur auf legalem Weg, keines­ falls durch rebellierende Militärs erfolgen. Mittlerweile erkannten nahezu alle Politiker, dass die normale politische Ma­ schinerie nicht mehr so funktionierte, wie es die Lage in Algerien und auch im Mutterland erforderte. Die Regierung Pflimlin verfügte über keinerlei Autorität mehr, um ihren Anordnungen zur Eindämmung der Krise Nachdruck zu verlei­ hen. Zwar saßen die Minister in ihren Ministerien, jedoch wurden ihre Befehle nicht mehr ausgeführt. In dieser Lage war der frühere General sowohl für Politi­ ker, die schon seit Tagen mit de Gaulle in dessen Wohnort Colombey-les-DeuxEglises über die Bedingungen seiner Rückkehr in die Politik verhandelt hatten, als auch für weite Kreise der Öffentlichkeit die einzige und letzte Hoffnung, den dro­ henden Bürgerkrieg – Korsika wurde von den Fallschirmjägern am 24. Mai be­ setzt – zu verhindern. Wichtigstes Ziel war für die Politiker, vor allem für die Sozialisten, von de Gaulle Garantien oder zumindest Versicherungen zu erhalten, dass er nach sei­ ner Machtübernahme die republikanischen und demokratischen Prinzipien res­ pektieren werde. Ministerpräsident Pflimlin entschloss sich einen Tag vor dem für die Nacht vom 27. auf den 28. Mai vorausgesagten Einmarsch der » Paras « in Paris, de Gaulle außerhalb der Hauptstadt zu treffen und mit ihm die sich zuspitzende Lage zu er­ örtern. Unmittelbar anschließend veröffentlichte de Gaulle einen Aufruf, der sich speziell an die rebellierenden Militärs in Algier wandte: » Ich habe den regelrech­ ten Prozess eingeleitet, der notwendig ist für die Errichtung einer republikani­ schen Regierung, die die Einheit und Unabhängigkeit des Landes gewähren kann.

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Unter diesen Umständen kann ich kein Vorgehen billigen, woher es auch kom­ me, das die öffentliche Ordnung in Frage stellt. Ich erwarte von den in Alge­rien befindlichen Streitkräften beispielhaftes Verhalten unter dem Oberbefehl ihres Befehlshabers. «5 Damit machte der pensionierte General vor aller Öffentlichkeit deutlich, dass die Militärs nur noch seinen Befehlen gehorchen dürften – was auch eintrat, denn der Angriff auf die Hauptstadt wurde abgesagt – und dass er allein die Staatskrise meistern könne. Wenige Stunden später demissionierte trotz eines überwältigenden Vertrauens­ votums (408:165) die Regierung Pflimlin; gleichzeitig rief die Gewerkschaft CGT zum Streik auf, der jedoch ebenso wenig Beachtung fand wie eine Demonstration der Linken. Zweifellos enttäuscht mussten die Führer der politischen Linken zur Kenntnis nehmen: Die Pariser Volksmassen ließen sich für das in Agonie liegende Regime der IV. Republik nicht mobilisieren, was Guy Mollet, den Führer der So­ zialisten, zu der späteren Einsicht bewog: » Die Arbeiterklasse war nicht geneigt, für diese disqualifizierte Form von Republik zu kämpfen, die nur noch eine ohn­ mächtige parlamentarische Republik verkörperte. «6 Staatspräsident René Coty ergriff nun die Initiative und forderte am 29. Mai ultimativ von den Parlamentsabgeordneten die Ernennung de Gaulles zum Mi­ nisterpräsidenten; für den Fall einer Ablehnung durch die Nationalversammlung kündigte er seinen Rücktritt an. Entscheidend für die Entwicklung der folgenden Tage bis zur Investitur de Gaulles am 1. Juni war der Meinungsbildungsprozess innerhalb der Sozialistischen Partei » mit ihrer Scharnierfunktion zu den übrigen Parteien « (Chapsal). Die Füh­ rer derselben hatten dem zukünftigen Regierungschef zwei wesentliche Zuge­ ständnisse abgerungen: 1. Er erkannte die Verantwortung der von ihm geführten Regierung vor dem Par­ lament an (d. h., die Kammern konnten ihn jederzeit stürzen). 2. Er erklärte sich bereit, selbst vor der Nationalversammlung zur Abgabe einer Erklärung zu erscheinen. Mit 77:74 Stimmen votierten die Sozialisten, die immer noch unter dem Trauma von 1940 standen, als die Nationalversammlung zugunsten von Marschall Pétain abgedankt hatte, für die Ernennung de Gaulles zum letzten Ministerpräsidenten der IV. Republik. Nachdem er alle Parteichefs mit Ausnahme der Kommunisten über sein künf­ tiges Regierungsprogramm informiert hatte, bildete de Gaulle am 1. Juni seine Re­ gierung, in die er zwar die Führer der traditionellen Parteien berief,7 ihnen jedoch keines der drei Schlüsselministerien (Armee, Inneres und Auswärtiges) übertrug. Diese wurden vielmehr drei Technokraten anvertraut – ein deutliches Zeichen sei­

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ner Abneigung gegenüber den Parteien der IV. Republik. Interessanterweise blie­ ben die Protagonisten des Algérie Française bei der Kabinettsbildung völlig un­ berücksichtigt (sieht man zunächst von der späteren Ernennung Soustelles zum Informationsminister ab), was einige Monate später zur Folge hatte, dass de Gaulle nicht nur die extreme Linke, sondern auch die extreme Rechte zum Gegner hatte. Am Nachmittag des 1. Juni verlas der designierte Ministerpräsident – als Kon­ zession vor allem an die sozialistischen Parlamentarier – eine kurze Erklärung vor der Nationalversammlung, in der er zunächst seine Sicht vom Verfall des Staates und von den jüngsten Ereignissen in Algerien skizzierte, um anschließend präzi­ se seine Forderungen zu formulieren: uneingeschränkte Vollmachten, Mandat zur Vorlage einer neuen Verfassung, Suspendierung der Kammern. Es ist für de Gaulles parlamentarischen Stil kennzeichnend, dass er unmittel­ bar darauf das Palais Bourbon verließ und an der Investiturdebatte nicht teilnahm. Bei der anschließenden Abstimmung entschieden sich bei 224 Nein-Stimmen 329 Abgeordnete für seine Ernennung. Die Mehrheit der Abgeordneten billigte zwei Tage später auch die von der Re­ gierung vorgelegten drei Gesetzentwürfe, von deren Annahme de Gaulle sein Ver­ bleiben im Amt abhängig gemacht hatte. Diese betrafen: 1. Sondervollmachten für Algerien 2. sechsmonatige Vollmachten für die Regierung, mit Hilfe von Dekreten (Or­ donnances) regieren zu können 3. eine Verfassungsrevision mit Referendum, also ohne Mitwirkung der Kam­ mern. Bei diesem dritten, dem für de Gaulle wichtigsten Punkt konnten die Abgeordneten nach einer verfassungsrechtlich fragwürdigen Änderung des Artikels 90 der Verfassung einige, ihre Abdankung verbrämende Bedingun­ gen einbauen, an die sich die » Väter « der neuen Verfassung bei der Ausarbei­ tung zu halten hatten: Beibehaltung des allgemeinen Wahlrechts, Gewalten­ trennung, Verantwortung der Regierung vor dem Parlament, Unabhängigkeit der Jurisdiktion, Unantastbarkeit der Freiheits- bzw. Menschenrechte. Außer­ dem musste die auszuarbeitende Verfassung – neben dem Staatsrat – einem » Beratenden Verfassungskomitee « (Comité Consultatif Constitutionnel) un­ terbreitet werden, dessen Stellungnahmen jedoch für die Regierung völlig un­ verbindlich waren. Auf den Verfassungstext selbst konnte es keinen nennens­ werten Einfluss ausüben. Für das Abstimmungsverhalten der meisten Parlamentarier maßgeblich war – im Einklang mit der öffentlichen Meinung – ihre Hoffnung, allein de Gaulle sei in der Lage, Frankreichs drängendstes Problem, die Algerienfrage, zu lösen. Unbestritten ist, dass er sich eines militärischen Aufstandes bedient hatte, um

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auf legale Weise die Macht übertragen zu bekommen. » Er gelangte, « so André Siegfried, » im Rahmen der bestehenden regulären Institutionen an die Macht, ohne seine Intention zu verheimlichen, diese ändern zu wollen. «8 Die Beratungen über den Verfassungsentwurf wurden nicht von der Volksver­ tretung, sondern von der Regierung abgehalten. Zwar übten die vier Staatsminis­ ter, d. h. die von de Gaulle ins Kabinett berufenen Führer der traditionellen Par­ teien, einen nicht unbedeutenden Einfluss auf die Formulierung und Gestaltung einzelner Verfassungsartikel aus, doch dominierte neben de Gaulle vor allem sein langjähriger Vertrauter, der nun zum Justizminister ernannte Michel Debré. Dieser hatte bereits 1943 unter dem Pseudonym Jacques-Bruère zusammen mit dem späteren Gouverneur der Bank von Frankreich, Monick, Ideen für eine Re­ form der staatlichen Institutionen entwickelt. Danach sollte an der Spitze des Staa­ tes ein » republikanischer Monarch « stehen sowie die Regierung von der Volks­ vertretung unabhängig bleiben; außerdem forderte er bereits die Eingrenzung des Gesetzgebungsbereiches. Das Parlament wurde in diesem Entwurf in seiner Kom­ petenz drastisch beschränkt und seine Aufgabe auf den Gesetzgebungsprozess reduziert, während der Staatschef die Rechte der Parlamentsauflösung und der Regierungsernennung erhalten sollte. Die wichtigsten Merkmale der 58er Verfas­ sung, nämlich die Abgrenzung der Befugnisse zwischen Exekutive und Legislative zu ungunsten des Parlaments, die Stellung des Staatspräsidenten als Schiedsrich­ ter zwischen den politischen Gewalten und zugleich als Part der Exekutive, wur­ den in diesem Papier schon angedeutet. Michel Debré verfolgte diese Überlegungen im Kreis seiner Freunde in der Ré­ sistance weiter und hoffte, dass dieselben Eingang in die Verfassung der IV. Re­ publik finden würden. Als dies jedoch nicht geschah und de Gaulle hauptsäch­ lich aus Protest gegen den neuen Verfassungsentwurf im Januar 1946 vom Amt des Chefs der Provisorischen Regierung zurücktrat, publizierte Debré, nun Mit­ glied des Rates der Republik (entsprach dem heutigen Senat), seine Vorstellungen. Fortan attackierte er ohne Unterlass die im Oktober 1946 durch einen Volksent­ scheid mit knapper Mehrheit angenommene Verfassung.9 Debrés Konzeptionen wurden schon im Juni 1946 von de Gaulle in einer Rede im Normandiestädtchen Bayeux aufgegriffen und um folgende, die heutige Verfas­ sung kennzeichnende Bestimmungen erweitert: Schaffung einer zweiten Kammer mit aufschiebendem Vetorecht gegenüber den Beschlüssen der Nationalversamm­ lung, Ernennung der Regierung durch den von einem Wahlmännerkollegium ge­ wählten Staatschef, der gleichzeitig Präsident der » Französischen Union « (eine Art französisches Commonwealth) werden sollte. Vergleicht man Debrés Aufzeichnungen und de Gaulles Rede mit dem im Som­ mer 1958 ausgearbeiteten Verfassungsentwurf, ergibt sich eine nahezu völlige Übereinstimmung.

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Übergangsphase und Ausarbeitung der neuen Verfassung

Am 28. September 1958 wurde der französischen Bevölkerung und Bürgern in den Überseegebieten der Verfassungsentwurf in einer Volksabstimmung un­ terbreitet: Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 85 Prozent im Mutterland votierten 79,25 Prozent für die neue Verfassung (66,41 Prozent der Wahlberechtigten).

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Aspekte politischer Kultur

Die » politische Kultur « einer Nation wird durch die in der Gesellschaft domi­ nanten Einstellungen, insbesondere durch politische und religiöse Überzeugun­ gen, wirtschaftliche Interessen sowie Traditionen geprägt. In diesem Sinne be­ schrieb eine in den siebziger Jahren viel gelesene » Politische Landeskunde « die politische Kultur Frankreichs wie folgt: » Verhaltensweisen, Denkkategorien und Wertvorstellungen als Ergebnis gemeinsamer geschichtlicher Erfahrung, gemein­ samen kulturellen und zivilisatorischen Erbes sowie gleichorientierter Erziehung in Schule und Elternhaus schlagen sich in den politischen Gruppierungen Frank­ reichs, in Verfassung und Staat, in Wirtschaft und Außenpolitik nieder. «1 Auch neuere Untersuchungen belegen, dass Werten wie Freiheit, Gerechtigkeit, Gleich­ heit und Solidarität große Bedeutung beigemessen wird.2 In nahezu allen Befragungen der Franzosen antworteten regelmäßig vier Fünf­ tel, sie seien stolz darauf, Franzosen zu sein.3 Diese hohe Zustimmung ist ein Be­ kenntnis zur französischen Nation.4 Ihr anzugehören kommt nach der berühm­ ten Formulierung des französischen Religionswissenschaftlers Ernest Renan vom Jahr 1882 einem » tagtägliches Plebiszit « gleich. In den Worten der Soziologin Dominique Schnapper » [ist] man Franzose durch Gebrauch einer Sprache, durch das Lernen einer Kultur, durch den Willen, am wirtschaftlichen und politischen Le­ ben teilzunehmen. « Gefragt nach den Symbolen, Werten und Einrichtungen, wel­ che die Nation am besten versinnbildlichen, nannte eine Mehrheit die Trikolore gefolgt vom sozialen Sicherungssystem und der Marseillaise als Symbole der Ein­ heit. In einer Umfrage aus dem Jahr 2002 bekundeten nahezu zwei Drittel ihr Ver­ trauen in die Republik. » Als Verteidigerin der Freiheiten « wurde sie als die bes­ te Staatsform angesehen.5 Der Historiker und Mitglied der Académie française, Pierre Nora, brachte das Bekenntnis zur nationalen Identität auf den Punkt: » Die Franzosen wollen nicht mehr für das Vaterland sterben, aber sie lieben es.  […] Nicht Frankreich ist ewig, aber das Französischsein (la francité). «6 Bei einer Um­ 13 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 U. Kempf, Das politische System Frankreichs, DOI 10.1007/978-3-658-08208-6_2

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Aspekte politischer Kultur

frage nach den Anschlägen auf das Satireblatt » Charlie Hebdo « im Januar 2015 antworteten 83 Prozent » Frankreich ist eine Republik, wo jeder das Recht zur Mei­ nungsäußerung hat, selbst wenn dies Minderheiten missfällt. «7 Überhaupt werden die Ideale der Französischen Revolution, vor allem » Frei­ heit « und » Gleichheit «, nahezu einstimmig als diejenigen angesehen, die am besten die Wertschätzung der Republik ausdrücken. Diese Werte, das Leitbild der » einen und unteilbaren Nation « (Artikel 1 der Verfassung) und das Prinzip der  Lai­zität (siehe unten) sind die Grundpfeiler der nationalen Identität. Aller­ dings zeigen jüngere Umfragen nach den islamistischen Terrorattentaten im Jahr 2015, dass für eine Mehrheit der Befragten » die Werte des Islam mit den Werten der Republik inkompatibel [sind]. «8 Der Nationalstolz der Franzosen geht mit zweierlei Grundhaltungen einher: dem Vertrauen in die politischen Institutionen einerseits und einer tiefen Skep­ sis gegenüber dem als anonym und allzu mächtig empfundenen Staat andererseits. Den Institutionen der V. Republik bescheinigt eine eindeutige Mehrheit der Befragten seit langem, dass sie gut oder ziemlich gut funktionieren. Auch die Fra­ ge, ob man » Vertrauen « in die Staatsorgane habe, wird mehrheitlich bejaht. Be­ sonders die Spitzen der nationalen Exekutive und die Nationalversammlung ge­ nießen in der Regel als Institutionen eine relativ hohe Wertschätzung. Handelt es sich um Einrichtungen oder Personen, mit denen die Bürger lau­ fend in Berührung kommen (Gemeinde- und Departementräte sowie Bürger­ meister), dann fällt die Zustimmung noch höher aus (66 Prozent bei örtlichen Mandatsträgern, 51 Prozent bei den Departement- und 42 Prozent bei den Regio­ nalräten). Je stärker die Bürger mit lokalen Mandatsträgern in Kontakt kommen, desto größer ist ihr Vertrauen. Auch Armee und Polizei genießen eine hohe Wert­ schätzung. In krassem Widerspruch dazu begegnen die Befragten nationalen Politikern (» les hommes politiques «) und politischen Parteien mit Abneigung. Seit den achtziger Jahren überwiegen negative Urteile. So bekundeten Ende 2014 89 Pro­ zent – ein Anstieg um acht Prozentpunkte gegenüber 2009 –, die Politiker küm­ merten sich nicht um die Bedürfnisse der Bevölkerung.9 Diese weitgehend nega­ tive Einschätzung zeigte sich 2015 darin, dass nur noch 42 Prozent Abgeordneten der Nationalversammlung Vertrauen schenkten.10 Diese pessimistische Grund­ haltung spiegelt sich auch in den » Vertrauenswerten « für die Spitzen des Staates wider. Weder dem rechten Staatspräsidenten Sarkozy noch seinem linken Nach­ folger Hollande » vertrauten « die Franzosen. Über zwei Drittel glaubten nicht, füh­ rende Vertreter der Republik könnten die sozialen, wirtschaftlichen und finanziel­ len Probleme des Landes lösen. Pascal Perrineau, Forschungsdirektor am Pariser Institut politique, fasste diesen Pessimismus mit den Worten zusammen: » Nicht nur sehen sich [die Franzosen] in einem Tunnel; sie sind auch überzeugt, dort lan­

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ge verharren zu müssen. «11 Die französischen Jugendlichen sind weltweit eine der pessimistischen Gruppen: Nur 17 Prozent, so eine Befragung aus dem Jahr 2011, sind der Meinung, die Zukunft ihres Landes entwickele sich positiv.12 Bemerkenswert ist die Tatsache, dass im Jahr 2015 67 Prozent der Befragten eine » Technokraten-Regierung « bevorzugten, um den Staat von Grund auf zu re­ formieren. Allein nichtgewählte Experten könnten längst überfällige, unpopulä­ re Maßnahmen treffen, um den weiteren wirtschaftlichen Niedergang zumindest aufzuhalten, günstigen Falls auch umzukehren.13 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts verstärkte sich der Eindruck, dass die alte ideo­ logische Rechts-Links-Spaltung in der französischen Gesellschaft nur noch eine geringe Bedeutung hat.14 » Die großen ideologischen Kriege sind vorbei «, stellten Bréchon und Schweisguth für den Zeitraum 1980 bis 2000 fest.15 Nach der Präsidentenwahl 2007 konstatierten etliche Kommentatoren einen » strukturell konservativen Charakter der französischen Gesellschaft «. Zwei Drit­ tel der Franzosen – so die Ergebnisse eines Forschungsprojekts des Pariser Institut politique – identifizieren sich mit konservativen Werten.16 Die Präsidentschafts­ kandidaten Ségolène Royal und Nicolas Sarkozy versuchten 2007, die Wähler mit konservativen Akzenten in ihren Programmen anzusprechen. Drei von fünf Fran­ zosen haben weder in eine linke noch rechte Regierung hinreichend Vertrauen, das Land regieren zu können.17 Marine Le Pens Achtungserfolg bei der Präsidentschaftswahl 2012 unterstreicht den Rechtstrend in der französischen Gesellschaft. Der linke Wahlsieger François Hollande verdankte seinen Erfolg in der Stichwahl dem » Anti-Sarkozy-Referen­ dum « und nicht seinem Programm. So zufrieden die überwiegende Mehrheit mit den von de Gaulle geschaffe­ nen Institutionen auch ist, so zwiespältig ist letztlich ihr Verhalten gegenüber dem Staat. Dieser ist Ausdruck einer jahrhundertelang gewachsenen Zentralgewalt, die sich als » Hüter des Gemeinwohls « versteht und in dieser Eigenschaft über der Gesellschaft steht. Deshalb begegnen viele Franzosen dem Staat mit Misstrauen. Ebenso viele sehen in ihm einen Motor des wirtschaftlichen und gesellschaftli­ chen Wandels, der den Bürgern in den » dreißig goldenen Jahren « nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein hohes Maß an Wohlstand beschert hat. Bedingt durch die seit Anfang der achtziger Jahren andauernde Wirtschaftskrise mit einer anhal­ tend hohen Arbeitslosigkeit ist dieses » modèle français «, diese Form des Sozial­ staates mit dem » Glauben an die Lösungskompetenz und Handlungsfähigkeit des Staates «18 zweifellos stark erschüttert.19 Dennoch bleibt die fast mystische Erwar­ tung an die Problemlösungsfähigkeit des Staates ungebrochen. Für den ehemaligen Justizminister und Präsidenten des Verfassungsgerichts, Robert Badinter, » beherrscht der Staat immer noch unser Denken. Von der extre­ men Linken bis zur extremen Rechten denkt man in Kategorien der Staatsmacht.

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Der Staat soll der mächtigste Akteur, Heilmittel für alle Übel und letzte Instanz bleiben. […] Meine sozialistische Familie ist immer noch vom Marxismus geprägt: Ein Staat, der eine Vorreiterrolle übernimmt, kann die Gesellschaft verändern. «20 Die Ausübung des Wahlrechts wird als Handhabung eines Freiheitsrecht ver­ standen, so dass besonders in Zeiten politischer Richtungsentscheidungen seit Ende der 80er Jahre ein hoher Partizipationsgrad erreicht wird, selbst wenn die­ ser bei Parlaments- und Regionalwahlen rückläufig ist. Die Teilnahme an Prä­ sidentschaftswahlen ist ein » Muss «. So erklärten wenige Monate vor der Präsi­ dentschaftswahl 2007 79 Prozent, sie würden auf jeden Fall ins Wahllokal gehen. Tatsächlich lag die Wahlbeteiligung am 22. April 2007 bei 83,8 Prozent. Vergleich­ bare Beteiligungswerte konnte die nächste Präsidentschaftswahl fünf Jahre spä­ ter verzeichnen. Auf der anderen Seite zeichnet sich Frankreich durch ein im internationalen Vergleich äußerst geringes Engagement in Parteien und Verbänden aus. So wa­ ren lediglich 1,7 Prozent der Wahlberechtigten Mitglied in einer politischen Par­ tei und nur knapp neun Prozent gehörten einer Gewerkschaft an. Ein wesentli­ cher Grund für das geringe Engagement in den intermediären Organisationen ist ihr Mangel an Glaubwürdigkeit. Der französische Politikwissenschaftler François Goguel machte als Grund aber auch den ausgeprägten Individualismus der Fran­ zosen geltend, der diese hindere, sich der Disziplin von Parteien oder Gewerk­ schaften zu unterwerfen.21 Die politischen Parteien liegen neben den Medien am untersten Ende der Glaubwürdigkeitsskala: Nur neun Prozent der Befragten » vertrauten « ihnen; bei den Medien waren es lediglich 25 Prozent. Aber auch den Gewerkschaften bekun­ deten drei Viertel, sie hätten kein Vertrauen in die Arbeitnehmer-Interessenver­ tretungen. Die Haltung der Franzosen zur Frage, ob die Demokratie in ihrem Land gut funktioniert, hat sich seit Anfang des Jahrhunderts verändert. Zwar betonten im Jahr 2015 89 Prozent, die Demokratie sei eine » gute Sache «, um Frankreich zu re­ gieren. Aber nur 27 Prozent waren der Meinung, sie funktioniere gut – der nied­ rigste in jüngerer Zeit gemessene Wert. Die allgemeine Unzufriedenheit gründet sich auf die Einschätzung, dem demokratischen System gelinge es nicht, die » Ord­ nung « im Land aufrecht zu erhalten, das Wirtschaftswachstum zu fördern, die hohe Arbeitslosigkeit abzubauen und den befürchteten sozialen Abstieg zu ver­ hindern. Je besser die Ausbildung der Befragten und ihre berufliche Situation, desto geringer ihre Unzufriedenheit mit der Demokratie. Unterschichtenstatus und geringe berufliche Qualifikation korrespondieren mit einer skeptischen Sicht. Die überwiegende Mehrzahl der Befragten bekannte sich vor allen anderen – ganz im Sinne Churchills – zur Demokratie als bester Regierungsform, ungeachtet all ihrer Schwächen.22

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Die ablehnende Haltung gegenüber Parteien und Verbänden bedeutet nicht, dass Franzosen politisch desinteressiert sind. Im Gegenteil: 58 Prozent hatten im Jahr 2014 » großes « oder » ziemlich großes Interesse an der Politik « – ein Ergebnis, das sich seit 1983 nicht verändert hat. Hohe Wertschätzung genießt die Republik als Verteidigerin der Freiheit.23 Mehr als zwei Drittel der Franzosen würden für die Republik und Nation kämp­ fen.24 Dass die Franzosen in ihrer überwiegenden Zahl keine revolutionäre Verän­ derung der Gesellschaft wollen und schrittweise Reformen bevorzugen,25 hindert sie nicht daran, beinahe kontinuierlich ihrer Unzufriedenheit über den Staat oder über die » Klasse « der Politiker in heftigen, häufig gewalttätigen Protestaktio­nen Luft zu machen. Der Soziologe Emmanuel Todd hat diese Haltung wie folgt zu­ sammengefasst: » Unsere Tradition ist jene des spontanen Kampfes, der Revolte. « Nach wie vor ist in Frankreich » die Bereitschaft zum Dialog zwischen Regie­ rung, Sozialpartnern und ökonomischen Interessen «, so Gilbert Ziebura, » wie überhaupt in der Gesellschaft, unterentwickelt. «26 Und der Sozialwissenschaftler Gérard Grunberg merkte an: » Die politische Kultur Frankreichs ist anders als in den Ländern mit sozialdemokratischer oder liberaler Prägung; sie ist keine Kultur des Kompromisses, [sondern] der Konfrontation, die zutiefst und dauerhaft von der Französischen Revolution gezeichnet wurde. «27 So hatten die gewaltsamen Unruhen des Spätherbst 2005 in der Banlieue, den Trabantenstädten mit extremer (Jugend-)Arbeitslosigkeit und Bewohnern nordund schwarzafrikanischer Herkunft, den Charakter einer massiven Reaktion auf offensichtliche gesellschaftliche und ökonomische Diskriminierung und Benach­ teiligung: » Die Krawalle, « so Emmanuel Todd, » sind Ausdruck einer Forderung nach Integration und Egalité. Der Zorn und die Gewalt sind in Frankreich die Sprache jener, die nicht gehört werden. […] Frankreich ist das Land der Revolu­ tion. Seit 1789. «28 Überhaupt scheint sich immer wieder ein » alter französischer Reflex « Bahn zu brechen: » Wer gegen die Obrigkeit auf die Barrikaden geht, wird schon Recht haben. «29 Dies zeigte sich zuletzt an zahlreichen gewalttätigen Streiks. So unterstützten im Herbst 2000 88 Prozent der Bevölkerung den Streik der Spe­ diteure – ungeachtet der Folge, dass er zu landesweiter Benzinknappheit führ­ te. Im Herbst 2010 bekundeten 70 Prozent der Befragten ihre Sympathie für eine Streikkampagne gegen eine von Staatspräsident Sarkozy betriebene und schließ­ lich durchgesetzte Rentenreform, obwohl sie immerhin von 53 Prozent für sinn­ voll gehalten wurde. Das aggressive Verhalten streikender Air-France-Beschäf­ tigter gegenüber Mitgliedern des Managements, die tätlich angegriffen wurden, wurde im Herbst 2015 ebenfalls von einer breiten Mehrheit gebilligt. Letztlich sind Arbeitsniederlegungen ebenso wie die gewalttätigen Aktionen protestierender Landwirte bis hin zu Autobahnblockaden Ausdruck eines grundsätzlichen Miss­ trauens gegenüber Regierungsvorhaben, so berechtigt diese auch sein mögen. Der

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Regierung sollen Grenzen aufgezeigt werden, mit ihren Reformen gewisse Gren­ zen nicht zu überschreiten. Im Jahr 2015 kamen in Frankreich 139 Streiktage auf je 1 000 Beschäftigte; damit lag das Land im internationalen Vergleich einsam an der Spitze. Das in Teilen der Bevölkerung verbreitete negative Image der » classe poli­ tique « ist auch in nicht geringem Maße vom Aufdecken zahlreicher Korruptions­ skandale vertieft worden, in die seit Mitte der achtziger Jahre viele führende Politi­ ker verwickelt waren.30 So waren 2015 in einer Umfrage 72 Prozent der Auffassung, Politiker seien » in der Regel eher korrupt «.31 Lange bekannte sich eine deutliche Mehrheit zu den Zielen und der Realität von » Europa «. Noch im Mai 2004 bekundeten zwei Drittel in einer Umfrage, sie hätten eine » positive Einstellung « gegenüber dem europäischen Einigungsprozess. Auch wurde auf nahezu allen Politikfeldern dem vereinten Europa eine größe­ re Problemlösungskompetenz zugestanden als dem Nationalstaat. Europa wurde als Motor für die Erhaltung eines relativen Einflusses in der internationalen Poli­ tik angesehen. Vor dem Hintergrund der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkri­ se sowie der andauernden Massenarbeitslosigkeit sind die Zustimmungswerte zur Europäischen Union gesunken. Mitte 2014 hielten nur noch 32 Prozent der Befrag­ ten » Europa « für einen » wirtschaftlichen Trumpf «. Einen Austritt aus der EU bzw. aus der Euro-Zone lehnten aber 60 Prozent ab. Die Frage, ob die EU eine » gute Sache « sei, bejahten 2015 nur 62 Prozent. Zwar liegt dieser Wert höher als im Jahr 2014, zeigt aber die zunehmende Reserviertheit der Franzosen gegenüber dem euro­päischen Einigungsprozess. 62 Prozent befürworteten eine größere nationale Unabhängigkeit bei wirtschaftlichen und budgetrechtlichen Entscheidungen. Fast die Hälfte sah den Euro als Ursache für die gegenwärtige wirtschaftliche Krise an. Gleichzeitig lehnte eine klare Mehrheit von 60 Prozent das Schengen-Abkommen ab, und 64 Prozent sprachen sich für » eine Konzentration der EU auf die Grün­ derstaaten « aus, lehnten also die Aufnahme weiterer Staaten klar ab. Nur knapp die Hälfte war » optimistisch « hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung der EU.32 Die Ablehnung des EU-Verfassungsvertrages durch ein Referendum über­ raschte 2005 nicht wenige Politikbeobachter in Frankreich selbst wie auch in an­ deren EU-Staaten. Europa, so das Signal dieses Ereignisses, wurde nicht als ein wirksames Bollwerk gegen die Globalisierung (» mondalisation «), sondern viel­ mehr als ein Instrument des verhassten Neo-Liberalismus angesehen. Mit großem Geschick war es den Gegnern des Verfassungsvertrages gelungen, die Ängste der Franzosen vor dem neoliberalen und angelsächsisch geprägten Kapitalismus zu verteufeln und Überfremdungsängste zu schüren. Auch noch zehn Jahre später lehnt eine klare Mehrheit von 56 Prozent die Glo­ balisierung ab. Nur 44 Prozent sehen darin eine Chance für mehr wirtschaftliches Wachstum in Frankreich. Für 76 Prozent ist die Globalisierung eine Gefahr, durch

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die sich die soziale Ungleichheit verschärfen wird. 77 Prozent sind der Meinung, sie nütze allein den Großunternehmen und sei ein Hauptgrund für die andauern­ de Arbeitslosigkeit. Anhänger der Linken wie der Rechten lehnen eine Beschleunigung der euro­ päischen Integration mehrheitlich ab. In beiden Großparteien haben Fragen der » Umsetzung der [von der Europäischen Kommission geforderten] Sparpolitiken zunehmend zu internen Spaltungen geführt «, so Gérard Grunberg. Gefallen an den Institutionen der Interessenvermittlung durch Parteien und Gewerkschaften finden nur wenige. Umso mehr wenden sie sich seit rund zwei Jahrzehnten den neuen sozialen Bewegungen zu.33 Exemplarisch waren die Mas­ sendemonstrationen im Jahr 2012 gegen die » Ehe für alle «, bei denen eine Million Gegner der sogenannten Homo-Ehe auf die Straße gingen. Aber auch die Unter­ stützer dieses Gesetzes konnten vergleichbare viele Demonstranten mobilisieren. Im Gegensatz zu den europäischen Nachbarländern und den USA fasste der Massenprotest erst spät in den sechziger Jahre in Frankreich Fuß. Im Frühjahr 1968 aber radikalisierte sich die zunächst studentische Protestbewegung und es­ kalierte zur völligen Überraschung der Politiker im Mai schließlich zur Staats­ krise: Barrikadenkämpfe in Paris, Universitäts- und Fabrikbesetzungen, schließ­ lich ein Generalstreik, der das wirtschaftliche Leben für Wochen lahmlegte, sowie de Gaulles kurzzeitige » Flucht « nach Baden-Baden in das Hauptquartier der in Deutschland stationierten französischen Truppen. Enorme Lohnerhöhungen und massiver Druck der Kommunistischen Partei auf die von ihr beherrschte Gewerk­ schaft führten schließlich zur Wiederaufnahme der Arbeit.34 Nach den Maiunruhen schoss eine große Zahl unterschiedlichster Bürgerin­ itiativen aus dem Boden. Mit ökologischen Forderungen, Ablehnung der Kern­ kraft, mit feministischen Themen, Bildungsreformen und außerberuflicher Le­ bensgestaltung wurden Politikfelder » besetzt «, um welche sich die zunehmender Bürgerferne verdächtigte » classe politique « nicht gekümmert hatte. Allerdings ist die französische Ökologiebewegung verglichen mit der deutschen zahlenmäßig relativ schwach. Nur zwei Prozent aller Franzosen über 15 Jahre hatten sich bis 2004 in einer Umweltschutzorganisation engagiert. Auch bei der Gewichtung der Themenfelder gibt es Unterschiede: Fanden in Deutschland Protestaktionen ge­ gen Nuklearwaffen und gegen die zivile Nutzung der Kernenergie die meiste Un­ terstützung, so engagierten sich Franzosen vor allem gegen Rassismus und für den Frieden. Vergleichende Untersuchungen in Frankreich und Deutschland er­ gaben, dass die Beteiligung an so genannten weicheren Protestformen wie De­ monstrationen und Unterschriftensammlungen seit 1981 spürbar zugenommen hat. Im Gegensatz zu Deutschland kommen von militanten Minderheiten propa­ gierte härtere Formen politischer Auseinandersetzung wie Boykotte, wilde Streiks und Gebäudebesetzungen weitaus häufiger vor.35

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Parallel zu solchen landesweiten Aktionsformen vollzog sich ferner ein » Repli sur soi «, ein Rückzug ins Private. Zum einen zeigt sich dieser am Stellenwert, den die Familie als Stabilitätsfaktor mit Blick auf eine als unsicher geltende Zukunft genießt. Nahezu alle Befragten bringen der Familie als Institution das meiste Ver­ trauen entgegen. Auch zeigen die Umfragen, dass die überwiegende Mehrheit der Franzosen (79 Prozent) mit ihrem Lebensstandard und mit dem » Leben, das sie führt, zufrieden « ist. Nur 36 Prozent befürchten den sozialen » Abstieg « in eine prekäre Existenz, 46 Prozent sind gegenteiliger Meinung; 16 Prozent waren sich in ihrer Bewertung unsicher.36 Zum anderen wird der Rückzug ins Private durch ein Engagement in Berei­ chen deutlich, die die Bürger unmittelbar betreffen: Beispiele sind Sport- und Freizeitklubs, örtliche Initiativen, die etwa in Eigenarbeit Sportanlagen errichten, gemeinnützige Organisationen, die zum Zwecke privater Sozialhilfe und Kran­ kenpflege gegründet wurden, oder Gruppierungen, die um einen besseren loka­ len Umweltschutz bemüht sind. So üben zwölf Millionen Franzosen eine ehren­ amtliche Tätigkeit aus; acht von zehn der über 15-jährigen sind Mitglied in einem Sportclub, einem Kultur- bzw. Musikverein oder sie engagieren sich für humani­ täre und nachbarschaftliche Hilfen. Mittlerweile wird die Zahl der häufig kurzlebigen Bürgerinitiativen auf etwa 730 000 geschätzt. Dies ist für eine Nation, die der freiwilligen Sozialarbeit stets reserviert gegenüberstand, ein beinahe schon » revolutionärer « Vorgang, der sich nur mit der Reaktion auf die Modernisierungsschübe seit Beginn der V. Republik mit all ihren sozialen Verwerfungen, aber mit den kaum lösbaren Problemen der ökonomischen Krise erklären lässt. Die Terrorwelle des Jahres 2015 mit fast 150 Todesopfern löste einen Schock aus. Eine große Mehrheit der Franzosen sieht sich durch die von jungen franzö­ sischen Muslimen begangenen Taten bedroht. Das Verhältnis zu den schätzungs­ weise sechs Millionen Muslimen37 ist für viele » waschechte « Franzosen (français de souche) tief gestört.38 Zwar wies im Januar 2015 eine breite Mehrheit der Befragten eine generelle Verbindung von Islam und Gewalt zurück und weigerte sich strikt, die in Frank­ reich lebenden Muslime unter » Generalverdacht « zu stellen. Für 57 Prozent ist » diese Religion ebenso friedfertig wie die anderen «, der Dhihadismus sei eine » Perversion «. Andererseits beunruhigen eben diese » Entgleisungen « und die At­ traktivität einer militant-islamistischen Ideologie für zahlreiche junge Franzosen mit (insbesondere nordafrikanischem) Migrationshintergrund vor allem in den desolaten Vorstädten immer mehr Bürger.39 Für Jérôme Fourquet, Forschungsdirektor am Pariser Ifop-Institut resultiert die » Fassungslosigkeit und Angst « seiner Mitbürger nach den Attentaten aus der Er­ kenntnis, » dass Frankreichs Elendsviertel nicht mehr länger aufständische Steine­

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werfer hervorbringen, sondern Terroristen mit Kalaschnikows. […] Die meisten Täter von Paris hatten einen französischen Pass – allesamt Kinder dieser Repu­blik. […] Die Attentate haben uns gezeigt, dass unser Modell der Integration gescheitert ist. «40 Während Staatspräsident Hollande nach den Morden am 13. November 2015 den Ausnahmezustand verhängte und davon sprach, Frankreich befinde sich im Krieg gegen den » Islamischen Staat « als Anstifter der Attentate und er werde des­ sen Stellungen in Syrien bombardieren lassen, sprach Premierminister Valls im Ja­ nuar 2015 mit Blick auf die Problemstädte von » einer terroristischen, sozialen und ethischen Apartheid «. Die Vororte insbesondere im Nordosten von Paris, aber auch um andere Großstädte sind in seinen Augen » Gettos «, die mit ihrer hohen Jugendarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit für viele junge Muslime den Nähr­ boden für radikale Islamisten abgeben. Mit teilweise über 40 Prozent Arbeitslo­ sigkeit für 18- bis 24-Jährige, schlechter Schulbildung, nur rudimentärer, wenn überhaupt Berufsausbildung, häufigen Diskriminierungen bei Polizeikontrollen protestieren diese Jugendlichen gegen die Gesellschaft als solche und haben den Glauben an das von Politikern immer wieder beschworene Ideal der Gleichheit verloren.41 Sie wenden sich seit Anfang des Jahrhunderts verstärkt ihrem Glauben zu, der den Idealen der Republik meist ablehnend gegenübersteht. Im Gegensatz zur Mehrheit der in den 60er und 70er Jahren eingewanderten Maghrebinern be­ folgen diese jungen Muslime mehrheitlich strikt die islamischen Gebote. Für den Islamforscher Gilles Kepel stellt die Religion für viele junge Vorstadtbewohner eine Art von » Kompensation « für die anhaltend schlechten Lebensumstände und Be­ nachteiligungen dar, für die sie die Republik, also Frankreich verantwortlich ma­ chen.42 Die Indoktrination der Attentäter durch salafistische Imane, ihr Abglei­ ten in die Kriminalität (meist Drogenhandel) und anschließende Haftaufenthalte waren zumindest für die Pariser Attentäter im Jahr 2015, aber auch schon bei den Morden in anderen Städten seit 2005 der Hintergrund für ihren Hass auf die sie vermeintlich benachteiligende Gesellschaft.43 Dass die allerüberwiegende Mehr­ heit der in Frankreich lebenden Moslems diese verabscheuungswürdigen Taten auf das Schärfste verurteilt, steht außer Zweifel. Die Angst ihrer Mitbürger vor is­ lamistischem Fanatismus à la française kann aber nicht gemindert werden. Für diese Franzosen » de souche « ist die Laizität ein Grundpfeiler der demokratischen Werte. Für 27 Prozent der Befragten garantiert sie Gewissensfreiheit, stellt sie alle Religionen auf die gleiche » Basis « und » verbannt « den Einfluss gleich welcher Re­ ligion in der Gesellschaft in die Privatsphäre. Folglich sehen vier von fünf Bürgern das republikanische Ideal u. a. durch das ostentative Tragen von Ganzkörperver­ schleierungen, das Tragen der Niqab, aber auch durch Finanzhilfen des Staates für den Bau von Moscheen gefährdet.44 Anfang 2015 bekundeten nur 32 Prozent, der Islam sei kompatibel mit den Gesetzen der Republik; nach den Attentaten des Jahres 2015 gaben 73 Prozent an, ein negatives Bild von dieser Religion zu haben.45

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Aspekte politischer Kultur

Das Attentat eines islamistischen Tunesiers mit Aufenthaltsrecht in Frankreich am Nationalfeiertag 2016 mit 84 Toten und über 200 Schwerverletzten auf der Prome­ nade des Anglais in Nizza hat das angespannte Verhältnis zwischen den beiden größten Bevölkerungsgruppen zusätzlich belastet. Lösungen, um den fundamentalistischen Gruppierungen in den trostlosen Vorstädten den Boden zu entziehen, bieten weder Hollande mit seinen martiali­ schen Anti-Terror-Worten noch Valls mit seinem Apartheid-Verweis an.46 Wenn es nicht gelingt, auch den jungen französischen Moslems Ausbildungs- und Be­ rufsangebote anzubieten – sofern ein entsprechender Schulabschluss vorliegt –, ihnen das Gefühl zu geben, sie hätten weitgehend die gleichen Chancen wie ihre Altersgenossen in gehobenen Wohnvierteln dürfte ein anhaltendes Abgleiten die­ ser Generation der » Ausgeschlossenen « in gewalttätige Aktionen vorprogram­ miert sein. Den republikanischen Werten und den unzulänglichen Integrations­ angeboten stehen die jungen radikalisierten moslemischen Franzosen ablehnend gegenüber. Es ist Aufgabe von Staat und Gesellschaft, die überwiegend friedliche Mehrheit dieser Jugendlichen durch entsprechende Bildungs- und Fördermaß­ nahmen den Idealen der Republik (wieder) näherzubringen. Emmanuel Todd wendet sich in seinem Buch » Wer ist Charlie ? « gegen die Her­abwürdigung religiöser Symbole oder Personen beispielsweise durch Karika­ turen, denn dies führe nur zu einer weiteren Entfremdung zwischen den » Kin­ dern « der Nation. Bräuche und Verhaltensweisen französischer Muslime sind zu respektieren. » Das Einvernehmen mit dem Islam zu suchen, ist selbst bei gerings­ ten Erfolgsaussichten akzeptabel, weil die Konfrontation mit ihm zu 100 Prozent scheitert. «47

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Der Staatspräsident

3.1 Zur staatsrechtlichen Stellung » Der Staatspräsident ist der Schlussstein (clé de voûte) im Gebäude der Exeku­ tive. «1 Mit diesen Worten beschrieb François Mitterrand am 12. April 1992 den Rang des französischen Staatschefs im Gesamtgefüge der durch die Verfassung der V. Republik gestärkten Exekutive. Der Politologe Maurice Duverger nahm die Gewichtsverlagerung zu Lasten des Parlaments, aber auch innerhalb der doppel­ köpfigen Exekutive zum Anlass, zwei Büchern die Titel » Republikanische Mo­ narchie « und » Schach dem König « zu geben. Staatschef de Gaulle selbst zöger­ te nicht, sich wenige Tage nach seiner ersten Wahl zum Präsidenten als » Führer Frankreichs und Chef des republikanischen Staates «2 zu bezeichnen. Solche über Jahrzehnte hinweg gleichlautenden Äußerungen deuten an, wie sehr das Amt des Staatspräsidenten ungeachtet der personellen Wechsel und trotz unterschiedlicher Regierungskoalitionen die Politik der anderen Verfassungsorgane bestimmte und prägte. Das Beispiel der Nationalversammlung belegt diese Feststellung: Ob die Parlamentsmehrheit die Auffassungen des Präsidenten teilte, ob er sich mit den Kompromisszwängen einer » Cohabitation « auseinanderzusetzen hatte oder ob Minderheitskabinette (wie zwischen 1988 und 1993) regierten – letztlich gelang es ihm bisher stets, die Grundlinien seiner Politik weitgehend zu verwirklichen. Die politische Bedeutung des Präsidialamtes ist ohne die Geschichte der IV. Re­ publik und ohne die Person de Gaulles nicht zu verstehen. Nicht ohne Grund pro­ gnostizierten Beobachter bereits im Jahre 1958, bei Regierungsantritt de Gaulles, eine Neuordnung der politischen Einfluss- und Entscheidungsstrukturen, so wie dies der General seit langem in Reden, Schriften sowie durch die Propaganda des von ihm 1947 gegründeten Rassemblement du Peuple Français verlangt hatte. Be­ reits in der programmatischen Rede von Bayeux (1946) lautete der Kerngedanke, dass » ein nationales Schiedsamt geschaffen wird, das über den politischen Unge­ 23 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 U. Kempf, Das politische System Frankreichs, DOI 10.1007/978-3-658-08208-6_3

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Der Staatspräsident

wissheiten steht und inmitten aller Berechnungen und Intrigen der Kontinuität Geltung verschafft. «3 Angesichts der ständigen Koalitionskrisen und Kabinettswechsel in der III. und IV. Republik sollte ein nach der Vorstellung de Gaulles überparteilicher und interessenneutraler Staatschef als Stabilitätsanker dienen – so wie dies in der V. Republik geschah, als, in den Worten de Gaulles, » dem Staatspräsidenten vom Volk, das ihn gewählt hat, die gesamte unteilbare Autorität des Staates zugebilligt worden ist «. Diese Sichtweise machten sich auch die Nachfolger zu Eigen. François Mitterrand zögerte selbst nach Bildung der ersten » Cohabitation « 1986 nicht, dieses gaullistische Amtsverständnis beizubehalten, indem er betonte, » die Fran­ zosen haben heute den Eindruck, in mir einen Schiedsrichter [im Sinne des Arti­ kels 5 der Verfassung] gewonnen zu haben «4. Getreu den in Bayeux entwickelten Ideen nimmt das Amt des Staatspräsiden­ ten zum ersten Mal in der französischen Verfassungsgeschichte den ersten Rang unter den Regierungsorganen ein. Zumindest im Hinblick auf die vom Präsiden­ ten bestimmte Machtposition der Exekutive gibt es somit zwischen Verfassungs­ text und Verfassungswirklichkeit keinen Widerspruch. Dem Präsidenten wurden vor allem deshalb die Attribute der Zentralfigur im politischen System Frankreichs zugeteilt, damit er als Repräsentant der nationa­ len Einheit in Krisensituationen ohne Rücksicht auf Parteieinflüsse in Ausübung seines Schiedsrichteramtes eingreifen und diese möglichst bereinigen könne. Laut Artikel 5 soll der Präsident » durch seinen Schiedsspruch das ordnungsge­ mäße Funktionieren der öffentlichen Gewalten sowie die Kontinuität des Staa­ tes sichern «. Folglich stattete die neue Verfassung das Amt des Staatschefs – bei gleichzeitiger Beschränkung der Rechte des Parlaments – mit einer Fülle von Kompetenzen aus, die seine Vorgänger in der III. Republik zum Teil schon be­ sessen hatten, die sie aber wegen des politischen Fehlverhaltens des ersten Prä­ sidenten dieser Republik (Marschall MacMahon, 1873 bis 1879) nicht anwenden konnten. Zu diesen Machtbefugnissen, die der Staatschef teils in ausschließlicher Eigen­ verantwortung, teils auf Vorschlag des Regierungschefs ausüben kann, zählen vor allem: ■■ ■■ ■■ ■■ ■■

die Bestellung des Premierministers (Art. 8) die Auflösung der Nationalversammlung (Art. 12) die Anwendung des Notstandsartikels (Art. 16) die Ausschreibung von Referenden (Art. 11) die Beantragung von Verfassungsänderungen (Art. 89).

Alle diese Kompetenzen (sowie die so genannte » Domaine réservé « [siehe un­

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ten]) erlauben es dem Präsidenten, die Rolle des » Arbitre « auszuüben. Staatsprä­ sident Mitterrand, der sich als erster Staatschef der V. Republik einer oppositionel­ len Parlamentsmehrheit gegenübersah, interpretierte diese Rolle folgendermaßen: » [Der Präsident] ist in vielen Bereichen ein Schiedsrichter. Es ist seine Aufgabe, von Zeit zu Zeit zu › pfeifen ‹, und sei es auch nur, um das › Spiel ‹ abzupfeifen. Ich muss intervenieren, wenn Gefahr droht – Gefahr für die Einheit des Landes oder Gefahr für das allgemeine Interesse. «5 Selbst wenn es während der » Cohabita­ tion « (unterschiedliche politische Orientierungen zwischen Staatspräsident und Regierungsmehrheit) zu keinerlei » Abpfeifen « oder zu keinen roten Karten mit » Platzverweisen « kam, zeigte Mitterrand in den Jahren 1986 bis 1988 der Regie­ rung Chirac mehrfach immerhin die » gelbe Karte «, indem er sich öffentlich von Maßnahmen der bürgerlichen Regierung distanzierte. Dies gilt auch für seinen Nachfolger Jacques Chirac, der von 1997 bis 2002 mit einer linken Regierung » le­ ben « musste. Aber auch bei den sozialistischen Premierministern zögerte Mitterrand nicht, die Rücknahme öffentlich umstrittener Gesetzentwürfe anzukündigen und damit die eigene Regierung zu desavouieren. Sein Amtsverständnis charak­ terisierte der sozialistische Staatspräsident beim Neujahrsempfang 1989 wie folgt: Wenn es das Wohl des Landes erfordere, sei es normal, dass der Staatschef eingrei­ fe und entscheide (» tranche «).6 Damit brachte er, der während seiner vierzehn­ jährigen Amtszeit sowohl mit bürgerlichen Premierministern als auch mit sozia­ listischen Minderheits- und Mehrheitsregierungen seiner eigenen Sozialistischen Partei Frankreichs Geschicke zu leiten hatte, zum Ausdruck, dass er einen Mittel­ weg zwischen einem omnipotenten und einem sich völlig zurückhaltenden Präsi­ denten einzuschlagen gedachte. Wie seine Vorgänger konzentrierte sich Mitterrand auf die Formulierung der Grundlinien der Politik und überließ der Regierung die Lösung der politischen Alltagsfragen. Sicherlich gab es – wie noch aufzuzeigen ist – Unterschiede zwi­ schen den sieben Amtsinhabern. Während Mitterrand eher das Amtsverständnis des Gründers der V. Republik nachahmte, mischten sich Georges Pompidou und vor allem Giscard d’Estaing deutlich stärker in das Regierungsgeschäft ein. War Präsident Chirac in seiner ersten siebenjährigen Amtszeit fünf Jahre lang durch die » Cohabitation « mit der Linksregierung innenpolitisch weitgehend gelähmt, wurde die fünfjährige Amtsperiode seines Amtsnachfolgers Nicolas Sarkozy in der Öffentlichkeit als » hyperaktive « Präsidentschaft charakterisiert, da der Staats­ chef nahezu alle innen- und außenpolitischen Aktivitäten im Elysée-Palast (vor-) entschied. Das zweite sozialistische Staatsoberhaupt François Hollande bestimm­ te wie alle seine Vorgänger ungebrochen das gesamte politische Leben, verzichte­ te jedoch auf die Omnipräsenz des Vorgängers, der nach seiner Amtseinführung verkündet hatte: » Ich werde ein Präsident sein, der regiert. Die Franzosen wählen einen Staatspräsidenten, damit er handelt und entscheidet. «7 Dieser Maxime hat­

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Der Staatspräsident

ten sich Sarkozys Premierminister und Minister zu fügen. Die Öffentlichkeit re­ agierte zunehmend irritiert auf Sarkozys Betriebsamkeit. Ungeachtet der unterschiedlichen Regierungsstile schöpften alle Präsidenten die verfassungsmäßigen Kompetenzen voll aus. Die Verschiebung des politischen Entscheidungszentrums in den Elysée-Pa­ last beruhte nicht zuletzt auf der höheren politischen Legitimation des Staatsober­ hauptes durch die Direktwahl.8 An der Schlüsselrolle des Präsidenten hat sich auch in Phasen der » Cohabi­ tation « nichts geändert. Zwar hatte der Staatschef die veränderten Mehrheitsver­ hältnisse in der Nationalversammlung zu respektieren und in der Innenpolitik » die Regierung regieren zu lassen « (so Mitterrand). Aber beide Teile der Exeku­ tive arrangierten sich in der Weise, dass der gesamte Bereich der Innen-, Sozialund Wirtschaftspolitik weitgehend vom Regierungschef und seiner Regierung be­ stimmt wurde, während in der Außen- und Sicherheitspolitik unangefochten der Staatschef dominierte. Kein präsumtiver Präsidentschaftskandidat in seiner Rol­ le des Premierministers konnte ein Interesse daran haben, den Grundkonsens in Frage zu stellen. Letztlich hatten die vier Jahre der » Cohabitation « in der Ära Mitterrand über diese Arbeitsteilung den Charakter einer nicht allzu gravierenden Ausnahmekonstellation. Die Regel war in den ersten Dekaden der V. Republik eine insgesamt stabile Mehrheit in der Nationalversammlung für den amtieren­ den Präsidenten, so dass er bei der Verwirklichung seiner politischen Absichten nur sehr selten in Schwierigkeiten geriet. Dies änderte sich, als vorgezogene Neuwahlen Chiracs Partei und der bür­ gerlichen Koalition eine Niederlage und den Präsidenten zu einer fünfjährigen » Cohabitation « mit einer Linksregierung zwangen. Hielt sich der Staatspräsident anfänglich mit Kritik an der Politik des linken Regierungschefs zurück, so änder­ te sich dies im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2002. Nachdem sich Chirac anfänglich auf vereinzelte Kritik an der Regierungspolitik beschränkt hatte, ar­ tete die dritte » Cohabitation « zusehends in einen Dauerkonflikt zwischen den beiden höchsten politischen Repräsentanten des Landes und seit 2001 sogar in einen » Kleinkrieg « aus. Zwar konnte Chirac die innen- und wirtschaftspoliti­ schen Entscheidungen der Linksregierung nicht verhindern.9 Er kritisierte aber zunehmend ihre Maßnahmen und versuchte, sich im Vorwahlkampf durch Al­ ternativvorschläge als politische Korrektivkraft zu profilieren.10 Zwar trafen sich Präsident und Regierungschef nach wie vor zu gemeinsamen Besprechungen vor der wöchentlichen Ministerratssitzung. Bei Beamtenernennungen erzielten sie meist Einvernehmen. Aber auf dem Feld der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpo­ litik sah sich der Präsident zu heftigen medialen Angriffen auf die Regierungs­ politik veranlasst. Hatte die französische Öffentlichkeit die » Cohabitation « seit 1997 als eine besondere Form der Machtbalance zwischen rechtem Staatspräsi­

Wahlen, Wahlfinanzierung, Stellvertretung 27

denten und linker Regierungsmehrheit begrüßt, veränderte sich diese Einstellung im Laufe der Legislaturperiode. Chiracs Taktik bei zunehmenden Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt, als » Aufklärer « (so seine Worte) bzw. als » Heckenschüt­ ze « (so seine Kritiker) aufzutreten, schien Früchte zu tragen. Das Wahlergebnis vom Frühjahr 2002 bestätigte schließlich die Ablehnung einer Fortdauer der » Co­ habitation «.11 Letztlich überstand das Präsidentenamt die fünfjährige Periode der » Cohabitation « trotz zahlreicher Spannungen unbeschadet.12 Beide Seiten respek­ tierten – selbstverständlich – die verfassungsmäßig bestimmte Machtverteilung: Während in der Innen- und Wirtschaftspolitik die Richtlinienkompetenz auf den Regierungschef überging, blieb Chiracs Dominanz in der Außen- und Verteidi­ gungspolitik unangetastet. Zwar ist jede » Cohabitation « durch Konflikte zwischen den höchsten Amtsträgern geprägt, aber sie ist gleichfalls auch durch den Zwang zum Kompromiss gekennzeichnet. Strukturell war bislang jede » Cohabitation « durch zwei Komponenten charakterisiert: (fortwährende) Konflikte und (zwang­ hafte) Suche nach Kompromissen. Die Angleichung der Amtsdauer des Staatsprä­ sidenten an diejenige der Nationalversammlung dürfte die Wahrscheinlichkeit zu­ künftiger » Cohabitations « reduziert haben, Verfügt der Staatspräsident – wie seit 1962 mit Ausnahme der drei Phasen der » Cohabitation « geschehen – über eine loyale Mehrheit in der Nationalversamm­ lung, dominiert er den politischen Prozess bei voller Ausschöpfung seiner verfas­ sungsmäßigen Prärogativen uneingeschränkt: Regierung und Mehrheit handeln nach seinen Richtlinien. In dieser Konstellation ist er der wahre Führer der Regie­ rungsmehrheit. Sarkozys Amtszeit sowie diejenige seines Nachfolgers Hollande sind beispielhaft.

3.2 Wahlen, Wahlfinanzierung, Stellvertretung 3.2.1 Wahlverfahren Eine der bedeutendsten verfassungspolitischen Änderungen – mit ursprünglich nicht vorhersehbaren innenpolitischen Auswirkungen – für das neue Regime ging von de Gaulles überraschender Initiative aus, im Rückgriff auf Artikel 11 (Referen­ dum) den bisherigen Wahlmodus für die Präsidentschaft grundlegend umzuge­ stalten. 1958 hatten sich die Verfassungsväter der neuen Republik zunächst für die indirekte Wahl entschieden: Der Staatspräsident sollte für sieben Jahre von einem aus 81 764 Wahlmännern bestehenden Wahlkörper gewählt werden, der sich aus Abgeordneten, Senatoren, Bürgermeistern, Gemeinde- sowie Departementräten zusammensetzte. General de Gaulle nahm das Attentat rechtsradikaler Kräfte, das ihn bei Petit-

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Der Staatspräsident

Clamart am 22. August 1962 um ein Haar das Leben gekostet hätte, zum Anlass, in einer Rundfunk- und Fernsehansprache eine Revision des Präsidentenwahlmo­dus zu verkünden. Sein Hauptargument war in der These, sein Nachfolger könne nie­ mals auf das gleiche Ausmaß nationaler Unterstützung bauen, das ihm, dem Füh­ rer des Widerstandes im Zweiten Weltkrieg und » Retter der Nation «, zuteil ge­ worden sei. Dieses Defizit könne nur durch ein unmittelbares Mandat der Na­tion ausgeglichen werden. Auch sollte durch die Volkswahl verhindert werden, dass ein Politiker der » Altparteien « der IV. Republik im Gremium der über » 81 000 « in das höchste Staatsamt gewählt werden konnte. Aufgrund des durch einen Volksentscheid am 28. Oktober 1962 modifizier­ ten Artikels 6 der Verfassung wird der Staatspräsident seitdem direkt vom Volk für sieben, seit 2002 nur noch für fünf Jahre gewählt. Erreicht im ersten Wahlgang kein Kandidat die absolute Mehrheit aller abgegebenen Stimmen, so findet vier­ zehn Tage später eine Stichwahl zwischen den beiden Bestplatzierten statt. Beiden steht es dann offen, zugunsten eines anderen Bewerbers des ersten Wahlgangs zu­ rückzutreten. Gewählt ist im zweiten Wahlgang, wer die meisten Stimmen auf sich vereinigt. Dem Verfassungsrat obliegt – ebenso wie bei den Wahlen zur National­ versammlung und beim Referendum – die Aufsicht über die ordnungsgemäße Durchführung der Abstimmung. Seit der Verfassungsnovellierung vom Juli 2008 ist nur eine einmalige Wiederwahl möglich. Eine Vereidigung des neuen Staatsoberhauptes findet nicht statt. Jeder Bewerber für das Amt muss seit 1976 von 500 Mandatsträgern aus min­ destens 30 verschiedenen Departements als Bürgen unterstützt werden. Ziel die­ ser Bestimmung ist es, aussichtslose Bewerber fernzuhalten und die Zahl der Kan­ didaten zu begrenzen. Ob dies gelungen ist, scheint eher fraglich. Nach Einführung dieser Bestim­ mung – vorher waren nur einhundert Bürgen erforderlich – bewarben sich zuneh­ mend mehr Kandidaten um das höchste Staatsamt. Im Jahre 2012 waren es nicht weniger als zehn Kandidaten. Von diesen blieben allein fünf unter fünf Prozent der abgegebenen Stimmen. Weitere Einschränkungen enthalten die verschiedenen Wahlbestimmungen13 hinsichtlich der Nationalität und des Alters. Danach dürfen sich nur französische Staatsbürger, die mindestens 18 Jahre alt sind, bewerben; Kandidaten müssen ihrer Verpflichtung zur Musterung für den Militärdienst nachgekommen sein – eine Be­ stimmung, die durch die Schaffung einer Berufsarmee obsolet geworden ist.

Wahlen, Wahlfinanzierung, Stellvertretung 29

3.2.2 Wahlkampf‌finanzierung Nachdem Ende der achtziger Jahre etliche Skandale bei der Wahlkampf‌fi nanzie­ rung, u. a. auch bei der Mitterrands, aufgedeckt worden waren, trat der Staatschef die Flucht nach vorn an und forderte den damaligen gaullistischen Premiermi­ nister Chirac zur Vorlage einer Parteienfinanzierungsregelung auf, die auch eine Wahlkampfkostenerstattung vorsehen sollte. Als Resultat der Verhandlungen des Regierungschefs mit allen Parteiführungen wurden im März 1988 zwei Gesetze verabschiedet, die sich u. a. auch mit der Finanzierung der Präsidentschaftswah­ len befassen.14 Die Ausgaben für jeden Bewerber wurden 2012 auf 16,85 Millionen Euro be­ grenzt, für die Kandidaten des zweiten Wahlgangs jeweils auf maximal 21,509 Mil­ lionen Euro. Jeder Kandidat erhält eine Wahlkampfkostenerstattung in Höhe von fünf Pro­ zent der Ausgabenhöchstgrenze. Bekommt ein Kandidat mehr als fünf Prozent der abgegebenen Stimmen, erhöht sich diese Summe auf 47,5 Prozent der Höchstgren­ ze.15 Im Jahre 2012 erhielten fünf Bewerber eine Erstattung in Höhe von 800 422 Euro, fünf weitere eine von acht Millionen Euro. Den Teilnehmern an der Stich­ wahl wurden jeweils 10,7 Millionen Euro überwiesen. Wegen Unregelmäßigkeiten seiner Wahlkampfabrechnung wurde Sarkozy aber im April 2015 diese Erstattung vom Verfassungsrat verweigert. Auf jeden Fall dürfen die Erstattungen die Ausgaben eines Kandidaten nicht übersteigen. Eventuelle Zuschüsse der politischen Parteien bleiben bei der staatli­ chen Zuwendung unberücksichtigt. Daneben sehen die Gesetze eine Rechenschaftspflicht über alle Einnahmen und Ausgaben vor, die im Journal Officiel veröffentlicht werden. Der Verfassungs­ rat überwacht die Wahlkampfabrechnungen. (Seit einer erneuten Änderung im Jahr 1993 sind auch die Spendernamen zu publizieren.16) Zuwendungen von Un­ ternehmen sind seit 1995 verboten; diejenigen natürlicher Personen an Kandida­ ten dürfen 4 600 Euro nicht übersteigen. Hat ein Kandidat mehr Geld ausgegeben, als gesetzlich erlaubt ist, erhält er keine Rückerstattung. Doch anders als bei den Parlamentswahlen, wo die Überschreitung des Ausgabenplafonds zum Verlust des Mandats führt, bleibt der gewählte Präsident auch dann im Amt, wenn er gegen das Gesetz zur Ausgabenbegrenzung verstoßen haben sollte. Außerdem müssen alle Bewerber um das Amt einer Kommission für die finan­ zielle Transparenz des politischen Lebens eine Erklärung über ihr Vermögen vor­ legen, die im Falle der Wahl im Amtsblatt veröffentlicht wird. Am Ende der Amts­ zeit ist dem Verfassungsrat ebenfalls eine Vermögenserklärung zu unterbreiten. Jedem Kandidaten stehen – neben einer kostenfreien Postwurfsendung an alle Haushalte sowie einigen Plakatanschlägen – eine zweistündige Fernseh- sowie

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Der Staatspräsident

eine ebenfalls zweistündige Rundfunksendung zu, es sei denn, die für die Wahl bestellte » nationale Kontrollkommission « sowie der für den audiovisuellen Be­ reich zuständige Hohe Rat (Conseil supérieur de l’audiovisuel) reduzieren diese Sendezeiten wegen einer Vielzahl von Bewerbungen. Privat finanzierte Werbung in den öffentlichen und privaten Medien, auch Anzeigen oder Telefonanrufe sind (seit 1990) drei Monate vor der Wahl verboten.17 Um eine Beeinflussung der Wähler durch Umfragen zu vermeiden, sind Mei­ nungsumfragen eine Woche vor jedem Wahlgang ebenso untersagt wie die Be­ kanntgabe von Teilwahlergebnissen vor Schließung der Wahllokale im Mutter­ land.18 Trotz solcher Regelungen, die für eine annähernde » Waffengleichheit « der Kandidaten sorgen sollen, haben » etablierte « Politiker immer noch genügend Möglichkeiten, von ihrem Amtsbonus zu profitieren und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit bis zur Wahl auf sich zu lenken. Dennoch ist es der neuen Regelung der Wahlkampf‌fi nanzierung und den verschiedenen anderen Bestimmungen zu verdanken, dass die Durchführung und die Finanzierung der Wahlkämpf nun­ mehr erheblich transparenter geworden sind als früher.

3.2.3 Kandidaten Bei allen bisherigen Wahlen gelang es keinem Kandidaten, bereits im ersten Wahl­ gang die erforderliche Mehrheit zu erringen. Die größte Enttäuschung erfuhr zweifellos Charles de Gaulle, als er 1965 trotz aller Rücktrittsdrohungen gezwun­ gen wurde, sich in einer Stichwahl dem gemeinsamen Kandidaten der Vereinigten Linken, François Mitterrand, zu stellen. Die überraschende Niederlage des Generals im ersten Wahlgang (nur 44,65 Prozent votierten für ihn) ging vor allem auf die Kandidaturen des Zentrumspo­ litikers Jean Lecanuet und des Rechtsradikalen Jean-Louis Tixier-Vignancour zu­ rück. Der » Zweikampf « zwischen dem Amtsinhaber und dem Kandidaten der Linken förderte eine Polarisierung des politischen Lebens, die bis heute fortdauert. Denn Mitterrands Niederlage im zweiten Wahlgang legte den Grundstein für die zukünftige Kooperation der Linksparteien, die sich 1972 im Gemeinsamen Regie­ rungsprogramm und 1974 bei den Präsidentschaftswahlen in einem nahezu greif­ baren Wahlsieg manifestierte. Bei der Präsidentenwahl vom Juni 1969, nach de Gaulles Rücktritt als Reak­tion auf das Scheitern eines Referendums, verkörperte das gaullistische Erbe Georges Pompidou. Die Linke vermochte sich aufgrund verschiedener innerparteilicher Querelen nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen. Sozialisten und Kommunisten nominierten eigene Bewerber. Pompidous gefährlichster Rivale war der liberale Senatspräsident Alain Poher. Nach de Gaulles Rücktritt auch Inte­

Wahlen, Wahlfinanzierung, Stellvertretung 31

rimspräsident konnte er anfänglich auf die Unterstützung des gesamten Zentrums bauen. Da kurz vor dem zweiten Wahlgang ein Teil des oppositionellen Zentrums eine Wahlempfehlung für Georges Pompidou aussprach und die Kommunistische Partei gleichzeitig ihre Wähler zur Stimmenthaltung aufforderte, war die Wahl von de Gaulles langjährigem Premierminister zum neuen Staatsoberhaupt gesichert. Als Pompidou 1974 im Amt verstarb, fanden zum zweiten Mal vorgezogene Wahlen für das höchste Staatsamt statt. Sie gipfelten im zweiten Wahlgang in einem erneuten Duell zwischen dem Kandidaten der Linken und dem der Rech­ ten. Während sich die Linke schon zu Beginn der Wahlkampagne nahezu geschlos­ sen hinter François Mitterrand scharte, wurde die Rechte durch Diadochenkämpfe schwer erschüttert. Altgaullist Jacques Chaban-Delmas und der langjährige libe­ rale Wirtschafts- und Finanzminister Valéry Giscard d’Estaing machten sich die bürgerlichen Stimmen streitig. Nach seinem schlechten Abschneiden verzichtete der gaullistische Bewerber zugunsten des liberal-konservativen Kandidaten, der gleichzeitig die Unterstützung des gesamten Zentrums gewinnen konnte. Giscard d’Estaing entschied die Stichwahl gegen den sozialistischen Mitbewerber mit le­ diglich etwa 425 000 Stimmen Unterschied für sich (im Mutterland betrug die Differenz nur 344 399 Stimmen). Die beiden Wahlgänge bestärkten die Polarisierung in der französischen Wäh­ lerschaft. Sie sollte sich nach Ablauf der siebenjährigen Amtsperiode von Valéry Giscard d’Estaing im Frühjahr 1981 bestätigen. 1981 trat auch die Linke mit zwei Hauptbewerbern an, mit François Mitterrand und mit dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Georges Marchais. Giscard d’Estaings schärfster Wider­ sacher im eigenen Lager war der Präsident der gaullistischen Partei, Jacques Chirac. Zwar lag der Amtsinhaber im ersten Wahlgang in Führung; er erzielte aber mit nur 28,5 Prozent ein enttäuschendes Ergebnis. Mitterrand war es dagegen schon zu diesem Zeitpunkt gelungen, einen Teil der kommunistischen Wähler­ schaft für die Stichwahl auf seine Seite zu ziehen. Sein klarer Sieg im zweiten Wahlgang beruht zum einen auf der weitgehend ge­ schlossenen Stimmübertragung aller links orientierten Wähler auf » ihren « Kandi­ daten, aber auch auf der Unterstützung durch Umweltschützer und einem Teil der gaullistischen Wähler. Demgegenüber konnte Giscard d’Estaing trotz eines – eher halbherzigen – Aufrufes von Jacques Chirac zu seinen Gunsten nicht alle bürgerli­ chen Wähler hinter sich vereinen. Mit dem Erfolg des Kandidaten der Linken trat ein Machtwechsel ein, der auch jene Kräfte mit den Institutionen der V. Republik versöhnte, die ihnen bislang eher ablehnend oder zumindest kritisch gegenübergestanden hatten. Nach Ablauf seiner ersten Amtszeit kandidierte Mitterrand im April 1988 er­ neut für das höchste Staatsamt. Zum ersten Mal konkurrierten der Staatspräsident und der amtierende Premierminister um die Gunst der Wahlberechtigten.

32

Der Staatspräsident

Während der Staatspräsident auf das Wählerpotential der übrigen Linkskandi­ daten hoffen durfte, musste Premierminister Chirac an einer ähnlichen Übertra­ gung im » Lager « der Rechten zweifeln. Diese Einschätzung bestätigte sich im zweiten Wahlgang. Ein erheblicher Teil der Wähler des liberalen ehemaligen Premierministers Raymond Barre (1976 – 1981), aber auch der Anhänger des Führers des rechtsradikalen Front National, Jean-Marie Le Pen, entschieden sich in der Stichwahl für den Kandidaten der Lin­ ken. Mitterrands moderates Wahlprogramm, das sich krass von Chiracs ultra-libe­ raler Regierungspolitik der vergangenen zwei Jahre und von seinem Liberalis­ mus-Bekenntnis abhob, bot insbesondere kleinbürgerlichen, von der Rezession stark betroffenen Wählern, die im ersten Wahlgang ihre Stimme dem rechtsextre­ men Le Pen gegeben hatten, eine positivere Perspektive als Chiracs liberales Wirt­ schaftsprogramm. Der Staatspräsident profitierte davon, dass er sich während der » Cohabitation « aus der Tagespolitik herausgehalten hatte. Jetzt galt er als Garant für die weitere Bewahrung sozialer Besitzstände. Bei der Wahl im Frühjahr 1995 wiederholte sich das » Schisma « der Rechtspar­ teien. Neben dem » natürlichen « Kandidaten Jacques Chirac bewarb sich überra­ schend auch Premierminister Balladur, der hauptsächlich von Teilen der liberalkonservativen UDF unterstützt wurde. Diese von den meisten Anhängern Chiracs als Verrat am bisherigen Parteipräsidenten gebrandmarkte Kandidatur musste konsequenterweise die Wahlchancen des gaullistischen Bewerbers stark beein­ trächtigen. Für die Sozialisten, die nach dem überraschenden Kandidaturverzicht des Präsidenten der Europäischen Kommission, Jacques Delors, kaum noch eine Mög­ lichkeit sahen, den Wahlausgang in ihrem Sinne beeinflussen zu können, kan­ didierte schließlich der ehemalige Parteivorsitzende Lionel Jospin. Er wurde von der PS-Parteiführung nur halbherzig unterstützt. Es gelang ihm aber aufgrund der Konkurrenzbewerbungen im rechten Lager, bereits im ersten Wahlgang die meisten Stimmen zu erhalten. Jacques Chirac folgte zwar an zweiter Stelle, schnitt aber insofern enttäuschend ab, als er nur zwei Prozentpunkte vor seinem » Partei­ freund « Balladur lag. Ein weiteres Merkmal dieser ersten » Runde « war das erneut gute Abschneiden des Kandidaten des rechtspopulistischen Front National, Jean-Marie Le Pen. Ge­ genüber 1988 verbesserte dieser sein Ergebnis leicht auf 15 Prozent. Die Stichwahl entschied der langjährige Parteichef der Gaullisten klar zu sei­ nen Gunsten, da es ihm gelungen war, nicht nur die allermeisten Wähler der bür­ gerlichen Mitkonkurrenten für sich zu gewinnen, sondern auch – trotz Le Pens Aufruf zur Wahlenthaltung – fast 40 Prozent von dessen Wählern. Lionel Jospin ging – trotz seiner Niederlage – insofern gestärkt aus der Wahl­ entscheidung hervor, als er sich nunmehr als der unbestrittene Führer der linken

Wahlen, Wahlfinanzierung, Stellvertretung 33

Wählerschaft betrachten durfte. Die wenig später erfolgte Übernahme des höchs­ ten Parteiamtes der PS war aufgrund dieses Ergebnisses eine logische Konse­quenz. Beide Politiker waren auch sieben Jahre später die wichtigsten Bewerber um das höchste Staatsamt. Während Staatspräsident Chirac durch den Verlust der Parlamentsmehrheit in Folge der vorgezogenen Neuwahlen von 1997 und durch Vorwürfe illegaler Parteienfinanzierung noch aus seiner Amtszeit als Pariser Bür­ germeister deutlich geschwächt in das » Rennen « um die auf fünf Jahre verkürzte Amtszeit ging, schienen die Umfrageergebnisse für Premierminister Jospin einen Wahlsieg nicht auszuschließen. Das Ergebnis des ersten Wahlgangs am 21. April 2002 kam indessen einem politischen Erdbeben gleich: Hinter Jacques Chirac, der mit 19,9 Prozent der ab­ gegebenen Stimmen noch hinter seinem Ergebnis von 1995 zurückfiel und den niedrigsten Zustimmungswert für einen amtierenden Staatschef erhielt, ging als Zweiter völlig überraschend mit 16,9 Prozent der Kandidat der extremen Rech­ ten, Jean-Marie Le Pen, durchs Ziel. Lionel Jospin schied mit 16,2 Prozent aus. Die Stichwahl entschied 14 Tage später Jacques Chirac nach einer beispiellosen, von nahezu allen gewichtigen Parteien und Interessenverbänden unterstützten Kam­ pagne mit 82,2 Prozent für sich. Le Pen konnte sein Wählerpotential nicht weiter ausbauen, verbuchte aber für sich und seine politische Bewegung einen nicht zu unterschätzenden » moralischen « Erfolg. Jospins überraschende Niederlage im ersten Wahlgang war neben der gerin­ gen Wahlbeteiligung und einer zunehmende Unzufriedenheit mit der Sozialpoli­ tik seiner Regierung vor allem auf die Zersplitterung des linken Lagers zurückzu­ führen. Dem Premierminister war es nicht gelungen, seine Regierungsmehrheit, die » Gauche plurielle «, hinter sich als alleinigen Linkskandidaten zu einen. Nicht nur Lionel Jospin, der noch am Abend des ersten Wahlgangs sämtliche politischen Ämter niederlegte, sondern die gesamte Linke war nach dieser Niederlage trauma­ tisiert. Amtsinhaber Chirac dagegen gelang es, den Stichentscheid zu einer Volks­ abstimmung für die republikanischen und demokratischen Werte zu stilisieren. Vor allem die Mobilisierung junger Wähler ließ die Stimmenthaltungen auf 21,3 Prozent sinken und verschaffte dem amtierenden Präsidenten – nach dem Beinahe-Fiasko des ersten Wahlgangs – nunmehr ein Traumergebnis. Dieses darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein Großteil der Wäh­ ler im zweiten Wahlgang nicht die Person Chirac » legitimierte «, sondern einen erneuten Stimmenerfolg des rechtsextremen Kandidaten verhindern wollte. Bei­ de Bewerber für die Stichwahl erzielten gemeinsam nur ein gutes Drittel der ab­ gegebenen Stimmen bzw. nur ein Viertel der Wahlberechtigten – der niedrigste Wert im ersten Wahlgang seit der Direktwahl des Staatsoberhauptes für die Stich­ entscheid-Platzierten. Im Jahr 2007 erhielten Nicolas Sarkozy und die Sozialis­ tin Ségolène Royal im ersten Wahlgang über die Hälfte der abgegebenen Stimmen.

34

Der Staatspräsident

Zählt man den Drittplatzierten, den Vorsitzenden der christdemokratisch-libera­ len Splitterpartei MoDem, François Bayrou, hinzu, votierten zwei Drittel der Wäh­ ler für die Spitzenbewerber (siehe Tabelle 1). Sarkozy und Royal verkörperten einen Generationswechsel. Sie hatten den » Vorwahlkampf « in ihren Parteien gegen den Widerstand mächtiger Parteigran­ den für sich entschieden.19 So wurde Nicolas Sarkozy als Vorsitzender der konser­ vativen Union pour un Mouvement Populaire per Mitgliederentscheid gekürt.20 Ségolène Royal setzte sich im November 2006 gegen zwei Mitbewerber mit 60 Prozent im Mitgliederentscheid ihrer sozialistischen Partei durch. Beide Bewerber, zum ersten Mal Kandidaten für das höchste Staatsamt, erzielten bei einer hohen Wahl­ beteiligung von über 80 Prozent 31,18 Prozent bzw. 25,87 Prozent; auffallend ist das relativ gute Abschneiden des Drittplazierten mit 18,57 Prozent (siehe Tabelle 1). Konnte Sarkozy die Stimmen der bürgerlichen Wähler, aber auch eines hohen Prozentsatzes der Le Pen-Wähler gewinnen, und überzeugte er durch einen bes­ tens organisierten Wahlkampf sowie ein Programm, das u. a. traditionelle Werte, innere Sicherheit, Reformen und Steuersenkungen versprach, fand seine Gegen­ kandidatin nur eine begrenzte Unterstützung durch ihre Partei. Ihr Programm er­ schien auch vielen Wählern zu vage, da die Finanzierung ihrer sozialpolitischen Vorschläge, vor allem Maßnahmen gegen die hohe Arbeitslosigkeit und zur Besei­ tigung sozialer Ungleichheiten, offen blieb. Folglich gewann Sarkozy den zweiten Wahlgang überzeugend. Fünf Jahre später war der amtierende Staatschef der » natürliche Kandidat « seiner Partei. Sein sozialistischer Gegenkandidat setzte sich schließlich in einem Mitgliederentscheid mit » offenen Vorwahlen « durch. An diesen konnten sich Wähler beteiligen, die sich schriftlich zu den » sozialistischen Werten « bekannten. Zum ersten Mal in der Geschichte der V. Republik setzte sich im ersten Wahlgang nicht der amtierende Staatschef durch sondern bei insgesamt zehn Bewerbern der wichtigste Linkskandidat (siehe Tabelle 1). Da u. a. der Kandidat der linkssozia­ listischen Front de Gauche, Jean-Luc Mélenchon, aber auch der christlich-libera­ le » Dauerbewerber « Bayrou ihre Wähler zur Stimmabgabe für den sozialistischen Kandidaten aufriefen und die neue Vorsitzende des Front National, Marine Le Pen, ihren Anhängern Stimmenthaltung empfahl, siegte François Hollande in der Stich­ wahl mit 51,64 Prozent der Stimmen. Hatte der amtierende Staatschef im Wahlkampf für eine Fortführung sei­ ner – wegen der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise aber wenig erfolgrei­ chen – Reformpolitik zur Stabilisierung der Staatsfinanzen plädiert und gleich­ zeitig die Front National-Wähler mit seinem Bekenntnis zur » nationalen Identität und Werten « umworben21, bekannte sich sein Herausforderer zu einer angebots­ orientierten Wirtschaftspolitik.22 U. a. sollten Sarkozys Reformen rückgängig ge­ macht, sozialpolitische Maßnahmen ausgeweitet und zur Reduzierung der hohen

Wahlen, Wahlfinanzierung, Stellvertretung 35

Arbeitslosigkeit Einstellungen im Staatsdienst gefördert werden. Aber nur ein Jahr nach Öffnen des sozialen Füllhorns und drastischer Steuererhöhungen für Unter­ nehmen, Spitzeneinkommen, Vermögen und Kapitaleinkünften23 zum Abbau der staatlichen Neuverschuldung sah sich der neue Staatspräsident vor dem Hinter­ grund einer stark angestiegenen Arbeitslosigkeit, besonders bei jungen Menschen, und deutlicher Warnungen der Europäischen Kommission nach Einhaltung der sogenannten Maastricht-Kriterien zur Sicherung der französischen Budget-Stabi­ lität, zu einem Kurswechsel genötigt.24 Die 1962 unter verfassungsrechtlich problematischen Umständen vom ersten Staatschef der V. Republik durchgesetzte Volkswahl des Staatsoberhaupts wird von niemandem mehr in Frage gestellt. Die meist hohen Stimmbeteiligungen bei allen Wahlgängen unterstreichen die Akzeptanz mit dieser Art direkter Fühlung­ nahme zwischen den Bürgern und ihrem im Rahmen eines einzigen Wahlkreises, nämlich Frankreich, bestellten obersten Repräsentanten. Darüber hinaus hat seit 1962 die Direktwahl den Präsidenten an die Spitze der präsidentiellen und der par­ lamentarischen Mehrheit gesetzt, sofern letztere unter Berufung auf den höchsten Amtsinhaber die Mehrheit der Wähler gewinnen kann; kurz: Der Staatspräsident ist – außer während der » Cohabitation « – der wahre Chef der Mehrheit ! Letztlich trat im Frühjahr 2002 auch dieser Effekt ein. Durch Parlamentsbe­ schluss fand die Wahl zur Nationalversammlung nach der Präsidentschaftswahl statt mit der Folge, dass Jacques Chirac seinen Wahlerfolg auf die neu gegründete Union pour la Majorité Présidentielle (die spätere Union pour le Mouvement Po­ pulaire) übertrug. Erneut hatte sich die Tatsache bewahrheitet, dass ein erfolgreicher Bewerber um die Präsidentschaft bei kurz darauf stattfindenden Parlamentswahlen auf eine entsprechende Mehrheit im Palais Bourbon hoffen darf. Genau diese Perspektive hatte die Linke zu dem Vorschlag zur Amtsreduzierung und zur Umdrehung der Wahltermine bewogen – allerdings mit einem völlig unerwarteten Ergebnis. Un­ beantwortet blieb in der politischen Diskussion im Herbst 2000 die Frage, ob es bei vorzeitigen Parlamentswahlen in Folge einer Auflösung letztlich nicht doch erneut zu einer » Cohabitation « kommen könne.25 Zum Stellvertreter des Präsidenten » im Falle der Vakanz der Präsidentschaft aus welchem Grund auch immer « oder im Falle seiner » Verhinderung «, die vom Verfassungsrat auf Antrag der Regierung festgestellt werden muss, ist nach Arti­ kel 7 bis zum Zeitpunkt der Wahl eines neuen Präsidenten der Präsident des Se­ nats. Nach de Gaulles Rücktritt übte Senatspräsident Alain Poher 1969 als Inte­ rimspräsident – ebenso wie fünf Jahre später nach Pompidous Tod – für maximal 35 Tage die Funktionen des Staatspräsidenten aus. Sollte auch der Senatspräsident » an der Ausübung dieses Amtes gehindert sein «, so werden seine Amtsgeschäfte von der Regierung wahrgenommen.

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Der Staatspräsident

Tabelle 1  Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen 1965 – 2012 1. Wahlgang Stimmberechtigte

2. Wahlgang abg. Stimmen %

5. Dez. 1965

Stimmberechtigte

abg. Stimmen %

19. Dez. 1965

Wahlberechtigte

28 910 581

28 902 704

Wähler

24 502 916

24 371 647

gültige Stimmen

24 254 554

Charles de Gaulle

10 828 523

44,6

13 083 699

55,2

François Mitterrand

7 694 003

31,8

10 619 735

44,8

Jean Lecanuet

3 777 119

15,6

Jean-L. Tixier-Vignancour

100

1 260 208

5,2

Pierre Marcilhacy

415 018

5,2

Marcel Barbu

279 683

1,1

1. Juni 1969

23 704 434

100

15. Juni 1969

Wahlberechtigte

29 513 361

29 500 334

Wähler

22 899 034

20 311 287

gültige Stimmen

22 603 998

Georges Pompidou

10 051 816

44,5

11 064 371

58,2

Alain Poher

5 268 651

23,3

7 943 118

41,8

Jacques Duclos

4 808 285

21,3

Gaston Defferre

100

1 133 222

3,6

Michel Rocard

816 471

3,6

Louis Ducatel

286 447

1,3

Alain Krivine

239 106

1

5. Mai 1974

19 007 489

100

19. Mai 1974

Wahlberechtigte

30 602 953

30 600 775

Wähler

25 775 743

26 724 595

gültige Stimmen

25 538 636

François Mitterrand

11 044 373

43,2

12 971 604

49,2

Valéry Giscard d’Estaing

8 326 774

32,6

13 396 203

50,8

Jacques Chaban-Delmas

3 857 728

15,1

Jean Royer

810 540

3,2

Arlette Laguiller

595 247

2,3

René Dumont

337 800

1,3

Jean-Marie Le Pen

190 921

0,7

Emile Muller

176 279

0,7

Alain Krivine

93 990

0,4

Bertrand Renouvin

43 722

0,2

Jean-Claude Sebag

42 007

0,2

Guy Heraud

19 255

0,1

100

26 367 807

100

Wahlen, Wahlfinanzierung, Stellvertretung 37

1. Wahlgang Stimmberechtigte

2. Wahlgang abg. Stimmen %

26. April 1981

Stimmberechtigte

abg. Stimmen %

10. Mai 1981

Wahlberechtigte

36 398 859

36 398 762

Wähler

29 516 082

31 249 552

gültige Stimmen

29 038 117

100

30 350 568

100

Valéry Giscard d’Estaing

8 222 432

28,5

14 642 306

48,2

François Mitterrand

7 505 960

25,9

15 708 262

51,8

Jacques Chirac

5 225 848

18

Georges Marchais

4 456 922

15,3

Brice Lalonde

1 126 254

3,9

Arlette Laguiller

668 057

2,3

Michel Crépeau

642 847

2,2

Michel Debré

481 821

1,7

Marie-France Garaud

386 623

1,3

Huguette Bouchardeau

321 353

1,1

24. April 1988

8. Mai 1988

Wahlberechtigte

38 179 118

38 168 869

Wähler

31 059 300

32 085 071

gültige Stimmen

30 436 744

30 923 249

100

François Mitterrand

10 381 332

34,1

16 704 279

54

Jacques Chirac

6 075 160

19,9

14 218 970

46

Raymond Barre

5 035 144

16,5

Jean-Marie Le Pen

4 376 742

14,4

André Lajoinie

2 056 261

6,8

Antoine Waechter

1 149 897

3,8

Pierre Juquin

639 133

2,1

Arlette Laguiller

606 201

2

Pierre Boussel

116 874

0,4

100

23. April 1995

7. Mai 1995

Wahlberechtigte

39 992 912

39 985 925

Wähler

31 345 794

31 852 695

gültige Stimmen

30 462 633

100

29 957 677

100

Lionel Jospin

7 097 786

23,3

14 191 019

47,37

Jacques Chirac

6 348 375

20,84

15 766 658

52,63

Edouard Balladur

5 658 796

18,58

Jean-Marie Le Pen

4 570 838

15

Robert Hue

2 632 460

8,64

Arlette Laguiller

1 615 552

5,3

Philippe de Villiers

1 443 186

4,74

Dominique Voynet

1 010 681

3,32

84 959

0,28

Jacques Cheminade

38

Der Staatspräsident

1. Wahlgang Stimmberechtigte

2. Wahlgang abg. Stimmen %

21. April 2002

Stimmberechtigte

abg. Stimmen %

5. Mai 2002

Wahlberechtigte

41 194 689

Wähler

29 495 733

100 71,6

32 832 295

79,7

gültige Stimmen

28 498 471

69,2

31 062 988

75,4

25 537 956

82,21

5 525 032

17,79

François Bayrou, UDF

1 949 436

6,84

Olivier Besancenot, LCR

1 210 694

4,25

339 142

1,19

Christine Boutin, FRS

Jean-Pierre Chevènement, MDC 1 518 901 Jacques Chirac, UMP Daniel Gluckstein, PDT

100

5,33

5 666 440

19,88

132 702

0,47

Robert Hue, PCF

960 757

3,37

Lionel Jospin, PS

4 610 749

16,18

Arlette Laguiller, LO

1 630 244

5,72

Jean-Marie Le Pen, FN

4 805 307

16,86

535 911

1,88

Alain Madelin, DL

1 113 709

3,91

Noël Mamère, Verts

1 495.901

5,25

Bruno Mégret, MNR

667 123

2,34

Jean Saint-Josse, CPNT

1 204 863

4,23

Christiane Taubira, PRG

660 576

2,32

Corinne Lepage, CAP

41 191 169

22. April 2007

6. Mai 2007

Wahlberechtigte

44 472 834

Wähler

37 254 242

100 83,77

44 472 733 37 342 004

100 78,7

Gültige Stimmen

36 719 396

98,56

35 773 578

74,1

Nicolas Sarkozy, UMP

11 448 663

31,18

18 983 138

53,06

Ségolène Royal, PS

9 500 112

25,87

16 790 440

46,94

François Bayrou, MoDem

6 820 119

18,57

Jean Marie Le Pen, FN

3 834 530

10,44

Olivier Besancenot, LCR

1 498 581

4,08

Philippe de Villiers, MPF

818 407

2,23

Marie Georges Buffet, PCF

707 268

1,93

Dominique Voynet, Verts

576 666

1,57

Arlette Laguillier, LO

487 857

1,33

José Bové

483 008

1,32

Fréderic Nihous, CPNT

420 645

1,15

Gérard Schivardi, PdT

123 540

0,34

Wahlen, Wahlfinanzierung, Stellvertretung 39

1. Wahlgang Stimmberechtigte

2. Wahlgang abg. Stimmen %

22. April 2012

Stimmberechtigte

abg. Stimmen %

6. Mai 2012

Wahlberechtigte

46 028 542

Wähler

36 584 339

79,5

37 016 309

80,35

Gültige Stimmen

35 883 209

78

34 861 353

75,7

François Hollande, PS

10 272 705

28,6

18 000 668

51,64

Nicolas Sarkozy, UMP

9 753 629

27,2

16 860 685

48,36

Marine Le Pen, FN

6 421 426

17,9

Jean-Luc Mélenchon, FDG

3 984 822

11,1

François Bayrou, MoDem

3 275 122

9,1

Eva Joly, Les Verts

828 345

2,3

N. Dupont-Aignan, DLR

643 907

1,8

Philippe Poutou, NPA

411 160

1,15

Nathalie Arthaud, LO

202 548

0,56

89 546

0,25

Jacques Cheminade, SP

100

46 066 307

100

Legende: CAP: Citoyenneté action participation, CPNT: Chasse, pêche, nature, tradition, DL: Démocratie libérale, DLR: Débout la République, FDG: Front de gauche, FRS: Forum des républicains, LCR: Ligue communiste révolutionnaire, LO: Lutte Ouvrière, MDC: Mouvement des citoyens, MNR: Mouvement national républicain, MoDem: Mouvement démocrate, NPA: Nouveau Parti Anticapitaliste, PDT: Parti des travailleurs, PS: Parti socialiste, PRG: Parti radical de gauche, SP: Solidarité et Progrès, UMP: Union pour un Mouvement Populaire Quelle: Le Figaro – hors série: La présidentielle qui fait trembler la Ve République, S. 114, für 2007: Dokumente 3/Juni 2007, S. 9, für 2012: www.interieur.gouv.fr/Elections/Les resutats/Presidentielles (Aufruf: 25. 9. 2015)

40

Der Staatspräsident

3.3 Die Machtbefugnisse des Staatspräsidenten Traditionsgemäß unterliegen die französischen Präsidenten keiner politischen Verantwortlichkeit. Nur im Fall » einer Pflichtverletzung, die offensichtlich unvereinbar mit der Ausübung des Amtes ist « kann er nach dem 2007 neugefassten Artikel 68 an­ geklagt werden. Eine solche Amtspflichtsverletzung, bislang noch nie gefordert, wird vom Parlament als Hoher Gerichtshof erhoben. Beide Häuser des Parlaments müssen eine Amtsenthebung mit Zweidrittelmehrheit der Mitglieder beschließen. Da der Gebrauch dieses rechtlichen Instruments, das hauptsächlich als politischer Angriff gegen das Staatsoberhaupt zu werten wäre, wenig wahrscheinlich ist, ist der Präsident faktisch unantastbar, solange er im Amt ist. Nach einer Verfassungs­ änderung vom 23. 2. 2007 kann ein Präsident einen Monat nach seinem Ausschei­ den aus dem Amt für Handlungen, die noch vor seiner Amtszeit liegen, vor einem ordentlichen Gericht angeklagt werden. So wurde Ex-Staatschef Chirac im De­ zember 2011 wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten (Scheinarbeitsverhältnisse im Pariser Rathaus) während seiner Tätigkeit als Bürgermeister zu einer Bewäh­ rungsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Prozess und Urteil, das Chirac schließlich u. a. auch wegen seiner angegriffenen Gesundheit annahm, galten als Sensation. Noch nie in der Nachkriegsgeschichte hatte sich ein ehemaliges Staatsoberhaupt einem Gerichtsverfahren stellen müssen. Die politische Verantwortung des Präsidenten beschränkt sich auf die Gegen­ zeichnung bestimmter Handlungen durch den Premier oder den zuständigen Mi­ nister. Die Verfassung unterscheidet zwischen den Befugnissen, die der Staatspräsi­ dent allein wahrnimmt, und jenen, die er gemeinsam mit der Regierung ausübt. Zur ersten Gruppe gehören insbesondere die Bestellung des Regierungschefs, die Auflösung der Nationalversammlung, die Anberaumung eines Referendums, die Anwendung des Notstandsartikels sowie das Recht, Botschaften an das Parla­ ment zu richten bzw. seit 2008 vor ihm eine Erklärung abzugeben, drei der neun Verfassungsrichter – darunter den Präsidenten – zu ernennen und gegebenen­ falls den Verfassungsrat anzurufen. Diesen Prärogativen hinzuzurechnen sind der Vorsitz im Ministerrat, in den interministeriellen Sitzungen (» Conseils intermi­ nistériels «) und in den für die nationale Verteidigung vorgesehenen Gremien wie z. B. im Verteidigungsrat. Außerdem ist der Präsident allein berechtigt, auf den » Atomknopf « zu drücken. Alle anderen wichtigen Amtshandlungen des Staatspräsidenten bedürfen der Zustimmung des Premierministers oder der ganzen Regierung. Dies gilt insbe­ sondere für das Übersenden eines Gesetzes zur erneuten Beratung in der Natio­ nalversammlung, für die Einberufung des Parlaments zu Sondersitzungen, für die

Die Machtbefugnisse des Staatspräsidenten 41

Unterzeichnung der Gesetze sowie für Dekrete und die Ernennung der hohen Be­ amten. Das Gleiche gilt auch für die Ernennung und Entlassung der Minister und Staatssekretäre. Andererseits ist bei zahlreichen Amtshandlungen die Regierung auf die Zu­ sammenarbeit mit dem Präsidenten angewiesen. Der Wechsel der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse berührt selbstver­ ständlich die Machtstellung des Präsidenten in erheblichem Maße. Vergleichsweise einfach und reibungslos gestaltete sich seine Amtsführung, wenn seine Anhänger in der Nationalversammlung die Mehrheitsfraktion oder eine entsprechende Ko­ alition bildeten. Sie wurde jedoch schwierig, wenn auf Ad-hoc-Mehrheiten (etwa die Minderheitskabinette der 9. Legislaturperiode) oder auf » Coha­bitation «-Zwän­ ge Rücksicht zu nehmen war. Aber selbst dann wurden höchstens einige präsidiale Gestaltungsmöglichkeiten geschmälert, nicht aber die beherrschende Position im politischen System beseitigt.26 Zwar reduzierten die Wähler 1986, 1993 und erneut 1997 die Macht des Staatsoberhaupts auf das verfassungsmäßig festgelegte Mi­ nimum. Aber trotz dieser partiellen Machtverschiebung vom Elysée-Palast zum Sitz des Regierungschefs, dem Hôtel Matignon, ist der Staatspräsident in dieser Konstellation nicht auf die Rolle des bloßen Repräsentanten und obersten Staats­ notars beschränkt. Er kann weiterhin seine Funktion als » Schiedsrichter « wahr­ nehmen. Insofern haben die Phasen der » Cohabitation « nicht nur die Flexibi­ lität und Anpassungsfähigkeit der Verfassung unter Beweis gestellt, sondern sie zeigen dar­über hinaus das Funktionieren der von den Verfassungsvätern seiner­ zeit intendierten Gewichtsverteilung zwischen den Staatsorganen. Dass die große Verfassungsreform vom 23. Juli 2008 einige seiner Prärogativen » eingehegt « hat, ändert, wie noch zu zeigen ist, nichts an der Tatsache, dass nach wie vor der Staats­ präsident der » Kapitän « des Staatsschiffes ist.27 Abgesehen von den relativ kurzen » Cohabitation «-Phasen legt der Staatschef die Richtlinien der Politik fest. Der Re­ gierung obliegt ihre Umsetzung mit Unterstützung der Parlamentsmehrheit. Nach den Wahlen von 1986, 1993 und 1997, die zunächst Mitterrand, dann Chirac mit dem Verlust » ihrer « Parlamentsmehrheit in eine » Cohabitation « zwan­ gen, stand dagegen für jeweils zwei bzw. fünf Jahre der Verfassungstext im Vor­ dergrund, der von einem Mindestmaß an Kooperation zwischen Präsident und Premierminister bzw. der Parlamentsmehrheit ausgeht. Andernfalls bestand und besteht die Gefahr einer Blockierung der doppelköpfigen Exekutive und damit einer Lähmung der Regierungstätigkeit. Im Vorfeld des Präsidentschaftswahl­ kampfes 2002 schien sich eine solche abzuzeichnen, als Staatschef Chirac zwar nicht die Amtshandlungen der Regierung blockierte, aber keine Gelegenheit ver­ streichen ließ, diese in der Öffentlichkeit heftig zu kritisieren.

42

Der Staatspräsident

3.3.1 Die Bestellung des Premierministers » Die Wahl, wer Hausherr im Hôtel Matignon wird, bleibt bis zum letzten Moment das Geheimnis des Königs. Selbst in Zeiten der › Cohabitation ‹ verfügt der Staats­ präsident über einen gewissen Spielraum. « Mit diesen Worten beschrieb Jean Massot28 treffend die bisherige Prozedur bei der Ernennung der 19 Premierminis­ ter seit Bestehen der V. Republik. So verkündete tatsächlich François Mitterrand vor den Parlamentswahlen im Frühjahr 1993, die einen klaren Sieg der Rechten er­ warten ließen, dass er keine Persönlichkeit mit dem Amt des Regierungschefs be­ auftragen würde, die der europäischen Einigung » feindlich « gesonnen sei. Dessen ungeachtet kann sich aber kein Staatschef im Falle einer gegnerischen Mehrheit gegen diese stellen. So war die Ernennung des Sozialisten Jospin 1997 aufgrund der klaren Mehrheitsverhältnisse eine reine Formsache. Der Gaullist Chirac hätte nur unter Inkaufnahme einer schweren Verfassungskrise den Führer des siegreichen Linksbündnisses zurückweisen können. Laut Artikel 8 der Verfassung obliegt die Bestellung des Premierministers aus­ schließlich dem Staatspräsidenten. Bei seiner Entscheidung ist er formal unab­ hängig; praktisch muss er jedoch den Mehrheitsverhältnissen in der Nationalver­ sammlung Rechnung tragen, obwohl diese vom Bestellungsmodus ausgeschlossen ist: eine Wahl des Regierungschefs findet nicht statt. Die Folge ist, dass der Premier­ minister sich beinahe ausschließlich – außer im Falle der » Cohabitation « – auf das Vertrauen des Präsidenten stützt. Einige Premierminister haben sich gleich­ wohl relativ viel Zeit gelassen, bevor sie die Abgeordneten um ein Vertrauensvo­ tum baten. Mitterrands drei Minderheitsregierungschefs – Michel Rocard, Edith Cresson und Pierre Bérégovoy – verzichteten wohlweislich darauf, die National­ versammlung um ihr Vertrauen zu bitten.29 Sie warteten in aller Ruhe ab, ob ein Misstrauensantrag eingebracht würde. Nach Artikel 49, Absatz 2 kann nur die ab­ solute Mehrheit der Mitglieder der Nationalversammlung den Regierungschef stürzen. Bittet dagegen der Regierungschef nach Artikel 49, Absatz 1 um das Ver­ trauen, reicht schon eine einfache Mehrheit aus, dem Premier die Zustimmung zu seinem Regierungsprogramm zu verweigern und somit seinen Rücktritt zu er­ zwingen. Im Falle fehlender oder auch nur äußerst knapper Mehrheiten und star­ ker Spannungen innerhalb einer Regierungskoalition zogen es die Premiers vor, ihr politisches Schicksal nicht mit einer Vertrauensfrage herauszufordern. Mitterrands Minderheitspremiers konnten davon ausgehen, dass eine » negative Mehr­ heit « in Form eines Misstrauensvotums, das von den Kommunisten bis hin zu den Gaullisten hätte reichen müssen, nicht zustande gekommen wäre. Raymond Barre wusste Mitte der siebziger Jahre, dass der gaullistische Koalitionspartner durch die Drohung des Staatspräsidenten, das Parlament notfalls aufzulösen, zur Koalitions­ treue gezwungen wurde.

Die Machtbefugnisse des Staatspräsidenten 43

Diese Beispiele zeigen, dass die von General de Gaulle im Sommer 1958 vor dem Beratenden Verfassungsausschuss abgegebene Erklärung, » der Premiermi­ nister ist nur dem Parlament verantwortlich, nicht jedoch dem Staatschef «30, im Verlauf der Geschichte der V. Republik ihre Gültigkeit eingebüßt hatte. Weni­ ge Jahre später betonte er selbst, dass » der Staatspräsident in der Tat der einzi­ ge ist, der die staatliche Autorität besitzt und delegiert «. Die bisherige Praxis, Re­ gierungschefs auszuwählen, bringt – außer während der » Cohabitation « – den schon mehrfach angesprochenen erforderlichen Grundkonsens zwischen den bei­ den » Köpfen « der Exekutive zum Ausdruck. Ohne diesen Konsens nähme das Verfassungsgefüge Schaden und könnte ein Staatspräsident seine Kompetenzen nicht voll entfalten. Für Jacques Chirac, der als Premierminister unter Präsident Giscard d’Estaing amtierte, war der Staatschef verantwortlich für die » allgemeine Richtung der Poli­ tik; er muss die Direktiven für die tagtägliche Regierungstätigkeit geben. Das be­ deutet, dass es keine Diskussion geben kann über die Richtlinien, die er uns erteilt. Der Premierminister muss also per definitionem die Aktion des Präsidenten un­ terstützen, oder er muss zurücktreten. « Folglich trat Chirac 1976 als bislang ein­ ziger Regierungschef zurück, weil er mit dem Präsidenten einen Dissens in der Wirtschaftspolitik hatte. Auch François Mitterrand ließ zu Beginn seiner Amts­ zeit keinen Zweifel daran, dass er bei den so genannten großen Direktiven hande­ le oder interveniere und sich der Premier um die Probleme des täglichen Lebens zu kümmern habe. Sarkozy bezeichnete Premier Fillon sogar als seinen » Mitarbei­ ter « und machte damit in aller Öffentlichkeit deutlich, wer » Koch und Kellner « war. Manuel Valls, Hollandes zweiter Regierungschef, profitierte von den schlech­ ten Umfragewerten des Staatschefs. Mit seinen eigenen hohen Beliebtheitsgraden konnte er ein relativ beachtliches Maß an Eigenständigkeit gewinnen. Als bislang einziger Regierungschef teilte er der Öffentlichkeit am Vorabend des National­ feiertages 2015 mit, er beabsichtige bis zum Ende der Legislaturperiode im Amt zu bleiben. Ob diese » Anmaßung « mit Billigung des Staatschefs erfolgte, ist nicht bekannt. Bei der Ernennung gibt, außer bei einer » Cohabitaion «, die weitgehende Übereinstimmung beider Amtsinhaber in den wichtigen Bereichen der Innenund Außenpolitik den Ausschlag, so dass das von der Verfassung geforderte Maß an gegenseitiger Kooperationsbereitschaft gewährleistet war. Mittlerweile hat sich die Tatsache eingebürgert, dass nicht nur die » Cohabitation «-Premierminister die Abgeordneten » um die Zustimmung zu ihrer Politik « bitten, sondern auch » nor­ male « Regierungschefs. Unter den Kriterien für die Auswahl der bisherigen Premierminister, ragen die folgenden heraus:

44

Der Staatspräsident

■■ Schon de Gaulle machte deutlich, dass der Premierminister nicht aus der Na­ tionalversammlung hervorzugehen hat. So hielten es auch einige seiner Nach­ folger. Weder Raymond Barre 1976 noch Edith Cresson 1991 waren bei ihrer Ernennung Mitglieder der Nationalversammlung bzw. sie hatten ihr Abgeord­ netenmandat schon bei der Übernahme eines Regierungsamtes in Beachtung des Inkompatibilitätsgebotes niederlegen müssen. Jean-Pierre Raffarin, kurz­ fristig Minister für Mittelstand und Handel, war bei seiner Ernennung Senator und Präsident der Region Poitou-Charentes. Sein Nachfolger und Vertrauter von Staatschef Chirac, Außenminister Dominique de Villepin, hatte sich noch nie um ein Mandat beworben. ■■ 16 Premierminister übernahmen das Amt des Regierungschefs als Minister. Erfahrung in der Leitung von Ministerien, häufig in Schlüsselressorts, ist eine wichtige Voraussetzung für die Ernennung zum Regierungschef. So leitete bei­ spielsweise Manuel Valls das höchst einflussreiche Innenministerium und er­ warb eine Reputation als » starker Mann «. ■■ Ein neu gewählter Präsident ernennt in der Regel eine Persönlichkeit, die ihm eine möglichst breite Basis im Parlament sichert (so Jacques Chaban-Delmas 1969 und Jacques Chirac 1974) oder welche die einzelnen Strömungen inner­ halb der Regierungspartei am ehesten zu integrieren wissen (so Pierre Mauroy 1981). Rocards Ernennung spiegelte Mitterrands Wunsch wider, die Basis der Linksregierung im Jahre 1988 zur Zentrumspartei hin zu erweitern. Raffarin verdankte seine Ernennung zum einen der regionalen Verwurzelung als Prä­ sident einer eher ländlich geprägten westfranzösischen Region, zum anderen seiner Eigenschaft als Vizepräsident der Démocratie Libérale, einer Partei, die kurz nach der Präsidentenwahl 2002 mit der gaullistischen UMP fusioniert hatte. Folglich verkörperte Raffarin sowohl das » regionale Element «, das von Chirac in Abkehr vom bisherigen » Technokratenstil « seines ersten (geschei­ terten) Premierministers bewusst gefördert wurde, als auch eine Strömung der neu gegründeten konservativen Sammlungsbewegung. Hollandes erster Regierungschef, Jean-Marc Ayrault, gehörte dem gemäßigten Flügel der Par­ ti Socialiste an. Er galt als » Moderator « zwischen den Parteiflügeln. Hätte Hollande  –  wie zunächst vermutet wurde – die Parteichefin Martine Aubry aus­ gewählt, seine Gegnerin bei den parteiinternen Vorwahlen, hätte er sich für einen linken Politikkurs entschieden. Der langjährige Fraktionschef Ayrault galt als Indiz für eine eher technokratische Regierung. Nach der Niederlage bei den Kommunalwahlen am 30. März 2014 erklärte Ayrault seinen Rücktritt. Manuel Valls wurde sein Nachfolger. ■■ Die Bedeutung des persönlichen Vertrauensverhältnisses zwischen Staats- und Regierungschef zeigen die Beispiele der Premiers Michel Debré (1959), Maurice Couve de Murville (1968), Laurent Fabius (1984), Pierre Bérégovoy (1992) und Alain Juppé (1995).

Die Machtbefugnisse des Staatspräsidenten 45

■■ Allerdings wurden auch nicht selten Persönlichkeiten mit der Kabinettsbil­ dung beauftragt, die im politischen Geschehen eher Randfiguren waren. So gelang es de Gaulle mühelos – gestützt auf sein Prestige – » seiner « Parlaments­ koalition 1962 den parteilosen Georges Pompidou bzw. sechs Jahre später sei­ nen langjährigen Außenminister Couve de Murville aufzuzwingen. Beide hat­ ten bei Amtsantritt keinen großen Einfluss innerhalb der gaullistischen Partei. Der parteilose Raymond Barre wurde der Öffentlichkeit von Staatspräsi­ dent Giscard d’Estaing 1976 als der » beste französische Wirtschaftsexperte « vorgestellt. In all diesen Fällen hofften Präsidenten auch auf ihnen » gefügige « Premierminister. Während dies auf Messmer zutraf, erwies sich Barre als eigen­williger als ursprünglich vermutet. Laurent Fabius, » Frankreichs jüngster Premier « (so Mitterrand), sollte 1984 den wirtschaftspolitischen Kurswechsel der Linksregierung auch personell verdeutlichen. Ebenso hatte die Ernennung von Pierre Bérégovoy 1992 hauptsächlich ökonomische Gründe: Der Finanzund Wirtschaftsminister sollte das Vertrauen in die Wirtschaftspolitik des lin­ ken Minderheitskabinetts wiederherstellen. Es hatte durch eine betont » so­ zialistische « Politik seiner Vorgängerin Edith Cresson Schaden erlitten. Chirac hielt auch nach dem Wahldebakel der konservativen Sammlungsbewegung bei den Regional- und wenig später stattfindenden Europawahlen im Frühjahr 2004 an Jean-Pierre Raffarin fest, um das austarierte Verhältnis der verschiede­ nen Strömungen innerhalb der Partei nicht zu » stören «. Das fehlgeschlagene Referendum über den EU-Vertrag im Mai 2005 machte dann aber einen Wech­ sel im Hôtel Matignon unausweichlich. Manuel Valls, vor dem Hintergrund der desolaten Wirtschafts- und Finanzdaten sowie nach Niederlagen bei den Kommunalwahlen Hollandes » letztes Aufgebot «, profitierte bei seiner Ernen­ nung im Jahr 2014 von seiner harten Linie bei der Kriminalitätsbekämpfung. In all diesen Fällen handelte es sich um Persönlichkeiten, auf die sich der Präsident augenscheinlich verlassen konnte. ■■ Außer Jacques Chirac und später Alain Juppé, die jeweils Präsidenten der gaul­ listischen » Union « bzw. » Bewegung « waren, sowie Lionel Jospin wurde kein Parteivorsitzender zum Regierungschef ernannt. Auf diese Weise versuchten die Staatsoberhäupter – abgesehen von der » Cohabitation « – die Abhängig­ keit von einem mit einer gewichtigen Hausmacht ausgestatteten Politiker zu vermeiden. Gleichwohl hatten weitere Regierungschefs schon einmal wichtige Parteifunktionen ausgeübt.31 ■■ Mitterrand gelang es weder 1986 noch 1993, der bürgerlichen Mehrheit einen ihr nicht genehmen Kandidaten aufzuzwingen. Allerdings hatte er unter den Bedingungen der » Cohabitation « einen gewissen Spielraum. Erst als Chirac den Parteifreund und Ex-Premier Chaban-Delmas – Mitterrands Favoriten  – zu einem Verzicht bewogen hatte, blieb dem Staatspräsidenten letztlich keine

46

Der Staatspräsident

andere Wahl als den gaullistischen Parteichef zu ernennen.32 Freilich war stets unbestritten, dass dem Staatschef eine Persönlichkeit, mit der er unter keinen Umständen kooperieren will, nicht aufgedrängt werden kann. Welche Charakteristika zeichnen die 19 Regierungschefs aus ? Ihr Durchschnitts­ alter bei Amtsantritt betrug fast 52 Jahre. Sie regierten in der Regel etwas über drei Jahre. Bei ihrer ersten Ernennung hatten zwölf ein Parlamentsmandat innegehabt oder dieses bei einer Berufung in ein Ministeramt aufgeben müssen.33 Bei späte­ ren Parlamentsneuwahlen bewarben sich alle (außer Edith Cresson) um einen Ab­ geordnetensitz, Georges Pompidou jedoch erst fünf Jahre später. Zwölf der 19 Pre­ mierminister kamen aus dem Kreis der Hohen Beamtenschaft. Sie waren also Mitglieder der so genannten Grands Corps. Der Universitätsprofessor und ehe­ malige Vizepräsident der Europäischen Gemeinschaften, Raymond Barre, darf diesem Kreis zugeordnet werden. Chirac wählte mit Raffarin 2002 bewusst eine Persönlichkeit, die nicht mit dem in der Öffentlichkeit weit verbreiteten Eindruck der » Technokratenarroganz « be­ lastet war. Der Sozialist Ayrault war Deutschlehrer gewesen, sein Nachfolger, der gebürtige Katalane Valls, hatte an der Sorbonne Geschichte studiert. Auffallend ist das Fehlen von Persönlichkeiten, die eine Karriere in der Privat­ wirtschaft vorzuweisen hatten. Außer Michel Debré, Jacques Chirac, Alain Juppé und Jean-Marc Ayrault über­ nahm kein ehemaliger Premierminister später ein Regierungsamt. Doch immer­ hin sieben frühere Regierungschefs bewarben sich nach ihrer Amtszeit im Hôtel Matignon um das höchste Staatsamt. Vier Premierminister waren bei ihrer Ernennung Bürgermeister von Groß­ städten: Chirac (Paris), Chaban-Delmas (Bordeaux), Mauroy (Lille) und Ayrault (Nantes). Sie behielten das Amt weiterhin bei. Liegt die Ernennung des Premierministers nach Verfassungsartikel 8 im aus­ schließlichen Ermessen des Staatspräsidenten, so hat dieser nicht das Recht, den Regierungschef zu entlassen. Reicht der Premier seinen Rücktritt nicht selber ein, hat der Präsident keine verfassungsrechtliche Möglichkeit, ihn zur Demission zu zwingen, es sei denn, er löst die Nationalversammlung auf. Dann kann ihn eine neue Mehrheit stürzen.34 Bisher gab es allerdings nie Probleme, wenn ein Staats­ präsident seinen Premierminister zum Rücktritt aufforderte. Ob die Präsidenten es bei bloßen Aufforderungen zum Rücktritt bewenden ließen oder sich vorher » rückversichert « hatten, ist offen. Es dürfte jedoch in eini­ gen Fällen zutreffen. Zwar wiesen de Gaulles frühere Premierminister das Gerücht, Pompidou habe bei seiner Bestätigung im Amt 1967 ein Rücktrittsschreiben über­ reichen müssen, in dem nur das Datum fehlte, entrüstet zurück. Verschiedene Quellen belegen ein solches Verfahren jedoch nicht nur bei Pompidou, sondern

Die Machtbefugnisse des Staatspräsidenten 47

Tabelle 2  Die Premierminister der V. Republik 1959 – 2016 Ernennung

Rücktritt

Koalition

Michel Debré (UNR)*

08. Januar 1959

14. April 1962

Gaullisten/Konserva­ tive/zeitweilig Volks­ republikaner u. a.

Georges Pompidou (UNR)

14. April 1962

10. Juli 1968

Gaullisten/Giscardianer

Maurice Couve de Murville (UDR)

10. Juli 1968

20. Juni 1969

Gaullisten/Giscardianer

Jacques Chaban-Delmas (UDR)

20. Juni 1969

05. Juli 1972

Gaullisten/Giscardianer/ rechter Zentrumsflügel

Pierre Messmer (UDR)

05. Juli 1972

27. Mai 1974

Jacques Chirac (UDR)

27. Mai 1974

25. August 1976

UDR/PR/Zentrum

Raymond Barre (parteilos)

25. August 1976

13. Mai 1981

RPR/UDF

Pierre Mauroy (PS)

21. Mai 1981

17. Juli 1984

PS/MRG/PCF

Laurent Fabius (PS)

17. Juli 1984

20. März 1986

PS/MRG

Jacques Chirac (RPR)

20. März 1986

10. Mai 1988

RPR/UDF

Michel Rocard (PS)

10. Mai 1988

15. Mai 1991

PS/MRG

Edith Cresson (PS)

15. Mai 1991

02. April 1992

Pierre Bérégovoy (PS)

02. April 1992

29. März 1993

Edouard Balladur (RPR)

29. März 1993

17. Mai 1995

RPR/UDF

Alain Juppé (RPR)

17. Mai 1995

02. Juni 1997

RPR/UDF

Lionel Jospin (PS)

02. Juni 1997

06. Mai 2002

Gauche plurielle

Jean-Pierre Raffarin (UMP)

07. Mai 2002

31. Mai 2005

UMP

Dominique de Villepin (UMP)

31. Mai 2005

15. Mai 2007

UMP

François Fillon (UMP)

17. Mai. 2007

15. Mai 2012

UMP/Nouveau Centre

Jean-Marc Ayrault (PS)

15. Mai 2012

30. März 2014

PS/Grüne/MRG

Manuel Valls (PS)

31. März 2014

PS/MRG

* Die UNR bzw. die UDR waren Vorläufer des 1976 gegründeten RPR, die UMP deren Nachfolgerin.

48

Der Staatspräsident

ebenso 1972 gegenüber Messmer und 1974 – unter Giscard d’Estaing – gegenüber Chirac.35 Auch Michel Rocard soll ein solches Dokument unterschrieben haben. Aber auch ohne solche » Blankovollmacht « beugten sich die Premierminister stets dem Willen ihres » Chefs «. Eine wichtige Funktion des Premierministers besteht auch darin besteht, den Unmut beziehungsweise die Unzufriedenheit der Wähler vom Präsidenten abzu­ lenken. Welche Gründe für die Rücktritte der Premierminister lassen sich erkennen ? ■■ Die Tradition der V. Republik verlangt das Rücktrittsangebot nach Neuwah­ len für das Amt des Staatspräsidenten36 als auch nach Neuwahlen zur Natio­ nalversammlung37. ■■ Ein Premierminister verzichtet freiwillig auf sein Amt, wie Jacques Chirac 1976, wenn es zu Unstimmigkeiten mit dem Präsidenten über die Rollenverteilung in der Exekutive kommt, oder wenn er sich, wie Pierre Mauroy, durch Ent­ scheidungen des Staatschefs desavouiert glaubt.38 ■■ Ein weiteres Kriterium ist der Mangel an Popularität. So scheiterte Edith Cres­ son 1992 u. a. an der Tatsache, dass sie in den Meinungsumfragen innerhalb kürzester Zeit zur unbeliebtesten Amtschefin überhaupt avancierte. ■■ Misserfolge bei » Nebenwahlen « (Kommunal- und Regionalwahlen) führten ebenfalls häufig zu Amtswechseln im Hôtel Matignon. ■■ Ein weiterer Grund sind politikinhaltliche Differenzen. So » entließ « de Gaulle seinen ersten Premier, Michel Debré, wegen unterschiedlicher Auffassung über den Rückzug Frankreichs aus Algerien. Im Jahre 1968 » feuerte « der General Pompidou, weil er diesen als erfolgreichen Krisenmanager stärker in der Wäh­ lergunst als sich selbst wahrnahm. Chaban-Delmas musste » gehen «, weil Staatschef Pompidou eine konserva­ tivere Wirtschafts- und Sozialpolitik bevorzugte. Michel Rocards » Öffnungs­ politik « gegenüber dem bürgerlichen Zentrum widersprach offensichtlich nach kurzer Zeit den Ansichten und Absichten Mitterrands. Folglich löste die­ ser ihn durch eine prononcierte Sozialistin ab, die jedoch ihrerseits schon elf Monate später durch den pragmatischen Wirtschafts- und Finanzminister Bérégovoy ersetzt wurde. Der Liberale Raffarin scheiterte an der Ablehnung des EU-Vertrages durch die Franzosen in Jahr 2005, der Sozialist Ayrault u. a. an verlorenen Kommunalwahlen in Jahr 2014. ■■ Die volle Länge einer Legislaturperiode schöpften bislang nur Georges Pompidou und François Fillon aus. ■■ Die Ablösung eines Premierministers etwa zur Hälfte der Wahlperiode eines Staatschefs markiert die Hoffnung auf einen pragmatischen Neustart. Präsi­ denten erhoffen sich darüber hinaus von einer » frischen Mannschaft « vielfach

Die Machtbefugnisse des Staatspräsidenten 49

die Verbesserung ihrer Popularitätskurve in den Meinungsumfragen39 – eine Erwartung, die jedoch in keinem Fall längerfristig eintraf. Nach Artikel 8 ernennt (und entlässt) der Präsident die übrigen Mitglieder der Regierung auf Vorschlag des Premierministers. In der Praxis wirkten bei den Ka­ binettsbildungen bis zum Jahre 1986 Präsident und Premierminister eng zusam­ men. Nach de Gaulles Rücktritt wurde eine zunehmende Tendenz der Präsidenten spürbar, nicht nur einige wenige bedeutsame Kabinettsposten wie diejenigen des Äußeren, der Verteidigung und der Kultur mit Vertrauten zu besetzen, sondern bei der Besetzung fast aller Ministerien Einfluss zu nehmen. In extremer Gestalt war dies bei Sarkozy der Fall. Entgegen der bisherigen Praxis hatte Regierungschef Fillon nahezu keinen Einfluss auf die Zusammensetzung seiner Regierung. Das » Schloss « legte ihm eine fertig ausgearbeitete Liste vor, die er zu akzeptieren hatte.

3.3.2 Die Auflösung der Nationalversammlung Das Recht zur Auflösung der Assemblée Nationale (Art. 12) ist ein Vorrecht des Staatspräsidenten, das in seiner Funktion als konstitutionellem Schiedsrichter begründet ist. Diese Prärogative wurde in der V. Republik bisher fünfmal ange­ wandt: 1962, 1968, 1981, 1988 und 1997. Sollte durch Artikel 12 – nach britischem Vorbild – ein Gegengewicht zur Ver­ antwortlichkeit der Regierung vor dem Parlament geschaffen werden, so mutet es bedenklich an, dass das Recht zur Auflösung ausschließlich beim Staatspräsiden­ ten liegt. Dieser muss sich zwar vorher mit dem Premier und den Präsidenten der Nationalversammlung und des Senats beraten, in seiner Entscheidung ist er je­ doch völlig unabhängig. Die einzige Einschränkung besteht darin, dass in dem Jahr, das auf solche vorgezogenen Wahlen folgt, keine erneute Auflösung erfol­ gen darf. Die Auflösungsorder vom 10. Oktober 1962 wurde von Charles de Gaulle nach dem erfolgreichen Misstrauensvotum der Opposition gegen die erste Regierung Pompidou (280 von 480 Stimmen) verfügt. Adressat des Misstrauensantrages war weniger die Regierung als der General: ein Protest gegen dessen anti-konstitutio­ nelles Vorgehen bei der Verfassungsänderung zur Direktwahl des Staatspräsiden­ ten. De Gaulle hatte bereits 1959 mehrfach mit der Parlamentsauflösung gedroht, falls die Regierung gestürzt würde. Diese Waffe hatte er aber trotz aller Spannun­ gen innerhalb der Koalition (Gaullisten, Volksrepublikaner, Konservative) be­ wusst nicht gebraucht. Beim Verfassungskonflikt des Jahres 1962 wollte er nicht so sehr die Nation zum » Richter « machen, als vielmehr eine Bestätigung seiner Po­ litik einholen und zugleich die widerspenstige Nationalversammlung disziplinie­

50

Der Staatspräsident

ren. Die schwere Staatskrise des » Pariser Mai « glaubte de Gaulle im Frühjahr 1968 nur durch einen Rückgriff auf den Verfassungsartikel 12 beenden zu können. Das Ergebnis dieses Schrittes war die größte gaullistische Parlamentsmehrheit, die je­ mals im Palais Bourbon versammelt war. Im Frühjahr 1981 und ebenfalls im Mai 1988 ging es für den neu gewählten Staatspräsidenten Mitterrand darum, sich durch eine Parlamentsauflösung die parlamentarische Mehrheit zu verschaffen, ohne die seine Wahl zum Teil wir­ kungslos geblieben wäre. Insofern spielte der Artikel 12 seit 1962 im » majoritären Parlamentarismus « (d. h. angesichts des politischen Gleichklangs von präsidia­ ler und parlamentarischer Mehrheit) eine wichtige Rolle. Die Wähler folgten 1981 Mitterrands Kalkül und verhalfen der Sozialistischen Partei zur absoluten Mehr­ heit der Sitze (283 von 491), so dass der Präsident die Realisierung seines Wahlpro­ gramms in Angriff nehmen konnte. In drei der vier Fälle respektierten die Wähler den Wunsch des Staatspräsi­ denten, ihm durch Neuwahlen eine handlungsfähige Mehrheit in der National­ versammlung zu verschaffen. Im Juni 1988 verweigerten sie jedoch – zur Überra­ schung aller Kommentatoren – der Sozialistischen Partei die absolute Mehrheit, so dass Michel Rocard wegen fehlender Partner eine Minderheitsregierung bil­ den musste. Chiracs Auflösungsorder im April 1997 war dagegen ein Novum in der Ge­ schichte der V. Republik. Indem er die Wähler – gleichsam in Form eines Volks­ entscheides – über seine Politik und diejenige seiner Regierung abstimmen ließ, setzte er ganz bewusst die eigene Autorität aufs Spiel. Die von den » leeren Wahl­ versprechen « des Präsidentschaftskandidaten tief enttäuschten Wähler erteilten diesem Manöver eine Absage. Folglich zerstob Chiracs Hoffnung, ein Jahr vor den regulären Parlamentswahlen die ergebene, disziplinierte Mehrheit zu bekommen, mit der er bis zum Ende seiner siebenjährigen Präsidentschaft ohne größere Pro­ bleme hätte regieren können. Allein Valéry Giscard d’Estaing verzichtete 1974 auf dieses Mittel, nach seiner Wahl eine Parlamentsmehrheit auf seine Person zu verpflichten. Die 1973 gebildete Regierungsmehrheit arbeitete – geringfügig ergänzt – weiter. Freilich ergaben sich daraus nach Jacques Chiracs Abschied vom Hôtel Matignon im Jahre 1976 zahl­ reiche Konflikte. Zwischen 1976 und 1981 genügte die Drohung mit einer Parla­ mentsauflösung, um Giscard d’Estaings heterogene Koalitionspartner (das gaullis­ tische RPR [Rassemblement pour la République] und die Parteienkonföderation UDF [Union pour la Démocratie Française], bestehend aus Liberalen, Zentrum und Radikalsozialisten) zusammenzuhalten. In gleicher Weise nutzte Mitterrand zwischen 1988 und 1993 sein Vorrecht, um allein mit dem Hinweis auf eine Auf­ lösungsverfügung Kommunisten und Zentrumspolitiker dazu anzuhalten, seine Minderheitskabinette zu stützen.

Die Machtbefugnisse des Staatspräsidenten 51

Im Falle der » Cohabitation « entfallen diese Kalküle. Aber sollte eine solche Regierung in der öffentlichen Meinung drastische Sympathieverluste erleiden, könnte ein Präsident jederzeit von seinem Vorrecht Gebrauch machen und mit vorgezogenen Neuwahlen versuchen, eine loyale Parlamentsmehrheit wählen zu lassen. Durch die Verkürzung der Amtszeit des Staatschefs und den ebenfalls 2002 gefassten Beschluss, die Präsidentschaftswahlen vor den Wahlen zur Nationalver­ sammlung stattfinden zu lassen, wurde die Position des Staatspräsidenten noch einmal zusätzlich gestärkt. Die Siegerkoalition weiß dann, wem sie ihre Man­date zu verdanken hat.

3.3.3 Der Rückgriff auf den Volksentscheid Nach Artikel 11 besitzt der Präsident das Recht, das Volk direkt zu einer Entschei­ dung aufzurufen. Dieser Artikel erlaubt es dem Staatschef, jeden Gesetzentwurf, der die » Organisation der öffentlichen Gewalten […] oder die Ratifizierung eines Vertrages « betrifft sowie (seit 1995) » Reformen der Wirtschafts- und Sozialpoli­ tik « beinhaltet, einem Volksentscheid zu unterwerfen, falls dies von der Regie­ rung oder von beiden Häusern des Parlaments vorgeschlagen wird. Ohne eine entsprechende Initiative der Regierung oder des Parlaments, das bisher von sei­ nem Recht allerdings noch keinen Gebrauch gemacht hat,40 kann der Präsident somit kein solches » Einigungsband zwischen Volk und Führer « (so der Polito­ loge Jacques Gicquel) herstellen. Seit Sommer 1995 besitzt das Parlament das Recht, über den Referendumstext zu debattieren. Im Grunde handelt es sich beim Plebiszit um eine Vertrauensfrage, die der Staatschef an das Volk richtet. Charles de Gaulle hatte mit allen vier von ihm ini­ tiierten Referenden (der von der Verfassung verlangte » Vorschlag « der Regierung ließ nie auf sich warten) demonstrativ sein politisches Schicksal verbunden: Drei­ mal (im Januar 1961, im April 1962 [jeweils zum politischen Schicksal Alge­riens] und im Oktober 1962 [zur Direktwahl des Staatschefs]) folgten ihm die Bürger mit großer Mehrheit. Anders endete de Gaulles letzter Volksentscheid im April 1969. In fast allen politischen Parteien (außer bei den Gaullisten) formierte sich Wi­ derstand gegen die geplante Reform des Senates, die darauf hinauslief, dieses Or­ gan der örtlichen Honoratioren aus dem politischen Leben auszuschalten. Als sein Entwurf vom Volk abgelehnt wurde, zog der Gründer der V. Republik mit seinem Rücktritt die Konsequenz. Sein Nachfolger Pompidou hat nur ein einziges Mal einen Volksentscheid an­ beraumt: Am 23. April 1972 ließ er über die Erweiterung des Gemeinsamen Mark­ tes abstimmen, und zwar in der Hoffnung, die sich anbahnende Einigung der

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Der Staatspräsident

Tabelle 3  Die Volksentscheide seit 1959 Thematik

Datum

Stimmenthaltungen einschl. ungültiger Stimmzettel in %

Ergebnis in % ja

nein

Selbstbestimmungsrecht für Algerien

08. 01. 1961

28,46

74,99

25,01

Unabhängigkeitsverträge über Algerien

08. 04. 1962

28,66

90,81

9,19

Direktwahl des Staats­präsidenten

28. 10. 1962

25,05

62,25

37,75

Reform des Senats und der Regionen

27. 04. 1969

22,06

47,59

52,41

Erweiterung des Gemeinsamen Markts

23. 04. 1972

46,75

68,32

31,68

Zukunft Neukaledoniens

06. 11. 1988

74,91

80

20

Europäische Union

20. 09. 1992

30,31

51,04

48,96

Fünfjährige Amtszeit des Staatspräsidenten

24. 09. 2000

74,7

73,3

26,7

EU-Verfassung

29. 05. 2005

32,02

45,13

54,87

Linksparteien damit zu stören. Die Kommunisten waren gegen eine solche Erwei­ terung der EG, die Sozialisten waren jedoch dafür. Dieses Referendum endete für Pompidou mit einem unvermuteten Autoritätsverlust: Zwar stimmten 68,32 Pro­ zent der Wähler für die Erweiterung der EG, aber über 46 Prozent aller Wahlbe­ rechtigten blieben den Urnen fern oder sie enthielten sich – auf Empfehlung der Sozialistischen Partei – der Stimme. Nach alledem erschien das Referendum als ein schlechtes Instrument, um das Vertrauen des Volkes in den Staatschef zu bekräftigen. Erst im Jahre 1988 fand das erste Referendum in Mitterrands vierzehnjähriger Amtszeit statt. Auf Vorschlag des Premierministers, der erstmals von sich aus ein solches Referendum initiierte, hatten die Franzosen über die Zukunft ihres Über­ seeterritoriums Neukaledonien zu befinden. Zwar sprachen sich 80 Prozent der Abstimmenden für den eine weitgehende Autonomie für die Südseeinseln vorse­ henden Text aus, aber die Zahl der Stimmenthaltungen und der ungültigen Ab­

Die Machtbefugnisse des Staatspräsidenten 53

stimmungszettel betrug 74,91 Prozent, d. h., die Regierungsposition wurde nur von 25 Prozent der Abstimmungsberechtigten gebilligt. Das Referendum war damit zwar angenommen – die Verfassung sieht keine Mindestquote vor –, das Ergebnis wurde für den sozialistischen Präsidenten und seine Regierung aber als eindeutiger Misserfolg gewertet. Auch die Befürwortung der Verträge zur Bildung der Europäischen Union, die von Mitterrand dem Volk völlig überraschend unterbreitet wurden, kann nicht als ein Sieg des Staatspräsi­ denten in dem Sinne interpretiert werden, dass die Bürger seiner Politik eindeutig zugestimmt hätten. Der von Mitterrand erwartete Popularitätsgewinn blieb aus. Zwar lag die Beteiligung im Herbst 1992 bei fast 70 Prozent; jedoch deutet die knappe Zustimmung (51,04 Prozent) eher darauf hin, dass die Bürger bei diesem Referendum mit der Politik des Präsidenten insgesamt abrechneten und ihm die Gefolgschaft beinahe verweigert hätten. Der Inhalt, über den es zu entscheiden galt, trat im September 1992 ebenso wie bei den früheren Referenden in den Hin­ tergrund. Im Unterschied zu de Gaulle hatte Mitterrand im Vorfeld der Abstim­ mung keine Rücktrittsabsichten für den Fall eines Misserfolgs erkennen lassen. Ziemlich unerwartet erlebte Chirac seine wohl größte politische Niederlage in seiner zweiten Amtszeit mit der Ablehnung des EU-Verfassungsreferendums, das er ohne zwingende Notwendigkeit anberaumt hatte. Er erhoffte sich eine Bestäti­ gung seiner Politik ganz allgemein und rechnete mit einer Spaltung der Sozialis­ ten in dieser Abstimmungsfrage. Obwohl sich die Führer der bürgerlichen Par­ teien, der PS und der Grünen eindeutig für ein » Ja « ausgesprochen hatten, gelang es einer Koalition von » PS-Dissidenten « um Laurent Fabius, Attac-Anhängern, Protestbauern, Kommunisten, Trotzkisten, Nationalkonservativen und Rechtsex­ tremen, die Furcht der Franzosen vor einer Gefährdung des Sozialstaates durch die Globalisierung und neoliberale Politikkonzepte für ihre Zwecke zu nutzen. Das negative Votum vom 29. Mai 2005 gründete sich folglich weniger auf eine Aversion gegen den Verfassungsvertrag. Vielmehr hatte es den Charakter eines massiven Protests gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik des Präsidenten und seiner Regierung. So gingen sowohl Chirac als auch » Frankreichs Stimme « in Euro­pa aus diesem » Dialog mit dem Volk « geschwächt hervor. Wie schon bei frü­ heren Referenden motivierten auch im Mai 2005 innenpolitische Probleme un­ übersehbar das Abstimmungsverhalten der Bürger. Bei allen Referenden nach Artikel 11 mit Ausnahme desjenigen über Neukale­ donien hatte das Staatsoberhaupt von sich aus die Initiative ergriffen. Das in der Verfassung vorgesehene Vorschlagsrecht der Regierung war zur bloßen Formsache verkümmert. Häufig teilte ein Staatspräsident der Bevölkerung seine Absicht in einer Fernsehansprache mit, ohne dass ein Regierungsbeschluss vorlag. Dieser wurde dann mit teilweise beachtlicher Verzögerung nachgereicht. Die Initiative zum bislang einzigen Referendum nach Artikel 89, die Verkürzung der Amtszeit

54

Der Staatspräsident

des Staatspräsidenten betreffend, ging im September 2000 von Premierminister Jospin aus. Chirac äußerte sich anfänglich ablehnend dazu, sprang dann aber, vor dem Hintergrund immer größerer öffentlicher Zustimmung, » auf den fahrenden Zug « auf. Nach dem Votum beider Parlamentskammern billigten in einem Refe­ rendum drei Viertel der Abstimmenden die Verfassungsänderung, allerdings bei hoher Abstinenz offensichtlich nicht interessierter Wahlberechtigter. Durch die Verfassungsreform vom 23. Juli 2008 wurde erstmals die Volksini­ tiative auf nationaler Ebene ermöglicht. Allerdings unterliegt diese erheblichen Restriktionen: Die Initiative bedarf der Unterzeichnung eines Fünftels der Par­ lamentsmitglieder und eines Zehntels der eingeschriebenen Wähler. Die Hürden sind so hoch, dass von einer echten Volksinitiative kaum die Rede sein kann. An­ dererseits dürften die Parlamentskammern die Befassung mit der Initia­tive kaum ablehnen.41 Erst durch das Organgesetz vom 1. August 2003, das im Zusammenhang mit der Verfassungsänderung zur Dezentralisierung erlassen wurde, sind Volksinitia­ tiven und somit Volksabstimmungen in den Gebietskörperschaften möglich.

3.3.4 Verfassungsänderungen Bis zum Sommer 2004 wurde die Verfassung der V. Republik 24 Mal geändert. Sieht man von der Einführung der Direktwahl des Staatsoberhauptes durch das Referendum nach Artikel 11 vom Oktober 1962 und von der Neuregelung der Be­ ziehungen Frankreichs zu seinen afrikanischen Besitzungen im Jahre 1960 nach einem speziellen in Artikel 85 vorgesehenen Revisionsverfahren ab, dann erfolg­ ten alle übrigen 22 nach den Bestimmungen des Revisionsartikels 89. Sie wur­ den in Versailles vom » Kongress «, d. h. von beiden Parlamentskammern in einer gemeinsamen Sitzung, verabschiedet, so auch die bislang umfangreiche Revision zur » Modernisierung « der Institutionen vom 23. Juli 2008. Verabschiedet wurde sie nur mit hauchdünner Mehrheit im » Kongress «, da insbesondere die Sozialis­ ten, ursprünglich Befürworter der Revision, nahezu geschlossen gegen den Text stimmen.42 Nach Artikel 89 können der Staatspräsident ebenso wie die Mitglieder des Par­ laments, die von diesem Recht bislang noch keinen Gebrauch gemacht haben, die Initiative ergreifen. Der Staatschef ist jedoch formell an den Vorschlag des Pre­ mierministers gebunden. Allerdings ist er nicht verpflichtet, diesem zu folgen. Auch kann der Präsident auf eine Einberufung des Kongresses verzichten, sollte die dort erforderliche Dreifünftelmehrheit unsicher sein – so Georges Pompidou im Jahr 1973. Auch Hollande verzichtete im Frühjahr 2016 bei dem geplanten Ent­ zug der Staatsangehörigkeit wegen fehlender Mehrheit auf die Einberufung.

Die Machtbefugnisse des Staatspräsidenten 55

Beide Häuser des Parlaments müssen zunächst einen Revisionsentwurf in gleichlautender Fassung verabschieden. Während Änderungsvorschläge von Sei­ ten der Parlamentarier obligatorisch dem Volk zur Entscheidung vorgelegt wer­ den müssen, steht es dem Staatschef bei Änderungsentwürfen frei, den Revisions­ text entweder dem zum » Kongress « einberufenen Parlament zu übersenden, das ihn mit einer Dreifünftelmehrheit verabschieden muss, oder ihn den Wählern als Volksentscheid zu unterbreiten. Welchen Weg er beschreitet, ist allein seine Sache. Er ist auch nicht verpflichtet, einen solchen vom Parlament verabschiedeten Ände­ rungstext dem » Kongress « vorzulegen oder darüber ein Referendum abzuhalten. Die wichtigsten Verfassungsänderungen betrafen das Recht für je 60 Abgeord­ nete oder Senatoren, den Verfassungsrat anzurufen, die Abschaffung der Todes­ strafe, die Reduzierung der präsidialen Amtszeit und die Verfassungsreform vom 23. Juli 2008. Hinzu kommt die Volkswahl des Staatspräsidenten, die nach Artikel 11 vom Volk 1962 gutgeheißen wurde.

3.3.5 Notstandsbefugnisse Artikel 16, der » Notstandsartikel « der Verfassung, verleiht dem Staatspräsiden­ ten in Ausnahmesituationen außerordentliche Befugnisse. Wenn er den Notstand proklamiert, ist seine Macht verfassungsmäßig unbegrenzt. Voraussetzung dafür ist, dass » die Institutionen der Republik, die Unabhängigkeit der Nation, die In­ tegrität ihres Territoriums oder die Ausführung ihrer internationalen Verpflich­ tungen in einer schweren und unmittelbaren Weise bedroht sind und das regu­ läre Funktionieren der öffentlichen verfassungsmäßigen Gewalten unterbrochen ist «. Über diesen Tatbestand entscheidet der Präsident nach Konsultation des Premiers, der Präsidenten beider Kammern und des Verfassungsrates. Die Ent­ scheidung liegt aber letztlich bei ihm allein. Zwar sollen die zu ergreifenden Maß­ nahmen, die er der Nation mitteilen muss, » vom Willen durchdrungen sein, den verfassungsmäßigen öffentlichen Gewalten in kürzester Frist die Mittel zur Erfül­ lung ihrer Aufgaben zu verschaffen «. Auch darf die Nationalversammlung nicht aufgelöst werden. Aber einen verfassungsrechtlichen Schutz gegen einen präsi­ dialen Machtmissbrauch, etwa durch Suspension der Grund- und Bürgerrechte, gab es letztlich nicht, eine » eingebaute Bremse «, welche die Aufhebung der Not­ standsmaßnahmen zwingend bewirkt, ebenso wenig. Auch das Parlament bildete kein Gegengewicht. Erst die Verfassungsreform vom Juli 2008 hegte die präsiden­ tiellen Machtbefugnisse ein Stück weit ein: Nach 30 Tagen kann der Verfassungs­ rat von den Kammerpräsidenten oder 60 Parlamentariern angerufen werden, um die ergriffenen Maßnahmen zu beurteilen. Von sich aus darf das Verfassungsge­ richt nach 60 Tagen diesbezüglich tätig werden.

56

Der Staatspräsident

De Gaulle betonte bei den Verfassungsberatungen, nur außergewöhnliche Fäl­ le könnten die Anwendung des Artikels 16 rechtfertigen. Tatsächlich wandte er am 23. April 1961 beim Putsch einiger Generale in Algier den Notstandsartikel unter Umständen an, die dies nicht unbedingt notwendig erscheinen ließen. Das Funktionieren der verfassungsmäßigen Organe in Paris, woran man bei der Ab­ fassung des Notstandsartikels hauptsächlich gedacht hatte, war nicht in Frage ge­ stellt. Außerdem wäre es sicherlich, wie beim so genannten Barrikadenaufstand in Algier am 24. Januar 1960, ausreichend gewesen, das Parlament um Sondervoll­ machten zu bitten. Andererseits bestand die Gefahr, dass Aufständische, die be­ reits Korsika besetzt hatten, auch im Mutterland militärische Operationen durch­ führen könnten. Die Kritik konzentrierte sich deshalb vor allem auf den Termin der Beendi­ gung des Ausnahmezustandes. Dieser blieb, nachdem die Ordnung in Algier schon nach wenigen Tagen wiederhergestellt worden war, bis Ende September 1961 in Kraft. Manche Bestimmungen galten sogar bis Juli 1962. Dieses Beispiel zeigt die beträchtliche Ermessensfreiheit, die dem Staatsoberhaupt bei der Inter­ pretation der Verfassungsformulierung » in kürzester Frist « zugebilligt ist. Seit 2008 hat der Staatschef als Oberbefehlshaber Auslandseinsätze der Armee innerhalb von drei Tagen dem Parlament anzuzeigen. Dauert der Einsatz länger als vier Monate, haben die Kammern dies zu genehmigen.

3.4 Kontakte zum Parlament und zum Verfassungsrat In drei weiteren Bereichen ist es dem Staatschef ebenfalls erlaubt, in eigener Machtkompetenz zu handeln: Erstens kann er Botschaften an das Parlament rich­ ten; zweitens darf er dort eine Erklärung abgeben, ohne an der dortigen Ausspra­ che teilzunehmen. Drittens besitzt er die Möglichkeit, sich an den Verfassungsrat zu wenden. Der erste Fall erlaubt es dem Staatschef, die Parlamentarier über » sein « Regie­ rungsprogramm oder über außenpolitische Maßnahmen wie den Einsatz der Ar­ mee zu informieren. Bis 2011 sandten alle Präsidenten 19 Mal eine solche Botschaft ans Parlament.43 Nicolas Sarkozy nutzte am 22. Juni 2009 erstmals das im Jahr 2008 etablierte Recht. Er sprach vor den in Versailles versammelten über 900 Par­ lamentariern über geplante Maßnahmen zur Überwindung der Wirtschafts- und Finanzkrise. Auch kann der Staatschef laut Artikel 10, Absatz 2 vor der Unter­ zeichnung eines Gesetzes das Parlament um die erneute Beratung des ganzen Tex­ tes oder einzelner Artikel bitten. Bislang machten lediglich Mitterrand und Chirac – insgesamt dreimal – von diesem Recht Gebrauch.44 Außerordentliche Parlamentssitzungen auf Verlangen des Premierministers

Kontakte zum Parlament und zum Verfassungsrat 57

oder einer Mehrheit der Abgeordneten müssen vom Staatspräsidenten eröffnet und geschlossen werden. In der Regel gibt er dem Antrag statt. Offiziell verkehrt der Staatspräsident mit dem Parlament durch Botschaften, die vom Kammerpräsidenten verlesen werden. Eine anschließende Debatte ist nicht vorgesehen. Aus historischen Gründen stand ihm ein Rederecht dort nicht zu. Die französischen Staatschefs machten von ihrem Recht unterschiedlich häu­ fig Gebrauch. So verkündeten Giscard d’Estaing bzw. Mitterrand mit ihren » Bot­ schaften « vom Mai 1974 und vom Juli 1981 vor dem Parlament und damit vor der Öffentlichkeit letztlich ihr Regierungsprogramm. Beider Amtsverständnis fand hierbei im Sinne einer präsidialen Gestaltung der politischen Richtlinien einen präzisen Ausdruck. Entsprechend hatte auch Mitterrands zweite Botschaft, vom 8. April 1986, nach der Bildung der Regierung Chirac, den Charakter einer » Coha­ bitation «-Charta (Jean Massot). Seit Juli 2008 kann der Staatschef nach Artikel 18, Absatz 2 – wie erwähnt – vor beiden Häusern des Parlaments das Wort ergreifen; eine anschließende Aussprache kann nur in seiner Abwesenheit stattfinden. Artikel 54 der Verfassung gestattet es dem Präsidenten, den Verfassungsrat zur Begutachtung eines internationalen Vertrages anzurufen. Diese Möglichkeit ha­ ben die Staatsoberhäupter bislang fünfmal genutzt: 1976 handelte es sich um die Direktwahl zum Europäischen Parlament, 1985 um ein Zusatzprotokoll zur Euro­ päischen Menschenrechtskonvention, 1992 um die so genannten Maastricht-Ver­ träge sowie 1997 um den Vertrag von Amsterdam. Während in den beiden ersten Fällen die Verfassungsrichter erklärten, dass die Verträge keine verfassungswid­ rigen Klauseln enthielten, befanden sie im dritten und vierten Fall, die europä­ ischen Verträge dürften erst nach einer Verfassungsänderung ratifiziert werden.45 Eine weitere Anrufung des Verfassungsgerichts durch Präsident und Premiermi­ nister hatte den 1998 von Frankreich unterzeichneten Vertrag zur Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofes zur Aburteilung von Kriegsverbrechern und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Gegenstand. Auch in diesem Fall hielt der Verfassungsrat eine Ergänzung der Verfassung für erforderlich, die schließlich zur Einfügung eines neuen Artikels 53-2 führte. Vom Recht nach Artikel 61, wonach der Präsident Gesetze vor ihrer Verkün­ dung dem Verfassungsrat unterbreiten kann, hat bislang erstmals François Hol­ lande Gebrauch gemacht. Er bat im Sommer 2015 den Verfassungsrat um eine Begutachtung des Gesetzes über die Geheimdienste. Auf diese Weise sollte sicher­ gestellt werden, dass die neuen Regelungen nicht die Persönlichkeitsrechte der Franzosen einschränken. Das Verfassungsgericht befand, das neue Gesetz wider­ spreche nicht der Verfassung. Das Recht des Staatschefs, nicht nur drei der neun Verfassungsrichter, son­ dern auch den Präsidenten dieses Verfassungsgerichtshofes zu ernennen, kann bei der Entscheidungsfindung des Verfassungsrats gegebenenfalls von Bedeutung

58

Der Staatspräsident

sein. Bei Stimmengleichheit zählt dessen Stimme doppelt. So haben die Staats­ chefs nicht gezögert, dieses Amt mit ihnen besonders verbundenen Persönlich­ keiten zu betrauen. Seit 2008 ist das Ernennungsrecht des Staatsoberhauptes an die Zustimmung der betreffenden Parlamentskommission gebunden.

3.5 Die » Domaine réservé « Zeigen die Ereignisse in den Jahren der » Cohabitation «, dass sich in der Innenpo­ litik die Machtverhältnisse – verfassungskonform, aber entgegen der bisherigen Verfassungspraxis – zugunsten des Regierungschefs und seiner Minister verscho­ ben haben, so ist die Dominanz des Staatspräsidenten in der Außen- und Vertei­ digungspolitik seit der Amtszeit de Gaulles uneingeschränkt erhalten geblieben. Gemeinhin wird dieser Bereich als so genannte » Domaine réservé « des Staats­ oberhauptes bezeichnet – im Übrigen ein der Verfassung fremder, vom dama­ ligen Präsidenten der Nationalversammlung, Jacques Chaban-Delmas, auf dem gaullistischen Parteikongress 1959 erstmals formulierter Begriff. Obwohl sich alle Staatspräsidenten gegen die Verwendung dieses Begriffes gewehrt haben, da die Verfassung dem Staatschef in Artikel 5 solche Vorrechte ausdrücklich einräume,46 bürgerte sich die Praxis ein, damit denjenigen Bereich der Politik zu bezeichnen, der ausschließlich dem Staatspräsidenten vorbehalten ist. Als oberstem Repräsen­ tanten der Nation wird ihm in Form eines parteiübergreifenden Verfassungskon­ senses zugestanden, in der Außenpolitik eine herausgehobene Rolle zu spielen.47 Nach Artikel 5 ist der Staatspräsident » Garant der nationalen Unabhängig­ keit, der Integrität des Staatsgebietes «; auch wacht er über die Einhaltung der aus­ wärtigen Verträge. Er führt die Verhandlungen über die Verträge und » ratifiziert sie « (Art. 52). Er ist der Oberbefehlshaber der Streitkräfte und führt den Vorsitz in den höchsten Verteidigungsgremien (Art. 15). Demgegenüber » bestimmt und lei­ tet die Regierung die Politik der Nation « (Art. 20), d. h. auch die Außen- und Ver­ teidigungspolitik. Ausdrücklich legt dieser Artikel fest, dass sie » über die bewaff­ nete Macht verfügt «. Darüber hinaus ist der Premierminister nach Artikel 21 » für die Landesverteidigung verantwortlich «. Nur in einem Punkt ist das präsidiale Vorrecht eindeutig geregelt: Nach einem Dekret des Ministerrates vom 14. Ja­nuar 1964 erteilt allein der Staatspräsident den Befehl zum Einsatz der Nuklearstreit­ kräfte. Die unklare Kompetenzabgrenzung bedingte, dass die Außen- und Verteidi­ gungspolitik im Zeichen der » Cohabitation « im Einvernehmen zwischen beiden Partnern erfolgen musste, was bei dem grundsätzlichen Konsens zwischen allen Präsidenten und ihren Regierungen in diesem Politikfeld nicht allzu schwierig war.

Die » Domaine réservé « 59

Durch das Akzeptieren der personellen Wünsche des Staatschefs bei der Be­ setzung des Außen- und Verteidigungsministeriums auch in Zeiten der » Coha­ bitation « respektierten die Regierungschefs die Dominanz des Staatschefs in der Außen- und Verteidigungspolitik. Alle Staatspräsidenten – außer während der Re­ gierungen der » Cohabitation « – besetzten diese Ministerien mit Persönlichkei­ ten ihres Vertrauens, die in einigen Fällen (z. B. Couve de Murville und Messmer) sehr lange im Amt blieben und dort auch Wechsel der Regierungschefs überdau­ erten. Bei ihrer Auswahl wurden die Premierminister häufig übergangen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Personalentscheidung des Präsidenten zu ak­ zeptieren. In Zeiten der » Cohabitation « stimmten sich beide Spitzen der Exekuti­ ve geräuschlos über die personelle Besetzung des Quai d’Orsay und des Verteidi­ gungsministeriums ab. Die von den » politischen Farben « der Regierung unabhängige enge Zusam­ menarbeit des Präsidenten mit dem Chef des Außenministeriums belegt die Tatsache, dass beide Politiker einmal in der Woche außerhalb der Ministerrats­ sitzungen miteinander konferieren.48 An diesen Gesprächen ist weder der Pre­ mierminister beteiligt, der anschließend nur informiert wird, noch werden die Gesprächsthemen vorher mit dem Hôtel Matignon festgelegt. Im Übrigen wird der Staatspräsident, der auch in Phasen der » Cohabitation « – nach anfänglichen Unstimmigkeiten – Frankreich auf internationalen Konferenzen vertrat, über alle Depeschen der Botschaften zeitgleich wie das Außenministerium und das Amt des Premierministers informiert. Fälle, in denen am Premierminister bzw. am Ministerrat » vorbei « außenpoli­ tische Entscheidungen getroffen wurden, finden sich in den Amtsperioden aller bisherigen Präsidenten. So wurden beispielsweise die Minister von de Gaulles Ent­ schluss, Frankreich aus der NATO-Militärintegration zurückzuziehen, erst drei Tage später als der amerikanische Präsident informiert. Auch de Gaulles Veto ge­ gen den Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft er­ fuhren seine Minister nicht früher als die französischen Bürger. Schon diese Beispiele dokumentieren, wie französische Präsidenten es verstan­ den haben, die auswärtige Gewalt als konkurrenzloses Handlungsfeld zu definie­ ren und entsprechend auszuüben. Daran haben auch Edouard Balladurs vorsich­ tige Emanzipationsversuche und seine Bemerkung, in der » Cohabitation « dürfe nur von einem geteilten Kompetenzbereich (» Domaine partagé «) gesprochen werden, kaum etwas geändert. Ein wesentlicher Grund für die sehr weitgehende Übereinstimmung zwischen beiden Spitzen der Exekutive in diesem Bereich dürf­ te die Kontinuität gaullistischer Außen- und Verteidigungspolitik gewesen sein, der sich der Sozialist Mitterrand ebenso wie seine Nachfolger verpflichtet fühlten. Folglich ergaben sich für den Präsidenten » in den großen Fragen […] – von geringfügigen Unterschieden abgesehen – keine Differenzen «49; d. h., auch den

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Der Staatspräsident

bürgerlichen Regierungen fiel es nicht besonders schwer, den außenpolitischen Ansichten des Staatspräsidenten zu folgen. An dieser Grundkonstellation änder­ te sich auch 1997 nichts, als Chirac zur Zusammenarbeit mit einer Linksregierung genötigt wurde. Da nahezu jeder Premierminister seit Mitte der achtziger Jah­ re – meist vergebens – das höchste Staatsamt angestrebt hatte, besaß er folglich zu Zeiten der » Cohabitation « kein Interesse an einer » Demontage « der außenpoliti­ schen Generalkompetenz des Staatschefs. Im Falle der eigenen Wahl zum Staats­ oberhaupt könnte er sich nämlich gegebenenfalls in der gleichen Situation wieder­ finden. Folglich respektierten die » Cohabitation «-Premiers die Kompetenzen des Staatschefs in diesen Bereichen. Auch gegenüber den Parlamentariern verwiesen die Präsidenten auf ihre Un­ abhängigkeit im Bereich der Außenpolitik. Chirac, der die Eröffnung von EU-Bei­ trittsverhandlung mit der Türkei befürwortete, lehnte es im Herbst 2004 strikt ab, sich beim Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs durch ein negati­ ves Votum der Nationalversammlung in dieser Frage binden zu lassen. Die Dominanz des Staatschefs lässt sich auch für die Verteidigungspolitik fest­ stellen. Die » Präsidentialisierung « der Verteidigungspolitik ist seit der Volkswahl des Staatschefs unverkennbar. Er allein verfügt als direkt gewählter Vertreter des Staates über die erforderliche Autorität, um ggf. auf den » Atomknopf « zu drücken. Mitterrand brachte diese Sichtweise auf den Punkt: » Der wichtigste Vertreter der Abschreckung ist der Staatschef, und das bin ich. « Das ganze Ausmaß der präsidialen Vorrechte im Bereich der Verteidigungspo­ litik offenbarte sich beim Einsatz französischer Truppen im Ausland. Auch in die­ sen Fällen ist stellvertretend auf Mitterrands Äußerung zu verweisen, » militärische Entscheidungen werden von mir getroffen «.50 So befahl er den Einsatz einer fran­ zösischen Division im Golfkrieg von 1991. Sein Vorgänger intervenierte militärisch in der Kongoprovinz Kolwesi, Chirac befahl 1996 die Wiederaufnahme der unter­ irdischen Atombombenversuche im Pazifik. Sarkozy intervenierte mit Luftangrif­ fen zu Gunsten der Aufständischen gegen den libyschen Diktator Gaddafi; Hollande entsandte Truppen nach Mali zur Bekämpfung islamistischer Dschihadisten und setzte die Luftwaffe gegen den sogenannten Islamischen Staat in Syrien ein. Auch die Abschaffung der Wehrpflicht im Jahr 1996 und die Re-Integration Frankreichs in die militärische Struktur der NATO 2009 gehen auf Entscheidun­ gen der Staatschefs zurück. Seit der Verfassungsreform vom Juli 2008 ist die Regierung verpflichtet, spä­ testens nach drei Tagen das Parlament über einen Truppeneinsatz zu informieren (Artikel 35). Dauert dieser länger als vier Monate, hat die Regierung die Zustim­ mung des Parlaments einzuholen. Über die nationale Verteidigungspolitik fallen Entscheidungen normalerweise im Nationalen Verteidigungs- und Sicherheitsrat (Conseil Supérieur de la Defense

Das Zusammenwirken der doppelköpfigen Exekutive 61

Nationale et de Sécurité Nationale). Ihm gehören unter dem Vorsitz des Staats­ präsidenten der Premierminister, die Minister für Inneres, Äußeres, Verteidigung und Finanzen, der Generalstabschef und die Stabschefs der Teilstreitkräfte sowie der Generalsekretär für nationale Verteidigung an. Als einziger ziviler Beamter nimmt an diesem in der Verfassung verankerten Gremium (Artikel 15) der Gene­ ralsekretär des Präsidialamtes teil. Wenn auch die Rolle des Staatspräsidenten im Gesamtkomplex der militär­ politischen Beschlüsse die entscheidende ist – in » Cohabitation «-Zeiten mit ge­ wissen Einschränkungen –, so beruht Frankreichs Verteidigungspolitik letztlich auf einer grundlegenden Übereinstimmung zwischen beiden Polen der Exekutive. Zwar verfügt der Staatschef über einen eigenen Generalstab. Bei seinen Entschei­ dungen ist er aber auf die technische Infrastruktur des Generalsekretariats für na­ tionale Verteidigung angewiesen. Dieses Sekretariat ist dem Amt des Premiermi­ nisters und nicht dem Elysée-Palast angegliedert.51 Dass sich die Amtsinhaber des höchsten Staatsamtes der V. Republik nicht nur Fragen der Militär- und Außenpolitik sowie (vor allem unter de Gaulle) kolonia­ len Problemen intensiv widmeten, wird in den folgenden Kapiteln noch häufig angesprochen werden. Seit Georges Pompidous Amtszeit ist besonders der Bereich der Wirtschaft und Finanzen sowie der Industriepolitik zu nennen. Sozial- und Umweltprobleme wurden zunehmend Anliegen seiner Nachfolger. François Mitterrand konzentrierte seine Einflussnahme nicht nur auf die genannten Bereiche, sondern ergänzte sie in weit stärkerem Ausmaß als seine Vorgänger um kulturel­ le Aspekte. Die Realisierung der » großen Bauwerke des Herrn Staatspräsidenten « sei dafür stellvertretend genannt. Ein Premierminister unter General de Gaulle bemerkte im Jahre 1987 ironisch zu einer solchen Ausweitung präsidialer Ein­ flussnahmen, dass die Nachfolger des Generals, » um [dessen] politische Größe zu erreichen, glaubten, sich in alles einschalten zu müssen «52. Nicolas Sarkozy zöger­ te während seiner fünfjährigen » Hyperpräsidentschaft « nicht, sich in nahezu al­ les einzumischen und Premierminister Fillon auf eine Statistenrolle zu reduzieren.

3.6 Das Zusammenwirken der doppelköpfigen Exekutive Laut Artikel 9 der Verfassung führt der Staatspräsident den Vorsitz im Minister­ rat. Daran hat sich auch in den Jahren der » Cohabitation « nichts geändert. Nur in bestimmten Ausnahmefällen darf ihn der Premierminister für genau festgelegte Tagesordnungspunkte in dieser Funktion vertreten. Dies war bislang nur fünfmal wegen Erkrankungen oder Auslandsreisen des Staatschefs der Fall. Sonst wird die Tagesordnung zwischen dem Generalsekretär der Regierung und dem General­ sekretär des Präsidialamtes vereinbart. Der Staatschef billigt anschließend diese

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Der Staatspräsident

Vereinbarung für die mittwochs in seinem Amtssitz stattfindende Sitzung. Wäh­ rend in Zeiten ideologischer » Harmonie « zwischen dem Staatsoberhaupt und der Regierung nie Meinungsverschiedenheiten über die Tagesordnung auftraten, be­ durfte es in den Jahren der » Cohabitation « eines beachtlichen Maßes an Koope­ ration zwischen den beiden engsten Mitarbeitern des Staats- bzw. des Regierungs­ chefs, um zu einer einigermaßen geräuschlosen Einigung zu gelangen. Zwar hatte Mitterrand in einem Interview 1986 angemerkt, gegebenenfalls könnte er sich auch der Aufnahme eines von ihm missbilligten Gesetzentwurfs auf die Tages­ ordnung widersetzen. Ebenso wie sein Nachfolger machte er aber nie davon Ge­ brauch: Die Staatsoberhäupter respektierten den Wählerwillen und trugen somit dem Verfassungsgedanken der Zusammenarbeit zwischen den beiden Polen der Exekutive Rechnung. Sollten tatsächlich einmal gravierende Differenzen aufgetre­ ten sein, dürften sie im Vorfeld der Erstellung der Tagesordnung von den beiden Generalsekretären geregelt worden sein. Grundsätzlich hat der wöchentlich tagende Ministerrat rein notarielle Aufga­ ben. Er ist eher ein Beschlussorgan als ein debattierendes Kollegialgremium. Die Entscheidungen fallen in der Regel schon vor den regulären Kabinettssitzungen: entweder in den regelmäßigen Gesprächen zwischen Staatspräsident und Pre­ mierminister oder in interministeriellen Sitzungen, den so genannten Conseils interministériels und Conseils restreints, unter Vorsitz des Staatschefs. Es handelt sich dabei – außer bei einigen ständigen Sitzungsräten wie dem Conseil de la Dé­ fense Nationale – um Ad-hoc-Zusammenkünfte, an denen neben den beiden Spit­ zen der Exekutive die jeweils zuständigen Minister sowie die hohen Beamten teil­ nehmen. Sie erlauben es den Staatschefs, ihre Weisungen direkt den Anwesenden mitzuteilen. Die unter Sarkozy eingeführte Praxis nach Erschöpfung der Tages­ ordnung eine offene Diskussion über ein tagespolitisches Ereignis zu führen, wur­ de von seinem Nachfolger nicht fortgeführt. Jede Tagesordnung enthält drei Teile: Teil A beinhaltet die Gesetzentwürfe, Or­ donnanzen und Dekrete, Teil B die vom Ministerrat vorzunehmenden Beamten­ ernennungen und Teil C Aussprachen über Pläne für die Gesetzgebung, Diskus­ sion über die Ausführungen des Außenministers und anderer Minister. Vor jeder Ministerratssitzung besprechen sich der Staats- und der Regierungs­ chef, um letzte Details der Themen abzuklären oder auch eventuelle Meinungsun­ terschiede beizulegen. Die Sitzungen selbst vollziehen sich meistens nach einem immer gleichen » Ri­ tus «, wobei allerdings die Atmosphäre während der Jahre der ersten » Cohabita­ tion « als unterkühlt beschrieben wurde. In der Regel erläutert ein Minister seine Vorlage; anschließend bittet der Präsident um Meinungsäußerungen des Premier­ ministers und der interessierten Minister. Nur recht selten ergeben sich kontro­ verse Diskussionen, da die wichtigsten Themen schon vorher in den so genannten

Das Zusammenwirken der doppelköpfigen Exekutive 63

Conseils restreints (siehe unten) beraten wurden. Wie schon unter de Gaulle spra­ chen bzw. sprechen auch seine Nachfolger in der Regel das Schlusswort und fällen auf diese Weisen die Entscheidung. Nur ganz selten wird in den meist einstündi­ gen Sitzungen kontrovers diskutiert. Meinungsverschiedenheiten zwischen Mi­ nistern oder dem Premier und einem Minister oder gar zwischen dem Staatschef und einem Ressortchef werden im Vorfeld bereinigt. Abstimmungen finden nicht statt; die Ergebnisse werden der Öffentlichkeit meist vom Sprecher des Präsiden­ ten in Form von Kommuniques mitgeteilt. In Phasen der » Cohabitation « teilten sich die Sprecher des Präsidialamtes und der Regierung diese Aufgabe. Mitterrand und Chirac ließen auf diese Weise ihre Bedenken oder auch ihre ablehnende Hal­ tung gegenüber der Politik aus dem » anderen Lager « pu­blik werden.53 Im Gegensatz zu den Ordonnanzen und etlichen Dekreten werden die im Mi­ nisterrat beschlossenen Gesetzentwürfe nicht vom Staatspräsidenten unterzeich­ net, sondern vom Premierminister, da dieser dafür die Verantwortung vor dem Parlament zu übernehmen hat. Ist in einer » Cohabitation « der Regierungschef der Initiator des Gesetzgebungsprogramms, behielten sich die Staatspräsidenten in Zeiten ideologischer Übereinstimmung mit der Abgeordnetenmehrheit solche Initiativen häufig selbst vor. Waren unter de Gaulle häufig die auf Pressekonferen­ zen oder in Fernsehbotschaften an die Nation genannten Projekte die Richtschnur für die Gesetzgebungstätigkeit der Regierung, so vermittelten seine Nachfolger die präsidialen Weisungen an den Premierminister oder sogar an einzelne Minis­ ter zunehmend in Briefen. Häufig handelte es sich um Initiativen für die nächsten sechs Monate. Es wurden unter allen Präsidenten aber auch Fälle bekannt, in de­ nen der Staatschef die Regelung einer speziellen Angelegenheit ausdrücklich ver­ langte.54 Adressat dieser » Briefe « (so Chirac) ist der Premierminister, der die prä­ sidialen Weisungen gegebenenfalls an Minister weiterreicht. Auch sind Fälle bekannt, in denen die Präsidenten den Regierungschef gerade­ zu aufforderten, bestimmte Gesetze zu novellieren oder den Gesetzestext zwecks größerer Bürgerfreundlichkeit zu überarbeiten. Bedeutsamer als solche Einzelas­ pekte waren für die » Anleitung « der Links-Regierungen Mitterrands Wahlpro­ gramme » 110 Vorschläge « von 1981 und » Lettre à tous les Français « von 1988. In beiden Fällen machte der Staatschef auch in der Öffentlichkeit klar, dass diese Programme als Richtschnur für die kommende Regierungsarbeit zu gelten hät­ ten. Ähnlich argumentierte Chirac nach seiner Wahl und Wiederwahl hinsichtlich einer Einkommenssteuerreform. Abgesehen von den » Cohabitation «-Jahren war bislang jeder Staatspräsident die dominierende Kraft innerhalb der doppelköpfigen Exekutive. Seiner Richt­ linienkompetenz wagte sich kein Regierungschef zu widersetzen. Vielmehr be­ mühte sich jeder, den präsidialen Weisungen zu folgen. Das Maß an Gestaltungs­ spielraum, das dem Premier zur Verfügung stand, variierte unter den einzelnen

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Der Staatspräsident

Präsidenten. Offensichtlich vermochten die Premierminister unter de Gaulle und Mitterrand (hier besonders Michel Rocard) ebenso wie unter Chirac mehr Eigen­ initiativen zu entfalten als die Amtsinhaber unter Pompidou und Giscard d’Estaing. Unter Sarkozy mischte sich der Elysée-Palast ständig in alle Bereiche ein nach dem Motto, » ich entscheide, er [der Premierminister] führt aus «. So unterstellte der Staatschef seine Außenminister den Weisungen der im Elysée-Palast angesiedel­ ten außenpolitischen Abteilung. Letztlich beruht aber die Handlungsfähigkeit der Gesamtexekutive auf der Be­ reitschaft zum Kompromiss. Alle Handlungen des Präsidenten – außer den in Ab­ schnitt 3.1 genannten – bedürfen der Gegenzeichnung durch den Premierminister. Ein Zeichen an Kooperationsbereitschaft ist auch die Bereitschaft des Staatsprä­ sidenten, dem Premierminister die Abstimmung über einen Gesetzentwurf mit Hilfe der » besonderen « Vertrauensfrage nach Artikel 49, Absatz 3 der Verfassung (siehe unten) zu gestatten. Ebenso gehört die Einberufung des Parlaments zu Son­ dersitzungen auf Wunsch des Premierministers, was bislang nur ganz selten ver­ weigert wurde,55 hierher. Auch die Rückgabe eines Gesetzes ans Parlament zur erneuten Beratung (Arti­ kel 10) bedarf der Gegenzeichnung durch den Regierungschef. Bislang von Mitterrand und Chirac als einzigen nur dreimal genutzt, dürfte wegen der Unterschrift des Premierministers ein solches aufschiebendes Vetorecht im Falle einer » Coha­ bitation «-Regierung kaum anwendbar sein. Ebenfalls bedarf das Inkrafttreten der vom Parlament beschlossenen Gesetze durch den Staatspräsidenten, der dazu innerhalb von 15 Tagen verpflichtet ist (Ar­ tikel 10), der Gegenzeichnung. Kein Staatschef hat sich bislang geweigert, seine Unterschrift unter ein Gesetz zu setzen. Ganz anders verfuhr François Mitterrand jedoch bei der Unterzeichnung von Ordonnanzen und Dekreten während der ersten » Cohabitation «-Regierung un­ ter Jacques Chirac. Nach Artikel 13, Absatz 1 hat der Staatschef die vom Minister­ rat beschlossenen Ordonnanzen (Verordnungen) und Dekrete56 zu unterzeichnen, damit sie Gültigkeit erlangen. Dreimal weigerte sich Mitterrand aus politischen Gründen, die Ordonnanzen der bürgerlichen Regierung zu unterzeichnen. Nach der sofortigen Umwandlung dieser Ordonnanzen in fast wortgleiche Gesetzent­ würfe sowie nach deren Verabschiedung durch die rechte Parlamentsmehrheit zögerte der sozialistische Staatschef nicht mit seiner Unterschrift. Auf die Fra­ ge, warum er seine Unterschrift unter solche Ordonnanzen verweigerte, obwohl er annehmen konnte, dass sie in Form eines Gesetzes schließlich doch verab­ schiedet würden, gibt es mehrere Antworten: Zum einen wollte Mitterrand un­ missverständlich zum Ausdruck bringen, dass die Regierung ihn nicht als bloßen » Staatsnotar « betrachten dürfe, dem nur repräsentative und zeremonielle Aufga­ ben verblieben; zum anderen kam es ihm darauf an, seine tatsächlichen Macht­

Die » Augen und Ohren « des Präsidenten 65

kompetenzen auch bei der Realisierung des liberalen Wirtschafts- und Sozialpro­ gramms zu demonstrieren. Weitere Konfliktmöglichkeiten birgt das heikle Feld der Personalpolitik. Hat der Ministerrat die Besetzung hoher Beamten- und Offiziersposten zu beschlie­ ßen, so obliegt die Unterzeichnung und Ausfertigung der Ernennungsurkunden dem Präsidenten. Diese » gespaltene « Zuständigkeit hätte den Präsidenten durch­ aus Chancen eröffnet, den ihnen politisch nicht verbundenen Regierungen Schwierigkeiten zu bereiten. Indessen akzeptierten sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Personalvorschläge der Regierungen, während diese wiederum des Präsidenten personelle Wünsche im Außen- und Verteidigungssektor respek­ tierten. Ob der Medienvorwurf des Schacherns um hohe Beamtenpositio­nen be­ rechtigt war, mochte strittig und ebenfalls vom politischen Stilverständnis abhän­ gig sein. Seit der Verfassungsrevision von 2008 und dem verfassungsergänzenden Gesetz vom 23. 7. 2010 bedürfen Ernennungen nach Artikel 13 auch der Zustim­ mung der federführenden Parlamentskommissionen. Diese können sich mit einer Dreifünftelmehrheit der abstimmenden Mitglieder einem vom Staatspräsiden­ ten vorgelegten Personalvorschlag widersetzen. Zwar hat es bislang noch kein ablehnendes Votum gegeben. Allerdings wurde ein negatives Votum der Natio­ nalversammlung durch ein positives der Senatskommission in einem Fall ausba­ lanciert.57 Wie Mitterrand die Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Premierministern grundsätzlich beurteilte, erläuterte er mehrfach in Fernsehinterviews. Während er sein Verhältnis zu Jacques Chirac als manchmal äußerst schwierig charakteri­ sierte, lobte er Edouard Balladurs Qualitäten als Regierungschef.58 Auch Chiracs » selbstverschuldete » Cohabitation « verlief in den ersten drei Jahren weitgehend geräuschlos. Erst der beginnende Kampf um das Präsidentenamt vergiftete zu­ nehmend die Atmosphäre zwischen beiden Spitzen der Exekutive. Dennoch: Ge­ genseitige Rücksichtnahme und Respektierung der beiderseitigen Interessenlagen bestimmten auch hier die unverzichtbare Zusammenarbeit der doppelköpfigen Exekutive.

3.7 Die » Augen und Ohren « des Präsidenten Zur Wahrnehmung seiner Aufgaben verfügt das Staatsoberhaupt über einen per­ sönlichen Mitarbeiterstab von etwa 950 Angestellten unterschiedlichster Funktio­ nen. Das Jahresbudget des Elysée-Palastes belief sich 2015 auf 112,5 Millionen Euro. Die wichtigsten Mitarbeiter sind die politischen und militärischen Beamten aus den höchsten Staatskorps. Diese Gruppe umfasst etwa 50 Personen. Sie gehö­ ren zu den einflussreichsten Staatsdienern Frankreichs: Sie wirken im Generalse­

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Der Staatspräsident

kretariat des Präsidialamtes, im persönlichen Kabinett des Staatspräsidenten und in seinem persönlichen militärischen Generalstab. Die politisch bedeutsamste Einrichtung ist das Generalsekretariat des ElyséePalastes. Dieses Nervenzentrum im präsidialen Entscheidungsprozeß stand seit 1959 unter der Leitung relativ weniger Generalsekretäre. Am längsten dienten die Generalsekretäre Etienne Burin des Roziers (1962 bis 1967) und Jean-Louis Bianco (1982 bis 1991) ihren Präsidenten. Bis auf einen (Pierre Bérégovoy) gehörten alle einem der Grands Corps d’Etat (z. B. Staatsrat, Diplomatischer Dienst, Finanzin­ spektion, Rechnungshof) an. Sie wurden von ihren Stammverwaltungen für ihre Tätigkeit im Elysée-Palast beurlaubt. Jeder Präsident der V. Republik vertraute en­ gen persönlichen oder politischen Freunden dieses äußerst wichtige Amt an, das für manchen zur Zwischenstation auf dem weiteren Karriereweg wurde. Mitterrand ernannte im April 1992 seinen ersten Generalsekretär, Pierre Bérégovoy, zum Nachfolger der glücklosen Premierministerin Edith Cresson. Edouard Balladur, ein Jahr lang Generalsekretär unter Georges Pompidou, wurde 1993 auf Betreiben des Vorsitzenden der gaullistischen Partei zum Premierminister der zweiten » Co­ habitation «-Regierung ernannt. Allen Generalsekretären gemeinsam war ein besonders enges Verhältnis zum Staatschef, mit dem sie sich täglich trafen und mit dem sie alle wichtigen poli­ tischen Entscheidungen besprachen bzw. vorbereiteten. Ihre Vertrauensstellung verdankten sie entweder der Freundschaft zum » Chef « schon vor dessen Amts­ antritt, oder aber sie erwarben sich dieselbe durch ihre diskrete, loyale und ef­ fektive Arbeit wie z. B. Jean-Louis Bianco. Ihm ist es u. a. zu verdanken, dass die Zusammenarbeit zwischen Elysée-Palast und Hôtel Matignon während der ers­ ten » Cohabitation « weitgehend reibungslos verlief, nicht zuletzt deswegen, weil er aufgrund seiner Ausbildung bzw. Tätigkeit im Staatsrat Jacques Chiracs damalige engste Berater persönlich kannte. Häufig umfasste der Mitarbeiterstab auch persönliche Freunde und Familien­ mitglieder der Staatschefs. In den Jahrzehnten der V. Republik wurden die Aufgaben von Generalsekre­ tariat und persönlichem Kabinett erheblich ausgeweitet: Ursprünglich beauftragt, den Präsidenten zu informieren und seine Entscheidungen vorzubereiten, entwi­ ckelten sie sich zu Instanzen, die sich mit den Tätigkeitsfeldern sämtlicher Minis­ terien befassten. Die Referenten (Chargés de mission) sind jeweils für eines oder mehrere Ministerien zuständig; sie halten Kontakt zu den zuständigen Ministern und hohen Ministerialbeamten. Ferner lassen sie sich über laufende und geplante Vorhaben berichten und übermitteln » Anregungen « des Staatspräsidenten; außer­ dem informieren bzw. beraten sie diesen. Die für die Politik des Präsidenten » strategische Position « des Generalsekre­ tärs des Elysée-Palastes verdeutlicht der Kreis seiner Aufgaben. Nicht nur bereitet

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er zusammen mit dem Generalsekretär der Regierung die Tagesordnung für die wöchentliche Ministerratssitzung vor. Er berät den Staatschef auch in allen wich­ tigen nationalen und internationalen Fragen. Darüber hinaus hatte er – außer in Zeiten der » Cohabitation « – die Aufgabe, die von präsidialen Mitarbeitern in Ab­ stimmung mit dem zuständigen Minister ausgearbeiteten Vorschläge zu unter­ breiten; außerdem griff er gegebenenfalls – auf Verlangen des Präsidenten – in die Vorbereitung bestimmter Gesetzesvorlagen ein, um Änderungen zu erwirken oder neue Wünsche des Präsidenten berücksichtigen zu lassen. Die Aufgabe des Kabinettsdirektors und seines kleinen Mitarbeiterstabs ist es dagegen, den Elysée-Palast » zu verwalten « sowie den Tagesablauf und die öf­ fentlichen Aktivitäten des Staatspräsidenten zu koordinieren. Er ist verantwort­ lich für die Erstellung des Arbeitsprogramms, für die Reisen des Staatschefs und für den Empfang offizieller Besucher; außerdem wacht er über den Terminkalen­ der des Präsidenten. Die Mitglieder des Präsidialkabinetts befassen sich im Ge­ gensatz zu ihren Kollegen im Generalsekretariat nicht mit Problemen, die gleich­ zeitig in den Ministerien diskutiert werden. Den Kontakt zu den Medien hält seit Chiracs Amtsantritt eine weitere » Equipe « unter dem offiziellen Sprecher des Ely­ sée-Palastes. Konflikte zwischen den engsten Mitarbeitern des Präsidenten und Ministern bzw. deren Mitarbeiterstäben blieben nicht aus.59 So beklagten sich verschiede­ ne Premierminister über zu offenkundige Eingriffsversuche von Mitarbeitern des Präsidenten in die Regierungsarbeit. Da solche in Zeiten der » Cohabitation « kaum möglich sind, beschränkte sich dann die Tätigkeit der Mitarbeiter im » Schloss « (so die familiäre Bezeichnung für den Amtssitz des Staatschefs) auf die Beobach­ tung der Regierungstätigkeit und die Informationsbeschaffung. Die häufig gestellte Frage, ob es sich bei den Abteilungen des Generalsekreta­ riats und des persönlichen Kabinetts um wahre Superministerien oder um eine Parallelregierung aus Technokraten handle, wird in der Literatur weitgehend ver­ neint,60 so mit dem Hinweis darauf, dass ihnen das erforderliche politische » Ge­ wicht « bzw. die Legitimation fehle. Auch einige Minister durften sich unter allen Staatschefs zum inneren Zirkel im Elysée-Palast zählen. Trotz solcher formellen und informellen Gremien ist aber nachdrücklich da­ rauf zu verweisen, dass der Präsident keine Stäbe zur Ausführung seiner Direk­ tiven hat. Alle Beschlüsse des Ministerrates oder anderer Gremien bedürfen zu ihrer Umsetzung der Mitarbeit des Generalsekretariats der Regierung, das dem Premierminister untersteht, sowie der nachgeordneten Verwaltungsdienststellen. Folglich kommt Jean Massot in seiner Analyse der Kräfteverteilung innerhalb der doppelköpfigen Exekutive zu dem Schluss, dass unter allen Präsidenten der V. Re­ publik die politische Dominanz des Elysée-Palastes außer Frage steht, dass aber

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Der Staatspräsident

ebenso wenig die administrative Vorrangstellung des Hôtel Matignon bezweifelt werden darf.61

3.8 Der Staatspräsident als » Parteiführer « ? Alle Staatschefs der V. Republik betonten wiederholt, sie seien keine Parteifüh­ rer, sondern allein dem Ganzen verpflichtet. Sie stellten sich damit in die Tradi­ tion de Gaulles, der Ende 1961 erklärte: » Wenn ich einmal nicht mehr bin, braucht Frankreich einen Staatschef, der außerhalb der Parteien steht und nicht an eine parlamentarische Mehrheit gebunden ist. « Auch François Mitterrand erklärte im Oktober 1981 in seinem Grußwort an die Delegierten des Kongresses der Sozialis­ tischen Partei seinen Standpunkt, als Präsident aller Franzosen werde er auf kei­ nen Fall der Repräsentant einer Partei sein. In Wirklichkeit hat sich jedoch de Gaulles Vermächtnis anders entwickelt. Auch er selbst war schon zu Lebzeiten der indirekte Vorsitzende der damaligen Mehrheitspartei. Die Direktwahl des Staatschefs, die spätestens im zweiten Wahl­ gang zu eindeutigen Präferenzäußerungen der Parteien zwang, und die Wahlen zur Nationalversammlung führten zur Anpassungen an die Parteirealität. Die Konzentration des größten Teils der politischen Macht im höchsten Staatsamt – außer in Zeiten der » Cohabitation « – hat dazu beigetragen, dass der Staatspräsi­ dent die Rolle des eigentlichen Parteiführers einnehmen musste. Weder unter de Gaulle und Pompidou noch unter Giscard d’Estaing hatten es » ihre « Parteien ge­ wagt, einen Parteivorsitzenden zu wählen oder das Amt des Premierministers mit dem eines Parteipräsidenten zu verbinden. Dies gilt auch für Mitterrands Amtszeit (außer während der ersten » » Cohabitation «). Zwar hatte die Sozialistische Partei 1981 einen Nachfolger im Amt des Ersten Sekretärs bestellt, aber Mitterrands Ein­ fluss auf » seine « Partei blieb während seiner ersten Amtszeit als Staatspräsident ungeschmälert.62 Dies änderte sich erst 1988, als der so genannte Mitterrand-Flü­ gel innerhalb der PS in mehrere miteinander rivalisierende Gruppen zerfiel. Auch Präsident Chirac stand in der Tradition seiner Vorgänger. Zwar wurde seine Posi­ tion als inoffizieller Chef der gaullistischen Partei RPR durch die Wahlnieder­lage bei den vorgezogenen Parlamentswahlen 1997 nachhaltig geschwächt. Erst seit der Neuformierung der bürgerlichen Parteien im und nach dem Präsidentschafts­ wahlkampf 2002 hatte er seine nun in Union pour une Majorité Présidentielle (UMP) umbenannte Partei unter ihrem neuen Vorsitzenden Alain Juppé wieder vorübergehend fest im Griff. Zwei Jahre später wurde die Position des Staats­ chefs jedoch durch den offen ausgetragenen Machtkampf um den UMP-Vorsitz geschwächt. Nachdem Parteichef Juppé wegen seiner gerichtlichen Verurteilung alle politischen Ämter hatte niedergelegen müssen, setzte sich gegen Chiracs Wil­

Der Staatspräsident als » Parteiführer « ? 69

len sein Intimfeind Sarkozy in einem Mitgliederentscheid als neuer Parteivorsit­ zender durch. Damit verlor Chirac zur Mitte seiner zweiten Amtszeit seinen Ein­ fluss auf die Partei weitgehend. In der Öffentlichkeit drängte sich immer mehr der Eindruck eines » fi n de règne « bzw. einer Präsidentendämmerung auf, zumal der Staatschef in Umfragen nur noch negative Popularitätswerte erzielte. Nach der Wahl zum Staatspräsidenten ließ Sarkozy die Statuten » seiner « Partei dahingehend überarbeiten, dass an die Spitze der Partei kein neuer Vorsitzender mehr gewählt wurde, sondern eine Kollektivführung. Mit dieser Reform der Sta­ tuten sollte sein » Zugriff « auf die wichtigste Regierungspartei gewährleistet sein. Erstmals war mit Sarkozy ein neogaullistischer Bewerber um das höchste Staats­ amt im Vorfeld der Wahl in einer Urabstimmung auf den Schild gehoben worden – ein Zeichen der Präsidentialisierung der konservativen Sammlungspartei. Bei den Sozialisten verlief die Kandidatennominierung zunächst etwas anders. Mitterrand wurde noch per Akklamation auf einem außerordentlichen Parteitag der Sozialisten zum offiziellen Kandidaten nominiert. Spätere sozialistische Be­ werber mussten sich dagegen einer Urwahl durch die Parteimitglieder, seit 2007 sogar einer Vorwahl durch sich zum Sozialismus » Bekennende « stellen – gleich­ falls ein Zeichen zunehmender Präsidentialisierung in der großen Linkspartei. Auf der Grundlage einer von Jean-Louis Quermonne verfassten Studie las­ sen sich verschiedene Beziehungsmuster im Verhältnis des Staatspräsidenten zur Mehrheit in der Nationalversammlung erkennen:63 1. Eine Mehrheitskoalition, die sich um eine dominierende Partei gruppiert, die wiederum vom Staatschef beherrscht wird. Die dominierende Partei verdankt die absolute Mehrheit der Politik des Staatschefs, den sie vorbehaltlos unter­ stützt und den sie als ihren inoffiziellen Vorsitzenden ansieht. Dies war in ge­ wissen Zeitabschnitten unter Charles de Gaulle, Georges Pompidou, François Mitterrand und Jacques Chirac der Fall. 2. Eine Mehrheitskoalition, in der die dominierende Partei nur über eine relati­ ve Mehrheit der Parlamentssitze verfügt. Auch in diesem Fall wird der Staats­ chef als Führer der größten Partei angesehen und von allen Koalitionspartnern unterstützt. Dies war zwischen 1962 und 1968 unter de Gaulle, von 1973 bis zu Pompidous Tod sowie zwischen 1995 und 1997 unter Chirac der Fall. Die » Par­ tei des Präsidenten « beherrschte uneingeschränkt diese bürgerlichen Koali­ tionen. Der vom Staatschef ausgewählte Premierminister griff gegebenenfalls auf den Verfassungsartikel 49, Absatz 3 zurück, um Differenzen zwischen den Koalitionspartnern über bedeutsame politische Fragen schnell zu bereinigen. Hier lassen sich auch die sozialistischen Minderheitskabinette zwischen 1988 und 1993 einordnen, denen die Premierminister durch Fall bezogene » Koali­ tionen « die jeweils erforderliche parlamentarische Unterstützung verschafften.

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3. Eine Mehrheitskoalition, in der die » Partei des Präsidenten « in der Minderheit ist. Dieser Typ ist für Giscard d’Estaings erste vier Amtsjahre kennzeichnend und bedeutet einen Einflussverlust für den Staatschef. Die Gaullisten waren in dieser Koalition mit 184 Abgeordneten gegenüber nur 54 Unabhängigen Re­ publikanern (Giscards eigener Partei) und 34 Zentrumsabgeordneten eindeu­ tig die größte Gruppierung. Sie betrieben nach Chiracs Rücktritt vom Amt des Premierministers vielfach eine Art Obstruktion. Auch hier konnte oft nur der Rückgriff auf das verfassungsmäßige Instrumentarium der Regierung (Art. 49 Abs. 3) einen Zerfall der Koalition verhindern. 4. Eine Mehrheitskoalition, in der beide Partner etwa gleich stark sind und in der ein Partner den Staatschef als seinen inoffiziellen Vorsitzenden betrach­ tet. Diese Art von Beziehungsmuster herrschte zwischen 1978 und 1981 vor. Während der eine Koalitionspartner (die aus drei Parteien bestehende UDF) die Politik des Staatspräsidenten vorbehaltlos unterstützte, verfügte der ande­ re (die gaullistische Partei) aufgrund der Mehrheitsverhältnisse über eine Art Vetomöglichkeit gegenüber den präsidialen Initiativen. 5. Eine Mehrheit, die sich ideologisch von der Politik des Staatsoberhauptes grundsätzlich unterscheidet und diesen auf seine Verfassungsrechte begrenzt. Der Staatschef besitzt nur noch geringen Einfluss auf die Entscheidungen der Regierung und der sie tragenden Parlamentsmehrheit. Dies war von März 1986 bis Frühjahr 1988 und erneut von 1993 bis 1995 sowie unter der fünfjährigen » Cohabitation « ab 1997 der Fall. Sieht man von diesen Fällen und von Giscard d’Estaings Amtszeit ab, so wird die Führungsrolle des jeweiligen Präsidenten in der (den) Regierungspartei(en) er­ sichtlich. Diese Parteien wissen, dass sie ihre Wahlerfolge dem Staatschef verdan­ ken. Selbst dann, wenn der Präsident auf Distanz geht, betrachten sie ihn als ihren Vorsitzenden. So verbot de Gaulle der gaullistischen Partei, seinen Namen auch nur in adjektivischer Form zu benutzen, um seine Unabhängigkeit von den Par­ teien zu unterstreichen. Andererseits war jedem Präsidenten bewusst, dass er seine Politik nicht ohne das Parlament realisieren konnte. Als Instrument der präsidia­ len Führungsrolle dienten neben den in der Verfassung verankerten Möglichkei­ ten des » rationalisierten « Parlamentarismus (besonders des Art. 49 Abs. 3 und des Vote bloqué nach Artikel 44, Absatz 3) der Einfluss des Premierministers in den Mehrheitsfraktionen. Der Premierminister war ein zweiter, indirekter Loyalitäts­ anker für den Präsidenten. Er sollte als Mittler verhindern, dass sich die Koali­ tionsabgeordneten als die so genannten » Godillots du Président « (als die Knobel­ becher des Staatspräsidenten) betrachten mussten. Dieser von Gaullisten geprägte Ausspruch brachte den zeitweiligen Unwillen der Abgeordneten über die verlang­ te bedingungslose Gefolgschaft zum General zum Ausdruck. Die Zwänge der po­

Der Staatspräsident als » Parteiführer « ? 71

litischen Verhältnisse ließen ihnen jedoch – ebenso wie Jahre später den Sozialis­ ten – keine andere Wahl, als der Politik des Präsidenten und des Premierministers zu folgen. Allerdings gab es sowohl unter de Gaulle als auch unter Pompidou, Mitterrand und Chirac genügend Beispiele, die ein Einwirken der » Partei des Präsi­ denten « auf Regierungsentscheidungen erkennen ließen.64 So musste Chirac nach einem Debakel bei den Regionalwahlen im März 2004 seine Abgeordneten zur Ordnung rufen, um die Missstimmung in Fraktion sowie Partei einzudämmen. Auch unter seinem späteren sozialistischen Nachfolger Hollande kam unter den Abgeordneten der linken Regierungspartei Kritik an der Wirtschafts- und Fi­ nanzpolitik des Staatspräsidenten auf. Vor dem Hintergrund der Forderung der Europäischen Kommission, die Verschuldungsgrenzen einzuhalten und der stei­ genden Beschäftigungslosigkeit zu wehren (im Frühjahr 2016 lag die Arbeitslo­ senquote bei über 10 Prozent), drohte ein knappes Drittel der PS-Abgeordneten den Regierungsvorlagen für Einsparungen im Staatshaushalt die Zustimmung zu verweigern. Auch verließen wegen der angeblich zu wirtschaftsfreundlichen Po­ litik von Premierminister Valls drei Minister die Regierung. Schließlich gelang es dem Regierungschef im Frühjahr und im Herbst 2014 sowie im Februar 2015, den Widerstand in der eigenen Fraktion einzudämmen und seine Reformgesetze unter Rückgriff auf die Vertrauensfrage nach Artikel 49, Absatz 3 (siehe unten) durch­ zusetzen. Ein von der Opposition postwendend eingebrachter Misstrauensantrag scheiterte.65 Es gab regelmäßige Zusammenkünfte zwischen den Staatschefs und führen­ den Vertretern » ihrer « Partei, wenn auch bis 1981 nicht in so regelmäßiger und in geradezu institutionalisierter Form wie unter Mitterrand etwa in Form gemeinsa­ mer Mahlzeiten.66 Aber auch dessen Vorgänger bzw. sein Nachfolger pflegten bei strittigen Fragen solche Kontakte. Unter de Gaulle übernahm hauptsächlich Pre­ mierminister Pompidou die Kontaktpflege; aber auch der General zögerte nicht – falls erforderlich –, seine Gefolgsleute zu Gesprächen einzuladen. Eine der wirksamsten Maßnahmen, um die » Partei des Präsidenten « an den Staatschef zu binden, sind » Belobigungen « bei der Besetzung innerparteilicher Führungspositionen. Sowohl die gaullistischen Präsidenten als auch der Sozialist Mitterrand (in seiner ersten Amtszeit) beschritten erfolgreich diesen Weg, um so das Risiko größerer Konflikte im Verhältnis zur Mehrheitspartei gering zu hal­ ten.67 Das Gleiche versuchte Hollande mit der Einbindung des linken Parteifreun­ des Montebourg durch dessen Ernennung zum Wirtschaftsminister im Mai 2012. Nach dem Wechsel im Amt des Premierministers im Frühjahr 2014 zögerte der » Krawallminister « aber nicht, die Wirtschaftspolitik des neuen Regierungschefs Valls heftig zu kritisieren. Er trat im Herbst desselben Jahres zurück. Ein weiteres Mittel, um mögliche Widerstände in der eigenen Parlamentsfrak­ tion zu dämpfen, bietet die Kandidatenaufstellung für die Parlamentswahlen. Seit

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Der Staatspräsident

Mitte der sechziger Jahre schaltete sich Georges Pompidou – zunächst als Premier­ minister, seit 1969 als Staatspräsident – aktiv in den Nominierungsprozess der gaullistischen Kandidaten, aber auch bei den kleinen Koalitionspartnern (Unab­ hängige Republikaner und Teile der Zentristen) ein.68 Seine Nachfolger taten es ihm gleich. Valéry Giscard d’Estaing griff zu anderen Mitteln, um seinen Einfluss in der ihm nahestehenden Regierungsfraktion zu vergrößern und gleichzeitig den re­ nitenten, übermächtigen gaullistischen Koalitionspartner (Jacques Chiracs Ras­ semblement pour la République) in die Schranken zu weisen. Kurz vor den Par­ lamentswahlen 1978 wurde auf seine Initiative die Parteienkonföderation Union pour la Démocratie Française gegründet. Die drei zur UDF zusammengeschlos­ senen Parteien (siehe Kapitel 10.8) konnten ihre Position bei der Nominierung der Kandidaten nun gemeinsam für die Wahlgänge gegenüber dem RPR viel bes­ ser behaupten. Innerhalb der durch die Wahlen bestätigten Regierungskoalition wurde dadurch weitgehend ein politisches Gleichgewicht erreicht. Die Gründung der bürgerlichen Sammlungsbewegung UMP zwischen den Wahlgängen der Prä­ sidentschaftswahl 2002 ist ein weiterer Beleg für die Rolle des Staatschefs als Par­ teipolitiker. Kommt dem Staatspräsidenten die Rolle eines Vetospielers zu ?69 Hier ist zwi­ schen dem Normalfall und der » Cohabitation « zu unterscheiden. Wenn die Präsi­ dentenpartei ggf. einschließlich eines Koalitionspartners die Mehrheit in der Na­ tionalversammlung besitzt, kann der Präsident jede missliebige Politik mit dem breit gefächerten Instrumentarium des Einspruchs, der Mitsprache und des Ver­ zögerns verhindern. Ohne sein Zutun kann weder ein Premierminister eingesetzt werden noch im Amt verbleiben noch ein Gesetzesvorhaben verabschiedet noch ein Referendum anberaumt werden. Die Außen- und Verteidigungspolitik sind seit de Gaulles Amtszeit eine durch politische Konvention verfestigte » Domaine réservé « des Staatschefs. Hier ist der Präsident ein Agenda setter, ein Gestalter, kein Bremser oder Verhandler. Anders verhält es sich in einer » Cohabitation «. Während sein Handlungsspiel­ raum in der Außen- und Verteidigungspolitik unangetastet bleibt, reduziert sich seine Rolle in der Innenpolitik wegen der Gegenzeichnungspflicht seiner Hand­ lungen durch den Premier auf diejenige eines Vetospielers. Er ist hier nicht mehr Gestalter, er hat hauptsächlich Widerspruchspotenzial. Dieses kann aber durch einen Parlamentsentscheid unterlaufen werden.

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Die Regierung und die Verwaltungselite

Die III. und die IV. Republik krankten am Fehlen einer stabilen Parlamentsmehr­ heit; sämtliche Regierungen waren Koalitionskabinette. Die Minister und Staats­ sekretäre wurden nicht nur wegen ihrer fachlichen und politischen Qualitäten er­ nannt; wesentlich war auch die Frage, ob ihre Bestellung die parlamentarische Basis der Regierung stärken würde. In der IV. Republik amtierten alle Regierun­ gen (insgesamt 21) durchschnittlich nicht länger als ein halbes Jahr, bevor sie von Parlamenten gestürzt wurden oder von sich zurücktraten. In den folgenden meist zermürbenden Verhandlungen musste der Staatspräsident oft mehr als ein hal­ bes Dutzend Kandidaten mit der Kabinettsbildung beauftragen, bis einer schließ­ lich eine in der Regel wenig stabile und kaum zu weit reichenden Entscheidun­ gen fähige Mehrheit zu formen vermochte. Die Regierungsstabilität war stets vom ideologischen Erwartungsdruck der Parteimitglieder vom traditionellen republi­ kanischen Misstrauen gegenüber der Exekutive und von simplem Karrierestreben bedroht. Nicht selten ließen Minister das eigene Kabinett scheitern, um auf die­ se Weise bei einer Neubildung mit einem prestigeträchtigeren Posten betraut zu werden, vielleicht sogar mit dem des Ministerpräsidenten. Destabilisierend wirk­ te ferner das Agitieren starker regimefeindlicher Parteien auf der Linken (seit 1947 die PCF) und auf der Rechten (zunächst das RPF, später die populistische » Anti­ steuerpartei « der Poujadisten). Als der Gaullismus 1958 an die Macht kam, war für den General und seine An­ hänger – neben der Institutionalisierung präsidentieller Macht – die Beendigung dieser » dem Prestige und der Autorität des Staates abträglichen Rivalität der Par­ teien « (de Gaulle)1 eine conditio sine qua non: » [Man] musste jene parlamenta­ rische Willkür abschaffen «, so Michel Debré im offiziellen Kommentar zur neuen Verfassung, » die unter dem Vorwand der Souveränität […] ohne jede Einschrän­ kung den Wert der Verfassung und der Gesetze wie auch die Autorität der Regie­ rung in Frage stellte. «2 Diese recht fragwürdige Begründung veranlasste die Ver­ 73 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 U. Kempf, Das politische System Frankreichs, DOI 10.1007/978-3-658-08208-6_4

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fassungsväter der V. Republik, das Kabinett (ebenso wie den Staatspräsidenten) mit einer Fülle verfassungsrechtlicher Privilegien gegenüber dem Parlament zu versehen und es zugleich möglichst zu entpolitisieren, indem sie es dem Einfluss der Parteien quasi gänzlich entzogen. Wegen der Mehrheitsverhältnisse, die zumeist vom politischen Gleichklang zwischen Präsident und parlamentarischer Mehrheit bestimmt waren, sah sich die Regierung zum Ausführungsorgan der präsidentiellen Vorstellungen degra­ diert, ungeachtet ihres in Artikel 20, Absatz l verankerten Verfassungsauftrages: » Die Regierung bestimmt (détermine) und leitet die Politik der Nation. « Dies bedeutete, die im Elysée-Palast gefällten Entscheidungen im Parlament absichern und die meist dafür erforderlichen finanziellen Mittel von der Legisla­ tive bewilligen zu lassen. Dass in » Cohabitation «-Zeiten die Dinge anders lagen, bleibt hier zunächst unberücksichtigt. Freilich bedeutet aber die Tatsache, dass kein Bereich der Regierungsaktivitä­ ten präsidentieller Initiative und Kontrolle entgeht, keineswegs den völligen Ver­ lust der Regierungsautonomie. Ungeachtet der Dominanz des Staatspräsidenten – ausgenommen die Phasen der » Cohabitation « – bei gleichzeitiger politischer Unterordnung des Premierministers gewährt der Verfassungstext letzterem eine Fülle von politischen Einwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Indessen zeig­ te nicht nur die Realität der » Cohabitation «, dass der Premierminister und seine Regierung keine machtlosen Befehlsempfänger sind. Ihren Einfluss machten sie unter allen Staatschefs der V. Republik vor allem bei der Formulierung und Ver­ wirklichung der Sozial- und Wirtschaftspolitik sowie in weiten Bereichen der In­ nenpolitik geltend. Während der » Cohabitation « übten Präsident Mitterrand und später Jacques Chirac weiterhin ihre Richtlinienkompetenz in außen- und verteidigungspoliti­ schen Fragen aus. Sie überließen dagegen – notgedrungen und mit Blick auf ihr Ansehen in der Bevölkerung – die gesamte Innenpolitik den Regierungen des jeweiligen Gegenlagers. Der Übergang von der präsidialen Vorherrschaft zum Übergewicht des Premierministers in der Innen- und Wirtschaftspolitik vollzog sich nicht zuletzt dadurch, dass Mitterrand auf diesen Politikfeldern Zurückhal­ tung übte. Auf sein Wächteramt als » Hüter der sozialen Errungenschaften « aus der Anfangszeit der Linksregierungen verzichtete er jedoch auch jetzt nicht. Auch während der fünfjährigen Amtsperiode der drei sozialistischen Minder­ heitskabinette blieb Mitterrands dominierende Rolle als Gestalter der Außenpoli­ tik uneingeschränkt gewahrt. In der Innen- und Wirtschaftspolitik konnte er sein Wahlprogramm ebenfalls in hohem Maße verwirklichen. Allerdings kam es inso­ fern zu gewissen Veränderungen, als er den Regierungschefs in diesen Bereichen wegen der ständigen Suche nach Ad-hoc-Koalitionspartnern mehr Einfluss ein­ räumen musste. Der Staatspräsident verzichtete folglich auf ein tägliches » Hin­

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einregieren « und konzentrierte sich eher auf das Anregen und Anstoßen gesetz­ geberischer Projekte. An einer Verschiebung der grundsätzlichen Gewichtsverteilung innerhalb der doppelköpfigen Exekutive änderte aber auch dieser zeitliche Abschnitt der V. Re­ publik nichts. Dies traf auch für Jacques Chirac zu, der während der fünfjährigen » Cohabitation « die Linksregierung zunächst gänzlich, im Vorfeld des Wahlkamp­ fes 2002 aber zunehmend seltener mit Kritik verschonte.3 Lionel Jospin wiederum respektierte die Prärogativen des Staatschefs in der Außen- und Verteidigungs­ politik. Auch für ihn galt die Maxime, dass Frankreich in der Welt nur mit einer Stim­ me spreche. François Fillon, Sarkozys einziger Regierungschef während seiner fünfjährigen Amtszeit, brachte sein Abhängigkeitsverhältnis vom Staatschef auf den Punkt, als er in einer Regierungserklärung vom November 2010 erklärte: » Ich habe die Ehre, dem Land unter der Weisungsbefugnis (autorité) des Staatspräsi­ denten zu dienen. «4

4.1 Der Premierminister Betrachtet man den Text der Verfassung, so stattet dieser den Regierungschef und die Regierung mit weitreichenden Machtkompetenzen aus, die vordergründig ein machtpolitisches Gleichgewicht zwischen Präsident und Regierung vermuten lassen. So leitet nach Artikel 21 der Premierminister die Tätigkeit der Regierung, die wiederum nach Artikel 20 die » Politik der Nation bestimmt und leitet «; auch ist er » für die Landesverteidigung verantwortlich «, während seine Regierung » über die Verwaltung und die Streitkräfte verfügt «. In beiden Fällen hat sich aber aus den schon genannten Gründen einer eigenwilligen Verfassungsinterpretation durch den ersten Staatschef, die von den Nachfolgern übernommen wurde, der Auswahl des Premierministers, der sein Amt dem Präsidenten verdankt, und wegen der Herausbildung des majoritären Parlamentarismus, d. h. der ideologischen Über­ einkunft zwischen Präsident und Mehrheitsfraktion(en), eine klare Abkehr von den Verfassungsnormen ergeben. Außer in den Jahren der » Cohabitation « war der Premierminister stets eher der » erste Mitarbeiter des Staatschefs «. Die Regie­ rungschefs selbst haben verschiedentlich diese Rolle bestätigt. So sagte im Jahre 1970 Jacques Chaban-Delmas, der Premierminister » leitet die Regierung im Sin­ ne präsidentieller Weisungen «. Vier Jahre später ergänzte er dieses Amtsverständ­ nis mit der Bemerkung, » der Präsident muss Direktiven geben, die der täglichen Regierungsarbeit dienlich sind. Dies bedeutet, dass es über solche Weisungen kei­ ne Diskussion geben kann. « Dieses » Vasallen-Verhältnis « kommt auch in Michel

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Rocards Äußerung vom Dezember 1990 zum Ausdruck, wenn er sagt: » Da der Präsident von der Verfassung beauftragt ist, die großen Richtlinien vorzugeben, beehre ich mich, ihm zu gehorchen. «5 Auch Staatschef Chirac ließ am Vorrang des Präsidenten keine Zweifel aufkommen. Dies galt auch für seine Minister. Seinen (für sein Empfinden allzu) ehrgeizigen Finanz- und Wirtschaftsminister Sarkozy wies er 2004 mit den Worten in die Schranken: » Ich entscheide, und er führt aus. «6 Außer in Zeiten der » Cohabitation « haben alle Premierminister die Rolle gespielt, die von ihnen erwartet wurde. Alle Staatschefs haben zu verschiedenen Gelegen­ heiten ähnlich formuliert wie François Mitterrand, der zu Beginn seiner ersten Amtszeit äußerte, » der Regierungschef handelt nach meinen Direktiven «. Auch der spätere Premier Jean-Pierre Raffarin, dessen Autorität durch ein Wahldebakel im Frühjahr 2004 stark erschüttert worden war, betonte: » Meine Zukunft hängt allein vom Staatspräsidenten ab. […] Er trifft die Entscheidungen, die er für gut befindet, und ich akzeptiere sie widerspruchslos. «7 Die Unterordnung des Premiers unter den Staatschef, die die Verfassung nicht vorsieht, begann mit der Ernennung von Michel Debré zum ersten Premierminis­ ter der V. Republik und wurde zwischenzeitlich nur von den » Cohabitation «-Re­ gierungschefs unterbrochen. Solange die Mehrheit der Nationalversammlung die Politik des Präsidenten unterstützt, hat sich ein Premierminister in dessen » Schat­ ten « (Philippe Ardant) zu bewegen. Niemals hat sich eine solche Mehrheit ge­ gen die Ablösung eines Premierministers gewehrt, auch wenn sie diesen entwe­ der als ihren » Führer « betrachtete (so Georges Pompidou im Sommer 1968) oder ihm kurz vor einem erzwungenen Rücktritt das Vertrauen ausgesprochen hatte (so Jacques Chaban-Delmas 1972). Ungeachtet solcher Begrenzungen verfügt der Premierminister über eine Viel­ zahl von Kompetenzen, die ihm einen beträchtlichen Einfluss auf die Regierungs­ politik insgesamt gewähren.8 So leitet der Premierminister die Tätigkeit der Regierungsmitglieder, die auf seinen Vorschlag vom Staatspräsidenten ernannt und entlassen werden. Als Ver­ antwortlicher für die Landesverteidigung obliegt ihm die Realisierung der vom Staatspräsidenten beschlossenen Militär- und Verteidigungspolitik – hier überla­ gert einmal mehr Artikel 15 den Artikel 21.9 Des Weiteren gewährleistet der Pre­ mierminister die Ausführung der Gesetze mit Hilfe der im Hôtel Matignon (und nicht im Elysée-Palast) konzentrierten Verwaltungskapazität. Außerdem übt er die Verordnungsgewalt aus. So unterzeichnet er jährlich ca. 1 500 Dekrete und über 7 000 Erlasse und gewinnt dadurch einen erheblichen Einfluss auf die Aus­ gestaltung der Gesetze. (Der Staatspräsident beschränkt sich – wie gezeigt – auf die etwa 50 im Ministerrat beschlossenen Dekrete im Jahr). Außerdem ernennt er die hohen zivilen und militärischen Beamten, sofern deren Ernennung nicht aus­ drücklich dem Staatschef vorbehalten ist.

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Alle Amtshandlungen des Staatsoberhaupts, außer den in Artikel 19 festge­ legten, bedürfen der Gegenzeichnung durch den Premierminister. Folglich ist für das Zusammenspiel beider Pole der doppelköpfigen Exekutive auch in » Cohabi­ tation «-Zeiten ein gewisses Maß an Kooperation und Konsensfähigkeit vonnöten. Die unter bestimmten Voraussetzungen mögliche Vertretung des Staatschefs im Ministerrat und im Nationalen Verteidigungsrat durch den Premier wurde schon erwähnt. Aber auch gegenüber dem Parlament verfügt der Regierungschef über eine Reihe von Prärogativen. So besitzt er die Gesetzgebungsinitiative. Auf sein Verlangen hin tritt das Parlament zu einer außerordentlichen Sitzung zusam­ men. Nur er kann den Vermittlungsausschuss zwischen Nationalversammlung und Senat einberufen. Vor ihrer Verkündung kann er Gesetze vom Verfassungsrat auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen lassen. Des Weiteren vermag er gleich­ sam im Auftrag der Regierung das gesamte Arsenal der » Waffen « des so genann­ ten rationalisierten Parlamentarismus nach Artikel 44 zur Durchsetzung der von ihm verfolgten Politik einzusetzen. Schließlich kann er nach Beschluss im Minis­ terrat, also nur mit Billigung des Staatspräsidenten, vor der Nationalversammlung die Vertrauensfrage stellen. In einigen verfassungsrechtlich definierten Politikbereichen sind politische Initiativen des Staatsoberhaupts entweder an ein Vorschlagsrecht des Premiers ge­ bunden oder sogar von der Verpflichtung abhängig, diesen zu konsultieren: So ist – zumindest in der Theorie – die Abhaltung eines Referendums oder eine Ver­ fassungsänderung an einen Vorschlag der Regierung bzw. des Premierministers gebunden. Die Auflösung der Nationalversammlung sowie die Anwendung des Notstandsartikels 16 dürfen ebenfalls erst nach Beratung mit dem Premier erfol­ gen. Dass sich in allen drei Fällen die Realität anders entwickelt hat, wurde schon dargestellt. Ungeachtet solcher formalen Vorgaben pflegten alle Staatschefs mit den Premierministern einen intensiven Meinungsaustausch. Die beiden Spitzen der Exekutive hielten bereits in der Amtszeit de Gaulles engen Kontakt. Diese Praxis war beispielhaft und stilbildend. Auch unter den Nachfolgern herrschte in den meisten Fällen ein Vertrauensverhältnis sowie ge­ genseitiger Respekt. Solange die präsidentielle und parlamentarische Mehrheit übereinstimmten, war die untergeordnete Position des Premierministers die Nor­ mallage. Nur Jacques Chirac legte im Jahre 1976 sein Amt als Regierungschef mit der Begründung nieder, Präsident Giscard d’Estaing verweigere ihm eine ausrei­ chende Handlungsfreiheit zur Lösung wirtschaftlicher und sozialer Probleme. Auch Michel Rocard verließ 1991 sein Amt widerwillig. Ein weiterer Fall eines tief­ gehenden Zerwürfnisses zwischen dem Präsidenten und seinem » Ersten Assis­ tenten « (Quermonne/Chagnollaud) ist nicht bekannt geworden. (Die Phasen der » Cohabitation «, in denen sich die Premierminister im Bereich der Innenpolitik auf ihre parlamentarische Mehrheit stützen und sich damit erforderlichenfalls

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auch erfolgreich dem Willen des Staatspräsidenten widersetzen konnten, bleiben hier unberücksichtigt.) Allerdings zögerten weder de Gaulle noch Pompidou, ihren Premierminister zu » feuern «, sobald sie feststellen mussten, dass ihnen im Regierungschef – Georges Pompidou 1968 und Jacques Chaban-Delmas 1972 – ein ernsthafter Konkurrent um die Gunst der öffentlichen Meinung oder der Regierungsparteien erwuchs. Wenn auch die Zusammenarbeit – abgesehen von den Zeiten der » Cohabita­ tion « – weitgehend geräuschlos und kooperativ vonstatten ging, so bedeutete dies jedoch keineswegs, dass die Staatspräsidenten die Premierminister ständig und in allen Angelegenheit ins Vertrauen gezogen hätten. So wurde Debré von de Gaulle über dessen Algerienpolitik bewusst im Unklaren gelassen. Pompidou war im Mai 1968 nicht über de Gaulles geheimnisumwitterten Flug nach Baden-Baden ins Hauptquartier der in Deutschland stationierten französischen Truppen infor­ miert. Chirac wurde von Giscard d’Estaing nur beiläufig über dessen Europapo­ litik unterrichtet und in der Wirtschafts- und Finanzpolitik vor vollendete Tat­ sachen gestellt.10 Mauroy nahm Mitterrands Entschluss, ein in der Öffentlichkeit umstrittenes Schulgesetz ohne vorherige Konsultation mit ihm zurückzuziehen, zum Anlass, kurze Zeit später seinen Rücktritt einzureichen.11 In den Entschei­ dungen über Frankreichs Teilnahme am Golfkrieg 1991 spielte Premierminister Rocard nur eine Nebenrolle. Dennoch: Abgesehen von solchen – eher seltenen – Brüskierungen war das Verhältnis meist von Respekt geprägt. Beispielhaft sei hier für alle bisherigen Prä­ sidenten die Einschätzung von Etienne Burin des Roziers als langjähriger Gene­ ralsekretär des Präsidialamtes wiedergegeben: » General de Gaulle und Georges Pompidou haben jeweils einvernehmlich gehandelt; sie haben vertrauensvoll zu­ sammengearbeitet. Jedoch stimmten sie, was normal ist, nicht immer überein. Wer von beiden gewann in einem solchen Fall die Oberhand ? Georges Pompidou ordnete sich in allen Fragen der Außen- und Verteidigungspolitik sowie der Ver­ fassung völlig den Ansichten de Gaulles unter. […] Dieser ließ sich, sofern die Grundprinzipien [seiner Politik] nicht berührt waren, in allen anderen Bereichen leicht überzeugen. Er zeigte sich umso konzessionsbereiter, je weniger ihm die Angelegenheit vertraut war. «12 Auch Jacques Chirac und Alain Juppé, sein glück­ loser Premier zwischen 1995 und 1997, machten aus ihrem besonders herzlichen Einvernehmen keinen Hehl. Dass François Fillon die volle Legislaturperiode im Hôtel Matignon – trotz gelegentlicher Demütigungen durch den » Kapitän « – re­ gierte, unterstrich die letztlich einvernehmliche Zusammenarbeit beider Spit­ zen der Exekutive – sicherlich auch eine » Vergütung « des Staatschefs für Fillons vorbehalt­lose Unterstützung im Präsidentschaftswahlkampf 2007. Letztlich bildet der Premierminister eine Art Scharnier zwischen dem Staats­ chef und den Mitgliedern der Regierung, aber ebenso auch zwischen dem Präsi­

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denten und der Mehrheitsfraktion bzw. der Parlamentskoalition. In dieser Eigen­ schaft wirkt er an nahezu allen präsidentiellen Entscheidungen mit. Gegenüber der Regierungskoalition fällt ihm – maßgeblich unterstützt von dem in der Re­ gel ihm zugeordneten Minister für die Beziehungen zu beiden Häusern des Parla­ ments13 – die Aufgabe zu, für die Umsetzung dieser Beschlüsse zu sorgen. Aller­ dings ist die Funktion des » Transmissionsriemens « nicht mit einer Einbahnstraße vergleichbar. Der Premierminister ist gegebenenfalls auch verpflichtet, den ableh­ nenden oder zögernden Präsidenten von der Richtigkeit der Regierungsbeschlüs­ se oder von Auffassungen einzelner Minister zu überzeugen. Zusammenfassend lassen sich in Anlehnung an Vincent Wrights Darstellung der Exekutive der V. Republik14 fünf Schwerpunktbereiche in der täglichen Arbeit eines Premierministers nennen: 1. Ihm obliegt die Koordinierung der Regierungspolitik. Dazu gehört die Abstim­ mung der Ressorts über geplante Gesetze und die Vorbereitung der Entwürfe für wichtige administrative Dekrete, die der Zustimmung des Ministerrates bedür­ fen. Bei Konflikten zwischen den Ministern, besonders wenn auch der mächtige Finanzminister beteiligt ist, hat der Regierungschef als Schiedsrichter aufzutreten und Lösungswege aufzuzeigen. Notfalls muss er für eine Seite » Partei « ergreifen, was er jedoch aus Kollegialitätsgründen eher zu vermeiden trachtet. Zwar verfügt der Premier über kein Weisungsrecht gegenüber den Regierungsmitgliedern, aber es hat sich eingebürgert, den Kabinettskollegen » Handreichungen « für die bevor­ stehende Arbeitsperiode zu übermitteln. » Was der Premier an Bedeutung gegen­ über dem Präsidenten verloren hat, hat er an Autorität gegenüber seinen Minis­ tern gewonnen. «15 2. Der Premier hält ständigen Kontakt zu beiden Häusern des Parlaments, um eine möglichst reibungslose Verabschiedung der Gesetzentwürfe sicherzustellen. Dazu zählen nicht nur regelmäßige Zusammenkünfte mit den Präsidenten und den Ausschussvorsitzenden beider Kammern, sondern auch – wie z. B. während des ersten Golfkrieges – häufige Treffen mit allen Fraktionsvorsitzenden. Auch die Präsenz im Palais Bourbon, seltener im Palais de Luxembourg außerhalb der verschiedenen Fragestunden gehört zu seinen Aufgaben. Allerdings verweilen die Premiers nur relativ geringe Zeit im » Hémicycle « und folgen den Debatten nur kurz; das Gleiche gilt für die Fragestunden. Auch lassen sie sich selten in den stän­ digen Ausschüssen sehen, wo sie dann noch seltener das Wort ergreifen.16 3. Nicht weniger bedeutsam sind häufige Kontakte mit den führenden Repräsen­ tanten der Regierungsparteien. Alle Premierminister waren gut beraten, regelmä­ ßig das Gespräch mit den Spitzen der Regierungsparteien zu suchen. So konfe­

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rierte Manuel Valls 2014 nahezu täglich mit dem Fraktionsvorsitzenden und auch den übrigen Führungsspitzen der PS, um seine Reformgesetze trotz erheblichen Widerstandes in den eigenen Reihen durchzubringen. 4. Die inoffizielle Funktion als Führer der Parlamentsmehrheit verlangt vom Re­ gierungschef überdies, wenn nötig, zwischen streitenden Flügeln der Koalition zu vermitteln und letztlich auch eine Entscheidung zu treffen. Verfügt eine Re­ gierungspartei über die absolute Mehrheit, so handelt er aus einer Position der Stärke heraus, sofern er die Unterstützung des Staatschefs besitzt. Gegebenen­ falls hat dieser – wie im Frühsommer 2004 – ein Machtwort zu sprechen, um die Auto­rität des Regierungschefs wieder zu festigen. Bei einer anderen Gewichtsver­ teilung innerhalb der Koalition wäre eine solche Aufgabe schwieriger zu lösen, wie Raymond Barres ständiger » Kleinkrieg « mit dem gaullistischen Koalitions­ partner in den siebziger Jahren gezeigt hat. Notfalls muss der Premier mit dem Rückgriff auf » Waffen « des » rationalisierten « Parlamentarismus, z. B. Artikel 49, Absatz 3, drohen, um den Koalitionsfrieden zumindest vordergründig wiederher­ zustellen. Kein Premierminister – außer Lionel Jospin – hat bislang auf den Einsatz des » schwersten Geschützes « zur Durchsetzung seiner politischen Ziele verzich­ tet. Ohne Rückgriff auf diese » besondere Vertrauensfrage « hätte Valls im Februar wie im Juni 2015 wegen der » Frondeure « in der eigenen Partei seine Mehrheit ver­ loren; die Folge wären Neuwahlen gewesen. 5. Der Bereich der Außen- und Verteidigungspolitik ist dem Premierminister we­ gen der Zuordnung dieses Bereiches zur » Domaine réservé « des Staatschefs weit­ gehend entzogen. Seine hauptsächlichen Gestaltungsmöglichkeiten liegen in der Innenpolitik. Dies trifft besonders für die Jahre der » Cohabitation « zu, gilt aber auch für die Zeit politischer Übereinstimmung zwischen beiden Spitzen der Exe­ kutive. Inwieweit eine eigenständige Formulierung innenpolitischer Richtlinien möglich war, hing jedoch vornehmlich von den » Einmischungsversuchen « der Präsidenten ab. Grundsätzlich verfügt jeder Premier über einen weiten Ermessens­ spielraum. Bisher jedenfalls vermochte er den Staatschef in der Regel von der Not­ wendigkeit bestimmter Gesetzesvorhaben zu überzeugen. So leitete Michel Debré mit der Unterstützung de Gaulles eine Reihe fälliger Sozial- und Infrastrukturre­ formen ein. Premierminister Georges Pompidou konzentrierte sich ebenso wie spä­ ter Raymond Barre auf den wirtschaftlichen Strukturwandel Frankreichs. Jacques Chaban-Delmas bemühte sich im Rahmen seines von Staatspräsident Pompidou misstrauisch beobachteten Plädoyers für eine » neue Gesellschaft « um ein besseres Verhältnis zu den Gewerkschaften. Pierre Mauroy engagierte sich in besonderer Weise für die Stärkung der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften. Sein Nachfolger Laurent Fabius setzte sich einen sozialverträglichen Umbau krisenge­

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schüttelter Industriegebiete in Lothringen und in Nordfrankreich zum Ziel. Die Liberalisierungspolitik des » Cohabitation «-Pre­miers Jacques Chirac richtete sich gegen die in seinen Augen ausgeuferte Sozialpolitik der sozialistischen Vorgänger. Mitterrands Minderheitsregierungschefs Michel Rocard und Pierre Bérégovoy wa­ ren eher um eine behutsame Fortführung der von der bürgerlichen Regierung an­ gestoßenen Reformen bemüht, in deren Mittelpunkt besonders die Stabilisierung der Währung (» starker Franc «) stand. Aber auch die Lösung des ethnischen Kon­ flikts in Neukaledonien durch Rocard ist ein Beweis für die Gestaltungsfreiheit der Premierminister der V. Republik, sofern ihre Politik nicht den Überzeugun­ gen des Staatschefs zuwiderläuft. Im Oktober 1995 überzeugte Alain Juppé Präsi­ dent Chirac – trotz dessen populistischer Wahlversprechen – von der Notwendig­ keit eines Sparplans, um das stark angewachsene Haushaltsdefizit einzudämmen. Der Sozialist Jospin erntete dessen » Früchte « und führte Frankreich erfolgreich in die Euro-Währungszone. War die Fortführung der Dezentralisierungspolitik ein wesentlicher Schwerpunkt von Raffarins Regierungsprogramm, so stellte sein Nachfolger de Villepin den Kampf gegen die (Jugend-)Arbeitslosigkeit und die Si­ cherung des Sozialstaates in den Mittelpunkt seiner kurzen, erfolglosen Regie­ rungsarbeit. François Fillon oblag die parlamentarische Umsetzung diverser von Sarkozy erst während des Wahlkampfes 2007 thematisierter Reformen zur » Aufweichung « der 35-Stunden-Woche und des rigiden Arbeitsmarktes, Steuersenkungen und be­ sonders die Durchsetzung der großen Verfassungsreform vom Juli 2008. Manuel Valls versuchte – in enge Absprache mit dem Staatschef – Frankreichs ausuferndes Staatsbudget wieder den im Maastricht-Vertrag vereinbarten Stabi­ litätskriterien anzunähern. Diese Politik brachte ihm in den eigenen Reihen den Vorwurf einer wirtschaftsfreundlichen Politik ein. Letztlich ist der Premierminister » Schild und Schwert « seines » Chefs «. Er hat den Staatspräsidenten vor der Kritik an präsidialen Entscheidungen zu schützen. Ggf. hat er diese Kritik auf sich zu lenken, die Verantwortung zu übernehmen und – in Absprache mit dem » Kapitän « – durch eine Regierungsumbildung » Dampf aus dem Kessel « zu lassen. Wie die meisten Staatspräsidenten hat auch die überwiegende Mehrheit der Re­ gierungschefs Frankreichs Grandes Ecoles oder vergleichbare Hohe Schulen ab­ solviert. Nur der Autodidakt Pierre Bérégovoy (ursprünglich Eisenbahnarbeiter), Jean-Marc Ayrault (Deutschlehrer) und Manuel Valls (Historiker) bilden Ausnah­ men. Der » Korpsgeist « spielt im gegenseitigen Vertrauensverhältnis von Präsi­ dent und Premier häufig eine tragende Rolle. Worauf beruht nun die politische Macht dieser in ein so kompliziertes Ko­ alitionsgeflecht eingebundenen Premierminister ? An vorderster Stelle ist hier zu­

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nächst auf die Unterstützung durch den Staatschef zu verweisen (bei einer » Coha­ bitation « dominieren andere Faktoren). Sie basiert auf dem Vertrauensverhältnis mit dem Ergebnis einer in der Regel konfliktfreien Zusammenarbeit. Folglich gibt es für die Mehrheitsfraktionen, deren zahlenmäßige Stärke gewöhnlich mit dem Wahlerfolg des Staatschefs verknüpft ist, keine Veranlassung, der Politik des Regie­ rungschefs entgegenzutreten. Verfügt die Partei des Präsidenten über die absolu­ te Mehrheit in der Nationalversammlung, genießt der vom Staatschef ausgewählte Premier deren uneingeschränktes Vertrauen. Aber auch in Koalitionsregierungen mit etwa gleich starken Partnern kann der Premier selbst im Falle von Streitigkei­ ten seinen Einfluss entweder u. a. mit Hilfe der besonderen Vertrauensfrage nach Artikel 49, Absatz 3 oder mit der Drohung von Neuwahlen Geltung verschaffen. Raymond Barre stand so den fünfjährigen Dauerkonflikt mit dem gaullistischen Partner durch. Voraussetzung ist aber stets der Rückhalt beim Staatspräsidenten. Anstehende Neuwahlen nach Ablauf der fünfjährigen Legislaturperiode för­ dern ebenfalls den Zusammenhalt in einer Koalition. Sie stärken automatisch den Premierminister, der in solchen Zeiten zum natürlichen » Führer « der Regie­ rungsparteien aufsteigt und entsprechend auch akzeptiert wird, wie etwa Pierre Messmer oder Raymond Barre, obwohl beide innerparteilich keine starke Position besaßen. Aber auch in der Öffentlichkeit hoch angesehene Minister können sich für den Einzug ins Hôtel Matignon qualifizieren. Ex-Innenminister Valls ist in jüngerer Zeit dafür ein ebenso markantes Beispiel wie François Fillon, ehemaliger Chef der Education Nationale. Als einer der wichtigsten Organisatoren von Sarkozys Wahlkampf um das Präsidentenamt durfte er auf eine » Beförderung « hoffen. In seiner tagespolitischen Arbeit wird der Premierminister von seinem per­ sönlichen Kabinett unterstützt, ferner vom Generalsekretariat der Regierung und von » dem Premierminister beigeordneten « Ministern oder Staatssekretären. Wie alle anderen Regierungsmitglieder auch, umgibt sich der Premier mit einer Rei­ he engster Mitarbeiter, die fast alle aus den großen Staatskorps kommen und häu­ fig die Ecole Nationale d’Administration absolviert haben. Seit 1981 befanden sich auch zunehmend Parteifreunde in diesem engsten Führungs- und Beratungsgre­ mium. Verlässt ein Premierminister sein Amt, löst sich sein persönliches Kabinett umgehend auf, und seine Mitglieder, die für ihre Tätigkeit im Kabinett beurlaubt worden waren, kehren in ihre Stammministerien oder -behörden zurück. Diese » Vertrauten « sind ebenso wie diejenigen des Staatspräsidenten (oder der Minis­ ter) die » Augen und Ohren « des Amtschefs. Sie beraten den Premierminister in allen politischen Fragen, überwachen die Umsetzung seiner Direktiven, halten Kontakt zu den Ministerien und zum Elysée-Palast, schlichten notfalls zwischen Ressortchefs, bauen Widerstände gegen aus dem » Schloss « kommende Weisun­ gen ab, regen politische Maßnahmen an, sind für das Image des » Chefs « in den

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Medien zuständig und bilden ein wichtiges Bindeglied zu den Parteien der Koali­ tion und zum Wahlkreis des Regierungschefs. Koordiniert wird die Arbeit dieses » brain trust « vom Kabinettsdirektor – meist ebenfalls ein ENA-Absolvent –, der in ständigem Kontakt mit dem Premierminister steht. Über ihn » laufen « alle Vor­ gänge, die den Schreibtisch des Regierungschefs erreichen oder verlassen sollen. Nur wenn er über alle politischen Absichten und Maßnahmen ständig und bes­ tens informiert ist, wird er seiner Funktion als politischer Ratgeber und Koordi­ nator im Amtssitz des Premierministers gerecht.17 Dem Generalsekretariat der Regierung unter Leitung eines Generalsekretärs gehören etwa 100 Verwaltungsbeamte, meist Absolventen der Verwaltungshoch­ schule ENA, an. Seine Hauptaufgaben bestehen insbesondere in der Koordinie­ rung und Vorbereitung der Ministerratssitzungen sowie der interministeriellen Treffen im Hôtel Matignon. Zusätzlich ist es für die korrekte formelle Ausarbei­ tung der Gesetzentwürfe und für die Gesetzesverkündung nach dem parlamen­ tarischen Gesetzgebungsverfahren zuständig. Obliegt dem persönlichen Kabinett des Premierministers die politische Beratung und die Vorbereitung von Initia­ tiven, so konzentriert sich das Generalsekretariat auf die administrative Unter­ stützung des Regierungschefs und seiner Regierung.18 Auch Auskünfte über den Stand eines Gesetzgebungsverfahrens und die Ausarbeitung der Antworten auf parlamentarische Anfragen fallen in seinen Aufgabenbereich. Während die Premierminister und ihre persönlichen Kabinette durchschnitt­ lich alle drei Jahre wechselten, kannte das Generalsekretariat bis 2013 lediglich neun Generalsekretäre. Die personelle Kontinuität über alle Amtswechsel im Re­ gierungssitz hinweg ist zum einen Ausdruck der französischen Verwaltungsstabi­ lität, zum anderen zeigt sie auch das große Vertrauen, das allen Generalsekretären von den einzelnen Premiers entgegengebracht wurde.19 Dem Generalsekretär sind eine Reihe von Verwaltungseinrichtungen wie bei­ spielsweise die Direction der Journaux Officiels oder die Documentation Française unterstellt, die jeweils in den Verantwortungsbereich des Premierministers fallen. Unterstützt wird der Premierminister ferner durch einige ihm Beigeordnete Minister oder Staatssekretäre. Ihre Zahl und ihre Bezeichnung variieren von Re­ gierung zu Regierung. So besaß die zweite Regierung Valls beispielsweise zwei dem Premierminister beigeordnete Minister. In der Regel stand jedem Minister noch ein » Beigeordneter « zur Seite. Dass sich zwischen diesen » Tandems « gele­ gentlich Spannungen ergaben, enthüllte der ehemalige Premierminister Raffarin, der dann schlichtend einzugreifen hatte. Für den Premierminister, aber auch für die Minister stellen die » beigeord­ neten « Regierungsmitglieder eine wesentliche Entlastung bei seinen Koordinie­ rungs-, Kontroll- und Verwaltungsfunktionen dar. » Beigeordnete «, die nur für den ihnen übertragenen Aufgabenbereich verantwortlich sind, erlauben es den

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» Chefs «, Politikfelder, die sie aus politischen Gründen weiterhin betreuen, im Auge zu behalten, ohne sich um die alltäglichen Probleme kümmern zu müssen. Im Gegensatz zu vielen ausländischen Regierungschefs hat bislang jeder Premier­ minister der V. Republik auf die Bestellung eines Ministers zur Koordinierung der Regierungstätigkeit wohlweislich verzichtet; alle Fäden sollen in seiner Hand zu­ sammenlaufen ! Der Vorbereitung von Entscheidungen von großer Bedeutung dienen die in­ terministeriellen Komitees und die interministeriellen Zusammenkünfte.20 Bei den Comités interministériels lassen sich zwei Typen unterscheiden. Ers­ tens die ständigen Komitees, von denen es seit Ende der neunziger Jahre knapp zehn gab.21 Manche von ihnen wurden schon in den Anfangsjahren der V. Repu­ blik gebildet, die meisten jedoch in den achtziger Jahren. Ob, wann und wie häu­ fig sie zusammentraten, lag ausschließlich im Ermessen des Premierministers, der allen Comités kraft Amtes vorsitzt und der zur Erörterung eines Themenbereiches die dafür zuständigen Minister und Staatssekretäre samt einigen wenigen Exper­ ten in seinen Amtssitz bittet. Spezifische Probleme werden zweitens in so genannten Ad-hoc-Comités dis­ kutiert. Auch hier versammeln sich unter dem Vorsitz des Premiers die je nach Thematik kompetenten Minister und Staatssekretäre. Solche Ad-hoc-Treffen fan­ den unter allen Premierministern statt, allerdings in unterschiedlicher Häufigkeit. Durchschnittlich tagten 30 bis 40 Comités restreints.22 Diese Comités vermitteln einen Einblick in den Arbeitsstil eines Premiermi­ nisters. In diesem Sinne ist es aufschlussreich, ob der Premier ein Comité zu Be­ ginn des Diskussionsprozesses zur eigenen Information einberuft oder erst in der Endphase, um gegebenenfalls selbst eine Entscheidung zwischen divergierenden Meinungen zu treffen. Einige Minister rühmen sich privilegierter Beziehungen zum Regierungschef. Entweder verbindet sie eine langjährige Freundschaft oder sie leiten besonders wichtige Ressorts. So trafen sich fast alle Premiers wöchentlich unter » vier Augen « mit den Ministern für Wirtschaft, Finanzen und Inneres, um Kabinettsentschei­ dungen vorzubereiten. Als vorbereitende Entscheidungshilfen für den Regierungschef und seine Ka­ binettskollegen haben die interministeriellen Zusammenkünfte von Fachbeamten und -experten aus den jeweils interessierten Ministerien Bedeutung erlangt. Un­ ter Vorsitz eines engen Vertrauten des Premiers oder des Direktors des General­ sekretariats der Regierung kommen auf Einladung des Generalsekretärs wenige Experten (deshalb » réunion restreinte «) zur Vorbereitung einer Kabinettsvorlage zusammen. Meist wird schon in diesem Stadium eine Entscheidung herbeigeführt, wobei der Vertreter des Premierministers zwischen unterschiedlichen Ansichten entscheidet. Ein Minister, der nicht damit einverstanden ist, kann anschließend

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den Premier um eine Revision bitten. Lagen solche Zusammenkünfte zwischen 1960 und 1970 zum Teil deutlich unter 500 pro Jahr, so stieg ihre Zahl in den fol­ genden Jahren kontinuierlich auf weit über tausend. Kabinettssitzungen, so genannte Conseils de Cabinet ohne den Staatspräsiden­ ten, fanden in der V. Republik äußerst selten statt, da de Gaulle sie nicht wünschte. Nur zu Zeiten der » Cohabitation « wurden sie mehrfach unter Leitung des jeweili­ gen Premiers zur Vorbereitung des Ministerrats abgehalten. Ebenso wie die übrigen Kabinettsmitglieder hat ein Premierminister laut Ar­ tikel 23 der Verfassung bei seiner Bestellung zum Regierungschef sein Abgeord­ neten- oder Senatorenmandat niederzulegen; lokale Mandate, wie das Amt eines Bürgermeisters oder das eines Generalrates (vergleichbar mit einem Kreisrat), durfte er beibehalten. Seit der Amtszeit von Lionel Jospin (1997 – 2002) hatten Ka­ binettsmitglieder solche Mandate niederzulegen. An dieser Praxis hielten auch seine Nachfolger Jean-Pierre Raffarin und Dominique de Villepin fest. Das Gleiche gilt für die sozialistischen Kabinette Ayrault und Valls. Nur unter Sarkozy durften Regierungsmitglieder ihre lokalen Mandate behalten.23 Zumindest einer, der Bür­ germeister von Bordeaux, wäre seiner Regierung sonst nicht beigetreten. So übten fünf der 33 Kabinettsmitglieder der dritten Regierung Fillon (2010 – 2012) gleich­ zeitig ein kommunales Mandat aus. Nach Artikel 23 der Verfassung haben Regierungsmitglieder ihr Parlaments­ mandat niederzulegen. Ziel dieser Verfassungsregel war es vor dem Hintergrund der ständigen Regierungskrisen der IV. Republik, den Regierungszusammenhalt zu stärken. Ihr Mandat übernahm ein Ersatzkandidat (suppléant), der bis zum Ende der Legislaturperiode das Mandat ausübte. Seit der Verfassungsreform von 2008 übt die Ersatzperson diese Funktion nur temporär aus. Denn nach Artikel 25, Absatz 2 der revidierten Verfassung nehmen ausgeschiedene Regierungsmitglie­ der ihren Parlamentssitz automatisch wieder ein. Seit Frühjahr 1988 hat jedes Regierungsmitglied nach seiner Ernennung und kurz nach Entlassung oder Rücktritt seine Vermögensverhältnisse offen zu legen. Diese Regelung wurde im Zusammenhang mit mehreren Korruptionsverdachts­ fällen eingeführt, um einer unabhängigen Kommission die Überprüfung der per­ sönlichen Einkommensverhältnisse der Minister und Staatssekretäre zu ermög­ lichen. Das Gehalt des Premierministers belief sich 2015 einschließlich aller Zulagen auf 20 000 Euro monatlich, dasjenige der Minister auf 15 000 Euro. Eine Pensions­ regelung nach deutschem Muster gibt es nicht. Ein Regierungsmitglied erhält nach seinem Ausscheiden aus dem Amt noch für weitere drei Monate die vollen Amtsbezüge. Kabinettsmitglieder sind für Handlungen, die sie in Ausführung ihres Am­ tes vorgenommen haben, strafrechtlich verantwortlich, sofern diese Handlungen

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zum » Zeitpunkt des Begehens als Verbrechen oder Vergehen gelten «. Seit der Ver­ fassungsänderung vom 19. Juli 1993 haben sie sich dafür vor dem neu geschaffe­ nen » Cour de Justice de la République « zu verantworten (Artikel 68-1). Ankla­ geberechtigt ist » jede Person, die vorgibt, durch eine [solche] Handlung in ihren Rechten verletzt worden zu sein «. Die von mehreren Vorinstanzen zu überprüfen­ de Klage wird schließlich dem 15-köpfigen Gerichtshof vorgelegt, der neben drei Richtern am Kassationsgerichtshof je sechs Abgeordnete und Senatoren umfasst. Hintergrund dieser neuen Regelung sind einige Ministeraffären Anfang der neun­ ziger Jahre, die im Zusammenhang mit AIDS-verseuchten Blutkonserven zu drei Ministeranklagen24 geführt hatten. Da die Mitglieder des damaligen Gerichtsho­ fes jedoch nach dem Mehrheitsprinzip in jeder Kammer separat bestellt wurden, kam es mangels Konsens zu keinem abschließenden Votum, was mit Unmut quit­ tiert wurde.25 Die neue Regelung hat zu einer Entpolitisierung dieses Gerichtsho­ fes geführt, der ausschließlich für Ministeranklagen zuständig ist. Seit Einführung des neuen Gerichtshofes wurden über 700 Klagen gegen Minister erhoben, aber nur sechs verhandelt. Während der ehemalige Premierminister Fabius sowie seine Sozialministerin freigesprochen wurden, verurteilte der Gerichtshof den frühe­ ren Gesundheitsminister. Im Jahre 2004 verhängte das Gericht über den ehemali­ gen Staatssekretär Gillibert eine Geldbuße und eine dreijährige Bewährungsstra­ fe.26 Anfang 2016 musste sich der ehemalige Haushaltsminister Jérôme Cahuzac (PS) wegen des Verdachts der Geldwäsche und der Steuerhinterziehung vor Ge­ richt verantworten. Seit der Amtszeit von Premierminister Bérégovoy ist es üblich, dass Minister, gegen die staatsanwaltschaftlich ermittelt wird, ihr Amt sofort nie­ derlegen müssen.

4.2 Die Minister Waren die Anfangsjahre der V. Republik bis 1968 durch hohe Stabilität im Amt des Regierungschefs geprägt, änderte sich dies unter de Gaulles Nachfolgern. In der Regel amtierte ein Premierminister nicht länger als drei Jahre, bevor er vom Staatschef ausgewechselt wurde, um der Regierung und letztlich der Politik des Präsidenten » neuen Schwung « zu verleihen. Seit der ersten » Cohabitation « 1986 wechselten die Regierungen wegen Wahl­ niederlagen oder einem Wechsel im Amt der Staatspräsidenten alle zwei bis fünf Jahre. Die relative Stabilität der Kabinette der V. Republik mit 19 Premierministern kontrastiert mit einem großen » Verschleiß « an Ressortchefs in den 38 Regierun­ gen bzw. Kabinettsumbildungen zwischen 1958 und 2015. Folglich lag die durch­ schnittliche Lebensdauer einer Regierung bei nur 18 Monaten. Dass der häufige

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Amtswechsel in den Ministerien die dortige Ministerialbürokratie gestärkt hat, gilt als sicher. So beriefen die beiden gaullistischen Staatspräsidenten nicht we­ niger als 124 Minister und Staatssekretäre.27 François Mitterrands drei Minder­ heitskabinette » verbrauchten « zwischen Frühjahr 1988 und März 1993 immerhin 85 Regierungsmitglieder.28 Über den Umfang der Kabinette, die Ressortverteilung und den Kompetenzzu­ schnitt befindet der Staatspräsident im Einvernehmen mit dem Premierminister (bei einer » Cohabitation « gelten andere Maßstäbe). So weisen die Kabinette seit Anfang 1959 sehr unterschiedliche Größen auf. Während im ersten Jahrzehnt der V. Republik die Zahl der Minister und Staatssekretäre unter 30 lag, stieg sie an­ schließend sprunghaft auf 35 bis 40. Manuel Valls zweites Kabinett vom 26. August 2015 zählte 16 Minister, darunter acht Frauen sowie 18 Staatssekretäre bzw. Beige­ ordnete Minister. Fillons bürgerliche Regierung vom 18. Juni 2007 hatte 22 Minis­ ter umfasst, darunter sieben Ressortchefinnen, vier Beigeordnete Minister und nicht weniger als 28 Staatssekretäre (einschließlich der Umbesetzungen). Beide Regierungschefs hatten anscheinend erneut Partei- bzw. Koalitionsfreunde mit Posten » bedient «, auch um innerparteiliche Gegner mit einzubinden. Bei der Regierungsbildung von 2007 beschritt Sarkozy einen bislang einmali­ gen Weg. Erstmals in der Geschichte der V. Republik seit 1962 betraute er Mitglie­ der der oppositionellen Linken mit Ministerien, u. a. mit dem Außenministerium. Ein willkommener Nebeneffekt dieser » Öffnung « war die weitere Schwächung der durch die Wahlverluste und interne Auseinandersetzungen desorientierten Sozia­ listischen Partei. Einige Ministerien kannten im Laufe der Jahrzehnte nur wenige Amtsinhaber; in anderen dagegen fanden ständige Wechsel statt. So wurde das Außenministe­ rium, das » Quai d’Orsay «, zwischen 1959 und 1968 nur von einem einzigen Minis­ ter, Maurice Couve de Murville, geleitet; das Armee- bzw. Verteidigungsministeri­ um blieb von 1960 bis 1969 in der Hand von Pierre Messmer. Jack Lang, Mitterrands sozialistischer Kulturminister, leitete sein Ressort genauso lang wie de Gaulles le­ gendärer Staatsminister für kulturelle Angelegenheiten, André Malraux, nämlich zehn Jahre. Andere Ressorts glichen eher einem » Taubenschlag «. Lösten sich in der IV. Republik wegen Koalitionszerfall meist alle sechs Mona­ te die Ministerpräsidenten ab, so behielt ein Großteil der Minister ihr Ressort; in der V. Republik war es bislang eher umgekehrt. Nach Artikel 8 der Verfassung ernennt und entlässt der Staatspräsident die Re­ gierungsmitglieder auf Vorschlag des Premierministers (die » Cohabitation « ist im Folgenden erneut weitgehend ausgeklammert). Üblicherweise legt der Premierminister dem Staatschef eine Namensliste vor, die er zuvor mit dem Generalsekretär des Präsidialamtes besprochen hat. Wäh­ rend Charles de Gaulle und Georges Pompidou sich hauptsächlich für die Beset­

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zung einiger weniger Kabinettsposten besonders interessierten, kümmerten sich seine Nachfolger um die Berufung nahezu jedes Ministers und Staatssekretärs. So » diktierte « Chirac seinen designierten Regierungschefs zahlreiche Regierungs­ mitglieder; er bestand unter anderem darauf, zehn Mitarbeiter aus seiner Amts­ zeit als Pariser Bürgermeister mit einem Ressort zu betrauen.29 Nicolas Sarkozy legte seinem Premierminister nicht nur eine fertige Kabinettsliste vor, sondern auch den jeweiligen Ministern die Namen ihrer Kabinettsdirektoren. Durch diese seit Beginn der V. Republik erkennbaren und im Laufe der ver­ schiedenen Septennate noch zunehmenden Eingriffe der Staatspräsidenten in die Regierungsbildung hat sich die Funktion eines Ministers oder Staatssekretärs ge­ wandelt. In ihrer Abhängigkeit einmal von dem Premierminister, der sie formell vorgeschlagen hat, zum anderen von dem Staatschef, dem sie letztlich ihre Ernen­ nung verdanken, sind sie zu Mitarbeitern bzw. Zuarbeitern des Staatschefs gewor­ den; aus den » Ministern als den politischen Entscheidungsträgern wurden Berater des Präsidenten «, wie Didier Maus diesen Rollenwandel deutet.30 Eine weitere Veränderung in diesem Bereich unterscheidet die V. Republik zu­ sätzlich von ihrer Vorgängerin. Die Minister werden nicht mehr wie vor 1959 von ihren Parteien delegiert und sie nehmen ihre Ämter auch nicht mehr aufgrund ih­ rer Parteifunktionen wahr. Zwar hat sich der Anteil der Kabinettsmitglieder, die eine wichtige Verantwortung in ihrer Partei innehatten, deutlich erhöht. Aber spä­ testens seit Giscard d’Estaing legten die Staatspräsidenten großen Wert darauf, kei­ ne Spitzenpolitiker mit einem Ministerium zu betrauen. So hatten beispielsweise die seit 1974 amtierenden gaullistischen Minister zu­ vor keine herausragende innerparteiliche Rolle gespielt. François Mitterrand teilte seinen Ministern im Mai 1981 mit: » Sie hören auf, Vertreter Ihrer Parteien zu sein; Sie sind jetzt Repräsentanten Frankreichs. « Erst Staatspräsident Chirac wich von dieser Grundregel seiner Vorgänger ab, als er seinen engen Vertrauten und – am­ tierenden – RPR-Vorsitzenden Juppé zum Regierungschef berief. Parteichefs kleinerer Koalitionsparteien wurden dagegen häufig mit einem Ressort betraut, so beispielsweise Valéry Giscard d’Estaing, der Vorsitzende der Unabhängigen Republikaner, als Wirtschafts- und Finanzminister von 1962 bis An­ fang 1966 und erneut von 1969 bis 1974. Erst Jacques Chiracs » Cohabitation «-Ka­ binett umfasste ab 1986 die führenden Repräsentanten der bürgerlichen Koali­ tion31 – eine Entwicklung, die sich bei allen weiteren Links- wie Rechtskabinetten fortsetzte, um die unterschiedlichen Strömungen innerhalb der jeweiligen Koali­ tion in die Kabinettssolidarität einzubinden. Allerdings verzichtete Regierungs­ chef Jospin im Mai 1997 auf seine Funktion als Erster Sekretär der PS. Das politische Gewicht eines Ministers der V. Republik hängt weniger von sei­ ner Position im Koordinatensystem seiner Partei ab, als von dem Ressort, das er verwaltet, und von dem Vertrauen, das ihm der Staatspräsident entgegenbringt.

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Gerade diesem letzten Kriterium kam sowohl unter Charles de Gaulle als auch un­ ter François Mitterrand besondere Bedeutung zu. Langjährige Weggefährten, die beiden während vieler Oppositionsjahre (» la traversée du désert «) die Treue ge­ halten hatten, wurden ebenso wie enge persönliche Freunde nach Amtsantritt mit einem Ministerium betraut. Auch achteten alle Präsidenten darauf, dass die inner­ parteilichen Strömungen ihrer Parteien sich in der Kabinettszusammensetzung widerspiegelten. Bei Bildung der ersten Regierung Juppé im Jahr 1995 » strafte « Staatschef Chirac diejenigen Politiker » ab «, die im ersten Stimmengang der Prä­ sidentschaftswahl für seinen Konkurrenten Balladur eingetreten waren; er formte das neue Kabinett ganz nach seinen Vorstellungen. Jean-Pierre Raffarin hatte 2002 nicht nur den kleinen Koalitionspartner UDF mit – allerdings lediglich – zwei Ka­ binettsposten bedacht, sondern vor allem die verschiedenen Komponenten der neu gegründeten bürgerlichen Sammlungsbewegung UMP.32 Die Schlüsselminis­ terien wurden – wie auch unter seinem Nachfolger – mit Chirac-Getreuen be­ setzt. Allerdings musste der Staatspräsident nach dem gescheiterten EU-Verfas­ sungsreferendum im Jahr 2005 mit dem UMP-Präsidenten Nicolas Sarkozy seinen schärfsten Widersacher (erneut) in die Regierung aufnehmen. Das Ressort, für das ein Minister verantwortlich zeichnet, steigert dessen Pres­ tige innerhalb des Kabinetts und hebt ihn deutlich von manchen Kollegen ab. Dies gilt insbesondere für das Amt des Finanz- und Wirtschaftsministers, die » Rue de Rivoli « bzw. seit dem Umzug im Jahre 1991 der » Quai Bercy «. Nicolas Sarkozy wagte als Superminister in diesem Ressort sogar Konflikte mit dem Staatspräsi­ denten. Zwar musste er sich dessen Willen schließlich fügen, gewann aber in der Öffentlichkeit entsprechendes Ansehen. Die Einflussnahme des Präsidenten auf die Regierung ist nicht nur auf die Auswahl der Kabinettsmitglieder beschränkt, sondern sie setzt sich in der Regel während seiner gesamten Amtszeit fort (außer in Zeiten der » Cohabitation «). So beschränkt er sich nicht nur auf die wöchentlichen Ministerratssitzungen und re­ gelmäßige Zusammenkünfte mit einzelnen Ressortchefs, sondern er versendet auch entsprechende Richtlinien als Hinweise, welche Politikfelder er in den kom­ menden Monaten bevorzugt bearbeitet wissen möchte. Staatschef Chirac machte bei den konservativen Premiers auf diese Weise von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch. Sein » Cohabitation «-Regierungschef Jospin bediente sich ebenfalls dieses Instruments in Form eines » Circulaire relative à l’organisation du travail gouvernemental «.33 In der Regel legt die Regierung ein Arbeitsprogramm für die nächsten sechs Monate fest. Kontakte zwischen dem Staatschef und einzelnen Kabinettsmitgliedern neben den Routinezusammenkünften im Elysée-Palast oder anderen offiziellen Gelegen­ heiten hinaus sind nicht unüblich. Es steht dem Präsidenten frei, Minister oder Staatssekretäre direkt anzusprechen und sie in das Präsidialamt zu bitten, ohne

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dass der Premierminister darüber offiziell unterrichtet wird. Die Art und Intensi­ tät dieser Praxis hing von der jeweiligen Persönlichkeit ab. Giscard d’Estaing und Chirac machten ausgiebig davon Gebrauch. Charles de Gaulle verzichtete darauf, nachdem sich Premierminister Debré 1962 über Gespräche hinter seinem Rücken beschwert hatte. Mitterrand beschränkte sich hauptsächlich auf informelle Kon­ takte mit Ministern, die zu seinen Getreuen (» les fidèles «) zählten. Von Chirac wird über regelmäßige Telefonate mit zahlreichen Ministern und hohen Beamten berichtet. Sarkozy umgab sich mit einem Kreis ihm besonders ergebener Minis­ ter, ohne dass Premierminister Fillon offiziell über den Inhalt dieser Treffen infor­ miert wurde. Wenn die Präsidenten auch mehrfach die Verantwortung des Gesamtkabinetts vor dem Parlament betonten, so ließen ihre Äußerungen doch keinen Zweifel da­ ran, dass ein Minister zuvörderst ihnen gegenüber verantwortlich zu sein hatte. » Wenn jemand Minister geworden ist, verdankt er dies de Gaulle, und ihm allein gegenüber ist er verantwortlich «, beschreibt der General in seinen Memoiren die Verfassungswirklichkeit; seine Nachfolger hielten es genauso. Auch Mitterrand bestand darauf, dass die sozialistischen Regierungen nach außen hin geschlossen auftraten; intern behandelte er sie jedoch eher wie ein Team ausschließlich ihm verpflichteter Personen. Inwieweit ein Premier in die Arbeit eines Kabinettskollegen hineinregiert oder ob er diesem ein hohes Maß an Autonomie gewährt, hängt » vom Temperament des Premierministers ab « (Mitterrand). So schickten fast alle Regierungschefs ih­ ren Kabinettskollegen » Handlungsanweisungen « für ihre Tätigkeit bis zum Ende der Legislaturperiode. Eines allerdings darf der Premierminister nicht: Er darf sich nicht in die Amtsführung eines Ministers einmischen oder gar diesen zur Durchführung einer bestimmten Maßnahme zwingen.34 Da der Minister für sei­ nen Zuständigkeitsbereich politisch verantwortlich ist, hat er als » Herr in seinem eigenen Haus « zu gelten; ohne seine Gegenzeichnung können, sofern dies erfor­ derlich ist, keine Entscheidungen des Ministerrates verabschiedet werden und Wirkung entfalten. Da ein Minister an der Formulierung der Politik im Ministerrat oder in einem Conseil bzw. Comité restreint nahezu immer beteiligt ist, muss er solche Beschlüs­ se auch in der Öffentlichkeit vertreten. Verstöße gegen die Kabinettssolidarität führen konsequenterweise zur Entlassung. Solche Fälle hat es in allen Kabinet­ ten der V. Republik gegeben.35 Die spektakulärsten waren der » Rausschmiss « von Jean-Jacques Servan-Schreiber, Minister für Reformen, nach nur 13-tägiger Amts­ führung im Jahr 1974. Er hatte öffentlich gegen Frankreichs Atomwaffenversuche im Südpazifik demonstriert. Leon Schwartzenberg, Beigeordneter Minister für Ge­ sundheitsfragen, wurde von Michel Rocard nach knapp 14-tägiger Amtsdauer u. a. wegen seiner Äußerungen zu AIDS und zu harten Drogen entlassen. Ähnlich er­

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ging es im August 1995 Alain Madelin, in der ersten Regierung Juppé Superminister für Wirtschaft und Finanzen, nachdem er die Sozialpolitik des Regierungschefs kritisiert hatte.36 Manuel Valls » schmiss « bei der Regierungsumbildung im Herbst 2014 drei Kabinettskollegen aus der Regierung, da diese – wie Wirtschaftsminis­ ter Montebourg – seine Reformpolitik in aller Öffentlichkeit heftig kritisiert hat­ ten. Der mehrfache Minister verschiedener sozialistischer Kabinette, Jean-Pierre Chevènement, kommentierte die von den Ministern erwartete Solidarität mit drastischen, inzwischen häufig zitierten Worten: » Ein Minister hält die Schnau­ ze. Wenn er sie öffnen will, hat er zurückzutreten. «37 Er selbst blieb sich diesem Grundsatz mehrfach treu. So trat er wegen der Korsikapolitik der Linksregierung im August 2000 von seinem Amt als Innenminister zurück. 16 Jahre später trat Justizministerin Christiane Taubira » erhobenen Hauptes « zurück, da sie Hol­landes Pläne, den Ausnahmezustand in der Verfassung zu verankern, ebenso ablehnte wie seinen Plan, verurteilten Terroristen die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Eine Geschäftsordnung kennt die französische Regierung nicht, was unter manchen Premierministern zu Erlassen führte, die zu Beginn einer Regierungs­ zeit – quasi als Verhaltenskodex – den Regierungsmitgliedern entsprechende or­ ganisatorische Hinweise gaben und als Richtschnur für gemeinsames Handeln galten. Seit dem Jahre 1985 behilft sich die Regierung mit einem von ihrem Ge­ neralsekretariat entworfenen » Schriftstück für Regierungsarbeit «, das eher einer Handreichung zur Durchführung der verschiedenen Sitzungsarten ähnelt.38 Obwohl das Regierungshandeln – theoretisch – die Geschlossenheit der Ka­ binettsmitglieder impliziert, werden regelmäßig Differenzen zwischen den Regie­ rungsmitgliedern publik. Dies gilt auch in Zeiten ideologischer Übereinstimmung, nicht nur für Meinungsverschiedenheiten zwischen einem Premierminister und dem Staatspräsidenten, sondern auch zwischen dem Regierungschef und einzel­ nen Ministern sowie zwischen letzteren. Alle bisherigen Premierminister waren mit solchen » Disziplinlosigkeiten « einzelner Kabinettsmitglieder konfrontiert. Die glücklose Premierministerin Edith Cresson beklagte sich nach ihrem Rücktritt im Jahr 1992 über die mangelhafte Unterstützung ihrer Politik durch die eige­nen Kabinettskollegen.39 Schon im Sommer 1976 hatte sich Jacques Chirac auf seiner damals letzten Ministerratssitzung in ähnlicher Weise geäußert. Pierre Mauroy wurde häufig mit dem Problem konfrontiert, dass die vier kommunistischen Mi­ nister am Kabinettstisch die Regierungspolitik zwar billigten, sich als Parteimit­ glieder aber anschließend davon distanzierten. Kein (ehemaliger) Premierminister ging jedoch in seiner Kritik an Kabinettskollegen so weit wie Michel Rocard. Vier Jahre nach seinem erzwungenen Rücktritt warf er einigen Ministern illoyales Ver­ halten vor: » Weder [Innen- bzw. Verteidigungsminister] Joxe noch [Wirtschaftsund Finanzminister] Bérégovoy waren geneigt, mir zu gehorchen. « Außen­minister Dumas bezeichnete er sogar als seinen » ausdauerndsten Feind «.40

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Auseinandersetzungen zwischen Ministern kommen ebenfalls nicht selten vor und dringen in der Regel an die Öffentlichkeit. Dies gilt besonders für Koalitions­ regierungen. Im Mittelpunkt des Streits steht oft der Finanzminister, dem dann von einem empörten Kollegen mangelndes Gespür für eine » zwingend notwendi­ ge Erhöhung von Finanzzuweisungen « vorgeworfen wird (so z. B. Sozialminister Borloo im Jahre 2004 gegenüber Wirtschafts- und Finanzminister Sarkozy). Auch Koalitionspartner zögern nicht, den Gesetzentwurf eines Kollegen hef­ tig zu kritisieren, sobald er auf starken Widerstand in der Öffentlichkeit stößt. Sie fordern dessen Rücknahme oder inhaltliche Abschwächung, was – wie die » Kor­ rekturen « an beschlossenen Gesetzentwürfen zur Sozialpolitik im Frühjahr 2004 und am Gesetz über Ersteinstellungen im Jahr 2006 gezeigt haben – gelegentlich geschieht.41 Ebenso wie die Ernennung wird auch die Entlassung eines Ministers vom Staatspräsidenten auf Vorschlag des Premierministers verfügt. Gemeinhin sind Regierungsumbildungen oder die Bestellung eines neuen Premierministers aus den Reihen derselben Koalitionspartner Anlass für den Abschied von Minis­ tern. Diese erfahren ihre Entlassung häufig erst über die Medien, und es verblei­ ben ihnen manchmal nur wenige Stunden, ihre » Schreibtische auszuräumen «.42 Ressortwechsel kommen gleichfalls häufig vor. So wurde im Herbst 2014 bei­ spielsweise die bisherige Sportministerin Najat Vallaud-Belkacem mit einem der wichtigsten Ministerien, dem Erziehungsressort, betraut. Auch die ebenfalls aus Marokko stammende bisherige Staatssekretärin im Wohnungsbauministe­rium Myriam El Komri wechselte im Sommer 2015 in das prestigeträchtige Arbeitsmi­ nisterium. Die Kabinette der V. Republik kennen außer dem Premierminister drei Typen von Regierungsmitgliedern. 1. An protokollarisch vorderster Stelle stehen die Staatsminister. Aus diesem eh­ renvollen Titel leiten sich jedoch keine zusätzlichen Kompetenzen ab. Häu­ fig handelt es sich um Persönlichkeiten, welche die besondere Wertschätzung des Staats- oder Regierungschefs genießen, wie André Malraux bei de Gaulle, Simone Veil im Kabinett Balladur oder Alain Juppé 2007. Aber auch führende Koalitionspartner oder Vertreter von Parteiströmungen werden durch einen solchen Titel ausgezeichnet. Staatsminister und Minister leiten ihre Ressorts selbständig. Formale Unterschiede zwischen klassischen Ministerien wie Ver­ teidigung und Justiz sowie technischen wie etwa Städtebau oder Meeresfragen gibt es nicht, wohl aber solche des politische Gewichts. 2. Vielen Ministern, besonders aber dem Premierminister, sind Minister für ei­ nen besonderen Aufgabenbereich » beigeordnet «. Diese Beigeordneten Minis­ ter sind ihrem Ressortchef untergeordnet und an seine Weisungen gebunden.

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3. Die Staatssekretäre sind nur sehr bedingt mit deutschen Parlamentarischen Staatssekretären vergleichbar. Sie nehmen nicht automatisch an den Sitzungen des Ministerrats teil; auch ist ihre Gegenzeichnung für Rechts- und Verwal­ tungsakte nicht erforderlich. Ihre Hauptfunktion besteht in der Unterstützung der Arbeit eines Ministers für einen bestimmten Aufgabenbereich, beispiels­ weise im Falle des Sozialministers für » Fragen der Familien, der älteren Men­ schen und der Repatriierten «. Ihre Teilnahme am Ministerrat ist auf die Be­ handlung von Themen ihrer Aufgabengebiete begrenzt. Der Generalsekretär der Regierung schlägt in einem solchen Fall dem Staatspräsidenten die Namen der Staatssekretäre vor, deren Teilnahme vorgesehen ist. Ihre relativ große An­ zahl in vielen Kabinetten der V. Republik (meist zwischen 16 und 18) hängt oft weniger mit neuen Schwerpunktsetzungen zusammen, als mit der Befrie­ digung der personalpolitischen Wünsche des Koalitionspartners oder mit der Berücksichtigung innerparteilicher Strömungen. Welche Kriterien die Auswahl von Regierungsmitgliedern beeinflussen, belegt eine Studie von Pascale und Jean-Dominique Antoni über Rekrutierungen in den sechziger und siebziger Jahren.43 Ihre Ergebnisse werden durch jüngere Unter­ suchungen bestätigt:44 Herausragendes Kennzeichen der französischen Minis­ ter und Staatssekretäre der V. Republik ist ihre Herkunft aus der hohen Beam­ tenschaft des Staates. Während die Kabinette der III. Republik hauptsächlich von Juristen und Medizinern beherrscht wurden, die sich auf ihre zunächst lokalen, dann nationalen Parlamentsmandate stützten, ist die V. Republik zur » Republik der Funktionäre « (Roger-Gérard Schwartzenberg) geworden. Diese » neuen « Re­ gierungsmitglieder verdankten ihren » Königsweg « nicht einer Parteifunktion und auch nicht der früher üblichen parlamentarischen Bewährung. Wichtigstes Sprungbrett für sehr viele war in der V. Republik die Tätigkeit in einem » Cabi­ net ministériel « oder » présidentiel «, von dem aus sie oft direkt die Leitung eines Ministeriums übernahmen. Dies traf weitgehend auch auf die sozialistischen Ka­ binette zu. Nur in den Regierungen Pierre Mauroys kamen stärker verdiente Par­ teimitglieder zum Zuge, da es wegen der langjährigen Oppositionsrolle der PS an sozialistischen Spitzenbeamten fehlte. Aber schon Laurent Fabius kehrte 1984 teil­ weise zum traditionellen Modell der Ministerrekrutierung der V. Republik zurück. So hatte beispielsweise die Hälfte der Minister im zweiten Kabinett von Manuel Valls einen Abschluss an einer der Grandes Ecoles oder an gleichwertigen Hohen Schulen vorzuweisen. Unter François Fillon traf ein solches » Prädikat « bei den 22 Ressortchefs seiner zweiten Regierung auf 19 zu. Lässt man die schon erwähnte persönliche Wertschätzung der Staatspräsiden­ ten zu einigen seiner » Compagnons « oder » Fidèles « unberücksichtigt, so werden folgende Kriterien für eine Ernennung deutlich:

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■■ In nahezu allen Regierungen der V. Republik entstammte fast der Hälfte aller Minister dem öffentlichen Dienst, wobei besonders die Tätigkeit in einem der Hohen Staatskorps auffällt. ■■ Ihre akademische Ausbildung – Nichtakademiker finden sich kaum unter den Ministern der V. Republik (markanteste Ausnahme ist Pierre Bérégovoy) – ha­ ben sehr viele Regierungsmitglieder nach Besuchen des Pariser Instituts für Politische Wissenschaften oder juristischer Fakultäten an der Verwaltungs­ hochschule ENA abgeschlossen. ■■ Ein weiteres Merkmal für die Veränderung der Rekrutierungsmuster nach 1958 war die verstärkt auftretende Berufung von Nichtparlamentariern in die Re­ gierungen, d. h. von Personen, die vor ihrer Ernennung zum Minister weder Senatoren noch Abgeordnete gewesen waren. Solche Technokraten, wie diese Kategorie der Minister gerne genannt wird, haben ihre Karriere, wie erwähnt, in den Kabinettsstäben der Ministerien, des Premierministers und des Präsi­ denten begonnen. Jacques Chirac, Raymond Barre, Edouard Balladur, Pierre Bérégovoy und Jean-Louis Bianco lassen sich als herausragende Beispiele an­ führen. Über die Hälfte der Regierungen in den ersten Jahrzehnten der V. Republik wies durchschnittlich ein Drittel solcher Technokraten auf. Mochte die Abneigung Ge­ neral de Gaulles gegenüber den politischen Parteien in den Anfangsjahren der V. Republik ein Grund für die Berufung von Nichtparlamentariern gewesen sein, so gaben seit 1974 und auch seit 1981 die berufliche Qualifikation und/oder ein persönliches Vertrauensverhältnis zum Premierminister oder zum Staatschef den Ausschlag. Dabei ist aber zu bedenken, dass die meisten dieser » TechnokratenMinister « sich bei Neuwahlen um ein Abgeordnetenmandat bewarben, ja sogar vom Staatspräsidenten oder vom Premierminister ausdrücklich dazu aufgefor­ dert wurden. Eine » Erfolgsgarantie « gab es bei solchen Kandidaturen aber nicht immer. Auch in jüngerer Zeit findet sich ein relativ hoher Prozentsatz von Nichtparla­ mentariern in den Regierungen. So waren jeweils sieben Kabinettsmitglieder von insgesamt 17 in der Regierung Fillon II bzw. 16 im Kabinett Valls II ohne Parla­ mentsmandat. Allerdings ist die Karriere ganz ohne die Erfahrung eines politischen Mandats stets die Ausnahme in der V. Republik gewesen. In allen Kabinetten dominierte die klassische Karriere in Form einer Kombination aus parlamentarischem Man­ dat – häufig zunächst auf örtlicher oder departementaler Ebene, dann im Parla­ ment – und Parteiaktivität. Der Karrierestrang Partei begann entweder mit dem langsamen Aufstieg von lokalen Parteiämtern in nationale Führungspositionen (so bei den Sozialisten und den kleineren bürgerlichen Parteien) oder u. a. auf

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Wunsch eines Parteiführers (so bei den Gaullisten) mit dem direkten Übertritt in die Parteiführung. Hinsichtlich der Parteiaktivitäten gab es deutliche Unterschiede: Unter Staats­ präsident de Gaulle hatte nur etwa ein Drittel der Minister Erfahrungen in der Par­ teipolitik vorzuweisen. Unter seinem Nachfolger Pompidou waren es schon 50 Pro­ zent; unter Giscard d’Estaing gab es einen signifikanten Rückgang, dann während des ersten Septennats von François Mitterrand wieder einen Anstieg auf 77 (Re­ gierung Mauroy) bzw. 64,4 Prozent (Regierung Fabius).45 Nur selten finden sich Parteilose seit der Jahrhundertwende noch in den Kabinetten. Markantes jüngeres Beispiel war die Berufung des neuen Wirtschaftsministers Emmanuel Macron zum Nachfolger des » Krawallministers « (so einige Presseorgane) Arnaud Montebourg. Markant ist ebenfalls die soziale Herkunft der Minister: Über 90 Prozent aller Regierungsmitglieder entstammten den gehobenen Gesellschaftsschichten.46 Mi­ nisterinnen oder Staatssekretärinnen fanden sich in den Kabinetten der V. Re­ publik bis 1974 nur ganz vereinzelt. Erst unter Giscard d’Estaing und vor allem unter Mitterrand gewannen sie zahlenmäßig und auch politisch an Gewicht. Ver­ mehrt wurden Frauen einflussreiche Ministerien übertragen. Die stärkere Betei­ ligung von Frauen setzte sich auch Mitte der neunziger Jahre fort. Kannte Fillons zweites Kabinett nur sieben Ministerinnen, vergab der Sozialist Valls die Hälfte aller Ressorts an Frauen. Verschiedene Versuche, die Kabinette zu verjüngen, ka­ men nicht sonderlich voran. So lag beispielsweise das Durchschnittsalter der Ka­ binette Fillon II und Valls II bei Amtsantritt jeweils bei 55 Jahren. In der regionalen Herkunft der Regierungsmitglieder gab es zwischen bürger­ lichen und linken Kabinetten kaum Unterschiede. In der Regel wird » flächende­ ckend « rekrutiert, wobei die Pariser Region allerdings eindeutig herausragt. Alle Regierungen der V. Republik waren Koalitionsregierungen. Die Direkt­ wahl des Staatspräsidenten und das System der absoluten Mehrheitswahl führ­ ten dazu, dass sich kleine Parteien spätestens im zweiten Wahlgang einer der bei­ den Großen (Gaullisten und Sozialisten) anschlossen, um durch Wahlabsprachen in der Nationalversammlung vertreten zu sein. Solche Vereinbarungen mündeten anschließend in eine Koalitionsregierung. Selbst wenn eine der großen Parteien die absolute Mandatsmehrheit erzielt hatte, verzichtete sie nicht auf einen oder gar mehrere kleine Partner. Koalitionsverträge wie in Deutschland sind nicht üblich. Richtschnur des Regierungshandelns sind in der Regel die Wahlprogramme des siegreichen Bewerbers für das höchste Staatsamt. Einen offenen Koalitionsbruch gab es seit 1962 nur zweimal: 1984 schieden die Kommunisten aus der Linksregierung aus, 2014 die Grünen, u. a. wegen Hollandes bzw. Valls’ Weigerung, ein festes Datum für die Stilllegung des Kernkraftwerkes Fessenheim zu nennen sowie aus Unzufriedenheit mit der – in ihren Augen – zu liberalen Wirtschaftspolitik. In beiden Fällen war aber die Mandatsmehrheit der

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Sozialisten und ihres kleinen Koalitionspartners der Radikalsozialisten nicht ge­ fährdet. Dass die Regierung unter allen Staatspräsidenten zunehmend zu einem Aus­ führungsorgan präsidentieller Weisungen geworden ist, wurde oben mehrfach ausgeführt. Die Zusammenlegung der Präsidentschaftswahlen mit den – weni­ ge Wochen später – stattfindenden Wahlen zur Nationalversammlung hat diesen Trend verstärkt. Sarkozys » Hyperpräsidentschaft « führte zur einzigartigen Un­ terordnung des Premierministers unter » Anregungen « aus dem » Schloss «. Sein Nachfolger Hollande bekundete in seiner Rede zur Amtseinführung vom 15. Mai 2012 seinen Willen, diese Entwicklung rückgängig zu machen: Gemäß der Ver­ fassung, so der neue Staatschef, » wird die Regierung die Politik bestimmen und die Nation führen. « Schlechte Umfragewerte des Staatsoberhauptes und schwache Wirtschaftsdaten ermöglichten es seinen Regierungschefs Ayrault (2012 – 2014) und Valls (seit 2014) in der Tat, größeren innenpolitischen Handlungsspielraum zu erlangen.

4.3 Die Verwaltungselite Frankreichs Verwaltungselite, welche die Schaltpulte der zentralen Entschei­ dungszentren in Politik und in der (halb-)staatlichen Wirtschaft bedient, umfasst ungefähr 5 500 Personen.47 Es handelt sich zum großen Teil um Mitglieder der so genannten Grands Corps, in die sie nach Absolvierung einer der Grandes Ecoles aufgenommen wur­ den. Sechs dieser Grands Corps (insgesamt gibt es 21) zählen zu den Spitzenkorps, aus denen sich wiederum die hohe Ministerialbürokratie in den Ministerien, aber auch die leitenden » Vertrauten « in den präsidentiellen und ministeriellen Mitar­ beiterstäbe rekrutieren: An vorderster Stelle sind der Staatsrat (Conseil d’Etat) mit 304 Mitgliedern, die Finanzinspektion (Inspection des Finances) mit 206 Mitglie­ dern und der Rechnungshof (Cours des Comptes) mit 377 Mitgliedern zu nennen. Aber auch die technischen Korps, wie das Corps des Mines und das Corps des Ponts et Chaussées, sowie das diplomatische und das präfektorale Korps ste­ hen den oben genannten kaum an Prestige nach.48 Ihre Ursprünge lassen sich teil­ weise bis ins Ancien Régime zurückverfolgen. Der Staatsrat und der Rechnungs­ hof entstanden 1799 bzw. 1807, die Finanzinspektion als » jüngstes « dieser äußerst angesehenen Korps erst 1816.49 Diese Korporationen der Spitzenbeamten mit je­ weils eigenen Statuten verfügen nicht nur aufgrund ihrer herausgehobenen Stel­ lung über die Möglichkeit, die wichtigsten Verwaltungsämter in den Ministerien zu besetzen. Sie stellen auch eines der wichtigsten Personalreservoirs für Funktio­ nen in den Cabinets ministériels, im Politikbetrieb und in den Unternehmen dar.

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Für Tätigkeiten dieser Art werden die Beamten beurlaubt oder abgeordnet; nach Beendigung ihrer » Mission « steht ihnen die Rückkehr in das Korps offen. Die Verwaltungsspitzen der Ministerien rekrutieren sich nahezu ausnahmslos aus Mitgliedern der Grands Corps.50 Jedes Ministerium verfügt neben der politischen Führung, dem in der Regel von seinem persönlichen Mitarbeiterstab unterstützten Minister, über eine ad­ ministrative Spitze. Diese letztgenannte ist in allen französischen Ressorts weit­ gehend ähnlich: An der Spitze der ministeriellen Verwaltungshierarchie stehen die Direktionen unter Leitung eines Direktors bzw. eines Generaldirektors, so­ fern einem Generaldirektor mehrere Direktionen unterstellt sind. Die Direktio­ nen sind in » Unterdirektionen « unterteilt, denen wiederum mehrere » Büros « zu­ geordnet sind.51 Ebenso wie Deutschland kennt Frankreich die Kategorie der » politischen Be­ amten «, die gegebenenfalls jederzeit und ohne förmliche Begründung von der politischen Führung entlassen oder versetzt werden können. In Frankreich zäh­ len etwa 500 Personen zu diesem Kreis: die leitenden Beamten der Ministerien (etwa  200), insbesondere die Direktoren, die Präfekten (ca. 120) und Botschaf­ ter (etwa 150) sowie die 28 Rektoren der Akademien (Universitäts- und Hoch­ schulverwaltungs-Einheiten). Die Gesamtzahl dieser » der Regierung zur Verfü­ gung stehenden Arbeitsverhältnisse « ist nicht begrenzt, sondern wird durch ein Dekret des Ministerrates festgelegt. Dadurch kann die Regierung die Zahl der » politischen Beamten « steigern, um ihr besonders loyale Anhänger in den Mi­ nisterialapparat zu platzieren. Im Gegensatz zu den Mitgliedern der persönlichen Mitarbeiterstäbe verbleiben diese Beamten bei einem Ministerwechsel in ihren Funktionen, sofern der neue Ressortchef mit ihnen zusammenarbeiten will. Nach Jacques Fourniers Angaben leiten die » Politischen « in der Regel dreieinhalb Jahre lang eine Direktion, bevor ihnen ein anderes, meist gleichwertiges oder noch hö­ her dotiertes Tätigkeitsfeld zugewiesen wird.52 Fast alle Mitglieder der Grands Corps haben zunächst eine Grande Ecole be­ sucht. Zentrale Ausbildungsstätte der administrativen Korps ist die 1945 gegrün­ dete Ecole Nationale d’Administration (ENA), die der technischen Korps die Ecole Polytechnique (die sogenannte » X «). Beide Grandes Ecoles, aber auch die vielen anderen rekrutieren ihre Studenten nach einem rigorosen Auswahlpro­ zess. Die 1794 gegründete und von Napoleon 1804 reformierte » X « (so genannt wegen der zwei gekreuzten Kanonen in ihrem Logo) nimmt hauptsächlich Abi­ turienten auf, die einen zweijährigen äußerst anspruchsvollen Vorbereitungskurs an ausgewählten Gymnasien erfolgreich bestanden haben. Anschließend können ihre Ab­solventen zu vertiefenden Spezialstudien beispielsweise auf die Ecole des Mines, die Ecole des Ponts et Chaussées oder eine andere technische Spezialschu­ le wechseln.

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Für einen Ausbildungsplatz an der ENA können sich zur Hälfte Studenten mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium bewerben – meist Absolventen der In­ stitut d’Etudes Politiques53, allen voran das in Paris ansässige Institut –, zur ande­ ren Hälfte aber Angehörige des öffentlichen Dienstes. Wer zu den jährlich etwa 120 Aufgenommenen zählt, erhält – ebenso wie die rund 400 » X «-Studenten pro Jahr – ein Gehalt sowie die Gewissheit, dass seine berufliche Karriere gesichert ist. Die Besten eines Jahrgangs dürfen sich » ihr « Korps aussuchen; aber auch für die schlechter Platzierten finden sich hinreichend Leitungsfunktionen in der staatli­ chen Verwaltung. Die Bedeutung der Grandes Ecoles beruht darauf, dass sie bei der Elitenrekru­ tierung für die Verwaltung, aber auch für die Politik sowie die Wirtschaft fast eine Monopolstellung einnehmen. Für die Verwaltungseliten der V. Republik haben diese Verfahrensweisen vor allem drei Konsequenzen: 1. Es herrscht das Muster der Selbstrekrutierung vor. 2. Das formale Kriterium der Zugehörigkeit zur Verwaltungselite ist die wich­ tigste Voraussetzung für das Erlangen politischer und wirtschaftlicher Füh­ rungsfunktionen. 3. Seit Mitte der siebziger Jahre lässt sich eine zunehmende Nähe zu den politi­ schen Parteien feststellen.54 Zu 1: Wie erwähnt, stammt die administrative und die technische Elite zum größ­ ten Teil aus den Grandes Ecoles. Obwohl vor Aufnahme in eine dieser Großen Schulen ein strenger Ausleseprozess stattfindet, der formal allen Bewerbern die gleichen Chancen einräumen soll, bestehen hauptsächlich Schüler aus wohlha­ benden Elternhäusern diese Concours, deren an sich demokratischer Auslesecha­ rakter durch die unterschiedlichen sozialen Ausgangsbedingungen der Bewerber unterlaufen wird. Zahlreiche Studien über die Grands Corps55 und die ENA56 belegen, dass die Verwaltungselite überwiegend der Pariser Bourgeoisie, z. B. den Familien hoher Beamter, entstammt. Folglich ist die soziale Rekrutierungsbasis für die Verwal­ tungselite trotz aller Demokratisierungsversuche schmal geblieben. So kamen le­ diglich vier bis fünf Prozent der ENA-Studenten zwischen 1947 und 1994 aus Ar­ beiterfamilien, 20 Prozent aus Haushalten einfacher Angestellter in den Jahren 1983 bis 1994. Allein die geographische Herkunft der Studenten – Frauen sind mit nur 20 bzw. 10 Prozent unter den ENA- und » X «-Studenten vertreten – ist in den vergangenen Jahrzehnten etwas breiter geworden; zunehmend kommen sie aus der » Provinz «, aber sie bereiten sich in der Regel in Paris auf den Con­ cours vor.

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Neben dem Startvorteil von Kindern begüterter Familien spielt eine weitere Präferenzstruktur ein wichtige Rolle: Die Mitglieder der Grand Corps, die über die Besetzung vakanter Positionen in den Ministerien, den persönlichen Mitar­ beiterstäben sowie in staatlichen Organisationen überhaupt und in der Wirtschaft zu befinden haben, greifen bei der Besetzung frei werdender Stellen wie selbst­ verständlich auf Absolventen ihrer eigenen Grande Ecole zurück. Folglich haben » Außenseiter « nur geringe Chancen, in Führungspositionen zu gelangen. Dar­ an hat sich auch nach der Machtübernahme durch die Linke nur wenig geändert. Zwar rekrutierten die Linksregierungen anfänglich in hohem Maß Beamte für die Ministerialverwaltung, die keinem Grand Corps angehörten, besonders Gymna­ siallehrer und Hochschullehrer. Sie griffen jedoch schon unter Premierminister Fabius – selbst » Zögling « dieser Elitenausbildung – auf das traditionelle Rekru­ tierungsreservoirs zurück. Auch Staatspräsident Hollande besetzte die wichtigs­ ten Positionen im Elysée-Palast mit Absolventen seiner ENA-Jahrgangsklasse 1980 (» Voltaire «). Diese zogen wiederum » Enarchen « jüngerer Jahrgänge nach. Versu­ che Nicolas Sarkozys, der als Anwalt von » Außen « kam, die Macht dieser adminis­ trativen Technokraten einzudämmen, blieben erfolglos. Der Selbstrekrutierungsprozess der hohen Beamten hat wesentlich dazu beige­ tragen, dass sich in der Verwaltungselite besonders seit Bestehen der V. Republik eine Art Korpsgeist herausbildete. Der familiäre, schulische und berufliche Sozia­ lisierungsprozess hat eine Verwaltungselite hervorgebracht, die von dem Denken und Handeln der übrigen Bevölkerung weitgehend abgekoppelt erscheint. Die ge­ sellschaftliche Distanz hat diesen » Technokraten « häufig den Vorwurf der Arro­ ganz und Kaltherzigkeit eingetragen. Sie selbst zeichnen sich nicht nur durch ihre soziale Homogenität, ihre gemeinsame Ausbildung sowie ihr Überlegenheitsge­ fühl gegenüber den Absolventen der Universitäten aus. Sie pflegen auch » ihre ge­ meinsame Sprache «, die den Kommunikationsprozess unter ihresgleichen selbst bei unterschiedlichen politischen Grundauffassungen erleichtert. Das Besondere der Mitglieder der Grands Corps liegt darin, dass sie vielseitig verwendbar sind; sie sind Generalisten reinsten Wassers. Am » grünen Tisch « gefällte Entscheidun­ gen sind für sie das » Non plus ultra «, gegen das sie letztlich keinen Widerspruch gelten lassen. Häufig holt jedoch die Realität die Enarchen ein und zwingt sie zu Korrekturen, die sich erübrigt hätten, wenn es im Vorfeld eine Vorabverständi­ gung mit den Betroffenen gegeben hätte. Die ENA, im Jahre 1945 gegründet, um den personalpolitischen Einfluss der Ecole Libre des Sciences Politiques zu reduzieren, war mehrfach das Objekt von Reformbemühungen. Die wichtigsten Maßnahmen wurden 1982 vom damali­ gen kommunistischen Minister für den öffentlichen Dienst und die Verwaltungs­ reform verwirklicht. Er versuchte, der Rekrutierung der jährlich etwa 47 ENAStudenten aus der Verwaltung (dem so genannten internen Weg) wieder mehr

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Gewicht zu geben. Anstatt des für 47 verwaltungsexterne Kandidaten mit Uni­ versitätsdiplom üblichen Concours durchlaufen diese Bewerber mit mindestens fünfjähriger Berufserfahrung im Verwaltungsdienst ein gesondertes Auswahlver­ fahren. Seit Anfang 1990 hat die sozialistische Regierung – bei Beibehaltung des verwaltungsinternen Weges – einen neuen Zugang zum ENA-Studium geöffnet: den so genannten dritten Wettbewerb. Er wendet sich an Kandidaten mit acht­ jähriger Berufserfahrung oder Mandatsausübung, die jünger als 40 Jahre alt sind. Insgesamt sind acht Studienplätze für diese Kategorie vorgesehen. Als » Revolu­ tion « in der Geschichte der ENA darf die Verlegung ihres Sitzes nach Straßburg gewertet werden. Manche Beobachter interpretieren diesen Vorgang als Sieg der Politik über die » Technokraten «. Zu 2: Die Präsenz von Staatsbediensteten in den politischen und wirtschaftlichen Führungspositionen ist kein Phänomen der V. Republik.57 Neu ist hingegen, dass (ehemalige) hohe Beamte gerade in den politischen und wirtschaftlichen Ent­ scheidungszentren Spitzenpositionen innehaben. So stammten drei der sieben Staatspräsidenten der V. Republik aus der Verwaltungselite. Mitterrand und Sarkozy waren » nur « klassische Juristen bzw. Anwälte. Von den 19 Premierministern kamen sieben aus der ENA. Zwischen 16 und 30 Prozent der Regierungsmitglieder waren gleichfalls Ehemalige dieser Eliten-Kaderschmiede. Allerdings ist der An­ teil der ENA-Absolventen unter den Parlamentariern mit weniger als fünf Prozent recht gering. Die » Techno-Elite « zieht die politische Arbeit in den » Schaltzentra­ len der Macht « vor.58 Noch auffälliger zeigt sich bei den persönlichen Mitarbeiterstäben der Regie­ rungsmitglieder59 ein Grundzug des neuen » Systems «: Eine Trennung zwischen administrativen und politischen Eliten existiert kaum mehr, da erstere zusehends bis an die Schalthebeln der Macht gelangt sind. Zum einen ist die Spitzenverwal­ tung zu einem Rekrutierungsreservoir geworden, aus dem Regierungen nach Be­ lieben schöpfen, um seit Ende der sechziger Jahre verstärkt die traditionelle poli­ tische Elite (z. B. die Notabeln) ergänzen oder ersetzen zu können. Zum anderen verstärkte die zunehmende Orientierung des Systems der V. Republik auf das Amt des Staatspräsidenten bei gleichzeitigem Funktions- und Einflussverlust des Par­ laments das Interesse der Verwaltungseliten an der Politik insofern, als ihnen die Exekutive eine Reihe attraktiver politischer Gestaltungsmöglichkeiten anbot, wie ihre Mitarbeit in den Cabinets ministériels belegt. Ein anderes wichtiges Betätigungsfeld leitender Verwaltungsbeamter sind Führungspositionen in der Wirtschaft. Der Wechsel aus dem öffentlichen Dienst in den Privatsektor, die ,,Pantouflage «60, wird dadurch erleichtert, dass sich die Mitglieder der Grands Corps für einige Jahre unter Beibehaltung ihrer Versor­ gungsansprüche beurlauben lassen können, um in der privaten oder (halb-)staat­

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lichen Wirtschaft zu arbeiten. Ihr Prestige als Absolventen der Eliteschulen macht sie in den Augen der Privatwirtschaft für die Übernahme von Leitungsfunktio­ nen besonders geeignet. Außerdem kennen sie das » System « und verfügen nicht nur über wichtige Insiderinformationen, sondern sie halten nach wie vor besten Kontakt zu ihrem Korps. Seit Anfang der neunziger Jahre ist ein neuer Trend fest­ stellbar. Zunehmend entschließen sich ENA-Absolventen, direkt nach Abschluss ihres Studiums in die Wirtschaft zu gehen. Der Staat beobachtet das Abwandern seiner besten Spitzenkräfte mit Sorge, kann jedoch nichts dagegen unternehmen.61 Andererseits wissen die politisch Verantwortlichen, dass sie durch die enge Ver­ zahnung der ökonomischen und administrativen Eliten Einfluss auf Entschei­ dungen der Wirtschaft und der Finanzwelt gewinnen. So platzierte Staatschef Hollande – ähnlich wie mancher seiner Vorgänger – Mitglieder seiner » Jahrgangs­ klasse « als Bankchefs und Vorstandsmitglieder wichtiger Unternehmen. Zu 3: Galt Frankreichs hohe Beamtenschaft lange Zeit als politisch weitgehend neutral, so ist in dieser Hinsicht seit Giscard d’Estaings Präsidentschaft, vor al­ lem aber seit dem Regierungswechsel 1981, der die Linke an die Spitze des Staa­ tes brachte, eine Veränderung eingetreten.62 Die Politisierung der Verwaltungse­ lite nahm seither in raschem Tempo zu. Die Zahl der ENA-Diplomanden unter den Spitzenfunktionären, den Parlamentariern auf nationaler, regionaler und lo­ kaler Ebene, unter den Regierungsmitgliedern und in den Führungsebenen der politischen Parteien hat sich seit Ende der sechziger Jahre kontinuierlich erhöht. Folgende Gründe haben zu dieser Politisierung beigetragen:63 Während zu Be­ ginn der V. Republik hohe Beamte von General de Gaulle direkt mit der Leitung eines Ministeriums beauftragt wurden, entwickelte sich unter Georges Pompidou eine Art Laufbahn: Mitglieder der Verwaltungselite traten zunächst in die Mit­ arbeiterstäbe der Minister ein; nach relativ kurzer Zeit wurden sie in politischen Parteien aktiv und versuchten, bei Parlamentswahlen erfolgreich zu kandidieren; anschließend stiegen einige von ihnen zu Regierungsmitglieder auf (der » Jeune loup « Jacques Chirac ist dafür ein besonders markantes Beispiel). Zu dieser Durchdringung der Politik mit » Technokraten « hat zum einen die kontinuierliche Ausweitung der Cabinets ministériels beigetragen. Zum anderen kam die Steigerung der Zahl der so genannten politischen Beamten hinzu. Außer­ dem konnte jede Regierung Freunde oder Günstlinge einflussreicher Politiker einem Grand Corps zuweisen, soweit sie die Qualifikation einer Grande Ecole hatten, um diese entsprechend zu versorgen und für geleistete Dienste zu beloh­ nen. In einer zum 50-jährigen Jubiläum der Verwaltungshochschule veröffent­ lichten Studie warnt der Verein der ehemaligen ENA-Schüler vor der Gefahr der Politisierung der Verwaltung. 63 Prozent der Befragten waren der Meinung, die Verwaltung sei in den vergangenen 20 Jahren zunehmend politisiert worden.

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Bei Um- oder Neubildung einer Regierung wird nach wie vor großer Wert auf den Sachverstand der Beamten gelegt. Entscheidend aber war bzw. ist seit Mitte der siebziger Jahre je nach Regierung die » rechte « oder » linke « Grundhaltung, die gegebenenfalls durch ein parteipolitisches oder (bei den Linken) gewerkschaft­ liches Engagement nachgewiesen wird. Das Platzieren von Sympathisanten und Günstlingen der jeweiligen Amtsinhaber im Hôtel Matignon oder im Elysée-Pa­ last, an wichtigen Schalthebeln des Staates und in der – mittlerweile weitgehend privatisierten – Staatswirtschaft wurde in der Öffentlichkeit mehrfach als » BeuteStaat « kritisiert. In der Presse hat sich seit dem Amtswechsel im » Schloss « in Jahr 2012 der Begriff » Hollandes Schattenarmee « eingebürgert. Doch schon der NichtEnarch Sarkozy hatte keinesfalls gezögert, Spitzenpositionen mit seinen Ge­treuen zu besetzen.64 Hatte sich der Ministerialbeamte » alten Typs « noch als politisch neutral ver­ standen, erkannte sein » jüngerer Kollege «, dass er im Präsidialsystem der V. Re­ publik mit politischem und sozialem Engagement besser und schneller seine Karriere machen und die Politik unter den neuen Konstellationen viel stärker be­ einflussen konnte. Zusätzliche Erklärungsfaktoren sind die Schaffung der ENA sowie die Art, wie die zukünftigen Staatsdiener dort ausbildet werden. Als » spezialisierte Generalis­ ten « sind sie multifunktional einsetzbar, da sie wegen ihres hohen Sachverstandes den Modernisierungsbedürfnissen des Staates und der französischen Gesellschaft am ehesten gerecht werden.65 Aber auch die Institutionen der V. Republik mit der Konzentration vieler po­ litischer Entscheidungsfunktionen in der Gesamtexekutive haben die Infiltration des politischen Bereichs mit Technokraten gefördert. Die Gründungsväter der V. Republik hatten sich in ihrer Absicht, die Regierungsmacht zu stärken, bewusst auf Vertreter der hohen Beamtenschaft gestützt. Maßgeblich dafür war das tiefe Misstrauen gegenüber den politischen Parteien und ihren Eliten. Demgegenüber wurde den » Grands fonctionnaires « eine uneingeschränkte Bereitschaft, dem Staat zu dienen, attestiert. Zwar ist die Politisierung der hohen Ministerialbürokratie nicht auf Frank­ reich beschränkt, sondern ebenfalls im benachbarten Ausland zu finden. Das Be­ sondere der französischen Patronagevariante nach vornehmlich (partei-)politi­ schen Kriterien liegt in der Rekrutierung der französischen Verwaltungselite aus den Grands Corps. Die » Dreiecksbeziehung « (Henry Ehrmann/Martin Schain) zwischen Grandes Ecoles (vornehmlich ENA und Ecole Polytechnique), Grands Corps sowie Politik bzw. Wirtschaft bildet die Grundlage für ein Netzwerk von Beziehungen und Beeinflussungsmöglichkeiten, das sich deutlich von denjenigen in den Nachbarstaaten unterscheidet. Ist es also berechtigt, von einer Herrschaft der Technokraten zu sprechen ?

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Manche Beobachter warnen vor solcher Vereinfachung. Einerseits brauchte die V. Republik eine hochqualifizierte Verwaltungselite. Es ist ihren Vertretern auch gelungen – nicht zuletzt aufgrund der Planvorgaben im Rahmen der » Planifica­ tion « (Wirtschaftsempfehlungen des Staates) – soziale und wirtschaftliche Ent­ scheidungen im Sinne des Staates und damit auch der Grands Corps zu beein­ flussen. Auch besaßen viele Spitzenfunktionäre ein großes Maß an Autonomie zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben in staatlichen Körperschaften und vermoch­ ten sich häufig gegen den zuständigen Minister durchzusetzen. Andererseits gibt es aber genügend Beispiele für die Dominanz der Politiker über die Technokraten, auch wenn man berücksichtigt, dass diese zum Teil selbst ehemalige Mitglieder der Grands Corps waren. So haben starke Minister wie Er­ ziehungsminister Edgar Faure (1968) und Innenminister Gaston Defferre (1982) tiefgreifende Änderungen, wie eine Hochschulreform und die Dezentralisierung des Staates auch gegen Widerstände in der Verwaltung durchgesetzt. Das Gleiche gilt für Raymond Barres Deregulierung der Preise Ende der siebziger Jahre sowie für die Reprivatisierung der ab dem Jahre 1981 verstaatlichten Unternehmen durch die Regierung Chirac 1986 bis 1988. Die administrative Elite ist trotz aller Gemein­ samkeiten hinsichtlich Herkunft, Ausbildung und Staatsverständnis in sich kein homogenes Gebilde. So schmälern Rivalitäten zwischen den Grands Corps ihren Einfluss insgesamt. Auch hatte die Linke 1981 bzw. 1988 wenig Schwierigkeiten, ge­ nügend ihr nahe stehende hohe Funktionäre – auch aus den Grands Corps – zu re­ krutieren. Des Weiteren zeigen Untersuchungen,66 dass Absolventen der ENA eher » links « als » rechts « wählten und folglich nicht als uneingeschränkte Befürworter jeder Regierung gelten können. Frankreichs Verwaltungselite erzielt zweifellos eine beträchtliche Effizienz, ohne die der Staat seine historischen Modernisierungsbemühungen nicht in dem erfolgten Maß hätte realisieren können. Charakteristisch für diese Elite sind ferner das weitgehende Fehlen von Korruptionsvorwürfen oder Skandalen bzw. ein ho­ her Grad an Integrität. Alles dies dient dem Ziel, die großen Entscheidungen der Politik möglichst wirkungsvoll umzusetzen.

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Das Parlament

5.1 Von der » Herrschaft der Kammern « zum » rationalisierten « Parlamentarismus Zu den Gewinnern der großen Verfassungsreform vom 23. Juli 2008 zählt zwei­ felsfrei das Parlament, also Nationalversammlung und Senat. » Ein von manchen Fesseln befreites und gestärktes Parlament «, fasste Adolf Kimmel in einer ersten Einschätzung den revidierten Verfassungstext zusammen.1 Der völlig überarbeitete Artikel 24 bestimmt nun, dass » das Parlament das Gesetz beschließt [und] die Tätigkeit der Regierung kontrolliert und ihre Politi­ ken evaluiert « (Absatz 1). Folglich hat die Verfassungsrevision die Voraussetzun­ gen für die Parlamentsarbeit sowie für die Kontrolle von Regierungshandeln ge­ genüber dem bisherigen Verfassungstext wesentlich verbessert, selbst wenn nach wie vor zahlreiche Restriktionen die Parlamentsarbeit einengen, wie noch aus­ führlich zu zeigen ist. Sind somit Fragen und Äußerungen vergangener Jahrzehnte wie jene des sozialistischen Abgeordneten Chandernagor » Un Parlement, pour quoi faire ? « (» Brauchen wir ein Parlament ? «) oder – 40 Jahre später – der Politikwissenschaft­ ler Chagnollaud und Quermonne » Das Parlament bleibt geschwächt [und] es ist meist nichts anderes als eine Registrierkammer «2 obsolet geworden ? Es ist sicher­ lich verfrüht, eine optimistische Einschätzung der im Sommer 2008 erfolgten Mo­ dernisierung dieses Teils der Verfassung vorzunehmen. Trotzdem: Eine Aufwer­ tung ihrer Tätigkeiten haben beide Parlamentskammern erfahren. Den Verfassungsvätern von 1958 ging es – bei Beibehaltung des parlamentari­ schen Systems – um dreierlei: Sie wollten die Regierungsstabilität um jeden Preis gewährleistet wissen. Die Macht der Exekutiven sollte auf Kosten der Legislativen gestärkt und das Parlament in seinen Möglichkeiten, Regierungshandeln zu kon­ trollieren, beschränkt werden. 105 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 U. Kempf, Das politische System Frankreichs, DOI 10.1007/978-3-658-08208-6_5

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Im Verfassungstext spiegelt sich diese Rollenverschiebung darin wider, dass die Legislative erst an dritter Stelle innerhalb der Institutionen – nach Präsident und Regierung – aufgeführt wird. Zusätzlich zu den verfassungsmäßigen Beschränkungen seiner Befugnisse er­ fuhr das Parlament während der Präsidentschaft de Gaulles Macht- und Auto­ ritätseinbußen, die es auch in den späteren Jahrzehnten der V. Republik nicht wieder wettmachen konnte. Eine gewisse Verbesserung des politischen Klimas zwischen den legislativen und exekutiven Gewalten in den 1970er und 1980er Jah­ ren vermochte an der Tatsache, dass die Regierung » Herr des Verfahrens « in bei­ den Häusern des Parlaments ist, nichts zu ändern. Dieser beinahe » natürliche Zustand « im Falle einer präsidialen Parlamentsmehrheit blieb, für manche Beob­ achter eher überraschend, auch in der Konstellation der politischen » Cohabita­ tion « weitgehend erhalten: Eine nennenswerte Aufwertung des Parlaments erfolg­ te in all diesen Jahren nicht. Die Gründe für die langjährige Schwäche des französischen Parlamentarismus sind sowohl struktureller als auch historischer Art. Weil in den letzten Jahrzehn­ ten immer mehr und stets kompliziertere Sachentscheidungen zu treffen waren, gerieten die Parlamente gegenüber Regierungen und Verwaltungen immer stärker in den politischen Rückstand und mussten zusehends Funktionsverluste in Kauf nehmen. Diese Erfahrung teilt Frankreich mit anderen westlichen Demokratien. Zu diesem generellen Aspekt moderner politischer Systeme gesellen sich Be­ sonderheiten der spezifischen französischen Geschichte und politischen Kultur, die in ihren Auswirkungen parlamentsfreundlichen Anschauungen und Einstel­ lungen letztlich wenig förderlich waren. Hierbei sind vor allem die folgenden Er­ eignisse zu nennen: 1. Der Exzess des parlamentarischen Systems der III. und IV. Republik 2. Der persönliche Einfluss General de Gaulles nicht nur auf die Ausgestaltung der Verfassung, sondern vor allem auch auf ihre Interpretation 3. Die Umstände, die zum ersten Male in der französischen Geschichte zur Bil­ dung einer tragfähigen Mehrheit in der Nationalversammlung führten. Im völligen Unterschied zu den Verhältnissen in der V. Republik war das Parla­ ment in der III. Republik geradezu allmächtig. Dieses hatte seit dem Rücktritt des Präsidenten MacMahon im Jahre 1879 mit keinem adäquaten politischen Wider­ part mehr zu rechnen. Weil der Monarchist MacMahon – im Übrigen verfassungskonform – im Jah­ re 1877 das Parlament aufgelöst hatte, dieser Vorgang jedoch als Verfassungsbruch interpretiert wurde, wagte keiner der Nachfolger mehr, seinem Beispiel zu fol­ gen. Die Machtbalance zwischen den höchsten staatlichen Institutionen war da­

Von der » Herrschaft der Kammern « zum » rationalisierten « Parlamentarismus 107

mit außer Kraft gesetzt. Der in der Verfassung mit zahlreichen Befugnissen ver­ sehene Staatspräsident spielte seit jenem Ereignis nur noch eine untergeordnete Rolle. Diese Tendenz wurde außerdem durch die Auswahl der Persönlichkeiten verstärkt, denn die Parlamentarier wählten mit Vorliebe Politiker ohne große po­ litische Ambitionen ins höchste Staatsamt. Von da an der drohenden Gefahr einer Auflösung enthoben, baute das Parla­ ment seine Machtstellung gegenüber der Regierung, die ihm völlig unterworfen wurde, ständig aus: Abgeordnetenhaus und Senat teilten sich gleichberechtigt die legislative Macht sowie die Kontrollbefugnisse gegenüber der Exekutive. Eine Wende in den Beziehungen setzte mit dem Ersten Weltkrieg ein, als das Parlament die Regierung ermächtigte, mit Gesetzesdekreten (Décrets-Lois) zu re­ gieren. Dass diese Regelung nach Kriegsende beibehalten wurde, ist ein Indiz für die zunehmende Unfähigkeit, Gesetze weiterhin auf » normalem Weg « zu verab­ schieden. Gleichzeitig überstürzten sich seit 1924 die Kabinettskrisen. Zwar enthielt das Verfassungsgesetz vom 25. 2. 1875 keine exakten Bestimmungen über Rücktritt bzw. Sturz der Regierung, sondern nur in Artikel 6 eine sehr allgemeine Formel über die Verantwortung der Gesamtexekutive bzw. einzelner Minister vor beiden Häu­ sern. Dies führte jedoch dazu, dass die Parlamentarier nahezu bei jeder Gelegen­ heit die Regierung oder einzelne ihrer Mitglieder zur Rechenschaft zogen, wo­ bei die einfache Mehrheit zum Sturz der Regierung ausreichte. Oftmals trat diese von sich aus zurück, sofern sie den Eindruck hatte, dass sie bei einer Abstimmung nicht die gewünschte Mehrheit erhalten würde. In 70 Jahren folgten aus diesem Grund 87 Kabinette aufeinander. Hinzu kam ein Vielparteiensystem ohne jede Fraktionsdisziplin sowie oft nur Ad-hoc-Koalitionen – dies sind alles Umstän­ de, welche die mangelhafte Regierungsstabilität seit Kriegsende zusätzlich erhöh­ ten und das Ansehen des Parlaments erheblich beschädigten. Die häufig grotes­ ken Beispiele von Kabinettsbildungen, die sich meist in dem Tausch der Ressorts unter den gleichen Politikern erschöpften, lösten in der Öffentlichkeit Ratlosig­ keit und Unzufriedenheit aus und waren wenig geeignet, Institutionenvertrauen zu wecken und zu festigen. Dies galt z. B. für offensichtliche Verfälschungen des Wählerwillens, wie in der Folge der Wahlen von 1924 und 1932, als ungeachtet klarer parlamentarischer Mehrheiten der Linksparteien, Regierungen der Rech­ ten berufen wurden: 1926 die Regierung Raymond Poincaré und 1934 die Regie­ rung Gaston Doumergue. Noch deutlicher wurde diese Entwicklung, als die 1936 mit großen Hoffnungen gewählte Volksfront wegen interner Streitigkeiten zwei Jahre später nacheinander durch die Regierungen der (links-)liberalen Politiker Edouard Daladier und Paul Reynaud ersetzt wurde; 1940 billigte das Parlament schließlich die autokratische Herrschaft des Marschalls Pétain. Als Reaktion auf dieses Verhalten der politischen Parteien löste das Vichy-Re­

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Das Parlament

gime eine scharfe anti-parlamentarische Kampagne aus, die Frankreich für vier Jahre unter das Joch einer mit der Besatzungsmacht kollaborierenden Diktatur zwang. Weil die Verfassungsväter im Rückblick auf diese Entwicklung eine starke Exe­ kutive fürchteten, wählten sie das entgegengesetzte Extrem: das » Spiel der Par­ teien «, wie es de Gaulle verbittert nach seinem Rückzug aus der Politik nannte. Der erste Verfassungsentwurf, von Kommunisten und Sozialisten getragen, in einem Referendum am 5. Mai 1946 jedoch verworfen, sah eine echte Herrschaft der Nationalversammlung (Régime d’Assemblée) vor, wobei die Regierung völlig von der einzigen Kammer abhängig und der von ihr gewählte Präsident auf aus­ schließlich repräsentative Funktionen beschränkt sein sollte. Der zweite Entwurf, der schließlich von einer schwachen Volksmehrheit angenommen wurde, basier­ te auf dem ersten, sah jedoch wieder eine zweite Kammer vor, die aber im Gegen­ satz zum Senat der III. Republik kaum Macht besaß; dem Staatspräsidenten blie­ ben nur wenige Amtsbefugnisse. Das Parlament tagte nunmehr in Permanenz, da es die ausschließliche Verfü­ gungsgewalt über seine Sitzungsperioden besaß, was seine Bedeutung im politi­ schen Prozess der IV. Republik gewaltig erhöhte, andererseits aber beinahe unver­ meidlich auch zu Auswüchsen und Missständen führte: Dauersitzungen fanden, abgesehen von den kurzen Sommerferien, meist vor fast leeren Abgeordneten­ bänken statt; die Regierung wurde einer solchen übersteigerten Kontrolle unter­ worfen, dass die Erschöpfung ihrer Mitglieder nicht selten die Regierungsarbeit behinderte und lähmte. Zwar hatten die Verfassungsväter ausdrücklich die Übertragung legislativer Befugnisse auf die Regierung untersagt, um eines der Übel der III. Republik, die Verquickung zwischen Gesetzes- und Verordnungsbereich, zu vermeiden; jedoch geriet dieses Postulat schnell in Vergessenheit. Die Arbeitsunfähigkeit der Natio­ nalversammlung zwang schon bald wieder zum Rückgriff auf die Décrets-Lois, um zumindest in den elementarsten Bereichen die nötigen gesetzlichen Regelun­ gen vorzunehmen. Die Regierungen schienen so mit erheblichen Machtbefugnis­ sen ausgestattet zu sein, die aber infolge der Instabilität der Koalitionen kaum aus­ geübt werden konnten. Aus diesem Grund löste eine Kabinettskrise die andere ab, so dass die gravierendsten Probleme, denen sich die Republik gegenüber sah, Ent­ kolonialisierung und Verteidigungsfragen, nicht gelöst werden konnten. Entgegen der Verfassungslage, die sowohl beim Misstrauensvotum als auch bei einer Ablehnung der Vertrauensfrage die absolute Mehrheit der Mitglieder der Nationalversammlung als notwendiges Quorum voraussetzte, traten die Regie­ rungen gewöhnlich schon bei einer einfachen Mehrheit zurück oder sie warteten die Abstimmung über die Vertrauensfrage gar nicht erst ab, da sie befürchteten, nicht mit absoluter Mehrheit bestätigt zu werden. Verfassungsrechtlich hätte fast

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keine Regierung zurücktreten müssen, denn die erforderliche absolute Mehrheit wurde nur in den seltensten Fällen erzielt; aber selbst schon eine » harmlose « Ab­ stimmungsniederlage ließ den Ministerpräsidenten resignieren. Das Palais Bourbon konnte sein Kontrollrecht umso ungehinderter ausüben, als es de facto keinerlei Auflösung zu befürchten hatte. Zwar gab die Verfassung dem Staatspräsidenten auf Vorschlag des Ministerpräsidenten in einem äußerst komplizierten Verfahren das Recht, die Nationalversammlung aufzulösen, was al­ lerdings nur ein einziges Mal (1955) durch Präsident René Coty auf Antrag des Mi­ nisterpräsidenten Edgar Faure geschah. Kurz vor dem Untergang der IV. Republik, die – einschließlich der Zeit des Provisoriums – in 14 Jahren 26 Kabinette » verbraucht « hatte, entschlossen sich die Parlamentarier zu einer weitgehenden Verfassungsreform, um die schlimms­ ten Mängel des Régime d’Assemblée zu beseitigen. Man muss jedoch bezweifeln, ob diese Reformvorschläge die parlamentari­ schen Gremien rechtzeitig durchlaufen und ob sie das Regime vor dem Untergang bewahrt hätten. Denn das alles überschattende Problem, die Algerienfrage, hätte auch bei einer so weitgreifenden Verfassungsrevision nicht gelöst werden können. Gewiss ist aber, dass einige dieser Überlegungen die Verfassungsväter der V. Re­ publik stark beeinflussten. Im Mai 1958 schien dem Großteil der Öffentlichkeit General de Gaulle, der aus seiner tiefgehenden Verachtung für dieses » sterile Spiel der Parteien des Un­ glücks « kein Hehl machte, als einziger fähig zu sein, das uneffektive » Regime der Parteien « zu beenden, die Algerienkrise zu lösen und die nationale Einheit auf­ rechtzuerhalten. Deshalb » kapitulierten « die Parteien der IV. Republik und stat­ teten ihn mit den erwähnten Vollmachten aus. De Gaulles Parteigänger Michel Debré umriss vor dem beratenden Verfas­ sungsausschuss den Zweck der neuen Verfassung: » Wenn wir wollen, dass das zu­ künftige parlamentarische Regime der französischen Demokratie nur eine Regie­ rung in jeder Legislaturperiode kenne, ist es nicht möglich, anders zu handeln. «3 Das von ihm entwickelte Modell beruhte wesentlich auf dem politischen Sys­ tem Großbritanniens, welches den Platz des Parlaments im Gesetzgebungspro­ zess ebenso klar definiert (wenn auch mehr durch Gewohnheitsrecht als durch Gesetz) wie auch genau begrenzt. Allerdings schien Debré bei seinen Überlegun­ gen das britische Parteiensystem außer Acht zu lassen. De Gaulles späterer erster Premier ging von der Vermutung aus, dass die französischen Wähler kaum stabi­ le Parlamentsmehrheiten zustande bringen würden – eine Hypothese, die schon vier Jahre später überholt war, als sich in Folge des Referendums über die Direkt­ wahl des Staatspräsidenten und der anschließenden Parlamentswahlen vom No­ vember 1962 der majoritäre Parlamentarismus herausbildete. Von wenigen kurzen Phasen abgesehen, waren nunmehr Präsidial- und Parlamentsmehrheit (zumin­

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dest in der Nationalversammlung) identisch. Aus diesem Grund unterwarfen die Verfassung und die anschließend beschlossenen verfassungsergänzenden Gesetze (Lois organiques) den einzelnen Deputierten und das Parlament als Ganzes genau umrissenen Verhaltensregeln, die die gesamte Legislative wie ein Stahlkorsett um­ klammerten. Dies, so hofften die Verfassungsväter, würde das notwendige Gleich­ gewicht zwischen Parlament und Exekutive gewährleisten.

5.2 Der Funktionsverlust des » rationalisierten « Parlaments 5.2.1 Die interne Struktur Das Parlament der V. Republik besteht aus zwei Kammern: aus der Nationalver­ sammlung mit 577 vom Volk gewählten Abgeordneten, davon seit 2012 539 für das Mutterland und 27 für die überseeischen Territorien4 sowie elf von den Aus­ landsfranzosen Gewählten. Dem Senat gehören (seit 2011) 348 indirekt bestellte Senatoren an: 328 im Mutterland, sechs Senatoren aus den Überseegebieten und zwölf Repräsentanten von der Versammlung der Auslandsfranzosen gewählte. Werden die Abgeordneten nach dem absoluten Mehrheitswahlystem für fünf Jahre bestellt (siehe Kapitel 11.1), werden die Senatoren in indirekter Wahl für sechs Jahre gewählt; alle drei Jahre erneuert sich der Senat zur Hälfte. Die Machtbefugnisse beider Häuser sind ungleichmäßig, denn letzten Endes entscheidet das Abgeordnetenhaus über die Annahme oder Ablehnung eines Ge­ setzentwurfes sowie über die Unterstützung oder den Sturz einer Regierung. Nur auf folgenden Gebieten herrscht » Waffengleichheit «: Im Falle einer Verfassungs­ änderung (Art. 89), bei den so genannten Organgesetzen, die den Senat betreffen (Art. 46), bei Verträgen zu den Europäischen Gemeinschaften (Art. 88-3) und bei der Möglichkeit der Regierung, außer bei Finanzgesetzen, darüber zu befinden, welcher Kammer sie als erster einen Gesetzentwurf unterbreitet. Im Folgenden wird zunächst auf Strukturen und Funktionen der Nationalver­ sammlung eingegangen, während dem Senat Kapitel 5.8 gewidmet ist. a) Fraktionen Zwar anerkennt die Verfassung von 1958 erstmals die Rolle der politischen Par­ teien bei Wahlentscheidungen. Auf die Parlamentsfraktionen geht sie jedoch erst seit der Reform vom Juli 2008 insofern ein, als den » Oppositionsfraktionen « ein Sitzungstag im Monat für Anträge reserviert ist (Art. 48 Abs. 5). Der neue Arti­ kel 51-1 erwähnt ebenfalls erstmals die Fraktionen: » Die Geschäftsordnung jeder

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Versammlung bestimmt die den Fraktionen zustehenden Rechte […]. « Diese fin­ den lediglich Erwähnung in Artikel 19 der Geschäftsordnung der Nationalver­ sammlung (abgekürzt: GO-NV). Danach können sich mindestens 15 Abgeordne­ te (vor 1988 waren es 30) zu einer Fraktion zusammenschließen. Ihnen steht eine Reihe von materiellen und finanziellen Hilfen zur Durchführung ihrer Aufgaben zur Verfügung. Einzelnen Abgeordneten, die keiner Partei angehören, ist es er­ laubt, sich als » Apparentés « einer Fraktion anzuschließen. Diejenigen, die keiner Gruppe angehören wollen, bilden die Gruppe der Fraktionslosen bzw. die » Noninscrits «, was mit beachtlichen Nachteilen z. B. bei der Redezeitvergabe verbun­ den sein kann. Jede Fraktion gibt sich ihre interne Geschäftsordnung und wählt einen Frak­ tionsvorstand. Ihm obliegt die Aufgabenverteilung innerhalb der Parlaments­ gruppe, die Benennung der Fraktionsredner bei Plenardebatten und die Auswahl der Berichterstatter, der einflussreichen Rapporteurs. Die Verzahnung von Partei und Fraktion ist u. a. dadurch geregelt, dass die Fraktionsvorsitzenden Mitglieder der jeweiligen Parteiführung sind.5 Fraktionssitzungen sind nichtöffentlich, so dass die häufig harten Auseinan­ dersetzungen nur selten nach draußen dringen. Zur Abklärung der Positionen kann vor wichtigen Abstimmungen der betreffenden Minister zur Anhörung ein­ geladen werden. Auch besitzen die Fraktionen zur besseren Entscheidungsfin­ dung das Recht, Anhörungen durchzuführen. Innerhalb einer Parlamentsgruppe ist der Fraktionsvorsitzende meist die ein­ flussreichste Persönlichkeit. Wer sich in einer geheimen Wahl durchgesetzt hat,6 verfügt als Chef der Fraktion über eine Reihe von Privilegien. Die Fraktionsvor­ sitzenden sind nicht nur die wichtigsten Redner bei Plenardebatten, sondern auch Mitglieder des Ältestenrates der Nationalversammlung, der so genannten Präsi­ dentenkonferenz. Sie legt die jeweilige Tagesordnung für die Parlamentsarbeit der folgenden vierzehn Tage fest. Außerdem können sie beispielsweise Vertagungsan­ träge stellen, die Beschlussfähigkeit feststellen lassen oder namentliche Abstim­ mungen (scrutin public) verlangen. Darüber hinaus stehen ihnen Experten und wissenschaftliche Mitarbeiter als Ratgeber zur Seite. Zur Durchführung ihre Arbeit verfügen die Fraktionen nicht nur über Räum­ lichkeiten im Palais Bourbon, sondern auch über Personal, das sie selbst ein­ stellen.7 b) Das Parlamentspräsidium Zu Beginn ihrer Herbstsitzungen wählt jede Kammer ihr Präsidium: Das der Na­ tionalversammlung umfasst außer dem Präsidenten, der als einziger für die ge­ samte Legislaturperiode bestimmt wird, sechs Vizepräsidenten, drei » Quästoren «

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Das Parlament

Les Républicains

196

Socialiste, républicain et citoyen

287

UDI

29

Gauche démocrate et républicaine

15

Grüne

18

Radical, républicain, démocrate et progressiste

18

Nichteingeschriebene

11

Sitze vakant Insgesamt

Tabelle 4  Die Fraktionen der Nationalversammlung 2016 (einschließlich Hospitanten)

3 577

Quelle: www.assemblée-nationale.fr

und zwölf Sekretäre, die jährlich gewählt werden; das des Senates ist ähnlich zu­ sammengesetzt. Überwachen die Sekretäre, meist junge Abgeordnete, die offiziel­ len stenographischen Aufzeichnungen, so sind die » Quästoren « für bestimmte administrative und finanzielle Aufgaben verantwortlich. Die Wahl des Präsidiums ist geheim und verlangt für die ersten beiden Wahl­ gänge die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen, im dritten reicht die re­ lative Mehrheit. Eigentlich soll das Präsidium der Nationalversammlung ein Spiegelbild der im Palais Bourbon sitzenden Fraktionen abgeben (Art. 10 Abs. 2 GO-NV); eine Verpflichtung besteht dazu jedoch nicht. So wurden von 1958 bis 1967 die Kommunisten bei der Besetzung des Präsidiums nicht berücksichtigt; erst seit den Wahlen 1967 besteht Konsens darüber, dass die Präsidiumsmitglieder proportional zu ihrer Fraktionsstärke benannt werden. Im Gegensatz zum britischen Speaker ist der Präsident der Nationalversamm­ lung kein » politisches Neutrum «, dessen Stimme bei Abstimmungen nicht berück­ sichtigt wird. Im Gegenteil, der langjährige Parlamentspräsident Jacques ChabanDelmas verbarg während seiner mit Unterbrechungen insgesamt fast 17-jährigen Amtszeit seine Loyalität gegenüber de Gaulles Regime keineswegs. Zwar konnte er gelegentlich die Rechte des Parlaments heftig verteidigen, aber insgesamt blieben bei ihm wie bei den Nachfolgern solche Attacken auf ein Minimum beschränkt. Das Pochen auf den parlamentarischen Rechten blieb so meist – auch unter seinen Nachfolgern – rhetorische Übung ohne nennenswerte politische Erfolge. Erst Par­ lamentspräsident Philippe Séguin gelang es im Laufe des Jahres 1994, eine » kleine Parlamentsreform « durchzusetzen. Die Machtkompetenzen des Kammerpräsidenten sind im parlamentarischen Prozess nicht unerheblich. Denn die Verfassung sowie die Geschäftsordnung ver­

Der Funktionsverlust des » rationalisierten « Parlaments 113

leihen ihm – ebenso wie seinem Kollegen im Senat – umfangreiche Rechte: So lei­ tet der Präsident der Nationalversammlung nicht nur die Beratungen, überwacht die Geschäftsordnung und ergreift gegebenenfalls die entsprechenden Maßnah­ men, sondern er kann vor allem auch über die Unzulässigkeit von Gesetzesvor­ schlägen und Änderungsanträgen befinden, wovon bei Anträgen der Opposition häufig Gebrauch gemacht wurde. Außerdem kann er – ebenso wie der Senatsprä­ sident – im Falle einer Meinungsverschiedenheit mit der Regierung über die Zu­ lässigkeit von Gesetzesvorschlägen (siehe unten) oder über die Verfassungsmä­ ßigkeit eines Gesetzes vor seiner Verkündung (Art. 61 Abs. 2) den Verfassungsrat anrufen. Seit 1959 geschah dies vier Mal durch den Präsidenten der Nationalver­ sammlung und acht Mal durch den Senatskollegen.8 Auch drei der neun Mitglie­ der des Verfassungsrates werden von ihm bestellt. Ebenso wie sein Senatspartner ernennt er alle drei Jahre ein Mitglied des Hohen Rates für Audiovisuelles. Außer­ dem ist er formeller Vorgesetzter der etwa 1 150 Mitarbeiter der Nationalversamm­ lung, die vom Präsidium eingestellt werden. Tritt das Parlament – also Nationalversammlung und Senat – in Versailles zu einem » Kongress « zusammen, hat der Präsident der Nationalversammlung den Vorsitz inne; innerhalb der offiziellen Rangordnung des Protokolls ist er der » 4. Mann im Staate «. Darüber hinaus beruft er die ständigen Ausschüsse der Na­ tionalversammlung ein, sofern es die Regierung verlangt oder falls die ordentli­ chen Sitzungsperioden beendet sind. Die wöchentliche Konferenz des Ältestenra­ tes leitet er ebenfalls. Die Geschäftsordnung der Nationalversammlung bedarf ebenso wie diejenige des Senats der Billigung durch den Verfassungsrat (Art. 61 Abs. 1), was in der Ver­ gangenheit mehrfach zu heftigen Kontroversen zwischen beiden Verfassungsor­ ganen geführt hat. Insgesamt hat das Verfassungsgericht allein zwischen Juni 1959 und Juni 1992 48 Entscheidungen zur Auslegung der Geschäftsordnungen gefällt. Häufig haben sich die Parlamentarier über solche von den Verfassungsvätern be­ wusst gewollten Eingriffe in ihre Autonomie beklagt.

5.2.2 Sitzungsperioden Bis zur Reform vom Sommer 1995 sah die Verfassung für den regelmäßigen Zu­ sammentritt des Parlaments zwei genau festgelegte Sitzungsperioden im Frühjahr (90 Tage) und im Herbst (80 Tage) vor. Außerordentliche Zusammenkünfte sind bestimmten Einschränkungen unterworfen (siehe unten). Mit der Festlegung von » Höchstzeiten « wollten die Verfassungsväter die ih­ rer Meinung nach zu langen Sitzungsperioden der früheren Parlamente beschnei­ den, um der Regierung mehr Zeit » zum Regieren zu lassen « (Michel Debré). Die

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Das Parlament

Sitzungsperioden waren jedoch so knapp bemessen, dass die Exekutive häufig in Zeitnot geriet, ihre eigenen Gesetzesvorschläge durchzubringen, zumal in jeder Herbstsession, wenn die Beratung des Staatshaushaltes stattfinden musste. Die­ ser ist innerhalb von 70 Tagen zu verabschieden. Als Folge der begrenzten Bera­ tungszeit legte die Verfassungsreform vom 4. 8. 1995 eine einzige durchgehende Sitzungsperiode von 120 Tagen von Oktober bis Juni fest. Zusätzliche Sitzungstage können bei Bedarf vom Premierminister oder von der Mehrheit der Abgeordne­ ten beschlossen werden (Art. 28). Zweifellos ist die neue Sitzungsperiode für eine kontinuierliche Parlamentsarbeit geeigneter. Allerdings wird die bisherige Bilanz eher kritisch beurteilt:9 die Abwesenheit vieler Abgeordneter hat sich kaum ver­ mindert; Nachtsitzungen, die eigentlich gestrichen werden sollten, existieren nach wie vor, um den Parlamentariern eine rasche Heimreise in ihre Wahlkreise zu er­ möglichen. Folglich hat sich die erhoffte Verbesserung der Parlamentsarbeit bis­ lang nur punktuell ergeben. Die Verfassung gestattet die Einberufung beider Häuser zu außerordentli­ chen Sitzungen auf Verlangen der Exekutive oder der Mehrheit der Abgeordneten (Art. 29). Nach Artikel 30 obliegt es dem Staatspräsidenten, diese Sondersitzungen per Dekret zu eröffnen und zu schließen. In der Regel wird das Parlament zu solchen Sondersitzungen im Juli oder September einberufen. Artikel 29 bestimmt, dass eine Tagesordnung vorher festgelegt sein muss. Verlangt der Premier eine außer­ ordentliche Sitzung, gibt es keine Begrenzung der Tagungsdauer; tun dies die Par­ lamentarier, dann muss diese spätestens nach zwölf Tagen beendet sein, selbst wenn die Tagesordnung noch nicht erschöpft ist. Hat der Staatspräsident das Schließungsdekret unterschrieben, können die Abgeordneten erst nach Ablauf eines Monats eine neue außerordentliche Sitzung fordern; diese zeitliche Restriktion gilt nicht für den Premierminister – ein deutli­ cher Hinweis auf die antiparlamentarische Zielrichtung dieses Verfassungsartikels. Auffallend häufig wurde das Parlament nach Regierungswechseln zu Son­ dersitzungen einberufen. Der Grund lag auf der Hand: Die neuen Regierun­ gen wollten ihr Programm rasch verwirklichen. So beriefen die Linksregierun­ gen zwischen 1981 und 1986 das Parlament zu 17 außerordentlichen Tagungen ein, während es in der Legislaturperiode zuvor nur vier gewesen waren.

5.2.3 Die Ausschüsse Zu den zahlreichen Neuerungen der gaullistischen Verfassung des Jahres 1958 ge­ hörte die Reduzierung der Zahl der Parlamentsausschüsse. Arbeiteten am Ende der IV. Republik 18 Ausschüsse mit je 44 Mitgliedern, so waren es bis 2008 nun­

Der Funktionsverlust des » rationalisierten « Parlaments 115

mehr nur noch je sechs Ausschüsse in beiden Häusern mit einer allerdings be­ trächtlichen Zunahme der Mitgliederzahl. Obwohl jeder Abgeordnete nur einem Ausschuss angehören darf, der Besuch der Sitzungen bisweilen zu wünschen üb­ riglässt und manchmal kleine (jedoch nicht entscheidungsberechtigte) Arbeits­ gruppen gebildet werden, ist die bloße Größe der Ausschüsse einer sinnvollen po­ litischen Tätigkeit wenig förderlich. Hauptsächlich zwei Beweggründe leiteten die Verfassungsväter bei der Neu­ gestaltung des parlamentarischen Ausschusswesens: Sie wollten den Missstand im Parlament der IV. Republik, dass in manchen Ausschüssen Interessenvertre­ ter gleichsam unter sich waren, durch eine höhere » Eintrittsschwelle « für diesen Personenkreis aufheben. Auch hofften sie zugleich, die Ausschüsse in ihrem poli­ tischen Einfluss beschneiden zu können – eine Absicht, die sich rasch als erfolg­ reich erwies. Die Verfassungsreform von 2008 erhöhte die Zahl der Ausschüsse auf acht in der Nationalversammlung, auf sieben im Senat: Wirtschaft, Erziehung und kulturelle Angelegenheiten, Auswärtiges, Soziales, Verteidigung, Finanzen, Gesetzgebung und Infrastruktur (im Senat gibt es eine gemeinsame Kommission für Außen- und Verteidigungspolitik). Zusätzlich wurde in beiden Häusern eine » Kommission für europäische Angelegenheiten « gebildet (Art. 88-4). Ihre Aufga­ be ist u. a. die Information der Mitglieder über die politische oder wirtschaftliche Tragweite der in Brüssel diskutierten und beschlossenen Gemeinschaftsprojekte. Die Mitglieder der ständigen Ausschüsse werden nach der Verhältniswahl be­ stimmt (Art. 37 GO-NV), wodurch alle Parlamentsfraktionen in allen Ausschüs­ sen vertreten sind. Freibleibende Plätze werden an Fraktionslose vergeben. Jeder Ausschuss wird von einem Ausschussbüro geleitet, dessen Mitglieder (Vorsitzender, Stellvertreter und Sekretäre) für ein Jahr nach der Mehrheitswahl bestellt werden, was bedeutet, dass Vertreter der Opposition (von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen) keinen Ausschussvorsitz innehaben. Nur ein Vizepräsi­ dentenposten ist der Opposition in jedem Ausschuss vorbehalten. Auf Initiative von Nicolas Sarkozy im Jahr 2007 und in der Geschäftsordnung der Nationalver­ sammlung seit 2009 verankert, wird der Vorsitz des Finanzausschusses von einem Oppositionspolitiker gestellt. Im Senat wurde diese Regelung im Jahr 2011 einge­ führt. Gemäß Artikel 43 der Verfassung werden die Gesetzestexte ständigen oder speziellen Ausschüssen zur Prüfung zugesandt. Nach Artikel 85 GO-NV überweist der Präsident der Nationalversammlung einen Gesetzentwurf oder eine Vorlage an einen von ihm bestimmten federfüh­ renden Ausschuss. Andere Ausschüsse haben das Recht, diesem ihre Vorschläge zuzuleiten. Bei der Behandlung des Staatshaushaltes übermitteln die sieben übri­ gen Kommissionen dem federführenden Finanzausschuss ihre Stellungnahmen hinsichtlich der Kredite und Ausgaben ihres Zuständigkeitsbereiches.

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Das Parlament

Für jeden Text wird anschließend ein Berichterstatter, der Rapporteur, bestellt. Diese Politiker gehören nahezu ausnahmslos der Regierungsmehrheit an. Häufig werden auch solche bestellt, die den Regierungsvorlagen kritisch gegenüberstehen. Auf diese Weise hofft der Regierungschef, innerparteilichen bzw. innerfraktionel­ len » Druck « besser kanalisieren und reduzieren zu können. Die Berichterstatter haben die Aufgabe, alle für den Entscheidungsprozess im Ausschuss relevanten Informationen zusammenzutragen und ihren Kollegen einen entsprechenden Be­ richt vorzuschlagen. Zu diesem Zweck können sie nicht nur Kontakte zur Regie­ rung aufnehmen, sondern auch zu interessierten Verbänden. Insofern handelt es sich um einflussreiche Positionen, da die Berichterstatter die Weichen für die spä­ teren Beschlussfassungen im Ausschuss und im Plenum stellen. Bei der weiteren Behandlung diskutiert der Ausschuss auf der Basis des vorgelegten Berichts, führt Anhörungen der Minister, der zuständigen Beamten (mit Zustimmung des betref­ fenden Ressortchefs), von Interessenvertretern und – im Verteidigungsausschuss – von Militärs durch. Anschließend befindet der Ausschuss über die Vorschläge aus seinen eigenen Reihen sowie über die Zusatzanträge, die von außen (seitens der Regierung, der Fraktionen oder einzelner Abgeordneter) an ihn herangetragen werden. Dies ist insofern wichtig, als sich die Regierung nach Artikel 44, Absatz 2 in der Plenumsdebatte jedem Zusatzantrag widersetzen kann, der nicht vorher im federführenden Ausschuss behandelt wurde. Nach der Beschlussfassung über den Bericht wird dieser dem Plenum der Nationalversammlung vom Berichterstatter vorgetragen. Ein Recht – wie in Italien und Spanien – gegebenenfalls ein Gesetz zu beschließen, haben die Ausschüsse nicht. Die Bedeutung der ständigen Ausschüsse bei der Behandlung der Zusatzan­ träge verdeutlichen folgende Zahlen: Seit Beginn der 14. Legislaturperiode (20. 6. 2012) bis zum 1. Januar 2014 wurden insgesamt 132 Gesetze vom Parlament ver­ abschiedet. Dabei wurden in der Nationalversammlung 43 358 Zusatzanträge ge­ stellt, im Senat 19 401. Von ihnen wurden 5 400 bzw. 4 726 durch jede Kammer an­ genommen. Der Einfluss der Ausschüsse wurde durch die Bestimmung nachhaltig gestärkt, dass die Plenardebatte nicht mehr – außer bei Finanzvorlagen und die Sozialversicherung betreffenden Gesetzen – auf der Grundlage des Regierungs­ entwurfs sondern auf demjenigen der Kommissionsarbeit stattfindet (Art. 42). Eine besondere Rolle kommt im Finanzausschuss dem Generalberichterstat­ ter über den Haushalt sowie den jährlich neu nominierten Spezialberichterstat­ tern zu. Den » Rapporteurs sur avis « (Gutachter) obliegt es, die Einzelanträge der Ministerien aufgrund ihres Spezialwissens zu begutachten. Darüber hinaus kön­ nen sie im Laufe des Haushaltsjahres an Ort und Stelle die Ausgaben eines Minis­ teriums überwachen und ebenfalls die öffentlichen Unternehmen kontrollieren.10 Parlamentarische Kontrollrechte nehmen auch die Spezialberichterstatter des Finanzausschusses wahr, denen die Überprüfung der einzelnen Budgettitel eines

Der Funktionsverlust des » rationalisierten « Parlaments 117

Ministeriums obliegt. Sie haben das Recht, ihre Überprüfungen vor Ort und auf der Grundlage aller relevanten Unterlagen vorzunehmen (Artikel 164-IV der Or­ donnanz zum Finanzgesetz von 1959). Zu bemängeln ist freilich, dass sie ihre Be­ richte in kurzer Zeit abfassen müssen und nur für ein Jahr in ihr Amt bestellt werden. Würden sie für die gesamte Legislaturperiode ernannt, könnten sie eine umfassendere Detailkenntnis über die einzelnen Verwaltungsabteilungen » ihres « Ministeriums gewinnen und folglich viel effizienter arbeiten. Seit dem Jahre 1973 ist es üblich, die Opposition bei der Formulierung der Spe­ zialberichte für den Finanzausschuss mehr oder weniger entsprechend ihrer Stär­ ke im Parlament einzubinden. » Zur Information der Nationalversammlung « (so Art. 145 GO-NV) können die Ausschüsse auch Enquête-Kommissionen (Missions d’information) einberu­ fen und deren Berichte veröffentlichen. Seit Herbst 1988 tagen alle Ausschüsse in der Regel in öffentlichen Sitzungen. Unterstützt werden die Ausschüsse von einem kleinen Mitarbeiterstab. Um ihre Arbeit zu verbessern, wurde zusätzlich Anfang 2006 jedes Ausschusssekreta­ riat mit einem eigenen Wissenschaftlichen Dienst ausgestattet. Ein anderes häufig beklagtes Problem ist die Kürze der für die Ausarbeitung eines vollständigen Berichts verfügbaren Zeit. Deshalb versuchen die Ausschüs­ se immer häufiger, außerhalb der ordentlichen Sitzungsperioden des Parlaments zu tagen. Seit Mai 1991 wurden solche Sondersitzungen dadurch erleichtert, dass nach einer Entscheidung des Verfassungsrates nicht bei den Beratungen, sondern nur bei den Abstimmungen die Beschlussfähigkeit (le quorum) gegeben sein muss.

5.2.4 Die Tagesordnung Das Problem der Festlegung der Tagesordnung ist » nach einer Entscheidung des Verfassungsrates gewissermaßen der Schlussstein im Gesetzgebungsprozess zwi­ schen der Phase der Vorbereitung und derjenigen der Entscheidung «11. So muss­ ten in Frankreichs III. und IV. Republik die Regierungen geradezu die » Präsi­ dentenkonferenz  « beschwören, damit diese ihre Gesetzesvorschläge auf die Tagesordnung setzte. Denn trotz diverser Reformversuche galt auch in der Nach­ kriegsrepublik das Prinzip parlamentarischer Souveränität, wonach die National­ versammlung » immer die Herrin der Tagesordnung bleibt «. Dies änderte sich 1958 radikal: Nach Artikel 48 standen an erster Stelle und in der von der Regierung festgelegten Reihenfolge die Beratungen derjenigen Ge­ setzentwürfe, die von ihr eingebracht wurden, sowie die von ihr akzeptierten (!) Gesetzesvorschläge. In der absichtsvollen Konsequenz dieser Vorschrift bestan­ den für Alternativvorschläge oder überhaupt für Gesetzesvorschläge der Opposi­

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Das Parlament

tion weniger Chancen, im parlamentarischen Entscheidungsprozess gleicherma­ ßen wie die Vorlagen der Regierung zum Zuge zu kommen, zumal diese die Tagesordnung geradezu zu monopolisieren und damit auch bis zu einem gewis­ sen Grad zu manipulieren vermochte. Die Regierungen scheuten sich nicht, die­ ses Veto-Recht in einem das Parlament demütigenden Maße auszunutzen. Auch die Befugnis der » Präsidentenkonferenz «, eine » zusätzliche Tagesordnung « vor­ zulegen, änderte das politische Ungleichgewicht nicht, weil die Regierung auch in diesem Fall mit Hilfe ihrer Parlamentsmehrheit jede oppositionelle Initiative ver­ eiteln konnte. Seit 2008 legt jede Kammer ihre Tagesordnung selbst fest, wobei zwei von vier Wochen den Regierungsvorlagen vorbehalten sind. D. h., das Parlament verfügt erstmals über die Möglichkeit, die Hälfte der Sitzungszeit selbst zu bestimmen und über Fragen diskutieren, die es selbst auf die Tagesordnung setzt. Eine Wo­ che ist hauptsächlich der Regierungskontrolle sowie der Evaluation der Politiken vorbehalten (Art. 48 Abs. 5). Mindestens ein Sitzungstag ist den von Oppositionsoder Minderheitsgruppen eingereichten Themen vorbehalten (Art. 48 Abs. 5). Seit Beginn der V. Republik beruhten mehr als 90 Prozent aller verabschiede­ ten Gesetze auf Vorlagen der Regierung bzw. der Parlamentsmehrheit.

5.3 Zur rechtlichen Stellung der Abgeordneten Die Abgeordneten der V. Republik werden seit dem Jahre 1958 für jeweils fünf Jah­ re nach dem Prinzip der absoluten Mehrheitswahl bestellt (siehe Kapitel 11.1). In der Regel kommen etwa 66 400 Wahlberechtigte auf einen Abgeordneten. 1. Grundsätzlich ist das Mandat mit anderen beruflichen Aktivitäten unverein­ bar. Beamte werden in den einstweiligen Ruhestand versetzt; sie dürfen bei al­ len Beför­derungsstufen und bei den Pensionsansprüchen gegenüber ihren akti­ ven Beamtenkollegen nicht benachteiligt werden. Die Ausübung eines Mandats ist ebenfalls aktiven Militärs verwehrt. Nur Hochschullehrer und Pfarrer im Elsass sowie im Departement Moselle dürfen ihren Beruf auch weiterhin ausüben. Freiberufliche dürfen ihrer bisheri­ gen Berufstätigkeit weiter nachgehen.12 Seit 1972 erstreckt sich die Inkompatibi­ lität auch auf die Leitung von großen Immobiliengesellschaften und Privatunter­ nehmen, die eng mit staatlichen Stellen zusammenarbeiten. Eine viel gescholtene Unsitte französischer Parlamentarier ist das Kumulie­ ren einer Vielzahl nationaler, regionaler und lokaler Mandate. Zwar wurde diese Ämterhäufung durch das Organgesetz vom 5. April 2000 eingeschränkt. Die neue Gesetzgebung untersagte den Abgeordneten und Senatoren die Mitgliedschaft im

Zur rechtlichen Stellung der Abgeordneten 119

Europäischen Parlament. Die Ausübung eines nationalen oder regionalen oder lo­ kalen Mandats wie beispielsweise dasjenige des Regionalrats- oder Generalrats­ präsidenten oder des Bürgermeisters war nach wie vor erlaubt. In Gemeinden mit weniger als 3 500 Einwohnern war zusätzlich die Mitgliedschaft im Gemein­ derat gestattet. In der 14. Legislaturperiode, also seit 2012, üben 83 Prozent der Parlamentarier, d. h. 338 Abgeordnete und 211 Senatoren, weitere Wahlämter aus. Seit Verabschiedung des Organgesetzes vom 14. 2. 2014 in Verbindung mit einem einfachen Gesetz ist jegliche Ämterhäufung untersagt. Die Parlamentarier dür­ fen künftig nur ihr nationales Mandat ausüben. Allerdings gilt diese neue Rege­ lung erst 2017 nach Ablauf der gegenwärtigen Legislaturperiode; bei einem frühe­ ren Termin wäre die erforderliche Mehrheit in beiden Häusern fraglich gewesen. Die Zahlen belegen die nach wie vor erhebliche Verankerung der französi­ schen Abgeordneten und der Senatoren im lokalen Bereich. Häufig hatten sie ihre nationale Karriere erst begonnen, nachdem sie schon ein kommunales oder regio­ nales Mandat innegehabt hatten, das sie aus verschiedenen Gründen nicht aufge­ ben wollten. Für dieses Interesse sind hauptsächlich drei Gründe verantwortlich: Zunächst verschafft eine regionale Machtbasis einem Politiker ein zusätzliches politisches Gewicht in der Hauptstadt. 2. In den Augen der meisten Franzosen soll der Abgeordnete oder Senator eine Vermittlungsfunktion dergestalt wahrnehmen, dass er in Paris individuelle, lo­ kale oder regionale Belange vertritt und die zentrale Administration zu für sei­ ne Klientel günstigen Entscheidungen veranlasst. Aus einleuchtenden Gründen sind hierbei Premierminister und Minister einem besonders hohen Erwartungs­ druck ausgesetzt. Der gleiche » politische Mechanismus « ist auch eine Erklärung dafür, weshalb junge » Technokraten « aus den Ministerialkabinetten bei Wahl­ kreiskandidaturen gute Nominierungs- und auch Wahlchancen besitzen. In die­ ser Hinsicht lassen sich die Wähler der V. Republik im Übrigen von ähnlichen Ge­ sichtspunkten leiten wie ihre Vorgänger in der III. und IV. Republik. Schließlich profitieren von einem erfolgreichen Einsatz des Abgeordneten nicht nur seine lo­ kalen oder regionalen Auftraggeber; gewöhnlich findet er selbst seine eigene Be­ lohnung in verbesserten Wiederwahlaussichten. Immer wieder wurde die zuweilen sehr starke Inanspruchnahme durch die Vertretung lokaler oder regionaler Belange und Interessen beklagt: häufige Abwe­ senheiten von Paris, häufig überdurchschnittliches zeitliches und politisches En­ gagement bei der Vertretung lokaler Angelegenheiten und folglich eine Amtsver­ nachlässigung der nationalen Tätigkeit. Ob die sinnvolle neue Regelung zu einer merklichen Verbesserung der Anwesenheitspflicht und zu einer stärkeren Orien­ tierung auf gesamtstaatliche Aufgaben führen wird, bleibt abzuwarten.

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Das Parlament

Die Abgeordneten genießen Immunität, die nur von der Nationalversamm­ lung aufgehoben werden kann, was seit 1959 sehr selten geschah.13 Grundsätzlich dürfen die Parlamentarier ihr Stimmrecht nur persönlich aus­ üben (Art. 27). Mit dieser Vorschrift sollte die in der IV. Republik übliche Unsit­ te bekämpft werden, dass die Fraktionsvorsitzenden mit den Stimmpaketen ihrer Fraktionskollegen über das Schicksal eines Gesetzes oder sogar der Regierung ent­ schieden. Nur ausnahmsweise und nur in genau definierten Fällen ist die Stimm­ übertragung heute erlaubt, wobei niemandem mehr als eine Stimme übertragen werden darf. Trotzdem wurden diese Regelungen häufig unterlaufen. Abgeordneten wie auch Senatoren können von der Regierung prestigeträchti­ ge Aufträge (» missions «) zur Ausarbeitung eines Berichts über aktuelle Probleme, wie z. B. Jugendarbeitslosigkeit oder den Bau des Eurotunnels, übertragen werden (Art. 144 des Organgesetzes zum Wahlgesetz).14 3. Die Arbeitsbedingungen für Abgeordnete haben sich – trotz weiterhin beste­ hender Defizite – ständig verbessert. So verfügt ein Abgeordneter nicht nur über ein eigenes Arbeitszimmer, sondern auch (seit September 1995) über Mittel, um bis zu fünf Mitarbeiter, von denen einer meist im Wahlkreisbüro tätig ist, zu be­ schäftigen. Der Gesamtbruttobetrag belief sich 2013 auf monatlich 9 504 Euro. Die monatlichen Diäten – 7 100 Euro brutto 2015 – richten sich nach dem Durchschnittseinkommen der Hohen Beamtenschaft und steigen folglich bei je­ der Einkommensverbesserung. Die Koppelung an diese Einkünfte vermeidet sinnvollerweise eine öffentliche Auseinandersetzung über Diätenerhöhungen wie in Deutschland.15 Ergänzend kommt neben verschiedenen kostenlosen Diensten wie Fahrten zwischen dem Wahlkreis und Paris sowie Porto- und Telefongebüh­ ren eine monatliche Funktionszulage einschließlich eines Wohnzuschusses für die Hauptstadt in Höhe von 5 770 Euro hinzu. Knapp die Hälfte der Gesamtdiä­ ten, nämlich neun Zwanzigstel ist einkommensteuerfrei. Von jedem Parlamenta­ rier werden automatisch Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 1 518 Euro ein­ behalten.16 Das Organgesetz vom 25. 2. 1992 begrenzt Mehrfacheinkünfte in Form von Diä­ten und Einnahmen aus der Ausübung weiterer Mandate sowie von Kommun­ algesellschaften.17 Abgaben an ihre Fraktion in unterschiedlicher Höhe hat eben­ falls jeder Parlamentarier zu entrichten. Ein Übergangsgeld nach Ausscheiden aus dem Parlament gibt es für sechs Monate. Aufgrund einiger Korruptionsfälle Mitte der achtziger Jahre beschloss das Par­ lament 1988 ein Gesetz zur Offenlegung der Einkommensverhältnisse aller Abge­ ordneten und Senatoren. Danach muss jeder Parlamentarier zu Beginn und am Ende seiner Amtszeit bei der Kommission für die finanzielle Transparenz des po­ litischen Lebens eine Erklärung über seine eigenen sowie über die Vermögens­

Zur Sozialstruktur der Abgeordneten 121

verhältnisse seines Ehepartners hinterlegen (Art. 135-1 des Wahlgesetzes i. d. F. v. 19. 1. 1995).

5.4 Zur Sozialstruktur der Abgeordneten Die Entwicklung der V. Republik ist nicht nur durch eine Verflechtung zwischen Politik und Verwaltung, sondern auch durch eine kontinuierliche Besetzung po­ litischer Ämter durch Angehörige des öffentlichen Dienstes gekennzeichnet. So stammten durchschnittlich 55 Prozent der Abgeordneten aus dem öffentlichen Dienst. Der Soziologe Eric Keslassy hat in seiner Studie » Une assemblée natio­ nale plus représentative « festgestellt, dass seit 1981 die aus dem öffentlichen Dienst stammenden Abgeordneten fast immer die Mehrheit stellten.18 Gleichzeitig ging die Zahl der » alten « politischen Mandatsträger, nämlich Rechtsanwälte, Landwirte sowie kleine Gewerbetreibende, die die Parlamente der III. und IV. Republik beherrscht hatten, zurück. So stellten diese Parlamentarier im Palais Bourbon seit 2012 etwas weniger als die Hälfte der Abgeordneten. Keslassy merkte ebenfalls an, dass – wie schon in früheren Legislaturperio­ den  – Mandatsträger aus » volkstümlichen Schichten «, also Arbeiter und einfa­ che Angestellte, kaum vertreten sind, obwohl ihr Anteil an der Gesamtbevölke­ rung 50,2 Prozent beträgt. Repräsentanten freier Berufe und Selbstständige (ohne Landwirte) machten seit 2012 ein knappes Viertel der Abgeordneten aus, während sie nach dem bür­ gerlichen Wahlsieg 2007 noch fast 30 Prozent der Mandatsträger gestellt hatten. Eine wesentliche Erklärung für die seit den 60er Jahren festzustellende ver­ stärkte Wahl von Spitzenbeamten in die Nationalversammlung ist, dass bei den hohen Funktionsträgern die Einsicht wuchs, die Modernisierung der französi­ schen Gesellschaft und Wirtschaft erfordere auch im Parlament eine politische Elite, die über den notwendigen Sachverstand verfügt und nicht die Interessen­lage der antimodernistisch orientierten Gruppen teilt. Dieser Einsicht, der im bürger­ lichen Lager der damalige Premierminister Pompidou bei den Wahlen von 1967 zum Durchbruch verhalf, verschloss sich Ende der siebziger Jahre auch die sozia­ listische Parteiführung unter François Mitterrand nicht. Neben den Spitzenbeamten ist auch in der 14. Legislaturperiode der relativ große Anteil an hohen Beamten der so genannten Catégorie A (insgesamt 109) so­ wie derjenigen an (Hochschul-)Lehrern in beiden großen Fraktionen (insgesamt 58) auffällig. Der Altersdurchschnitt schwankte bei den seit 1978 gewählten Abgeordneten nur unwesentlich, so dass seither weder von einer Verjüngung noch von einer Ver­ greisung der Mitglieder der Nationalversammlung gesprochen werden kann. Die

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Das Parlament

Alterskohorten der 40 bis 50-jährigen und diejenigen der 50 bis 60-jährigen be­ trugen 2007 insgesamt 371 Abgeordnete bzw. 322 fünf Jahre später, was 56 Prozent entspricht. Der Anteil der 60 bis 70-jährigen stieg von 170 auf 184 (= 32 Prozent). Nur zwei Mandatsträger waren 2012 jünger als 30 Jahre, unter ihnen ein Mitglied der Familie Le Pen. Dank der Verfassungsänderung vom Juli 1999 zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern erhöhte sich der Frauenanteil unter den Gewählten merk­ lich: 153 zogen 2012 in das Palais Bourbon ein, entsprechend 26,5 Prozent der ins­ gesamt 577 Abgeordneten. Fünf Jahre zuvor waren es nur 18,5 Prozent (107 Depu­ tierte) gewesen. Bemerkenswert ist die schwache Vertretung der sogenannten Minorités visi­ bles, also Abgeordnete mit Migrationshintergrund (ohne Repräsentanten aus den Überseegebieten): insgesamt waren es 12 Deputierte, die alle einer der Linkspar­ teien angehörten.

5.5 Gesetzgebung im » rationalisierten « Parlamentarismus Einleitend lässt sich folgende Grundaussage treffen: Der Gesetzgebungsprozess wurde bis 2008 von der Regierung, genauer: vom Premierminister19, beherrscht, weil zum einen die Verfassung dies vorsah und weil zum anderen der Verfas­ sungsrat in der Anfangsphase der V. Republik diese Tendenz durch rigide Ent­ scheidungen noch verstärkte. Dass trotz solcher Einschränkungen und Eingriffe das französische Parlament sich ernsthaft bemüht, seiner Gesetzgebungsfunk­tion nachzukommen, zeigen seine verstärkten erfolgreichen Bemühungen, die Regie­ rung durch Dialog zu Zugeständnissen bei ihren eigenen Gesetzesvorlagen zu be­ wegen. Dieses Ziel ist in Zeiten knapper Mehrheiten oder gar bei Minderheits­ regierungen ebenso wie in » Cohabitation «-Perioden leichter zu erreichen als in Konstellationen breiter Koalitionsmehrheiten, in denen ein Partner über die ab­ solute Sitzmehrheit verfügt. Auch die Regierungen haben seit Mitte der siebziger Jahre ein höheres Maß an Flexibilität erkennen lassen als zu Zeiten der gaullisti­ schen Staatschefs. Die Regierungsdominanz bei der Gesetzgebung20 wurde erst durch die Verfassungsreform vom 23. Juli 2008 teilweise eingeschränkt.21 Nach wie vor beschränkt aber der Verfassungstext in Artikel 34 die Gesetzge­ bung auf bestimmte, genau definierte Bereiche. Weitere Sachgebiete werden auf dem Verordnungsweg geregelt (Art. 37) und fallen folglich in die Zuständigkeit der Regierung. Die in Artikel 34 aufgezählten Materien bestehen aus zwei unterschiedlichen Kategorien: solche, die durch Gesetz geregelt und solche, für die durch Gesetze die » Grundsätze « bestimmt werden. Die erste Kategorie betrifft die Gesetzgebung

Gesetzgebung im » rationalisierten « Parlamentarismus 123

in den Bereichen: staatsbürgerliche Rechte und Grundrechte, Staatsangehörigkeit, Zivilrechte, Steuergesetzgebung, Tatbestandsbeschreibung von Verbrechen, Am­ nestie, Wahlsystem, Kategorien öffentlicher Anstalten, Geldemissionswesen, Na­ tionalisierungen. Zur zweiten Kategorie gehören Politikfelder, für die das Parlament das Recht hat, » Grundsätze « festzulegen: die Organisation der nationalen Verteidigung, Fra­ gen der Selbstverwaltung und Einnahmequellen der Gebietskörperschaften, Un­ terrichtswesen, Eigentums- sowie Handelsrechte, Arbeitsgesetzgebung, soziale Si­ cherheit. Alle Gebiete, die in diesem Katalog nicht aufgezählt sind, unterliegen dem Verordnungsrecht der Regierung. Durch diese Regelung nach Artikel 37 wurde der parlamentarische Zuständigkeitsbereich merklich eingeschränkt und der Regie­ rung das Recht zugesprochen, » auf dem Verordnungsweg selbst primäre Rechts­ normen zu erlassen, ohne hierdurch einer besonderen gesetzlichen Ermächtigung zu bedürfen. […] Die Verordnung tritt so als Rechtsquelle selbständig und gleich­ berechtigt neben das Gesetz «22. Ergeben sich Kompetenzstreitigkeiten zwischen Regierung und dem jewei­ ligen Kammerpräsidenten, so können beide Seiten den Verfassungsrat anrufen. Dieser muss dann innerhalb von acht Tagen eine Entscheidung fällen. Insgesamt wurde das Verfassungsgericht 250 Mal vom Premierminister zur Klärung ange­ rufen.23 Die Gesetzesinitiative steht – wie erwähnt – sowohl dem Premierminister als auch jedem Mitglied des Parlaments zu (Art. 39). Dabei ist ein auffallender Unter­ schied zwischen Gesetzesinitiative und Gesetzesbeschluss erkennbar. Legten die Regierungen zwischen 1959 und 2003 den Parlamentskammern insgesamt 3 958 Entwürfe vor (Projets de loi), so beliefen sich die entsprechenden Zahlen für die Parlamentarier auf das Dreifache (Propositions de loi).24 Vergleicht man dagegen die im selben Zeitraum vom Parlament verabschiede­ ten Gesetze, so verschiebt sich das Zahlenverhältnis überproportional zugunsten der Regierungsvorlagen, was aufgrund der jeweiligen Mehrheitsverhältnisse auch nicht überrascht. In allen modernen Demokratien werden die meisten Gesetze auf der Grundlage von Regierungsentwürfen beschlossen. In welchem der beiden Häuser ein Gesetz eingebracht wird, bleibt dem An­ tragsteller überlassen, außer bei Haushaltsvorlagen und Gesetzen zur Finanzie­ rung der Sozialversicherung, die zunächst von der Nationalversammlung behan­ delt werden müssen. Eine weitere Beschränkung parlamentarischer Initiativen enthält Artikel 40. Dieser verbietet den Abgeordneten, Gesetzesvorschläge und Zusatzanträge einzu­ bringen, die eine Verringerung der Einnahmen oder eine Erhöhung der Ausga­ ben zur Folge haben. Wird ein solcher Vorschlag dem Kammerpräsidenten un­

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Das Parlament

terbreitet, so muss dieser ihn unverzüglich zurückweisen. Zwar kannte auch die

IV. Republik einen solchen » Anti-Füllhorn «-Artikel, jedoch wurde er beson­

ders in Wahlkampfzeiten nur zu oft bewusst » vergessen «. Zugunsten ihrer eige­ nen Wählerklientel praktizierten selbst die Gaullisten, entschiedene Gegner der IV. Republik, diese überlieferte Verhaltensweise. Seit dem Ende der sechziger Jah­ re ging aber die Zahl der (nichtverfassungskonformen) Initiativen, die den Haus­ halt belastet hätten, allmählich zurück.25 Nachdem ein Gesetzentwurf bzw. ein Gesetzesvorschlag beim Präsidium einer Kammer hinterlegt und registriert worden ist, wird er umgehend einem Aus­ schuss überwiesen; anschließend wird dort ein Berichterstatter für das Gesetzes­ vorhaben bestellt. Nach Abschluss der Ausschussarbeiten und nach Aufnahme des Textes in die Tagesordnung der Nationalversammlung beginnt die Debatte über die Vorlage mit dem Bericht des zuständigen Ausschussberichterstatters ge­ folgt von einem ministeriellen Statement. Die Diskussion des Gesetzentwurfs im Plenum hat seit 2008 nicht länger auf der Grundlage der Regierungsvorlage zu beginnen (Art. 42). Dies hat nun zur Folge, dass die im Ausschuss beschlosse­ nen Textänderungen entgegen der bisherigen Regelung im Plenum Berücksich­ tigung finden. » Was für eine Änderung gegenüber derjenigen der verflossenen 50  Jahre ! «, kommentieren die Verfassungsrechtler Carcassonne und Guillaume diese Kompetenzverbesserung des Parlaments.26 Außerdem haben die Parlamen­ tarier nunmehr hinreichend Zeit zur Diskussion des Textes: Die erste Lesung be­ ginnt erst sechs Wochen nach seiner Hinterlegung bei der ersten damit befassten Kammer. Vor der zweiten kann die dortige Lesung erst nach Ablauf von zwei Wo­ chen beginnen. Früher wurden Gesetzentwürfe häufig mittwochs im Minister­ rat beschlossen und mussten in der folgenden Woche in einer Parlamentskammer debattiert werden. Folglich korrigiert die neue Regelung den auf den Parlamenta­ riern lastenden Zeitdruck. Die Parlamentarier debattieren zunächst die generellen Grundzüge des Geset­ zes. In der anschließenden Lesung stimmen sie dann über jeden einzelnen Artikel ab. In diesem Stadium können sie ebenso wie die Regierung Zusatzanträge ein­ bringen – ein Novum gegenüber früheren Republiken, wo Minister Parteifreunde um die Einbringung eines entsprechenden » ministeriellen « Antrages bitten muss­ ten. Nach wie vor kann die Regierung nach Beginn der Plenardebatte jedem Zu­ satzantrag widersprechen, der vorher nicht dem Ausschuss unterbreitet worden ist (Art. 44 Abs. 2). Seit Beginn der achtziger Jahre hat sich die Anzahl der Änderungsanträge sprunghaft erhöht. Viele Beobachter sprechen von einer Antragsflut mit Obstruk­ tionscharakter für den Gesetzgebungsprozess. Auf etwa 100 000 schätzte Parla­ mentspräsident Jean-Louis Debré die Zahl der Zusatzanträge in der 12. Legislatur­ periode (2002 – 2007) und plädierte für eine drastische Reduzierung. Beispielhaft

Gesetzgebung im » rationalisierten « Parlamentarismus 125

sei auf das im Juni 2015 von Wirtschaftsminister Emmanuel Macron eingebrach­ te Gesetz zur Reform der Wirtschaft verwiesen: Insgesamt 437 Stunden wurde in beiden Parlamentskammer über diesen Text debattiert. Über mehr als 8 000 Änderungsanträge wurde abgestimmt, mehr als 2 000 wurden schließlich ange­ nommen. Generell ist nicht nur die Zahl der Änderungsanträge bemerkenswert, son­ dern auch, dass erstens über 75 Prozent aller im Ausschuss beschlossenen Amen­ dements akzeptiert werden, was aufgrund der ideologischen Übereinstimmung zwischen Regierung und jeweiliger Mehrheit kaum überrascht, und dass zwei­ tens die Regierung – zumindest bei den sozialistischen Mehrheitskabinetten – Zu­ satzanträge aus den Reihen ihrer eigenen parlamentarischen Mehrheit stark be­ günstigt.27 Auch auf Zusatzanträge trifft die Verfassungsbestimmung zu, dass sie unzuläs­ sig sind, wenn sie eine Ausgabenerhöhung bewirken. Die Entscheidung hat auch in diesen Fällen der Präsident der Nationalversammlung, der diese delikate Auf­ gabe in der Regel an den Vorsitzenden des Finanzausschusses delegiert. Die meisten Amendements werden von den Fraktionen und nicht mehr von einzelnen Abgeordneten eingebracht. Ein wesentlicher Grund für diese Entwick­ lung liegt darin, dass seit Mitte der siebziger Jahre die Regierungen eher zu Ver­ handlungen mit ihren eigenen Parteifreunden und den manchmal widerspensti­ gen Koalitionspartnern bereit waren und auch stärker zu Kompromissen neigten. Daneben versuchen ausgabenstarke Ressorts mit Hilfe der Mehrheitsfraktionen immer wieder, die restriktive Politik des Finanzministeriums zu durchkreuzen. Insgesamt haben Gruppenanträge größere Erfolgsaussichten als Einzelanträge. Nach den Einzelberatungen beschließt die zuerst mit der Materie befasste Kammer über den gesamten Text einschließlich der während der Debatte einge­ brachten (von der Regierung nicht widersprochenen) Zusatzanträge und über­ weist das Gesetz dann an ihr parlamentarisches Pendant, wo der gleiche Pro­ zessablauf stattfindet. Während dieses Verfahrens besitzt die Regierung nach Artikel 45, Absatz 2 die Möglichkeit, den Verfahrensablauf durch ein » beschleunigtes Verfahren « (die ehemalige Dringlichkeitserklärung) abzukürzen, sofern die Präsidentenkonferenz beider Kammern sich nicht gemeinsam diesem Verfahren widersetzt. In einem solchen Fall findet nur eine Lesung in jeder Kammer statt. Alle Regierungen ha­ ben von dieser Regelung trotz heftiger Proteste selbst aus den eigenen Reihen reichlich Gebrauch gemacht. Darüber hinaus kann die Regierung zu jedem beliebigen Zeitpunkt die De­ batte abkürzen, indem sie die Abstimmung über den Gesamttext oder über Teile desselben verlangen kann – eine Neuerung des » rationalisierten « Parlamentaris­ mus in Frankreich.

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Das Parlament

Bei diesem sogenannten Vote bloqué steht es ihr frei, nur ihre eigenen oder die von ihr akzeptierten Zusatzanträge aufzunehmen (Art. 44 Abs. 3). Mit dieser » Art Guillotine « im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens wird die Regierung in die Lage versetzt, die parlamentarische Debatte nach ihrem Ermessen » abzuschnei­ den « oder ganz zu unterbinden. Da dieser Passus ausdrücklich hervorhebt, dass bei einer solchen vorgezogenen Abstimmung nur die von der Regierung einge­ brachten sowie akzeptierten Zusatzanträge Berücksichtigung finden, können auf diesem Weg sämtliche Ergänzungsanträge aus der Mitte des Parlaments diskus­ sionslos abgelehnt werden. Der häufige Gebrauch – zwischen 1959 und 2007 330 Mal – zeigt die zuneh­ mende Neigung nahezu aller Regierungen, das » Vote bloqué « auch als Instrument zur Disziplinierung der eigenen Reihen, quasi als eine besondere Art von Ver­ trauensfrage, zu benutzen, indem sie unbequeme Zusatzanträge seitens der Op­ position sowie vor allem auch von Abgeordneten der Regierungsmehrheit abblo­ cken. Wenn beide Häuser des Parlaments ein Gesetz verabschiedet haben, wird es innerhalb von 15 Tagen verkündet, es sei denn, der Staatspräsident verlangt eine erneute Beratung des Gesetzes als Ganzes oder einzelner seiner Artikel. Geschieht dies nicht und wird ein Gesetz nicht auf Antrag des Staatspräsidenten, des Pre­ miers, eines Kammerpräsidenten oder von 60 Abgeordneten bzw. Senatoren vom Verfassungsrat für verfassungswidrig erklärt (Art. 61), so erhält es mit seiner Ver­ öffentlichung im Staatsanzeiger (Journal Officiel) Gesetzeskraft. Ein abgekürztes Gesetzgebungsverfahren ist seit 1991 möglich: nämlich die Ab­ stimmung ohne Aussprache bzw. nach verkürzter Debatte. Ist der Text zwischen den Fraktionen nicht sonderlich strittig, kann auf dieses Verfahren zurückgegrif­ fen werden, in dem nur die Regierungsvertreter, der Ausschusspräsident sowie der Berichterstatter und die Antragsteller von Zusatzanträgen das Wort ergreifen. Bevor auf das Verfahren zwischen beiden Häusern des Parlaments während des Gesetzgebungsverfahrens einzugehen ist, sind noch drei Sonderregelungen anzusprechen: die Lois organiques, der Staatshaushalt und die partielle Übertra­ gung der Gesetzgebung auf die Regierung gemäß Artikel 38. Im Unterschied zu den » einfachen « Gesetzen werden die » verfassungsergän­ zenden « Gesetze (Lois organiques) bei einem » beschleunigten Verfahren « erst 15  Tagen nach ihrer Einbringung zur Beratung und Abstimmung unterbreitet (Art. 46 Abs. 2). Diese so genannten Anwendungsgesetze stehen sozusagen zwi­ schen den » einfachen « Gesetzen sowie der Verfassung selbst und spezifizieren insgesamt 31 ihrer Artikel.28 Auf diese Weise soll der Verfassungstext nicht mit Einzelheiten überfrachtet werden, sondern sich auf das Wesentliche konzentrie­ ren. Die meisten wurden in dem Zeitraum von Juni 1958 bis Februar 1959, als die Regierung über entsprechende Sondervollmachten verfügte, erlassen.

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» Verfassungsergänzende « Gesetze, die den Senat betreffen, müssen von bei­ den Kammern in gleichem Wortlaut beschlossen werden – wohl der entscheiden­ de Grund, warum de Gaulle im Frühjahr 1969 den Versuch wagte, die Senatsre­ form per Referendum zu vollziehen, da der Senat kaum seine eigene Auflösung beschlossen hätte. Bei allen übrigen Lois organiques ist eine Übereinstimmung zwischen beiden Kammern nicht zwingend erforderlich; in diesen Fällen kann der Text in letzter Lesung jedoch nur mit absoluter Mehrheit der Mitglieder von der Nationalver­ sammlung angenommen werden. Schließlich müssen die »  verfassungsergän­ zenden « Gesetze vor ihrer Verkündung vom Verfassungsrat auf ihre Überein­ stimmung mit der Verfassung überprüft werden.29 Dreimal wurde bislang ein Organgesetz für verfassungswidrig erklärt (1977, 1988 und 1990); sechsmal wurde eine » teilweise « Verfassungsübereinstimmung bestätigt. Auch die Bestimmungen über die Verabschiedung des Staatshaushalts (Art. 47) unterscheiden sich nicht unerheblich von der Beschlussfassung über die » einfa­ chen « Gesetze. An seinem Ratifizierungsmodus wird einmal mehr deutlich, wie sehr das Parlament der V. Republik in seinen Entscheidungsbefugnissen durch die Verfassung beschränkt ist und auf Grund des fixierten Zeitlimits bei einer solchen komplexen Materie kaum eine ausreichende Kontrolle ausüben kann.30 Die Bestimmungen dieses Artikels – ergänzt durch ein Loi organique – zie­ len großenteils darauf ab, dem Parlament Verzögerungen unmöglich zu machen und es überhaupt von einer genauen Nachprüfung des Haushaltsentwurfs der Re­ gierung abzuhalten. Gleichzeitig soll vermieden werden, die Exekutive zu Zuge­ ständnissen an bestimmte Wählergruppen zu zwingen, wie dies in der IV. Repu­ blik üblich war. Beide Häuser sind nach Einbringung des Budgetentwurfs, der zunächst dem Palais Bourbon unterbreitet werden muss, verpflichtet, einen genauen Zeitplan einzuhalten: Die Nationalversammlung muss die erste Lesung innerhalb von 40 Tagen nach Einbringung abschließen, sonst überweist die Regierung den Ent­ wurf an den Senat, der innerhalb von 20 Tagen einen Beschluss fassen muss. Sollte der gesamte parlamentarische Prozess nicht nach einer Frist von 70 Tagen beendet sein, steht es im Ermessen der Regierung, ob sie die Bestimmungen der Vorlage durch Ordonnanzen in Kraft setzt. Versäumt sie es jedoch, ihren Budgetentwurf so rechtzeitig einzubringen, dass er vor Beginn des Haushaltsjahres verkündet werden kann (also jeweils im Januar), kann sie vom Parlament in einem Dringlichkeitsverfahren die Ermächtigung er­ bitten, Steuern zu erheben und per Dekret die notwendigen Kredite anzuweisen. Erfreulicherweise hat bisher jedoch jede Regierung eine solche das Parlament behindernde kurzfristige Einbringung vermieden und ihren Haushaltsgesetzent­ wurf rechtzeitig eingebracht.

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Das Parlament

Über diesen stimmt das Parlament nicht mehr kapitelweise ab, sondern es ent­ scheidet in einer Gesamtabstimmung über die » gesetzlich vorgesehenen Leistun­ gen « und genehmigt anschließend die » neuen « Ausgaben getrennt nach Haus­ haltstiteln und Ministerien. Die bisherigen stabilen Regierungskoalitionen gewährleisteten eine regelmä­ ßige zügige Beratung des Budgetentwurfs, ohne dass die Regierung auf ihre ver­ fassungsmäßigen Rechte zurückgreifen musste. Allerdings musste die Regierung Raymond Barre Ende 1979 mehrfach von ihrem Recht nach Artikel 49, Absatz 3 (siehe unten) Gebrauch machen, um das Haushaltsgesetz für 1980 gegen den Wi­ derstand des gaullistischen Koalitionspartners durchzusetzen.31 Das Gleiche wi­ derfuhr den Minderheitsregierungen Rocard und Cresson bei der Verschiebung der Haushalte 1990 und 1992. Insgesamt wenden die Parlamentarier ein Drittel ihrer Arbeitszeit für die Ver­ abschiedung der Finanzgesetze auf. Ein amerikanischer Betrachter kam zu dem ernüchternden Schluss, dass » [ihr] Einfluss auf die Ergebnisse sehr gering « sei.32 Diese Einschätzung hat sich insofern geändert, als durch ein am 1. 8. 2001 in Kraft getretenes Organgesetz die Rolle der Parlamentarier gestärkt wurde. Durch das Loi organique relative aux lois de finances (LOLF) kontrollieren sie den Budget­ entwurf nicht länger nach einzelnen Ministerien, sondern nach » missions « und » programmes «, in denen jeweils die Budgetansätze für einen ganzen Themen­ schwerpunkt wie » Schule « oder » Forschung « zusammengefasst sind.33 Der Bud­ getentwurf ist durch das LOLF transparenter geworden, erlaubt den Parlamen­ tariern Umschichtungen innerhalb des Gesamtbudgetentwurfs und eine bessere Kontrolle der öffentlichen Ausgaben. Ergänzend können sie seit Sommer 2008 auch auf die Hilfe des Rechnungshofes zurückgreifen (Art. 47-2). Der Haushalt der Sozialversicherungen wird seit 1996 ebenfalls vom Parlament beschlossen und nicht länger allein von den Sozialpartnern, um einen Ausgleich zwischen Einnahmen und Ausgaben zu erreichen. Dieses Postulat ist allerdings bislang – trotz mehrerer Belastungen für die Versicherungsnehmer – Wunschden­ ken geblieben. Innerhalb von 50 Tagen hat das Parlament den Entwurf zu verab­ schieden (Art. 47-1). Ein zusätzliches Mittel, die parlamentarischen Kontrollrechte gegenüber der Exekutive teilweise einzuengen, sind die Rechtsverordnungen (Ordonnanzen) nach Artikel 38, die schon die Verfassungen der III. und IV. Republik als DécretsLois kannten. Danach kann auf Antrag das Parlament die Regierung ermächtigen, durch Rechtsverordnungen in meist besonders komplizierten Sachverhalten Maß­ nahmen zu treffen, die normalerweise Gegenstand der Gesetzgebung sind. Diese Ermächtigung muss jedoch sachlich und zeitlich exakt begrenzt sein. Außerdem müssen die Ordonnanzen, die vom Ministerrat nach Anhören des Staatsrates be­ schlossen werden und unmittelbar mit ihrer Veröffentlichung in Kraft treten, Ge­

Das Verfahren zwischen den Kammern 129

genstand eines Ratifizierungsgesetzes sein. Damit die Ordonnanzen nicht hinfäl­ lig werden, muss dieses von der Regierung zu einem im Ermächtigungsgesetz (Loi d’habilitation) festgelegten Zeitpunkt dem Parlament vorgelegt werden. D. h., das Parlament kann erst nach Ablauf der Vollmachtsperiode aktiv werden. Allein das Hinterlegen eines solchen Ratifizierungsgesetzes reichte bis 2008 aus, damit die Verordnungen in Kraft blieben. Nunmehr müssen die Verordnun­ gen vom Parlament ratifiziert werden (Art. 38 Abs. 2). Zwischen 1959 und Anfang 1990 nur selten genutzt (insgesamt 25 Mal) zum Beispiel zur Regelung der Sozial­ versicherung (1967) oder hinsichtlich der Einschränkung des Alkoholmissbrauchs bzw. des Schwarzbrennens (1962), bedienten sich die nachfolgenden Regierungen häufiger dieser Möglichkeiten, um Maßnahmen ohne parlamentarische » Störver­ suche « durchzubringen. Allein im Zeitraum 2004 bis 2013 wurden 357 Ordonnan­ zen in 98 Ermächtigungsgesetzen veröffentlicht; von denen wurden schließlich 304 ratifiziert. Als Beispiele sei auf Themenbereiche wie Arbeitsplatzbeschaffung (2005) und Beschleunigung von Baumaßnahmen (2013) verwiesen.34

5.6 Das Verfahren zwischen den Kammern Im Unterschied zum früheren Rat der Republik verfügt der Senat über eine er­ heblich stärkere Position. Da laut Verfassung (Art. 45 Abs. 1) beide Häuser des Parlaments Gesetzentwürfe mit dem Ziel der » Annahme eines übereinstimmen­ den Textes « zu beraten haben, veränderte sich das Verhältnis zwischen den Kam­ mern nicht unwesentlich. So kann der Senat ein von der Nationalversammlung verabschiedetes Gesetz so lange blockieren, bis die Regierung eingreift und der (eher theoretischen) Möglichkeit der » navette «, eines längeren » Hin- und Her­ pendelns « des Gesetzes zwischen den beiden Häusern, ein Ende bereitet. Da die meisten Gesetze von der Regierung ausgehen, gelangte diese Verschleppungstak­ tik gewöhnlich jedoch nicht zur Anwendung. Wird bei einem Text nach zwei Lesungen in beiden Häusern oder – falls es die Regierung im Dringlichkeitsfall fordert – schon nach einer Lesung kein Einver­ nehmen erzielt, ist der Premier oder, wenn es sich um einen Gesetzesvorschlag handelt, die beiden Kammerpräsidenten berechtigt, nach deutschem Vorbild den Vermittlungsausschuss anzurufen (Art. 45 Abs. 2). Ein Kompromissvorschlag des Vermittlungsausschusses kann (!) von der Regierung den Kammern vorgelegt wer­ den, wobei ohne Regierungszustimmung kein Zusatzantrag zulässig ist. Wird im Ausschuss keine Einigung erzielt, ist die Regierung nach einer er­ neuten Lesung in beiden Häusern berechtigt, von der Nationalversammlung eine endgültige Beschlussfassung zu verlangen (Art. 45 Abs. 4). Dabei kann die Natio­ nalversammlung nochmals ihren früheren Gesetzesbeschluss wiederholen oder

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Das Parlament

Schaubild 2  Schema des Gesetzgebungsprozesses

Regierung (Vorlage)

Nationalversammlung (Entwurf )

Senat (Entwurf )

Staatsrat (gibt Stellungnahme ab) Präsidium der Nationalversammlung oder des Senats (entscheidet über Zulässigkeit) Federführender Ausschuss (erstellt einen Bericht) Konferenz der »Präsidenten« (fixiert Termin für die 1. Lesung) Obligatorischer Weg

Nationalversammlung oder Senat (Anhörung der Berichte, Debatten und Abstimmungen)

Evtl. zusätzliche Etappen

Senat oder Nationalversammlung (wie oben) oder eventuell Hin- und Herpendeln des Entwurfs bzw. der Vorlage (»navette«) Eventuell Anrufung des Verfassungsrates (im Falle einer Meinungsverschiedenheit zwischen Regierung und einer Kammer, ob es sich um ein Gesetz handelt) Eventuell Einsetzung des Vermittlungsausschusses

Nationalversammlung und Senat Falls keine Einigung: definitives Votum der Nationalversammlung

Das Gesetz wird an die Regierung weitergeleitet Evtentuell Anrufung des Verfassungsrates durch Staats-, Kammerpräsidenten, Premier oder 60 Abgeordnete oder Senatoren Unterzeichnung durch Staatspräsidenten (eventuell Zurückweisung an die Kammern möglich!)

Verkündung des Gesetzes im Staatsanzeiger

Quelle: Nach Maout, J.-Chr./Muzellec, R.: Le Parlement sous la Ve Republique 1971

Das Verfahren zwischen den Kammern 131

auf den Text des Vermittlungsausschusses zurückgreifen. Sofern es sich nicht um ein verfassungsergänzendes Gesetz handelt, bedarf diese letzte Lesung nur einer einfachen Mehrheit. Entgegen den ursprünglichen Intentionen der Verfassungsväter entwickelte sich der Senat zunehmend als Opponent gegenüber der Regierung. Dies betraf so­ wohl die Amtszeit von Staatspräsident de Gaulle als auch besonders diejenige von Staatschef Mitterrand. Allein zwischen 1981 und 1986 wurde 202mal ein Vermitt­ lungsverfahren eingeleitet; in 141 Fällen kam es zu keiner Einigung, so dass die Na­ tionalversammlung zur endgültigen Beschlussfassung aufgerufen wurde. Ganz anders verhielt sich der Senat z. B. im Jahre 1987, als beide Kammern von identischen Mehrheiten beherrscht wurden. Während noch 1985 von 81 Gesetzen 60 dem Vermittlungsausschuss vorgelegt wurden und dort in drei Vierteln der Fälle keine Einigung erzielt wurde, scheiterte 1987 kein einziges Vermittlungsver­ fahren. Mit anderen Worten: Wenn beide Mehrheiten politisch divergieren, wer­ den zahlreiche Vermittlungsausschüsse einberufen – mit allerdings nur geringen Erfolgsaussichten. Stimmen beide überein, gibt es nur wenige Vermittlungsver­ fahren und dann mit meist positiven Ergebnissen. Einem Vermittlungsausschuss gehören je sieben Abgeordnete und Senatoren an, meist Experten im zuständigen Parlamentsausschuss. In der Regel haben sie nur über den strittigen Artikel oder Satzteile einen Kompromiss herbeizuführen. Erst seit 1981 ist es üblich, auch Mitglieder der Opposition in eine Commission Mixte Paritaire zu berufen. Außer in Zeiten starrer ideologischer Konfrontation ist den Senatoren durchaus an einer Einigung gelegen, um so wenigstens ein Mini­ mum ihrer Forderungen und Ziele im Kompromissverfahren durchsetzen zu kön­ nen. Eine Politik des » alles oder nichts « wird in der Regel vermieden. Das » schwerste Geschütz « im » Waffenarsenals « des » rationalisierten « Parla­ mentarismus stellt der Rückgriff auf Artikel 49, Absatz 3 dar. Ursprünglich von den Verfassungsvätern nur für Ausnahmefälle gedacht, erfreute sich seine An­ wendung bei allen Regierungen der V. Republik zunehmender Beliebtheit; erlaubt er doch dem Premierminister nach Beschluss im Ministerrat die Vertrauensfra­ ge mit einem bestimmten Gesetzentwurf zu koppeln. Wird innerhalb der folgen­ den 24 Stunden kein Misstrauensantrag eingebracht und mit absoluter Mehrheit angenommen, so gilt der Gesetzentwurf als angenommen, das heißt, eine parla­ mentarische Abstimmung über den Gesetzesinhalt findet nicht statt. Im Grunde gestattet es dieser Artikel jedem Premierminister, seine Koalition zur Disziplin zu zwingen, selbst wenn diese dem vorgelegten Text ablehnend gegenübersteht. Wi­ derspenstige Abgeordnete können darauf verweisen, nicht über den eigentlichen Inhalt der Gesetzesvorlage, sondern über den Bestand der Regierung befunden zu haben. Dieser » Mehrheitsstabilisator « (Claude Emeri) bzw. diese Art der Ver­ trauensfrage hatte es auch den drei sozialistischen Minderheitskabinetten erlaubt,

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Das Parlament

ihre Vorlagen durchzubringen, weil auch Fraktionslose und Zentrumspolitiker nicht durch Unterstützung eines Misstrauensantrages eine Parlamentsauflösung riskieren wollten. Im Jahre 1989 verknüpfte Premierminister Rocard sechzehn­ mal (!) eine Gesetzesvorlage mit der Vertrauensfrage. In vier Fällen brachte die bürgerliche Opposition anschließend einen Misstrauensantrag ein, ohne jedoch auch nur einmal das erforderliche Erfolgsquorum von 289 Stimmen zu erreichen. Je ungünstiger die Mehrheitsverhältnisse für eine Regierung in der Nationalver­ sammlung sind, desto öfter greift sie auf diese » Waffe « zurück. Bis Sommer 2004 haben fast alle Regierungschefs diesen Mechanismus bei 48 Gesetzesvorlagen angewandt, u. a. bei so bedeutenden Gesetzesvorhaben wie der Schaffung der französischen Atomstreitmacht (1960) und beim Wahlgesetz zum Europäischen Parlament (1977), aber auch bei vielen Finanzgesetzen. Berück­ sichtigt man den Rückgriff auf diesen Artikel auch bei einzelnen Lesungen dessel­ ben Textes, so erhöht sich die Gesamtzahl sogar auf 78. Der meist anschließend von der Opposition eingereichte Misstrauensantrag blieb stets erfolglos. Nur Pre­ mierminister Lionel Jospin verzichtete in der 12. Legislaturperiode auf diese » be­ sondere « Vertrauensfrage. Sein sozialistischer Kollege Manuel Valls konnte 2014 und 2015 nur dank dieser » Keule « seine Reformgesetze zur Stabilisierung der Fi­ nanzen und der Wirtschaft verabschieden lassen und die Linksabweichler in den eigenen Reihen disziplinieren. Im Sommer 2016 verfügte er nur noch über eine relative Mehrheit in der Nationalversammlung. Folglich musste er bei der Verab­ schiedung der Arbeitsmarktreform dreimal auf Artikel 49, Absatz 3 zurückgrei­ fen. Seit der Verfassungsreform vom 23. Juli 2008 ist der Gebrauch dieser » Waffe « eingeschränkt. Außer im Fall der Finanzgesetze und derjenigen zur Finanzierung der Sozialversicherungen darf der Premierminister nur einmal pro Sitzungsperi­ ode von dieser Verfassungsregel Gebrauch machen, um Widerstände in den eige­ nen Reihen zu brechen. Partei- oder Fraktionsrebellen wissen, dass, sollte ein von der Opposition eingereichter Misstrauensan­trag erfolgreich sein, der Staatspräsi­ dent umgehend die Nationalversammlung auflösen würde.

5.7 Die Wahrnehmung der Kontrollfunktion Eine der wichtigsten Funktionen des Parlaments, nämlich Regierungshandeln zu kritisieren und zu kontrollieren, findet sich selbstverständlich auch im » rationali­ sierten « Parlamentarismus der V. Republik. Allerdings haben die Verfassungsväter die üblichen Kontrollinstrumente in ihrer Wirkung auch nach der Verfassungsre­ form von 2008 so sehr entschärft, dass trotz Verbesserungen die Zielsetzung, die Regierung so wenig wie möglich » zu stören «, weitgehend erreicht worden ist. Ins­ besondere mit Hilfe von Verfahrensregeln wurde die Opposition nahezu 50 Jah­

Die Wahrnehmung der Kontrollfunktion 133

re der Möglichkeit beraubt, von sich aus einzelne Regierungsmaßnahmen effektiv kontrollieren zu können. Einer der tiefgehenden Einschnitte betraf das Verbot der Interpellationen35, also parlamentarischen Anfragen, die in der IV. Republik häufig mit einer Ab­ stimmung endeten und zum Rücktritt der Regierung führen konnten. Der im Jahre 1959 unternommene Versuch zahlreicher Parlamentarier, die Möglichkeit solcher Anfragen mit anschließendem Votum quasi durch die Hintertür in die Geschäftsordnung einzufügen, scheiterte am Verbot des Verfassungsrates.36 Fünf­ zig Jahre später sind die einst so beliebten Interpellationen in veränderter Form wieder in den Verfassungstext aufgenommen worden. Nach Artikel 34-1 kann das Parlament nunmehr » Resolutionen « verabschieden. Allerdings dürfen diese kei­ nesfalls die Verantwortung der Regierung beinhalten. Als wichtige Kontrollinstrumente sind die schriftlichen und mündlichen An­ fragen sowie die Untersuchungsausschüsse zu nennen; einer besonderen Erörte­ rung bedarf ferner die Problematik der Vertrauensfrage sowie des Misstrauens­ votums. a) Anfragen Vier Arten von Anfragen können in der V. Republik unterschieden werden: münd­ liche Anfragen ohne und mit Debatte, schriftliche Fragen sowie Anfragen an die Regierung.37 Seit der Verfassungsänderung im Sommer 1995 und besonders seit Juli 2008 wurde der Bereich der Fragestunden – in Anlehnung an das Verfahren des briti­ schen Unterhauses – nicht nur ausgeweitet, sondern auch merklich lebhafter ge­ staltet. Die neue Fassung des Artikels 48, Absatz 6 (in der Fassung vom 23. 7. 2008), legt fest, dass nunmehr mindestens einmal wöchentlich während der Sitzungspe­ riode eine Fragestunde stattzufinden hat: dienstags vormittags die mündlichen Anfragen, dienstags und mittwochs nachmittags die Anfragen an die Regierung. Im Einzelnen: ■■ Die Präsidentenkonferenz der Nationalversammlung legt entsprechend den Fraktionsstärken für jede Woche fest, wie viele » Fragen ohne Debatte « die einzelnen Fraktionen an die Regierung richten dürfen; dieses Recht besitzen auch fraktionslose Abgeordnete. Durchschnittlich werden jährlich 400 bis 700 solcher Anfragen gestellt (im Senat sind es durchschnittlich 200). Jede Frage muss von den Fraktionen im Rahmen ihres wöchentlichen Kontingents eine Woche vor dem Sitzungstermin eingereicht werden; anschließend wird sie im Mitteilungsblatt der Nationalversammlung veröffentlicht. Jedem Fragesteller stehen drei Minuten zur Erläuterung zur Verfügung; auf die Antwort des Mi­

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Das Parlament

nisters – ebenfalls drei Minuten – darf er erneut kurz das Wort ergreifen; dem Regierungsmitglied steht eine Replik hierauf frei. Insgesamt gelten die » Fragen ohne Debatte « wegen ihres meist nur lokal bedeutsamen Inhalts für das Ge­ samtparlament als uninteressant. » Anfragen mit Debatte « sind seit 1978 in der Nationalversammlung nicht mehr eingebracht worden, da die von der Parlamentsmehrheit beherrschten Präsidentenkonferenzen nur solche auf die Tagesordnung setzten, die die Re­ gierung nicht in Bedrängnis brachten. Dagegen sind sie bei den Senatoren nach wie vor recht beliebt. Durchschnittlich finden dort jährlich etwa 40 sol­ cher Debatten statt. ■■ Als Erfolg werden allgemein die seit 1974 auf Vorschlag des neugewählten Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing eingeführten » Anfragen an die Re­ gierung « gewertet. Jeden Dienstag- und Mittwochnachmittag können nun während einer Stunde (seit Oktober 1995) allen Regierungsmitgliedern Fra­ gen mit Aktualitätswert gestellt werden. Die Gesamtzeit wird auf die einzelnen Fraktionen so aufgeteilt, dass Regierungsmehrheit und Opposition in etwa über die gleiche Zeitdauer verfügen. Entgegen der bisherigen Regelung wer­ den die Fragen den Regierungsmitgliedern nicht mehr vorher mitgeteilt, son­ dern diese müssen den Fragestellern direkt antworten. Dafür bleiben ihnen je­ weils zwei Minuten – die gleiche Zeitspanne, die Abgeordnete zur Vorstellung ihrer Anfrage zur Verfügung haben. Eine Replik des Fragestellers ist übrigens nicht möglich. Von diesem neuen Verfahren erhoffte sich das Parlamentsprä­ sidium einen spontaneren Gedankenaustausch und die Vermeidung von lang­ fristigen Erklärungen. Im Senat ist seit 1982 diese Befragungsform ebenfalls möglich. Ihre thematische Breite reicht von Notfällen wie Hilfsmaßnahmen nach Unwetterkatastrophen über ökonomische Krisenereignisse wie der Bör­ senkrach von 1987 bis zur Sozialproblematik AIDS. Da alle diese » Fragen an die Regierung « regelmäßig über Fernsehen ausgestrahlt werden, nutzen eini­ ge Abgeordnete dieselben auch gerne, um lokale Fragen vor den Kameras zur Sprache zu bringen. Um die » Spannung « über die gesamte Zeit aufrechtzuerhalten, wurde im Jahre 1988 vereinbart, dass jede Fraktion nicht ihren gesamten Zeitrahmen so­ fort ausschöpfen darf (um anschließend das Plenum zu verlassen), sondern dass jeweils nur kurze Frageserien von höchstens drei Fragen pro Fraktion aufgerufen und beantwortet werden; anschließend beginnt eine neue Fragese­ rie. Insgesamt erfreut sich diese Frageart wegen ihres hohen Aktualitätsgra­ des einer großen Beliebtheit, zumal sie der Opposition die Gelegenheit gibt, die Regierung rasch zu einer Antwort zu nötigen.38 So wurden in der 13. Le­ gislaturperiode 4 033 Fragen von Seiten der Abgeordneten und 160 durch Se­ natoren gestellt.

Die Wahrnehmung der Kontrollfunktion 135

■■ Daneben wurde die » Erklärung der Regierung zu aktuellen Ereignissen « ein­ geführt (Artikel 132 GO-NV). Meist dienstags nachmittags kann die Regierung zehn Minuten lang eine solche Erklärung abgeben und ihre Politik erläutern. Die Fraktionen haben anschließend Gelegenheit, hierauf zu antworten. ■■ Schriftliche Fragen39 haben sich seit Beginn der achtziger Jahre nahezu ver­ dreifacht. Ihre Anzahl betrug in der 12. Legislaturperiode durchschnittlich 17 000 im Jahr. Gründe für diese Zunahme sind einmal die Zunahme der ge­ setzgeberischen und reglementierenden Arbeit von Legislative und Exekutive; zum anderen die Möglichkeit der Abgeordneten und Senatoren, die parlamen­ tarischen Hilfsdienste sowie ihre Assistenten mit der Ausarbeitung der Fra­ gen zu beauftragen. Grundsätzlich sollen die Fragen innerhalb von zwei Mo­ naten beantwortet werden; es hat sich aber die stillschweigende Übereinkunft eingebürgert, diese Zeitspanne auszudehnen. Blieben zu Beginn der V. Repu­ blik viele Anfragen unbeantwortet, so trifft dies seit Mitte der achtziger Jahre nur noch auf durchschnittlich 10 Prozent zu; allerdings wird die Frist von zwei Monaten nur bei einem Viertel aller Fälle eingehalten, meist liegt sie deutlich darüber.40 An Themen überwiegen bei den schriftlichen Anfragen lokalpoliti­ sche Angelegenheiten (z. B. Renovierung eines Postamtes), berufsspezifische Probleme (Vergütung für Krankenschwestern oder Veteranenpensionen) und besonders soziale Anliegen. Manchmal geht es aber auch um die Präzisierung von Regierungsvorhaben. Seit 1995 gibt es auch sogenannte Nischen-Fragestunden: ein monatlicher Sitzungstag ist nach Beschluss der Präsidentenkonferenz solchen Fragen von insgesamt eineinhalb Stunden vorbehalten. Die Fragen werden auf die Frak­ tionen gemäß ihrer Stärke aufgeteilt; wenigstens eine kann jeden Gruppe an den jeweiligen Minister stellen. Auf dessen Antwort hat jeder Fraktionsspre­ cher eine Minute zur Replik (Art. 48 Abs. 6).41 Seit der V. Republik kennt das politische System Frankreichs ferner die so genann­ ten » parlamentarischen Beauftragungen « (Délégations), die durch Gesetzesbe­ schluss für einen bestimmten Themenkomplex gebildet werden. Die ursprünglich für Europafragen gebildete hat seit 2008 den Charakter eines » echten « Ausschus­ ses. Daneben gibt es noch die » Délégation « für die Gleichstellung von Frau und Mann sowie zur Evaluierung wissenschaftlicher Entwicklungen. Von besonderer Bedeutung ist die 2007 geschaffene » Délégation parlamentaire au renseignement « zur Kontrolle der Geheimdienste. Ihre acht Mitglieder (je vier Deputierte und Se­ natoren) sind bei ihren Kontrollen zu strikter Geheimhaltung verpflichtet. Gesetzgeberische Kompetenzen besitzen die » Délégations « nicht, sondern müssen sich auf Empfehlungen an die entsprechenden Parlamentsausschüsse be­ schränken.

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Das Parlament

Zur intensiveren Kontrolle des Regierungshandelns hat das Parlament 1996 zwei Einrichtungen neu geschaffen: Das Office parlementaire dévaluation des po­ litiques publiques zur besseren Überwachung der Ausgaben öffentlicher Haus­ haltsmittel und das Office parlementaire d’évaluation de la législation. Dessen Funktion besteht darin, die Bekanntgabe von Ausführungsbestimmungen zu ein­ zelnen Gesetzen zu überwachen. Häufig vergeht ein Jahr, bis die Regierung die erforderlichen Anwendungserlasse veröffentlicht hat. Solchen Verzögerungen hat das neue Kontrollorgan vorzubeugen, indem es die Regierung zu einer rascheren Veröffentlichung drängt.42 b) Untersuchungsausschüsse Eine der einschneidenden Maßnahmen des » rationalisierten « Parlamentarismus betraf die Untersuchungsausschüsse beider Häuser des Parlaments. Eine Reihe von restriktiven Regelungen hat bis 2008 dieses wichtige Kontrollinstrument, das zwischen 1875 und 1958 äußerst wirksam Skandale aufgedeckt und administrati­ ve Missstände angeprangert hatte, in seinen Wirkungsmöglichkeiten stark einge­ schränkt. Nur ein einfaches Gesetz (Ordonnanz Nr. 58-1100 vom 17. November 1958) regelte ihre Einrichtung. Ursprünglich konnten die » Commissions d’Enquête « (sie haben die Aufgabe, Informationen über genau festgelegte Untersuchungsgegenstände zu sammeln) sowie die » Commissions de Contrôle « (Kontrolle der Verwaltung, der gesamten öffentlichen Dienste und der Staatsbetriebe) nur durch Mehrheitsbeschluss der Nationalversammlung bzw. des Senats gebildet werden. Seit der Verfassungsre­ form von 2008 sind die Untersuchungsausschüsse (» Commissions d’Enquête «) im Verfassungstext verankert (Art. 51-2). Ihre Zusammensetzung – 30 Abge­ ordnete bzw. 21 Senatoren – umfasst nunmehr Parlamentarier aller Fraktionen, die entsprechend ihrer Stärke im jeweiligen Haus proportional ausgewählt wer­ den. Seit Änderung der Geschäftsordnung der Assemblée Nationale kann jeweils eine Oppositionsfraktion die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ver­ langen. Von einer Commission d’Enquête können nur Angelegenheiten aufgegriffen werden, die nicht Gegenstand eines gerichtlichen Untersuchungsverfahrens sind. Diese Regelung bevorzugt einseitig die Regierung. Will diese nämlich in einem brisanten Fall einen Untersuchungsausschuss vermeiden, beantragt der Justizmi­ nister die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens in der Absicht, einen politischen Skandal abzuwürgen. Allerdings ist es der Nationalversammlung seit 1971 gelun­ gen, diese Einschränkungsklausel in einigen Fällen dadurch zu umgehen, dass sie sich bei einem Skandal auf solche Untersuchungsaspekte konzentriert, die nicht schon Gegenstand eines juristischen Verfahrens sind.

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Ein Untersuchungsausschuss hat innerhalb von sechs Monaten seinen Be­ richt vorzulegen. Danach darf für dasselbe Thema ein Jahr lang kein Nachfolge­ ausschuss tätig werden. Diese Bestimmungen hatten zur Folge, dass die Kammer­ mehrheit im Grunde jedes Oppositionsbegehren ablehnen konnte. Dies ist nach der neuen Regelung nicht mehr möglich. Bis 2014 wurden insgesamt 72 Unter­ suchungsausschüsse in der Nationalversammlung und 45 im Senat eingerichtet. Seit 1977 sind auch die Untersuchungsmöglichkeiten ausgeweitet worden: Ein Untersuchungsausschuss kann nun Zeugen notfalls zwangsweise vorführen und vereidigen lassen. Bei Falschaussage droht eine Gefängnisstrafe. Außerdem sind den Parlamentariern alle zur Aufdeckung eines Skandals relevanten Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Der Rechnungshof kann um Amtshilfe gebeten werden. Der Ausschuss darf Anhörungen durchführen, denen sich Minister und Beamte so wenig wie Privatpersonen entziehen dürfen (was allerdings seit den siebziger Jahren kaum noch der Fall gewesen ist). Auch eine Aussageverweigerung mit Hin­ weis auf Staatsgeheimnisse wird von den Regierungsvertretern nur noch selten in Anspruch genommen. Seit Juli 1991 dürfen Untersuchungsausschüsse auch öffent­ lich tagen, was allerdings nicht die Regel ist. Alle Ausschussberichte wurden veröf­ fentlicht, obwohl dies erst seit November 1977 gesetzlich vorgeschrieben ist. Auch die Veröffentlichung von Protokollen sowie von wichtigen Dokumenten ist seit­ her gestattet. Die Meinung der Ausschussminderheit enthält der Bericht ebenfalls. Die Untersuchungsausschüsse der Nationalversammlung befassten sich u. a. mit zweifelhaften Baugenehmigungen, Umweltkatastrophen, mit der Vergabe staatlicher Gelder für zweifelhafte Forschungsaufträge sowie mit sozialen und ökonomischen Problemen.43 Aber auch Themen wie der staatliche Rundfunk und die Informationspolitik der Regierung, die Reprivatisierung der Anfang der acht­ ziger Jahre verstaatlichten Industriebetriebe, die Situation auf Korsika sowie in französischen Gefängnissen waren neben dem Skandal um die Bank Crédit Lyo­ nais sowie die Überwachung terroristischer Gruppen Gegenstände von Untersu­ chungsausschüssen. Trotz der seit 1977 bzw. 1991 verbesserten Arbeitsbedingungen sowie den seit Juli 2008 verfassungsrechtlich verbrieften Rechten wird den französischen Unter­ suchungsausschüssen im Vergleich zu parallelen Gremien im Ausland nur geringe Wirkungskraft bescheinigt. So hat sich die Öffentlichkeit für ihre Arbeit und die Ausschussberichte nicht sonderlich interessiert. Weder die audiovisuellen Medien noch die Presse greifen die Skandale auf und informieren ausführlich über die Ausschussarbeit. Nur die Untersuchung über die Praktiken der Parteienfinanzie­ rung (1991) erregte einige Aufmerksamkeit.

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Das Parlament

c) Vertrauensfrage und Misstrauensvotum Die Vertrauensabstimmung Die Vertrauensfrage nach Artikel 49, Absatz 1, die ein Premierminister auf Be­ schluss des Ministerrates, also mit Zustimmung des Staatspräsidenten, in der Na­ tionalversammlung stellen kann, hat den Zweck, die Mehrzahl der Abgeordneten auf das Programm der Regierung zu verpflichten oder sie für eine » Erklärung zur allgemeinen Politik « zu gewinnen. Dass die Regierungschefs vom Januar 1959 bis Sommer 2004 nur 30 Mal – und jedes Mal erfolgreich – um einen Vertrauensbe­ weis baten, zeigt den nicht alltäglichen Charakter dieses Verfahrens, dessen spar­ samer Gebrauch aus Sicht der Regierung offensichtlich seinen Nutzen fördert. So­ wohl für die Zustimmung zur Politik der Regierung wie für den Sturz derselben ist jeweils die Mehrheit der abgegebenen Stimmen ausreichend. Es steht im Ermessen des Premierministers, ob er einen solchen Antrag stellt oder nicht. Die Verfassung legt ihm dafür keine Verpflichtung auf. Premierminis­ ter mit nur schwachen oder gar unsicheren Mehrheiten in der Nationalversamm­ lung weigerten sich, auf diese Weise um das Vertrauen zu bitten. Richtig genutzt dient Artikel 49, Absatz 1 nicht zuletzt dazu, die politische Po­ sition eines Premierministers zu stärken, sei es als Mittel zur Festigung heteroge­ ner Koalitionen, sei es für die Öffentlichkeit als sichtbarer Beweis seiner breiten parlamentarischen Unterstützung. Dagegen verzichteten die drei Minderheitsre­ gierungschefs wohlweislich auf ein solches » selbstmörderisches Risiko « (Olivier Duhamel), das sie – außer bei der Abstimmung über den Einsatz französischer Truppen am Golf und bei der Verteidigung französischer Interessen im Rahmen der GATT-Verhandlungen – in eine Minderheitsposition gebracht hätte. Das Misstrauensvotum Bei der Ausarbeitung des Artikels 49, Absatz 2, der die Initiative den Abgeordne­ ten überlässt, orientierten sich de Gaulle und Debré an bestimmten Elementen des deutschen Grundgesetzartikels 67 über das konstruktive Misstrauensvotum. Im Vergleich zu den früheren Republiken sind seit 1958 Misstrauensanträge nicht mehr so leicht zu stellen. Zunächst bedarf ein solcher Antrag der Unter­ zeichnung eines Zehntels der Mitglieder der Nationalversammlung, denen bis August 1995 im Falle einer Ablehnung eine erneute Einbringung während dersel­ ben Sitzungsperiode untersagt war. Seit der Verfassungsreform darf ein Abgeord­ neter nun drei Misstrauensanträge im Laufe einer ordentlichen Sitzungsperiode unterzeichnen. Zwischen Antrag und Abstimmung muss eine » Besinnungspau­ se « von 48 Stunden liegen. Die Nationalversammlung hat einer Regierung dann das Misstrauen ausgesprochen, wenn die Mehrheit der Mitglieder, nicht nur der anwesenden Abgeordneten, sich dafür entscheidet; dabei werden lediglich die für

Die Wahrnehmung der Kontrollfunktion 139

den Tadelsantrag abgegebenen Stimmen gezählt. So wird verhindert, dass – wie häufig in der IV. Republik – zahlreiche Enthaltungen eine Regierung zum Rück­ tritt zwingen. Aufgrund dieser Erschwernisse erhielt von den bis Herbst 2004 eingebrach­ ten 47 Tadelsanträgen nur ein einziger die erforderliche Mehrheit und zwang die Regierung Pompidou zum Rücktritt: 280 Abgeordnete wollten auf diese Weise im Oktober 1962 ihre Abneigung gegenüber de Gaulles Referendum zur Änderung der Präsidentenwahl zum Ausdruck bringen. Minderheitspremier Pierre Bérégo­ voy entging am 1. Juni 1992 nur ganz knapp einer Niederlage: 289 Abgeordnete stimmten gegen den Misstrauensantrag, 286 dafür. Schon im November 1990 ver­ fehlte ein von der Opposition eingebrachter Antrag gegen Michel Rocard mit nur fünf Stimmen das erforderliche Quantum. Seit dem erfolgreichen Misstrauensvotum von 1962, das die Parlamentsauf­ lösung und nach Neuwahlen die absolute Mehrheit der Gaullisten (zusammen mit den Unabhängigen Republikanern) nach sich zog, verhinderten stabile Regie­ rungsmehrheiten einen Erfolg aller weiteren oppositionellen Misstrauensanträge. Trotzdem verwundert die vergleichsweise häufige Anwendung dieser Verfassungs­ bestimmung nicht: Handelte es sich doch für die Opposition in den meisten Fäl­ len weniger darum, die Regierung zu stürzen, als so oft wie möglich die Chance zu nutzen, die Regierung zu kritisieren und den Premierminister zu einer Recht­ fertigung seiner Politik zu veranlassen, die Stabilität der Regierungskoalition zu testen oder den Einstieg in einen politischen Dialog mit der Exekutive zu finden. Umgekehrt besteht der politische Ertrag für die Regierung darin, dass sie ihre par­ lamentarische Anhängerschaft an die Notwendigkeit strikter Parteidisziplin er­ innern kann. Gerade dieser Aspekt bewog die Gaullisten Mitte der siebziger Jah­ re nach anfänglichem Zögern, geschlossen die Regierung Chirac und nach dessen Rücktritt die Politik des neuen Premierministers Barre zu unterstützen. Der Senat wird von den Regelungen nach Artikel 49 nur am Rande berührt; der Premierminister kann ihn jedoch um Zustimmung zu einer » Erklärung über die allgemeine Politik « ersuchen (Art. 49 Abs. 4). Allerdings bleibt ein negatives Votum ohne Konsequenzen für die Regierung. Dieser Verfassungsbestimmung kommt somit nur symbolische Bedeutung zu. Wegen der Spannungen in den ers­ ten fünfzehn Jahren der V. Republik verwundert es nicht, dass erst die Regierung Chirac im Jahre 1975 – wohl vornehmlich aus Protokollgründen – den Senat um eine entsprechende Billigung ersuchte. Als wesentlich » politischer « sind die An­ träge der Regierung Barre nach Umbildungen des Kabinetts 1977 und 1978 so­ wie die drei Anträge einzuordnen, die Jacques Chirac in den Jahren 1986 und 1987 stellte. Edouard Balladur bat kurz nach Amtsübernahme im April 1993, ebenso wie Alain Juppé zwei Jahre später, die Senatoren um ihre Zustimmung für seine Poli­ tik. Die Absicht war klar: Der Premier wünschte eine eindrucksvolle Demonstra­

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Das Parlament

tion der Unterstützung für seine Politik nicht nur in der Nationalversammlung, sondern auch im Senat; das Votum im Palais de Luxembourg enttäuschte diese Erwartung nicht. Dagegen verzichteten die Linksregierungen zwischen 1981 und 1986 auf solch » Vertrauensbekundungen «. Erst Michel Rocard forderte Ende 1989 angesichts der osteuropäischen Um­ wälzungen den Senat zur Billigung seiner Außenpolitik auf. Er erhielt bei die­ ser » historischen Premiere « (Le Monde) die Unterstützung ebenso wie im Januar 1991 nach seiner Erklärung über Frankreichs Politik im Nahen Osten. Alle bis­ lang erbetenen Vertrauensbekundungen wurden von den Senatoren positiv be­ schieden. Zwei weitere Kontrollfunktionen der Legislative sind wegen ihres Ausnahme­ charakters von untergeordneter Bedeutung in diesem Kontext: Eine Kriegserklä­ rung bedarf ebenso wie die Verlängerung des von der Regierung verhängten Be­ lagerungs- und Ausnahmezustandes über zwölf Tage hinaus der Zustimmung des Parlaments. Seit 2008 hat die Regierung das Parlament über Auslandseinsätze der Armee zu informieren (Art. 35). Dauern diese länger als vier Monate haben beide Häuser darüber zu beschließen, wobei der Nationalversammlung gegebenenfalls das » letzte Wort « zukommt (Art. 35 Abs. 3).

5.8 Der Senat Im Rahmen der Gesetzgebungs- und Kontrollfunktion der Nationalversammlung wurde auf entsprechende Verfahrensrichtlinien und Abstimmungsergebnisse im Senat hingewiesen. Folglich sollen hier nur einige grundsätzliche Wesenszüge der Zweiten Kammer der V. Republik angesprochen werden, deren Stellung im Ver­ fassungsgefüge mit der Charakterisierung » wenig Potestas, aber viel Auctoritas « umschrieben werden kann.44 Die Verfassungsväter der V. Republik, die sich am Senat der III. Republik orien­tierten, ohne jedoch dem » Nachfolger « auch nur annähernd so viele Kom­ petenzen und Machtmittel zuzubilligen, wiesen der Zweiten Kammer die Aufgabe zu, die Gebietskörperschaften (Gemeinden, Departements und – ab 1982 – Regio­ nen) im französischen Parlament zu vertreten (Art. 24 Abs. 4). Als Interessenvertretung der Gebietskörperschaften repräsentieren die nach der Teilwahl im September 2014 348 durch indirekte Wahl bestellten Senatoren auch heute noch das traditionell ländliche, in zahlreiche Kleingemeinden zer­ gliederte Frankreich. Diese hauptsächlich von Repräsentanten dieser Gemeinden gewählten Notabeln vertreten somit in ihrer Mehrzahl den Teil Frankreichs, der deutlich anders als die wirtschaftlichen Ballungsgebiete strukturiert ist. Ihre poli­ tische Bedeutung besteht darin, dass sie den demographisch schwächer werden­

Der Senat 141

den agrarischen Gebieten ein politisches Mitspracherecht auf der nationalen Ebe­ ne sichern. Ursprünglich war diese Kammer, deren Mitglieder während einer Amtszeit von sechs Jahren (ursprünglich von neun Jahren) keine Ablösung befürchten müs­ sen, als mäßigendes Gegengewicht zur heterogen zusammengesetzten National­ versammlung konzipiert. Sie sollte der Regierung als Stütze gegenüber instabilen Koalitionen dienen. Niemand konnte damals eine im Vergleich zur IV. Repu­ blik grundlegende Änderung des Parteiensystems im Sinne eines relativ stabilen Blocksystems voraussehen, das ab Ende 1962 den Regierungen klare Mehrheiten in der Nationalversammlung verschaffte. Folglich erlebte der Senat einen deutli­ chen Funktionswandel: Er entwickelte sich zunehmend zu einem Hort der Oppo­ sition gegenüber dem gaullistischen Regime, dessen autoritäre Züge recht bald er­ kennbar wurden. Entgegen der ursprünglichen Intention unterstützte der Senat die neue Regierung nicht. Während in der Nationalversammlung die Gaullisten mit ihren Koalitionspartnern dominierten, waren zu Beginn der V. Republik im Senat die » alten « Parteien, insbesondere die Christdemokraten bzw. das Zentrum und die gemäßigte Linke stark vertreten. Aus diesem Grund ergaben sich rasch Konflikte zwischen der Regierung und der Senatsmehrheit, die sich als Wächter der republikanisch-demokratischen Tradition und als Gegner der von Charles de Gaulle zunehmend praktizierten Konzentration und Personalisierung von Macht verstand. Eine grundsätzliche » Klimaverbesserung « ergab sich erst nach der Amtsüber­ nahme durch Valéry Giscard d’Estaing, die jedoch während der Regierungszeit der Linkskabinette zwischen 1981 und 1986 von erneut » frostigen « Beziehungen abge­ löst wurde. Seit dem Jahre 1986 entwickelten sich die Beziehungen zwischen Re­ gierung und Senat sowie zwischen beiden Häusern des Parlaments wieder freund­ licher. Sofern die Regierung in den Gesetzgebungsprozess eingreift, verfügt der Senat bei der Gesetzgebung nur über ein aufschiebendes Veto – außer bei Verfassungs­ änderungen sowie bei ihn selbst betreffenden verfassungsergänzenden Gesetzen. Diese Rechtslage bringt es mit sich, dass der Senat weniger an der Ausarbei­ tung von Gesetzestexten als an der Vorlage von Zusatzanträgen interessiert ist, um auf diese Weise unter anderem seine Kenntnisse lokaler und regionaler Pro­ bleme wirkungsvoll zur Geltung zu bringen. Trotz unterschiedlicher Mehrheiten in beiden Häusern erreichten die Senatoren, dass zwischen 1981 und 1989 etwa 53 Prozent ihrer Änderungsanträge Eingang in die Gesetzestexte fanden. Die Se­ natoren wissen, dass sie die Gesetzgebung letztlich weder blockieren noch in ih­ rem Sinne bestimmen können, sofern die Regierung sich ihren Vorschlägen wi­ dersetzt. Aber einer stattlichen Zahl an Gesetzen vermochten sie schließlich doch ihren Stempel aufzudrücken, indem sie sich auf die » Politur « der Vorlagen und

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Das Parlament

Entwürfe konzentrierten. Durch geduldige und sachkompetente Beratung in den Ausschüssen und durch den anschließenden Dialog mit den Abgeordneten (» na­ vette « und Vermittlungsausschuss) konnten die Senatoren ihren Einfluss geltend machen sowie ihre Kompromissbereitschaft beweisen. So kam beispielsweise im Jahr 2010 genau die Hälfte der aus den Reihen der Parlamentarier stammenden und schließlich definitiv angenommenen Gesetzentwürfe von Senatoren.45 Han­ delte es sich allerdings um politische Grundsatzentscheidungen, reduzierte sich ihre Einflussnahme allenfalls auf technische Modifikationen. In Zeiten unter­ schiedlicher Mehrheiten blieb der Senat weitgehend auf die Funktion eines Rat­ gebers, eines Mahners und eines Warners vor einem möglichen Machtmissbrauch durch die Regierung beschränkt. Bei der Wahrnehmung seiner Kontrollfunktion in Form von Untersuchungs­ ausschüssen übernahm der Senat sogar eine Vorreiterrolle gegenüber der Natio­ nalversammlung bzw. ihrer Regierungsmehrheit. Der erste Ausschuss dieser Art wurde 1970 zur Durchleuchtung des aufsehenerregenden Skandals beim Bau der Schlachthöfe von La Villette (das heutige Technikmuseum) eingesetzt. Er mar­ kierte einen Meilenstein in der Untersuchung politischer Skandale durch das Par­ lament der V. Republik. Während die Arbeit der Senatoren trotz ihrer bescheidenen Einflussmöglich­ keiten unverändert große Anerkennung in der Öffentlichkeit findet, entzünde­ te sich auch nach den Änderungen von 2013 an ihrem Wahlmodus immer wie­ der Kritik. Die 348 Senatoren werden durch indirekte Wahl für sechs Jahre gewählt; alle drei Jahre findet eine Halberneuerung des Senats statt,46 so dass er faktisch » im­ merwährend « arbeitet. Er kann nicht aufgelöst werden. Einen Sturz der Regierung kann er ebenfalls nicht bewirken. Nach der Reform von 2003 stieg die Gesamtzahl der Senatoren bis 2014 – hauptsächlich zugunsten der bevölkerungsreichen urba­ nen Departements – auf 348 an. Als » Repräsentanten der Gebietskörperschaften « (Art. 24 Abs. 4) werden sie von einem Wahlmännergremium gewählt, das – würde es die Gesamtwahl aller Senatoren an einem Tag vornehmen – 160 000 Personen umfasst. In Wirklichkeit wählen aber nur etwa 80 000 Elektoren (neben den Abgeordneten die jeweiligen Departement- und Regionalräte sowie Delegierte der Gemeindeparlamente) die jeweils zur Wahl stehende Hälfte. Die Teilwahl findet immer im September statt; Wahlkreis ist das Departement, dessen Vertreter die auf das Departement entfal­ lenden Senatsmandate besetzen. Grundsätzlich steht jedem Departement mindes­ tens ein Sitz zu. Damit ist zwar jedem ein Minimum an Repräsentation garantiert; andererseits führt dieser Zuteilungsmodus zu einer Benachteiligung der bevöl­ kerungsstarken Departements. Die Folge ist, dass beispielsweise dem Departe­ ment Lozère mit 77 000 Bürgern ein Senatorenmandat zusteht, während Paris bei

Der Senat 143

2,2 Millionen Einwohnern nur zwölf Senatoren stellt. Obwohl solche Ungleichhei­ ten in der Öffentlichkeit immer wieder scharf angegriffen werden, konnte sich der Gesetzgeber erst im Juli 2003 zu einer Teilreform durchringen. Die Wahl der Senatoren geschieht – nach der Reform von 2003 – auf zweier­ lei Art: Sind in einem Departement ein oder zwei Senatoren zu wählen, so wer­ den diese nach dem Mehrheitswahlsystem mit gegebenenfalls zwei Wahlgängen bestellt; dies betrifft seit einer Erhöhung der Gesamtzahl der Senatoren auf 348 ab dem Jahr 2010 insgesamt 180 Sitze bzw. 70 Departements und die Überseege­ biete. In den restlichen Departements, die also drei und mehr Senatoren nach Paris schicken, sowie bei den zwölf Senatsvertretern der Auslandsfranzosen ist die Ver­ hältniswahl die Regel. Sie berührt nahezu ausnahmslos Departements mit über 900 000 Einwohnern und damit fast die Hälfte aller Senatoren. Die Sitze wer­ den proportional zur Anzahl der auf die einzelnen Kandidatenlisten entfallenden Stimmen verteilt. Seit der Gesetzesänderung vom Juli 2000 haben auf jeder Lis­ te alternativ Kandidaten beiderlei Geschlechts zu kandidieren. Dies hat zu einer merklichen Erhöhung der Anzahl von Senatorinnen auf nunmehr 87 (25 Prozent) geführt. Der Altersdurchschnitt der Senatoren betrug nach der Wahl im Septem­ ber 2014 61 Jahre. Nach der Teilwahl 2014 hat ein Drittel aller Mitglieder des Palais de Luxem­ bourg mindestens ein weiteres Mandat inne. So amtier(t)en 4 Senatoren gleich­ zeitig als Regionalratspräsidenten, 35 als Vorsitzende von Departementräten und 123 als Bürgermeister. Diese Ämterhäufung gilt noch bis zur nächsten Teilwahl im September 2017. Jeder Kandidat hat eine Ersatzperson zu benennen, die ihm nach der Wahl z. B. im Falle der Übernahme eines Regierungsamtes nachfolgt. Zur Bildung einer Fraktion ist eine Mindeststärke von 15 Senatoren erforderlich. Das Übergewicht der Klein- und Kleinstgemeinden im Wahlmännergremium besteht unverändert fort, obwohl sie bevölkerungsmäßig in der Minderheit sind. 95 Prozent wurden von Delegierten der insgesamt über 36 000 (meist Mini-)Ge­ meinden gestellt. Dies führte zu dem Vorwurf, der Senat sei der » Grosse Rat der kleinen Gemeinden « oder Frankreichs » Landwirtschaftskammer « (so der Polito­ loge Maurice Duverger). Die Vertreter der Klein(st)gemeinden wählen vor dem Hintergrund der hei­ matlichen politischen Traditionen eher konservativ-liberale Kandidaten. Insgesamt verfügten die bürgerlichen Parteien nach jeder Teilwahl über eine stattliche Mehrheit, was die ideologisch bedingten Auseinandersetzungen mit den sozialistisch-kommunistischen Regierungen in den achtziger Jahren erklärt. Da­ gegen blieben solche Disharmonien – außer unter de Gaulle – in Zeiten politischer Übereinstimmung gering.

144

Das Parlament

Les Républicains (ex-UMP)

144

Sozialisten

110

Union des Démocrates et Indépendants – UDI – UC

43

Demokratisch-Soziale Europäische Bewegung

13

Grüne

10

Kommunisten

19

Fraktionslose

9

Insgesamt

Tabelle 5  Fraktionsstärken des Senats nach der Teilwahl im September 2014

348

Erstmals seit Beginn der V. Republik stellte die Linke nach der Teilwahl im Sep­ tember 2011 die Mehrheit im Palais de Luxembourg. Ihre Gewinne erzielte sie hauptsächlich in den ländlich strukturierten Departements. Deren soziale Zu­ sammensetzung hat sich in den vergangenen 15 Jahren durch den Zuzug eins­ tiger » Großstadtkinder « merklich verändert. Relativ eher links orientierte jun­ ge Pen­sionäre, meist aus dem öffentlichen Dienst, haben sich in kleinen, häufig großstadtnahen Gemeinden niedergelassen und sich dort erfolgreich für Kom­ munalämter beworben. Folglich hatte sich – zumindest bei dieser Teilwahl – die Zusammensetzung des Elektorengremiums partiell nach links verschoben. Hinzu kam bei diesem Wahlgang ein Anti-Sarkozy-Effekt sowie die Wirtschafts- und Fi­ nanzkrise.47 Drei Jahre später stellten die Wahlmänner die traditionelle politische Ge­ wichtsverteilung im Senat wieder her. Die gesamte Rechte siegte vor allem dank des Zentrums erneut, während die Linksparteien u. a. gegen die Anti-HollandeStimmung ankämpfen mussten. Erstmals zogen auch zwei Senatoren des Front National (jeweils aus den Departements Bouches-du-Rhône und Var) ins Palais de Luxembourg. Bei den Berufen der im März 2016 amtierenden Senatoren dominierte Lehr­ personal, gefolgt von Anwälten, leitenden Angestellten und Hohen Staatsbeamten (Hauts fonctionnaires). Parteibindungen sind längst nicht so ausgeprägt wie bei den Abgeordneten, und sie werden viel flexibler gehandhabt. Bei der Kandidatenaufstellung zur Se­ natorenwahl spielen die nationalen Parteiführungen anders als bei den Wahlen zur Nationalversammlung eine zweitrangige Rolle; die Vorentscheidungen wer­ den weitgehend von den Fraktionen im Palais de Luxembourg selbst getroffen. Dass der Wahlmodus ein solches Vorgehen begünstigt, ist offenkundig. Seit April 2011 wird auch den Senatoren eine bescheidene staatliche Wahl­ kampf ‌fi nanzierung gewährt.48

Der Senat 145

Da der Senator nicht von den Bürgern, sondern hauptsächlich von lokalen Mandatsträgern seines Departements gewählt wird, sehen diese in ihm einen Ver­ treter ihrer Interessen auf nationaler Ebene. Wegen gemeinsamer politischer Tä­ tigkeit in den Departementorganen und folglich guter persönlicher Bekanntschaft erübrigt sich ein ausgedehnter Wahlkampf. Eine Wiederwahl ist umso sicherer, je deutlicher sich ein Senator als Verteidiger der Interessen seiner lokalen Gebiets­ körperschaften in Paris zu profilieren vermochte. Ständige persönliche Kontakte zwischen dem Senator und den so genannten » Grands électeurs « (den Wahlmän­ nern) im Departement lassen ihn als Anwalt der Provinzinteressen erscheinen. Obwohl der Senat weder die Regierung zur Verantwortung ziehen noch das » letzte Wort « der Nationalversammlung verhindern kann, ist es ihm den­ noch gelungen, mit seinen bescheidenen verfassungsrechtlichen Mitteln den Entscheidungsprozess im Parlament zu beeinflussen. Abgesehen von Phasen grundsätzlicher politischer Gegnerschaft fanden die Verbesserungs- oder Er­ gänzungsvorschläge der Senatoren in hohem Maße die Zustimmung sowohl der Abgeordneten als auch der Regierung. Dies gilt auch für die kurze Phase der Linksmehrheit im Senat. Beide schätzen die Sachkompetenz der Zweiten Kammer und das hohe Ni­ veau ihrer Berichte. Der » rationalisierte « Parlamentarismus der V. Republik hat dem Senat zwar einen Status minor gegenüber der Ersten Kammer zugewiesen; trotzdem erlauben es die Kontrollmöglichkeiten der Zweiten Kammer sowie ihr Recht zur Anrufung des Verfassungsgerichts, notfalls als Mahner an die Öffent­ lichkeit zu treten. Als Vertreter der Gebietskörperschaften – schon wegen des Wahlmodus aufs engste mit den örtlichen Notabeln verbunden – wächst ihnen besonders im Zei­ chen der Dezentralisierungspolitik seit 1982 eine bedeutsame Vermittlungsfunk­ tion zwischen Paris und der Provinz zu. Entgegen der ursprünglichen Intention der Verfassungsväter ist es also dem Senat trotz begrenzter Befugnisse gelungen, vielfach ein – wenn auch bescheide­ nes – Gegengewicht zu den Regierungen und ihren Mehrheiten in der National­ versammlung zu bilden. Als » Kammer des Nachdenkens « besteht seine Haupt­ funktion in der Korrektur von Regierungsentwürfen und Gesetzesvorlagen, die nicht selten allzu weit von der Lebenswirklichkeit der Bevölkerung entfernt sind. Auch trägt er zu einem besseren Gleichgewicht zwischen den Institutionen bei.

146

Das Parlament

5.9 Konsequenzen des » rationalisierten « Parlamentarismus In einer ersten Einschätzung der verfassungsrechtlichen Verbesserungen der Par­ lamentsarbeit kommt Adolf Kimmel zu der nüchternen Einschätzung: Die Verfas­ sungsreform von 2008 » bedeutet zwar nicht die Morgenröte für das französische Parlament, aber sie eröffnet ihm Möglichkeiten, eine angemessene Rolle im poli­ tischen System zu spielen «; » von einem › neuen ‹ Parlament [kann aber] nicht ge­ sprochen werden. «49 Verantwortlich für die Schwäche des Parlaments der V. Republik waren zum einen hauptsächlich verfassungsrechtliche Restriktionen wie beispielsweise der häufige Gebrauch des Artikels 49, Absatz 3. Daran hat auch die Begrenzung auf nur noch einmaligen Gebrauch pro Sitzungsperiode – außer bei Finanz- und So­ zialversicherungsgesetzen – wenig geändert. Zum anderen ist auf die nicht über­ mäßig parlamentsfreundliche Einstellung nahezu aller Regierungen zu verweisen. Diese reichte von systematischer Missachtung der Kontroll- und Informations­ funktion des Parlaments, besonders in den ersten zehn Jahren der V. Republik, über ein tiefes Misstrauen der Regierenden und der hohen Beamtenschaft gegen­ über den Parlamentariern bis zu belehrenden Ausführungen einiger Premiermi­ nister über die verschiedenen Ausformungen des » rationalisierten « Parlamenta­ rismus. Durchaus in Einklang mit der Logik parlamentarischer Systeme verstärkte die Fähigkeit der Mehrheitsfraktionen, den Regierungskoalitionen Stabilität und Dauer zu verleihen, zugleich deren Abhängigkeit von der Gesamtexekutive. Folg­ lich nahmen sie häufig Zeitzwänge bei der Verabschiedung von wichtigen Geset­ zesvorlagen in Kauf, verzichteten unter anderem aus Zeitgründen auf die Ausar­ beitung von Gegenvorschlägen und wehrten sich bis in die achtziger Jahre kaum gegen die Gepflogenheit der Regierung, auf parlamentarische Anfragen überhaupt nicht zu reagieren oder die Beantwortung einem inkompetenten Kabinettsmit­ glied zu überlassen. Auch behinderte der Zeitmangel der Parlamentarier infolge ihrer Ämterhäufung eine ausreichende Kontrolle des Regierungshandelns, vor al­ lem im wichtigen Sektor der Finanzpolitik. So musste auch die politische Kontrol­ le der zahlreichen öffentlichen und halbstaatlichen Unternehmen lückenhaft und wenig wirksam bleiben. Ob nach der Abschaffung der Ämterhäufung ab Herbst 2017 eine intensivere Befassung mit dem eingebrachten Text erfolgen wird, bleibt abzuwarten. Den intensiven Kontakt zu ihrer Wählerschaft werden die Abgeord­ neten auch weiterhin suchen, um ihre Wiederwahlchancen zu erhöhen. Der eins­ tige Abgeordnete des Departement Corrèze und spätere Staatspräsident Hollande stellte Anfang der 1990er Jahre resignierend fest, selbst bei Debatten wichtigster Themen saß nur eine Handvoll Abgeordneter im Palais Bourbon. Besonders die Abwesenheit (» l’absentéisme «) seiner Kollegen machte er für die Misere des Par­

Konsequenzen des » rationalisierten « Parlamentarismus 147

laments verantwortlich.50 Bei der Verabschiedung des Geheimdienstgesetzes am 24. Juni 2015, das Premierminister Valls in einem beschleunigten Beratungsver­ fahren verabschieden ließ, bemängelte Senatspräsident Gérard Larcher die Kür­ ze der parlamentarischen Debatte und die Vielzahl der Fragen, die unbeantwortet geblieben sind. Neben 106 Abgeordneten rief auch der Senatspräsident das Ver­ fassungsgericht um Klärung an, » ob der Gesetzestext die grundlegenden Bürger­ freiheiten hinreichend schützt «. Mittlerweile wurde das Gesetz als verfassungs­ konform beurteilt.51 Als besonders ärgerlich erwies sich die » Nachlässigkeit « beinahe aller Regie­ rungen, die vom Parlament verabschiedeten Gesetzestexte mit den erforderlichen Ausführungsbestimmungen zu versehen (Décrets d’application). Häufig fehlten noch zwei bis zehn Jahre nach Verkündung eines Gesetzes die für seine Gültigkeit notwendigen Ausführungserlasse. In einigen Fällen, so beim Hochschulgesetz von 1968, fehlten sie noch nach bald drei Jahrzehnten. Eine Verbesserung dieser Situation hatten weder ein Beschluss des Senats im Jahre 1973, seine ständigen Ausschüsse im Plenum über Versäumnisse der Regie­ rung berichten zu lassen, noch eine Zusage von Premier Mauroy, regelmäßig den Kammerpräsidenten Aufstellungen über den raschen Erlass von Ausführungs­ dekreten zuzuleiten, herbeigeführt. Ob das im Jahre 1996 eingerichtete Kontroll­ amt für eine Beschleunigung gesorgt hat, ist noch nicht erwiesen. Ende 2005 be­ klagte ein Senatsbericht, dass seit 1981 ein Fünftel aller Gesetze wegen fehlender Ausführungsbestimmung nicht in Kraft treten konnte. Da die Regierung durch das Gesetzes vom 9. 12. 2004 nunmehr verpflichtet ist, sechs Monate nach Ver­ kündung eines Gesetzes einen » Umsetzungs-Bericht « vorzulegen, könnte in die­ ser Hinsicht zukünftig eine Besserung eintreten. Für die zwölfte Legislaturperiode (2002 – 2007) stellte ein Senatsbericht fest, dass 64 Prozent der Anwendungsbe­ stimmungen verabschiedet wurden – eine leichte Steigerung gegenüber früheren Legislaturperioden.52 Nicht zuletzt resultieren die Funktionsschwächen des französischen Parla­ ments auch aus einem politischen Fehlverhalten der Abgeordneten und Senatoren selbst. Während in vielen anderen europäischen Parlamenten Plenumsdebatten über Grundsatzfragen von vergleichsweise großer Bedeutung sind, finden solche im Palais Bourbon nur selten statt. Zwar enthalten die Verfassungsreform vom Juli 2008, die beschlossenen verfassungsergänzenden Gesetze sowie die 2009 erfolgte Änderung der Geschäftsordnung etliche Verbesserungen. Nicht nur die Zahl der Ausschüsse wurde erhöht, die Tagesordnung paritätisch auf die Regierung und die Parlamentskammern aufgeteilt, wobei eine Sitzungswoche der Regierungskon­ trolle und der Evaluation der öffentlichen Politiken vorbehalten ist; auch werden Gesetzesvorlagen nunmehr auf der Basis der in den Ausschüssen angenommenen diskutiert. Den Kommissionen bleibt mehr Zeit zur Beratung der Regierungsvor­

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Das Parlament

lagen u. a. durch das Einholen von Expertenwissen als bisher, bevor die Texte dem Plenum vorgelegt werden. Auch die Kontrolle der Haushaltsgesetze wurde verbes­ sert, wenngleich die Regierung nach wie vor » Herrin « der Finanzvorlagen geblie­ ben ist. Dennoch: Zahlreiche Elemente des » rationalisierten « Parlamentarismus wie beispielsweise das Vote bloqué wurden beibehalten. In einer vergleichenden Studie über » die Macht 15 westeuropäischer Parlamente « kommt Ulrich Sieberer zu der nüchternen Erkenntnis, dass das französische Parlament, das in der IV. Re­ publik so machtvoll war, heute nur noch über bescheidene Gestaltungsmöglich­ keiten im Gesetzgebungsprozess verfüge. Nur in Großbritannien liege der Einfluss des Unterhauses auf die Gesetzesinhalte noch niedriger.53 Auch die Zurückhaltung der Abgeordneten im Bereich der » Domaine réservé « des Präsidenten und der Regierung erweckt den Eindruck, dass sie an einer inten­ siven politischen Auseinandersetzung kaum interessiert seien. So wurde beispiels­ weise die Begründung der französischen Teilnahme am Golfkrieg Anfang 1991 durch eine Botschaft des Staatspräsidenten wohl zur Kenntnis genommen und die Erklärung Rocards fast einstimmig gebilligt, ohne dass in einer ausführlichen De­ batte unterschiedliche Positionen offengelegt worden wären. Erst die im Oktober 2004 gegen den anfänglichen Widerstand der Exekuti­ ve von der Regierungskoalition erzwungene Debatte über einen möglichen Bei­ tritt der Türkei zur Europäischen Union ist eine rühmliche Ausnahme. Allerdings setzte Premier Raffarin – in Absprache mit den (Chirac ergebenen) Kammerprä­ sidenten – durch, dass keine Abstimmung stattfinden durfte. Ein negatives Votum hätte den Staatschef, der sich für den Beitritt ausgesprochen hatte, desavouiert. Dagegen fand die Debatte über die EU-Verfassung vor fast leerem Haus statt; nur ein Fünftel der Abgeordneten war anwesend. Aber auch in Bereichen, die in die eindeutige » Parlamentshoheit « fallen, fehlt häufig eine parlamentarische Kontrolle durch Plenumsdebatten, durch mangel­ hafte Präsenz im » Hémicycle « oder durch intensive Prüfung der Vorlagen in den Ausschüssen. Beispielhaft sei auf die Umwandlung der französischen Streitkräf­ te in eine Berufsarmee verwiesen. Viele Parlamentarier scheinen der Meinung zu sein, Arbeit in den Ausschüssen oder in der Nationalversammlung wäre » verlo­ rene Zeit «, die besser im Wahlkreis investiert würde. An den Regierungsvorlagen könnten sie nämlich nichts oder nur sehr wenig verändern.54 Die Opposition ergeht sich häufig im Einbringen von wirkungslosen Miss­ trauensanträgen gegen die Regierung und eine Inflation von Änderungsvorschlä­ gen, obwohl sie weiß, dass diese in der Regel keine Chance auf Berücksichtigung finden. Ein Ausschöpfen der Kontrollmöglichkeiten wäre sinnvoller als reine Ob­ struktionspolitik. Infolge dieser Zurückhaltung wenden sich Interessenvertreter oft direkt an Ministerien, um ihren Anliegen Nachdruck zu verleihen.55 Keinen Ersatz für das Defizit des Parlaments, die Öffentlichkeit mittels Grund­

Konsequenzen des » rationalisierten « Parlamentarismus 149

satzdebatten über die politischen Problemlagen aufzuklären, bieten die Medien. Sie befragen Politiker eher höflich bzw. artig, ohne sie mit den wirklichen Proble­ men zu konfrontieren und sie zu einer klaren Stellungnahme zu reizen. Ob diese Zurückhaltung mit einem politischen Desinteresse der Bevölkerung zusammen­ hängt oder ob letzteres gerade vom geringen Informationsangebot der Medien ge­ fördert wird, mag genaueren Untersuchungen zu entnehmen sein. Als eine Folge solcher Defizite artikuliert sich gelegentlich ein öffentlicher lan­ desweiter Protest, der die Regierungen zum Rücktritt von zuvor sogar für un­ verzichtbar erklärten Positionen zwingt. So führten Massendemonstrationen und Straßenblockaden in den achtziger und neunziger Jahren mehrfach zur Zu­ rücknahme von Gesetzen. Die Angst der Regierenden vor der Wut aufbegehren­ der Bürger zieht sich seither wie ein roter Faden durch fast alle längst überfälli­ gen Reformvorhaben im Sozialbereich. Dem Druck der Straße wird häufig allzu rasch nachgegeben. Ein Beispiel ist das im engsten Vertrautenkreis des Premier­ ministers ausgearbeitete Gesetz über Ersteinstellungsverträge. Von Dominique de Villepin mit Hilfe des Artikels 49, Absatz 3 zunächst » durchgepeitscht «, führte es zu wochenlangen landesweiten Protesten. Staatschef Chirac unterschrieb zwar das bei den Jugendlichen verhasste Gesetz, forderte aber gleichzeitig auf, es nicht an­ zuwenden und wies die Regierungsfraktionen in beiden Häusern des Parlaments an, eine Alternative zu finden. Schließlich zog er wegen des Drucks der » Straße « das Gesetz zurück und brüskierte damit seinen Regierungschef. Im April 1995 zog François Mitterrand folgende enttäuschende, aber wohl zu­ treffende Bilanz parlamentarischer Arbeit: » Die Parlamentarier dienen zu nicht allzu viel. […] Diesen Eindruck konnte ich manchmal dort gewinnen, wo ich tä­ tig bin. «56 Verschiedene Mitglieder der Regierungsfraktionen, u. a. auch zahlreiche Par­ lamentspräsidenten, kritisierten unverhüllt das parlamentarische Verfahren, das den Abgeordneten zu wenig Zeit zur inhaltlichen Prüfung des Gesetzestextes gelassen habe. Häufig habe man über alles Mögliche debattiert, aber eben nicht über das Entscheidende, so der ehemalige Präsident der Nationalversammlung, Philippe Séguin.57 Nur durch eine Aufwertung der Parlamentsdebatten bei gleich­ zeitiger Straffung der Ausschussarbeit – so sollten weniger bedeutsame Texte dort verabschiedet werden können – sowie durch eine mittlerweile erfolgte Verlän­ gerung der jährlichen Sitzungsdauer auf neun Monate ließe sich eine notwendi­ ge Konzentration auf die wesentlichen Politikfelder erreichen. Die landesweiten Proteste der Wutbürger, die sich gegen das im Herbst 2012 von Justizministe­ rin Christiane Taubira eingebrachte Gesetz für eine » Ehe für alle « richteten und Frankreich an den Rand eines Kulturkampfes führten, » aktivierten « schließlich die Debattenkultur in beiden Parlamentskammern. An siebter Stelle steht dieses Gesetz der am längsten diskutierten Gesetzentwürfe in der Nationalversammlung

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Das Parlament

seit Beginn der V. Republik. Verabschiedet wurde es – trotz einer Massendemons­ tration von fast einer Million Bürger in Paris – am 23. April 2013. Nur eine intensive Wahrnehmung der seit 2008 ausgeweiteten Kontroll- und Evaluationsrechte nach Artikel 24, Absatz 1, der entsprechenden Geschäftsord­ nungsartikel sowie eine konsequente Ausschöpfung ihrer Rechte durch die Oppo­ sition dürften zu einer Stärkung der parlamentarischen Arbeit und effizienteren Kontrolle von Regierungshandeln auch im reformierten » rationalisierten « Par­ lamentarismus beitragen. Dass dieser Frankreich seit über 50 Jahren gemeinsam mit einer klaren Regierungsmehrheit zu einer stabilen Demokratie verholfen hat, steht außer Frage.

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Der Verfassungsrat

Obwohl der Verfassungsrat als institutionelle Neuerung der V. Republik 22-mal Erwähnung im Verfassungstext findet, blieb er während der ersten 15 Jahre in der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt; von Politikern und Verfassungsjuristen wurde er mit einem gewissen Misstrauen beobachtet.1 Frühere Ansätze einer Verfassungsgerichtsbarkeit können unberücksichtigt bleiben, da sie keine große Wirksamkeit zu entfalten vermochten. Darüber hinaus stellt die Einrichtung des Verfassungsrates insofern eine Neuerung dar, als nach dem traditionellen französischen Verständnis einer Identität von Volks- und Par­ lamentssouveränität die Überprüfung eines formell gültigen Gesetzes zuvor kaum vorstellbar war. Auch waren die Modalitäten, welche die Berufung seiner Mitglie­ der regelten und die Anrufungsberechtigten festlegten, sowenig wie seine Zustän­ digkeiten geeignet, die verbreiteten Vorbehalte abzubauen. Wenig Sympathien trugen ihm auch einige Entscheidungen in den ersten Jahren der V. Republik ein, die – durchaus verfassungskonform – eine Beschränkung der Befugnisse beider Parlamentskammern bezweckten. Erst seit einer richtungsweisenden Entschei­ dung vom 16. Juli 1971 und einer Ausweitung der Anrufungsberechtigten änder­ te sich dieses anfängliche Negativbild völlig. Nunmehr werden dem Verfassungs­ rat in der Fachliteratur die Kompetenzen » eines Verfassungsgerichts, vergleichbar dem obersten Deutschen Gericht « (so Louis Favoreu und Loïc Philip)2 zugebilligt, zumal er seit der Verfassungsreform vom 23. Juli 2008 auch eine a posteriori Kon­ trolle verabschiedeter Gesetze ausüben kann. Die Zuständigkeiten des Verfassungsrates – so die Art. 58 – 63 – beleuchten die wichtige Rolle, die er im politischen System Frankreichs spielt: ■■ Er » wacht « über die ordnungsgemäße Durchführung der Wahlen des Staats­ präsidenten, der Abgeordneten und Senatoren sowie über das Verfahren bei einem Volksentscheid. 151 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 U. Kempf, Das politische System Frankreichs, DOI 10.1007/978-3-658-08208-6_6

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Der Verfassungsrat

■■ Verfassungsergänzende Gesetze (Lois organiques) werden von ihm überprüft. ■■ Ebenso müssen ihm die Geschäftsordnungen beider Häuser vorgelegt werden. ■■ Bei Streitigkeiten über die Frage, ob ein parlamentarischer Gesetzentwurf oder ein Zusatzantrag in den Bereich der nach Artikel 34 definierten Gesetz­ gebungskompetenz fällt oder gegen eine Ermächtigung gemäß Artikel 38 ver­ stößt, kann er angerufen und um eine Entscheidung innerhalb von acht Tagen gebeten werden. ■■ Bei internationalen Verträgen hat er gegebenenfalls festzustellen, ob diese eine verfassungswidrige Klausel enthalten (Art. 54). Ist dies der Fall, muss der Ver­ fassungstext entsprechend abgeändert werden.3 ■■ Im Rahmen des Normenkontrollverfahrens nach Artikel 61, Absatz 2 kann ihm jedes Gesetz vor seiner Verkündung zur Begutachtung vorgelegt werden. Gerade diese Kompetenz hat seit Anfang der siebziger Jahre maßgeblich zum Autoritätsgewinn des Verfassungsrates beigetragen. ■■ Ergänzt wurde dieser » Block « durch die im März 2005 verabschiedete Um­ weltcharta. Erklärt das Verfassungsgericht eine Bestimmung für verfassungswidrig, so darf sie weder verkündet noch angewandt werden. Dabei ist wichtig, dass der Verfas­ sungsrat seine Entscheidung innerhalb eines Monats oder in dringenden Fällen auf Verlangen der Regierung innerhalb von acht Tagen fällt. Anrufungsbefugt waren bis zu einer von Staatspräsident Giscard d’Estaing an­ geregten Verfassungsänderung im Oktober 1974 nur der Staatspräsident, der Pre­ mierminister und die beiden Kammerpräsidenten. Seither dürfen jedoch auch je 60 Abgeordnete oder Senatoren sich an den Verfassungsrat wenden, was insbeson­ dere seit Anfang der achtziger Jahre dazu geführt hat, dass eine Lawine von Ver­ fassungsbeschwerden » losgetreten « wurde. Handelt es sich bei diesen Normen­ überprüfungen um eine a priori Kontrolle, ermöglicht der neue Artikel 61-1 dem Verfassungsrat eine a posteriori Überprüfung, die sogenannte Question prioritaire de Constitutionalité; präzisiert wurde diese durch das Organgesetz vom 10.  De­ zember 2009. Nunmehr haben alle Bürger (gleich ob In- oder Ausländer) das Recht, das Verfassungsgericht anzurufen, sollte in einem ordentlichen Gerichts­ verfahren vermutet werden, das betreffende Gesetz würde » die durch die Verfas­ sung garantierten Rechte und Freiheiten verletzen «. Allerdings kann die Rechts­ person nicht direkt das Verfassungsgericht anrufen. Sein Anliegen muss einen Filter passieren, um eine Antragsexplosion zu vermeiden. Der betreffende Rich­ ter überweist den Fall an den Staatsrat oder den Kassationsgerichtshof zur (Erst-) Überprüfung. Diese haben drei Monate Zeit zu entscheiden, ob sie den Fall dem Verfassungsgericht vorlegen. Sollte dieses – ebenfalls innerhalb von drei Mona­ ten  – der Meinung sein, das Gesetz verstoße gegen die Verfassung, ist es aufzu­

Der Verfassungsrat 153

heben. » Nunmehr haben die Franzosen, « so der Verfassungsrechtler Carcassonne, » die Möglichkeit, sich unter die Fittiche der Verfassung zu begeben wie ihre Nach­ barn in Kontinentaleuropa. «4 Der neue Verfassungsartikel hat – so die überwie­ gende Meinung – den Rechtsstaat in Frankreich gestärkt. Erstmals können bereits verabschiedete Gesetze von Bestimmungen » gesäubert « werden, die Freiheiten und Rechte verletzen.5 In fünf Jahren hat das Verfassungsgericht 145 Entscheidun­ gen (décisions de censure QPC) nach Artikel 61-1 getroffen und verfassungskon­ träre Bestimmungen aufgehoben. Allein 42 betrafen das Strafrecht und 16 das Fi­ nanzwesen. Ernannt werden die neun Verfassungsrichter für neun Jahre zu je einem Drit­ tel vom Staatspräsidenten, vom Präsidenten der Nationalversammlung und vom Senatspräsidenten. Die vom Staatsoberhaupt Vorgeschlagenen bedürfen seit 2008 der Zustimmung der Justizausschüsse beider Häuser, diejenigen von den Prä­ sidenten beider Kammern Nominierten des positiven Votums des jeweiligen Rechtsausschusses. Ein erneutes Mandat ist nicht möglich, um die Unabhängig­ keit der Verfassungsrichter zu gewährleisten. Außerdem gehören dem Verfassungsrat automatisch alle ehemaligen Präsi­ denten der Republik auf Lebenszeit an, quasi ein » Altersheim « für Ex-Staatschefs.6 Fast aller Ehemaligen nahmen mehr oder weniger regelmäßig an den Sitzungen teil, so auch Nicolas Sarkozy. Nachdem aber der Verfassungsrat seine Wahlkampf­ kosten-Abrechnung bei der Präsidentschaftswahl 2012 angelehnt hatte und er so­ mit keine staatlichen Gelder erhielt, schied er verärgert über den Entscheid seiner Kollegen aus dem Palais Royal aus. Eine Befähigung zum Richteramt wird nicht gefordert. So waren unter den am­ tierenden Richtern vornehmlich ehemalige Politiker und hohe Beamte zu finden, die in der Regel aber auf eine juristische Ausbildung verweisen konnten. Unter den 2015 amtierenden Verfassungsrichtern waren sechs Männern und drei Frauen. Dem vom Staatspräsidenten ernannten Präsidenten des Verfassungsrates fällt bei Stimmengleichheit im Richterkollegium der Stichentscheid zu. Unrühmlich en­ dete die Amtszeit des ehemaligen Vorsitzenden und Mitterrand-Intimus Roland Dumas, der wegen einer Schmiergeldaffäre aus seiner Zeit als Außenminister auf Druck der Öffentlichkeit und seiner Richterkollegen 1999 zurücktreten musste. Anfang der siebziger Jahre vollzog der Verfassungsrat eine Abkehr von dem bis dahin praktizierten rein formalen Prüfungsmodus; an dessen Stelle traten in er­ heblichem Maße materiale Erwägungen und Urteilsmaßstäbe. Durch seinen Ent­ scheid vom 16. Juli 1971, der sich mit einer Änderung des Vereinsgesetzes aus dem Jahre 1901 auseinandersetzte, und einen weiteren vom 27. Dezember 1973 über das Finanzgesetz von 1974, zog das Verfassungsgericht erstmals den so genannten Bloc de constitutionnalité (so benannt nach Louis Favoreu) in seinen Entscheidungs­ prozess mit ein. Damit berief er sich auf die Präambel der Verfassung von 1958 mit

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Der Verfassungsrat

ihren Verweisen auf die Menschenrechtserklärung von 1789 sowie auf die Präam­ bel bei Verfassung der IV. Republik von 1946; ferner bezog er auch » die Grundsät­ ze, die durch die Gesetze der Republik anerkannt sind «, in seine Entscheidungs­ findung mit ein. Seither beurteilt der Verfassungsrat alle ihm vorgelegten, aber noch nicht ver­ kündeten Gesetze danach, ob sie in irgendeiner Bestimmung gegen die Grundund Menschenrechte verstoßen.7 Der sehr knappe Paragraph 1 der Präambel der Verfassung der V. Republik dient also seit den richtungsweisenden Beschlüsse aus den Jahren 1971 und 1974 als Maßstab zur Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes. Unter Ein­ beziehung der bis zur Französischen Revolution zurückreichenden Grundrechts­ kataloge weitete der Verfassungsrat innerhalb von vier Jahren sein Kontrollpo­ tential beachtlich aus, » indem er Texten oder ein wenig vergessenen Prinzipien neues Leben einhauchte «8. Insbesondere das Prinzip des Schutzes der persönli­ chen Freiheit sowie der Gleichheitsgrundsatz dienen den Verfassungsrichtern als Kontrollmaßstab. So wiesen sie z. B. eine Klage gegen ein Gesetz von 1975, das den Schwangerschaftsabbruch erlaubte, mit der Begründung zurück, es würde » die Freiheit der Personen respektieren « und » nicht gegen das in Artikel 2 der Men­ schenrechtserklärung (von 1789) niedergelegte Prinzip der Freiheit verstoßen «.9 Nicht weniger einschneidend für die weitere Arbeit des Verfassungsrates war die im Oktober 1974 erfolgte Ausweitung des Kreises der Anrufungsberechtigten. Seither hat die parlamentarische Opposition, sofern entweder 60 Abgeordnete oder Senatoren ein solches Begehren unterstützen, die Möglichkeit, alle Gesetze a priori einer Überprüfung durch den Verfassungsrat zu unterwerfen. Kaum einer der Initiatoren dieser Verfassungsergänzung hat sich damals wohl die Tragweite dieses Beschlusses vorstellen können. Machten die Parlamentarier zunächst nur zögernd von ihrem neuen Recht im Bereich der Normenkontrolle Gebrauch, so änderte sich dies ab 1981 schlagartig. Hatte der Verfassungsrat zwischen Ende 1974 und Frühjahr 1981 insgesamt ledig­ lich 46 Normenkontroll-Entscheidungen zu treffen (in den 15 Jahren vorher wa­ ren es ganze neun gewesen), so kletterte diese Zahl seit Beginn der Präsidentschaft Mitterrands bis Ende 1992 auf 139. Nahezu sämtliche Reformvorhaben der Links­ regierungen wurden von der bürgerlichen Opposition dem Verfassungsrat unter­ breitet, der fast die Hälfte der 66 vorgelegten Gesetzestexte beanstandete. Aller­ dings wirkte der Verfassungsrat nicht als Reformgegner, sondern als Faktor der Mäßigung, der den Wesenskern der großen Reformtexte (wie Verstaatlichung) nicht verwarf, wohl aber Korrekturen verlangte. Das in der Öffentlichkeit heftig umstrittene Gesetz einer » Ehe für alle « wurde am 17. 5. 2013 vom Verfassungsrat, der von der bürgerlichen Opposition angerufen worden war, als verfassungskon­ form gebilligt.

Der Verfassungsrat 155

Die parlamentarische Opposition – faktisch ist sie zur alleinigen Antragstel­ lerin geworden – erhielt mit dieser Verfassungsänderung möglicherweise ein wirksameres Instrument zur Kontrolle von Regierungshandeln, als alle genann­ ten parlamentarischen Kontrollmittel zusammen es sein konnten. Das verlorene Gleichgewicht zwischen den Gewalten wurde somit zumindest ein wenig aus sei­ ner bisherigen Schieflage befreit. Durchschnittlich zwanzig Mal jährlich wird das Verfassungsgericht von Abgeordneten oder Senatoren angerufen. Erstmals wurde es 2014 von Abgeordneten der Regierungsmehrheit um Klärung des Loi en ques­ tion relative à la géolocalisation gebeten. Sein Urteil hat der Verfassungsrat innerhalb eines Monats, auf Dringlichkeits­ bitten der Regierung innerhalb von acht Tagen zu verkünden. Dem Verfassungsrat ist es gelungen, den Eindruck einer vorwiegend passiven politischen Institution zu widerlegen. Dass er gleichsam eine antizipierende Rol­ le einnimmt, indem er jede Regierung indirekt zu einer sorgfältigen Abwägung bei der Formulierung ihrer Gesetzesvorhaben nötigt, ist positiv zu vermerken. So wurde in den Jahren 1986 und 1987, als die oppositionelle Linke aus Gründen der » Revanche « 26 Anrufungen vornahm, kein wichtiges Reformgesetz der bürgerli­ chen Regierung zurückgewiesen. Durch die Ausweitung der Anrufungsberech­ tigten und gemäß des neuen Artikels 61-1 mit der Möglichkeit einer a posteriori Kontrolle von Gesetzen erhöhte sich die bislang schon große Sympathie, die eine breite Öffentlichkeit den Richtern mittlerweile entgegenbringt. Ungeachtet des hohen Ansehens sollten seine Befugnisse auch auf Organ­ streitigkeiten z. B. zwischen Staatspräsident und Regierung bzw. Regierungschef ausgeweitet werden – eine Überlegung, die in Zeiten von » Cohabitation «-Regie­ rungen zusätzliche Bedeutung gewinnen kann. Eine Mehrheit für diesbezügliche Verfassungsergänzungen scheint aber in absehbarer Zeit nicht vorhanden zu sein. Insbesondere der Senat lehnt solche Änderungen aus Furcht vor einer » Regie­ rung der Richter « bei gleichzeitigem Kompetenzverlust des Parlaments ab. Diese Argumentation belegt die offensichtliche Aktualität des alten » Rousseau-Reflexes « (Henry Roussillon), wonach ein Grundprinzip französischen Rechtsverständnis­ ses nicht angetastet werden darf: Ist ein Gesetz erst einmal verkündet, kann es von niemandem für verfassungswidrig erklärt werden. Die Verfassungsergänzung von 2008 schränkt dieses Postulat nunmehr ein.

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Der Staatsrat

Eine der ältesten französischen Institutionen ist der 1799 gebildete Staatsrat (Con­ seil d’Etat), dessen Vorbild der Conseil du Roi de l’Ancien Régime war. Der in der Öffentlichkeit sehr angesehene Staatsrat, dessen etwa 200 Mitglie­ der nach Beschluss im Ministerrat vom Staatspräsidenten ernannt werden und dessen nomineller Vorsitzender der Premierminister ist, hat eine doppelte Funk­ tion: Zum einen ist er ein Beratungsorgan der Regierung bzw. der einzelnen Mi­ nisterien, zum anderen nimmt er die Aufgaben eines obersten Verwaltungsge­ richts wahr. 1. Jede Gesetzesvorlage muss, bevor sie im Parlament eingebracht wird, von einer der vier hierfür zuständigen Abteilungen des Staatsrates begutachtet werden; das Gleiche gilt für Dekrete, bevor sie verkündet werden, sowie für die vom Staats­ oberhaupt angeordneten Maßnahmen im Notstandsfall. Als Berater der Exeku­ tive prüft der Conseil d’Etat eingehend die Entwürfe auf ihre Praktikabilität und auf ihre Vereinbarkeit mit bestehenden Gesetzen. Ebenfalls kann er von der Re­ gierung zu verfassungsrechtlichen Fragen konsultiert werden. In all diesen Fäl­ len steht es der Regierung frei, ob sie seinen Ratschlägen folgt oder an ihrem Ent­ wurf festhält. Seit 2008 können auch die Kammerpräsidenten den Staatsrat um eine Stellungnahme bei von Parlamentariern eingebrachten Gesetzesvorschlägen bitten. 2. Die zweite Aufgabe des Staatsrates ist – vereinfacht – mit der des deutschen Bundesverwaltungsgerichts vergleichbar. Für diese Tätigkeit als höchste Instanz der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist seine fünfte Abteilung, die Rechtsprechungsab­ teilung, zuständig. Aufgrund der französischen Gewaltenteilungstheorie können Handlungen französischer Beamter in Ausübung ihrer Pflicht nicht vor normalen Gerichten beanstandet werden, da eine solche Regelung als Einmischung der Jus­ 157 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 U. Kempf, Das politische System Frankreichs, DOI 10.1007/978-3-658-08208-6_7

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Der Staatsrat

tiz in den Verwaltungsbereich betrachtet würde. Deshalb schuf Frankreich eben­ so wie die meisten anderen kontinentaleuropäischen Länder eine Verwaltungsge­ richtsbarkeit (Tribunaux administratifs), an die sich Bürger in Streitfällen mit der staatlichen Bürokratie wenden können. Urteilen die insgesamt 33 Verwaltungs­ gerichte als erste Instanz, so ist der Staatsrat für diese Urteile die Appellations­ instanz, sofern nicht die 1989 eingerichteten fünf Cours administratives d’appel (vergleichbar mit den deutschen Oberverwaltungsgerichten) zuständig sind. Als Kassa­tionshof befindet er in letzter Instanz über Entscheidungen der letzteren. Handelt es sich um die Anfechtung von Verwaltungsakten wegen Ermessens­ überschreitung (Recours pour excès de pouvoir), dann ist der Staatsrat, wie in vie­ len anderen Fällen auch, direkt zuständig. Liegt ein solcher Machtmissbrauch (Ex­ cès de pouvoir) vor, so hebt der Staatsrat den Verwaltungsakt mit rückwirkender Kraft auf, und zwar bei Zuständigkeitsfehlern, Formfehlern, Gesetzesverletzungen und Rechtsbeugungen.1

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Der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrat

Im Jahre 1958 in seiner » modernen « Formen zum ersten Mal in eine französische Verfassung aufgenommen, kann dieser Rat auf eine bis 1925 zurückreichende Tra­ dition zurückblicken. Insgesamt gehören diesem weitgehend einflusslosen Gre­ mium 233 Mitglieder an, die zu etwa drei Vierteln von den verschiedenen gesell­ schaftlichen Gruppen entsandt und zu einem knappen Viertel von der Regierung auf fünf Jahre ernannt werden. Entscheidungsbefugnisse besitzen weder die monatlich wenigstens einmal ta­ gende Versammlung noch die sieben Sektionen für besondere Themenbereiche. Vielmehr dient der Rat ausschließlich den anderen Staatsorganen als Beratungs­ gremium. Er widmet sich vornehmlich folgenden Aufgaben: Förderung der Zu­ sammenarbeit der verschiedenen Berufsgruppen, Mitwirkung an der Wirtschaftsund Sozialpolitik der Regierung, Stellungsnahmen zu wirtschaftlichen, sozialen, umweltpolitischen und technologischen Maßnahmen und Projekten – in all diesen Bereichen in Ausübung einer eigenständigen Initiativbefugnis; weiterhin gutachterliche Äußerungen zu Gesetzesvorlagen nach Aufforderung des Premier­ ministers. Zusätzlich verlangt Artikel 70 der Verfassung obligatorische Stellung­ nahmen bei den wirtschaftlichen Rahmenplänen und bedeutenden Sozial- sowie Umweltmaßnahmen.

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Der Défenseur des droits (der Bürgerbeauftragte)

Eine weitere Schutzmöglichkeit der Bürger vor Übergriffen u. a. der Verwaltung – neben den Verwaltungsgerichten – stellt seit der Verfassungsrevision von 2008 der Défenseur des droits dar, der Verteidiger der Bürgerrechte (Art. 71-1). Dieses nach skandinavischem und britischem Vorbild konzipierte Amt eines Ombuds­ mannes, eines Bürgerbeauftragten,1 soll mit dazu beitragen, auf unkonventionel­ le Weise Verwaltungs- und Regierungshandeln zu kontrollieren. Schon 1973 schuf mit dem Médiateur zum ersten Mal ein kontinental-europäisches Land mit her­ vorragend ausgebauter Verwaltungsgerichtsbarkeit das Amt eines Zivilbeauftrag­ ten. Seine Aufgabe ist es, » die Alltagssorgen des Bürgers mit der Verwaltung zu mildern «. Jede Person, auch eine juristische, sofern ihre Mitglieder betroffen sind, kann sich mit einer Eingabe wegen vermeintlichem Fehlverhaltens einer Behörde kostenfrei persönlich oder schriftlich an den Défenseur wenden. Der Petent muss sein Anliegen nicht wie bislang einem Abgeordneten oder Senator mit der Bitte um Weiterleitung an den ehemaligen Médiateur vortragen, sondern kann ihn oder einen der mehr als 400 ehrenamtlichen Delegierten des Défenseur kontaktieren. An diese – häufig ehemalige hohe Beamte – können sich die Bürger direkt mit ih­ ren Anliegen wenden. Ihre Petitionen werden in der Regel unbürokratisch vor Ort erledigt. Kommt es zu keiner Einigung, leiten die Delegierten die Eingabe an den Défenseur weiter. Die meisten Anliegen betreffen den Sozialsektor. Zuständig ist der Verteidiger der Bürgerrechte für die Bereiche von vier einst unabhängigen Institutionen:2 ■■ ■■ ■■ ■■

Kontrolle des Verwaltungshandelns Überwachung des Verhaltens von Personen staatlicher Sicherheitsorgane Kampf gegen Diskriminierung Verteidigung von Kinderinteressen 161

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Der Défenseur des droits (der Bürgerbeauftragte)

Im Jahr 2014 erhielt der Bürgerbeauftragte insgesamt 100 000 Eingaben. 80 Pro­ zent betrafen Verwaltungshandeln, 15 Prozent vermeintliche Diskriminierungen, 4 Prozent beinhalteten Vergehen gegen Kinderrechte und 1 Prozent wandten sich gegen das Verhalten von Sicherheitsorganen, sprich der Polizei.3 In seiner Amtsführung ist der vom Staatspräsidenten (nach Zustimmung der Parlamentskommissionen) auf sechs Jahre ohne Möglichkeit einer Wiederwahl bestellte » Vermittler « zwischen Bürger und Verwaltung völlig unabhängig und niemandem rechenschaftspflichtig. Unterstützt wird er von drei Stellvertretern (zuständig für Sicherheitsfragen, Kinderrechte und Diskriminierungen) sowie vom Generaldelegierten für Verwaltungsangelegenheiten. 250 Mitarbeiter bear­ beiten die etwa 20 Prozent an den Défenseur weitergeleiteten Petitionen. Die üb­ rigen werden » vor Ort « erledigt. Ausgestattet mit umfassenden Investigations- und Sanktionsrechten – bei­ spielsweise kann er ein Disziplinarverfahren oder eine Amtsklage beantragen so­ wie selbst ein Anliegen aufgreifen, sollte eine Behörde oder ein Beamter die ge­ wünschte Zusammenarbeit verweigern – versteht sich der Défenseur als eine Art » ehrlicher Makler « zwischen dem Petenten und den inkriminierten Stellen. Vor­ ortuntersuchungen zählen ebenso wie Zeugenbefragungen, Auskunftsersuchen an den Vizepräsidenten des Staatsrates oder den Vorsitzenden des Rechnungsho­ fes zu seinen Kompetenzen. Entscheidungen kann er nicht fällen, wohl aber vermag er Dienststellen Wege zu weisen, wie sie unangemessene Auslegungen ihres Ermessensspielraums zu­ gunsten der Bürger korrigieren können. Umgekehrt kann er auch einen Peten­ ten von der Richtigkeit des Verwaltungshandelns oder der getroffenen Maßnah­ men überzeugen. Im Fall von vermeintlichen Kinderrechts-Verletzungen kann er entsprechend intervenieren und Maßnahmen zur Behebung der Missstände u. a. durch die Einschaltung von Jugendämtern vorschlagen. Im Fall einer Diskrimi­ nierung, auch am Arbeitsplatz, kann er hohe Entschädigungszahlungen zu Guns­ ten des Opfers empfehlen. Ein weiterer Aufgabenbereich liegt in seiner Möglichkeit, dem Premierminis­ ter Reformvorschläge für Gesetzes- oder Verordnungsnovellierungen zu unter­ breiten.4 Damit wird das Amt des Défenseur des droits von seinem Selbstverständnis her nicht nur als das eines Bürgerbeauftragten verstanden, sondern auch als das eines Verwaltungsreformers, der neben der Lösung eines Einzelfalles auch auf die generelle Problematik der Materie, die zu der Eingabe geführt hat, aufmerksam macht und eine Abhilfe vorschlägt. Allerdings sind die Erfolge auf diesem Ge­ biet recht bescheiden, da die Regierungen den Vorschlägen nur zögerlich folgen oder sie » auf die lange Bank « schieben. Bei einem Konflikt mit einem Ministe­ rium kann sich der Défenseur an den Premierminister mit der Bitte um Abhil­ fe wenden.

Der Défenseur des droits (der Bürgerbeauftragte) 163

Ein wesentliches Maß der Anerkennung, das Ombudsmänner in anderen Län­ dern5 genießen, resultiert aus der sozialpsychologischen Einsicht, wie wichtig eine direkte Kontaktaufnahme zwischen Petent und Défenseur ist, um dem Bürger das tatsächliche » konkrete Gefühl « zu vermitteln: » Es gibt jemanden, der sich meiner Sache annimmt. « Folglich ist die nun verfassungsrechtlich verankerte Anlaufstel­ le für Bürger von besonders hohem Wert. Sie kann auch vorbeugend gestalten und staatliche Stellen zu bürgerfreundlichem Verhalten bewegen. Unabhängig von dieser neueren Einrichtung für ratsuchende Bürger gibt es nach wie vor das traditionelle Recht, sich mit einer Petition direkt an eine Kam­ mer des Parlaments zu wenden. Diese beauftragt dann einen ihrer Ausschüsse, in dessen Zuständigkeit das Anliegen fällt, mit der Bearbeitung.

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Die politischen Parteien

10.1 Zur Lagerbildung Für die Charakterisierung des französischen Parteiensystems der V. Republik1 hatte sich seit den siebziger Jahren der Begriff der Bipolarisation eingebürgert. Seit den Parlamentswahlen von 1978 wurde dieser Begriff zur » quadrille bipolaire « er­ weitert.2 Inzwischen dominiert erneut das Bild der » Zwei-Blöcke «, wobei sich durch Wahlerfolge des Front National und der linkssozialistischen Parti de Gauche eine gewisse Asymmetrie ergeben hat. Gemeint ist mit der Bipolarisation eine Teilung des Parteiensystems in zwei annähernd gleich starke Blöcke: auf Seiten der Linken waren dies die Parti So­ cialiste (PS) und die Parti Communiste Français (PCF), auf Seiten der Rechten das gaullistische Rassemblement pour la République (RPR) und die liberal-kon­ servative Parteienkonföderation Union pour la Démocratie Française (UDF). Mit der » Quadrilla « war eine weitgehend gleiche Stärke der jeweiligen beiden Haupt­ parteien in jedem Block gemeint. Deren Macht hat sich wiederum seit Mitte der neunziger Jahre jeweils zu Gunsten einer Partei – der PS im Links- und der Gaul­ listen im Rechtsblock – verschoben. Auch diverse Wahlen auf nationaler Ebene haben daran nach 2002 nichts geändert. Infolge der seit 1962 zutage tretenden Polarisierung veränderte sich die Struk­ tur des französischen Parteiensystems, wie es aus der III. und IV. Republik über­ kommen war, ebenso wie die Struktur der jeweiligen Parteien mit Blick auf Pro­ grammatik, Organisation und Wählerbasis: ■■ Die christlich-demokratische Partei der Volksrepublikaner (Mouvement Ré­ publicain Populaire, MRP) wurde 1944 als Gruppierung der politischen Mitte gegründet. Sie gehörte den meisten Regierungskoalitionen der IV. Republik an 165 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 U. Kempf, Das politische System Frankreichs, DOI 10.1007/978-3-658-08208-6_10

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Die politischen Parteien

und stellte wiederholt den Ministerpräsidenten. Zu Beginn der V. Republik ver­ lor sie einen großen Teil ihrer Wählerschaft an die Gaullisten. Dieser Vorgang, zweifellos durch den offenkundigen Prozess der gesellschaftlichen Entkonfes­ sionalisierung gefördert, bewog die bisherigen Christdemokraten am 13. Sep­ tember 1967, die Partei aufzulösen und sich nach einer » langen Wanderung « dem 1978 auf Drängen des damaligen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing ge­ gründeten Wahlkartell (UDF) als eigenständige Partei anzuschließen. Das CNIP (Centre National des Indépendants et Paysans – Nationales Zen­ trum der Unabhängigen und Bauern), gegründet 1948 von Antoine Pinay, lös­ te sich zwar nicht auf, erholte sich jedoch nicht mehr von der 1962 erfolgten Abspaltung der Unabhängigen Republikaner (der späteren Démocratie Libé­ rale) Giscard d’Estaings. Seine Wählerschaft wanderte einerseits mehrheitlich ins Lager der Gaullisten ab, andererseits zu den Unabhängigen Republikanern. In der IV. Republik verfolgte das CNIP eine gemäßigt-liberale Politik; es litt je­ doch wie die meisten anderen Parteien unter organisatorischer Schwäche so­ wie dem Mangel an Fraktionsdisziplin in der Nationalversammlung. Einen starken Bedeutungsverlust verzeichnete auch Frankreichs älteste Partei, die 1901 gegründeten Radikalsozialisten. Von einer Spaltung in einen » rech­ ten « und » linken « Flügel im Jahre 1972 vermochte sie sich nicht mehr zu er­ holen. Die Sozialisten (bis 1969: Section Française de Internationale Ouvrière – Fran­ zösische Abteilung der Internationalen Arbeiterbewegung) verzeichneten in den sechziger Jahren eine Reihe von Wahlniederlagen. Dies veranlasste sie zu einer Neupositionierung im politischen Kräftefeld. Ende 1969 lehnten sie eine Koalition mit bürgerlichen Parteien ab und befürworteten als Nouveau Parti Socialiste ein Bündnis mit den Kommunisten. Im Jahre 1971 wurde die­ ser Wandel von einer eher sozialdemokratischen zu einer sozialistischen Partei durch die erneute Umbenennung in » Parti Socialiste « auch namentlich voll­ zogen. Selbst die Kommunisten (PCF) konnten sich dem Wandel nicht entziehen: Sie versuchten Ende der sechziger Jahre aus dem selbstgewählte Getto auszubre­ chen und enger mit den Sozialisten zusammenzuarbeiten. Das Ergebnis dieser Annäherung war das 1972 unterzeichnete Gemeinsame Regierungsprogramm von PS und PCF.

Wenn das französische Parteiensystem an der Oberfläche als Zwei-Lager-System erscheint, darf diese Charakterisierung doch nicht zum Fehlschluss verleiten, zwei monolithische Blöcke bestimmten die Politik des Landes. Durch das Auftreten des rechtspopulistischen Front National (FN) seit Anfang der achtziger Jahre wurde die Situation bei den Rechtsparteien komplizierter. In­

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folge der landesweiten Wahlerfolge der grünen Parteien bei sogenannten Neben­ wahlen ab Ende der achtziger sowie linksextremer Parteien in den neunziger Jah­ ren verschoben sich auch die politischen Gewichte im so genannten Linksblock, ohne den Führungsanspruch der Sozialisten allerdings ernsthaft zu gefährden. Dominierte auf der Linken bis Ende der siebziger Jahre die PCF, so überrundete die PS den Konkurrenten im eigenen Lager erstmals im Jahre 1978. In den folgen­ den Jahrzehnten baute sie diesen Vorsprung so massiv aus, dass die Kommunisten zu einer Randpartei, ja beinahe zur Splitterpartei reduziert wurden. Auch die Ab­ spaltung einer Parti de Gauche im Jahr 2008, änderte an der zentralen Bedeutung der Parti Socialiste im linken Lager nichts. Letztlich hängen auch die Grünen bei Wahlen zur Nationalversammlung am » Tropf « der Sozialisten, mit denen sie auf Wahlabsprachen angewiesen sind, um Mandate zu gewinnen. Im rechten Lager waren jahrzehntelang die Gaullisten unangefochten die stärkste Kraft. Während der Amtszeiten der Staatspräsidenten Charles de Gaulle und Georges Pompidou verfügten sie häufig über die absolute Mehrheit der Man­ date in der Nationalversammlung. Erst als sich auf Veranlassung von Staatspräsi­ dent Giscard d’Estaing im Jahr 1978 drei kleinere liberal-konservative Parteien zur Parteienkonföderation Union für die französische Demokratie (UDF) zusammen­ schlossen, bildete sich im gemäßigt rechten Lager ein annäherndes Gleichgewicht zwischen Gaullisten und Liberal-Konservativen heraus. Es blieb bis zur Gründung der großen bürgerlichen Sammlungsbewegung Union pour un Mouvement Popu­ laire (UMP), in der beide Parteien verschmolzen, weitgehend erhalten. Seit Ende 2002 dominiert diese hauptsächlich aus Gaullisten, Liberalen und bis Ende 2012 aus Teilen des Zentrums bestehende konservative Partei – mittlerweile in Die Re­ publikaner umbenannt – das rechte Lager. Die Restbestände der früheren christlich-demokratisch orientierten UDF un­ ter François Bayrou, die sich unter dem neuen Namen Mouvement Démocrate (MoDem) sammelten, versuchten sich landesweit zu etablieren, scheiterten aber kläglich. Das Gleiche gilt für diverse Abspaltungen national-konservativer Grup­ pierungen vom RPR bzw. von der späteren UMP. Gestört wurde dieses an der Oberfläche stabile Blockgefüge durch die über­ raschend großen Wahlerfolge der Rechtspopulisten seit Mitte der achtziger Jahre, ferner durch die Erfolge grüner Parteien bei Nebenwahlen, durch die Abspaltung und Bildung der Parti de Gauche sowie schließlich durch linksradikale Kandida­ ten (u. a. die Trotzkisten). Die Blockbildung im französischen Parteiensystem hat mehrere Ursachen: ■■ Wegen der Direktwahl des Staatspräsidenten ist jede politische Richtung genö­ tigt, sich spätestens bei der Stichwahl (sofern kein Kandidat im ersten Wahl­ gang die absolute Mehrheit erhält) für einen der beiden Bewerber zu entschei­

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Die politischen Parteien

den. Der Zwang, sich politisch-ideologisch festzulegen, hat seinen Ursprung im Referendum von 1962 über die Einführung der Volkswahl des Staatspräsi­ denten. Dem so genannten » Kartell der Nein-Stimmen « schlossen sich damals alle Parteien von extrem links bis hin zu extrem rechts an. Allein die Gaullis­ ten und eine kleine Abgeordnetengruppe um Giscard d’Estaing standen für ein klares Ja. Für die weitere Entwicklung des Parteiensystems war der Erfolg des Referendums richtungsweisend. ■■ Das Wahlsystem der V. Republik begünstigt Wahlbündnisse. Mit Ausnahme der Wahlen von 1986 kam bei Parlamentswahlen jeweils das absolute Mehr­ heitswahlsystem zur Anwendung: Erreicht im ersten Durchgang kein Kandi­ dat die absolute Stimmenmehrheit, so findet eine Woche später ein zweiter Wahlgang statt, bei dem die einfache Mehrheit ausreicht. Während Gaullis­ ten und Unabhängige Republikaner schon 1962 in den meisten Wahlkreisen mit Einheitskandidaten aufwarteten, einigten sich Sozialisten und Kommunis­ ten erst fünf Jahre später auf die so genannte » republikanische Disziplin «: Die im Wahlkreis unterlegene Linkspartei zog ihren Kandidaten zugunsten des besser platzierten Sozialisten oder Kommunisten zurück. Mit dieser Metho­ de steigerten beide Linksparteien deutlich ihre Mandatszahlen. Schloss sich eine Partei keinem Wahlbündnis an, so ging sie in der Regel » leer « aus. Die­ se Erkenntnis führte in den neunziger Jahren bei den Grünen zu einer engen Wahlabsprache mit der PS. Der FN, dem alle übrigen Parteien eine solche Ko­ operation verweigerten, war – abgesehen während der kurzen Phase Mitte der achtziger Jahre – nicht oder nur mit einem oder zwei Abgeordneten in der Na­ tionalversammlung vertreten. Dagegen stellt er zahlreiche Mandatsträger in Kommunal-, Departementrats- und Regionalratsparlamenten sowie im Euro­ päischen Parlament. Allgemein führten Wahlabsprachen seit 1962 gleichsam automatisch zu Regie­ rungskoalitionen, was wiederum die Blockbildung begünstigte. Neben diesen in­ stitutionellen Faktoren spielten auch die Führungsrolle des Staatsgründers und seiner Nachfolger, aber auch die ideologische Umorientierung der Sozialisten un­ ter Mitterrand eine Rolle; desgleichen der soziale Wandel seit den siebziger Jahren, der Aufstieg der » neuen Mittelklassen « zur zentralen sozialen Schicht in der fran­ zösischen Nachkriegsgesellschaft. » Sie haben ihrerseits die Entstehung von › Al­ lerweltsparteien ‹ [zum Beispiel die UMP und die PS] begünstigt. «3 Auch die Wahlen des Jahres 2012 bestätigten das bipolare Parteiensystem mit den beiden dominierenden Großparteien im linken wie im rechten Lager. Unter der bipolaren Oberfläche hat sich seit den neunziger Jahren ein » inoffi­ zielles, multipolares, fragmentiertes und protestgeleitetes Muster von Parteienun­ terstützung « (Alistair Cole) eingespielt. Dessen ungeachtet behauptet sich auch in

Zur Lagerbildung 169

den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen seit der Jahrtausendwende die Aus­ sagekraft des Links-Rechts-Schemas. Zu berücksichtigen ist aber, dass bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2012 bei insgesamt 22,44 Prozent Stimmenhaltungen und ungültigen Voten 32,6 Pro­ zent der Wähler Antisystemkandidaten ihre Stimme gaben. U. a. erzielte Marine Le Pen mit 17,9 Prozent ein Ergebnis, das deutlich über einem Achtungserfolg liegt. Auch der linksradikale Bewerber Jean-Pierre Mélanchon erhielt 11,1 Prozent. Kan­ didaten der Trotzkisten kamen auf 1,71 Prozent der Stimmen. Dagegen vereinigten die Kandidaten der beiden Großparteien noch nur 55,8 Prozent auf sich. Die Protesthaltung der Wähler gegenüber der traditionellen » classe politique « wird seit den 1990er Jahren durch Teilerfolge von Kandidaten diverser, nicht selten kurioser Themenparteien wie diejenige der Jäger, der antieuropäischen Souverä­ nisten und der extrem konservativen Wertebeschwörer unterstrichen. Das Votum für diese Parteien bzw. Kandidaten lässt sich ebenso wie die hohe Zahl der Stimm­ verweigerer als Quittung einer enttäuschten Teilöffentlichkeit für das vermeintli­ che Versagen der Regierenden vor Problemen wie Arbeitslosigkeit, Großstadtkri­ minalität und düsterer wirtschaftlicher Perspektive werten. Die Parteienforschung hat nachgewiesen, dass in Frankreich die alten cleava­ ges weitgehend eingeebnet und durch neue4 wie die Frage der europäischen Inte­ gration verdrängt worden sind. Exemplarisch ist auf den Streit unter den Sozialis­ ten zwischen Gegnern und Befürwortern des europäischen Verfassungsentwurfs im Jahr 2005 zu verweisen, der schließlich zur Ablehnung des Vertrags durch die Franzosen führte (siehe unten). Die Klassifizierung der französischen Parteien in ein Rechts-Links-Schema ist in den Köpfen fest verankert. Ihr Ursprung geht auf die Sitzordnung in der Nationalversammlung von 1789 zurück, als sich die Vertreter eines starken Kö­ nigtums » rechts «, die Anhänger der Volkssouveränität » links « vom Parlaments­ präsidenten platzierten. Diese räumliche Distanz setzte sich ideologisch fort und trennte früher einmal Monarchisten von Republikanern, gemäßigte Republika­ ner von Jakobinern, Liberale von Sozialisten und Marxisten von Nichtmarxisten. Heute verbindet der französische Wähler mit » links « ganz allgemein den Wandel, den sozialen Fortschritt, mehr soziale Gerechtigkeit, kurz: den Sozialismus. Un­ ter » rechts « versteht er eher das Festhalten an tradierten Werten, die Geltung von Ordnung und Hierarchie sowie die geringe Wertschätzung von gesellschaftlicher Solidarität.5 Alles in allem erscheint die folgende Prognose gerechtfertigt und begründet: Mag es innerhalb eines » Lagers « auch zu politischen Verschiebungen kommen, dürfte mittel- und längerfristig das bipolare Blocksystem weiterhin, wenn auch mit asymmetrischen Veränderungen, das Geschehen der V. Republik bestimmen.6 Solange die Wahlen zur Nationalversammlung vom absoluten Mehrheitswahl­

170

Die politischen Parteien

system bestimmt werden, wird sich an der Dominanz der Parti Socialiste im lin­ ken und der Republikaner im rechten Block trotz Führungsstreitigkeiten, par­ teiinterner Auseinandersetzungen über Fragen der europäischen Integration, Reformen im Sozial- und Wirtschaftsbereich sowie dadurch bedingte Abspaltun­ gen im jeweiligen Lager nichts ändern. Spätestens der zweite Wahlgang zwingt Abweichler oder parteiinterne Frondeure zur Linientreue, wollen sie Chancen auf ein Mandat in der Nationalversammlung nicht aufs Spiel setzen. Das Gleiche gilt für die Klein- bzw. Kleinstparteien im jeweiligen Lager. Die Isolierung des Front National, dem die Dominanzparteien bislang Wahlabsprachen verweigert haben, dürfte dieser Partei trotz beachtlicher Stimmengewinne ihrer Kandidaten auf par­ lamentarischer Ebene eine Grenze ziehen.

10.2 Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Parteien Der Begriff » Partei « blieb in den französischen Verfassungen – im Gegensatz zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland – weitgehend unberücksichtigt. Ein Parteiengesetz im eigentlichen Sinne gibt es bis heute nicht. Die rechtliche Stellung der Parteien ist lediglich in den Gesetzen über die » fi nanzielle Transpa­ renz des politischen Lebens « vom 11. März 1988 und vom 15. Januar 1990 geregelt. Ihnen wurde das Fehlen staatsbürgerlicher Gesinnung, das Eintreten für Partiku­ larinteressen und damit das Ausblenden des staatlichen Gemeinwohls unterstellt. Auch wird ihnen noch heute ein hohes Maß an Misstrauen entgegengebracht. Trotz de Gaulles Misstrauen gegen die Parteien enthält paradoxerweise erst­ mals die Verfassung von 1958 einen Hinweis auf die politischen Parteien (Arti­ kel 4): » Die Parteien und politischen Gruppen wirken bei den Wahlentscheidun­ gen mit; ihre Bildung und die Ausübung ihrer Tätigkeit erfolgen frei. Sie haben die Grundsätze der nationalen Souveränität und der Demokratie zu beachten.  […] Die pluralistische Meinungsäußerung und die gleichberechtigte Beteiligung der Parteien sowie politischen Gruppierungen am demokratischen Leben werden durch Gesetz garantiert. « Aus Artikel 4 lässt sich aber nicht erkennen, dass die Parteien Kandidaten aufstellen können. Wurden durch Aufnahme dieses Arti­ kels die Parteien zum ersten Mal in Frankreich verfassungsrechtlich legitimiert, so wird ihre Rolle hier jedoch ausschließlich auf die Mitwirkung bei Wahlen be­ schränkt. Im Gegensatz zum Wahlgesetz der IV. Republik, das Listenkandidaturen kann­ te, fehlt aber eine Präzisierung, wie sich diese Mitwirkung zu vollziehen hat. Da ein genuines Parteiengesetz fehlt, unterschieden sich die französischen Parteien lan­ ge Zeit in keiner Weise von Vereinen. Wie diese unterlagen sie dem Vereinsrecht vom 1. Juli 1901, das insofern die in Artikel 4 definierte Verfassungsbestimmung

Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Parteien 171

(» sie haben die Grundsätze der nationalen Souveränität und der Demokratie zu beachten «) ergänzt, als es dort in Artikel 3 heißt, dass jeder Verein mit gesetzwid­ rigem Ziel null und nichtig sei, was z. B. 1972 die rechtliche Handhabe zur Auflö­ sung einer links- und einer rechtsextremistischen Organisation lieferte. Erst durch das Gesetz zur » fi nanziellen Transparenz des politischen Lebens « vom 11. März 1988 wurde den Parteien der Status einer juristischen Person zuer­ kannt. Nach Artikel 7 dieses Gesetzes haben sie nunmehr das Recht, » sich frei zu bilden und ihre Aktivitäten frei zu gestalten «; darüber hinaus dürfen sie Spenden entgegennehmen. Allerdings ersetzt dieses Gesetz von 1988 kein Parteiengesetz. Selbstverständlich wirken sich die Besonderheiten der V. Republik – präsidia­ le Hegemonie und eine Legislative, die durch Elemente des sogenannten rationa­ lisierten Parlamentarismus » gebändigt « ist – auf die Funktionen der Parteien aus.7 Die Aufgaben der Parteien beschränken sich auf Wählermobilisierung, Kandida­ tenauswahl, Programmformulierung sowie – und auch dies nur bis zu einem ge­ wissen Grad – auf die Bestimmung des politischen Führungspersonals. Ihr bescheidener Einfluss auf die Besetzung der höchsten Staatsämter zeigt sich u. a. darin, dass sich in der » äußerst personenbezogenen Politik der V. Re­ publik « (Alistair Cole) sämtliche bisherigen Staatspräsidenten (ebenso wie ihre aussichtsreichen Mitkonkurrenten) als unabhängige Persönlichkeiten bewarben – auch wenn sie in der Regel den Vorsitz ihrer Partei innehatten und von dieser erst nach der Erklärung der Kandidatur unterstützt wurden. Um überhaupt eine Er­ folgschance zu besitzen, muss sich letztlich jeder Kandidat um den Rückhalt einer Partei mit brauchbarer Infrastruktur bemühen. Aufgrund der » Personifizierung und Präsidiabilisierung der Staatsmacht in der Person des Staatspräsidenten « (so Jean Charlot) scheint es für nahezu alle Parteien unabdingbar geworden zu sein, einen eigenen Präsidentschaftskandida­ ten – und sei es auch nur als Zählkandidat – zu präsentieren bzw. sich hinter einen solchen Bewerber zu stellen, um » ernst genommen « zu werden. Daraus erklärt sich die Vielfalt der Kandidaten (die » présidentiables «) im rechten wie im lin­ ken Lager.8 Die Bedeutung des Persönlichkeitsfaktors ist offensichtlich ein Reflex der ver­ breiteten Abneigung gegen die Parteien. Im Jahre 2011 bekundeten nur 13 Prozent der Befragten Vertrauen in die Parteien. Diese landeten bei der Frage nach den ge­ schätzten Institutionen auf den letzten Platz. 74 Prozent der Wähler hatten zudem » nicht das Gefühl, von einer Partei gut vertreten zu werden. «9 Wegen der zahllosen Skandale, in die seit Ende der achtziger Jahre Politiker fast aller Parteien verwickelt waren, dürfte das Ausmaß der Parteienverdrossen­ heit nicht geringer geworden sein, zumal sich diese auf einen historisch verwur­ zelten Anti-Parteieneffekt gründet, den Adolf Kimmel wie folgt erklärt:10 Infolge häufiger Konflikte zwischen den Parteien ist eine Parteiregierung einer an natio­

172

Die politischen Parteien

naler Einheit und Größe orientierten Politik abträglich. Außerdem wertschätzen die Franzosen die Herrschaft eines » starken Mannes «, der über den Auseinander­ setzungen der Parteien steht oder dies glaubhaft vermittelt. Schließlich herrscht der Wunsch vor, die Nation müsse von » den Besten « regiert werden und nicht von Parteibuch-Vertretern. In jüngerer Zeit wird ihnen vorgeworfen, das Land zu spal­ ten anstatt es vor dem Hintergrund der dramatischen Wirtschafts- und weltweiten Finanzkrise zu einen. Außerdem seien sie unfähig, einfache, aber überzeugende Lösungen für die seit den 1980er Jahren andauernden Krisen zu finden. Im europäischen Vergleich sind sehr wenige Franzosen Parteimitglieder, näm­ lich lediglich 1,7 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung. Damit lag Frankreich am untersten Ende einer Skala aller untersuchten Staaten.11 Bei der folgenden Betrachtung der einzelnen Parteien bleiben die politisch be­ deutungslosen links- und rechtsextremistischen Splittergruppen unberücksichtigt. Zu erwähnen ist lediglich, dass nach der Marginalisierung maoistischer Gruppie­ rungen und dem Verschwinden der linkssozialistischen PSU im November 1989 die extreme Linke durch trotzkistische Gruppen wie Lutte Ouvrière mit Arlette Laguiller als (Dauer-)Präsidentschaftskandidatin seit 1974 sowie durch die Ligue Communiste Révolutionnaire und die Parti Communiste International repräsen­ tiert wird. Von ihnen ist möglicherweise eine gewisse Meinungsbeeinflussung studentischer und intellektueller Kreise anzunehmen. Achtungserfolge bei Prä­ sidentschafts- und so genannten Nebenwahlen können als Ausdruck eines Pro­ testverhaltens dieser Wählerschaft gewertet werden, die sich nicht länger durch die traditionelle Linke vertreten sieht.

10.3 Die Parti Socialiste 10.3.1 Entwicklungstendenzen Kurz vor dem Ausscheiden aus dem höchsten Staatsamt hinterließ Staatschef Mitterrand seine Partei, wie er sie seinerzeit übernommen hatte: ein zerstrittener » Haufen « von mäßigem politischem Gewicht, ideologisch, finanziell und orga­ nisatorisch in einer tiefen Krise befindlich. Nach dem Rücktritt von Mitterrands » Statthalter « als Erstem Parteisekretär, Lionel Jospin, im Jahre 1988 amtierten zwi­ schen 1987 und 1995 nicht weniger als vier Parteivorsitzende. Intrigen des amtie­ renden Staatsoberhauptes, die Machtbesessenheit so genannter Clanführer und ideologische Auseinandersetzungen führten – neben Wahlniederlagen – zu die­ ser Entwicklung. Der desolate Zustand der PS Mitte der neunziger Jahre stand in krassem Ge­ gensatz zu ihrem geradezu atemberaubenden Aufstieg seit Mitte der siebziger Jah­

Trotzkisten

NPA

LCR (1973)

LC (1969)

IV Internationale (1938) PCI

PSU (bis 1989)

PSU (1960)

PSA (1958)

PC

PCF

PCF (1936)

EELV

Les Verts

Les Verts (1984)

Mouvement Écologique Politique (1979)

Mouvement Écologique (1974)

GE

PS

(1974)

PS (1971)

Nouveau PS (1969)

MRG

MRG (1972)

PRS

MoDem

MoDem (seit 2007)

UDI

FD

CDS (1967)

Centre Démocrate (1956)

MRP (1944)

Nouveau U.D.F.

Parti républicain, radical et radical-socialiste (1901)

Quelle: Jean Charlot: Die politischen Parteien, Paris 1992 und eigene Ergänzungen

LO

Lutte Ouvrière (1968)

Voix Ouvrière

Union Communiste (1946)

SFIC (1920)

SFIO (1905)

Schaubild 3  Entwicklung der französischen Parteien (Stand 2016)

Noveau Centre

CDP (1959)

CNI(P) DL EELV FN GE LCR LO LR MNR MoDem MRG

CNI (P)

CNI (1948)

DL

PR (1977)

RI (1962)

ARS (1952)

LR

UMP

MPF

Centre National des Indépendants et Paysans Démocratie Libérale Europe Ecologie – Les Verts Front National Génération Ecologie Ligue Communiste Revolutionnaire Lutte Ouvrière Les Républicains Mouvement National Républicain Mouvement Démocrate Mouvement des Radicaux de Gauche

RPR

RPR (1976)

UDR (1968)

UDV (1967)

UNR-UDT (1962)

UNR (1958)

RPF (1947)

NPA PCF PRS PS PSU RPF RPR UDF UDI UMP

RPF

UCCA (1955)

FN

Front National (1972)

Ordre Nouveau (1969)

Comités TixierVignancour (1965)

Occident (1964)

Jeune Nation (1949)

MNR

OAS (1961)

Nouveau Parti Anticapitaliste Parti Communiste Français Parti Radical Socialiste Parti Socialiste Parti Socialiste Unifié Rassemblement du Peuple Français Rassemblement pour la République Union pour la Démocratie Française Union des Démocrates et Indépendants Union pour un Mouvement Populaire

Die Parti Socialiste 173

174

Die politischen Parteien

re. Noch im Juni 1988 gelang ihr die Rückkehr in die Regierungsverantwortung, die sie erst zwei Jahre vorher an die bürgerliche Koalition hatte abtreten müssen. Als eine der ältesten Parteien Frankreichs im Jahre 1905 als SFIO gegründet, spielte die sozialistische Partei in den zahlreichen Kabinetten der III. und IV. Re­ publik eine bedeutende Rolle. Ein Höhepunkt ihres Einflusses war die Volksfront­ regierung (Sozialisten und Radikalsozialisten bei parlamentarischer Duldung der Kommunisten) unter Leon Blum im Jahre 1936. Viele Linke sahen in diesem Bünd­ nis die Spaltung des Sozialismus auf dem Parteitag von Tours 1920 repariert. Da­ mals stimmte die Mehrheit für den Anschluss an die Kommunistische Internatio­ nale, verließ die Partei und gründete kurz darauf die PCF.12 In der V. Republik standen die Sozialisten bis 1981 – abgesehen von wenigen Monaten Anfang 1959 – in der Opposition. Ihr politischer Einfluss schwand so stark, dass sich die Parteiführung 1969 entschloss, ihre zwar verbal marxistischradikale, in Wirklichkeit aber sozialdemokratisch orientierte Politik mit einem klaren Bekenntnisses zum Sozialismus, zur Umgestaltung der Gesellschaft und zum Verzicht auf Koalitionen mit bürgerlichen Parteien zu ändern. Äußerliches Merkmal dieser neuen Politik war die Umbenennung der alten SFIO in Neue So­ zialistische Partei. Aus dieser wurde zwei Jahre später, nach Beitritt des Klubs der Konvention der republikanischen Institutionen (CIR) unter François Mitterrand, die PS. Mitterrand wurde zu ihrem Ersten Sekretär gewählt, ein Amt, das er bis 1981 behielt. Er hatte erkannt, dass sich die Strukturen der V. Republik, insbe­ sondere die » Präsidentialisierung «, auch in der Führung der politischen Par­teien widerspiegeln mussten, wenn ihr Spitzenkandidat eine Chance auf das höchste Staatsamt haben sollte. Um sein politisches Ziel zu erreichen, strebte Mitterrand zunächst die Führung der PS an, um sie dann in seinem Sinne zu » präsidentia­ lisieren «; anschließend plante er, sie seinen politischen Ambitionen unterzuord­ nen, was auch gelang.13 Auf dem Parteitag vom 11. bis 13. Juni 1971 in Epinay vermochte es Mitterrand, sich gegen die » alte Garde « der Partei um Guy Mollet (Ministerpräsident von 1956 bis 1957) durchzusetzen. Zunächst sollte die nichtkommunistische Linke um die PS gesammelt werden, um schließlich die Kommunistische Partei bei Wahlen zu überrunden. Dieses Kalkül ging schließlich auf. Die enge Zusammenarbeit beider Parteien bereitete bis 1981 die Übernahme der Regierungsmacht vor. Höhepunkt dieser » strategischen Einheit « war die Unterzeichnung eines Gemeinsamen Re­ gierungsprogramms im Jahre 1972. Beide Linksparteien erklärten, es bei einem Wahlsieg verwirklichen zu wollen. Wäre es dazu gekommen, wäre für Frankreich eine sozialistische Republik vorgezeichnet gewesen. Das Bündnis bedeutete nicht nur Kooperation, sondern auch Konkurrenz, da beide Partner die Führungsrolle in der Linken anstrebten. War die PS anfänglich der Juniorpartner, kehrte sich dieses Verhältnis nach den Parlamentswahlen von

Die Parti Socialiste 175

1978 um: Während die PS – wie schon vorher bei Kommunal- und Kantonalwah­ len – ständig an Stimmen gewann, musste die PCF empfindliche Einbußen hin­ nehmen, was allmählich zu einer Entfremdung der Partner führte. Die Gewinne der Sozialisten gingen insbesondere auf ihre Attraktivität in den neuen Mittel­ schichten zurück. Irritiert durch die Erfolge der Sozialisten und die eigenen Verluste, nahmen die Kommunisten Verhandlungen über die Aktualisierung des Gemeinsamen Re­ gierungsprogramms im Jahre 1977 zum Anlass, mit dem bisherigen Partner zu brechen. Als Folge kassierte die Linke einerseits eine Niederlage bei den Parla­ mentswahlen von 1978; andererseits beschloss die PS jetzt ein gemäßigt sozialis­ tisches Programm, mit dem François Mitterrand im Jahre 1981 einen erheblichen Teil Wähler aus den bürgerlichen Schichten erreichte. Seine Wahl und der Erfolg der PS bei den anschließenden Parlamentswahlen führten zur Bildung der ersten Linksregierung in der V. Republik mit erstmals seit 1947 wieder kommunistischen Ministern. Obwohl die Koalition aufgrund der ab­ soluten PS-Mandatsmehrheit nicht erforderlich gewesen wäre, wollte Mitterrand die PCF – und die ihr nahestehende Gewerkschaft – in die Regierungsverantwor­ tung einbinden. Die Linksregierung setzte in den beiden ersten Jahren umfassende Struktur­ reformen wie Nationalisierungen im Unternehmensbereich, die Dezentralisie­ rung der Verwaltungsstruktur, die Veränderung der Betriebsverfassung und mie­ terfreundliche Gesetze bei gleichzeitig deutlicher Erhöhung der Massenkaufkraft durch. Als dann 1983 massive Haushaltsprobleme zu einer rigorosen Austeritäts­ politik zwangen, die große Bevölkerungskreise erheblich belastete, nahmen bei­ de Regierungsparteien diesen Kurswechsel zunächst hin. Nach Ablösung der Re­ gierung Mauroy durch diejenige des gemäßigten Sozialisten Fabius im Juli 1984 kündigte die PCF aber die Koalition auf, um nunmehr als Oppositionspartei die angeblich kapitalistische Wende der PS zu attackieren. Für die PS stellte sich in dieser Phase die Frage, » ob die Partei ein Propaganda-Instrument im Dienste der Regierung sein müsse oder ob sie eine Art von politischer Aufsicht, eine politi­ sche Kommissar-Rolle, gegenüber der Exekutive spielen könne. «14 Trotz eines ge­ wissen Unmuts über die Abkehr von einer profiliert sozialistischen Politik blieb der PS wegen Mitterrands überragendem Einfluss auf die Parteiführung, die Ab­ geordneten und die Mitglieder nichts anderes übrig, als die Politik » der Strenge « mitzutragen. Dabei nutzte Mitterrand eine nach ihm benannte innerparteiliche » Strömung « (siehe Seite 181), um seinen Willen sowie seine Ziele zu kommunizieren. Durch seinen Nachfolger im Amt des Ersten Sekretärs der Partei, Lionel Jospin, verfüg­ te der Staatspräsident über einen Hebel, um auf den Parteiapparat und die Parla­ mentsfraktion einzuwirken.15

176

Die politischen Parteien

Allerdings kam es im zweiten Septennat Mitterrands zu einer tiefen Entfrem­ dung zwischen dem einst übermächtigen Vorsitzenden und seinen » Enkeln «. Die­ se stritten sich in der Endphase von Mitterrands Amtszeit um die Kandidatur bei den 1995 anstehenden Präsidentschaftswahlen.16 Erst mit Lionel Jospin, der sich nach seinem Rückzug aus dem Parteivorsitz aus allen Händeln innerhalb der Par­ tei herausgehalten hatte und auf Distanz zum einstigen Mentor ging, endeten die­ se Machtkämpfe, die der traditionsreichen Partei schadeten. Im Januar 1995 kündigte Jospin zur Überraschung der damaligen Parteifüh­ rung seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen an, nachdem der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, wegen mangelnder par­ teiinterner Unterstützung seine Bewerbung zurückgezogen hatte. Jospins Sieg bei den parteiinternen Vorwahlen im Februar 1995 überraschte ebenso wenig wie seine (erneute) Bestätigung als Erster Sekretär im Oktober 1995 per Urwahl17. Nach seinem erstaunlich guten Abschneiden bei den Präsident­ schaftswahlen im April/Mai 1995 stieg er zum neuen Hoffnungsträger der PS auf. Der Aufstieg von Partei und Vorsitzendem setzte sich bei den vorgezogenen Par­ lamentswahlen 1997 fort. Enttäuscht über Chiracs leere Wahlversprechungen und angezogen durch Jospins Bündnisstrategie mit verschiedenen Linksgruppierun­ gen sowie durch sein sozialdemokratisches Programm, übertrugen die Wähler erneut der Linken die Regierungsverantwortung. Im Mittelpunkt des Wahlpro­ gramms stand der Kampf gegen soziale Ausgrenzung sowie der » Glaube an die Möglichkeit linker Politik mit staatsinterventionistischen und sozialen Akzenten in Zeiten globalisierter Wirtschaftsräume « (Ina Stephan).18 Hatten die Wähler im Frühjahr 1993 der sozialistischen Regierung die Macht entzogen,19 gelang der von Jospin geführten Regierungskoalition im Herbst 1997 bei den vorgezogenen Parlamentswahlen ein Come back. Die » Gauche plurielle « (Sozialisten, Radikalsozialisten, Kommunisten, Grüne und Bürgerbewegung) ge­ wann mit 319 Sitzen eine Mehrheit. Erstmals seit eineinhalb Jahrzehnten war es einem PS-Vorsitzenden gelungen, eine kohärente Linkskoalition, deren Kern die Sozialistische Partei bildete, zustande zu bringen. Nach dem Regierungswechsel 1997 bestätigten Meinungsumfragen die Zufrie­ denheit der Franzosen mit der Wirtschafts- und Sozialpolitik der neuen Linksre­ gierung, die allerdings keinen Bruch mit den von den bürgerlichen Vorgängerre­ gierungen durchgeführten Maßnahmen vor allem im Bereich der Privatisierungen bedeutete. Unter Jospins Führung gelang nicht nur die Erneuerung der Partei, sondern auch eine » beachtenswerte ideologisch-programmatische Annäherung an die eu­ ropäischen Schwesterparteien wie die SPD «.20 Jospin, der 1997 den Parteivorsitz an François Hollande übergab, rückte so in die Rolle des » natürlichen « Präsident­ schaftskandidaten zumindest der PS auf. Allerdings weigerten sich die Partner des

Die Parti Socialiste 177

Parteibündnisses, ihn als gemeinsamen Bewerber für das höchste Staatsamt zu no­ minieren, ja sie stellten eigene Kandidaten auf – mit der Folge, dass der 21. April 2002 zum » Katastrophentag « für Jospin und seine Partei wurde. Erstmals seit 1969 nahm kein Sozialist mehr an der Stichwahl teil. Jospin unter­ lag dem Kandidaten der Rechtsextremen u. a. wegen der Zersplitterung des eige­ nen Lagers und der zunehmenden Unzufriedenheit der Wähler über die sich ab­ schwächende Konjunktur und steigende Arbeitslosigkeit. Noch am selben Abend legte Jospin sämtliche Ämter nieder, kündigte seinen Rückzug aus der Politik an und hinterließ eine kopflose, völlig verstörte Parti Socialiste. Zwar gewann die Par­ tei bei den kurz darauf folgenden Parlamentswahlen noch 25,8 Prozent der Stim­ men, konnte damit aber nicht an ihre einstigen Erfolge anknüpfen. Das Links­ bündnis zerfiel nach den Präsidentschaftswahlen. Die PS durchlitt ihre schwerste Krise seit dem Neubeginn von 1971.21 Der Erste Sekretär François Hollande ver­ mochte nur mit größter Anstrengung, die zerstrittenen Flügel » zusammenzuhal­ ten «. Zwar gelang es bei den Wahlen zur Nationalversammlung 2002 – wie auch im Jahr 2007 – die Stimmergebnisse zu stabilisieren. Die Zerrissenheit der Partei zeigte sich zwei Jahre vor den Präsidentschafts­ wahlen des Jahres 2007 u. a. in zweierlei Hinsicht: Zum einen sprach sich 2005 der Mitterrand-Zögling und ehemalige Premierminister Laurent Fabius gegen die EUVerfassung aus, um sich eine gute Ausgangsposition für die bevorstehenden Wah­ len für das höchste Staatsamt zu verschaffen. Er setzte sich damit in Widerspruch zum Parteivorsitzenden, zu prominenten PS-Größen und selbst zum klaren Er­ gebnis einer Mitgliederbefragung, die Ende 2004 durchgeführt worden war. Dieser Streit um die europäische Inte­gration stürzte die PS – erneut – in eine tiefe Krise. Der desolate Zustand der Partei offenbarte sich im Vorfeld und während des Präsidentschaftswahlkampfes im Jahr 2007. Ségolène Royal, die bis dahin nicht zur vordersten Führungsriege zählte, hatte sich in einem Mitgliederentscheid Mitte November 2006 gegen zwei Mitbewerber aus dem Führungsgremium der PS als Präsidentschaftskandidatin mit guten Erfolgsaussichten durchgesetzt. Gleichwohl verlor sie die Wahl selbst: Im Gegensatz zu ihrem Konkurrenten Sarkozy besaß sie kein überzeugendes Programm. Der Werte- und Identitätsdiskussion, die – vor dem Hintergrund der Aufstände in den Banlieues – im Wahlkampf an Bedeutung gewann, stand Royal nahezu hilflos gegenüber. Ihrem Mitbewerber wurde gene­ rell eine höhere Lösungskompetenz auf den Gebieten der Wirtschaft sowie der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zugebilligt. Darüber hinaus wurde Royals Kam­ pagne durch die Zerstrittenheit der eigenen Partei und durch eine zu geringe Un­ terstützung durch führende Sozialisten belastet. Bei den Parlamentswahlen im Juni 2007 gelang es den Sozialisten mit ihren Verbündeten ihre Ergebnisse gegenüber 2002 zu verbessern und mit 205 Abgeord­ neten in die Nationalversammlung einzuziehen. Dieser unerwartete Erfolg än­

178

Die politischen Parteien

derte aber nichts an der Tatsache, dass der Machtkampf zwischen Modernisierern und Traditionalisten, » Elefanten « und » Seiteneinsteigern « – wie Ségolène Royal – voll entbrannte. Gewinnerin um den Parteivorsitz war schließlich 2008 Martine Aubry, die sich in einem Mitgliederentscheid gegen Royal durchsetzte. Die ehema­ lige Arbeitsministerin vertrat ein betont sozialistisches Programm. Seither geht ein tiefer Riss durch die Partei. Während die Traditionalisten am Bekenntnis zu klassischen sozialistischen Werten wie Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit fest­ halten und sämtliche linken Kräfte bündeln wollen, verlangen die Modernisie­ rer ein sozialdemokratisches Profil sowie eine Absage an die in den 70er Jahren noch erfolgreichen, mittlerweile jedoch überlebten Linksbündnisse. Nach Auffas­ sung der letzteren muss die Partei nicht nur ihre Strukturen modernisieren, son­ dern sich auch programmatisch den Herausforderungen der globalisierten Wirt­ schaftswelt stellen. Im Kampf um die Präsidentschaftskandidatur für 2012 setzte sich im Oktober 2011 in einer Urabstimmung schließlich François Hollande gegen seine Nachfol­ gerin im Amt des Parteivorsitzenden, Martine Aubry, durch. Mit einem gemäßig­ ten Programm warb er erfolgreich nicht nur um linke Sympathisanten, sondern ebenfalls um die von der Politik des amtierenden Staatspräsidenten Enttäusch­ ten. Auch bei den Parlamentswahlen verzeichnete die PS einen Erfolg: 296 Abge­ ordnete zogen für die Parti Socialiste ins Palais Bourbon. Diese Erfolge dämpften den innerparteilichen Streit. Die Konkurrenz der Flügel um Kursdebatten trat in den Hintergrund. Hollandes Sieg beruhte auf der heftigen Kritik an Sarkozys Sparpolitik, die durch das ausufernde Haushaltsdefizit und damit das Verfehlen der MaastrichtKriterien bedingt war. Als Alternative empfahl er – wie schon sein sozialistischer Vorgänger im Jahr 1981 – ein Wachstums- und Beschäftigungsprogramm durch vermehrte Staatsausgaben, höhere Steuern auf Vermögen und Unternehmensge­ winne sowie vermehrte Einstellungen im Staatsdienst. Die von seinem Vorgän­ ger eingeleitete Reduzierung der öffentlich Beschäftigten – 2013 war jeder vierte Arbeitnehmer im Staatsdienst tätig – wurde ebenso gestoppt und das Rentenein­ trittsalters von 60 auf 62 Jahre für langfristig Beschäftigte zurückgenommen.22 Gleichzeitig sollte das Haushaltsdefizit reduziert und die im Maastricht-Vertrag vereinbarte Höchstgrenze von drei Prozent erreicht werden. Vor dem Hintergrund weiter ansteigender Arbeitslosenzahlen und weiterer Staatsverschuldung sowie einer pessimistischen » Stimmung « unter den Unternehmern blieb Hollande und seiner Regierung nichts anderes übrig, als die Unternehmen letztlich von Steuern und Abgaben zu entlasten. Als Folge lebte die Kritik innerhalb der Sozialistischen Partei wieder auf, und es kam zu dramatischen Verlusten bei den Europa-, Kom­ munal- und Departementratswahlen. Auch die 2011 erstmals gewonnene Senats­ mehrheit ging im September 2014 verloren. Der linke Flügel stellte sich offen ge­

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gen die von Premierminister Ayrault und seinem Nachfolger verfolgte Politik zur Sanierung der Staatsfinanzen. Nur mit größter Mühe und unter Zuhilfenahme des Verfassungsartikels 49, Absatz 3 gelang es Manuel Valls, die Frondeure zur Frak­ tionsdisziplin zu zwingen. Der insbesondere von Bundeskanzlerin Angela Merkel durchgesetzte Kurs zur Stabilisierung des Euro wurde vom linken Flügel der PS, aber auch vom Parteivorsitzenden Cambadélis heftig kritisiert. Nahezu alle Par­ teiflügel forderten ein Ende der Sparpolitik zugunsten stärkerer staatlicher In­ vestitionsprogramme – Forderungen, denen sich weder der Staatschef noch sein Pre­mier entgegenstellten. Bei einem weiteren Ausbleiben der wirtschaftlichen Er­ holung und des Rückgangs der Arbeitslosenzahlen ist sich die Parteiführung der Gefahr einer Spaltung der Partei bewusst. Es wäre nicht die erste. Schon 1992 verließ der Vertreter des marxistischen Par­ teiflügels, Jean-Pierre Chevènement, wegen der militärischen Unterstützung der USA im ersten Golfkrieg die Partei und gründete seine eigene (Kleinst-)» Bewe­ gung «. Bedeutsamer war ein Bruch, den Jean-Luc Mélenchon im Jahr 2008 we­ gen der vermeintlich » sozial-liberalen Entgleisung « seiner (Ex-)Partei vollzog. Er gründete die Parti de Gauche, kandidierte 2012 bei den Präsidentschaftswahlen und erzielte mit 11,1 Prozent mehr als nur einen Achtungserfolg. Seine Partei ver­ steht sich als » Auffang- bzw. Sammelbecken « enttäuschter PS-Sympathisanten. Für ihn ist die Partei zur politischen Mitte hin abgedriftet. Ihm steht die Schaffung einer Front linker Kräfte vor Augen. Der Staatschef sah sich im September 2014 genötigt, seine Parteifreunde darauf hinzuweisen, er brauche » eine geschlossene Partei «. Sein Regierungschef lehnte einen Aufschub der Reformen ab, denn » Frankreich kann nicht länger dringen­ de Reformen verschieben «.23 Genau dies verlangten aber Vertreter des betont so­ zialistischen Flügels, unter ihnen drei ehemalige Minister.24 Sie drohten mit der Gründung einer neuen linken Partei. Auf dem Parteitag in Poitiers im Juni 2015 wurden die innerparteilichen Gegen­ sätze vor allem mit heftiger Polemik gegen » Brüssel « und die europäische Rech­ te, insbesondere gegen die CDU/CSU und Bundeskanzlerin Merkel übertüncht. Das Pamphlet des Vorsitzenden der Nationalversammlung, Claude Barto­lone, ge­ gen das vermeintlich deutsche Europa fand sogar die Billigung des Premierminis­ ters. Valls forderte, das europäische Projekt neu zu definieren, ohne allerdings auf Einzelheiten einzugehen. Der Riss, der drei Jahr nach dem Machtwechsel durch die Regierungspartei geht, ließ sich mit solchen von den Delegierten begeistert aufgenommenen Erklärungen nicht kitten. Sozialistische Kapitalismus- und Li­ beralismusgegner stehen unverändert den pragmatisch orientierten Sozialdemo­ kraten gegenüber. Parteichef Jean-Christophe Cambadélis hob in einem Zeitungs­ interview hervor, » wir sind Sozialdemokraten à la française, also Republikaner und Anhänger eines dezentralisierten Sozialstaates. […] Der Sozialliberalismus

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gehört weder zu unserem Vokabular noch zu unserer Tradition. […] Die Linke [in Frankreich] besaß immer zwei Kulturen: eine Reform- und eine Protestkultur. Beide müssen miteinander kommunizieren, nicht gegeneinander arbeiten; falls nicht, werden wir alle marginalisiert. «25

10.3.2 Organisationsstruktur Die Basiseinheit der PS ist die Sektion. Sie umfasst einen geographischen oder ad­ ministrativen Bereich wie ein Stadtviertel oder eine Gemeinde, es kann sich aber auch um einen Betrieb handeln. Die Sektionen eines Departements bilden eine Föderation. Die Delegierten der Föderationen bilden den Parteitag, das oberste Organ der Partei, das alle drei Jahre tagt. Die je nach der Zahl der Parteimitglie­ der unterschiedlich starken Delegationen müssen nach dem Grundsatz des Pro­ porzes ausgewählt werden, das heißt, auch Minderheiten stellen Delegierte. Die regionalen Parteimitglieder stimmen über unterschiedliche Programmanträge (so genannte Motions) ab, die von den verschiedenen innerparteilichen Strömungen vorgelegt werden. Die auf die einzelnen Anträge entfallenden Voten bestimmen proportional die Zusammensetzung der Parteitagsdelegationen. Allerdings wer­ den hierbei nur Motions berücksichtigt, die mindestens fünf Prozent der Stim­ men erzielten. Der Parteitag wählt nach dem Proporzverfahren zwei Drittel der 306 Mitglieder des Nationalrates (Conseil National). Dieser ist als kleiner Partei­ tag das höchste Entscheidungsgremium zwischen den Parteitagen. Das restliche Drittel besteht aus den 102 von den Mitgliedern auf Departementsebene direkt be­ stellten Föderationssekretären. Der Conseil National bestellt auch wiederum nach dem Proporz die 55 Mitglieder des Parteibüros (Bureau National), dem die Ver­ waltung und Leitung der Partei anvertraut ist. Folglich sind in dieser » Regierung « der PS die einzelnen Parteiflügel anteilsmäßig vertreten. Der Parteivorsitzende, der » Erste Sekretär der Partei «, wird für drei Jahre per Urwahl durch die Partei­ mitglieder bestimmt (Artikel 7. 14 der Statuten). Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen von 2012 ging die Partei noch einen Schritt weiter: Wurde François Mitterrand 1981 und 1988 – ohne Gegenkandidat – von den Parteimitgliedern nominiert, wurden die nachfolgenden Bewerber für das höchste Staatsamt zunächst durch » geschlossene « Vorwahlen bestellt, für die Wahl im Jahr 2012 durch » offene « Primaries: Wähler konnten sich, sofern sie sich zum Sozialismus bekannten (eine reine Formalität) am Auswahlprozess beteiligen. Letztlich handelte es sich auch bei diesem Auswahlverfahren um den Abschluss eines Präsidentialisierungs-Prozesses in der PS, der das Institutionensystem der V. Republik widerspiegelt.26 Das Machtzentrum der Partei ist nach wie vor das Nationale Sekretariat (Se­

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Schaubild 4  Wahlergebnisse (abgerundete Werte in %) 1958 bis 2012 – jeweils erster Wahlgang, außer 1986

Quelle: 1958 – 1981: Alain Lancelot: Les élections sous la Ve République, Paris 1983; 1986: Dupoirier/Grundberg (Hrsg.); 1988: Frankreich-Jahrbuch 1988; 1993: Le Monde, Dossiers et Documents, 1993 ; für die folgenden Wahlgänge: eigene Berechnungen

crétariat National) unter Vorsitz des Ersten Sekretärs. Auf dessen Vorschlag wer­ den seine Mitglieder nach dem Mehrheitswahlrecht rekrutiert. Faktisch kann der Erste Sekretär seine Führungsmannschaft, die Secrétaires nationaux, selbst zu­ sammenstellen, meist Angehörige seiner Richtung; aus taktischen Gründen wer­ den üblicherweise Koalitionen mit anderen Strömungen gebildet. Für den Willensbildungsprozess in der PS sind diese Strömungen, die sich aus dem Zusammenschluss verschiedener Gruppierungen zur Parti Socialiste 1971 er­ klären, sehr bedeutsam. Es handelt sich um selbständige Gruppierungen mit eige­ nem Programm und eigener Organisation. In der Regel gruppieren sie sich um eine Führungspersönlichkeit. Es geht ihnen darum, innerparteiliche Macht zu er­ ringen, um ihre Vorstellungen möglichst zu realisieren und an der Parteiführung beteiligt zu werden. Je stärker also eine Strömung bzw. je geschlossener ihre Mit­ glieder an der Basis für ihren » Chef « stimmen, desto stärker ist sie dank des Pro­ porzsystems in den Parteigremien vertreten.27 Dominierte von 1971 bis Anfang der 90er Jahre der Mitterrand-Flügel, lösten sich in den Folgejahren die » Anführer « diverser Strömungen ab, bis Lionel Jospin (erneut Vorsitzender von 1995 bis 1997 und anschließend Premierminister) und seinem Nachfolger François Hollande (Erster Sekretär von 1997 bis 2008) eine oberflächliche Befriedung gelang. Seitdem Hollande als Staatspräsident amtiert, ist seine (ehemalige) Strömung wie schon zu Zeiten seines sozialistischen Vorgängers in der PS dominant. Staats­

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präsident und Regierungschef können sich auf den seit Herbst 2014 amtierenden Parteichef Jean-Christophe Cambadélis stützen. Sein gemäßigter Programment­ wurf (» Motion «) wurde im Juni 2015 im Vorfeld des Kongresses in Poitiers von 60  Prozent der abstimmenden Parteimitglieder gebilligt. Der vom Vertreter der Parteilinken, Christian Paul, vorlegte Entwurf » A gauche, pour gagner ! « wurde lediglich von 29 Prozent der Abstimmenden unterstützt. Die potentiellen Bewerber um das höchste Staatsamt, die » Présidentiables «, waren in der post-mitterrandistischen Ära bzw. sind im Vorfeld der Präsident­ schaftswahlen 2017 wie vor dem Hintergrund der schlechten Umfragewerte des Amtsinhabers hauptverantwortlich für die Zerrissenheit der Partei. Der » Linksblock « gruppierte sich um die Vertreter der Parteilinken wie die mittlerweile zurückgetretenen drei Minister und die ehemalige Parteivorsitzen­ de Martine Aubry. Beklagt wurde und wird ein » Zuwenig an Sozialismus «. Hinzu trat eine heftige Kritik am Neoliberalismus und ein klares Nein zur europä­ischen Verfassung.28 Unverändert ist die Partei seit dem Sieg der Verfassungsgegner beim EU-Refe­ rendum im Jahr 2005 gespalten. Diese Spaltung konnte auch auf den späteren Par­ teitagen nicht übertüncht werden. Die Vertragsgegner hatten sich seinerzeit trotz des positiven Votums der Parteimitglieder gegen den Text ausgesprochen. Wäh­ rend sich im Juni 2015 auf dem Parteitag in Poitiers die Modernisierer für eine Stärkung der Europäischen Union mit einer Vertiefung sozialer Komponenten und für eine Transferunion zu Gunsten der hoch verschuldeten Südländer aus­ sprachen, kritisierte der linke Flügel insbesondere die Stabilitätskriterien für eine stabile gemeinsame Währung. Er forderte die Lockerung der Maastricht-Verein­ barungen. Eine klärende Debatte zwischen beiden Strömungen bzw. Flügeln fand nicht statt.

10.3.3 Ideologie und Programmatik In dem im Juni 2015 mit breiter Mehrheit verabschiedeten Leitantrag (Motion A » Le Renouveau socialiste «) der Mehrheitsströmung um den Parteichef Camba­ délis bekennt sich die Sozialistische Partei zur Sozialdemokratie. » Weder libe­ ral noch konservativ, liegt die Zukunft des Sozialismus in einer wiedergegründe­ ten Sozialdemokratie, […] die auf einem Kompromiss zwischen Staat und Markt gründet. « Schon an anderer Stelle hatte der Leitantrag betont, die Partei müsse die PS der Gründerjahre » überholen «, da diese » erschöpft « sei.29 Mit diesem klaren Bekenntnis zu einer Sozialdemokratie à la française, moch­ te es auch vom linken Parteiflügel kritisiert werden, hat sich die Partei vom lange dominierenden sozialistischen Selbstbild gelöst.

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Bis dahin hatte sich die Partei am 1972 verabschiedeten Parteiprogramm » Chan­ ger la Vie « bzw. an seiner Fortschreibung durch das » Projet Socialiste « orien­ tiert. Es handelte sich um eine mit generalisierenden Formeln umschriebene Vi­ sion einer sozialistischen Gesellschaft. Das Programm sprach sich für den Bruch mit dem Kapitalismus sowie für eine weitgehende Demokratisierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft auf dem Wege einer Selbstverwaltung (» autogestion «) aus.30 In seinem Wahlprogramm » 110 Vorschläge « griff Mitterrand stark auf die­ ses Programm zurück. In seinen ersten beiden Regierungsjahren wurde mit einer Reihe von Maßnahmen versucht, auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet den » Bruch mit dem Kapitalismus « zu vollziehen. Allerdings ging anschließend kein Weg an den Zwängen der Realpolitik vor­ bei, die zahlreiche Sympathisanten von der PS entfremdete.31 1988 verabschiedete die Mehrheit der Delegierten ein Programm gemäßigter Reformen, das ein neues » Gleichgewicht zwischen staatlicher Regulierungsfunktion und der Wirksamkeit der Marktmechanismen « anstrebte32. Im Dezember 1991 beschlossen die Sozialisten endgültig, das marxistische Pro­ gramm ad acta zu legen.33 Das neue Programm » Ein neuer Horizont für Frank­ reich und den Sozialismus « charakterisierte die Partei nur noch als eine der » ge­ mischtwirtschaftlichen Gesellschaft « verpflichtete Sammlungspartei. Stark von der Handschrift des ehemaligen Premierministers Rocard geprägt und um einige ökologische Aspekte bereichert, legte das Programm von 1991 ein Bekenntnis zu einer » gemischten Wirtschaftsform « vor. Diese müsse sich vor allem auf die private Initiative, auf Solidarität und die Verantwortung des einzelnen stützen. Der » neue « Sozialismus bekannte sich zu traditionellen Werten wie Gleichheit, Gerechtigkeit, Toleranz und Solidarität. Weiterhin sollte der Staat zu Gunsten der Minderbemittelten seine Funktion als Umverteiler bewahren, ohne aber Gleichmacherei zu betreiben oder das Privat­ eigentum zu bekämpfen. Nicht zu Unrecht erhielt dieses Programm das Prädikat » Bad Godesberg der PS «. Es setzte einen Schlusspunkt in einer Entwicklung, die in der Regierungszeit der ersten Linkskabinette begonnen hatte.34 Diese Programmaussagen prägten teilweise sowohl Lionel Jospins keynesia­ nisch geprägtes Wahlmanifest » Propositions pour la France «35 als auch François Hollandes Wahlplattform. Der Präsidentschaftskandidat versprach, den » franzö­ sischen Traum von sozialer Gerechtigkeit wiederzubeleben «, indem er nichts unversucht lasse, der Jugend Frankreichs neue Perspektiven zu eröffnen. Sein Wahlprogramm » 60 Engagements pour la France « plädierte für eine angebots­ orientierte Wirtschafts- und Fiskalpolitik. Beschäftigungsprogramme für jugend­ liche Arbeitslose, Förderhilfen für kleine und mittlere Unternehmen sowie die Einstellung von 60 000 Lehrkräften zur Verbesserung des desolaten Bildungs­ systems sollten durch höhere Steuern für Gutverdienende und Unternehmen fi­

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nanziert werden. » Gleichheit « und » Gerechtigkeit « in Frankreich, so sein Appell, müssten wieder herrschen.36 Der 2015 in Poitiers auf dem Parteitag verabschiedete Leitantrag griff diese Wahlagenda nahtlos auf und betonte die Forderung » der Sozialdemokratie, durch einen Kompromiss zwischen Staat und Markt einen Wohlfahrtsstaat zu errichten «. Hinsichtlich der Europapolitik übernahm der Leitantrag der Mehrheit Hollandes 2012 bereits aufgelistete Positionen, allen voran die Ausgabe von Eurobonds, die Schaffung einer europäischen Wirtschaftsregierung und die Entschuldung der südeuropäischen Staaten. Letztlich handelte es sich um eine Kompromissformel, die den Riss innerhalb der PS über die mit Einführung des Euro beschlossenen Stabilitätskriterien überdecken sollte. Deutlich germanophobe Beiträge waren auch in Poitiers nicht zu überhören. Die Gemäßigten und die Modernisierer in der PS haben sich mit den Pro­ grammaussagen seit 2012 durchgesetzt. Ungeachtet dessen verfügt aber der tradi­ tionalistische Flügel bzw. der Linksblock über parteiinternen Rückhalt. Die Nie­ derlagen bei allen Nebenwahlen seit Hollandes Amtsantritt führen die Vertreter eines » klassischen « Sozialismus auf eine zu starke Sparpolitik der Linksregie­ rung  zurück. Es gelte, den sozialistischen Werten wieder mehr Geltung zu ver­ schaffen.

10.3.4 Sozialstruktur der Mitglieder und Wähler Im Vergleich zu den Zahlen der frühen 1980er Jahre, als die PS mit fast 180 000 Mitgliedern ihren Höhepunkt erreicht hatte, waren es im Jahre 2015 fast ein Drit­ tel weniger. Die Zusammensetzung der Mitglieder hat sich seit dem Gründungs­ kongress von 1971 in Richtung einer Verbürgerlichung verändert, wozu nicht un­ übersehbar ein Anstieg der » Alterspyramide « beigetragen hat. Die adhérents über 50 Jahre dominierten im Jahr 2011 mit 61 Prozent; die Anzahl der über Sechzigjäh­ rigen verdoppelte sich sogar zwischen 1985 und 2011 von 21 auf 38 Prozent.37 Auch junge » Aktivisten « unter 30 Jahre haben sich zwar im Untersuchungs­ zeitraum von 1985 bis 2011 fast verdoppelt, bleiben aber mit lediglich 10 Prozent schwach vertreten. Das Gleiche gilt für die Alterskohorte der 30- bis 39-Jährigen, deren Anteil sich in diesem Zeitraum halbiert hat (von 26 auf 13 Prozent). Auch der Anteil der weiblichen Mitglieder ist mit 30 Prozent bescheiden. Die Berufsstruktur der PS-Mitglieder im Jahr 2011 belegt den Verbürger­ lichungsprozess. Aus einer » Partei der Volksschullehrer « wurde diejenige der » Gymnasiallehrer und Professoren «, so dass die Berufe der » Education nationa­ le « mit 18 Prozent überproportional in der Mitgliedschaft vertreten sind. Anderer­ seits ist es der Partei auch gelungen, Angehörige der neuen sozialen Mittelschicht

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zu gewinnen. So betrug der Anteil der leitenden Angestellten 18 Prozent und der­ jenige in Dienstleistungsberufen 38 Prozent. Hinzu kommt, dass knapp die Hälfte aller Mitglieder nach den Erfolgen bei Nebenwahlen seit 2000 Mandatsträger sind oder in den Territorialverwaltungen arbeiten. » Die PS ist ungebrochen eine Partei von Regional- und Kommunalpoli­ tikern geblieben. Es ist ihr nicht gelungen, ihre Mitgliederbasis zu verbreitern. «38 Schon früher hatten » diese Zahlen die Verzerrung zwischen der Wahrneh­ mung der sozialen Realitäten und den Programmaussagen, die nicht immer mit den Bedürfnissen der Bürger übereinstimmen «, dokumentiert, so der Politikwis­ senschaftler Bouvet zu den Problemen seiner Partei, sich zwischen Reformismus und Wahlallianzen mit der extremen Linken zu entscheiden.39 Befragt wurden die Mitglieder auch zur Sozialdemokratisierung ihrer Partei: 76 Prozent begrüßten diese Hinwendung, nur ein knappes Drittel bekannte sich zum Marxismus. Uneingeschränkt abgelehnt wurde der wirtschaftliche Liberalis­ mus, und 40 Prozent sahen in der Globalisierung eine » Gefahr «. Mitgliederhochburgen sind nach wie vor die Departements Pas-de-Calais, Nord und Bouches-du-Rhône mit zwischen 8 000 und 11 000 Parteimitgliedern. Hinzugekommen ist die Hauptstadt, in der seit dem Amtswechsel im Rathaus im Jahr 2001 verstärkt jüngere Personen mit guter Ausbildung und entsprechenden Verdiensten der Partei beigetreten sind. Im Windschatten von François Mitterrands Wahlsieg 1981 wurde die PS erst­ mals mit 37,8 Prozent der Stimmen stärkste Partei. Schon vorher war es der » Partei von Epinay « gelungen, ihren Stimmenanteil kontinuierlich zu erhöhen. Allerdings vermochte sie dieses hohe, durch Mitterrands Siege bei Präsident­ schaftswahlen gefördertes Ergebnis in der Folgezeit nicht zu wiederholen. Zwi­ schen den Parlamentswahlen von 1981 und denjenigen vom Juni 2012 schwankten die Wahlergebnisse zwischen Spitzenwerten und hohen Verlusten (siehe Schau­ bild 4, Seite 181). Diese stellen sich meist nach Enttäuschungen über die Politik der Linksregierungen (so u. a. im Jahr 2002) oder aufgrund verschiedener Skan­ dale ein, in die führende Regierungs- und Parteivertreter verwickelt waren etwa Anfang der neunziger Jahre. Nach wie vor ist die PS trotz der Debakel bei den Kommunal-, den Departe­ ment- und Regionalratswahlen 2014 und 2015 auf lokaler Ebene noch relativ stark verankert. Wegen der Wirtschaftskrise und der ungebrochen hohen Arbeitslo­ sigkeit seit Hollandes Amtsantritt verlor die Partei im Frühjahr 2014 151 Städte mit über 10 000 Einwohnern. Nunmehr » regiert « sie noch 210 Gemeinden die­ ser Größenordnung. Von Großstädten mit über 100 000 Bewohnern – insgesamt 39 landesweit – verlor sie 13, darunter das einst » rote « Toulouse, Reims, Grenoble und Saint-Etienne. Paris, Straßburg und Lyon sind nach wie vor eine solide loka­ le Basis für die PS. Aber die Partei büßte mit den genannten Verlusten zahlreiche

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» Pfründe « ein, die ihr einst durch die Vergabe von Arbeitsmöglichkeiten gute Re­ krutierungschancen eröffneten. Nach den Wahlen zu den Departementräten in Frühjahr 2015 verloren die So­ zialisten gemeinsam mit ihren Verbündeten fast die Hälfte der bislang von der Linken » regierten « Departements. Nur noch 33 blieben der PS. Auch bei den Re­ gionalratswahlen im Dezember 2015 konnte sich die Partei nur mit Mühe in fünf der 13 Großregionen behaupten. Ein weiterer bedeutsamer Schwachpunkt ist die fehlende Verankerung der PS im Gewerkschaftsmilieu. Seit der so genannten Charta von Amiens von 1906 gibt es keine formalisierten Beziehungen zwischen der Sozialistischen Partei und der Gewerkschaftsbewegung mehr. Die Gewerkschaften lehnen mit Ausnahme des kommunistischen Flügels jegliche Anlehnung an eine politische Partei ab. Zwar bestehen indirekte Kontakte vor allem zur Confédération Française Démocra­ tique du Travail (CFDT). Ein Gewerkschaftsflügel innerhalb der PS existiert aber nicht. Nur 24 Prozent der Mitglieder gehörten der sozialdemokratisch orientier­ ten CFDT an. Bei der einstigen kommunistisch, nun sozialistisch orientierten CGT waren es 20 Prozent. Auch zu anderen Vereinen – abgesehen vom Erziehungswesen (Elternvereini­ gungen) – gibt es keine starken Bindungen, die der PS Mitglieder zuführen könn­ ten. Folglich war und ist die PS trotz aller Versuche, ihr » Mitgliedermilieu « aus­ zuweiten, vor allem eine Wählerpartei geblieben. Hinsichtlich der Wählerstruktur war es der PS gelungen, den Transformations­ prozess, den die französische Gesellschaft seit Anfang der siebziger Jahre durch­ laufen hat, erfolgreich aufzufangen. Zum einen hatte sich die Wählerschaft der PS seit 1981 stark feminisiert. Auch eine Verjüngung erfolgte. Bei den Parlaments­ wahlen am 10. Juni 2012 stimmten 34 Prozent der Wählerinnen und 36 Prozent der Wähler für Kandidaten der PS. Bezüglich der Alterskohorten lässt sich festhalten, dass jüngere Stimmberechtigte sich für sozialistische Bewerber entschieden (so 32 Prozent der 18 bis 24-jährigen und 36 Prozent der 25 bis 34-jährigen). Dagegen votierten nur 33 Prozent der über 60-jährigen für PS-Kandidaten. Ähnliche Resul­ tate erbrachten Analysen zur Präsidentenwahl. Unverändert war und ist die PS die Partei der Lohnabhängigen. Seit Mitterrands erstem Septennat gelang es ihr besonders, Arbeiter und einfache Angestell­ te anzusprechen – in Jahr 2012 beispielsweise 31 Prozent der Arbeiter und einfa­ chen Angestellten. Allerdings verschoben sich die Gewichte hin zu Angestellten der gehobenen Kategorien: 40 Prozent der höheren Kader und gleichfalls 40 Pro­ zent der gehobenen Dienstleistungsberufe entschieden sich für die PS. Aber auch bei Selbständigen und Leitern von Unternehmen wurde sie 2012 von einem Drit­ tel gewählt. Gutausgebildete Schulabgänger und Hochschulabsolventen votierten zu 33 bzw. 39 Prozent für sozialistische Kandidaten.40

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Seit Mitterrands Amtszeit bilden die gehobenen Mittelschichten den stabils­ ten Teil der PS-Wählerschaft, während die unteren Schichten eher zur Kategorie der Wechselwähler zu rechnen sind. Im Jahr 2012 entschieden sich beide klar für den sozialistischen Präsidentschaftsbewerber und wenige Wochen später für » sei­ ne « linken Kandidaten. Bei den meisten Wahlgängen seit Ende der 1970er Jah­ re ist es gelungen, » eine Synthese zwischen den sozialgehobenen Wählerschich­ ten und Arbeitern zu bilden «.41 Diese Tatsache sowie die starke Verankerung der PS-Wählerschaft im öffentlichen Dienst erklären Mitterrands, aber auch Hollandes Wahlerfolge.

10.4 Parti Radical de Gauche (PRG) Ein treuer Verbündeter der Sozialisten ist das im Herbst 1972 aus einer Abspaltung von Frankreichs ältester Partei, den Radikalsozialisten, hervorgegangene Mouve­ ment des Radicaux de Gauche (MRG), das sich im August 1996 in Parti Radical de Gauche umbenannt hat. Diese linksliberale Partei schließt seither bei allen lo­ kalen und nationalen Wahlen Bündnisse mit der PS, was ihr eine bescheidene Re­ präsentanz in den diversen Parlamenten verschaffte. Im Parlament war sie nach den Parlamentswahlen im Jahre 2012 mit 13 Abgeordneten und mit acht Senato­ ren vertreten. Ohne die Allianz mit dem starken sozialistischen Partner wäre der (linke) Radikalsozialismus wegen des Mehrheitswahlsystems wohl kaum noch im Abgeordnetenhaus vertreten. Seine wenigen » Wählerhochburgen « liegen in den traditionellen radikalsozialistischen, stark laizistisch orientierten Gebieten des Südwestens und auf Korsika. In allen Linksregierungen war die PRG mit einem oder zwei Ministern vertre­ ten. Auch unter ihrem gegenwärtigen Vorsitzenden Jean-Michel Baylet (Inhaber der Tageszeitung Dépêche du Midi) ist und bleibt die PRG ein » Satellit « der So­ zialistischen Partei.

10.5 Die Parti Communiste Français 10.5.1 Entwicklungstendenzen Bei den Präsidentschaftswahlen 2007 erhielt die Kandidatin der Kommunistischen Partei Frankreichs, Marie-George Buffet, lediglich 1,9 Prozent der Stimmen. Bei den Parlamentswahlen kurz darauf erreichte die PCF zwar 4,3 Prozent – aber dies war ihr schlechtestes Ergebnis seit dem bald 100 Jahre zurückliegenden » Spal­ tungskongress « (1920). Mit diesen Resultaten sank die einstmals größte franzö­

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sische Partei, die 1946 auf 28,3 Prozent der Wählerstimmen gekommen war, ge­ radezu auf den Rang einer Randpartei herab (siehe Schaubild 6 Seite 234). Zur Bildung einer eigenen Parlamentsfraktion fehlten ihr im Jahr 2007 mit 15 Abgeord­ neten die erforderlichen 20 Mandate. Vor dem Hintergrund dieser Abwärtsspirale entschloss sich das Parteipräsidium, für die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2012 keinen eigenen Kandidaten zu nominieren. Es empfahl den Parteimitgliedern das Votum für den Vorsitzenden der 2008 gegründeten Parti de Gauche, Jean-Luc Mélenchon, als gemeinsamen Kandidaten. 59 Prozent der an einer Urabstimmung teilnehmenden PCF-Mitglieder befürworteten diese » Allianz der Verzweiflung « und die gemeinsame Front de Gauche. Eingezwängt zwischen den Sozialisten und der extremen Linken sah sich die Partei vor zwei Alternativen: Entweder sich der Parti Socialiste anzunähern, wie es der ehemalige Parteichef Robert Hue empfahl oder sich mit anderen linken Gruppierungen, die eine strikt antiliberale Wirt­ schaftspolitik vertraten sowie den Europäischen Verfassungsvertrag abgelehnt hatten, zu verbünden. Die letztere Strategie forderten Hues Nachfolgerin Buffet und auch der seit 2010 amtierende Parteichef Pierre Laurent. Mögliche innerpar­ teilichen Auseinandersetzungen zwischen Modernisierern und Vertretern des or­ thodox-kommunistischen Kurses hoffte die Parteiführung mit der Urwahl des ge­ meinsamen Kandidaten zu neutralisieren. Ziel von Mélenchons Front de Gauche ist es, sämtliche dieser neoliberalen Wirtschaftspolitik feindlichen politischen Kräfte in der EU zu bündeln und den Wählern eine Alternative zur sozialdemokratisierten Sozialistischen Partei anzu­ bieten. Am 22. April 2012 erzielte dieser mit 11,1 Prozent der Stimmen einen Ach­ tungserfolg. Dieser war allerdings weniger der Unterstützung durch PCF-Sympa­ thisanten als den vielen von der Politik der PS Enttäuschten geschuldet. Bei den Parlamentswahlen im Juni 2012 verflüchtigte sich dieser bescheidene Erfolg. Die Kandidaten der Front de Gauche erhielten im ersten Wahlgang lediglich knapp sieben Prozent der Stimmen und sind – dank punktueller Wahlhilfe durch die PS – mit zehn Abgeordneten im Palais Bourbon vertreten. Nur mit Hilfe weiterer Linkssozialisten konnte die Front de Gauche eine eigene Parlamentsfraktion bil­ den. Auch bei den Nebenwahlen blieb die PCF bzw. die Front de Gauche weitge­ hend marginalisiert. Noch Anfang der 1970er Jahre, beim Abschluss des Gemeinsamen Regierungs­ programms, schien sich der PCF die Möglichkeit zu eröffnen, durch Wahlen eine Beteiligung an die Macht zu erlangen. Anschließend musste sie jedoch erkennen, dass die Wähler zwar zunehmend die Linksunion guthießen, aber der PCF den Rücken kehrten und statt ihrer die PS wählten. 1978 überrundete die PS erstmals die PCF. Die PCF verlor später sogar den Status einer Hauptpartei. Welche Gründe hat dieser Niedergang ?

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■■ Der Aufkündigung des Linksbündnisses im Jahre 1977 und die anschließende Kampagne gegen die Sozialisten kosteten der PCF die Sympathien. Um weitere Verluste zu verhindern, entschloss sich die Parteiführung, 1981 mit vier Minis­ tern in die Regierung Mauroy einzutreten. Dies hatte zur Folge, dass sie durch das Mitverantworten verschiedener Sparmaßnahmen ihre Rolle als » Volkstri­ bun «, als Anwalt der kleinen Leute rasch verlor. Auch der Austritt aus der Re­ gierung drei Jahre später und anschließende heftige Angriffe gegen das Kabi­ nett Fabius änderten nichts an dem Dilemma. ■■ Der Wandel der französischen Gesellschaft seit den frühen siebziger Jahren ist ein weiterer Faktor für den wahlpolitischen Niedergang der PCF. Durch den Strukturwandel schrumpfte das klassische Arbeitermilieu in der französischen Industrie, insbesondere in der Montanindustrie. So halbierte sich zwischen 1962 und 1984 beispielsweise die Zahl der in der Schwerindustrie Beschäftigten. Diese Entwicklung trug wesentlich zu den dramatischen Verlusten in der tradi­ tionellen PCF-Wählerschaft bei. Mit ihren antiquierten klassenkämpferischen Parolen fand die PCF kaum Zugang zu den Beschäftigten im Tertiärbereich. ■■ Die überalterte Parteiführung unter Generalsekretär Georges Marchais war weder willens noch fähig, sich auf die veränderten Verhältnisse einzustellen. Eine überholte Programmatik, ein veraltetes Vokabular und die sterile Mono­ tonie der innerparteilichen Diskussion, aber auch die Folge des so genannten Solschenizyn-Schocks Anfang der siebziger Jahre stießen Intellektuelle, Künst­ ler und vor allem jüngere Wähler zunehmend ab. Als einst Moskaus treuester Vasall in Westeuropa hatte sich die PCF nie richtig entstalinisiert.42 ■■ Das Auftreten des rechtsextremen Front National führte in einigen Regionen mit hohem Ausländeranteil und gleichzeitig überproportionaler Arbeitslosig­ keit zu weiteren Wählerverlusten, da die PCF dort nicht mehr ihre Rolle als » Volkstribun « glaubhaft vertreten konnte. Zunehmend überrundete der Front National die PCF als » Vertreter « der Arbeiterschaft. So votierten 2002 24 Pro­ zent der Arbeiter für Jean-Marie Le Pen; zehn Jahre später entschieden sich so­ gar 33 Prozent dieser Wählergruppe für seine Tochter Marine. ■■ Nicht minder gefährlich für die PCF war die zunehmende Attraktivität links­ extremer Parteien und Kandidaten.43 So überrundeten bei den Präsident­ schaftswahlen 2007 der trotzkistische Kandidat André Besancenot die Bewer­ berin der PCF mit 4,08 Prozent. Schien sich die Partei in den 1970er Jahren von ihrem bisherigen orthodoxen Kurs abzuwenden und in der Phase der Zusammenarbeit der Linksparteien eine be­ merkenswerte innerparteiliche Liberalisierung sowie eine programmatische Er­ neuerung einzuleiten, kam es in den 1980er Jahren erneut zu einer ideologischen Verhärtung.

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Nach den verheerenden Wahlniederlagen in den 80er und 90er Jahren setz­ te – nach Marchais’ Abgang im Jahr 1994 – eine Strategiedebatte ein. Sie war mit dem Namen des neuen, bis 2001 amtierenden Nationalsekretärs Robert Hue ver­ bunden. Dieser strebte eine neue Sprachterminologie an z. B. mittels Umbenen­ nung des » Politbüros « in » Nationalbüro « und die Abschaffung des » demokrati­ schen Zentralismus « als Organisationsprinzip. Auch setzte er sich für die erneute Zusammenarbeit mit den übrigen Linksparteien, besonders mit der PS, ein.44 Ge­ gen den Widerstand des orthodoxen Flügels (s. u.) entschied sich bei einer Be­ fragung eine klare Mehrheit der Mitglieder für eine Regierungsbeteiligung, so dass die PCF, nunmehr ganz im Zeichen eines neuen Pragmatismus, im Früh­ jahr 1997 mit drei Kabinettsmitgliedern in die Regierung der » Gauche plurielle « eintrat. Das Scheitern der Linksregierung sowie des eigenen Präsidentschaftskandida­ ten bei den Wahlen im Frühjahr 2002 ließ die erbitterten Auseinandersetzungen über den » richtigen Weg « wieder aufleben. Während Robert Hue sich im April 2003 aus den Parteigremien zurückzog und seine Nachfolgerin » nach vier Tagen chaotischer Debatte « (Le Monde) schließlich ihre Strategie einer pragmatischen Kooperation mit den Sozialisten – bei strikter Ablehnung jeder Art von Fusion – durchsetzte, lehnte der orthodoxe Flügel diese Politik ab. In den Augen dieser » hardliner « – meist Anhänger des seit 1970 amtierenden und 1997 verstorbenen Georges Marchais – konnten nur die Rückbesinnung auf die revolutionäre Tradi­ tion, die Verweigerung von Wahlallianzen sowie ein klassenkämpferisches Kon­ zept der Partei wieder zu Einfluss verhelfen. Nach der Wahlniederlage der gesamten Linken seit dem Jahr 2002 distanzierte sich die PCF von ihrem einstigen sozialistischen Partner und engagierte sich – ne­ ben anderen linken Gruppierungen und Dissidenten der PS – im Referendum im Jahr 2005 gegen den Europäischen Verfassungsvertrag. Vor dem Hintergrund ho­ her Arbeitslosenzahlen und eines sehr geringen Wirtschaftswachstums geißelte sie die vermeintlich neoliberale Wirtschaftspolitik der konservativen Regierun­ gen, die im Maastricht-Vertrag vereinbarten Euro-Stabilitätskriterien und gene­ rell die Politik der Europäischen Kommission. Eine Allianz mit Mélenchons Parti de Gauche war die logische Konsequenz. Nach dem erneuten Abschmelzen ihrer Wählerschaft bei den jüngsten Wahlen muss sich die inzwischen auch finanziell ausgeblutete Partei der Frage ihres eins­ tigen führenden Mitglieds Anicet Le Pors, stellen: » Wozu dient heute noch die PCF ? «45 Der ehemalige Minister für den öffentlichen Dienst sprach sich dafür aus, die Partei aufzulösen und eine » Sammlungsbewegung aller fortschrittlichen Kräf­ te « zu betreiben. Einige Trümpfe bleiben der Partei noch, so dass ihr » Verschwinden « aus der politischen Landschaft Frankreichs eher unwahrscheinlich ist.46

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■■ Trotz hoher Verluste zählt sie im Vergleich zu den übrigen Linksparteien mit ca. 70 000 immer noch über eine hohe Anzahl an Parteimitgliedern. ■■ Lokalpolitisch » regiert « sie noch 22 Städte mit über 30 000 Einwohnern – ein Verlust von fünf gegenüber 2008. Diese Orte sind aber eine medienwirksame Projektionsfläche, um gute verantwortungsvolle kommunale Regierungsarbeit zu dokumentieren. ■■ In ihren Hochburgen bringt sie ihre Kandidaten, die meist gut in den Gemein­ den verankert sind, durch. ■■ Bedeutsam ist ferner der Einfluss im Gewerkschaftsmilieu, insbesondere in der CGT, selbst wenn deren Vorsitzender nicht länger im Nationalbüro (dem frü­ heren Politbüro) der Partei vertreten ist. Im Jahr 2003 waren 80 Prozent der CGT-Departementssekretäre Mitglieder der PCF.47 ■■ Nicht zu unterschätzen ist die » Strahlkraft « der Parteizeitung L’Humanité, selbst wenn deren tägliche Auflage mittlerweile auf etwa 48 000 geschrumpft ist. Sie bietet der Partei jedoch eine auf der nationalen Ebene angesehene Kom­ munikationsplattform.

10.5.2 Ideologie und Programm Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion und der sozialistischen Staatenwelt versuchte die PCF, ihre Identitätskrise mit dem Rückzug ins Getto klassenkämp­ ferischer Selbstbestätigung zu bewältigen. Das im Dezember 1987 verabschiedete Programm » Justice, liberté, paix « mutete wie ein Ausradieren der früheren » Ent­ spannungsphase « zwischen den Linksparteien an. Auf wirtschaftlichem Gebiet plädierte die PCF für weitestgehende Verstaatlichungen, in die auch reprivatisier­ te Unternehmen wieder einbezogen werden sollen. Gleichzeitig verlangte das Pro­ gramm die Wiedergewinnung der nationalen Souveränität auf wirtschaftspoliti­ schem Gebiet. Der innenpolitische Teil des Programms stand unter dem Motto: » Unser Ideal: der Kommunismus, unser Gesellschaftsprojekt: der Sozialismus à la française. « Die Europäische Gemeinschaft wurde in diesem Kontext vollstän­ dig negativ bewertet. Die seit Januar 1994 amtierende Parteiführung unter Robert Hue reagierte auf die geopolitischen Veränderungen mit einer » Doppelstrategie « (Marcus Obrecht): Einerseits setzte sie sich durch die erneute Zusammenarbeit mit der Sozialis­ tischen Partei gegen den orthodoxen, » stalinistischen « Flügel durch. Andererseits bezeichnete sie sich weiterhin als eine revolutionäre Partei, als eine » Parti com­ muniste d’un nouveau type «, die letztlich für die Überwindung des Kapitalismus eintrete.48 Zahlreiche Forderungen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich wie die

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Einführung der 35-Stundenwoche, das Verbot von Entlassungen, eine an Keynes orien­tierte Wirtschaftspolitik, die Beibehaltung des personalstarken öffentlichen Dienstes, die Ablehnung der Privatisierung großer Dienstleistungsunternehmen und die Rente mit 60 Jahren sind nach wie vor programmatische Kernpunkte. Eine generelle Ablehnung der Marktwirtschaft steht aber nicht länger im Mittel­ punkt. Auch die heftige Kritik an der Europäischen Union ist größtenteils abgeflaut. Zwar wird ein » ultra-liberales Europa « ebenso abgelehnt wie die europäische Ver­ fassung und die Unterordnung unter den vermeintlich von Deutschland diktier­ ten Stabilitätspakt. Die europäische Integration wird aber grundsätzlich nicht län­ ger abgelehnt, wohl aber vor dem Hintergrund der Finanzkrise die gemeinsame Währung. Ob dieser Spagat zwischen pseudorevolutionärer Parteirhetorik und Partei­ handeln die ungeteilte Zustimmung der Mitglieder findet, ist fraglich. Auf ihrem 34. Kongress im Jahr 2008 verabschiedete die Partei eine Resolu­ tion, dass » der Ausbruch und die Verschärfung der weltweiten Finanzkrise […] die Überwindung des Kapitalismus erfordert «.49 Schon im April 2003 hatte ein Text auf dem damaligen Parteitag in Plaine Saint-Denis » die soziale Aneignung der Produktionsmittel und Banken « befürwortet. » Diese neue klassenlose Gesell­ schaft « würde die Emanzipation aller erlauben. Die PCF verstehe sich als Boll­ werk gegen das vorherrschende System und sieht » ihre Existenz durch die Rol­ le als Widerstandskraft legitimiert «.50 Ihre Aufgabe sieht sie darin, » die sozialen Bewegungen zu führen « und bei Kritik am bestehenden System » eine radika­ le soziale Transformation anzustreben «.51 » Die gegenwärtige PCF ist also eine merkwürdige Mischung aus Modernität und traditionellem Gedankengut, « kom­ mentiert Fabienne Greffet die jüngere Parteientwicklung, denn » die Kommunis­ ten streben noch immer danach, die › Gesellschaft und die Welt ‹ zu verändern «, wie die 2003 verabschiedete Resolution hervorhebt. Der Zwiespalt zwischen der Kooperation mit der Sozialistischen Partei, die sich offen zur Sozialdemokratie bekennt, und dem orthodoxen » revolutionären Weg «, dem » Kampf gegen Impe­ rialismus « und  der » Vergesellschaftung der Produktionsmittel « dauert an. Wer von dieser widersprüchlichen Programmatik enttäuscht war, fand in sozialrevolu­ tionären Gesten der extremen Linken eine Alternative.

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10.5.3 Zur Mitglieder- und Wählerstruktur Seit Mitte der siebziger Jahre leidet die PCF unter Mitgliederschwund. Belief sich die Zahl der Mitglieder im Jahre 1978 nach vorsichtigen Schätzungen auf 520 000, so sank sie im Jahr 2011 auf etwa 70 000.52 Auch die soziale Zusammensetzung der Mitglieder hat sich verändert: So sank die Zahl der unter Dreißigjährigen von einst 25 auf nur noch zehn Prozent. Gleich­ zeitig stieg die Zahl der Rentner von 15,5 auf 24,5 Prozent. Der Anteil der Berufs­ tätigen reduzierte sich von 69,1 im Jahr 1978 auf 52 Prozent im Jahr 1997. Folglich ging der Niedergang der PCF mit einem Vergreisungsprozess einher. Auch in anderer Hinsicht verlor die einstige Arbeiterpartei ihre ursprüngli­ che Basis: Von allen Mitgliedern waren 1997 nur noch 31 gegenüber 45,5 Prozent im 1979 Jahr Arbeiter. Der Umstrukturierungsprozess in den traditionellen Berei­ chen der Schwerindustrie hinterließ seine Spuren. Bei der Berufsgruppe der soge­ nannten unabhängigen Berufe wie Landwirte und (Klein-)Gewerbetreibende hat die PCF nahezu jeden Rückhalt verloren. Nur 4,8 Prozent ihrer Mitglieder zähl­ ten 1997 noch dazu. Dagegen gelang es ihr, deutlich mehr Mitglieder unter einfachen Angestellten und Dienstleistungspersonal (von 25,4 auf 32,9 Prozent) zu gewinnen. Dass die ehemalige Avantgarde der Arbeiterklasse mittlerweile – allerdings auf niedrigem Niveau – auch Zuspruch bei Freiberuflichen, leitenden und mitt­ leren Führungskräften sowie bei Berufstätigen in Sozialberufen findet, kann als bescheidener Erfolg der Mitte der neunziger Jahre eingeleiteten ideologischen Wende interpretiert werden. Immerhin lag der Anteil der Freiberuflichen und lei­ tenden Angestellten bei 11,3 Prozent, derjenige von mittleren Angestellten und von gehobenem Dienstleistungspersonal bei knapp 20 Prozent. Allerdings zähl­ ten zu den Parteimitgliedern auch 23,5 Prozent Arbeitslose und Nicht-Erwerbs­ tätige sowie Studenten.53 Im Vergleich mit den übrigen Parteien liegt dagegen der weibliche Anteil unter den Parteiaktivisten mit 40 Prozent im Jahr 1998 sehr hoch. Auch die kommunalpolitische Verankerung der PCF hat sich unübersehbar gelockert. So beherrscht sie nach den Kommunalwahlen von 2014 nur noch 56 Städte mit mehr als 10 000 Einwohnern, meist im Nordosten von Paris. In ih­ ren einstigen Wählerhochburgen, den vormals industrialisierten Gebieten um die Großstädte, ist es der PCF nicht gelungen, ihr reduziertes klassisches Wählermi­ lieu auf niedrigem Niveau zu stabilisieren und gleichzeitig neue Wähler aus dem Dienstleistungssektor zu gewinnen. War dem CGT-Vorsitzenden früher ein Sitz im Politbüro reserviert, so been­ dete 1996 der damalige Gewerkschaftsvorsitzende diese in seiner Sicht » babyloni­ sche Gefangenschaft «. Ganz wurden allerdings die Bindungen nicht gekappt. Basiseinheit der Partei ist die Zelle, in erster Linie am Arbeitsplatz. Über ihr

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steht die Sektion, die mehrere Zellen auf der betrieblichen oder lokalen Ebene zu­ sammenfasst. Die Sektionen eines Departements bilden eine Föderation. Höchs­ tes Organ auf nationaler Ebene ist der alle zwei oder drei Jahre tagende Kongress, der die 200 Mitglieder des Nationalrates (das frühere Zentralkomitee) wählt. Die­ ses bestellt das Machtzentrum, das Exekutivbüro (das frühere Politbüro) mit sei­ nen 30 Mitgliedern, den Nationalen Sekretär und das Sekretariat. Der auf ma­ ximal neun Jahre von den Delegierten auf dem nationalen Kongress gewählte Nationale Sekretär ist die eigentliche Führerpersönlichkeit auf nationaler Ebene. Unterstützt wird seine Arbeit vom Exekutivkollegium. Der wissenschaftlichen Literatur zufolge hat sich die » Partei des harten Klas­ senkampfes « mit leninistisch-stalinistischer Grundhaltung zu einer » Systempar­ tei « gehäutet.54 Dafür werden als Indizien und Belege genannt: eine keynesiani­ sche Einstellung zur Wirtschaftspolitik, die zweimalige Regierungsbeteiligung, die partielle Akzeptanz der Marktwirtschaft und der europäischen Integration so­ wie eine gewisse Selbstverständlichkeit innerparteilicher Diskussion. Für den seit 1994 gültigen » neuen Kurs « sprachen sich Anfang des neuen Jahrhunderts ins­ gesamt etwa 80 Prozent der Mitglieder aus. Die Befürworter einer Pluralität der Linken, mit der PCF in der Funktion eines sozialen Gewissens in der Gesellschaft, fanden im Unterschied zum orthodoxen Parteiflügel überwiegend Zustimmung. Gefahren drohen der PCF vom Front National, der die PCF in der Wählergunst der Arbeiter mittlerweile weit überholt hat, aber auch von den trotzkistischen Par­ teien Lutte Ouvrière und der Nouveau Parti Anticapitaliste. Zwar erhielten deren Präsidentschaftsbewerber 2012 nur 1,15 (NPA) bzw. 0,56 Prozent (LO) der Stimmen und bei den folgenden Parlamentswahlen weniger als ein Prozent. Dennoch dürfte die Attraktivität dieser extremen Linken für einen nicht unerheblichen Teil der PCF-Sympathisanten gefährlich sein. So äußerten in einer Umfrage Ende 2003 immerhin 60 Prozent der PCF-Anhänger ihre Sympa­ thie für LO und LCR.55 Welchen Weg die Kommunistische Partei schließlich einschlagen wird, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt schlecht prognostizieren. Das Wahlkartell Front de Gauche hat sich für die PCF letztlich nicht ausgezahlt, zumal sich ihr Spitzenkandidat Mélenchon trotz des Achtungserfolgs aus der Tagespolitik zu­ rückgezogen hat. Neue Wahlallianzen dürften sich im Vorfeld der nationalen Wahlen im Jahr 2017 ergeben. Ohne solche Bündnisse, besonders mit der Sozia­ listischen Partei, dürfte der Überlebenskampf von Frankreichs einst mächtigster Partei aussichtslos sein.

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10.6 Les Verts 10.6.1 Entwicklungstendenzen Am 13. November 2010 fusionierte die 1984 gegründete Partei Les Verts mit dem erstmals zur Europawahl angetretenen Wahlkollektiv Europe Ecologie. Dieses war von dem Europaabgeordneten Daniel Cohn-Bendit als Sammelbecken aller grü­ nen Bewegungen in Frankreich für die Europawahl 2009 gegründet worden. Mit 16,3 Prozent der Stimmen erzielte es einen überraschenden Erfolg.56 Frankreichs Grüne hofften, mit dem neuen » genossenschaftlichen und dezentralisierten Par­ teienmodell « (so die damalige Generalsekräterin Cécile Duflot) bei den im Jahr 2012 bevorstehenden nationalen Wahlen an diesen Erfolg anzuknüpfen. Unter­ schiedlichste ökologisch orientierte Gruppierungen sollten zusammengeführt werden, um einen Sammelpunkt » jenseits der grünen Wähler « anzubieten, so der Abgeordnete des Europaparlaments. Ob die neue politische Formation die seit der Gründung der Verts nicht enden wollenden innerparteilichen Zerwürfnisse überwinden kann, ist zum gegenwär­ tigen Zeitpunkt offen. Ende 2012 teilte » Mit-Gründungsvater « Cohn-Bendit mit, er werde nicht länger in der Partei mitarbeiten. Er war empört, dass viele Partei­ freunde gegen den europäischen Fiskalpakt agitierten.57 Im August 2015 verließen zwei weitere führende Mitglieder die Partei, da sie mit Duflots Annäherungskurs an die Front de Gauche nicht einverstanden waren. Bei den Regionalratswahlen im Dezember 2015 erlitt die Partei ein Debakel. Nur 6,63 Prozent der Wähler ga­ ben grünen Kandidaten ihre Stimme. Ihre Vertretung in den Regionalparlamen­ ten schrumpfte auf 50 Mandatsträger. Die relativ junge Geschichte der französischen Umweltparteien war von Neu­ gründungen, Auflösungen, Abspaltungen, Zusammenschlüssen, Wahlbündnis­ sen, separaten Kandidaturen und den Animositäten ihrer bekanntesten Sprecher gekennzeichnet.58 Partielle Wahlerfolge bei Europa- und Kommunalwahlen zu Beginn der 90er Jahre ließen eine landesweite Verankerung im Parteienspektrum vermuten. Wahl­ niederlagen und ein innerparteilicher Richtungswechsel nach links ließen die mühsam gefundene Eintracht jedoch wieder zerbrechen und führten zum Partei­ austritt bekannter Grüner. Umstritten war nicht zuletzt die politische Strategie: die Frage eines Wahl­ bündnisses mit der Sozialistischen Partei. Nach den Wahlverlusten im Jahr 1995 setzte sich zunächst die Einsicht einer Wahlabsprache mit den Sozialisten bei den Parlamentswahlen 1997 durch. Erstmals konnten Les Verts mit sieben Abgeord­ neten in die Nationalversammlung einziehen. Drei Minister bzw. Ministerinnen traten 1997 in die von Lionel Jospin gebildete Regierung, unter ihnen Dominique

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Voynet als Umweltministerin. Erneute Einbußen bei Wahlen auf regionaler und nationaler Ebene ließen alte Zwistigkeiten zwischen den Parteiflügeln wieder auf­ leben. In der Öffentlichkeit herrschte der Eindruck vor, die Grünen würden ihre Energien in parteiinternen Machtkämpfen vergeuden. Nach Voynets vernichten­ der Wahlniederlage bei den Präsidentschaftswahlen 2007 mit nur 1,5 Prozent, der Wahl von lediglich vier Abgeordneten und dem Parteiaustritt einiger Führungs­ mitglieder näherte sich – wie erwähnt – die Partei Daniel Cohn-Bendits Europe Ecologie an; beide fusionierten am 13. November 2010. Für die Wahlgänge des Jahres 2012 verständigten sich die Grünen nach er­ neuten parteiinternen Streitigkeiten auf eine Doppelstrategie: Zur offiziellen Prä­ sidentschaftskandidatin wurde die Untersuchungsrichterin Eva Joly bestellt. Für die wenigen Wochen später stattfindenden Legislativwahlen sowie für die Kom­ munal- und Departementwahlen wurden Absprachen mit der Parti Socialiste ge­ troffen. Erzielte Eva Joly mit 2,31 Prozent das zweitschlechteste Ergebnis einer grü­ nen Bewerberin bei Präsidentschaftswahlen, zahlte sich die Wahlabsprache mit den Sozia­listen aus: 17 Abgeordnete zogen ins Palais Bourbon ein; erstmals stell­ ten die Grünen eine eigene Fraktion (seit 2009 wurde deren Zahl auf 15 Mitglie­ der gesenkt). In der neuen Linksregierung stellten sie eine Ministerin und einen Staatssekretär. Damit schien vordergründig das linke Bündnis dauerhaft gefes­ tigt, zumal EELV ohne Wahlunterstützung durch die PS kaum Chancen auf einen » eige­nen « Wahlerfolg auf nationaler Ebene erzielen kann. Allerdings beendeten die Grünen ihre Regierungsmitarbeit im Frühjahr 2014 nach dem Wechsel im Amt des Regierungschefs, dessen vermeintlich liberale Ide­ en zur Modernisierung der Wirtschaft ebenso abgelehnt wurden wie die in ihren Augen fehlende Kehrtwende in der Atompolitik. Seither verweigerte ein Teil der grünen Abgeordneten Manuel Valls Reformpolitik die Zustimmung und stimmte auch bei der Vertrauensfrage gegen den Regierungschef. Dieser sah aber trotz sol­ cher Unterstützungsverweigerung das Vertrauensverhältnis zur EELV intakt. Er plädierte mehrfach für die Rückkehr grüner Politiker in seine Regierung. Anfang 2016 traten drei grüne Dissidenten dem Kabinett bei. Die (Haupt-)Partei blieb aber unter dem Einfluss der ehemaligen Wohnungsbauministerin Cécile Duflot bei ihrem Linksschwenk.59 Letztlich wissen die Grünen aber, dass sie beim System der absoluten Mehrheitswahl am » Tropf « der Sozialisten hängen. Ohne Wahlab­ sprachen sind ihre Chancen bei nationalen Wahlen nahezu aussichtslos.

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10.6.2 Zur Programmatik Kernaussage aller » grünen Programme «60 ist seit den siebziger Jahren die Forde­ rung, mit allen verfügbaren Mitteln gegen eine weitere Zerstörung der Umwelt anzukämpfen und so die Schöpfung zu erhalten.61 Im Einzelnen enthielten die Wahlprogramme seit Mitte der achtziger Jahre die folgenden Vorschläge und For­ derungen, die weit über das lediglich ökologische Problemfeld verweisen: ■■ Wiederherstellung der Lebensqualität durch eine weitere Vermeidung von Verunreinigungen der Luft, des Wassers und des Bodens ■■ Kampf gegen die Klimaerwärmung und Fortschreiben des Kyoto-Protokolls ■■ Ablehnung der Kernenergie und Ausstieg aus ihrer zivilen und militärischen Nutzung ■■ Förderung alternativer, erneuerbarer Energien ■■ Forderung einer Klimasteuer ■■ Gewaltfreiheit und Friedenssicherung mit nicht-militärischen Maßnahmen ■■ größere soziale Gerechtigkeit und bessere Verteilung von Arbeit durch Redu­ zierung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 35 Stunden und Schaffung von Teil­ zeitarbeitsplätzen, dabei ein Lohnausgleich für die unteren Lohngruppen ■■ Kampf gegen Exzesse der Globalisierung und Schuldenerlass für die ärmsten Staaten ■■ Weiterführung der Politik der Dezentralisierung und Regionalisierung; Be­ grenzung der Staatsaktivitäten auf die wichtigsten Politikbereiche. Auseinandersetzungen zwischen dem pazifistischen und dem realpolitischen Flü­ gel entbrannten über Fragen der militärischen Intervention (Kosovo im Jahr 1999, Afghanistan gegen die Taliban 2001 und in Mali gegen Dschihadisten 2013). Letzt­ lich fügten sich Les Verts jeweils der Kabinettsdisziplin. Hinsichtlich der euro­ päischen Verfassung sprach sich in einer Urabstimmung die Mehrheit der Par­ teimitglieder im Februar 2005 für den Verfassungstext aus. Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei zur EU werden von führenden Vertretern gleichfalls be­ fürwortet. Das Gründungsmanifest der EELV plädiert » Für eine ökologische Po­ litik «. Damit will die Partei eine » glaubwürdige Alternative zu den › alten linksrechts Spaltungen ‹ [im französischen Parteiensystem] « sein.62

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10.6.3 Zur Organisationsstruktur Les Verts verstehen sich als eine Partei » nicht wie die anderen « – auch wenn sie immer stärker Züge der traditionellen politischen Parteien angenommen haben. Im Gegensatz zu den anderen Parteien verfügen Les Verts – als Folge ihrer durch Spontaneität und durch die Herkunft vieler Mitglieder aus der » unhierarchischen Bewegungsstruktur des Mai 1968 « (Claudia Hangen) geprägten Geschichte – über eine dezentrale Organisationsstruktur mit starker Basisorientierung. Diese räumt den autonom organisierten Regionen ein hohes Gewicht ein. Eine solche Funk­ tionsweise spiegelt sich auch darin wider, dass die regionalen und lokalen Basis­ gruppen nicht an die Beschlüsse der nationalen Gremien gebunden sind. Auch das neue Parteienbündnis EELV hat an diesen Strukturen kaum etwas geändert. Das Parlament der Partei ist der Conseil Fédéral mit 150 von regionalen und nationalen Delegierten gewählten Mitgliedern und dem Präsidenten an der Spit­ ze. Er tritt alle drei Monate zusammen. Oberstes Organ der Partei ist der » Kon­ gress «, dem alle Parteimitglieder angehören. Er tritt alle drei Jahre zusammen und wählt die 15 Mitglieder der » Regierung « der EELV mit dem Generalsekretär an der Spitze. Mit dieser sehr flexiblen Organisationsstruktur behält die Partei das Prin­ zip ihrer Vorgängerin bei, lokalen und regionalen Komitees größte Autonomie zu belassen.63

10.6.4 Mitglieder und Wählerschaft Die dauerhaften innerparteilichen Querelen und Profilierungsversuche führen­ der Parteivertreter haben dem Ansehen der Verts in der Öffentlichkeit erheblich geschadet. Die Partei verzeichnete auch einen fortwährenden Mitgliederschwund. Ihre Mitgliederzahl betrug 2015 etwa 10 000. Die meisten haben mittlerweile die 50 überschritten. Die einst vorherrschende jüngere Generation (unter 34 Jahren) ist heute mit etwa 30 Prozent vertreten. Insofern durchlaufen Les Verts den glei­ chen Alterungsprozess wie die übrigen Linksparteien. Im Vergleich mit diesen liegt aber der Frauenanteil mit einem Drittel recht hoch. Die Mitglieder zeichnen sich durch gute Schulbildung, ein häufig geisteswis­ senschaftliches Studium und durch Berufstätigkeit im Sozial- und Erziehungswe­ sen aus.64 Arbeiter und einfache Angestellte fehlen ebenso wie kleine Gewerbe­ treibende und Landwirte. Als sogenannte Postmaterialisten treten sie ein für den Schutz der Natur, für mehr soziale Gerechtigkeit, notfalls eine einseitige Abrüstung, für gerechten Wa­ ren- und Kreditverkehr mit den Staaten der Dritten Welt, die Dezentralisierung des Staates bei gleichzeitiger Stärkung der Kommunen sowie die Ablehnung tech­

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nologischer Großprojekte. Viele Mitglieder hatten sich früher in der sozialisti­ schen Gewerkschaft CFDT sowie in Parteien wie der mittlerweile aufgelösten PSU oder der PS engagiert. Deren Gedankengut stehen sie auch noch nahe, zählen sich aber eher zu den » Enttäuschten des Sozialismus «.65 Zunehmend sind ehemalige Anhänger linksextremer Organisationen beigetreten. Gleichwohl befürworteten die Mitglieder aber die Übernahme von Regierungsverantwortung im Rahmen der » Gauche plurielle « sowie den Eintritt in die Linksregierung im Frühjahr 2012. In ihrer über 30-jährigen Geschichte haben sich die Grünen von einer nur auf den Umweltschutz beschränkten Bewegung zu einer auch soziale Themenberei­ che aufgreifenden entwickelt. Ein Viertel der Mitglieder lebt in der Großregion Ile-de-France; in den meis­ ten anderen sind Les Verts kaum vertreten. Ein Hauptproblem der Partei ist die fi­ nanzielle Abhängigkeit von staatlichen Zuwendungen. Die Wählerschaft von Europe Ecologie – Les Verts blieb bei der Präsident­ schafts- wie Legislativwahl im Jahr 2012 weitgehend die gleiche wie bei früheren. Ihre Wähler sind deutlich jünger als die der übrigen Parteien; in der Regel sind sie besser ausgebildet und sind ebenfalls meist im tertiären Sektor tätig; meist woh­ nen sie in Großstädten. Fast alle Grünen-Wähler hatten das Abitur und häufig auch einen Hochschulabschluss. Angestellte des öffentlichen Dienstes – vor al­ lem im Erziehungs- und Sozialwesen – waren deutlich überrepräsentiert, wäh­ rend Angehörige der Freien Berufe, aber auch Arbeiter und einfache Angestellte ihre Stimme den Grünen seltener gaben. Politisch spricht sich die Mehrheit der Sympathisanten neben der Beibehal­ tung staatlicher Verantwortung für Versorgungseinrichtungen für die ökologische Umgestaltung der Wirtschaft und die stärkere Einbeziehung der Bürger in staatli­ che Entscheidungen aus. Wahlgeographisch liegen die Hochburgen – wie schon früher – in den stark von Atomkraftwerksanlagen geprägten Regionen Rhône-Alpes und Alsace, aber auch in Westfrankreich. Die Region Ile-de-France einschließlich der Hauptstadt ist hinzugekommen. Außerdem haben Les Verts in zahlreichen Universitätsstäd­ ten wie Bordeaux und Toulouse überproportional viele Wähler gewinnen können. Die jüngsten bescheidenen Wahlergebnisse sind dennoch ein Zeichen für die landesweite Verankerung und für die Tatsache, dass sich in Frankreich ein be­ achtliches Maß an umweltpolitischer Sensibilisierung » festgesetzt « hat. Problema­ tisch für künftige Wahlen sind die für eine (ehemalige) Regierungspartei nach wie vor anachronistischen Statuten und der permanente Kleinkrieg zwischen den füh­ renden Repräsentanten. Einfluss auf die nationale Politik ist nur innerhalb einer Linksallianz denkbar. Selbst wenn sie bei der Präsidentschaftswahl 2017 einen eige­nen Kandidaten als reinen » Zählbewerber « präsentieren sollten, wird EELV im zweiten Wahlgang – wie 2012 – zur Stimmabgabe für den sozialistischen Kan­

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didaten aufrufen, sofern dieser in die Stichwahl kommt. Ein Wahlpakt mit der

PS bei nationalen Wahlen ist – wie gezeigt – für die Grünen überlebenswichtig.

Außer­dem müssen sie auf die übliche Demontage prominenter Führungspersön­ lichkeiten verzichten.66 Zwar ist die ökologische Bewegung mittlerweile relativ gut verankert. Doch es bestehen augenscheinlich erhebliche Defizite bei der Vermitt­ lung grüner Themen an die Wähler.

10.7 Les Républicains 10.7.1 Entwicklungstendenzen Am 28. Mai 2015 entschieden sich die Mitglieder der Union pour un Mouvement Populaire (UMP) in einer Urabstimmung für die Umbenennung der » Bewegung « in Les Républicains. Sie folgten dabei mit großer Mehrheit ihrem Parteivorsitzen­ den Nicolas Sarkozy. Mit dem sechsten Parteilogo der gaullistischen Bewegung seit 1958 beabsichtigte Sarkozy der von zahlreichen Diadochenkämpfen, Finanz­ skandalen, Parteispendenaffären und » Korruption « gebeutelten Partei ein neues Image zu geben.67 Der neue Parteiname Die Republikaner soll den Wählern für die Präsidentschaftswahl 2017 eine » unverbrauchte « Partei suggerieren. Einen ersten Erfolg verzeichnete die umbenannte Partei im Frühjahr 2015 bei den De­ partementwahlen. Dieser Erfolg stärkte den Parteivorsitzenden gegen seine Kon­ kurrenten, darunter die ehemaligen Premierminister Juppé und Fillon. Der Gründungsakt der Vorgängerin wurde am 17. November 2002 vollzogen. Diese Fusion des gaullistischen Rassemblement pour la République mit Démo­ cratie Libérale, Teilen der Union pour la Démocratie Française, der Parti Radi­ cal und einigen bürgerlichen Splittergruppen zur konservativen Sammlungsbe­ wegung UMP war ein Meilenstein im französischen Parteiensystems.68 Erstmals bildeten fast alle bürgerlichen Parteien nach dem Vorbild der CDU eine große Partei der Rechten und der rechten Mitte. Treibende Kraft war die im Jahr 1976 gegründete und in Rassemblement pour la République (RPR) umbenannte gaullistische Partei. Dieses Logo leitete sich di­ rekt ab von der einzigen Partei, die de Gaulle 1947 als Rassemblement du Peuple Français (RPF) ins Leben rief. Die weitere Entwicklung der gaullistischen » Bewe­ gung « – man verabscheute das Wort » Partei « – war durch zahlreiche Namens­ änderungen, Fusionen mit ideologisch verwandten Splittergruppen sowie durch einen erheblichen Personenwechsel auf der Führungsebene seit Mitte der sieb­ ziger Jahre gekennzeichnet.69 Während de Gaulle das RPF 1955 » einschläferte « und auch die Neugründung Centre National des Républicains Sociaux nur von kurzer Dauer war, begann die Renaissance des Partei-Gaullismus im Jahre 1958,

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zeitgleich und in ursächlichem Bezug mit der Entstehung der V. Republik. Die gleichsam über Nacht aus » alten Kameraden « des Generals – den so genannten Compagnons – gegründete Union pour la Nouvelle République – 1963 um das linksgaullistische Anhängsel Union Démocratique du Travail erweitert und 1968 in Union des Démocrates pour la République umbenannt70 – diente dem Staats­ chef von Anfang an lediglich als Werkzeug seiner Politik. Als nach Pompidous Tod die Gaullisten des wichtigsten Staatsamtes verlustig gingen, war es Jacques Chirac, der die Partei auf die neue Situation einstellte. So verhinderte er ein Zusammengehen mit gemäßigt liberalen Kräften um Giscard d’Estaing um den Preis der Aufgabe der eigenen Identität. Ebenfalls beseitigte er durch die Gründung des RPR mittlerweile unhaltbare Fixierungen auf die Ver­ gangenheit. Die alte Garde, die so genannten Barone, wurden als Führungspersönlichkei­ ten weitgehend ausgeschaltet. Damit begann die » Chiraquisation « (Jean Charlot) der Bewegung. Chirac hatte den Wandel von einer Honoratioren- und Wählerpartei zu einer modernen Massenpartei mit einem gut ausgebauten Apparat eingeleitet. Er schuf sich eine Machtbasis für seine politischen Ambitionen mit der Schaffung einer gut organisierten Mitgliederpartei, die von früh an auf das höchste Staatsamt zielten. Herausragende Ereignisse seiner Parteipräsidentschaft waren die zweimalige Amtszeit als Premierminister (1974 – 1976 und 1986 – 1988) sowie – bis Anfang 1995 – seine Bewerbungen um das Amt des Staatspräsidenten. Sein zweiter Versuch, im Frühjahr 1988 Hausherr im Elysée-Palast zu werden, endete für ihn mit einem De­ bakel. Lediglich 19,94 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang und 45,98 Prozent in der Stichwahl gegen den amtierenden Präsidenten offenbarten die Schwäche der gaullistische Partei am Ende der achtziger Jahre. Zwar blieb das RPR die größte und vor allem am besten organisierte Partei der Rechten. Aber unübersehbar hatte sie in den siebziger Jahren die Voraussetzung der früheren, mit dem liberalen Ko­ alitionspartner Unabhängige Republikaner gemeinsamen absoluten Mehrheiten und die volksparteiliche Verankerung in allen sozialen Schichten, eingebüßt. Nur mit Hilfe des damaligen Generalsekretärs Alain Juppé konnte Chirac die Kontrolle über die durch seine Niederlage tief verunsicherte » Bewegung « behalten. In den ersten Jahren der V. Republik war es der nur locker organisierten Ho­ noratiorenpartei gelungen, fast das gesamte bürgerliche Lager zu integrieren. Dar­ über hinaus stieß sie beachtlich in linke Wählerschichten vor. Hatte es in der IV. Re­publik (1944 bis 1958) weder eine Rechts- noch eine Linkspartei geschafft, bei Wahlen eine arbeitsfähige Mehrheit zu erringen, so änderte sich dies ab 1962. Bis zu den Wahlen von 1978 war die gaullistische Partei Kern aller bürgerlichen Koalitionen. Das Besondere an dieser Partei war, dass sie als Wähler- und Volkspartei einen

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neuen Parteityp in das französische Parteiensystem einbrachte. Der anfängliche Verzicht auf einen Parteivorsitzenden (de Gaulle und später Pompidou lehnten es ab, diese Funktion zu übernehmen) und einen soliden organisatorischen Unter­ bau taten ihren Wahlerfolgen keinen Abbruch. Sich als » Bewegung « und weniger als Partei verstehend, waren die Ansprachen des Präsidenten an die Bevölkerung, nostalgische Reminiszenzen an de Gaulles Zeit als Führer des Freien Frankreichs sowie der nebulöse Begriff des » Gaullismus « ein einigendes Band. Die » Union « verstand sich folglich als Wahlkampfmaschine, nicht aber als politische Kraft mit einer Rolle in der Regierungspolitik. Nach der Niederlage des amtierenden Staatspräsidenten Giscard d’Estaing ge­ lang es Chirac als Oppositionsführer das öffentliche Meinungsbild der Bürgerli­ chen in den Medien zu bestimmen. Die aggressive, im Parlament vorgetragene Kritik an der Politik der Linksregierung verfehlte ihre Wirkung bei den eigenen Anhänger und einem größeren Kreis von Sympathisanten nicht. Das RPR ver­ zeichnete einen beträchtlichen Mitgliederzuwachs. Durch gemeinsame Listen mit den übrigen Oppositionsparteien gewannen RPR und UDF auf nationaler, regio­ naler und lokaler Ebene mehrere Wahlen. Jacques Chirac wurde 1986 neuer Pre­ mierminister. Seine Politik war in den ungewohnten Bewegungsgrenzen einer » Cohabitation « zwischen linkem Staatschef und rechtem Kabinett erfolgreich. Vor dem Hintergrund dieser Erfolge mutete deshalb Chiracs Scheitern bei den Präsidentschaftswahl vom 8. Mai 1988 umso erstaunlicher an. Hauptgrund war Chiracs Image als Vertreter eines Wirtschaftsliberalismus, dem an sozialer Ge­ rechtigkeit nichts gelegen schien.71 Folglich wurde anschließend die neoliberale Wirtschaftspolitik » zurückgefahren «. Der glänzende Sieg des RPR bei den Parlamentswahlen im März 1993 festigte zunächst erneut die Position des Parteiführers. Mit der Wahl ins höchste Staatsamt 1995 gelangte Chirac auf den Höhepunkt seiner bisherigen Karriere. Am 15. Okto­ ber 1995 trat Chiracs enger Vertrauter Alain Juppé, der im Juni zum Premierminis­ ter ernannt worden war, sein Amt als offizieller RPR-Vorsitzender an. Zwischen 1995 und 2005 sorgte eine Reihe parteiinterner Konflikte für Aufse­ hen. Sie drehten sich hauptsächlich um die restriktive Ausgabenpolitik der Regie­ rung Juppé, die auf diese Weise die Maastricht-Kriterien erfüllen wollte. Die tief­ greifenden Differenzen zeigten sich auch im Umstand, dass das RPR in den ersten 20 Jahren seines Bestehens nur zwei Präsidenten hatte, Jacques Chirac und Alain Juppé, allein im Jahrfünft von 1997 bis 2002 aber drei: Der Staatspräsident verlor nach der Niederlage bei den vorgezogenen Parlamentswahl 1997 zunehmend die Kontrolle über » seine « Partei. Im Vorfeld der Europawahlen 1999 spaltete sich der souveränistische Parteiflügel ab, da seine Mitglieder den Amsterdam-Vertrag strikt ablehnten; sie bildeten unter dem einstigen engen Weggefährten Charles Pasqua eine (kurzlebige) » altgaullistische « Bewegung.

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Bei der ersten Urwahl unter den RPR-Mitgliedern im Dezember 1999 setzte sich die weitgehend unbekannte ehemalige Jugend- und Sportministerin Michèle Alliot-Marie mit klarer Mehrheit als neue Parteichefin durch. Ihr gelang in der Folgezeit eine Konsolidierung der zerstrittenen Partei, die sich dem Einfluss ihres Gründers Chirac immer stärker zu entziehen versuchte. Mitte der neunziger Jahre war die Partei mit Problemen Mitgliederschwund (auf nur noch 80 000 Mitglieder), » ideologischer Leere « sowie innerparteilichen Reformen konfrontiert.72 Hatte jahrzehntelang der » Gaullismus « die Parteiideo­ logie bestimmt, so legten Chirac und Juppé die Akzente auf eine neoliberale Wirt­ schaftspolitik, die Frankreich in der Europäischen Union » fit machen « sollte. So­ zialabbau, Steuererhöhungen und Privatisierungen staatlicher Unternehmen und Einrichtungen standen im krassen Gegensatz zu Chiracs Wahlkampfparole, sozia­ le Spaltungen zu überwinden. Nicht ohne Grund beklagten führende Gaullisten nach dem Wahldebakel 1997 das Versäumnis der Parteiführung, die Bevölkerung nicht konkret auf Pläne für Frankreichs Rolle nach dem Ende des Ost-West-Kon­ fliktes in der veränderten Weltpolitik, für die Sicherung der Sozialsysteme, für die Umweltproblematik und Europa vorbereitet zu haben.73 Wenige Monate vor der Präsidentschaftswahl 2002 setzte sich die Einsicht durch, die pluralistische Rechte in einer großen bürgerlichen Sammlungsbewe­ gung zu einen.74 Durch die Fusion der bürgerlichen Parteien sollten einerseits die alten Parteieliten entmachtet und andererseits Chiracs Wiederwahlchancen ver­ bessert werden. In geradezu ironischer Weise beschleunigte das gute Abschnei­ den Jean-Marie Le Pens in der Präsidentschaftswahl diesen überfälligen Schritt. Gaullisten, Liberale, Radikalsozialisten und die meisten UDF-Abgeordneten ent­ schieden sich für die von Alain Juppé propagierte bürgerliche » Einheitspartei «. Chiracs Wiederwahl und der überwältige Sieg der UMP-Kandidaten bei den Wah­ len zur Nationalversammlung bestätigten die Einheitsstrategie. Im Herbst 2002 hatten die höchsten Gremien der Gründerparteien ihre Auflösung sowie den Bei­ tritt zur großen bürgerlichen Sammlungsbewegung beschlossen. Chiracs Gefolgs­ mann Juppé wurde per Urwahl mit fast 80 Prozent der Stimmen zum ersten Par­ teipräsidenten der UMP gewählt. Drei Jahre später waren diese mit der UMP geweckten Hoffnungen verflogen: Die Sammlungsbewegung erlitt bei Nebenwahlen eine Wahlniederlage nach der anderen. Sie wurde von den Wählern für die Wirtschaftspolitik der Rechtsregie­ rung abgestraft. Hinzu kam die Verurteilung des Parteivorsitzenden Alain Juppé wegen illegaler Parteispenden. Wegen eines Strafverfahrens musste er von seinem Parteiamt zurücktreten.75 Die Nachfolgediskussion stürzte die Partei abermals in eine tiefe Krise. Nach heftigen Auseinandersetzungen setzte sich im November 2004 – gegen den Wunsch des Staatspräsidenten – in einem Mitgliederentscheid schließlich Nicolas Sarkozy durch. Seither hat sich die Partei, bedingt durch zahl­

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reiche Neueintritte, » sarkoziert «. Dem neuen Parteichef gelang es, den Einfluss sowohl des Staatspräsidenten wie seiner » Umgebung « auf die Führung der Partei weitgehend zu neutralisieren. Deshalb überraschte es nicht, dass Nicolas Sarkozy in einem weiteren Mitgliederentscheid zum UMP-Bewerber für die Präsident­ schaftswahl 2007 gekürt wurde. Den Wahlsieg im Mai verdankte er seinem Re­ formprogramm, das hauptsächlich um drei Pole kreiste: » Arbeite mehr, um mehr zu verdienen «, Reduzierung der hohen (Jugend-)Arbeitslosigkeit, Kontrolle der Einwanderung sowie Bekämpfung der grassierenden Kriminalität. Diese Strategie trug in der Stichwahl Früchte, da Sarkozy mit seinen Themen zahlreiche Wähler des rechtspopulistischen Front National erreichte.76 Die UMP gewann mit diesem Programm in den Legislativwahlen einschließlich Verbündeter 335 Mandate. Zum ersten Mal seit 1978 wurde die Regierungsmehrheit bestätigt. Allerdings gelang es dem neuen Staatschef u. a. wegen der globalen Wirt­ schafts- und Finanzkrise nicht, den im Wahlkampf angekündigten » Bruch « (» la rupture «) zu verwirklichen. Sarkozys Beliebtheitswerte sanken; seine Partei ver­ lor sämtliche Nebenwahlen. Die Arbeitslosigkeit stieg kontinuierlich an, die ver­ sprochene Kaufkraftsteigerung blieb aus. Diverse Skandale sowie das öffentlich inszenierte Privatleben des Staatspräsidenten schadeten dem Ansehen. Vor dem Hintergrund verlorener Europa-, Regional- und Kommunalwahlen regte sich Wi­ derstand gegen die Politik des Staatspräsidenten. Seine verbalen » Anlehnungen « an rechtspopulistische Äußerungen der Vorsitzenden des Front National Marine Le Pen zum Thema Einwanderung und Islam stießen viele Franzosen ab. Folglich » startete « der Staatschef unter denkbar ungünstigen Voraussetzungen seine Kandidatur für eine zweite Amtszeit. Sein Wahlprogramm verteidigte seine Wirtschafts- und Sozialpolitik, welche die französischen Staatsfinanzen zwar nicht saniert, aber doch wenigstens stabilisiert habe. Außerdem suchte er mit einer Kampagne zu Gunsten traditioneller Werte, dem Bekenntnis zu den christlichen Wurzeln Frankreichs und der Reform des Ausländerrechts Marine Le Pen Wähler abspenstig zu machen. Dieses Kalkül ging nur partiell auf, zumal Le Pen ihre Wäh­ ler zur Stimmenthaltung in der Stichwahl aufgerufen hatte. Erstmals in der V. Re­ publik wurde ein amtierendes Staatsoberhaupt bereits im ersten Wahlgang vom wichtigsten Konkurrenten überrundet (siehe Tabelle 1, Seite 36 ff.). Die Wahl­ niederlage zwei Wochen später zeichnete sich ab. Auch der Zentrums-Mitbewer­ ber Bayrou sprach ist gegen Sarkozy und für Hollande aus. Gemeinhin wird diese Präsidentschaftswahl von 2012 als » Anti-Sarkozy-Refe­ rendum « bezeichnet. Sarkozys Partei verlor gemeinsam mit den Partnern in der nachfolgenden Parlamentswahl 123 Mandate gegenüber 2007. Diadochenkämp­ fe um die UMP-Führung entbrannten zwischen dem designierten Parteivorsit­ zenden und Sarkozy-Vertrauten Jean-François Copé und dem ehemaligen Regie­ rungschef Fillon. Nach bitteren Auseinandersetzungen fand im November 2014

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schließlich eine Urabstimmung für den Parteivorsitz statt, die Sarkozy für sich entschied. Die Führungs- und Orientierungslosigkeit der Partei war damit schein­ bar beendet. Der neue-alte Parteichef ließ keinen Zweifel daran, im Jahr 2017 den in der Öffentlichkeit zunehmend unbeliebteren Nachfolger im Elysée-Palast zu vertreiben. Problematisch für Sarkozy sind jedoch die potentiellen KonkurrenzKandidaten für die Ende 2016 vorgesehenen Vorwahlen zur Kür des offiziellen Be­ werbers der Republikaner. Wahrscheinlich werden auch das rechte Zentrum UDI sowie das MoDem Bewerber für das höchste Staatsamt aufstellen. Damit wäre die im Jahr 2002 bei Gründung der UMP avisierte Einheitskandidatur der Bürgerli­ chen in Frage gestellt. Das ursprüngliche Ziel der UMP-» Gründerväter «, eine allumfassende bürger­ liche Sammlungsbewegung ins Leben zu rufen, erfüllte sich nicht im gewünschten Maße. Nicht nur verweigerte sich die Rest-UDF bzw. das 2007 gegründete MoDem der » Unionspartei « sondern auch das rechte Zentrum, das sich zunächst im Nou­ veau Centre, dann Ende 2012 im Parteibündnis UDI organisierte (siehe unten).

10.7.2 Organisationsstruktur Wie alle ihre Vorgängerparteien sind auch Les Républicains (LR) straff organisiert und auf den Parteipräsidenten ausgerichtet. An diesem Faktum haben auch diver­ se Reformen mit dem Ziel einer stärkeren Mitgliederbeteiligung wenig geändert. Wichtigstes Organ der LR ist der Präsident. Ebenso wie die Vize-Präsidenten und der Generalsekretär der Partei wird er auf fünf Jahre vom » Kongress «, der Gesamtheit aller Parteimitglieder, in einer Urwahl gewählt. Diese Abstimmungs­ form – die schon 1999 vom RPR praktiziert wurde – begünstigt augenscheinlich eine hohe Partizipation der Mitglieder. Ferner legt der » Kongress « die politischen Grundlinien der LR fest.77 Politische Grundsatzentscheidungen zwischen den Parteitagen trifft der Con­ seil National, gleichsam als kleiner Parteitag. Er tritt jährlich zweimal zusammen. Neben ex officio-Mitgliedern sind auch die unteren Parteigliederungen, die Fédé­ rations départementales, in diesem Gremium vertreten. Das etwa 115 Personen umfassende Bureau Politique, das zwischen den Sitzun­ gen des Conseil National tagt, berät über aktuelle Thematiken. Nur 80 seiner Mit­ glieder werden vom Conseil National gewählt. 17 » sitzen « dort kraft Amtes. Hin­ zu kommen die ehemaligen Premierminister und die Kammerpräsidenten. Auch einzelne Strömungen innerhalb der LR sind repräsentiert. Eine der wichtigsten Funktionen dieses Organs ist die Bestellung einer » nationalen Investitur-Kom­ mission «. Sie schlägt dem Conseil National die Kandidaten für Ämter und Man­ date auf nationaler und kommunaler Ebene vor.

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Die Macht des Parteivorsitzenden beruht auf dem Recht, dem Conseil Natio­ nal führende Persönlichkeiten für hohe Parteiämter wie z. B. die stellvertreten­ den Vizepräsidenten vorzuschlagen und nach dessen Billigung zu ernennen. Aber auch missliebige Führungspersönlichkeiten kann der Parteichef entlassen, wie nach den Regionalwahlen mit seiner Stellvertreterin Nathalie Kosciusko-Morizet wegen ihrer Kritik an Sarkozys verbalen » Anleihen « an das Gedankengut des Front National geschehen. In den Spitzengremien der LR spiegeln sich die Gründungsparteien der UMP wider, wobei die meisten Mitglieder dem früheren RPR angehörten. Hauptaufga­ be des vom Parteivorsitzenden ernannten Generalsekretärs ist die Organisation und Überwachung der täglichen Arbeit des » Mouvements « sowie die Leitung des Bureau Politique (Artikel 26 der Statuten). Mittlerweile wurde der Einfluss des Parteivorsitzenden auf die regionale Ebe­ ne begrenzt. So werden die 100 Präsidenten der Fédérations départementales erstmals ebenso wie die 577 Wahlkreisdelegierten von den Mitgliedern bestellt. Dagegen werden die Departementsekretäre nach wie vor vom Parteipräsident aus­ gewählt. Folglich ist die eigentliche Machtzentrale der Partei ein Instrument des Präsidenten und der von ihm ernannten wichtigsten Berater.

10.7.3 Zur Ideologie und Programmatik Die Unterschiede zwischen dem originären Gaullismus und dem Neo-Gaullis­ mus bzw. » Chiracismus « und » Sarkozysmus « manifestieren sich in Ideologie und Programmatik.78 Aufgrund der in den Gründerjahren vollständigen Identifizie­ rung der Partei mit Staatspräsident Charles de Gaulle wurde der » Gaullismus « zum Leitmotiv dieser Bewegung. Man verstand darunter » eine gewisse Idee von einem Frankreich, das ohne Grandeur nicht es selbst sein kann «, wie es Edmond Michelet, einer der engsten Vertrauten des Generals, einmal formuliert hat. Und der amerikanische Politikwissenschaftler Stanley Hoffmann charakterisierte de Gaulles Hauptanliegen als den » Willen nach Größe, [der sich vor allem] in einem unablässigen Kampf gegen die Mittelmäßigkeit, die Abhängigkeit, die Spaltung und den Niedergang äußerte «79. Der Nationalismus, der Wunsch nach einem star­ ken Staat nach innen und nach außen, die Konservierung der sozialen Ordnung sowie des sozialen Fortschritts mit Hilfe staatlicher Lenkungsinstrumente sind die Wesensmerkmale des Gaullismus. Diese amorphe Programmatik und die ne­ bulöse Begriff‌lichkeit ermöglichten es den Gaullisten, sowohl sozial schwächere als auch traditionell konservative, wohlsituierte Wählerschichten anzusprechen. Noch Mitte der siebziger Jahre platzierte das Parteiprogramm des RPR, das erste in der Geschichte der gaullistischen Bewegung überhaupt, soziale Themen an her­

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ausgehobener Stelle. Konsequenterweise lehnten die Gaullisten den » Wohlfahrts­ liberalismus « von Staatspräsident Giscard d’Estaing entschieden ab. Wenn sich das RPR dennoch im Wahlkampf 1981 von der traditionellen Ideo­ logie abwandte und nunmehr für eine » liberale Wende « stark machte, so hing die­ ser Wechsel mit verschiedenen Faktoren zusammen.80 Die wirtschaftspolitischen Ideen, die von marktradikalen angelsächsischen Theorien inspiriert waren, fan­ den in der Öffentlichkeit und insbesondere in der bürgerlichen Presse starke Re­ sonanz.81 Hinzu kam eine Generation junger gaullistischer und liberal-konserva­ tiver Abgeordneter, die keinen Hehl von der Politik der Reagan-Administration machten. Ein weiterer Grund für die » Bekehrung « der Neogaullisten war die Ent­ täuschung breiter Wählerschichten von dem wirtschaftlichen Kurswechsel der so­ zialistisch-kommunistischen Regierung, der gleichzeitig das Scheitern des linken Reformprogramms anzeigte. Die gaullistische und die liberalkonservative Parteiführung prangerten scho­ nungslos die durch die Verstaatlichungen noch gesteigerte Rolle des Staates in der Wirtschaft an. Ihr zentrales Argument war, die linke Regierung würge mit ih­ rer Politik jegliche Eigeninitiative ab und führe den wirtschaftlichen Niedergang Frankreichs herbei. Drittes und wichtigstes Motiv waren die Notwendigkeit die bevorstehenden regionalen und nationalen Wahlen. Das RPR nutzte die Schwäche der UDF nach dem Verlust der Präsidentschaftswahl von 1981 aus, um sich mit Hilfe neolibera­ ler Rhetorik als die Hauptströmung in der Opposition zu präsentieren. Mit dem Bekenntnis zum Liberalismus lag das RPR ganz » im Zeitgeist «, der sich nachhal­ tig u. a. für » Entstaatlichung «, » Entbürokratisierung «, um » Entlassung « der Bür­ ger aus staatlicher Bevormundung aussprach. Die Umsetzung des neoliberalen Kurses nach der Wahl des Jahres 1986 zeig­ te jedoch bald, wie das sich an ausländischen Vorbildern orientierende sowie dem Gaullismus wesensfremde und aufgepfropft wirkende Liberalismusmodell fremd war. Streiks und der Vorwurf, die Bewegung sei » die Partei des reichen Frank­ reich « ließen es geraten erscheinen, den Kurs zu mäßigen. Mit Chiracs Niederlage im Frühjahr 1988 war es mit dem Neoliberalismus vorbei. Die Partei besann sich Anfang der 90er Jahre zunehmend auf den Gaullismus zurück. Im Mittelpunkt standen wieder die Schaffung von Arbeitsplätzen und der Kampf gegen eine soziale Ausgrenzung. Damit setzte sich das » etatistische Wachs­ tumsmodell « wieder durch.82 In der auf dem UMP-Gründungskongress verab­ schiedeten » Charte de l’Union « bekannte sich die konservative Sammlungspartei sowohl zu den gaullistischen Grundwerten als auch zu einer gemäßigten Markt­ wirtschaft. Zu den liberalen Grundideen der Freiheit und der Verantwortung gesellte sich auch in der umbenannten Bewegung UMP bzw. der LR das Bekenntnis zur So­

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lidarität, zur französischen Nation und zur europäischen Integration. Die UMP bzw. LR erkennen sich in all diesen Werten wieder, wobei der » republikanischen Nation, [die] unsere gemeinsame Identität bildet «, eine hervorgehobene Stellung zukommt. Aber auch ein klares Bekenntnis zum vereinten Europa, das » eine Er­ weiterung unserer Perspektiven ist […] und [in dem] jedes Land seine Eigenar­ ten behält «, fehlt nicht. Insgesamt enthält die » Charte « Forderungen nach wirt­ schaftlicher und sozialer Modernisierung, nach einer gesellschaftlichen Öffnung sowie nach einem Dialog mit den Bürgern. Ein supranationales Europa wird ab­ gelehnt. Hier spiegelt sich – wie auch bei den Sozialisten – der Riss zwischen den Anhängern eines » Europa der Nationen « und Befürwortern einer immer enge­ ren Zusammenarbeit auf der europäischen Ebene bis hin zur Übertragung sou­ veräner Rechte auf » Brüssel « wider. Im Vorfeld des beginnenden Wahlkampfes für das Wahljahr 2017 orientieren sich die Republikaner an den Reformvorstö­ ßen in Sarkozys Präsidentschaft. Die von der sozialistischen Nachfolgeregierung weitgehend wieder abgeschafften Maßnahmen einer angebotsorientierten Wirt­ schaftspolitik sollen wieder aufgegriffen werden:83 die Wirtschaft soll von Abga­ ben entlastet sowie das verkrustete Arbeitsrecht » entschlackt « werden – dies alles auch, um Arbeitsplätze insbesondere für junge Arbeitslose zu schaffen. Der Par­ teivorsitzende Sarkozy versteht sich als liberal-konservativ und will mit gaullis­ tischen und liberalen Ideen auch die Partei zusammenführen, was aber nur teil­ weise gelang, denn Ende 2012 gründeten rechte Zentrumpolitiker die UDI (siehe Seite 211).

10.7.4 Mitglieder- und Wählerstruktur Die ideologisch-programmatische Entwicklung der gaullistischen Bewegung und ihrer Nachfolgepartei in den vergangenen Jahren erklärt sich auch aus struktu­ rellen Veränderungen in der Führungselite und bei den Mitgliedern. Seit dem Vorsitz Chiracs, aber ebenso unter seinen Nachfolgern, fand jeweils eine syste­ matische Auswechslung der wichtigsten Parteifunktionäre – mit dem Effekt einer erheblichen Verjüngung – statt. Infolge des Zustroms neuer Mitglieder bei der RPR-Gründung, nach dem Machtwechsel 1981 und besonders wiederum seit Sarkozys Wahl an die Parteispitze stieß dies kaum auf nennenswerte Widerstände. Je­ der neue Vorsitzende war darauf bedacht, die Anhänger seines Vorgängers in die Parteigremien zu integrieren. Die Führungspositionen wie die der Nationalen Sekretäre und deren Stellver­ treter werden grundsätzlich mit Mandatsträgern hauptsächlich des nationalen Parlaments besetzt. Auch auf regionaler Ebene üben » einfache « Mitglieder höchst selten zentrale Funktionen aus. Folglich sind Die Republikaner eine Partei, in der

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die Abgeordneten unter der Leitung des Parteichefs » den Ton angeben «.84 Diese Führungseliten stammen nahezu ausnahmslos aus der oberen Mittelschicht. Trotz der Niederlage des Jahres 2012 zählen Die Republikaner knapp 270 000 Mitglieder. Dies ist eine beachtlich hohe Zahl für französische Parteien. Die Zer­ strittenheit der Partei nach Sarkozys Wahlniederlage führte nicht wie von vielen erwartet, zum Zerbrechen der Sammlungsbewegung. Sarkozys Abstimmungser­ gebnis bei der Urwahl zum Parteivorsitzenden im Dezember 2014 mit 64,5 Pro­ zent war zwar nicht überwältigend, aber es erlaubte ihm einen Neuanfang einzu­ läuten. Die Umbenennung der Konservativen in Les Républicains am 28. Mai 2015 durch einen Mitgliederentscheid ist dafür das sichtbarste Zeichen. Ob der neuealte Parteichef sich durch den Neustart eine » zweite Chance « als Kandidat der Rechten bei den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2017 verschafft hat, ist of­ fen. Erst eine für Ende 2016 vorgesehene Urwahl wird über den offiziellen Bewer­ ber entscheiden. Die Mitgliederschwerpunkte der Partei befinden sich im Großraum Paris und in den anderen Großstädten. Altersmäßig dominieren die über 40-jährigen, bei der beruflichen Herkunft überwiegen die Besserverdienenden; Arbeiter und klei­ ne Angestellte sind unterrepräsentiert; das Gleiche gilt für Frauen. Ungeachtet dieses eher » bürgerlichen « Mitgliederformats gelang es dem Neogaullismus aber auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in allen Gesellschaftsschichten präsent zu sein.85 Bemerkenswert ist die relativ gute lokale Verankerung der Sammlungsbewe­ gung. Erlitt die Partei in Sarkozys Amtszeit als Staatspräsident bei allen Nebenwah­ len dramatische Einbußen, änderte sich das » Bild « während der Präsidentschaft seines sozialistischen Nachfolgers. So gewann die Partei bei den Kommunalwah­ len im Frühjahr 2014 320 Städte mit mehr als 10 000 Einwohnern, darunter die Großstädte Marseille, Bordeaux und – erstmals – Toulouse. Von insgesamt 39 Ge­ meinden über 100 000 Bewohnern regiert die bürgerliche Rechte nun 23, die Lin­ ke nur noch 19 – ein Verlust von zehn dieser Großstädte. Auch bei den Wahlen zu den Departementräten im Juni 2015 erzielten Les Républicains bemerkenswer­ te Gewinne: 1 080 Sitze von insgesamt 4 108. Sie » regiert « jetzt in 44 MutterlandDepartements. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2014 erhielten die Re­ publikaner 20,81 Prozent der Stimmen und wurden nach dem Front National (24,86 Prozent) zweitstärkste Partei. Erlitt die Partei bei den Regionalwahlen im März 2010 eine eklatante Niederlage und stellte nur im Elsass den Regionalrats­ präsidenten, regieren die Bürgerlichen seit Dezember 2015 in sieben der insgesamt 13 neugebildeten Großregionen im Mutterland. Der konservativen Partei gelang es gemeinsam mit ihren Bündnispartnern im Jahr 2015 die Senatsmehrheit zurückzuerobern. In diesen Zahlen spiegelt sich die

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Unzufriedenheit der Wähler mit der (fast) fünfjährigen Amtszeit des zweiten so­ zialistischen Staatschefs wider. Ein Blick auf die wahlgeographische Landschaft von 2007 und 2012 zeigt, dass es der Sammlungsbewegung gelungen ist, ihre Hochburgen zu halten. Unverän­ dert stark blieb die UMP – abgesehen von einigen bretonischen Wahlkreisen – im Wahljahr 2012 in Westfrankreich mit seiner katholischen Tradition, in der Ile-deFrance, im Limousin, in den westlichen Randgebieten des Zentralmassivs und an der Côte d’Azur. Auch im Elsass, in der Umgebung von Lyon sowie in Savoyen war sie weiterhin erfolgreich.86 Die UMP musste im Vergleich zu den Wahlen von 2007 Verluste bei den sozial Schwächeren hinnehmen. Insgesamt entschieden sich – nach einer Untersuchung des Meinungsforschungsinstitut Ipsos-Logica – 28 Prozent der Arbeiter und 29 Prozent der einfachen Angestellten für Kandidaten der UMP.87 Landwirte, Frei­ berufliche und Führungskräfte in der Privatwirtschaft, aber weniger Beschäftigte im Staatsdienst wählten wie schon in der Vergangenheit überwiegend die bürger­ liche Rechte. Wählerinnen stellen unverändert die Mehrheit unter den UMP-Sym­ pathisanten. Große Unterschiede bestehen dagegen in den Altersgruppen. Hier dominieren die Älteren, während die unter 35-jährigen deutlich unterrepräsen­ tiert sind. Auch bei den monatlichen Einkommen dominieren Besserverdienen­ de; Wähler mit Abitur und Hochschulausbildung entschieden sich vornehmlich für Kandidaten der UMP. Insgesamt stuften sich die UMP-Wähler mehrheitlich als » rechts « und weni­ ger als » Vertreter der Mitte « ein. Einige Themen waren für ihre Stimmabgabe of­ fensichtlich entscheidend: Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Immigration und sozia­ le Ungleichheit. Die Wahlverluste bei Nebenwahlen in Sarkozys Präsidentschaft verweisen auf einen Trend, der sich im Frühjahr 2012 bestätigte. Die Versprechungen des Staats­ präsidenten zur Verbesserung der Einkommen bewahrheiteten sich ebenso we­ nig wie die Reduzierung der hohen Arbeitslosigkeit. Im April 2012 bekundeten 64 Prozent der Befragten, sie seien mit Sarkozys Amtsführung unzufrieden und trauten ihm nicht zu, die Probleme des Landes zu meistern.88 Die noch schlechte­ ren Umfragewerte seines Nachfolgers im Elysée-Palast lassen für das kommende Wahljahr aber keine Prognose zu.

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10.8 Der Niedergang des Zentrums 10.8.1 Entwicklungstendenzen Seit Jahrzehnten von verschiedenen Gruppierungen des Zentrums unternomme­ ne Versuche, eine » dritte Kraft « zwischen der (neo-)gaullistischen Bewegung und der Sozialistischen Partei zu etablieren, trugen keine Früchte. Exemplarisch war das Abschneiden von François Bayrou, dem Vorsitzenden des Mouvement Démo­ crate (MoDem), in der Präsidentschaftswahl im April 2012. Noch fünf Jahre zu­ vor hatte er mit 18,6 Prozent der Stimmen den dritten Platz im » Rennen « um den Elysée-Palast erreicht. 2012 erhielt er als Fünfter im ersten Durchgang nur noch 9,13 Prozent. Bei den anschließenden Parlamentswahlen verlor er sogar sein Man­ dat in Pau. Wegen fehlender Wahlabsprachen mit der UMP war das MoDem mit nur noch zwei Abgeordneten im Palais Bourbon vertreten. Sarkozy und seine An­ hänger rächten sich auf diese Weise an Bayrous Erklärung zwischen den beiden Präsidentschaftswahlgängen, er würde für Hollande stimmen. Der andere Flügel des Zentrums, das im Mai 2007 gegründete Nouveau Centre, ein Koalitionspart­ ner der UMP, erhielt zwar nur 2,2 Prozent der Stimmen, kehrte aber mit zwölf Ab­ geordneten, gegen die kein UMP-Kandidat aufgestellt worden war, in die Natio­ nalversammlung zurück. Zwar besitzt das Zentrum mit all seinen verschiedenen » Strömungen « eine lange Tradition in der französischen Parteiengeschichte. Geprägt ist es aber spä­ testens seit Beginn der V. Republik durch nicht enden wollende Zersplitterungen der Gruppierungen und wechselnde, konfliktreiche Koalitionsexperimente mit der gaullistischen Rechten.89 Die jüngste » Neuschöpfung « auf diesem » Parteien­ tableau « ist die Gründung der Union des Démocrates et Indépendants (UDI) am 18. September 2012 durch den Vorsitzenden der Parti Radical, Jean-Louis Borloo (siehe unten). Vor der Darstellung des gesamten Zentrums nach den Wahlen im Frühjahr 2012 ist ein Rückblick auf seine Geschichte hilfreich. Nach verschiedenen Fusionen und Abspaltungen blieben in der Union für die französische Demokratie (UDF) sechs Mitgliedsgruppierungen: Die beiden größten waren die liberale Republikanische Partei (PR) und die in christlich-de­ mokratischer Tradition stehenden Zentristen. Damit vereinigten sich drei gro­ ße Strömungen: der konservative Radikalismus in Form der Parti Radical, ferner die christlich-demokratische Bewegung der Nachkriegszeit in Form des Zen­ trums und der – aufgeklärte – Liberalismus der – einstigen – Anhänger Giscard d’Estaings. Erklärtes Ziel des gemeinsamen Dachverbandes war es, unter Staatspräsident Giscard d’Estaing ein Gleichgewicht zwischen Giscardisten und Gaullisten herzu­

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Die politischen Parteien

stellen. Eine Zersplitterung der nichtgaullistischen Stimmen der Liberalen und des Zentrums konnte auf diese Weise vermieden werden, so dass die UDF bei den Parlamentswahlen 1978 sowie bei den Europawahlen ein Jahr später beachtliche Stimmen- und Mandatsgewinne erzielte. Mit Giscard d’Estaings Ausscheiden und den dadurch bedingten Funktions­ verlust » der Partei des Präsidenten « schien das Schicksal der UDF besiegelt. Aber der intakt gebliebene – schwache – Organisationsapparat und der Zwang, mit den Gaullisten wieder eine gemeinsame Parlamentsopposition zu bilden, sowie Wahl­ erfolge trugen zur schnellen Überwindung der Krise bei. Als stabilisierender Fak­ tor innerhalb der UDF schälte sich immer mehr die gemeinsame Parlamentsfrak­ tion heraus. Sie war auch bei den späteren Parlamentswahlen die treibende Kraft für Wahlabsprachen mit den Gaullisten. Allen Einzelgruppierungen der UDF war klar, dass sie sich jeweils allein gegenüber dem dynamischen und gut organisier­ ten Partner nicht behaupten konnten. Die Organisationsstruktur bildete – neben den Profilierungssüchten und Ri­ valitäten der Spitzenpolitiker – die » Achillesferse « der UDF, denn weder in der Gründungszeit noch in den folgenden Jahren gelang der Schritt von einem Par­ teienkartell zu einer festgefügten Konföderation. Dem Wunsch nach Eigenstän­ digkeit der einzelnen Partner trug die konföderale Struktur insofern Rechnung, als die UDF von den Parteivorsitzenden kollegial geführt wurde. Der Parteipräsi­ dent nahm kaum Einfluss auf die Geschicke des Parteienkartells. Bei nationalen und regionalen Wahlen bis Anfang des neuen Jahrhunderts gab es Absprachen zwischen UDF und den Gaullisten. Sie führten teilweise zu be­ achtlichen Mandatsgewinnen (siehe Schaubild 6, Seite 234). Die vergeblichen Versuche der UDF, sich bei den Präsidentschaftswahlen 1988 und 1995 auf einen gemeinsamen Bewerber aus ihren Reihen zu verständigen, offenbarten das Di­ lemma, in dem sich die » Partei « befand. Sie vermochte keinen » présidentiable « zu präsentieren. Zwar wurde 1988 Raymond Barre ihr Kandidat, er gehörte aber dem Parteienkartell nicht an. 1995 zerstritt sich die UDF über die Frage eines eige­ nen Kandidaten. Ein Teil unterstützte im ersten Wahlgang schließlich Premiermi­ nister Edouard Balladur, ein anderer den offiziellen RPR-Bewerber Jacques Chirac. So bleibt zu resümieren, dass sich die UDF bei Parlaments-, Europa-90, Kom­ munal- und Regionalwahlen als Parteien- oder Wahlkartell hinreichend bewährt hat, bei Präsidentschaftswahlen dagegen deutlich weniger.91 Seit April 1998 existierte das Wahlkartell UDF nicht mehr. Der Anlass für den Zerfall waren Bündnisse, die einige Provinznotabeln gegen den Willen der Pariser Parteiführungen mit dem Front National bei der Wahl von Regionalratspräsiden­ ten vor allem in Südfrankreich abgeschlossen hatten. Nach heftigen internen Aus­ einandersetzungen entschlossen sich die Liberalen, die sich nunmehr in Démo­ cratie Libérale umbenannten, unter ihrem Vorsitzenden Alain Madelin, die UDF

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zu verlassen. Im Gegensatz zum Vorsitzenden des Zentrums, François Bayrou, hielt Madelin die strikte Ausgrenzung gegenüber den Rechtspopulisten langfris­ tig für politisch nicht opportun. Für die Rückeroberung der Macht auf nationaler Ebene wie auch in den Regionen benötige die bürgerliche Rechte die Wähler des FN. Diese Strategie lehnten Bayrou und seine Freunde ab. Dieser bemühte sich nach dem Austritt der DL, aus den Restständen der UDF eine » erneuerte « UDF zu gründen. Seinen Aufruf dazu befürworteten die Partei­ tagsdelegierten der Rumpf-UDF mit überwältigender Mehrheit. Ein Großteil der Zentrums-Parteielite kam anfänglich aus der großen christ­ lich-demokratischen Partei der IV. Republik, den Volksrepublikanern (MRP), de­ ren Wähler sich in den sechziger Jahren jedoch weitgehend den Gaullisten zuge­ wandt hatten. Neben Bayrous eigener Partei, der Force Démocrate, schlossen sich einige klei­ nere liberale und sozialdemokratische Gruppierungen an, die zuvor mit der DL bzw. ihrer Vorgängerin, der Republikanischen Partei, in Konflikt gelegen hatten. Die Hoffnung des Parteivorsitzenden, die » neue UDF « zum Kern einer großen » Partei der Mitte « zu entwickeln, verflüchtigte sich vor dem Hintergrund seines enttäuschenden Abschneidens im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen von 2002 mit 6,84 Prozent und der » Fahnenflucht « der meisten UDF-Abgeordne­ ten hin zur neuen Sammelungspartei UMP. Mit anfänglich 22 Abgeordneten er­ reichte die » Nouvelle « UDF nur noch mühsam den Fraktionsstatus. Auch für Alain Madelin, den Vorsitzenden der Démocratie Libérale verliefen die Präsidentschaftswahlen höchst enttäuschend. Es war nur konsequent, dass die DL im November 2002 mit der UMP fusionierte und sich auflöste. Kern der noch bis 1998 bestehenden » erneuerten « UDF war die – mittler­ weile aufgelöste – Force Démocrate (FD), die wiederum aus dem 1976 gegründe­ ten Zentrum der Sozialen Demokraten (CDS) hervorgegangen war. Mit der Na­ mensänderung war beabsichtigt, das politische Spektrum des in der Tradition der christlich-demokratischen Volkspartei der IV. Republik stehenden Zentrums um laizistische Programmelemente zu erweitern und es zum Kern einer vereinten po­ litischen Mitte zu entwickeln. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch an innerer Zer­ rissenheit, an Streitigkeiten zwischen den Parteigranden, an mangelnder Orga­ nisationsfähigkeit und – entscheidend – am Wählerzuspruch. So verwundert es nicht, dass die Liberalen 2002 die » Fahnenflucht « zur großen Sammlungsbewe­ gung antraten, um ihre Parlamentsmandate durch Absprachen mit den Gaullisten zu retten. Ein Teil des Zentrums, der Bayrous Präsidentschaftsambitionen ablehn­ te, schloss sich an. Der Parteivorsitzende des MoDem brach hingegen sämtliche Brücken zur UMP ab und hoffte weiterhin auf einen Erfolg seines » dritten Weges «. Seine Ambitionen verflüchtigten sich bei den Parlamentswahlen im Juni 2007 und endgültig fünf Jahre später. » Das Zentrum scheint heute, « so Stéphanie Abrial,

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Tabelle 6  Entwicklung der Liberalen und Zentrumsparteien 1944: Gründung des christlich-demokratischen Mouvement Républican Populaire (MRP); bekanntester Politiker war Robert Schuman. 1948: Bildung des konservativen Centre National des Indépendants et (seit 1951) Paysans (CNIP). Es vertrat hauptsächlich den so genannten alten Mittelstand. Sein wichtigster Politiker war Antoine Pinay. 1962: Gründung der Républicains Indépendants unter Valéry Giscard d’Estaing als Abspaltung vom CNIP. Giscard d’Estaing unterstützte im Gegensatz zu den meisten CNIP-Vertretern de Gaulles Verfassungsreferendum. 1966: Schaffung der Honorationenpartei Fédération Nationale des Républicains Indépendants (FNRI), deren Vorsitz Giscard d’Estaing übernahm. Gründung des Centre Démocrate (CD) als Nachfolgepartei des MRP. 1971: Bildung des Mouvement Réformateur als Wahlkartell aus Parti Radical und Centre Démocrate. 1972: Spaltung der Radikalsozialisten in Mouvement de Radicaux de Gauche und Parti Radical. 1974: Giscard d’Estaing Kandidat der Republikaner, des Zentrums und eines Teils der Gaullisten unter Jacques Chirac für die Präsidentschaftswahlen. 1976: Umbenennung des CD in Centre des Démocrates Sociaux (CDS). 1977: Umbenennung der FNRI in Parti Républicain. 1978: Gründung des Parteienkartells UDF. Wichtigste Mitglieder sind PR, CDS, Parti Radical, Clubs Perspectives et Réalités und die Direkten Mitglieder. 1994: Austritt von Philippe de Villiers aus der PR wegen seiner Ablehnung des Maastricht-Vertrages. Er gründet sein national-konservatives Mouvement pour la France. 1995: François Bayrou bildet das CDS zur Force Démocrate (FD) um. Bei den Präsidentschaftswahlen 1995 zerstreitet sich das Parteienbündnis: Ein Teil unterstützt Jacques Chirac, ein anderer Teil Premierminister Edouard Balladur. 1997: Die PR nennt sich unter ihrem Parteivorsitzenden Alain Madelin in Démocratie Libérale (DL) um. 1998: Zerfall der UDF unter anderem wegen tiefgehender Differenzen zwischen Bayrou und Madelin über die Wahl von Regionalratspräsidenten mit Hilfe von Stimmen des Front National. DL verlässt die (alte) UDF, François Bayrou wird Präsident der » Nouvelle « UDF, deren Kern seine Force Démocrate ist. 2002: Enttäuschendes Abschneiden von Bayrou und Madelin bei den Präsidentschaftswahlen. November: DL und Parti Radical werden Gründungsmitglieder der großen Sammlungspartei UMP. Bayrou lehnt eine Fusion seiner Partei mit der UMP ab und betont erneut die Autonomie der » Nouvelle « UDF. 2004: Achtungserfolge der UDF-Liste bei den Europa-Wahlen und bei den Regionalwahlen. 2007: Bayrou erhält bei den Präsidentschaftswahlen 18,6 Prozent und gründet das Mouvement Démocrate (MoDem) unmittelbar vor dem ersten Durchgang der Legislativwahlen. Etliche Zentristen verlassen daraufhin das MoDem und gehen eine Koalition mit der UMP ein, um ihre Wahlkreise zu » retten «. 2011: Im Mai/Juni 2011 emanzipiert sich das Nouveau Centre von der UMP und bildet die Alliance Républicaine, Ecologique et Solidaire. 2012: François Bayrou spricht sich zwischen den Wahlgängen für die Wahl von François Hollande aus, während das Nouveau Centre auf einen eigenen » présidentiable « verzichtet und zur Stimm­ abgabe für Nicolas Sarkozy aufruft. Im September 2012 gründet Jean-Louis Borloo, Parteivorsitzender der Parti Radical, das rechte Zentrum UDI. Quelle: Stéphanie Abrial: Entre Libéralisme et centrisme, in: Bréchon (Hrsg.) 2011, S. 82 f. und eigene Darstellung.

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» Schwierigkeiten zu haben, einen Platz zwischen der Rechten und der Linken zu finden. «92 Nach Sarkozys Wahlniederlage im Mai 2012 und dem Verlust der Regierungs­ mehrheit formierte sich das – liberale – Zentrum neu. Unter dem Vorsitz des mehrfachen Ministers Jean-Louis Borloo, Präsident der (Mini-)Parti Radical, bil­ deten sieben politische Gruppierungen am 18. September 2012 die Union des Dé­ mocrates et Indépendants (UDI).93 Als » politische Partei des rechten Zentrums auf dem politischen Schachbrett «94 stützt sich die neue politische Gruppierung auf die 30 Abgeordneten der UDI-Fraktion und die 40 UDI-Senatoren. Alle Gruppie­ rungen des neuen Kartells behielten ihre Selbständigkeit bei. » [Es] handelt sich um die Quasi-Wiederherstellung der ehemaligen UDF – nur François Bayrous MoDem fehlt, « schreibt Abel Mestre in Le Monde.95 Bayrou lehnte einen Beitritt zur neuen Formation mit den Worten ab: » Ich glaube nicht, dass das Zentrum sich in der [politischen] Rechten zusammenfassen lässt, denn dann gäbe es kein Zentrum. «96 Auch nach dem Wechsel im Parteivorsitz am 18. November 2014 verständigte sich der neue UDI-» Parteichef « für die anstehenden Nebenwahlen sowohl mit der UMP als auch mit dem MoDem auf Wahlabsprechen. Ob es 2017 einen eigenen » présidentiable « geben wird, soll ein Mitgliedervotum entscheiden.

10.8.2 Programmatik Innerhalb der bürgerlichen Koalition bildete das Zentrum gewissermaßen den » linken Flügel «.97 Seine sozialreformerischen Vorschläge,98 die am mangelnden Gewicht des Zentrums krankten und fast zu nichts führten, ähneln in vieler Hin­ sicht den Vorstellungen der CDU-Sozialausschüsse. In der Außenpolitik war die Partei der entschiedenste Verfechter einer europäischen und atlantischen Orien­ tierung. Dem wirtschaftsliberalen Konzept verschloss sich die Partei ebenfalls nicht. Ihr Programm sprach sich für die Befreiung unternehmerischer Entschei­ dungen von staatlicher Bevormundung aus. Allerdings legte das Zentrum Wert auf die Feststellung, dass die Solidarität mit den sozial Schwachen nicht darunter leiden dürfe und der Staat in der sozialen Marktwirtschaft eine » Anregungs- und Orientierungsrolle « hätte.99 Das Programm enthält auch ein Bekenntnis zum lai­ zistischen Staat. Am stärksten unterschied sich das Zentrum von den Partnern in der Europa­ politik. Hier sprach es sich stets uneingeschränkt für den Ausbau gesamteuropä­ ischer Strukturen und für die Aufwertung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments aus. Die Unterschiede zwischen Bayrous MoDem und der UDI in pro­ grammatischen Fragen sind denkbar gering.100

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Die politischen Parteien

10.8.3 Organisationsstruktur Die wichtigste Persönlichkeit beider Parteien ist der vom jeweiligen Parteitag auf zwei Jahre gewählte Präsident. Beim MoDem schlägt er dem » Politbüro « (Bureau Politique) die Wahl der drei » leitenden « Vizepräsidenten, die weiteren Vizepräsi­ denten, den Schatzmeister und ggf. dessen Stellvertreter sowie die nationalen De­ legierten und Sekretäre vor. Sie alle bilden gemeinsam das Exekutivbüro, das Ent­ scheidungsorgan der Partei. Zwischen den Parteitagen, an denen alle Parteimitglieder teilnehmen dürfen, tagt bei der UDI dreimal und beim MoDem mindestens einmal jährlich das » Par­ lament « der jeweiligen Partei, der Nationalrat, der sich nahezu hälftig aus von den regionalen Föderationen Gewählten und aus Mitgliedern kraft Amtes zusammen­ setzt. Seine Hauptaufgabe ist die Bestellung der Mitglieder des politischen Büros, das auf zwei Jahre nach der Verhältniswahl gewählt wird. Das Bureau Politique tagt monatlich. Es ist für die Umsetzung der vom Natio­ nalrat beschlossenen Richtlinien verantwortlich. Auf Vorschlag des Präsidenten wählt es die Mitglieder des Exekutivbüros. Die Organisationsstruktur der UDI spiegelt die politischen Komponenten die­ ses Kartells wider: Der weitgehend einflusslose Präsident ist von elf Vizepräsiden­ ten eingerahmt, welche die Teilnehmergruppierungen der Allianz vertreten. Die » Regierung « des Bündnisses ist das Bureau Exécutif. Ihm gehören neben dem Parteivorsitzenden die Vizepräsidenten, die beiden vom Parteichef ernannten Ge­ neralsekretäre, die Fraktionsvorsitzenden sowie einige weitere Personen an. Wäh­ rend es alle 14 Tage tagt, tritt das Politbüro, dem hauptsächlich Vertreter der De­ partementföderationen angehören, einmal monatlich zusammen. Beiden Zentrumsparteien fehlt es an einer schlagkräftigen Organisation. Die Notabeln – Abgeordnete der Nationalversammlung, Senatoren und Bürgermeis­ ter – bilden den Kern der örtlichen und regionalen Parteigremien. Nach wie vor bemüht sich die Parteiführung, lokal und regional bekannte Persönlichkeiten als Kandidaten zu gewinnen.101 Mittlerweile hat sich das MoDem zu einer Wahl­ kampfmaschine zwecks Unterstützung ihres (Dauer-)Präsidentschaftskandidaten Bayrou entwickelt – allerdings mit nur bescheidenen Wahlergebnissen. Borloos Initiative, das rechte Zentrum zu einem Parteienkartell zu bündeln, belegte die Entschlossenheit der UDI-Parlamentarier, sich vom neogaullistischen Partner zu emanizipieren. Wahlabsprachen sowohl mit den Republikanern wie auch mit MoDem wurden bei diversen Nebenwahlen – teilweise mit Erfolg – ge­ schlossen. Offen ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Juli 2016), ob das rechte Zent­ rum einen eigenen » présidentiable « aufstellen wird. Es herrscht die Meinung vor, die Stimmen bürgerlicher Wähler besser erreichen zu können, wenn diesen zu­ mindest bei Legislativwahlen bereits im ersten Wahlgang eine ideologische » Al­

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ternative « angeboten wird. Beide Zentrumsparteien wissen, dass ihre Kandidaten bei Parlamentswahlen in einigen Wahlkreisen ohne Unterstützung der Republika­ ner kaum Chancen haben werden. Trotz Bayrous Aufruf zu Gunsten von Hollande weigerten sich die Sozialisten bei den Parlamentswahlen im Juni 2012, Kandida­ ten des Zentrums durch den Rückzug ihrer Bewerber im zweiten Wahlgang zu unterstützen.

10.8.4 Mitglieder- und Wählerstruktur Beide Zentrumsbewegungen zählen jeweils weniger als 20 000 Mitglieder. Die­ se gehören dem gehobenen Mittelstand an. Freie Berufe und Führungskräfte do­ minieren, während einfache Angestellte und Arbeiter nur selten vertreten sind. Männer » reiferen Alters « dominieren, Frauen stellen nur 20 Prozent der Parteien­ mitglieder. Trotz des Bekenntnisses zur Laizität ist der regelmäßige Kirchgang für mehr als die Hälfte eine Selbstverständlichkeit.102 Neben den Abgeordneten der Nationalversammlung – 30 UDI-Mitglieder so­ wie zwei vom MoDem – sind vor allem die 40 Senatoren der gemeinsamen Frak­ tion und die 14 Departementratspräsidenten die Operationsbasis des Zentrums. Mit 115 Bürgermeistern in Städten über 10 000 Einwohnern, darunter Amiens und Nancy mit jeweils über 100 000 Bewohnern, steht es in kommunaler Hinsicht auf eher schwachen Beinen. Nach den Departementwahlen vom Frühjahr 2015 stellt es lediglich 422 Kreisräte. Nur dank der Wahlunterstützung durch die Republi­ kaner stellt das (UDI-)Zentrum seit Dezember 2015 den Regionalratspräsidenten der Normandie. Die geographischen Schwerpunkte sind der katholisch geprägte Westen und Osten Frankreichs. Hinzu kommen Wähler aus den wohlhabenden Vierteln der Großstädte, dem Departement Pyrénées Atlantiques, dem Südrand der Auvergne sowie Savoyen.103 Gutausgebildete und besser verdienende Personen, eher älteren Frauen, Frei­ berufler sowie Landwirte bilden die Wählerschaft beider Zentrumsparteien.104 Dies alles macht es wenig wahrscheinlich, dass das Zentrum jemals zu einer echten » Dritten Kraft « zwischen den Republikanern und der Linken werden kann. Bayrou ist mit seinem Kurs einer Annäherung an die Sozialistische Partei geschei­ tert. Es dürfte daher fraglich sein, ob er diesen Kurs auch gegen innerpartei­liche Widerstände durchhalten kann. Das MoDem ist inzwischen eine Partei ohne Wähler und ohne Abgeordnete. Die Union des Démocrates et Indépendants setzt dagegen weiterhin auf Koalitionen und Wahlbündnisse mit den Republikanern. Anderenfalls wären ihre Vertreter kaum mehr im Parlament und größeren Ge­ meinden vertreten.

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10.9

Die politischen Parteien

Die Parti Radical

Frankreichs älteste Partei, Le Parti Républicain et Radical Socialiste, so der offi­ zielle Name, war immer für die strikte Trennung von Staat und Kirche. Mit dem Zusammenbruch der III. Republik diskreditiert, wurde sie in der V. Republik fak­ tisch bedeutungslos. Ihre Wähler, die zum » alten Mittelstand « gehörten, wandten sich anderen Parteien, hauptsächlich den Gaullisten, zu. Die nur locker organi­ sierte Honoratiorenpartei wurde Mitbegründerin der UDF, ohne dort einen nen­ nenswerten Einfluss zu erlangen. Ziele wie die Verteidigung der Republik und des Laizismus gehörten schon seit längerem zum ideologisch-programmatischen Repertoire anderer Parteien.105 Angesichts ihrer Bedeutungslosigkeit trat die Partei im November 2002 als » as­ soziiertes Mitglied « der UMP bei. Wie oben vermerkt, orientierte sich die Partei nach Sarkozys Wahlniederlage unter ihrem Vorsitzenden Borloo im Herbst 2012 neu und wurde Gründungsmitglied der UDI.

10.10 Der Front National 10.10.1 Entwicklungstendenzen Bei den Präsidentschaftswahlen von 2012 erreichte Marine Le Pen, seit 2011 Nach­ folgerin ihres Vaters als Parteivorsitzende des Front National mit 17,9 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang den dritten Platz. Wenige Wochen später erzielten die Kandidaten der rechtspopulistischen Partei bei den Legislativwahlen 13,6 Pro­ zent. Da sich die demokratischen Parteien im zweiten Wahlgang einer Wahlalli­ anz verweigerten, zogen am Ende nur zwei FN-Kandidaten ins Palais Bourbon ein. Eine davon war Marion Maréchal Le Pen, die Nichte der Parteichefin. Sie ent­ schied im Departement Vaucluse die Stichwahl für sich. Dort gewann auch Jacques Bompard, Kandidat der rechtsextremen Ligue du Sud sowie Bürgermeister von Orange, sein Mandat. Marine Le Pens Vater hatte 2002 mit seinem » Sieg « im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl im politischen System der V. Republik einen Schock ausge­ löst. Er erhielt im ersten Wahlgang 16,9 Prozent der Stimmen und vierzehn Tage später 17,8 Prozent gegen den amtierenden Staatspräsidenten Jacques Chirac. Der FN hat sich mittlerweile als » dritte Kraft « innerhalb des Parteiensystems fest eta­ bliert. Bei den Europawahlen 2014 wurde die Partei mit 25 Prozent und 24 Abge­ ordneten sogar stärkste Kraft innerhalb des französischen Kontingents im Straß­ burger Europaparlament.106 Bei den Regionalratswahlen Ende 2015 überrundete der FN im ersten Wahlgang mit fast 28 Prozent der Stimmen in den 13 Großregio­ nen die etablierten Parteien.

Der Front National 219

Der Front National107 wurde am 5. Oktober 1972 auf Initiative von Mitgliedern der nationalistischen Bewegung Ordre Nouveau gegründet. Das Ziel war die Bün­ delung verschiedener rechtsextremer Grüppchen, um der extremen Rechten eine parlamentarische Vertretung zu ermöglichen. Zum Präsidenten wurde Jean-Marie Le Pen bestellt, Mitglied der Nationalversammlung von 1956 bis 1962, zunächst als Abgeordneter der rechtspopulistischen Poujadisten,108 dann ab 1958 als Mitglied der CNI-Fraktion. Im Jahre 1965 arbeitete er aktiv im Mitarbeiterstab des rechts­ gerichteten Präsidentschaftsbewerbers Jean-Louis Tixier-Vignancour mit. In den ersten Jahren nach ihrer Bildung spielte der FN wahlpolitisch keine Rolle. Seine Ergebnisse blieben regelmäßig unter 0,5 Prozent. Dies änderte sich schlagartig bei einer kommunalen Nachwahl im September 1983 in der Stadt Dreux westlich von Paris. Für die meisten Wahlbeobachter völlig überraschend, erhielt die FN-Liste 16,7 Prozent der abgegebenen Stimmen. Weitere lokale Erfol­ ge folgten. Der FN war der wahlpolitische Durchbruch gelungen. Er bereitete nun die nächste nationale Wahl, die Europawahl von 1984, vor und dies mit Erfolg, wie die landesweit erzielten elf Prozent bestätigten. Bei allen weiteren Wahlgängen konnte die FN ihr Stimmergebnis entweder halten oder sogar ausbauen. Insbeson­ dere bei den so genannten Nebenwahlen wie denjenigen zum Europaparlament und zu den Regionalräten verzeichnete die Partei große Gewinne. Le Pens Ergeb­ nisse bei Präsidentschaftswahlen wurden als nationaler Überraschungserfolg ge­ wertet, der gleichzeitig die landesweite Verankerung des FN dokumentierte. Aller­ dings erhielt die Partei wegen der absoluten Mehrheitswahl bei Parlamentswahlen kein Mandat, weil sich die übrigen Parteien einer Absprache in den Wahlkreisen verweigerten. Nur im Frühjahr 1986, als die Abgeordneten ausnahmsweise nach der Verhältniswahl bestellt wurden, gelang der FN mit 35 Abgeordneten der Ein­ zug ins Palais Bourbon. Sie verfügte damit vorübergehend über eine Bühne, von der herab Le Pen selbst die Rolle des Volkstribuns zu spielen wusste. Die Präsenz in den Medien tat ein Übriges, dem FN auf nationaler Ebene dauerhaft Publizität und Anerkennung zu verschaffen. Heftige innerparteiliche Auseinandersetzun­ gen, die im Januar 1999 zur Parteispaltung führten109, ließen Le Pens Stellung als Parteivorsitzender unbeschadet. Mag der FN in der Nationalversammlung auch nicht vertreten sein, bewiesen die Ergebnisse bei nationalen, lokalen und regionalen Wahlen seine Kraft und lan­ desweite Verankerung. Welches sind die Gründe für diese Erfolge ? Zunächst hat der ehemalige Vorsitzende Le Pen mit seinem demagogischen Talent einen erheblichen Anteil daran. Der tiefere Grund liegt aber im politischen und sozialen Umfeld: Der Machtwechsel vom Jahr 1981 radikalisierte rechte Wäh­ ler und viele linksorientierte Wähler. Bei wachsender Arbeitslosigkeit, Sparpro­ grammen und steigender Kriminalität in den Großstädten mitsamt den trostlo­

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Die politischen Parteien

sen Vororten fielen Le Pens holzschnitzartige Lösungsvorschläge auf fruchtbaren Boden. Unsicherheit, Zukunfts- und Überfremdungsängste sowie die Denunzie­ rung des herkömmlichen politischen Betriebs begünstigten Le Pens Wahlerfolge. Als gern gesehener Gast in politischen Talkshows profitierte Le Pen zusätzlich von kostenloser Propaganda, um die » einzige glaubwürdige Oppositionspartei « ge­ schickt in Szene zu setzen. Diese Strategie führt seine Tochter fort. Zwar distanzierte sie sich von den an­ tisemitischen Äußerungen ihres Vaters110 und bemühte sich seit Übernahme des Parteivorsitzes – durchaus erfolgreich – um die » Entdiabolisierung « der Partei, um ihre Wählbarkeit zu erhöhen. Andererseits schürte sie wie der Parteipatriach Angst vor den Auswirkungen der Weltwirtschafts- und Finanzkrise, der hohen Arbeitslosigkeit und dem befürchteten sozialen Abstieg nicht nur in der Arbeiter­ schaft sondern zunehmend auch in der unteren Mittelschicht. Seit den Terroran­ schlägen des Januar 2015 auf das Satireblatt » Charlie Hebdo « und den Attentaten vom 13. November mit 130 Toten in Paris verbindet sich diese Angst mit wachsen­ der Furcht vor radikalen Muslimen und vor dem Islam schlechthin. 56 Prozent der Franzosen halten den Islam nach einer jüngsten Umfrage für » eine Bedro­ hung der Republik «.111 Wähler, die Le Pens Ansichten teilten, setzten im ersten Wahlgang vielfach deutliche Zeichen der Unzufriedenheit mit der Politik der anderen Parteien. Die linken und rechten Regierungen, die sich seit 1981 abgewechselt haben, vermoch­ ten die in ihren Augen sozialen Probleme nicht zu lösen. Seit 2008 tritt die Angst vor den Folgen der Euro-Krise, der Globalisierung (» la mondialisation «) und der » Bevormundung « durch die EU-Kommission hinzu, nicht zuletzt die Furcht, » Brüsseler « Direktiven könnten die Grundlagen des französischen Modells des Sozialstaates aushöhlen. Die » Protestwahl « im ersten Wahlgang für Präsident und Parlament ist Ausdruck der Tatsache » eines Bruchs «, dass diese meist kleinbürger­ lichen und vom sozialen Abstieg bedrohten Wähler mit den politischen Eliten von links oder rechts gebrochen haben. Den zweiten Wahlgang benutzten dann wohl viele Wähler dazu, ihr emotional geladenes Erstvotum nunmehr zu » korrigieren «. Die Wahlergebnisse der Stichwahlen sowohl bei der Präsidentschaftswahl 2002 wie auch bei anderen Wahlen bewiesen, dass das » Familienunternehmen « Le Pen eine bestimmte Schwelle (noch) nicht zu » überspringen « vermochte. Der FN hatte dabei jeweils sein Stimmenpotenzial ausgeschöpft und verfügte über kei­ ne weiteren » Reserven «.112 Diese Tatsache bestätigte auch der zweite Wahlgang bei der Regionalwahl Ende 2015. Allerdings ist es der FN bei jüngeren Nebenwah­ len gelungen, auch in ländliche Gebiete z. B. an der Atlantikküste und am Unter­ lauf der Garonne vorzustoßen. Wenn sich die demokratischen Parteien weiterhin darauf verständigen, ggf. den eigenen Bewerber in den Stichwahlen zu Gunsten des stärkeren linken oder

Der Front National 221

rechten Mitbewerbers zurückzuziehen und nicht den FN-Kandidaten zu unter­ stützen, dürfte die parlamentarische Präsenz der Rechtspopulisten – trotz beacht­ licher Ergebnisse im ersten Wahlgang – auch weiterhin gering sein. So eroberte der FN bzw. die mit ihm verbündete La Ligue du Sud bei den Kommunalwahlen 2014 nur zehn mittelgroße Städte. Beispielhaft sei auf Perpignan, Avignon und Carpentras verwiesen. In diesen Städten besiegten bürgerliche bzw. linke Kandi­ daten dank der Wahlabsprachen den FN-Vertreter im zweiten Wahlgang.

10.10.2 Ideologie und Programmatik Programmatisch zielt der FN darauf ab, Probleme so darzustellen und einfache Lösungen so anzubieten, dass diese auch die Befindlichkeit der aus verschiede­ nen Gründen verunsicherten Landsleute treffen: Änderung der Ausländerpolitik (» Frankreich den Franzosen «), Rückkehr zum starken Staat, robuste Bekämpfung der Kriminalität, moralische Erneuerung sowie das Bekenntnis zu traditionell christlichen Werten und damit klare Distanz zum Islam.113 Gleichsam leitmo­ tivisch erklärten FN-Funktionäre ausländische Arbeitnehmer, vor allem Immi­ granten aus dem Maghreb, zu Sündenböcken für die hohe Arbeitslosigkeit. Die Rückführung solcher Immigranten, die auch für die zunehmende Kriminalität verantwortlich gemacht werden, wird verlangt. Vor dem Hintergrund einer zu­ nehmend größeren Zahl von Wählern aus sozial schwachen Schichten betonen die Parteiprogramme die soziale Komponente. Entgegen früherer Programmaus­ sagen zugunsten eines Ultraliberalismus propagiert der FN nun einen » Dritten Weg « zwischen Kapitalismus und Sozialismus sowie einen wirtschaftlichen Pro­ tektionismus. Eine Verteidigung des öffentlichen Dienstes, Steuersenkungen und verstärkte soziale Vergünstigungen nur für Franzosen ergänzen das Programm. Die nationalistisch-populistischen Forderungen werden durch die Ablehnung der Maastricht-Verträge zur Fortentwicklung der Europäischen Union ergänzt. Im März 2015 geißelte die Parteichefin Frankreichs » Unterwerfung « unter das Spardiktat aus Brüssel und Berlin. Folglich stehen im FN-Programm der Austritt aus der Euro-Zone und der Widerstand gegen jegliche » Bevormundung « durch die EU-Kommission. Eine » von Deutschland diktierte [Währungs-]Politik « wird abgelehnt. Die Rückkehr zum Franc würde Abwertungen ermöglichen und damit eine Steigerung der Exporte.114 Die Konsequenzen solcher unrealistischen Vor­ schläge werden nicht thematisiert. Als Alternative zur Vertiefung der politischen Integration plädiert der FN für ein » Europa der Nationen und Vaterländer «. Seit dem ersten Golfkrieg 1991 be­ dient der FN auch anti-amerikanische Stimmungen. Dagegen zeigte Marine Le Pen durchaus Verständnis für die Annexion der Krim durch Russland und Mos­

222

Die politischen Parteien

kaus Unterstützung der ostukrainischen Separatisten. Internetmedien enthüllten den engen Kontakt der Parteichefin zum russischen Präsidialbüro. Forderungen der extremen Rechten insbesondere nach einer Rückführung ausländischer Arbeitnehmer sowie der Ruf nach Ordnung und Sicherheit waren gerade für die bürgerlichen Parteien eine Herausforderung. Zwar wiesen alle die­ se Programmpunkte des FN zurück. Aber zumindest die Neogaullisten und die Zentrumsparteien versprachen, die von der Le Pen-Partei in agitatorischer Wei­ se präsentierten Probleme sachgerecht bearbeiten zu wollen. Zwar gilt der FN für 57 Prozent der Franzosen als Gefahr für die Demokratie; aber 52 Prozent sehen ihn inzwischen als » eine Partei wie die anderen «.115 Schon während des Präsidentschaftswahl-Kampfes 2007, besonders aber zwi­ schen den Wahlgängen von 2012 » rückte Nicolas Sarkozy nach rechts und besetz­ te einige Themen der Rechts[populisten], so etwa in der Einwanderungspolitik. […] Die weltanschaulichen und programmatischen Gegensätze [zum FN] blie­ ben, wurden aber politisch unscharf «.116 Ein » Damm « war gebrochen. Er machte einerseits rechtspopulistische Forderungen » hoffähig «; diese führten andererseits aber auch zu heftigen Kontroversen innerhalb von Sarkozys eigener Partei. Im­ merhin, so zeigten Umfragen, teilten im April 2012 über ein Drittel der befragten Franzosen Le Pens Ansichten.117

10.10.3 Organisationsstruktur Der FN wird sehr stark vom » Familienunternehmen « Le Pen verkörpert und ge­ führt. Vater wie Tochter haben es geschickt verstanden, mit professionellen Auf­ tritten die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen. Wie der Parteipatriach vermittelt die Tochter Wählern, die von linker und rechter Regierungspolitik frus­ triert sind, den Eindruck einer Volkstribunin mit ehrlichen Absichten, die sich deutlich von den » Altparteien « abgrenzt. Als Parteipräsidentin ist Marine Le Pen unangefochten. Die Parteitage haben den Charakter großer Akklamationsmessen für den » Führer « bzw. nun für die Parteichefin. In diesem Sinne wähl(t)en die Parteitage das Zentralkomitee stets ohne nennenswerte Gegenstimmen. Letzteres bestellt wiederum das 42-köpfi­ ge und monatlich tagende Nationale Büro, die Führungsmannschaft der Partei, und zwar in der Zusammensetzung, die Vater und Tochter Le Pen wünschen. Die eigent­liche Machtzentrale ist jedoch das – in der Satzung nicht verankerte – Exe­ kutivbüro, ein informelles Gremium, in dem Le Pen ihre engsten Vertrauten um sich versammelt. Der Präsidentin steht es frei, Vizepräsidenten und politische Be­ rater zu ernennen. Der von der Parteichefin ernannte Generalsekretär organisiert die Partei. Der

Der Front National 223

ebenfalls von ihr ausgewählte Generaldelegierte ist verantwortlich für Programm­ orientierung, Kommunikation sowie die Schulung der Parteikader. Im Frühjahr 2015 entbrannte ein » Rosenkrieg « zwischen Tochter und Vater. Nachdem sich dieser erneut mit antisemitischen Äußerungen exponiert hatte, entzog der Disziplinarausschuss der Partei auf Antrag Marine Le Pens dem Partei­ senior die Ehrenpräsidentschaft und schloss ihn wegen » Sabotage « aus der Par­ tei aus.

10.10.4 Mitglieder und Wähler Die etwa 60 000 Mitglieder der Front National, von denen eine große Zahl erst nach dem » Erdbeben « vom Frühjahr 2002 der Partei beigetreten ist, kommen aus allen Gesellschaftsschichten. Wie bei anderen französischen Parteien sind die über 50-jährigen mittlerweile stärker vertreten als jüngere, die noch in der An­ fangsphase der Partei dominierten.118 Bei den verschiedenen nationalen Wahlen kandidierten hauptsächlich Bewerber, die durchschnittlich etwas älter als 50 Jahre und freiberuflich oder als Unternehmer tätig waren; auffallend war ein hoher An­ teil an vornehmlich weiblichen Angestellten. Auch mit Blick auf die Wähler ist es dem FN seit 1984 gelungen, Stimmen aus allen Bevölkerungsschichten zu gewinnen. Die Parlamentswahlen seit 1993 so­ wie die Präsidentschaftswahlen bestätigten diesen Trend.119 Die Hochburgen des FN liegen östlich einer Linie Le Havre – Valence – Perpignan, also in den städti­ schen und industrialisierten Regionen Frankreichs mit ihrer Konzentration von Einwanderern, hoher Kriminalität, starker Arbeitslosigkeit bedingt durch eine seit langem anhaltende Entindustrialisierung. Herausragende Ergebnisse mit über 20 Prozent erzielt der FN besonders am Mittelmeersaum mit seinem hohen An­ teil an sogenannten Pieds noirs – Nachkommen von Franzosen, die Algerien nach dessen Unabhängigkeit im Jahr 1962 verlassen mussten. Aber auch in der Ile-deFrance und in den angrenzenden Departements sowie in der Region Rhône-Alpes gewannen rechtspopulistische Kandidaten häufig über 15 Prozent. Der katholisch geprägte Westen Frankreichs, Aquitanien, die Auvergne und das Limousin zählen dagegen zu den Gebieten mit wenigen FN-Wählern. Waren die ländlichen Departements bislang eher zurückhaltend bei der Stimmabgabe für die Rechtspopulisten, gelang es Marine Le Pen im Jahr 2012, in solchen Stimm­ kreisen verstärkt Stimmen zu gewinnen. Ihre Forderung, das » ländliche Frank­ reich « fördern zu wollen, welches vermeintlich von den Pariser Eliten vernachläs­ sigt werde, zahlte sich aus. Die gesamte Wählerschaft des FN setzt sich mittlerweile aus allen Berufsgrup­ pen und Altersschichten zusammen. Wählten in den achtziger Jahren vornehm­

224

Die politischen Parteien

lich Händler und Kleinproduzenten die Rechtsextremen, so entschieden sich seit Anfang der 90er Jahre zunehmend auch mehr Arbeiter und kleine Angestellte für den Front National. Bei den Präsidentschaftswahlen 2012 stimmten 29 Prozent der Arbeiter, aber auch 22 Prozent der einfachen Angestellten sowie 25 Prozent der Handwerker und Kleinhändler für Marine Le Pen – durchweg Wähler, die sich vom wirtschaftlichen Wandel in ihrer Existenz bedroht fühlen. Männer überwo­ gen eindeutig. Marine Le Pen erreichte gleichmäßig verteilt Wähler aller Altersstu­ fen, am wenigsten aber in der Gruppe der über Sechzigjährigen. Auffallend ist der relativ niedrige Schulabschluss der Le Pen- bzw. FN-Wähler.120 Unterschiede bei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen lassen sich nicht erkennen. Ungeachtet der Wahlerfolge ist nicht zu übersehen, dass der FN und ihre Vor­ sitzende nicht nur politisch völlig isoliert sind, sondern auch auf Ablehnung in der Öffentlichkeit stoßen. Nach einer Umfrage vom April 2012 betrachteten 51 Prozent der Befragten Le Pen und die Partei als eine » Gefahr für die Demokratie « – deut­ lich weniger als im Jahr 2002. Allerdings wurde der FN im März 2011 von einer Mehrheit der Franzosen (52 Prozent) als » eine Partei wie die anderen « angesehen. Beim wichtigsten Thema der FN, der Frage der Einwanderer, billigten nur 33 Pro­ zent die Haltung von Vater und Tochter. Dieser Wert könnte sich nach der Atten­ tatswelle im Jahr 2015 aber erhöht haben. Die Partei wird in der Öffentlichkeit als Protestpartei angesehen, deren Wäh­ lerpotential gegenwärtig noch begrenzt bleiben dürfte. Im Frühjahr 2015 rief Staatspräsident Hollande vor den Departementwahlen zum » Bündnis der De­ mokraten gegen rechts « auf. In der Stichwahl sollten die im ersten Wahlgang er­ folgreichen FN-Kandidaten keine Chance bekommen.121 Dagegen sprach sich Nicolas Sarkozy für ein » Ni-PS – Ni-FN « aus, also keine Stimme für linke Bewer­ ber oder für rechtspopulistische ! Diese Haltung wurde als einen weiteren Beleg für den Rechtsruck des LR-Präsidenten gewertet. Schon im Präsidentschaftswahl­ kampf hatte Sarkozy versucht, mit FN-nahen Positionen Wähler anzusprechen. Widerständen in der eigenen Partei gegen diese Verweigerung » republikani­ scher Tradition « begegnete der Vorsitzende der Republikaner mit dem Verweis, den FN-Sympathisanten solle eine Alternative angeboten werden. An der Basis der Republikaner, vor allem am Mittelmeersaum, mehreren sich die Forderun­ gen, bei Stichwahlen von Fall zu Fall Wahlabsprachen mit dem Front National zu treffen. Noch werden solche Überlegungen von der Parteispitze und besonders vom liberalen Zentrumsflügel der konservativen Partei verworfen. Nur 28 Prozent der Mitglieder sprachen sich für landesweite Vereinbarungen mit dem FN aus. Bei Nachwahl-Umfragen aber befürworteten 48 Prozent der LR-Sympathisanten ört­ liche Übereinkünfte mit dem FN. Ob es Marine Le Pen gelingen wird, für die Präsidentschaftswahlen 2017 ein überzeugendes Wahlprogramm vorzustellen und realisierbare Vorschläge zu un­

Der Front National 225

terbreiten, scheint fraglich. Die Parteiführung erschöpft sich im Schüren von » Angst « und zielt damit insbesondere auf Protestwähler aus dem Arbeiter- und dem unteren Mittelstandsmilieu ab. Gegenwärtig ist es zweifelhaft, ob dieses alte Rezept des Rechtspopulismus noch ausreicht, genügend Wählerstimmen für die Stichwahl zu mobilisieren.122

11

Wahlen, Wählerverhalten und Wahlfinanzierung

Die Gelegenheit der politischen Artikulation und Partizipation wird den franzö­ sischen Bürgern häufig zuteil. So werden neben den 1 757 Regionalräten in den neuen Großregionen sowie den Departementräten die über 36 000 Gemeinde­ räte alle sechs Jahre gewählt. Wahlen zur Nationalversammlung und – zeitlich versetzt – zum Europäischen Parlament finden spätestens nach fünf Jahren statt, es sei denn, vorgezogene Neuwahlen zur Assemblée Nationale » stören « diesen Rhythmus. Die Amtsdauer des Staatspräsidenten beträgt seit 2002 gleichfalls fünf Jahre. Negative Auswirkungen auf die Beteiligungsquote besitzt in der Regel eine Häufung von Wahlterminen. Mit dem politischen System der V. Republik sind die meisten der bekannten Wahlsysteme kompatibel. Gilt für die Wahlen zum Europäischen Parlament die Verhältniswahl, so erfolgen die Kommunalwahlen und (seit 2004) die Regional­ ratswahlen nach einem Mischsystem aus Mehrheits- und Proportionalwahl; bei der Bestellung der Departementräte, der Abgeordneten der Nationalversammlung und des Staatspräsidenten gelangt das System der Mehrheitswahl mit zwei Wahl­ gängen zur Anwendung. Daneben gibt es noch die indirekte Bestellung der Se­ natoren. Um das Kapitel nicht zu überfrachten, wird im folgenden hauptsächlich auf die – neben der Präsidentenwahl – wichtigste Abstimmung Bezug genommen, auf die Wahl der Nationalversammlung.

227 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 U. Kempf, Das politische System Frankreichs, DOI 10.1007/978-3-658-08208-6_11

228

Wahlen, Wählerverhalten und Wahlfinanzierung

11.1 Wahlsystem Auf den ersten Blick etwas überraschend orientiert sich das Wahlsystem der V. Re­ publik an demjenigen der III. Republik, obwohl die dortige Praxis der absolu­ ten Mehrheitswahl nicht die erwarteten stabilen Regierungsverhältnisse bewirk­ te; dieser Umstand lag hauptsächlich in dem politischen Unvermögen begründet, kurzfristige Wahlbündnisse in dauerhafte parlamentarische Koalitionen zu über­ führen. Dennoch führte de Gaulle mit Ordonnanz vom 13. Oktober 1958 wiede­ rum ein absolutes Mehrheitswahlsystem in Einerwahlkreisen mit zwei Wahlgän­ gen ein (Scrutin uninominal majoritaire à deux tours). Allerdings sollten nunmehr einige Neuerungen den Zwang zu Wahlabsprachen zwischen den Parteien verstär­ ken und somit einer parlamentarischen Zersplitterung vorbeugen. Deshalb wur­ den – zu Lasten einer übermäßigen Bevorzugung ländlicher Stimmbezirke – die Wahlkreise neu eingeteilt und – zwecks Begrenzung der Kandidaten im zweiten Wahlgang – eine Sperrklausel eingeführt. Nach dem seit 1958 gültigen Wahlsystem (nur im Jahre 1986 wurde nach der Verhältniswahl gewählt) ist im ersten Wahlgang derjenige Kandidat gewählt, der die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen, zumindest diejenigen eines Viertels der eingeschriebenen Wähler erhält. Erreicht niemand diese Zahl, so fin­ det eine Woche später eine zweite Abstimmung statt, in der gewählt ist, wer die meisten Stimmen auf sich vereinigt. Im Gegensatz zur III. Republik können am zweiten Wahlgang nur Kandidaten teilnehmen, die schon am ersten Abstimmungssonntag nominiert waren und (seit 1976) die Unterstützung von mindestens 12,5 Prozent der Stimmberechtigten erhal­ ten haben. Dies kann bedeuten, dass infolge der Enthaltungen ein Kandidat we­ nigstens zwanzig Prozent der abgegebenen Stimmen erreichen muss. Wie erwar­ tet, verstärkte so diese einschneidende Reform die Tendenz zur Polarisierung auf meist nur zwei Kandidaten im zweiten Wahlgang (siehe unten). Erst durch die Er­ folge des rechtsextremen Front National seit Ende der achtziger Jahre hat sich die Zahl der Mehrfachkandidaturen erhöht, häufig deshalb, weil neben einem bür­ gerlichen Bewerber und einem Sozialisten ein Kandidat des rechtspopulistischen Front National antrat. Wegen der Inkompatibilität von Ministeramt und Parlamentsmandat muss je­ der Kandidat bei seiner Nominierung einen Ersatzmann (Suppléant) benennen, der im Falle seines Ausscheidens aus dem Palais Bourbon nachrückt. Jeder 18-jäh­ rige französische Bürger, der im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte ist, kann seit der Reform vom 14. April 2011 seine Kandidatur auf der Präfektur eines von ihm ausgewählten Wahlkreises anmelden. Löste die Wahlkreiseinteilung von 1958 aufgrund gravierender demographi­ scher Ungerechtigkeiten heftige Kritik aus, so erfüllte der Gesetzgeber bei der

Wahlsystem 229

Neuaufteilung der (verkleinerten) Wahlkreise Mitte der achtziger Jahre einen Spruch des Verfassungsrates.1 Zwar ist auch jetzt noch fast jedes Departement2, unabhängig von der Gesamtzahl der Wahlberechtigten, mit mindestens zwei Ab­ geordneten in der Nationalversammlung vertreten. Die einzelnen Wahlkreise dürfen laut einem Gesetz vom 10. Juli 1985 den nationalen Durchschnitt nicht um 20 000 Personen übertreffen. Zweifellos bevorzugt die absolute Mehrheitswahl mit zwei Wahlgängen die großen Parteien, wie sie kleinere benachteiligt, besonders wenn diese isoliert sind (z. B. gewann der Front National und die übrigen rechtsextremen Kandidaten 2012 mit 13,77 Prozent der Stimmen nur drei Mandate). Ein Effekt des neuen Wahlrechts, den die Verfassungsväter 1958 kaum vor­ aussehen konnten, zeigte sich seit den Wahlen im November 1962. Damals be­ wirkten die Auseinandersetzungen über das Referendum, das de Gaulle im Hin­ blick auf die Volkswahl des Staatspräsidenten in Gang setzte, eine Polarisierung der politischen Kräfte, die auch seither meist, mit der Ausnahme der Wahlen von 1988, die politische Konstellation bestimmte: Das vielfältige Parteienspektrum er­ fuhr gleichsam eine Transformation in ein parlamentarisches Zwei-Lager-System, das günstige Voraussetzungen für die Bildung regierungsfähiger Mehrheiten bot. Durch den Zwang, sich spätestens vor dem zweiten Wahlgang auf einen gemein­ samen Kandidaten zu einigen und diesen den Wählern zu empfehlen, das so ge­ nannte Désistement (Rückzug des schlechter platzierten eigenen Bewerbers zu­ gunsten des aussichtsreicheren Kandidaten des Wahlpartners), bündelten sowohl die Bürgerlichen als auch die Linksparteien ihre Kräfte. Auf diese Weise konnten Gaullisten, Liberale und Zentrum einerseits, Sozia­ listen, Kommunisten und mit Einschränkungen Linksliberale andererseits ihre Mandatszahlen beträchtlich erhöhen. Diese Stimmenübertragungen innerhalb eines politischen Lagers funktionier­ ten umso besser, je stärker die einzelnen Blöcke auf lokal gut verankerte Persön­ lichkeiten, z. B. Bürgermeister oder Departementpräsidenten, » setzen « konnten. Insgesamt folgten 70 bis 80 Prozent der Wähler dem Aufruf nach einer solchen Stimmenübertragung. Kommunistische Wähler sind eher geneigt, ihre Stimme auf einen sozialistischen Bewerber zu übertragen als umgekehrt; aber auch bei den Sozialisten ist diese » demokratische Tradition « gut ausgeprägt. Gaullisten, Li­ berale und Zentrum einigten sich meist schon für den ersten Wahlgang auf einen gemeinsamen Kandidaten, um einen möglichen Stimmenverlust bei der Übertra­ gung zu vermeiden. Die Stimmen der Front National-Wähler gingen in der Stich­ wahl mehrheitlich auf die bürgerliche Rechte über.3 Konkurrierte im zweiten Wahlgang ein Rechts- oder Linkskandidat mit einem rechtsextremen Bewerber, so nahm die Zahl der Stimmenthaltungen überpropor­ tional zu. Linke oder rechte Wähler waren in solchen Fällen eher geneigt, sich der

230

Wahlen, Wählerverhalten und Wahlfinanzierung

Stimme zu enthalten oder für den demokratischen Kandidaten zu votieren als für den Vertreter der Rechtspopulisten. Um dem Wahlbetrug besonders » auf dem flachen Land « entgegenzuwirken, entschied der Gesetzgeber Ende 1975, die Briefwahl in ihrer damaligen Form ab­ zuschaffen und sie durch ein Vote par procuration, das Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe vermeiden soll, zu ersetzen.4 Nunmehr darf ein Beauftragter des am Wahltag z. B. wegen Urlaubs verhinderten Wählers dessen Stimme abge­ ben. Beide müssen in derselben Gemeinde wohnen. Auslandsfranzosen geben bei Präsidentschaftswahlen ihre Stimme in den Botschaften und Konsulaten des Auf­ enthaltslandes ab. Bei der Wahl der Nationalversammlung können sie sich in einer bestimmten Gemeinde einschreiben und per » Vertreterwahl « (Vote par procura­ tion) abstimmen lassen. Der Wahlkampf ist strikten Regeln unterworfen, die für ein Minimum an Chancengleichheit sorgen sollen. Dies gilt insbesondere für die Wahlwerbung in den Medien. Anlässlich der Wahlen zur Nationalversammlung werden für je­ den Wahlgang von den staatlichen Rundfunk- und Fernsehsendern drei Stunden Sendezeit kostenlos zur Verfügung gestellt. Diese Zeit wird paritätisch auf Regie­ rungsmehrheit und Opposition aufgeteilt. Nicht im Parlament vertretene Grup­ pierungen erhalten je sieben Minuten vor dem ersten und fünf Minuten vor dem zweiten Urnengang, sofern sie mindestens 75 Kandidaten nominiert haben. Wahl­ werbung auf den privaten Kanälen ist ebenso verboten wie entsprechende Anzei­ gen in Zeitungen und Zeitschriften;5 hier ist allerdings die Beschränkung auf drei Monate vor der Wahl begrenzt. Der Hohe Rat für Audiovisuelle Medien, le Con­ seil supérieur de l’audiovisuel, hat über eine ausgewogene Wahlberichterstattung in allen Rundfunk- und Fernsehsendern zu wachen.6 Jeder Kandidat, sofern er wenigstens fünf Prozent der abgegebenen Stimmen erreicht, erhält, neben einer staatlichen Beihilfe (siehe unten), vom Staat seine Auslagen für einen Wahlbrief und für die Plakate auf den offiziellen Werbetafeln ersetzt. Um zu vermeiden, dass Meinungsumfragen die Wähler bis zuletzt beeinflus­ sen, ist seit Juli 1977 die Veröffentlichung ihrer Ergebnisse in der letzten Woche vor dem Wahltag verboten. Gemeinhin wird das gegenwärtige Wahlsystem von keiner der großen Parteien in Frage gestellt. Abgeordnete aller Parteien, außer den Kommunisten, dem Front National und Vertretern des Zentrums, sprachen sich mit überwältigender Mehr­ heit für seine Beibehaltung aus. Insofern kann die im Jahre 1986 praktizierte Ver­ hältniswahl mit der Stimmenaufteilung nach dem stärksten Durchschnitt als Episode weitgehend unberücksichtigt bleiben. Wohl hatten Mitterrand als Präsi­ dentschaftskandidat und die Sozialistische Partei mit dem – vordergründigen – Argument, es sei gerechter als die Mehrheitswahl, in ihren Programmen für ein

Wahlsystem 231

Schaubild 5  Wahlsysteme in Frankreich Wahl

Wahlsystem

Wahlgebiet

Mandatsdauer

zuständig für Anfechtungen

•• Staatspräsident

Mehrheitswahl mit 2 Wahlgängen

ganz Frankreich

5

Verfassungsrat

•• Nationalversammlung

Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen mit 2 Wahlgängen

577 Wahlkreise

5

Verfassungsrat

•• Europ. Parlament

Verhältniswahl

8 große Regionalwahlkreise

5

Staatsrat

•• Regionalrat

Mischform aus ListenMehrheitswahl mit 2 Wahlgängen und Verhältniswahl

Departement

6

Staatsrat

•• Departementrat

Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen mit 2 Wahlgängen

Kanton

6

Verwaltungsgericht, Berufung an Staatsrat

Mehrheitswahl mit Listen und 2 Wahlgängen Mischform aus ListenMehrheitswahl mit 2 Wahlgängen und Verhältniswahl wie b), plus Wahl von Arrondissementräten

Gemeinde

6

Verwaltungsgerichte, Berufung an Staatsrat

durch Wahlmänner

Departement

6

Verfassungsrat

direkte Wahl

•• Gemeinderat a) bis 1 000 Einwohner b) über 1 000 Einwohner

c) Paris, Marseille, Lyon indirekte Wahl •• Senat

solches Wahlsystem plädiert. Tatsächlich war jedoch das politische Kalkül bestim­ mend, einen befürchteten dramatischen Mandatsverlust zu begrenzen, Wahlab­ sprachen mit den aus der Regierungskoalition ausgeschiedenen Kommunisten zu vermeiden sowie gleichzeitig die bürgerliche Opposition wegen erwarteter Spal­ tungen zu schwächen. Dass aufgrund dieser Wahländerung der Einzug des Front National in die Nationalversammlung die bürgerlichen Kräfte zusätzlich schwäch­ te, war sicherlich nicht unbeabsichtigt. Es verwundert deshalb nicht, dass die bür­ gerliche Mehrheit nur wenig mehr als die absolute Mehrheit der Sitze gewann und bald nach Regierungsübernahme im Jahr 1986 wieder zum alten System zurück­ kehrte.

232

Wahlen, Wählerverhalten und Wahlfinanzierung

11.2 Wähler Wahlberechtigt sind alle Franzosen ab 18 Jahren, es sei denn, sie haben aufgrund einer Verurteilung ihr Wahlrecht verwirkt. Seit Dezember 1983 dürfen auch alle naturalisierten Bürger sofort von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen. Voraus­ setzung für die Ausübung desselben ist die Eintragung in die Wählerlisten. Die­ se werden von den Gemeinden geführt und bilden die Grundlage für die Aus­ händigung der jeweiligen Wahlkarten. Seit November 1997 werden automatisch alle 18-jährigen in die Wahllisten ihrer Gemeinde aufgenommen. Bei einem Woh­ nungswechsel wird der Wähler nunmehr ohne Antrag in der dortigen Wählerlis­ te registriert. Um die Wählerlisten immer auf dem neuesten Stand zu halten, findet jährlich eine Überprüfung statt, um z. B. Doppelzählungen durch Wohnortwechsel zu ver­ meiden. Zuständig ist für solche Abgleichungen mit den An- und Abmeldungen durch die Gemeinden eine Abteilung des nationalen statistischen Amtes INSEE (Institut National de la Statistique et des Etudes Economiques). Wegen der frü­ heren Pflicht, sich für die Wahllisten registrieren zu lassen, gehen Beobachter da­ von aus, dass mindestens zehn Prozent aller potentiellen Wähler nicht regis­triert sind.7 Die größte Gruppe bilden Arbeitslose und Studenten; aber auch naturali­ sierte Franzosen verzichten zu einem guten Fünftel auf ihr Wahlrecht. Eine erheb­ liche Rolle spielt auch das Alter. So sind 37 Prozent der 18 bis 27-jährigen nicht in den Wahllisten aufgenommen.8 Auch die Gemeindegröße spielte bislang hier­ bei eine wichtige Rolle: Je kleiner die Gemeinde, desto größer die Zahl der Einge­ schriebenen. Man schätzt, dass 14 Prozent der im Großraum Paris lebenden Wahl­ berechtigten nicht in die Wählerverzeichnisse eingetragen sind und somit auf ihr Wahlrecht verzichten.9 Zu den Wahlen zur Nationalversammlung im Juni 2012 waren über 42 Millio­ nen Franzosen aufgerufen: ■■ 53 Prozent waren Frauen. ■■ Altersmäßig bestand ein Ungleichgewicht zwischen jung und alt, denn etwa ein Drittel der Wähler war mindestens 60 Jahre alt, aber nur ein Fünftel jün­ ger als 30 Jahre. Aufgeschlüsselt nach Berufen zeigt sich, dass acht von zehn Wählern in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis stehen. Unter diesen überwiegt die Gruppe der Angestellten verschiedener Kategorien mit über 60 Prozent während die Ar­ beiter nur noch 20 Prozent der Wähler stellen. Diese Zahlen haben sich seit Be­ ginn der achtziger Jahre insofern verändert, als die Gruppe der Angestellten sich

Wahlresultate 233

verdoppelt hat. Das Gewicht der Landwirte, Handwerker und Kleinhändler hat sich auf 9 Prozent verringert.10

11.3 Wahlresultate Seit fast sechs Jahrzehnten ist die politische Herrschaft der sieben Präsidenten der V. Republik eng mit den Wahlen zur Assemblée Nationale verbunden; umgekehrt spiegeln auch die Wahlresultate die jeweilige Praxis präsidentieller Herrschaft wi­ der, so dass sich – in einer systematischen Sichtweise – vier Phasen11 dieses Wech­ selbezugs erkennen lassen: 1. Das Ende der » alten « Parteienherrschaft und die Herausbildung einer stabilen bürgerlichen Regierungsmehrheit 2. der majoritäre Parlamentarismus seit der Amtszeit de Gaulles seit 1962 3. die Fortsetzung der bürgerlichen Mehrheit bei Abschwächung des gaullisti­ schen Elements unter de Gaulles Nachfolgern Pompidou und Giscard d’Estaing 4. der doppelte Machtwechsel zwischen Linkskräften und bürgerlichen Parteien seit 1981. Zu 1. Einer der bemerkenswertesten Aspekte der Jahre des Übergangs von 1958 bis zur Direktwahl des Staatsoberhauptes war – bedingt durch die Schwäche der bürgerlichen Parteien – der Wandel des » alten « Parteiensystems der IV. Republik: Die gemäßigten Wähler wechselten in großer Zahl zur » neuen « gaullistischen Partei12 über. Die » Alt «-Parteien erlitten – außer den Kommunisten – dramati­ sche Einbußen.12a Es blieb dem letzten Ministerpräsidenten dieser Republik, General de Gaulle, vorbehalten, mittels neuer Verfassung und auf November 1958 vorgezogener Par­ lamentswahlen die politische Landschaft Frankreichs grundlegend zu verändern. Innerhalb der Rechten gelang es den Anhängern de Gaulles, fast 21 Prozent der Stimmen zu gewinnen, die zum größten Teil von den bürgerlichen Parteien, aber auch von den Linksparteien abgegeben wurden. Immerhin konnte sich die gemä­ ßigte Rechte (Volksrepublikaner, Gemäßigte und Konservative) mit über 31 Pro­ zent behaupten, obwohl sie aufgrund des neuen Wahlsystems erheblich an Sitzen verlor (siehe Schaubild 6). De Gaulles erster Premierminister Michel Debré konn­ te sich innerhalb der neuen bürgerlichen Koalition vor allem auf die große Zahl gaullistischer Abgeordneter stützen. Bei den Linksparteien dominierten trotz empfindlicher Stimmenverluste er­ neut die Kommunisten mit 18,9 Prozent.

% Mandate

% Mandate

% Mandate

% Mandate

% Mandate

% Mandate

% Mandate

% Mandate

% Mandate

Extreme Linke

PS und Ver­ bündete

Verschiedene Linke

Ökologen

Zentrum

Gaullisten einschl. Verbündete

Verschiedene Rechte

Extreme Rechte

Sonstige

1958

3,0 **

3,2

20,1 133

17,5 198

11,7 57

3,2

20,6 67

1,8

18,9 10

1962

0,45 12

0,87

13,42

31,9 269

8,92 55

3,85

16,36 105

2,45

21,78 41

1967

0,12 8

0,75

3,66

37,73 244

12,64 41

1,42

18,96 121

2,21

22,51 73

1968

0,15 9

0,13

0,35

47,79 354

10,34 33

0,74

16,53 57

3,95

20,02 34

1973

13

0,52

6,29 19

34,48 238

12,47 54

2,78 1

18,87 101

3,34

21,25 73

1978

1,5

0,75

2,39 23

22,8 150

20,73 114

2,14

1,08 1

24,69 114

3,33

20,55 86

1981

0,03

0,36

2,66 11

20,91 85

19,16 62

1,09

0,57

37,77 289

1,33

16,12 44

1986*

0,27

9,8 35

2,71 14

26,6 147

15,5 130

1,24

0,669

31,86 216

2,5

9,69 35

1988

0,28

9,65 1

2,85 11

19,18 127

18,49 129

0,35

1,65

35,87 282

0,36

11,32 27

1993

1,71

12,56

5,6 37

19,83 242

18,64 207

10,7

0,92

19,2 67

1,66

9,18 24

1997

1,8

15,1 1

1,85 7

16,8 134

14,7 108

6,3 7

2 9

25,3 273

2,19

9,9 38

2002

3,5 3

12,67

3,65 1

34,1 362

4,85 31

5,68 3

2,3 6

25,65 149

2,8

4,8 22

2007

2,36 2

4,68

3,67 10

41,91 335

7,61 3

4,05 4

1,97 15

26,05 192

3,41

4,29 15

2012

1,08 2

13,79 3

3,51 15

30,56 212

2,37 4

5,46 17

3,40 22

31 292

0,98

6,91 10

Quelle: Le Monde, Dossiers et Documents: La Ve République 1958 – 1995 und eigene Berechnungen. (In der Literatur finden sich z. T. leicht abweichende Zahlen.) Ergebnisse 2007: http:www.interieur.gouv.fr/fr/Elections; für: 2012, in: Frankreich Jahrbuch 2013, Wiesbaden 2014, S. 189

* 1986 wurde nach der Verhältniswahl gewählt. ** 71 Mandate wurden zusätzlich in den afrikanischen Wahlkreisen Algerien und Sahara vergeben. Seit 1986 beträgt die Mandatszahl 577, seit 2008 so auch in der Verfassung festgelegt (Art. 24, Abs. 3).

% Mandate

PCF, 2012: Front de Gauche

Schaubild 6  Wahlergebnisse und Sitzverteilung in der Nationalversammlung 1958 – 2016

234 Wahlen, Wählerverhalten und Wahlfinanzierung

Wahlresultate 235

Zu 2. Der Übergang zum majoritären Parlamentarismus der V. Republik fußt im Wesentlichen auf der seit 1962 erkennbaren Polarisierung des Parteienspektrums. Den Parteien des Kartells des » Ja «, also Gaullisten und Teile der liberalen Kon­ servativen unter Giscard d’Estaing, stand der » Nein «-Block, bestehend aus Kom­ munisten, Sozialisten, Volksrepublikanern, Radikalsozialisten und Gemäßigten gegenüber. Der große Erfolg de Gaulles bei diesem Volksentscheid markierte gleichzeitig eine schwere Niederlage der » Alt «-Parteien, die sich bei den Neuwah­ len Mitte November 1962 wiederholte. Die Anhänger des » Nein « erlitten so große Verluste, dass sie sich davon teils überhaupt nicht mehr, teils erst Ende der siebziger Jahre (so die Sozialisten) er­ holten. Nur die PCF konnte ihr Wählerpotential stabilisieren, während MRP und Konservative als politische Faktoren weitgehend bedeutungslos wurden. Sieger dieser vorgezogenen Wahlen waren die Gaullisten, die nun gemeinsam mit den 35  Abgeordneten der Unabhängigen Republikaner Giscard d’Estaings über die Mandatsmehrheit in der Nationalversammlung verfügten. Präsidial- und Parla­ mentsmehrheit fielen fortan zusammen. Den Trend zur Blockbildung verstärkte das Wahlsystem, da einige Parteien nur durch Absprachen für den zweiten Wahl­ gang eine Chance auf Parlamentssitze bekamen. Zu 3. Während der fünfjährigen Amtszeit des neuen Staatspräsidenten Pompidou nach dem Rücktritt de Gaulles fand nur eine Parlamentswahl statt. Interessanter­ weise verdankte der Gaullist seinen Sieg im Juni 1969 über den liberalen Senats­ präsidenten zu einem nicht geringen Teil der Taktik der Kommunisten, die für den zweiten Wahlgang Stimmenthaltung empfohlen hatten mit dem Ergebnis, dass etwa ein Drittel der Wahlberechtigten auf eine Personalentscheidung ver­ zichtete. Im März 1973 stellte sich eine grundlegend erneuerte nichtkommunistische Linke zusammen mit ihrem Bündnispartner PCF den Wählern. 1971 hatten sich die Sozialisten eindeutig für ein Linksbündnis entschieden. Diese Strategie zahlte sich am Wahltag für die Partner aus. Während die PCF ihre Mandatszahl von 1967 (73 Sitze) erneut erreichen konnte, wurden die Sozialisten erstmalig seit 1945 mit 102 Abgeordneten (einschließlich einiger Radikalsozialisten) stärkste Linkspartei. Im bürgerlichen Lager, das sich seit 1969 durch Teile des Zentrums erweitert hatte, dominierten unangefochten die Gaullisten. Gemeinsam mit ihrem bisheri­ gen Koalitionspartner, den Unabhängigen Republikanern und einigen ZentrumsAbgeordneten bildeten sie erneut die Regierung. Nach Pompidous Tod ein Jahr später trat schließlich das gesamte Zentrum dem bürgerlichen Lager bei. Die Wahlen von Frühjahr 1973 bestätigten endgültig den Trend zu einem bi­ polaren Blocksystem innerhalb des Parteienspektrums der V. Republik: Sozialis­ ten, Kommunisten und einige kleinere Linksgruppierungen standen Gaullisten,

236

Wahlen, Wählerverhalten und Wahlfinanzierung

Liberale und Zentrum gegenüber. An dieser Konstellation hat sich bis heute nichts Wesentliches geändert.13 Der Präsidentschaftswahlkampf vom Mai 1974 war in noch höherem Maße als die 73er Parlamentswahl durch diese Polarisierung gekennzeichnet. Gegen den gemeinsamen Kandidaten der Linksparteien setzte sich schließlich äußerst knapp der liberale Wirtschafts- und Finanzminister durch. Giscard d’Estaing erhielt erst vor dem zweiten Wahlakt auch die zögerliche Unterstützung der Gaullisten, deren offizieller Kandidat, der » Altgaullist « Jacques Chaban-Delmas, mit nur 15,1 Pro­ zent im ersten Wahlgang eine vernichtende Niederlage erlitten hatte. Sein Schei­ tern markierte das politische Ende des sogenannten historischen Gaullismus in den Spitzenämtern der V. Republik. Aus unterschiedlichen Gründen, z. B. zur Vermeidung einer neuerlichen Pola­ risierung der Wählerschaft, verzichtete Giscard d’Estaing nach der Amtsübernah­ me auf eine Parlamentsauflösung, so dass die Wahlen erst nach Ablauf der fünf­ jährigen Legislaturperiode im März 1978 stattfanden. Um die einseitige Gewichtsverlagerung im bürgerlichen Lager, das nach wie vor von den Gaullisten (jetzt umbenannt in RPR) unter der Führung Chiracs be­ herrscht wurde, auszubalancieren, bildeten die übrigen Parteien (Republikaner, Zentrum, [rechte] Radikalsozialisten) auf Anregung des Staatspräsidenten die Parteienkonföderation Union für die französische Demokratie (UDF). Gleichzei­ tig machte Giscard d’Estaing unmissverständlich deutlich, dass er im Falle eines prognostizierten Sieges der Linken diese » regieren lassen « würde.14 Begünstigt wurden die Wahlaussichten der Regierungsparteien durch einen plötzlich ausbrechenden Streit zwischen PCF und nichtkommunistischer Linken über die Novellierung des Gemeinsamen Regierungsprogramms von 1972. Die Kommunisten nahmen diese Gelegenheit wahr, die Verhandlungen scheitern zu lassen und sich von ihren Bündnispartnern zu trennen. Sie fürchteten nicht zu Un­ recht, innerhalb des Linksbündnisses zu Juniorpartnern der Sozialisten zu werden. Folglich trat die Linke im ersten Wahlgang mit getrennten Kandidaten an. Aber auch die Rechtsparteien UDF und RPR stellten fast überall separate Bewer­ ber auf. Das Wahlergebnis bestätigte die Befürchtungen der PCF. Erstmals seit 1962 wurde sie von den Sozialisten deutlich überrundet. Die PS war somit, sieben Jahre nach Übernahme der Parteiführung durch Mitterrand, zur zweitstärksten Partei Frankreichs geworden. Innerhalb des (siegreichen) bürgerlichen Lagers war Giscard d’Estaings Rech­ nung aufgegangen: Die ihm nahestehende UDF gewann fast ebenso viele Stim­ men und Mandate wie der widerspenstige gaullistische Partner. Seither sprach die Wahlforschung von der » quadrille bipolaire «.

Wahlresultate 237

Zu 4. Nach seinem Wahlsieg löste François Mitterrand im Mai 1981 die National­ versammlung auf. Bei den Parlamentswahlen errangen die Sozialisten einen über­ wältigenden Erfolg; sie gewannen die Mehrheit der Mandate, während die PCF wiederum empfindliche Verluste hinnehmen musste. Auch die durch die Wahlnie­ derlage ihrer beiden Bewerber traumatisierte Rechte musste starke Stimmeinbu­ ßen hinnehmen. Ihre Abgeordnetenzahlen wurden nahezu halbiert (siehe Schau­ bild 6, Seite 234). Die Wahlen vom März 1986 werden als » Cohabitation «-Wahlen bezeichnet. Erstmals stimmten in der V. Republik präsidiale und parlamentarische Mehrheit nicht mehr überein. In dieser in der bisherigen Geschichte der V. Republik singu­ lären Verhältniswahl siegte die gemäßigte Rechte, die in zwei Dritteln der Depar­ tements gemeinsame Listen aufgestellt hatte. Obwohl die PS mit 31,2 Prozent die stärkste Partei Frankreichs blieb, konnte dieses Ergebnis nicht verbergen, dass vie­ le » vom Sozialismus Enttäuschte « der Wahl fernblieben oder dieses Mal für die Bürgerlichen stimmten. Außerdem entfiel wegen des neuen Wahlmodus die bisher übliche Abstimmung mit den Kommunisten im zweiten Wahlgang, was stets eine zusätzliche Wahlhilfe bedeutet hatte. Gleichsam an ihrer eigenen Doppelstrategie, nämlich bis Frühjahr 1984 Regie­ rungspartei zu sein und anschließend als heftiger Kritiker der sozialistischen Re­ gierung aufzutreten, scheiterte die Kommunistische Partei. Ihr zunehmend un­ glaubwürdiges Verhalten bezahlte sie mit dem Verlust von mehr als der Hälfte ihrer Wähler von 1978. Mit weniger als 10 Prozent hatte sie ihr schlechtestes Wahl­ ergebnis seit 1932 erzielt. Wie schon im Jahre 1981 löste Mitterrand auch nach seinem zweiten Sieg im Mai 1988 das Parlament auf, wobei er die Wähler um » eine klare, aber nicht über­ triebene « Kammermehrheit bat. Gleichzeitig versprach er die Bildung eines Kabi­ netts der » Öffnung «. Premierminister Rocard sollte einer Regierung aus Sozialis­ ten und gemäßigten Bürgerlichen vorstehen, für die der Staatschef das Zentrum zu gewinnen hoffte. Mitterrands Aufforderung befolgten die Wähler indessen nur zum Teil. Auch nach der Rückkehr zur absoluten Mehrheitswahl blieb die PS (mit Ver­ bündeten) die stärkste Partei, aber der Stimmenanteil von 37,5 Prozent reichte zur Mehrheit in der Nationalversammlung nicht aus. Da eine Linkskoalition sowohl von der PCF als auch von der PS ausgeschlossen wurde und sich das Zentrum ebenfalls verweigerte, mussten Rocard und seine beiden Nachfolger Minderheits­ kabinette bilden, die sich auf Ad-hoc-Mehrheiten stützten. Keine Verschiebung der politischen Gewichte gab es im rechten Lager. Um ein Fiasko wie bei der Präsidentschaftswahl zu vermeiden, hatten beide Parteien in fast allen Wahlkreisen gemeinsame Kandidaten aufgestellt. Folgerichtig gewannen sie annähernd gleich viele Abgeordnetenmandate.

238

Wahlen, Wählerverhalten und Wahlfinanzierung

Die Parlamentswahlen vom März 1993, die vierten während Mitterrands Prä­ sidentschaft, waren zum einen durch eine vernichtende Niederlage der Sozialis­ ten, zum anderen durch die Entstehung der stärksten Mitte-Rechts-Fraktionen seit dem Jahre 1958 gekennzeichnet. Ebenfalls bemerkenswert sind zwei weitere Ergebnisse: die Zunahme des Front National um fast drei Prozentpunkte. Dieser Wahlerfolg bestätigte seine landesweite Bedeutung, obwohl er infolge der Wahl­ rechtsmodalitäten ohne Mandat blieb. Zwar erzielten auch die Grünen insgesamt 10,7 Prozent, ohne dass sich dies allerdings in Mandaten » auszahlte «. Der Grund dafür lag – neben dem Wahlsystem und » falschen « Ökologen – in der Tatsache, dass sie ihre Wählerschaft aufgrund der internen Zerstrittenheit sowie ihrer Wei­ gerung, Wahlbündnisse mit den Sozialisten einzugehen, nicht voll mobilisieren konnten.15 Die PCF verlor erneut und erzielte mit 9,18 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis der Nachkriegsgeschichte; nur den Absprachen mit den Sozialisten vor dem zwei­ ten Wahlgang verdankten 24 kommunistische Abgeordnete ihr Mandat. Das Wahldebakel der nichtkommunistischen Linken16 beruhte neben der Ent­ täuschung breiter Wählerschichten über die Wirtschafts- und Sozialpolitik der drei Linkskabinette sowie angesichts kontinuierlich steigender Arbeitslosenzah­ len besonders auf der Aufdeckung zahlreicher Korruptionsskandale, in die füh­ rende PS-Politiker verwickelt waren. Den Präsidentschaftswahlkampf im Frühjahr 1995 prägten Konstellationen, die so von vielen Beobachtern nicht erwartet worden waren. Zunächst zeigte sich das liberal-konservative Lager erneut gespalten. Entgegen allen Absprachen mit seinem » langjährigen Freund Chirac « hatte Premierminister Balladur aufgrund anfänglich günstiger Wahlprognosen seine Kandidatur erklärt. Auf Seiten der Linken kündigte – nach dem unerwarteten Verzicht des wohl aussichtsreichsten Bewerbers, des ehemaligen Präsidenten der Europäischen Kommission Jacques Delors – Lionel Jospin seine Kandidatur an. Zur Überraschung der meisten Wahl­ beobachter konnte der Sozialist mit einem betont sozialdemokratisch orientierten Programm den ersten Wahlgang mit 23,3 Prozent für sich entscheiden. Chirac war es dagegen nicht gelungen, mit seiner populistischen Wahlkampftaktik die tra­ ditionelle Basis der Rechten zu erweitern (20,84 Prozent). Edouard Balladur, der die gleiche Wählerschicht wie der Pariser Bürgermeister ansprach, belegte mit nur 18,58 Prozent den dritten Platz. Dass fast 38 Prozent der Wähler im ersten Wahlgang für einen der übrigen sechs chancenlosen Bewerber stimmten, wurde sicher zu Recht als Ausdruck des Protests gegen die etablierten Kräfte gewertet. Bei früheren Präsidentenwahlen hatte nur ein Viertel der Wähler ein ähnliches Protestverhalten gezeigt. Die Wahl­ beteiligung war mit 79,42 Prozent so gering wie nie zuvor seit 1969.

Wahlresultate 239

Von dieser Stimmung profitierte vor allem der Führer des rechtspopulistischen Front National. Mit 15 Prozent der Wählerstimmen erzielte Jean-Marie Le Pen das bislang beste Ergebnis in der Geschichte seiner Partei. Befragungen ergaben, dass ein Drittel der Wähler, die sich » sozial benachteiligt « glaubten, für ihn gestimmt hatten.17 Der zweite Urnengang bestätigte die traditionelle Rechts-Links-Teilung des Landes. Entscheidend für den Wahlausgang war die Stimmübertragung der Wäh­ ler. So erhielt Chirac nahezu alle Stimmen seines bürgerlichen Konkurrenten, nämlich 85 Prozent. Auch stimmten 70 Prozent derjenigen, die sich zunächst für den nationalkonservativen Grafen de Villiers entschieden hatten, für den Pariser Bürgermeister. Die kommunistischen und trotzkistischen Wähler wahrten die » republikanische Tradition « und übertrugen ebenso wie die Grünen mehrheitlich ihre Stimmen auf den Sozialisten Jospin.18 Von größter Bedeutung für den Ausgang der Stichwahl war das Stimmver­ halten der Le Pen-Anhänger. Der FN-Vorsitzende hatte seine Wähler faktisch zur Wahlenthaltung aufgefordert und sich damit – anders als 1988 – indirekt gegen Jacques Chirac ausgesprochen. Folglich blieb am 7. Mai 1995 ein Drittel der Le PenSympathisanten der Wahl fern; weitere 13 Prozent enthielten sich oder gaben un­ gültig Stimmzettel ab. Von den restlichen stimmten schließlich 39 Prozent für Chirac und 17 Prozent für Jospin. Ausschlaggebend für Chiracs Sieg war nach Einschätzung einiger Sozialwis­ senschaftler,19 er habe es bei seinem dritten Versuch erfolgreich verstanden, sozial Benachteiligte und vor allem junge Menschen anzusprechen. Des Weiteren konn­ te er den Eindruck vermitteln, » sich nicht am Rechts-Links-Schema festzuhalten, sondern Hoffnung zu verbreiten «. Entgegen der Gepflogenheiten löste der neue Staatschef die Nationalversamm­ lung nicht auf, sondern stützte sich auf die 1993 gewählte breite bürgerliche Mehr­ heit. Völlig überraschend forderte er jedoch im Frühsommer 1997 seine Landsleu­ te – ein Jahr vor Ablauf der Wahlperiode – zu einem Urnengang auf. Das Ergebnis war für Chirac ein Debakel und » bescherte « ihm eine fünfjährige » Cohabitation « mit seinem einstigen Gegner Lionel Jospin. Während die » Gauche plurielle « – be­ stehend aus Sozialisten, Radikalsozialisten, Linkssozialisten, Grünen und Kom­ munisten – von den Wählern mit einer ausreichenden Regierungsmehrheit von 320 Mandaten bedacht wurde, wurden die bürgerlichen Parteien hauptsächlich wegen Chiracs gebrochener Wahlversprechen und des wenig volksnahen Verhal­ tens seiner Regierung unter Alain Juppé regelrecht abgestraft. Chirac schien so­ gar für kurze Zeit die Kontrolle über seine Partei zu verlieren. Gleichzeitig bra­ chen die alten, nur mühsam überbrückten Rivalitäten und Gegensätze zwischen den einstigen Regierungspartnern wieder auf. Eine niedrige Wahlbeteiligung, ein

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Wahlen, Wählerverhalten und Wahlfinanzierung

Votum für Protestkandidaten und – auf Geheiß von Le Pen – die Kandidatur von zahlreichen FN-Kandidaten im zweiten Wahlgang besiegelten das Schicksal der Bürgerlichen.20 Folglich schienen die Voraussetzungen für eine Wiederwahl Chiracs fünf Jah­ re später denkbar ungünstig. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vom Frühjahr 200221 waren zunächst durch die Reduzierung der Amtszeit des Staats­ chefs mit dem Ziel einer Angleichung der Wahlperioden und durch eine Verle­ gung der Präsidentschaftswahlen vor die Wahlen zur Nationalversammlung ge­ kennzeichnet. Die regierende Linke hatte sich davon entsprechende Vorteile bei beiden Wahlen erhofft, zumal Chirac infolge Korruptionsverdachts aus seiner Amtszeit als Pariser Bürgermeister zusätzlich geschwächt schien. Das Ergebnis des ersten Präsidentschaftswahlgangs löste ein politisches Erd­ beben aus: Der Sozialist Jospin, der sich große Siegeschancen ausgerechnet hatte, schied nach dem ersten Wahlgang völlig überraschend aus. Konkurrenzkandida­ ten im linken Lager hatten seine Chance reduziert, und er verlor knapp gegen den Führer der Rechtsextremen. Somit traten in der Stichwahl Amtsinhaber Chirac, der im ersten Wahlgang noch nicht einmal 20 Prozent der Wählerstimmen erhal­ ten hatte, und der FN-Vorsitzende Jean-Marie Le Pen aufeinander. Nicht Chiracs Popularität führte in der Stichwahl zu seiner Bestätigung, sondern der Wahlauf­ ruf nahezu aller demokratischer Parteien sowie fast aller gesellschaftlichen Grup­ pen, Le Pen abzulehnen. In der Tat gelang es dem Vorsitzenden der FN nicht, sein Stimmenpotential gegenüber dem ersten Urnengang nennenswert auszubauen (17,8 Prozent). Die Präsidentschaftswahlen 2002 wiesen einige weitere Besonderheiten auf: Noch nie hatte ein amtierendes Staatsoberhaupt im ersten Wahlgang so wenige Stimmen erhalten (19,9 Prozent). Weiterhin zeigte sich eine extreme Zersplit­ terung der Wählerschaft. Kandidaten der extremen Rechten und der extremen Linken erhielten fast 30 Prozent der Stimmen. Diesen Protestwählern sind noch die für Dissidenten und Konkurrenzkandidaten in beiden Lagern abgegebenen Stimmen in Höhe von 34 Prozent hinzuzurechnen. D. h., nur ein gutes Drittel der Wähler votierte im ersten Wahlgang für die beiden Kandidaten der Großpar­teien der Sozialisten und Gaullisten. Auch erreichte die Wahlenthaltung eine bislang unbekannte Rekordhöhe von 28,4 Prozent. Ein generelles Misstrauen gegen die politische Klasse, nicht eingelöste Wahlversprechen, eine zunehmende Angst vor sozialem Abstieg und weiterhin hoher Arbeitslosigkeit gepaart mit dem Verlan­ gen nach Sicherheit vor Kriminalität und nach einem starken, die sozialen » Er­ rungenschaften « absichernden Staat führten zu diesem Protestverhalten breiter Wählerschichten.22 Bei den im Juli 2002 stattfindenden Parlamentswahlen feierte die zwischen den beiden Präsidentschaftswahlgängen von Chirac-Anhängern gegründete konserva­

Wahlresultate 241

tive Sammlungsbewegung Union pour une Majorité Présidentielle (im Herbst in Union pour un Mouvement Populaire, UMP, umgetauft) im Schlepptau von Chiracs Erfolg einen überwältigenden Sieg mit fast 44 Prozent. Allerdings repräsen­ tierten diese nur 27,5 Prozent der Wahlberechtigten. Die Sozialisten, die wegen der Weigerung der übrigen Ex-Partner der » Gauche plurielle « nur mit den Radikalsozialisten schon im ersten Wahlgang eine Koali­ tion eingehen konnten, kamen auf 25,65 Prozent der Abstimmenden (= 15,8 Pro­ zent der Stimmberechtigten). Stimmverweigerung und Unterstützung von Protestbewerbern schienen zu einem Merkmal des Abstimmungsverhaltens der Franzosen geworden zu sein – zu Lasten der traditionellen (Volks-)Parteien. Zwar lag die Wahlbeteiligung auch im Juni 2007 bei nur noch 60,4 Prozent, was einen Rekord bei Stimmenthaltungen in der Geschichte der Wahlen zur Na­ tionalversammlung bedeutete. Zu berücksichtigen ist aber, dass diese Abstim­ mung wenige Wochen nach Sarkozys Wahl ins höchste Staatsamt stattfand und folglich die Wähler nur in bescheidenem Maße mobilisierte. In der ersten Run­ de der Präsidentschaftswahlen 2007 lag die Wahlbeteiligung bei 84,6 Prozent und damit um fast 30 Prozentpunkte höher als 2002. Auch 14 Tage später wurde ein ähnlicher hoher Beteiligungsgrad erzielt, was den Stellenwert der Präsidentschaft­ wahl für die Franzosen eindrucksvoll unterstrich. Im Gegensatz zu 2002 entschied sich 2007 die überwältigende Mehrheit der Abstimmenden für nur drei Bewerber. Protestkandidaten fanden mit Ausnahme des Rechtspopulisten Le Pen kaum Zu­ stimmung. Nicolas Sarkozys Erfolg in der Stichwahl über die sozialistische Mit­ bewerberin Ségolène Royal mit 53,1 Prozent der Stimmen beziehungsweise seine 31,1 Prozent im ersten Durchgang bedeuteten eine unbestreitbare demokratische Legitimierung, über die sein Vorgänger bei dessen schwachem Abschneiden im ersten Wahlgang nicht verfügt hatte. Sarkozy, der sich auf » seine « UMP stützen konnte, warb im Wahlkampf so­ wohl um eigene Sympathisanten, aber auch um solche des Front National. Mit einem » rechtspopulistischen Diskurs mit einer liberal-konservativen Program­ matik schwächte er zwar seine Position bei gemäßigten Wählern, « hoffte jedoch deren Stimmen im zweiten Wahlgang zu gewinnen.23 Letztlich ging seine » Rech­ nung « auf. Der Rechts-Links-Gegensatz im französischen Parteiensystem bestä­ tigte sich erneut. Überraschend kam im ersten Wahlgang der Zentrumsbewerber François Bayrou mit fast 19 Prozent auf den dritten Platz. Er hatte sich als Kandidat der » Mitte « den Wählern empfohlen, der den bestehenden Gegensatz überwin­ den wollte. Sein Prestigeerfolg im ersten Durchgang machte seiner Zentrumpartei Hoffnung, bei den einen Monat später stattfindenden Legislativwahlen entspre­ chende Mandate zu gewinnen. Fehlende Wahlabsprachen mit der UMP besiegel­ ten Bayrous » Traum «. Nur halb so viele Wähler wie für Bayrou stimmten für die

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Wahlen, Wählerverhalten und Wahlfinanzierung

Kandidaten seiner in MoDem umbenannten Partei. Nur noch vier Abgeordnete zogen ins Palais Bourbon. Die Bipolarisierung der politischen Kräfte spiegelte sich im Wahlergebnis wi­ der: Die konservative Sammlungsbewegung UMP, die mit 45,5 Prozent ihr bestes Ergebnis seit 1973 erzielte, stellte 335 Abgeordnete, die Sozialisten und Verbündete 211. Le Pens Front National blieb mit 4,7 Prozent nahezu bedeutungslos. Dies änderte sich bei der » Anti-Sarkozy «-Wahl im Frühjahr 2012. Marine Le Pen konnte ihren Stimmenanteil gegenüber demjenigen ihres Vaters fast verdop­ peln (17,9 Prozent). Auch bei der Parlamentswahl erzielten die rechtspopulisti­ schen Bewerber mit 13,77 Prozent ihr bislang zweitbestes Ergebnis bei Legisla­ tivwahlen (siehe Schaubild 6, Seite 234). Wie die Vorsitzende belegte der Front National, dessen Kandidaten sich unter dem Signum Rassemblement Bleue Ma­ rine bewarben, den dritten Platz; er unterstrich damit, dass er sich mittlerwei­ le landesweit etabliert hat. Es ist der Vorsitzenden und ihrer Partei gelungen, in alle sozialen Schichten vorzudringen, Wähler und Anhänger in allen Konfessio­ nen, Regionen, Altersgruppen, bei Männern wie Frauen zu gewinnen. Insbeson­ dere bei solchen aus sozial schwachen Gruppen erzielte der FN seine besten Er­ gebnisse. Bei den Arbeitern ist er inzwischen die Nummer » eins «. Marine Le Pens » Angst «-Kampagnen vor sozialer Deklassierung bei steigender Arbeitslo­ sigkeit sowie ihre » Entdiabolisierungs «-Strategie trugen Früchte. In 61 Wahlkrei­ sen konnten auch im zweiten Wahlgang FN-Kandidaten antreten, fünf davon hat­ ten dort im ersten Durchgang die meisten Stimmen erzielt. Aber abgesehen von den insgesamt drei rechtsextremen Gewählten hatten sich die Stimmbürger in der Stichwahl – trotz ihres Protestverhaltens im ersten Wahlgang – für Kandida­ ten der demokratischen Parteien entschieden und damit die Einflussgrenzen der rechtsextremen Partei markiert. Nicolas Sarkozy unterlag dem sozialistischen Herausforderer trotz seiner Ver­ suche im zweiten Wahlgang, mit verbalen Avancen an das Gedankengut des FN Wähler, die zuvor Marine Le Pen ihre Stimme gegeben hatten, erfolgreich anzu­ sprechen. Dies misslang: nur 58 Prozent der Le Pen-Wähler entschieden sich im entscheidenden Durchgang für den amtierenden Staatspräsidenten.24 Insgesamt war eine klare Mehrheit mit der Politik des unpopulären Amtsinhabers unzufrie­ den und hatte kein Vertrauen mehr in seine Fähigkeiten, die gravierenden sozia­ len Probleme des Landes zu lösen. Der Aufruf des Zentristen Bayrou, dessen Ergebnis mit 9,3 Prozent gegenüber 2007 nahezu halbiert wurde, für den sozialistischen Kandidaten zu stimmen, be­ siegelte Sarkozys Niederlage. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung gaben die Wähler dem neuen Staatspräsidenten eine breite Mehrheit, sein Programm umsetzen zu können. Seit der Änderung des Wahlkalenders im Jahr 2000 wäre es beinahe widernatürlich,

Wahlverhalten 243

das frisch gewählte Staatsoberhaupt müsse sich den Zwängen einer » Cohabita­ tion « unterwerfen. Problematisch für die Sozialisten ist Jean-Luc Mélenchons Be­ wegung der » PS-Enttäuschten «. Sie könnte auch weiterhin Sympathisanten, die mit der sozialdemokratischen Politik der Regierungspartei unzufrieden sind, an­ locken.

11.4 Wahlverhalten 11.4.1 Wahlbeteiligung Die Wahlbeteiligung bei den Präsidentschaftswahlen 2007 und 2012 lag mit 83,77 bzw. 80,41 Prozent im Vergleich zu den Wahlen von 2002 und 1995 relativ hoch. Insgesamt lag die Stimmabgabe seit der ersten Direktwahl des Präsidenten im Jahr 1965 bei durchschnittlich 81 bis 84 Prozent – ein im internationalen Vergleich ho­ her Wert. Nur 2002 sank die Beteiligung wegen der Stimmenthaltung zahlreicher von Chiracs Politik Enttäuschter auf 71,4 Prozent. Die seit den achtziger Jahren teilweise manifesten Einbrüche bei der Wahlbe­ teiligung führen Wahlforscher auf eine Reihe von Faktoren zurück, die sich unter den Oberbegriffen Protest und Frustration zusammenfassen lassen: Neben poli­ tisch Desinteressierten zeigt die Höhe der Wahlenthaltungen ein bis dahin nicht gekanntes Protestverhalten von Wählern, die von der Politik der jeweiligen Regie­ rungen in hohem Maß enttäuscht sind. Sie sehen in den Maßnahmen der rech­ ten oder linken Kabinette keine Lösungskompetenzen für die dringendsten wirt­ schaftlichen und sozialen Probleme.25 Zu diesen Nichtwählern sind diejenigen Stimmberechtigten hinzuzurech­ nen, die auch bei späteren Wahlgängen für einen Kandidaten der extremen Rech­ ten oder Linken, verschiedene Grüne oder so sonderbare Protestgruppierungen wie den Vertretern der » Jäger und Traditionalisten « gestimmt haben. Ihr Anteil lag bei 29,42 Prozent. Fasst man diese Zahlen sowie die ungültigen Stimmen zu­ sammen, beläuft sich die Gesamthöhe der » Front der Verweigerer « beim ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl 2012 auf 50,94 Prozent der Wahlberechtigten. Diese Zahl liegt fast doppelt so hoch wie 1981. Betrachtet man ausschließlich Pro­ testwähler, so hat sich deren Zahl sogar verdreifacht.26 Mehr und mehr Wähler wenden sich folglich in der einen oder anderen Form vom System der traditionellen Regierungsparteien ab. Die Gründe für diese Par­ tizipationskrise sind vielfältig: der zunehmende Funktionsverlust der Kommunis­ tischen Partei als » Anwalt « sozial benachteiligter Schichten und ihre mehr als nur punktuelle Verdrängung durch den Front National, die Entwicklung der Sozialis­ tischen Partei zu einer sozialdemokratischen, die Enttäuschungen über ausblei­

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Wahlen, Wählerverhalten und Wahlfinanzierung

bende Sozialreformen und über offensichtlich unwirksame Maßnahmen gegen die hohe Arbeitslosigkeit, Angst vor dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel im Rahmen der Globalisierung, Verblassen einstiger ideologischer Unter­ schiede zwischen den traditionellen Parteien und den Hauptpräsidentschaftsbe­ werben der Rechten und der Linken. Im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen liegt die Wahlbeteiligung in der Regel höher als im ersten Durchgang. Im Jahr 2012 beteiligten sich 81,26 Pro­ zent an der Stichwahl – ein Wert, der bei früheren Wahlen ähnlich hoch lag. Den­ noch: Das Misstrauen gegenüber der politischen Klasse ist ungebrochen, das Fehlen von personellen und sachlichen Alternativen bei Gaullisten sowie Sozialis­ ten bestärkt diese Wählergruppen in ihrer ablehnenden Haltung – Faktoren, die Marine Le Pens Wahlerfolg im ersten Durchgang begünstigt haben; das Gleiche gilt für Mélenchons Achtungsergebnis. Durch die Änderung des Wahlkalenders ist die Beteiligung an den Legislativ­ wahlen gesunken. So nahmen 2012 nur 57,23 Prozent der Stimmberechtigten daran teil – ein Enthaltungsrekord. Schon 2002 und 2007 war der Abstimmungsprozent­ satz nach der Präsidentschaftswahl auf unter 70 Prozent gesunken. Junge Wähler gingen seltener zur Wahl als ältere Jahrgänge. Der Politologe Pierre Bréchon kom­ mentiert das Abstimmungsverhalten wie folgt: » Die Generation der unter 45-jäh­ rigen unterscheidet sich deutlich in ihrem Abstimmungsverhalten von den Äl­ teren. Für diese ist die Stimmabgabe eine Pflicht bei allen Wahlen. Die Jüngeren dagegen betrachten sie als ein Recht, als eine Chance sich politisch zu artikulieren, wenn man es für nützlich ansieht, davon Gebrauch zu machen und es lohnt, ins Wahlbüro zu gehen. «27 Die befragten Nichtwähler überzeugte kein Kandidat oder sie sagten ihr Votum werde nichts an der künftigen Politik ändern bzw. ihre An­ liegen hätten keine Chance beachtet zu werden. Insgesamt offenbart die Wahlanalyse, dass die Franzosen bei Richtungsent­ scheidungen wie bei der Wahl des Staatspräsidenten nach wie vor zu einem ho­ hen Prozentsatz von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. Hier betrachten sie den Urnengang als eine Pflicht, der sie sich nicht entziehen dürfen, selbst wenn sie aus Protest für Antisystemkandidaten votieren. Bei den Wahlen zur Nationalver­ sammlung sowie zu den Gemeinde- und Regionalratswahlen ist ein merklicher Einbruch im Wahlverhalten gegenüber früheren Wahlgängen festzustellen. Wahl­ forscher sehen wegen der wachsenden Distanz zwischen Wählern und Gewählten einen zunehmenden Legitimitätsschwund des politischen Systems. Bei weniger wichtigen Abstimmungen (Wahlen zum Europäischen Parlament und Departementratswahlen) ist die Bereitschaft, das Wahlrecht » ruhen « zu las­ sen, immer schon ausgeprägter gewesen; damit unterscheiden sich die Franzosen nicht von ihren Nachbarn.

Wahlverhalten 245

11.4.2 Zur sozialen Zusammenammensetzung der Wählerschaft Die soziale Zusammensetzung der Wähler der französischen Parteien hat sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte nicht unerheblich verändert.28 So ging bei­ spielsweise den Gaullisten bis Anfang der neunziger Jahre ihre zu Beginn der V. Republik beachtliche Verankerung auch bei Arbeitern weitgehend verloren. Die Kommunistische Partei blieb zwar ungebrochen eine » Partei der Arbeiter «, büß­ te jedoch – bedingt durch den wirtschaftlichen Strukturwandel – gerade in die­ ser Wählerschicht durch den numerischen Rückgang von qualifizierten und ange­ lernten Arbeitern massiv an Stimmen ein. Gleichzeitig wandten sich seit Mitte der achtziger Jahre diese Wähler in hohem Maße dem rechtsextremen Front National zu. Diese Partei ist inzwischen die » Partei der Arbeiter «. Die Sozialistische Partei verdankte ihren Aufstieg in den siebziger Jahren vor allem einem starken Zuspruch durch die zunehmend stärker ins Gewicht fallen­ den Wählerschichten des » neuen unselbständigen Mittelstandes « und durch die Frauen. Gleichzeitig gelang ihr der Einbruch in Wählergebiete, insbesondere in Westfrankreich und im Elsass, die traditionell als Bastionen der gemäßigten Rech­ ten angesehen wurden. Trotz dieser sozialen und ökonomischen Veränderungen, die noch durch ei­ nen verstärkten Urbanisierungsgrad zu ergänzen sind, haben sich gewisse Kon­ stanten verfestigt. So gilt unverändert, dass Arbeiter und einfache Angestellte, ins­ besondere wenn sie gewerkschaftlich organisiert sind, eher links als rechts wählen; andererseits stimmen praktizierende Katholiken – unabhängig von ihrem Beruf – primär für die gemäßigte Rechte. Traditionen, Sozialisation, Einstellungen zum Staat und seinen Organen, Berufserfahrungen und nicht zuletzt Persönlichkeiten, die sich zur Wahl stellen – z. B. Bürgermeister – bestimmen in Frankreich wie in anderen Staaten das Wahlverhalten der Bürger. Zudem wählen aufgrund histori­ scher » Erfahrungen «, wie Bürgerkriege, Strafexpeditionen der Monarchen, die bis ins Mittelalter zurückreichen, oder der Revolutionäre, ganze Gebiete (seit Einfüh­ rung des allgemeinen, direkten Wahlrechts [nur für Männer] im Jahr 1848) entwe­ der weitgehend links oder rechts.29 So dominiert die Linke traditionell Frankreichs Südwesten, in dem die Erin­ nerung an die grausame Verfolgung der Katharer durch » Thron und Altar « nach wie vor lebendig ist. Der Westen dagegen war und ist weitgehend eine Hochburg der gemäßigten Rechten; streng katholische und königstreue Departements wie beispielsweise die Vendée lehnten sich gegen die atheistischen Revolutionäre der Jahre 1792 bis 1794 auf und wurden von den Regierungstruppen erbittert verfolgt und unterworfen. Elsass-Lothringens wechselvolle Geschichte ist mit ein wichti­ ger Grund – neben konfessioneller Verankerung und seiner in einem gewissen

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Wahlen, Wählerverhalten und Wahlfinanzierung

Maß als mittelständisch zu bezeichnenden Sozialstruktur – für seine » Treue « ge­ genüber bürgerlichen oder betont national eingestellten Parteien. François Goguels Untersuchungen30 über die französische Wahlgeographie zwischen 1945 und den achtziger Jahren belegen die These, dass – trotz Verschie­ bungen – das » katholische, rechte Frankreich « einerseits, sowie das » radikalsozia­ listische « bzw. später » sozialistische Frankreich « andererseits, unverändert fort­ bestehen. Zählen zum ersteren vornehmlich die Bretagne, die Normandie, das Pays de la Loire, die südlichen Abhänge des Massif Central und Teile Ostfrank­ reichs insbesondere das Elsass und einige lothringische Departements, so gehören zum letzteren besonders weite Gebiete Aquitaniens, die Regionen Midi-Pyrenées, Poitou-Charentes und Limousin. Das Wählerverhalten unter Charakteristika wie Religion, Sozialstruktur, Ge­ schlecht und Alter findet sich jeweils in den Abschnitten über die politischen Par­ teien. Folgendes kann grundsätzlich festgehalten werden: Die demokratische Linke gewann zunehmend berufstätige Wählerinnen; sie konnte besonders erfolgreich jüngere Wähler ansprechen und erzielte große Er­ folge nicht nur bei ihrer traditionellen Wählerklientel, den Arbeitern und einfa­ chen Angestellten, sondern auch beim so genannten neuen unselbständigen Mit­ telstand. Die Stärken der gemäßigten Rechten dagegen lagen besonders bei älteren Wählerinnen und Wählern, bei Selbständigen in Handwerk, Handel und Land­ wirtschaft, bei leitenden Angestellten sowie bei Freiberuflichen.

11.5 Kandidatenrekrutierung Das französische Wahlrecht geht im Gegensatz zum deutschen nicht von den Par­ teien, sondern von den Kandidaten aus, ohne zu unterscheiden, ob der Kandidat von einer Partei unterstützt wird oder nicht. Somit spielen nach den Bestimmun­ gen des Wahlgesetzes die Parteien bei der Kandidatenaufstellung keine Rolle, da sie formell kein Wahlvorschlagsrecht besitzen und Wahlvorschläge nur von den Kandidaten selbst eingereicht werden können (Art. L 154), wobei die Zugehörig­ keit bzw. Nichtzugehörigkeit zu einer Partei bedeutungslos ist. Faktisch haben sich bei den bisherigen Wahlen der V. Republik bis auf weni­ ge Ausnahmen nur von Parteien unterstützte Kandidaten um ein Mandat bewor­ ben. Aus diesem Grund fällt den Parteien die entscheidende Rolle bei der Kan­ didatenaufstellung zu, weil fast alle Bewerber erst nach Aufstellung durch eine Partei ihre Kandidatur erklären. Formell handelt es sich also um eine selbständi­ ge Bewerbung des Kandidaten, die jedoch materiell ein Wahlvorschlag seiner Par­ tei ist. Weil gesetzliche Regelungen hinsichtlich der Kandidatenaufstellung fehlen,

Kandidatenrekrutierung 247

kommt demnach der Regelung in den Parteisatzungen fundamentale Bedeutung für die Kandidatur zu. Die Parti Socialiste hat den Mitgliedern im Wahlkreis die Auswahl der Kan­ didaten übertragen.31 So genannten Fédérations auf Departementebene obliegt die Kontrolle des Vorschlags. Dieser muss wiederum vom Nationalrat, d. h. dem » kleinen « Parteitag, bestätigt werden. Zweifellos handelt es sich hierbei weitge­ hend um eine echte Partizipation. Auch die Statuten von Les Verts sehen einen vergleichbaren Nominierungs­ modus vor. Die übrigen Parteien kennen bislang allenfalls ein Vorschlagsrecht örtlicher bzw. regionaler Gremien, ohne jedoch den » einfachen « Parteimitgliedern eine Mitentscheidung zu ermöglichen.32 Weder bei der kommunistischen noch bei der bürgerlichen UMP sind personalpolitische Beschlüsse solcher Gremien für die Parteiführungen bindend. Das Gleiche gilt für die UDF.33 Deshalb ist es auch nicht erstaunlich, dass empirische Analysen bei den meis­ ten Parteien eine Oligarchisierung der Kandidatenaufstellung nachweisen.34 Ent­ scheidet in der PCF das Nationalkomitee über Aufstellung bzw. Ablehnung der von Sektionskomitees vorgeschlagenen Bewerber, so ist bei den Republikanern der gesamte Findungsprozess auf die Parteiführung, das Politische Büro, konzentriert, die sich eines Hilfsorgans, eines so genannten Investiturkomitees, bedient (Arti­ kel 40 und 44 der Statuten).35 Der Nationalrat hat die Vorschläge schließlich noch zu billigen; dies dürfte aber eine rein formale Angelegenheit sein. Da die Gaullisten und ihre Koalitionspartner in der Regel bemüht waren, schon im ersten Wahlgang gemeinsame Kandidaten aufzustellen, bildeten die bürgerlichen Parteien meist eine paritätisch besetzte Findungskommission. Ihre Aufgabe war es zunächst festzustellen, in welchen Wahlkreisen ein gemeinsamer Kandidat aufgestellt wird und in welchen es zur Mehrfachkandidatur der Koali­ tionspartner kommen sollte. Solche » Primaires « waren, wie schon gezeigt, die Ausnahme. Waren die Wahlkreise von der Kommission auf die Koalitionsparteien aufgeteilt, befasste man sich mit den einzelnen Kandidaten, wobei meistens dem jeweiligen Partner das Vorschlagsrecht für die ihm » zugesprochenen « Wahlkrei­ se zugestanden wurde. Vorherrschendes Kriterium bei der Nominierung ist in allen Parteien neben dem Abgeordnetenmandat der Bekanntheitsgrad im Wahlkreis und ggf. ein loka­ les Mandat. Die Wahlen vom Frühjahr 2012 bestätigten frühere Untersuchungen, wonach alle großen Parteien in erster Linie Kandidaten mit einer starken lokalen Verwurzelung nominierten.36 Bürgermeistern, Gemeinderäten und Departement­ räten wurde bei der PS, der UMP und beim Zentrum eindeutig der Vorzug ge­ geben. Meldeten diese » Provinzgrößen « ihre Kandidatur an und wurden sie von den örtlichen Parteimitgliedern unterstützt, konnte sich jeweils das Investiturko­

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Wahlen, Wählerverhalten und Wahlfinanzierung

mitee der bürgerlichen Parteien über solche Vorschläge nur schwer hinwegsetzen. Bei der PS und den Grünen wog das Votum der Mitglieder im Wahlkreis sowieso schwerer; es bedeutete faktisch die Nominierung, selbst wenn diese formell dem Nationalrat vorbehalten blieb. Fasst man den Prozess der Kandidatenselektion zusammen, so ergibt sich fol­ gendes: Außer bei der PS und den Grünen ist die Nominierung der Kandidaten auf die nationalen Parteiführungen zentriert, die sich ihrerseits auf Findungskom­ missionen stützen. Widerstände gegen diese oligarchischen Nominierungsabläu­ fe sind selten zu finden. Wesentliches Kriterium für die Aufstellung ist – neben einem Abgeordnetenmandat – die Ausübung lokaler Funktionen. Solange ein Parteiengesetz, das die Kandidatenaufstellung demokratisiert, fehlt, bleiben demokratische Verfahren in der Parti Socialiste sowie bei den Grü­ nen die Ausnahme. Nach Artikel drei und vier der Verfassung begünstigt das Wahlgesetz den glei­ chen Zugang von Männern und Frauen zu Wahlmandaten und -ämtern. Eine Rei­ he von Gesetzen zur Gleichberechtigung beider Geschlechter wurde nach dieser erfolgten Verfassungsänderung im Juli 1999 beschlossen.37 So sollen die Parteien möglichst 50 Prozent weibliche und männliche Kandi­ daten in Bezug auf das gesamte Territorium aufstellen (Art. L 123 des Code élec­ toral). Missachtet eine Partei dies, indem die Zahl der Kandidatinnen um mehr als zwei Prozent unter derjenigen der männlichen Bewerber liegt, erhält sie entspre­ chend weniger staatliche Finanzhilfe, wie die UMP 2012, da sie nur 25 Prozent Be­ werberinnen aufgestellt hatte. Eher werden finanzielle Einbußen hingenommen, als hinreichend Kandidatinnen aufzustellen. Von den insgesamt 577 Abgeordne­ ten waren in der 14. Legislaturperiode nur 26,9 Prozent Frauen (= 155). Problema­ tisch ist ebenfalls, dass Frauen häufig in schwer zu gewinnenden Wahlkreisen no­ miniert wurden.38 Von einer » parité « kann somit noch nicht gesprochen werden.

11.6 Parteien und Wahlkampf‌finanzierung Bis zum Jahre 1988 gab es – von wenigen Ausnahmen abgesehen39 – keine staatli­ che Parteienfinanzierung. Begründet wurde dies mit dem privatrechtlichen Status der politischen Parteien (siehe Kapitel 10.2). Da jedoch der Finanzbedarf bei allen politischen Gruppierungen ständig wuchs, behalfen sich diese zur Deckung ihrer Kosten mit illegalen Einnahmequellen. Die einzige legale, nämlich Mitgliedsbei­ träge, reichte bei weitem nicht aus, zumal der Gesetzgeber Vereinen – als solche wurden die politischen Parteien bis 1988 betrachtet – die Erhebung von Mitglieds­ beiträgen über 100 Franc untersagt hatte. Auch die Annahme von Geldmitteln aus

Parteien und Wahlkampffinanzierung 249

dem Ausland war verboten. Trotz dieser Verbote erhielten alle Parteien von inter­ essierten Personen und Unternehmen (illegale) Zuwendungen zur Begleichung ihrer Kosten. Dass die PCF auf der » Gehaltsliste « ihrer Moskauer Bruderpartei stand, war lange ein offenes Geheimnis, das nach Öffnung der sowjetischen Un­ terlagen bestätigt wurde.40 Erst jüngst wurde bekannt, dass der FN von einer rus­ sischen Bank einen Kredit über 9 Millionen Euro erhalten hatte. Die am weitesten verbreitete Form der illegalen Parteienfinanzierung, die nicht selten zur Korruption führte, wurde bei der Vergabe öffentlicher Investitionsvor­ haben angewandt. Aber auch Werbeagenturen, Marktforschungs- und Unterneh­ mensberatungsfirmen dienten den Parteien als » Inkasso-Betriebe « zur Sammlung von Unterstützungsgeldern.41 Solche unkontrollierbaren und nicht transparenten Finanzierungsquellen, von denen die Öffentlichkeit durchaus Kenntnis hatte, über die aber niemand sprach,42 und die zunehmend den größten Teil des Finanzbe­ darfs der Parteien deckten, führten zu einer immer weiter um sich greifenden Korruption.43 Vor dem Hintergrund sich häufender Skandale ab Mitte der achtziger Jahre im Zusammenhang mit der Parteienfinanzierung, in die auch Staatspräsident Mitterrand hineingezogen zu werden drohte,44 entschloss sich dieser zu einem » Be­ freiungsschlag «, indem er öffentlich eine Finanzierung der Wahlkämpfe und der politischen Parteien forderte. Das Resultat dieses Vorschlags waren die im März 1988 verabschiedeten Gesetze zur » fi nanziellen Transparenz des politischen Le­ bens «. Da sie sich jedoch schon bald als wenig effektiv erwiesen, wurden sie jeweils im Januar 1990, 1993 und 1995 novelliert. Neben einem WahlkampfkostenBegrenzungsgesetz (1990) wurde auch ein Gesetz zur » Verhinderung von Kor­ ruption « im Januar 1993 beschlossen.45 Anfang 1988 verabschiedete der Gesetz­ geber ebenfalls ein Gesetz, das von allen Senatoren und Abgeordneten sowohl nach ihrer Wahl als auch nach Beendigung ihres Mandats eine Offenlegung ih­ rer Vermögensverhältnisse vorschreibt. Diese bilden die rechtliche Grundlage für die staat­liche und private Finanzierung der politischen Parteien und der Kandi­ daten.

11.6.1 Zur staatlichen Finanzhilfe an Parteien Durch eine Neudefinition des Parteienstatus durch das Gesetz von 11. März 198846 wurden die Parteien in den Status von juristischen Personen erhoben, denen u. a. nunmehr das Recht zugebilligt wird, Spenden bzw. Schenkungen entgegenzuneh­ men. Damit durften sie erstmals in den Genuss staatlicher und privater Finanz­ mittel kommen. Der Staat stellt ihnen seit 1988 jährlich Subventionen zur Verfü­ gung, deren Höhe jeweils von den beiden Parlamentspräsidien vorgeschlagen und

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Wahlen, Wählerverhalten und Wahlfinanzierung

anschließend im Staatshaushalt verankert wird. Eine Obergrenze sieht Artikel 8 des Gesetzes von 1988 nicht vor, was in der Öffentlichkeit zu Recht kritisiert wur­ de, denn die Zuwendungen stiegen von anfänglich 114 Millionen Franc auf über 76,26 Millionen Euro im Jahr 2013. Der Gesamtbetrag wird in zwei gleich großen Beträgen wie folgt aufgeteilt: Die erste Hälfte wird proportional zum Stimmengewinn im ersten Wahlgang auf alle diejenigen Parteien und politischen Gruppierungen verteilt, die bei der letzten Wahl in mindestens 50 Wahlkreisen Kandidaten aufgestellt und wenigstens ein Prozent der Wählerstimmen erhalten haben. Diese im Jahr 2003 ins Gesetz ein­ gefügte Klausel ließ die Zahl der begünstigten Parteien im Mutterland auf 14 fal­ len. Vor der Gesetzesverschärfung waren 32 Gruppierungen in den Genuss staat­ licher Hilfe gekommen.47 Die zweite Hälfte erhalten die Parteien proportional zu ihrer Stärke in der Nationalversammlung und im Senat. Diese wird während der gesamten Legislaturperiode jährlich gezahlt. Die staatlichen Finanzzuweisungen alimentieren nahezu alle Parteien ungefähr zur Hälfte, bei der UMP sogar fast zu 70  Prozent. Abgaben ihrer Mandatsträger sind bei den Linksparteien hoch, bei den bürgerlichen Gruppierungen eher bescheiden.48

11.6.2 Zur privaten Finanzhilfe an Parteien Politischen Parteien erlaubt die neue Gesetzgebung die Entgegennahme von Spen­ den.49 Allerdings sehen die Gesetze strenge Regelungen hinsichtlich Höhe, Art und Herkunft der Spenden vor: ■■ Spenden von natürlichen Personen dürfen 7 500 Euro nicht übersteigen, ■■ jede Spende über 150 Euro muss als Scheck erfolgen, ■■ Zahlungen von ausländischen Staaten50 oder ausländischen juristischen Per­ sonen sind verboten, ■■ juristischen Personen ist seit 1995 jegliche Parteienfinanzierung verboten.51 Gerade dieser letzte Punkt darf als Reaktion des Gesetzgebers auf die Korrup­ tionsaffären der vergangenen Jahre gewertet werden. Spenden dürfen niemals einer Partei direkt überwiesen werden, sondern nur ei­ nem von der begünstigten Partei bestellten Bevollmächtigten. Dieser kann eine natürliche oder eine juristische Person (Association de financement) sein und hat jedem Spender eine Quittung auszustellen. Zu Beginn eines jeden Jahres ist der Parteienfinanzierungs-Kontrollkommission ein Rechenschaftsbericht über die eingegangenen Zahlungen vorzulegen.

Parteien und Wahlkampffinanzierung 251

Spenden an politische Parteien sind seit der Gesetzesnovellierung im Januar 1995 ebenso wie Mitgliedsbeiträge an politische Parteien zu 40 Prozent von der Steuer absetzbar.52 Für diejenigen Parteien, auf die die genannten Kriterien für eine Zuteilung nicht zutreffen, sieht das Gesetz von 1995 eine staatliche Unterstützung vor. Sie er­ halten diese in Höhe von 300 000 Euro, sofern sie während eines Jahres von we­ nigstens 10 000 Personen mindestens 150 000 Euro an Spenden eingesammelt ha­ ben. Um dem Einfluss von Sekten auf die Politik vorzubauen, wurde bestimmt, dass unter den Spendern 500 Volksvertreter sein müssen.53

11.6.3 Zur staatlichen Wahlkampf‌finanzierung Für die Kandidaten bei den Wahlen zur Nationalversammlung sowie zu den Re­ gional-, Departement- und Gemeinderäten hat der Gesetzgeber seit 1988 – über die eingangs aufgezählten öffentlichen Serviceleistungen hinaus – staatliche Zu­ schüsse vorgesehen. Jedem Kandidaten für ein Abgeordnetenmandat werden, so­ fern er mindestens 5 Prozent der gültigen Stimmen im ersten Wahlgang erzielt und die Wahlgesetze genauestens beachtet hat, 50 Prozent der maximal zulässigen Wahlkampfkosten (siehe unten) erstattet.54 Für die Wahlen zum Senat gibt es seit 14. April 2011 ebenfalls bescheidene staatliche Zuschüsse. (Hinsichtlich der Präsi­ dentschaftswahlen siehe Kapitel 3.2.)

11.6.4 Ausgaben Eine der wichtigsten Neuerungen der Wahlkampf‌fi nanzierung betrifft die Aus­ gabenbegrenzung bei allen Wahlen. Bei Wahlen zur Nationalversammlung lie­ gen die Höchstgrenzen für einen Kandidaten bei 38 000 Euro zuzüglich 0,15 Euro pro Einwohner.55 Für einen durchschnittlichen Wahlkreis beträgt somit die Aus­ gabenobergrenze etwa 50 000 Euro. Für Wahlen auf regionaler und lokaler Ebe­ ne sind die maximalen Ausgaben nach der Zahl der Einwohner des Wahlkreises gestaffelt.56 Die Wahlen zum Europäischen Parlament unterliegen vergleichbaren Restrik­ tionen wie die nationalen Wahlen. Ein Kandidat (bzw. der auf einer Liste Erstplatzierte) hat alle Ausgaben ebenso wie alle seine Einnahmen genau aufzulisten; dazu gehören auch seine Eigenmittel und die zu seinen Gunsten von Dritten erbrachten Leistungen. Um ebenfalls zu einer Eindämmung der Wahlkampfkosten beizutragen, sieht die Gesetzgebung auch ein Verbot von besonders kostenträchtigen Werbemaß­

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Wahlen, Wählerverhalten und Wahlfinanzierung

nahmen vor. So ist für den Zeitraum von drei Monaten vor dem ersten Wahlgang bis zum zweiten Wahlgang neben kommerzieller Plakatierung jegliche andere Form bezahlter Werbung in der Presse und den audiovisuellen Medien verboten; das Gleiche gilt auch für gebührenfreie Telefon- oder Bildschirmnummern. Er­ laubt bleiben aber Anrufe des Kandidaten bei Wählern oder das Versenden von Werbebriefen.57

11.6.5 Zur privaten Wahlkampf‌finanzierung Ebenso wie politischen Parteien erlaubt die neue Gesetzgebung auch Kandidaten die Entgegennahme von Spenden.58 Vergleichbare strenge Regelungen sehen die Gesetze ebenfalls vor. Spenden von natürlichen Personen an Kandidaten dürfen jeweils 4 600 Euro nicht übersteigen und können bar erfolgen, sofern sie unter 150 Euro liegen. Un­ ternehmen und ausländischen Staaten ist jegliche Zahlung verboten. Dem Spen­ der ist freigestellt, wie viele Parteien er jeweils mit dieser Summe unterstützen will. Politische Parteien dürfen Bewerber in unbegrenzter Höhe unterstützen, wo­ bei jedoch die gesamte Ausgabenobergrenze des Begünstigten nicht überschrit­ ten werden darf. Spenden dürfen niemals einem Kandidaten (ebenso wenig wie einer Partei) direkt überwiesen werden, sondern nur einem vom Begünstigten bestellten Be­ vollmächtigten; dieser kann eine natürliche oder eine juristische Person sein. Ma­ ximal zwölf Monate vor den Wahlen (bei Nachwahlen oder vorgezogenen Neu­ wahlen gelten andere Fristen) darf der Bevollmächtigte ein Konto eröffnen, auf das alle Zahlungen einzugehen haben. Drei Monate nach der Hinterlegung der von einem Buchprüfer abgezeichneten Wahlkampfkostenabrechnung bei der Prä­ fektur endet seine Tätigkeit. Für die Spenden hat der » Mandatar « Quittungen aus­ zustellen. Zuwendungen an Kandidaten und politische Parteien von Privatper­ sonen sind steuerlich absetzbar. Wird ein Verstoß gegen die Bestimmungen des Wahlgesetzes, z. B. durch Überschreiten des Ausgabenplafonds, festgestellt, kann dies zum Mandatsverlust führen oder zur Aberkennung der staatlichen Zahlung.

11.6.6 Kontrolle Zur Kontrolle der Einnahmen und Ausgaben wurde 1990 eine Kontrollkommis­ sion eingerichtet, die Commission Nationale des Comptes de Campagne et des Fi­ nancements Politiques (CCFP).59 Ihr werden die von jedem Kandidaten zwei Mo­ nate nach der Wahl der Präfektur seines Wahlkreises vorgelegten Abrechnungen

Parteien und Wahlkampffinanzierung 253

über die erhaltenen Finanzmittel sowie über alle Ausgaben übersandt. Sie über­ prüft diese und stellt gegebenenfalls Unregelmäßigkeiten oder Überschreitungen des Ausgabenlimits fest. Sanktionen kann die unabhängige Kommission, die sich aus neun auf fünf Jahre bestellten Mitgliedern (je drei des Kassationsgerichts, des Rechnungshofs und des Staatsrats) zusammensetzt, nicht verhängen; diese sind ausschließlich den Gerichten vorbehalten. Allerdings kann sie den Verlust des passiven Wahlrechts für die betreffende Körperschaft für ein Jahr, im Falle von Korruption für fünf Jahre empfehlen. Daneben verfügt die Kommission noch über eine Reihe weiterer Sanktionsmöglichkeiten für Regelverstöße. Neben der Kontrolle der Wahlkampfkostenabrechnungen (mit Ausnahme derjenigen der Präsidentschaftskandidaten, für die der Verfassungsrat zuständig ist) prüft die Kommission auch die jährlichen Rechenschaftsberichte der Parteien und sorgt für deren Veröffentlichung. Die Hauptgründe für die insgesamt wenigen Ablehnungen einer staatlichen Beihilfe waren zur Hälfte fehlende Hinweise auf eine ordnungsgemäße Bestellung eines Buchprüfers; die übrigen berührten Unstimmigkeiten im Zusammenhang mit eingenommenen Spenden oder fehlende Belege. Bei der Veröffentlichung der Finanzierungsquellen der Politiker ließ sich ge­ nerell feststellen, dass die große Mehrheit der Abgeordneten Mitte der neunziger Jahre vor allem von den großen Baufirmen unterstützt wurde, wobei diese alle po­ litischen Kräfte mit Ausnahme des rechtspopulistischen Front National, der Kom­ munisten und der beiden Grünen Parteien unterstützt haben. Dass gerade die gro­ ßen Baufirmen eine herausragende Rolle spielten, war nicht überraschend: Bei der Vergabe von Baugenehmigungen, die seit der Dezentralisierung der Verwaltung durch die Reformgesetzgebung des Jahres 1982 in den einzelnen Gemeinden und Departements nicht mehr von der Zustimmung der Präfekten abhängig ist, üb­ ten die Politiker einen maßgeblichen Einfluss aus. Das Gleiche galt für die großen Unternehmen für die Trinkwasserversorgung.60 Vor dem Hintergrund zahlreicher Korruptionsaffären, die einigen führenden Politikern » den Job kosteten «, wur­ de – wie erwähnt – im Januar 1995 jegliche Zahlung von Firmen an Politiker und Parteien verboten. Außerdem wurde ein Gesetz zur verschärften Kontrolle des öf­ fentlichen Auftragswesens verabschiedet. Zur Offenlegung ihrer Vermögensverhältnisse sind alle Mandatsträger ver­ pflichtet. Sie haben nach Beendigung ihres Mandats ebenfalls eine Vermögenser­ klärung abzugeben.61 Präsidentschaftsbewerber müssen diese beim Verfassungsrat, Mitglieder der Assemblée Nationale und des Senats sowie die übrigen Genannten bei einer eigens dafür geschaffenen Kommission, der Commission pour la Transparence Finan­ cière de la Vie Politique, die sich aus drei Spitzenbeamten zusammensetzt, hinter­

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Wahlen, Wählerverhalten und Wahlfinanzierung

legen.62 Diese » Kontroll-Behörde « hat regelmäßig Berichte über die Vermögens­ verhältnisse der Amtsträger vorzulegen. Bewertet man die seit 1988 erfolgte Reformgesetzgebung, so ist sie trotz al­ ler Unzulänglichkeiten als großer Fortschritt anzusehen, bringt sie doch erstmals Licht in das bisherige Dunkel der französischen Parteienfinanzierung. Allerdings hat die staatliche Finanzgewährung zu einer Zersplitterung des französischen Par­ teiensystems und zu einer Verdoppelung der Kandidaten bei Parlamentswahlen gegenüber den achtziger Jahren geführt. So verwundert es nicht, dass 2001 bei­ nahe 210 Parteien bei der staatlichen Kontrollkommission erfasst waren. Häufig ließen sie sich nur deshalb als politische Partei registrieren, um – als » reine Sub­ ventionsjäger « (so der Politologe Camby) – in den Genuss staatlicher Gelder zu gelangen, selbst wenn 90 Prozent dieser öffentlichen Hilfe an die im Parlament vertretenen Parteien sowie an den Front National gingen. Mittlerweile werden die Parteien zu über 50 Prozent mit öffentlichen Mitteln subventioniert. Mitglieds­ beiträge sind – außer bei den Linksparteien – entsprechend niedrig. Die UMP, aber auch der FN und die PCF kamen im Jahr 2010 in den Genuss hoher Spen­ denzuweisungen.63 So hatte beispielsweise die konservative Sammlungspartei im Jahr 2008 7,5 Millionen Euro Spendengelder erhalten, die PS dagegen nur 1,7 Mil­ lionen.64 Da im Gegensatz zu Deutschland der Anteil der staatlichen Parteienfinanzie­ rung an den Gesamteinkünften einer Partei nicht begrenzt ist, entfällt der » An­ reiz, Mitglieder und Sympathisanten zu mobilisieren. Stattdessen wird das ohne­ hin vorherrschende Phänomen der Parteien als Wahlkampfmaschinen staatlich alimentiert. «65 Auf eine Besonderheit wies die Kontrollbehörde in ihrem Jahres­ bericht 2005 – 2006 hin. Den Parteien ist es erlaubt, » Satelliten-Parteien « zu grün­ den. An diese können die Spenden natürlicher Personen fließen, um anschließend an die » Mutter «-Partei weitergereicht zu werden. Folglich kann ein Spender dank dieser » Satelliten « seiner bevorzugten Partei mehrfach die limitierte Summe von 7 500 Euro zukommen lassen.

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Interessenverbände

Seit Beginn der V. Republik änderte sich die Form der Interessenartikulation grund­ legend. In der III. und IV. Republik wandten sich die Verbandsvertreter mit ihren Anliegen bevorzugt an die Abgeordneten der Nationalversammlung. Dass diese in der Tat die » richtigen « Adressaten dieser politischen Einflussnahmen waren, re­ sultierte aus dem Umstand der chronischen Instabilität französischer Regierun­ gen in diesem Zeitraum sowie aus der damit korrespondierenden Kon­zentration der politischen Macht im Parlament. Nahezu alle Fraktionen übergreifende » Stu­ diengruppen « gleichgestimmter Interessenrichtungen, von denen die Landwirt­ schafts-, Winzer-, Pensions- und Konfessionsschul-Lobbies die wichtigsten waren, verstärkten zusätzlich diesen Trend. Obwohl diese eng mit den jeweiligen Ver­ bandsgruppen zusammenarbeitenden Gruppen seit der Präsidentschaft de Gaulles deutlich an Bedeutung verloren, sind informelle Kontakte auf dieser Ebene in der V. Republik noch nicht gänzlich verschwunden.1 Infolge der Entmachtung des Parlaments versuchen die Interessenverbände nunmehr, Druck direkt auf die Ministerien und hierbei besonders auf die persön­ lichen Mitarbeiterstäbe der Ressortchefs auszuüben – und dies nicht ohne Erfolg, wie die Verabschiedung von Gesetzen zum Schutz bestimmter Wirtschaftszweige (z. B. im Hinblick auf den Bau von Supermärkten) oder die Festsetzung von Prio­ ritäten in den Wirtschaftsplänen zeigen. Diesen Weg beschritten nach langem Zö­ gern seit dem » Machtwechsel « im Frühjahr 1981 sogar die Gewerkschaften, die dabei von der Aufnahme zahlreicher Angehöriger ihrer Organisationen in die Ca­ binets ministériels der Mitglieder der Linksregierungen profitierten.

255 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 U. Kempf, Das politische System Frankreichs, DOI 10.1007/978-3-658-08208-6_12

256 Interessenverbände

12.1 Die Gewerkschaften Das französische Gewerkschaftssystem ist Anfang des 21. Jahrhunderts vor allem durch eine Zersplitterung in Richtungsgewerkschaften, einen unaufhaltsamen Mitgliederschwund und einen im internationalen Vergleich äußerst niedrigen Or­ ganisationsgrad (von insgesamt nur 8 Prozent der Beschäftigten [in Deutschland: 27,3 Prozent]) geprägt. In der Privatwirtschaft sind es sogar nur fünf Prozent. Hin­ zu kommen eine zunehmend geringer werdende Beteiligung der Arbeitnehmer an den verschiedenen Arten von Sozialwahlen, eine Überalterung der Mitglie­ der sowie eine bescheidene finanzielle Ausstattung aller großen Gewerkschaften.2 Auch Meinungsumfragen belegen das schlechte Ansehen der Gewerkschaften in der Öffentlichkeit: 51 Prozent der Befragten äußerten, sie hätten kein Vertrauen zu ihnen.3 Die Ursachen für die heutige Krise sind teilweise in Strukturschwächen seit dem 19. Jahrhundert begründet. Im Gegensatz zu anderen Ländern vollzog sich die wirtschaftliche Entwicklung in Frankreich sehr langsam. Wirtschaftliche Kon­ zentrationen erfolgten lange Zeit nur in geringem Maße; auch in der zweiten Hälf­ te des 20. Jahrhunderts waren Landwirtschaft und gewerblicher Mittelstand ein­ deutig die beherrschenden ökonomischen Sektoren. Um die Jahrhundertwende arbeitete ein Drittel der Industriearbeiter noch in Betrieben mit weniger als zehn Arbeitern und fast 60 Prozent in Firmen mit weniger als hundert Beschäftigten. Folglich war die Arbeiterschaft eine ausgesprochen » heterogene Klasse «: Neben Landarbeitern und Handwerkern gab es nur eine relativ geringe Anzahl haupt­ sächlich ungelernter Arbeiter in der Schwerindustrie, im Bergbau sowie in der Textilindustrie.4 Erschwerend für die Bildung einer starken Gewerkschaftsbewe­ gung erwiesen sich ferner einige rechtliche Zwänge, die bis in die » Große Revo­ lution « zurückreichten. So verabschiedete die Konstituante in der Konsequenz ihrer Ablehnung von Partikularinteressen am 17. Juni 1791 das Loi Le Chapelier, das – entsprechend der Theorie Rousseaus von der Unteilbarkeit staatlichen Wil­ lens – alle beruflichen und standesmäßigen Zusammenschlüsse verbot. Wenn dieses Gesetz sich auch vornehmlich gegen die Zünfte des Ancien Régime wandte und den Unternehmern ebenfalls Zusammenschlüsse untersagte, so schwächte es in der Folgezeit doch hauptsächlich die Arbeiterschaft. Neben dieser Rechtslage behinderte, vor dem Hintergrund einer verbreiteten » Organisationsfeindlichkeit der französischen Gesellschaft « (Wolfgang Jäger), die Beschäftigung der Arbei­ ter in zahllosen Klein- und Kleinstbetrieben ihre Organisationsneigung und da­ mit die Entwicklung einer machtvollen nationalen Gewerkschaftsbewegung. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verloren so genannte Unterstützungs­ gesellschaften (Sociétés Mutuelles), zu denen sich eine Minderheit der Arbeiter­ schaft zusammengeschlossen hatte, den Status der Illegalität. Im Zuge einer be­

Die Gewerkschaften 257

scheidenen Liberalisierung unter Napoleon III. waren seit 1864 Koalitionen nicht länger verboten und das Streikrecht zwei Jahre später anerkannt. In der III. Re­ publik, im Jahre 1884, wurde das Gesetz Le Chapelier aufgehoben und die volle Ko­alitionsfreiheit gestattet. Schon zwei Jahre später vereinigte Jules Guesde zahl­ reiche Branchengewerkschaften zu einem nationalen Gewerkschaftsverband, der Fédération Nationale des Syndicats. Parallel zu diesem Zusammenschluss bilde­ ten sich unter Einfluss von Fernand Pelloutiers 1892 lokale Arbeiterbörsen, die Fédération Nationale des Bourses du Travail. Im Gegensatz zur Fédération Na­ tionale des Syndicats wollten die » Arbeiterbörsen « sich keiner politischen Par­ tei unterordnen. » Hier entwickelte sich, « so Peter Jansen und Gerhard Kiersch,5 » die für die französische Gewerkschaftsbewegung charakteristische Doktrin des Anarchosyndikalismus «. Gemeint ist mit diesem Begriff die strikte Ablehnung einer Unterordnung des Syndikalismus unter eine politische Partei und die Poli­ tik. Aber auch einer Mitwirkung im Rahmen des parlamentarischen Systems, wie sie die Linksparteien mittlerweile befürworteten, wurde eine klare Absage erteilt. » Die Forderung einer absoluten Trennung von Syndikalismus und Politik bezog sich  […]  – stark beeinflusst von Pierre-Joseph Proudhon – auf die revolutionä­ re Zukunftsvision «, in der die Arbeiter gleichsam Produzenten sind.6 Um diesem Ziel näher zu kommen, bedürfe es weniger einer zentral gelenkten nationalen Ge­ werkschaftsorganisation als vielmehr der » direkten Aktion « des einzelnen Arbei­ ters in seinem Betrieb in Gestalt von Streiks oder Fabrikbesetzungen. Nachdem sich im Jahre 1895 die Fédération Nationale des Syndicats und eini­ ge Arbeiterbörsen zur Confédération Générale du Travail (CGT) zusammenge­ schlossen hatten, vereinigte sich diese wenige Jahre später mit Pelloutiers Arbei­ terbörsen. Das Jahr 1902 gilt als das eigentliche Gründungsdatum der CGT und damit als Ursprung für die moderne französische Gewerkschaftsbewegung.7 Wenn auch beide Gewerkschaftsorganisationen fusionierten, so blieben die unter­ schiedlichen ideologischen Strömungen wie Marxismus, Reformismus und Anar­ chosyndikalismus bestehen. Letztere dominierten innerhalb der CGT, so dass sie auf dem Gewerkschaftskongress im Jahre 1906 die Charta von Amiens durchset­ zen konnten, die jegliche Zusammenarbeit mit politischen Parteien ablehnte (was auch noch heute von einigen Gewerkschaften befolgt wird). Die Ziele der damaligen CGT-Doktrin lassen sich unter dem Begriff des » re­ volutionären Syndikalismus « zusammenfassen: Abschaffung der bürgerlichen Ordnung, Verwirklichung sozialer Revolution durch die Arbeiterklasse mittels di­ rekter Aktionen, permanenter Kampf gegen den als Element der Macht zur Unter­ drückung der Arbeiterklasse betrachteten Staat. Der Erste Weltkrieg und die Auswirkungen der Russischen Revolution stürz­ ten die CGT in eine Krise. Kommunistische und reformistische Tendenzen stell­ ten den Anarchosyndikalismus als Doktrin der CGT in Frage.

258 Interessenverbände

Schaubild 7  Entwicklung des Gewerkschaftssystems

Gewerkschaftsvereine

Arbeiterbörsen

1884 Gesetzliche Anerkennung der Gewerkschaften 1885 Gründung der CGT

CGT

1906 Charta von Amiens (Grundsätze der frz. Gewerkschaftsbewegung)

Anarchosyndikalisten

1919 Gründung der CFTC (christlich)

Sozialisten

Reformisten

CFTC CGTU

1920 Spaltung PCF-SFIO

Anarchosyndikalisten

1922 Spaltung der CGT

1926 Gründung der CGT-SR (anarcho-syndikalistisch)

CGT Kommunisten

Christen

Sozialisten Reformisten

CGT-SR

CGT

1936 – Vereinigung der Gewerkschaften (März) – Volksfrontregierung (Juni)

Anarchosyndikalisten

Kommunisten

Sozialisten Reformisten

CGT

1939 Deutsch-sowjetischer Nichtangriffspakt, Ausschluss der Kommunisten aus der CGT

Anarchosyndikalisten

Sozialisten Reformisten

1940 Auflösung der Gewerkschaften CGT

1944 Wiedererstehung der Gewerkschaften, Gründung der CGT

1947 Ausschluss der Kommunisten aus der Regierung, Spaltung der CGT

Anarchosyndikalisten

FEN

1948 Die FEN beschließt ihre Autonomie

CGC

Kommunisten

CGT

Führungskräfte

CGT-FO

Lehrer

1964 Neuorientierung und Spaltung der CFTC

1981

FEN

CGT

1989 1993

Sozialisten Reformisten

FO

CFTC

CFDT

Christen

Sozialisten

CFTC

CFDT

CGC

CIO

SUD FEN

FSU

UNSA

2008

UNSAEducation

Quelle: Menyesch/Uterwedde: Informationen zur Politischen Bildung 1983 und eigene Ergänzungen

Die Gewerkschaften 259

Nach dem Krieg spaltete sich im Jahre 1921 die CGT in einen revolutionären, die Sowjets unterstützenden Flügel, die CGTU (Confédération Générale du Tra­ vail Unitaire) mit ca. 500 000 ehemaligen » Cégétistes « und in die Rest-CGT, die einen mehr reformistischen Kurs verfolgte. Diese Spaltung in je einen den So­ zialisten und Kommunisten nahe stehenden Block kennzeichnete die Gewerk­ schaftsentwicklung bis zum Wiedervereinigungskongress 1936 in Toulouse. Zu diesen beiden Organisationen trat 1919 noch die christliche CFTC (Con­ Fédération Française des Travailleurs Chrétiens), die stark von der kirchenfreund­ lichen Ideologie von Albert Le Mun und Marc Sangnier beeinflusst wurde. Nach Kriegsende zerbrach die in der Zeit der Besatzung und Résistance notdürftig be­ wahrte Einheit der größten französischen Gewerkschaft, da sich Anhänger der Kommunistischen und Sozialistischen Partei in wichtigen Fragen – Ausrufung von Streiks und Einflussnahmen der PCF auf die Gewerkschaft – nicht einigen konnten. Der langjährige CGT-Generalsekretär Jean Jouhaux beschuldigte die kommunistische Mehrheit des Versuchs der Umfunktionierung der Organisa­tion zu einem » Transmissionsriemen der PCF «. Er selbst sowie der Teil der Reformis­ ten, der seine Meinung teilte, traten anschließend aus der CGT aus und gründeten die CGT-FO, genannt nach ihrer Gewerkschaftszeitschrift Force Ouvrière. Auch die Lehrergewerkschaft im Dachverband der CGT, die Fédération de l’Education Nationale (FEN), schied aus der gespaltenen Gewerkschaft aus und beschloss im Jahre 1948 ihre Eigenständigkeit. Wenige Jahre vorher hatte sich ebenfalls als Berufsverband die Gewerkschaft der Angestellten, die Confédéra­tion Française de l’Encadrement et Confédération Générale des Cadres (CFE-CGC), als selbständige Interessenvertretung der » Cadres « konstituiert. Damit hatte sich Ende der vierziger Jahre das System der so genannten reprä­ sentativen Gewerkschaften auf nationaler Ebene herausgebildet.8

12.1.1 Die » repräsentativen « Gewerkschaften Als » repräsentativ « wurden seit 1966 vom Staat und von den Unternehmen solche Gewerkschaften anerkannt, die folgende Kriterien erfüllten: Sie mussten zahlen­ mäßig stark und unabhängig sein, Mitgliedsbeiträge erheben, Erfahrung besitzen und an den Berufswahlen wie beispielsweise Wahlen zu Betriebsausschüssen, So­ zialversicherungen und Arbeitsgerichten teilnehmen.9 Seit dem Gesetz vom 20. August 2008 zur Erneuerung der Sozialpartnerschaft wurde dieses starre System aufgebrochen. Nunmehr wird eine Gewerkschaft bei Tarifverhandlungen im Betrieb als » repräsentativ « angesehen, wenn sie zehn Pro­ zent der Stimmen in dem Unternehmen bei betriebsinternen Wahlen z. B. zu den Betriebsräten erhalten hat. Auf Branchenebene sind acht Prozent erforderlich, um

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als Verhandlungspartner anerkannt zu werden. Tarifverträge sind nur dann gültig, wenn sie von Arbeitnehmervertretungen unterzeichnet werden, die bei den diver­ sen innerbetrieblichen Wahlen (siehe unten) wenigstens 30 Prozent der Stimmen erhalten haben.10 Ziel dieser Reform war, die zersplitterten Gewerkschaften zu Fu­ sionen zu bewegen, was allerdings bislang nicht geschah. Die älteste französische Gewerkschaft ist trotz dramatischer Mitgliederverlus­ te die CGT. Von ursprünglich über zwei Millionen Mitgliedern, so die offiziellen Angaben, zählte sie im Jahre 2015 nur noch 650 000 Beitragszahler. Nach eigenen Angaben sind davon rund zwei Drittel im öffentlichen Sektor beschäftigt. Allerdings lassen diese Zahlen nur teilweise Rückschlüsse auf die wahre Stär­ ke der Gewerkschaften zu. Nicht minder wichtig sind die Ergebnisse bei den ver­ schiedenen Berufswahlen. Hier erhielt die CGT trotz deutlicher Einbußen immer noch die meisten Stimmen. So votierten 2005 – 2006 bei den Betriebsausschuss­ wahlen 22,9 Prozent der Abstimmenden für sie, der niedrigste Wert seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.11 Bei den Arbeitsgerichtswahlen im Jahr 2008 erreichte sie – bei sehr niedriger Wahlbeteiligung – 33,5 Prozent.12 Den übrigen » repräsentativen « Gewerkschaften gelang es indessen nicht, von den erheblichen Verlusten der CGT zu profitieren. Nutznießer waren vielmehr die so genannten Nicht-Organisierten auf Betriebsebene. Seit ihrer Spaltung Ende 1947 galt die CGT als kommunistisch ausgerichtet. Zu dieser Einschätzung hatte sowohl ihre einseitige Orientierung an den Zielen der PCF beigetragen als auch die Tatsache, dass ihre Generalsekretäre bis Dezember 1996 dem Nationalen Büro (dem ehemaligen Politbüro) der PCF angehörte. Seit­ her versteht sich die CGT nicht länger als » Transmissionsriemen « der Kommu­ nistischen Partei. Nach wie vor sind aber ihre wichtigsten Führungskader Mitglie­ der der PCF wie der seit 2015 amtierende Generalsekretär Philippe Martinez. Auch auf regionaler Ebene sitzen nach wie vor die CGT-Sekretäre im jeweiligen PCFFöderationsbüro. Trotz Einschränkung dieser traditionellen engen Bindungen ist die CGT die bestorganisierte und größte Gewerkschaft. Seit der Wahl von Generalsekretär Thibeaut im Jahr 1999 (bis 2013) bestehen die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit konservativen Regierungen und eine bescheidene Kooperation mit der gro­ ßen Schwestergewerkschaft CFDT. Ob sich dieser Richtungswandel hin zu einer pragmatischen Politik auch unter dem jetzigen » Chef « fortsetzen wird, bleibt ab­ zuwarten. Aufrufe zu Massendemonstrationen, gar zum Generalstreik oder zu landesweiten Arbeitsniederlegungen in wichtigen Branchen – einst » Aushänge­ schilder « der gewerkschaftlich organisierten » direkten Aktion « – werden von den Arbeitnehmern nur noch spärlich befolgt. Soziale Dialoge und Vereinbarungen auf nationaler Ebene sowie in den Unternehmen werden vor dem Hintergrund der schwierigen Wirtschaftslage vorgezogen.

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Branchenmäßig hat die CGT ihre Schwerpunkte – neben dem öffentlichen Sektor – in der Energie-, Metall-, Bau-, Chemie- und Druckindustrie sowie im Verkehrs- und Postwesen. Weniger stark vertreten ist sie in der Landwirtschaft und im Handel.13 Regionalpolitisch liegen ihre Hochburgen hauptsächlich im einst so genannten roten Gürtel um Paris, in einigen nordfranzösischen Departe­ ments, im Großraum Marseille sowie in Mittel- und Südwestfrankreich. Trotz aller politischen und gesellschaftlichen Veränderungen seit Ende der achtziger Jahre hielt sie lange an ihrem Ziel der Abschaffung der kapitalistischen Gesellschaft mittels Verstaatlichung der wichtigen Unternehmen und Banken fest. Verhandlungen als Methode, um eine Verbesserung der Lebensbedingungen der » Arbeiterklasse « zu erreichen, erachtete sie als unzureichend. Der ökonomische und gesellschaftliche Wandel sowie der u. a. durch die Entindustrialisierung be­ wirkte drastische Mitgliederschwund bewirkten 1995 einen Umdenkungspro­ zess. Sie » verabschiedete « sich von ihren radikalen Klassenkampfparolen. Zu der bisherigen Strategie der kompromisslosen Arbeitskämpfe trat die Modalität des » Verhandlungsweges «.14 Die Confédération Française Démocratique du Travail (CFDT) mit ihren etwa 500 000 Mitgliedern ist im Grunde heute noch die Gewerkschaftsbewegung des militanten Laienkatholizismus, obwohl das Attribut » christlich « 1964 aus dem Namen getilgt wurde; tatsächlich handelt es sich um eine einst sozialistisch, heute sozialdemokratisch orientierte, pragmatisch handelnde Organisation. Bei verschiedenen Sozialwahlen erreichte sie bei den Betriebsausschusswahlen 2005 – 2006 20,3 Prozent der Stimmen. Bei den Arbeitsgerichtswahlen erhielt sie 2008 21,7 Prozent – ein Rückgang gegenüber den 90er Jahren. Ihren stärksten Einfluss hat die CFDT – neben dem öffentlichen Dienst – in folgenden Branchen: Metallbereich, Gesundheitswesen, Nahrungsmittelindustrie, Transportgewerbe, Chemie. Die regionalen Schwerpunkte befinden sich in weitgehend traditionell katho­ lischen Gebieten, d. h. hauptsächlich im großen Westen und in Ostfrankreich – Gegenden, die zu den Hochburgen bürgerlichen Parteien zählen. Daneben ist die CFDT auch in der Region Rhône-Alpes gut vertreten.15 Probleme mit einer übergeordneten Partei gibt es für die CFDT nicht, obwohl ein wesentlicher Teil ihrer Mitglieder engste Beziehungen zur PS unterhält. Die Verbindung von Gewerkschafts- und Parteiämtern wird offiziell kategorisch abge­ lehnt. Nach dem Regierungswechsel im Frühjahr 1981 fanden zahlreiche CFDTVorstellungen Eingang in das Programm der neuen Linksregierung, die von der Gewerkschaft nachhaltig unterstützt wurde. Doch zögerte diese auch nicht, die im Zuge der Sparmaßnahmen eingeschlagene Austeritätspolitik heftig zu kriti­ sieren. Im Gegensatz zur CGT sprach sich die CFDT schon Ende der siebziger Jahre

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für einen Dialog mit der damaligen bürgerlichen Regierung und den Unterneh­ mern aus. In der Folgezeit wurde das utopische Ziel einer Autogestion (Selbst­ verwaltung) schließlich aufgegeben, und ein stärkerer Realitätsbezug bestimm­ te die Politik der Organisation. Die Generalsekretäre der 80er Jahre sprachen sich für diesen neuen Kurs der Abkehr vom Klassenkampfgedanken und der gleich­ zeitigen Aufwertung der tarifpolitischen Kooperation zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern aus.16 Bei den Auseinandersetzungen über die Reform der stark defizitären Sozialversicherung Ende 1995 nahm die damalige CFDT-Vorsitzen­ de Nicole Notat – trotz des Vorwurfs der » Arbeitgeberfreundlichkeit « und hefti­ ger Kritik von Seiten der anderen Links-Gewerkschaften – einen pragmatischen Standpunkt ein und plädierte für die Sanierung der hoch verschuldeten Sozial­ kassen. Auch die Unterzeichnung weiterer sozialer Reformen wie die Sanierung der Arbeitslosenversicherung, der Frühverrentung und der beruflichen Bildung belegten die Verhandlungsstrategie der zweitstärksten, sozialdemokratisch orien­ tierten Gewerkschaft.17 Sie nahm auch hin, dass es wegen dieser Kooperationspo­ litik zu Abspaltungen und Mitgliederverlusten kam. Diejenigen CFDT-Gewerkschafter, die schon Ende der achtziger Jahre den zu­ nehmend realitätsbezogeneren Kurs ihrer Organisation ablehnten und teils ausge­ schlossen wurden, teils in den neunziger Jahren austraten, organisierten sich seit 1989 in der betont marxistisch orientierten Gewerkschaft SUD (Solidaires, Uni­ taires et Démocratiques).18 Diese häufig radikalen, meist im öffentlichen Dienst Beschäftigten schlossen sich 1992 der 1981 gegründeten Gruppe der zehn Kleingewerkschaften an und bil­ deten, da meist im südlichen Frankreich aktiv, die Groupe des Dix-SUD (G10SUD). Die Zersplitterung der französischen Gewerkschaftsbewegung erreichte einen neuen Höhepunkt. Mit ihren etwa 100 000 Mitgliedern – meist im öffent­ lichen Dienstleistungsbereich tätig – verficht diese links-sozialistische, radikale Interessenvertretung einen stark kämpferischen » rebellischen Syndikalismus, der sich Verhandlungslösung häufig widersetzt «, kommentieren Thierry Choffat und Marina Casula das Selbstverständnis dieser Arbeitnehmervertretung. » Es han­ delt sich darum, « so das Strategiepapier vom Juni 2011, » eine wirksame Gewerk­ schaftsstrategie zu entwickeln, um das Kräfteverhältnis [in der Wirtschaft] umzu­ kehren […] und einen unbedingten Bruch in der sozialen Umgestaltung, die wir anstreben, zu schaffen. «19 Die drittstärkste Arbeitnehmerorganisation, die Force Ouvrière (offiziell CGT-FO), die sich Ende 1947 von der mittlerweile von kommunistischen Kadern beherrschten CGT abgespalten und im April 1948 als eigenständige Gewerkschaft konstituiert hatte, konnte bei den verschiedenen Sozialwahlen frühere Ergebnis­ se auf relativ niedrigem Niveau stabilisieren. So erhielt sie bei den Betriebsaus­ schusswahlen im Jahre 2005 – 2006 12,7 Prozent der Stimmen. Bei der Abstim­

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mung zu den Arbeitsgerichten erreichte sie 15,7 Prozent. Auch sie leidet unter dem Mitgliederschwund; im Jahre 2007 zählte sie noch 300 000 Mitglieder.20 Schwerpunktmäßig ist die FO vor allem im öffentlichen Dienst, im privaten Dienstleistungsbereich, in der Metall- sowie in der Lebensmittelindustrie ver­ treten. Regionalpolitisch liegt ihre hauptsächliche Stärke in Nordfrankreich, in Teilen des Südwestens, am Mittelmeer und im Großraum von Paris sowie in der Normandie.21 Obwohl ein großer Prozentsatz ihrer Mitglieder und auch ihrer Führungskräfte eng mit der PS liiert ist, betont die FO immer wieder – getreu der Charta von Amiens – ihre Unabhängigkeit von den politischen Parteien; so legte sie in den achtziger Jahren auch großen Wert auf ihre Distanz zur den damals re­ gierenden Sozialisten. Ihre anfänglich gemäßigte Haltung, die auf eine Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen22 Lage der Arbeitnehmer abzielte, sowie ihre Bereitschaft zu Verhandlungen mit den staatlichen und privaten Arbeitgebern änderte sich in den 80er Jahren. Zahlreiche neue trotzkistische Mitglieder, die zum großen Teil aus dem Erziehungsbereich kamen, führten zu einer Radikalisierung der einst ge­ mäßigten sozialistischen Interessenvertretung. Sie traten für eine zunehmend ag­ gressivere Politik in den tariflichen Auseinandersetzungen ein. Die FO vertrat nunmehr einen » aufrührerischen Syndikalismus, « so Dominique Andolfatto, der besonders durch eine » harte « Linie bei Streiks im öffentliche Dienst gekennzeich­ net war. Während die übrigen Gewerkschaften im Rahmen » kollektiver Vereinba­ rungen « zu Verhandlungen mit der Regierung bereit waren, lehnte die FO diese ab. Regierungsvorschläge wurden meist mit Streikaufrufen beantwortet. Aller­ dings fanden diese – außer gegen Sarkozys Rentenreform – kaum Widerhall bei den Beschäftigten. Zudem führte ihre radikale Position nicht zu einem erhofften Mitgliederzuwachs und Stimmengewinn bei verschiedenen Betriebswahlen. Ihre kompromisslose Haltung entfremdete sie nicht nur von den Schwesterge­ werkschaften, sondern auch von den Arbeitnehmern. Auf diese wirken die inner­ gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen » Trotzkisten « und » Refor­ mern « abstoßend, zumal den » häufig demagogischen Protestreden auf nationaler Ebene ein reformistisch-pragmatischer Kurs auf unterer Ebene folgt «.23 Eine erheblich geringere Rolle als die drei größten nationalen Arbeitnehmer­ vertretungen spielt die gemäßigte CFTC (Confédération Française des Travailleurs Chrétiens). Sie tritt für ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein. Eines ihrer wichtigsten Anliegen war die erfolgreiche Verteidigung des privaten (sprich: katholischen) Schulsystems im Jahr 1984.24 Auch nach der Trennung von der CFDT (1964) fühlte sie sich mit ihren sozial­ partnerschaftlichen Modellen weiterhin der katholischen Soziallehre verpflichtet mit der Folge, dass sie Interessenvertretung nur für einen begrenzten Teil der Ar­ beitnehmer sein konnte. Mit etwa 100 000 Mitgliedern hatte sie in den letzten

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Jahrzehnten kaum unter einem Mitgliederschwund zu leiden. Auch bei den ver­ schiedenen Sozialwahlen konnte sie ihre – gewiss bescheidene – Stellung behaup­ ten: 2005 – 2006 bei den Betriebsausschusswahlen 6,8 Prozent der Stimmen und 8,7 Prozent im Jahr 2008 später bei den Arbeitsgerichtswahlen. Unterstützt wird sie hauptsächlich von Arbeitnehmern im Banken- und Ver­ sicherungswesen, im Gesundheitswesen, im privaten Erziehungswesen sowie von einem Teil der Angestellten im Montanbereich. Regionalpolitisch decken sich ihre Einflusszonen weitgehend mit denjenigen ihrer einstigen » Muttergewerkschaft «, also Ost- und Nordfrankreich. Neben diesen vier beherrschenden Dachverbänden der Gewerkschaften, die Arbeitnehmer in allen Branchen ansprechen, gibt es zwei bedeutende Berufs­ gewerkschaften. Die größte ist mit 135 000 Mitgliedern die Lehrergewerkschaft Fédération de l’Education Nationale (FEN), seit Dezember 2000 als UNSA-Edu­ cation Mitglied der 1993 gegründeten Union Nationale des Syndicats Autonomes (UNSA). In diesem hauptsächlich im öffentlichen Dienst verankerten Gewerk­ schaftsverband, der der Sozialistischen Partei nahe steht, stellt die Lehrergewerk­ schaft die größte Gruppe. Ursprünglich Mitglied der CGT, wollte der Erziehungsverband die Spaltung zwischen CGT und FO nicht mitvollziehen und gründete im Jahre 1948 eine eige­ ne unabhängige Organisation, die FEN als Einheitsgewerkschaft für den gesamten Schul- und Hochschulbereich. Da CGT und FO damals auf eigene Erziehungsver­ bände verzichteten, erhielt die FEN in ihrem Bereich faktisch ein Organisations­ monopol.25 Innerhalb der FEN gab es nicht weniger als 49 Einzelgewerkschaften, welche unterschiedliche Personengruppen vertraten. Die wichtigsten waren bis 1992 die Grund- und Gesamtschullehrergewerkschaft SNI-PEGC (Syndicat National des Instituteurs et Professeurs d’Enseignement Général des Collèges), die mehr als die Hälfte der damaligen Gesamtmitgliedschaft stellte, und die Gymnasiallehrerver­ tretung SNES (Syndicat National de l’Enseignement Secondaire) mit 69 000 Mit­ gliedern.26 Bis zum Oktober 1992 dominierten verschiedene ideologische Strömungen, in denen sich die gesamte französische politische Linke widerspiegelte. Den Mehr­ heitsflügel bildete die der Sozialistischen Partei nahestehende SNI-PEGC – seit Juni 1992 umbenannt in Syndicat des Enseignants (SE-FEN) –, die wichtigste Min­ derheitstendenz die kommunistisch orientierte SNES; daneben gab es noch drei weitere kleine linksextreme Gruppierungen. Nach mehreren Führungswechseln erreichten die internen Auseinanderset­ zungen im Oktober 1992 ihren Höhepunkt, als eine Mehrheit den Ausschluss des linksextremen Gymnasiallehrer- und des Sportlehrerverbandes durchsetzte. Die­ ser gründete im April 1993 einen eigenen Lehrerverband, die Fédération Syndi­

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cale Unitaire (FSU). Nach ersten Erfolgen bei Sozialwahlen Mitte der 90er Jahre konnte die extreme FSU mit ihren 120 000 Mitgliedern ihre Stellung ausbauen. So überrundete sie bei den Personalratswahlen im öffentlichen Dienst mehrfach die UNSA-Education. Die Verbandspolitik der gemäßigten Lehrergewerkschaft zielte stets deutlich auf eine » systemimmanente « Beteiligung an den wichtigsten Richtungsentschei­ dungen im französischen Erziehungswesen. Die Mitgliedschaft in zahlreichen mi­ nisteriellen Gremien sowie die selbstverständliche Rolle als Gesprächspartner der führenden Bildungspolitiker machten sie zweifellos zu einem einflussreichen Fak­ tor der Erziehungspolitik – unabhängig von den ideologischen Orientierungen der Regierungen. Aufgrund der Spaltung verzeichnen Beobachter mittlerweile einen spürbaren Einflussverlust der einst übermächtigen Ex-FEN auf die Lehrer­ schaft.27 Ein besonderes Anliegen der Organisation ist die Ausweitung der » Laizi­ tät « im französischen Bildungswesen, wie überhaupt ein einheitliches staatliches laizistisches Schulsystem zu ihren Grundforderungen zählt. Als weitere Organisation auf beruflicher Grundlage ist auch die Angestellten­ gewerkschaft CFE-CGC ([bis 1981: CGC] Confédération Française de l’Encadre­ ment et Confédération Générale des Cadres) zu nennen. Die 90 000 Mitglieder sind hauptsächlich Angestellte und Führungskräfte, Handelsvertreter, Ingenieu­ re, Techniker in der Metall- und Petrochemischen Industrie sowie im Bankwesen. Seit ihrer Gründung im Jahre 1944 betreibt die CGC eine typische Statuspolitik. Sie spricht sich nicht nur gegen den Klassenkampfgedanken und für die Beibehal­ tung des bestehenden Wirtschaftssystems aus, sondern sie plädiert auch für eine stärkere Beteiligung der von ihr vertretenen Berufsgruppe an Unternehmensent­ scheidungen. Politisch fühlt sich die CGC keiner Partei besonders zugehörig; ihre Distanz zu den Linksparteien ist allerdings nicht zu übersehen, wie ihre Kritik an den im Jahre 1982 verabschiedeten so genannten Auroux-Gesetzen (Ausweitung der Arbeitnehmerrechte) zeigte. Insgesamt bemüht sie sich um die Formulierung einer Art » Dritten Weg « zwischen den Arbeitgebern und der Politik ihrer schärfs­ ten Konkurrentin, der CFDT. Bei den Wahlen zu den Arbeitsgerichten 2008 er­ hielt sie landesweit 8,2 Prozent der Stimmen – eine Steigerung gegenüber frühe­ ren Wahlen.

12.1.2 Zur Krise der Gewerkschaften War einst noch nach dem Zweiten Weltkrieg ein Viertel der französischen Arbeit­ nehmer in eine Gewerkschaft eingetreten, so sank nach seriösen Angaben der Or­ ganisationsgrad mittlerweile auf acht Prozent. Für diesen seit Ende der siebziger Jahre beobachtbaren dramatischen Rückgang der Mitgliederzahlen werden sozial­

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psychologische, ökonomische und politisch-ideologische Ursachen genannt.28 Auch wird häufig auf den angeblich ausgeprägten Individualismus der Franzosen verwiesen, der sich nicht zuletzt in einer verbreiteten Ablehnung der so genann­ ten intermediären gesellschaftlichen Kräfte bemerkbar mache. Diese These wider­ legt jedoch zweifellos die Tatsache, dass mit der Abnahme der Gewerkschaftsmit­ gliedschaften zeitgleich eine Zunahme des Engagements in immer mehr Freizeit-, Sport- und sozialen Verbänden erfolgte. Plausibler erscheint deshalb Wolfgang Jägers Erklärung, der auf die spezifische » französische Vorliebe für die direkte Ak­ tion, die großorganisations-feindlich und disziplinfeindlich « sei, verweist.29 Ver­ einfacht: erst streiken, dann verhandeln ! Mehr als sozialpsychologische Faktoren dürften freilich wirtschaftliche Krisenerscheinungen und Umbrüche in der Ar­ beitswelt für die Probleme der französischen Gewerkschaften verantwortlich sein. Gewiss nicht überraschend wirkte sich neben dem Strukturwandel der heimi­ schen Wirtschaft, den Stichworte wie Anstieg der Arbeitslosigkeit, Betriebsstillle­ gungen in klassischen Sektoren wie der Montan- und Stahlindustrie umschreiben, auch der qualitative sowie quantitative Bedeutungszuwachs der Dienstleistungsund High-Tech-Bereiche negativ auf das Gewerkschaftswesen aus. Ihre » Standes­ situation « lässt den in modernen Verwaltungen oder als Technologieexperten Be­ schäftigten die herkömmliche Gewerkschaftspolitik wenig attraktiv erscheinen. Das Dilemma verstärkte zusätzlich der Prozess der raschen ökonomischen Inter­ nationalisierung, der mit Erscheinungen wie Branchenverlagerungen ins lohn­ günstigere Ausland sowie vermehrte Billigimporte die Gewerkschaften zwangs­ läufig schwächen musste. Der Möglichkeit, gewerkschaftliche Gegenstrategien auf internationaler Ebene zu entwickeln, wurde bisher wenig Beachtung geschenkt. Die Wirtschaftsstruktur Frankreichs mit einem hohen Anteil an Kleinbetrie­ ben mit häufig weniger als fünf Beschäftigten führte früher, aber auch jetzt dazu, dass diese Arbeitnehmer nur selten bereit waren bzw. sind, sich einer Gewerk­ schaft anzuschließen. Der Attraktivität der Gewerkschaften nicht gerade förderlich sind sicher auch ihre geringen finanziellen Ressourcen, die größere Zuwendungen an Streikende verbieten. Dass darüber hinaus die politisch-ideologische Zersplitterung der Gewerk­ schaftsbewegung nicht gerade ein werbewirksamer Faktor ist, liegt auf der Hand. Vielen Arbeitnehmern dürfte die enge Verflechtung von Gewerkschaften und Par­ teien geradezu ein Dorn im Auge sein. Die » Balkanisierung « der Gewerkschafts­ landschaft, die innergewerkschaftliche » Verkrustung « durch fest angestellte, rela­ tiv gut bezahlte Funktionäre, die sich nicht sonderlich um die Rekrutierung neuer, vor allem jüngerer Mitglieder zu bemühen brauchen, sowie eine staatliche Sub­ ventionierung fördern nicht ihr Ansehen in der Öffentlichkeit. Überzeugende Antworten auf die ökonomische Krise und die Herausforderungen durch die Glo­

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balisierung können sie gleichfalls nicht geben. Auch fehlt eine intensive Koopera­ tion mit neuen sozialen Bewegungen als Gegengewicht zum wirtschaftlichen Li­ beralismus.30 Weiterhin trägt zur Schwäche der Gewerkschaften bei, dass der Staat eine her­ ausragende Rolle in den Arbeitsbeziehungen spielt. Die wichtigsten Bereiche, die für Arbeitnehmer von Bedeutung sind, Arbeitszeitreduzierungen oder Entlassun­ gen, werden nicht durch Vereinbarungen der Tarifpartner, sondern durch staat­ liche Entscheidungen geregelt. Auch der gesetzliche Mindestlohn, der SMIC, wird jährlich vom Staat neu festgesetzt. Der schwindende Rückhalt der Gewerkschaften zeigt sich ebenfalls an der zunehmenden Enthaltung bei den Sozialwahlen. Dass alle diese Faktoren seit Mitte der siebziger Jahre mit dazu beigetragen ha­ ben, den Einfluss und die Bedeutung der Gewerkschaften zu schwächen, zeigt sich nicht nur an der geringeren Streikhäufigkeit, sondern auch an neuen Formen der Streikbewegungen. Immer häufiger wurden die traditionellen Gewerkschaftsver­ treter von Arbeitsniederlegungen einzelner Berufsgruppen, die ein spontanes Ak­ tions- oder Streikkomitee bildeten, überrascht. Dem Staat oder den Unternehmen mangelte es dann nicht selten an repräsentativen Verhandlungspartnern, um den Arbeitskonflikt rasch beilegen zu können. Grundsätzlich zeigt die relativ geringe Streikbereitschaft der Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft die Einsicht, dass Ar­ beitsniederlegungen die Existenz eines Unternehmens gefährden können. Folg­ lich sind dort aggressive Protestaktionen nur selten anzutreffen.

12.1.3 Gewerkschaften als Arbeitnehmervertretungen Traditionell sind in Frankreich die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Ar­ beitnehmern gespannt. Während die Gewerkschaften den Eindruck vermeiden wollen, durch die partnerschaftliche Methode des Aushandelns von Tarifabkom­ men mit dem » Klassenfeind « zu kollaborieren, befürchten andererseits die Un­ ternehmer Beschränkungen ihrer Rechte als » Patrons «, als Inhaber ihrer Betriebe. Meist zielte die gewerkschaftliche Strategie deshalb weniger auf den Abschluss von Tarifabkommen als auf die » direkte Aktion «, die in Gestalt von Streiks die Stärke der » Arbeitermassen « demonstrieren und zugleich der Ausgangspunkt für Verein­ barungen über materielle Verbesserungen sein sollten. Da anders als in Deutsch­ land mit seiner besonderen (verfassungsmäßigen) Wertschätzung der Tarifhoheit in Frankreich die wichtigsten sozialpolitischen Maßnahmen wie Mindestlohn, Ur­ laub und Arbeitszeit auf gesetzlichem Weg vom Staat getroffen werden, ist dieser der hauptsächliche Adressat der gewerkschaftlichen Streikaktionen; vor diesem Hintergrund konnte folglich eine » Sozialpartnerschaft « kaum gedeihen. Im internationalen Vergleich war die Zahl der Streiks in Frankreich bis in die

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90er Jahre vergleichsweise hoch. Seither ließen sich immer weniger Arbeitnehmer durch » nationale Aktionstage « oder gar Generalstreiks mobilisieren. Auch die Zahl der seit Ende der sechziger Jahre » beliebten « Fabrikbesetzun­ gen nahm ab. Bei allen diesen Angaben ist zu berücksichtigen, dass diese Streiks mehrheitlich im öffentlichen Dienst und in staatlichen Unternehmen stattfanden, oft nur wenige Stunden dauerten und häufig regional begrenzt waren. Das seit 1946 verfassungsmäßig garantierte Streikrecht gilt als hohes soziales Gut, das je­ dem Beschäftigten mit Ausnahme weniger Staatsbediensteter zusteht. Folglich gab es nur sehr wenige Verbote von Arbeitskämpfen wie in Fällen politisch moti­ vierter Streiks.31 Im Gegensatz zu den gewerkschaftlichen Kampfmaßnahmen ist die Aussper­ rung in Frankreich nicht erlaubt; allerdings umgehen viele Unternehmer die­ ses Verbot, indem sie ihre Belegschaft in » technische Arbeitslosigkeit « schicken. Schlichtungsverfahren sind zwar gesetzlich vorgesehen, werden in der Praxis je­ doch nur selten angewandt. Die ökonomische Krise sowie die seit Anfang der achtziger Jahre hohen Ar­ beitslosenzahlen haben aber dazu geführt, dass beide Seiten – wenn auch häufig widerwillig – zunehmend dazu übergegangen sind, Tarifvereinbarungen nicht nur für einzelne Betriebe sondern für eine ganze Branche abzuschließen. Inwieweit die Gewerkschaften solche Abkommen einhalten oder schon nach kurzer Zeit erneut zur » direkten Aktion « schreiten, ist eine andere Frage. Bei einem Tarifabschluss genügt seit dem Gesetz von 2008 die Unterschrift von » re­ präsentativen « Gewerkschaften, sofern diese bei Betriebswahlen zusammen min­ destens 30 Prozent der Stimmen erhalten haben. Dieses Verfahren wird von den übrigen beteiligten Gewerkschaften akzeptiert, ohne dass sie damit einer verbind­ lichen Verpflichtung unterliegen würden. Gefördert wurde die Dialogbereitschaft zwischen Arbeitnehmer- und Arbeit­ gebervertretern auch durch Bestimmungen der Auroux-Gesetze von 1982, so be­ nannt nach dem Arbeitsminister der ersten sozialistisch-kommunistischen Regie­ rung, sowie v. a. durch die Einführung der 35-Stunden Woche Ende 1998 durch die sozialistische Arbeitsministerin Martine Aubry. Im Jahr 1982 erhielten die Gewerkschaften das Recht, einmal jährlich mit dem » Patron « eines Betriebes Lohnabschlüsse auszuhandeln. Bei Branchenver­ einbarungen hat der Arbeitsminister die Möglichkeit, solche betrieblichen Tarif­ abschlüsse durch Rechtsverordnung für eine ganze Branche für verbindlich zu erklären. Allmählich wurden Betriebsvereinbarungen über Löhne, Arbeitszeitre­ gelungen und Arbeitsbedingungen mit mehr als 70 Prozent aller Unternehmen abgeschlossen. Zunehmend spielen Aspekte ökonomischer Modernisierung wie die Einführung neuer Technologien, die Probleme der Arbeitsplatzgestaltung und der Flexibilität der Arbeitszeit eine Rolle.

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Im Vergleich zu ihren deutschen Kollegen verfügen französische Arbeitneh­ mer über weitaus weniger betriebliche Mitwirkungsrechte. An diesem Zustand sind die französischen » Sozialkontrahenten « offensichtlich gleichermaßen inter­ essiert – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: die » Patrons « um der Be­ wahrung der traditionellen Unternehmerrechte willen, die Gewerkschaften aus Sorge um eine infolge sozialer Verbesserungen vermutlich schleichende Korrum­ pierung ihrer Klientel. Im einzelnen gelten für Frankreich folgende betriebliche Mitwirkungsregelungen: ■■ Der Betriebsausschuss (Comité d’entreprise), als wichtigstes Organ 1945 ein­ geführt, setzt sich aus dem Arbeitgeber und – je nach Betriebsgröße – bis zu 12 von den Betriebsangehörigen gewählten Mitgliedern zusammen. Er muss in Unternehmen mit über 50 Beschäftigten gebildet werden, hat ein Recht auf In­ formationen über die wirtschaftliche Situation des Unternehmens, ist über Or­ ganisations- und Arbeitsfragen zu konsultieren und übt die Aufsicht über die sozialen Leistungen (z. B. Betriebsrente), Einrichtungen (z. B. Sporteinrichtun­ gen und Betriebsrestaurants) und Arbeitshygiene aus. Zur Wahrnehmung ih­ rer Aufgaben in betrieblichen Räumen werden die Ausschussmitglieder von der Arbeit weitgehend freigestellt. ■■ Hauptsächlich um Anliegen der Mitarbeiter sowie um Fragen der Entlohnung und der Arbeitsbedingungen kümmern sich in Betrieben mit mehr als zehn Beschäftigten für jeweils ein Jahr gewählte Personalvertreter; diese je nach Be­ triebsgröße zwischen ein und neun Délégués du personnel (bei Unternehmen mit mehr als 1 000 Arbeitnehmern erhöht sich ihre Zahl jeweils um einen je 250 Beschäftigte) müssen bei Entlassungen angehört werden. ■■ Die Gewerkschaftsabteilung (Section syndicale) und die Gewerkschaftsdele­ gierten (Délégués syndicaux) wurden den Arbeitnehmervertretungen nach den Mai-Unruhen 1968 zugestanden. Jede repräsentative Gewerkschaft hat das Recht, sich in Betrieben mit über 50 Beschäftigten als Gewerkschaftsabteilung zu organisieren, Beiträge zu erheben und über ihre Ziele mittels Veranstaltun­ gen, Zeitungen und Aushängen zu informieren. Außerdem kann jede Organi­ sation einen Vertreter mit beratender Stimme in den jeweiligen Betriebsaus­ schuss entsenden. Die von jeder » repräsentativen « Gewerkschaft benannten Gewerkschaftsdelegierten, deren Aufgaben sich teilweise mit denen der Perso­ nalvertreter überschneiden, vertreten ihre Organisationen gegenüber der Be­ triebsleitung. Für ihre Tätigkeit werden sie teilweise von der Arbeit freigestellt. Auch können die Gewerkschaftsgruppen eigene Räumlichkeiten für sich be­ anspruchen. In Unternehmen mit weniger als 50 Arbeitnehmern sind die Auf­ gaben des Gewerkschafts- und des Belegschaftsdelegierten in Personalunion wahrzunehmen.

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Die Zahl der hauptamtlichen Gewerkschaftsfunktionäre in den größeren Betrie­ ben ist im Verhältnis zu ihrer meist schwachen Basis hoch. Ihre häufig üppige Be­ zahlung haben die Arbeitgeber zu übernehmen; das Gleiche gilt für Räume für die Gewerkschaftsarbeit. Eine der deutschen Mitbestimmung vergleichbare Re­ gelung gibt es nicht. Die Mitwirkung der Arbeitnehmervertreter an Betriebsent­ scheidungen ist in der Regel konsultativ. Dennoch: So bescheiden einige dieser Regelungen im Vergleich zu deutschen auch sind, sie haben zumindest » Bewe­ gung « in die starren, hierarchisch geprägten Formen der Arbeitsbeziehungen in Frankreich gebracht und die » Sozialpartner « zu einem Minimum an Kooperation bewogen.

12.2 Die Arbeitgeberverbände Größte Arbeitgeberorganisation ist der Conseil National du Patronat Français (CNPF), seit 1998 in den dynamisch klingenderen Namen Mouvement des Entre­ prises de France (MEDEF) umgetauft. Im Juni 1946 gegründet, trat er die Nachfolge der durch die Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht belasteten Confédération Générale de la Produc­ tion Française an. Als Dachverband von über 600 lokalen und regionalen Bran­ chenvereinigungen sowie 85 Branchenverbänden repräsentiert das MEDEF An­ fang des 21. Jahrhunderts 700 000 Betriebe aus Industrie, Handel, Banken und dem Dienstleistungsgewerbe. Im Gegensatz zu Deutschland, wo der Bundesver­ band der Deutschen Industrie und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeit­ geberverbände einerseits als Wirtschaftsverband, andererseits als Arbeitgeberver­ band tätig sind, nimmt das MEDEF beide Funktionen wahr.32 Infolge der anfänglichen Vorherrschaft von Vertretern der Großindustrie in den Führungsgremien vertrat der Verband lange Zeit hauptsächlich die Interessen dieser – wenigen – Industrien, was zu teilweise heftigen Auseinandersetzungen mit den Vertretern der Klein- und Mittelindustrie – der überwiegenden Mehr­ heit der französischen Betriebe – führte. Erst durch die Wahl erfolgreicher Mit­ telständler in die Schlüsselämter des CNPF wurde das Übergewicht der Großin­ dustrie, unter der vor allem der einflussreiche Metallarbeitgeberverband UIMM dominierte, ab Anfang der siebziger Jahre zurückgedrängt.33 Die Verstaatli­ chungspolitik nach 1981 tat ein Übriges, um diesen Einfluss zu schmälern, obwohl mit Billigung der Linksregierung auch die nationalisierten Unternehmen Mitglied im CNPF bleiben durften. Lange Zeit verstand sich der Unternehmerverband, ganz im Sinne seiner Mit­ glieder, als Repräsentant des » Patrons «, der » Herr « im eigenen Unternehmen ist, in einer Art patriarchalischer Vaterrolle für seine » Untergebenen « sorgt, je­

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doch jegliche Mitsprache über innerbetriebliche Belange oder gar ein Aufbegeh­ ren gegen seine Autorität strikt ablehnt.34 Erst die sozialen Unruhen vom Mai 1968 mit über sechs Millionen Streikenden und vielen Betriebsbesetzungen führ­ ten zu einem Umdenkungsprozess innerhalb des CNPF. Zunehmend gewannen die » Modernisierer « an Einfluss, die sich gegen überholte Traditionen wandten und für einen stärkeren Dialog mit den Sozialpartnern plädierten. Tonangebend in dem Kreis derer, die das anachronistische Verständnis des » Patrons « ablehn­ ten und die Sozialbeziehungen auf eine zeitgemäßere Basis stellen wollten, war das zwar weitgehend unabhängige, aber mit dem Gesamtverband verflochtene Centre des Jeunes Dirigeants d’Entreprise (CJD). Es bemühte sich um eine Erzie­ hung des französischen Unternehmers » zum modernen Manager «35, für den die Entfaltung unternehmerischer Fähigkeiten und nicht der nostalgische Rückblick auf eine überholte Form des Familienbetriebs im Vordergrund stehen. Allerdings spielt nach wie vor das Familienunternehmen eine führende Rolle bei den fran­ zösischen Betrieben. Höhepunkt dieser Neuerungsbewegungen war 1981 die Wahl des mittelständi­ schen Unternehmers Yvon Gattaz zum neuen Präsidenten des CNPF. Er plädierte für eine Modernisierung der Unternehmen und für eine Ausweitung des sozialen Dialogs. Die in den Auroux-Gesetzen – so benannt nach dem damaligen Arbeits­ minister – festgelegte Verpflichtung zu jährlichen Tarifverhandlungen wurde vom CNPF ohne größeren Widerstand hingenommen, nachdem schon 1969 eine Sta­ tutenänderung vom CNPF-Dachverband ausgehandelte Tarifabsprachen für die Mitgliedsunternehmen verbindlich erklärt hatte. Gattaz’ Nachfolger haben an dem Weg des sozialen Dialogs sowohl mit den Gewerkschaften als auch mit den verschiedenen Regierungen seit Mitte der acht­ ziger Jahre festgehalten. Sie plädierten dafür, die Unternehmerschaft müsse bei der Bewältigung der sozialen Fragen selbst Verantwortung übernehmen sowie ge­ meinsam mit dem Staat und den übrigen Sozialpartnern in Form Konzertierter Aktionen nach Lösungen suchen. Letztlich ging es dem MEDEF um eine Zurück­ drängen des staatlichen Einflusses und um eine Aufwertung des sozialen Dialogs und sozialverträgliche Lösungen gegenüber staatlicher » Bevormundung «.36 Damit stellten sie sich unzweideutig auf die Seite der Modernisierer und damit gegen den Typ des traditionellen » Patrons « mit seinen antiquierten Vorstellungen einer ungeschmälerten Unternehmerautorität. Von den Neuerungen unberührt blieben dagegen die herkömmlichen » Glau­ benssätze « französischen Unternehmertums: unabhängige Preisgestaltung, unter­ nehmerische Freiheit, minimaler staatlicher Einfluss. Das Eintreten für eine libe­ rale Wirtschaftspolitik war stets unbestrittene Maxime der Verbandspolitik. Als » Kampfansage « an das französische Unternehmertum betrachtete der Verband die Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich durch die Links­

272 Interessenverbände

regierung Jospin im Jahr 1998. Der Interessenverband verfolgte nunmehr eine rigi­ de Konfrontationspolitik, lehnte Branchentarifverträge ab und verfocht Tarifver­ einbarungen auf Betriebsebene. Der damalige Verbandspräsident Seillière, unter dessen Leitung das MEDEF zunehmend geschlossener auftrat, befürwortete eine » soziale Neubegründung «, die auf Betriebsebene den Dialog mit kooperations­ bereiten Gewerkschaften anstreben müsse. Die Linksgewerkschaften empfanden solche » Betriebsabsprachen « als Provokation; die Gemäßigten nahmen dagegen das Gesprächsangebot an. Schon vorher war das MEDEF durch seinen zeitweili­ gen Rückzug aus den von den Tarifpartnern paritätisch besetzten Verwaltungs­ gremien der Sozialversicherungskassen auf Konfrontationskurs gegangen. Chiracs Wiederwahl und die Bildung einer Rechtsregierung eröffneten den Vertretern des MEDEF neue Einflussmöglichkeiten. Die Regierung unter Premierminister Raffarin versagte sich aber allzu radikalen Verbandsforderungen. So wurde die 35-Stun­ den-Woche grundsätzlich nicht angetastet, sondern nur eine Lockerung der be­ treffenden Gesetze beschlossen. Zu den MEDEF-Forderungen gehören weiterhin massive Steuersenkungen, u. a. bei der Vermögenssteuer, und eine drastische Reduzierung der Arbeitge­ beranteile bei den Sozialversicherungsabgaben. Das beiderseitige Verhältnis ent­ krampfte sich zunehmend. Die neue Verbandsvorsitzende, Laurence Parisot, seit 2005 im Amt, suchte den Dialog mit den Gewerkschaftsführern und plädierte an­ gesichts der wirtschaftlichen Probleme des Landes u. a. für Kompromisse in den Tarifauseinandersetzungen. So nahm der Industriellenverband an den Verhand­ lungen mit den Gewerkschaften teil, die am 11. 1. 2013 zur Vereinbarung über die » Flexibilität der Arbeit « führten. Von einem partnerschaftlichen Verhältnis zwi­ schen Arbeitgebern und Arbeitnehmern kann aber nicht die Rede sein. Seit dem Jahre 1944 besteht für die Klein- und Mittelbetriebe ein eigener Ver­ band, die Confédération Générale des Petites et Moyennes Entreprises (CGPME), der jedoch mit dem Arbeitgeberverband CNPF trotz aller Klagen über die Groß­ unternehmer und trotz formaler Unabhängigkeit eng verflochten ist. Obwohl der CGPME-Präsident Mitglied des Exekutivrates des Dachverbandes ist und auch ein Verbindungskomitee regelmäßig tagt, traten immer wieder Spannungen mit der CNPF-Spitze auf. Diese ließen allerdings seit Ende der siebziger Jahre nach, als Regierung wie CNPF-Führung die Wichtigkeit der kleinen und mittleren Betrie­ be für die Schaffung von Arbeitsplätzen erkannten. Zusätzlich trugen gesetzliche Maßnahmen, wie Erleichterungen bei der Kreditaufnahme und günstige staatli­ che Gelder zugunsten der Klein- und Mittelbetriebe, zu einem Ausgleich bei, so dass nunmehr beide Organisationen mit unterschiedlichen Akzenten für ähnli­ che Ziele kämpften. Die CGPME vertritt rund 1,5 Millionen Betriebe von insgesamt über 2,9 Mil­ lionen (die Zahl der Großunternehmen beträgt dagegen nur 1 900) aus den Berei­

Die Agrarverbände 273

chen Handel und Dienstleistungen.37 Unter » PME « versteht man in Frankreich alle Unternehmen mit nicht mehr als 500 Beschäftigten. Wirft man einen Blick auf die Statistik, so hatten über eine Million dieser PME keinen Angestellten und ein weitere Million zwischen einem und 19 Beschäftigten. 90 Prozent der franzö­ sischen Unternehmen haben höchsten neun Beschäftigte – mit ein Faktor für die wenig erfreuliche Wirtschaftslage. In 68 000 Unternehmen arbeiteten jeweils zwischen 20 und 99 Arbeitnehmer, und nur knapp 11 000 beschäftigen zwischen 100 und 500 Personen. Insgesamt ar­ beiten zwei Drittel aller französischen Arbeitnehmer in PME. Deren Anteil am Bruttosozialprodukt betrug im Jahre 2000 immerhin 56 Prozent. Während die Großindustrie in den achtziger Jahren die Zahl ihrer Beschäftigten kräftig redu­ zierte, stellten die PME fast eine halbe Million neuer Arbeitsplätze zur Verfügung – meist im Handel, Dienstleistungsgewerbe und im Handwerk. Wenn auch die Organisationsstruktur des PME-Verbandes schwach ausgebil­ det ist, gelingt es ihm immer wieder, seine Mitglieder in Massendemonstrationen zu mobilisieren. Solche Aktionen richten sich meist gegen eine zu hohe Steuerund Abgabenlast; protektionistische Maßnahmen werden gleichfalls häufig ge­ fordert. Auch auf die Gesetzgebungsarbeit der Nationalversammlung konnte die CGPME dank einer Anzahl entsprechend interessengeleiteter Abgeordneter star­ ken Einfluss zugunsten der Klein- und Mittelbetriebe nehmen.

12.3 Die Agrarverbände Die Zersplitterung des französischen Verbandswesens existiert auch im Agrarbe­ reich. Nicht weniger als fünf Bauernverbände versuchen, die französischen Land­ wirte zu organisieren. Traditionell betreibt die Mehrheit der Bauern SubsistenzLandwirtschaft, die ihnen weder ein erträgliches Auskommen ermöglicht, noch sie in die Lage versetzt, überfällige Modernisierungen vorzunehmen. Ihre Zahl hat zwar in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich abgenommen, aber auch heu­ te stellt diese Gruppe noch mehr als die Hälfte aller Landwirte, die jedoch nur 14 Prozent des Bodens bearbeitet. Ihre Höfe mit weniger als 20 Hektar befinden sich meist südlich einer Linie Bordeaux – Genf.38 Mit Hilfe spektakulärer, häufig aggressiver Aktionen versuchten diese Bauern seit Beginn der sechziger Jahre im­ mer wieder auf ihre unbefriedigende wirtschaftliche Lage aufmerksam zu machen und die Regierung zu Stützungsmaßnahmen zu bewegen. Die Trennung zwischen Groß- und Kleinbauern spiegelt sich auch im größten französischen Bauernverband, der Fédération Nationale des Syndicats d’Exploi­ tants Agricoles (FNSEA), wieder. Insgesamt vertritt dieser 1946 gegründete Dach­ verband über 600 000 Landwirte und damit etwa zwei Drittel aller bäuerlichen

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Betriebe; aber auch Erzeugerorganisationen und Landwirtschaftskammern sind in diesem mächtigsten Agrarverband organisiert. Ganz im Sinne der Großagrarier trat die französische Regierung auf EU-Ebe­ ne dafür ein, Garantiepreise u. a. für Getreide, Schlachtvieh, Obst und Gemüse so­ wie Molkereiprodukte einzuführen. Wegen des hohen ökonomischen und politi­ schen Stellenwerts, den die Landwirtschaft in Frankreich besitzt, lehnt das Land jegliche Neuordnung der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik strikt ab. Folglich sind die französischen Bauern als bedeutendste Agrarproduzenten der Union die größten Nutznießer dieser Subventionen aus Brüssel, die unter öko­ nomischen Gesichtspunkten äußerst umstritten und problematisch sind. Nach wie vor bestimmen Unterschiede zwischen Groß- und Kleinbauern, jün­ geren und älteren Landwirten, Veredlern von Spitzenprodukten und Erzeugern von Massengütern den Gesamtverband. Alle diese Gruppen sind zur Durchset­ zung ihrer Anliegen auf ihn angewiesen, zumal er eine Reihe von Serviceleistun­ gen anbietet. Für die Großagrarier ist er das geeignete Instrument, um die Regierung zu einer produzentenfreundlichen Politik in Brüssel zu veranlassen; die Klein- und Mittelbauern benützen ihn, um ihren Forderungen nach Preisgarantien und pro­ tektionistischem Schutz Nachdruck zu verleihen. Notfalls werden auch gewalttä­ tige Aktionen wie Straßenblockaden oder die Vernichtung importierter Agrarpro­ dukte nicht gescheut. Geahndet wird ein solcher Vandalismus in der Regel nicht. Von einer kurzen Phase zu Beginn der Linksregierungen abgesehen, bestand zwischen FNSEA und den zuständigen Pariser Behörden immer ein gutes Verhält­ nis. Obwohl weniger als drei Prozent der Erwerbstätigen zur Bauernschaft zähl­ ten, waren nach einer Schätzung aus den neunziger Jahren immerhin noch 17 Pro­ zent der Wähler in irgendeiner Weise mit der Landwirtschaft verbunden.39 Damit können sie wegen des französischen Wahlrechts den Wahlausgang in vielen länd­ lichen Stimmbezirken stark beeinflussen. Zwar legt die FNSEA Wert auf Distanz zu den politischen Parteien, aber ohne ihre Unterstützung ist eine Wahl in diesen Gebieten nur schwer zu gewinnen. Die Ernennung des langjährigen Verbands­ präsidenten François Guillaume zum Landwirtschaftsminister im zweiten Kabi­ nett Chirac im Frühjahr 1986 war im Hinblick auf die Wahlneigungen der meisten Bauern gewiss kein Zufall. Neben dem einflussreichsten » Haupt «-Verband gibt es noch eine Reihe von kleineren Interessenvertretungen, die hauptsächlich » Agrarrebellen « und kleine Familienbetriebe vertreten, die sich für einen ökologischen Umgang mit der Na­ tur einsetzen.

Einflussnahmen der » Patrons « auf die Politik 275

12.4 Einflussnahmen der » Patrons « auf die Politik Durch den Funktionswandel der Institutionen der V. Republik verlagerten sich die Kontakte zwischen den großen Verbänden und der » Politik « zunehmend vom Parlament und seinen Ausschüssen zur Ministerialbürokratie. Zudem erschwer­ ten seit 1958 veränderte Modalitäten des Gesetzgebungsprozesses sowie eine rigi­ dere Parteidisziplin den Verbandsvertretern die politische Einflussnahme mit Hil­ fe ihnen nahestehender Abgeordneter. In der IV. Republik hatten die Verbände ständig den Kontakt zu den Abgeordneten gesucht und sich hinter verschlosse­ nen Türen mit ihnen in Form einer » Studiengruppe « zur Abklärung gemeinsamer Interessen getroffen. Verschiedene fraktionsübergreifende » Amicales parlemen­ taires « ermöglichten es den Spitzenverbänden, ihre Anliegen » am richtigen Ort « vorzutragen. Wegen der schwachen und häufig wechselnden Regierungen ver­ mochten Interessengruppen, zahlreiche ihnen missliebige Gesetzentwürfe zum Scheitern zu bringen. In der V. Republik verlagerten sich die Beziehungen zwischen Interessengrup­ pen und Staat hauptsächlich auf die engsten Mitarbeiter eines Ministers, die Cabi­ nets ministériels, und auf die Abteilungsdirektoren. Dass beide Seiten häufig den gleichen Ausbildungsweg durchlaufen hatten, begünstigte solche Kontakte zusätz­ lich. Was den Zugang zur » Macht « anbelangt, lassen sich einige signifikante Un­ terschiede zwischen den Industrie-, Handels- und Bauernverbänden feststellen.40 Kein Spitzenverband (außer die Lehrergewerkschaft) verfügte über so enge Kontakte zu » seinem « Ministerium wie die FNSEA.41 Seit Beginn der V. Republik bestehen zwischen den Verbandsspitzen und der Ministerialbürokratie des Land­ wirtschaftsministeriums zahlreiche enge Beziehungen. Auch das MEDEF verfügte seit Beginn der V. Republik über meist gute Bezie­ hungen zu den Regierungen. Durch den genannten Funktionswandel der Institutionen infolge der erklär­ ten Absicht der bürgerlichen Regierungen, die französische Wirtschaft grundle­ gend umzugestalten, gelang es dem CNPF ab 1958, gute Kontakte zur Bürokratie zu knüpfen. Die Regierungen hatten ihrerseits großes Interesse an einer Zusam­ menarbeit mit der wichtigsten Arbeitgeberorganisation, um ihre Industrieplanun­ gen – Schaffung weniger, konkurrenzfähiger Großkonzerne – zu verwirklichen.42 Insbesondere die Premierminister Pompidou und Barre berieten sich regelmäßig mit den Spitzenvertretern des CNPF.43 Die » von Doktor Barre der französischen Wirtschaft verordnete Rosskur « (André Weber) wurde vom CNPF weitgehend hin­ genommen; ganz seiner Interessenlinie entsprach die Freigabe der Preise und die Überwälzung der erhöhten Ölpreise auf die Privathaushalte. Aus Furcht vor einem Wahlsieg der vereinten Linken appellierte der CNPF-Vorstand im Frühjahr 1978

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an alle Mitglieder, die Regierung durch Schaffung von Arbeitsplätzen politisch zu stützen. Aber auch nach dem Machtwechsel im Jahre 1981 riss bis heute der Ge­ sprächsfaden zwischen Arbeitgebern und politischer Führung nicht ab. Vor allem die Klein- und Mittelbetriebe wurden und werden als diejenige Un­ ternehmensform angesehen, die am ehesten in der Lage ist, neue Arbeitsplätze zu schaffen, und entsprechend wurden dann ihre Interessenorganisation in adminis­ trative Entscheidungsprozesse einbezogen. Auch die Chefs der Linksregierungen betrachten den Verband der Klein- und Mittleren Unternehmer als geeigneten Partner ihrer Arbeitsmarktpolitik.

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Massenmedien

Im Hinblick auf Vielfalt und Auflagenstärke von Zeitungen und Zeitschriften be­ sitzt Frankreich weltweit einen Spitzenplatz; trotzdem sprechen die meisten Be­ obachter der französischen Medienlandschaft schon seit geraumer Zeit von einer nachhaltigen Krise der überregionalen Tageszeitungen. Erfolgreicher sind dage­ gen (häufig neue) Publikumszeitschriften sowie (bereits eingeführte) Wochenzei­ tungen, die trotz relativ hoher Verkaufspreise ihren Absatz noch erhöhen konnten. Auch der audiovisuelle Markt, also die staatlichen und insbesondere die privaten Rundfunk- und Fernsehsender, » boomt «.

13.1 Zur Krise der französischen Presse Gegenwärtig werden jährlich etwa neun Milliarden Exemplare Zeitungen und Zeitschriften in Frankreich gedruckt, die unter 4 530 verschiedenen Titeln erschei­ nen. Diese auf den ersten Blick beeindruckende Zahl täuscht jedoch, denn auf der einen Seite nimmt die Zahl der Zeitschriften zu, auf der anderen geht das Sterben der Zeitungen unvermindert weiter. So existieren von den 175 Regionalzeitungen der unmittelbaren Nachkriegszeit heute nur noch 73. Von den einst 28 großen überregionalen Blättern wurden im Jahre 2015 nur noch 13 angeboten.1 Parallel zu diesem Zeitungssterben sank die verkaufte Auflage der Tagespres­ se kontinuierlich, während sich die Wochenmagazine auf hohem Niveau stabili­ sieren konnten. Für die Hauptstadtpresse ist eine neue Konkurrenz in Form von Gratisblättern hinzugekommen. Von den etwa acht Millionen Tagespresse-Exem­ plaren (in Deutschland sind es 22,5 Millionen) entfallen nur 2,2 Millionen auf die nationalen Zeitungen. Besonders dramatisch ist die Situation im Großraum Pa­ ris. Während dort die Bevölkerung um ein Drittel wuchs, schrumpfte die Aufla­ ge der Tageszeitungen um 34 Prozent. Nur etwa jeder fünfte Franzose kauft regel­ mäßig eine Zeitung. 277

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 U. Kempf, Das politische System Frankreichs, DOI 10.1007/978-3-658-08208-6_13

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Kaufte man früher die Zeitung morgens am Kiosk, so besteht heute eher die Neigung, sich die Tageszeitung nur noch zwei- bis dreimal pro Woche zu holen, und zwar immer dann, wenn sie gerade die gewünschte Beilage enthält wie z. B. das Fernsehprogramm oder den Heimwerkerteil. Ein Abonnentenstamm fehlt weitgehend. In gewisser Weise kehrte sich das gewohnte Verhältnis um: Die Beilagen wur­ den für den Leser zur Hauptsache, die Zeitung selbst ist nur noch eine » Ergän­ zung «, fast schon ein Randphänomen. Überspitzt könnte man sagen, den franzö­ sischen Tageszeitungen sind die Leser davongelaufen, denn mit einer Lesedichte von weniger als 164 Exemplaren pro tausend Einwohner sind die französischen Zeitungen im internationalen Vergleich weit abgeschlagen. In Deutschland, in dem die Zeitungen über einen soliden Abonnentenstamm verfügen, sind es dop­ pelt so viele.2 Wo liegen die Gründe für diese krisenhafte Entwicklung ? Neben einer zu ge­ ringen Eigenkapitalausstattung und einem zu hohen Verkaufspreis gibt es eine Reihe weiterer Negativfaktoren: Zu nennen sind der veraltete Produktionsprozess, häufig bedingt durch die Weigerung der kommunistisch orientierten Drucker­ gewerkschaft, den Maschinenpark neuesten Techniken anzupassen, zu hohe, oft durch lange Arbeitskämpfe durchgesetzte Löhne und ein veraltetes Vertriebssys­ tem. Dieses System treibt trotz jährlicher staatlicher Subventionen in Höhe von jährlich 700 Millionen Euro3 den Verkaufspreis bis zu 40 Prozent in Höhe. Hinzu kommt eine erhebliche Unzufriedenheit der Leser, die sich durch poli­ tisch einseitige Journalisten, sei es in der Kommentierung, sei es durch die Zuge­ hörigkeit zu einem Parteilager, bevormundet fühlen. Aber auch ein gewisser Ver­ trauensschwund der Leser gegenüber den gerne politisierenden und sich häufig nur einem politischen Lager verbunden wissenden Journalisten hat zu dieser Mi­ sere beigetragen. Anstelle einer Bereitschaft zu informieren, zu berichten und zu kritisieren, » neigen französische Journalisten dazu, die Nation erziehen zu wol­ len «, so der ehemalige SPIEGEL-Korrespondent Lutz Krusche über seine Kollegen. Anstatt redaktionelle Konsequenzen aus der Abkehr der Leser zu ziehen, riefen die meisten Verleger nach staatlichen Hilfen. Nur selten greift die Presse in Frank­ reich Skandale auf oder vertritt einen investigativen Journalismus.4 Der » Canard Enchaîné « (siehe unten) ist hierbei die große Ausnahme.5 Schließlich haben auch die im Vergleich mit Nachbarländern geringen Wer­ beeinnahmen zum Niedergang der französischen, besonders der Pariser Presse beigetragen, denn nur 60 Prozent der Einnahmen stammen aus der Werbung; in Deutschland sind es dagegen 67 Prozent.6 Nicht minder bedrohlich ist der seit zwei Jahrzehnten zu beobachtende Kon­ zentrationsprozess in der französischen Tagespresse. Zu den größten Medienkon­ zernen zählen gegenwärtig die Gruppe Socpresse, dessen Besitzer nach dem Ver­

Die Tageszeitungen 279

kauf durch die Familie Hersant der Rüstungshersteller Serge Dassault ist. Auch der Waffenproduzent Jean-Luc Lagardère beherrschte mit Hilfe seines Medien­ konzerns Hachette-Filipacchi Médias einen Großteil der auflagenstarken Regio­ nalzeitungen – mittlerweile an die Hersant-Gruppe verkauft. Trotz dieser Verkäu­ fe hat sich die Lagardère-Gruppe zu einem der größten nationalen Pressekonzern entwickelt, der neben » Télé 7 jours «, » Elle «, » Paris-Match « die einzige Pariser Sonntagszeitung, » Journal du Dimanche «, mit einer Auflage von 290 000 her­ ausgibt. Um Auswüchse der Pressekonzentration zu verhindern, untersagt ein Gesetz aus dem Jahr 1986, das unter der sozialistischen Regierung 1984 ursprünglich be­ schlossen und dann von der bürgerlichen Nachfolgerin deutlich » entschärft « wur­ de, einer Mediengruppe, alleine mehr als 30 Prozent der in Frankreich erscheinen­ den Tageszeitungen zu kontrollieren. Aber dieses Anti-Konzentrations-Gesetz hat letztlich keine Änderung der Presselandschaft bewirkt. So beherrschen sechs Me­ dienkonzerne die tägliche Regionalpresse. Der Meinungspluralismus existiert in vielen Regionen nur noch rudimentär, denn ein einziger Konzern beherrscht weit­ gehend die jeweilige Regionalpresse; Konkurrenten wurden entweder aufgekauft oder » gaben auf « (siehe unten).

13.2 Die Tageszeitungen Insgesamt gab es unter Einschluss der Wirtschafts- und Finanzzeitungen im Jah­ re 2015 13 überregionale Blätter.7 Darunter waren neben den politisch orientierten Tageszeitungen zwei Wirtschafts- und Finanzblätter sowie die beiden Sportgazet­ ten » L’Equipe « mit ihrem Schwerpunkt Fußball und den auf Pferderennen spe­ zialisierten » Paris-Turf «.8 Seit Mai 2013 erscheint eine neue nationale Tageszeitung – » L’Opinon «, her­ ausgegeben von einem ehemaligen » Figaro «-Redakteur. Sie versteht sich als libe­ ral, wirtschaftsfreundlich und europäisch; allerdings ist ihre tägliche Auflage mit unter 50 000 Exemplaren sehr niedrig. Obwohl von den 28 politischen Großstadtblättern der fünfziger Jahre nur noch acht übrig blieben, gerieten auch diese infolge veränderter Mediengewohn­ heiten (zugunsten des Rundfunk- und Fernsehkonsums), sowie des Nachfrage­ zuwachses bei den Wochenblättern in eine Existenzkrise. Anhaltende Auflagen­ verluste sollen durch Spezialisierungen und neue äußere Gestaltungsmaßnahmen abgewehrt werden. Ob mit diesen eher kosmetischen Maßnahmen die » Talfahrt « der Pariser Presse abgefangen werden kann, bleibt nach den jüngsten finanziellen Krisen bei einigen der bekanntesten Blätter fraglich. So wurde das einst meistgele­ sene Boulevardblatt » France-Soir « mittlerweile wegen finanzieller Schwierigkei­

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ten eingestellt. In den Ballungsräumen erhalten die überregionalen Zeitungen zu­ nehmend Konkurrenz durch Gratisblätter. » 20 Minutes «, » Métro « sowie » Plus «, die vor über zehn Jahren starteten, haben sich mit Auflagen von 750 000 und 550 000 Exemplaren etabliert. Mit ihrer kurz gehaltenen und leicht lesbaren Mi­ schung aus lokalen, überregionalen und internationalen Nachrichten sowie nütz­ lichen Verbraucherinformationen sind sie in eine Lücke gestoßen. Sie finanzieren sich ausschließlich durch Werbeeinnahmen.

13.2.1 Die überregionalen Tageszeitungen Die überregionale Tagespresse ist auf Paris konzentriert und wird von dort ge­ steuert; sie ist – im Gegensatz zur deutschen – damit eine reine Hauptstadtpresse, was auch eine Verstärkung des politischen Zentralismus bewirkte. Selbst wenn sie weitgehend auf Berichte aus der Provinz verzichtet und dort auch nur in den sel­ tensten Fällen mit eigenen Redaktionen präsent ist, werden die » Großen « wie » Le Monde « und » Le Figaro « trotzdem in ganz Frankreich gelesen. Verschiedene Un­ tersuchungen zeigen,9 dass ihre tägliche Auflage etwa je zur Hälfte in Paris und in der Provinz zugestellt wird.10 Im Vergleich zur Provinzpresse beträgt die tägliche Auflage der Pariser Blätter (einschließlich Wirtschafts- und Sportblätter) aber nur noch ein Drittel der Ge­ samtauflage; noch 1970 lag der Abstand bei weniger als der Hälfte. ■■ » Le Monde « ist heute die einzige französische Tageszeitung mit internationaler Bedeutung. Gegründet 1944 auf Veranlassung de Gaulles, um Frankreich wie­ der ein Referenzblatt zu geben, ist sie jedoch nie zu seinem Sprachrohr gewor­ den. Unter seinem Gründer Hubert Beuve-Méry, der sich 1969 aus der Redak­ tion zurückzog und 1989 verstarb, war das Blatt antiamerikanisch, antideutsch und eher NATO-feindlich eingestellt; aber auch die französische Außenpolitik wurde häufig sehr kritisch kommentiert. Die Bedeutung von » Le Monde « mit einer Auflage von täglich 324 000 Exemplaren beruht in der umfangreichen Berichterstattung über innen- und außenpolitische Ereignisse, häufig ergänzt durch ausgezeichnete Dokumentationen, welche die linksliberale Zeitung zu einem beinahe unverzichtbaren » Handwerkszeug « für viele Führungskräfte werden ließ. Zum anderen schätzte die » classe politique « ihre präzisen Analysen, wie sie überhaupt auch die Politik der Pariser Ministerien, wenn auch in der Regel eher indirekt, beeinflusste. So wird » Le Monde « hauptsächlich von Angehöri­ gen höherer Berufsgruppen, die mit 64 Prozent überdurchschnittlich stark re­ präsentiert sind, gelesen.11

Die Tageszeitungen 281

Eine Besonderheit von » Le Monde « besteht in den Besitzverhältnissen. Als genossenschaftlich geführtes Unternehmen verfügten die Gesellschaft der Re­ dakteure und die Erben von Hubert Beuve-Méry bis 1995 über jeweils 40 Pro­ zent des Kapitals. Einnahmeverluste zwangen das linksliberale Blatt zum Bör­ sengang und öffneten es mit fast 50 Prozent blattfremdem Kapital, u. a. dem Medien- und Rüstungsmagnaten Lagardère. Mittlerweile haben drei neue Ei­ gentümer das Blatt übernommen.12 Diese Investoren aus der Wirtschaft und dem Bankenwesen besitzen ebenfalls das linksliberale Nachrichtenmagazin » Nouvel Observateur «. Nahezu ständig steht » Le Monde «, in welcher der Herausgeber von den Redakteuren gewählt wird, wegen eines starken Leserschwundes, hervorgeru­ fen u. a. durch das Aufdecken unseriöser Berichterstattungen13, vor großen fi­ nanziellen Schwierigkeiten, die seine Unabhängigkeit bedrohen könnten. ■■ » Le Figaro «, 1826 gegründet, ist das » Flaggschiff « des Dassault-Imperiums. Die liberal-konservative Zeitung mit einer heutigen Auflage von etwa 340 000 hatte nach dem Zweiten Weltkrieg einen wichtigen Platz in der französischen Presselandschaft inne, bis sie in den siebziger Jahren in wirtschaftliche Schwie­ rigkeiten geriet. Gegen den Widerstand mancher Journalisten kaufte der Me­ dienzar Robert Hersant mit Unterstützung des damaligen Premierministers Chirac das Blatt auf, so dass dieser erstmals auf dem Pariser Pressemarkt prä­ sent wurde. Mit umfangreichen Wochenendbeilagen in Form des » FigaroMagazine « – mittlerweile von anderen Zeitungen nachgeahmt – versuchte Hersant ab 1978 neue Leserschichten anzusprechen und zusätzliche Werbe­ einnahmequellen zu erschließen. Die harte Kritik an der Reformpolitik der Linksregierungen von 1981 förderte deutlich den Absatz des » Figaro «. In den nächsten Jahren ging die Annäherung an gaullistische Positionen soweit, dass er bei den Präsidentschaftswahlen im Jahre 1988 geradezu zu einem inoffiziel­ len Sprachrohr des Bewerbers Chirac verkümmerte. Dessen Niederlage führ­ te zu einer inhaltlichen Kurskorrektur der ältesten Pariser Tageszeitung und zu einer gemäßigten Berichterstattung bzw. Kommentierung der Politik des wiedergewählten Staatspräsidenten. 2004 übernahm der Waffenhersteller Dassault das Blatt mit der Folge, dass 54 Redakteure ihre Stellung kündigten. ■■ Als ein geistiges Kind der Unruhen von 1968 wurde im Jahre 1973 von eini­ gen ehemaligen Anhängern der maoistischen Linken » La Libération « gegrün­ det. Schon im Titel wurde die Richtung des neuen Blattes mit einer Auflage von 100 000 Exemplaren deutlich: keine Werbung, finanzielle Unabhängigkeit, Selbstverwaltung sowie Themen, welche ungerechte gesellschaftliche Struk­ turen und soziale Benachteiligungen beinhalteten. Mit einem solchen » Pro­ gramm « konnte sich » Libération « auf dem nationalen Pressemarkt erstaun­ lich gut behaupten.

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Bis Mitte der siebziger Jahre blieb man dieser Linie treu. Danach zwang sinkender Absatz zu einer finanziellen Umorientierung. Politisch » öffnete « sich » Libération « hin zu einer eher links-liberalen, pro-europäischen und der deutsch-französischen Zusammenarbeit verbundenen Zeitung, die sich beson­ ders an eine jüngere Leserschaft in Führungspositionen wendet. Erneute Fi­ nanznöte veranlassten die Besitzer, nach einem » Zwischenspiel « des Ban­kiers Edouard de Rothschild, ein Angebot des Kabelunternehmers Patrick Drahi an­ zunehmen. Ihm gehört auch das Wochenmagazin » L’Express «. Er versprach den Chefredakteuren, sich nicht in inhaltliche Belange einzumischen, verlang­ te aber, dass die Blätter » schwarze « Zahlen schreiben. Dies bedeutet – neben » Wohlverhalten « der Redakteure – nichts anderes als Sparprogramme und et­ liche Entlassungen. Zahlreiche weitere Beispiele, bei denen Industrielle ins Pressewesen » ein­ gestiegen « sind, zeigen, dass » Libération « in dieser Hinsicht kein Einzelfall ist. Zwar werfen solche Investitionen keinen Gewinn ab, aber sie verleihen den Konzernmanagern Macht und Einfluss. Nicht nur die Tagespresse ist von sol­ chen Eingriffen in ihre Unabhängigkeit bedroht; auch das politische Wochen­ magazin » Le Point « wird mittlerweile ebenso wie auflagenstarke Wirtschafts­ blätter von einem Luxusgüterkonzern beherrscht. ■■ Eine Sonderstellung innerhalb der Pariser Großstadtpresse nimmt » Le Pari­ sien – Aujourd’hui en France « ein. Von einem zweijährigen Arbeitskampf, der Mitte der siebziger Jahre zwischen den Druckern und dem Besitzer Emilien Amaury ausgetragen wurde, erholte sich das 1944 gegründete Blatt mit einer gegenwärtigen Auflage von über 500 000 wieder. Seit 2015 hat es der Inhaber des Luxusgüterkonzerns LVMH Bernard Arnault seinem Imperium eingefügt. Für eine Auflagensteigerung waren hauptsächlich interessant aufbereitete und mit Bildern bzw. Graphiken versehene Beiträge sowie die Tatsache verant­ wortlich, dass » Le Parisien «, die einzige regionale Zeitung der Ile-de-France mit 13 Lokalausgaben ist und gleichzeitig auch – als » Aujourd’hui en France « – überregionale Ausstrahlung besitzt. ■■ Von der einst auflagenstarken Parteipresse ist nur noch die kommunistische » L’Humanité « mit einer Auflage von 50 000 übriggeblieben. ■■ Als religiös orientierte Tageszeitung hat sich das katholische » La Croix « bei einer Auflagenhöhe von 100 000 Exemplaren stabilisiert.

Die Tageszeitungen 283

13.2.2 Die regionalen Tageszeitungen Im Gegensatz zur Pariser Tagespresse prosperieren die meisten Blätter der Pro­ vinz. Die in Rennes erscheinende » Ouest-France « ist mit einer Auflage von fast 800 000 Exemplaren zur größten Tageszeitung Frankreichs geworden. Aber auch der Lyoner » Progrès « oder die in Lille erscheinende » La Voix du Nord « haben in­ zwischen die Pariser Blätter zahlenmäßig überrundet. Sechs regionale Mediengroßkonzerne haben Frankreich unter sich » aufge­ teilt «. Der Konzentrationsprozess hat sich also fortgesetzt: Im Nordwesten do­ miniert die im Familienbesitz befindliche » Ouest-France « mit fast 800 000 tägli­ chen Ausgaben, im Südwesten die Gruppe » Média Sud Europe «, zu der u. a. die in Toulouse erscheinende » La Dépêche du Midi « und der in Montpellier beheima­ tete » Midi Libre « gehören. Das Zentrum wird von der Gruppe » Centre France « beherrscht. Zu ihr gehören u. a. » La Nouvelle République «. Der Hersant-Konzern dominiert Lothringen und die Côte d’Azur u. a. mit » Nice Matin «. Den gesam­ ten » großen « Osten einschließlich Lyon und Grenoble deckt die größte regiona­ le Pressegruppe mit täglich 1,2 Millionen Exemplaren ab: » Est Bourgogne Rhône Alpes « (EBRA). Sie gehört der Genossenschaftsbank Crédit Mutuel.14 Diese Monopole sind das Resultat eines rücksichtslosen Verdrängungswettbe­ werbs in den fünfziger und sechziger Jahren, als zunehmend kleinere Zeitungen aufgekauft und mit größeren zusammengelegt wurden. Den neuen Besitzern flos­ sen hohe Werbeeinnahmen zu, die sie wiederum zur ständigen Modernisierung ihrer Verlagshäuser und Druckereien nutzten. Dagegen blieb das redaktionelle Niveau erschreckend niedrig: Unfälle, Straßeneinweihungen und das Vereinsle­ ben in einer Gemeinde prägen die Inhalte. Nationale und internationale Politik wird nur am Rande gestreift. Politisch verhalten sich die meisten Blätter wegen ih­ res regionalen Monopolcharakters weitgehend neutral, um die Werbekundschaft nicht zu verprellen. Nur in Wahlzeiten wird die politische Präferenz der verschie­ denen Besitzer erkennbar. Dass sie mit einer solchen Strategie ihre Leser offen­ sichtlich zufriedenstellen, zeigt die Tatsache, dass jeder zweite erwachsene Fran­ zose täglich eine lokale Tageszeitung kauft.15

284 Massenmedien

13.3 Nachrichtenmagazine Während die überregionale Tagespresse kontinuierliche Auflagenverluste erleidet, verzeichnen die Nachrichtenmagazine beständig neue Verkaufserfolge. Meist liegt die verkaufte Wochenauflage bei 500 000 Exemplaren. ■■ Das älteste dieser Magazine ist der 1953 von Jean-Jacques Servan-Schreiber auf den Markt gebrachte » L’Express «. War er zunächst antikolonialistisch einge­ stellt und eher links orientiert, so nahm er seit Mitte der sechziger Jahre einen Kurswechsel zur Mitte hin vor. Als Zielgruppe sollten nunmehr vor allem Füh­ rungskräfte angesprochen werden. Anfang der siebziger Jahre verließ aus Un­ zufriedenheit mit den politischen Ambitionen Servan-Schreibers, der Gene­ ralsekretär der Radikalsozialisten geworden war, ein Teil der Redakteure das erfolgreiche Wochenblatt und gründete mit » Le Point « ein neues Magazin. Servan-Schreiber selbst verkaufte im Jahre 1977 den » L’Express «. Nach mehre­ ren Besitzwechseln gehört Frankreichs größtes politisches Nachrichtenmaga­ zin, das einer pro-europäischen Linie und liberalen Wirtschaftstendenzen ver­ pflichtet ist, mittlerweile dem Unternehmer Patrick Drahi. ■■ Der im Jahre 1972 von ehemaligen » L’Express «-Redakteuren ins Leben ge­ rufene, zunächst eher konservativ orientierte » Le Point « gewann die Gunst eines breiten Leserpublikums vor allem durch gut recherchierten Berichte, die ausführliche Kommentierung seriöser Meinungsumfragen und die Ableh­ nung reiner Sensationsthemen. Ähnlich wie » L’Express « vertrat er seit Mit­ te der achtziger Jahre eine neo-liberale Politik. Seit 1997 ist der Kaufhausma­ gnat François Pinault – neben der Wirtschaftszeitung » L’Agefi « – Besitzer des liberal-konservativen Magazins, dessen journalistisches Niveau besonders von höheren Angestellten geschätzt wird. ■■ Das zweitgrößte politische Nachrichtenmagazin, » Le Nouvel Observateur «, entstand 1964. Gegründet wurde er wie » Le Point « von einigen Journalisten, die » L’Express « nach dessen politischem Kurswechsel verlassen hatten. Lange Zeit galt das linke Nachrichtenblatt als Lieblingsmagazin der Pariser Intellek­ tuellen. Ende der siebziger Jahre kam es zu einer politischen Neuorientierung innerhalb der Redaktion, indem man sich zur gemäßigten Linken bzw. ab 1981 zu Mitterrands Reformpolitik bekannte. Dieser Linie ist der » Nouvel Observa­ teur « bis heute treu geblieben. ■■ Eine besondere Rolle innerhalb der Wochenpresse spielt die » angekettete Ente «, » Le Canard Enchaîné «. Das nur acht Seiten starke Blatt ist kein Nach­ richtenmagazin im eigentlichen Sinne, sondern nach eigenem Selbstverständ­ nis eine satirische Wochenzeitung. Gegründet wurde die » geknebelte Zei­ tungsente « (auch dies kann der Name bedeuten) 1915 durch Maurice Maréchal;

Rundfunk und Fernsehen 285

sie zeichnete sich immer durch eine kritische, antimilitaristische und laizisti­ sche Haltung aus. Ihre Artikel sind kurz, ironisch und bisweilen sarkastisch formuliert; auch das Layout ist eher als chaotisch zu bezeichnen. Trotzdem steht » Le Canard «, der ausschließlich seinen Journalisten gehört und bewusst von Anfang an auf Werbeeinnahmen verzichtete, finanziell sehr gesund dar. Dafür sorgen mehr als 400 000 wöchentlich verkauften Exemplare. Die Le­ ser schätzen an ihm seine Unbestechlichkeit, die hervorragende Informiertheit und eine höchst glaubwürdige Berichterstattung. Die Spezialität des » Canard « besteht darin, Politskandale zu enthüllen wie beispielsweise die Verwicklung des französischen Geheimdienstes in den Anschlag auf das Greenpeace-Schiff Rainbow Warrior. Wenn auch sein Herz nach dem Bekunden der Journalisten klar links schlägt, verschonte der finanziell völlig unabhängige » Canard « je­ doch die Sozialisten ebenso wenig wie die Bürgerlichen. Das Blatt, das schon einige (aufgedeckte) Abhöraktionen über sich ergehen lassen musste, genießt bei den Eliten eine große Reputation und wird von der » classe politique « we­ gen seiner Enthüllungen durchaus gefürchtet, was den ehemaligen Chefredak­ teur Claude Angeli zu dem Kommentar veranlasste: » Manche mögen uns, eini­ ge hassen uns. Aber alle halten uns für seriös «.16 ■■ Traurige Berühmtheit erlangte das Satireblatt » Charlie Hebdo «. Anfang 2015 hatten zwei arabischstämmige Terroristen einen Anschlag auf das Blatt ver­ übt und – gemeinsam mit einem Komplizen – insgesamt 17 Menschen ermor­ det, darunter den Herausgeber und Karikaturisten. Angeblich habe » Charlie Hebdo « mit seinen Mohammed-Karikaturen Gefühle bei Muslimen verletzt. Nach dem Attentat demonstrierten weltweit Menschen gegen den islamischen Terror und gegen die Verletzung der Meinungsfreiheit.

13.4 Rundfunk und Fernsehen Bis zur Neuordnung Anfang der achtziger Jahre beherrschten die staatlichen Rundfunk- und Fernsehsender die audiovisuelle Medienlandschaft. Daran än­ derte auch nicht die Aufteilung der ORTF (Office de la Radiodiffusion-Télévision Française) in drei Produktions- und vier Programmgesellschaften im Jahre 1974, nämlich in Radio France sowie in drei Fernsehsender Télévision Française 1 (TF 1), Antenne 2 (A 2) und France Régions 3 (FR 3).17 Alle diese Sender waren mehr oder weniger abhängige Informations- und Propagandamittel zur Verfügung der jewei­ ligen politischen Mehrheiten. So wurden die Intendanten und Programmdirekto­ ren von der Regierung bestellt. Standleitungen verbanden den Informationsmi­ nister mit den leitenden Nachrichtenredakteuren, die auf dem Wege der täglichen Übermittlung von Richtlinien zu einer regierungskonformen Berichterstattung

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angehalten wurden. Auch in Wahlkampfzeiten konnte von parteipolitischer Neu­ tralität keine Rede sein. Die Folge dieser einseitigen Informationspolitik war, dass es immer mehr Franzosen vorzogen, auf die politischen Kommentare der so genannten » Postes Périphériques « auszuweichen. Diese Rundfunksender, mittlerweile durch zwei Fernsehprogramme ergänzt, haben zwar ihre Sendeanlagen auf ausländischem Boden, ihre Studios jedoch in Paris. Mit ihren Diskussionsrunden boten sie auch Oppositionspolitikern Möglichkeiten der Meinungsäußerung. Nach dem Machtwechsel im Frühjahr 1981 löste Mitterrand recht rasch eines seiner Wahlversprechen ein: die Liberalisierung der Rundfunklandschaft und da­ mit das Ende des staatlichen Monopols auf diesem Gebiet. Durch das Mediengesetz vom 29. Juli 1982 wurden die zahlreichen illegalen » Radios pirates « legalisiert und private Rundfunksender zugelassen; seit Mai 1984 ist ihnen auch Werbung gestattet. Nach dem Regierungswechsel im Frühjahr 1986 kam es zu einer zusätzlichen tiefgreifenden Veränderung der Medienlandschaft: Die Regierung Chirac privati­ sierte das Erste Fernsehprogramm TF 1. Die Anfang und Mitte der achtziger Jahre durch die Aufbrechung des staatli­ chen Monopols bewirkte Vielfalt der Programme war – von geringfügiger Verän­ derung abgesehen – auch dreißig Jahre später für die audiovisuellen Medien kenn­ zeichnend.

13.4.1 Die Rundfunkprogramme Neben die vier staatlichen Programme von Radio-France18 traten ab Anfang der achtziger Jahre auch lokale staatliche Radios. Im Zuge der Dezentralisierungspo­ litik obliegt diesen mittlerweile 38 Stationen die Information der Bürger in ihren Regionen. FR 3 weitete ebenfalls seine regionale Berichterstattung aus und sendet täglich zu bestimmten Zeiten auch in den ethnischen Landessprachen – nach Mei­ nung zahlreicher Regionalpolitiker freilich viel zu wenig.19 Daneben gibt es noch Radio France Internationale für das Ausland. Während die vier Postes Périphériques RTL mit Sitz in Luxemburg, Europe 1 in Saarbrücken, Radio Monte Carlo und Sud-Radio in Andorra ihre Programme über weite Teile des Landes ausstrahlen – im Norden dominieren RTL und Euro­ pe l, im Süden die beiden anderen –, senden die mittlerweile rund 2 000 privaten Rundfunksender nur mit einer begrenzten Reichweite. Meist handelt es sich um Musiksender, aber auch um solche mit einem Informationsanteil.20 Nach dem Mediengesetz von 1982 darf ihr Senderadius dreißig Kilometer nicht überschreiten; eine Genehmigung wird nur für fünf Jahre erteilt und muss

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dann wieder bei der CSA beantragt werden. Inzwischen wird jedoch die Radius­ begrenzung dadurch unterlaufen, dass sich viele private Sender, bei nomineller Selbständigkeit, mit starken, erfolgreichen Partnern zusammengetan haben. Im Zuge dieser Kooperation können Stationen mit Sitz jeweils in Paris wie die höchst beliebten Popmusiksender NRJ, Radio Nostalgie und der Jugendsender Fun Ra­ dio durch die Benutzung der Frequenzen der kleinen Partner ihr Programm völ­ lig legal landesweit ausstrahlen. Ferner gibt es eine ganze Reihe so genannter assoziativer Radios, die auf ei­ nen Stadtteil oder eine Gemeinde bezogen sind und die neben der obligatorischen Popmusik, bislang meist anglo-amerikanischer Provenienz (seit Januar 1996 muss die Produktion mindestens 40 Prozent französischsprachiges Liedgut enthalten), über Lokales berichten sowie ethnischen und sozialen Minderheiten als Sprach­ rohr dienen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen finanzieren sich die » Radios libres « durch Werbeeinnahmen. Großkonzerne beherrschen die landesweit ausgestrahlten Radiosender. So ge­ hören Europe 1 zum Lagardère-Konzern und RTL zum Bertelsmann-Imperium. » Diese Paarung von Rüstungs- bzw. Hochtechnologie und Medien schreckt die Öffentlichkeit nur wenig. […] Ein Risiko entsteht [aber] wenn der Verleger gleich­ zeitig der mächtigste Anzeigenkunde seiner eigenen Produkte ist oder wenn die Medien auf einen wichtigen Anzeigenkunden angewiesen sind, « kommentierte Isabelle Bourgeois die jüngere Entwicklung.21

13.4.2 Die Fernsehprogramme Durch die Aufbrechung des staatlichen Rundfunk- und Fernsehmonopols ent­ stand nach Zulassung privater Fernsehsender seit 1984 und nach Privatisierung des Ersten Programms eine grundlegende Veränderung auf diesem Gebiet. Nunmehr existieren vier staatliche Fernsehsender: France 2 (früher Antenne 2 [A 2]), das dritte Programm France Régions 3 (FR 3), das sich hauptsächlich mit Themenbereichen aus den Regionen befasst, France 5 ausschließlich mit Bildungs­ inhalten sowie France Ô für Sendungen nach Übersee. Sie finanzieren sich durch Gebühren und Werbeeinnahmen; allerdings dürfen diese seit der Amtszeit von Staatspräsident Nicolas Sarkozy nur bis 20 Uhr eingeblendet werden. Zwar haben sich auch France 2 und France 3 dem allgemeinen Trend, verstärkt Serien, Spielfilme und Rateshows anzubieten, nicht entziehen können. Sie bleiben jedoch mit ihren Nachrichtensendungen und Auslandsreportagen die wichtigsten Informationsquellen. Seit 1992 wird das staatliche Programm durch ARTE mit Sitz in Straßburg

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bereichert. Dieser Kanal wird zur Hälfte von dem staatlichen Bildungssender France 5 (früher La Cinquième), der das Vorabendprogramm von ARTE in Frank­ reich bestreitet, und von einer Gemeinschaftsanstalt aus ARD und ZDF betrie­ ben. Seine kulturellen und wissenschaftlichen Sendungen werden ebenso wie die meist anspruchsvollen Spielfilme vom französischen Publikum mit beachtlichem In­teresse angenommen. (Auf die Gemeinschaftsproduktion des französischspra­ chigen Senders TV 5 wird nicht näher eingegangen. Es handelt sich hierbei um euro­paweit über Kabel oder Satellit zu empfangene Programmanteile französi­ scher, schweizerischer, belgischer und quebecker Fernsehsender.) Der 1987 privatisierte Sender TF 1 wurde schnell zum beliebtesten Kanal Frankreichs mit den höchsten Einschaltquoten; dadurch konnte er auch die größ­ ten Werbeeinnahmen verbuchen.22 Allerdings hat sich die Programmqualität dieses Fernsehprogramms, das mehrheitlich dem Baugiganten Francis Bouygues gehört, insofern verschlechtert, als das Programm mit seinen Serien-, Spiel-, Talk- und Reality-Shows, Sportsen­ dungen und Kinofilmen (diese dürfen zum wirtschaftlichen Schutz der Licht­ spielhäuser generell nicht samstags ausgestrahlt werden) auf ein Massenpublikum zugeschnitten ist. Mittlerweile verfügt der Bautycoon auch über den Nachrichten­ sender LCI. Zwei weitere Großunternehmer » leisten « sich ebenfalls Informationssender. So besitzt Vincent Boloré – neben seiner » Herrschaft « über Canal+, der haupt­ sächlich Spielfilme und Sportübertragungen kostenpflichtig ausstrahlt – i-Télé. Patrick Drahi verfügt über den Nachrichtensender BFM-TV. Allen drei Besitzern dieser Fernsehsender wird sicherlich nicht zu Unrecht eine Nähe zur bürgerlichen Partei Les Républicains nachgesagt. Die Linksregierung befürchtet entsprechen­ de Nachteile bei der Berichterstattung im Wahljahr 2017. » Zwar ergibt sich durch die[se] Eigentumsverhältnisse keine direkte Einflussnahme auf die Berichterstat­ tung. […] Doch gehen die Nachrichtenredaktionen nur mit großer Vorsicht kriti­ sche Themen oder Recherchen an. [… Dies führt] zu einer gewissen Selbstzensur; sie betrifft genauso die Tageszeitungen, « kommentiert Isabelle Bourgeois das Ver­ hältnis von Medien und Industrie.23 Zunehmender Beliebtheit erfreut sich besonders bei jüngerem Publikum der 1987 gegründete TV-Sender M 6 mit seinen Musik-, aber auch Informationssen­ dungen. Nach verschiedenen Besitzerwechseln kontrolliert seit 2004 die RTLGroup den Kommerzsender.24 Alle Privatfernsehanstalten erhalten ihre Sendegenehmigung vom neunköp­ figen Conseil supérieur de l’audiovisuel (CSA), der seit seiner Gründung im Jahr 1982 über die Einhaltung der Beteiligungsgrenzen sowie der Programm- und Pro­ duktionsauflagen für staatliche und private Sender wacht. Bei den Staatssendern ernennt der CSA u. a. die Intendanten und legt die

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Pflichtenhefte für die einzelnen Anstalten fest. Diese Cahiers des charges enthal­ ten die Programm- und Produktionsauflagen, z. B. den zu sendenden Mindest­ anteil französischer und europäischer Produktionen an der gesamten Sendezeit (60  Prozent europäische Produktionen, darunter 40 Prozent französischer Pro­ venienz). Die Gebühren werden aber nach wie vor vom Staat festgelegt. Auch schreibt der Rat den Sendern Programmauflagen vor: Dazu zählen, neben einer politisch ausgewogenen Berichterstattung, die oben erwähnten Quoten für Sen­ dungen und Spielfilme aus europäischer Produktion. Häufig werden diese aber nicht eingehalten und zugunsten amerikanischer Produktionen unterlaufen, ohne dass dies bislang zu ernsthaften Konsequenzen von Seiten der Aufsichtsbehör­ de geführt hat. Außerdem bestimmt der Rat die zeitliche Länge der maximal er­ laubten Werbeeinblendungen pro Stunde oder pro Spielfilm. Um dem gesetzli­ chen Auftrag, der Medienkontrolle, nachkommen zu können, verfügt der CSA über eine Reihe von Sanktionsmöglichkeiten gegenüber allen Sendern, die von Geldstrafen bis hin zu Sendeverboten für einen Monat reichen können. Um eine Besitzkonzentration in den Händen weniger zu verhindern, sehen die Mediengesetze eine Begrenzung der Beteiligungsverhältnisse am Gesellschaftska­ pital der privaten Fernsehanbieter vor. So darf bei nationalen terrestrischen Fern­ sehnetzen ein Anbieter maximal 49 Prozent des Kapitals halten, ein ausländischer Gesellschafter höchsten 20 Prozent der Anteile. Ungeachtet dieser gesetzlichen Maßregeln erreichten aber wenige Großinves­ toren die Kontrolle der privaten Anstalten. Mit 25 Prozentanteilen sind sie, meist zusammen mit einem weiteren Großunternehmer in der Lage, einzelne Sender zu beherrschen wie der » Baulöwe « Bouygues TF 1 oder der Bertelsmann-Konzern den Musiksender M 6. Dass es privaten Großinvestoren aus Sektoren außerhalb der Medienland­ schaft gelang, beherrschenden Einfluss auf die audiovisuellen Medien zu gewin­ nen, verdankten sie einem politischen Konzept der Regierung, das zur Schaffung konkurrenzfähiger Fernseh- und Rundfunksender anfänglich die Vergabe von Betreiberlizenzen an kapitalkräftige Bewerber förderte. Für sie ist zum einen der Wachstumsmarkt in diesem Bereich interessant; zum anderen geht es den Käufern um Macht und Einfluss. Das Fernsehen ist wie in den Nachbarländern die wichtigste Informations­ quelle für den überwiegenden Teil der Franzosen; über Zeitungen informiert sich nur ein gutes Drittel. Die Unabhängigkeit der Journalisten wird Umfragen zufol­ ge von zwei Dritteln der Befragten angezweifelt, was u. a. auch auf den geringen Informationsgehalt der Medien zurückzuführen ist. Die jüngere Generation wen­ det sich zunehmende dem Internet als wichtigste Informationsquelle zu. Dessen teilweise plakative und verkürzte Berichterstattung wird kritisch gesehen, da der Manipulationscharakter solcher Sendungen nicht zu unterschätzen ist. Das Inter­

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net hat sich zu einer » Art › Parallelöffentlichkeit ‹ herausgebildet, die, meist unkon­ trolliert und einseitig berichtend, ein erhebliches Gefahrenpotential für die demo­ kratische Willensbildung birgt «, fasst Isabelle Bourgeois diese neuere Entwicklung zusammen.25

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Kommunal- und Regionalpolitik

» Frankreich ist eine unteilbare Republik «, so lautet Artikel 1 der Verfassung von 1958, der wiederum auf eine Erklärung des Nationalkonvents der Revolution vom September 1792 zurückgeht. Da sich auch in der Folgezeit, besonders unter Napoleon I. die zentralistischen Strukturen verstärkten, wurde Frankreich als Bei­ spiel für einen Zentralstaat schlechthin angesehen. An diesem Bild änderte sich im Laufe der nächsten Jahrhunderte nur sehr wenig. Gegenüber Forderungen nach regionaler Autonomie wurde immer wieder die Gefahr zentrifugaler Entwicklungen beschworen, die es geboten erscheinen ließ, von der Einführung föderalistischer Strukturen möglichst Abstand zu nehmen. Vor diesem Hintergrund besitzt das Gesetz über die » Rechte und Freiheiten der Gemeinden, der Departements und Regionen «, das die Nationalversammlung im Jahre 1982 beschloss und dem inzwischen etwa 40 Gesetze sowie 300 Verordnun­ gen gefolgt sind1, eine geradezu revolutionäre Qualität. Ziel dieses Gesetzes war die Stärkung der institutionellen Autonomie durch die Abschwächung der Staats­ aufsicht und die Ausweitung der Kompetenzen der Gebietskörperschaften. Ihre jahrhundertelange Überwachung und Gängelung durch die zentralstaatlichen In­ stanzen sollte aufhören, eine freiheitliche dezentralisierte Ordnung diese erset­ zen. Ergebnis dieser Reformen war die Verfassungsergänzung von 2003. Erstmals wurden die Regionen nicht nur verfassungsmäßig verankert (Art. 72), sondern dem Kernsatz in Artikel 1 wurde der Zusatz hinzugefügt: » Ihre Organisation ist dezentral «. Die Grundstrukturen der französischen Verwaltungsorganisation, gegenwär­ tig 36 664 Gemeinden in 96 Departements des Mutterlandes, sind historisch im Zeitalter der Großen Revolution und Napoleons I. verwurzelt. Eine Ergänzung er­ fuhr dieselbe im Jahre 1982, als 26 Regionen (davon 22 im Mutterland und 4 in Übersee) in der Nachfolge früherer allerdings weitgehend einflussloser Vorläufer, gebildet wurden.2 291 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 U. Kempf, Das politische System Frankreichs, DOI 10.1007/978-3-658-08208-6_14

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Kommunal- und Regionalpolitik

Seit Ende 2014 wurden die Mutterlandsregionen zu Gunsten von 13 Großregio­ nen aufgelöst. Ziel dieser Maßnahme war neben einer Verringerung der Zahl der Regionalparlamente und dadurch Einsparungen die Schaffung von wirtschaftlich leistungsstarken Regionen (siehe unten).

14.1 Die Gemeinden Bei den Gemeinden, einheitlich nach dem Kommunalgesetz von 1884 verfasst, ist die hohe Anzahl kleiner und kleinster Einheiten auffallend: 86 Prozent aller Ge­ meinden haben weniger als 2 000 Einwohner; nur 11 eine Bevölkerung von über 200 000 Bewohnern. Jede Kommune wird, unabhängig von ihrer Größe, von einem auf sechs Jahre direkt gewählten Gemeinderat mit 7 bis 69 Mitgliedern ver­ waltet, an dessen Spitze der vom Rat gewählte Bürgermeister mit seinen Beigeord­ neten (ein bis zwölf je nach Größe der Gemeinde) steht. Nur für Paris, Marseille und Lyon gibt es Sonderregelungen. So besteht das Hauptstadtparlament aus 163 Stadträten; in Marseille sind es 101 und in Lyon 73. Außerdem gibt es in diesen Städten zusätzlich zum Gesamtstadtrat und zum Bürgermeister noch Arrondisse­ menträte mit eigenen Bürgermeistern, deren Befugnisse jedoch vornehmlich be­ ratender Art sind.3 Die Wahl der Gemeinderäte – insgesamt gibt es über 500 000 – erfolgt nach einem komplizierten Verfahren. Bei Kommunen mit weniger als 1 000 Bürgern wird das Mehrheitswahlrecht mit Vorschlagslisten in zwei Wahlgängen mit der Möglichkeit des Panaschierens angewandt. Gewählt ist, wer im ersten Wahlgang die absolute bzw. im zweiten Wahlgang die relative Mehrheit erhält. In Gemein­ den mit mehr als 1 000 Einwohnern gilt seit 17. Mai 2013 eine reine Listenwahl mit zwei Wahlgängen. Falls die Liste einer Partei dabei im ersten Wahlgang über die Hälfte der abgegebenen Stimmen erhält, ist ein zweiter Wahlgang nicht erforder­ lich. Sie bekommt automatisch die Hälfte der Sitze; die andere Hälfte wird pro­ portional auf sämtliche Listen – einschließlich derjenigen mit absoluter Mehr­ heit – verteilt, die mehr als fünf Prozent der Stimmen erhalten haben. Überspringt keine Liste die 50 Prozentmarke, findet eine Stichwahl statt. Die Sitzverteilung er­ folgt auf alle teilnehmenden Listen mit über 10 Prozent Stimmen im ersten Wahl­ akt, wobei die an der Spitze liegende zunächst einmal die Hälfte der Sitze erhält; die andere Hälfte wird wieder proportional unter allen aufgeteilt. Das aktive und passive Wahlrecht liegt bei 18 Jahren. Eine Besonderheit der französischen Kommunalpolitik besteht darin, dass der Bürgermeister sich gleichzeitig in zwei Rollen zu bewähren hat, nämlich in der des Vertreters seiner Kommune und in derjenigen des Staatsrepräsentanten. Als solcher muss er bestimmte Funktionen wahrnehmen, z. B. diejenige des Stan­

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desbeamten und die des Hilfsorgans der Staatsanwaltschaft mit Polizeigewalt für die Anzeige und Aufklärung strafbarer Handlungen. Auch die Wahllisten, in die jeder Wahlberechtigte eingetragen sein muss, um abstimmen zu dürfen, werden von ihm geführt und jährlich überarbeitet. Die Wahl der Richter zu den Arbeits­ gerichten und die Sozialversicherungswahlen werden ebenfalls von ihm organi­ siert. Daneben ist er der Chef der kommunalen Beamten und der Gemeindepo­ lizei. Außerdem bereitet er die Beschlüsse des Gemeinderates vor, die er danach auszuführen hat. Durch die Dezentralisierungsgesetze wurden die Befugnisse des Gemeindera­ tes und des Bürgermeisters deutlich ausgeweitet. Waren die Kommunen schon länger für die Ausführung staatlicher Investitions­ vorhaben, für den Bau und Unterhalt von Vorschulen und Grundschulen sowie für einige weitere typisch lokale Dienste wie Müllbeseitigung und Feuerschutz zu­ ständig, so wurde ihnen 1982 auch die Verantwortung für die Aufstellung von Flä­ chennutzungsplänen zugewiesen. Baugenehmigungen werden vom Bürgermeister erteilt, darunter z. B. auch solche zum Bau von Jachthäfen, was dazu geführt hat, dass viele Küsten durch solche Vergnügungseinrichtungen verschandelt wurden, ohne dass die Gemeindebewohner davon dauerhaft wirtschaftlich profitierten. Die besonders in den Jahren 1994 und 1995 aufgedeckten Korruptionsskanda­ le4 erwiesen, wie leichtfertig Bürgermeister teilweise ihre neuen Kompetenzen bei der Gewährung von Baugenehmigungen ausübten. Die Dezentralisierungsreform von 2003 übertrug ihnen zusätzlich die Verwal­ tung für das technische Personal an Vor- und Grundschulen. Hinzu kamen Teile des Denkmalschutzes sowie – auf Antrag – die Verwaltung von Flugplätzen. Eine wesentliche, für lokale Partizipationsmöglichkeiten bedeutsame Kompe­ tenz ist die im Organgesetz vom 1. 8. 2003 gewährte Abhaltung von Bürgerent­ scheiden. Schon 1992 hatten Gesetze Bürgerbefragungen und drei Jahre später Bürgerbegehren ermöglicht. Nunmehr kann jede Gebietskörperschaft ein lokales bzw. regionales Referendum anberaumen. Antragsberechtigt ist nur der Gemein­ devorstand, der dem Rat das lokale Referendum vorschlägt. Allerdings bedarf die Annahme eines solchen einer Mindestwahlbeteiligung von 50 Prozent der einge­ schriebenen Wähler – eine Hürde, die die Intention nach » mehr Demokratie « kon­ terkariert.5 Auch muss die Mehrheit der Abstimmenden das Projekt befürworten. Daneben können die Wähler über zu ergreifende Maßnahmen befragt wer­ den. Aber auch sie selbst können initiativ werden, wenn eine Frage, die in den Zu­ ständigkeitsbereich der Gemeinde fällt, vom Gemeinderat behandelt werden soll (Art. 72-1 der Verf.)6 Für seine Tätigkeit erhält ein Bürgermeister kein Gehalt, sondern lediglich eine nach Gemeindegröße gestaffelte Entschädigung. Bis zur Dezentralisierungsreform standen alle Beschlüsse des Gemeinderates

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Kommunal- und Regionalpolitik

unter Staatsaufsicht, der so genannten Tutelle, die vom Präfekten wahrgenommen wurde. Da diese seit 1982 abgeschafft ist, unterliegen seither die Beschlüsse des Kommunalparlaments nicht mehr den bisher üblichen Genehmigungsverfahren seitens ministerieller oder präfektoraler Instanzen. Der Präfekt übt nur noch eine a posteriori Kontrolle aus; so kann er etwa gegen einen Gemeinderatsbeschluss den Verwaltungsgerichtshof anrufen, was bislang jedoch nur selten geschehen ist.7 Die ebenfalls a posteriori vorzunehmende Rechnungskontrolle wurde neu ge­ schaffenen Regionalrechnungshöfen übertragen. Die Einnahmen der Gemeinden entstammten bis zu den von der Linksregie­ rung Ende der 90er Jahre durchgesetzten Änderungen drei Quellen: Unter den so genannten » vier Alten « ist die Gewerbesteuer mit einem Anteil von circa 50 Pro­ zent die wichtigste, seit 2010 in territoriale Wirtschaftssteuer umbenannt (contri­ bution économique territorale).8 Es folgen die Wohnungssteuer und die Steuern auf bebautem sowie auf unbebautem Grund. Insgesamt betrugen diese vier Steu­ ern im Jahre 2003 51,9 Mrd. Euro. Hinzu kommen erhöhte Finanzzuweisungen des Staates zur Erfüllung der neuen Aufgaben: ■■ Die » Dotations globale de fonctionnement « (DGF) ist die wichtigste. Sie dient der Bestreitung der seit der Dezentralisierung erhöhten Ausgaben für den per­ sonellen und sächlichen Verwaltungsaufwand. ■■ Die » Dotation globale d’équipement « (DGE) ersetzt frühere staatliche Subven­ tionen für kommunale Investitionsvorhaben. ■■ Hinzu kommen » Dotations de compensation « zur Erfüllung von Aufgaben, die der Zentralstaat auf die Gebietskörperschaften übertragen hat. Obwohl diese Zahlungen in der Regel ein Drittel des Gesamtbudgets einer Ge­ meinde ausmachen, beklagen die Vertreter der Kommunalverbände ihre ange­ sichts der Aufgabenfülle unzureichende Finanzausstattung. Die Folge ist eine ständige Erhöhung kommunaler Abgaben, Gebühren sowie Bagatellsteuern und die vermehrte Aufnahme von Krediten. Im Jahr 2011 beliefen sich die gesamten kommunalen und regionalen Einnahmen einschließlich zentralstaatlicher Zuwei­ sungen und aufgenommener Kredite auf 221,6 Milliarden Euro. Davon stellte der Zentralstaat den Gebietskörperschaften im Jahr 2013 100,3 Milliarden Euro zur Verfügung. Trotz einer Verdoppelung dieser Zuwendungen seit den 90er Jahren beklagen Vertreter dieser Körperschaften, die Summe reiche bei weitem nicht zur Erfüllung der übertragenen Aufgaben aus. Dass trotz der offensichtlichen Finanzschwäche der Gemeinden eine grundle­ gende Kommunalreform unterblieb, lag vor allem am Widerstand vieler örtlicher Honoratioren, die selbst Mitglieder der Nationalversammlung oder des Senats wa­

Die Gemeinden 295

ren und sich deshalb häufig von – vermutlichen oder tatsächlichen – » übergeord­ neten Interessen « leiten ließen. Folglich begnügte sich der Staat mit einer Reihe funktionaler Kooperationsformen auf der Basis freiwilliger Zusammenschlüsse, die jedoch angesichts der Größe der Probleme meist nur unbefriedigende Ergeb­ nisse zeitigten. Wie in den Nachbarländern kennt auch Frankreich freiwillige Gemeindezu­ sammenschlüsse, um gemeinsame Versorgungsleistungen, Wirtschaftsentwick­ lung und Infrastrukturmaßnahmen vorzunehmen.9 Beispielhaft sei auf die seit 1999 eingerichtete Communauté d’agglomeration verwiesen. Im Januar 2013 gab es 213 diese Zusammenschlüsse mit 4 118 Gemeinden mit insgesamt 25,5 Millio­ nen  Bewohnern. Jeder Ort behält seine Selbständigkeit, was zu äußerst kompli­ zierten und häufig langwierigen Entscheidungsprozessen führt. Seit 2010 wurden auch Metropolen in Ballungsräumen eingerichtet. Sie um­ fassen mindestens 500 000 Bewohner. An Stelle der Gebietskörperschaften kön­ nen sie als übergeordnete » Behörde « Gemeinschaftsaufgaben wie beispielsweise wirtschaftliche Entwicklung des Gebiets, Wasserversorgung und Verkehrseinrich­ tungen übernehmen. Auch kann ihnen der Bereich Sozialhilfe, Schulbau und Wiedereingliederung von Arbeitssuchenden übertragen werden. Erste Metropo­ le war im Oktober 2011 Nice – Côte d’Azur, eine Fusion der Großstadt Nizza mit umliegenden Gemeinden. Die Selbständigkeit der Mitglieder bleibt erhalten. Ent­ scheidungen werden in einem gemeinsamen » Parlament « getroffen. Ob diese Kooperationsmöglichkeiten eine grundlegende längst überfällige Gemeindestrukturreform aufwiegen, ist offen. Wegen der Verfilzung lokaler und nationaler Mandate sowie der » Komplizenschaft «10 dürften für absehbare Zeit weitere Reformversuche erfolglos bleiben. Kompetenzüberschneidungen, übermäßige Bürokratie durch die verschiede­ nen Ebenen dieser kommunalen Zweckverbände hemmen häufig erforderliche Entscheidungen. Eine zu geringe Finanzausstattung und eine hohe Verschuldung, u. a. durch eine starke Vermehrung der lokalen Beschäftigten, wirken sich eben­ falls negativ aus. Finanziert werden diese Gemeindeverbände hauptsächlich durch lokale Steuern.11 Trotz der lange Zeit bescheidenen Machtbefugnisse ist der Stellenwert loka­ ler Mandate bei vielen Politikern sehr hoch, da sie in ihnen eine günstige Aus­ gangsposition für eine mögliche Wahl ins nationale Parlament besitzen. Infolge der starken Personalisierung der lokalen Macht verfügen die Bürgermeister, häu­ fig auch die Beigeordneten, über ein hohes Ansehen in ihrer Gemeinde, was oft dazu führt, dass bei Kommunalwahlen gerade in kleinen Gemeinden das parteigegenüber dem personenpolitischen Element zurücktritt; vielen Bürgermeistern ist es auf diese Weise gelungen, eine Wählerschaft weit über das eigene politische Lager hinaus zu mobilisieren.

296

Kommunal- und Regionalpolitik

Ein wesentlicher Grund sind die Klientelbeziehungen auf örtlicher Ebene, die wechselseitiger Vorteilsgewinnung überaus förderlich sind: Während der loka­ le » Chef « in Wahlkampfzeiten verlässlicher Unterstützungsgruppen gewiss sein kann, besitzen dieselben einen ebenso sicheren Fürsprecher ihrer Anliegen auf kommunaler oder höherrangiger Ebene. Dieser » politische Mechanismus « er­ möglichte es manchen Großstadtbürgermeistern geradezu, über die Grenzen ih­ res Wahlbezirks hinaus in die Funktion von » Provinzfürsten « hineinzuwachsen. Ohne ihre Vorsprache bei Präfekten und Ministerien lassen größere Investitio­ nen oder wichtige Entscheidungen meist lange auf sich warten. Oft sind diese » Grands notables « Mitglieder der Regierung oder bekleiden ein anderes einfluss­ reiches Staatsamt, wie der langjährige Bürgermeister von Bordeaux, Jacques Chaban-Delmas bzw. sein Nachfolger, Alain Juppé, oder sein Kollege in Lille, Pierre Mauroy,12 die (zeitweise) auch als Premierminister amtierten. Aber auch bei den übrigen Gemeindechefs galt in einem Land, in dem weitgehend alles in Paris ent­ schieden wurde, der Bürgermeister stets als Botschafter seiner Gemeinde in der Hauptstadt. Im Jahr 2004 nahmen 41 Prozent der Abgeordneten sowie 39,2 Pro­ zent der Senatoren das Amt des Bürgermeisters wahr. Die Gemeinde erhoffte sich vom » Député-Maire « eine besonders schnelle Berücksichtigung ihrer Wünsche. An dieser Einschätzung des » Député-Maire « hat sich bislang trotz der Dezen­ tralisierung wenig geändert. Weiterhin ist er für die Zentralverwaltung ein be­ vorzugter Gesprächspartner, der ihre Arbeit erleichtert, indem er die Beschlüs­ se der nationalen Instanzen nach » unten « hin vermittelt. Dafür erhält er in Form von Subventionen eine Art Unterstützung zugunsten seines Wahlkreises. Insofern kommt ihm auch eine Schlüsselstellung in den Beziehungen zwischen dem Zen­ trum und der Peripherie zu.13 Es ist fraglich, ob das Kumulationsverbot ab dem Jahr 2017 in diesem Verhält­ nis eine grundlegende Änderung bewirken wird. Die lokale » Wahl-Oligarchie « dürfte sich in modifizierter Form fortsetzen. Kaum eine Partei verzichtet bei der Kandidatennominierung für nationale Wahlen auf Bewerber, die sich schon auf lokaler oder regionaler Ebene bewährt haben. Ein weiteres » Phänomen « erinnert geradezu an die » Erbmonarchie « älte­ ren Datums: So war noch Anfang der neunziger Jahre die Hälfte der Bürgermeis­ ter Söhne von früheren Gemeindevorstehern, und zwar in der gleichen Gemein­ de;  neuerdings ist auch die Witwennachfolge kein außergewöhnliches Ereignis mehr. Für die Stabilität der kommunalpolitischen Machtverhältnisse ist ferner der Umstand kennzeichnend, dass nach Recherchen von Albert Mabileau trotz der Politisierung der Kommunalwahlen seit Mitte der siebziger Jahre drei Viertel al­ ler lokalen Mandate im gleichen » politischen Lager « geblieben sind.14 Nach einer weiteren Untersuchung erklärten 70 Prozent der Bürgermeister in ländlichen

Die Gemeinden 297

Tabelle 7  Mehrheitsfraktionen in Städten mit mehr als 10 000 Einwohnern

2014 Kommunisten Sozialisten Verschiedene Linke

56 210 77

Verschiedene Rechte

137

UDI + MoDem

115

Gaullisten

320

Front National

8

Extreme Rechte

3

Verts

6

Quelle: Le Monde vom 1. April 2014, S. 4

Gebieten, sie gehörten keiner Partei an, doch sei ihnen eine eher konservative Grundhaltung eigen.15 Bei dem Auswahlmodus des lokalen politischen Personals lassen sich mehre­ re, je nach Parteirichtung unterschiedliche soziale Gewichtungen erkennen: Die Parteien der Linken rekrutieren ihre kommunalen Eliten vorzugsweise aus den Reihen öffentlicher Funktionsträger, vor allem aus der Berufsgruppe der Lehrer. Die bürgerlichen Parteien konzentrieren sich eher auf die traditionellen Eliten des » alten « Mittelstandes. Während für die linken Parteien stärker die Arbeit in Vor­ feldorganisationen der Parteien, wie Gewerkschaften und Vereinen, ins Gewicht fällt, ist für die rechten Parteien der berufliche Status von besonderer Bedeutung; Freiberufler und Führungskräfte in der Privatwirtschaft sowie in staatlichen Ein­ richtungen werden von diesen Parteien bevorzugt als Kandidaten nominiert.16 Für alle Parteien gilt dabei, dass die nationalen Parteileitungen bei der Aufstellung ih­ rer Kommunalwahlkandidaten nur in den größeren Städten, und dort auch nur zum Teil, Einfluss nehmen können. Das » Wort « des » Provinzfürsten « wiegt alle­ mal schwerer. Auf dem » flachen « Land liegt die Bestimmung der Kandidaten in der Regel – außer bei der PCF – in den Händen örtlicher Honoratioren, da die po­ litischen Parteien auf örtlicher Ebene u. a. wegen schwach ausgebildeter Struktu­ ren meist keine große Bedeutung besitzen. Landwirte stellten 2008 mit 15,6 Pro­ zent der dortigen Bürgermeister – neben Ruheständlern – die größte Gruppe.17 » Die Macht, « so Hoffmann-Martinot, » konzentriert sich beim jeweiligen Chef der Exekutive, « sei es auf Stadt-, Kreis- oder Regionalebene.18

298

Kommunal- und Regionalpolitik

14.2 Die Departements In den 96 Departements des Mutterlandes, den fünf überseeischen sowie den zwei » Einheits-Gemeinschaften « haben sich die Machtverhältnisse seit dem Dezentra­ lisierungsgesetz grundlegend verändert. War bislang der Präfekt als Vertreter der Staatsgewalt das allein bestimmende Organ und waren die Generalräte (seit 2013: Conseillers Départementaux) als Selbstverwaltungsorgane des Departements eher bedeutungslos, so ist nun der Präsident des Generalrates (entspricht dem Kreis­ tag) der » starke Mann « im Departement. Auf sechs Jahre von den Mitgliedern des Departementrates gewählt, ist er das Exekutivorgan des Departements mit den Befugnissen, die früher dem Präfekten zustanden. Er ist Chef der departemen­ talen Dienste, erstellt das Budget des Departements und führt die Beschlüsse des Generalrates aus. Unterstützt wird er von einem » Bureau «, bestehend aus vier bis zehn Vizepräsidenten, das von ihm angeleitet wird. Ebenso wie der Bürgermeis­ ter und der Präsident des Regionalrates ist auch der Departementratspräsident während seiner Amtszeit nicht absetzbar (außer bei Verstößen gegen Strafgesetze). Gewählt werden die Departementräte, deren Mindestalter 21 Jahre betragen muss, auf sechs Jahre nach der absoluten Mehrheitswahl. Wahlbezirk in einem Departement ist der Kanton, dem verwaltungstechnisch nur noch diese Funktion zukommt. In jedem der 2 054 Kantone des Mutterlandes wird ein paritätisch be­ setztes » Pärchen « gewählt, so dass die Zahl der Conseillers Départementaux zwischen 18 Mitgliedern im Territoire de Belfort und 82 im Departement Nord schwankt. Paris ist zwar auch ein Departement, besitzt allerdings keinen Gene­ ralrat. Dort üben Stadtrat und Bürgermeister die departementalen Funktionen in Personalunion aus. Die Auflösung eines Generalrates ist ebenso wie die eines Gemeinderates nur ausnahmsweise unter bestimmten Voraussetzungen möglich.19 Auch die Anzahl der Einwohner in den 96 Departements im Mutterland (ein­ schließlich der Überseedepartements gibt es 101) variiert sehr stark. So besitzt das Departement Lozère nur etwa 77 000 Bewohner, das Departement Nord dagegen zweieinhalb Millionen. Die Grenzen dieser Gebietskörperschaften orientieren sich immer noch an dem im Jahre 1800 angeblich eingeführten Maßstab, ein Prä­ fekt müsse die Grenzen seines Departements innerhalb eines Tagesrittes von der » lokalen « Hauptstadt aus erreichen können. Der vom Staatspräsidenten auf Vorschlag des Premierministers und des In­ nenministers ernannte Präfekt übt seit dem Wegfall der Tutelle, der Staatsaufsicht, im Jahre 1982 nur noch eine Kontrolle a posteriori aus. Er ist für die Aufrechter­ haltung der öffentlichen Sicherheit im Departement und für die Respektierung der staatlichen Gesetze zuständig. Auch hat er auf den Vollzug der Wirtschaftsund Sozialpolitik der Regierung zu achten. Ungeachtet dieser Kompetenzverla­

Die Departements 299

Schaubild 8  » Jedem das Seine « (Auswahl) Gemeinde

Department

Region

Soziale Fürsorge

•• Begutachtung der Sozialhilfeanträge •• freiwillige Sozialleistungen •• örtliche HygieneEinrichtungen und Gesundheitsfürsorge

•• Sozial- u. Jugendhilfe •• RSA und berufliche Wiedereingliederung •• Mutterschutz •• Behindertenhilfe •• Altenheime •• Sozialdienst •• Gesundheitsfürsorge •• Wohngeld

•• Gesundheitsfürsorge bei übertragbaren Krankheiten

Schulen/Universitäten*

•• Grundschulen

•• Collèges •• Personal außer Lehrende

•• Gymnasien •• Spezialschulen •• Personal außer Lehrende

Wirtschaft und Entwicklung

•• Finanzhilfen •• interkommunales Raumordnungsabkommen

•• Finanzhilfen •• ländliche Entwicklung

•• Berufliche (Fort-)Bildung •• Forschungszentren •• wirtschaftliche Entwicklung •• Finanzhilfen •• Raumordnung •• Regionalpläne •• Regionalparks

Transport und öffentliche Sicherheit

•• städtische Verkehrsdienste •• Stadtpolizei

•• nichtstädtische Verkehrsdienste •• Transportpläne •• Schultransport

•• regionale Verkehrsdienste einschl. Regionalbahnen

Kultur

•• städt. Archive, Mu­ seen, Bibliotheken, •• Musik, Tanz, Theater •• Sporteinrichtungen •• Tourismus

•• departementale Archive, Museen, Bibliotheken •• Musik, Tanz, Theater

•• regionale Archive, Museen •• Tourismus

Stadtent­ wicklung

•• Flächennutzungspläne •• Bebauungspläne •• Baugenehmigungen, sozialer Wohnungsbau

•• Denkmalschutz

•• maritime Nutzungspläne (Häfen)

Umweltschutz

•• Wasserversorgung •• Sanierungen •• Abfallentsorgung

•• Teilhabe an Wasserver- und Ab­ fallentsorgung

•• Umweltschutz •• Ausbildungszentren für nationale Kulturgüter •• Regionalparks

Öffentliche Verkehrswege

•• Gemeindestraßen •• Sporthäfen •• Flugplätze

•• Departement- und Nationalstraßen •• Häfen •• Flughäfen

•• Unterhalt und Verwaltung wichtiger Häfen, Flughäfen, Nationalstraßen, Regionalbahnen

* Im Erziehungsbereich ist der Zentralstaat für die Rekrutierung des Lehrpersonals und die Inhalte zuständig.

300

Kommunal- und Regionalpolitik

Kommunisten

1

Verschiedene Linke

1

Sozialisten Parti radical de gauche

Tabelle 8  Politische Zuordnung der Departementpräsidenten im Mutterland (2015)

26 3

UDI

14

Gaullisten

44

Verschiedene Rechte

8

MoDem

1

Quelle: fr.wikipedia.org/wiki/Elections_ départementales_françaises (aufger. am 15. 12. 2015).

gerung ist der Einfluss eines Präfekten in seinem Departement unverändert groß. Zum einen konsultieren ihn regelmäßig Bürgermeister der Kleinstädte sowie der zahllosen » Minigemeinden « und bitten ihn um administrative Hilfen, da ihnen häufig kompetentes Verwaltungspersonal fehlt. Zum anderen versteht sich der » neue « Präfekt als Berater, Schiedsrichter und Vermittler zwischen der Zentral­ regierung einerseits und den Gemeinden bzw. dem Departement andererseits. So übermittelt er nach wie vor Wünsche der Gebietskörperschaften z. B. nach Investi­ tionsbeihilfen in die Ministerien, und ebenso bemüht er sich als Repräsentant der Staatsmacht, die Regierungspolitik » vor Ort « zu erläutern und für ihre Verwirk­ lichung zu sorgen. Gerichtliche Auseinandersetzungen mit den Gebietskörperschaften versucht er möglichst zu vermeiden. Bei Konflikten ist er in der Regel um eine gütliche Eini­gung bemüht.20 Dem Präfekten zur Seite stehen Unterpräfekten als nachge­ ordnete Behördenleiter in jedem Arrondissement eines Departements. Die Dezentralisierungsgesetze übertrugen den Departements eine Reihe neuer Aufgaben, die sie in den Augen vieler Betrachter zu den eigentlichen Gewinnern dieser Reform werden ließen. So gingen folgende Kompetenzen auf sie über: So­ zialhilfe, Schultransport, Bau und Unterhaltung der Collèges (die einheitliche Se­ kundarschule), Verantwortung für das dortige Servicepersonal sowie wirtschaft­ liche Förderung in Form von finanziellen Hilfen für Unternehmen. Im kulturellen Bereich sind sie für Bibliotheken, Departementmuseen und Teile des Denkmal­ schutzes zuständig. Daneben sind sie im Bereich Verkehr neben den Departe­ mentstraßen nunmehr auch für einen Großteil der Nationalstraßen sowie der Kanäle und Seen zuständig. Gemeinsam mit der Region übernehmen sie auch Aufgaben im Umweltschutz.

Die Regionen 301

Die Reform von 2003 übertrug ihnen als wesentliche Neuerung die Gesamt­ verantwortung für den Sozialhilfebereich einschließlich der früheren Wiederein­ gliederungshilfen (RMI), des heutigen » aktiven Solidaritätseinkommens « (RSA), eine Art Sozialhilfe. In allen Departements wird das meiste Geld für die Sozialhilfe und für den Bau und den Unterhalt der Collèges ausgegeben. So betrugen im Jahr 2007 die Ausgaben der Departements für Sozialhilfe nahezu die Hälfte der Gesamteinnah­ men in Höhe von 61,4 Milliarden Euro.21 Wichtigste Einnahmequellen des Departements sind ihr Anteil an den vier be­ reits genannten Kommunalsteuern. Ergänzt werden diese durch Transferüberwei­ sungen des Staates.

14.3 Die Regionen Die Ende 2014 geschaffenen 13 Großregionen im Mutterland, deren 22 Vorläu­ fer schon in den sechziger Jahren als reine Verwaltungseinheiten errichtet wor­ den waren,22 erhielten durch die Dezentralisierungsgesetzgebung des Jahres 1982 den Status von selbständigen Gebietskörperschaften. Seit 2003 sind sie auch in der Verfassung verankert. Ebenso wie die Gemeinde- und die Departementräte werden seit 1986 die re­ gionalen Vertreter, die Regionalräte, für jeweils sechs Jahre bestellt – seit 2004 mit Listen auf Departementebene nach einem Mischsystem aus Verhältnis- und Mehrheitswahl, um für » klare Verhältnisse « bei der Bildung der Regionalregie­ rung zu sorgen. So erhält die im ersten Wahlgang mit absoluter Stimmenmehrheit siegreiche Liste ein Viertel der Sitze. Die restlichen Mandate werden proportional an alle Listen vergeben, sofern sie mindestens 5 Prozent erzielen. Findet ein zwei­ ter Wahlgang statt, dürfen an ihm nur Listen mit wenigstens 10 Prozent der Stim­ men teilnehmen. Hat eine Liste mindestens 5 Prozent erhalten, kann sie mit einer anderen Liste fusionieren, sofern sich diese für den zweiten Wahlgang qualifiziert hat. Die Liste mit den meisten Stimmen erhält ein Viertel der Mandate; die restli­ chen werden proportional auf alle Listen mit 5 Prozent und mehr verteilt. Aus ihrer Mitte wählen sie anschließend für die gesamte Legislaturperiode den Regionalratspräsidenten und seine Vizepräsidenten. Der Regionalrat tritt wenigs­ tens einmal pro Trimester zusammen; ebenfalls versammelt er sich auf Wunsch des Präsidenten, der Vizepräsidenten oder eines Drittels der Regionalräte. Die Anzahl der insgesamt 1 757 Regionalräte der Großregionen im Mutter­ land schwankt zwischen 77 Mitgliedern in der Region Centre-Val-de-Loire, 183 in Aquitaine-Limousin-Poitou-Charentes sowie 209 in der Ile-de-France. Wurden nach dem Wahldebakel der bürgerlichen Regierungsparteien im Jahr 2010 21 Re­

302

Kommunal- und Regionalpolitik

gionen im Mutterland von der Linken regiert und nur das Elsass von den Bür­ gerlichen, änderte sich dies nach den Wahlen im Dezember 2015 grundlegend. Bei einer geringen Wahlbeteiligung von knapp 50 Prozent übertrumpfte im ersten Wahlgang der rechtspopulistische Front National mit 27,73 Prozent sowohl Sarzokys Republikaner (26,65 Prozent) als auch die regierenden Sozialisten, die nur 23,12 Prozent erhielten. Dieser » Schock « wurde eine Woche später von den Wäh­ lern » korrigiert «. Bei höherer Wahlbeteiligung (58,41 Prozent) gewannen die Re­ publikaner und Verbündete sieben Großregionen23, die Sozialisten fünf24 und die korsischen Autonomisten ihre » Belle Ile «. Front National ging mit 6,8 Millionen Stimmen leer aus. Das demokratische Frankreich hatte dem » Familienunterneh­ men « Le Pen die » rote Karte « gezeigt. Der Regionalratspräsident, der während seiner Amtszeit nicht gestürzt wer­ den kann, ist Chef des Verwaltungspersonals. Zu seinen wichtigsten Befugnissen zählen die Vorbereitung und Durchführung der Beschlüsse des Regionalrates. Er kann den Vizepräsidenten, die einzelne Abteilungen wie z. B. diejenige für Finan­ zen oder Erziehung leiten, einen Teil seiner Kompetenzen übertragen. Ein Wirtschafts- und Sozialrat, dessen Mitglieder von verschiedenen Verbän­ den und öffentlichen Einrichtungen ernannt werden, hat beratende Funktion. Der Zentralstaat ist in jeder Region durch einen Regionalpräfekten vertreten, der in Personalunion auch der staatliche Repräsentant in dem Departement ist, in dem sich die regionale » Hauptstadt « befindet. Auf Verlangen des Ratspräsiden­ ten oder des Premierministers hat er ein Rederecht vor der Regionalversammlung. Die Zuständigkeiten der Regionen konzentrieren sich vor allem auf den öko­ nomischen Bereich. Wiesen die Regionalgesetze der 80er Jahre den Regionen die Aufgaben zu, unter Berücksichtigung der Kompetenzen von Gemeinden und De­ partements, die wirtschaftliche und soziale Entwicklung ihres Gebietes besonders durch die Gewährung von Finanzhilfen an Unternehmen zu fördern, so liegen die wichtigsten Änderungen durch die Reformgesetze von 2003 und 2004 für die Regionen in den Bereichen der Wirtschaftsplanung und -förderung, der Berufs­ ausbildung und des Verkehrs einschließlich der Finanzierung von Regionalzügen, dem Bau neuer Hochgeschwindigkeitsstrecken, Häfen und Flughäfen. So wurde die Region » Leiterin « (Chef de file) für den gesamten Bereich der Wirtschaftsplanung und kann eigenständiger als zuvor handeln. Zwar schreibt die Verfassung vor, dass keine Gebietskörperschaft eine andere bevormunden darf, die Möglichkeit, eine Ebene für einen bestimmten Bereich als » Chef de file « zu bestimmen, ist jedoch explizit vorgesehen. In einem solchen Fall müssen sich die Gemeinden und Departements nach dem vom Regionalparlament verabschiede­ ten Regionalplan richten. Im Kultur- und Bildungsbereich wurden gleichfalls die Kompetenzen erwei­ tert: Neben dem Bau von Gymnasien und der Verantwortung für das dort tätige

Die Regionen 303

technische Personal, der Zuständigkeit für regionale Museen und Denkmäler sind sie auch – außer der erwähnten Berufs(fort)bildung – für die Ausbildung der so­ zialen und paramedizinischen Berufe zuständig. Zur Kontrolle der regionalen Haushalte wurden in jeder Region Rechnungs­ höfe (Chambres régionales des comptes) eingerichtet, denen auch die Rechnungs­ kontrolle für die kommunalen und departementalen Budgets obliegt. An Finanzmittel standen ihnen, neben den Transferzahlungen des Staates und einem Anteil an den vier Kommunalsteuern, die Führerscheingebühr und EUFördermittel zu. Durch die Streichung des auf die Regionen entfallenden Anteils der Wohnsteuer und die Abschaffung der Kraftfahrzeugsteuer sind auch die Re­ gionen wieder abhängiger von staatlichen Zuweisungen geworden, was naturge­ mäß den zentralstaatlichen Einfluss auf Entscheidungen der Gebietskörperschaf­ ten erhöht. Kompensiert wird der Wegfall bisheriger Einnahmen durch einen Anteil sowohl der Regionen als auch der Departements an der Brennstoffsteuer (Taxe intérieure sur les produits pétroliers), wobei letztere wegen der Verantwor­ tung für die Sozialhilfe den Löwenanteil erhalten. Daneben kommen seit 2003 auch die Regionen erstmals in den Genuss der staatlichen Dotation globale de fonctionnement für die Verwaltung. Die Höhe der Regionalhaushalte ist aufgrund der Bevölkerungsgröße und Wirtschaftskraft äußerst unterschiedlich und zugleich bezeichnend für die zahl­ reichen bislang ungelösten Probleme, die durch die Dezentralisierung des Jahres 1982 geschaffen wurden. So konnte die Region Ile-de-France im Jahre 2001 über insgesamt 2,2 Milliarden Euro verfügen, während sich das Limousin mit knapp 182 Millionen begnügen musste. Eine Art von horizontalem Finanzausgleich zwi­ schen armen und reichen Regionen wurde erst 2003 verfassungsrechtlich veran­ kert; seine Höhe wird aber als viel zu niedrig angesehen. Wirtschaftlich prosperierende Regionen vermochten sich kontinuierlich wei­ terentwickeln, während finanzschwache keinen Ausweg aus der Rückständigkeit fanden und deshalb durch Abwanderungsbewegungen zusätzlich geschädigt wer­ den. Es bleibt abzuwarten, ob diese Defizite durch die Schaffung von leistungsstar­ ken Großregionen vermindert werden. Eine Ausnahmestellung unter den 13 Großregionen im Mutterland nimmt Korsika ein. Nach der Verabschiedung des Gesetzes über die innere Autonomie der seit 1768 zu Frankreich gehörenden Insel vom Mai 1991 wurde den Korsen eine Reihe von Sonderrechten eingeräumt. So sieht das Statut25 einen von der Regio­ nalversammlung gewählten Exekutivausschuss (Regierung) mit dem Präsidenten und acht Mitgliedern vor. Diese sind nur den 51 Mandatsträgern der Regionalver­ sammlung verantwortlich. Die Inselregion ist für die Schulpolitik einschließlich der Förderung der einheimischen Sprache und Kultur, für die Raumplanung, den Wohnungsbau und das Verkehrswesen zuständig. Auch Tourismus und Industrie­

304

Kommunal- und Regionalpolitik

ansiedlung, ein ständiger Streitpunkt mit Paris, fallen nun in ihre Kompetenzen. Darüber hinaus ist die korsische Regionalversammlung26 von der Zentralregie­ rung bei allen Gesetzen und Dekreten, welche die Insel betreffen, zu hören. Korsi­ ka berührende Gesetzesänderungen kann das Regionalparlament der Pariser Re­ gierung vorschlagen. Der Staat erhoffte sich vom Autonomiestatut, einen Schlussstrich unter den Bombenterror der verschiedenen militanten Separatistenorganisationen ziehen zu können. Diese Rechnung ging jedoch nur zum Teil auf.27 Immerhin lehnten in einer Umfrage vom August 2000 83 Prozent der befragten Inselbewohner die Un­ abhängigkeit Korsikas ab.28 Bei den Regionalwahlen im Dezember 2015 erzielte die Liste der korsischen Autonomisten erstmalig fast die absolute Mehrheit der Sitze im Regionalparla­ ment. Die Forderung nach größerer Autonomie und stärkerer Unabhängigkeit vom Zentralstaat kennzeichneten die Äußerung der Vertreter der siegreichen Lis­ te » Pè a Corsica « (Pour la Corse). Langfristig streben diese Politiker die Trennung der Insel vom Mutterland an, ohne allerdings Vorschläge für eine stabile wirt­ schaftliche und finanzielle Basis anzubieten. Einen besonderen Status genießen die zu Frankreich gehörenden übersee­ ischen Departements und überseeischen Gebietskörperschaften, wie die ehema­ ligen Territoires d’Outre Mer seit der Verfassungsreform vom März 2003 heißen. Die drei Départements d’Outre Mer (DOM) Guadeloupe, La Réunion und – seit 2011 – Mayotte sind den mutterländischen Departements völlig gleichgestellt, besitzen allerdings einige Sonderrechte, die vor allem ihre kulturellen und ökono­ mischen Besonderheiten berücksichtigen. Außerdem haben diese früheren Kolo­ nien sowohl den Status eines Departements als auch denjenigen einer Re­gion. Es werden also getrennt sowohl ein Regional- als auch ein Departementrat gewählt. Zu diesen » Klassikern « kommen zwei » Einheits-Gemeinschaften «, Guyana und Martinique, die seit dem 27. Juli 2011 die departementalen und regionalen Kompe­ tenzen in einer Gebietskörperschaft » gebündelt « haben. Zumindest in diesen bei­ den sind die Überlappungen zwischen Departement und Region aufgehoben und die Entscheidungsprozesse vereinheitlicht worden. Einen den Überseedepartements vergleichbaren Status haben die Collectivités d’Outre Mer (COM). Es handelt sich um die Insel Saint-Pierre-et-Miquelon vor der kanadischen Küste, die Inseln Wallis-et-Futuna westlich von Samoa, Franzö­ sisch Polynesien sowie – seit 2007 – die ursprünglich zu Guadeloupe gehörenden Inseln Saint-Barthélemy und Saint-Martin. Diese Gebiete haben nicht gleichzeitig auch den Status einer Region. Sie unter­ scheiden sich von den DOM vor allem durch eine größere Autonomie in Fragen der Selbstverwaltung, der Regierungsform, der Bewahrung sowie Förderung ihrer kulturellen Traditionen. Die Gesetze des Mutterlandes können von den Gebiets­

Die Regionen

Karte 1

305

Frankreichs Überseegebiete

St-Pierreet-Miquelon Guadeloupe Martinique Guayana Mayotte Polynésie française Réunion

Wallis-etFutuna

NouvelleCalédonie

Quelle: Kartenmaterial gemeinfrei

körperschaften den » örtlichen « Besonderheiten angepasst werden. Allen gemein­ sam ist eine hohe Arbeitslosigkeit und die Abhängigkeit vom Tourismus, der aber häufig unter hohen Kosten bei wenig befriedigendem Service leidet. Neukaledonien, das einzige an Bodenschätzen reiche Territorium, besitzt nach gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Einheimischen und Siedlern Ende der achtziger Jahre einen Sonderstatus mit weit reichenden Autonomierechten. Zwischen 2014 und 2019 kann die dortige Bevölkerung in einem Plebiszit darüber befi nden, ob sie weiterhin unter der Territorialoberhoheit des französischen Staa­ tes bleiben möchte. Die menschenleeren Terres Australes et Antartiques Françaises verfügen über kein Gebietsparlament, sondern werden direkt von » Paris « verwaltet.29 Alle Bürger der überseeischen Gebietskörperschaften sind französische Staats­ bürger und in der Nationalversammlung sowie im Senat mit ihren Repräsentan­ ten vertreten. Dass Frankreich sich überseeische Kleinstdepartements und meist aus einer Anzahl von Inseln bestehende » COM « » leistet «, ist angesichts einer notwendigen kostspieligen Unterstützung mit ökonomischen Motiven nicht zu erklären. Neben der strategischen Bedeutung ist es wohl eher ein Verständnis von der weltweiten » Mission « der Grande Nation, nämlich » die Trikolore auf allen Kontinenten we­ hen zu lassen « (François Mitterrand), welche einen Verzicht auf die kostspieligen Restbestände der kolonialen Vergangenheit verhindert.

306

Kommunal- und Regionalpolitik

Ebenso wie auf der kommunalen Ebene sind die Parteistrukturen auf der regi­ onalen nur rudimentär ausgebaut. Die Listenführer für die Regionalwahlen wer­ den wegen des Bedeutungszuwachses dieser Gebietskörperschaften bei fast allen Parteien von den jeweiligen Zentralen bestimmt, wobei ggf. regionale Besonder­ heiten berücksichtigt werden. » Regionalfürsten « sprechen bei der Aufstellung der Listen nach wie vor ein wichtiges » Wort « mit. Ohne ihre Zustimmung oder gar gegen ihren Widerstand ist die Kandidatur eines Parteifreundes, selbst wenn er die Unterstützung eines nationalen Spitzenpolitikers genießt, für einen sicheren Listenplatz wenig erfolgversprechend. Das Gros der Regionalräte entstammt aka­ demischen Berufen und gehobenen Verwaltungsfunktionen. Einfache Angestell­ te, Arbeiter und Landwirte sind kaum in den Regionalparlamenten vertreten.30 Im ersten Wahlgang der Regionalwahlen vom Dezember 2015 gelang dem Front National landesweit ein Durchbruch. Die Rechtspopulisten um Marine Le Pen wurden stärkste Kraft und konnten bei der Stichwahl hoffen, in wenigstens drei Großregionen die Regionalregierung zu stellen. Insbesondere in Nordfrankreich sowie im Süden, aber auch in Elsass-Lothringen überflügelten sie die demokrati­ schen Parteien.31 Nur durch den Rückzug der linken Listen im Norden sowie am östlichen Mittelmeersaum sowie von Stimmübertragungen demokratisch einge­ stellter Wähler in den übrigen Großregionen auf eine rechte oder linke Liste am 13. Dezember konnte ein » Durchmarsch « der Rechtspopulisten verhindert wer­ den. Mit 6,8 Millionen Wählerstimmen (= 27,87 Prozent) und insgesamt 358 Re­ gionalratsmandaten unterstrich der Front National seine Verankerung in mittler­ weile allen Bevölkerungsschichten; 789 Sitze fielen an die Republikaner und 551 an die Linke. Diese » Nebenwahlen «, die letzten vor den Präsidentschaftswahlen im Früh­ jahr 2017, galten als wichtiges Stimmungsbarometer für die Regierungspolitik. Die regierenden Sozialisten wurden hart abgestraft. Aber auch für Sarkozys Republi­ kaner war der relative Erfolg kein » Sieg «, denn nur selten lag das » rechte Ge­ wicht « mit fast 10 Millionen Stimmen (= 40,67 Prozent) so niedrig. Nach mehr als drei Jahrzehnten der Dezentralisierung erscheint eine positive Bi­ lanz angebracht, wobei jedoch Defizite und Fehlentwicklungen nicht zu überse­ hen sind. Ein Hauptmangel besteht darin, dass der Einfluss der nationalen Eliten kaum verringert und der Pariser Zentralismus nur geringfügig abgebaut wurde. Verkehrsmäßig wie politisch führen fast alle Wege weiterhin nach Paris. Noch sind die Kompetenzen der Gebietskörperschaften vergleichsweise gering; ent­ sprechend bescheiden ist ihre Finanzausstattung. Die Bürokratie ist nach wie vor schwerfällig, wie ein Blick auf die Kompetenzstreitigkeiten verschiedener staatli­ cher Institutionen z. B. bei Investitionsvorhaben zeigt.

Die Regionen 307

Kritikwürdig erscheint wegen der hohen Mindestbeteiligung schließlich die nur begrenzte Möglichkeit politischer Bürgerpartizipation in der Kommunal- und Regionalpolitik, so dass die » außerordentliche Kraft beharrender Strukturen in der französischen Gesellschaftsformation «32 immer noch eine weitergehende Po­ litik der Regionalisierung zu einem guten Teil zu blockieren vermag. Hinzu kom­ men Überschneidungen hinsichtlich der Zuständigkeitsbereiche der einzelnen Gebietskörperschaften und eine ständige Erhöhung lokaler bzw. regionaler Ab­ gaben. Trotz der unbestreitbaren Mängel und Rückschläge sind aber die Erfolge und Fortschritte, die den Dezentralisierungsgesetzen zu verdanken sind, nicht zu übersehen. Am wichtigsten dürfte die Beendigung des Prozesses der » inneren Ko­ lonialisierung «33 sein. Den jahrzehntelangen Wünschen der Regionen nach größerer kultureller Ei­ genständigkeit wurde in einem für französische Verhältnisse erstaunlichen Maße Rechnung getragen – auch eingedenk der Tatsache, dass der » jakobinische Zen­ tralstaat « auf die Forderung nach kultureller und sprachlicher Selbstbestimmung und überhaupt nach einer Aufwertung der traditionellen Kulturen erst in Ansät­ zen eingegangen ist. Seit der Verfassungsänderung vom 23. Juli 2008 legt Artikel 75-1 fest, dass » die Regionalsprachen zum kulturellen Erbe Frankreichs « zählen. Die Förderung von Museen, Bibliotheken, Archiven, ebenso der (Aus-)Bau von Sportanlagen und Freizeiteinrichtungen haben zweifellos das Bild von der » Désert français «, der » französischen Wüste «, obsolet werden lassen. Wie sehr sich die regionalen Kulturlandschaften belebten, zeigen die zahlreichen neuge­ gründeten Museen wie beispielsweise die Dependance des Louvre in Lens, das Centre Pompidou in Metz sowie die regionalen Theaterfestivals besonders wäh­ rend der Sommermonate. Auf europäischer Ebene wurde mit dem Gesetz vom 4. Februar 1995 den De­ partements und Regionen das Recht zugestanden, im Rahmen ihrer Kompeten­ zen Abkommen mit benachbarten ausländischen Staaten bzw. Gebietskörper­ schaften zu schließen. Mehrere Befragungen in den vergangenen Jahrzehnten belegen, dass weit über die Hälfte der befragten Franzosen » ihre « Region positiv einschätzen; für die Zu­ kunft wünschen sie sich eine noch größere Bedeutung vor allem auf dem Gebiet der Wirtschaftsförderung.34 Aber auch ihren Gemeinden fühlen sich die Bürger sehr verbunden, selbst wenn diese häufig auch nur Mini-Gemeinden sind. Die durchschnittliche Gemeindegröße liegt bei 1 750 Bewohnern. Das (noch) dichte örtliche Angebot an staatlichen Einrichtungen, der kurze » Weg « zum Bürger­ meister und zur Gemeindeverwaltung sind neben den Vorteilen lokaler Demo­ kratie Ausdruck einer engen Ortsverbundenheit. Premierminister Manuel Valls

308

Kommunal- und Regionalpolitik

hatte zu Beginn seiner Amtszeit beabsichtigt, im Rahmen einer umfassenden Ge­ bietsreform bis 2021 die Departements abzuschaffen und damit Verwaltungspro­ zesse zu beschleunigen. Das von den Franzosen beklagte » millefeuille adminis­ tratif «, das » Blätterteig-Cremeschnittchen der Verwaltung «, sollte um eine Ebene reduziert werden, um deutliche Einsparungen in der schwerfälligen Verwaltung zu ermöglichen. Heftige Widerstände lokaler Parlamentarier, die ihre Pfründe schwinden sahen, vereitelten aber die bahnbrechende Reform. Staatspräsident Hollande ließ es bei der Schaffung der Großregionen bewenden. Vincent Hoffmann-Martinot gelangt zehn Jahre nach einer eher kritischen Be­ wertung der Dezentralisierung zu einer positiven Einschätzung.35 Der Zentral­ staat verhalte sich kooperativer und partnerschaftlicher; auch delegiere er Auf­ gaben und konzentriere sich auf übergreifende Steuerungsfunktionen. Negativ merkt er aber auch die Zersplitterung von Entscheidungsprozessen auf vier Ebe­ nen an, zu denen noch die europäische tritt, sowie die unzureichende Finanzaus­ stattung. Der Staat überträgt den Gebietskörperschaften immer neue Aufgaben­ bereiche, ohne gleichzeitig die dafür erforderlichen Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. Es bleibt abzuwarten, ob die Schaffung der Großregionen, deren Präsi­ denten und Parlamente erheblich an politischen Gewicht gewinnen dürften, dies­ bezüglich einen tiefgreifenden Wandel bewirken werden.

15

Wirtschaftspolitik

15.1 Grunddaten und strukturelle Probleme der französischen Wirtschaft Nach einer Aufstellung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Juli 20131 be­ fanden sich unter den 80 stärksten Industriekonzernen der Welt vier französi­ sche Firmen, wobei die größte, der Mineralölkonzern Total SA, auf Platz 35 zu finden war. Deutlich besser schnitten die französischen Großbetriebe im europä­ ischen Vergleich ab. So gehörten 24 französische zu den 100 führenden europä­ ischen Unternehmen. Bei den europäischen Kreditinstituten zählen fünf zu Eu­ ropas bedeutendsten Banken. Wird die Präsenz in einer Metropole und ihrem Umfeld als überaus wichtiger Standortvorteil bewertet, dann befindet sich Frank­ reich in einer ausgesprochen günstigen Situation: Die Tatsache, dass ein Drittel der hundert größten französischen Unternehmen eine herausragende » Position « im Großraum Paris einnimmt, beschert in diesem Bereich Frankreich einen euro­ päischen Spitzenplatz. Die » Angebotspalette « dieser Spitzenunternehmen reicht von der Mineral­ ölverarbeitung (Total SA) über Autos (Peugeot-Citroën und Renault), Baustoffe (Compagnie de Saint-Gobin), die Luxusgüterkonzerne LVMH, Hermès und Ke­ ring bis hin zum Medien- und Dienstleistungskonzern Vivendi Universal (siehe Tabelle 9). Blickt man auf Europa, so werden die führenden französischen Konzerne auf der internationalen Rangliste durch Unternehmen aus den Bereichen Handel (u. a. Carrefour, Auchan und Leclerc), Versicherungen (AXA und CNP Assurances), In­ dustrie (u. a. der Pharmakonzern Sanofi-Aventis und der Bauriese Bouygues) so­ wie Dienstleistungen (Electricité de France und GdF Suez [Energie, Wasser und Entsorgung]) ergänzt. Michelin zählt zu den drei größten Reifenherstellern der Welt. Der Hersteller 309 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 U. Kempf, Das politische System Frankreichs, DOI 10.1007/978-3-658-08208-6_15

310 Wirtschaftspolitik

Gaz de France-Suez

219 300

Peugeot-Citroën

207 300

Saint-Gobain

194 400

Vinci

193 000

Electricité de France

154 700

Renault

127 100

Sanofi-Aventis

112 000

Bouygues

133 000

Total

97 100

Airbus

59 000

Tabelle 9  Die größten Industrieunternehmen Frankreichs

Quelle: F. A. Z. vom 3. 7. 2013, S. 4

europäischer Großraumflugzeuge, Airbus mit Hauptsitz in Toulouse, überflügelte kurzzeitig den einst größten Flugzeugkonstrukteur der Welt, Boeing.2 Zusätzlich belegen weitere Wirtschaftsdaten, wie sich die Rahmenbedingun­ gen für die französische Industrie seit dem zweiten Erdölschock Ende der siebzi­ ger Jahre und nach dem kurzen sozialistischen » Abenteuer « in den ersten Amts­ jahren Mitterrands verbesserten. So wuchs das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den frühen neunziger Jahren in einem im gesamteuropäischen Vergleich erfreulichen Maße (abgesehen von 1993). Wegen der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise erfolgte ab 2007 jedoch ein dra­ matischer Einbruch, von dem sich Frankreich bislang nicht erholt hat. Im Jahr 2015 erhöhte sich das Bruttoinlandsprodukt nur um 0,4 Prozent, viel zu gering, um das Haushaltsdefizit von 3,9 Prozent des BIP in den kommenden Jahren unter die im Maastricht-Vertrag vereinbarte Grenze von drei Prozent zu senken.3 Bei den Inflationsraten entwickelte sich Frankreich dank der Politik des » sta­ bilen Franc « seit Anfang der 90er Jahre zum Musterland innerhalb der EG bzw. EU, so dass der lange vorherrschende Eindruck, das Land förderte seine Export­ wirtschaft bewusst mit Hilfe des » süßen Gifts « der Geldentwertung, weitgehend verblasste. Dagegen wies die Handelsbilanz wie in den Vorjahren auch im Jahr 2015 ein Defizit von 70 Milliarden Euro aus. Seinen Rang als sechstgrößte Export­ nation in der Welt nach den USA, China, Japan, Deutschland und Großbritannien konnte Frankreich jedoch behaupten, wobei insbesondere Automobile, Luxusgü­ ter, Industrieausrüstungen und Luftfahrtzeuge zu den » Exportschlagern « zählen. Trotz solcher Erfolge auf den Weltmärkten werden die strukturellen Probleme der französischen Wirtschaft besonders seit der globalen Krise immer wieder the­

Grunddaten und strukturelle Probleme der französischen Wirtschaft 311

matisiert.4 So listete der ehemalige Minister und langjährige Generalsekretär des Elysée-Palastes, Jean-Louis Bianco, folgende wirtschaftliche Defizite auf: der Nie­ dergang der Industrie und die Schwächen der Wettbewerbsfähigkeit, rückläufi­ ge Exportwirtschaft, defizitäre Handelsbilanz seit 2002, Fehlen hochwertiger Seg­ mente der Produktionspalette und zu geringe Gewinnmargen der Unternehmen, um Forschung und Entwicklung voranzutreiben. Die Steuer- und Abgabenlast für französische Unternehmen erreichte 2015 mit 44,5 Prozent des Bruttosozial­ produkts einen europäischen Spitzenwert; in Deutschland waren es 36,1 Prozent. Allein die Soziallasten beliefen sich für Unternehmen auf 16,7 Prozent des BIP.5 Folglich sind die Gewinnmargen geringer als in den Nachbarländern und verhin­ dern erforderliche Investitionen. Das größte (Langzeit-)Problem stellt jedoch die Arbeitslosigkeit dar, die seit dem Ende der 80er Jahre dramatisch angestiegen ist. Im Jahr 2015 waren über 3,5 Millionen Franzosen arbeitslos, was 10,4 Prozent aller Arbeitnehmer entspricht. Damit lag Frankreich innerhalb der Europäischen Union nach Spanien und Grie­ chenland an der Spitze. Problematisch ist der hohe Anteil der Langzeitarbeitslo­ sen. Mehr als 40 Prozent aller Arbeitssuchenden sind länger als ein Jahr ohne Be­ schäftigung. Beunruhigend ist vor allem die hohe Jugendarbeitslosigkeit. Bei der Altersgruppe der 15- bis 24-jährigen Franzosen lag diese im Jahr 2012 bei 22,9 Pro­ zent. Auch hier liegt Frankreich in der Spitzengruppe der 28 EU-Staaten. In den Problemvierteln französischer Großstädte, besonders im Departement SeineSaint-Denis liegt die Arbeitslosenquote bei jungen Personen, vor allem mit Mi­ grationshintergrund, teilweise über 40 Prozent. Landesweit hatten im Jahr 2012 fast 23 Prozent der unter 25-jährigen keine Arbeitsstelle.6 Besonders gering Qua­ lifizierte, vor allem Frauen, suchten vergeblich einen Arbeitsplatz. Auch mussten vorübergehend vier von zehn Jugendlichen mit Tätigkeiten vorlieb nehmen, die im Vergleich mit ihrer Ausbildung geringere Anforderungen stellten. 84 Prozent aller Einstellungen basierten im Jahr 2015 auf befristeten Arbeitsverträgen. Man­ che laufen nur zwei oder drei Monate. Zu den größten Hindernissen für Neuein­ stellungen zählen die gesetzlichen Schwellenwerte für Beschäftigte, ab denen die strenge 35-Stunden-Woche und der Kündigungsschutz eingehalten werden müs­ sen und der hohe Mindestlohn von 9,61 Euro (Stand 2016). Folglich lehnen mit­ telständische Unternehmen eine Mitarbeiterzahl von über 49 ab. Somit hat Frank­ reich einen gespaltenen Arbeitsmarkt: auf der einen Seite faktisch unkündbare Vollzeitbeschäftigte – außer bei Insolvenz des Unternehmens –, auf der anderen Seite die große Zahl befristet Eingestellter.7 Die im Jahr 2013 schließlich beschlossenen Arbeitsmarktreformen sehen Maß­ nahmen vor, auf betriebsbedingte wirtschaftliche Probleme der Unternehmer fle­ xibler zu reagieren als bislang. Allerdings dürften diese Vereinbarungen zwischen den Tarifpartnern wie z. B. eine einvernehmliche Auflösung eines Arbeitsverhält­

312 Wirtschaftspolitik

nisses erst langfristig Auswirkungen auf Neueinstellungen haben. Erst im März 2016 entschloss sich die Regierung zu einem Paradigmenwechsel. So sieht die weitreichendste wirtschaftspolitische Initiative der Regierung Valls leichtere Ent­ lassungen, Obergrenzen bei Abfindungen und die Möglichkeit von Mehrarbeit über die 35-Stunden-Woche hinaus ohne Lohnausgleich vor.8 Ein weiterer Negativfaktor für die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen ist der hohe Anteil der stets streikbereiten Staatsbediensteten. An den Privile­gien des aufgeblähten öffentlichen Diensts zu rühren, gilt als Sakrileg.9 Einer von fünf Beschäftigten, insgesamt 5,3 Millionen (nach Zählung unabhängiger Institute sind es sogar etwa 6,2 Millionen10), ist im » Service public « beschäftigt. Dazu gehören neben dem staatlichen Verwaltungs- und Klinikpersonal insbesondere die Elek­ trizitäts- und Gasgesellschaften, die Staatsbahnen, die Post und die Telefongesell­ schaft. Innerhalb von zwei Jahrzehnten erhöhte sich die Zahl der Mitarbeiter im staatlichen Sektor um rund 23 Prozent. Einerseits wurden zahlreiche zusätz­liche Arbeitsplätze geschaffen, so dass durch Neueinstellungen in staatlichen Behörden, bei den neu geschaffenen Regionalverwaltungen, im Erziehungs- und Sozialwe­ sen zusätzliche Arbeitsplätze ermöglicht wurden. Andererseits führten aber diese Maßnahmen zu einer Überbesetzung zahlreicher staatlicher Ämter und zu einer Erhöhung der Staatsausgaben, die nur durch neue Kredite gedeckt werden konn­ ten. Unter dem Druck der kampfbereiten Gewerkschaften wichen die Regierun­ gen stets vor selbst zaghaften Reformmaßnahmen zurück. Ein von Staatspräsi­ dent Sarkozy beschlossener Stellenabbau, indem jede zweite freiwerdende Stelle in staatlichen Einrichtungen nicht mehr besetzt wurde, wurde von der Nachfolgere­ gierung wieder » kassiert. « Hollande erhöhte die Zahl der Staatsdiener um 60 000. Für die Mehrheit der Franzosen gilt der öffentliche Dienst » als Garant für den kostengünstigen Zugang aller zu elementaren Dienstleistungen « und dar­ über hin­aus für eine wirtschaftliche Entwicklung aller, auch der ärmeren, fran­ zösischen Regionen. Generell steht der » Service public « für eine Wirtschaftsord­ nung, die » nicht alles den Marktkräften überlässt. «11 Einer nach EU-Richtlinien geforderten Öffnung der hoch verschuldeten Staatsunternehmen für private Kapi­ talgeber stehen die Gewerkschaften strikt ablehnend gegenüber. » In der Tat zeigt sich Frankreich mit zwei Gesichtern: Jenes der auf den Weltmarkt ausgerichteten Konzerne, die im Pariser Börsenindex CAC 40 und an ausländischen Börsen no­ tiert sind und ihr Heil in der internationalen Expansion suchen. Das andere Ge­ sicht scheint aus einer anderen Zeit zu stammen. Es ist jenes eines überbesetzten Staatsdienstes, dessen Gewerkschaftsvertreter selbst die geringsten Abstriche bei den zahlreichen Privilegien aufs schärfste bekämpfen. «12 Eine Folge der Verzögerung von Reformen und des Verschlankens des Staats­ dienstes sind die explodierenden Aufwendungen für Sozialtransfers und für den

Grunddaten und strukturelle Probleme der französischen Wirtschaft 313

öffentlichen Dienst. Die gesamten Sozialausgaben machen 37 Prozent des Sozial­ produktes aus – ein Spitzenwert in Europa.13 Zu den eingangs erwähnten strukturellen Problemen gehört die Größe der Be­ legschaften in den insgesamt über 3,4 Millionen französischen Betrieben. So arbei­ teten 2002 28 Prozent aller Beschäftigten (ohne Handwerk- und Agrarsektor) in Betrieben mit weniger als 20 Mitarbeitern und 24,7 Prozent in Kleinunternehmen mit 20 bis 249 Lohnempfängern. Nur 47,3 Prozent waren in Unternehmen mit 250 und mehr Arbeitnehmern angestellt. Unter diesen waren im Jahr 2004 gerade 898 Betriebe, die über 500 Personen beschäftigten. Großbetriebe mit über 10 000 Ar­ beitern und Angestellten zählte Frankreich lediglich 91 mit 3,2 Millionen Beschäf­ tigten. Diese vergleichsweise wenigen Großbetriebe von zum Teil internationaler Bedeutung erwirtschafteten fast die Hälfte des Gesamtumsatzes aller Betriebe.14 Ihnen stehen 2,3 Millionen Kleinstbetriebe (Petites et Moyennes Industries bzw. Entreprises [PMI bzw. PME]) gegenüber. Sie repräsentieren 96 Prozent aller französischen Betriebe. 2,2 Millionen von ihnen haben maximal neun Mitarbeiter. Dass das zahlenmäßige Gewicht der Kleinst- und Kleinbetriebe jedoch keine französische Spezialität ist, zeigt die seit Ende der siebziger Jahre in allen hoch­ entwickelten Industriestaaten beachtliche Zunahme der so genannten Ein-Perso­ nen-Betriebe besonders im Dienstleistungswesen sowie im Zulieferungsbereich für Industrien in der Hochtechnologie. Was Frankreich aber z. B. von Deutsch­ land unterscheidet, ist die geringe Zahl an mittelständischen Unternehmen (500 bis 2 000 Beschäftigte), die eine Schlüsselrolle in Bezug auf Arbeitsplatzbeschaf­ fung, Innovationen im Produktionsangebot und Flexibilität im Umgang mit Kun­ denwünschen besitzen. Pascal Kauffmann, Ökonomieprofessor in Bordeaux, konstatierte: » Es gibt keinen starken Mittelstand wie in Deutschland. Es fehlen vor allem größere mit­ telständische Unternehmen mit mehreren hundert Beschäftigten. [… Dies] ist eine Belastung für die französische Exportwirtschaft. «15 Beispielsweise verfügte der französische Maschinenbau- und Ausrüstungssektor in den 90er Jahren im Vergleich zu Deutschland lediglich über die Hälfte von größeren Mittelstandsbe­ trieben mit 1 000 bis 2 000 Beschäftigten.16 Fast zwangsläufig resultierte aus der Zersplitterung der französischen » Unternehmenslandschaft « eine zu geringe Ka­ pitalausstattung der Klein- und Mittelfirmen. Folglich fehlt diesen das Kapital für Forschung und Entwicklung. Auch stellt die verhältnismäßig geringe Zahl der auf dem internationalen Markt verkauften Patente kaum eine Überraschung dar – 50 Prozent weniger als Deutschland.17 Erst Anfang 2013 wurde die Mittelstandsbank Banque publique d’investissement (BIP) gegründet, die klein- und mittelgroße Betriebe mit zinsgünstigen Krediten versorgen kann. Im Frühjahr 2015 wurden neue Maßnahmen zur Gewährung von Subventionen an solche Betriebe bis zu 300 Mitarbeitern beschlossen, sofern sie

314 Wirtschaftspolitik

Neueinstellungen vornehmen. Erleichterungen für die Auflösung von Arbeitsver­ trägen wurde ebenfalls eingeführt; Gerichtsverfahren werden verkürzt und Abfin­ dungssummen deutlich vermindert. Ein weiterer Problembereich ist die Koexistenz » zweier Volkswirtschaften in einem spannungsgeladenen Nebeneinander «18, wie sie nicht zuletzt in unter­ schiedlichen, ja konträren » Unternehmensphilosophien « zum Ausdruck kommt. Idealtypisch zugespitzt handelt es sich einerseits um sehr innovative, weltweit tä­ tige Großbetriebe, deren Konzernstrategie an führenden Hochschulen Europas und der USA ausgebildete (Spitzen-)Ökonomen und Manager bestimmen, an­ dererseits um eine brüchige Infrastruktur, die sich auf Handwerk, niedrigen Ab­ satz bei hohen Gewinnspannen und das Ideal des kleinen Familienbetriebs grün­ det. Furcht vor internationalem Wettbewerb und die Abneigung oder Unfähigkeit, überfällige Modernisierungen der Produktions- und Vertriebsstrukturen vorzu­ nehmen, veranlassten die » Patrons « der traditionellen Klein- und Mittelbetriebe immer wieder, vom Staat eine Politik des Sozialprotektionismus einzufordern. Auf Auslandsaktivitäten verzichten sie meist und werden mit ihren Produkten immer weniger konkurrenzfähig gegenüber der ausländischen Konkurrenz. Insgesamt verursachten hauptsächlich diese skizzierten Ursachen – zusam­ men mit hoher Abhängigkeit des Landes von Energieeinfuhren – das Defizit der französischen Handelsbilanz. Ergab sich zuerst Mitte der 90er Jahre ein Über­ schuss, so gestaltete sich die Bilanz bereits zu Beginn des neuen Jahrhunderts wie­ der erneut defizitär. Im Jahr 2014 betrug das Außenhandelsdefizit fast 54 Milliar­ den Euro. Der Staat hat mit öffentlichen Finanzmitteln und in enger Absprache mit den Regionen seit 2005 71 » Kompetenzschwerpunkte « gebildet, mit deren Hilfe das Land langfristig dem weltweiten Wettbewerb gewachsen sein soll. Dabei wird eine enge Kooperation von Großunternehmen, mittelständischen Betrieben, Universi­ täten, Forschungseinrichtungen und Ausbildungszentren erwartet, um in Ergän­ zung schon bisher weltweit nachgefragter Produkte Zukunftstechnologien zu ent­ wickeln. Modell für diese Forschungsverbünde bzw. Cluster ist das kalifornische Silicon Valley. Der Staat unterstützt diese » Pôles de compétitivité « mit großzügi­ gen Subventionen.

15.2 Wirtschaftspolitik seit 1945 Die ökonomischen Daten zeigen, dass Frankreich heute eine der am stärksten in­ dustrialisierten Nationen ist. Betrachtern dieser Entwicklung ist es schwer vor­ stellbar, dass das Land am Ende des Zweiten Weltkriegs nur über eine beschei­ dene Industrie verfügte und eher ein Agrarstaat war. Die französische Wirtschaft

Wirtschaftspolitik seit 1945 315

hatte sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich langsamer entwickelt als die britische und die deutsche. Dies hing nicht nur mit dem Fehlen ausreichen­ der Rohstoffe zusammen, sondern auch mit mentalen Vorbehalten breiter Bevöl­ kerungskreise gegen die Schaffung von Großkonzernen, mit einer Abneigung ge­ gen Investitio­nen im Bereich der Industrie (man zog ausländische Rentenpapiere vor) und mit einer gewissen Furcht vor Wettbewerb. Ein aufgrund des schwachen Bevölkerungs­wachstums, eines relativ kleinen Binnenmarkts, der eine Massenpro­ duktion von Konsumgütern nicht gerade förderte, hoher Schutzzölle für französi­ sche Produkte sowie der Konkurrenzlosigkeit auf dem riesigen kolonialen Absatz­ markt wirkten lange Zeit retardierend. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg trat eine grundlegende Veränderung der Situation ein. Mit Hilfe mehrjähriger staatlicher Entwicklungspläne wurden zum einen die kriegsbedingten Zerstörungen besei­ tigt und zum anderen Modernisierungen einzelner Industriebranchen eingeleitet. Ein wichtiges Instrument, dessen sich der Staat beim wirtschaftlichen Struk­ turwandel bediente und das entscheidenden Anteil an der wirtschaftlichen Mo­ dernisierung hatte, war das 1946 geschaffene Planungskommissariat unter seinem ersten Kommissar Jean Monnet. Ihm ging es in dieser Wiederaufbauphase vor al­ lem darum, Vertreter verschiedener sozialer Gruppen und Interessen an einen Tisch zu bringen. Obwohl ihre Bedeutung im Laufe der Jahrzehnte schwand, be­ sitzt die » Planification « auch heute noch die Funktion der Rahmenplanung, dem­ zufolge sie für die Wirtschaft gemeinhin keine verbindlichen Ziele festlegt und die Entscheidungen der einzelnen Unternehmen nicht präjudiziert. Sie hat ledig­ lich eine aufzeigende, empfehlende, richtungsweisende Wirkung und » lockt « mit staatlichen Subventionen. Gleichzeitig profitierte Frankreich von dem Beginn eines weltweiten Wachs­ tums. Die Marshallplanhilfe und der Produktionsaufschwung infolge des KoreaKrieges trugen gleichermaßen dazu bei, dass sich in den Jahren der IV. Repu­ blik das Bruttosozialprodukt (BSP) jährlich um ca. 4,6 Prozent erhöhte. Diese Steigerungsrate wurde noch übertroffen, als die Regierung de Gaulles – nach der zeitgleichen Gründung von V. Republik und EWG – eine Politik der außenwirt­ schaftlichen Öffnung betrieb und trotz anfänglich starker Bedenken in Unterneh­ merkreisen die Industrie des Landes einem breiten, bis dahin weithin unbekann­ ten internationalen Wettbewerb aussetzte. Im Einzelnen erfolgten eine nahezu völlige Abschaffung der Einfuhrkontingente aus den OEEC-Staaten, die Aufhe­ bung der Devisenkontrollen und schließlich der Beschluss zur Konvertierbarkeit des Franc. Der Erfolg dieser neuen ökonomischen Strategie bewies das bis zum » Erdölschock « von 1973 jährliche Wachstum des BSPs um 5,5 Prozent. Innerhalb eines Zeitraums von nur etwa 15 Jahren seit Beginn der V. Republik moderni­ sierte sich Frankreich in einer Weise, für die andere Länder fast ein halbes Jahr­ hundert benötigten.19 Nachdem die Regierungen der IV. Republik mit einer ge­

316 Wirtschaftspolitik

zielten Wirtschaftspolitik den Grundstein für die Herausbildung einer modernen Industriegesellschaft gelegt hatten und den Nachholbedarf bei der Industrialisie­ rung zum großen Teil abbauen konnten, gelang es den Regierungen der sechziger Jahre, die internationale Wettbewerbsfähigkeit besonders im Rahmen der EWG zu realisieren. Damit vollzog Frankreich in nur drei Jahrzehnten den Sprung von einer überwiegend agrarischen in eine moderne Industrie- und Dienstleistungs­ gesellschaft. In der Epoche der V. Republik kamen je nach politischer Machtlage unter­ schiedliche Wirtschaftskonzepte zum Tragen. Während der Präsidentschaft de Gaulles forcierten die Regierungen in einzelnen Branchen mittels Firmenzusam­ menschlüssen die Schaffung weniger konkurrenzfähiger Großunternehmen, die zugleich französisches Prestigebedürfnis befriedigen sollten. Viele dieser Großkonzerne, wie sie besonders in den Sektoren der Luftfahrt, Erdölindustrie, Chemie, Autoproduktion, Stahlindustrie und der Computertech­ nologie geschaffen wurden, vermochten indessen die wirtschaftlichen Gewinner­ wartungen nicht zu erfüllen. Einige konnten nur mit Hilfe ständiger neuer Staats­ kredite vor dem Zusammenbruch bewahrt werden. Die Bevorzugung nationaler Prestigeobjekte (das Überschallflugzeug Concorde, Computer- und Nuklearin­ dustrie) führte selbst im Bereich der Großindustrie zu ungleichen Start- und Ent­ wicklungsbedingungen. Am meisten zahlten aber die mittelständischen Betriebe » die Zeche « für eine Konzeption, die zu ihrer Förderung und Modernisierung nur geringe Mittel bereitstellte. Die gaullistische Wirtschaftspolitik, eine Mischung aus staatlichen Eingriffen und Elementen des Wirtschaftsliberalismus mit dem erklärten Ziel, Frankreichs Ökonomie zu modernisieren und international wettbewerbsfähig zu machen, wurde auch von Staatspräsident Pompidou fortgesetzt. Ein Schwerpunkt sollte da­ bei der Ausbau so genannter strategischer Zukunftsbranchen wie z. B. der Stahl­ industrie sein. Mit neuen Herausforderungen hatte sich Präsident Giscard d’Estaing ausein­ anderzusetzen, als im Gefolge der Erdölkrise vom Herbst 1973 schwierige Anpas­ sungsprobleme zu lösen waren. Eine seit Anfang der siebziger Jahre – im Ver­ gleich zu Deutschland – relativ hohe Inflationsrate, steigende Arbeitslosenzahlen und ein Zuwachs des Außenhandelsdefizits indizierten beträchtliche Schwächen des französischen Industriesystems: Traditionell gewichtige Branchen z. B. im Konsumgüterbereich hatten immer mehr Boden gegenüber der leistungsfähigeren ausländischen Konkurrenz verloren. Veraltete Unternehmensstrukturen behin­ derten zunehmend die notwendige Modernisierung und Technisierung in vielen Sparten der Investitionsgüterindustrie, z. B. im Maschinenbau.20 Folglich muss­ ten unrentable Branchen aufgegeben werden. Dagegen wurden zukunftsträchtige Bereiche wie Transportwesen, Telekommunikation, Nuklearindustrie, Luft- und

Wirtschaftspolitik seit 1945 317

Raumfahrt sowie Datenverarbeitung gefördert, was Frankreichs Wettbewerbspo­ sition in einigen Schlüsselindustrien nachhaltig verbesserte. Parallel zu diesen industriellen Umstrukturierungsmaßnahmen bemühte sich Regierungschef Raymond Barre, Frankreichs Wirtschaftspolitik gründlich zu libe­ ralisieren, indem er in fast allen Bereichen das 1944 eingeführte Preiskontrollsys­ tem abschaffte. Damit sollten den » Kräften des Marktes « ein größerer Spielraum als bisher gegeben und die Unternehmen einem stärkeren Wettbewerb ausgesetzt werden. Nach dem Wahlsieg der Linken im Frühjahr 1981 versuchte die sozialistisch­ kommunistische Regierung ein »  arbeitnehmerfreundliches  « Wirtschaftspro­ gramm mit angebotsorientierten Maßnahmen zu realisieren. Neben die sozialpo­ litischen Maßnahmen wie Erhöhung des Mindestlohns trat die Verstaatlichung. Nach einer ersten Nationalisierungswelle zur Zeit der Volksfront 1936/37 und un­ mittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurden ab 1981 die meisten Schlüsselin­ dustrien und beinahe der ganze Finanzsektor verstaatlicht.21 Die Nationalisierun­ gen fast aller Großbetriebe und der Kredit- sowie Versicherungsinstitute sollte der Stimulierung von Wachstumsimpulsen dienen, die auf andere Industriezwei­ ge übergreifen und dort investitionsfördernd wirken sollten.22 Vorrangiges Ziel dieser ersten Phase einer » linken « keynesianischen Wirtschaftspolitik massiver staatlicher Geldausgaben war die Schaffung neuer Arbeitsplätze bzw. wenigstens die Begrenzung des weiteren Anstiegs der Arbeitslosenzahlen. Das Resultat war jedoch alles andere als zufriedenstellend, wie das bedrohli­ che Ausmaß des Staatsdefizits und das rasant wachsende Außenhandelsdefizit mit der Folge mehrerer Franc-Abwertungen zeigten. Zwischen Anspruch und Wirk­ lichkeit klaffte augenscheinlich eine beträchtliche Kluft. Am schmerzhaftesten war jedoch für die Regierung der weitere Anstieg der Arbeitslosigkeit. Vor diesem Hintergrund konnte Wirtschafts- und Finanzminister Delors seine Kollegen und besonders den Staatspräsidenten von der Notwendigkeit einer radikalen Kurs­ korrektur in der Wirtschafts- und Sozialpolitik überzeugen. Die Konsequenz war der Austeritätsplan vom März 1983 u. a. mit Lohnkürzungen sowie die Rücknah­ me einiger Wahlversprechen. Hinzu kam ein Kapazitäts- und Beschäftigungsab­ bau in Krisenbranchen wie Werften, die Stahlindustrie und der Bergbau. Letztlich war Delors’ Rosskur für die französische Wirtschaft erfolgreich: Die Inflationsra­ ten wurden ebenso unter Kontrolle gebracht wie die Defizite im Staatshaushalt und im Außenhandel. Die Unternehmen konnten dank der staatlich geförder­ ten Zurückhaltung der Tarifpartner bei Lohnerhöhungen ihre Rentabilität deut­ lich verbessern. Damit standen ihnen finanzielle Mittel zur Modernisierung ihres Produktionsapparates zur Verfügung, was wiederum ihre internationale Konkur­ renzfähigkeit deutlich verbesserte. Andererseits gelang es der neuen Politik eben­ so wenig wie vorher, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren.

318 Wirtschaftspolitik

Das Schlüsselwort der 1986 gewählten bürgerlichen Regierung hieß » Privati­ sieren « und » Dereglementieren «, was einen vollständigen Bruch mit der bisheri­ gen sozialistischen Wirtschaftspolitik bedeutete. Ferner waren eine weitere Libe­ ralisierung bei der Preisgestaltung und die Abschaffung der staatlichen Kontrol­len beabsichtigt. Mit dieser Politik sollte ein Rückzug des Staates aus den Wirtschafts­ bereichen erreichen werden, in denen es kein Monopol (z. B. Bahn und Post) gab. Die nach Mitterrands erneutem Wahlsieg 1988 gebildeten sozialistischen Min­ derheitsregierungen wandten sich von den Reprivatisierungsüberlegungen der konservativen Regierung zwar nicht vollständig ab, führten aber auch keine neuen Verstaatlichungen mehr durch. Ab Ende 1990 erlaubten sie aber wieder be­ scheidene Verkäufe staatlicher Betriebsanteile. Begünstigt durch eine gute Welt­ konjunktur, konnten die Linksregierungen teilweise auch zu einer Politik stark ausgeweiteter Staatsausgaben zurückkehren, um auf diese Weise Frankreichs » Produktionsmittel « weiter zu modernisieren und sie für den bevorstehenden Euro­päischen Binnenmarkt wettbewerbsfähig zu machen.23 Im Vorfeld der Parlamentswahlen von 1993 orientierte sich der » zum Libera­ len gewandelte Sozialist «24 Pierre Bérégovoy, seit 1988 Wirtschafts- und Finanzmi­ nister, im April 1992 zum Premierminister aufgestiegen, unbeirrt durch heftige Angriffe aus den eigenen Reihen, an einer Politik der Währungsstabilität und einer Art sozialer Marktwirtschaft auf der Grundlage eines » Minimums an Staat «. Die­ se Bemühungen blieben insofern nicht erfolglos: Die Inflationsrate sank 1992 auf einen niedrigen Wert, und durch maßvolle Lohnabschlüsse verbesserten sich die Verkaufschancen französischer Produkte auf dem Weltmarkt deutlich. Bérégovoys bürgerliche Nachfolger Balladur (1993 – 1995), Juppé (1995 – 1997) sowie später Raffarin (2002 – 2005), aber auch die Links-Regierung unter Jospin (1997 – 2002) setzten diese Politik – unterstützt von den Staatspräsidenten – weit­ gehend fort, modifizierten sie jedoch durch eine Neuauflage des Reprivatisie­ rungsprogramms von 1986. So wurden in den folgenden zwanzig Jahren die meis­ ten der staatlichen Großunternehmen und Banken reprivatisiert. Die Privatisierungswellen seit 1986 werden mittlerweile nicht mehr kontro­ vers diskutiert; auch führten sie zu keinen nennenswerten Protestaktionen. Be­ legschaften und Öffentlichkeit haben akzeptiert, dass sich die Staatsbetriebe (so­ fern sie kein Monopol besitzen) der internationalen Konkurrenz und privaten Anlegern öffnen müssen, um die für Modernisierungen erforderlichen Mittel zu erhalten. Insofern veränderte sich seit den neunziger Jahren die französische Unternehmenslandschaft grundlegend. Auch die Schaffung des europäischen Bin­ nenmarktes ab Januar 1993 führte zu Umstrukturierungen und zu einer Neuord­ nung der französischen Wirtschaft. Die Investitionstätigkeit ausländischer Kapitalgeber, insbesondere anglo-ame­ rikanische Pensionsfonds, stieg gleichfalls stark an. So waren im Jahr 2015 50 Pro­

Landwirtschaft 319

Tabelle 10  Anteil der einzelnen Sektoren am BIP (in %)

Primärer Sektor

1949

1959

1973

1988

2012

26,0

25,2

15,8

10,7

5,1

Sekundärer Sektor

46,1

47,8

38,4

29,6

16

Tertiärer Sektor

27,9

27,0

45,8

59,7

78,9

Quelle: Tableaux de l’Economie Française 1995 – 1996, S. 123, 2005 – 2006, S. 144 ff. und 2012, S. 144 ff.

zent der Großunternehmen des Börsenindex CAC 40 in ausländischem Besitz. Der Großteil des ausländischen Kapitals wurde in der Transport- und Logistik­ branche, in der Automobilproduktion sowie in der Elektroindustrie investiert. Deutschland war nach den USA die » Nummer zwei « bei den Auslandsinvesti­ tionen. Zwölf Prozent der französischen Beschäftigten arbeiten bei ausländi­ schen Unternehmen. Bevorzugte Gebiete sind, neben der Hauptstadtregion Ilede-France, Rhône-Alpes, aber auch Lothringen und Midi Pyrénées.25 Nichtsdestotrotz darf die Tatsache nicht übersehen werden, dass nach wie vor ein Großteil der französischen Unternehmen von Familien kontrolliert wird. Dass der Staat auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht gewillt ist, auf in­ terventionistische Eingriffe zu verzichten, zeigten immer wieder Beispiele, wie Regierungen starken Einfluss auf Firmenzusammenschlüsse nahmen. So wur­ de – ganz im Sinne eines französischen » Wirtschaftspatriotismus « – der Versuch einer feindlichen Übernahme des Nahrungsmittelherstellers Danone durch den amerikanischen PepsiCo verhindert. Andererseits kauften französische Konzer­ ne mit staatlichem Wohlwollen massiv im benachbarten Ausland Unternehmen u. a. durch aggressive Besitzübernahmen. Das Beispiel des Pharmakonzerns Sa­ nofi-Aventis sorgte für entsprechende negative Schlagzeilen in Deutschland. 2003 dagegen hatte die französische Regierung die Übernahme der Großturbinenspar­ te von Alstom durch den Siemens-Konzern verhindert und für erhebliche diplo­ matische Verstimmung zwischen Berlin und Paris gesorgt.

15.3 Landwirtschaft Nur wenige Jahrzehnte benötigte die französische Landwirtschaft, um die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs konservierten Strukturen und Arbeitsmethoden des ausgehenden 19. Jahrhunderts so radikal zu verändern, dass die frühere Unter­ versorgung der eigenen Bevölkerung durch eine hohe Überproduktion bei den wichtigsten Agrargütern abgelöst wurde. Anfang des 21. Jahrhunderts war das

320 Wirtschaftspolitik

Land nicht nur der größte Nahrungsmittelproduzent innerhalb der Europäischen Union, sondern – nach den USA – auch der zweitgrößte Agrarexporteur der Welt. Für die Resonanz im Zuge der von der Gemeinsamen Europäischen Agrar­ politik geförderten Modernisierung der Landwirtschaft stellt die Entwicklung der Beschäftigungsverhältnisse einen besonders signifikanten Indikator dar. Arbeite­ ten 1975 noch über 2 Millionen Menschen in der Landwirtschaft, so sank ihre Zahl 40 Jahre später auf die Hälfte. Allein in dem kurzen Zeitraum von 1950 bis 1992 ga­ ben 4,3 Millionen Bauern und Landarbeiter ihren Beruf auf. Im Jahr 2012 waren 5,1 Prozent aller Erwerbstätigen in der Landwirtschaft, Fischerei und Nahrungs­ mittelindustrie beschäftigt. Folglich ist der gesamte Agrarbereich nach wie vor ein sehr starker Wirtschaftszweig. Fast 500 000 Höfe mit einer Größe von über 50 ha erwirtschafteten weit über die Hälfte des Umsatzes der französischen Landwirtschaft. Dabei hat sich die Struktur der Höfe verändert: Nur noch ein Drittel aller Agrarbetriebe bearbeiten eine Fläche von weniger als zehn Hektar; einer von zehn bewirtschaftet eine Flä­ che von über 143 Hektar. Mittelgroße Agrarbetriebe findet man vornehmlich in Westfrankreich, während die großen Güter mit über 50 Hektar vor allem in Mittel­ frankreich sowie im Norden und Osten des Pariser Beckens zu finden sind. Die durchschnittliche Betriebsgröße betrug 2007 54 Hektar. Mittlere und Groß­ betriebe erwirtschaften 87 Prozent der agrarischen Wertschöpfung. Wie in ande­ ren EU-Ländern geben zunehmend Kleinbauern ihren Betrieb auf, während die Zahl der Großhöfe stabil bleibt und in einigen Regionen sich sogar ver­größert.26 Erstere, für die kaum Chancen auf eine Modernisierung und damit eine we­ sentliche Verbesserung der Einkommen ihrer Besitzer bestehen, liegen haupt­ sächlich südlich der Linie Bordeaux – Genf. Aufgrund ihrer geringen Größe, der Bodenbeschaffenheit sowie des relativ hohen Alters der dort Arbeitenden schei­ det eine Modernisierung und damit eine wesentliche Verbesserung ihrer Ein­ kommen aus. Krasse Einkommensdisparitäten sind wegen der Zersplitterung der Landwirtschaft zwischen Groß- und Kleinbauern die Folge. Eine (fiktive) Karte der Einkommensverhältnisse des ländlichen Frankreichs lässt drei unterschied­ liche » Gewinnzonen « erkennen: den relativ reichen Nord-Nord-Osten (grob ge­ sagt: die Gebiete nördlich der Loire sowie das Elsass), die wohlhabenden Weinan­ baugebiete am Atlantik (besonders um Bordeaux) und den armen Süd-Süd-Osten (ohne das Rhône-Tal). Innerhalb der Europäischen Union stand Frankreichs Agrarwirtschaft im Jah­ re 2011 mit einer Wertschöpfung von 70,4 Milliarden Euro an der Spitze der 27 EU-Länder. Das wiedervereinigte Deutschland folgte an vierter Stelle. Bei Getrei­ deprodukten, Ölfrüchten, Rindern, Milch und Geflügel nahm Frankreich jeweils den ersten Platz ein; bei Schweinefleisch lag es hinter Deutschland auf dem zwei­ ten und bei Früchten bzw. Gemüse auf dem dritten Platz.

Landwirtschaft 321

Solche Produktionserfolge sind nicht nur aus der Zusammenlegung und da­ mit Vergrößerung der Anbauflächen zu erklären, sondern sie resultieren vor allem auch aus einem intensiveren Einsatz von Kunstdüngern, aus verbesserten Anbauund Aufzuchtmethoden sowie einer gewaltigen Mechanisierung der landwirt­ schaftlichen Betriebsmittel. Trotz dieser zahlenmäßigen Fortschritte ist das » Gewicht « der Landwirtschaft im Rahmen des französischen BIPs allerdings mit 2,9 Prozent im Jahre 2011 gegen­ über früheren Zeitabschnitten zurückgegangen.27 Zu einem » Prunkstück « der französischen Wirtschaft ist in den letzten Jahr­ zehnten Frankreichs Nahrungsmittelindustrie mit 513 000 Beschäftigten geworden. Im Jahr 2009 trug sie mit einem Umsatz von 158 Milliarden Euro und einem Ex­ portvolumen von fast 37 Milliarden Euro maßgeblich zur Gesamtproduk­tion bei. In ihrem Angebot spezialisierten sich die wenigen großen und zahlreichen kleinen bzw. mittleren Nahrungsmittelunternehmen zunehmend auf hochwertige Produkte, denen ein deutlich gewachsener Auslandsmarkt offensteht. Frankreich ist nach den USA der weltgrößte Agrarexporteur. Im Jahre 2012 er­ zielte das Land mit » seinem grünen Erdöl « (so der einstige Staatspräsident Giscard d’Estaing) einen Bilanzüberschuss von 11,9 Milliarden Euro.28 Drei Viertel der Agrarexporte gehen in die Länder der Europäischen Union (hauptsächlich nach Deutschland und Italien), die ebenfalls zwei Drittel der französischen Im­ porte (vor allem aus den Niederlanden) liefern. Wichtigste Ausfuhrprodukte sind Wein, Getreide, Milch- und Fleischprodukte; dagegen zählen Früchte, Gemüse und Fisch zu den Haupteinfuhrgütern. Problematisch ist die Entvölkerung weiter Landstriche, so dass für die Ge­ birgsregionen Pyrenäen und Zentralmassiv, ferner für Korsika, die » innere « Bre­ tagne, die Auvergne sowie das Limousin geradezu die Gefahr eines demographi­ schen Zusammenbruchs heraufbeschworen wurde. Andererseits verzeichneten andere Gegenden – wie z. B. die Küstenregionen am Atlantik und am Mittelmeer, das Loire-Tal und der Unterlauf der Seine – hohe Wanderungsgewinne, weil sie zahlreiche, in der Regel verkehrsmäßig gut erreichbare Arbeitsplätze sowie einen hohen Freizeitwert zu bieten haben und das nähere Umfeld der Metropolen viel­ fach auch den Genuss der » Ruhe des Landlebens « ermöglicht. Nicht zuletzt der Zuzug von Ruheständlern sowie Zweitwohnungsbesitzern aus Nordeuropa und aus den nordfranzösischen Großstädten, besonders aus der Region Ile-de-France, haben zu einer Belebung des ländlichen Raums in klimatisch attraktiven Gebie­ ten beigetragen. Um die Landflucht einzudämmen und jungen Landwirten interessante wirt­ schaftliche Perspektiven zu geben, schuf die Regierung 2005 die » Pôles d’excellence rurale «. 380 Agrarverbünde bzw. Cluster sollen 40 000 Arbeitsplätze im ländli­ chen Raum durch verbesserte Anbaumethoden, Spezialisierung u. a. auf Bio-Pro­

322 Wirtschaftspolitik

dukte, durch Produktionssteigerung hochwertiger Produkte und durch eine Ver­ edelung von Agrarerzeugnissen sichern. Die Entwicklung der französischen Landwirtschaft ist aufs engste mit der 1962 geschaffenen Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik verbunden. Preisgaran­ tien für landwirtschaftliche Produkte und ihre gesicherte Abnahme in einem gro­ ßen Verbrauchermarkt öffneten einer vor internationaler Konkurrenz geschützten Landwirtschaft sichere Einnahmequellen. Zeigten die europäischen Partner bis­ weilen keine allzu große Neigung, den französischen Wünschen nachzukommen, dann verlieh de Gaulle diesen notfalls mit Hilfe einer Politik des » leeren Stuhls « deutlichen Nachdruck. Diese Methode erwies sich wiederholt als probates Mit­ tel, den französischen Landwirten hohe Brüsseler Subventionen verfügbar zu ma­ chen. Auch wenn spätere Regierungen gewöhnlich diplomatischere Wege der In­ teressenvertretung wählten, versiegte der Strom der finanziellen Beihilfen nach Frankreich keineswegs. So erhielt Frankreich von den im Jahr 2014 im EU-Haus­ halt für die Landwirtschaft vorgesehenen 58 Milliarden Euro 16,6 Prozent und lag damit einsam an der Spitze. Ungeachtet der hohen EU- und nationalen Subventionen demonstrieren regel­ mäßig radikale Gruppen von Landwirten – vor allem in der Bretagne – gegen zu geringe Preise, zu hohe Importquoten besonders von Milch und Schweinefleisch und vermeintliche Wettbewerbsverzerrungen. Diese teilweise gewalttätigen Proteste hängen auch mit gesunkenen Einkom­ men zusammen. Trotz Wachstum hat Frankreichs Landwirtschaft Exportanteile auf dem Weltmarkt eingebüßt. Zu hohe Arbeits- und Produktionskosten, zu ge­ ringe Investitionen in Bioenergie und Förderung von nachwachsenden Rohstof­ fen und – in den Augen der Landwirte – eine zu hohe Steuerlast verhindern längst überfällige Modernisierungen und Anpassungen.

15.4 Industrie Frankreich ist weltweit die sechststärkte Wirtschaftsmacht. In Europa ist es nach Deutschland das wichtigste Industrieland. Es nimmt den sechsten Rang unter den Exportnationen der Welt ein. Der Anteil der französischen Industrie am Brutto­ sozialprodukt hat einen Anteil von 19 Prozent. Dieser Umstand ist umso erstaunlicher, als Frankreich ein an Bodenschätzen armes Land ist und z. B. – im Unterschied zu Deutschland – seine Kohlevorkom­ men gering sowie schlecht und die lothringischen Eisenerzlager von minderwer­ tiger Qualität waren. Die Bedarfsdeckung erfolgt mittlerweile durch Käufe haupt­ sächlich in Übersee. 2004 wurde die letzte französische Kohlenzeche geschlossen. Von größerer Bedeutung sind allein die für die Aluminiumherstellung wich­ tigen Bauxitlager.

Industrie 323

Tabelle 11  Die Industriesektoren nach Branchengruppen 2004 (Betriebe mit mehr als 20 Beschäftigten) Branchengruppe Verbrauchsgüterindustrien Automobilindustrie Investitionsgüter-Industrien Grundstoff-Industrien*

Unternehmen

Beschäftigte

4 918

550 500

567

273 500

5 269

674 600

10 804

1 244 700

* u. a. Textil, Chemie, Metallverarbeitung, Holz und Papierherstellung Quelle: Ministère de l’Economie: L’Industrie en quelques chiffres 2003/2004, S. 5

Die Abhängigkeit von Erdölimporten verringerte ein seit Mitte der siebziger Jah­ re umfassend realisiertes Ausbauprogramm im Kernkraftwerkssektor. Als Ergeb­ nis erzeugten im Jahr 2011 mehr als ein Dutzend Kernkraftanlagen (mit 58 Reak­ toren oder Reaktorblöcken) 85 Prozent der elektrischen Energie gegenüber nur neun Prozent im Jahr 1973. So konnte der Erdölanteil bei der Stromerzeugung hal­ biert werden. Allerdings regt sich auch in Frankreich zunehmend Widerstand ge­ gen veraltete Atomblöcke wie in Fessenheim am Rhein. Sollte ein Kernkraftwerk in einer industriearmen Region geschlossen werden, würde dies den wirtschaft­ lichen » Bankrott « dieses Gebietes bedeuten. Folglich versuchen alle Regierungen trotz nationaler und internationaler Proteste, eine Schließung immer wieder zu verzögern. Ungeachtet der eindrucksvollen Platzierung im internationalen ökonomischen » Konzert « erlitt die französische Industrie – wie andere Industriestaaten gleich­ falls – zugleich einen merklichen Bedeutungsverlust im eigenen Land. Seit 2009 haben mehr als 1 000 Fabriken geschlossen, so etwa das Peugeot-Werk in Aulnaysous-Bois im krisengeschüttelten Departement Seine-Saint-Denis, die Produk­ tionsstätte des Reifenherstellers Goodyear in Amiens sowie zahlreiche kleine und mittelständische Unternehmen. Allein zwischen 2001 und 2015 fiel fast eine Mil­ lion Arbeitsplätze in der Industrie fort.29 Nicht zu übersehen ist ein Rückgang der Beschäftigungszahlen. Seit dem his­ torischen Höhepunkt im Jahr 1974 mit mehr als 5,3 Millionen Beschäftigten hat die Industrie mehr als 40 Prozent ihrer Arbeitsplätze eingebüßt. Im Jahr 2008 wurde erstmals die Marke von drei Millionen unterschritten.30 Im Jahr 2014 wa­ ren nur elf Prozent der Arbeitnehmer im verarbeitenden Gewerbe tätig. Die Wert­ schöpfung in diesem Sektor ging auf zwölf Prozent des BSP zurück.31 Zurückzuführen ist dies u. a. auf die Auslagerung von Aktivitäten. So lassen

324 Wirtschaftspolitik

Automobilwerke – wie ihre europäischen Kollegen – ihre Kleinwagen verstärkt im kostengünstigeren europäischen Ausland produzieren. Der Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland liegt nun darin, dass deutsche Firmen eine Teilaus­ lagerung lohnintensiver Teile in benachbarte mittel- und osteuropäische Länder vornehmen und die hochwertigen Teile der Wertschöpfung in Deutschland ver­ bleiben. Die ausländischen Werke sind Zulieferbetriebe. Die französischen Un­ ternehmen dagegen » [stecken] ihre Auslandsinvestitionen in den Kauf von Unter­ nehmen der gleichen Branche. In dieser Unfähigkeit, Delokalisierungen gezielt zur Stärke des › Made in France ‹ einzusetzen, liegt eine der Ursachen der oft ent­ täuschenden Ergebnisse der französischen Exportwirtschaft «, so Pascal Kauffmann.32 Renault produziert beispielsweise in Rumänien das kostengünstige Auto Dacia und macht damit den eigenen Marken Konkurrenz. Obwohl der Anteil des sekundären Sektors am Bruttosozialprodukt Anlass zur Sorge ist, verfügt das Land ungebrochen über eine Reihe von industriellen » Trümpfen «: seine zentrale Lage in Europa zu den wichtigsten Industriestandor­ ten, seine hohe Geburtenrate, gut ausgebildete Arbeitnehmer, dank der Kernkraft­ werke eine preisgünstige Energie, eine hohe Arbeitsproduktivität und ein hohes Maß an Lebensqualität. Während das Schwergewicht der deutschen Industrie hauptsächlich auf vier Säulen ruht, nämlich auf der Grundstoff‌industrie, deren Umsätze beispielswei­ se viermal größer sind als die der französischen, dem Maschinenbau, der Elektround Elektronikindustrie sowie derjenigen von Präzisionsinstrumenten, erreicht die französische letztlich nur im Bereich Fahrzeugbau annähernd die gleiche Grö­ ße wie die deutsche.33 Innerhalb der Industriezweige34 nehmen in Frankreich die Investitionsgüter wie Maschinenbau-, Schiffs- und Flugzeugbau, Elektro- und Fahrzeugindustrie, Pharmaprodukte eine führende Stellung ein. Hier ist über ein Drittel der franzö­ sischen Industriearbeiternehmer beschäftigt. Im Vergleich zu traditionellen Sek­ toren wie der Grundstoff- und der Konsumgüterindustrie konnten sich die In­ vestitionsgüterbranchen dank einer schon Ende der vierziger Jahre eingeleiteten Modernisierungspolitik durchsetzen, so dass gegenwärtig viele französische Un­ ternehmen auf dem Weltmarkt eine Spitzenposition innehaben. Ihre internationa­ le Wettbewerbsfähigkeit zeigt sich u. a. daran, dass sie maßgeblich zu den » Moto­ ren « der französischen Exportwirtschaft zählen und ihr Ausfuhranteil seit Anfang der neunziger Jahre über dem Importbezug dieser Produkte liegt. Im Einzelnen verdankt Frankreich seine internationale ökonomische Reputa­ tion vornehmlich folgenden Industriezweigen: ■■ der Automobilindustrie ■■ der Raumfahrttechnik sowie dem Flugzeugbau

Industrie 325

Karte 2  Standorte ausgewählter Industriebranchen

Quelle: Alfred Pletsch: Frankreich, Wiesbaden 2. Aufl. 2003, S. 243

■■ der Produktion von Eisenbahnmaterialien, wo besonders die über 500 km schnellen TGV-Züge hohe Prestigewerte erzielten ■■ der Hochtechnologiebereich mit seinen Sparten elektrotechnische und elektro­ nische Ausrüstungsgüter, Telekommunikation, Radartechnologie, Präzisions­ instrumente und Pharmaindustrie. Die Fusion der Pharmakonzerne SanofiSythélabo mit der deutsch-französischen Aventis schuf 2004 den weltweit drittgrößten Pharmakonzern ■■ dem Kernkraftwerkbau ■■ dem Bau von Maschinen, Motoren, Turbinen in Konkurrenz zu dem in diesen Sparten den Weltmarkt weithin dominierenden Deutschland ■■ dem (einst stärkeren) Schiff‌bau, der sich mittlerweile nur noch mit der Ferti­ gung von Spezialschiffen gegenüber der Konkurrenz aus Fernost in bescheide­ nem Maße zu behaupten weiß ■■ einen Sonderfall innerhalb hochmoderner Industriegüter stellen französische Rüstungsprodukte, besonders Kampf‌flugzeuge und U-Boote, dar.

326 Wirtschaftspolitik

Grundlage der mit durchaus problematischen Begleiterscheinungen verbunde­ nen Weltmarkttauglichkeit verschiedener französischer Industriesektoren ist eine seit der Präsidentschaft de Gaulles vom Staat geförderte Konzentrationspolitik. So erlangte beispielsweise die Stahlindustrie ihren einstigen Spitzenplatz als größter europäischer Produzent allein durch eine mit zahlreichen Betriebsschließungen erkaufte rigorose Modernisierung. Seit Ende der siebziger Jahre bis Anfang 1990 wurden insgesamt 125 000 Arbeitsplätze abgebaut, was für die betroffenen Regio­ nen, besonders Lothringen, gravierende wirtschaftliche und soziale Folgen hatte. Der nunmehr einzige französische Stahlproduzent, der luxemburgische Konzern Arcelor-Mittal mit seinen zahlreichen weltweiten Standorten der größte Stahlpro­ duzent der Welt, verlegte seine Produktionsstätten aus Kostengründen zuneh­ mend an die Küste (u. a. nach Dünkirchen sowie nach Fos-sur-Mer bei Marseille), wo das importierte Erz kostengünstiger als an den traditionellen Standorten ver­ arbeitet werden kann. Nur unter Androhung einer Verstaatlichung der französi­ schen Konzernorte gelang es der Regierung Ende 2012, die Schließung des Hoch­ ofens im lothringischen Florange zu verhindern. Einen ähnlichen Konzentrationsprozess durchliefen weitere wichtigste Sekto­ ren (Fahrzeugbau, Luft- und Raumfahrt, Elektroindustrie und Elektronik), die dank umfassender staatlicher finanzieller Hilfen ebenfalls von wenigen Großun­ ternehmen beherrscht werden. So sind in den » vier Großen « der jeweiligen Bran­ chen zwischen einem Viertel (z. B. im Elektronikbereich) und mehr als der Hälfte (Luft- und Raumfahrtindustrie) der Arbeitnehmer beschäftigt, und sie erreichen durchschnittlich 50 Prozent des jeweiligen Branchenumsatzes.35 Die Folge dieses Konzentrationsprozesses war die Vernichtung zahlreicher Klein- und Mittelunter­ nehmen. Trotz dieser ökonomischen und technologischen » Superstruktur « ist das fran­ zösische Industriesystem nach wie vor – wie schon angemerkt – von den so ge­ nannten Petites et Moyennes Industries (PMI), Betrieben mit 20 bis 499 Beschäf­ tigten, geprägt. Ihr Anteil am Gesamtumsatz der französischen Industrie, am Export sowie an Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen ist relativ beschei­ den.36 Die Hälfte aller französischen Unternehmen exportiert nur in ein Land, und » 40 Prozent sind nur auf ein Produkt positioniert «.37 Dagegen tätigen die 100 größten Unternehmen 70 Prozent aller Exporte. Traditionelle Produktionssparten (Textil, Bekleidung, Möbel, Druckwesen, Haushaltswaren, einfache Verbrauchsgütern aus Metall) vermögen sich kaum dem internationalen Konkurrenzdruck, vor allem aus Billiglohnländern, zu er­ wehren. Fehlende Modernisierungsinvestitionen, zu wenig technisch anspruchs­ volle Produkte, vernachlässigte Entwicklungen neuer Produktions- und Vertriebs­ methoden, ein verbreiteter Verzicht auf die Erschließung von Auslandsmärkten,

Industrie 327

fehlende Flexibilität im Umgang mit in- und ausländischen Kunden führten zu Produk­tionseinbrüchen und schließlich zu Standortschließungen. Die Insolvenz des Küchengeräteherstellers Moulinex ist dafür ein Beispiel. » Paris und die französische Wüste « – dieser Buchtitel aus dem Jahre 1947 hat auch um die Jahrhundertwende nur wenig von seiner einstigen provokati­ ven Aussage verloren, wenngleich die Unterschiede nicht mehr ganz so groß sind wie kurz nach Kriegsende. Dennoch besitzt Paris auch im 21. Jahrhundert immer noch die größte Industriekonzentration des Landes. Etwa ein Fünftel der franzö­ sischen Bevölkerung lebt in der Region Ile-de-France, die neben der Hauptstadt noch die Departements der so genannten kleinen und großen » Krone « umfaßt.38 Der Durchschnittslohn ist hier wesentlich höher und die Arbeitslosigkeit deutlich niedriger als in den übrigen Regionen. Nach wie vor siedeln sich dank üppiger staatlicher Subventionen dezentralisierte Betriebe, die sich eigentlich in der tie­ fen Provinz niederlassen sollten, bevorzugt in einem Radius von 300 Kilometern um die Hauptstadt an. Mit fast 400 Milliarden Euro Bruttoinlandsprodukt nimmt diese Region den ersten Platz im regionalen Vergleich ein.39 5,5 Millionen Beschäftigte arbeiten zu vier Fünftel im Dienstleistungssektor: Banken und Versicherungen, Börsenge­ schäfte, Medienkonzerne, Werbeagenturen, Ingenieurberatungsfirmen und Ge­ sundheitswesen. Nur knapp 20 Prozent sind in der Industrie tätig: Druckwesen und Papierverarbeitung, Chemie und pharmazeutische Industrie, Metallverarbei­ tung und Elektro- bzw. Elektronikfirmen, Fahrzeugbau, Luft- und Raumfahrtun­ ternehmen. Trotz zahlreicher Umweltprobleme, überteuerter Mieten, Verkehrs­ problemen und einer hohen Kriminalitätsrate ist ihre Attraktivität ungeschmälert. Zweitwichtigste Industrieregion ist Rhône-Alpes mit der Hauptstadt Lyon. 2,6 Millionen Beschäftigten steuern 145,4 Milliarden Euro zum BSP bei. Zwei Drit­ tel arbeiten im Dienstleistungsbereich, ein knappes Drittel in der Industrie: Wich­ tigste Produkte sind die Chemie, Kunststoffe, Pharmazie, Automobile, Informatik. Auch ist diese Region mit Forschungsstätten und Universitäten gut aufgestellt.40 Nach allgemeinem Verständnis trennt die Linie Le Havre – Marseille Frank­ reichs industrialisiertes von dem traditionellen Gebiet. Westlich dieser gedachten Linie dominiert nach wie vor die Landwirtschaft. Industrieansiedlungen waren hier von wenigen Ausnahmen abgesehen, wie der Flugzeugbau in Bordeaux und Toulouse, eher selten. Erst seit den sechziger Jahren führte die Délégation à l’Amé­ nagement du Territoire et à l’Action Régionale (DATAR) gezielt betriebene Raum­ ordnungspolitik zur Industrieansiedlung in strukturschwachen Gebieten durch. So wurden besonders in den folgenden Dekaden in der Bretagne, den Pays-de-laLoire und im Languedoc-Roussillion Elektronikfirmen mit starker staatlicher Un­ terstützung » sesshaft «. Ob entlang der Mittelmeerküste mit der Zeit ein französischer » Sun Belt « ent­

328 Wirtschaftspolitik

steht, bleibt abzuwarten. Unbestritten ist jedoch, dass die moderne Verkehrspoli­ tik des Ausbaus der Autobahnen und der Eisenbahnwege einen erheblichen Bei­ trag zum Abbau der ökonomischen Trennlinie Frankreichs beitrug. Dank hoher staatliche Subventionen wurden auch in der Region Provence-Alpes-Côte-d’Azur Technologieparks gegründet, die Industriebetriebe unterschiedlicher Größe be­ sonders im Bereich der » sauberen «, hochmodernen Produktionsbranchen anzo­ gen. Ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist in dieser Region – neben der Produk­tion hochwertiger Weine – der Tourismus. Alfred Pletsch ist beizupflichten, dass dank Sonne, Freizeitmöglichkeiten, landschaftlicher Reize, gut ausgebildeter Arbeits­ kräfte und eines vielfältigen Kulturangebotes ein Verlagerungstrend aus den nörd­ lichen Standorten in die südlichen, aber auch in westliche Küstengebiete zu beob­ achten ist.41 Die größten Schwierigkeiten traten in den Regionen zutage, deren jahrzehn­ telange selbstverständliche industrielle Basis wie der Montansektor spätestens seit den siebziger Jahren zu einem » Auslaufmodell « wurde, das mangels Rentabilität und internationaler Konkurrenzfähigkeit den Abbau von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen zur Folge hatte. Dies trifft vor allem für die Region Nord-Pas-deCalais und für Lothringen zu. Der » rostige « Norden von Calais an der Kanalküs­ te über die Ardennen bis zum lothringischen Becken ist besonders von den Struk­ turproblemen betroffen, die Frankreichs traditionellen Industrien seit geraumer Zeit zu schaffen machen.42 Zechenschließungen und Stilllegungen von Hochöfen haben zu diesem Niedergang geführt. Zwar wird in Lothringen noch Stahl erzeugt, aber neue Arbeitsplätze, hauptsächlich im Dienstleistungsbereich, konnten die Vernichtung von Arbeitsplätzen in der Montanindustrie nicht annähernd ersetzen. Eine zunehmende Verarmung und – bedingt durch die Entindustrialisierung – ein Verlust an gut ausgebildeten Facharbeitern waren die Folge. Geringbesoldete Ar­ beitsplätze im einfachen Dienstleistungsbereich bilden kein Äquivalent für den Niedergang des einstigen » Stolz « der französischen Schwerindustrie. » Die ehe­ maligen Stahlarbeiter sitzen nun an den Ikea-Kassen, « beklagt der Wirtschafts­ wissenschaftler Patrick Artus diese Entwicklung.43 Auch die einst blühende Textilindustrie in Nordfrankreich sowie in einigen lothringischen Gegenden ist dramatisch geschrumpft. Mehrere Ökonomen44 beklagen den alarmierenden Rückgang von Industrie­ betrieben. » Frankreich entindustrialisiert sich schneller als seine europäischen Nachbarn, « so Patrick Artus in seiner Analyse.45 Innerhalb von zehn Jahren hat Lothringens einst mächtige Schwerindustrie 42 000 Arbeitsplätze verloren. Seit Beginn des neuen Jahrhunderts büßte die gesamte französische Industrie über fast eine Million Arbeitsplätze ein – teils durch Betriebsschließungen, teils durch Aus­ lagerung der Produktion. Der Anteil der verarbeitenden Industrie am BSP sank von 24 auf 16 Prozent. Mittlerweile arbeiten dort nur noch drei Millionen Beschäf­

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Karte 3  Dekonzentrierte Automobilindustrie

Quelle: Alfred Pletsch: Frankreich, Wiesbaden, 2. Aufl. 2003, S. 248

tigte. Beispielhaft sei auf die Automobilproduktion verwiesen. Renault und Peu­ geot-Citroën haben ihre Produktion im Mutterland um ein Drittel gesenkt und die Herstellung von Klein- und Mittelklassewagen zum großen Teil ins Ausland verlagert. Die Ansiedlung von Toyota nahe Valenciennes sowie von Daimler AG bei Saargemünd mit der Produktion des Kleinwagens » Smart « bietet für diesen Stellenabbau nur wenig Ersatz. Ganze Regionen hängen von dieser Industrie ab: Neben den beiden nördlichen Regionen trifft dies besonders auf die Ile-de-France (Renault-Werke), die Franche-Comté (traditioneller Standort von Peugeot), das Oberelsass, die Haute Normandie, die Bretagne, den Unterlauf der Loire sowie auf den Großraum Lyon (dort vor allem LKW-Montage) zu. Zwar belegen die Exportquoten und der nach der Finanzkrise wieder gute In­ landsabsatz französischer Autos ihren hohen technischen Standard und ihre Be­

330 Wirtschaftspolitik

liebtheit bei in- und ausländischen Käufern. Allerdings stellen diese Werke kaum hochpreisige Modelle der Oberklasse her, die sich als » Statussymbole « wie deut­ sche Fabrikate weltweit gut verkaufen lassen. » Die französische Industrie ist in ihre historischen › Nischen ‹ gedrängt worden: Atomkraft, Hochgeschwindigkeits­ züge, Flugzeuge, Nahrungsmittelproduktion und Luxusgüter, « so Patrick Artus.46 Eine Folge des Rückgangs der Industrieproduktion ist die Zunahme des Au­ ßenhandelsdefizits (siehe unten) sowie der Verlust von Anteilen auf dem Welt­ markt. Dieser ist mittlerweile auf unter vier Prozent gesunken.47 Zählte Deutsch­ land im Jahr 2011 240 000 Exportunternehmen, waren es in Frankreich gerade mal 90 000. » Es fehlt nicht, « so Pascal Kauffmann, » an großen Exportunterneh­ men, aber an der breiten, lebendigen Basis leistungsstarker, exportorientierter mittelständischer Unternehmen. «48 Alle Analysten plädieren für eine Reindus­ trialisierung.49 So gelte es, das hohe Ausbildungsniveau der aktiven Bevölkerung besser zu nutzen, indem der Staat vor allem Subventionen für die Förderung in­ novativer kleine und mittelständische Betriebe (so genannten Start ups) bereit­ stellt und nicht vor allem Großunternehmen unterstützt.50 Daneben gelte es die » Trümpfe « zu nutzen wie die preisgünstige Energie und das hervorragend aus­ gebaute Verkehrs- und Telekommunikationswesen, um internationale Konzerne verstärkt » anzulocken «. Besonders vordringlich ist eine Steuerreform, die Betrie­ be vor allem von den hohen Zahlungen für Sozialleistungen entlastet, um Ar­ beitskosten zu senken und international wettbewerbsfähiger zu machen. Nur so könnten Anreize für die Schaffung qualifizierter Arbeitsplätze in der Industrie ge­ schaffen werden. Ob nach den massiven Steuer- und Abgabeerhöhungen für Un­ ternehmen nach Hollandes Amtsantritt die seit Ende 2012 beschlossenen Entlas­ tungen sowie die geplanten Arbeitsmarktreformen Wirkung zeigen werden, ist gegenwärtig offen. Immerhin zeigen die Maßnahmen, » dass die Regierung den Ernst der Lage erkannt hat und gewillt ist, notwendige Veränderungen voranzu­ treiben «, so Henrik Uterwedde.51 Abzuwarten bleibt, ob die stets streikbereiten Gewerkschaften die erforderlichen Reformschritte mittragen. Außenwirtschaftliche Verflechtungen Als Resultat früherer Rationalisierungen und der seit Jahren moderat wachsen­ den Arbeitskosten – beides wichtige Ursachen der verbesserten Wettbewerbsfä­ higkeit der französischen Industrie – verzeichnete Frankreich in den 90er Jahren jeweils eine positive Handelbilanz. Diese Entwicklung schlug ab 2005 ins Gegen­ teil um. Im Jahr 2013 fiel der Export weiter hinter den Import von Gütern zu­ rück. Das Außen­handelsdefizit belief sich auf 76,3 Milliarden Euro. Deutschlands Außenhandelsüberschuss erreichte dagegen 160 Milliarden Euro. Anzumerken ist, dass ein Großteil des französischen Defizits dem Import von Erdöl geschul­ det ist.

Industrie 331

Aber auch bei Maschinen, Fahrzeugen, Textilien und elektronischem Gerät er­ gab sich ein Defizit.52 Der ehemalige Außenhandelsminister Pierre Lellouche machte aus seiner Sor­ ge über die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit seines Landes keinen Hehl. Die Lage sei » beunruhigend «53, denn Frankreich verliere immer mehr Weltmarktanteile. Mittlerweile sind diese auf 6,23 Prozent geschrumpft. Deutschland steigerte seine Anteile im Jahr 2011 auf 16,2 Prozent.54 Ein Ausfuhrplus ergab sich für die » Leuchttürme « der französischen Wirt­ schaft. Dazu zählen neben Produkten der Nahrungsmittelindustrie einschließlich Spitzenweinen, Champagner, Spirituosen, Parfums und Kosmetika sowie Luxus­ gütern, Flugzeuge, Automobile der Mittelklasse, Pharmaprodukte, elektrische und elektronische Erzeugnisse sowie mechanische Ausrüstungen wie Maschinen. Deutschland ist bei weitem Frankreichs wichtigster Handelspartner. Im Jahr 2013 kamen 19,3 Prozent seiner Importe aus dem Nachbarland, 16,6 Prozent expor­ tierte es nach Deutschland. Deutsche Unternehmen beschäftigten 2011 400 000 Menschen in Frankreich, französische Betriebe in ihren Tochterunternehmen in Deutschland etwa 300 000.55 So erfreulich dieser außerordentliche Handelsaus­ tausch ist, so zeigt er aber auch ein nicht unerhebliches Ungleichgewicht zu Lasten Frankreichs. Mit Ausnahme des Jahres 1965 konnte die Bundesrepublik während des gesamten bisherigen Zeitraums der V. Republik stets einen Handelsüber­ schuss für sich verbuchen, der sich seit Anfang der achtziger Jahre beschleunigte. Ob diese Asymmetrie der beiderseitigen Handelsbilanz – im Jahr 2013 36 Milliar­ den Euro – langfristig zu Störungen in der deutsch-französischen Zusammen­ arbeit führt, ist nicht auszuschließen. Seit Regierungsantritt » ermahnte « Staats­ präsident Hollande die deutsche Regierung mehrfach, für eine ausgeglichenere Handelsbilanz zu sorgen. Insgesamt wickelte Frankreich fast 60 Prozent seiner Einfuhren mit den EUPartnern ab, 58 Prozent seiner Exporte gingen im Jahr 2011 in die 27 Staaten der Europäischen Union. Außerhalb dieser waren die USA, China, die Schweiz und Ja­ pan Frankreichs Haupthandelspartner. Den größten Anteil am Gesamtexport des Landes haben die wenigen Groß­ konzerne mit über 2 000 Beschäftigten. Zu ihnen gehören vor allem die Auto­ mobilfabriken, der Reifenhersteller Michelin, der europäische Luft- und Raum­ fahrtkonzern EADS mit dem Tochterunternehmen Airbus, der weltweit größte Stahlproduzent Arcelor-Mittal, die Mineral- und Chemiekonzerne Total sowie Rhône-Poulenc, der Baustoffproduzent Saint-Gobain, der weltweit bedeutendste Telekom-Ausrüster Alcatel, der Kernkraftwerkbauer Areva und der Energie- und Transportkonzern Alstom, u. a. Produzent des Hochgeschwindigkeitszuges TGV.

332 Wirtschaftspolitik

15.5 Dienstleistungen Frankreich hat sich seit Ende des Zweiten Weltkriegs zu einer Dienstleistungsge­ sellschaft entwickelt. 75 Prozent aller Beschäftigten, das sind ungefähr 19 Millio­ nen Menschen, arbeiteten im Jahre 2012 in über zwei Millionen Dienstleistungsun­ ternehmen unterschiedlichster Art: vom Friseurladen über Arztpraxen, staatliche Einrichtungen bis hin zu international tätigen Consultingfirmen. Mit 78,9 Prozent leistete der Dienstleistungssektor einen überragenden Beitrag zum französischen Bruttoinlandsprodukt, ein Anteil, der deutlich höher lag als im Durchschnitt der Euro-Zone. Aufgeteilt nach Sparten arbeiteten die meisten Dienstleistungserbringer im Handel, im Dienstleistungsgewerbe und im staatlichen Bereich, dem so genann­ ten Dienstleistungsbereich ohne Marktpreise. Der tertiäre Sektor ist auch derjenige, in dem in den letzten Jahren die meisten Arbeitsplätze geschaffen wurden. So nahm die Beschäftigung im Dienstleistungs­ bereich um ein Drittel zu. Acht von zehn Unternehmen, die seit den achtziger Jahren gegründet wurden, sind diesem Sektor zuzuordnen. In der Tourismus­ branche arbeiten mittlerweile doppelt so viele Menschen wie im Automobilbau. Sein Anteil am Bruttoinlandsprodukt betrug 2014 sieben Prozent bzw. 44 Milliar­ den Euro.  Zwei Millionen Arbeitsplätze hängen direkt und indirekt von dieser Branche ab, die nach den USA und Spanien umsatzmäßig zur drittgrößten welt­ weit gehört.56 Der größte Teil des Dienstleistungsgewerbes ist in drei Regionen konzentriert: In der Ile-de-France, wo ein Viertel aller Dienstleistungsfirmen ansässig sind, in Rhône-Alpes und Provence-Alpes-Côte d’Azur, wo insbesondere das Tourismus­ gewerbe dominiert. Die Dienstleistungsunternehmen werden in der Regel in neun Branchen geglie­ dert, die sich wiederum auf zwei Hauptbereiche verteilen: auf den gesamten ge­ werblichen und auf den nicht-gewerblichen Sektor, der alle vom Staat erbrachten Dienstleistungen umfasst. Zu diesem mit seinen über fünf Millionen » Fonction­ naires « zählen hauptsächlich die staatliche Verwaltung, das Militär, die Lehrberu­ fe, die Post sowie das Krankenhauspersonal. Den größten Anteil bei Dienstleistungen » mit Marktpreisen « stellen die Un­ ternehmen, die Serviceleistungen für Ingenieur- und Architektenbüros, für tech­ nische und juristische Beratung, Forschung und Entwicklung, Werbung, Versi­ cherungswesen sowie Immobiliengeschäfte anbieten. Es folgen das Hotel- und Gaststättengewerbe, der Verkauf sowie die Reparatur von Automobilen, die priva­ te Gesundheitsfürsorge, der Handel, das Kreditwesen, der Transportbereich sowie die Telekommunikation. Viele der neuen Dienstleistungsunternehmen arbeiten

Dienstleistungen 333

Tabelle 12  Die Struktur des tertiären Sektors

Beschäftigte in Millionen Handel

3,1

Transport

1,1

Dienstleistungsgewerbe

6,1

Staatlicher Bereich

6,6

Quelle: Tableaux de l’Economie Française 2012, S. 148 ff.

als » Zulieferer « für industrielle Großbetriebe. Ein weiterer Abbau von Arbeits­ plätzen im industriellen Sektor wirkt sich negativ auf diese meist kleinen » Zulie­ ferern « aus.57 Ein wesentlicher Grund für die nahezu explosionsartige Ausweitung des Ter­ tiärbereichs liegt in den veränderten Arbeits- und Lebensbedingungen einer mo­ dernen Gesellschaft. Die kontinuierlichen Einkommensverbesserungen während der » glorreichen 30 Jahre « der Nachkriegsepoche, eine ständige Reduzierung der wöchentlichen bzw. jährlichen Arbeitszeit, ein verändertes Freizeitverhalten führ­ ten ebenso wie eine zunehmende Reisefreudigkeit dazu, dass den Bürgern neben den traditionellen staatlichen Leistungen (mit allerdings beträchtlich erhöhtem Standard) eine ganze Reihe neuer Beratungs- und Leistungseinrichtungen zur Verfügung gestellt wurde. Insofern hat sich die überlieferte Struktur des tertiä­ ren Bereichs erheblich verändert. Es dominieren nicht länger die » kleinen « Ein­ zelhändler oder Handwerker, sondern Transport- und Tourismusanbieter, Versi­ cherungs- und Kreditvermittler sowie Berater unterschiedlichster Art bis hin zu den diversen Gesundheitsberufen repräsentieren nunmehr dieses soziale und be­ rufliche Feld. Besonders auffällig sind die Veränderungen im Groß- und Einzelhandel. Während der Anteil des Kleinhandels an der täglichen Versorgung der Bevölke­ rung mit Nahrungsgütern drastisch zurückging, wuchsen parallel dazu die Le­ bensmittelketten mit ihren Supermärkten, die so genannten Grandes surfaces, an der Peripherie der Städte. Die Marken Carrefour, Leclerc und Auchan gehören zu den größten weltweit. Allerdings hat sich der durch sie forcierte Verdrängungswettbewerb, den letzt­ lich auch die Schutzgesetze zugunsten der Kleinhändler nicht aufzuhalten ver­ mochten, nicht in allen Branchen bemerkbar gemacht. Zwar schrumpft die Zahl der » Epiciers « jährlich; auf der anderen Seite veranlassen aber die » Super- « und » Hypermarchés « nach dem Vorbild der amerikanischen Shopping Malls mit ihren großen Kundenzahlen zahlreiche Einzelhändler, vor allem aus der Modebranche, ihre Boutiquen in deren unmittelbarer Nähe zu eröffnen. Durch die Schaffung

334 Wirtschaftspolitik

von Fußgängerzonen mit zahlreichen Spezialgeschäften versuchen viele Städte ihre Attraktivität zu erhöhen und dem Verödungsprozess zu begegnen. Im Jahr 2010 waren nahezu drei Millionen Beschäftigte im Handel tätig. Innerhalb des gesamten Dienstleistungsgewerbes stellen die Frauen mit drei Viertel den allergrößten Anteil der Beschäftigten, wobei sie jedoch besonders im Handel häufig mit untergeordneten Tätigkeitsfeldern vorlieb nehmen müssen. So werden hier ebenso wie im Hotel- und Gaststättengewerbe die niedrigsten Löh­ ne gezahlt, während Arbeitnehmer im Kredit- und Finanzwesen wesentlich mehr verdienen als vergleichbare Berufsgruppen in anderen Branchen des Tertiärbe­ reichs oder in der Industrie. Der Dienstleistungsbereich ist ein wichtiger Devisenbringer Frankreichs, der entscheidend mit dazu beiträgt, das chronische Defizit in der Handelsbilanz des Landes zu verringern. Zu einem großen Teil resultiert der beständige Überschuss dieses Sektors aus den Tourismuseinnahmen und aus französischen Serviceleis­ tungen für andere Länder, wie z. B. Ingenieurtätigkeiten, die Wiederaufbereitung abgebrannter Uranbrennstäbe oder eine bedeutende Bauberatung im Ausland. Kritisch bewerten jedoch viele Ökonomen58 diese Abhängigkeit erheblicher ter­ tiärer Kapazitäten vom ausländischen » Verbraucherverhalten « als Gefahr für die Expansion dieser Beschäftigungssäule in Frankreich selbst. Kurzfristige Auftrags­ stornierungen offenbarten Probleme, die sich – wohl mit Gewissheit – auch künf­ tig geltend machen lassen. Hinzu kommt, dass auch in einigen anderen Branchen wie dem Kredit- und Finanzwesen kaum mehr neue Arbeitsplätze entstehen. Der Dienstleistungssektor kann langfristig den Verlust an industriellen Arbeitsplätzen nicht kompensieren. Neben häufig gering bezahlten Arbeitsplätzen, für die keine Fachausbildung oder gar ein akademisches Studium erforderlich ist, führt der weitere industrielle Nie­ dergang zur Abwanderung gut ausgebildeter Kräfte vor allem in die USA.59 Un­ ter Berücksichtigung dieser Entwicklungen scheint berechtigte Skepsis angebracht zu sein, ob der Dienstleistungssektor weiterhin seine Rolle als Auffangbecken für » Freigesetzte « der beiden anderen Sektoren zu leisten vermag.

16

Gesellschaft und sozialer Wandel

Wie die meisten anderen westeuropäischen Staaten war auch die Entwicklung Frankreichs in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg durch fundamen­ tale gesellschaftliche Wandlungen charakterisiert: Aus einer Agrar- wurde eine Dienstleistungsgesellschaft; die demographische Struktur änderte sich; Berufsbil­ der und Berufsfelder hatten sich auf rasante technische und soziale Neuerungen einzustellen; der Ausbau des Sozialstaates wurde vorangetrieben, ohne indessen auf Dauer negative Folgen des wohlfahrtstaatlichen Systems – wie steigende Ar­ beitslosigkeit, die zunehmende Verslumung trostloser Vororte in Ballungsräumen, insgesamt das Entstehen einer » neuen « Armut – zu verhindern. Das Ausmaß der sozialen Diskrepanz ist zugleich immer auch ein Indikator für das Ausmaß der so­ zialen Problemlagen.

16.1 Die demographische Entwicklung Mit 65,1 Millionen Bewohnern (einschl. Überseegebiete) war Frankreich im Jahr 2010 das bevölkerungsmäßig zweitgrößte Land in der Europäischen Union.1 51,4 Prozent seiner Bewohner waren Frauen, 48,6 Prozent Männer. Die demographische Entwicklung Frankreichs verlief sehr unterschiedlich, hatte das Land doch vor allem im 19. Jahrhundert sehr lange Perioden rückläu­ figer Geburtenzahlen zu verzeichnen gehabt. Zur Zeit der Französischen Revolu­ tion besaß Frankreich 28 Millionen Einwohner, also fast die Hälfte der heutigen Zahl, und dennoch war es das bevölkerungsreichste Land Europas. Dies änder­ te sich im 19. Jahrhundert, als die Bevölkerung – nicht zuletzt unter dem Einfluss der Ideologie des Malthusianismus, der den Wohlstand einer Gesellschaft durch eine zu große Bevölkerungszunahme gefährdet sah – im Vergleich zu den Nach­ barstaaten nur sehr langsam anstieg. Als Ideal wurde in weiten Bevölkerungskrei­ 335 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 U. Kempf, Das politische System Frankreichs, DOI 10.1007/978-3-658-08208-6_16

336

Gesellschaft und sozialer Wandel

sen die kinderarme Familie angesehen. Während die Bevölkerung in Frankreich zwischen 1800 und 1900 nur um 40 Prozent anstieg, verdoppelte oder verdreifach­ te sie sich in den benachbarten Industrieländern. Auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts änderte sich dieser Trend nur wenig, was wesentlich Frankreichs Rückständigkeit bei der Industrialisierung des Landes erklärt. Im Jahre 1950 hatte Frankreich immer noch nicht mehr Einwohner als 1900. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnte diese Stagnation, die wesentlich auf die hohen Verluste während der beiden Kriege zurückzuführen war, allmählich überwunden werden. Seit den frühen fünfziger Jahren setzte ein beträchtlicher Baby-Boom ein, der einen spektakulären demographischen Aufschwung bewirkte. Verstärkt wurde derselbe durch zahlreiche Zuwanderer aus den Mittelmeerländern, die vom wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegsjahre angezogen wurden. In dieser Zeit stieg Frankreichs Einwohnerzahl jährlich beinahe um eine halbe Million, d. h. in einem Zeitraum von vierzig Jahren um 17 Millionen. Mittlerwei­ le ist die Schwelle von 63 Millionen Bewohnern im Mutterland dank einer relativ hohen Geburtenrate von fast zwei Geburten pro Frau im gebärfähigen Alter über­ schritten. Innerhalb der großen Staaten der EU liegt Frankreich damit an der Spit­ ze. Ob diese Fertilitätsrate ausreicht, um eine ausreichende Erneuerung der Gene­ rationen zu gewährleisten, ist ungewiss. Denn seit den achtziger Jahren stieg, trotz dem mehrheitlich nach wie vor be­ vorzugten Partnermodell der Ehe, die » Heiratsunwilligkeit « erheblich an. Mit ei­ ner Heiratsrate von nur 3,7 pro 1 000 Einwohner bildet das Land gemeinsam mit Deutschland und Italien das Schlusslicht in der EU. Ebenfalls seit 1980 erhöhte sich die Zahl der Ehescheidungen. Jede dritte Ehe wird in Frankreich, nach Schätzungen, geschieden. Folglich gibt es auch immer mehr Alleinerziehende, die mittlerweile 18 Prozent aller Familien mit Kindern ausmachen. Auch die Zahl von nichtehelichen Lebensgemeinschaften stieg in den vergangenen drei Jahrzehnten überproportional an. Diese wurden durch das Ge­ setz vom 15. November 1999 insofern auf eine neue rechtliche Basis gestellt, als den Partnern die Möglichkeit eröffnet wurde, einen » bürgerlichen Solidaritätspakt « (Pacte civile de solidarité, PACS) abzuschließen. Immer mehr Paare bevorzugen diese Form des Zusammenlebens. Ein gravierendes soziales Problem ist eine zunehmende Überalterung der Be­ völkerung, verursacht zum einen durch die relativ geringe Geburtenrate, zum an­ deren durch eine immer größere Lebenserwartung; bei Frauen betrug diese im Jahr 2010 84, bei Männern 77 Jahre. Damit steigt der Anteil der älteren Menschen, während gleichzeitig derjenige der jungen mangels Geburtenfreudigkeit weiter absinkt. So liegt mittlerweile der Anteil der unter Zwanzigjährigen mit 25 Prozent unter demjenigen der über Sechzigjährigen – ein Phänomen, das Frankreich mit vielen anderen EU-Staaten teilt.

Geographische Bevölkerungsverteilung 337

Zweifellos werden von der Überalterung zukünftig sowohl das Gesundheits­ wesen (im Hinblick auf die Kostenentwicklung) als auch der sogenannte Genera­ tionenvertrag in erheblichem Maße betroffen sein.

16.2 Geographische Bevölkerungsverteilung Mit einer durchschnittlichen Bevölkerungsdichte von 114 Einwohnern pro km2 ist Frankreich im Vergleich zu einigen seiner europäischen Nachbarn wie Deutsch­ land (231) oder Großbritannien (255) relativ dünn besiedelt. Allerdings sind sei­ ne über 63 Millionen Einwohner im Mutterland sehr unterschiedlich über das Land verteilt: Einer sehr starken Bevölkerungskonzentration in den Ballungsräu­ men stehen recht schwach bevölkerte ländliche Gegenden gegenüber. Leben in der Ile-de-France fast 19 Prozent der Gesamtbevölkerung auf nur 2 Prozent des Staatsgebietes und liegt hier die Bevölkerungsdichte bei 988 Einwohnern pro km2, so sind es in der Region Limousin nur 4 pro km2. Diese Disparitäten resultieren nicht zuletzt aus Wanderungsbewegungen, die seit Beginn der fünfziger Jahre im Zuge des Transformationsprozesses von der Agrar- zur Industrie- und Dienstleis­ tungsgesellschaft stattfanden. Der beschäftigungspolitische Angebots-NachfrageMechanismus kam in der » massenhaften « Übersiedlung auf dem Land beheima­ teter Arbeitskräfte in die neuen Industrieregionen zum Tragen. Lebten Mitte des 19. Jahrhunderts zwei Drittel der Franzosen in Gemeinden mit weniger als 2 000 Einwohnern, so waren es nach hundert Jahren, zu Beginn des französischen » Wirtschaftswunders «, nur noch 37 Prozent. Wiederum fünfzig Jahre später waren es lediglich 20 Prozent. Seither hat sich die Wanderungsbewe­ gung in die großen Städte merklich verlangsamt, so dass die Zahl der in kleinen Gemeinden Lebenden – insgesamt gesehen – relativ stabil geblieben ist. Zwar sta­ gnieren einige Regionen wie die Franche-Comté oder Champagne-Ardenne nach wie vor an Bevölkerung; dagegen verzeichnen andere aus Gründen, die später zu erörtern sind, Zugewinne. Die Zahl der » Stadtbewohner « nahm um 2,3 Millionen auf etwa 47 Millionen zu, während sich diejenige der » Landbewohner « deutlich auf etwa 16 Millionen verringerte. Besonders auffallend ist die Bevölkerungsvermehrung in den 29 Agglomera­ tionen, d. h. Großstädte mit einem sie umgebenden Kranz von Gemeinden mit wenigstens 200 000 Einwohnern. Stagnierte dort zunächst in den achtziger Jahren der Zuwachs, so kehrte sich infolge der Schaffung von Arbeitsplätzen im Dienst­ leistungsgewerbe mittlerweile dieser Trend um, wie die Zahlen eindrucksvoll be­ legen: In der Pariser Agglomeration – identisch mit der Region Ile-de-France – le­ ben über elf Millionen Menschen, in Lyon sowie Marseille – Aix-en-Provence mit den » Vororten « jeweils über 1,4 Millionen und in Lille 1,7 Millionen. In zehn Pro­

338

Gesellschaft und sozialer Wandel

Stadtgebiete

Agglomeration

Paris

2 235 000

9 930 000

Lyon

480 000

1 460 000

Marseille

850 000

1 380 000

Lille

227 000

1 710 000

Bordeaux

237 900

753 931

Toulouse

440 000

761 090

Nizza

341 000

888 784

Nantes

282 000

544 932

Rennes

207 000

519 640

Montpellier

255 000

419 334

Straßburg

272 000

427 245

Tabelle 13  Großstädte

Quelle: Tableaux de l’Economie Française 2012, S. 17.

zent der französischen Kommunen wohnen 40 Prozent der gesamten Bevölke­ rung. Arbeitsplätze in der Hochtechnologie sowie ein hoher Freizeitwert begrün­ den die urbane Qualität in den Städten des » Sonnengürtels «, wie überhaupt an der Mittelmeerküste und in den Savoyer Alpen. Sowohl für junge Menschen wie für Pensionäre besitzen die Regionen Rhône-Alpes, Provence-Alpes-Côte d’Azur und Languedoc-Roussillon eine große Attraktivität. Eindeutige Bevölkerungsverluste mussten in den letzten Jahrzehnten Gebie­ te hinnehmen, die in einem breiten Gürtel liegen, der sich quer durch Frankreich von den Ardennen bis zu den Pyrenäen hin zieht und durch die » innere « Breta­gne ergänzt wird. Betroffen waren sowohl die alten Industriereviere, nämlich Lothrin­ gen sowie die Region Nord-Pas-de-Calais, als auch ländliche Gegenden, z. B. in den Regionen Centre, Auvergne, Limousin und Midi-Pyrénées. Jedes Mal veran­ lasste der Mangel an Arbeitsplätzen die Menschen zur Aufgabe ihrer Heimat, so dass bisher schon strukturschwache Gebiete eine weitere Einbuße an ökonomi­ scher Kraft und sozialen Standards erfuhren. Weder der Bau von Zweitwohnun­ gen und Ferienresidenzen noch vereinzelte Rückwanderungen vermögen diesen durch den Abbau staatlicher und privater Serviceeinrichtungen verschärften Sub­ stanzverlust auszugleichen. Obwohl Frankreich östlich der Linie Rouen-Montpellier geradezu eine An­ sammlung von Agglomerationen besitzt, hat das Land erstaunlicherweise nur we­ nige sehr große Städte. Nach europäischem Maßstab sind nur Paris und – mit Ein­ schränkung – Marseille zu den Millionenstädten zu zählen. Auffallend ist dagegen

Einwanderung 339

eine vergleichsweise große Zahl von mittleren Großstädten. So haben laut Volks­ zählung 2010 39 Kommunen über 100 000 und 107 mehr als 50 000 Einwohner. In den letzten sechzig Jahren erlitt die Stadt Paris einen Bevölkerungsrückgang von etwa 750 000 Menschen, während ihre Vororte, die » Banlieue «, erhebliche Steigerungsraten zu verzeichnen hatten. Während die Bevölkerungszahl im Inne­ ren Ring der Region (La Petite couronne mit den Departements Hauts-de-Seine, Seine-Saint-Denis, Val-de-Marne) um über 550 000 stieg, waren es im Äuße­ren Ring (la Grande couronne mit Yvelines, Val d’Oise, Seine-et-Marne, Essonne) so­ gar 2,6 Millionen Menschen. Der Grund für die kontinuierliche Abwanderung aus der Hauptstadt liegt hauptsächlich in den extrem hohen Mieten und Kaufpreisen für Wohnraum, die von mittleren Einkommensbeziehern nicht mehr bezahlt werden können. Zudem führten seit den sechziger Jahren Luxussanierungen zu einer Reduzierung der Zahl günstiger Mietwohnungen, wodurch Angehörige der unteren Einkommens­ schichten vielfach aus ihren angestammten Bezirken verdrängt wurden. Der Staat reagierte auf diese Entwicklung mit dem Bau von fünf » Villes nouvelles « in den Departements des äußeren Rings, in denen fast 750 000 Menschen leben. Nach großen Anfangsschwierigkeiten gelang es, den Bewohnern dieser Retor­ tenstädte ausreichend bezahlbaren Wohnraum, Freizeit- und Kultureinrichtun­ gen sowie Beschäftigungsmöglichkeiten zu bieten. Für viele Beobachter » trägt die Raumordnungspolitik für den Großraum Paris inzwischen ihre Früchte «, so Alfred Pletsch,2 zumal auch Erholungs- und Freizeitzonen in diesen Gebieten der äußeren » Couronne « ausgewiesen sind, in denen der Bau von Wohn- oder Indus­ trieanlagen untersagt ist. Die » Villes nouvelles «3 heben sich folglich von vielen Orten des inneren Ringes ab mit ihren trostlosen Randgebieten, den so genann­ ten Grands ensembles des sozialen Wohnungsbaus, die sich besonders seit den achtziger Jahren zu Zonen hoher gesellschaftlicher Instabilität entwickelt haben, in denen Ende 2005 nahezu bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten. Der Staat reagierte auf die gewalttätigen Ausschreitungen mit der Verhängung des Ausnah­ mezustands.

16.3 Einwanderung Frankreich ist ein traditionelles Einwanderungsland, da es insbesondere seit dem 19. Jahrhundert aus wirtschaftlichen und demographischen Gründen auf einen Zustrom ausländischer Arbeitnehmer angewiesen war. Bis Mitte des 19. Jahrhun­ derts kamen Immigranten hauptsächlich aus den Nachbarländern und aus Polen, die sich zum großen Teil in den Bergwerken verdingten. Eine Volkszählung aus dem Jahre 1851 ermittelte 381 000 Ausländer in Frankreich, von denen ein Drittel

340

Gesellschaft und sozialer Wandel

aus Belgien stammte. In den anschließenden Jahrzehnten wuchs die Zahl der Zu­ wanderer stetig an: 1881 wurde die Millionengrenze überschritten, 1931 zählte man fast 2,8 Millionen Ausländer, darunter über 800 000 Italiener, eine halbe Million Polen und 350 000 Spanier. Anschließend gingen die Einwanderungszahlen in­ folge der Wirtschaftskrise und der Kriegsereignisse um etwa eine Million zurück. Die dritte Masseneinwanderungswelle setzte seit Mitte der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts in einer Phase eines erheblichen Wirtschaftswachstums ein. Die­ se unterschied sich von ihren Vorgängern wesentlich durch die nationale Zusam­ mensetzung der Immigranten. Neben Bewohnern der iberischen Halbinsel wur­ den zunehmend Algerier und Marokkaner als Arbeitskräfte rekrutiert. Unter den Algeriern befanden sich auch zahlreiche Personen, die aus Furcht vor Repressalien ihrer Landsleute wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Kollaboration mit der Kolonialmacht ihr Land kurz vor der Unabhängigkeit 1962 verließen. Nach der Volkszählung des Jahres 2008 lebten 5,34 Millionen Ausländer in Frankreich4, was einer Quote von acht Prozent der Bevölkerung im Mutterland entsprach. Nach Auskunft des ehemaligen Leiters des nationalen Instituts für Demogra­ phie stammen von den 62,4 Millionen Franzosen im Mutterland 15 Millionen (ein Viertel der Bevölkerung) von ausländischen Vorfahren ab.5 Zum anderen gibt es eine hohe Zahl von illegalen Einwanderern meist aus Westafrika. Schätzungen variieren zwischen 300 000 und einer Million. Viele rei­ sen nach Ablauf eines Besuchervisums nicht wieder aus, sondern suchen bei Ver­ wandten oder Landsleuten meist im Pariser Raum Unterschlupf. Die meisten die­ ser » Clandestins « leben unter menschenunwürdigen Bedingungen und verdingen sich als billigste Arbeitskräfte. Mit spektakulären Kirchenbesetzungen in regel­ mäßigen Abständen versuchen sie auf ihre katastrophale Lage aufmerksam zu machen. Ob die Regierungen zu repressiven Maßnahmen wie scharfen Einwan­ derungskontrollen oder massenhaften Ausweisungen griffen oder ob sie humani­ tären Aktionen den Vorzug gaben: Beide Wege und Methoden vermochten das Problem in keiner Weise zu lösen. Traditionell versteht sich Frankreich als Einwandererland. Selbst angesichts der Ursachen und Zerstörungen in zahlreichen Städten Ende 2005 verwarf Pre­ mierminister de Villepin Zuwanderungsquoten nach Herkunftsländern und be­ ruflicher Qualifikation: » Seit zwei Jahrhunderten hat die Republik jedem, der sich zu den Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bekennt, einen Platz zugedacht. «6 Im Jahr 2008 waren 43 Prozent der Immigranten in einem afrikanischen Land – hauptsächlich im Maghreb – geboren. Etwa 14 Prozent kamen aus Asien. Die Verteilung auf die einzelnen Regionen des Landes ist sehr unterschied­ lich. So sind fast 60 Prozent aller Ausländer in drei Regionen konzentriert: in der

Einwanderung 341

Tabelle 14  Die stärksten Ausländergruppen in Frankreich

Nationalität

Anzahl

Algerier

714 000

Marokkaner

654 000

Portugiesen

580 000

Schwarzafrikaner

400 000

Italiener

320 000

Spanier

260 000

Tunesier

240 000

Türken

240 000

Südostasiaten

162 000

Quelle: Le Monde vom 4. 12. 2009, S. 22, und: Tableaux de l’Economie Française 2012, S. 37.

Ile-de-France, in Rhône-Alpes und in Provence-Alpes-Côte d’Azur – Gebiete, in denen – wohl nicht zufällig – der rechtspopulistische Front National seine besten Wahlergebnisse erzielt. Am höchsten sind die Ausländerquoten im Pariser Becken, wo die Ausländer 37 Prozent der Bevölkerung stellen. In den beiden anderen Re­ gionen sind es elf bzw. zehn Prozent. Meist lebt die ausländische Bevölkerung in den Großstädten dieser Gebiete. Die niedrigsten Ausländeranteile verzeichnen demgegenüber die stark land­ wirtschaftlich geprägten Gebiete wie die Bretagne und die Loire-Region. Der Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft beruht auf einem entspre­ chenden Gesetz von 1973, das trotz verschiedener Verschärfungen in den neunzi­ ger Jahren nach wie vor Gültigkeit besitzt. Das allgemein gültige » Ius solis «, der Anspruch auf Einbürgerung dank der Geburt in Frankreich, wurde durch die Be­ stimmungen des » Code Guigou «, benannt nach der damaligen sozialistischen Justizministerin, am 1. September 1998 bekräftigt. Danach erlangen in Frankreich geborene Kinder ausländischer Eltern bei Volljährigkeit automatisch die französi­ sche Staatsbürgerschaft, sofern sie zwischen dem 13. und 18. Lebensjahr mindes­ tens fünf Jahre in Frankreich gelebt haben. Diese kann aber schon mit 13 Jahren verliehen werden, wenn die Eltern und die Jugendlichen bzw. mit 16 Jahren die Ju­ gendlichen allein dies wünschen. Einzige Bedingung ist der Nachweis eines fünf­ jährigen Aufenthalts.7 Darüber hinaus kann jeder ausländische Ehepartner eines Franzosen oder ei­ ner Französin nach einem Jahr des Zusammenlebens die Staatsbürgerschaft be­ antragen.

342

Gesellschaft und sozialer Wandel

Die doppelte Staatsangehörigkeit wird akzeptiert. Anfang 2016 besaßen 3,2 Mil­ lionen neben dem französischen einen weiteren Pass, die meisten davon stammten aus den früheren Kolonien in Afrika. In bestimmten Ausnahmefällen wie terroristische Straftaten kann die Staats­ bürgerschaft auch wieder entzogen werden. Seit 2011 müssen alle Neubürger die » Charta über die Rechte und Pflichten von Staatsangehörigen « unterschreiben; damit verpflichten sie sich, die französischen Gesetze und Werte anzuerkennen. Das Asylrecht erfuhr seine letzte Ergänzung und Präzisierung durch den in­ folge des Schengener Abkommens erforderlichen Verfassungsartikel 53-1. Flücht­ linge, deren Leben oder Freiheit im Herkunftsland bedroht oder die menschen­ rechtswidriger Behandlung ausgesetzt sind, können – meist erfolgreich – Asyl beantragen. Erweitert wurde dieses Recht durch die Gesetzgebung von 1998, die das Asylrecht auf Personen ausweitet, die wegen ihres » Einsatzes für die Freiheit « gefährdet sind. Im Jahre 2003 beantragten über 52 000 Menschen Asyl; knapp 10 Prozent der Anträge wurden schließlich anerkannt. Grundsätzlich hat sich Frankreich seit der Französischen Revolution als ein Land verstanden, das nicht nur politisch Verfolgten Schutz gewährt, sondern sich auch um ihre staatsbürgerliche Integration bemüht, ohne Ansehen ihres Standes, ihrer ethnischen Herkunft oder ihrer Religionszugehörigkeit. Dieses Grundprin­ zip gilt auch für die in Frankreich lebenden Ausländer. So genießen alle ansässigen Ausländer weitgehend die gleichen sozialen Rechte wie die Franzosen. Ausländi­ sche Arbeitnehmer sind zu denselben Bedingungen wie französische pflichtver­ sichert und haben Anspruch auf die gleichen sozialen Vergünstigungen wie bei­ spielsweise Familienbeihilfen und Rentenleistungen. Auch wurde ihnen 1981 das Recht gewährt, Vereinigungen zu gründen. Als wichtigstes Integrationsinstrument gilt nach wie vor das Schulsystem. Schulklassen mit überwiegend farbigen Kindern sind in vielen Gemeinden mit hoher Ausländer- und Einwandererkonzentration keine Seltenheit mehr. So lernt über eine Million ausländischer Kinder und Jugendlicher, darunter über die Hälf­ te junge Maghrebiner, an französischen Schulen. Angesichts der größeren Gebur­ tenfreudigkeit in Familien afrikanischer Herkunft, die etwa doppelt so hoch ist wie diejenige französischer Familien, dürfte ihre Zahl noch weiter steigen. La » Banlieue « Eines der dringendsten sozialen Probleme in Frankreich, das einer Lösung harrt, ist die » Befriedung « zahlreicher Vorstädte, der » Banlieues «. Lediglich neun De­ partements (hauptsächlich in entvölkerten Regionen) besaßen keine » schwierigen Quartiere «. Zu finden sind diese Viertel vor allem in Nordfrankreich, im Nordos­ ten und Süden von Paris, in den Großräumen Lyon und Marseille. In unmittelbarer Nachbarschaft der meisten Groß- und Mittelstädte, vor al­

Einwanderung 343

lem im Norden und Süden von Paris, waren nach 1950 auf der » grünen Wiese « riesige Betonburgen mit durchschnittlich 1 000 bis 2 000 Wohnungen entstanden. Ende 2014 lebten 4,4 Millionen Menschen (= sieben Prozent der Gesamtbevölke­ rung) in diesen schlecht gebauten, inhumanen Hochhausensembles ohne Freizeit­ wert, meist ohne ausreichende private und öffentliche Infrastruktur sowie mise­ rable Verkehrsanbindung an die Wirtschaftszentren. 38,4 Prozent der Bewohner leben unter der Armutsgrenze.8 Nachdem die erste Mietergeneration, überwiegend ehemalige Landbewohner und Algerienfranzosen, in » bessere « Viertel umgezogen war, folgten hauptsäch­ lich Einwandererfamilien aus (Nord-)Afrika und Franzosen aus den übersee­ ischen Gebieten nach. Ein » Teufelskreis « aus ungenügender Schulbildung, hoher Arbeitslosigkeit, Zerfall traditioneller Familienstrukturen, Drogenkonsum und Kriminalität ließ diese Vorstädte zu einem unkontrollierbaren Herd sozialer Un­ ruhen und sogar des Aufruhrs werden (siehe Kapitel 2). So liegt die Arbeitslosenquote bei jungen Männern bei 42 Prozent. Zwischen 2003 und 2008 besaßen über 66 Prozent dieser Jugendlichen keinen Schul- oder Berufsabschluss, konnten sich folglich nicht auf Arbeitsstellen bewerben. Mit Ge­ legenheitsjobs versuchen sie sich » durchzuschlagen «. Trotz Fördermaßen von staatlicher Seite liegen Schulabschlüsse meist unter dem nationalen Durchschnitt. Hochschulstudien bei Immigranten belaufen sich häufig auf nur ein oder zwei Jahre. Schlechte berufliche Perspektiven sind die Folge. Weder nach den Vorstadtunruhen im Jahr 2005 noch nach den Terroranschlä­ gen in Paris zehn Jahre später wurden die Grundprobleme dieser » vergessenen « Wohngebiete ernsthaft angegangen. Ohne großzügige und durchgreifende Ar­ beitsbeschaffungs- und Qualifizierungsmaßnahmen für die Bewohner dieser Viertel dürfte der soziale Sprengstoff immer bedrohlichere Ausmaße annehmen. Die Perspektivlosigkeit vieler der jugendlichen » Ausgeschlossenen « führt zur Ab­ lehnung einer Gesellschaft, die ihnen wegen unzureichender Förderung –  ob­ wohl verfassungsmäßig garantiert – keine Chancengleichheit mit Altersgenossen aus nicht-stigmatisierten Wohnvierteln ermöglicht.9 Für etliche muslimische Mi­ grantenkinder bietet sich seit Mitte der 80er Jahre der Islam als Alternative an, dem Gefühl als Franzose nur Bürger zweiter Klasse zu sein, zu entfliehen. Im Mo­ schee-Besuch finden sie eine neue Identifikationsstruktur, die ihnen in einer Ge­ sellschaft, in der sie sich diskriminiert fühlen, einen neuen Halt bietet. Der Glau­ be gibt ihnen ein Gefühl der Geborgenheit, das der Staat ihnen nicht zu vermitteln weiß. » La Banlieue « ist mittlerweile zum Synonym für die gescheiterte » Integra­ tion à la française « geworden. Ende des Jahres 2005, nach dem Tod von zwei farbigen Jugendlichen, die vor einer Polizeikontrolle in eine Umspannstation im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois geflüchtet waren und dort verbrannten, und erst recht nach den Terroranschlä­

344

Gesellschaft und sozialer Wandel

gen im Jahr 2015 sahen sich Regierung und Gesellschaft wohl deutlich und sicht­ bar wie nie zuvor mit der Problematik der Integration konfrontiert. Dass diese größtenteils misslungen war, ließ sich nach den bürgerkriegsähnlichen Unruhen in einer Vielzahl von Vorstädten kaum noch bestreiten. » Das republikanische In­ tegrationsmodell, « so der ehemalige Innenminister Sarkozy, selbst ein Einwan­ derersohn, » funktioniert nicht mehr. Wir müssen eingestehen, dass es nicht aus­ reicht, eine formale Gleichheit zu proklamieren, um eine wirkliche Gleichheit zu garantieren. «10 Diesen formalen Integrationsprinzipien steht der » Frust «, ja der Hass einer ganzen Generation von Immigrantenkindern der zweiten und teilweise dritten Einwandergeneration gegenüber. In der Zerstörung von öffentlichen (Busse und Kindergärten) bzw. staatlichen Einrichtungen, im » Abfackeln « von Supermärk­ ten und Möbelhäusern, im Anzünden von 40 000 Autos allein im Jahre 2005, im Werfen von Molotow-Cocktails auf Polizei und Feuerwehr in den trostlosen Vor­ ortsiedlungen der » Banlieue « « entlud sich ihre Wut auf den Staat und führte zur Ablehnung des gesellschaftlichen Systems. Der 1962 beendete Algerienkrieg und die schwierigen Beziehungen zwischen Frankreich und der ehemaligen Kolonie werden als eine wesentliche Ursache für die Abneigung vieler junger muslimischer Franzosen, deren Eltern seit Anfang der 60er Jahre eingewandert sind, genannt. Bei diesen Jugendlichen » herrscht das Gefühl, [hier] nicht geliebt zu werden «, so die Soziologin Attias-Donfut.11 Den Verfassungswert der » Gleichheit « sehen viele dieser Bürger nahezu tagtäglich konterkariert. Auf den Ausbruch von Gewalt im Jahr 2005, aber auch zehn Jahre später wuss­ te der Staat letztlich nur mit der Aktivierung des Notstandsgesetzes von 1955, d. h. hauptsächlich mit Ausgangssperren, Hausdurchsuchungen und Polizeikontrollen zu reagieren. Schon Anfang der achtziger Jahre war es in vergleichbaren Vorortsiedlun­ gen von Lyon zu Gewalttätigkeiten gekommen. Seither haben alle Regierungen mit verschiedenen Maßnahmen versucht, diese » Zeitbombe « (Nicolas Sarkozy) zu entschärfen. Zu diesem Zweck wurden ein Ministerium für Stadtentwicklung geschaffen, » Sonderwirtschaftszonen « eingerichtet sowie zusätzliche Finanzhil­ fen für mittlerweile 1 500 » sensible Zonen « in Höhe von über 34 Milliarden Euro bewilligt.12 An dem » kollektiven Erlebnis der Zukunftslosigkeit « der von Geburt an mit dem französischen Staatsbürgerrecht ausgestatteten zweiten und dritten Generation von Zuwanderern änderte sich dennoch (fast) nichts.13 Das Haupt­ problem dieser Jugendlichen ist die hohe Arbeitslosigkeit, da sie wegen ihrer ma­ ghrebinischen oder westafrikanischen Herkunft und ihres häufig geringen Bil­ dungsstandes kaum eine Beschäftigung oder gar einen attraktiven Beruf finden. So liegt die Arbeitslosenquote bei den Nachkömmlingen afrikanischer Einwande­ rer dreimal so hoch wie die der französischen Gesamtbevölkerung. Nur 61 Prozent

Einwanderung 345

dieser Franzosen mit afrikanischen Wurzeln finden – häufig erst fünf Jahre nach Schulabschluss – einen Arbeitsplatz – meist nur ein befristetes Beschäftigungsver­ hältnis. Aber auch Immigranten mit Hochschulabschluss haben eine viermal so hohe Arbeitslosenrate wie Nichtimmigranten.14 Gettos und rechtlose Zonen gab es auch schon im Nachkriegsfrankreich. » Neu jedoch ist die Tatsache «, so Crevel und Wagner, » dass diese Viertel mittlerweile von religiösen Gruppen oder organisierten Banden beherrscht werden. «15 So ent­ wickelten sich manche Bezirke geradezu zu rechtsfreien Räumen, die von der Po­ lizei gemieden wurden. Dass unter solchen Umständen auch Erziehung, Schule und Ausbildung vielfach auf der Strecke blieben, überrascht nicht, ebenso wenig die für zahlreiche Jugendliche charakteristische » Negativ-Karriere «: Erst Schul­ versagen, dann Arbeitslosigkeit. So verwundert es nicht, dass 37 Prozent aller Ein­ wanderer unterhalb der Armutsgrenze leben. Das Gefühl der Stigmatisierung als » Getto-Kinder « scheint folglich weit ver­ breitet, selbst bei solchen jungen muslimischen Franzosen, die in besseren Ver­ hältnissen leben. Das Anwachsen von gegenüber dem Westen und den Institu­ tionen des (neuen) Heimatlandes konträren Parallelgesellschaften ist in einigen Stadtvierteln evident.16 Zwar gelang mit dem Gesetz über das Verbot des Tragens auffälliger religiöser Symbole oder Kopfbedeckungen im Unterricht sowie durch das Verbot der Niqab im öffentlichen Räumen vordergründig eine Wiederherstellung des » Schulfrie­ den «, nicht jedoch eine wirkliche Problemlösung. Die zunehmende Präsenz von muslimischen Schülerinnen mit Kopftüchern im Unterricht wurde von der brei­ ten Öffentlichkeit und den meisten Politikern als Vorstoß gegen die Laizität ge­ wertet. Befürworter des Gesetzes sahen im Tragen des Kopftuches einen Ein­ flusszuwachs fundamentalistischer Kräfte der muslimischen Bevölkerungsgruppe, dem im » Namen der republikanischen Werte « begegnet werden müsse. Weder ein solches Gesetz noch die hektischen Maßnahmen der Regierung, verstärkt Mittel für die Sanierung von Orten in der » Banlieue « und für Arbeits­ plätze bereitzustellen, dürften die Probleme lösen. Seit der Trennung von Staat und Kirche durch das Gesetz vom 9. Dezember 1905 ist Frankreich, die einstige » älteste Tochter der Kirche «, ein weltlicher Staat. Somit gibt es weder einen Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen noch eine vom Staat wie in Deutschland eingezogene Kirchensteuer. Wenn auch bei einer Umfrage im Januar 1994 insgesamt nur noch 24 Prozent erklärten, sie sei­ en überzeugte Gläubige,17 so bekennen sich trotzdem 81 Prozent der Franzosen (47 Millionen) zum katholischen Glauben. Der mittlerweile zweitgrößten Reli­ gionsgemeinschaft, dem Islam, fühlen sich etwa elf Prozent (6 Millionen) verbun­ den, während circa zwei Prozent (1 100 000) Protestanten und weitere 1,5 Prozent (700 000) Juden sind. In seiner vergleichenden Studie über Christen und Musli­

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Gesellschaft und sozialer Wandel

me in sechs Ländern kommt Ruud Koopmans zu dem Befund, dass 65 Prozent der befragten Muslime angaben, dass ihnen religiöse Regeln wichtiger seien als weltli­ che Gesetze. Muslimischer Fundamentalismus könne, so Koopmans, eine » Nähr­ boden für Radikalisierung und Gewalttaten « bilden.18

16.4 Elemente der sozialen Schichtung Ungeachtet der Problematik sozialstatistischer Zuordnungen lässt sich die franzö­ sische Gesellschaft » realtypisch « in vier Schichtungsgruppen einteilen:19 ■■ die Oberschicht: Sie umfasst (neben den Überresten des alten Adels) vorwie­ gend die Absolventen der Elitehochschulen, hohe Führungskräfte im Staats­ dienst, Direktoren leistungsstarker Unternehmen und Bankiers. Auch alteinge­ sessene » Industriedynastien « werden wie einige Vertreter freier Berufe – diese wegen ihrer hohen Einkünfte – der » Haute Bourgeoisie « zugeordnet.20 ■■ die Bourgeoisie: Zu ihr gehören hauptsächlich die meisten Freiberuflichen, In­ haber mittelgroßer Unternehmen, Universitäts- und Gymnasiallehrer, Inge­ nieure und Führungskräfte (sofern sie nicht aufgrund ihrer herausgehobener Stellung zur Oberschicht zählen). ■■ die » alten « und » neuen « Mittelschichten: Die diesen zugehörigen Berufsgrup­ pen erlebten seit den sechziger Jahren die weitestgehenden Veränderungen. Während der » alte « Mittelstand, bestehend aus Vertretern des Handwerks und des Handels, der Landwirte und der kleinen » Patrons «, seine einstige Position als tragende Säule des politischen Systems verloren hat, mit der bis heute an­ dauernden Konsequenz zahlreicher sozialer Konflikte, entstand aufgrund des Modernisierungsprozesses in der V. Republik ein » neuer « Mittelstand. Er um­ fasst vorwiegend Führungskräfte in Industrie, staatlicher Verwaltung und in privaten Dienstleistungssektoren sowie Mitglieder des Erziehungs- und Ge­ sundheitssystems. ■■ die Unterschicht: Zu ihr werden gewöhnlich einfache Angestellte, meist im Dienstleistungsgewerbe, zum anderen Arbeiter, unterteilt in Facharbeiter und Angelernte sowie Kleinbauern gerechnet. Im Jahre 2010 waren im französischen Mutterland fast 25,7 Millionen Menschen, davon fast drei Millionen Selbständige, beschäftigt. Berücksichtigt man die Ge­ samtzahl der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Personen zwischen 15 und 60 Jahren (also einschließlich Arbeitslosen), so betrug diese 28,3 Millionen, unter ihnen fast 15 Millionen Männer und 12,3 Millionen Frauen.21 Eines der auffallendsten Merkmale des sozialen Wandels ist die zahlenmäßige

Elemente der sozialen Schichtung 347

Veränderung in den einzelnen Berufsgruppen: Während die Beschäftigungszah­ len von Landwirten und Arbeitern kontinuierlich seit Beginn des neuen Jahrhun­ derts zurückgingen, diejenige der Handwerker und kleinen Gewerbetreibenden auf recht niedrigem Niveau stagnierten, erhöhte sich die Zahl der (meist einfa­ chen) Angestellten leicht auf 30 Prozent der Berufstätigen. Häufig sind es Frauen, die in einfachen Bürotätigkeiten und im Handel bei relativ bescheidener Bezah­ lung tätig sind. Arbeiter und einfache Angestellte stellen über die Hälfte aller Berufstätigen. Dagegen stieg die Zahl der so genannten Führungskräfte und der besser gestell­ ten Angestellten ebenso wie die der » intermediären Berufe « (dazu zählen neben Verwaltungspersonal hauptsächlich technische Fachkräfte, Meister, Lehrer und Gesundheitspersonal) deutlich an. Führungskräfte, Freiberufliche und Mitglie­ der der » intermediären Berufe « machten im Jahr 2010 über 40 Prozent der Be­ schäftigten aus. Insgesamt waren zehn Millionen Menschen in diesen Berufen des Dienstleistungsgewerbes tätig. Unter der Bezeichnung » höhere Führungskräfte « (Cadres supérieurs et Cad­ res moyens) sind sowohl Diplom-Ingenieure, Verwaltungsspitzenkräfte im öf­ fentlichen Dienst sowie in der Privatwirtschaft als auch Hochschul- und Gym­ nasiallehrer zu verstehen. Zur Gruppe der » mittleren Führungskräfte « zählen technisches Fachpersonal, Sachbearbeiter in der staatlichen und privaten Verwal­ tung, Pflegepersonal im Gesundheits- und Sozialbereich sowie Grundschul- und Collège-Lehrer. Die Zunahme der » Cadres « bzw. dieses Mittelstandes ist durch die strukturel­ le Veränderung in der Wirtschaft und im Sozialwesen zu erklären. Beide Bereiche verlangten zunehmend gut ausgebildete Fachkräfte und Spezialisten, die – je nach ihrer Qualifikation – Leitungsfunktionen oder zumindest selbständige Tätigkei­ ten in privaten oder staatlichen Institutionen ausüben konnten. Gemeinsam ist ih­ nen eine im Vergleich zu anderen Berufsgruppen gute Bezahlung. Darüber hinaus repräsentieren sie sichtbar die Modernisierung, die Frankreichs Wirtschaft in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts erfahren hat. Oft wurde Frankreich als ein Land charakterisiert, das starke Abgrenzungen zwischen den sozialen Schichten kenne und in dem ein sozialer Aufstieg nur unter sehr erschwerten Bedingungen möglich sei.22 Als Gründe dafür wurden gewöhn­ lich ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein, besonders bei der Arbeiterschaft, und die Selbstrekrutierung der staatlichen und privaten Eliten aus den Hohen Schulen mit der Folge einer personellen Konservierung der (beinahe) alles entscheidenden Grands Corps genannt.23 Wie einige Sozialforscher feststellten, lockerte sich jedoch dieses starre Sys­ tem, welches das Gleichheitsprinzip » mehr falsch als wahr «24 erscheinen ließ, in den beiden letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts.25 Allerdings sind

348

Gesellschaft und sozialer Wandel

Tabelle 15  Veränderungen in den Berufskategorien der Aktivbevölkerung (in %) 1982

2010

Landwirte (einschließlich Landarbeiter)

1962 16

6

2,3

Unternehmer/Handwerker/Gewerbetreibende

11

8

7

1 714

5

8

17

4 297

Freie Berufe/Führungskräfte

in Tausend 519

Intermediäre Berufe

11

16

24

6 281

Einfache Angestellte

18,5

27

29

7 414

Arbeiter

39

33

21

5 467

Quelle: Philippe Estèbe: Entstehung und Niedergang eines Sozialmodells, in: Länderbericht, Bonn 2012, S. 210.

die Chancen für Kinder aus Arbeiter- und Angestelltenfamilien, die soziale Leiter hinaufzusteigen, nach einer Untersuchung des statistischen Instituts INSEE nach wie vor relativ gering. Dagegen erreichen Kinder aus Familien, in denen der Va­ ter oder die Mutter schon zu den » cadres « oder zu den » gehobenen intellektuellen Berufen « zählen, häufig gleichfalls eine solche berufliche Position. Während die französische Bevölkerung gut 50 Prozent Arbeiter und Angestellte umfasst, zäh­ len nur sechs Prozent ihrer Kinder zu den Studierenden an Frankreichs Elitever­ waltungshochschule ENA.26

16.5 Soziale Realitäten 16.5.1 Durchschnittsverdienste Im Jahre 2009 lag der durchschnittliche Bruttoverdienst eines französischen Ar­ beitnehmers bei voller Arbeitszeit in der Privatwirtschaft bzw. im halbstaatlichen Sektor nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge (ohne Steuern) bei 24 492 Euro.27 Frauen verdienten in der Regel 20 Prozent weniger als Männer. Leitende An­ gestellte erzielten etwa dreimal so hohe Einkünfte wie Arbeiter oder Angestellte. Vom Durchschnittswert weichen indessen erheblich die Minimalverdienste und die Spitzengehälter ab. Während eine Führungskraft (» cadre «) im Jahr 2010 ein Netto-Jahresgehalt von durchschnittlich 50 100 Euro (vor Steuern) erhielt, ver­ diente ein Arbeiter bzw. ein einfacher Angestellter ca. 19 200 Euro. Das heißt, ein » cadre « verdiente mehr als doppelt so viel wie ein Arbeiter. Trotz der Differenz

Soziale Realitäten 349

von 1 zu 2,5 haben sich die Gehaltsunterschiede in den letzten 40 Jahren deutlich verringert. Dafür waren besonders eine gerechtere Steuerpolitik und soziale Um­ verteilungsmaßnahmen maßgebend. Die Regionen mit dem höchsten Einkom­ men waren die Ile-de-France, Provence-Alpes-Côte d’Azur, Rhône-Alpes und das Elsass. Zehn Prozent aller Vollzeitbeschäftigten werden nach dem Mindestlohn Sa­ laire Minimum Interprofessionnel de Croissance (SMIC) bezahlt. Dieser betrug im Jahr 2015 durchschnittlich 9,61 Euro in der Stunde. Kritiker sehen in diesem im OECD-Vergleich hohen Mindestlohn eine wesentliche Ursache für die verbreitete Jugendarbeitslosigkeit vor allem unter gering Qualifizierten. In Hinblick auf die Besteuerung der Einkünfte in Frankreich gibt es im Ver­ gleich zu Deutschland einen auffälligen Unterschied: Während in der Bundes­ republik die direkten Steuern das Gros der Staatseinkünfte ausmachen, sind die wichtigsten Einnahmequellen in Frankreich die indirekten Steuern, allen voran die Mehrwertsteuer (Taxe à valeur ajoutée, TVA), deren Normalsatz 20 Prozent beträgt. Ermäßigte Steuersätze von 10, 5,5 und 2,1 Prozent gelten für Hotel- und Gastronomiegewerbe, Nahrungsmittel, Presseerzeugnisse, Bücher und Medika­ mente. Die Einnahmen des Staates aus dieser Steuer sind dreimal so hoch wie die­ jenigen aus der Einkommensteuer. Die politisch heftig umstrittene und erst im Jahre 1981 eingeführte Vermö­ genssteuer28 wurde 2005 merklich verändert, da sie zum einen zu einer beträcht­ lichen Kapitalflucht geführt hatte, zum anderen Personen mit geringem Einkom­ men, aber Immobilienbesitz zum Verkauf ihrer Grundstücke genötigt hatte. Seit 2013 setzt die Vermögenssteuer – nach Streichung umfangreicher Freibeträge – bei 1,3 Millionen Euro ein. Der Steuertarif liegt zwischen 0,5 und 1,5 Prozent der Ver­ mögenswerte. 2013 » kassierte « der Staat 4,4 Milliarden Euro dank dieser Steuer. Als Folge der 2012 vorgenommenen Verschärfungen durch die sozialistische Re­ gierung bei dieser wie auch bei der Einkommensteuer setzte eine Steuerflucht aus Frankreich ein.29 Die unterschiedlichen Abgabenbelastungen von Unternehmen in den Mit­ gliedsstaaten der Europäischen Union führten zu heftigen Diskussionen zwischen Niedrigsteuerländern und Hochsteuerstaaten innerhalb der Europäischen Union. In Frankreich betrug im Jahre 2015 die Abgabenquote (Steuern und Sozialabga­ ben) von Unternehmen 44,5 Prozent, in Deutschland waren es 36,1 Prozent und in Irland nur 29 Prozent. Seit den sechziger Jahren erhöhte sich trotz großer Lohnunterschiede der Le­ bensstandard der Franzosen erheblich. So sind die für alle Industriegesellschaf­ ten typische Attribute des gehobenen Konsums in weiter Verbreitung anzutref­ fen: Nahe­zu alle Haushalte verfügen über Kühlschränke, Fernsehapparate und Telefonanschlüsse; der Autobesitz ist beinahe eine Selbstverständlichkeit. Auch

350

Gesellschaft und sozialer Wandel

sind 63 Prozent aller Haushalte im Besitz von Wohneigentum. Ein weiterer Indi­ kator bestätigt die verbesserte Einkommenssituation: So verreisten im Jahr 2014 74,3 Prozent aller erwachsenen Franzosen in den Urlaub.

16.5.2 Arbeitslosigkeit Spielte das Problem der Arbeitslosigkeit während der » 30 glorreichen Jahre «, so der Bestseller von Jean Fourastié,30 in der politischen und sozialen Diskussion nur eine absolute Nebenrolle, so rückte es insbesondere nach den Erdölkrisen im­ mer stärker in das öffentliche Bewusstsein. Im Jahre 1978 wurde erstmals die Mil­ lionengrenze überschritten. Im Jahre 2015 zählte Frankreich » saisonbereinigt « 3,1 Millionen Arbeitslose, was einer Quote von über zehn Prozent entsprach (in Deutschland: 5,2 Prozent). Damit kletterte die Zahl der Beschäftigungslosen trotz der Reduzierung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich erneut auf ein sehr hohes Niveau, nachdem es Ende der 90er Jahre für kurze Zeit einen gewissen » Sil­ berstreif am Horizont « gegeben hatte. Berücksichtigt man, dass für weitere 1,7 Millionen Personen, hauptsächlich für Jugendliche, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sowie staatlich geförderte berufli­ che Qualifizierungsprogramme zum Tragen kamen, wird das ganze Ausmaß des wichtigsten und dringendsten sozialen Problems deutlich. Zwei Gruppen sind von der Beschäftigungslosigkeit besonders betroffen: Frauen und Jugendliche unter 25 Jahren. 2010 waren – prozentual – mehr Frauen als Männer arbeitslos gemeldet. Dieser Unterschied wird zum großen Teil auf die vergeblichen Versuche von Frauen zurückgeführt, nach Beendigung der Kinder­ erziehung wieder ins Berufsleben zurückzukehren. Geradezu erschreckende Ausmaße hat in Frankreich die Jugendarbeitslosig­ keit angenommen. 23 Prozent aller Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren sind ohne Beschäftigung. Insbesondere Jugendliche mit niedrigen oder fehlenden Schul- und Ausbildungsabschlüssen sind betroffen. Im Jahr 2015 besaßen – laut Arbeitsministerium – zwei Millionen Arbeitslose keinen höheren Schulabschluss; 680 000 konnten nicht einmal den niedrigsten Abschluss (das Certificat d’apti­ tude professionnel) vorweisen.31 Dagegen finden Abiturienten und Absolventen der Hochschulen eher einen Arbeitsplatz. Hollandes Wahlversprechen, 500 000 » Generationenverträge « für Schwervermittelbare bis 2017 zu schaffen, konnte bis­ lang nur zu acht Prozent eingelöst werden. Neben den beschäftigungslosen Jugendlichen, in manchen Vorstädten mit starker nordafrikanischer Bevölkerung über vierzig Prozent, sind die länger als zwölf Monate Arbeitslosen von der ökonomischen Krise besonders betroffen. Ihre

Soziale Realitäten 351

Karte 4  Arbeitslosigkeit in Regionen (2014)

Arbeitslosigkeit im Jahr 2014 je Region in Prozent

(+XX) Steigerung zwischen 2008 und 2014 je Region in Prozent

Nord-Pas-deCalais-Picardie 12,5 (+3,0)

Normandie

Île-deFrance

10,2 (+2,9)

8,8 (+2,5)

Bretagne 8,8 (+2,9)

Centre-Val de Loire

Pays de la Loire

10,1 (+3,0)

BourgogneFranche-Comté

9,5 (+3,3)

8,8 (+2,9)

Alsace-ChampagneArdenne-Lorraine

9,2 (+2,7)

AuvergneRhône-Alpes

Aquitaine-LimousinPoitou-Charentes

8,8 (+2,6)

9,6 (+2,8)

Languedoc-RoussillonMidi-Pyrénées 12,0 (+3,5)

Provence-AlpesCôte d’Azur 11,5 (+3,1)

Korsika 10,6 (+3,0)

Prozentsatz und schwache Veränderung im Zeitraum 2008–2014

schwächere Steigerung, aber deutliche Erhöhung

schwächere Steigerung ohne Veränderung

starke Erhöhung und starke Veränderung

9,5 %

durchschnittliche Arbeitslosigkeit 2014 im Mutterland

+2,8 %

Steigerung der Arbeitslosigkeit 2008–2014

Quelle: Daten: INSEE, Infographie, Le Figaro, 5. 11. 2015; http://www.lefigaro.fr/economie/le-scan-eco/ dessous-chiffres/2015/11/05/29006-20151105ARTFIG00020-quelles-sont-les-regions-francaises-les-plustouchees-par-le-chomage.php; Karte: Karte der französischen Regionen (seit 1. Januar 2016) von TUBS, Nutzung unter CC BY_SA 3.0 de, https://de.wikipedia.org/wiki/Region_(Frankreich)#/media/File:France,_ administrative_divisions_-_de_(%2Boverseas)_-_colored_2016.svg; eigene Überarbeitungen

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Gesellschaft und sozialer Wandel

Zahl lag 2012 bei über der Hälfte aller Arbeitslosen. 20,1 Prozent unter ihnen such­ ten schon seit drei Jahren einen neuen Arbeitsplatz. Auch bei den Langzeitarbeits­ losen lag die Zahl der Jugendlichen, die länger als zwölf Monate auf Arbeitssuche waren, überproportional hoch.32 Mit Hilfe diverser Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sowie weiterer Hilfspläne durch Lohnsubventionen sowie die Freistellung von Sozialabgaben sollen Lang­ zeitarbeitslose und Jugendliche (wieder) in den Arbeitsprozess integriert werden. Fragt man nach der Effizienz dieser von der Regierung finanziell unterstützten Maßnahmen, dann sind allenfalls sehr bescheidene Erfolge anzuführen. Nur je­ der zweite Geförderte fand einen Arbeitsplatz, und dies meistens über ein erneu­ tes Förderprogramm. Die andere Hälfte wurde entweder wieder arbeitslos oder sie konnte eine Frühverrentung beanspruchen. Regional ist die Arbeitslosigkeit sehr unterschiedlich verteilt. Am stärksten sind die Regionen des » alten Industriedreiecks « im Norden und im Osten und in Zentralfrankreich von der Arbeitslosigkeit betroffen. Aber auch in einigen Gebie­ ten am gesamten Mittelmeersaum und in den Pyrenäen ist die Zahl der Arbeitssu­ chenden überproportional hoch. (Zur Arbeitslosenversicherung siehe Seite 360.) Studien, die den » Wohlstand « in den Ländern der Europäischen Union mit­ einander vergleichen, bescheinigen Frankreich, es gehöre – gemessen am Brutto­ inlandsprodukt je Einwohner – zu den reichen Staaten der Union. Unter den grö­ ßeren Mitgliedsstaaten lag es zeitweise sogar noch vor Deutschland an der Spitze. Solche positiven Zahlen kontrastieren umso mehr mit Verhältnissen bitterer Armut bei einem Teil der Bewohner des Nachbarlandes: Nach den Untersuchun­ gen des statistischen Amtes INSEE fielen im Jahre 2009 sechs Prozent der Bevöl­ kerung bzw. etwa 8,2 Millionen Menschen unter die monatliche Armutsgrenze von 954 Euro, ein Betrag, welcher der Hälfte des durchschnittlichen Monatsein­ kommens entspricht. Hauptsächlich sind – neben Ausländern – Frauen und junge Menschen von Armut betroffen. Im Jahre 2009 galten etwa 2,4 Millionen Kinder unter 18 Jah­ ren als arm, da vielfach aus alleinerziehenden Familien stammend. Nach Schät­ zungen karitativer Einrichtungen lebt rund eine halbe Million Menschen » auf der Straße «. Allein im Großraum Paris wird die Zahl der Obdachlosen mit 40 000 bis 60 000 Personen angegeben. Nach einem Regierungsbericht vagabundieren zwi­ schen 300 000 und 400 000 entwurzelte Jugendliche durch Frankreich.33 Die Zahl der Bedürftigen, die bei privaten Wohlfahrtsorganisationen wie etwa von dem inzwischen verstorbenen Komiker Coluche gegründeten » Restaurants du Cœur « oder der Stiftung Emmaüs des Abbé Pierre um eine kostenlose Mahl­ zeit bitten, steigt ebenfalls beständig. Dabei war es dem französischen Staat dank enormer Investitionen in dem So­ zialbereich seit Mitte der siebziger Jahre durchaus gelungen, die so genannte alte

Soziale Realitäten 353

Armut weitgehend zu beseitigen. Rentnern, Behinderten, kinderreichen Familien wurden verbesserte Sozialleistungen und staatliche Beihilfen zuteil.34 Gleichzeitig verbesserte sich dank eines groß angelegten Förderprogramms im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus die Versorgung einkommensschwacher Haushalte mit preisgünstigen Mietwohnungen, so dass jede sechste französische Familie in einer HLM-Wohnung oder einer anderen Sozialwohnung lebt. Mit dem Beginn der ökonomischen Krise seit etwa 1980 entstand eine neue Form von Armut, die sich seither zunehmend verstärkte und – trotz eines Geset­ zes gegen die Ausgrenzung vom Juni 1998 und der Einsetzung von Ministern oder Staatssekretären für die » nationale Solidarität « – zu der massenhaften Erschei­ nung der » gesellschaftlich Ausgegrenzten « führte. ■■ Ausgrenzung durch den Verfall familiärer Bindungen: Die Zahl der Alleiner­ ziehenden (meist Frauen) ist mittlerweile auf ein Fünftel aller Familien mit Kindern angestiegen – eine Steigerung um 24 Prozent seit 1999. ■■ Ausgrenzung durch den Verlust von Wohnraum: Zwar hat nach einem Ge­ setz aus dem Jahre 1990 jeder Anspruch auf angemessenen Wohnraum; be­ sondere Probleme ergeben sich aber in den Großstädten, wo dieser für ein­ kommensschwache Bevölkerungskreise häufig nicht in ausreichendem Maße vorhanden ist. Vereinzelte Zwangsbelegungen leer stehender Gebäude durch die Stadtverwaltungen bieten letztlich keinen Ausweg. Die Konzentration von Migrantenfamilien in den HLM-Mietskasernen in den Vorstädten nahezu al­ ler größeren französischen Gemeinden bildet den Nährboden für regelmäßige soziale Unruhen. Zwar verpflichtet ein Gesetz (Loi de solidarité et de renou­ vellement urbain) 750 Gemeinden, 20 Prozent des Gesamtwohnraums als So­ zialwohnungen zur Verfügung zu stellen. Jedoch unterlaufen sehr viele dieser Gemeinden die Bestimmung durch Zahlung einer Strafgebühr. ■■ » Exclusion « durch Arbeitslosigkeit, insbesondere wenn diese zu einem Dauer­ zustand wird und das Arbeitslosengeld in eine Sozialhilfe in Form eines fes­ ten Tagessatzes umgewandelt wird. » Hauptursache für Arbeitslosigkeit [unter Jugendlichen] sind nicht etwa Entlassungen, sondern auslaufende Leih- oder Zeitverträge, « kommentiert der Sozialwissenschaftler Estèbe diese Form der » neuen Armut «.35 ■■ Ausgrenzung durch Zurückweisen zahlreicher Jugendlicher, besonders aus Immigrantenfamilien, bei der Bewerbung um einen Arbeitsplatz wegen feh­ lender Sprachkenntnisse, mangelnder beruflicher Qualifikation und wegen ihrer Hautfarbe. Es ist letztlich eine Kombination der Faktoren Arbeitsplatzverlust bzw. fehlender Berufseinstieg, Wegfall regelmäßiger Einkünfte, Überschuldung, häufiger Verlust

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der Wohnung wegen Mietrückständen und Auseinanderbrechen der Familien, die für die Entstehung der » neuen Armut « verantwortlich ist. Ende 2010 erhielten 3,6 Millionen Personen eine staatliche Unterstützung in Form einer Sozialhilfe.36 In Einlösung eines Wahlversprechens des Präsidentschaftskandidaten François Mitterrand schuf die Regierung Rocard 1988 für alle mindestens 25-jährigen Fran­ zosen sowie für alle seit fünf Jahren legal in Frankreich lebenden Ausländer, aber auch für junge Eltern unter 25 Jahren eine Sozialhilfe, die ex-RMI – seit Ja­nuar 2009 umbenannt in Revenu de solidarité active (RSA). Bezieher haben nun die Möglichkeit auf Zusatzverdienste. Damit sollen Anreize zur Aufnahme einer Be­ schäftigung geschaffen werden. Kritiker sehen darin aber die Gefahr prekärer Ar­ beitsverhältnisse.37 Im Jahr 2011 erhielten 4,26 Millionen Personen diese Form der Sozialhilfe: Einzelpersonen erhielten 467 Euro, (Ehe-)Paare 700 Euro. Für Kinder wird ein zusätzlicher Betrag von 110 Euro gewährt, ab dem 3. Kind etwa 130 Euro. Darüber hinaus gewährt der Gesetzgeber jedem » RSAsten « Wohngeld und er übernimmt die in Zusammenhang mit Krankheit und Gesundheitsfürsorge auf­ tretenden Kosten einschließlich des normalerweise anfallenden Selbstvorbehalts bei Medikamenten, Hilfsmitteln und Arztbesuchen. Für die Vermittlung geeigne­ ter Aus- und Fortbildungsplätze sind die Departements mit ihren professionellen » Wiedereingliederungsräten « zuständig. Als Gegenleistung ist der RSA-Empfänger verpflichtet, nicht nur alle drei Mo­ nate seine Einkommenssituation darzulegen, sondern auch an Maßnahmen zur beruflichen Wiedereingliederung teilzunehmen. Zweifellos handelt es sich bei diesem » Junktim « um einen neuen Ansatz staatlicher Arbeitsmarktpolitik, der Programme der Ausbildung und Fortbildung gezielt als Mittel zur Verhinderung verbreiteter gesellschaftlicher Ausgrenzungen einsetzt. Seit der Kompetenzverla­ gerung der Sozialhilfe auf die Departements sind diese für die Auszahlung, Ver­ waltung und Vermittlung geeigneter Aus- und Fortbildungsplätze zuständig. Auffallend ist das sehr geringe Ausbildungsniveau bei fast 90 Prozent der Empfänger dieser sozialen Grundsicherung. Etwa ein Drittel erhielt länger als ein Jahr diese Eingliederungshilfe, davon die Hälfte wenigstens schon seit zwei Jahren. Ob das neue RSA-Programm mit seinen zusätzlichen Fortbildungsmaßnah­ men erfolgreich sein wird, bleibt abzuwarten. Immerhin: Hauptsächlich jungen Menschen vermittelt es das Gefühl, in den Arbeitsprozess wenigstens für eine be­ grenzte Zeit (maximal drei Jahre) einbezogen zu sein.

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16.6 Das soziale Netz 16.6.1 Alterssicherung Von der allgemeinen Erhöhung des Lebensstandards profitierten in zunehmen­ dem Maße auch Frankreichs Rentner und Pensionäre. Lange Zeit gewährte die staatliche Alterssicherung nur die notdürftigsten Existenzhilfen. Seit etwa den 70er Jahren ermöglichen sie jedoch dem überwiegenden Teil der über Sechzig­ jährigen einen bescheidenen, im Vergleich zu früher aber relativ zufriedenstellen­ den Lebensstandard. Fast alle Beschäftigten in Frankreich sind Mitglied einer nach Berufsgruppen gegliederten Rentenversicherung.38 Grundsätzlich unterscheidet man zwischen der gesetzlichen Rentenversicherung einerseits, den betriebsfinanzierten Zusatz­ rentenversicherungen für Führungskräfte (AGIRC) und für alle übrigen Arbeit­ nehmer (ARRCO) andererseits.39 Mitglieder freier Berufe, Gewerbetreibende, Handwerker und Landwirte sind durch eigene Rentenkassen ebenfalls im Alter abgesichert. Für Staatsbedienstete gibt es wiederum Spezialkassen. Lässt man diese Sonderregelungen außer Betracht, so erhalten 70 Prozent aller Arbeitnehmer zwei Renten: die allgemeine Altersversorgung sowie die genannte, überwiegend obligatorische, betriebsfinanzierte Zusatzrente, die auf zahlreichen betrieblichen und überbetrieblichen Regelungen zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften beruht. Einen Rentenanspruch haben alle Arbeitnehmer seit der Reform von 2010 ab dem 62. Lebensjahr (Vorruhestand und Aufschub sind möglich). Zwar ließ die Linksregierung diese Verlängerung unangetastet, » unterlief « sie jedoch für jene, die mit 18 oder 19 Jahren eine Arbeit aufnahmen. Für sie gilt nunmehr wieder das Renteneintrittsalter von 60 Jahren. Auch können Beschäftigte, die beschwerliche Arbeit ausführen, » Punkte « auf einem Konto sammeln, das der Arbeitgeber zu führen hat. Diese Aufzeichnungen führen für die meisten Arbeitnehmer zu einem früheren Rentenbezug. Die Höhe der Rente des allgemeinen Systems errechnet sich seit der Reform von 1993 aus den 25 am höchsten bezahlten Versicherungsjahren. In der Regel be­ läuft sich diese auf maximal fünfzig Prozent des Netto-Jahresverdienstes. Diese häufig bescheidenen Renten werden durch die betrieblichen Zusatzversicherun­ gen aufgebessert. Im Jahr 2010 lag die monatliche Durchschnittsrente für Männer bei 1 426 Euro, für Frauen bei 825 Euro, so dass die durchschnittliche Rentenhö­ he 64 Prozent betrug.40 Ungeachtet dieses im europäischen Vergleich relativ ho­ hen Satzes müssen aber über 600 000 Personen mit einer Monatsrente von knapp 700 Euro leben. Arbeitslose erhalten eine Grundrentensicherung. Finanziert wird das Rentensystem – außer durch staatliche Zuschüsse – durch

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ein Umlageverfahren aus Beitragszahlungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Generell beträgt dieser Beitragssatz für beide Rentenarten bis zur Beitragsbemes­ sungsgrenze insgesamt über 23 Prozent, von denen die Arbeitgeber deutlich mehr als die Hälfte zu übernehmen haben.41 Wie manche andere Mitgliedsländer der EU steht auch Frankreich bei der Fi­ nanzierung des Rentensystems vor großen Zukunftsproblemen, da die Zahl der Senioren über 60 Jahre von 23 Prozent der Gesamtbevölkerung im Jahre 2009 auf 33 Prozent im Jahre 2020 steigen wird, was zu starken Ausgabensteigerun­ gen bei der Altersversorgung führen dürfte. Im Jahre 2009 lag der Ausgabenan­ teil für die 14,7 Millionen Rentner bei 14,5 Prozent des BIP (in Deutschland waren es 13,1 Prozent). Um eine Steigerung der Ausgaben bei einer weiteren Zunahme von Pensionä­ ren bei einer gleichzeitig rückläufigen Zahl von Beitragszahlern zu verhindern, wurden folgende Reformschritte beschlossen: Um das Defizit von fast 20 Milliar­ den Euro abzubauen, verlängerte die sozialistische Regierung im Sommer 2013 die erforderliche Beitragsdauer, um die vollen Rentenbezüge zu erhalten. Bis 2019 erhöht sich diese Verlängerung auf 41 Jahre und sechs Monate, um bis zum Jahr 2035 auf 43 Jahre zu steigen. So wird beispielsweise der Geburtsjahrgang 1973, der mit etwa 23 Jahren in das Berufsleben eingetreten ist, erst mit etwa 66 Jahren An­ spruch auf die volle Rente haben.42 Außerdem erfolgte eine Steigerung der Renten­ beiträge für Arbeitgeber und Arbeitnehmer um jeweils 0,3 Prozent. Die jährliche Rentenanpassung an die Inflation wurde um ein halbes Jahr verschoben. Faktisch handelt es sich bei all diesen Maßnahmen um eine Rentenkürzung. Frankreich bevorzugt eine Erhöhung der Beitragsdauer und eine Erhöhung der Sozialabga­ ben anstelle einer Verlängerung des gesetzlichen Rentenalters. Dem stets streikbereiten öffentlichen Dienst gelang es, bei der jüngsten Ren­ tenreform – der fünften in zwanzig Jahren – einen Teil seiner Privilegien gegen allzu starke Einschnitte zu verteidigen. Wie in Deutschland ist auch in Frankreich allen Beteiligten klar, dass nur durch die Absenkung der Leistungen und durch den – bislang wenig verbreiteten – Aufbau einer privat finanzierten Zusatzrente eine langfristige Sicherung der beste­ henden Sozialsysteme garantiert werden kann. Ob es gelingen wird, den Fehlbe­ trag – wie von der Regierung erhofft – langfristig abzubauen, ist fraglich.

16.6.2 Das Sozialversicherungssystem Im Jahre 2015 verbuchte die am 4. Oktober 1945 gegründete » Sécurité sociale « ein Rekorddefizit von fast 11 Milliarden Euro. Gebührenerhöhungen, Sondersteuern, Einsparungen bei Arzt- und Krankenhauskosten sowie Drosselung des ausufern­

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den Medikamentenkonsums sollen helfen, in den kommenden Jahren den » fi nan­ ziellen Bankrott « zu verhindern.43 Die » Sécu «, wie sie fast liebevoll in Frankreich genannt wird, gilt als Sym­ bol für das Prinzip der Gleichheit und der Solidarität sowie als eine der wichtigs­ ten sozialen Errungenschaften der Nachkriegszeit. Von Plänen des » Nationalen Widerstandsrates « inspiriert, sollte das neue Sozialversicherungssystem einzelnen Berufsgruppen bereits zustehende Leistungen vereinheitlichen und auch verbes­ sern sowie darüber hinaus alle Bürger in möglichst gleicher Weise gegenüber den hauptsächlichen Lebensrisiken absichern. Dem Grundsatz der Solidarität gemäß sollten die Leistungen in Anlehnung an die Sozialreformgesetzgebung Bismarcks durch Pflichtbeiträge der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer finanziert werden. Während der gesamten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts blieben die Grundsät­ ze vom Oktober 1945 im Wesentlichen gültig. Eine Modifikation ergab sich indes­ sen insofern, als zahlreiche Sonderregelungen für einzelne Berufsgruppen der ur­ sprünglichen Intention eines einheitlichen Leistungsprofils immer mehr zuwider liefen. Nur bei den Familienbeihilfen sind alle Versicherten ungeachtet ihres be­ ruflichen Status noch weitestgehend gleichgestellt.44 Mittlerweile kommt nahezu die gesamte Bevölkerung in den Genuss der So­ zialversicherung. Im Jahre 2009 betrugen die Gesamtausgaben ihrer drei Haupt­ zweige 624,4 Milliarden Euro. Aufgrund der längeren Lebenszeit der Versicherten, einer besseren medizi­ nischen Versorgung, zusätzlicher Leistungen und überhaupt eines größeren An­ spruchsdenkens der Leistungsempfänger vervielfältigte sich der Anteil aller Sozial­ ausgaben am Bruttoinlandsprodukt. So belaufen sich die gesamten Sozialausgaben mittlerweile auf über 31,3 Prozent des französischen BIP. Die Finanzierung der » Sécu « wird von den Versicherten und den Arbeitge­ bern zu etwa 70 Prozent gemeinsam getragen. Den Rest übernimmt der Staat, der zur Finanzierung seines Anteils Sondersteuern, u. a. in Form der Contribution so­ ciale généralisée mit einem Hebesatz von durchschnittlich 7,5 Prozent auf alle zu versteuernden Einkommen, erhebt. Allerdings ist die Beitragsbelastung für Arbeitgeber und Leistungsempfänger deutlich zuungunsten der ersten Gruppe verschoben, so dass Frankreich dasje­ nige Land innerhalb der OECD ist, das den Betrieben die höchsten Kosten im Sozialbereich aufbürdet.45 Inzwischen hat der Staat bei Langzeitarbeitslosen und Schwervermittelbaren einen Teil dieser Lohnnebenkosten übernommen, um so Anreize für mehr Beschäftigungsstellen zu schaffen. Aber auch trotz der Entlas­ tungen liegen die Arbeitgeberbeiträge deutlich über denjenigen in den übrigen OECD-Ländern. Die Sécurité sociale deckt drei Hauptbereiche ab: Neben der gesetzlichen Al­ tersversicherung, deren Anteil am Gesamtvolumen aller Leistungen inzwischen

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fast die Hälfte beträgt, sind dies die gesetzliche Krankenversicherung (etwa ein Drittel der Gesamtausgaben), die Familienbeihilfen und die Unfallversicherung. Die Arbeitslosenversicherung gehört strenggenommen nicht dazu. Ergänzt wird das System durch die Sozialhilfe (Aide sociale), für die seit der Dezentralisierung die Departements und – in einem geringeren Maße – die Ge­ meinden zuständig sind. Insgesamt fließt fast die Hälfte der Staatsausgaben in die Sozialversicherungen. Die Nationale Krankenversicherungskasse (Caisse Nationale d’Assurance Maladie – CNAM) Sie trägt die Kosten für Mutterschaft, Krankenversorgung, Invalidität, Todesfall, Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Insgesamt lagen 2010 die Kosten des fran­ zösischen Gesundheitswesens bei 234 Milliarden Euro, was 12 Prozent des BIP ent­ sprach. Nach den USA ist Frankreich das Land mit den höchsten Pro-Kopf-Ausga­ ben im Gesundheitswesen. Freie Arztwahl, Verschreibungsfreiheit, ein sehr hoher Verbrauch an Arzneimitteln sowie insgesamt eine exzellente Versorgung haben 2015 zu einem Defizit von fast sechs Milliarden Euro geführt.46 Bei der Krankenversicherung besteht im Unterschied zu Deutschland, wo das Sachleistungsprinzip gilt, das Kostenerstattungsprinzip. Bei ärztlichen und zahn­ ärztlichen Untersuchungen werden 70 Prozent der Behandlungskosten und des Zahnersatzes, für Medikamente, mit Ausnahme lebenswichtiger Präparate, im all­ gemeinen 70 Prozent erstattet. Bei den Krankenhauskosten hat der Versicherte in der Regel 20 Prozent selbst zu tragen. Ausnahmeregelungen gibt es bei langwieri­ gen Behandlungen und für Bedürftige. Die Selbstbeteiligung an den Krankheits- und Krankenhauskosten wird meist durch private Zusatzversicherungen abgedeckt, die mittlerweile 80 Prozent aller Franzosen abgeschlossen haben.47 Seit 2000 erlaubt eine neue Versicherung, die Couverture maladie universelle (CMU), allen Versicherten, die sich den Selbst­ kostenanteil nicht leisten können, den kostenfreien Zugang zu allen medizini­ schen Leistungen. Eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall – nach einer 10-tägigen Karenzzeit – besteht in Höhe von 90 Prozent des Bruttolohns für die ersten 30 Tage und von zwei Drittel für einen weiteren Monat für alle Arbeitnehmer mit mindestens drei­ jähriger Betriebszugehörigkeit. Anschließend wird von der Krankenversicherung eine Entgeltfortzahlung in Höhe von 50 Prozent des Grundlohns (bei drei und mehr Kindern von zwei Drittel) für maximal drei Jahre gezahlt.48 Beim sechzehnwöchigen Mutterschutz werden – außer einem Zuschuss vom Arbeitgeber – 85 Prozent des Bruttolohns gezahlt. Alle Sachleistungen für die Ent­

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bindung und den Krankenhausaufenthalt übernimmt ebenfalls die CNAM in vol­ lem Ausmaß. Seit 2002 haben Pflegebedürftige im Alter ab 60 Jahren Anspruch auf entspre­ chende Unterstützungen. Hilfen werden gezahlt für die häusliche Pflege sowie als Beihilfe bei der dauerhaften Unterbringung in Pflegeeinrichtungen. Die Kasse für Familienbeihilfen (Caisse Nationale d’Allocations Familiales) Dank eines umfangreichen Angebots von Geld- und Betreuungsleistungen zählt Frankreich mittlerweile zu den geburtenfreudigsten Staaten der EU. Durch­ schnittlich zwei Kinder kommen auf eine Frau. Doppelt so viele Kinder wie in Deutschland wachsen in Familien mit drei oder mehr Kinder auf; dies betrifft 6,3 Prozent aller Haushalte. Kinder sind dank der großzügigen Betreuungsmaßnahmen kein Berufs- oder Karrierehindernis. 70 Prozent aller französischen Mütter mit Kindern unter sechs Jahren sind berufstätig. Bei zunehmender Bildung steigt – im Gegensatz zu Deutschland – der Kinderwunsch. So bleiben in Frankreich nur 10 Prozent der Akademikerinnen kinderlos. Mit knapp 30 Prozent Frauen mit Kindern im fran­ zösischen Top-Management hält das Land den » Europarekord «.49 Die Förderung des Nachwuchses lässt sich der französische Staat beachtliche Summen kosten. So beliefen sich die Familienbeihilfen auf 3,2 Prozent des BIP bzw. auf etwa 77 Milliarden Euro.50 Ziel der französischen Regierungen ist es, die Geburtenrate mit Hilfe einer Fülle finanzieller und materieller Anreize auf eine Quote von 2,1 Prozent zu steigern. Allen in Frankreich dauerhaft Beschäftigten steht – unabhängig vom Einkom­ men – ein Kindergeld ab dem zweiten Kind zu. Betrug dieses im Jahr 2013 monat­ lich für zwei Kinder 129 Euro, so stieg es bei höherer Kinderzahl deutlich an: für drei Kinder insgesamt 295 Euro, für jedes weitere Kind 160 Euro. Seit 2015 » grei­ fen « Kürzungen beim Kindergeld: Familien mit einem Gesamteinkommen von 6 000 Euro erhalten nur noch die Hälfte des Kindergeldes, ab 8 000 Euro nur noch ein Viertel. Ein » Begrüßungsgeld « in Höhe von 826 Euro zahlt der französische Staat seit Anfang 2004 für jedes geborene oder adoptierte Kind, sofern das Familieneinkom­ men unter einer – großzügig bemessenen – Höchstgrenze liegt. Zudem gewährt er ein einkommensabhängiges Erziehungsgeld, wenn ein Elternteil die Arbeitszeit reduziert oder für drei Jahre unterbricht, um sich der Kindererziehung zu widmen. Finanziert werden die Allocations familiales hauptsächlich aus öffentlichen Mitteln sowie Arbeitgeberbeiträgen in Höhe von 5,4 Prozent der Bruttolöhne. Außer dem im europäischen Vergleich großzügigen Kindergeld gibt es ne­ ben der (einkommensunabhängigen) Säuglingsbeihilfe weitere Familienzulagen

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für Einkommensschwache, für Alleinerziehende, für den jährlichen Schulbeginn, für die Betreuung von Kindern berufstätiger Eltern, sofern beide oder der allein­ erziehende Teil einen Beruf ausüben. Daneben erhalten Familien ein personenbezogenes Wohngeld, das sich nach dem Einkommen und der Zahl der Kinder richtet. Der Mutterschutz, der beim ersten und zweiten Kind jeweils sechs Wochen vor sowie zehn Wochen nach der Geburt beträgt, erhöht sich vom dritten Kind an auf 26 Wochen. Erleichtert wird den Müttern die Wiederaufnahme ihrer Berufstätigkeit durch den hervorragen­ den Ausbau der kostenlosen Ganztagsschulbetreuung ab dem dritten Lebensjahr. Nahezu alle Kinder besuchen diese Ecoles maternelles. Die Arbeitslosenversicherung Während in Deutschland die Nürnberger Bundesagentur für Arbeit für die Un­ terstützung von Arbeitslosen verantwortlich ist, kümmert sich in Frankreich seit 2009 der Pôle emploi um Arbeitsuchende. Alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind verpflichtet, ihm beizutreten; sein Verwaltungsrat wird paritätisch von Ar­ beitgeberverbänden und Gewerkschaften besetzt. Sie bestimmen die Bedingun­ gen für den Bezug von Arbeitslosengeld. Finanziert wird dieses für alle Arbeitnehmer gültige System zu zwei Drittel durch die Beitragszahlungen der Arbeitgeber (vier Prozent vom Bruttoverdienst) sowie der Lohn- und Gehaltsempfänger (2,4 Prozent). Das restliche Drittel wird vom Staat übernommen. Daneben existiert ähnlich wie in Deutschland eine staat­ liche Arbeitslosenhilfe, die Allocation de solidarité spécifique (siehe unten). Wie in den meisten übrigen Ländern der Europäischen Union ist auch in Frankreich die Zahlung des Arbeitslosengeldes von bestimmten Voraussetzungen abhängig, die hier nur stark vereinfacht wiedergegeben werden können. Einen Anspruch auf Arbeitslosenleistungen haben nur Personen, die in den letzten 28 Monaten vor der Arbeitslosigkeit mindestens sechs Monate beschäf­ tigt waren.51 Folglich hatte laut Arbeitsministerium im September 2012 nur die Hälfte der beim Pôle emploi gemeldeten Arbeitsuchenden Anspruch auf Arbeits­ losengeld.52 Die maximale Bezugsdauer beträgt 24 Monate. Die Höhe des sozial­ versicherungs- und einkommensteuerpflichtigen Arbeitslosengeldes liegt zwi­ schen 57 Prozent und – bei Geringverdienern – bei 75 Prozent. Im Jahr 2014 lag der monatliche Mindestbetrag bei etwa 860 Euro netto, der Höchstbetrag für Spit­ zenverdiener bei etwa 6 300 Euro netto. Wird ein Arbeitnehmer arbeitslos, muss er erst eine siebentägige Karenzfrist einhalten, bevor Leistungen ausgezahlt werden.53 Jährlich beträgt das Defizit drei bis vier Milliarden Euro. Die Gesamtverschul­ dung der Arbeitslosenversicherung belief sich im Jahr 2015 auf 26 Milliarden Euro. Folglich drängt die Regierung die Sozialpartner, deutliche Leistungseinschnitte vorzunehmen.

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Solidaritätsbeihilfen (Allocation de solidarité spécifique, ASS) Ist der Anspruch auf Arbeitslosengeld erloschen oder besteht wegen fehlender Bei­ tragszeiten kein Anspruch auf dasselbe, dann gewährt der Staat diesen Beschäf­ tigungslosen ein staatlich garantiertes Mindesteinkommen aus Steuermitteln, die ASS, sofern er in den letzten zehn Jahren mindestens fünf Jahre gearbeitet hat. Die Höhe beträgt 16,25 Euro pro Tag bzw. 487,50 Euro im Monat.54 Liegt entweder überhaupt kein oder nur ein zeitlich sehr limitierter Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung vor, wie dies für viele Jugendliche zwischen 16 und 25 Jahren zutrifft, dann gehen diese Beschäftigungslosen » leer « aus. Fasst man die hier nur in groben Zügen dargestellte französische Sozialpo­ litik zusammen, so ist ihr im internationalen Vergleich ein hohes Leistungsni­ veau zu bescheinigen. Ebenso wie in den Nachbarländern steht das soziale Netz in Frankreich aber vor drei großen Herausforderungen: Bei einem Gesamtdefizit von fast 11 Milliarden Euro im Jahr 2015 bedarf die Sozialversicherung der Sanie­ rung, ohne dass zusätzliche Abgabenerhöhungen die Arbeitskosten belasten und damit die Wettbewerbsfähigkeit der französischen Unternehmen schwächen. Ob dafür die seit Mitte der neunziger Jahre beschlossenen Maßnahmen ausreichen, um die Sozialkassen zu stabilisieren und das Defizit auszugleichen, bleibt abzu­ warten. Ohne ein stärkeres Wirtschaftswachstum und folglich eine höhere Be­ schäftigungsquote dürfte auch das französische Sozialsystem nicht von weiteren Kürzungen verschont bleiben.

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Frankreichs Außenpolitik wird seit Kriegsende von den folgenden Grundzielen bestimmt: Alle Staatspräsidenten der V. Republik legten größten Wert auf die na­ tionale Unabhängigkeit des Landes, und zugleich suchten sie Frankreichs » exzep­ tionelle « Stellung in der Weltpolitik ebenso energisch und, wenn nötig, kompro­ misslos zu bewahren. » Frankreich kann nicht ohne Größe sein, « so Charles de Gaulle.1 Ungeachtet des realen Status der seit 1945 auf eine Mittelmacht reduzierten be­ anspruchten die führenden Politiker aller Parteien eine Sonderrolle in der Welt­ politik. Bis zum Zerfall der osteuropäischen sozialistischen Staatenwelt hatte dieser Anspruch eine gewisse Grundlage in der Funktion einer Schutzmacht in Berlin, der » Verantwortung für Deutschland als Ganzes «, dem ständigen Sitz im Welt­ sicherheitsrat sowie seit 1960 im Besitz einer eigenen Atomstreitmacht. Von die­ sen Attributen einer herausragenden Stellung in der Welt sind nur noch das Ve­ torecht im UN-Sicherheitsrat und die in ihrer Abschreckungswirkung inzwischen eher fragwürdige Force de Frappe geblieben. Die deutsche Einheit ließ Frankreich schlagartig bewusst werden, dass es seine seit de Gaulles Präsidentschaft akzep­ tierte kontinentale Führungsrolle in Kernfragen westeuropäischer Politik verlo­ ren hatte und seither nicht nur geographisch eher eine Randlage einnimmt. Eine umso stärkere Bedeutung gewinnt daher die bescheidene atomare Bewaffnung. Die Kernwaffen sind für nahezu alle politischen Kräfte in Frankreich ein Symbol der nationalen Unabhängigkeit. Sie untermauern auch den beanspruchten Son­ derstatus, insbesondere im Verhältnis zu Deutschland.2 An allen transatlantischen und europäischen Einigungs- und Integrationsbe­ mühungen beteiligte sich Frankreich nach 1945 aktiv. Als eine der Siegermächte stand Frankreich vor der Grundsatzfrage, wie es mit dem besiegten Deutschland, in dem ihm die übrigen Alliierten eine Besatzungszone zugesprochen hatte, um­ 363 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 U. Kempf, Das politische System Frankreichs, DOI 10.1007/978-3-658-08208-6_17

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gehen sollte. Zunächst war die Diskussion von der Forderung nach » Sicherheit vor Deutschland « beherrscht; vor dem Hintergrund des zunehmenden Kalten Krieges wich diese der Frage nach » Sicherheit mit Deutschland «. Auch auf Druck der üb­ rigen westlichen Siegermächte setzte sich die Einsicht durch, (West-)Deutschland in die westliche Welt zu integrieren. So akzeptierte Frankreich die Gründung der (zunächst nicht souveränen) Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949. Vor dem Hintergrund des zunehmend aggressiveren Verhaltens des einstigen sowjetischen Bündnispartners in den besetzten osteuropäischen Ländern und in seiner Besat­ zungszone war Frankreich bereit, Westdeutschland in das atlantische Bündnis einzubeziehen, um es damit gleichzeitig kontrollieren zu können. Erster Meilen­ stein auf diesem Weg war die auf Vorschlag des Planungskommissars Jean Monnet und des Außenministers Robert Schuman im Jahr 1952 gegründete Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl: die Montanunion. Sie bildete die Grundlage für die weitere Vertiefung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit der – zunächst – sechs Gründerstaaten und wurde zum ersten Vorläufer der heutigen Europäischen Union. Kohle und Stahl wurden der nationalen Politik entzogen und durch die in Luxemburg sitzende gemeinsame Kommission verwaltet. Für Frankreich bestand nunmehr die Garantie, dass Deutschland seine Montanindustrie nicht mehr gegen gesamteuropäische Interessen einsetzen konnte. Während Frankreich, die Bene­ lux-Staaten und Italien Souveränitätsrecht an die Kommis­sion abtraten, gewann Westdeutschland ein Mitbestimmungsrecht in der Luxemburger Behörde.3 Die geplante Europäische Verteidigungsgemeinschaft scheiterte 1954 am Vo­ tum der französischen Nationalversammlung. Da Frankreich zu einem solch weit­ reichenden Souveränitätsverzicht nicht bereit war, ging die » Sicherheitspartner­ schaft « (Henrik Uterwedde) auf wirtschaftlicher Ebene kontinuierlich weiter. 1957 einigten sich die Staaten der Montanunion, die wirtschaftliche Integration durch die Schaffung eines gemeinsamen Marktes, eine Zollunion voranzutreiben. An­ fang 1958 trat der Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in Kraft. Durch die zunehmende Integration Westdeutschlands in die wirtschaft­ liche Partnerschaft sowie in die NATO im Jahr 1955 verflüchtigte sich in Frank­ reich die Furcht vor deutschen Alleingängen, den befürchteten incertitudes al­ lemandes. Auch nach der Rückkehr General de Gaulles an die Macht wurde die europäische Einigung kontinuierlich fortgesetzt. Er hatte – ebenso wie viele an­ dere französische Politiker – erkannt, dass die deutsch-französische Kooperation eine » Schlüsselrolle einnahm « und dass in der gemeinsamen Union » nichts geht, solange Frankreich und Deutschland keine gemeinsame Linie gefunden haben «.4 Die europäische Union war und ist für die französische Politik ein Instrument, um Deutschland zu zähmen und den französischen Einfluss in Europa abzusi­ chern. Für den General stand außer Frage, dass dem Land in der wirtschaftlich zusammenwachsenden Sechsergemeinschaft die politische Führungsrolle zukam.

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Diesen » Vortritt « (so Helmut Schmidt) akzeptierten bis zur Wiedervereinigung alle Bundeskanzler. Zwar sahen die EWG-Verträge eine stärkere supranationa­ le Kooperation bei gleichzeitiger Aufwertung der europäischen Institutionen vor. Letztlich setzte sich aber – nicht zuletzt auf französischen Druck – die intergou­ vernementale Zusammenarbeit durch: Nicht die gemeinsamen Institutionen ent­ schieden über grundlegende Einigungsschritte, sondern – bis heute – die Staatsund Regierungschefs der mittlerweile 28 Mitgliedsstaaten der EU. In Frankreich ist die Übertragung fundamentaler Souveränitätsrechte auf die europäischen In­ stitutionen ausgeschlossen. An dieser Position hält auch François Hollande fest.5 Deutschen Forderungen nach einer politischen Union, wie sie insbesondere von Bundeskanzler Kohl nach Einführung der Währungsunion erhoben wurde, lehn­ ten seine französischen Partner strikt ab. Erst müssten die Budget-, die Bankenund die Sozialunion eingeführt sein, » dann erst die politische Union «, so Staats­ präsident Hollande kurz nach Amtsantritt.6 Ein weiterer Meilenstein der deutsch-französischen Aussöhnung war der im Januar 1963 unterzeichnete Deutsch-Französische Kooperationsvertrag, der Ely­ sée-Vertrag. Beide Staaten bekundeten in diesem so genannten Freundschaftsver­ trag ihren Willen zu einer immer engeren politischen, sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Vertiefung. Selbst wenn dieser Vertrag in den Augen de Gaulles durch die vom Bundestag vorangestellte Präambel mit dem Bekenntnis (auch) zur atlantischen Zusammenarbeit entwertet wurde, bildet er bis heute das Fun­ dament für die beiderseitige Kooperation und den Willen des » Tandems «, die europäische Union voranzutreiben. Zwar gestaltete sich die Zusammenarbeit in den folgenden Jahrzehnten nicht immer harmonisch. Aber letztlich gelang es den Verantwortlichen jeweils, Lösungen zu finden und die übrigen Partner von den im » tête-à-tête « gefundenen Kompromissen zu überzeugen. Nicht von unge­ fähr wurde das deutsch-französische Gespann als » Motor für Europa « charakte­ risiert.7 Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing gelang es während ihrer ge­ meinsamen Amtszeit, den europapolitischen » Stillstand « zu überwinden und die Partnerländer von der Einführung des Europäischen Währungssystems (EWS) zu überzeugen. Auf den seit März 1975 regelmäßig stattfindenden Sitzungen des Euro­päischen Rates der Staats- und Regierungschefs wurde nach einer Reihe von Währungskrisen vereinbart, dass die Währungsparitäten nur noch gemeinsam festgelegt werden sollten. Faktisch handelte es sich beim EWS um den Vorläufer der im Maastricht-Vertrag 1992 beschlossenen Wirtschafts- und Währungsunion, in der 2002 der Euro als Zahlungsmittel eingeführt wurde. Zuvor bereits hatten Mitterrand und Kohl sowie die übrigen Partner im Schengener Abkommen (1985) die Abschaffung der Grenzkontrollen und im Juli 1987 die Vollendung des euro­ päischen Binnenmarktes zum 1. Januar 1993 beschlossen. Dass Mitterrand über­ haupt bereit war, nationale Souveränitätsrechte in die Gemeinschaft einzubrin­

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gen und Mehrheitsbeschlüsse in allen Angelegenheiten des Binnenmarktes (außer Steuerpolitik) zu akzeptieren, war ein weiterer Meilenstein französischer Europa­ politik. Diese Vertiefung des Integrationsprozesses stieß in der französischen Öf­ fentlichkeit nicht auf ungeteilte Zustimmung. Das im September 1992 abgehaltene verfassungsrechtlich nicht erforderliche Referendum über den Maastricht-Vertrag (und indirekt über die Einheitliche Europäische Akte, den Binnenmarkt) fand nur eine sehr knappe Mehrheit. Mitterrand setzte im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung gegen Kohls anfänglichen Widerstand die Einführung einer gemeinsamen Wäh­ rung in den mittlerweile 19 Euro-Staaten durch. Diese Frage war » aus franzö­ sischer Perspektive eine Nagelprobe für den politischen Willen des vereinten Deutschland, weiter an der europäischen Integration festzuhalten «.8 Durch den Euro sollte die Dominanz der deutschen Wirtschafts- und Finanzkraft eingehegt werden. Nicht die deutsche Geld- und Währungspolitik sollte in Europa länger dominieren. Die Deutsche Mark war inzwischen faktisch zur Leitwährung ge­ worden. Der Gemeinschafts-Euro und die Europäische Zentralbank mit Sitz in Frankfurt sollten dieses Ungleichgewicht korrigieren. Mitterrand wie Kohl wa­ ren überzeugt, dass nur » die weitgehende und unumkehrbare Einbindung « des wiedervereinigten Deutschland in die Europäische Gemeinschaft » langfristig den Frieden bewahren « könne.9 Unter Mitterrands Nachfolger Jacques Chirac verlor der deutsch-französische Motor an » Kraft «, und auch der europäische Einigungsprozess stockte. Beim Rats­ treffen in Nizza Anfang 2000 prallten die unterschiedlichen Standpunkte zwi­ schen Jacques Chirac und dem deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder hart aufeinander. Nationale Interessen wie z. B. das Verlangen nach einer Höherge­ wichtung der deutschen Ratsstimmen in den europäischen Gremien überlagerten europäische Gemeinsamkeiten. Nur mühsam gelang eine Einigung und die Rück­ kehr zu einem partnerschaftlichen Verhältnis. 1966 löste de Gaulle die französischen Truppen aus den integrierten militäri­ schen Strukturen der NATO. Das Land verblieb jedoch in den politischen Gre­ mien, und es zeigte sich in allen Ost-West-Krisen als ein verlässlicher Allianzpart­ ner. Zur Begründung seines Schrittes verwies der Staatschef auf die veränderten geopolitischen Gegebenheiten, und auf die – in seinen Augen – geringere Bedro­ hung durch die Sowjetunion, auf die Unsicherheit, gegebenenfalls in militärische Verwicklungen der USA einbezogen zu werden (z. B. Vietnam) und schließlich auf die Sicherheit Frankreichs durch seine eigene Atomstreitmacht. Letztlich ging es dem General um die Unabhängigkeit Frankreichs vor allem in militärischen Fra­ gen. Er hoffte, die militärische und auch politische Dominanz der USA in Europa auf diese Weise reduzieren zu können und gleichzeitig Frankreichs Führungsan­ spruch innerhalb der EWG zu festigen.10

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Seine Nachfolger näherten sich zwar behutsam dem westlichen Verteidigungs­ bündnis wieder an, beharrten aber ebenso wie der General auf Frankreichs militä­ rischer Unabhängigkeit. Auch hielten sie an de Gaulles Ablehnung gegenüber der US-amerikanischen Vormachtstellung im nordatlantischen Bündniss fest. Um die Jahrhundertwende rückte der – erfolglose – Versuch de Gaulles, die westliche Schutzmacht aus Europa zu verdrängen, mit Chiracs Vorstellungen eines Europe puissance, eines kraftvollen Europas, das über militärische Einsatzkräf­ te verfügt, abermals in das Zentrum französischer Europapolitik. Das politische Versagen der EU-Staaten in den Balkankriegen der 1990er Jahre legten die Defi­ zite einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik bloß. Die vollständige Abhängigkeit von US-amerikanischer logistischer Unterstützung und Aufklärung wurde offensichtlich. Doch weiterhin blieb eine gemeinsame euro­päische Militärpolitik in der Absicht stecken. Vor allem für Frankreich stand die Abtretung von Souveränitätsrechten nicht zur Diskussion. Aber vor dem Hin­ tergrund des » Versagens « der EU-Staaten entschlossen sich diese auf Empfeh­ lung Chiracs und des britischen Premierministers Tony Blair, der in Titel V des Maastricht-Vertrages verankerten Gemeinsamen Außen- und Verteidigungspoli­ tik neue Impulse zu geben. Im Abkommen von St. Malo vom Dezember 1998 for­ derten beide Atommächte, dass die EU die Fähigkeit zum autonomen Handeln erwerben und über entsprechend militärische Mittel verfügen sollte.11 Zur Krisen­ verhütung und Krisenbewältigung » muss die Union die Fähigkeit zu autonomen Handeln, gestützt auf glaubwürdige militärische Fähigkeiten « besitzen.12 An eine eigenständige Europaarmee war allerdings nicht gedacht. Chirac gebührte das Verdienst, mit seiner Initiative die Vertragspassagen über die ESVP mit » Leben gefüllt « zu haben. Für ihn als einen der » Herrscher über den Atomknopf « stand außer Frage, dass die enge militärische Zusammenarbeit der EU-Staaten unter Frankreichs Führung stattzufinden hatte. Mehrheitsentschei­ dungen kamen nicht infrage. Das » letzte Wort « beim Einsatz militärischer Kräfte war den Staats- und Regierungschefs vorbehalten. Eine der NATO vergleichbare integrierte Militärstruktur, die es ermöglichen würde, umfangreiche militärische Operationen zu planen und durchzuführen, wurde nicht geschaffen. Folglich ist die ESVP weiterhin auf die Unterstützung der NATO angewiesen.13 Trotzdem wurde der militärische » Arm « der EU für Friedenserhaltung und Stärkung der internationalen Sicherheit zu Recht als Erfolg gewertet. Ohne Chiracs Wende und die Einigung mit Großbritannien wäre eine europäische Militärkooperation kaum möglich gewesen. Gleichzeitig wurde die von einigen Regierungen befürch­ tete Abkoppelung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik von der NATO verhindert. Nahezu alle EU-Mitgliedsstaaten stellen mittlerweile Krisen­ reaktionskräfte von jeweils 1 500 Soldaten zur Verfügung. Teilweise werden sie in gemischt nationalen Verbänden (Battle Groups) zur Intervention bei regionalen

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Konflikten eingesetzt, so zum Beispiel im Kongo, in Somalia, in Mazedonien und in Bosnien-Herzegowina. Frankreich war hier – ebenso wie die übrigen EU-Staa­ ten – unter Berücksichtigung des Einstimmigkeitsgebots bereit, » Macht von der nationalen auf die supranationale Ebene abzutreten, « so Franco Algieri14 – nichts weniger als ein Paradigmenwechsel im Rückblick auf de Gaulles Militärpolitik. Chiracs Impulse, den » europäischen Motor « mit weiteren Entscheidungen wie u. a. der Aufwertung des Europäischen Parlaments und der Reduzierung der ein­ stimmig zu treffenden Entscheidungen im Ministerrat zu » ölen «, endete jäh mit der Ablehnung der Europäischen Verfassung zuerst durch die Franzosen, weni­ ge Tage später auch seitens der Niederländer. Diese Entscheidung hatte die Qua­ lität eines » politischen Erdbebens «, das möglicherweise sogar das » Projekt Euro­ pa « gefährden konnte. Chiracs » Waterloo « (so Wichard Woyke)15 ließen bis zum Ende seiner Amts­ zeit keine weiteren richtungsweisenden europapolitischen Impulse erwarten. Frankreichs Stimme in Europa war geschwächt. Sein im Frühjahr 2007 gewählter Nachfolger Nicolas Sarkozy stand vor der Aufgabe, einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden. Für den neuen Staatschef hatte der weitere Aufbau Europas, der durch das Referendum weitgehend zum Er­ liegen gekommen war, » absolute Priorität. Damit wollte Frankreich auch die Posi­ tion eines Schlüsselakteurs im europäischen Integrationsprozess zurückgewinnen, [… um] französische Interessen erfolgreich vertreten [zu können]. «16 Gleichzeitig hoff‌te Sarkozy, Frankreichs Führungsanspruch, den er wie sein Vorgänger durch die deutsche Wirtschafts- und Finanzmacht gefährdet sah, aktivieren zu können. Deshalb legte er seinen Partnern einen abgespeckten Verfassungsvertrag, einen » traité simplifié « vor, der die Substanz des ursprünglichen Vertragstextes im We­ sentlichen beinhaltete.17 Der Vertrag wurde in Lissabon im Dezember 2007 be­ schlossen und anschließend von den Parlamenten ratifiziert. Ein Jahr später kehrte Frankreich auch in die integrierten Militärstrukturen der NATO zurück. Ziel dieser Abkehr war es, als vollwertiges, gleichberechtig­ tes Mitglied Einfluss auf die militärischen Entscheidungen des Bündnisses zu ge­ winnen. Die ESVP und die westliche Militärallianz wurden nicht länger als kon­ kurrierende Institutionen gewertet. Die europäische Sicherheitspolitik sollte zu einem » gleichwertigen Pfeiler innerhalb der NATO ausgebaut werde, « so Wichard Woyke. Damit würde auch Frankreichs Führungsanspruch gestärkt. Europapoliti­ sche Aktivitäten Sarkozys wurden von der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskri­ se überlagert. Die Angriffe des hyperaktiven Staatschefs auf die Europäische Zen­ tralbank, seine Forderungen nach einer europäischen Wirtschaftsregierung, die auch die Zinspolitik hätte beeinflussen dürfen, wurden von der deutschen Bun­ desregierung ebenso zurückgewiesen wie sein Plan einer Mittelmeerunion unter Frankreichs Führung bei Ausschluss der Nicht-Mittelmeeranrainer. Der deutsch-

Frankreich und Europa 369

französische » Motor « begann heftig zu » stottern «. Die wirtschaftspolitischen Vorschläge des französischen Staatschefs nach dem Motto » Frankreich handelt, während andere [gemeint war Deutschland] noch nachdenken «, irritierten den Berliner Partner. So lehnte die deutsche Regierung umfangreiche Konjunkturpro­ gramme zur Ankurbelung der durch die globale Krise gebeutelten Wirtschaft zu­ nächst ab. Über die Bewältigung der dramatischen Finanzkrise fanden Nicolas Sarkozy und Angela Merkel erst allmählich wieder zueinander. Sie schlugen den Euro-Partnern Krisenbewältigungsmechanismen wie den Europäischen Stabili­ tätsmechanismus vor. Die von » Merkozy «, ein Akronym für Merkel und Sarkozy, gefassten Beschlüsse zur Unterstützung zahlungsunfähiger Mitgliedsstaaten der Eurozone sowie die geforderten Auflagen zur jeweiligen Haushaltsstabilität muss­ ten zum Unwillen der in Schwierigkeiten geratenen Euro-Länder auf den Ratstref­ fen nur noch abgesegnet werden.18 Das » Tandem « hatte wieder Tritt gefasst und seinen Führungsanspruch bei der Lösung der Finanzkrise geltend gemacht. » Auf Arbeitsebene funktioniert zwischen Kanzleramt und Elysée-Palast der­ zeit nichts, « kommentierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 4. Mai 2013 das Verhältnis zwischen Bundeskanzlerin Merkel und Sarkozys Nachfolger François Hollande. Dieser schien auf einen Regierungswechsel in Berlin im Herbst 2013 zu hoffen. Ein Zerwürfnis zwischen beiden war schon im Mai 2012 beim Rats­ treffen der Staats- und Regierungschefs zur Eurokrise deutlich geworden. Hollande machte am 24. Mai 2012 keinen Hehl daraus, dass er Merkels » Krisenma­ nagement « zur Lösung der Eurokrise und die Verpflichtung der Mitgliedsstaaten zur strikten Einhaltung der Stabilitätskriterien ablehne.19 In einem Interview mit sechs Frankreich-Korrespondenten verschiedener Tageszeitungen betonte er, dass sich » Frankreich als Bindeglied zwischen dem [Euro starken] Norden und dem [krisengeschüttelten] Süden Europas versteht. «20 Im Gegensatz zur Bundeskanz­ lerin verlangte er entgegen den Maastrichter Regularien die Ausgabe von Euro­ bonds und einen Schuldenerlass für die überschuldeten Südstaaten – wohl aber auch für Frankreich, das die vertraglich vereinbarten Stabilitätsgrenzen weit über­ zogen hat(te).21 Hollande sprach sich auch für die Schaffung einer Wirtschaftsre­ gierung aus. Diese hätte für die Eurozone Steuern und die Sozialgesetzgebung in den Eurostaaten zu harmonisieren, um Wachstumsimpulse zu schaffen.22 Berlin lehnte diese Vorschläge – wie schon unter Sarkozy – ab, da es eine Ent­ wertung der Unabhängigkeit der EZB befürchtete. Der frühere französische Außenminister und Hollandes außenpolitischer Be­ rater, Hubert Védrine, kommentierte in einem Zeitungsinterview die tiefgreifen­ de Entfremdung: Zwar » funktioniert ohne eine deutsch-französische Verständi­ gung in Europa nichts vernünftig. « Einst waren beide Länder » ein Motor für den Rest Europas. Das ist nur noch selten der Fall. [Durch] die harten deutschen For­ derungen nach Haushaltsdisziplin sind die [beiderseitigen] Beziehungen aus dem

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Frankreich und Europa

Gleichgewicht geraten. «23 An den unterschiedlichen Auffassungen zur Einhal­ tung der Maastrichter Eurokriterien änderte sich auch in den folgenden Monaten nichts. Trotz Akzeptanz des von Hollande vorgeschlagenen europäischen Investi­ tionspakets schien es, als sei der deutsch-französische » Motor « wegen der grund­ verschiedenen Ansichten zur Stabilisierung der gemeinsamen Währung » abge­ soffen «. Außenminister Laurent Fabius verlangte im Herbst 2012, ein » wahrhaft › solidarisches ‹ Europa aufzubauen [sowie] gemeinsam für Wachstum einzutre­ ten und den Schuldenabbau in Europa sicherzustellen. « Der deutsch-französische Partnerschaft sprach er ihren Exklusivcharakter ab, denn » [sie] darf niemand aus­ schließen, noch darf sie unausgewogen sein «.24 Zwar wurden die im Elysée-Vertrag vereinbarten Treffen eingehalten, aber es gingen kaum europapolitische Impulse von ihnen aus. Zwar respektierte die Bun­ deskanzlerin die innerparteilichen Auseinandersetzungen, die Hollande mit seiner Parti Socialiste über die Einhaltung der Stabilitätskriterien auszufechten hatte. Je­ doch vermochte die übliche Akkolade zwischen beiden bei den Treffen den tiefge­ henden Dissens nicht zu überdecken.25 Erst Merkels spontane Teilnahme an dem Gedenkmarsch in Paris für die Opfer der Terroranschläge im Januar 2015 ebenso wie beider Bemühungen in Minsk, bei Russlands Präsident Putin einen Waffen­ stillstand in der Ukraine zu bewirken, entkrampften das Verhältnis. Kurze Zeit später brachen die Meinungsverschiedenheiten im Zusammen­ hang mit Hilfen für das zahlungsunfähige Griechenland wieder auf. Beide Staaten vertraten unterschiedliche Lösungsansätze. Während Finanzminister Wolfgang Schäuble ein (zeitweiliges) Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro befürworte­ te, lehnte die französische Regierung diesen Vorschlag vehement ab und verlang­ te ein – schließlich auch bewilligtes – drittes milliardenschweres Hilfspaket für Athen, um dessen Zahlungsfähigkeit zu retten. Hollandes Versuch, sich als Protek­ tor der krisengeschüttelten Südländer gegen die deutschen Stabilitätsforderungen in Szene zu setzen, wurden bald aufgegeben. Dennoch verlangte er im Sommer 2014 – geradezu trotzig –, Frankreichs Führungsrolle sei zu respektieren: » Frank­ reich wird weiterhin seine Rolle in Europa wahrnehmen. Wir müssen in Europa den Platz einnehmen, der unserem Status entspricht, [denn wir] leisten den größ­ ten Beitrag zu seiner Verteidigung. «26 Auch bei der Bewältigung der im September 2015 ausbrechenden Flüchtlings­ krise mit Asylsuchenden insbesondere aus dem vorderen Orient und Nordafrika traten die unterschiedlichen Auffassungen hervor. Frankreich, das unter gravie­ renden wirtschaftliche Problemen litt und mit den Wahlerfolgen des rechtspopu­ listischen Front National bei Regionalwahlen konfrontiert war, lehnte – ebenso wie die meisten EU-Staaten – einen von Merkel verlangten festen Verteilerschlüs­ sel für Flüchtlinge in der EU ab. Die Aufnahmebereitschaft der Bundeskanzlerin, die zu über einer Million Flüchtlinge allein im Jahr 2015 in Deutschland geführt

Frankreich und Europa 371

hatte, sei, so Premierminister Valls, » auf Dauer nicht tragbar. «27 Damit stand fest, dass Merkels gesamteuropäisches Konzept zur Verteilung der Flüchtlinge geschei­ tert war. Alleingänge blieben nicht aus; so führte Berlin die Verhandlungen mit der Türkei über ein Rücknahmeabkommen für Flüchtlinge unter Ausschluss von Paris. Nationalstaatliche Interessen überdeckten zunehmend die europäische Ko­ operation. Die Europäische Union schien vor dem Hintergrund der beiden gravie­ rendsten Krisen ihrer bisherigen Geschichte für viele Politiker nicht nur in Frank­ reich zu einem Sündenbock, ja zu einer Art » Feindbild « geworden zu sein, das für hausgemachte Probleme verantwortlich gemacht wurde. Ob angesichts dieser innereuropäischen Zerrissenheit, die im März nur not­ dürftig mit einem Kompromiss zwischen der Türkei und der Europäischen Union überdeckt wurde, Hollandes Vorschlag von Beginn seiner Amtszeit, » ein Euro­ pa unterschiedlicher Geschwindigkeiten […] mit einem harten Kern «, also ein Kern­europa28 zu schaffen, von den interessierten Staats- und Regierungschefs auf­ gegriffen wird, ist offen. Im Sommer 2014 wiederholte er diese Forderung: » Das Europa der 28 muss seine Entscheidungsprozesse und seine Organisation verän­ dern. Ich habe dafür plädiert und werde weiter dafür plädieren, dass es ein diffe­ renziertes Europa gibt. [So sollen] diejenigen, die schneller und weiter vorange­ hen wollen über Möglichkeiten verfügen, die diesem Handlungsanspruch gerecht werden. «29 Eins dürfte aber feststehen: Frankreich plädiert für eine haushaltspolitische Nicht-Einmischung. In einem gemeinsam mit Wolfgang Schäuble veröffentlichten Buch schrieb der französische Finanzminister Sapin: » Mir scheint die Vorstellung abwegig, wir könnten in Frankreich Reformen durchführen, nur weil es eine Art aufgezwungener Disziplin gibt, aufgezwungen von Deutschland oder einem an­ deren Land. «30 Eine solche » Pionierallianz « könnte die wirtschaftliche, soziale, vielleicht auch politische Union vorantreiben. Frühere diesbezügliche Konzepte von deutscher Seite, aber auch von Staatspräsident Chirac wurden von den Partnern allerdings nicht aufgegriffen.31 Die Zerrissenheit der Europäischen Union in der Flüchtlings­ frage könnte aber dieses Projekt der » Willigen « vorantreiben. Innerhalb der » Rest-EU « dürfte Frankreichs politische (Führungs-)Rolle nach dem » Brexit-Referendum « am 23. Juni 2016 und einem möglichen Austritt Groß­ britanniens wieder gestärkt werden. Dies könnte Konsequenzen für das deutschfranzösische Verhältnis haben.

Anmerkungen

Anmerkungen zur » Einleitung « 1 2 3

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einschließlich Napoleons I. » Hundert-Tage «-Herrschaft Anfang 1815; vgl. Quid 1996, S. 820 ff. François Mitterrand: Le Coup d’Etat permanent, Paris 1964. Winfried Steffani: Semi-Präsidentialismus: ein eigenständiger Systemtyp ? Zur Unterscheidung von Legislative und Parlament, in: Zeitschrift für Parla­ mentsfragen (ZParl), Heft 4/1995, S. 621 ff. Vgl. ebenfalls Armel le Divellic: Die dua­listische Variante des Parlamentarismus. Eine französische Ansicht zur wissen­schaftlichen Fata Morgana des semipräsidentiellen Systems, in: ZParl, Heft 1/1996, S. 145 ff., und Horst Bahro/Ernst Veser: Das semipräsidentielle Sys­ tem › Bastard ‹ oder Regierungsform sui generis ?, in: ZParl, Heft 3/1995, S. 471 ff. Alle drei Beiträge setzen sich sehr kritisch mit dem von Maurice Duverger ent­ wickelten Konzept des Semipräsidentialismus als eigenständigem Systemtyp aus­ einander und weisen es schließlich zurück. Steffani, in: ZParl 4/1995, S. 639. Vgl. auch ders.: Parlamentarisches und prä­ sidentielles Regierungssystem, in: Dieter Nohlen (Hrsg.): Lexikon der Politik, Bd. 3, München 1992, S. 288 f‌f. Charlot 1994, S. 13. Portelli 1994, S. 47. Vgl. auch Gicquel 1995, S. 530 f.

Anmerkungen zu Kapitel 1 » Übergangsphase « 1 2

Charles de Gaulle: Memoiren der Hoffnung – Die Wiedergeburt 1958 – 1962, Wien – München – Zürich 1971, S. 24 f. Abgedr. in: Année Politique, Economique, Sociale et Diplomatique en France 1958, S. XV. 373

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 U. Kempf, Das politische System Frankreichs, DOI 10.1007/978-3-658-08208-6

374 Anmerkungen

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de Gaulle a. a. O. (Fn. 1), S. 22. Ebd., S. 364. Ebd., S. 30 f. Abgedr. in: Chapsal 1987, S. 326. Guy Mollet, SFIO., Pierre Pflimlin, M. R. P., Louis Jacquinot, Independants (Kon­ servative), Félix Houphouët-Boigny, U. D. S. R., Antoine Pinay, Indépendants. Année Politique 1958, S. XVI. Vgl. hierzu Michel Debrés 1957 erschienene Schrift: » Les Princes qui nous gou­ vernent «.

Anmerkungen zu Kapitel 2 » Aspekte politischer Kultur « 1 2

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Klaus Hänsch: Frankreich – Eine politische Landeskunde, Berlin 1976, S. 9. Vgl. Gilbert Ziebura: Frankreich am Beginn des 21. Jahrhunderts. Zwischen Euro­päisierung, Globalisierung und nationaler Selbstbehauptung. Eine Problem­ skizze, in: ders. 2003, S. 277 ff., Schild 2002, Berstein (Hrsg.) 1999, und Bréchon (Hrsg.) 2000. TNS-Sofres: Les Français et la nation, enquête réalisée les 23 et 24 février 2005, www.tns-sofres.com/etudes/pol/120305_nation (Aufruf 11. 01. 2006). Abgedr. in: Le Monde vom 31. 3. 1995. TNS-Sofres: Les Français, le livre politique et la République, enquête réalisée les 27 et 28 février 2002, www.tns-sofres.com/etudes/pol vom 11. 01. 2006. Pierre Nora: Le Nationalisme nous a cache la nation, in: Le Monde vom 19. 3. 2007, S.  15. SciencePo – Cevipof: Où sont les Républicains, www.cevipof.com/fr/lebarometre-de-la-confiance-politique (Aufruf 11. 3. 2015). Wolfgang Jäger: Identitätsfindung ist kein abgeschlossener Prozess, in: Badische Zeitung vom 14. 2. 2015. SciencePo – Cevipof: Avoir confiance, mais en qui ?, www.cevipof.com/fr/lebarometre-de-la-confiance a. a. O. (Fn. 7), und: Olivier Duhamel/Edouard Lecerf: Conservateurs-libéraux-socialistes, évolutions idéologiques 1985 – 2015, in: L’Etat de l’opinion, Paris 2015, S. 187. SciencePo – Cevipof, a. a. O. (Fn. 7). Pascal Perrineau. Les Français se méfient de leurs élus, in: Le Monde vom 1. 2. 2011, S.  13. Abgedruckt in: Patrick Artus/Marie-Paule Virard: La France sans usines, Paris 2011, S. 91. Ifop-Atlanico.fr: L’Attirance pour un gouvernement technocratique, octobre 2015. Vgl. Marieluise Christadler: Frankreichs politische Kultur auf dem Prüfstand, in: Länderbericht 2005, S. 240.

Anmerkungen zu Kapitel 2 375

15 Pierre Bréchon (Hrsg.): Les valeurs des Français, Paris 2000. 16 Winfried Veit: Konservative Revolution à la française, in: Frankreich-Info der

Friedrich Ebert Stiftung, 7. 5. 2007, S. 1.

17 Jean-Baptiste de Montvalon: Les Réalités muvantes du clivage droite-gauche, in:

Le Monde vom 24. 5. 2007, S. 10.

18 Marcel de la Haye: Patient Frankreich. Beibehaltung oder Wandel des franzö­

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sischen Wirtschafts- und Sozialmodells ?, in: KAS-Auslandsinformationen 12/ 2005, S. 130. Dazu: Duhamel/Lecerf a. a. O. (Fn. 9), S. 185. Robert Badinter: Sind wir Europäer alle meschugge geworden ?, in: FAZ vom 28. 4. 2014, S.  9. Goguel/Grosser 1980, S. 34 f. SciencePo – Cevipof: Démocratie française: toujours l’insatisfaction (5. 1. 2015), (Fn. 7). Vgl. auch Safran 1995, S. 59 ff. Vgl. Wolfgang Jäger: Das Staatsbewußtsein der Franzosen, in: Manfred Hättich (Hrsg.): Zum Staatsverständnis der Gegenwart, München 1987, S. 148. Vgl. Le Monde » Les Français sont de plus en plus attachés à la liberté privée et à l’ordre public «, vom 16. 11. 2000, S. 23: 44 Prozent der Befragten lehnten extre­ mistische Parteien strikt ab. 1990 waren es nur 33 Prozent gewesen. Gilbert Ziebura: Staat, Wirtschaft und Gesellschaft am Ende der Ära Mitter­ rand – Kontinuitäten, Brüche, Perspektiven, in: Frankreich-Jahrbuch 1995, S. 27. Gérard Grunberg: Frankreich in der Krise, in: Frankreich Jahrbuch 2013, hrsg. v. Deutsch-Französischen Institut, Wiesbaden 2014, S. 73. Gespräch mit Emmanuel Todd, in: F. A.Z vom 12. 11. 2005, S. 39. DIE ZEIT vom 14. 09. 2000. Vgl. Sabine Ruß: Analytische Schattenspiele: Konturen der Korruption in Frank­ reich, in: Ulrich von Alemann (Hrsg.): Dimensionen politischer Korruption, Sonderheft 35/2005 der Politischen Vierteljahresschrift, S. 365 ff. Duhamel/Lecerf a. a. O. (Fn. 9), S. 187, und: Standard Eurobarometer 81 – Spring 2014, S. 11 und 29. Eurobarometer 73 – Teil 2 – Mai 2010, veröffentlicht im November 2010, und: Sylvain Fontan: Pourquoi les Français n’aiment pas la mondialisation, in: www. latribune.fr/opinions/tribune/20141016 (Aufruf 30. 12. 2015). INSEE: Vie politique et sociale: Taux d’adhésion à différentes associations 2004, www.INSEE.fr/fr/ffc/chifcle vom 02. 12. 2005. Vgl. Portelli 1994, S. 133 ff, und Pouvoirs No 39/1986: Mai 1968 Dazu: Joachim Schild: Wertewandel diesseits und jenseits des Rheins – Umwelt­ bewußtsein und politisches Protestverhalten, in: Dokumente, Heft 3/1995, S. 221, und: Dieter Rucht: Modernisierung und neue soziale Bewegungen, Frankfurt a. M. 1994, S. 169 ff. Standard Eurobarometer 81 – First results, Spring 2014, S. 25 und 27.

376 Anmerkungen

37 Der Staat hat sich in religiösen Angelegenheiten absolute Zurückhaltung aufer­

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legt. Folglich ist in offiziellen Befragungen die Frage nach der Religionszugehö­ rigkeit unzulässig. Dies ist Privatsache. Dazu: Nonna Mayer/Vincent Tiberj: Anciennes et nouvelles formes de racisme, in: L’Etat de l’opinion, Paris 2014, S. 151 ff. Le Parisien: Sondage: ce que les Français pensent de l’Islam, 20. 6. 2015, www. leparisien.fr/societe/sondage-ce-que-pensent-les français-de-lislam (Aufruf 30. 12. 2015). Zitiert in: SZ vom 28./29. 11. 2015, S. 3. Dazu: Kepel 2012 und 2015, Lagrange 2010, sowie: Andrew Hussey: The French Intifada – The long War Between France and the Arabs, London 2014 (Zitat abgedr. in: Lena Bopp: Wie sich Frankreich selbst belog, in: FAZ vom 24. 1. 2015, S. 13). Kepel 2012, S. 415 ff. Dazu: ders. 2015, S. 153 ff. Ifop: Les Français et la Laïcité, www.ifop.com/?options-com_publication &type=poll (Aufruf 30. 12. 2015). www.lefigaro.fr/flash-actu (Aufruf 30. 12. 2015). Le Monde vom 20. 1. 2015. Emmanuel Todd: Wer ist Charlie ? Die Anschläge von Paris und die Verlogenheit des Westens, München 2016, S. 194. Zur beruflichen Stellung der Muslime in Frankreich macht er nach einer Untersuchung des IFOP-Instituts folgende An­ gaben: 8,4 Prozent sind Arbeiter, 6,4 Prozent Angestellte, 6,6 Prozent Kaufleute und Handwerker oder Unternehmer, 4,5 Prozent sind Vertreter der » mittleren « Berufe wie Tätigkeiten im Gesundheitswesen und 3,5 Prozent sind Freiberufler und Führungskräfte, ebd., S. 148.

Anmerkungen zu Kapitel 3 » Der Staatspräsident « 1 2 3 4 5 6 7 8

Abgedr. in: Chagnollaud (Hrsg.) 1993, S. 53. Abgedr. in: Quermonne/Chagnollaud 1991, S. 174. Abgedr. in: Ziebura 1960, S. 34 f. Abgedr. in: Chagnollaud (Hrsg.) 1993, S. 174 f. (Fn. 1). Abgedr. in: Pouvoirs: Le Président, No 41/1987, S. 62. Vgl. Le Monde vom 7. 1. 1989. Abgedruckt in: Jan 2011, S. 206. Vgl. Hans-Georg Franzke: Die Kompetenzen des französischen Staatspräsiden­ ten, in: Der Staat, Bd. 38, Heft 1/1999, S. 86 – 106, und: Marie-Claire Ponthoreau: Le Président de la République – Une fonction à la croisée des chemins, in: Pou­ voirs 99/2001, S. 33 – 44.

Anmerkungen zu Kapitel 3 377

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Siehe Adolf Kimmel: Frankreichs Republikanische Monarchie: Mythos und Rea­ lität, in: Gerhard Hirscher/Karl-Rudolf Korte (Hrsg.): Aufstieg und Fall von Regierungen. Machterwerb und Machterosionen in westlichen Demokratien, München 2001, S. 363 – 387. Robert Elgie: La » Cohabitation « de longue durée: studying the 1997 – 2002 ex­ perience, in: Modern & Contemporary France, Vol. 10, No. 3, 2002, S. 297 – 311. Siehe ebenfalls: Le Monde – Dossiers et Documents No. 308/April 2002: » › Coha­ bitation ‹: La confusion des pouvoirs « mit zahlreichen Beispielen für den Klein­ krieg zwischen beiden Amtsinhabern. Siehe Michel Marian: France 1997 – 2002: Right-Wing President, Left-Wing Government, in: Political Quarterly No. 3/2002, S. 258 – 295. Vergl. auch Adolf Kimmel: Der Verfassungstext und die lebenden Verfassungen, in: Länderbericht 2005, S. 264. Für eine ausführliche Auflistung aller gesetzlichen Regelungen vgl. Massot 1993, S, 61 ff., und ders. 1987, S. 149 ff. Vgl. Journal Officiel de la République Française: La Vie politique – Financement et contrôle, Februar 1995, S. 4; für die Erstattung bei den Präsidentschaftswah­ len 1988 siehe Karl Schmitt: Die Neuregelung der Parteienfinanzierung in Frank­ reich, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 1/1993, S. 80 ff; die Gesetzestexte von 1988 und von 1990 sind abgedruckt in: Journal Officiel de la République Française: Financement des campagnes électorales et des partis politiques, hrsg. von der Commission nationale des comptes de campagne et des financements politiques, März 1993, und in: Ruß 1993, S. 223 ff. 14 796 000 € für den ersten Wahlgang, 19 764 000 € für den zweiten. Loi organique No 95-62 vom 19. 1. 1995. Gesetz vom 29. 1. 1993. Code électoral in der Fassung vom 15. 1. 1990 Artikel L50.1., L51 und L52.1 Dazu: Adolf Kimmel: Frankreich nach den Wahlen, hrsg. v. der Friedrich-EbertStiftung Heft 11/Juni 2007. Sarkozy wurde 2004 gegen den Willen Chiracs Vorsitzender der 2002 gegründe­ ten konservativen Union pour un Mouvement Populaire. Simon Labouret: La défaite annoncée de Nicolas Sarkozy: que reste-t-il de la rupture de 2007 ?, in: Revue Politique et Parlementaire (RPP) No. 1063 – 1064: Elections 2012, Avril/Septembre 2012, S. 90 ff. Gérard Le Gall: Présidentielles 2012: Une victoire politique de François Hollande, à contre-courant idéologique ?, ebd., S. 18 ff. » Steuerkeule aus Paris für Reiche und Unternehmen «, in: FAZ vom 6. 2. 2013, S. 11. Henrik Uterwedde: Frankreichs Weg aus der Krise – Strukturprobleme und Re­ formbaustellen, dfi – Aktuelle Analysen, Nr. 27, März 2013, S. 5 ff, und: ders.: Frankreichs schwieriger Weg aus der Krise, in: dfi – aktuelle Ausgabe 2/2013, S.  1 ff.

378 Anmerkungen

25 Vgl. Le Monde vom 12. 5. 2000 und vom 6./7. 6. 2000. Führende Verfassungs­

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experten begrüßten in einem gemeinsam unterzeichneten Artikel in Le Monde vom 7. 6. 2000 die Reduzierung der Amtszeit. Vgl. dazu Massot 1993, S. 49 ff., und ders., in: Chagnollaud (Hrsg.) 1993, S. 62 ff. (Fn. 1). Julie Benetti: Le Président de la République, in: Institutions et vie politique sous le Ve République, hrsg. v. Michel Verpeaux: La Documentation française, 4. Aufl. Paris 2012, S. 34. Massot, in: Chagnollaud (Hrsg.) 1993, S. 63 (Fn. 1). Rocard bat im Zusammenhang mit einer Abstimmung über Frankreichs Enga­ gement im Golfkonflikt Anfang 1991 und Bérégovoy bei einer Abstimmung über Frankreichs Verhalten im Rahmen der GATT-Verhandlungen Ende 1992 erfolg­ reich um ein Vertrauensvotum. Comité Consultatif Constitutionnel: Travaux, Paris 1960, S. 118. Dazu ausführlich: Dominique Damarnme: Le » Service « du Premier Ministre. Pour une analyse des conventions constitutionnelles, in: Lacroix/Lagroye 1992, S. 216 ff. Pierre Mauroy war die » Nummer 2 « der PS, Jacques Chaban-Delmas einer der » Barone « des Gaullismus, Edouard Balladur einer der wichtigsten Be­ rater Chiracs im Führungsgremium des RPR. Vgl. Udo Kempf: Die » Cohabitation «. Entmachtung des Präsidenten oder wiedergewonnenes Gleichgewicht ?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 4/1986, S. 502 ff. Debré, Chaban-Delmas, Messmer, Chirac (1974 und 1986) Mauroy, Fabius, Rocard, Cresson (1988 gewählt, anschließend bis zu ihrem Rücktritt im Oktober 1990 Ministerin), Bérégovoy, Balladur und Juppé. Die Frage, ob bei der Ausarbeitung der Verfassung die fehlende Entlassungs­ möglichkeit des Premierministers durch den Präsidenten » übersehen « wurde, ist eindeutig zu verneinen. De Gaulle selbst bemerkte hierzu 1958 vor dem Be­ ratenden Verfassungsausschuss auf die Frage nach der Entlassung des Premier durch den Präsidenten: » Nein, denn wäre es so, dann könnte er nicht wirksam regieren. Der Premier ist vor dem Parlament verantwortlich und nicht vor dem Staatschef. « Vgl. CCC a. a. O., S. 54 (Fn. 30), und die Fußnote Nr. 6 bei Massot 1987, S. 232. Massot 1987, S. 233, ders., in: Chagnollaud (Hrsg.) 1993, S. 59, und ders. 1993, S. 81 (Fn. 1). 1969 trat M. Couve de Murville zurück, 1974 P. Messmer, 1981 R. Barre, 1988 J. Chirac und 1995 E. Balladur. G. Pompidou wurde 1965 in seinem Amt von de Gaulle bestätigt. 1986 demissionierte L. Fabius, 1993 P. Beregovoy. G. Pompidou wurde 1967 er­ neut mit der Regierungsbildung beauftragt. 1962 hatte de Gaulle seinen durch das Mißtrauensvotum bedingten Rücktritt abgelehnt und ihn nach den Neuwah­ len wieder mit der Regierungsbildung betraut. Auch P. Messmer und R. Barre behielten 1973 und 1978 ihr Amt als Premierminister.

Anmerkungen zu Kapitel 3 379

38 Vgl. Pfister 1985. 39 Die Popularitätskurven von 1959 bis 1992 befinden sich in: Massot 1993, S. 173. 40 1984 beschloß der Senat, den Staatschef aufzufordern, ein Referendum abzuhal­

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ten; dieser Antrag fand jedoch keine Zustimmung in der Nationalversammlung. 1985 wiederholte sich dieser Vorgang. Guy Carcassonne/Marc Guillaume: La Constitution, 42014, S. 101. Siehe auch: Udo Kempf: Die Referendumsdemokratie in der V. Französischen Republik, in: Demokratie in Ost und West – Für Klaus von Beyme, hrsg. v. Wolfgang Merkel und Andreas Busch, Frankfurt a. M. 1999, S. 225 – 248. Dazu Adolf Kimmel: Stärkung der » Hyperpräsidentschaft « oder Emanzipation des Parlaments ? Die französische Verfassungsänderung vom 23. Juli 2008, in: ZParl 4/2008, S. 853. Siehe die Auflistung in: Pascal Jan: Le Président de la République au centre du pouvoir, La Documentation française, Paris 2011, S. 144. So 1983 hinsichtlich des Projektes einer Weltausstellung in Paris, 1985 hinsicht­ lich Neukaledoniens und 2003 bezüglich der Reform des Gesetzes für die Regio­ nal- und Europaparlamentswahlen. Stellungnahmen befinden sich in: Maus 1993, S. 189 ff. Dazu stellvertretend Mitterrands Äußerung in einem Fernsehinterview: » Es gibt keine › Domaine reservé ‹; ich wiederhole dies seit zwölf Jahren, aber Sie wollen mir nicht zuhören. […] Die Verfassung kennt [diesen Begriff] nicht «, Le Monde vom 27. 10. 1993. Vgl. Jean-Louis Quermonne: Le Président auteur des politiques publiques; in: Nicholas Wahl/ders. (Hrsg.): La France présidentielle, Paris 1995, S. 138. Vgl. Le Monde vom 12. 10. 2004 Die Kontakte zwischen Präsident de Gaulle und seinen Außen- bzw. Verteidi­ gungsministern sind sehr gut dargestellt, in: Institut Charles de Gaulle 1990. Abgedruckt in: Jan 2011 (Fn. 7), S. 127. Vgl. Jean Massot: Le Chef de Gouvernement, Paris 1979, S. 194 ff. Vgl. die Befragung der früheren Premierminister, in: Le Monde vom 12. 2. 1987, S. 8/9. Dazu Udo Kempf: Frankreichs Regierungssystem, in: Hans-Georg Wehling (Hrsg): Frankreich – Eine politische Landeskunde, Stuttgart 1989, S. 90. Jan 2011 (Fn. 7), S. 128. Eine Aufstellung über die Sondersitzungen befindet sich in: Maus 1993, S. 130 f. Ende 1986 hat Chirac auf die Abhaltung einer Sondersitzung der Nationalver­ sammlung verzichtet, da Mitterrand sich eher ablehnend verhielt, vgl. Massot, in: Chagnollaud (Hrsg.) 1993, S. 67. Zur Frage der Unterzeichnung von Dekreten vgl. besonders: Massot 1993, S.  118 ff. Carcassonne/Guillaume a. a. O. (Fn. 41), S. 112. Vgl. Le Monde vom 13. 10. 1993 u. 12. 5. 1994. Dazu z. B. Pfister 1985, S. 126 ff.

380 Anmerkungen

60 z. B. Wright 1989, S. 25, und Quermonne/Chagnollaud 1991, S. 340 ff. 61 Massot, in: Chagnollaud (Hrsg.) 1993, S. 168, 62 Zum Thema » Präsident als Parteiführer «: Jean-Louis Quermonne: La Présidence

63 64 65

66 67 68 69

de la République et le systéme de partis, in: Pouvoirs No 41/1987, S. 93 ff., Jean Charlot: Le Président et le parti majoritaire, in: Duverger (Hrsg.) 1986, S. 313 ff., und besonders Cole 1994, S. 68 ff. Jean-Louis Quermonne: Le Cas français: Le Président dominant la majorité, in: Maurice Duverger (Hrsg.): Les Régimes sémi-présidentiels, Paris 1986, S. 199 ff. Charlot, in: Duverger (Hrsg.) 1986, S. 313 ff. Michaela Wiegel » Raus aus dem › Sparwahn ‹ «, in: FAZ vom 22. 4. 2014, und: Christian Schubert » Aufstand von links «, in: FAZ vom 20. 10. 2014, ders. » Frank­ reichs Regierung bleibt im Amt «, in: FAZ vom 20. 2. 2015, ders. » Frankreichs Re­ gierung boxt Reform durch «, in: FAZ vom 18. 2. 2015. Vgl. Jean-Marie Colombani/Jean-Yves Lhomeau: Le Mariage blanc, Paris 1986, S. 122, und Wright 1989, S. 32 ff. Charlot, in: Duverger (Hrsg.) 1986, S. 321 f. Dazu: Udo Kempf: Die Kandidatenaufstellung der gaullistischen Partei und ihrer Koalitionspartner, Berlin 1971. Dazu: Matthias Pröbsting: Die Bestimmung der Machtverteilung im politischen System Frankreichs anhand des Vetospielerkonzepts, (Masterarbeit) Freiburg 2008, S. 26 ff.

Anmerkungen zu Kapitel 4 » Die Regierung und die Verwaltungselite « 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

Abgedr. in: Ziebura 1960, S. 33. Ebd., S. 104. Dazu: Olivier Scharmek: Matignon rive gauche 1997 – 2001, Paris 2005. Abgedruckt in: Jan 2011, S. 131. Abgedr. in: Quermonne/Chagnollaud 1991, S. 255; s. auch Rocards Bemerkung: » Ich war absolut loyal gegenüber dem Präsidenten «, in: Le Monde vom 4. 5. 1995. Jacques Chirac: Le Temps présidentiel, Memoires 2, Paris 2011, S. 496. Le Monde vom 06. 03. 2004 und 27. 03. 2004 Pierre Avril: Diriger le Gouvernement, in: Pouvoirs 83/1997, S. 31 – 40. Vgl. dazu ausführlich Philippe Ardant: Le Premier Ministre, Paris 1991, S. 117 ff. Vgl. Wright 1989, S. 74. Thierry Pfister: La Vie quotidienne à Matignon au temps de l’Union de la Gauche, Paris 1985, S. 342 ff. Institut Charles de Gaulle 1990, S. 88. Michel Mopin: Diriger le Parlement, in: Pouvoir 83/1997, S. 47 f. Wright 1989, S. 78 ff. Marceau Long: Les Services du Premier ministre, Aix-Marseille 1981, S. 15. Mopin a. a. O. (Fn. 13), S. 43.

Anmerkungen zu Kapitel 4 381

17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27

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29 30 31

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37 38 39 40 41

Guy Carcassonne: Typologie de cabinets, in: Pouvoirs No 36/1986, S. 89 ff. Vgl. Py 1985. Vgl. Fournier 1987, S. 146. Vgl. Py 1985, S. 44 ff., und Fournier 1987, S. 201 ff. Fournier 1987, S. 221 f. Chagnolland/Quermonne 2000, Bd. 2, S. 131. Carcassone/Guillaume 2014, S. 139 Es handelt sich um den ehemaligen Premierminister Fabius, seine Gesundheits­ ministerin Dufoix und den Staatssekretär im Gesundheitsministerium Hervé. Vgl. zur Reform des Artikels 68-1, Le Monde vom 10. 7. 1993. Vgl. Le Monde vom 9. 7. 2004. Zahlen in: Pascale Antoni/Jean-DominiqueAntoni: Les Ministres de la Ve Répu­ blique, Paris 1976, S. 11. Premierminister Pompidou ist in dieser Gesamtzahl nicht berücksichtigt. Zwischen dem 8. 1. 1959 und dem 17. 7. 1984 kannten die französischen Regierungen insgesamt 257 Minister, vgl. Pouvoirs No 36/1986, S. 142. Vgl, Le Monde vom 20. 10. 1993. In dieser Zahl sind die Premierminister Rocard und Cresson nicht enthalten, wohl aber Bérégovoy, von 1984 bis 1986 sowie er­ neut von 1988 bis 1992 Wirtschafts- und Finanzminister. Vgl. Le Monde vom 20. 5. 1995. Didier Maus: Démissions et révocations des ministres sous la Ve République, in: Pouvoirs No. 36/1986, S. 117. Außer Jacques Chirac, dem Präsidenten des RPR, waren dies François Léotard, Generalsekretär der PR, Pierre Méhaignerie, Präsident des CDS, und André Ros­ sinot, Präsident der Radikalen Partei. Eine vergleichbare » Berufungspolitik « wiederholte sich unter Balladur fünf Jahre später. Neben elf ehemaligen RPR-Vertretern wurden drei Ex-DL und vier Ex-UDFPolitiker mit Kabinettsposten bedacht. Vgl. Le Monde vom 10. 6. 1997. Siehe auch Alain Juppés Rundschreiben » Lettres de mission « vom 6. 6. 1995, in: Le Monde vom 8. 6. 1995. Fournier 1987, S. 39. Vgl. die Auflistung von Didier Maus, in: Pouvoirs No 36/1986, S. 117 ff. Die Pressemitteilung des Hôtel Matignon enthält eine bis dahin unübliche Er­ klärung des Premiers zum » Rücktritt « seines Ministers, vgl. Le Monde vom 27./28. 8. 1995. Abgedr. in: Duhamel 1991, S. 204. Vgl. Fournier 1987, S. 195 und S. 205 ff. Vgl. Badische Zeitung vom 10. 11. 1993. Vgl. Le Monde vom 4. 5. 1995. Siehe Udo Kempf: Das politische System Frankreichs, 4. Aufl. Wiesbaden 2008, S. 102, weitere Beispiele: Maryvonne Bonnard: Le gouvernement, in: Verpeaux (Hrsg.) 2012, S. 49.

382 Anmerkungen

42 So die Mitteilung eines ehemaligen Ministers aus dem Kabinett Rocard an den

Autor.

43 Vgl. Pascale Antoni/Jean-Dominique Antoni: Les Ministres de la Ve République,

Paris 1976.

44 Vgl. Birnbaum (Hrsg.) 1985, dort besonders: Brigitte Gaïti: Politique d’abord,

S. 62 ff., und Pfister 1988.

45 Daniel Gaxie: Immuables et changeants: les Ministres de la Ve République, in: 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60

61

62 63 64 65

66

Pouvoirs 36/1986, S. 67 ff. Ebd., S. 64. Ecole nationale d’administration, wikipedia.org/wiki/de. (Aufruf 13.5. 2015). Vgl. Marie-Christine Kessler 1986. Ebd., S. 29. Pierre Bourdieu: Der Staatsadel, Konstanz 2004, und: Jean-Claude Thœnig: Les Grands Corps, in: Pouvoirs 79/1996, S. 107 – 120. Fournier 1987, S. 111 f. Ebd., S. 116 f. Vgl. Le Monde vom 22. 09. 2004 Jacques Chevallier: L’Elite politico-administrative: Une interpretation discutée, in: Pouvoirs 80/1997, S. 89 – 100. Marie-Christine Kessler 1986. Vgl. de Forges 1989. Vgl. Chagnollaud 1991, S. 214 ff. Michel Offerlé: Les Carrières politiques en France, in: Verpeaux (Hrsg.) 2012, S. 241, und: Jean-François Kesler 1985, S. 28. Bernard Denni: Les Elites en France, in: Chagnollaud (Hrsg.) 1993, S. 426. Dominique Chagnollaud: Du Pantouflage ou la » Déscente du ciel «, in: Pouvoirs 80/1997, S. 77 – 87, und: Jean-Claude Thœnig; Les Grands Corps, in: Pouvoirs 79/1986, S. 113. Vgl. Michel Bauer/Bénédicte Bertin-Mourot: L’ ENA: est-elle une business school ? Etudes sociologiques sur les Enarques devenus cadres d’entreprise de 1960 à 1990, Paris 1997. Jacques Chevallier: L’Elite politico-administrative: Une interpretation discutée in: Pouvoirs 80/1997, S. 94 f. Dazu die Aussage von Fournier 1987, S, 123 f., auf die ich mich hier vor allem be­ rufe. Süddeutsche Zeitung vom 6. April 2013. Vgl. Hans Manfred Bock: Republikanischer Elitismus und technokratische Herr­ schaft, in: Marieluise Christadler/Henrik Uterwedde (Hrsg.): Länderbericht Frankreich, Bonn 1999, S. 385 f., auch: Suleiman 1976, Birnbaum 1980, Wright 1989, sowie Quermonne 1991. Kesler 1985, S. 409 ff.

Anmerkungen zu Kapitel 5 383

Anmerkungen zu Kapitel 5 » Das Parlament « 1

2 3 4 5

6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

17 18

19 20

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22 23

Adolf Kimmel: Stärkung der » Hyperpräsidentschaft « oder Emanzipation des Parlaments ? Die französische Verfassungsänderung vom 23. Juli 2008, in: ZParl, Heft 4/2008, S. 857. Chagnollaud/Quermonne 2000, S. 5 und 7. Abgedr. in: Ziebura, S. 140 f. zu den DOM-TOM Überseegebiete: siehe Kapitel 14. Axel Murswieck: Professionell und regierungsorientiert: Parteien und Fraktio­ nen in Frankreich, in: Ludger Helms (Hrsg.): Parteien und Fraktionen – ein in­ ternationaler Vergleich, Opladen 1999, S. 111. So setzte sich 1988 der RPR-Fraktionsvorsitzende Pons nur mit einer Stimme Mehrheit gegenüber seinem Rivalen Séguin durch. Camby/Servent 1992, S. 35. Carcassonne/Guillaume 2014, S. 199. Maryvonne Bonnard: L’institution parlementaire, in: Verpeaux (Hrsg.) 2012, S. 77. Artikel 164-IV, letzter Absatz der Ordonnanz zum Organgesetz über die Finan­ zen von 1959. Pierre Avril: Le Régime politique, Paris 1967, S. 51. Gicquel 1995, S. 67 f. Eine Übersicht befindet sich in: Connaissance de l’Assemblée: Le Statut du Député, Paris 1989, S. 34 f. Vgl. Le Statut du Député a. a. O., S. 47 f. Vgl. Ordonnanz No 58410 vom 13. 12. 1958 zum Organgesetz über die Abgeord­ netendiäten. Die durchschnittliche Pension betrug Ende 2015 im Monat 2 700 Euro brutto, siehe: Assemblée Nationale: Fiche de synthèse no 17: La Situation matérielle du député. Camby/Servent 1992, S. 50. Abgedruckt in: Le Monde vom 27. 11. 2012, S. 10, und: Assemblée nationale: Répartition des députés par catégories socio-professionnelles, www.assembleenationale.fr/11/tribun/csp1.asp (Aufruf 6. 3. 2016) Vgl. Michel Mopin: Diriger le Parlement, in: Pouvoirs 83/1997, S. 44 f. Dazu: Adolf Kimmel: Gesetzgebung im politischen System Frankreichs, in: Wolfgang Ismayr (Hrsg.): Gesetzgebung in Westeuropa – EU-Staaten und Euro­ päische Union, Wiesbaden 2008, S. 229 – 270. Dazu: ders.: Das französische Parlament: vom » rationalisierten Parlamentaris­ mus « zum » neuen Parlament « ?, in: Heinrich Oberreuter (Hrsg.): Macht und Ohnmacht der Parlamente, Baden-Baden 2013, S. 155 ff. Zürn 1965, S. 167. Carcassonne/Guillaume 2014, S. 193.

384 Anmerkungen

24 Maus 1995, S. 180 f., und: Mitteilungen des Services de Documentation de 25 26 27 28 29 30 31

32 33

34 35 36

37 38 39 40 41 42 43 44

l’Assemblée Nationale vom 16. 11. 2004. Maus a. a. O. (Fn. 24), S. 152: letztlich erfolgte dies im Jahre 1982. Carcassonne/Guillaume 2014, S. 211. Frears 1991, S. 421. Auflistung bei Carcassonne/Guillaume a. a. O. Fn. 8), S. 228. Vgl. Maus 1992, S. 165 f. Paul Amselek: Le budget de l’Etat et le Parlement sous la Ve République, in: Revue du droit public 1998, S. 1444 – 1473. Zur Entscheidung des Verfassungsrates vom 24. 12. 1979, das Finanzgesetz 1980 für nicht verfassungskonform zu erklären, siehe: Loïc Philip: Les décisions relatives au vote de la loi de finances pour les principes du droit budgetaire, in: Revue française des finances publiques, Septembre 1995. Huber 1996, S. 151. Vgl. Le Monde » L’Etat réforme en profondeur la procédure budgetaire « vom 4. 1. 2006, S. 20 f., und: Christine Rimbaud: La Fonction parlementaire – Focus: Le Parlement et l’évaluation des politiques publiques, in: Verpeaux 2012, S. 98 f. Senat.fr/role/ordonnances/etude_ordonnancesO. (Aufruf 3. 6. 2015). Dazu: Klaus von Beyme: Das Interpellationsrecht, in: Die parlamentarischen Re­ gierungssysteme, München 2. Aufl. 1973, S. 417 ff. Entscheidung No 59-2 CC vom 17., 18. und 24. Juni 1959, und: Das Organgesetz Nr. 2009-403 vom 15. April 2009 sieht eine Reihe von Kriterien vor, um jeglichen Ansatz einer Verantwortlichkeit der Regierung durch eine Resolution zu unter­ binden. Vgl. Connaissance de l’Assemblée: Les Questions à l’Assemblée Nationale, Paris 1989. Warum die im Frühjahr 1989 eingeführten » Fragen an ein Regierungsmitglied « ab der 10. Legislaturperiode nicht fortgeführt wurden, ließ sich nicht feststellen. Vgl. Artikel 139 der GO-NV. Vgl. Les Questions à l’Assemblé Nationale a. a. O., S. 33 f., und: Rimbaud a. a. O. (Fn. 33), S. 97. Dazu: Carcassonne/Guillaume a. a. O. (Fn. 8), S. 244. Rimbaud a. a. O. (Fn. 33), S. 100 f. Eine genaue Übersicht findet sich in: Duhamel 1991, S. 281 ff. Vgl. Udo Kempf: Frankreichs Senat – Wenig Potestas, viel Auctoritas, in: Jürgen Hartmann/Uwe Thaysen (Hrsg.): Pluralismus und Parlamentarismus in Theo­ rie und Praxis, Winfried Steffani zum 65. Geburtstag, Opladen 1992, S. 189 ff., Sabine Ruß: Der französische Senat: Die Schildkröte der Republik, in: Gisela Riescher/Sabine Ruß/Christoph M. Haas: Zweite Kammern, München/Wien 2000, S. 236 – 254, und: Romy Messerschmidt: Wozu Zweite Kammern in Zen­ tralstaaten ? Das Beispiel des Französischen Senats, in: Werner Patzelt (Hrsg.): Parlamente und ihre Macht, Baden-Baden 2005, S. 47 ff.

Anmerkungen zu Kapitel 6 385

45 www.senat.fr/plateautableaux_bord/statistiques_20100.html (Textes définitive­

ment adoptés, (Aufruf 14. 6. 2015).

46 Loi No. 2003-697 vom 30. 7. 2003 (Artikel L. 294 und L. 295 des Code électoral). 47 Patrick Roger » Pourquoi la droite a perdu le Sénat «, in: Le Monde vom

28. 9. 2011, S.  23.

48 Im Juni 2015 entzog das Verfassungsgericht als oberste Kontrollbehörde auch für

49 50 51 52 53 54 55 56 57

Senatswahlen vier Senatoren wegen Unregelmäßigkeiten in ihrer Wahlkampf­ kosten-Abrechnung das Mandat. Kimmel 2013, a. a. O., S. 173. François Hollande: Misère du Parlementarisme, in: Faire la Politique, hrsg. v. Marc Abéles, in: Autrement, série Mutations no. 122, 1993, S. 4. FAZ vom 25. 6. 2015. Rimbaud a. a. O. (Fn. 33), S. 101. Ulrich Sieberer: The institutional Power of Western European Parliaments: A Multidimensional Analysis, in: West European Politics, 34: 4, S. 746 f. Vgl. Messerschmidt 2005, S. 248 ff. Lamarque 1994, S. 78 ff. Abgedr. bei Mopin a. a. O. (Fn. 19), S. 52. Vgl. Le Monde vom 12. 1. 1994.

Anmerkungen zu Kapitel 6 » Verfassungsrat « 1

2 3 4 5 6 7 8 9

Vgl. Favoreu/Philip 1991, Roussillon 1994, Pouvoirs 13/Neuauflage 1991, Avril/ Gicquel 1991, Adolf Kimmel: Der Verfassungsrat in der V. Republik. Zum unge­ wollten Erstarken der Verfassungsgerichtsbarkeit in Frankreich, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 4/1986, S. 530 ff., und: Philipp Mels: Bundesverfas­ sungsgericht und conseil constitutionnel – ein Vergleich, München 2003. Favoreu/Philip 1991, S. 5. Ebd., S. 89 f., und: Dominique Chagnollaud/Jean-Louis Quermonne: La Ve Répu­ blique, tome IV: L’Etat de droit et la justice, Paris 2000, S. 74 f. Carcassonne/Guillaume 2014, S. 204. Michel Verpeaux: Le Conseil Constitutionnel ou la juridiction constitutionnel, in: ders. (Hrsg.) 2012, S. 115 f. Carcassonne/Guillaume 2014, S. 278. Pascal Jan: Le Conseil Constitutionnel, in: Pouvoirs 99/2001, S. 71 – 86. Favoreu/Philip 1991., S. 87 f. Maus 1992, S. 218.

Anmerkungen zu Kapitel 7 » Staatsrat « 1

Vgl. Duverger 1985, S. 433.

386 Anmerkungen

Anmerkungen zu Kapitel 9 » Défenseur des droits « 1 2 3 4 5

Udo Kempf: Bewährung ohne Publizität: Der Médiateur, Mittler zwischen den Franzosen und ihrer Verwaltung, in: Dokumente, Heft 4/1985, S. 341 ff. Artikel 71-1 der Verfassung sowie Loi organique no. 2011-333 und no. 2011-334 vom 29. März 2011. Rapport annuel d’activité 2014, vorgelegt vom Défenseur des droits, Paris 2015. Vgl. hierzu insbesondere das Gesetz über die Rechte der Bürger gegenüber der Verwaltung, Gesetz No 2000-321 vom 12. 04. 2000, Artikel 9, Abs. 2 und 3 Dazu: Udo Kempf/Marco Mille: The Role and the Function of the Ombudsman: Personalized Parliamentary Control in 48 Different States, in: The Ombudsmann Journal No 11/1993, S. 37 ff.

Anmerkungen zu Kapitel 10 » Die politischen Parteien « Dazu: Bréchon (Hrsg.) 2011, Offerlé 2010, Borella 1990, und Ysmal 1989. Über das Parteiensystem vor 1940 informiert sehr eindrucksvoll Rudolf von Albertini: Parteiorganisation und Parteibegriff in Frankreich 1789 – 1940, in: Historische Zeitschrift, 193. Bd., S. 529 – 600. Sehr lesenswert über die Parteien der III. Re­ publik ist nach wie vor Goguel 1946, über diejenigen der IV. Republik Siegfried 1959. 2 Vgl. Alistair Cole: Das französische Parteiensystem, in: Ruß u. a. 2000, S. 37 ff. 3 Pierre Bréchon: Les Partis dans le système politique, in: ders. (Hrsg.): Les Partis politiques français, La Documentation française, Paris 2011, S. 13. 4 Vgl. Joachim Schild: Wählerverhalten und Parteienwettbewerb, in: Ruß u. a. 2000, S. 57 f., und: Cole 1998. 5 Charlot 1994, S. 44 f. 6 Vgl. François Borella: Le Système des partis, in: Chagnollaud (Hrsg.) 1993, S. 239, und: Cole, in: Ruß u. a. 2000, S. 35 f‌f. 7 Vgl. Wolfgang Jäger: Die politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutsch­ land und in Frankreich, in: Der Staat, Heft 4/1980, S. 583 – 602. 8 Rémi Lefèbre: La Présidentialisation des partis politique, in: Michel Verpeaux (Hrsg.): Institutions et vie politique sous la Ve République, La Documentation française Paris 2012, S. 223 ff. 9 Dazu: SciencePo – Cevipof: Avoir confiance, mais en qui ?, www.cevipof.com/fr/ le-barometre-de-la-confiance (Aufruf 11. 3. 2015). Für ältere Erhebungen: Thomas Wieder: Les Français se méfient de leurs élus, in: Le Monde vom 1. 1. 2011, S. 13, und: Colette Ysmal: Les Partis politiques et leur rôle, in: Institutions et vie poli­ tique 2003, S. 95. 10 Adolf Kimmel: Parteienstaat und Antiparteieneffekt in Frankreich, in: Jahrbuch für Politik 1991, 1. Jahrg., Halbband 2, S. 337 ff. 1

Anmerkungen zu Kapitel 10 387

11 Pierre Bréchon: Les Partis dans le système politique, in: ders. (Hrsg.) 2011,

12 13 14

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25 26 27 28 29 30 31

S. 10 ff., und: Colette Ysmal: Les Elites politiques, in: Institutions et vie politique, Paris 2003, S. 111 ff. Vgl. Hugues Portelli: Le Pari Socialiste, Paris 21998. Vgl. Alain Bergounioux/Gérald Grunberg: Le Long remord du pouvoir – le Parti Socialiste de 1905 à 1992, Paris 1992. Hans Manfred Bock: Die stufenweise Auflösung der Linksunion und die Per­ spektiven der Linksparteien in Frankreich, in: Frankreich-Jahrbuch 1988, S. 75; auch Leggewie 1986. Vgl. Alistair Cole: François Mitterrand, Routledge 1994, S. 74 ff. Der Höhepunkt dieser Zwistigkeiten war der Parteitag in Rennes 1990, Lionel Jospin war von 1981 bis 1988 und von 1995 bis 1997 Erster Sekretär der Parti Socialiste.Vgl. sein Portrait in: Le Monde vom 4. 7. 1997, S. 12 f. Ina Stephan: Die Parti Socialiste, in: Ruß u. a. 2000, S. 160. Joseph Szarka: The Parties of the French › Plural Left ‹ – An Uneasy Complemen­ tarity, in: Elgie 2000, S. 23 f. Colette Ysmal: Les Partis politiques aujourd’hui, in: Institutions et vie politique 2003, S. 101. Vgl. Hans Manfred Bock: Die » seltsame Niederlage « der Sozialisten am 21. April 2002 und ihre Folgen für die Pari Socialiste, in: Lendemains Heft 105/106, 2002, S.  25 – 231. Dazu: Roland Höhne: Die französischen Präsidentschafts- und Parlaments­ wahlen 2012. Machtwechsel und Systemwandel; in: Lendemains, 37. Jg. 2012, Nr. 146/147, S. 229 ff. Dazu: Benjamin Schreiber/Stefan Dehnert: Die Reform des Arbeitsrechts spaltet die Linke Frankreichs, in: Friedrich Ebert Stiftung – Büro Paris, März 2016, und: FAZ vom 17. 6. 2014 und vom 1. 9. 2014. Wirtschaftsminister Arnauld Montebourg, Bildungsminister Benoît Hamon und Kulturministerin Aurélie Filipetti. Sie traten im August 2014 wegen der ver­ meintlich unternehmerfreundlichen Politik des Regierungschefs von ihren Äm­ tern zurück. » Cambadélis: Le Social-libéralisme ne fait pas partie de notre vocabulaire «, in: Le Monde vom 29. 8. 2014, S. 7. Carole Bachelot: Le Parti socialiste, la longue marche de la présidentialisation, in: Bréchon (Hrsg.) 2011, S. 120 ff. Parti Socialiste: Statuts adoptés au Congrès de Bordeaux am 10. 7. 1992, Artikel 1.5.1. Dazu: Der Programmentwurf der Parteilinken » A gauche, pour gagner ! « http://congres.parti-socialiste.fr/motions/motion-a-le renouveau-socialiste (Auf­ ruf 3. 8. 2015). Wolfgang Jäger: Die Sozialistische und Kommunistische Partei in Frankreich, in: Oberndörfer (Hrsg.) 1978. S. 93 f. Bock, in: Frankreich-Jahrbuch 1988, S. 76.

388 Anmerkungen

32 Vgl. Le Monde, Dossiers et Documents: L’Election présidentielle – le Nouveau

contrat de François Mitterrand 24.4./8. 5. 1988, S. 20 ff.

33 Vgl. Stephan, in: Ruß u. a. 2000, S. 159. 34 Vgl. auch Jacques Derville: Un Discours socialiste à réconstruire, in: Bréchon

(Hrsg.) 1994, S. 93.

35 Vgl. Le Monde vom 8. 3. 1995. 36 Stefan Ulrich » Gleichheit, Gerechtigkeit, höhere Steuern «, in: SZ vom 27. 1. 2012,

S. 7.

37 Thomas Wieder » Adhérents, sympathisants: les différences « – Claude Dargent/

38 39 40

41 42 43

44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54

Henri Rey: Les militants du PS, in: Revue socialiste, Juin 2011, abgedr. in: Le Monde vom 28. 6. 2011, S. IV (Dossier). Rémi Lefèbre » Les Primaires: vers la fin du Parti socialiste «, Paris 2011, abgedr. in: Le Monde vom 28. 6. 2011, S. IV (Dossier). Laurent Bouvet » Un Parti Socialiste indéchiffrable «, in: Le Monde vom 10. 11. 2005, S.  21. Thomas Wieder » Profil des électeurs «, in: Le Monde vom 12. 6. 2012, dazu auch: Gérard Le Gall: Présidentielle 2012: Une victoire politique de François Hollan­ de, à contre-courant idéologique ?, in: RPP No. 1063 – 1064, Avril/Septembre 2012, S. 42. Für das Wahljahr 2007 siehe: Le Monde vom 15. 11. 2008, S. 22. Carole Bachelot: Le Parti socialiste, a. a. O. (Fn. 26), S. 125. Vgl. Erich Schmitz: Der Niedergang der Kommunistischen Partei Frankreichs, in: Politische Vierteljahresschrift, Heft 4/1987, S. 403 – 425. Vgl. Grosser 2005, S. 87, und Andrew Knapp: Frankreich: Die » Viererbande « und die extreme Rechte – Verurteilung und Komplizenschaft, in: Peter Mair/ Wolfgang C. Müller/Fritz Plasser (Hrsg.): Parteien auf komplexen Wählermärk­ ten. Reaktionsstrategien politischer Parteien in Westeuropa, Wien 1999, S. 175. Vgl. Marcus Obrecht: Die Kommunistische Partei Frankreichs, in: Ruß u. a. 2000, S. 227. Le Monde vom 19. 5. 1999. Vgl. Marie-Claire Lavabre/François Platone: Que reste-t-il du PCF ?, Edition Autrement/CEVIPOF, Paris April 2003. Fabrinne Greffet: Le Parti communiste français: l’espoir du retour, in: Bréchon (Hrsg.) 2011, S. 172. Vgl. Obrecht, in: Ruß u. a. 2000, S. 229. Abgedr. in: Greffet a. a. O. (Fn. 47), S. 177. Ebd., S. 178. Ebd. Ebd., S. 166. Dazu: François Platonne/Jean Ranger: Les Adhérents du Parti communiste fran­ çais en 1997, Cahiers du CEVIPOF, no. 27, juin 2000. Vgl. Obrecht, in: Ruß u. a. 2000, und: François Platone/JeanRanger: Les Mem­ bres du Parti Communiste entre révolution et » mutation «, in: Le Monde vom 15. 1. 2000, S.  17.

Anmerkungen zu Kapitel 10 389

55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66

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69 70 71 72 73 74

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76

Dazu: Greffet, a. a. O. (Fn. 47), S. 165. Le Monde vom 4. 6. 2011, S. 6. Michaela Wiegel » Frankreichs Grüne vor der Spaltung «, in: FAZ vom 29. 8. 2015. Zur Geschichte der Grünen: Bruno Villalba: La Transmutation d’Europe Ecolo­ gie-Les Verts, in: Bréchon (Hrsg.) 2011, S. 130 ff. Die beiden Fraktionsvorsitzenden im Senat und in der Nationalversammlung verließen im August 2015 die Partei. Michel Hastings: Le Discours écologiste: un exemple d’hermaphrodisme idéolo­ gique, in: Bréchon (Hrsg.) 1994, S. 115 ff.; und: Le Monde vom 14./15. 12. 2003. Vgl. hierzu Antoine Waechters Buch: Dessine-moi une planète, Paris 1990. Villalba a. a. O.(Fn. 58), S. 151. Europe Ecologie-Les verts: Les Statuts, Novembre 2014, eelv.fr/wp-content/ uploads 2011/11/Statuts_EELV_V2/Nov14_oh.pdf (Aufruf 28. 8. 2015). Villalba a. a. O. (Fn. 58), S. 148 ff. Vgl. Daniel Boy: Le Vote écologiste: évolutions et structures, in: Cahiers du CEVIPOF No. 6, 1990. So entschieden sich die grünen Mitglieder bei der Auswahl ihres Präsident­ schaftskandidaten 2012 nicht für den bekannten Fernsehmoderator Nicolas Hulot sondern für die frühere Untersuchungsrichterin Eva Joly. Michaela Wiegel » Die Rache der kleinen Erbsen «, in: FAZ vom 3. 7. 2015, S. 3. Roland Höhne: Die Union pour un Mouvement Populaire: Ende der Zersplitte­ rung des bürgerlichen Lagers ?, in: Lendemains Heft 114/115, 2004, S. 166 – 196, Jacques Derville: Du RPF au RPR et à l’ UMP: la banalisation d’un parti de droite, in: Pierre Bréchon (Hrsg.): Les Partis politiques français 2005, S. 45 ff., Colet­ te Ysmal: Les Partis politiques aujourd’hui, in: Institutions et vie politique 2003, S.  105 ff. Vgl. Charlot 1967, 1970 und 1983, François G. Dreyfus: De Gaulle et le Gaullisme, Paris 1982, und: Pouvoirs No 28/1984: Le RPR. Von November 1967 bis Juni 1968 nannte sich die UNR-UDT Union des Démo­ crates pour la Ve République (UD-Ve). Vgl. Sainteny 1992, S. 91 ff. Derville 2005, S. 62 f. Ebd., S. 63. Aufruf führender Persönlichkeiten der bürgerlichen Opposition am 13. 1. 2001 zur Bildung einer Union der Rechten und Bildung der Vereinigung Alternance 2002 am 22. 3. 2001 sowie deren Umbenennung in Union pour un Mouvement am 4. 4. 2001. Juppé wurde vom Gericht in Nanterre am 30. 1. 2004 zu einer 18-monatigen Haftstrafe auf Bewährung und zu einem Jahr Nichtwählbarkeit für ein öffent­ liches Amt verurteilt. Simon Labouret: La Défaite annocée de Nicolas Sarkozy: que reste-t-il de la rupture 2007 ?, in: Revue Politique et Parlementaire No. 1063 – 1064, Avril/Sep­ tembre 2012, S. 87.

390 Anmerkungen

77 Nouveaux statuts Mai 2015, chapitre II: Organisation nationale. 78 Jacques Derville: Les Partis gaullistes: fidélité aux principes et évolutions doc­

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trinales, in: Bréchon (Hrsg.) 1994, S. 37 ff., und: Höhne, in: Lendemains 2004 (Fn. 68). Stanley Hoffmann: Une Lutte intéressante contre la médiocrite, in: Le Monde vom 10. 11. 1995. Vgl. Udo Kempf: Die Parteien der Rechten zwischen Einheit und Auflösung, in: Frankreich-Jahrbuch 1988, S. 99 ff. Vgl. Ysmal 1984, S. 100 ff. Höhne, in: Lendemains 2004 (Fn. 68), S. 172. Présidentielle 2017: la Bataille des projets à droite, in: Les Echos vom 4. 6. 2015 (www.lesechos.fr/politique-societe/dossiers/0203854181541 (Aufruf 20. 9. 2015). Vgl. Abel Hermel: Etude d’un parti politique français: UMP, in: Pouvoirs 111/2004, S. 147 ff. CSA-Untersuchung, zit. in: Le Monde vom 23./24. 1. 2005, und: Le Monde vom 12. 5. 2005 sowie vom 18. 11. 2005. Simon Labouret a. a. O. (Fn. 76), S. 94, und: ders.: La Débâcle de l’ UMP et ses alliés aux legislative, in: ebd., S. 170. » Les Electeurs du PS et de l’ UMP ont globalement reproduit leur vote de la présidentielle «, in: Le Monde vom 12. 6. 2012, S. 12. Abgedr. in: Labouret, a. a. O. (Fn. 76), S. 97. Stéphanie Abrial: Les Partis au centre de l’échiquier, in: Bréchon (Hrsg.) 2005, S.  77 ff. Die Europa-Wahlen vom Juni 1994 hatten indessen die UDF überraschend mit einem neuen Problem konfrontiert, nämlich der Dissidentenliste ihres PR-Abge­ ordneten Philippe de Villiers, die 12,34 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen konnte und damit halb so stark wurde wie die gemeinsame Liste aus UDF und RPR (25,58 Prozent). Philippe des Villiers hatte einen Wahlkampf geführt, der hauptsächlich um zwei Themen kreiste: Kampf gegen die immer stärker um sich greifende Korruption in Frankreich und heftiger Widerstand gegen ein föderales Europa. Mit beiden Themen, ergänzt um die Propagierung der Werte wie Moral, Familie und Religion, konnte der rechtskonservative Graf aus der Vendée bei dieser Nebenwahl in das konservative Wählerpotential ein­ brechen. Vgl. die Wähleranalyse in: Le Monde vom 19. 11. 1994. Abrial, a. a. O. (Fn. 89), S. 88. Parti Radical, Force europénne démocrate, Le Nouveau Centre, L’Alliance cen­ triste, La Gauche moderne, Territoires en mouvements, Le Parti liberal démo­ crate, in: UDI, www.jeunesforces democrats.fr/udi/ (Aufruf 25. 9. 2015) Ebd. Le Monde vom 23. 12. 2012. Ebd. Vgl. Abrial a. a. O. (Fn. 89), S. 86 ff.

Anmerkungen zu Kapitel 10 391

98 Vgl. das CDS-Programm von 1977 » L’Autre solution « und die FD-» Werte-

Charta « vom 25. 11. 1995.

99 Vgl. Dreyfus 1988, S. 399 ff., und Hugues Portelli: La Résistible ascension du

liberal-conservatisme, in: Revue Politique et Parlamentaire No 935, Mai/Juni 1988, S. 23 ff. 100 UDI: Le Pacte fondateur – Principes, www.parti-udi.fr/le-pacte-fondateur (Auf­ ruf 25. 9. 2015). 101 Vgl. Abrial, a. a. O. (Fn. 89), S. 93 f. 102 Ebd., S. 92 f. 103 Le Monde vom 24. 4. 2012, S. 1 und S. 43, und: Nathalie Dompnier: François Bayrou en cinquième homme, in: Elections 2012 in: RPP No. 1063 – 1064 Avril/ Septembre 2012; S. 75 ff. 104 Ebd. 105 Serge Berstein: Un Siècle de radicalisme, Villeneuve-d’Ascq 2004, und Siegfried Loewe: Parti radical, in: Frankreich Lexikon 22005, S. 715 ff. 106 Gilles Ivaldi: Le Front national: sortir de l’isolement politique, in: Bréchon (Hrsg.) 2011, S. 17 – 44, und: ders.: Front National: une élection présidentielle de reconquëte, in: RPP No. 1063 – 1064, Avril/Septembre 2012, S. 101 – 117, so­ wie: ders.: Législatives: un bilan en demi-teine pour le Front national, in: ebd., S.  175 – 189. 107 Vgl. Birenbaum 1994, Camus/Monzat 1992, Mayer/Perrineau (Hrsg.) 1989, und Winock (Hrsg.) 1993. 108 Pierre Poujade, ein Kleinhändler aus dem Departement Lot, gründete 1954 eine rechtspopulistische Partei, die Union de Défense des Commerçants et Artisans, mit deren Hilfe er hauptsächlich mit der Steuer- und Wirtschaftspolitik unzu­ friedene Bauern, Händler und Handwerker sammeln wollte. 1956 gewann seine Bewegung bei den Parlamentswahlen 11,6 Prozent der Stimmen bzw. 52 Abge­ ordnete. Seit 1958 verschwand der Poujadismus weitgehend. 109 Der Generaldelegierte Bruno Mégret verließ mit seinen Getreuen wegen Ausein­ andersetzungen über den zukünftigen Kurs die Partei und gründete seine eigene. 110 Jean-Marie Le Pen hatte die Gaskammern als ein » Detail des Zweiten Welt­ kriegs « bezeichnet. 111 Axel Veiel » Wir sind nicht mehr Charlie «, in: Badische Zeitung vom 11. 3. 2015, S. 3. 112 Pascal Perrineau: La Surprise lepéniste et sa suite legislative, in: ders./Ysmal 2003, S. 199 ff. 113 SZ vom 18. 3. 2015, S. 3, und FAZ vom 25. 3. 2014. 114 FAZ vom 4. 4. 2015. 115 Ivaldi, in: RPP a. a. O. (Fn. 106), S. 105, und: ders., in: Bréchon (Hrsg.) 2011, S. 23. 116 Roland Höhne: Die französische Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2012. Machtwechsel und Systemwandel, in: Lendemains, 37. Jg., Nr. 146/147, 2012, S. 236. 117 Ivaldi, in: RPP a. a. O. (Fn. 106), S. 105.

392 Anmerkungen

118 Vgl. Ivaldi, in: Bréchon (Hrsg.) 2005, S. 34, und: ders., in: Bréchon (Hrsg.) 2011,

S.  33 f.

119 Vgl. Nonna Mayer/Henri Rey: Avancée électorale, isolement politique du

Front National, in: Revue Politique et Parlementaire No 964, März/April 1993, S.  42 ff. 120 Le Monde vom 24. 4. 2012, und: Ivaldi, in: Bréchon (Hrsg.) 2011, a. a. O., S.  111 ff. 121 Axel Veiel, in: Badische Zeitung vom 11. 3. 2015. 122 Dazu: Ivaldi, in: Bréchon (Hrsg.) 2011, S. 23 f.

Anmerkungen zu Kapitel 11 » Wahlen, Wählerverhalten und Wahlfinanzierung « Entscheid des Conseil Constitutionnel vom 8. und 25. 8. 1985 sowie vom 1./2. 7. und 18. 11. 1986. 2 Das Departement Lozère entsendet nur noch einen Abgeordneten ins Palais Bourbon. 3 Joël Derai: L’ URC, in: Le Figaro – Etudes politiques: Les Elections législatives 1988, S. 28, und Jerôme Jaffré: Les Elections legislatives de mars 1993, in: Pou­ voirs No 66/1993, S. 141 ff. 4 Gesetz No 75-1329 vom 31. 12. 1975, ergänzt durch das Gesetz No 93-894 vom 6. 7. 1993. 5 Gesetz vom 15. 1. 1990 und vom 11. 3. 1988. 6 Gesetz vom 30. 9. 1986. 7 Patrick Lehingue: Le corps électoral, in: Verpeaux (Hrsg.) 2012, S. 191. 8 Ebd., S. 190. 9 Institutions et Vie politique 1991, S. 65 und 113. 10 Institutions et Vie politique 2003, S. 92 f. 11 Vgl. Paul Guyonnet: Les Elections de 1958 à 1989, in: ebd., S. 105 ff. 12 Im Folgenden wird der Begriff » gaullistische Partei « oder die jeweilige Abkür­ zung verwandt. Von 1958 bis 1963 nannten sich die Gaullisten Union pour la Nouvelle République, von 1963 bis 1967 Union pour la Nouvelle République et Union Démocratique du Travail, von 1967 bis 1968 Union des Démocrates pour la Ve République und von 1968 bis 1976 Union des Démocrates pour la Répu­ blique. 12a Bei den letzten Wahlen der IV. Republik 1956 erhielten die Parteien folgende Stimmergebnisse: PCF 26 Prozent, SFIO 15,2, (linke) Radikalsozialisten 11,3, MRP 11,1, (rechte Radikalsozialisten) 4,3, Konservative 14,5, Poujadisten und Anhänger de Gaulles 11,6. 13 Eric Perraudeau: Le Système des partis sous la Ve République, in: Pouvoirs 99/2001, S.  101 – 115. 1

Anmerkungen zu Kapitel 11 393

14 Vgl. seine Rede » Le bon choix « in Verdun-sur-le-Doubs vom 27. Januar 1978. 15 Jaffré, in: Pouvoirs No 66/1993, S. 144 ff. 16 Joseph A. Schlesinger/Mildred S. Schlesinger: French Parties and the legislative 17 18 19 20

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35 36 37

elections of 1993, in: Party Politics No 3/1995, S. 369 f. Vgl. Le Monde, Dossiers et Documents: L’Election présidentielle 1995, S. 47. Ebd., S. 74. Vgl. Charlot 1995. Vgl. Roland Höhne: Die Transformation des politschen Systems der V. Fran­ zösischen Republik nach den Parlamentswahlen von 1997, in: ZParl 4/1999, S.  864 – 880. Vgl. Roland Höhne: Die Krise der Repräsentation, in: Lendemains Heft 105/106, 2002, S.  56 – 64. Ebd., S. 59. Roland Höhne: Der Mai ’81 der republikanischen Rechten, in: Lendemains, 32. Jg., 2007, Nr. 126/127, S. 56. Simon Labouret, in: Bréchon (Hrsg.) a. a. O., S. 97. Janine Mossuz-Lavau: Les Comportements électoraux, in: Institutions et Vie po­ litique, Paris 2003. S. 152. Vgl. Françoise Subileau: L’Abstention, in: Regards sur l’actualité: Le vote des Français, La Documentation Française No. 287, Janvier 2003, S. 14. Pierre Bréchon: Des Elections présidentielles qui restent mobilisatrices, in: RPP No. 1063 – 1064, Avril/Septembre 2012, S. 47, Vgl. hierzu für die jüngeren Wahlgänge: Muxel 2001, und Subileau: a. a. O., S. 5 ff. (Fn. 26), für frühere: Ysmal 1989, Capdevielle et al. 1981, Habert et al. 1993, Gaxie, Daniel (Hrsg.): Explication du vote, Paris 1989, und Dupoirier/Grunberg 1986. Ysmal 1986, S. 59. Goguel 1981, 1983a und 1983b, und Goguel/Grosser 1984, S. 77 ff. Für jünge­ re Wahlgänge: Frears 1991, S. 132 ff, Mossuz-Lavau 1994, S. 155, Le Monde vom 24. 4. 2012, S. 12, und vom 8. 5. 2012, S. 12. Art. 5.2.2 der Statuten in der Fassung vom 7. 6. 2015. Vgl. Art. 2 des » Règlement intérieur « der UMP in der Fassung vom 11. 01. 2005. Art. 19 der Statuten in der Fassung vom 11. 01. 2005. Vgl. Kempf 1973, und ders.: Strukturelle Veränderungen des französischen Par­ teiensystems, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, N. F. Bd. 23, Tübingen 1974, S. 81 – 119. Art. 40 der Statuten der LR in Verbindung mit Art. 44, welcher dem Nationalrat ein Bestätigungsrecht der Investituren zubilligt. Für die Wahlen von 2002 vgl. Perrineau/Ysmal (Hrsg) 2003. Vgl. Cécile Teissier: Gesetzliche Verwirklichung der Geschlechterparität bei französischen Wahlmandaten – erste Anwendungserfahrungen, in: ZParl 1/2002, S.  115 – 124.

394 Anmerkungen

38 Vgl. Marie-Jo Zimmermann: Pourquoi la parité en politique reste-t-elle un

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enjeu pour la démocratie française ? In: www. ladocumentationfrancaise.fr/ BRP/034000109/0000.pdf Der Staat übernahm folgende Leistungen: Subventionierung der Parteipresse, Finanzierung der Parlamentsfraktionen und Übernahme bestimmter Wahl­ kampfkosten wie Stimmzettel, Versendung des Wahlprogramms an Wähler und Plakatierung auf offiziellen Flächen; hinzu kamen kostenlose Sendezeiten in den öffentlichen Medien. Für Einzelheiten vgl. Karl Schmitt: Die Neurege­ lung der Parteienfinanzierung in Frankreich: Chancen einer späten Geburt ?, in: ZParl, Heft 1/1993, S. 73 ff. Vgl. Victor Loupain/Pierre Lorrain: L’Argent de Moscou, Paris 1994. Vgl. Mény 1992, S. 268 ff. Dazu: Campana 1976, und Wolton 1989. Dazu: Udo Kempf: Französische Demokratie in den 90er Jahren. Herausforde­ rungen, Risiken und Reformkonzepte, in: Hartmut Wasser (Hrsg.): Krisen­ phänomene westlicher Demokratien in den 90er Jahren, Weingartener Hochschulschriften No 24/1996, S. 81 ff., und: Sabine Ruß: Von der Impro­vision zur Etatisierung – Die Finanzierung der französischen Parteien und Wahl­ kämpfe, in: Ruß u. a. 2000, S. 99 ff. Zur Vorgeschichte der Parteienfinanzierung ab 1988 vgl. Ruß 1993, S. 74 ff. Eine Zusammenstellung aller Gesetze findet sich in: Commission Nationale des Comptes de Campagne et des Financements Politiques: Financement des Cam­ pagnes Electorales et des Partis Politiques, Journal Officiel, Februar 1993. Vgl. auch: Pouvoirs No 70: L’Argent des élections, Paris 1994. Artikel 7 des Gesetzes No 88-227 vom 11. 3. 1988. Le Monde vom 25. 6. 2008 und vom 12. 6. 2012. Die Gesamteinnahmen der wichtigsten Parteien im Jahr 2009 einschließlich Spenden und Abgaben von Mandatsträgern: PS: 57,1 Mill., UMP: 54 Mill., PCF: 31,5 Mill., Les Verts: 6,6 Mill., MoDem: 5,6 Mill. und FN: 4,1 Mill. Euro, in: Le Monde vom 3. 1. 2011. Art. 11-4 des Loi 88-227 i. d. F. vom 19. 1. 1995. Zur Finanzhilfe der Sowjetunion an die PCF siehe: Loupain/Lorrain a. a. O. (Fn. 40). Gesetz No 95-65 vom 19. 1. 1995, Art. 16-1. Code général des impôts, Art. 200 (1) und (2bis). Art. 9-1 des Loi 88-227 i. d. F. des Gesetzes No 95-65 vom 19. 1. 1995, Art. 13-1. Code électoral Art. L. 52-11-1. Edward Arkwright (Hrsg.): Les Institutions de la France, Paris 2013, S. 136. Artikel 10 des Gesetzes No 93-422 vom 29. 1. 1993. Mit dieser Neuregelung wurde die 1990 festgelegte Summe deutlich reduziert. Dazu: Ruß 1993, S. 177. Gesetz No 95-65 vom 19. 1. 1995, Art. 4-1. Vgl. CCFP 1993, S. 38 ff.

Anmerkungen zu Kapitel 12 395

60 FAZ vom 19. 10. 1994, und Die ZEIT vom 28. 10. 1994. 61 Organgesetz vom 11.3. 1988 i. d. F. vom 20. 1. 1995, sowie Loi Organique 95-63 vom

19. 1. 1995.

62 Mitglieder sind der Vizepräsident des Staatsrates und die Präsidenten des Kassa­

tionsgerichts sowie des Rechnungshofes.

63 Le Monde vom 7. 10. 2011. 64 Le Monde vom 7. 10. 2010, S. 10. 65 Ruß, in: dies. et al. 2000, S. 114.

Anmerkungen zu Kapitel 12 » Interessenverbände « 1

2

3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

Henry Ehrmann: Organized Business in France, Princeton 1957, Dorothy Pickles: The Government and Politics of France, Bd. 1, London 21972, S. 264, und Georges Lavau: Political Pressures by Interest Groups in France, in: Henry Ehrmann (Hrsg.): Interest Groups on Four Continents, Ann Arbor 41967. Dazu: Dominique Andolfatto (Hrsg.): Les Syndicats en France, Paris 2013, La Documentation française, und: Karel Yon: Les Syndicats et la » démocratie so­ ciale «, in: Michel Verpeaux (Hrsg.): Institutions et vie politique sous la Ve Répu­ blique, Paris 2012, La Documentation française, S. 256. SciencePo-Cevipof: Avoir confiance, mais en qui ?, www.cevipof.com/fr/lebarometre-de-la-confiance (Aufruf 11. 3. 2015), Wolfgang Jäger: Gewerkschaften und Linksparteien in Frankreich, in: Rühle/ Veen (Hrsg.) 1983, S. 24 ff. Peter Jansen/Gerhard Kiersch: Frankreich, in: Mielke, Siegfried (Hrsg.): Inter­ nationales Gewerkschaftshandbuch, Opladen 1982, S. 438. Jäger, in: Rühle/Veen (Hrsg.) 1983, S. 29. Vgl. Dreyfus 1995. Vgl. Mouriaux 1983. Ders.: Syndicats et Organisations professionnelles, in: Institutions et Vie Poli­ tique, Paris 1991, S. 91. Le Monde vom 15. 11. 2011, S. 11, und: FAZ vom 2. 11. 2013, S. 11. Régis Maruszewics/Daniel Boulmier: L’Audiance électorale du sydicalisme, in: Andolfatto (Hrsg.) 2013 (Fn. 2), S. 125. Vgl. René Mouriaux: Syndicats, organisations professionelles et groupes d’intérêts, in: Institutions et vie politique 2003, S. 118. Vgl. Jäger, in: Rühle/Veen (Hrsg.) 1983, S. 60. Mouriaux 52005, S. 34. Vgl. Regards sur l’Actualité No 189/März 1993, S. 48. La Vie à défendre. Le Magazine de la CFDT, No 2 und 3, Oktober/November 1992, und Dominique Andolfatto: Le Debat syndical aujourd’hui, in: Regards sur l’Actualité (La Documentation Française) No 185, November 1992, S. 3 ff.

396 Anmerkungen

17 Antoine Bevort: Du Catholicisme social au réformisme: CFTC et CFDT, in:

Andolfatto (Hrsg.) 2013, S. 67 f.

18 Vgl. Le Monde vom 14./15. 4. 1996. 19 Thierry Choffat/Marina Casula: Le Regain de l’action catégorielle: CGS, USS,

FSU, UNSA, in: Andolfatto (Hrsg.) 2013, S. 81 ff., hier: S. 97.

20 Zahlen bei: Andolfatto (Hrsg.) 2013, S. 125, 131 und 223. 21 Vgl. Regards sur l’Actualité No 189/März 1993, S. 48. 22 Dominique Andolfatto : Les Héritiers du mouvement ouvrier: CGT et CGT-FO,

in: ders. (Hrsg.) 2013, S. 39 f. unf 44 f.

23 Ders.: Le Plus faible taux de syndicalisation des pays industrialisés, in: L’Etat de 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43

la France 2004, S. 267. Antoine Bevort a. a. O. (Fn. 17), S. 75 ff. Vgl. Aubert et al. 1985. Zahlen aus: Liaisons sociales: Les Organisations syndicales, 19. 11. 1992. Le syndicalisme enseignant: Le » forteresse « éclatée, in: Choffat/Casula a. a. O. (Fn. 19), S. 97 ff. Vgl. dazu Jäger, in: Rühle/Veen (Hrsg.) 1983, S. 97 ff., und Rehfeldt, in: Frank­ reich-Jahrbuch 1991, S. 101 ff. Jäger, in: Rühle/Veen (Hrsg.) 1983, S. 97. Mouriaux 2005, S. 118 f. Zu Folgendem: Henrik Uterwedde: Arbeitsbeziehungen im Betrieb, in: Schild/ Uterwedde 2006, S. 258 ff. Vgl. Weber 1986. Offizieller Gründungstag war der 12. 6. 1946. Jürgen Hartmann: Verbände in der westlichen Industriegesellschaft, Frankfurt a. M. 1985, S. 152 ff. Vgl. Ingo Kolboom: Wie der Unternehmer zum » Patron « wurde, in: FrankreichJahrbuch 1988, S. 157 ff. Hartmann 1985 (Fn. 33), S. 154. Dazu: Uterwedde 2006, a. a.O (Fn. 31), S. 265. Vgl. Le Monde vom 6. 7. 1993 » L’Année terrible des PME « Vgl. Pletsch 2003, S. 192 ff. Le Monde vom 29./30. 9. 1991. Yves Mény: Interessengruppen in Frankreich. Vom Pluralismus keine Spur, in: Länderbericht 2005, S. 286 ff. Vgl. John T. S. Keeler: Neocorporatism in France – Farmers, the State, and Agri­ culture – Policy-making in the Fifth Republic, Oxford 1987. Weber 1986, S. 131. Ebd., S. 227 ff.

Anmerkungen zu Kapitel 13 397

Anmerkungen zu Kapitel 13 » Massenmedien « 1

2 3 4 5

6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

18

19 20 21 22

Vgl. Ernst-Ulrich Große/Ernst Seibold: Presse française, presse allemande, Etu­ des comparatives, Paris 2003, auch Isabelle Bourgeois: Medien: Industriepolitik für den Standort Frankreich, in: Georg-Eckert-Institut (Hrsg.): Deutschland und Frankreich auf dem Weg in ein neues Europa. www.deuframat.de (CD-ROM) 22004, dies: Medien, in: Länderbericht 2005, S. 302 ff.; Ernst Ulrich Große/ Heinz-Helmut Lüger: Entwicklungstendenzen der Massenmedien, in: dies. 2000, S. 254 f., Grosser 2005, S. 169 ff. Grosser 2005, S. 169. Michaela Wiegel » Am Tropf – Der Staat und die Medien «, in: FAZ vom 24. 11. 2014. Jürg Altwegg » Französische Enthüllungen «, in: FAZ vom 13. 10. 2015. Der Diplomarbeit von Normann Haß: Die Krise der überregionalen Tagespresse in Frankreich, Frankreich Zentrum der Universität Freiburg, April 2006 verdan­ ke ich viele Anregungen. Grosser 2005, S. 164. Wikipedia: La Presse quotidienne nationale française (Aufruf 12. 11. 2015). Vgl. Große/Seibold 1994. Dies. 1994, S. 6. Le Monde erreicht nach eigenen Angaben täglich zwei Millionen Leser in ganz Frankreich. Label France, No 14, Januar 1994, S. 6. Pierre Bergé, Mathieu Pigasse und Xavier Niel, dazu: Jürg Altwegg » So spielt Paris mit der Presse Monopoly «, in: FAZ vom 5. 11. 2015, S. 15. Vgl. Pierre Péan/Philippe Cohen: La Face cachée du Monde. Du contre-pouvoir aux abus du pouvoir, Paris 2003. Le Monde vom 30. 11. 2010, S. 12. Peter Dippon/Ernst-Ulrich Große: La presse quotidienne régionale en France et en Allemagne, in: Große/Seibold 2003, S. 151 ff. Die ZEIT vom 23. 12. 1994, S. 49. Vgl. Große/Lüger 1993, S. 297 ff., und Günter Liehr: Soziale Bewegung oder Kommerzfunk ? Die Entwicklung der privaten Radios in Frankreich, in: Frank­ reich-Jahrbuch 1993, S. 221 ff. Vgl. Ernst-Ulrich Große: Rundfunk und Fernsehen im Zeichen der Konkur­ renz, in: ders./Lüger 2000, S. 279 ff., und Isabelle Bourgeois: Medien, in: www. deuframat.de 2005 (CD-ROM). Ernst-Ulrich Große: Die französischen Rundfunksender, in: Große/Lüger (Hrsg.) 2000, S. 280 f. Dazu: Isabelle Bourgeois: Freiheit der Medien – Anspruch und Wirklichkeit, in: Länderbericht 2012, S. 154. Dies., in: Länderbericht 2005, S. 311. Ebd., S. 315.

398 Anmerkungen

23 Dies., in: Länerbericht 2012, S. 155. 24 Siehe für Einzelheiten: dies., in: Länderbericht 2005, S. 313 f. 25 Dies., in: Länderbericht 2012, S. 159 und 162.

Anmerkungen zu Kapitel 14 » Kommunal- und Regionalpolitik « 1 2 3

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5 6 7

8 9 10

11

12 13

14 15

Dazu die Aufstellung in: Michel Verpeaux/Christine Rimbault/Frank Waser­ mann: Les Collectivités territoriales – La Décentralisation, Paris 72013, S. 9 ff. Vgl. Günther Haensch/Hans J. Tümmers (Hrsg.): Frankreich, München 1991, S.  217 ff. Die Arrondissementräte werden gleichzeitig mit den Gemeinderäten gewählt und zwar auf den selben Listen. Wenn die zu vergebenden Gemeinderatssitze an die einzelnen Parteilisten verteilt sind, werden die Arrondissementsrats-Sitze an die auf den jeweiligen Listen noch verbliebenen Personen verteilt. Vgl. Yves Mény: Les Formes discrètes de la corruption, und: Dominique Lorrain: L’Argent et le gouvernement municipal, in: French Politics and Society, No 4/Fall 1993, S. 4 ff. sowie 65 ff. Loi organique No 2003-705 du 1er août 2003 relative au référendum local. Eine Aufstellung lokaler Referenden befindet sich in: Verpeaux et al., a. a. O. (Fn. 1), 2013, S. 73 f. Von den im Jahre 1994 den Präfekten und Unterpräfekten zur Kontrolle vorge­ legten 5 Millionen Beschlüssen kommunaler und regionaler Organe wurde nur ein Prozent beanstandet und den Verwaltungsgerichten vorgelegt, vgl. Le Monde vom 3. 3. 1995. Verpeaux a. a. O. (Fn. 1), S. 134 ff. Für Einzelheiten: Ebd., 2013, S. 95 ff. Pierre Grémion: Le Pouvoir périphérique, Paris 1976, hier abgedruckt in: Hoff­ mann-Martiot, in: Länderbericht 2005, S. 326. Für frühere Jahre siehe: Pierre Sadran: Le maire, dans le cursus politique: Note sur une singularité française, in: Pouvoirs 95/2000, S. 92 ff. Dazu: Vincent Hoffmann-Martinot: La Métropolisation sape-t-elle la démocratie locale ?, Vortrag auf dem internationalen Kolloquium Québec-France, Bordeaux 4. – 5. Mai 2004 (unveröff. Manuskript). Vgl. Mabileau 1991, S. 89 ff. Vgl. Stéphane Dion: Au Pays du cumul des mandats: le cas français, in: Jacques Zylberberg/Claude Emeri (Hrsg.): La Démocratie dans tous ses états, Quebec 1993, S. 445 f. Mabileau 1991, S. 88. Philippe Estèbe: Ein französisches Paradox: Zwischen Agrarwirtschaft und wie­ dergefundener Ländlichkeit, in: Frankreich Jahrbuch 2002, S. 192 ff.

Anmerkungen zu Kapitel 14 399

16 Dazu: Luc Rouban: Les Sommets de l’exécutif urbain: Les Maires des villes de

17 18 19 20 21 22 23

24 25 26

27 28 29 30 31

32

33

plus de 30 000 habitants entre 1983 et 2014, in: Revue française d’administration publique No. 154/2015, S. 377 ff. Für frühere Jahre: Stéphane Dion: La Politisation des Maires, Paris 1986, S. 2 ff. Verpeaux et al., a. a. O. (Fn. 1), 2013, S. 68. Hoffmann-Martiont, in: Länderbericht 2005, S. 330. Baguenard 1994, S. 40 ff., und: Les Collectivités territoriales 2004, S. 67. Vgl. Le Monde vom 3. 3. 1995, S. 9. Le Monde vom 9. 4. 2010, S. 11. Vgl. Bruno Rémond/Jacques Blanc: Les Collectivités territoriales, Paris 1989, S.  105 ff. Alsace-Champagne-Ardenne-Lorraine, Auvergne-Rhône-Alpes, Ile-de-France, Nord-Pas-de-Calais-Picardie, Normandie, Pays de la Loire, Provence-AlpesCôtes d’Azur – unter ihnen die drei bevölkerungsreichsten Regionen. Aquitaine-Limousin-Poitou-Charentes, Bourgogne-Franche-Comté, Bretagne, Centre-Val-de-Loire, Languedoc-Roussilon-Midi-Pyrénées. Das Statut ersetzte den Vorgänger aus dem Jahre 1982 und trat nach den Regio­ nalwahlen im März 1992 in Kraft. Die Wahl der Regionalversammlung erfolgt nicht auf der Basis der beiden kor­ sischen Departements sondern im gesamten Territorium der Insel. Damit woll­ te man den Einfluß des Klanwesens, das bisher alle Wahlen beherrscht und auch manipuliert hatte, eindämmen. Auch wurden die längst überholten Wahllisten, die die wahre Wählerzahl nicht mehr korrekt wiedergaben, trotz des Widerstan­ des einflußreicher lokaler Eliten aktualisiert. Vgl. die ausführliche Darstellung bei Siegfried Loewe: Corse, in: Schmidt u. a. 2005, S. 259. Vgl. ebd., S. 263. Vgl. Les Collectivités territoriales et la decentralisation 2004, S. 89 ff. Verpeaux et al., a. a. O. (Fn. 1), 2013, S. 68. In der Großregion Nord-Pas-de-Calais-Picardie errangen der Front National mit Marine Le Pen als Spitzenkandidatin 41,2 Prozent, die Republikaner 25 und die Sozialisten nur 17,7 Prozent. In Alsace-Champagne-Ardenne-Lorraine erhielt der FN 36 Prozent, die Republikaner 25,6 und die Parti Socialiste 16,1. In Pro­ vence-Alpes-Côte-d’Azur gewann der FN unter Marion Maréchal-Le Pen sogar 41,3 Prozent, die Republikaner unter Führung des Bürgermeisters von Nizza 26,5 und die Sozialisten 16,1. Gilbert Ziebura: Wirtschaft und Gesellschaft in Frankreich, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B6-7/1987 vom 7. 2. 1987, S.  10. Dirk Gerdes: Frankreich. Vom Regionalismus zur Neuorganisation des französi­ schen Staates, in: Hans-Georg Wehling (Hrsg.): Regionen und Regionalismus in Westeuropa, Stuttgart 1987, S. 46 – 78.

400 Anmerkungen

34 Vgl. Annick Percheron: L’Opinion et la décentralisation, in: Pouvoirs No

60/1992, S. 28, sowie Elisabeth Dupoirier/Alain Lancelot: Les Français dans leur région, hrsg. von der DATAR (Observatoire interregional du politique) 1993, S. 32. 35 Vincent Hoffmann-Martinot: Zentralisierung und Dezentralisierung in Frank­ reich, in: Länderbericht 2012, S. 92 – 110, hier: S. 108.

Anmerkungen zu Kapitel 15 » Wirtschaftspolitik « 1 2

3 4

5

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FAZ vom 3. 7. 2013

Airbus ist ein Tochterunternehmen des europäischen Konsortiums EADS, des­ sen juristischer Hauptsitz sich in den Niederlanden befindet. Im Jahr 2000 wurde auf Druck der nationalen Regierungen der Zusammenschluss der euro­ päischen Luft-, Raumfahrt- und Rüstungsunternehmen vollzogen, vgl. Bernhard Schmidt: EADS, in: ders. u. a. 2005, S. 318 f. FAZ vom 27. 3. 2015 Dazu: Markus Gabel: Stärken und Schwächen des » Made in France «, in. DGAPAnalyse Februar 2014, Nr. 2; Henrik Uterwedde: Frankreichs Weg aus der Kri­ se – Strukturprobleme und Reformbaustellen, Aktuelle Frankreich-Analysen Nr. 27, März 2013, S. 4 f.; ders.: Frankreichs Weg aus der Krise, in: dfi aktuelle Ausgabe 2/2013; ders.: Neue Akzente ?, in: dfi aktuelle Ausgabe 4/2014; JeanLouis Bianco: Frankreich in Europa – politische und wirtschaftliche Perspek­ tiven, in: Frankreich Jahrbuch 2013, Wiesbaden 2014, S. 22 f. L’Opinion: La France championne du monde… des cotisations sociales, www. lopinion.fr/edition/economie/france-championne-monde-cotisations-socia­ les-92114 (Aufruf 10. 3. 2016). FAZ vom 31. 8. 2012. Ebd. FAZ vom 9. 3. 2016, und: Ernst-Moritz Lipp » Wie Frankreich tickt «, in: FAZ vom 15. 11. 2014. Vgl. J. Chevallier: Le Service public, 5Paris 2003. Dazu: Institut français pour la recherche sur les administrations publiques, ab­ gedr. in: FAZ vom 24. 1. 2005. Henrik Uterwedde, in: Informationen zur politischen Bildung Nr. 285, S. 11. Christian Schubert: Ein Staatsdienst wie aus einer anderen Zeit – Länderbericht Frankreich, in: FAZ vom 24. 1. 2005, S. 12. Uterwedde a. a. O., März 2013 (Fn. 4), S. 10. INSEE: Tableaux de l’économie française 2012, S. 149, und: Christophe Guilluy: La France périphérique, Paris 2014. Pascal Kauffmann: Die französische Wirtschaft in der Globalisierung, in: Län­ derbericht Frankreich 2012, S. 201. Abgedr. in: Beitone/Parodi/Simler 1995, S. 167.

Anmerkungen zu Kapitel 15 401

17 Gabel a. a. O. (Fn. 4), S. 6. 18 John Ardagh: France Today, London 31990, S. 51. 19 Jean Fourastié: Les Trente glorieuses: La révolution invisible de 1946 à 1975, Paris

1979.

20 Dazu: Wolfgang Neumann/Henrik Uterwedde: Industriepolitik – Ein deutsch-

französischer Vergleich, Opladen 1986, S. 44 ff.

21 Vgl. dazu im einzeln die Ausführungen in der 3. Auflage dieses Werkes 1997,

S.  310 ff.

22 Vgl. Henrik Uterwedde: Kapitalismus à la française. Die mühsame Erneuerung

eines Modells, in: Länderbericht 2005, S. 179 ff.

23 Dazu: Gilbert Ziebura: Frankreich: Umrisse eines neuen Wachstumsmodells ?,

in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 39/89 vom 22. 9. 1989, S. 3 ff.

24 Alain Gélédan (Hrsg.): Le Bilan économiques des années Mitterrand 1981 – 1993, 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34

35 36 37 38

39 40 41 42 43

Le Monde éditions, Paris 1993 S. 154. FAZ vom 23. 3. 2016, und: INSEE: Tableaux de l’économie 2012, S. 140 f. INSEE: Tableaux de l’économie 2012, S. 160. Bundesministerium für Ernährung: Länderbericht Frankreich, Mai 2012, S. 7. www.ambafrance-de.org/18 landwirtschaft-frankreich (Aufruf 2. 2. 2016). Le Figaro vom 11. 8. 2016, S. 22, und: Die Welt: Als der Tod über Frankreichs In­ dustrie kam, www.welt.de/wirtschaft/article 113398546 (Aufruf 5. 2. 2016). Marc Chevalier: Die französische Industrie kämpft mit der Krise, in: Friedrich Ebert Stiftung, Februar 2010, S. 3. Gabel a. a. O. (Fn. 4), S. 4. Kauffmann, a. a. O. (Fn. 15), S. 202. Siehe besonders: Ministère de l’Economie, des Finances et de l’Industrie: Chiff­ res clés 1995/1996, Paris 1995, S. 204. Zu den Industriebranchen gehören nach Chiffres clés 1995, S. 11 die gesamte ver­ arbeitende Industrie, der Nahrungsmittelsektor, Energie und Wasser sowie das Bauwesen. Für Einzelheiten siehe Chiffres clés a. a. O. (Fn. 33), S. 122 ff. INSEE: Tableaux 2012, S. 188 f. Gabel a. a. O. (Fn. 4), S. 5. Zur » petite couronne « zählen die Departements Hauts-de-Seine, Seine-SaintDenis und Val-de-Marne, zur » grande couronne « Val-d’Oise, Seine-et-Marne, Essonne und Yvelines. Frankreich-Experte: Ile-de-France – Wirtschaft, www.frankreich-experte.de/ Themen/ile-de-france-wirtschaft (Aufruf 5. 2. 2016). Dazu: Ernst-Ulrich Große/Udo Kempf/Rudolf Michna: Rhône-Alpes. Eine euro­ päische Region im Umbruch, Berlin 1998. Vgl. Alfred Pletsch: Wirtschaftsräumliche Strukturen, in: Länderbericht 2005, S. 203. Ders. 2003, S. 241 ff. Patrick Artus/Marie-Paul Virard: La France sans ses usines, Paris 2011, S. 84.

402 Anmerkungen

44 Dies.: Pierre Noël Giraud/Thierry Weil: L’Industrie française décroche-t-elle ?, La

45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59

Documentation française, Paris 2013; Eric Zemmour: Le Suicide français, Paris 2014, S. 462 ff.; Kauffmann, a. a. O. (Fn. 15), S. 200 ff. Artus a. a. O. (Fn. 43), S. 9. Ebd., S. 29. Ebd., S. 31. Kauffmann a. a. O. (Fn. 15), S. 201. Dazu: Louis Gallois: Pacte pour la compétitivité de l’industrie française, Rapport pour le Premier Ministre, Paris 5. 12. 2012. Gabel a. a. O. (Fn. 4), S. 8. Uterwedde März 2013 (Fn. 4), S. 13; auch Bianco a. a. O. (Fn. 4), S. 24. INSEE: Tableaux de l’économie 2012, S. 136 f. Zitiert in: FAZ vom 8. 2. 2012, S. 11. Ebd. FAZ vom 4. 4. 2011, S. 14. INSEE: Tableaux de l’economie 2012, S. 189. Gabel a. a. O. (Fn. 4), S. 10. So auch: Jean-François Eck: Histoire de l’économie française depuis 1945, Paris 1990, S. 120 ff. Dazu: Artus a. a. O. (Fn. 43), S. 159 f., und: Guilluy 2014, S113 ff.

Anmerkungen zu Kapitel 16 » Gesellschaft und sozialer Wandel « 1 2 3

INSEE: Tableaux de l’Economie française 2012, S. 24 f.

Pletsch 2003, S. 115 f. Cergy-Pontoise, Saint-Quentin-en-Yvelines, Evry, Melan-Sénart, Marne-laVallée. 4 INSEE référence, abgedruckt in: FAZ vom 13. 10. 2012, S. 6. 5 Le Monde vom 4. 12. 2009, S. 22 » Le nouveau visage de France, terre d’immigra­ tion «. 6 Vgl. abgedr. in: FAZ vom 10. 11. 2005. 7 Für Kinder von Algeriern gibt es folgende Ausnahme: Sind die Eltern vor 1962 in Algerien geboren, werden die Kinder ab ihrer Geburt ohne weitere Formalitäten Franzosen. Außerdem hat jeder volljährige ausländische Staatsbürger das Recht auf Einbürgerung, wenn er seit fünf Jahren ununterbrochen in Frankreich ansäs­ sig ist, über ein regelmäßiges Einkommen, eine Wohnung und ein einwandfreies Führungszeugnis verfügt sowie seine » Anpassung an die französische Gemein­ schaft « belegt. 8 Observatoire national des zones urbaines sensibles, Rapport 2014, S. 5. 9 Dazu: Kepel 2012, S. 339 ff., und: Lagrange 2010, S. 309 ff. 10 Abgedr. in: FAZ vom 10. 11. 2011 11 Abgedr. in: Le Monde vom 4. 12. 2009.

Anmerkungen zu Kapitel 16 403

12 Dazu: Guilluy 2014, S. 51 ff., auch: Wolfgang Neumann: Gesellschaftliche Inte­

13 14 15

16

17 18 19 20 21 22 23 24 25

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30 31 32 33 34 35

gration gescheitert ?, in: Aktuelle Frankreich-Analysen, hrsg. vom dif No 21/Ja­ nuar 2006. Johannes Willms » Republikanische Selbsttäuschung «, in: Süddeutsche Zeitung vom 8. 11. 2005, S. 13. Michaela Wiegel » Erstmals Erkenntnisse über Einwanderer «, in: FAZ vom 13. 12. 2012, S. 6, und: Le Monde vom 4. 12. 2009. Vgl. Philippe Crevel/Norbert Wagner: Laizität – Garant der politischen Stabili­ tät Frankreichs oder Selbsttäuschung ?, hrsg. von der Konrad Adenauer-Stiftung 2004, S. 119. Ruud Koopmans: Fundamentalismus und Fremdenfeindlichkeit – Muslime und Christen im europäischen Vergleich, WZB Mitteilungen Heft 142, Dezember 2013, S. 21 ff. Quid 1996, S. 624 ff. Koopmans a. a. O. (Fn. 16), S. 6. Vgl. Louis Chauvel: Les Professions et catégories socioprofessionnelles, in: L’Etat de la France 2004, S. 125. Vgl. Borne 1988, S. 119. Zu Folgendem: Tableaux de l’économie française 2012, S. 44 ff. Vgl. Kaelble 1991. Vgl. Crozier 1970, S. 157 ff. und S. 225 f. Theodore Zeldin: Die Kunst, zu sich selbst aufzublicken – Französische Innenan­ sichten, Reinbeck 1987, S. 151 f. Dazu vor allem: Guilluy 2014, Dirn 1991, und: Henrik Uterwedde: Sozialer Wan­ del in Frankreich: von den Trente Glorieuses zur dualen Gesellschaft ?, in: Frank­ reich-Jahrbuch 1991, S. 43 f. Le Figaro vom 10. 9. 2015, S. 45 » Les limites des usines à élite «. Zu Folgendem: INSEE: Tableaux de l’économie française 2012, S. 58 ff. Die bürgerliche Regierung Chirac schaffte die Vermögenssteuer ab. Unter Michel Rocard wurde sie 1988 in abgeschwächter Form wieder eingeführt. Premierminister Juppé erhob ab 1995 – entgegen den Wahlversprechungen – einen Zuschlag von zehn Prozent auf die Impôt de solidarité sur la fortune. So erhöhte sich die Einkommensteuer von 41 auf 45 Prozent ab eines Einkom­ mens von 150 000 Euro, dazu: FAZ vom 8. 8. 2015, S. 19 » Frankreichs Sozialisten vertreiben Reiche «. Jean Fourastié: Les Trente Glorieuses, aktualisierte Ausgabe Paris 1992. So die Arbeitsministerin Myriam El Komri am 16. 1. 2016. Zu Folgendem: Tableaux de l’économie française 2012, S. 47, 66 f. und 85. Bernhard Schmidt: Exclusion sociale/Nouveaux pauvres, in: ders. u. a. 2005, S. 373. Dazu: Jean-Claude Barbier/Bruno Théret: Le Système français de protection so­ ciale, Paris 2009. Estèbe, in: Länderbericht 2005, S. 98.

404 Anmerkungen

36 Die Aide sociale départementale wird älteren Personen, Behinderten und Min­

derjährigen gewährt.

37 Dazu: Dominik Grillmayer: Wohlfahrtsstaat im Umbruch, in: Länderbericht

2012, S. 232.

38 Vgl. Mechthild Veil: Zukunft der Alterssicherung: Rentenpolitik und Renten­

39 40 41 42 43 44 45 46 47 48

49

50 51 52 53 54

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Anmerkungen zu Kapitel 17 405

Anmerkungen zu Kapitel 17 » Frankreich und Europa « 1 2

3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

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Abgedr. in: Henrik Uterwedde: Mittelmacht mit weltweiten Interessen, in: Pletsch 2003, S. 316. Das französische Nuklearpotential stützt sich hauptsächlich auf drei Untersee­ boote mit jeweils 16 atomar bestückten Mittelstreckenraketen. Die Kernwaffen besitzen für Frankreich eine ausschließlich politische Funktion. Schon im Juni 2001, und erneut im Januar 2006, vor dem Hintergrund des offenkundigen Stre­ bens der iranischen Führung nach eigene Atomwaffen, erklärte Chirac, regio­ nale Nuklearmächte müssten mit inakzeptablen Schäden an ihren politischen, militärischen und wirtschaftlichen Zentren rechnen, sollten sie ihre Massenver­ nichtungswaffen einsetzen. Dazu: Michael Meimeth: Sicherheits- und Verteidi­ gungspolitik im neuen Umfeld, in: Länderbericht 2005, S. 408 f., und: Le Monde vom 20. 1. 2006. Dazu auch: Clementine Chaigneau/Stefan Seidendorf: Frankreich und die Euro­ päische Union, in: Länderbericht 2012, S. 342 ff. Uterwedde a. a. O. (Fn. 1), S. 324. Dazu: Staatspräsident Hollande vor der 20. Botschafterkonferenz am 27. 8. 2012. Interview in: Le Monde vom 18. 10. 2012. Dazu: Wichard Woyke: Deutsch-Französische Beziehungen seit der Wiederver­ einigung. Das Tandem fasst wieder Tritt, Opladen 2004. Uterwedde, in: Pletsch 2003, S. 324. Gisela Müller-Brandeck-Bouquet/Patrick Moreau: Frankreich – Eine politische Landeskunde, Opladen 1999, S. 175. Dazu: Woyke 2010, S. 49 ff. Dazu : Franco Algieri: Die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.): Europa-Handbuch, Bonn 2002, S. 587 ff. Abgedr. ebd., S. 589. Peter Schmidt: Militärisches Instrument der EU – die ESVP, Bundeszentrale für politische Bildung 21. 8. 2006. Algieri a. a. O. (Fn. 11), S. 587 ff. Woyke 2010, S. 237 ff. Ebd., S. 292 f. Dazu: Gisela Müller-Brandeck-Bocquet: Nicolas Sarkozys Führungsanspruch in Europa, in: Bernd Rill (Hrsg.): Frankreichs Außenpolitik, Hanns Seidel Stiftung, München 2009, S. 22 ff. https://de.wikipedia.org/wiki/Merkozy (Aufruf 1. 3. 2016). Le Monde vom 18. 10. 2012. Ebd. Diese Forderungen wurden auf dem Parteitag der PS im Juni 2015 bei heftigen Attacken gegen die deutsche Regierung nachhaltig bekräftigt. Le Monde vom 18. 10. 2012, sowie seine zweite große Pressekonferenz am 15. Mai 2013, abgedr. in: Frankreich Jahrbuch 2013, S. 178.

406 Anmerkungen

23 FAZ vom 24. 10. 2012, S. 6. 24 Außenminister Fabius vor der Ecole des affaires internationales zur französi­

schen Außenpolitik im europäischen Rahmen am 6. 9. 2012.

25 Joachim Schild: Politischer Führungsanspruch auf schwindender Machtbasis:

26 27 28 29 30 31

Frankreichs Europapolitik unter François Hollande, in: Integration Heft 1/2013, S. 14. Staatspräsident Hollande vor der 22. Botschafterkonferenz zur internationalen Lage am 28. 8. 2014. FAZ vom 15. 2. 2016. Le Monde vom 18. 10. 2012 Hollande auf der 22. Botschafterkonferenz a. a. O. (Fn. 26). Michel Sapin/Wolfgang Schäuble: Anders gemeinsam/Jamais sans l’Europe, Paris 2016 (Zitat aus Christian Schubert, in: FAZ vom 21. 3. 2016). Dazu: Miard-Délacroix 2011, S. 322.

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