Das Politische in der Ontologie der Person: Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie im Verhältnis zu den Substanzontologien von Aristoteles und Edith Stein 9783110459159, 9783110458329, 9783110458374

This study re-interprets Plessner’s philosophical anthropology as an ontology of the organic. Through an analytic compar

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German Pages 428 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Einleitung
1. Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung
1.1 Der affirmative Begriff der Ontologie bis zur Mitte der 1920er Jahre
1.2 Die ontisch-ontologische Zweideutigkeit des Psychischen in den Grenzen der Gemeinschaft (1924)
1.3 Deutung des mimischen Ausdrucks (1925)
1.4 Der Ontologie-Begriff in Die Stufen des Organischen und der Mensch
1.4.1 Plessners Kritik von Ontologisierungen
1.4.2 Plessners Kritik des cartesianischen Alternativprinzips als grundsätzliche Ontologie-Kritik?
1.5 Die Vorlesung Elemente der Metaphysik (1931)
1.6 Macht und menschliche Natur (1931)
1.7 Oder etwa doch Ontologie?
1.8 Resümierende Zwischenbetrachtung und Ausblick
1.9 Plessners Begriff der Ontologie nach Macht und menschliche Natur
2. Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie
2.1 Ontologie und Metaphysik. Prolegomena
2.1.1 Die Trennung von Ontologie und Metaphysik nach Elisabeth Rompe
2.1.2 Die Trennung von Ontologie und Metaphysik nach Kondylis
2.1.3 Die Kodifikation der Trennung von Metaphysik und Ontologie bei Wolff
2.2 Die klassische Ontologie: Von der Metaphysik zur Ontologie des Lebens
2.2.1 Prolegomena
2.2.2 Die Grundlagen der Metaphysik in der Physik
2.2.3 Übergang zur Metaphysik
2.2.4 Substanz und Akzidens
2.2.5 Der Substanzbegriff zwischen Einzeldingontologie und Wesensontologie. Die Bedeutung der Form-Materie-Relation
2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet
2.3.1 Die metaphysische Akt-Potenz-Relation
2.3.2 Die physikalische Akt-Potenz-Relation
2.3.3 Die Grundzüge der Ontologie des Lebens in De anima
2.3.4 Erste und Zweite Entelechie
2.3.5 Die Rolle von δύναμις und ένέργεια in der Ontologie des Lebens
2.3.5.1 Zur Kosmologie
2.3.5.2 Zur Ontologie des Lebens
2.3.5.3 δύναμις und ένέργεια in der menschlichen Praxis
3. Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie in eine philosophisch-theologische Anthropologie
3.1 Prolegomena
3.2 Das philosophisch(-theologische) Erbe Steins I: Thomas von Aquin
3.3 Das philosophische Erbe Steins II: Die Phänomenologie Edmund Husserls
3.4 Person als theologisch-anthropologischer Grundbegriff
3.4.1 Steins Dissertation Zum Problem der Einfühlung und der Einfluss Schelers: Das verdrängte Desiderat
3.4.2 Exkurs: Naturphilosophie und philosophische Anthropologie
3.4.3 Konvergenz von Philosophie und Theologie im Personbegriff
3.5 Die Begriffe Akt und Potenz
3.6 Der „onto-anthropologische“ Stufenbau
3.6.1 Die Pflanze
3.6.2 Die zweite Stufe im Stufenreich: Das Tier oder Die Entstehung der Subjektivität
3.6.2.1 Der Aufbruch des Inneren
3.6.2.2 Ontologische Bestimmung des Tieres: Substanz, Potenz und Akt
3.7 Der Mensch als Gipfelpunkt des onto-anthropologischen Stufenbaus: Der Durchbruch zur Personalität und zur geistigen Person
3.7.1 Einleitung
3.7.2 Der Begriff des Bewusstseins
3.7.3 Bewusstsein und Vernunft
3.8 Der Mensch als lebendiges Geistwesen. Die Doppelnatur des Menschen und die Trias von Leib, Seele und Geist
3.8.1 Die Seele als Mitte
3.8.2 Leib und Seele als ontische und ontologische Ermöglichungsbedingungen
3.8.3 Der phänomenologisch-ontologische Zugang zum geistigen Leben der Person
3.8.4 Potenz und Akt als personale Seinsmodi
3.8.5 Die konstitutiven Wahrheiten des Geistes: transzendentale, ontologische, logische und Wesenswahrheit
3.8.6 Die künstlerische Wahrheit und der Kern der Personalität
3.8.7 Anwendung der künstlerischen Wahrheit auf die Lebensführung
3.9 Sozialer Typus und Rolle: Eine sozialphilosophische Andeutung
3.10 Ergebnisse
4. Plessners Transformation der Ontologie
4.1 Prolegomena
4.2 Die generelle Erscheinungsweise von Dingen und die Transformation der Phänomenologie
4.3 Doppelaspekt und Grenze
4.4 Die Doppelaspektivität als Grundlage der Kritik des cartesianischen Alternativprinzips, der mechanischen Reduktion der Natur und des methodischen Dualismus
4.4.1 Kritik der Naturwissenschaften
4.4.2 Plessners Kritik des cartesianischen Alternativprinzips
4.5 Die Grenze und das Verhältnis von Substanz und Wirklichkeit
4.6 Substanz und Wirklichkeit
4.6.1 Das lebendige Ding als Substanz und die Substanzialität der Substanz
4.6.2 Das erscheinende lebendige Ding als Substanz
4.6.3 Der Begriff der Wirklichkeit
4.7 Exkurs I: Zu den Begriffen des Ontischen und des Ontologischen
4.8 Exkurs II: Hauckes Fehldeutung der Stufen
4.9 Abgrenzung von anderen Lesarten (Beaufort, Holz)
4.10 Die Organisation des Lebendigen
4.10.1 Mitte und Peripherie: Die Selbstvermittlung des Lebewesens zur Einheit und die innere Teleologie
4.10.2 Plessners „immanente Teleologie“ und die metaphysische Teleologie
4.10.3 Die harmonische Äquipotentialität als Kernstück der Ontologie des Organischen
4.10.4 „Immanente Teleologie“ und „Entelechie als Seinsmodus“. Eine resümierende Betrachtung
4.10.5 Zeithaftigkeit und Vorwegsein
4.10.6 Die Zeithaftigkeit von der Akt-Potenz-Relation her gelesen
4.10.7 Das Sich-Vorwegsein und die Konstitution des Positionsfeldes
4.11 Zwischenfazit
4.12 Seiende Möglichkeit als ontologische Bestimmung von Personalität
4.12.1 Vermittelte Unmittelbarkeit als Grundcharakter des Lebens und als Charakteristikum vormenschlicher Lebensformen
4.12.2 Vermittelte Unmittelbarkeit und exzentrische Positionalität
4.13 Seiende Möglichkeit als ontologischer Grundbegriff und die Ontologie der menschlichen Person
5. Das Politische in der Ontologie der Person
5.1 Überblick über die Forschungsliteratur
5.2 Von Plessners Ontologie des Ausgleichs als der Grundlage einer Theorie des Politischen
5.2.1 Verschränkung und Ausgleich
5.2.2 Plessners Ontologie des Ausgleichs. Verbindung des Doppelgängertums mit der Ontologie des Organischen
5.3 Körperleiblichkeit als Medium der Personalisierung und ontologische Grundlage des privat-öffentlichen Doppelgängertums
5.4 Ontologische Wurzeln des anthropologisch fundamentalen privatöffentlichen Doppelgängertums und Plessners Kritik der soziologischen Rollentheorie
5.4.1 Die Struktur der Körperleiblichkeit und das privat-öffentliche Doppelgängertum
5.4.2 Die naturphilosophische Ontologie des Ausgleichs und das privatöffentliche Doppelgängertum
5.5 Die genuin politische Dimension des privat-öffentlichen Doppelgängertums
5.6 Die rollentheoretische Adaptation des privat-öffentlichen Doppelgängertums als des Ermöglichungsgrundes des Politischen
5.7 Die mediale Potenzierung von Potenzialität: Sprache, Mitwelt und Geist
5.8 Die ontologisch-politische Potenzialität der Person
5.8.1 Potenzialität als Begrenzung. Liminale Potenzialität
5.8.2 Potenzialität als ausgleichender Umgang mit Begrenztheit
5.9 Abschließender Rückgang auf die Ontologie des Ausgleichs
Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Siglen
Zitierte Literatur in alphabetischer Reihenfolge
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Das Politische in der Ontologie der Person: Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie im Verhältnis zu den Substanzontologien von Aristoteles und Edith Stein
 9783110459159, 9783110458329, 9783110458374

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Sebastian Edinger Das Politische in der Ontologie der Person

Philosophische Anthropologie

Herausgegeben von Hans-Peter Krüger und Gesa Lindemann Wissenschaftlicher Beirat: Richard Shusterman (Philadelphia) und Gerhard Roth (Bremen)

Band 10

Sebastian Edinger

Das Politische in der Ontologie der Person Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie im Verhältnis zu den Substanzontologien von Aristoteles und Edith Stein

ISBN 978-3-11-045832-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-045915-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-045837-4 ISSN 2191-9275 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Danksagung Einleitung

XI 1



Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung 10 . Der affirmative Begriff der Ontologie bis zur Mitte der 1920er Jahre 10 . Die ontisch-ontologische Zweideutigkeit des Psychischen in den 13 Grenzen der Gemeinschaft (1924) . Deutung des mimischen Ausdrucks (1925) 16 . Der Ontologie-Begriff in Die Stufen des Organischen 24 und der Mensch .. Plessners Kritik von Ontologisierungen 24 .. Plessners Kritik des cartesianischen Alternativprinzips als 26 grundsätzliche Ontologie-Kritik? . Die Vorlesung Elemente der Metaphysik (1931) 32 35 . Macht und menschliche Natur (1931) . Oder etwa doch Ontologie? 41 . Resümierende Zwischenbetrachtung und Ausblick 45 . Plessners Begriff der Ontologie nach Macht und menschliche 45 Natur  Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie 53 . Ontologie und Metaphysik. Prolegomena 53 .. Die Trennung von Ontologie und Metaphysik nach Elisabeth Rompe 53 .. Die Trennung von Ontologie und Metaphysik nach Kondylis 58 .. Die Kodifikation der Trennung von Metaphysik und Ontologie bei Wolff 62 . Die klassische Ontologie: Von der Metaphysik zur Ontologie des Lebens 70 .. Prolegomena 70 .. Die Grundlagen der Metaphysik in der Physik 71 .. Übergang zur Metaphysik 76 .. Substanz und Akzidens 81

VI

Inhalt

..

Der Substanzbegriff zwischen Einzeldingontologie und Wesensontologie. Die Bedeutung der Form-Materie-Relation . Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet 87 .. Die metaphysische Akt-Potenz-Relation 87 88 .. Die physikalische Akt-Potenz-Relation .. Die Grundzüge der Ontologie des Lebens in De anima 90 95 .. Erste und Zweite Entelechie .. Die Rolle von δύναμις und ένέργεια in der Ontologie des Lebens 102 104 ... Zur Kosmologie ... Zur Ontologie des Lebens 105 ... δύναμις und ένέργεια in der menschlichen Praxis 114 

83

Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie in 117 eine philosophisch-theologische Anthropologie 117 . Prolegomena . Das philosophisch(‐theologische) Erbe Steins I: Thomas von Aquin 117 . Das philosophische Erbe Steins II: Die Phänomenologie Edmund 121 Husserls . Person als theologisch-anthropologischer Grundbegriff 126 .. Steins Dissertation Zum Problem der Einfühlung und der Einfluss 126 Schelers: Das verdrängte Desiderat .. Exkurs: Naturphilosophie und philosophische Anthropologie 130 .. Konvergenz von Philosophie und Theologie im Personbegriff 135 . Die Begriffe Akt und Potenz 139 . Der „onto-anthropologische“ Stufenbau 142 .. Die Pflanze 142 .. Die zweite Stufe im Stufenreich: Das Tier oder Die Entstehung der Subjektivität 161 ... Der Aufbruch des Inneren 161 ... Ontologische Bestimmung des Tieres: Substanz, Potenz und Akt 163 . Der Mensch als Gipfelpunkt des onto-anthropologischen Stufenbaus: Der Durchbruch zur Personalität und zur geistigen Person 170 .. Einleitung 170 .. Der Begriff des Bewusstseins 172 .. Bewusstsein und Vernunft 173

Inhalt

. .. .. .. .. .. .. .. . .

VII

Der Mensch als lebendiges Geistwesen. Die Doppelnatur des 177 Menschen und die Trias von Leib, Seele und Geist Die Seele als Mitte 177 Leib und Seele als ontische und ontologische Ermöglichungsbedingungen 182 Der phänomenologisch-ontologische Zugang zum geistigen Leben 184 der Person 187 Potenz und Akt als personale Seinsmodi Die konstitutiven Wahrheiten des Geistes: transzendentale, ontologische, logische und Wesenswahrheit 191 195 Die künstlerische Wahrheit und der Kern der Personalität Anwendung der künstlerischen Wahrheit auf die Lebensführung 199 Sozialer Typus und Rolle: Eine sozialphilosophische 202 Andeutung Ergebnisse 204

 Plessners Transformation der Ontologie 209 . Prolegomena 209 . Die generelle Erscheinungsweise von Dingen und die Transformation 213 der Phänomenologie . Doppelaspekt und Grenze 219 . Die Doppelaspektivität als Grundlage der Kritik des cartesianischen Alternativprinzips, der mechanischen Reduktion der Natur und des 223 methodischen Dualismus .. Kritik der Naturwissenschaften 223 .. Plessners Kritik des cartesianischen Alternativprinzips 228 . Die Grenze und das Verhältnis von Substanz und Wirklichkeit 233 . Substanz und Wirklichkeit 239 .. Das lebendige Ding als Substanz und die Substanzialität der Substanz 239 .. Das erscheinende lebendige Ding als Substanz 241 .. Der Begriff der Wirklichkeit 244 . Exkurs I: Zu den Begriffen des Ontischen und des Ontologischen 251 254 . Exkurs II: Hauckes Fehldeutung der Stufen . Abgrenzung von anderen Lesarten (Beaufort, Holz) 266 . Die Organisation des Lebendigen 272 .. Mitte und Peripherie: Die Selbstvermittlung des Lebewesens zur Einheit und die innere Teleologie 272

VIII

Inhalt

.. Plessners „immanente Teleologie“ und die metaphysische 276 Teleologie .. Die harmonische Äquipotentialität als Kernstück der Ontologie des Organischen 282 .. „Immanente Teleologie“ und „Entelechie als Seinsmodus“. 288 Eine resümierende Betrachtung .. Zeithaftigkeit und Vorwegsein 291 298 .. Die Zeithaftigkeit von der Akt-Potenz-Relation her gelesen .. Das Sich-Vorwegsein und die Konstitution des Positionsfeldes 303 . Zwischenfazit 308 . Seiende Möglichkeit als ontologische Bestimmung 311 von Personalität .. Vermittelte Unmittelbarkeit als Grundcharakter des Lebens und als 311 Charakteristikum vormenschlicher Lebensformen .. Vermittelte Unmittelbarkeit und exzentrische Positionalität 315 . Seiende Möglichkeit als ontologischer Grundbegriff und die Ontologie 321 der menschlichen Person  Das Politische in der Ontologie der Person 326 . Überblick über die Forschungsliteratur 326 . Von Plessners Ontologie des Ausgleichs als der Grundlage einer 335 Theorie des Politischen .. Verschränkung und Ausgleich 336 .. Plessners Ontologie des Ausgleichs. Verbindung des 339 Doppelgängertums mit der Ontologie des Organischen . Körperleiblichkeit als Medium der Personalisierung und ontologische Grundlage des privat-öffentlichen Doppelgängertums 346 . Ontologische Wurzeln des anthropologisch fundamentalen privatöffentlichen Doppelgängertums und Plessners Kritik der soziologischen Rollentheorie 350 .. Die Struktur der Körperleiblichkeit und das privat-öffentliche Doppelgängertum 350 .. Die naturphilosophische Ontologie des Ausgleichs und das privatöffentliche Doppelgängertum 355 . Die genuin politische Dimension des privat-öffentlichen Doppelgängertums 358 . Die rollentheoretische Adaptation des privat-öffentlichen Doppelgängertums als des Ermöglichungsgrundes des Politischen 364

Inhalt

. . .. .. .

Die mediale Potenzierung von Potenzialität: Sprache, Mitwelt und 366 Geist Die ontologisch-politische Potenzialität der Person 374 Potenzialität als Begrenzung. Liminale Potenzialität 374 Potenzialität als ausgleichender Umgang mit Begrenztheit 379 385 Abschließender Rückgang auf die Ontologie des Ausgleichs

Schlussbetrachtung

391

Literaturverzeichnis 410 410 Siglen Zitierte Literatur in alphabetischer Reihenfolge

410

IX

Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde als Dissertationsschrift an der Universität Potsdam im Fach Philosophie im Jahr 2015 eingereicht, angenommen und verteidigt. Mein Dank gilt meinem Doktorvater Hans-Peter Krüger, der den Entstehungsprozess dieser Arbeit mit großer Offenheit und Kompetenz begleitet und mir die nötige Freiheit in der Entwicklung der hier dargelegten Gedanken gelassen hat – keine Selbstverständlichkeit, wie einen der akademische Betrieb lehrt. Mein Dank gilt außerdem Matthias Wunsch, der die Arbeit ebenfalls begutachtet und umsichtig kommentiert hat. Ebenfalls danken möchte ich den Leitern des DFG-Graduiertenkollegs Lebensformen & Lebenswissen, Logi Gunnarsson und Andrea Allerkamp, sowie den StipendiatInnen, KoordinatorInnen und Assoziierten des Kollegs, dem anzugehören ich von 2011 bis 2014 die Freude haben durfte. Bedanken möchte ich mich außerdem bei jenen, die in der Endphase der Fertigstellung der Arbeit einen besonders wichtigen okular-kognitiven Beistand geleistet haben, der es mir ermöglicht hat, mich rein auf inhaltliche Fragen zu beschränken. In alphabetischer Reihenfolge handelt es sich dabei um Inga Anderson (geb. Schaub), Helmut Edinger, Inga Ketels, Simon Schüz und Guido Tamponi. Grüßen möchte ich hier außerdem Menschen, die im Laufe der vergangenen Jahre in eine unangemessene Ferne gerückt sind: Susann Albrecht, Johannes Helmling und Christian Wilhelm. Ihr seid nicht vergessen. Ein Geschenk der Potsdamer Jahre ist die intellektuell anregende und von einer bemerkenswerten Aufrichtigkeit geprägte Freundschaft mit Guido Tamponi, die eine exponierte Erwähnung allemal verdient hat. Gewidmet ist diese Arbeit meinen Eltern, die über meine gesamte bisherige Lebensdauer hinweg mit der Gewährleistung der optimalen Bedingungen des Zustandekommens dieses Buches mehr Arbeit hatten als ich mit dessen vergleichsweise rascher Abfassung. Mehr als mein innigster Dank muss hier an Inga Anderson (geb. Schaub) und Simon Schüz ergehen. Da ihr euch gegenseitig hinreichend und vor allem mich gut genug kennt, ist jegliche Aufklärung darüber, dass das „und“ hier nicht als ein Individualität unterminierendes zu verstehen ist, unnötig. Eure Freundschaft in der jeweils individuierten Weise zu genießen, ist ein Geschenk, dessen Wert sich nicht bemessen lässt; eine Entelechie, deren immanente Verpflichtung das Gegenteil einer Last ist – vielmehr ein schwereloses Versprechen und als solches eine Freude im anspruchsvollsten Sinne des Wortes. Last but not least, I want to thank Nicole Srocka: no matter where we go from wherever we are, I am so grateful for the time we were able to share with each

XII

Danksagung

other. Vielen Dank für die Möglichkeit, unfixiert-unentschieden offen zu sein für ein silhouettenhaftes und neuartiges Ideal – ohne definites telos, ohne Garantie, ohne Anspruch, ohne Zwang. Berlin, Januar 2017 Sebastian Edinger

Einleitung Eine der nicht zu unterschätzenden Wirkungen der Frankfurter Schule besteht darin, dass, seitdem sie die akademische Sphäre in Beschlag genommen hat, die Ontologie zwischen der Scylla der intellektuellen Anrüchigkeit und der Charybdis der weithin akzeptierten geistesgeschichtlichen Antiquiertheit gefangen ist. Vollends ihrer natürlichen Legitimität ist die Ontologie durch Jürgen Habermas beraubt worden, dem es zu „verdanken“ ist, dass Metaphysik und Ontologie als fundamentalistische Zwillingsbrüder gelten und man die letztere in weiten Kreisen mit der ersten für erledigt zu halten sich befugt fühlen darf. Diese Arbeit begehrt gegen die akademische Disqualifikation der Ontologie durch die Frankfurter Schule, die zudem keine gesetzgeberische Kraft mehr im Gesamtbereich der Philosophie beanspruchen kann, nicht auf, sondern sie legitimiert, von vermeintlichen Überwindungen prinzipieller Art unbeeindruckt, ontologisches Denken sowohl geistesgeschichtlich – im Rekurs auf die historische Ausdifferenzierung von Metaphysik und Ontologie – als auch immanent in der Auseinandersetzung mit der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners. Anders gesagt, diese Arbeit geht aus von der Anerkennung der Verbindlichkeit von Ontologie, und das heißt: von der Anerkennung der verbindlichen Illegitimität der Gleichsetzung von Ontologie und Metaphysik einerseits sowie der Gleichsetzung von Ontologie und philosophischem Fundamentalismus andererseits. Die Illegitimität dieser Gleichsetzungen wird anerkannt, sie wird jedoch nicht vorausgesetzt, und sie wird deshalb nicht vorausgesetzt, weil eine Voraussetzung dieser Illegitimität bereits suggerieren würde, der Versuch, Ontologie überhaupt zu erledigen, mache Ontologie überhaupt, d. h. prinzipiell, rechtfertigungsbedürftig. Sich der Verbindlichkeit dieses Verdachts gegen die Ontologie zu verweigern, basiert nicht auf Borniertheit, sondern darauf, die Sache der Ontologie ihrem Geiste und philosophischen Anspruch gemäß, statt sie ihren Umdeutungen und Umwertungen in den Frontenkämpfen des 20. Jahrhunderts gemäß aufzufassen. Ontologie zielt dann auf die Konstitutionsbedingungen entweder des Seins oder – als Ontologie im Genitiv – eines spezifischen Gegenstandsbereichs. Dem Fragemodus von Ontologie entspricht dann schlicht die Frage: Was macht – z. B. im Fall der hier anvisierten Ontologien der Person Steins und Plessners – etwas zu dem, was es ist? Auf die Frage kann in unterschiedlicher Weise geantwortet werden. Dem Was kann ein Das zugeordnet werden, die Antwort wäre dann substanzialistischer Art. Dabei wird dann gerne in ideengeschichtlich-postsubstanzialistischer Selbstgefälligkeit supponiert, dass eine Substanzontologie nicht strukturell entwickelt werden müsste, um mehr als eine arbiträre und reduktive Pseudo-Bestimmung DOI 10.1515/9783110459159-001

2

Einleitung

einer Sache zu sein. Dem Was kann aber ebenso gut eine Ermöglichungsstruktur zugeordnet werden, die Antwort wäre dann nicht substanzialistischer, sondern im weitesten Sinne transzendentaler (quasi-transzendentale Begründungen sind hier inkludiert) Art. Die im weitesten Sinne transzendentale bzw. – dieser Begriff wird hier bevorzugt – konstitutionstheoretische Begründung kann nicht mehr entitärer Art sein, da keine Entität(en) mehr als Letztbegründungsinstanz fungieren kann bzw. können. Die beiden grundsätzlichen Arten und Weisen, Ontologie aufzufassen und philosophisch durchzubilden, werden in dieser Studie anhand der Philosophien des Aristoteles, Edith Steins und Helmuth Plessners konkretisiert. Während Aristoteles die systematische und terminologisch bis in Plessners Philosophische Anthropologie hinein verbindliche Urgestalt ontologischen Philosophierens geschaffen hat, haben Edith Stein und Helmuth Plessner in jeweils verschiedener Weise den Aristotelischen Problembestand und das Begriffsinventar aufgegriffen und modifiziert, um innerhalb der Moderne Ontologien der menschlichen Person in Gestalt philosophischer Anthropologien zu entwickeln – Stein in einer substanzialistischen, Plessner in einer strukturfunktionalen Variante. Während die Auseinandersetzung mit Aristoteles und Edith Stein sich grundsätzlich an das explizit Gesagte und die explizit in deren Philosophien entwickelten Zusammenhänge halten kann, war es im Fall Plessners nötig, dessen Philosophische Anthropologie einer grundsätzlichen Neulektüre zu unterziehen, um Plessners Ontologie des Organischen systematisch als solche zu entwickeln. Die Entwicklung dieser Ontologie des Organischen bildet nicht die Basis einer Ontologie des Politischen, die nicht sinnvoll als ontologischer Überbau aufzufassen ist, sondern die Ontologie des Organischen wird in dieser Studie zugleich – da die Differenzierung von Ebenen keine Sprengung von Einheit bedeuten muss – als Ontologie des Politischen entwickelt, deren beider gemeinsame Integrationsinstanz die menschliche Person bildet. Diese Arbeit geht in der Analyse von Plessners Philosophischer Anthropologie von dem Verdacht aus, dass bestimmte Formulierungen, die Helmuth Plessner in seinen Werken scheinbar en passant verwendet, auf ein unentdecktes Zentrum seiner Philosophischen Anthropologie hinweisen. Dieser Verdacht ist sachlicher Natur und von einer systematischen statt von einer philologischen Intention befeuert, wenngleich seine Erhärtung viel philologischen Aufwand erfordert. Die grundlegenden Begriffe, an welchen dieser Verdacht sich entzündet hat, sind (1) die „Entelechie als Seinsmodus“, (2) die „immanente Teleologie“, (3) der Begriff der seienden Möglichkeit bzw. der realen Potenz und (4) der Ausdruck der „Ontologie des Organischen“. Die ersten drei finden sich in den Stufen des Organischen und der Mensch – nachfolgend der Kürze halber Stufen genannt –, der letztere in Macht und menschliche Natur. Nimmt man die „Ontologie des Organischen“ als Leitbegriff, dann scheint bereits eine gewisse Systematik auf, in der sich Entel-

Einleitung

3

echie und Teleologie um den Begriff der „seienden Möglichkeit“ gruppieren und in welcher der Anklang an die Aristotelischen Grundbegriffe von Akt und Potenz nicht zu überhören ist. Dieser Verdacht gewinnt dadurch an Legitimität, dass Plessner auch den in seinen späteren Schriften zum Grundbegriff avancierten Begriff des Körperleibs in den Stufen beiläufig verwendet, ohne ihn in den Stufen dort auszuarbeiten. Die Tatsache, dass Plessner die gemeinhin als sein Hauptwerk angesehenen Stufen, aber auch Macht und menschliche Natur, unter enormem Zeitdruck verfasst hat, lassen vermuten, dass seine Philosophische Anthropologie auf einem doppelten Boden steht: dem Boden des explizit Ausgearbeiteten und dem des aus zeitlichen Gründen zu kurz Gekommenen, das kein Marginales oder Peripheres ist, sondern eine noch nicht ausgearbeitete Tiefenschicht dessen, was gedanklich explizit und stringent durchgeführt worden ist. Das systematische Zentrum dieser Tiefenschicht von Plessners Philosophischer Anthropologie bildet, so die Annahme, welche die Untersuchung leitet, der Begriff der seienden Möglichkeit und damit die Denkfigur der Potenzialität, mit welcher Plessner den klassischen Vorrang des Akts vor der Potenz innerhalb einer Ontologie des Lebendigen umkehrt. Diese Annahme verbindet sich mit einer zweiten, welche die Untersuchung trägt, nämlich mit der Annahme, dass die naturphilosophische Potenzialitätsontologie Plessners keine von seiner Theorie des Politischen abgespaltene oder abspaltbare Bereichstheorie bildet, sondern dass die Ermöglichungsbedingungen des Politischen, wie Plessner sie in Macht und menschliche Natur benennt und später in Lachen und Weinen und Die Frage nach der conditio humana rollentheoretisch ausbuchstabiert, naturphilosophisch fundiert und von dieser Fundierung her rollentheoretisch ausgearbeitet werden. Diesen Brückenschlag, der von der Körperleiblichkeit als dem Medium des privatöffentlichen Doppelgängertums her in Angriff genommen wird, hat Plessner selbst nicht mit der wünschenswerten systematischen Strenge und Ausführlichkeit ausgearbeitet. Dies hat jedoch Hans-Peter Krüger unternommen, dem die Überlegungen, gerade was die medientheoretische Ausformulierung angeht, viel verdanken. Was weder Plessner noch Krüger in Angriff genommen haben, ist eine Ausarbeitung des Zusammenhangs zwischen Naturphilosophie und Rollentheorie im Ausgang von einer systematisch entfalteten Ontologie des Organischen. Diese bildet insofern das Herzstück dieser Studie. Der Verdacht, dem hier nachgegangen werden soll, ist sachlicher Natur. Was in der ontologischen Auslegung Plessners auf dem Spiel steht, ist zunächst die Tragweite von Plessners spezifisch naturphilosophisch verfasster Ontologie: Gibt es bei Plessner eine Ontologie des Organischen und spielt sie im Gesamtansatz seiner Philosophischen Anthropologie eine tragende Rolle? Damit verbindet sich die Frage nach der Möglichkeit und Legitimität von Ontologie überhaupt. Denn wenn die hier gestellte Frage positiv zu beantworten ist und Plessners Philoso-

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phischer Anthropologie eine nicht bloß historische, sondern auch eine systematische Relevanz konzediert werden muss,¹ darf die spätestens seit Habermas’ Nachmetaphysisches Denken Konsens gewordene Skepsis gegenüber der von der Metaphysik kaum noch unterschiedenen Ontologie grundsätzlich in Frage gestellt werden. Die systematische Intention, die den Gang dieser Untersuchung befeuert, erfordert gleichwohl beträchtlichen philologischen Aufwand. Zunächst ist dabei im ersten Kapitel in einer tour de force durch Plessners Werk aufzuzeigen, dass Plessners Verständnis von Ontologie sich keineswegs, wie eine auf seine Heidegger-Kritik verengte Betrachtung vermuten lassen könnte, in einer pauschalen Ablehnung von Ontologie erschöpft, weshalb Plessner zwar eine schneidende Kritik an Heidegger formuliert, ohne jedoch – wie Adorno – die Möglichkeit einer legitimen Ontologie überhaupt zu verwerfen.² Dies wird nicht nur daran zu erweisen sein, dass Plessner seinen naturphilosophischen Ansatz aus den Stufen in Macht und menschliche Natur, wo der Angriff auf Heidegger fulminant ausfällt, als „Ontologie des Organischen“ bezeichnet, sondern auch daran, dass Plessner in Texten aus den 1920er Jahren ontologischem Denken eine gewisse Dringlichkeit konzediert und in späteren, auf Macht und menschliche Natur folgenden Texten zwar die klassische und die Heidegger’sche Fundamentalontologie als Ontologien verwirft, aber aufgrund seiner Vertrautheit mit Nicolai Hartmanns neuer Ontologie einer phänomenologisch begründeten Ontologie weiterhin offenbleibt. Bezugnahmen auf Plessners Briefwechsel mit König werden zeigen, dass das Projekt einer Ontologie (Hartmann, Plessners Stufen) im Unterschied zu einer Ontologie (Heidegger, klassische Tradition) Plessners nie verworfene, aber auch nie systematisch ausformulierte Grundlage bleibt, die in der weitläufigen Auseinandersetzung mit den Stufen in Kapitel 4 zu entfalten sein wird. Doch zuvor ist die Ontologie in ihrer historischen Gestalt aufzuarbeiten, weil sie die Begriffe und Denkstrukturen entwickelt, welche Plessner transformiert, und gerade in der Aristotelischen Fassung und dem Versuch, Wirklichkeit philosophisch zu denken, von der philosophischen Intention getragen wird, deren Einlösung mit den methodischen Mitteln Plessners auf eine neuartige und neue

 Der rapide Zuwachs an systematischen Untersuchungen zum Werk Plessners seit den 1990er Jahren muss für ein Symptom einer solchen Relevanz gedeutet worden, wenn nicht unterstellt werden soll, dass Philosophie im Allgemeinen die Verfolgung von Privatneigungen unter wissenschaftlichem Deckmantel ist. Zugleich sind solche Symptome nur von indikatorischem Wert, ihnen sind als solchen keine sachlichen Entscheidungsgründe zu entnehmen.  Eine umfangreichere und systematisch orientierte Aufarbeitung des Verhältnisses zwischen den Ansätzen Plessners und Heideggers, als es hier möglich ist und idealiter stattfände, findet sich bei Wunsch 2014.

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Horizonte eröffnende Weise möglich ist. Zunächst ist dabei allerdings die Frage aufzuwerfen, ob Ontologie überhaupt historisch das war, wofür sie seit ihrer Kritik durch die Frankfurter Schule leichthin gehalten wird,³ nämlich eine das philosophische Fragen in allgemeinen Begriffen abschließende und zum Erliegen bringende Unternehmung, die sich böswillig als „philosophischer Fundamentalismus“ bezeichnen ließe. In einem historischen Exkurs zur Ontologie wird in Anknüpfung an Elisabeth Rompe und Panajotis Kondylis sowie in Auseinandersetzung mit Christian Wolff im ersten Schritt zu zeigen sein, worin die historische Intention der Ontologie überhaupt bestanden hat, die in der frühen Neuzeit nämlich gerade als Theologie- und Metaphysikkritik entstanden und von Wolff, also noch in der vermeintlich vorkritischen Phase neuzeitlichen Philosophierens, in solcher Weise kodifiziert worden war. Von dieser historisierenden Problematisierung her ist überhaupt erst ein Zugang zum Aristotelischen Denken zu gewinnen, der nicht Metaphysik und Ontologie kurzerhand gleichsetzt, als müssten ontologische Gehalte notwendig in eine Metaphysik münden und als wären ontologische Begriffe und Motive nicht aus dem Zusammenhang einer Metaphysik herauslösbar, um sie ohne metaphysische Intentionen anzueignen. Dabei wird darauf zu sprechen zu kommen sein, dass der Aristotelische Realismus keine epistemologische These über eine unabhängig von uns existierende Außenwelt darstellt, sondern die philosophische Intention bezeichnet, die Wirklichkeit als solche philosophisch zu erhellen statt epistemologisch einen Graben zwischen dem Denken und der Wirklichkeit aufzureißen, dessen Vertiefung und Überbrückung zugleich die neuzeitliche Erkenntnistheorie in ungewollter Simultaneität in Angriff genommen hat. Die spezifisch ontologischen Motive der Aristotelischen Philosophie, auf die es uns in der Auseinandersetzung mit Aristoteles ankommt, kristallisieren sich in zentralen Termini, die Plessner in nicht-metaphysischer Weise sich angeeignet hat, allen voran im Substanzbegriff und im Begriff der Entelechie. Beide, wie die Aristotelische „Ontologie des Lebens“, deren Explikation durch Georg Picht uns als Leitfaden dienen wird, werden vom Verhältnis von Akt und Potenz her aufgeschlüsselt werden. Die Akt-Potenz-Relation führt in das Zentrum der Aristotelischen Metaphysik und deren Teleologie, wobei die Teleologie bei Aristoteles einen innermetaphysischen Sacherhalt darstellt statt, wie im Plessner-Kapitel, als Explikationskategorie und Meta-Problem (in der Abgrenzung vom Teleologietypus à la Driesch) zu fungieren.⁴ Mit der Aufarbeitung dieser Kategorien und Zusam-

 Vgl. Adorno 1970 und Haag 1960.  Der Doppelstatus bei Plessner ergibt sich daraus, dass Plessners innere Teleologie eine Teleologie in expliziter Abgrenzung von aller metaphysischen Teleologie ist. Man könnte auch sa-

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menhänge ist eine Vergegenwärtigung des Aristotelische Erbes, das Plessner sich aneignet, durchzuführen. Edith Steins philosophischer Gesamtentwurf, der im dritten Kapitel zu behandeln sein wird, zeichnet sich durch die Besonderheit aus, sowohl eine ontologische Aneignung des Aristotelischen Kategorienarsenals in seiner Vermittlung durch Thomas von Aquin zu enthalten als auch eine theologische Aneignung des phänomenologischen Inventars zu beinhalten, das Stein als Schülerin Husserls und Schelers in direkter Auseinandersetzung mit den Gründungsvätern sich erarbeiten konnte (vgl. Kap. 3.2 und 3.3). Auf Steins Aneignung des Problemhorizonts der Moderne und ihrer Zeitgenossenschaft mit Plessner beruht ihre gegenüber Aristoteles privilegierte Stellung in dieser Studie. Die Grundlage von Steins Denken bildet jedoch, was sie von Thomas von Aquin jenseits der spezifisch theologischen Denkfiguren an systematischen Gehalten sich einverleibt hat, nämlich die Akt-Potenz-Relation als ontologische Fundamentalunterscheidung, entlang welcher sie einen wiederum von Thomas von Aquin geprägten onto-anthropologischen Stufenbau der Natur entfaltet. Dieser in Kap. 3.5 – 3.8 ausführlich darzustellende Stufenbau bezieht seine über theorieantiquarische Reminiszenzen weit hinausreichende Relevanz in dieser Untersuchung aus dem Faktum, dass Stein sich über das klassische Erbe hinaus das Scheler’sche Projekt der Wissenschaft von der menschlichen Person zu eigen macht. Mit dem Scheler’schen Projekt verpflichtet Stein sich auf eine Betrachtung der menschlichen Person, die den Menschen nicht aus der Natur herauslösen kann; per hiatum ist er daher bei Stein nicht nur aus epistemologischen Gründen, d. h. aufgrund der Fehlbarkeit seiner am göttlichen logos gleichwohl teilhabenden Vernunft, mit Gott verbunden, sondern auch deshalb, weil er elementar ein Naturwesen ist; diese Ambivalenz wird in Kap. 3.8 genauer zu verfolgen sein. Abschließend wird ein Streifblick auf Steins Sozialphilosophie geworfen, um anzudeuten, inwiefern Steins Auffassung der Seele als Kern der Person sowie ihre strikte Orientierung an Tönnies ihr die Möglichkeit verwehrt, Gesellschaft und Gemeinschaft als soziale Realitäten und Konstitutionsmomente einer rollentheoretisch elaborierbaren Personalität zugleich zu verstehen (Kap. 3.9). Im Hauptteil der Arbeit (Kap. 4) ist zu zeigen, dass Plessners Anknüpfung an Schelers „Wissenschaft von der Person“ wegen seiner konsequenten naturphilosophischen Ausgestaltung zu gänzlich anderen Ergebnissen führt. Plessner zielt auf eine „Neuschöpfung der Philosophie“,⁵ welche die Gestalt einer Philosophi-

gen, die Kategorie der „Teleologie“ trete bei Plessner sowohl in deskriptiver als auch in kritischer Funktion auf.  SOM: 30.

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schen Anthropologie annimmt und als solche zugleich als eine „Philosophie des lebendigen Daseins“⁶ durchgeführt werden muss. Die Hauptthese des vierten Kapitels wird lauten: Diese Philosophie des lebendigen Daseins wird von Plessner als eine Ontologie des Organischen als der systematischen Grundlage seiner Philosophischen Anthropologie durchgeführt. Diese These wird zu entwickeln sein im Ausgang von Plessners objektiver Transformation der Phänomenologie, welche als die methodische Grundlage seiner Ontologie auszuweisen sein wird. Diese Ontologie wird nicht als eine abstrakte Ontologie des Organischen zu entfalten sein, sondern als eine phänomenologische Ontologie des Organischen, wie es als Wirkliches erscheint. Die in Kapitel 2 nachgezeichnete Aristotelische Intention, philosophisch Wirklichkeit statt Realität zu erschließen, ohne Realität in die Wirklichkeit hineinprojizieren und als diese auszugeben, wird von Plessners objektiver Transformation der Phänomenologie her einzulösen sein. Die Wirklichkeit von Lebendigem wird vom Erscheinen der Wirklichkeit des Lebendigen her darzustellen sein anhand eines dreifachen Eigenschaftsbegriffs, der es erlauben wird, den phänomenologischen Doppelaspekt von Psychischem und Physischem innerhalb der Sphäre der Eigenschaftlichkeit von Erscheinung zu seiner ontischontologischen Grundlage, der Grenze, in „einer Erfahrungsstellung“⁷ in Beziehung zu setzen. Auf dieser Basis ist dann die Organisation des Lebendigen in der Verbindung der phänomenologischen Deskription mit einer funktionalen Analyse des Lebendigen in Angriff zu nehmen, deren Hauptbegriff der ontisch-ontologisch doppeldeutige Begriff der Mitte – funktional benannt: der Grenzübergang – bilden wird. Als weitere Hauptbegriffe dieser Analyse werden sich allerdings genuin ontologische Begriffe erweisen: die Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit wird als „immanente Teleologie“⁸ dargestellt werden, der Seinsmodus des Lebendigen wird von Plessners Begriff der „Entelechie als Seinsmodus“⁹ her bestimmt werden (Kap. 4.10.2– 4.10.4), und von der „immanenten Teleologie“ und der „Entelechie als Seinsmodus“ her wird die harmonische Äquipotentialität als ontologische Denkfigur neu zu belichten sein (Kap. 4.10.3). Damit geht die Notwendigkeit der ebenfalls durchzuführenden Neubestimmung mehrerer zentraler Konzepte Plessners einher: Die Mitte, die Plessner zufolge „als Vermögen (Potenz) real“¹⁰ sei, ist keine substantiale Entität, sondern ein Moment der Selbstorganisation von Lebendigem, das dadurch gerade nicht mit sich selbst identisch ist,

 Ebd.  Ebd.: 14.  Vgl. ebd.: 170, 177, 190.  Ebd.: 146.  Ebd.: 162.

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sondern in sich zur Differenz zu sich selbst steht. Diese Paradoxie wird vom Begriff des „Vorwegseins“ her einzuholen sein, den wir allerdings in systematischem Einklang mit Plessner, um der teleologisch-entelechialen Struktur und der Potenzialität des lebendigen Seins vollauf gerecht werden zu können, als Sich-Vorwegsein-zu spezifizieren werden müssen. (Kap. 4.13 – 4.15) Das Sich-Vorwegseinzu verbindet Plessners Neufassung des Verhältnisses von Akt und Potenz als ontologischen Strukturmomenten, das in Kapitel 4.10.6 seine Darstellung erfahren wird, mit der Bezogenheit von Lebendigem auf sein Positionsfeld, kurz: Das SichVorwegsein-zu entfaltet das Vorwegsein konsequent im Sinne der Überschüssigkeit der Mitte als Potenz gegenüber der blanken Positivität von Dinglichem. In einem disziplinären Segmentierungstendenzen brechenden Schritt wird im fünften Kapitel diese Ontologie des Organischen als Grundlage einer Theorie des Politischen bei Plessner dargestellt werden. Mit anderen Worten: Wo von den Ermöglichungsbedingungen des Politischen gehandelt wird, ist die Terminologie der Ontologie des Organischen nicht zu suspendieren (vgl. Kap. 5.4), weil das Medium der Genesis des Politischen, der als mediale Grundlage des privat-öffentlichen Doppelgängertums fungierende Körperleib (Kap. 5.3), im Boden der lebendigen Natur unaufhebbar verwurzelt bleibt: Was beide systematisch verklammert, ist Plessners Ontologie des Ausgleichs (Kap. 5.2), welche die Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit ebenso zu beschreiben vermag wie die einen Teil ihrer Praxis bildende (vgl. 5.2.1) Verschränkung von Leibsein und Körperhaben in Personalisierung und Individualisierung. Die Struktur der Körperleiblichkeit und die Struktur des privat-öffentlichen Doppelgängertums werden als strikt komplementäre Strukturen darzustellen sein aufgrund der Komplementarität der „Aspektrichtungen“ (Krüger) von Leib und Körper mit den – dieser Begriff wird hier ebenfalls neu zu prägen sein – Sinnrichtungen des Öffentlichen und des Privaten (Kap. 5.4 und 5.4.1). Personalisierung und Individualisierung bleiben zwar unaufhebbar in der lebendigen Natur verwurzelt, sie erschöpfen sich medial aber nicht in der Körperleiblichkeit, sondern vollziehen sich – nicht ausschließlich, aber in herausragender Bedeutung – mittels der Sprache als der medialen Materialisierung der exzentrischen Positionalität. Dieser Begriff wird, wie der medientheoretisch orientierte Ansatz überhaupt, der hier verfolgt wird, seine Erläuterung in Kap. 5.6 finden. Maßgeblich wird hierbei an Hans-Peter Krügers Weiterführung des Plessner’schen Werks anzuknüpfen sein, in welcher sowohl die hier aufgenommene medientheoretische Orientierung eingeführt wird als auch das Politische – über Plessners engere Fassung desselben in Macht und menschliche Natur – sowohl rollen- als auch verhaltenstheoretisch von Plessners späteren Werken her eingeholt wird. Auf dieser Grundlage lässt sich in Kap. 5.8 der Begriff der Potenzialität, der im Sinne der Begrenzung der Selbstmächtigkeit durch die lebendige Natur als „liminale Potenzialität“ dargestellt

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werden wird (Kap. 5.8.1), sich in steter Beachtung der die Person ontologisch konstituierenden Lebendigkeitsstrukturen in positiver Weise fassen lassen als medial potenzierte Potenzialität, die einen ausgleichenden Umgang mit der Begrenztheit durch Lebendigkeit ermöglicht (Kap. 5.8.2), wodurch wir mehr sind als „bloße Natur“. Der ontologische Charakter der Potenzialität der Person gründet, so wird zu zeigen sein, gleichermaßen in ihrer Begrenztheit durch Natur wie im sprachlich vermittelten und im privat-öffentlichen Doppelgängertum sich vollziehenden Umgang mit ihrer Natur, um in der Gebundenheit an die Natur von ihr loszukommen. Der Schlussteil wird, abgesehen von einer obligatorischen Rekapitulation der zentralen Ergebnisse, eine Thematisierung des Stellenwerts der Ontologie im systematischen Philosophieren enthalten. Synoptisch werden die Hauptmotive und -ergebnisse dieser Untersuchung noch einmal zu versammeln sein, um einen resümierenden Überblick über den verschlungenen Argumentationsgang zu geben. Insbesondere sollen dabei noch einmal die entscheidenden Unterschiede zwischen Plessner und Stein pointiert zur Sprache gebracht werden. Mit den Ergebnissen zur Hand, soll auch der über die exegetische Aufarbeitung hinausreichende Anspruch dieser Studie klar gefasst werden.

1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung Bevor danach gefragt werden kann, inwiefern Plessners Philosophische Anthropologie eine Transformation der klassischen Ontologie darstellen kann, muss danach gefragt werden, was eigentlich unter der „klassischen Ontologie“ zu verstehen sei. Diese Klärung kann jedoch wiederum nicht unmotiviert vorgenommen werden und muss folglich vor dem Hintergrund von Plessners Verständnis von Ontologie und seinem damit zusammenhängenden philosophischen Selbstverständnis anvisiert werden. Daher soll in einem weitestgehend chronologischen und „essentialistischen“, d. h. Grundlinien und -orientierungen gegenüber der positivistischen Vollständigkeit privilegierenden Durchgang durch Plessners Gesamtwerk herausgestellt werden, was Plessner in den verschiedenen Phasen seines Denkens unter Ontologie verstanden und wie er sich gegenüber ontologischen Entwürfen im Einzelnen und gegenüber ontologischem Denken im Ganzen positioniert hat. Im nächsten Kapitel erfolgt eine Darstellung der grundbegrifflichen Konfiguration dessen, was man – wenn auch nicht unproblematisch – „klassische Ontologie“ nennen kann, am Leitfaden der Akt-Potenz-Relation und in der Orientierung an den Begriffen und Motiven, mit denen Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch (nachfolgend der Kürze halber Stufen genannt) über weite Strecken implizit oder explizit kommuniziert.

1.1 Der affirmative Begriff der Ontologie bis zur Mitte der 1920er Jahre In seinen frühen Aufsätzen Vitalismus und ärztliches Denken (1922), Über den Realismus in der Psychologie (1922) und Über die Erkenntnisquellen des Arztes (1923) steht Plessner unter einem starken doppelten Einfluss, nämlich dem Hans Drieschs und dem Max Schelers. Daraus ergibt sich die doppelte thematische Orientierung am Vitalismus (Driesch) und am Begriff der Person und der Rolle des Physischen in der Konstitution der Person (Scheler). Die Rolle, die Driesch für Plessners Denken spielt, wird im vierten Kapitel dieser Studie von der Transformation der Ontologie in den Stufen her eingeholt werden; an dieser Stelle soll es vor allem um den Einfluss Schelers gehen, da bei Scheler die genannten thematischen Motive ontologisch entfaltet werden. In Vitalismus und ärztliches Denken knüpft Plessner an die Probleme an, die der Vitalismus dem Mediziner stellt:

DOI 10.1515/9783110459159-002

1.1 Der affirmative Begriff der Ontologie bis zur Mitte der 1920er Jahre

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Für den Mediziner enthält also die Vitalismusfrage drei Probleme: 1. Das Wesen des Organischen, seine Erklärbarkeit oder Unerklärbarkeit nach allgemeinen Naturgesetzen; 2. Das Wesen der Individualität im Verhältnis von Art und Typus; 3. Das Wesen der Person als psychophysischer und als verständlicher Einheit.¹

Auf die erste Frage antwortet Driesch mit dem Aristoteles entlehnten EntelechieBegriff, womit ein weder sinnlich aufweisbarer noch messbarer formbildender Faktor gemeint ist, der kausal und damit gestaltbildend auf Organisches einwirken kann. Der Entelechie steht konzeptionell die Auffassung einer mechanistischen Naturwissenschaft gegenüber, welche das Organische gemäß allgemeinen Naturgesetzen erklären, d. h. mit mathematischer Genauigkeit bestimmen will, wobei „eindeutige Bestimmbarkeit und mathematische Definierbarkeit […] für Naturvorgänge ein und dasselbe“² seien. Das Aufbrechen dieser eindeutigen Bestimmbarkeit, auf welches Driesch mit dem Faktor der Entelechie zielt, welcher die Differenz zwischen dem naturwissenschaftlich nicht erschöpfend erkennbaren Lebendigen und dem verlustfrei naturwissenschaftlich Objektivierbaren begründen soll, markiert für Plessner den „von Martius völlig zu Recht hervorgehobene[n] Unterschied zwischen naturwissenschaftlicher und ontologischer, d. h. philosophischer Denkweise“.³ Ontologisches Denken wird hier nicht nur mit philosophischem gleichgesetzt, sondern gemäß seinem Anspruch, aufs Ganze des Seins zu gehen, dem methodisch am Ideal mathematisch exakter Bestimmung orientierten Denken entgegengehalten. So verstanden ist Ontologie nicht nur eine Bezeichnung für ein „proto-philosophisches“ Denken, sondern zugleich für ein emanzipatorisches Denken, da mit ihm überhaupt erst das von Plessner genannte dritte Problem, das „Wesen der Person als psychophysischer und als verständlicher Einheit“ in den Blick genommen werden kann. Dass es sich bei der Verwendung des Begriffs „ontologisch“ hier nicht um eine beiläufige und daher bar aller systematischen Tragweite seiende handelt, zeigt sich in dem ein Jahr später erschienenen Aufsatz Über die Erkenntnisquellen des Arztes, wo Plessner vom „erkenntnistheoretische[n] bzw. ontologische[n] Ort jener Klasse von Objekten, die wir Personen nennen“⁴, spricht. Die in dem Aufsatz als Ziel genannte „Wissenschaft von der menschlichen Person“,⁵ als deren maßgeblichen Urheber Plessner in den Stufen – ohne das Attribut „menschlich“ – Max

    

Plessner 1985a: 8. Ebd.: 18. Ebd. Plessner 1985b: 50 Ebd.

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1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

Scheler nennt,⁶ ist demnach nur als Ontologie durchführbar und wird zugleich als „Aufgabe der Naturphilosophie“⁷ bestimmt. Die Naturphilosophie, welche zu einer Wissenschaft der menschlichen Person führen kann, muss zugleich als Ontologie durchgeführt werden und umgekehrt. Die Notwendigkeit einer Ontologie bzw. Naturphilosophie im Unterschied zur bloßen Naturwissenschaft ergibt sich daraus, dass eine Person weder „rein physische Natur, daher nicht restlos physikalisch-physiologisch, und nicht der rein psychische Seinskreis, daher nicht restlos psychologisch bestimmbar“⁸ ist.Vor dem Hintergrund der philosophischen Inauguration des Person-Begriffs durch Scheler stellt sich das Vitalismusproblem für Mediziner „anders als vor zehn Jahren“⁹ dar und zerfällt in zwei Probleme: die „1. zwischen Naturwissenschaft und Naturphilosophie geteilte Jurisdiktion in Sachen des Wesens des Lebens; 2. [die] empirische Erforschbarkeit der psychophysischen Personeinheiten nach teilweise eigenen begrifflichen Maßstäben“¹⁰. Aus dieser doppelten Problemlage resultiert nach Plessner die „Antinomie zwischen der verstehenden Aufgeschlossenheit, mit der eine ‚Person‘ überhaupt erst sichtbar und beeinflußbar wird, und der erkennenden Objektivierung“¹¹, um welche die Naturwissenschaften sich bemühen.¹² In dieser Antinomie klingt die

 SOM: 74. – In dieser Studie wird daher öfter von einer „Wissenschaft von der menschlichen Person“ die Rede sein, die der exegetischen Gerechtigkeit gegenüber der systematischen Selbstverortung Plessners wegen explizit als ein Scheler’sches Projekt bezeichnet werden wird, obwohl Plessner in Die Einheit der Sinne eine solche Wissenschaft als eine geistesgeschichtliche Tendenz darstellt, an der eine Reihe von Protagonisten sich versucht haben: „Dieser Tendenz, welche Dilthey, William Stern, Spranger in seinen Lebensformen, Scheler in seiner Ethik, Psychiater wie Specht, Schilder, Jaspers in seiner Allgemeinen Psychopathologie und Psychologie der Weltanschauungen, Kraus in seiner Pathologie der Person auf verschiedenste Weise spiegeln und die auf zahlreiche Wissensfächer einzuwirken beginnt, weiß sich die vorliegende Untersuchung als Versuch einer Strukturtheorie der menschlichen Person, und zwar zunächst ihrer Fundamentalbeziehungen zur Umwelt, verbunden.“ (EdS: 19 f.) Die explizite Anbindung an Scheler wird hier durchgehend aufgegriffen, obwohl auch eine an Dilthey möglich wäre (vgl. SOM: 24), da Scheler den gemeinsamen Bezugspunkt von Plessner und Edith Stein bildet und die Wissenschaft von der menschlichen Person im Sinne einer philosophischen Anthropologie auszuführen suchte.  Ebd.  Ebd.  Ebd.: 52.  Ebd.  Ebd.: 53.  Als praktisches Desiderat der ärztlichen Praxis leitet Plessner aus dieser Antinomie eine doppelte Orientierung ab: „Und der praktische Effekt dieser ganzen erkenntnistheoretischen Betrachtung für den Arzt? Zunächst die strenge Bindung seines Handelns an das Laboratorium, Stärkung seines Vertrauens auf die experimentell-exakte Forschung, jedoch mit der Mahnung, darüber nicht die Seiten des Lebens, der Person zu vergessen, welche dem Laboratorium transzendent sind.“ (ebd.: 51)

1.2 Die ontisch-ontologische Zweideutigkeit des Psychischen

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dritte Kantische Antinomie zwischen Freiheit und durchgehender naturgesetzlicher Bestimmung aus der Kritik der reinen Vernunft an, ohne dennoch ihre Wiederkehr zu feiern. Vielmehr geht es Plessner darum, das Problem mit neuen methodischen Mitteln, nämlich denen der Phänomenologie, anzugehen, um Personalität in ihrer irreduziblen Eigenständigkeit verstehend zu erfassen. Das Problem ist formuliert, die Methode erfährt darauf ihre zu den Stufen hinführende Ausformulierung in der 1925 erschienenen Schrift Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs (1925), deren Behandlung aus nicht bloß chronologischen Gründen, wie sich zeigen wird, eine Betrachtung der Grenzen der Gemeinschaft vorangestellt werden soll.

1.2 Die ontisch-ontologische Zweideutigkeit des Psychischen in den Grenzen der Gemeinschaft (1924) Bei den Grenzen der Gemeinschaft handelt es sich um eine Streitschrift, in der Plessner einen Gegner und dessen ideologische Position klar benennen kann und dementsprechend deutlich seine eigene Position ausformulieren muss. Dem Charakter der Schrift sowie dem enormen Tempo, in welchem Plessner sie verfasst hat, dürften terminologische Unstimmigkeiten geschuldet sein, die hier nicht vertieft werden sollen. Exemplarisch benannt, weil für diese Arbeit von besonderem Belang, ist, dass Plessner sowohl von der „ontischen Zweideutigkeit des Psychischen“¹³ als auch von der „ontologischen Zweideutigkeit“¹⁴ derselben spricht. Der Ausdruck der „ontischen Zweideutigkeit“ mag zunächst befremden, erscheint aber durchaus sinnvoll, wenn man unter der ontischen Zweideutigkeit die faktische Ambivalenz in praktischen Lebenszusammenhängen versteht, welche wiederum in der „ontologischen Zweideutigkeit der Seele“ als solcher gründet. Dass dem Begriff der „ontologischen Zweideutigkeit“ innerhalb der Argumentationslogik der Grenzen der Gemeinschaft der Vorrang zukommt, ergibt sich aus Plessners Argumentationsziel: „Der Radikalismus […] wird in dem Augenblick als Lüge entlarvt sein, in welchem „zur Klarheit gediehen ist, daß auch das seelische Leben und Sein für sich genommen nur unter besonderen Kautelen den Werten der Direktheit Raum gewährt, im übrigen die Methoden der Indirektheit, der Gewalt befolgen muß.“¹⁵

 GdG: 92.  Ebd.: 63.  Ebd.: 27.

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1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

Wo ein solcher Anspruch formuliert wird, müssen die Gründe den Status von Beweisgründen beanspruchen und auf einem doppelten Grund stehen. Nichts wird einem solchen Erfordernis besser gerecht als eine sowohl ontisch als auch ontologische Zweideutigkeit, die ontologisch, d. h. aus dem Wesen der Seele, begründet, was ontisch sich zeigen muss, denn aus der „ontologischen Zweideutigkeit resultieren mit eherner Notwendigkeit die beiden Grundkräfte des seelischen Lebens: der Drang nach Offenbarung, die Geltungsbedürftigkeit, und der Drang nach Verhaltung, die Schamhaftigkeit“.¹⁶ Was ontisch geschieht, nämlich dass die Seele stets zu einer Fixierung drängt, die sie immer wieder fliehen muss,¹⁷ erhält durch die ontologische Zweideutigkeit seinen – psychopathologisch neutralen – Zwangscharakter. Die ontologische Zweideutigkeit benennt Plessner auch mit einem der ontologischen Tradition entlehnten Terminus „wesenhafte Zweideutigkeit“;¹⁸ diese bilde die „Wurzel der Wesensgesetze der Seele“.¹⁹ Zu diesen Anleihen bei den begrifflichen Errungenschaften der Tradition gesellt sich allerdings eine Traditionsverhaftetheit, wenn er die „menschliche Person als Einheit von Körper, Seele und Geist“²⁰ bestimmt. Der strategisch triftige Grund dafür, dass Plessner die klassische, entitär zu verstehende Trias von Körper, Seele und Geist hier allerdings aufnimmt, ist in seiner Polemik gegen den Dualismus zu finden, „dem die Einheit der menschlichen Person verloren geht“²¹ und der daher zur „Verdrängung des Zivilisationstriebes, der Werte der Künstlichkeit“²² führe. Liest man die Stelle zudem im Zusammenhang mit Plessners – wenn auch wesentlich späterer – Behauptung, die klassische Ontologie verfehle ihren Gegenstand ironischerweise gerade ontologisch, also in der realistisch-entitären Begründung ihrer Ergebnisse, aber nicht phänomenologisch,²³ so liegt es nahe, dass Plessner mit der Trias – ohne die Formulierung ontologisch neutralisieren zu können – einen phänomenologischen Sachverhalt im Sinn hat. Von Plessners Bewusstsein des Mangels an systematischer Durchbildung, die sich in der vordergründig klassisch ontologischen Bestimmung der Person zeigt, zeugt auch seine Einforderung von Kulanz seitens des Rezipienten: „Für den  Ebd.: 63.  „Der doppeldeutige Charakter des Psychischen drängt zur Fixierung hin und zugleich von der Fixierung fort.“ (ebd.)  Ebd.: 64 – Vgl. dazu auch das Kapitel zu Edith Stein, in welchem der Begriff der Wesenhaftigkeit eine zentrale Rolle spielt.  Ebd.  Ebd.: 114. – Exakt diese Bestimmung wird sich wiederum bei Edith Stein nachweisen lassen, allerdings systematisch und großflächig durchgeführt.  Ebd.: 130.  Ebd.  Vgl. Plessner 2003a: 280

1.2 Die ontisch-ontologische Zweideutigkeit des Psychischen

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Fachmann, der an der leichten Form der Beweisführung begreiflichen Anstoß nimmt, sei bemerkt, daß jene Partien einer Philosophie des Psychischen im vierten Kapitel allerdings neuartig sind, doch ihre ausführliche Begründung dort nicht finden konnten.“²⁴ Was Plessner hier als das Neuartige benennt – neuartig in der Durchführung, die Prominenz des Begriffs geht wiederum auf Scheler zurück –, die „Philosophie des Psychischen“, wird in der ein Jahr nach den Grenzen erschienenen Deutung des mimischen Ausdrucks vertieft und als „Ontologie des Psychischen“ bezeichnet. In den Grenzen der Gemeinschaft beschränkt die ontologische Bestimmung der Psyche sich auf deren wesenhafte Zweideutigkeit, allerdings wird diese Bestimmung in komplexer und vielschichtiger Weise ausbuchstabiert. Bei aller gebotenen Kürze darf ein Aspekt des Psychischen in den Grenzen hier nicht übergangen werden: Aufgrund seiner ontischen und ontologischen Zweideutigkeit ist dem Psychischen eine konstitutive Dynamik eingeschrieben, die es bei keiner erreichten Identität verweilen oder heimisch werden lässt. Sowohl im Ausdruck des Psychischen als auch im Urteil über das (zum Ausdruck gelangte) Psychische geschieht unweigerlich etwas, was Plessner Vereinseitigung und Festlegung nennt²⁵ und das Psychische aufgrund seiner Wesensverfasstheit in die Aufhebung derselben treibt. In dieser Bewegung flüchtet das Psychische nicht vor seinem Wesen, sondern es vollzieht sein Wesen, indem es, zu einer manifesten Ausdrucksgestalt gelangend, zum Anderen seiner selbst strebt. Das Andere ihrer selbst ist das, was die Vereinseitigung im Ander(e) swerden aufhebt, dabei aber eine neue schaffen muss. Plessner nennt diese Zweideutigkeit auch die „dialektische Dynamik des Psychischen“.²⁶ Was Plessner – das sei hier weit vorausgreifend angemerkt – mit dieser dialektischen Dynamik des Psychischen und der immer wieder neu sich entwindenden antithetischen bzw. antagonistischen Bewegung umreißt und was in keiner finalen Versöhnung zum Stillstand zu bringen ist, ist nichts weniger als eine gebietsspezifische Vorwegnahme von Adornos negativer Dialektik, als deren Grundbe-

 Ebd.: 12.  Vgl. ebd. 64 und 71, insbesondere aber 63.  „So ist der Mensch in den Antagonismus von Realitätstendenz und Illusionstendenz hineingezogen, ohne ihm entfliehen zu können noch je zu wollen, und diese Antithetik, weit entfernt, von unserer ästhetischen oder gar nur künstlerischen Einstellung zur Welt abhängig zu sein, gehört zur Natur des Psychischen, ja bringt sie vielleicht auf einer noch tieferen Stufe zum Ausdruck als die Antagonismen von Naivität und Reflexion, von Schamhaftigkeit und Eitelkeit. Vielleicht, wir wagen nur anzudeuten, wurzelt die dialektische Dynamik des Psychischen unter den Aspekten ihrer praktischen Bestimmung und ihrer Erkenntnis in der ästhetisch noch am reinsten faßbaren zum Antasten verlockenden Unantastbarkeit.“ (ebd.: 68) – Vgl. außerdem ebd.: 66, 84, 94.

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1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

griff bei Plessner der – gleichwohl nur an einer Stelle verwendete – Begriff des „Ungrundcharakter[s] der Psyche“²⁷ angesehen werden könnte.

1.3 Deutung des mimischen Ausdrucks (1925) In Die Deutung des mimischen Ausdrucks benennt Plessner als Problem, dass „im Ausdrucksund Deutungsproblem biologische, psychologische und erkenntnistheoretische Fragen liegen“,²⁸ die „bisher in erkenntnistheoretischen Einteilungen vielleicht nicht untergebracht werden konnten und durch methodologische Vorerwägungen zerredet wurden“;²⁹ Plessner hingegen geht es darum, am Phänomen anzusetzen, „wie es im vorproblematischen Leben da ist“.³⁰ Das „vorproblematische“ Leben ist das der unmittelbaren, von keinen theoretischen Prämissen, Annahmen oder Erwartungen überformte Leben der unmittelbaren Anschauung: „Hat sie [die phänomenologische Anschauung – S. E.] also sorgsam darauf zu achten, die Nähe zur Sache sich nicht durch Theorien über die Sache, und mögen sie noch so viel wissenschaftlichen Wahrheitsgehalt besitzen, verderben zu lassen, so darf sie doch nicht in der Freude der Anschauung verlorengehen“,³¹ sondern muss „von den anschaulichen zu den erschaubaren Tatbeständen, den Wesenheiten“³² voranschreiten. Verortet wird diese Art der Anschauung in der Schicht des Verhaltens als einer Sphäre psychophysischer Indifferenz: „In solcher psychophysisch neutralen oder gegen eine derartige Antithese noch gleichgültigen Schicht leben wir selbst als Leibwesen wie auch die Tiere.“³³ In dieser Schicht des Verhaltens nehmen wir zunächst wahr, dass andere Wesen als belebte auch wahrnehmen, ohne zu erfassen, was sie wahrnehmen; letzteres zu ermitteln, weist Plessner der empirischen Forschung als Aufgabe zu: „Was das Tier sieht, hört, riecht und ob es das überhaupt kann, ermittelt in allen Zweifelsfällen das Experiment. Aber daß es […] in der Weise des Hörens, Sehens usw. die Umgebung dann gegenwärtig hat, ist mir in der anschaulichen Vergegenwärtigung der Leibumweltrelation deutlich.“³⁴ Plessner bezeichnet es als „merkwürdig, daß die eigentlich unsichtbaren Verhältnisweisen von Leib und Umgebung anschaubar

       

Ebd.: 62. DmA: 75. Ebd. Ebd.: 76. Ebd. Ebd. Ebd.: 80. Ebd.: 81.

1.3 Deutung des mimischen Ausdrucks (1925)

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sind“,³⁵ muss aber bei diesem Faktum der Anschauung verweilen, will er nicht den Boden der Phänomenologie verlassen und den einer empirisch-kausalen Theorie der Wahrnehmung betreten.³⁶ Als Beispiele für solche „Verhältnisweisen von Leib und Umgebung“ nennt Plessner „Suchen und Finden, Drohen und Fliehen“³⁷. Bei der Wahrnehmung solcher Phänomene handelt es sich für Plessner um Beispiele der „einfachste[n] Wahrnehmung des Lebendigen, dem wir darum noch kein Seelisches und noch kein Körperliches im Reduktionssinne der exakten Psychologie und Physiologie unterlegen müssen“.³⁸ Obwohl das in solcher Weise anschaulich Gegebene in psychophysischer Indifferenz als reines Ausdrucksbild gegeben ist, so ist es dennoch nicht semantisch indifferent; es ist nicht so, dass in der Anschauung nicht unterschieden wird, vielmehr wird gerade in ihr und nicht durch sie oder von ihr als hermeneutischer Grundlage aus unterschieden. Deshalb bestimmt Plessner die Bilder der Anschauung als Ausdrucksbilder: Ausdruck als sinnerfülltes Bild hat Seinswert, Handlung als sinnerfüllende Bewegung hat Funktionswert. […] Im Ausdruck erscheint der Sinn, und das Phänomen, die Gestalt wird selbst transparent, indem wir ihn verstehen. Das […] liegt in der Auffassung des Bildes als eines Symbols für den Sinn begründet. Die in der Schicht des Verhaltens selbst mitgegebene Sinnhaftigkeit wird hier, so wie sie da ist, konkretisiert und festgehalten und in der Erscheinung als ihrer plastischen Ausprägung objektiviert […].³⁹

Im Ausdruck erscheint der Sinn, weil es sich um kein zeitliches Verhältnis handelt, in welchem erst der Ausdruck und danach, d. h. im Durchgang durch eine nachträgliche Interpretation, der Sinn desselben erst sich einstellte. Im Ausdruck ist zu unterscheiden von: in der Erkenntnis ⁴⁰ des Ausdrucks, welche das unmit-

 Ebd.  Über die Unmöglichkeit, phänomenologisch über die Phänomenologie hinauszugelangen, sagt Plessner in Die Deutung des mimischen Ausdrucks: „Läßt phänomenologisch Gefundenes auch keine weitere Erklärung zu, so hat die Philosophie immer die Aufgabe, zu den Urphänomenen weiterzustreben, was allerdings auf rein phänomenologische Weise nicht mehr gelingt.“ (ebd.: 76) Wenig problematisch ist diese Begrenztheit, wo es darum geht, eine Methode überhaupt erst einmal zur Durchführung zu bringen statt von vornherein auf ihre Grenzen zu verweisen mit dem großartigen Gewinn, ihren Nutzen gar nicht erst ermitteln zu können. Wenig erstaunlich ist deshalb, dass die Plessner in den Stufen eine mehrstufige Methodik entwickelt, deren erste Stufe die phänomenologische Deskription bildet.  Ebd.: 81.  Ebd.  Ebd.: 91.  Die Einführung eines epistemologischen Subjekts würde die natürliche bzw. unmittelbare Anschauung zerreißen und drohte „den ‚Sinn‘ ganz ins psychologische oder erkenntnistheoretische Subjekt zu verlegen“. (ebd.: 88) Es geht also nicht darum zu behaupten, es bestünde keine

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1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

telbare Verständnis des Bildes nochmals interpretativ überformt und zudem das psychologische oder epistemologische Subjekt genau derjenigen Erkenntnistheorie einführt, deren Voraussetzungen hier suspendiert werden. Daher spricht Plessner auch von einer „ursprüngliche[n] Identität von Anschaulichkeit und Verständlichkeit“.⁴¹ Plessner will damit nicht die Interpretation komplexen Ausdrucksgeschehens vereinfachen, als wäre jegliches Ausdrucksbild per se unproblematisch und nicht irrtumsanfällig; vielmehr geht es darum, phänomenologisch festzuhalten, dass in der Sphäre der Ausdrucksbilder elementare Unterschiede sich sinnhaft manifestieren, die nicht durch nachträgliche theoretische Unterscheidungen analytisch erschlossen werden müssen. Exemplarisch führt Plessner den Unterschied zwischen Verhalten und bloßer Bewegung⁴² an: „Man wird sich diese anschauliche Einsicht auch so vergegenwärtigen können, wenn man sagt, daß wir primär Tiere und Menschen als ‚sich verhaltende‘ und nicht als bloße Bewegungen ausführende Lebewesen wahrnehmen.“⁴³ Plessner definiert diese Differenzierung am Beispiel des Hundes: „Daß der Hund an mir emporspringt, ist objektiv konstatierbar; daß er mich freudig begrüßt, ist mir in seinem Gebaren als Richtungsform deutlich.“⁴⁴ In dieser Unterscheidung spiegelt sich die zwischen naturwissenschaftlicher und „naiver“ bzw. phänomenologischer Weltauffassung wider: „So würde ein ‚unmenschlicher‘ Physiologe das Verhalten der Tiere und des Menschen bestenfalls als gestaltmäßige Abläufe erfassen […]. Und doch hat der Mensch außerdem die Fähigkeit, in dem Verhalten der Lebewesen den Sinn, d. h. das Motiv in der Gestalt wahrzunehmen.“⁴⁵ Wieder ist hier die Präposition „in“ von Bedeutung: In der Gestalt ist das wahrnehmbar, worauf nicht von der Gestalt her geschlossen zu werden braucht. Die Ausdrucksgestalt ist daher in sich gerichtet, sie ist in sich intentional im Unterschied zur Handlung, die auf ein vermitteltes Ziel bezogen ist: Indem sich Handlung auf ein Ziel bezieht, einer Endphase als ihrer Erfüllung zustrebt, schreitet sie sukzessiv vorwärts, in jedem Moment sich verändernd. Macht man von einer Handlung eine Momentphotographie, so zeigt das Bild, das nur eine Durchgangs-phase

epistemische Relation, sondern darum die epistemische Relation in analytisch verdinglichte begriffliche Einheiten zu zerlegen, welche der naiven Anschauung äußerlich sind.  Ebd.: 83.  In einem zur Differenz zwischen Belebtem und Unbelebtem querstehenden Beispiel wendet Plessner den Sinnbegriff auf das seinerzeit beliebte Beispiel der Melodie an: „Eine Melodie ist eine Gestalt auch für den Unmusikalischen. Der Musikalische aber erfaßt außer der Gestalt noch etwas Wesentliches, was in der Melodie selbst drinsteckt, nämlich ihren ‚Sinn‘.“ (ebd.: 85)  Ebd.: 82.  Ebd.  Ebd.: 85.

1.3 Deutung des mimischen Ausdrucks (1925)

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repräsentiert, nicht einmal den Charakter der Verständlichkeit. Ganz anders der Ausdruck. Er hat sein Ziel in sich, erfüllt sich an sich selbst, ist seinem Wesen nach auf nichts zweckmäßig eingestellt.⁴⁶

Zerlegt man den Ausdruck künstlich in einzelne Bewegungssegmente, so verliert er in der zeitlichen Entwicklung nach Plessner seinen Ausdruckswert nicht: „Im Unterschied zur Handlung ist an jedem zeitlichen Abschnitt einer reinen Ausdrucksbewegung (Lachen, Weinen usw.) der ganze Sinn am Bilde deutlich.“⁴⁷ Der Ausdruck ist die Elementargestalt alles Lebendigen; im Ausdruck zeigt sich die Fundamentaldifferenz zwischen Lebendigem und Unbelebtem. Die Gestalt, die sich im Ausdruck manifestiert, ist eine Ganzheit, nicht ein bloßes Ding: „Im Ausdruck wird ein Ganzes manifest und in dieser Manifestation ruht der lebendige Träger des Ausdrucks.“⁴⁸ Wendet man sich konkret dem Problem des mimischen Ausdrucks zu, so stellt sich das Problem des Fremdpsychischen, in der klassischen Phänomenologie zumal, unweigerlich. Plessner lässt sich auf bewusstseinsphilosophische Aporien und die verzweifelten argumentativen Winkelzüge, mittels deren man sie zu bewältigen sucht, gar nicht erst ein. Die Realität des anderen Ichs ist demzufolge nicht der Gegenstand der Untersuchung, „sondern ihre Voraussetzung; und nicht bloß eine methodologische Hypothese, sondern eine in der Struktur der menschlichen Sphäre, der Schicht menschlichen Verhaltens gegründete anschauliche Notwendigkeit und Gewißheit“⁴⁹. Mit dieser Voraussetzung knüpft Plessner an Schelers Kritik von Theorien des Fremdpsychischen an, die sich gegen Theorien richtet, welche das Wahrgenommene substanzialistisch verdoppeln: „Er bestreitet ihre Voraussetzung einer maskenhaften Natur der Bilder, in denen der andere uns erscheint, und bejaht die Möglichkeit einer direkten Wahrnehmbarkeit des Psychischen in (und nicht ‚hinter‘) den Bildern.“⁵⁰ Darin, dass Plessner diesen Schachzug als Schelers „eigentliches Verdienst“⁵¹ bezeichnet, zeigt sich der

 Ebd.: 90.  Ebd.: 91.  Ebd.: 94.  Ebd.: 117.  Ebd.: 118. – Plessner gibt an anderer Stelle ein konkretes Beispiel, welches die Differenz plastisch werden lässt: „Wenn man sagt: ich sehe ihm an, daß er sich schämt, daß er bereut, wütend ist, sich grämt, so heißt das nicht, daß mir das Sein und die Weise seines Scham-, Reue-, Zorn-, Gramerlebens gegeben ist, sondern nur, daß die spielenden Formen seines Verhaltens gegeben sind, die in bezug zur Umgebung eine bestimmte Haltung festlegen.“ (ebd.: 123) – „Hinter“ dem Verhalten liegt, was über dessen dessen sinnhaftes Gegebensein hinaus als real existierend behauptet wird, „im“ Verhalten liegt, was im Verhalten als solchem sich zeigt.  Ebd.

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1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

massive Einfluss Schelers auf die gesamte methodische Anlage von Plessners Schrift. Scheler habe, so Plessner, „einen Weg gewiesen, wie die verständnistheoretische Lösung zu erarbeiten ist, indem er das eigene und das fremde Seelische in prinzipiell gleicher Weise für zugänglich erklärt“.⁵² Plessner kritisiert Scheler dennoch wegen der Einführung des Begriffs der „inneren Wahrnehmung“,⁵³ mit welchem das „in den Bahnen äußerer Wahrnehmung laufende Innewerden des Anderen selbst als ein Wahrnehmen angesprochen“⁵⁴ werde. Der Begriff der „inneren Wahrnehmung“ ist nach Plessner mit zwei Fehlern behaftet: Den ersten hat die Untersuchung schon diskutiert: das Psychische darf keine Lokalisation erfahren. Die Annahme, daß die Reflexion auf Erlebnisse, die sogenannte Selbstbeobachtung, nach innen führt, begeht den Irrtum, die Binnenordnung des eigenen Körpers zu dem Ort zu machen, in welchem das Ineinander der Erlebnisse ihr Entstehen und Vergehen hat.⁵⁵

Die Verräumlichung der Erkenntnisrelation und die Lokalisierung der epistemischen Glieder dieser Relation bildet den klassischen Geburtsfehler der Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt, in welcher beide einerseits verdinglicht, andererseits voneinander durch eine Kluft getrennt und damit gegeneinander isoliert werden. Das Objekt ist für das Subjekt immer das Andere, immer draußen, und selbst unter idealistischen Voraussetzungen niemals wirklich drinnen. Mit der Verräumlichung der am Modell der Wahrnehmung orientierten Erkenntnisrelation beginnt die Sisyphus-Aufgabe zu versuchen, dem Ortlosen einen Ort zu geben, eine komplexe Gesamtrealität in verdinglichten Realitätselementen unterzubringen. Unter solchen Voraussetzungen kann man Plessner zufolge auch der Realität der für die Schicht des Verhaltens und das in ihr gewonnene Ausdrucksverstehen Leib-Umwelt-Relation nicht gerecht werden: „Der Leib ist nicht darum Leib, weil er von innen her durchfühlbar und impulsiv beherrschbar ist, sondern weil er eine Umwelt hat, auf welche er, die auf ihn einspielt.“⁵⁶ Plessner nennt dieses gegensinnige Aufeinander-gerichtet-Sein die „Umweltintentionalität des Leibes“,⁵⁷ die als „Ausdruck der Sphäre des Verhaltens […] die Seins- und Anschauungsform der tierischen und menschlichen Körperleiber“⁵⁸ sei und sich „wie eine Anschauungsform […] weder dem Objekt noch dem Subjekt zuteilen [lasse], sondern

      

Ebd. Ebd.: 119. Ebd. Ebd.: 121. Ebd.: 121 f. Ebd.: 122. Ebd.

1.3 Deutung des mimischen Ausdrucks (1925)

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[…] durch ihre subjekt-objektive Indifferenz die Einheit der Erfahrung mit den Gegenständen der Erfahrung“⁵⁹ garantiere. Resümierend formuliert Plessner drei Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Erklärung des Ausdrucksverstehen möglich sei: Die Erscheinung des Ausdrucksverstehens läßt sich einwandfrei nicht erklären, wenn nicht die Realitätsfrage fremder Subjekte scharf von der Frage nach der Sinndeutung des Gebarens dieser fremden Subjekte geschieden wird; wenn zweitens nicht das Wesen der Leiblichkeit im deutlichen Abstand zur objektiven und physischen Körperlichkeit tritt; wenn drittens nicht der Leib von jeder Vermengung mit Psychischem freigehalten und die Binnenlokalisierung des Psychischen im Leibe als unsinnig durchschaut wird.69

Gegen Scheler besteht Plessner in stringent phänomenologischer Manier auf der sinnlichen Gegebenheit des Anderen, ohne diese sinnliche Gegebenheit zum Anlass zu nehmen, einen Begriff der „inneren Wahrnehmung“ einzuführen, der in die dritte Aporie, die der „Binnenlokalisierung des Psychischen“, hineinführen muss, auch wenn die erste Aporie (der substanzialisierenden Verdoppelung) vermieden wird. Was Plessner mit der Erfüllung der drei genannten Kriterien glaubt errichten zu können, sind die „Fundamente einer Ontologie des Psychischen ohne die Annahme eines inneren Sinnes, einer inneren Wahrnehmung, in welcher Psychisches erfaßt werden soll“.⁶⁰ Die Fundamente sind, vergegenwärtigt man noch einmal die Formulierungen am Anfang der Schrift, genau genommen eher die Voraussetzungen einer solchen Ontologie, da vom in der Sphäre des Verhaltens phänomenologisch Gefundenen aus der Weg zur Erkenntnis der Wesenheiten zu nehmen sei und nicht bereits mit dem phänomenologisch Gefundenen zugleich die Erkenntnis der Wesenheiten gegeben ist sondern nur ein Verständnis (und ggf. Nicht-Verständnis als dessen defizienter Modus) des jeweils gegebenen Ausdrucksgeschehens. Die Schicht bzw. Sphäre des Verhaltens ist dabei nicht als selbstgenügsam gedacht, sondern als ihren Fluchtpunkt nennt Plessner „den großen Fragenkomplex der Mitwelt“, ⁶¹ in welche die „Ontologie des Psychischen“ einmünden müsse aufgrund der Tatsache, dass im Bereich des Psychischen das Faktum der „Überindividualität und Intersubjektivität“⁶² desselben sich unweigerlich aufdrängt. Der Fluchtpunkt der Ontologie des Psychischen liegt also nicht innerhalb des Psychischen, sondern in der Mitwelt, die

   

Ebd.: 124 f. Ebd.: 127. Ebd.: 128. Ebd.

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1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

Plessner daher als „Konstitutionsform“⁶³ bezeichnet. Als „Konstitutionsform“ kann die Mitwelt nur fungieren, weil Elemente dessen, was sinnlich-bildhaft gegeben ist, der Modalität nach zugleich Elemente des Psychischen sind und diese Elemente einer gemeinsamen Form- und Funktionsgesetzlichkeit (die sich freilich im Physischen anders ausprägt als im Psychischen) unterstehen: der Gesetzlichkeit der Sphäre des Verhaltens. ⁶⁴

Die Ontologie des Psychischen kann demnach nur eine Regionalontologie sein, weil das Psychische keinen Bereich reiner Immanenz bilden kann, sondern einen aufgrund der ihm als formgesetzliches Bestimmungsmoment inhärierenden ‚in sich sinnhaft gegebenen‘ Intersubjektivität einen irreduziblen Doppelcharakter annimmt. Damit ist ein Übergang zu den Stufen vorbereitet, der mehrere Fragen offenlässt: (1) Wird in den Stufen die Philosophische Anthropologie als eine Ontologie entwickelt, die verschiedene Regionalontologien, u. a. die genannte Ontologie des Psychischen, in sich integriert? (2) Wird am affirmativen OntologieBegriff überhaupt festgehalten? (3) Bestätigt sich in Bezug auf die Stufen, was Heidegger aller philosophischen Anthropologie vorhält, nämlich im Ganzen bloß eine Regionalontologie der Natur zu entwickeln? – Unabhängig von der Beantwortung dieser Fragen, die im vierten Kapitel der Arbeit aufgegriffen werden, bleibt festzuhalten, dass Plessners großangelegte methodische Vorarbeit, die in den Stufen systematisch weiterentwickelt wird, jedenfalls den Begriff und, ohne im globalen Rahmen sich programmatisch zu geben, das Projekt einer Ontologie nicht aufgibt, sondern sich ihm immer noch verpflichtet sieht und es als Vorarbeit zu ihrer Ausarbeitung begreift. Dass es sich bei dieser von Plessner anvisierten „Ontologie des Psychischen“ nicht um eine Ontologie im klassischen Sinne handeln kann, zeigt seine Kritik an Ludwig Klages, in welcher ein zweiter, negativ besetzter Begriff von Ontologie Verwendung findet. Plessner hält Klages vor, „zuerst in der Betrachtung des Psychischen zu verweilen und daraus dann die physische Ausdruckserscheinung herzuleiten“,⁶⁵ indem er behaupte, dass in jeder Ausdrucksbewegung eine seelische Regung Gestalt erlange.⁶⁶ Die Differenz zwischen „in“ und „hinter“ kehrt hier wieder, das Seelische, das im Ausdruck Gestalt annimmt, liegt hinter dem Ausdruck, ihm kommt ein eigenes Sein zu. Die Differenz zwischen Ausdruck und Handlung wird aufgehoben, der Ausdruck nimmt den Charakter einer Handlung

   

Ebd. Ebd.: 129. Ebd.: 103. Vgl. ebd.

1.3 Deutung des mimischen Ausdrucks (1925)

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an, weil das Seelische im Ausdruck sich intentional und zielgerichtet realisiert⁶⁷ und Intentionalität somit die „ursprüngliche Einheitsschicht des Lebens“⁶⁸ durchschneidet, die sich nach Plessner durch eine „untrennbare Verschmolzenheit von Erscheinung und Sinn“⁶⁹ auszeichnet. Plessner bezeichnet diese Position als „realsymbolistisch“⁷⁰. Im Realsymbolismus müsste Plessner zufolge „das Spiel von Kundgabe und Kundnahme im mimischen Ausdruck mit Hilfe vorverständlicher Urbilder oder Ideen sich entfalten“;⁷¹ in Bezug auf das Problem der Intersubjektivität bedeutet dies, dass „die Fremdwahrnehmung in der Überbrückung zweier einander gegenüberstehender Sphären bestünde“.⁷² Wo das Seelische real ist, ist jeglicher Ausdruck Symbolisierung dieses Realen und jede Differenz zwischen Personen an die zwar füreinander, aber realiter unabhängig voneinander und durch die Sphäre der Wahrnehmung getrennten und somit letztlich gegeneinander isolierten Seelen gebunden und in dieser Differenz fundiert. Im Ausdruck exponiert sich dann Seelisches; es kann sich real, d. h. in seiner Substanzialität, zum Ausdruck bringen, und es kann in dieser Substanzialität erkannt werden. Über diesen Realsymbolismus Klages’ sagt Plessner: „Bei ihm allerdings kommt der Realsymbolismus nicht aus Schwäche der Methode, sondern ist ganz zutiefst das Fundament seiner Ausdruckslehre, ist seine Erkenntnistheorie und Ontologie.“⁷³ Plessner operiert hier mit einem anderen, negativ konnotierten Begriff von Ontologie, der als neoklassisch, weil substanzialistisch bezeichnet werden kann. In dieser Auffassung von Ontologie wird das phänomenologisch Gefundene ontologisch unterbaut, das in der Anschauung sinnhaft Gegebene auf eine hinter der Anschauung liegende und in ihr bloß zum Ausdruck kommende Entität zurückgeführt. Die beiden Ontologie-Begriffe unterscheiden sich vor allem in ihrem Verhältnis zur Phänomenologie: Die Fundamente der „Ontologie des Psychischen“ werden strikt phänomenologisch entwickelt, ohne die anschaulich gegebene Sphäre des Verhaltens zu verlassen, in deren Betrachtung Plessner selbstgenügsam verweilt, wohingegen die Klages’sche Ontologie die Kluft zwischen Erscheinung und Sein wieder aufreißt, indem sie die Erscheinung zum Sprungbrett zum ontologisch Entscheidenden und Substanziellen, der Realität der Seele, macht.

      

Vgl. ebd.: 108. Ebd.: 105 Ebd. Vgl. ebd.: 102 und 105. Ebd.: 109. Ebd.: 110. Ebd.: 102.

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1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

1.4 Der Ontologie-Begriff in Die Stufen des Organischen und der Mensch 1.4.1 Plessners Kritik von Ontologisierungen Die Ambivalenz in der Stellung zur Ontologie, die in Die Deutung des mimischen Ausdrucks zum Vorschein kam, bleibt in den Stufen 1928 präsent. Dabei zeigen sich hier zwei Hauptmotive von Ontologie-Kritik, die sich zum einen am Begriff der „Ontologisierung“, zum anderen an der Kritik des cartesianischen Alternativprinzips von Ausdehnung und Innerlichkeit samt seinen Abwandlungen und Folgen festmachen lassen. Mit dem Begriff der Ontologisierung schließt Plessner motivisch an seine in Die Deutung des mimischen Ausdrucks entfaltete Kritik an Ludwig Klages an; seinen Ort findet der Begriff in der Kurzdarstellung des methodischen Ansatzpunktes der Stufen, wo Plessner die phänomenologische Deskription als methodischen Baustein seiner Hermeneutik der Natur einführt und sie der Direktive unterstellt, sich „von jeder Ontologisierung des Erschauten freizuhalten“.⁷⁴ Erschautes und Erschaubares unterscheidet Plessner vom Gegebenen anhand der Unterscheidung zwischen Ganzheit (ausschließlich Erschaubares) und Gestalt (ausschließlich Gegebenes).⁷⁵ Die Komplementärdifferenz zu der zwischen Gestalt und Ganzem ist die zwischen der räumlichen Begrenztheit des Körpers und der von ihm realisierten Grenze.⁷⁶ Die räumliche Grenze, die dem Körper als physischer Übergang zwischen ihm selbst und dem an ihn angrenzen Medium angehört, meint die Grenze der Gestalt. Über den derart begrenzten Körper sagt Plessner, dass „das Zu-Ende-Sein des Einen der Anfang des Andern ist“.⁷⁷ Davon unterscheidet Plessner die dem Körper reell angehörende Grenze, welche der Körper „in seiner Begrenzung vollzieht“.⁷⁸ Diese Grenze markiert keinen Übergang, der räumlich im Sinne des Ziehens von Linien feststellbar wäre, wie bei einer geometrischen Gestalt, sondern sie ist nach Plessner „dieser Übergang selbst“,⁷⁹ als dieser jedoch wiederum notwendig an Gestalt gebunden.⁸⁰ Es gibt also Gestalten, die eine nur geometrische Grenze haben, „die eigentlichen

      

SOM: 23. Vgl. ebd.: 118 ff. Vgl. ebd.: 103 ff. Ebd.: 103. Ebd. Ebd. Vgl. ebd.: 120.

1.4 Der Ontologie-Begriff in Die Stufen des Organischen und der Mensch

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Gegenstände der Wahrnehmung“,⁸¹ und Gestalten, die eine sowohl geometrische als auch eine ihnen selbst angehörende Grenze haben, wobei letztere nur erschaubar ist und nicht erscheint.⁸² Bei Erscheinendem vom Ordnungstypus der Ganzheit finden sich konstitutive Wesensmerkmale des Lebendigen, die im Unterschied zu bloß indikatorischen⁸³ Wesensmerkmalen das „wirkliche Vorhandensein eines Lebendigen („wirklich“ nicht im Sinne der Kriterien der empirischen Naturwissenschaft, sondern im Sinne der Anschauung) phänomenal verbürg [en]“.⁸⁴ Die konstitutiven Wesensmerkmale machen die Differenz zwischen unbelebten Körpern (bloßen Dingen) und belebten Körpern (im Raum sich bewegenden Organismen) aus, die Plessner schon in Die Deutung des mimischen Ausdrucks auf phänomenologischer Ebene getroffen hat. Die Differenz ist jedoch eine von Ordnungstypen, nicht von Seinstypen: „Der Ordnungstypus der Ganzheit gehört zur Klasse der nur erschaubaren Gehalte.“⁸⁵ Weil es sich beim Ordnungstypus der Ganzheit um einen bloß erschaubaren, an die Wahrnehmung gebundenen, nicht aber selbst in der Wahrnehmung gegebenen und daher nicht darstellbaren Gehalt handelt, darf dieser „den Fortgang der die Biologie bildenden Erfahrung nicht bestimmen, da er sich jeder Feststellung entzieht“.⁸⁶ Eine Ontologisierung solcher in der phänomenologischen Deskription sich gebenden Unterschiede würde z. B. dann bestehen,wenn der Ordnungstypus der Ganzheit strikt vom Ordnungstypus der Gestalt geschieden würde, wenn also beispielsweise Ganzheiten als beseelte Wesen den Gestalten als bloßen Dingen als jeweils an sich wesensverschiedene statt als anschaulich sich unterscheidende Entitäten gegenübergestellt würden. Die phänomenologische Differenz zwischen Ordnungstypen würde dann kurzerhand zu einer ontologischen Differenz zwischen Wesenstypen gemacht werden mit dem Folgeproblem, dass innerhalb des Bereichs belebter Wesen alle Lebewesen als beseelt, weil dem Ordnungstypus der Ganzheit angehörend, aufgefasst werden müssten. Die Differenz zwischen verschiedenen Arten von Lebenswesen müsste dann von verschiedenen Stufen bzw. Arten von Beseeltheit her erklärt oder durch zusätzliche Vermögen wie das der Geistigkeit erklärt werden; alle diese Differenzierungen wären jedoch von der Phänomenologie insofern losgelöst, als sie erst nachträglich über äußerliche Zuordnungen

 Ebd.  Vgl. ebd.  Bei indikatorischen Wesensmerkmalen handelt es sich um solche, die „Leben verraten und auch dort vortäuschen, wo der Bewegungsträger unbelebt ist (Papierschlange z. B.)“ (ebd.: 115). Charakteristisch für sie ist also ihre Täuschungsanfälligkeit und daher ihr Als-ob-Charakter.  Ebd.  Ebd.: 120  Ebd.

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1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

von Vermögenstypen vorgenommen werden müssten, die wiederum in die Phänomentypen als deren Wesenskern hineinprojiziert werden müssten. Zudem würde eine solche Vorgehensweise eine Parallelität von Seinsbereichen voraussetzen wie etwa diejenige der Klages’schen Zuordnung des Seelischen zum Ausdruck. Es müsste also, um die phänomenologische Unterscheidung als ontologische behaupten zu können, ein Wissen bereits vorhanden sein, welches die phänomenologische Unterscheidung überhaupt erst ermöglichen soll. Daher gibt Plessner die Maxime aus: „Man sollte nie direkt aus phänomenologischen Sachverhalten in ontologische Aussagen übergehen. Das Sein, das erscheint, ist zwar auch Sein, aber nicht das ganze Sein, wie es an ihm selbst und ihm selbst weset und ist.“⁸⁷ Was Plessner mit Ontologisierung des Erschauten meint, ist somit der kurzschlüssige (dualistische) und übereilte Übergang von in der Anschauung sich gebenden Unterschieden zu den Wesensunterschieden nach getroffenen Einteilungen der Realität. Übergang und Projektion sind die beiden gegenstrebigen Kategorien, mit denen sich der Vorgang der Ontologisierung angemessen erfassen lässt: Im Übergang wird der Weg von der Sphäre des Verhaltens in der direkt erfahrenen Lebenswelt in den Bereich des Ontologischen vorschnell vollzogen, in der Projektion wird die ontologische Einteilung in den Phänomenbereich nachträglich hineingetragen unter der wichtigen Maßgabe, im Phänomenbereich überhaupt erst vorgefunden zu werden.

1.4.2 Plessners Kritik des cartesianischen Alternativprinzips als grundsätzliche Ontologie-Kritik? Die Vermutung liegt auf der Hand, dass eine Kritik des cartesianischen Alternativprinzips von res cogitans und res extensa eine Kritik zumindest eines bestimmten ontologischen Modells darstelle. Beim ontologischen Status dieser Unterscheidung hält Plessner sich jedoch nicht lange auf, sondern richtet seinen Blick auf die epistemologische Transformation dieser Unterscheidung: „Ursprünglich zwar ist die Scheidung alles Seins in res extensa und res cogitans ontologisch gemeint. Sie erhält jedoch von selbst eine methodologisch fortwirkende Bedeutung, die sie in gewissem Sinne der ontologischen Kritik entzieht.“⁸⁸ Die Fundamentalisierung der Unterscheidung zwischen res cogitans (Psyche,

 Ebd.: 126.  Ebd.: 39.

1.4 Der Ontologie-Begriff in Die Stufen des Organischen und der Mensch

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Innerlichkeit) und res extensa (Physis, Ausdehnung)⁸⁹ vollzieht sich also Plessner zufolge wesentlich im Bereich der Epistemologie; insofern ist prinzipiell denkbar, dass sie in einem ontologischen Modell zurückgenommen und einer Entfundamentalisierung unterzogen werden kann, sofern eine solche Ontologie keine klassischen Zuschnitts ist. In ihrer epistemologischen Abwandlung bezeichnet die Differenz zwischen res cogitans und res extensa nicht vorwiegend zwei Seinsbereiche, sondern zwei „ineinander nicht überführbare Erfahrungsrichtungen“.⁹⁰ Diesen gegensätzlichen Erfahrungsrichtungen entspricht eine gegensätzliche Fehlidentifikation: die Identifikation von Körperlichkeit mit Ausdehnung⁹¹ und die Identifikation von Ausdehnungslosigkeit mit Innerlichkeit.⁹² Um eine Fundamentalisierung handelt es sich bei dieser doppelten Fehlidentifikation, weil Physis und Psyche als lediglich in miteinander nicht vermittelbaren, spezifischen Perspektiven zugängliche Erfahrungsrichtungen definiert werden: Mit der Identifikation 1. von Körperlichkeit und Ausdehnung, 2. der ausschließlichen Alternative von Ausdehnung und Innerlichkeit (Denken, Bewußtsein), 3. der Identifikation von res cogitans und dem ‚Ich selbst‘ zeigt sich wesensverknüpft die Subjektivierung der qualitativen Seite des Physischen und die Vorgelagertheit des Selbst.

Mit der Fundamentalität dieser Alternative verbindet sich eine Fundamentalisierung der ihnen zugeordneten Wissenschaften. Der res extensa ordnet Plessner „die Fundamentalisierung der mathematischen Naturwissenschaft“⁹³ zu, der res cogitans die vom Primat der Subjektivität ausgehende philosophische Traditionslinie der Neuzeit, die sich auf den Begriff der Subjektphilosophie bringen lässt und als deren aufschlussreichste Gestalt Plessner Kants transzendentalen Idealismus⁹⁴ nennt: „Gleichgültig gegen ihre Wesensbestimmung, die bisher absichtlich offen gelassen wurde, übernimmt die res cogitans von selbst die Funktion des Subjekts.“⁹⁵ In der weiteren Ausbuchstabierung des Alternativprinzips nimmt die subjektive Sphäre den Charakter der Innenwelt an, die ausgedehnte Welt den der

 Plessner schließt sich dem allgemeinen Urteil an, wonach „es Descartes gewesen ist, der die Unter scheidung von physisch und psychisch (in einer allerdings etwas anderen Fassung) fundamentalisiert hat. Er erklärte den Unterschied von res extensa und res cogitans für prinzipiell und gab hm zugleich den Charakter einer vollständigen Disjunktion.“ (ebd.)  Ebd.: 41.  Vgl. ebd: 39 f.  Vgl. ebd.: 43.  Ebd.: 39.  Vgl. ebd.: 50.  Ebd.: 50.

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1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

Außenwelt; die Wahrnehmung zerfällt in innere und äußere Wahrnehmung,⁹⁶ wodurch die Innen- und Außenwelt „zu bloßen Unterschieden innerhalb des Bewußtseins“⁹⁷ werden. Die Frage nach der Verbindung von Innen- und Außenwelt gerät dann zum unlösbaren Rätsel: „Der Modus des Übergangs bleibt überhaupt notwendig unerkennbar.“⁹⁸ In der so zugespitzten begrifflichen Konstellation gewinnt der Begriff der Empfindung eine besondere Stellung, da die Empfindung weder auf Physisches noch auf Psychisches reduzierbar ist; sie gehört keiner der beiden Welten vollständig an: „Aus diesen Empfindungen baut sich die sinnlich anschauliche Welt auf, mein eigener Körper mit seiner Innerlichkeit ist darin einbegriffen“,⁹⁹ weshalb Plessner sie auch als „dem Unterschied von Akt und Gegenstand gegenüber neutral und subjektiv-objektiv indifferent“¹⁰⁰ bezeichnet. Ihres epistemologischen Status ungeachtet ist Empfindung aber immer eigene Empfindung; die Empfindung des anderen kann nicht empfunden werden, sondern nur in der Wahrnehmung gegeben sein, d. h. Teil der Außenwelt sein: „Fremdwahrnehmung von Psychischem bleibt ausgeschaltet, weil sie äußere Wahrnehmung ist, die nach dem Alternativprinzip nur auf Physisches geht.“¹⁰¹ Die im Alternativprinzip vollzogene Fundamentalisierung führt somit unweigerlich zur fundamentalen Abschließung der Menschen gegeneinander, was die Möglichkeiten gegenseitigen Verstehens betrifft. Der Weg zum Anderen führt nur noch über Analogieschlüsse oder die spekulative Projektion meiner selbst in den anderen. Genau diesen Weg zu gehen, hat Plessner in Die Deutung des mimischen Ausdrucks versucht, und genau mit diesem Problem setzt er sich hier wieder auseinander, allerdings unter anderen Vorzeichen. Hat Plessner in Deutung des mimischen Ausdrucks noch versucht, das Verhältnis zwischen Ausdruck und Psyche in der Klages’schen ontologischen Variante durch eine philosophisch fruchtbarere Konzeption dieses Verhältnisses zu ersetzen, so geht es hier nicht um das Problem der ontologischen Verdoppelung, sondern um das Problem der disjunktiven epistemologischen Gegenüberstellung von Erfahrungsrichtungen, das einer ontologischen Disjunktion von Seinsbereichen entsprungen ist.¹⁰² In der

 Vgl. ebd.: 55 f.  Ebd.: 57.  Ebd.: 58  Ebd.: 59.  Ebd.  Ebd.: 61.  Plessner spricht, die strenge Unterscheidung zwischen Epistemologie und Ontologie die Gestalt einer Komplizenschaft annehmen lassend, vom „ontologisch-gnoseologischen Dualismus

1.4 Der Ontologie-Begriff in Die Stufen des Organischen und der Mensch

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Deutung des mimischen Ausdrucks versuchte Plessner dem Problem mit einer Neuausrichtung der phänomenologischen Methode mittels ihrer Loslösung von den bewusstseinsphilosophischen bzw. idealistischen Prämissen zu begegnen, die Husserls Spätphilosophie kennzeichnen. In den Stufen geht es nun darum, einen gegenüber der bloßen Fundamentalisierung wirklich fundamentalen Ansatz in Anschlag zu bringen. Im Begriff der Fundamentalisierung liegt, dass etwas nicht Fundamentales für fundamental erklärt wird; die Fundamentalisierung ist Sache der undisziplinierten Erfahrung: „Es liegt im Wesen undisziplinierter Erfahrung, etwas so lange für fundamental zu nehmen, als es ihrem Fortgang die größten Sicherheiten und ihren Zusammenhängen den besten Anschauungshintergrund verschafft.“¹⁰³ Plessner stellt der Fundamentalisierung einen knapp, aber konzise gefassten positiven Begriff eines möglichen Fundaments entgegen: „Echtes Fundament trägt, ohne selbst getragen zu sein.“¹⁰⁴ Dieser Anforderung Genüge leisten könnten nach Plessner „Gesetze des Zusammenhangs zwischen Lebewesen und Welt, Gesetze der Eintracht, der Konkordanz und gleichursprünglichen Gestaltung […], die in der Wasform, der Wesensstruktur des Lebens begründet sind, material apriorische Gesetze also“,¹⁰⁵ die den „Wert von Kategorialgesetzen“¹⁰⁶ haben müssten, kurz: die Elementarkategorien von Leben überhaupt sowie der verschiedenen Lebensformen (Pflanze, Tier, Mensch). Die Fundamentalität eines solchen Kategorienarsenals liegt im Begriff der Kategorie selbst begründet: „Kategorie heißt im philosophischen Sprachgebrauch eine Form, die sich der Erfahrung fügt, die aber nicht aus der Erfahrung stammt“,¹⁰⁷ wobei Erfahrung die empirische (undisziplinierte), von partikularen Interessen geleitete Erfahrung meint, innerhalb welcher alle fundamentalen Fragen bereits entschieden sind; nach der „Wasform“ wird in ihr nicht gefragt, jedenfalls nicht im fundamentalen Sinne, sondern die „Wieform“ wird empirisch erforscht. Plessner nennt die Kategorien des Lebens, nach denen er fragt, auch „Vitalkategorien“ und bestimmt sie als das grundlegende Ziel seiner Untersuchung: „In der systematischen Begründung solcher Vitalkategorien liegt die Aufgabe einer philosophischen Biologie als Wissenschaft von den Wesensgesetzen des Lebens […].“¹⁰⁸

[…], der, falls er im Recht wäre, die Phänomene des Lebens negieren müßte und sie nur als Konglomerate physischen und psychischen Seins gelten lassen könnte“. (ebd.: 243)  Ebd.: 38.  Ebd.  Ebd.: 65.  Ebd.  Ebd.  Ebd.: 66.

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1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

Das Problem, das Plessner sich mit dem Desiderat der Vitalkategorien stellt, ist ein anderes als das, welches seine akademische Lehrer-Generation, d. h. die Schule des Neukantianismus, in Atem gehalten hat. Vitalkategorien sind keine Erkenntniskategorien, keine Kategorien des Subjekts, sondern Kategorien des Lebens, wie es sich im Ausgang von der phänomenologischen Deskription zeigt. Wie genau der Weg von der phänomenologischen Deskription zur Kategorienlehre des Lebens im Einzelnen zu nehmen sei, wird Gegenstand des vierten Kapitels sein. Zunächst ist vorrangig von Bedeutung, dass Plessner diese Umstellung der Orientierung von der Erkenntnistheorie zu „den Sachen selbst“, wie es in der gängigen phänomenologischen Losung heißt, als Wiederaufnahme einer prinzipiell ontologischen Problemstellung begreift: Sobald man natürlich die erkenntnistheoretische Orientierung der Kategorienlehre als einseitig und die wirkliche Weite der kategorialen Funktionen einengend erkannt hat, tritt das – am umfassendsten bisher in Hegels Logik aufgerollte – Problem des Zusammenhangs der Kategorien als ontologisches Problem [Hervorhebung, S. E.] auf.¹⁰⁹

An anderer Stelle spricht Plessner von der „Rückkehr zum Objekt“,¹¹⁰ mit welcher die „Wiederentdeckung des großen Problems der Ontologie“¹¹¹ einhergehe, das sich mit der „Konstituierung der Hermeneutik als philosophische Anthropologie, Durchführung der Anthropologie auf Grund einer Philosophie des lebendigen Daseins und der mit ihm in Wesenskorrelation stehenden Schichten der Natur“¹¹² stelle. In dieser Wiederentdeckung des ontologischen Problems, auf das Plessners Lehre von den Vitalkategorien zu antworten versucht, spiegelt sich Plessner zufolge „die seit dem endgültigen Durchbruch des wissenschaftlichen Erkennens reif gewordene Einstellung des Menschen zur Welt entgegen allen subjektivistischidealistischen Entwürfen“¹¹³ wider. Dass diese Wiederentdeckung des Problems der Ontologie „ihren zukunftsträchtigen Sinn, zugleich ihren Ort in dem hier entwickelten Programm“¹¹⁴ erhalte, ist beachtlich, wenn man bedenkt, dass die als Hermeneutik konstituierte Philosophische Anthropologie Plessner zufolge „jene Tradition fort[setzt], die von der Ontologie über Kants transzendentale Logik zu Hegels Logik und der modernen Kategorienforschung geführt hat – freilich indem sie gegen ihre letzten Prinzipien angeht“.¹¹⁵       

Ebd.: 113. Ebd.: 31. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.: 23.

1.4 Der Ontologie-Begriff in Die Stufen des Organischen und der Mensch

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Obgleich die Philosophische Anthropologie nicht direkt die ontologische Tradition fortsetzt, sondern die Traditionen, welche innerhalb der Moderne aus ihr erwachsen sind, steht sie der klassischen Ontologie jedoch insofern näher als der „modernen Kategorienforschung“, als die klassische Ontologie die Subjektivierung der Probleme des Seins in der paradigmatischen (kopernikanischen) Wendung zur Epistemologie nicht vollzogen hat. Der phänomenologische Ansatz will nicht den naiven Rückweg zur klassischen Ontologie samt deren realistischer Methodik nehmen, sondern gleichsam auf unpositivistische Weise positivistisch verfahren, indem sie dem Ontischen dem Primat vorm Ontologischen einräumt. Aufschlussreich ist hier eine Stelle aus einem Brief Plessners an König aus dem Jahr 1928: Und ich glaube, daß Sie – sicher nicht ganz mit Unrecht – mich zunächst so als Gegenspieler Heideggers sehen: kein Primat des Ontologischen vor dem Ontischen, sondern des Ontischen vor dem Ontologischen; darum quasi unbekümmerte Direktheit in der Wendung zur äußeren ‚Natur‘anschauung, bewußtes Überspringen des angeblich (und ja trotzdem auch wirklich) sich vorgelagerten Existenzsubjekts!¹¹⁶

Positivistisch ist an dieser Verfahrensweise, sich des Gegebenen umstandslos anzunehmen statt aus einem reflexiv vermittelten und operational in sich geschlossenen Bewusstsein heraus zu versuchen, zu ihm zu gelangen; unpositivistisch ist diese Verfahrensweise aufgrund der phänomenologischen Methodik, deren der logische Positivismus sich nicht befleißigt, für den, etwa in der naturphilosophischen Variante Hans Reichenbachs, das Verhältnis der empiristisch verstandenen Erfahrung¹¹⁷ zum Begriff maßgebend ist und Erkenntnis ein „von der Vernunft konstruiertes System darstellt“.¹¹⁸ Der von Plessner proklamierte Vorrang des Ontischen vorm Ontologischen meint keinen Wertvorrang, sondern ist als Maxime der phänomenologischen Gründlichkeit zu verstehen. Das Phänomen bildet den Ausgangspunkt, das Ziel bildet die Lehre von den Vitalkategorien,¹¹⁹ deren Problemzusammenhang  Plessner/König 1994: 176 f.  „Ebensosehr muß aber diese Naturphilosophie als ein Triumph des Empirismus angesehen werden, denn die Erfahrung wird als entscheidende Instanz für alle Wirklichkeitsaussagen festgehalten.Wird doch die Erfahrung sogar herangezogen, um die Geltung jener letzten Kategorien zu beurteilen, welche die ältere Philosophie a priori genannt hat.“ (Reichenbach 2011: 87)  Ebd.  Plessner marginalisiert zwar an einer Stelle die Bedeutung des Terminus „Vitalkategorien“: „An dem Ausdruck Vitalkategorie darf man sich nicht weiter aufhalten, an ihm ist nichts Besonderes gelegen“ (ebd.: 65), sagt aber im darauffolgenden Satz, dass, falls es „Gesetze des Zusammenhangs zwischen Lebewesen und Welt […] gibt, die in der Wasform, der Wesensstruktur des Lebens begründet sind, material apriorische Gesetze also“, sich auch nachweisen lasse, „daß sie

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1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

Plessner, wie gezeigt, als einen ontologischen auffasst. Es ist unter diesen Voraussetzungen nur konsequent, wenn Plessner in der „systematischen Begründung solcher Vitalkategorien […] die Aufgabe einer philosophischen Biologie als Wissenschaft von den Wesensgesetzen des Lebens“¹²⁰ erblickt – umso fragwürdiger erscheinen Aussagen Plessners in seiner Vorlesung Elemente zur Metaphysik aus dem Jahre 1931, in welcher das Projekt der Stufen noch einmal eine am stark am Problem des Bewusstseins orientierte Darstellung findet.

1.5 Die Vorlesung Elemente der Metaphysik (1931) In den einleitenden historischen Bemerkungen handelt Plessner das Verhältnis zwischen Metaphysik und Ontologie in unzureichender Kürze ab. Wichtig in unserem Zusammenhang sind die folgenden Ausführungen: Die Antike hat eine Metaphysik in unserem heutigen Sinne noch nicht gehabt. Erst nachdem durch ganz bestimmte geistige Veränderungen jüdische und christliche Ideen in die griechische Welt eingebrochen sind, beobachten wir eine Metaphysik in unserem heutigen Sinne. Wir würden heute eine Metaphysik nicht mehr nur schreiben können im Sinne einer Lehre von den Lebensgesetzen des Seins, d. h. im Sinne einer Ontologie.¹²¹

Was Plessner in den Stufen als ontologisches Problem skizziert hat, die Entwicklung und Darstellung der Wesensgesetze des Lebens, findet hier im Begriff der Ontologie keinen Platz mehr. Stattdessen wird die Ontologie – vermutlich unter dem Einfluss des grandiosen Erfolgs Heideggers, wie, abgesehen von biographischen Quellen, der Begriff des Seins indiziert – als „Lehre von den Lebensgesetzen des Seins“ aufgefasst. Der Begriff des Seins tritt somit an die Stelle des Begriffs des Lebens (aber Sein wird vom Leben her angegangen). Der Begriff des Seins wird hier nicht weiter spezifiziert und demzufolge auch nicht „regionalisiert“, d. h. Plessner unterscheidet nicht zwischen verschiedenen Bereichen des Seins wie Natur, Bewusstsein etc. Wenige Seiten später ordnet Plessner jedoch den Begriff des Seins neben zwei verschiedenen Begriffen des Seienden der Metaphysik zu: Wir gewinnen ein bestimmtes Arbeitsfeld, nämlich das Arbeitsfeld der weltlichen Dinge. Wir setzen von vorneherein aber als eine Grundvoraussetzung für alle Metaphysik nicht nur den

den Wert von Kategorialgesetzen haben müssen“ (ebd.) – Es ist anzunehmen, dass die Marginalisierung des Terminus „Vitalkategorien“ eher rhetorischer Natur ist; es ist aber schwer zu erraten, welcher Sinn ihr zukommen soll.  Ebd.: 66.  Plessner 2002: 33.

1.5 Die Vorlesung Elemente der Metaphysik (1931)

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Begriff des Seienden und des Seins voraus, sondern auch den Begriff sowohl des diesseitig Seienden als auch den Begriff des jenseitig Seienden. Wir beginnen also mit einem Problem des diesseitig, weltlich Seienden und eines jenseitig Seienden.¹²²

Von der Welt und den weltlichen Dinge, die Plessner als Arbeitsfeld vorgibt,wissen wir nur insofern, „als unser Bewußtsein sich dieser Welt bemächtigt hat“.¹²³ Daraus ergibt sich für Plessner als Desiderat eine „Erkenntnistheorie des wissenschaftlichen Bewußtseins“.¹²⁴ Die Auseinandersetzung mit dem Problem des Bewusstseins stellt eine Rekapitulation der Kritik der cartesianischen Alternativstellung in den Stufen dar; was dort anhand des Begriffs der Innerlichkeit verhandelt wird, wird hier am Begriff des Bewusstseins entwickelt, nach dessen Sein Plessner fragt. Seine Betrachtungen zum Bewusstsein schließt Plessner mit der Losung: „Wir müssen versuchen, den Standort der Betrachtung auf einen anderen überzuführen. Der Standort, den wir jetzt einnehmen wollen, ist der Standort des Lebens.“¹²⁵ Der Standort des Lebens bedarf allerdings einer genaueren Bezeichnung; den Standort des Lebens kann man von verschiedenen Perspektiven her einzunehmen versuchen, z. B. indem man versucht, vom individuell-persönlichen Leben, also vom im weitesten Sinne psychologischen Standpunkt, zum Leben an sich zu gelangen (Leben, das sich selbst begreift und indem es sich selbst begreift, nicht nur sich selbst begreift) oder indem man sich auf den Standpunkt einer das Leben zu erklären beanspruchenden Wissenschaft stellt. Plessner wählt letztere Option: „Vom Standpunkt der Biologie, für die der Mensch nichts besonderes darstellt, nicht mehr als ein Tier, als eine Pflanze, für die Mensch, Tier und Pflanze bestimmte Organisationsformen des Lebens darstellen, wollen wir unsere metaphysischen Betrachtungen anstellen.“¹²⁶ Von hier aus gesehen hat es den Anschein, als würde Plessner entgegen den methodischen Maximen der Stufen schlicht an der empirischen Biologie sich entlanghangeln, um letztlich allem dort auffindbarem Nützlichen philosophische Begriffe aufzupfropfen;·am Ende des Durchgangs durch zahlreiche biologische Theorien, anhand welcher Plessner vom Begriff des Lebenskreises her die Grundstruktur des Organismus-Umwelt-Verhältnisses entwickelt, zeigt sich jedoch, dass diese Auseinandersetzung mit der Biologie eher propädeutischen Charakter besitzt: „Was ist Leben? Diese Frage kann nur dann einen beantwortbaren Sinn haben, wenn wir auf etwas ganz an-

    

Ebd.: 34. Ebd.: 35. Ebd. Ebd.: 84. Ebd.: 90.

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1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

deres hinblicken, als auf dasjenige, was den Biologen oder Physiologen interessiert.“¹²⁷ Dieses Andere, worauf Plessner seinen Blick richtet, ist die bereits angesprochene Differenz zwischen der bloß räumlich-geometrischen und der dem Körper eigenen und von ihm vollzogenen Grenze, die Plessner als das schwer verstehbare Prinzip seiner Betrachtung vorgibt: Wir wollen nachweisen, daß die großen Erscheinungen des Lebens, die wesentlichsten Merkmale und Manifestationen der organisierten Welt die Bedingungen sind, unter welchen ein Körper realisierte Grenzen besitzt· Das eben ist die große Schwierigkeit: Was heißt realisierte Grenze, was soll man sich darunter vorstellen? Für sich selbst kann man eigentlich nicht verstehen, was es heißen soll, daß ein Körper seine Grenzen realisiert hat, aber das ist kein Mangel, sondern gerade das Prinzip unserer Betrachtung.¹²⁸

Das Prinzip der Betrachtung als erschaubares, nicht aber in der Anschauung als sichtbar ausweisbares Wesensmerkmal von Lebendigkeit, steht de facto quer zur empirischen Biologie; es kann weder in ihr Blickfeld geraten, noch in ihren Erklärungsversuchen als explanans oder explanandum fungieren. Phänomenologisch fungiert der Grenzbegriff jedoch als Quelle weiterer Bestimmungen des organischen Körpers, die aus ihm gewonnen werden: „Ein Körper ist in sich begrenzt, das hat eine merkwürdige Doppelbedeutung. Ein Körper ist in ihm selbst, und der Körper ist über ihm selbst hinaus.“¹²⁹ Diese Bestimmung des Körpers entwickelt Plessner sowohl räumlich als auch zeitlich: Der lebendige Körper ist „in ihm“, insofern er den Raum, den er einnimmt, behauptet statt bloß geometrisch eine Stelle im Raum einzunehmen; er ist „über ihm selbst“ hinaus, indem er als raumbehauptender und sich selbst behauptender Körper sich entwickelt, „aus den gesetzten Anfangsbedingungen selbsttätig sich zu einem zukünftigen Zwischen- und Endzustand hin bewegen“¹³⁰ kann; die Grenze kann daher „nur realisiert werden im Übergehen vom … zum …“.¹³¹ Dieser Doppelsinn ist nur belebten Körpern eigen und unterscheidet sie fundamental, ihrer „ontologischen Verfassung“ nach, von unbelebten Körpern: Unbelebte Körper und damit auch belebte Körper sind als solche räumlich und zeitlich charakterisiert; belebte Körper sind nicht nur räumlich und zeitlich, sondern auch raumhaft und zeithaft, d. h. sie haben dieses erfüllende Verhältnis zu Raum und Zeit; sie bestimmen

    

Ebd.:156. Ebd.: 156 f. Ebd.: 158. Ebd:: 159. Ebd.

1.6 Macht und menschliche Natur (1931)

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von sich aus nach ihrer ontologischen Verfassung die eigentümliche Disposition, das Räumliche am Raum und das Zeithafte an der Zeit zu erfüllen.¹³²

Die wesentliche Verfasstheit der belebten Körper im naturphilosophisch-phänomenologischen Sinne ist somit nicht biologischer, sondern ontologischer Natur. Der Begriff der Ontologie kommt genau dort ins Spiel, wo es Plessner versucht, „das Wesen des Lebens in einem bestimmten Sachverhalt, in einem bestimmten Verhältnis zu finden, in einem Verhältnis des Körpers zu seiner Grenze“,¹³³ anders gesagt: wo es ihm um das Wesentliche geht und die eigentümlichen Bestimmungen der Philosophischen Anthropologie entwickelt werden sollen. Die „metaphysischen Betrachtungen“,¹³⁴ von denen Plessner spricht, kulminieren also in der Analyse der ontologischen Verfasstheit belebter Körper, wenngleich nicht in einem Sinne von Ontologie, wie er sie in der Einleitung („Lehre von den Lebensgesetzen des Seins“) bestimmt. In der Einleitung bestimmt Plessner als zur Metaphysik zugehörig die „Frage nach dem Sinn dieses Seins“,¹³⁵ welche in der Philosophischen Anthropologie im Unterschied zu Heideggers Fundamentalontologie keine Rolle spielt. Die Begriffe laufen durcheinander: Plessner perhorresziert die Ontologie in ihrer Verbrüderung mit der Metaphysik (Einleitung), führt seine „metaphysischen Betrachtungen“ in der Bestimmung des „Wesens des Lebens“ aber ontologisch im nichtmetaphysischen Sinne, d. h. unter Absehung der für die Metaphysik konstitutiven Sinnfragen, durch.

1.6 Macht und menschliche Natur (1931) Die im Jahre 1931 erschienene Schrift Macht und menschliche Natur erklärt die terminologische Unklarheit, die in Plessners Vorlesung auftritt, da sie eine fundamentale Abrechnung mit Heideggers Fundamentalontologie darstellt und ein genuin geschichtliches Denken vor allem philosophischen Fundamentalismus zu retten und gegen einen jeglichen solchen stark zu machen versucht. Der in Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (1931) entwickelte Ansatz gewinnt eine zugleich systematisierte und kondensierte Gestalt in dem famosen und äußerst wenig beachteten Essay Die Frage nach dem Wesen der Philosophie (1934), der eine grundsätzliche Philosophie-Kritik außergewöhnlichen Ranges darstellt. Beide Texte werden aufgrund der    

Ebd.: 163 f. Ebd.: 156. Ebd.: 90. Ebd.: 33.

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1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

vorläufigen strikten Orientierung am Begriff der Ontologie nicht in der ihnen angemessenen Komplexität abgehandelt werden können. Plessner geht in Macht und menschliche Natur von der Zielsetzung einer politischen Anthropologie aus, welche darin bestehe, das „politische Apriori aufzudecken, das sich für die Vorstellungen vom menschlichen Wesen in seiner ganzen Weltverflochtenheit wirksam erweist“.¹³⁶ Den Inhalt einer politischen Anthropologie bilde „die Genealogie politischen Lebens aus der Grundverfassung des Menschen als einer ursprünglichen Einheit von Geist, Seele und Leib nach Maßgabe einer Theorie der Triebe und Leidenschaften, eine politische Affektenlehre und Charakterologie zugleich, von der die politische Praxis Nutzen hätte“.¹³⁷ Der Inhalt der politischen Anthropologie kann nach Plessner nicht zum Ziel derselben führen, weil sie eines hinreichenden Fundaments ermangele und nicht in der Lage sei, ein Fundament zu entwickeln, „ohne naturalistische Vorentscheidungen über Wesen und Wurzel des Politischen“¹³⁸ zu treffen. Wenn die politische Anthropologie sich nicht selbst ein Fundament geben kann, liegt es nahe, sich an die Philosophie zu wenden, doch auch dieser spricht Plessner die Fähigkeit dazu ab „in ihrem gegenwärtigen Zustand“.¹³⁹ Dennoch sei es an der Philosophie, sich dieser Aufgabe zu stellen, allerdings in einer die Einsicht in die geschichtliche Konstituiertheit des Menschen als philosophischen Prozessor und philosophisches Ethos zugleich arbeiten lassenden Form. Eine solche geschichtliche Auffassung, die bis zum Äußersten geht, [gibt] eine Anleitung zur universalen Anthropologie, wenn sie den Menschen auch in den außerempirischen Dimensionen des rein Geistigen als Zurechnungssubjekt seiner Welt, als die ‚Stelle‘ des Hervorgangs aller überzeitlichen Systeme begreift, aus denen seine Existenz Sinn empfängt.¹⁴⁰

Um eine universale Anthropologie handelt es sich, weil sie, indem sie „bis zum Äußersten geht“, vor sich selbst nicht Halt macht. Notwendige Implikation dieser Universalität ist nicht Absolutheit, sondern die auch theoretische und als solche zugleich historisch praktische Relativierung, auch die Relativierung „unsere[r] Kultur und Welt gegen die anderen Kulturen und Welten“.¹⁴¹ Eine solche universale Anthropologie steht vor der klassischen Begründungsalternative empirisch – apriorisch. Plessner verwirft beide Wege der Begründung. Die empirische Be-

     

MmN: 141. Ebd.: 140. Ebd.: 141. Ebd. Ebd.: 148. Ebd.

1.6 Macht und menschliche Natur (1931)

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gründung verfalle dem Zirkel, „aus der Erfahrung etwas von der Vorstellung zu erkennen, die selber der Erfahrung vom Menschen und ihrer Auswertung zugrunde gelegt werden soll“;¹⁴² die apriorische Begründung hingegen sei nicht imstande, „den Hervorgang der zeitlosen, apriorischen Wahrheiten und Verbindlichkeiten aus dem Leben im Horizont der Geschichte und ihrer Erfahrung begreiflich zu machen“.¹⁴³ Statt sie aus dem Leben begreiflich zu machen, findet sie die apriorischen Wahrheiten im Leben bloß wieder. Der Mensch muss, streng geschichtlich aufgefasst, durch den Vollzug seines Menschentums zum Teil der Menschheit werden, d. h. er muss sich selbst zu einem Menschen machen, um als Mensch angesprochen werden und antworten zu können; wo dies nicht der Fall ist, wird das Wesen des Menschen durch apriorische Vorentscheidungen bestimmt, die Plessner zufolge die Ontologisierung dieses Wesens darstellen: Da der Mensch als Zurechnungssubjekt seiner Kultur, als Schöpfer im Horizont seiner Geschichte begriffen werden soll, der schöpferische Hervorgang aber aus dem Fundament, der Wurzel seines Menschentums vollzogen werden muß, wenn anders seine Produktivität etwas mit ihm ‚selbst‘ zu tun hat – sonst ist er eben für sein Tun nicht restlos verantwortlich gemacht –, so schiebt sich von vornherein die Menschheitlichkeit, ‚die Menschheit in ihm‘, wie der deutsche Idealismus sagte, als zeugender Grund unter. Ein wenn auch nur methodisch gemeinter Apriorismus führt zwangsläufig zur universalistisch-rationalistischen Ontologisierung menschlichen Wesens.¹⁴⁴

Damit ist das Fundament von Plessners Heidegger-Kritik gelegt, dessen Werk Plessner „als Beispiel der apriorischen Anthropologie“¹⁴⁵ ansieht. Dass Heidegger in Sein und Zeit beim Sich-selbst-Verstehen des Daseins ansetzt, bildet für Plessner bereits ein verhängnisvolles Problem, da der so ansetzenden Existentialanalyse „die typischen Lebenszüge auftauchen, die ‚unser‘ Dasein, das Dasein von Europäern, die von klassisch-christlicher Tradition geformt sind, nun einmal beherrschen“.¹⁴⁶ In streng geschichtlicher Auffassung durchgeführt, ergäben sich für die Daseinsanalyse Möglichkeiten, „in andere Auslegungsformen der Existenz als die eigene Form, welche für die gewählte Methode maßgebend war, zu geraten“,¹⁴⁷ kurz: geschichtlich gedacht müsste sie ihre eigene „Destruktion“ bzw. Selbstdekonstruktion betreiben. Die oben genannte Ontologisierung ist auch als gegenüber der Vielfalt und Unterschiede von Kulturen blinde Verabsolutierung zu fassen. „Im

     

Ebd.: 151. Ebd. Ebd.: 154. Ebd.: 155. Ebd.: 157. Ebd.

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1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

Enderfolg kommt mit der apriorischen Anthropologie so oder so eine Verabsolutierung bestimmter menschlicher Möglichkeiten heraus. […] Die vom Abendland errungene Weite des Blicks erfordert die Relativierung der eigenen Position gegen die anderen Positionen.“¹⁴⁸ Was hier als Ontologisierung angesprochen wird, wird von Plessner auch anvisiert, wenn er im bereits zitierten Brief an Josef König vom „Primat des Ontologischen vorm Ontischen“¹⁴⁹ bei Heidegger spricht. Wo ein solcher Primat besteht, stellt sich die Frage, inwiefern eine als phänomenologisch sich ausgebende Philosophie wie die Heidegger’sche überhaupt genuin phänomenologisch sein kann, und in der Tat behauptet Plessner, dass bei Heidegger die Hermeneutik den Vorrang vor der Phänomenologie eingenommen habe, wie eine Stelle aus seinem späteren Aufsatz Deutsches Philosophieren in der Epoche der Weltkriege (1953) zeigt, an welcher Plessner mit Heidegger im Blick von der „Entwicklung von der deskriptiven zur hermeneutischen Phänomenologie“¹⁵⁰ spricht. Der Vorrang des Ontologischen vorm Ontischen und des Hermeneutischem vorm Phänomenologischen spiegelt für Plessner den Vorrang der Sprache vor der Erfahrung, ihre ihr undurchschaut zugestandene präskriptive Legitimität wider: Unter der Direktive des fundamentalontologischen Problems bleibt man der Interpretation phänomenologischer Strukturen als Sinnstrukturen verhaftet, die ihre Schwere aus der Nachdrücklichkeit des Begriffs Dasein beziehen. Diese in Heideggers Rahmen legitime Interpretation und Seinsverhaftung muß rückgängig gemacht werden. Phänomenologische Einsichten treffen auf ein Was im Horizont eines verbalen Ausdrucks.¹⁵¹

Diese im späten Aufsatz Der Aussagewert einer Philosophischen Anthropologie (1973), der eine kondensierte und systematisierte Abrechnung mit Heidegger darstellt, formulierte Kritik variiert die in Macht und menschliche Natur formulierte Kritik in der Orientierung auf die Sprache. Heidegger setzt, dem Vorrang des Ontologischen vorm Ontischen verhaftet, Plessner zufolge „eine alte Tradition“¹⁵² fort, die „das Wesen des Daseins diesseits und vor aller Individuation“¹⁵³ bestimme. Die von Plessner inaugurierte geschichtliche Auffassung stellt das Fundament einer „neue[n] Philosophie“¹⁵⁴ dar, die in der strengen Durchführung der geschichtlichen Weltauffassung den „Ver-

      

Ebd.: 159. König/Plessner1994: 176. Plessner 1985c: 288. Plessner 2003b: 389. MmN: 187. Ebd. Ebd.: 165.

1.6 Macht und menschliche Natur (1931)

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zicht auf die Vormachtstellung der eigenen Erkenntnisbedingungen, der überhaupt eigenmöglichen Zugangsbedingungen zur Welt als dem Inbegriff aller Zonen und Gestalten des Seienden vollzieht“.¹⁵⁵ Mit diesem Verzicht beginnt sowohl die „neue Anthropologie“,¹⁵⁶ von der Plessner wenige Zeilen später spricht, als auch der Prozess, der „die gegenwärtige Philosophie zur anthropologischen Fundamentierung ontologischer Erkenntnis“¹⁵⁷ trage. Ontologie wird also nicht strikt abgelehnt, sondern sie wird in der Heidegger’schen Gestalt strikt abgelehnt; indem sie im Sinne der universalen Anthropologie als anthropologisch fundamentiert gedacht wird, wird sie nicht als historische Ontologie gedacht, weil eine solche wiederum die Ontologisierung von Empirischem darstellen würde, sondern sie muss im geschichtlichen Sinne verstanden werden als Unterwerfung der historisch-faktisch entstandenen ontologischen Erkenntnis unter die geschichtliche Weltauffassung. Fundamentierung heißt dann im Unterschied zu Fundierung nicht, ein Fundament ewiger, überzeitlich gültiger Erkenntnis zu legen, sondern Exponierung des in sich selbst geschichtlichen Fundaments, auf dem ontologische Erkenntnis aufruht: „Man darf weiterhin dieser Einsicht nicht die Form einer Fundierung geben […]; dann wäre ja das Prinzip der Unentscheidbarkeit preisgegeben und ein Primat der (ontologischen) Philosophie anerkannt.“¹⁵⁸ Fundamentierung ontologischer Erkenntnis heißt gegenüber der Fundierung demgemäß auch: die nicht reduktionistische Rückbeziehung der ontologischen Erkenntnis auf ihr sie dekonstruierendes geschichtliches Fundament. Eine Fundamentalontologie ist unter diesen Vorzeichen nur möglich als eine Ontologie, die historisch Gewordenes bzw. dessen vermeintlich überzeitlichen Erkenntnis- oder Seinsvoraussetzungen fundamentalisiert, indem sie es theoretisch und in einem gegenüber der Lebensführung intentional präskriptiven (genetisch jedoch parasitären) Sinne fundiert, wohingegen die Fundamentierung auf eine praktische Verortung der Fundamentalontologie in der Geschichtlichkeit des Lebensvollzugs zielt – eine Verortung, die geschichtsphilosophisch den Primat des Ontischen vorm Ontologischen widerspiegelt und die Fundamentalontologie in praktischer Absicht theoretisch mit dem Faktum ihres Gewordenseins konfrontiert. Die Fundamentalontologie Heideggers, die Plessner als „apriorische Anthropologie“ abhandelt,

 Ebd.: 164 f.  Ebd.: 165.  Ebd.: 164.  Ebd.: 225. – Mit der im Zitat angesprochenen Unentscheidbarkeit ist gemeint die der geschichtlichen Weltansicht entsprechende „Unentscheidbarkeit der Frage, ob Philosophie oder Anthropologie oder Politik den Primat hat“ (ebd); die Entscheidbarkeit wäre nur auf apriorischem Wege zu gewährleisten, die praktische, aber nicht endgültige Entscheidung hingegen ist nur in der Gestalt einer geschichtlichen Handlung möglich.

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1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

dient als Modell eines pejorativen Ontologie-Begriffs, so z. B., wenn Plessner sagt, dass man, wolle man „das Politische aus der schicksalsmäßigen Notwendigkeit des Menschen“¹⁵⁹ begreifen, „von ihm jede falsche Fixierung ontologischer Art abhalten“¹⁶⁰ müsse. Das konzeptuelle Kontrazeptivum gegen die Ontologisierung und das positive Herzstück der Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht bilden bei Plessner zwei Prinzipien: (1) das der „Relativierung aller außerzeitlichen Sinnsphären einer Kultur auf den Menschen als ihre Quelle im Horizont der Geschichte“¹⁶¹ und (2) das daraus sich ergebende Prinzip der Unergründlichkeit: Auch die Wirklichkeit der Geschichte darf für diese Selbstauffassung nicht mehr bedeuten als erfahrbare Wirklichkeit, deren Aufschlüsse von der am Prinzip der Unergründlichkeit gebildeten Zuwendung des Menschen zu ihr abhängen; des Menschen, der um die geschichtliche Gewordenheit dieses geschichtsaufschließenden Prinzips, um sich als gewordenen Ursprung weiß.¹⁶²

Das Prinzip der Unergründlichkeit ergibt sich aus dem Prinzip der Relativierung und benennt in der geschichtlichen Weltansicht ein die Zuwendung zur Welt als auch zu sich selbst bestimmendes Ethos. Dieses Ethos macht ernst mit dem strukturell gegebenen Faktum der „Offenheit des Lebens“, welche darin besteht, dass wir einer Vergangenheit fortdauernd entwachsen, die uns in der Gegenwart zugleich konstituiert, in der wir wiederum über unsere bloße Gegenwärtigkeit hinaus auf eine Zukunft hin existieren.¹⁶³ Dieses dem Prinzip der Relativierung verpflichtete Ethos birgt jedoch auch eine Gefahr in sich, nämlich die Gefahr der restlosen Relativierung: „Die Gefahr der restlosen Relativierung, die mit dieser Freigabe des Blickes heraufbeschworen wird, wird in der gleichen Blickstellung dadurch wieder gebannt.“¹⁶⁴ Wieder gebannt wird sie, weil in der radikal geschichtlichen Blickstellung nicht eine zur historistischen Selbstparalysierung führende nihilistische Endlosrelativierung und -nivellierung vollzogen wird, an deren Ende die uferlose Kontingenz und letztlich Gleichgültigkeit von allem und jedem steht, sondern Geschichtlichkeit ernstnehmen heißt gerade, die eigene  Ebd.: 196.  Ebd.  Ebd.: 149.  Ebd.: 163.  „Lebensmäßiges, natürliches Denken in den Blickstellungen eines Lebens, das der Vergangenheit fortdauernd entwächst und vor einer unbekannten, Weissagung und Voraussicht heischenden Zukunft steht, in der Offenheit des Lebens denkend über dieser Offenheit sinnend verweilen und sie als die elementare Situation anzusetzen – dies wäre die dem Menschen gemäße und ursprüngliche Betrachtung seiner selbst auf sein Wesen hin.“ (Ebd.: 196)  Ebd.: 190.

1.7 Oder etwa doch Ontologie?

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Rolle, die eigene Stellung in der Welt und zur Welt als Handelnder und für das Handeln Verantwortlicher, d. h. als „Zurechnungssubjekt“¹⁶⁵ ernstzunehmen. Das Pendant des konsequent gedachten geschichtlichen Denkens ist keine Katatonie der Lebensführung, sondern das entschlossene Handeln in der Situation, das weder auf der Basis absoluter Wertmaßstäbe erfolgt noch solche nach sich zieht. So verstanden ist das Prinzip der Unergründlichkeit ein zugleich theoretisches und praktisches: „Das Prinzip der Verbindlichkeit des Unergründlichen ist die zugleich theoretische und praktische Fassung des Menschen als eines historischen und darum politischen Wesens.“¹⁶⁶

1.7 Oder etwa doch Ontologie? Es hat nun den Anschein, als wäre eine jegliche Ontologie nur zuwege zu bringen durch unzulässige Ontologisierungen, dogmatische Vorentscheidungen offener Fragen und die Weigerung, sich der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz und des eigenen Denkens zu stellen. Heidegger, der den Begriff der Ontologie wirkmächtig besetzt hat, wird als sowohl ethnozentrisch restringierter als auch unzulässig apriorisch verfahrender Prototyp des falschen Denkens und zentraler Repräsentant ontologischen Denkens eingeführt. In einer längeren Fußnote führt Plessner jedoch in Macht und menschliche Natur mit Nicolai Hartmann eine Gegenfigur zu Heidegger ein. Plessners Hartmann-Porträt ist ein indirektes Porträt eines philosophischen Idealbildes, zugleich aber auch das Porträt eines Ontologen: Von dieser neuen Offenheit eines auf die Bodenlosigkeit endlos erschließbarer Zonen des ‚Seienden‘ und ‚Lebenden‘ gewagten Wissens, das Objektivität, aber nicht Absolutheit will, ist gerade die der Diltheyschen Richtung scheinbar entgegengesetzte neue Ontologie Nicolai Hartmanns getragen, die aus der Gegenstandstheorie Meinongs und der phänomenologischen Forschung mindestens ebenso stark herausgewachsen ist wie aus dem transzendentalen Logismus der Marburger Schule. Ein neues Weltgefühl offener, richtungsloser, wirklichkeitsverbundener Sachnähe dokumentiert sich in diesen beiden, in Deutschland sicher wohl am weitesten voneinander Abstand nehmenden Möglichkeiten zu philosophieren, das Weltgefühl der positiven Erfahrung, von dem Naturwissenschaft und Geisteswissenschaften gleichermaßen beflügelt sind.¹⁶⁷

 Vgl. ebd.:148, 152, 154, und insbesondere 196: „Das Können, das Mächtige sind nur Ausdrücke für die Unbestimmtheit, in der das Zurechnungssubjekt seine Geschichte im Sinne eines lebensmäßigen, in der offenen Immanenz der verschränkten Perspektiven von Vergangenheit und Zukunft sich haltenden Denkens seine Bestimmtheit jeweils anders und immer neu erringt.“  Ebd.: 184.  Ebd.: 229.

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1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

Unschwer lässt sich in dieser Darstellung von Hartmanns Ontologie die Realisierung eines Typus des Philosophierens erkennen, dem Plessner sich selbst verbunden sieht. Macht und menschliche Natur und Hartmanns neue Ontologie sind von Plessners Hartmann-Charakteristik her als komplementäre Manifestationen desselben philosophischen Ethos zu lesen; eine dem Vorrang des Ontischen vorm Ontologischen verpflichtete Ontologie ¹⁶⁸ muss als Ontologie nicht notwendig einem fatalen Apriorismus anheimfallen und kann als Ontologie ihre eigene geschichtliche Verfasstheit wieder einholen, wobei „wieder einholen“ nicht heißt, sie bloß zu konstatieren, sondern sie zu einem immanenten modus operandi zu machen. Das indirekte Indiz dessen, dass Ontologie kein per se dogmatisches, ungeschichtliches und aporetisches Unterfangen sein muss, lässt sich noch um einige direkte Indizien bereichern. Geschichtlichkeit heißt nicht ausschließliche Geschichtlichkeit, d. h. Geschichtlichkeit als Prinzip darf nicht selbst wieder zu einem Absolutum werden. Das Korrektiv einer dogmatisch werdenden Geschichtlichkeit bildet Plessners naturphilosophischer Ansatz aus den Stufen; die Lehre von den Vitalkategorien mündet nach Plessner in eine „Ontologie des Organischen“, in der nicht eine dem Menschen äußerliche Sphäre zur Darstellung gebracht wird, sondern das Andere seiner selbst: Auf das Andere seiner Macht und seines Selbst durchscheinend ist der Mensch in eine Ebene mit physischen Dingen durchgegeben und erscheint von ihm aus dem Reich eines besonderen Seins belebter Körper, der Pflanzen und Tiere, eingegliedert. Philosophisch bedeutet das die notwendige Möglichkeit, das Wesen des Menschen am Leitfaden einer regionalen Ontologie des Organischen als einer Kategorienlehre der Biologie und ihrer Phänomene zu entwickeln.¹⁶⁹

Damit wird nicht die Unergründlichkeit auf eine Sphäre hin betrachtet,von der her letztlich doch eine Ergründlichkeit behauptet oder unter der Hand ermöglicht wird, sondern die Unergründlichkeit wird vielmehr potenziert dadurch, dass sie auf zwei unterscheidbaren, aber nicht voneinander trennbaren Ebenen situiert wird, die beide gleichermaßen die Menschlichkeit des Menschen ausmachen:

 Diese Akzentsetzung zielt auf die phänomenologische Strenge einer solchen Ontologie, die Plessner in bezug auf Hartmann nicht wieder und wieder zu rühmen sich scheut: „Seine Art zu sehen und Deskription zu treiben unterscheidet sich durch die Selbstbeschränkung auf den Gesichtskreis möglicher Erfahrung und durch die Entschränkung wiederum dieses Gesichtskreises auf ein ihn bergendes Sein von der phänomenologischen Untersuchungsweise eines Husserl, Scheler oder Heidegger. Es gibt für Hartmann keine absolute Sphäre mehr.“ (Plessner 1985d: 94, dazu vgl. auch ebd.: 77 und 82)  Ebd.: 227.

1.7 Oder etwa doch Ontologie?

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„Mensch-Sein ist das Andere seiner selbst Sein. Erst seine Durchsichtigkeit in ein anderes Reich bezeugt ihn als offene Unergründlichkeit. […] Macht ist erst Macht auf dem Hintergrunde von Ohnmacht, selbst Sein ist erst Selbst-Sein auf dem Grunde des Nichtselbstseins.“¹⁷⁰ Die total gewordene Geschichtlichkeit verliert sich demgegenüber in der naiven Affirmation der Sphäre des Geschichtlichen als der Sphäre von sei es ungebrochener, sei es nur durch die Macht des Anderen gebrochener Macht und Mächtigkeit und wird nicht von der sie (mit‐) konstituierenden Differenz durchquert, die Plessner als die Natur bestimmt: „So als das Andere seiner selbst auch er selbst ist der Mensch ein Ding, ein Körper, […] eine Größe der Natur“.¹⁷¹ Natur als das, was den Menschen zugleich konstituiert und ermöglicht, aber auch in seiner Verfallenheit an sie begrenzt, höhlt die narzisstischen Ressourcen einer Haltung aus, welche die Natur in letztlicher kulturalistischer Selbstgenügsamkeit zum auch zu Bedenkenden verharmlost und als bloßen, die Vollständigkeit der Erkenntnis gewährenden Faktor in eine Lehre aufnimmt. Diese Blindheit gegenüber der Natur kann bereits in der Methode angelegt sein oder sich aus dem Fortgang der Gedankenentwicklung im Resultat ergeben: Jede Lehre, die das erforschen will, was den Menschen zum Menschen macht, sei sie ontologisch oder hermeneutisch-ontologisch, und die methodisch oder im Ergebnis an der Naturseite menschlicher Existenz vorbeisieht und sie unter Zubilligung ihrer Auch-Wichtigkeit als das Nicht-Eigentliche bagatellisiert für die Philosophie oder für das Leben als mindestens Sekundäre behandelt, ist falsch, weil im Fundament zu schwach, in der Anlage zu einseitig, in der Konzeption von religiösen oder metaphysischen Vorurteilen beherrscht.¹⁷²

Der nicht genannte Adressat dieser Ausführungen ist Heidegger, das umrissene Problem der bereits genannte Vorrang des Ontologischen vorm Ontischen. Die „Naturseite menschlicher Existenz“ ernstzunehmen heißt, das Ontologische nicht übers Ontische hinweg hermeneutisch zu entwickeln und diesem letztlich überzustülpen, sondern vom Ontischen her, d. h. von der Sphäre des Lebendigen her, „durch die er [der Mensch, S. E.] leibhaft als das Andere seines in Führung und Kündigung ihm erschlossenen Selbst ontisch konstituiert ist“.¹⁷³ In dieser Sphäre des Lebendigen sind Erschlossenheit und leibliche bzw. natürliche Konstitution unaufhebbar miteinander verschränkt; sie existieren nicht in einer bruchlosen Einheit, sondern sind in den Hiatus zwischen den Grenzen der Verständlichkeit (Hermeneutik) und den Grenzen der Erklärbarkeit (Phänomenologie der Natur)    

Ebd.: 225. Ebd. Ebd.: 229. Ebd.: 230.

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1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

gestellt, der wiederum die Eigenständigkeit von Hermeneutik und Phänomenologie garantiert, sie aber auch unumgänglich aufeinander verweist: Diese Sphäre bildet die Verschränkung des belebten Körpers in sein Feld zur Einheit der Lebenssituation nach Maßgabe der Gesetze der Positionalität. Exzentrische Position als Durchgegebenheit in das Andere seiner Selbst im Kern des Selbst ist die offene Einheit der Verschränkung des hermeneutischen in den ontisch-ontologischen Aspekt: der Möglichkeit, den Menschen zu verstehen, und der Möglichkeit, ihn zu erklären, ohne die Grenzen der Verständlichkeit mit den Grenzen der Erklärbarkeit zur Deckung bringen zu können.¹⁷⁴

Das methodologische Stufenschema der Stufen wird hier äußerst komprimiert aufgegriffen: Die „Konstituierung der Hermeneutik als philosophische Anthropologie“¹⁷⁵ in den Stufen exponiert, insbesondere mit den drei anthropologischen Strukturformeln der vermittelten Unmittelbarkeit, der natürlichen Künstlichkeit und des utopischen Standorts, die Ermöglichungsbedingungen der Erschlossenheit der Lebensführung, auf denen aufruhend Plessner in Macht und menschliche Natur die universale Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht durchführt; die „Durchführung der Anthropologie auf Grund einer Philosophie des lebendigen Daseins und seiner natürlichen Horizonte“, als ein „wesentliches Mittel“ derselben Plessner die „phänomenologische Deskription“ nennt, bildet die Bedingung der Möglichkeit, den hermeneutischen in den ontisch-ontologischen Aspekt zu verschränken. Auf das ontische Moment im Ausdruck „ontisch-ontologischer Doppelaspekt“ zielt die phänomenologische Deskription, die negativ gefasst das Verbot markiert, einfachhin hermeneutisch anzusetzen; das ontologische Moment wird in der „Philosophie des lebendigen Daseins“ angesprochen. Ohne die „Ontologie des Organischen“ wäre somit die „Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht“ auf einem Auge blind. Plessners Kritik ist insofern nicht eine Kritik von Ontologie überhaupt, sondern eine Kritik naturphilosophisch blinder, d. h. Natur als Problem sich nicht stellender Ontologie. Eine Ontologie, die Natur buchhalterisch verrechnend als Faktor, als neben anderen auch zu beachtende Entität anerkennt, ist demnach auch falsch, weil sie sich mit der „Auch-Wichtigkeit“ herauszureden versucht und mit Natur rechnet, wo sie Natur selbst wiederum ontologisch zu denken hätte, wie es in der Ontologie des Organischen geschieht.

 Ebd.: 230 f.  SOM: 30.

1.9 Plessners Begriff der Ontologie nach Macht und menschliche Natur

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1.8 Resümierende Zwischenbetrachtung und Ausblick Hat Plessner in den Schriften der frühen 20er Jahre den Begriff der Ontologie affirmativ verwendet, so gewinnt der Begriff in der Auseinandersetzung mit Heidegger und im Hinblick auf die spätere Entwicklung Schelers eine zunehmend negative Konnotation. Was Plessner gegen Heidegger bestreitet, ist der Fundamentalcharakter einer Fundamentalontologie, die sich dem Problem der lebendigen Natur nicht stellt bzw. aufgrund methodischer Restriktionen nicht zu stellen vermag. Die Sphäre, an der eine wahrhaft fundamentale Betrachtung anzusetzen hat, nämlich die der Natur, wird von Heidegger durch ein hermeneutisches und als solches methodisch restringiertes, weil naturblindes, Apriori verdeckt. Die ontologische Systematik selbst bleibt davon unangefochten, was sich daran zeigt, dass selbst in Macht und menschliche Natur die Ontologie des Organischen in ein wechselseitiges Fundamentierungsverhältnis mit der „geschichtlichen Weltansicht“ tritt. Keine kann die Reduktionsbasis der jeweils anderen bilden; keine kann ohne die andere in einer nicht-reduktiven Weise durchgeführt werden. Die Ontologie wird somit als Ontologie des Organischen regionalisiert, die Regionalisierung bedeutet jedoch keine Marginalisierung, welche in der Zubilligung einer bloßen „Auch-Wichtigkeit“ bestünde. Die Regionalisierung ergibt sich aus der methodischen Gebundenheit an die phänomenologische Deskription und die aus ihr gewonnenen Unterscheidungen. Der Zusammenhang zwischen der Ontologie des Organischen und dem Prinzip der Unergründlichkeit wird im folgenden Abschnitt angedeutet; seine Explikation bleibt aber dem vierten Kapitel der Arbeit vorbehalten, in dem es darum gehen wird, die Transformation der Ontologie und die „universale Anthropologie“ von einer naturphilosophisch gewonnenen, aber nicht naturphilosophisch restringierten einheitlichen Begrifflichkeit her anzugehen.

1.9 Plessners Begriff der Ontologie nach Macht und menschliche Natur Wenige Jahre nach Macht und menschliche Natur hat Plessner in dem Aufsatz Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie (1937) den Zusammenhang zwischen Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie wiederaufgenommen. Eine entscheidende terminologische Abwandlung nimmt Plessner, mit dem Begriff der „regressiven Methode“¹⁷⁶ ernstmachend, vor, indem er statt von „anthropologi-

 „Apriorisch ist die Theorie also nicht kraft ihres Ausgangspunktes, als wolle sie aus reinen

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1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

schen Grundgesetzen“, welche den kompositorischen und insofern auch symbolischen Schlussstein der Stufen bilden, von „Strukturformeln“ spricht, deren Bestimmung im Horizont des Prinzips der Unergründlichkeit sie zwar mit keiner gänzlich neuen Rolle versehen, ihnen jedoch eine andere Akzentsetzung innerhalb der Philosophischen Anthropologie zukommen lassen: Strukturformeln dürfen keinen abschließend-theoretischen, sondern nur einen aufschließend-exponierenden Wert beanspruchen. ‚Der‘ Mensch (seiner Species nach) bildet zwar ihre Leitkategorie, aber nicht zum Zweck einer bloßen Klassifikation, sondern der Sicherung einer Unergründlichkeit, welche den Ernst der Verantwortung vor ‚allen‘ Möglichkeiten ausmacht, in denen er sich verstehen und also sein kann.¹⁷⁷

„Aufschließend-exponierend“ sind solche Strukturformeln, wenn sie eine Zurückführung des Empirischen auf seine strukturelle Ermöglichung erlauben; sie geben dem Verständnis etwas in einer bestimmten Orientierung (auf die Ermöglichungsbedingungen hin), lassen darüber hinaus aber auch andere Orientierungen in der Verhaltenserklärung, z. B. an der Psychoanalyse, zu. Die Reduktion hingegen lässt andere Orientierungen nur gelten als schlechtere Orientierungen; sie gibt an, worauf es im Erklären und Verstehen ankommt, anders gesagt: sie bringt die Grenzen von Erklärung und Verstehen zumindest via proclamationis zur Deckung und setzt an die Stelle der Unergründlichkeit eine wie auch immer geartete ultima ratio. Mit dieser modifizierten Bestimmung der Grundbegriffe aus den Stufen verbindet sich ein in drei Grundsätzen ausformulierter Leitfaden der Philosophischen Anthropologie: Grundsatz 1 bestimmt die methodische Gleichwertigkeit aller Aspekte, in denen menschliches Sein und Tun sich offenbart, für die sogenannte Wesenserkenntnis vom Menschen. Grundsatz 2 bestimmt den Charakter von Einheit, die den Aspekten im Hinblick auf ihre Gleichwertigkeit zugrunde liegt. Grundsatz 3 bestimmt die Funktion einer Philosophischen Anthropologie, die sich ihrer theoretischen Grenzen im Hinblick auf ihre praktische Voraussetzung gegen die Unergründlichkeit des Menschenmöglichen bewußt ist. Die bereits in der Methode ausgeprägten Unterschiede zur sog. Existenzphilosophie von Heidegger und Jaspers und zu der Ontologie Max Schelers sind damit bezeichnet.¹⁷⁸

Begriffen unter Beziehung von Axiomen ein deduktives System entwickeln, sondern nur kraft ihrer regressiven Methode, zu einem Faktum seine inneren ermöglichenden Bedingungen zu finden.“ (SOM: XX)  Plessner 2003c: 39.  Ebd.

1.9 Plessners Begriff der Ontologie nach Macht und menschliche Natur

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Die Abgrenzung von der Fundamentalontologie und der Scheler’schen Ontologie bilden nicht die einzigen abgrenzenden Bezugnahmen auf ontologische Entwürfe; auch die klassische Ontologie wird als systematischer Orientierungsrahmen und Gesprächspartner der Philosophischen Anthropologie verworfen, weil „die Querverbindungen zwischen physischem, psychischem, geistigem Bereich, wie sie uns aus der alten Ontologie und Erkenntnistheorie zur Verfügung stehen, durch den Fortgang der Dinge unanwendbar geworden sind“.¹⁷⁹ Plessners philosophische Positionierung hat hier ihren später immer wieder aufgegriffenen und durch Erweiterung und Ausdehnung auf andere Fragen lebendig gehaltenen systematischen Abschluss erfahren; die systematische Grundkonfiguration ist in den späten 1930er Jahren zum Abschluss gebracht worden. Schlagender Beleg dieser Lesart ist, dass Plessner in seinem 1963 erschienen Aufsatz Immer noch Philosophische Anthropologie? nahtlos an die in den Stufen entwickelte und in Macht und menschliche Natur weiterentwickelte Problemstellung anknüpfen kann, was Plessner darauf zurückführt, dass die Grundkonstellation seiner Zeit – Hegemonie der empirischen Wissenschaften, gleichzeitige „Entdeckung der Pluralität und Geschichtlichkeit menschlicher Normensysteme“¹⁸⁰, daraus folgende Notwendigkeit der Kritik des europäischen Normensystems – im Wesentlichen die gleiche geblieben sei: „In solcher Lage sehen sich die Bemühungen um eine Philosophische Anthropologie seit 1928.“¹⁸¹ In solcher Lage befindet die Philosophische Anthropologie sich zwischen Grenzen – Grenzen zwischen Wissenschaften, philosophischen Positionen oder auch Grenzen zu Weltanschauungen – und versteht sich konsequenterweise als Grenzforschung, als deren klassischen Gegenstand Plessner die „Wirklichkeit des Menschen“ ansieht: Gleichwohl stellt die Wirklichkeit des Menschen den klassischen Fall für Grenzforschung, und zwar im doppelten Sinne des Wortes, dar. Er ist das an Dimensionen reichste Objekt, das wir kennen, und er ist in allen diesen Dimensionen und zu ihnen Subjekt. Er bietet also nicht nur rein seinsmäßig die meisten Übergänge von Schicht zu Schicht, von Stoff zu Leben, zu Seele, zu Geist, sondern er ist ihnen zugleich als Person, als Kern und Träger dieser Schichtenfülle überlegen und gewissermaßen entzogen. Dergestalt sie begrenzend, begegnen sich in ihm Natur und Geschichte, Gesetz und Freiheit, Schicksal und Gnade. Seinen Körper studieren die Mediziner, aber auch die Zoologen, die Chemiker und Physiker; seine Seele oder was er und die anderen dafür halten, seine Erlebnisse und sein Unbewußtes, die

 Ebd.: 50.  Plessner 2003d: 235.  Ebd.

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1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

Psychologen, die Psychoanalytiker und die Psychiater, seinen Geist die Sprachwissenschaften, die Kulturwissenschaften, die Historiker.¹⁸²

Die Wirklichkeit des Menschen, wie die Philosophische Anthropologie sie in den Blick nimmt, ist an der Analyse menschlichen Verhaltens orientiert; Grenzforschung wird von Plessner seit Lachen und Weinen (1936), und darin exemplarisch, vorwiegend als Verhaltensforschung betrieben. Konstitutiv für das Verhalten ist „die Bedingtheit des Verhaltens durch den Sinn, der es zu Leben und Form erweckt“.¹⁸³ Aufgrund dieser Sinnbedingtheit des Verhaltens gerät der Mensch in seinem Verhalten als Ganzer in den Blick: „Als Ganzer ist uns der Mensch, d. h. der Mitmensch, und sind wir uns selber zugänglich im Konnex des Verhaltens, des Umgangs mit unseresgleichen und der Umwelt.“¹⁸⁴ Den Menschen als Ganzen in den Blick zu nehmen heißt, ihn in einer doppelten Frontstellung gegen Existentialontologie und Behaviorismus bzw. reduktionistische naturwissenschaftliche Ansätze zu perspektivieren, die Plessner zufolge „in einem Punkte einig sind: daß es nämlich ein psychophysisches Problem nicht gibt“.¹⁸⁵ Gegen den szientifischen Reduktionismus wendet Plessner bez. des psychophysischen Problems ein: „Von der Neurochemie wird es nicht gelöst werden, es sei denn die Positionalitätsanalyse verbindet sich mit ihr [Hervorhebung, S. E.], d. h. die Dimensionierung des Daseins für ein zerebralisiertes Lebewesen wird ernst genommen.“¹⁸⁶ Die Positionalitätsanalyse stellt das Korrektiv eines kruden, monistischen Materialismus dar, der Lebendiges Unlebendigem zunächst gleichmacht, um nachher die unaufhebbare phänomenologische Differenz zwischen beiden aus der ontologischen Identität derselben hervorgehen zu lassen. In Ein Newton des Grashalms? führt Plessner allerdings überdies einen neuen Begriff als Grenzbegriff in die Philosophische Anthropologie ein, nämlich den der Dimensionalität: Der alte Materialismus mit seiner Formel, Empfindungen,Vorstellungen, Gedanken, Gefühle seien in Wirklichkeit nichts als physiologische Vorgänge, hat das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Was sich daran (wie an den bewußtlosen Eigenschaften der Lebendigkeit) reduzieren läßt, ist nicht der Dimensionalitätscharakter des Psychischen oder des Vitalen, sondern die Mittel seines Zustandekommens in (oder für) einem biochemisch zu definie-

    

Plessner 2003e: 121. LuW: 210. Ebd.: 223. Plessner 2003 f: 262. Ebd.

1.9 Plessners Begriff der Ontologie nach Macht und menschliche Natur

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renden System. Da liegen die Grenzen für einen Newton des Grashalms und nicht im Phänomen der Zweckmäßigkeit, wie Kant wollte.¹⁸⁷

Dimensionierung und Positionalität sind korrelative Begriffe mit unterschiedlicher Erschließungsfunktion: Dimensionierung bezeichnet auf ontischer Ebene den phänomenologisch erfassbaren Überschusscharakter der Grenzrealisierung; Positionalität bezeichnet auf ontologischer Ebene die strukturelle begrifflich-typologische Differenzierung der Lebensformen voneinander. Anders gesagt: Anhand der Positionalitätsanalyse lassen sich Lebensformen in der Spezifik ihrer Dimensionalitätscharaktere in Bezug auf ihre Lebensumgebung und in der Struktur der Bezogenheit auf ihre Lebensumgebung unterscheiden. Die Grenzen eines Newton des Grashalms liegen nicht primär im Bereich der Analyse der organischen Konstitution,¹⁸⁸ sondern im Bereich dessen, was sich eigenschaftlich im Lebensvollzug an einer Lebensform beobachten lässt; sowohl die strukturelle Bedingtheit dessen, was eigenschaftlich beobachtbar ist, als auch die differentiae specificae der Lebensformen untereinander können nur durch die Positionalitätsanalyse aufgehellt werden. Ohne die Argumentation gegen Heidegger zu rekapitulieren, lässt sich im spezifischen Hinblick auf das Problem der Ganzheitlichkeit noch einmal summarisch der Einwand anführen, dass man unter „der Direktive des fundamentalontologischen Problems […] der Interpretation phänomenologischer Strukturen als Sinnstrukturen verhaftet“¹⁸⁹ bleibe und die solchermaßen wirkende „ontologische Vorprägung“¹⁹⁰ eine methodische Vorentscheidung vollziehe, welche die naturphilosophische Perspektivierung des Daseins lediglich in einer – mit Heidegger selbst gesprochen – „uneigentlichen“,¹⁹¹ die Naturalität des Daseins

 Ebd.  Sie stoßen aber auch in der organischen Analyse an Grenzen, die in den Stufen weitläufig entfaltet werden und Gegenstand des vierten Kapitels dieser Studie sein werden.  Plessner 2003b: 389.  Ebd.: 388.  Insofern ist Heidegger Opfer einer Dialektik der Eigentlichkeit, die sich daraus ergibt, dass das Eigentlichkeitsdenken eine Geschlossenheit bzw. Abschließbarkeit der thematischen Zusammenhänge innerhalb seiner Entfaltung präsupponiert, die auf es zurückfällt, sobald das Eigentliche der Existentialontologie sich nicht als das schlechthin Eigentliche erweist, sondern sich als ein selbst wiederum auf einen konstitutiven dunklen Untergrund, konzeptuell gesprochen, einen relevanten blinden Fleck hin befragen lässt, als welcher von der Plessnerschen Konzeption her Natur fungiert. Adornitisch gesprochen, instituiert Heideggers Denken sich als Verblendungszusammenhang dadurch, dass es in seiner essentialisierenden Fokussierung sich zugleich als Ausblendungszusammenhang erweist, in dem strukturell unsichtbar gemacht wird, was nicht als für das Sein des Daseins Wesentliches aufgefasst wird.

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1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

nurmehr als Faktor aufrechnenden Weise vollziehen kann. In den späteren Schriften erfährt die Heidegger-Kritik eine kontextuelle Verschiebung; die in der Nachkriegszeit zunehmend ins systematische Zentrum tretende Grenz- und Verhaltensforschung, die nicht mehr im Epizentrum des politischen Erdbebens steht, innerhalb dessen Macht und menschliche Natur verfasst worden ist, rückt gegenüber der Forschungsorientierung, die Hans-Peter Krüger als „Präsuppositionsanalyse“ bezeichnet, in den Hintergrund. Die Abgrenzung von der Ontologie, welche wesentlich Ablehnung der Heidegger’schen Ontologie bleibt und im Rahmen der Heidegger-Kritik formuliert wird, wird unmittelbar durch die positive Bestimmung der eigenen philosophischen Orientierung ergänzt: „Anthropologische Analyse steht nämlich in keinem natürlichen Bündnis weder mit der ontologischen noch mit der ethischen Frage. Sie hat es nur mit der Konfiguration der Bedingungen zu tun, welche für menschliches Verhalten spezifisch sind.“¹⁹² Der Orientierung an den Ermöglichungsbedingungen spezifisch menschlichen Verhaltens entspricht die positive Bestimmung der Philosophischen Anthropologie in der Nachkriegszeit. Positiv, d. h. nicht in Abgrenzung von anderen Ansätzen, gerät der Mensch als Ganzer in den Blick, sofern er in der Spezifik seiner Bedingtheit, d. h. auch in der Differenz seiner Verhaltensform zur tierischen, betrachtet wird: Spezifisch menschliches Verhalten aber hat darüber hinaus noch eine Dimension, in der er spielt und in der es an Grenzen geraten kann. Sie drückt ihm den Stempel der Indirektheit und Vermitteltheit auf. In allem, was der Mensch nach seiner Meinung vor den Tieren voraus hat, steht er zwischen sich, dem Subjekt des Verhaltens, und seinen Objekten.¹⁹³

Hier konvergiert die Verhaltensanalyse mit den Strukturformeln, die Plessner im letzten Kapitel der Stufen entfaltet: Die Indirektheit des menschlichen Verhaltens entspricht der natürlichen Künstlichkeit menschlichen Verhaltens; beide realisieren das zweite Strukturgesetz der vermittelten Unmittelbarkeit. Die Übergänge zwischen der hier angestrebten Grenzforschung und der Grundlegung der Philosophischen Anthropologie in den Stufen sind fließend,¹⁹⁴ wie sich in der Bestimmung des Begriffs der Grenzforschung selber zeigt: Der Grenzforschung gelingen die Überbrückungen zwischen Gebieten, die für so disparat gehalten werden, daß man keine gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen ihnen vermutet und Übergänge von einem zum anderen für unmöglich hält. Solche Grenzgebiete werden uns

 Plessner 2003 g: 418.  LuW: 378 f. 200 Vgl. hierzu die Erläuterung der vermittelten Unmittelbarkeit anhand des Begriffs der indirekten Beziehung in: SOM: 328 – 332.

1.9 Plessners Begriff der Ontologie nach Macht und menschliche Natur

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nach dem ehrwürdigen Modell der aristotelischen Philosophie in dem stufenförmigen Aufstieg vom Stoff bis zur höchsten Form über Pflanze, Tier und Mensch vor Augen geführt.¹⁹⁵

Das aristotelische Modell, das hier als „ehrwürdig“ bezeichnet wird und dessen grundsätzliche Unterscheidungen zwischen Lebensformen sowohl von den Stufen als auch von der Grenzforschung her unter gänzlich neuen theoretischen Vorzeichen eingeholt werden können, diskutiert Plessner erstaunlicherweise in keiner seiner Schriften ausführlich. Erstaunlich ist dies auch vor dem Hintergrund, dass Plessner in seinem späten Aufsatz Der Mensch als Naturereignis von 1965 der klassischen Ontologie – auch wenn nominell deren moderner Aufguss genannt wird – konzediert, dass ihre grundbegriffliche Konfiguration phänomenologisch ins Schwarze treffe: „Unsere biologische Betrachtung der menschlichen Daseinsweise richtet sich einmal gegen jene Spielart des Trialismus, dem wir in der Neuscholastik begegnen, die das menschliche Wesen aus drei verschiedenen Essenzen zusammensetzt: Körper, Seele und Geist. Nicht, daß diese Dreischichtung dem Phänomen nicht gerecht würde. Phänomenologisch ist sie korrekt, Geist und Seele sind zweierlei.“¹⁹⁶

Die von Plessner konstatierte phänomenologische „Korrektheit“ betrifft, abgesehen von der Körper-Seele-Geist-Differenz, mit Sicherheit auch die Stufenordnung der Lebensformen Pflanze – Tier – Mensch, die Aristoteles in seinem „ehrwürdigen“ Modell vornimmt. Darüber hinaus wirft die immerhin konzedierte phänomenologische Korrektheit die grundsätzliche Frage auf, wie weit die Differenzen zwischen der Philosophischen Anthropologie und dem Aristotelischen Denken bzw. Entwürfen reichen, die innerhalb der aristotelischen Tradition zu verorten sind, und worin diese sowohl konzeptionell als auch hinsichtlich der denkerischen, z. B. gegenwartsdiagnostischen, Konsequenzen bestehen? In grober Vereinfachung ließe sich fragen: entwickelt Plessner eine phänomenologisch identische, aber über den Umweg der Phänomenologie ontologisch entfundamentalisierte Variante des aristotelischen Denkens?¹⁹⁷ Jenseits jeglicher Vereinfachungen lässt sich feststellen, dass Plessner in den Stufen terminologisch ausgiebig mit Aristoteles kommuniziert. Diese Kommunikation lässt sich an Termini der Stufen festmachen, die gängigerweise gar nicht als Termini wahrge-

 Plessner 2003e: 120.  Plessner 2003a: 280.  In noch gröberer Vereinfachung hält Matthias Jung Plessner vor, die aristotelische scala naturae in naturwissenschaftlich aufgeputzter Variante schlicht zu restituieren: „[B]ei Plessner wiederum dominiert eine naturwissenschaftlich Variante der Aristotelischen scala naturae.“ (Jung 2009: 97)

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1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

nommen werden, hier aber als Grundbegriffe von Plessners Ontologie des Organischen elaboriert werden, so am Begriff der „immanenten Teleologie“ und der „Entelechie als Seinsmodus“. Diese untergründige und in den Stufen nicht offen ausgetragene Kommunikation wird im vierten Kapitel dieser Studie genauer verfolgt werden. Ihre Vorbereitung bedarf eines genaueren Blicks auf das Aristotelische Werk, um Plessners Terminologie nicht im luftleeren Raum schweben zu lassen, bevor in einem zweiten Schritt der Modifikation des ontologischen Erbes im Rahmen der neoklassischen und zugleich zentrale, Stein mit Plessner über alle Unterschiede hinweg verbindende, Motive der philosophischen Moderne adaptierenden Philosophie Edith Steins nachgegangen wird.

2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie 2.1 Ontologie und Metaphysik. Prolegomena Die heutigen Ontologien treten oft nicht mehr als Metaphysiken auf und/oder wollen meist nicht als solche verstanden werden.¹ Was uns solchermaßen als Selbstverständlichkeit erscheint, ist jedoch das Resultat eines über Jahrhunderte sich hinziehenden Ablösungsprozesses, der im Folgenden als Emanzipation der Ontologie von der Metaphysik rekonstruiert werden soll. Der Untertitel dieser Studie, in dem von Plessners Transformation der klassischen Ontologie die Rede ist, zielt nicht auf Plessners Verhältnis zur klassischen Ontologie als Metaphysik, sondern, wenn man an der Unauflöslichkeit beider festhalten will, auf die klassische Metaphysik als Ontologie und damit auf die zentralen ontologischen Motive der metaphysischen Tradition. Georg Picht warnt in seiner unter dem Titel Die Fundamente der griechischen Ontologie veröffentlichten Vorlesung in einer anekdotischen Erzählung davor, allzu leichtfertig retrospektiv eine antike Ontologie im klassischen Textkorpus auszumachen: „Ein sachverständiger Freund, dem ich erzählte, daß ich über griechische Ontologie lesen wollte, erklärte kurz und bündig: ‚Es gibt keine griechische Ontologie.‘ In der Tat haben die Griechen das Wort Ontologie nicht gekannt.“² Eine kurze begriffsgeschichtliche Klärung des Verhältnisses zwischen Ontologie und Metaphysik ist der Auseinandersetzung mit Aristoteles, Thomas von Aquin und Edith Stein daher voranzustellen.

2.1.1 Die Trennung von Ontologie und Metaphysik nach Elisabeth Rompe Elisabeth Rompe verfolgt in ihrer Studie Die Trennung von Ontologie und Metaphysik. Der Ablösungsprozeß und seine Motivierung bei Benedictus Pererius und anderen Denkern des 16. und 17. Jahrhunderts die Trennung von Ontologie und Metaphysik philologisch entlang den Entwicklungen der Schulphilosophie im Ausgang von Pererius im 16. Jahrhundert bis ins 18. Jahrhundert, wo die Trennung ihre systematische Kodifikation und insofern ihren Abschluss bei Christian Wolff findet. Den systematischen, wenngleich nicht terminologisch festgeschriebenen

 Ein über das philosophische Schrifttum hinausreichendes Symptom der Loslösung der Ontologie von der Metaphysik besteht der Verwendung des Begriffs „Ontologie“ innerhalb der Informatik, wo Ontologien Interferenzregeln zwischen den Begrifflichkeiten verschiedener Informationssysteme herstellen.  Picht 1996: 21. DOI 10.1515/9783110459159-003

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

und den gängigen philosophischen Sprachgebrauch grundsätzlich umgestaltenden Bruch macht Rompe früher als bei Wolff, nämlich bereits in der von Pererius im 16. Jahrhundert getroffenen Unterscheidung zwischen Seinslehre und natürlicher Theologie, aus. Rompe bezeichnet Pererius daher als den „Inaugurator der Loslösung der Ontologie von der Metaphysik“.³ Systematisch bedeutet die Loslösung der Ontologie von der Metaphysik bei Pererius zunächst, dass „Seinslehre und natürliche Theologie […] bei ihm keine innere Einheit mehr bilden“⁴ können. Diese Dissoziation zwischen Seinslehre und natürlicher Theologie gründet nach Rompe in der Logifizierung der Seinslehre, welche darin besteht, das Seiende als Seiendes, „das ens ut ens nach Art einer logischen Abstraktion, etwa als Gattungsbegriff zu verstehen“.⁵ Auch eine höchste Gattung steht dann in einem inferenziellen Differenzverhältnis zu anderen Gattungen, sie ist damit inhärent relationaler Natur und teilt mit allen anderen Gattungen die Eigenschaft, auf etwas Höheres, nicht selbst Gattungsmäßiges, als welches traditionell metaphysisch ein Absolutum fungiert, bezogen zu sein. Rompe verdeutlicht dies am Begriff der analogen Seinsteilhabe: „Von einem ens ut ens, das begriffen wäre als Grundform analoger Seinsteilhabe, würde man wohl kaum sagen, daß es alle entia in sich enthalte.“⁶ Das Seiende als Seiendes (ens ut ens) bilde bei Pererius einen von drei Teilen der Metaphysik; ihm entsprächen als dem wichtigsten Teil die „von der Materie freien Substanzen, nämlich Gott und die Intelligenzen“.⁷ Den zweiten und dritten Teil bildeten die Transzendentalien und die zehn Kategorien, welche aus dem aristotelischen Lehrbestand übernommen werden. Rolle und Bestimmung der Transzendentalien, unter welchen z. B. „ens, unum, verum, bonum, actus et potentia“⁸ gefasst werden, fasst Rompe folgendermaßen zusammen: „Die Transzendentalien finden sich nämlich in materiellen und immateriellen Dingen, sind also indifferent gegen die Materie und insofern als von ihr frei anzusehen.“⁹ Fällt das ens jedoch, wie die Aufzählung behauptet, unter die Transzendentalien, so bestätigt sich darin Rompe zufolge die Einebnung des Fundamentalcharakters der Differenz zwischen dem ens ut ens und den genera.  Rompe 1968: 11. – Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass Pererius Rompe zufolge einen Vorläufer bereits im 14. Jahrhundert gehabt habe, den sogenannten Pariser Anonymus, der systematisch zwischen metaphysica generalis (Ontologie) und metaphysica specialis (Metaphysik) unterschieden habe, ohne dass allerdings seine Unterscheidung geistesgeschichtliche Wirkmächtigkeit erlangt hätte. Dazu vgl. ebd.: 76 f.  Ebd.: 85.  Ebd.: 63.  Ebd.  Ebd.: 65.  Ebd.  Ebd.: 64.

2.1 Ontologie und Metaphysik. Prolegomena

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Rompe spricht demgemäß von einer „Gleichsetzung des ens ut ens mit einem Genus“¹⁰ und bringt diese auf den Begriff der Formalisierung: „Das Sein erscheint in dieser Formalisierung ganz analog zu den genera, die in anderen Wissenschaften behandelt und im Hinblick auf ihre Ursachen, species und passions erforscht werden.“¹¹ Damit zerfällt jedoch auch die Einheit der Metaphysik, die von der in sich einheitlichen dreiteiligen Gestalt zu einer dreigeteilten sich entwickelt und deren Teile jeweils ihnen spezifisch zukommenden Gesetzen unterstehen. Entscheidend ist dabei, dass der Übergang von der Unterordnung der beiden anderen Teile der Metaphysik unter die Erforschung des ens ut ens zur Nebenordnung dreier, eine Einheit bildenden, Wissenschaften führt, welche noch bei Thomas von Aquin, der einen zentralen Bezugspunkt Pererius’ bildet, bestimmend ist: Die Metaphysik besteht – das ist das Ergebnis, zu dem Pererius kommt, ohne es offen auszusprechen – aus drei Teilwissenschaften. Die Tatsache, daß der Gegenstand einer jeder dieser Teilwissenschaften verstanden werden kann als causa oder passio oder species entis, ändert nach seiner Meinung nichts daran, daß die Wissenschaften als solche wesensverschieden sind. Will man trotzdem an der einen Metaphysik festhalten, so muß man deren Einheit begründen aus der Hinordnung aller Teilgebiete auf die doctrina intelligentiarum. Die Metaphysik ist für Pererius demnach in erster Linie nicht Wissenschaft vom ens ut ens, sondern von den immateriellen Substanzen. Diese sollen nicht nur als causae entis, sondern an sich von der Metaphysik behandelt werden. Die Einheit der Metaphysik läßt sich dann aber nur als analoge festhalten. Sie kann – wie es bei Pererius geschieht – nur begründet werden aus der Hinordnung aller metaphysischen Teilwissenschaften auf die scientia de intelligentiis als die oberste metaphysische Wissenschaft. Die Bedeutung der Metaphysik als scientia de ente ut ens est geht dabei fast ganz verloren.¹²

Dieser Bedeutungsverlust der Metaphysik gehe mit der „Verdrängung des ens ut ens als Gesamtsubjekt der Metaphysik“¹³ einher, dessen Stelle von der essentia eingenommen werde. Diese Ablösung basiert darauf, dass Pererius eine jede Existenz – auch die eines Seienden als Seienden (ens ut ens) – als einen „modus essentiae“¹⁴ verstehe. Auf dieser Grundlage wird Rompe zufolge das Verhältnis zwischen Existenz und Essenz einer Neubestimmung unterzogen; die Essenz, welche der Begriff zu fassen versucht, erhält theoretische Priorität, da die Existenz, als das Sein selbst verstanden, vom Erkenntnisakt durch die Sphäre des Begriffs getrennt und nur innerhalb derselben und daher nicht ungebrochen

    

Ebd. Ebd.: 65. Ebd.: 67. Ebd.: 68. Ebd.: 90.

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

einholbar ist. Insofern das höchste Seiende der Logik des Begriffs unterworfen wird, findet eine Nivellierung seiner Dignität statt: Je mehr die essentia in den Vordergrund rückt, desto leichter wird es, das ens ut ens ganz formal als Genus zu verstehen. Ens besagt dann nur noch das Essenzhaben eines Dinges, als Merkmal, in dem es sich mit vielen anderen trifft. Das Seiende als Seiendes betrachten heißt nichts anderes als die allgemeinen Bedingungen des Essenzhabens, das jedem Seienden zukommt, begrifflich zu erfassen.¹⁵

Das Seiende als solches wird zwar nivelliert, nicht aber eliminiert; mit ihm befasse sich die Metaphysik als Spezialwissenschaft, die bei Pererius als natürliche Theologie konzipiert wird und der als prima philosophia bezeichneten Begriffswissenschaft, der späteren Ontologie, zur Seite gestellt wird. Die natürliche Theologie operiere jedoch im Medium des Begriffs und ist somit per definitionem die sich als wissenschaftlich verstehende Sisyphos-Aufgabe, das schlechthin Nichtbegriffliche auf begrifflichem Wege – der traditionellen Intention nach: erschöpfend – zu erschließen: Das ens ut ens wird nicht als unmittelbare Wirklichkeit beschrieben, sondern erscheint vielmehr wie ein Gattungsmerkmal, das von dem konkreten Ding leicht abgehoben werden kann. Die Wissenschaft vom ens ut ens führt deshalb bei Pererius nicht über das Sein des Seienden auf ein absolutes Sein als dessen Grund. Seinslehre und natürliche Theologie können daher bei ihm keine innere Einheit mehr bilden. Die Seinslehre oder prima philosophia stellt nur etwas wie eine Vorwissenschaft dar, die auch für die natürliche Theologie oder Metaphysik Gültigkeit hat.¹⁶

Die hier angesprochene Differenz zwischen prima philosophia bzw. Seinslehre und natürlicher Theologie bzw. Metaphysik entspricht der zwischen Ontologie und Metaphysik, wobei letztere „sich mit dem konkreten Seinsbereich des immateriellen Seienden“¹⁷ befasst, während die erstere „etwas wie eine Vorwissenschaft dar[stellt], die auch für die natürliche Theologie oder Metaphysik Gültigkeit hat“.¹⁸ Sachlich war damit bei Pererius die Unterscheidung zwischen Ontologie und Metaphysik in Gestalt der Unterscheidung zwischen prima philosophia und natürlicher Theologie/Metaphysik vollzogen,¹⁹ wobei der Ontologie als allgemeiner

 Ebd.: 90.  Ebd.: 85.  Ebd.  Ebd.  Pererius selbst verwendet die Begriffe scientia generalis (Ontologie) und divina scientia (Metapyhsik), die Rompe zwar zitiert, nicht aber als grundbegriffliche Unterscheidung aufnimmt: „Necesse est esse duas scientias distinctas inter se: unam quae agat de transcendentibus et

2.1 Ontologie und Metaphysik. Prolegomena

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Grundlagenwissenschaft die Dignität einer Disziplin kommt, die Grundlegungen zu leisten imstande ist, die für alle übrigen Wissenschaften, die Metaphysik eingeschlossen, verbindliche Gültigkeit besitzen. Die sachlich äquivalente Unterscheidung zwischen metaphysica generalis (Ontologie) und metaphysica specialis (Metaphysik/natürliche Theologie) hat Rompe zufolge erst später unter den und durch die deutschen Schulmetaphysiker Eingang in die wissenschaftliche Nomenklatur gefunden.²⁰ Statt bei der Tradierung dieses Begriffspaars zu verweilen, soll ein Streifblick auf die Terminologisierung des Wortes „Ontologie“ geworfen werden, als dessen „vielleicht früheste Fundstelle“²¹ Rompe das 1613 erschienene Lexicon philosophicum des Goclenius (Rudolf Göckel) anführt. Dem Zweifel, den das „vielleicht“ indiziert, verleiht Rompe an anderer Stelle Ausdruck: „Ob Göckel der Urheber der Bezeichnung ‚Ontologie‘ für die scientia de ente ist, läßt sich mit Sicherheit nicht ausmachen.“²² Einen klaren und von Rompe ebenfalls angeführten Hinweis darauf, dass Goclenius den Begriff der Ontologie als erster verwendet hat, findet sich nur sieben Jahre später bei Alsted: „Zu dieser Konzeption der Metaphysik als reiner Seinslehre paßt es, daß Alsted in seiner Cursus philosophic Encyclopaedia von 1620 auch schon den Terminus Ontologie kennt und benutzt. Wie er selbst angibt, hat er ihn aus Göckels Lexicon philosophicum übernommen.“²³ Dem Verweis Alsteds darf aufgrund des äußerst geringen zeitlichen Abstandes zu Goclenius sowie der Überschaubarkeit der gelehrten Welt zu jener Zeit großes Gewicht beigemessen werden. Nicht umsonst hat die Datierung der erstmaligen Verwendung des Begriffs auf Goclenius sich allgemein durchgesetzt, wovon auch die späteren, äußerst kenntnisreichen Schriften Pichts²⁴ und Kondylis’²⁵ zur Geschichte der Metaphysik bzw. Ontologie zeugen. Kondylis’ Die neuzeitliche Metaphysikkritik gilt der nächste Abschnitt, da Kondylis die Loslösung der Ontologie

universalissimis rebus; alteram quae de intelligentiis. Illa dicetur prima philosophia et scientia’universalis; haec proprie vocabitur Metaphysica, Theologia, Sapientia, Divina scientia.“ – Pererius, zitiert nach ebd.: 69.  „Die deutschen Schulmetaphysiker, die fast alle Pererius kennen und zitieren, sprechen entweder von Metaphysica generalis als allgemeiner Seinslehre und Metaphysica specialis als Wissenschaft von den species entis ganz generell sowie von Gott und den Engeln im besonderen […].“ (Ebd.: 14)  Ebd.: 203.  Ebd.: 217.  Ebd.: 264.  „In der Tat haben die Griechen das Wort Ontologie nicht gekannt. Es ist eine Neubildung, die zum ersten Mal in dem 1613 erschienenen Lexicon Philosophicum des Marburger Philosophen Rudolph Goclenius (1547– 1628) erscheint.“ (Picht 1996: 21)  Vgl. Kondylis 1990: 254.

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

von der Metaphysik mit anderen Akzentuierungen in einem größeren geistesgeschichtlichen Rahmen entfaltet.

2.1.2 Die Trennung von Ontologie und Metaphysik nach Kondylis Panajotis Kondylis holt in seiner Studie Die neuzeitliche Metaphysikkritik wesentlich weiter aus als Rompe und setzt zu einem umfassenden ideengeschichtlichen Durchgang durch die Transformation der Metaphysik vom Mittelalter bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts an. Kondylis weist gründlich nach, dass die Kritik der Metaphysik lange vor der Loslösung der Ontologie von der Metaphysik – und das heißt auch: unabhängig von einer solchen Loslösung – mit dem Humanismus des 14. Jahrhunderts und seiner Privilegierung der Rhetorik gegenüber der Logik und der vita activa gegenüber der vita contemplativa eingesetzt hat. Gleichwohl tritt die selbst wiederum metaphysikkritische Unterscheidung von Metaphysik und Ontologie erst viel später auf, nämlich, wie auch Rompe übereinstimmend ausführt, im 16. Jahrhundert bei Pererius: Die programmatische Unterscheidung zwischen Metaphysik im Sinne der Wissenschaft vom Seienden als Seiendem und Metaphysik im Sinne der Theologie wird zum ersten Mal 1562 vom Jesuiten Pererius getroffen. Pererius behält den Namen „Metaphysik“ ausschließlich der Theologie, der divina scientia, vor, während er die Wissenschaft des Seienden als Seienden die erste Philosophie bzw. scientia generalis nennt.²⁶

Die häufig Pererius zugeschriebene Unterscheidung zwischen metaphysica generalis (Ontologie, scientia generalis) und metaphysica specialis (Theologie, divina scientia) gehe, so Kondylis, auf Micraelius zurück; ebenso finde der Terminus der Ontologie, wie Kondylis in Übereinstimmung mit Rompe ausführt, bei Pererius keine Verwendung, sondern trete erstmals bei dem systematisch an Pererius’ Unterscheidung anschließenden Goclenius auf. Sachlich gingen jedoch die terminologischen Neuerungen bei Micraelius und Goclenius auf Pererius’ maßgebende und folgenreiche Unterscheidung zurück. Dessen Unterscheidung zwischen „divina scientia“ und „scientia generalis“ stelle die Reaktion auf das Dilemma dar, dass sowohl die Erste Philosophie als auch die Theologie ihrem Selbstverständnis nach die Suprematie auf dem Gebiet der Metaphysik beanspruchten; Kondylis spricht vom „doppelte[n] Bedürfnis, sowohl die Metaphysik als erste Philosophie als auch die Theologie als Metaphysik einzustufen“.²⁷ Ist die

 Ebd.: 252.  Ebd.: 253.

2.1 Ontologie und Metaphysik. Prolegomena

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Metaphysik nicht nur Theologie, sondern zugleich Erste Philosophie, also scientia generalis, so vermag sie ihre eigene begriffliche Grundlegung zu leisten; ihr Anspruch gegenüber der ersten Philosophie ist nicht nur hegemonialer, sondern auch vereinnahmender Art und gegen die Emanzipation der Ontologie von der Metaphysik gerichtet. Diese Vereinnahmung konnte die Metaphysik jedoch nicht historisch durchhalten, weshalb die Loslösung der Ontologie innerhalb einer konkreten geistesgeschichtlichen Gefährdungslage stattfinden konnte, die zur Emanzipation der prima philosophia von der theologischen Metaphysik führte. Die Ambivalenz aus Gefährdungslage (für die Metaphysik) und Emanzipationsermöglichung (der Ontologie) ergab sich Kondylis zufolge aus der „sich gerade vollziehenden ontologischen Aufwertung der Natur und der sinnlichen Welt“,²⁸ welche „auf der Basis der Annahme, diese sei gesetzmäßig strukturiert und rationaler Erfassung fähig“,²⁹ erfolgt sei. Dieser Aufwertung entspreche die Umorientierung von der traditionellen certitudo objecti auf die certitudo modi procedendi, welche die Entwicklung der mathematischen Naturwissenschaft des 17. Jahrhunderts kennzeichne.³⁰ Dieser Entwicklung habe die der certitudo obiecti die Treue haltende Theologie „die Reinheit und Autonomie des Geistes als des einzigen wahren Gegenstandes der Metaphysik“³¹ entgegengehalten. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen buchstabiere Pererius die Unterscheidung zwischen scientia generalis und divina scientia entlang der Differenz von Sinnlichem und Unsinnlichem aus; daher sei die Metaphysik „die Wissenschaft der immateriellen Substanzen“,³² die von Gott und Geistern handele. Die scientia generalis hingegen befasse sich „nicht ausschließlich mit den materiellen Wesen“³³, vielmehr seien die ontologischen Bestimmungen auf alle Wesen gleichermaßen anwendbar und können außerdem, wenn von der realen Beschaffenheit der Wesen nicht mehr gesprochen wird, nur rein logische Bestimmungen sein. Mit anderen Worten: in ihrer neuen Definition identifiziert sich schließlich die Ontologie mit der Logik, da sie nicht mehr von der Realität der einzelnen Wesen, sondern nur vom allgemeingültigen Begriff des Seienden handelt.³⁴

Da die Ontologie dieser Bestimmung zufolge universal sei und ihre Bestimmungen für die sinnlichen wie übersinnlichen Gegenstände gleichermaßen gelte, handele

      

Ebd. Ebd.: 153. Vgl. ebd.: 40. Ebd. Ebd. Ebd.: 256. Ebd.: 256.

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

es sich bei ihr um eine Wissenschaft, „die zwar vom Wert her unter der Metaphysik (als Theologie) steht, gleichzeitig aber die erforderliche Einleitung in alle Wissenschaft einschließlich der Metaphysik (als Theologie) darstellen muß“.³⁵ Der konservative Sinn der Unterscheidung zwischen Ontologie und Metaphysik, der darin bestehe, der Metaphysik ihren autonomen Bereich zu sichern und sie gegen die ontologische Aufwertung der sinnlichen Welt abzusichern, verkehrt sich in Kondylis’ Darstellung infolge der oben angesprochenen Emanzipation der Ontologie letztlich zu einer Subversion der Metaphysik als Theologie durch die Ontologie als einer allgemeinen, begrifflich orientierten Grundlagenwissenschaft des Seins; Kondylis spricht daher von einer „abortive[n] Modernisierung scholastischer Metaphysik“,³⁶ deren Pointe darin bestehe, dass „aus der Ontologie faktisch eine Logik oder Erkenntnistheorie“³⁷ geworden sei. Die geistesgeschichtliche Ironie dieser konservativen Sicherung der Autonomie der Metaphysik besteht dann darin, dass sie die Emanzipation der Ontologie auf dem Wege einer Gebietszuweisung ermöglicht, die als einhegende Umzäunung gedacht war, in der Folge jedoch ein Hegemonie erheischendes geistesgeschichtliches Potenzial entfaltet hat, das vonseiten der Metaphysiker nicht absehbar war. Die Suprematie der Ontologie war nämlich Kondylis zufolge keineswegs von metaphysikkritischen Denkern intendiert und mit seherischer List vorbereitet worden: „Die Vermutung wäre falsch, die abortive Modernisierung scholastischer Metaphysik würde von progressiven Theologen unternommen, die einen Anschluß an die neue Entwicklung finden wollten.“³⁸ Im Unterschied zu Rompe, welche die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Metaphysik und Ontologie von Pererius bis Wolff als eine innerhalb der Schulmetaphysik situierte begreift oder dieses Verhältnis zumindest lediglich innerhalb des schulmetaphysischen Rahmens beobachtet, hat Kondylis diesen

 Ebd.  Ebd.: 252.  Ebd.: 254. Kondylis bestreitet mit guten, hier allerdings nicht zu rekapitulierenden Gründen, was gängige Philosophiegeschichtsschreibung lehrt, nämlich dass mit Descartes als dem Vater der neuzeitlichen Philosophie der Siegeszug der Epistemologie gegenüber der Metaphysik einzusetzen beginne: „Der Primat der Erkenntnistheorie gegenüber der Metaphysik und der Ontologie bildet keine Entdeckung von Descartes oder Kant, wie wir des öfteren in den Handbüchern der Philosophiegeschichte lesen, sondern wird in mehr oder weniger kohärenter Weise schon während der ersten Phase des neuzeitlichen Kampfes gegen die Metaphysik behauptet – in jener Phase also, die durch die starke Wirkung des fideistischen und profanen Agnostizismus gekennzeichnet wird.“ (ebd.: 140)  Ebd.

2.1 Ontologie und Metaphysik. Prolegomena

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engeren Zusammenhang übergreifende geistesgeschichtliche Zusammenhänge³⁹ im Blick. Es wäre Kondylis zufolge „eine optische Täuschung zu meinen, ‚die‘ Metaphysik würde einfach ihren königlichen Weg weitergehen und wäre von den neueren Entwicklungen in ihrem Wesen unberührt geblieben“.⁴⁰ Den gesamten Weg, der hier referiert worden ist, fasst Kondylis in einer längeren Passage zusammen, die hier aufgrund ihrer synoptischen Prägnanz und Pointiertheit ungekürzt wiedergegeben wird: Die Unterscheidung zwischen Ontologie und Metaphysik ging nicht nur mit der Wendung der ersteren zu logischen und erkenntnistheoretischen Fragestellungen einher, sondern auch mit einer Erweiterung der letzteren, die ihren ursprünglich rein theologischen Charakter, wie ihn die Urheber der genannten Unterscheidung wollten, verwässerte und die Aufnahme von profanem, den gerade aufsteigenden Wissenschaften von der Natur und dem Menschen entstammendem Gedankengut ermöglichte; das war der Grund,warum diese Erweiterung die Zerstückelung der Metaphysik herbeiführte und die ursprüngliche Absicht ihrer Trennung von der Ontologie vergessen ließ. Wenn wir an die Geschlossenheit mittelalterlicher Metaphysik denken, die keine Vorstellung von einer speziellen, und zwar von Psychologie oder Kosmologie handelnden Metaphysik aufkommen ließ, dann verstehen wir unschwer, daß die Umstrukturierung der Metaphysik im 16. und vor allem im 17. Jh. kein Zeichen von Vitalität und innerer Erneuerung, sondern vielmehr von Kräfteverfall und Auflösung unter dem Druck der profanen Strömungen gewesen ist.⁴¹

In dieser Passage wird über die Synopsis hinaus angedeutet, dass die Erkenntnistheorie zum späteren historisch-systematischen Gegenspieler der Ontologie geworden ist. Mit der Weiterverfolgung dieser Entwicklung, so interessant sie auch ist, würden wir den Boden der Betrachtung des Verhältnisses von Metaphysik und Ontologie verlassen. Stattdessen soll die Gestalt beleuchtet werden, welche die historisch folgenreiche Kodifikation der Trennung von Metaphysik und Ontologie im Denken Christian Wolffs angenommen hat, den sowohl Rompe als auch Kondylis als den historischen Kulminationspunkt der systematischen Trennung von Metaphysik und Ontologie ansehen. Am Beispiel Wolff lässt die bisher ab Bei Kondylis werden daher über die Schulmetaphysiker hinaus, die Rompe abhandelt, Hobbes, Gassendi und Galilei als wichtige Figuren der Metaphysikkritik, die nicht ohne Einfluss auf die Trennung von Metaphysik und Ontologie sind, ausführlicher behandelt. Francis Bacon, den beide diskutieren, ist für Kondylis von weitaus größerer Bedeutung als für Rompe, da Kondylis die Umwälzung der Metaphysik im Auge hat, wohingegen für Rompe im wesentlichen von Bedeutung nur die Frage ist, ob und inwieweit Bacons „Unterscheidung von Metaphysik, prima philosophia und natürlicher Theologie“ deckungsgleich ist mit „des Pererius Aufteilung der Metaphysik in prima philosophia, scientia de intelligentiis und scientia de Deo“. (Rompe 1968: 102 f.)  Kondylis 1990: 17.  Ebd.: 269.

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

strakt bleibende Trennung von Metaphysik und Ontologie sich präzise verdeutlichen, die nicht bloß von antiquarischem Interesse ist, da Wolffs Statusbestimmung der Ontologie und die Bestimmung ihres Verhältnisses zur Metaphysik in den elementaren philosophiegeschichtlichen Überlieferungsbestand Eingang gefunden hat und bis in die Gegenwart von bestimmender Wirkung geblieben ist.

2.1.3 Die Kodifikation der Trennung von Metaphysik und Ontologie bei Wolff Wolff eröffnet sein Werk Erste Philosophie oder Ontologie (lat.: Philosophia Prima sive Ontologia, 1730) mit einer konzisen Definition des Begriffs der Ontologie: „Ontologie oder Erste Philosophie ist die Wissenschaft des Seienden im Allgemeinen oder insofern es Seiendes ist.“⁴² Eine Wissenschaft, die vom Seienden im Allgemeinen handelt, muss die theoretischen Grundlagen bereitstellen, die in Spezialwissenschaft begrifflich und methodologisch ihren jeweils spezifischen Zuschnitt erhalten. Die Ontologie als Grundlagenwissenschaft ist nach Wolff zwar eine philosophische Disziplin, allen anderen Disziplinen jedoch übergeordnet als die prinzipiengebende Disziplin, von welcher alle anderen Disziplinen „ihre Prinzipien, ohne die sie jener Evidenz ermangeln, die allein zur Überzeugung zureicht“,⁴³ erhalten. Die ontologischen Grundbegriffe nennt Wolff daher auch „Leitbegriffe“.⁴⁴ Um Leitbegriffe handelt es sich bei den ontologischen Grundbegriffen nicht aufgrund einer intrinsischen und insofern letztlich metaphysisch garantierten Dignität derselben, sondern weil die Ontologie bzw. Erste Philoso-

 Christian Wolff: Erste Philosophie oder Ontologie. Hamburg 2005, § 1. – Wolff nimmt hier die aristotelische Bestimmung der Metaphysik als Wissenschaft des Seienden als Seienden wörtlich auf, vgl. Met. Γ (4. Buch) 1, 1003 a26 f. Nicolai Hartmann verweist auf die Ambivalenz dieses Anschlusses an Aristoteles: „Christian Wolf hat die Aristotelische Bestimmung in wörtlicher Übereinstimmung aufgenommen. Er bestimmt die philosophia prima als scientia entis in genere seu quatenus ens est. Die weitere Durchführung zeigt freilich, daß er das ens nicht streng im Sinne des „Seienden“ nimmt; die Bedeutung nähert sich nach scholastischer Weise dem, was wir „Gegenstand“ nennen würden1). Damit wäre der streng ontologische Sinn der Formel preisgegeben.“ (Hartmann 1965: 8) Dem Hinweis Hartmanns auf eine Verschiebung im Verständnis der Ontologie, die Hartmann als Preisgabe ihres strengen Sinnes bezeichnet, entspricht auch die Wolffsche, gegenständlich bestimmte Definition: „Dieser Teil der Philosophie wird aber Ontologie genannt, weil er vom Seienden im allgemeinen handelt, wobei er seinen Namen vom Gegenstand erhalten hat, mit dem er befaßt ist. Derselbe Teil wird gewöhnlich Erste Philosophie genannt, weil er die ersten Prinzipien und ersten Begriffe lehrt, die im Schließen gebraucht werden.“ (Wolff 2005: § 1)  Ebd.: 17 (Vorrede)  Ebd.

2.1 Ontologie und Metaphysik. Prolegomena

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phie „die ersten Prinzipien und Begriffe lehrt, die im Schließen gebraucht werden“.⁴⁵ Nicht übergangen werden sollte, dass Wolff die Ontologie als Wissenschaft definiert; sie wird also von einem allgemeinen Vorverständnis davon, was eine Wissenschaft sei bzw. was ein theoretisches Unterfangen zu einem wissenschaftlichen mache, bestimmt: „Da Wissenschaft die Fertigkeit ist, seine Behauptungen zu beweisen, ist das in der Ontologie Vorgelegte zu beweisen.“⁴⁶ Indem der Ontologie ein Beweiszwang auferlegt wird, gerät sie in einen Zirkel: Als Wissenschaft von den Begriffen, die im Schließen gebraucht werden, muss sie Begriffe, die im Schließen gebracht werden, bereits in Anspruch nehmen; sie muss sich auf Prämissen stützen, die sie ihrerseits wiederum begründen muss und die einzig sie als die allgemeine Grundlagenwissenschaft erarbeiten kann. Es stellt sich daher die Frage, wie die Ontologie methodisch verfährt. Als Methode der Ontologie bestimmt Wolff die demonstrative Methode: ⁴⁷ „In der Ersten Philosophie ist die demonstrative Methode anzuwenden. Wenn in der Logik, der praktischen Philosophie, Physik, natürlichen Theologie, allgemeinen Kosmologie und Psychologie alles streng zu beweisen ist, muß man sehr oft ontologische Prinzipien anwenden.“⁴⁸ Spätestens seit Descartes treibt der Anspruch, strenge und idealiter unangreifbare Beweisführungen durchzuführen, die Philosophen zur Mathematik als methodischem Vorbild. Auch Wolff unterwirft sich diesem Ideal, wenn er behauptet, die Ontologie habe nur das zu lehren, was „evident als wahr erkannt und auf alle Fälle des menschlichen Lebens angemessen angewandt werden kann“;⁴⁹ es sei daher angemessen, die ontologischen Probleme „mit der philosophischen Methode, folglich mit derselben, welche die Mathematiker anwenden, also mit der demonstrativen Methode zu behandeln“.⁵⁰ Die demonstrative Methode, die Wolff im Auge hat, unterscheidet sich trotz der idealtypischen Orientierung an der mathematischen von derselben, vermag doch die Philosophie weniger als die Mathematik, welche bei Wolff, wie die Wahl seiner Beispiele bezeugt, im wesentlichen Geometrie ist, aus der Evidenz von Anschauung und Einbildungskraft zu schöpfen:

 Ebd.: § 1.  Ebd.: § 2.  Die demonstrative Methode geht der natürlichen Theologie voraus, welche nach derselben gelehrt werden muss: „Wenn die natürliche Theologie nach demonstrativer Methode gelehrt werden soll, müssen aus der Kosmologie, der Psychologie und der Ontologie Grundsätze entnommen werden.“ (Wolff 1996: § 96)  Wolff 2005: § 4.  Ebd.: § 4.  Ebd.

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

Die wissenschaftliche Behandlung der Ersten Philosophie ist jedoch schwerer als die der Mathematik, da das, was den metaphysischen Begriffen entspricht, nicht in der gleichen Weise wie das Mathematische unter die Sinne und die Einbildungskraft fällt und auch nicht so leicht einer Prüfung unterzogen wird.⁵¹

Die Demonstration wird in der Mathematik wie in der Philosophie gemäß ontologischer Prinzipien entfaltet; so bezeichnet Wolff gar die Prinzipien der Euklidischen Beweisführung als ontologische Prinzipien: „Denn Euklid führt seine Beweise auf ontologische Prinzipien zurück, die er als Axiome ohne Erweis nimmt […].“⁵² Die Mathematik ist somit in ihrer Axiomatik auf ontologische Prinzipien und damit auf die Philosophie verwiesen. Die beiden Grundprinzipien der Ontologie sind der Satz vom Widerspruch⁵³ sowie das Prinzip des zureichenden Grundes,⁵⁴ über welche Wolff sagt, dass „diese zwei allgemeinen Prinzipien für die Erste Philosophie zureichen“.⁵⁵ Der Fundamentalcharakter der beiden Prinzipien gründet darin, dass sie nicht aus der Erfahrung zu erschließen oder gar induktiv zu beweisen sind,⁵⁶ sondern bei jedem Beweisgang vorausgesetzt werden müssen. So wird das Prinzip des Widerspruchs aus der für ihn selber unhintergehbaren Natur des Geistes erklärt: „Die Erfahrung, auf die wir uns hier beziehen, ist so offenkundig, daß keine andere für offenkundiger gehalten werden kann: Sie ist nämlich gegenwärtig, solange der Geist sich seiner selbst bewußt ist.“⁵⁷ Die Prinzipien sind jedoch keine bloß subjektiven Prinzipien oder Prinzipien der Organisation unseres Denkens, sondern, wie Wolff in Bezug auf das Prinzip des zureichenden Grundes sagt, „durch die Erfahrung bestätigt“⁵⁸ und daher „wahr und uns gewiß“.⁵⁹ Indem Wolff den Grundprinzipien

 Ebd.: § 7.  Ebd.: § 9.  Die Definition desselben lautet: „Wir erfahren dies als die Natur unseres Geistes, daß er, während er urteilt, daß irgend etwas ist, nicht zugleich urteilen kann, daß dasselbe nicht ist.“ (ebd.: § 27)  Die reichlich abstrakte Definition des Satzes lautet: „Unter zureichendem Grund verstehen wir das, von woher eingesehen wird, warum etwas ist.“ (ebd.: § 56)  Ebd.: § 77.  Obgleich es nicht induktiv zu erweisen ist, so ist dessen Gewissheitsgrad offensichtlich induktiv zu steigern, da Wolff in Bezug auf das Prinzip vom zureichenden Grunde sagt, dass „die Zustimmung, die dem ohne Erweis angenommenen Prinzip gegeben worden war, sicherer“ (ebd.: § 76) werde.  Ebd.: § 27.  Ebd.: § 76.  Ebd., Hervorhebung, S. E.

2.1 Ontologie und Metaphysik. Prolegomena

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einerseits apriorische Dignität zuspricht und sie andererseits immer wieder⁶⁰ durch ihre Kompatibilität mit der Erfahrung legitimiert, führt er seine Ontologie in den Zirkel hinein, aus dem Kants Transzendentalphilosophie später alles Philosophieren herausführen will, nämlich in den Zirkel der Begründung der (ontologischen) Prinzipien aus der Erfahrung und der Erklärung der Erfahrung aus den (ontologischen) Prinzipien.Wolff befindet sich als philosophischer Nachfahre von Descartes auf halbem Wege zum neuzeitlichen Subjektivismus, hält jedoch zugleich an traditionellen Gewissheitsambitionen und -ansprüchen fest, ohne beide Motive und Stränge konsistent zusammenzuführen. Wichtiger als die Konsistenz oder Inkonsistenz der Begründung der ontologischen Prinzipien ist das Verhältnis zwischen Philosophie und Theologie bei Wolff, da dieses uns auf das Verhältnis zwischen Ontologie und Metaphysik zurückführt. In seinem Discursus praeliminaris (Einleitende Abhandlung über die Philosophie im Allgemeinen) von 1728 legt Wolff seine Aufteilung der Philosophie dar. Der natürlichen Theologie wird in dieser Aufteilung eine Rolle zugewiesen, die der Gebietszuweisung der metaphysica specialis entspricht: „Der Teil der Philosophie, der von Gott handelt, heißt natürliche Theologie.“⁶¹ Da auch die natürliche Theologie nach der demonstrativen Methode gelehrt werden soll und sie der Ontologie als prinzipiengebender Instanz unterworfen ist, muß das, was von Gott ausgesagt wird, aus gewissen und unerschütterlichen Grundsätzen hergeleitet werden. Diese unerschütterlichen Grundsätze, aus denen die Existenz Gottes und seine Attribute zuverlässig gefolgert werden, müssen aus der Betrachtung der Welt hergenommen werden:Von ihrer kontingenten Existenz schließen wir nämlich durch notwendigen Schluß auf die notwendige Existenz Gottes, und es müssen ihm diejenigen Attribute zugeschrieben werden, aus denen er als der einzige Urheber der Welt verstanden wird.⁶²

Das zirkuläre Verhältnis zwischen Prinzip und Erfahrung, das im Falle des Widerspruchsprinzips und des Satzes vom zureichenden Grunde aufzeigbar ist sowie die doppelte Verortung im Subjektiven (Erfahrungsgebundenheit) und Objektiven (als die Realität selbst durchwirkendes Prinzip) erstreckt sich aufgrund des wissenschaftshierarchischen Prius der Ontologie gegenüber der natürlichen Theologie noch auf die Kriterien, denen theologische Beweisführungen zu genügen

 Sogar am Anfang des Paragraphen Die Grundlage des Widerspruchsprinzips verweist Wolff darauf: „Wir erfahren dies als die Natur unseres Geistes, daß er, während er urteilt, daß irgend etwas ist, nicht zugleich urteilen kann, daß dasselbe nicht ist. Die Erfahrung, auf die wir uns hier beziehen, ist so offenkundig, daß keine andere für offenkundiger gehalten werden kann: Sie ist nämlich gegenwärtig, solange der Geist sich seiner selbst bewußt ist.“ (ebd.: § 27)  Wolff 1996: § 57.  Ebd.: § 96.

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

haben. Nicht umsonst erwähnt Wolff in Erste Philosophie oder Ontologie, dass Leibniz „daran erinnert, daß ohne das Prinzip des zureichenden Grundes die Existenz Gottes nicht erwiesen werden könne“.⁶³ Das Prinzip vom zureichenden Grunde bildet also ein Prinzip, das die Theologie nicht hintergehen kann, wodurch der Theologie Rechtfertigungsleistungen abverlangt werden, die nicht mit Bibelzitaten und bloßem Offenbarungsglauben abzugelten sind. Die genaue Stelle, welche die Theologie in Wolffs System der Wissenschaften im Allgemeinen und im Verhältnis zur Ontologie im Besonderen einnimmt, zeigt die folgende synoptische Gesamteinteilung der Philosophie, welche Wolff unter dem Begriff der Metaphysik⁶⁴ statt dem der Philosophie formuliert: In der Metaphysik nimmt den ersten Platz die Ontologie oder Erste Philosophie ein, den zweiten die allgemeine Kosmologie, den dritten die Psychologie und den letzten schließlich die natürliche Theologie. Die Teile der Metaphysik sind in der Reihenfolge anzuordnen, daß diejenigen vorausgeschickt werden, aus denen die übrigen Grundsätze entnehmen (§ 87). Weil die natürliche Theologie Grundsätze aus der Psychologie, der Kosmologie und der Ontologie (§ 96), die Psychologie aus der allgemeinen Kosmologie und der Ontologie (§ 98), die Kosmologie aus der Ontologie (§ 97) entnimmt, deshalb ist evident, daß an erster Stelle die Ontologie, an zweiter die Kosmologie, an dritter die Psychologie, an vierter schließlich die natürliche Theologie behandelt werden muß.⁶⁵

In der Wolff’schen Rangordnung ist die natürliche Theologie der Ontologie klar untergeordnet, und kein Weg führt philosophisch zu Gott an der Ontologie vorbei. Dennoch sieht Wolff sich zu historisch und politisch bedingten Konzessionen genötigt, die sich darin zeigen, dass die Theologie als Wissenschaft sich nicht von der Offenbarung emanzipieren kann wie die Ontologie dies im Verhältnis zur Metaphysik zu leisten vermag. So versteht Wolff unter der Theologie eine Wissenschaft, in welcher „der Theologe nicht weniger irren kann als der Philosoph“,⁶⁶ während er über die Offenbarung sagt, dass „die natürliche oder philosophische Wahrheit der offenbarten nicht widersprechen kann“.⁶⁷ Die Theologie als Wissenschaft wird also der Ontologie als Grundlagenwissenschaft des Seins überhaupt unterstellt, während zwischen der Offenbarung und den Grundprinzipien der Ontologie gleichsam eine prästabilierte Harmonie unterstellt wird.

 Wolff 2005: § 75.  „Ontologie, allgemeine Kosmologie und Pneumatik werden aber mit dem gemeinsamen Namen der Metaphysik bezeichnet. Daher ist die Metaphysik die Wissenschaft vom Seienden,von der Welt im allgemeinen und von den Geistern.“ (Wolff 1996: § 79)  Ebd.: § 99.  Ebd.: § 163.  Ebd.

2.1 Ontologie und Metaphysik. Prolegomena

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Eine Ontologie, welche als der Theologie übergeordnete Instanz Autorität für dieselbe Verbindlichkeit beanspruchen darf, hat sich von der scholastischen Metaphysik nicht grundsätzlich gelöst, worauf auch die oben angesprochene Einteilung der Ordnung der Teile der Metaphysik, die Wolff vornimmt, hinweist. Der Grundfehler der Scholastik ist nicht im Bereich der systematischen und damit metaphysischen Intention zu suchen, sondern lediglich in der begrifflichen Durchführung: „Wer die Erste Philosophie mit der wissenschaftlichen Methode behandelt, der holt die scholastische Philosophie nicht in die Schulen zurück, sondern verbessert sie.“ ⁶⁸ Die Verbesserung, die mit den Methoden der Ontologie erzielt wird, resultiert, wie die Abgrenzung der Ontologie von der natürlichen Theologie nahelegt, in der Wahrung einer metaphysischen Intention bei gleichzeitiger Abwendung vom theologischen Horizont der Scholastik. Die methodische Erneuerung der Philosophie, durch welche die Ontologie diese Verbesserung zu leisten vermag, besteht zum einen in der bereits angesprochenen demonstrativen Methode, zum anderen aber darin, dass Wolff – und darin erweist er sich als der Moderne zumindest zugewandter Denker – die Verbesserung in der Form einer Sprachkritik durchzuführen versucht. Die Wolff’sche Sprachkritik unterscheidet zwischen Arten der Sprachen und ihnen korrespondieren Ontologien; so gibt es Wolff zufolge eine natürliche Ontologie, welcher die Alltagssprache, und eine künstliche Ontologie, welcher die scholastische Ontologie zugeordnet wird. „Die alltäglichen undeutlichen Begriffe bilden eine gewisse Art von natürlicher Ontologie.“ ⁶⁹ Weil die Alltagssprache nicht ontologisch neutral ist, sondern von einer nicht explizierten Ontologie durchzogen ist, ist eine philosophische Ontologie unverzichtbar: Daher kann die natürliche Ontologie definiert werden als ein Komplex von undeutlichen Begriffen, die den abstrakten Ausdrücken, mit denen wir allgemeine Urteile über das Seiende ausdrücken, entsprechen und durch den gewöhnlichen Gebrauch der Geistesvermögen erworben wurden. Und daher kommt es, daß, obwohl der Gebrauch der Ontologie unverzichtbar ist, diejenigen, die auf sie keine Mühe verwendet haben, doch glauben, sie könnten ihrer entbehren.⁷⁰

Über die Scholastiker sagt Wolff, dass sie „die natürliche Ontologie ausführlicher gemacht haben“ ⁷¹ und fügt hinzu, dass „eine deutliche Entfaltung der natürlichen Ontologie künstliche Ontologie genannt werden“⁷² könne. Kennzeichnend für eine

    

Wolff 2005: § 7. Ebd.: § 21. Ebd. Ebd.: § 22. Ebd.

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

künstliche Ontologie ist, dass sie „bestimmte Sätze lehrt“,⁷³ also aufgrund ihrer Termini kodifizierenden Praxis unweigerlich die Gestalt einer Lehre annimmt. Eine jede künstliche Ontologie steht daher unter dem Anspruch, ein das Sein im Ganzen und als Ganzes erklärendes System zu sein. Gemäß der Systematizität der künstlichen Ontologien sind diese dazu in der Lage „deutliche Begriffe von Ausdrücken“⁷⁴ zu bieten, weshalb „die Aussagen der Scholastiker und anderer sowohl klarer verstanden als auch zu einer größeren Gewißheit gebracht werden und daß ihre Verknüpfung mit gewissen Wahrheiten durchschaut wird“. ⁷⁵ Merkwürdig ist jedoch, dass Wolff im darauffolgenden Satz das methodische Proprium, das seine eigene Philosophie von der scholastischen abgrenzen sollte, nämlich die demonstrative Methode, als ein allgemeines Merkmal künstlicher Ontologien bezeichnet: „Dies wird auch daraus klar, daß sie mit der demonstrativen Methode behandelt wird.“⁷⁶ Die logischen Probleme der Wolff’schen Konzeption sollen hier allerdings nicht weiterverfolgt werden; viel wichtiger ist es, zwei entscheidende Implikationen dessen, was hier dargelegt worden ist, explizit festzuhalten: (1) Eine Ontologie existiert überall dort, wo eine natürliche Sprache bzw. eine Alltagssprache existiert, weil Ontologien nichts anderes als künstliche, d. h. terminologische, Entfaltungen der abstrakten Begriffe und sie durchziehenden Verhältnisse darstellen, die in der natürlichen Sprache implizit bereits vorhanden sind. (2) Es gibt demzufolge eine scholastische Ontologie unabhängig davon, ob die Scholastik neben der Metaphysik das, was später Ontologie genannt worden ist, als Ontologie konzeptualisiert hat oder nicht. Ontologie ist keine Option, für oder gegen die man sich entscheiden kann, sondern lediglich ein Indikator des Reflexivitätsniveaus einer Kultur; die Ausformulierung einer Ontologie hingegen stellt ein sekundäres Phänomen dar gegenüber den ontologischen Gehalten, welche natürliche Sprachen unweigerlich zumindest untergründig durchwirken. Lediglich die Entscheidung, eine Ontologie zu formulieren oder nicht zu formulieren, kann individuell vollzogen oder verweigert werden. Überträgt man dies auf die Antike, so lässt sich sagen: Von einer antiken Ontologie zu reden, ist demgemäß nicht verfehlt, sondern geradezu folgerichtig und notwendig.

   

Ebd.: § 24. Ebd. Ebd. Ebd.

2.1 Ontologie und Metaphysik. Prolegomena

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Wolff vollendet die von Pererius inaugurierte Traditionslinie, in welcher die Loslösung der Ontologie von der Metaphysik stattfindet, indem er die Ontologie nicht nur zur Königsdisziplin einer de nomine noch immer als Metaphysik verstandenen Philosophie macht, sondern sie darüber hinaus so weitreichend fundamentalisiert, dass die retrospektive Betrachtung der Antike keine Metaphysik mehr ohne ihre ontologischen Grundlagen zu denken vermag. Dabei handelt es sich jedoch keineswegs um die Etablierung einer Vorurteils-Struktur, die zu überwinden wäre, sondern vielmehr verhält es sich so, dass das, was als Ontologie in den philosophischen Sprachgebrauch Eingang gefunden hat, lediglich ex post eine begriffliche Grundlagenarbeit bezeichnet, die von jeher in aller Metaphysik de jure geleistet werden musste und de facto geleistet worden ist. Weil dies so ist, kann Wolff sich auch in einem Kontinuitätsverhältnis zur Scholastik⁷⁷ sehen und als deren Verbesserer statt bloß als deren Überwinder verstehen; zugleich steht Wolff damit in einem Konkurrenzverhältnis zur Scholastik. Sämtliche Differenzen, in welchen die Trennung von Ontologie und Metaphysik ihren Ausdruck findet, ob die zwischen scientia generalis und scientia divina (Pererius), metaphysica generalis und metaphysica specialis (Schulmetaphysik nach Pererius) oder Ontologie und natürlicher Theologie (Wolff), werden innerhalb der Metaphysik getroffen und unter deren Namen versammelt; sie werden damit auch unter dem Namen des traditionsstiftenden aristotelischen Hauptwerks versammelt. Der Begriff der Ontologie bildet daher historisch gesehen eine neuzeitliche Akzentuierung des Selbstverständnisses der Metaphysik und einen Aspekt ihrer internen Ausdifferenzierung; von einer klassischen Ontologie zu reden, ist daher nicht nur legitim, sondern konsequent, will man die philosophische Überlieferung ernstnehmen und nicht künstlich von gegenwärtigen, weitestgehend⁷⁸ säkularisierten Ontologien her zerreißen und überblenden.

 In diesem Kontinuitätsverhältnis gründet Wolffs ambivalente Haltung zum aristotelischen Erbe, worauf Nicolai Hartmann in Zur Grundlegung der Ontologie hinweist: „Christian Wolf hat die Aristotelische Bestimmung in wörtlicher Übereinstimmung aufgenommen. Er bestimmt die philosophia prima als scientia entis in genere seu quatenus ens est. Die weitere Durchführung zeigt freilich, daß er das ens nicht streng im Sinne des „Seienden“ nimmt; die Bedeutung nähert sich nach scholastischer Weise dem, was wir „Gegenstand“ nennen würden. Damit wäre der streng ontologische Sinn der Formel preisgegeben.“ (Hartmann 1965: 39)  Die Renaissance der Metaphysik indiziert, dass Ontologien, die säkulare Autarkie erstreben, eine Weigerung darstellen, die Gehalte ihrer Begrifflichkeit konsequent und damit zu Ende zu denken.

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

2.2 Die klassische Ontologie: Von der Metaphysik zur Ontologie des Lebens 2.2.1 Prolegomena Die Philosophie des Aristoteles wird im folgenden Kapitel in fokussierter und gedrungener Weise darauf hin befragt, welche Rolle die Akt-Potenz-Relation als organisierender Faktor innerhalb ihrer spielt. Diese Fragestellung hat nicht den Zweck, originell zu sein; bereits Edith Stein hat sie – und womöglich gar nicht als erste – gestellt und nennt es „ein gewagtes Unternehmen, aus einem geschlossenen System ein einzelnes Begriffspaar herauszugreifen, um ihm auf den Grund zu kommen“.⁷⁹ Aus der Tatsache, dass der Rückgang auf Aristoteles bereits Teil des ontologischen Projekts von Edith Stein war, erklärt sich der eher kursorische Charakter der folgenden Auseinandersetzung mit dieser Philosophie ebenso wie die Tatsache, dass Stein selbst mehr Raum zugedacht wird. Thomas von Aquin, der zweite Lehrmeister Steins neben Aristoteles, wird innerhalb des Stein-Kapitels nur beiläufig behandelt, da Thomas weder die systematisch-terminologische Gründungsfigur ist, auf welche eine Transformation der Ontologie immer zurückgehen muss, noch hinreichend bestimmend für die spezifische moderne Gestalt der philosophischen Anthropologie und Ontologie Edith Steins ist, sondern vielmehr als theologische Inspiration für Steins Denken fungiert. Die Privilegierung Edith Steins in dieser Dreierreihe ergibt sich zum einen aus ihrem historischen Ort – der Tatsache also, dass sie innerhalb der Moderne und im Angesicht der Moderne philosophiert, sowie aus ihrer Zeitgenossenschaft mit Plessner, für den dasselbe gilt; zum anderen gründet die Privilegierung Edith Steins darin, dass sie eine wichtige begriffliche und systematische Innovation der Moderne ins Zentrum ihrer philosophischen Anthropologie integriert, nämlich die durch Scheler inaugurierte und von Plessner ebenfalls für verbindlich anerkannte Zentralisierung der Kategorie der Personalität. Im Folgenden soll die aristotelische Ontologie als eine Ontologie des Lebens gelesen und dargestellt werden. Diese Interpretation orientiert sich an der Rolle von Akt und Potenz innerhalb dieser Ontologie des Lebens, die ihre vorrangige Darstellung und begriffliche Grundlegung in De anima und der Metaphysik, teilweise aber auch in der Physik findet. Die aristotelischen Grundbegriffe und -konzepte, z. B. die Bestimmung des Substanzbegriffs, erfahren ihre Ausformung in den genannten Werken, ohne in konsistenter Systematisierung durch alle Werke hindurch auffindbar zu sein; eine solche Konsistenz vorauszusetzen oder als

 EES: 7.

2.2 Die klassische Ontologie: Von der Metaphysik zur Ontologie des Lebens

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analytisches Ziel sich vorzugeben, wäre verfehlt allein schon angesichts des konvoluthaften Charakters der nicht von Aristoteles als einheitliches Buch verfassten Metaphysik. Thomas Szlezak geht im Vorwort zu seiner Übersetzung der Metaphysik sogar soweit, von dem Buch zu reden, „das wir gemeinhin etwas gedankenlos ‚die Metaphysik des Aristoteles‘ nennen“.⁸⁰ Von Szlezàks konzisen und kenntnisreichen Ausführungen her erscheint es letztlich fraglich, ob es überhaupt gerechtfertigt ist, das Sammelsurium von Überlegungen als ein Buch zu tradieren und zu drucken. Doch Szlezak unterscheidet zwischen der ‚Metaphysik‘ als Buch und der – selbst wiederum strittigen – „Einheit der metaphysischen Theorie“⁸¹ des Aristoteles. Eine solche Einheit soll hier nicht naiv vorausgesetzt werden, aber die heuristische Präsupposition der kurzen und in groben Zügen verfahrenden Skizzierung gewisser Grundlinien und -formen des aristotelischen Denkens bilden; eine solche Orientierung fasst die theoriestrukturell und begrifflich maßgeblichen Minima ins Auge, ohne sich beispielsweise in Detailfragen der im Buch B entfalteten 14 Aporien zu versenken und von denselben her die Metaphysik, in ihrer Gesamtheit und als Gesamtheit aufgefasst, auf ihre interne Konsistenz hin zu befragen. Den hermeneutischen Fluchtpunkt der Betrachtungen stellt die Explikation der Rolle von Akt und Potenz in der als immanent anthropologische Ontologie des Lebens zu lesenden Philosophie des Aristoteles dar.

2.2.2 Die Grundlagen der Metaphysik in der Physik Aristoteles unterscheidet in der Physik zwischen dem methodischen Gang der natürlichen Erkenntnis und dem der theoretischen Betrachtung, die sich hinsichtlich ihres Ausgangspunktes unterscheiden; während die natürliche Erkenntnis vom Besonderen ausgeht,⁸² behandelt die theoretische Betrachtung zuerst das Allgemeine,⁸³ um von da aus zum Besonderen zu gelangen. Die Methodendifferenz ist nicht disjunktiv zu verstehen, da beide Wege notwendig gegangen werden müssen und natürliche Erkenntnis und theoretische Betrachtung in der philosophischen Betrachtung zueinander führen. So setzt Aristoteles bei dem an, was sich unserem Streben nach Einsicht zunächst darbietet, also beim

 Szlezak 2003: vii  Ebd.: xxiii.  „Nun ist es aber das natürliche Schicksal unserer Erkenntnis, daß sie auszugehen hat von dem, was für uns das Einsichtigere und Deutlichere ist, und weiterzugehen zu dem, was an ihm selbst das Deutlichere und Einsichtigere wäre.“ – Phys. I 1, 184a.  „Denn es liegt in der Natur (der theoretischen Arbeit), erst das Allgemeine zu behandeln und dann die Sonderverhältnisse des Einzelnen zu studieren.“ (ebd. I 7: 189b)

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

Beweglichen in seiner sinnlichen Gegebenheit. Das bewegliche Seiende fasst Aristoteles im ersten Buch der Physik auch als Naturprodukt oder Naturgebilde (als Beispiele führt Aristoteles Tiere, Pflanzen aber auch „Elementarkörper“ wie die Erde an),⁸⁴ deren elementares Merkmal –und hier setzt Aristoteles mit der Bestimmung des Allgemeinen als dem Ersten der theoretischen Arbeit ein –ihre Prozesshaftigkeit ist: „Die Naturgebilde sind prozeßhaft, und zwar entweder alle oder aber wenigstens zum Teil; die methodische Erfahrung erweist es.“⁸⁵ Die methodische Erfahrung meint hier wiederum die sinnliche Erfahrung, in welcher die Natur ihrer allgemeinen Bestimmung nach als prozesshaft sich auch dann erweise, wenn ein prozessfreies Seiendes deren Bestimmungsgrund bilde.⁸⁶ Im gleichen Maße nun, wie den Naturgebilden Prozessualität⁸⁷ zukommt, ist ihre Existenz zeitlicher und ihre Konstitution räumlicher Natur; Existenz in der Zeit und Prozessualität bilden bei Aristoteles zwei Seiten einer Medaille: „Gibt es aber […] Zeit, dann zweifellos auch Prozessualität, so gewiß die Zeit eine Art von Bestimmtheit an der Prozessualität ist.“⁸⁸ Was in der Zeit existiert, existiert notwendigerweise zugleich im Raum als Teilbares: „Jeder Gegenstand, der einen Prozeß soll durchmachen können, muß teilbar sein.“⁸⁹ Die Teilbarkeit ist jedoch eine doppelte, eine sowohl räumliche als auch zeitliche, da sowohl Gegenstände teilbar im Sinne der Zerlegbarkeit sind als auch zeitlich im Sinne der Einteilung von Prozessen in temporäre Zustände und Phasen.⁹⁰ Die Unmöglichkeit, empirische Gegenstände raum- und zeitlos zu denken, wird von Aristoteles auf der Objektebene als Bestimmung der Seinsweise der physischen Welt selbst gefasst. Aufgrund dieser Verortung der Bestimmungen von Raum und Zeit im Objekt selbst, liegt es nahe, die Physik strikt objektbezogen als „eine Wissenschaft von einer bestimmten Gattung des Seienden“,⁹¹ nämlich von „solchem Seienden, das bewegt werden kann“,⁹² zu bestimmen. Das sich bewegende Seiende befindet sich in Veränderung und im Werden. Das Werden bestimmt Aristoteles nicht einfach abstrakt als Veränderung im Sinne

 Ebd. II 1: 192b.  Ebd. I 2: 185a.  „Selbst wenn es der Wahrheit entspricht, was von einigen behauptet wird, daß nämlich das Seiende unendlich und prozeßfrei sei, so ergibt doch die sinnliche Erfahrung nichts von alledem, sondern gerade die Prozeßhaftigkeit einer Menge von Dingen.“ (ebd. VIII 3: 254a)  Mit „Prozessualität“ und „Prozess“ wird durchgängig der aristotelische Begriff der κίνησις (Bewegung) übersetzt.  Ebd. VII 1: 251b.  Ebd. VI 4: 234b.  Vgl. ebd.  Met. E 1: 1025a.  Ebd.

2.2 Die klassische Ontologie: Von der Metaphysik zur Ontologie des Lebens

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des Aufeinanderfolgens verschiedener Zustände oder der wechselnden Bestimmtheiten an einem Gegenstand, sondern als Werden gemäß den für das Werden konstitutiven Prinzipien, die Aristoteles in geradezu axiomatischer Weise bestimmt: „Für jedes Werdende sind das Zugrundeliegende und die Gestalt die konstitutiven Prinzipien.“⁹³ Die Prinzipien bestimmt Aristoteles auch als (Fundamental‐)Gegensätze und begründet sowohl ihren Fundamentalcharakter als auch ihren Status als Gegensätze: „[W]eil sie Fundamentalität haben, eignet ihnen Unabhängigkeit gegenüber dem Sonstigen; weil sie Gegensätze sind, (schließen sie einander aus, gehen also gewiß nicht auseinander hervor, vielmehr) besitzen sie Unabhängigkeit gegeneinander.“⁹⁴ Aus ihrer Fundamentalität und Gegensätzlichkeit ergibt sich auch, dass Prinzipien keine Bestimmtheiten von Zugrundeliegendem sind,⁹⁵ die an Zugrundeliegendem eigenschaftlich auftreten. Als Bestimmtheiten von Zugrundeliegendem wären sie nicht von diesem unabhängig; sie wären darüber hinaus nicht nur der Veränderung der Gestalt unterworfen, sondern sie müssten wie die konkreten Eigenschaften, die an Zugrundeliegendem auftreten, entstehen und vergehen können. Sie wären dann sowohl untereinander als auch von kausalen Relationen zur Gestalt abhängig. Doch nicht nur bilden die notwendig als Gegensatzpaare auftretenden Prinzipien,⁹⁶ z. B. warm und kalt, keine Bestimmungsgründe der Bestimmtheiten, die an Gegenständen erscheinen, sie stehen überdies „nicht im Verhältnis eines realen Einflusses zueinander“.⁹⁷ Warm und kalt, die Aristoteles als Beispiele für Prinzipien anführt, sind jedoch relationale Phänomene, die im Verhältnis der Gradualität zueinander stehen und in ihrer höchsten Intensitätsform Pole eines Spektrums bilden, innerhalb dessen Gegenstände in allerlei Abstufungen auftreten. Dem versucht Aristoteles mittels des Begriffs der Dimensionalität gerecht zu werden, welchen er am Beispiel des Verhältnisses von schwarz und weiß expliziert. Aristoteles zufolge könne nur Nichtweißes weiß werden, wobei der nichtweiße Gegenstand „nicht ein Gegenstand von beliebiger Bestimmtheit, sondern ein schwarzer und ein solcher, dessen Bestimmtheit einen Wert innerhalb der Dimension Schwarz-Weiß darstellt“,⁹⁸ sei. Prinzipien bilden Aristoteles zufolge also die polaren Enden innerhalb von Dimensionen, modern gesprochen:

 Phy. I 7: 190b.  Phys. I 5: 188a.  Den Zirkel, der daraus resultieren würde, bringt Aristoteles konzise, wenn er sagt, ein Prinzip dürfe „Nicht eine bloße Bestimmtheit an einem möglichen Urteilsgegenstande sein; denn sonst brauchen wir zum Prinzip hinzu sogleich ein Prinzip dieses Prinzips.“ (ebd. I 6: 189a)  „Die Prinzipien treten notwendig als Gegensatzpaare auf.“ (ebd. I 5: 189a)  Ebd. I 7: 190b.  Ebd. I 5: 188b.

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

von Spektren; darin gleichen sie idealen Gebilden, deren Zweck darin besteht, Verhältnisse bestimmen und Bewegungsrichtungen erfassen zu können, ohne dass den entgegengesetzten Prinzipien ein Gegenstand entsprechen könnte oder müsste, der sie in Reinform realisiert. Die oben zitierte Elementarbestimmung allen Werdens – „Für jedes Werdende sind das Zugrundeliegende und die Gestalt die konstitutiven Prinzipien“⁹⁹ – enthält mit dem Begriff des Zugrundeliegenden noch einen ungeklärten Begriff, der ins Zentrum des aristotelischen Denkens führt. Unter dem Namen des Zugrundeliegenden handelt Aristoteles in der Physik das Substanzproblem ab. Für einen Zugang zum Substanz-Begriff, wie er in der Physik verwendet wird, bietet sich vorbereitend ein Blick in die Kategorien-Schrift an, wo Aristoteles im fünften Kapitel anhand seines an vielen systematisch wichtigen Stellen leitmotivisch verwendeten Beispiels des Menschen zwischen zwei Arten von Substanzen unterscheidet. Unter der ersten Substanz versteht Aristoteles hier den individuellen Menschen, unter der zweiten Substanz den Menschen als Art- und Gattungswesen. Die erste Substanz – der Begriff wird hier, wie noch zu zeigen sein wird, in einem gänzlich anderen Sinn als in der Metaphysik verwendet –, also der individuelle Mensch, bildet gegenüber dem Menschen als Art- oder Gattungswesen das Zugrundeliegende im Sinne des gegenüber dem Allgemeinen Realen, weshalb Aristoteles sagt: „Alles andere wird entweder von den ersten Substanzen als dem Zugrundeliegenden ausgesagt oder ist in ihnen als dem Zugrundeliegenden.“¹⁰⁰ Obwohl Aristoteles zumeist das Zugrundeliegende im Sinne der ersten Substanz, wie er sie in den Kategorien bestimmt, verwendet, wird das Zugrundeliegende in der Physik konsequent relational bestimmt, d. h. als ein wiederum Höherstufigem Zugrundeliegendes, so wenn Aristoteles sagt, dass auch die Substanzen „nur aus etwas Zugrundeliegendem entstehen“.¹⁰¹ Das Reich der Substanzen bildet dann keine geschlossene Sphäre und keine theoretisch unhintergehbare Erstheit bzw. Letztheit, sondern das Material (Aristoteles verwendet den Begriff teilweise synonym mit dem der „Materie“) bildet selbst wiederum ein der Substanz Zugrundeliegendes, das zugleich ein Quasi-Element derselben ist, weshalb Aristoteles sagt, dass das Material „in gewissem Sinne“ Substanz sei: Das Material „steht dem, was Substanz heißt, sehr nahe und ist sogar in gewissem Sinne Substanz“.¹⁰² Vom Zugrundeliegenden sagt Aristoteles, dass es „numerisch Eines, der Artung nach aber ein Doppeltes“¹⁰³ sei. Es ist numerisch eins als die im Hier und Jetzt

 Ebd. I 7: 190b.  Cat. 5: 2a.  Phys. I 7: 190b.  Ebd.: I 9: 192a..  Ebd.: I 7: 190b.

2.2 Die klassische Ontologie: Von der Metaphysik zur Ontologie des Lebens

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aktuell existierende erste Substanz (dieser Mensch), der Artung nach aber ein Doppeltes, weil auch dieses Zugrundeliegende wiederum eines Zugrundeliegenden als seines konstitutiven Prinzips bedarf. Diesen Zusammenhang führt Aristoteles in der Physik nicht vollständig durch, die Durchführung müsste sonst schon selbst die Metaphysik enthalten. In der Bestimmung des numerisch einen Menschen als gebildet koinzidieren Bestimmung und Sein – Aristoteles fasst explizit „Artung (einer Sache) und Begriff (einer Sache) als dasselbe“¹⁰⁴ auf – insofern, als Substanz (Mensch) und Akzidens (gebildet/ungebildet) komplementäre Momente des jeweiligen Menschen als einer „komplexe[n], aus beiden zusammengesetzte[n] Bestimmtheit“¹⁰⁵ sind. Diese Zusammengesetztheit ist trotz der Identität von Begriff und Artung der Sache asymmetrischer Natur, weil vom Menschen nur aussagbar ist, was von ihm als Mensch ausgesagt wird. Er bleibt der notwendige Bezugspunkt der Prädikation; Artungen sind hingegen viele möglich, denn „es ist nicht die nämliche (Bestimmtheitsart), ob etwas ein Mensch oder aber ungebildet ist“.¹⁰⁶ Artungen dieser Art sind akzidentelle Bestimmungen des Menschen wie sein Gebildetsein, das im Unterschied zu seinem Menschsein an seinen Gegensatz, das Ungebildet-sein, gebunden bleibt, denn „dem Menschen, der gebildet wird, bleibt das Menschsein; dem Ungebildeten, der gebildet wird, bleibt die Ungebildetheit nicht“.¹⁰⁷ Akzidentelle Bestimmungen von Substanzen sind als solche kontingent, nicht aber in ihrem Auftreten an der jeweiligen Substanz selbst, deren Vorrang wegen die akzidentellen Bestimmungen kein ihr Zugrundeliegendes sein können noch das Werden eines Zugrundeligenden bestimmen können. Denn für das Werden eines jeglichen Zugrundeliegenden gilt: „Bei all diesen Werdensweisen entsteht nun aber das Werdende zweifellos aus etwas Zugrundeliegendem.“¹⁰⁸ Aufgrund der Identität von Artung und Begriff führt die konsequente Zurückführung von Werdendem auf sein Zugrundeliegendes begrifflich und damit zugleich real-konstitutiv über die Physik hinaus zu einem Ersten, das aller Physik zugrunde liegt. Anders gesagt: Begriffslogik und Konstitutionslogik koinzidieren, wobei die Aristotelische Konstitutionslogik gemäß der realistischen Methodik entitär zu denken ist. Sie durchbricht die tautologische Identität eines geschlossenen Reichs der Substanzen, in dem die kleinste Einheit, d. h. die individuelle, real existierende Substanz als entstehungslose Erstheit und Letztheit angesetzt werden muss, hinter die nicht zurückgefragt werden kann, dadurch, dass sie eine nicht prinzipiell abgeschlossene Stufenfolge etabliert, in-

    

Ebd. Ebd.: 190a. Ebd. Ebd. Ebd.: 190b.

76

2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

nerhalb welcher verschiedene Stufen des Zugrundeliegenden (Materie, erste Substanz qua individueller Mensch, zweite Substanz qua Art- und Gattungswesen) gegenüber der jeweils nächsthöheren Stufe im Sinne einer notwendigen, aber nicht hinreichenden Bedingung den real-konstitutiven Ermöglichungsgrund bilden.¹⁰⁹

2.2.3 Übergang zur Metaphysik Den real-konstitutiven Ermöglichungsgrund alles Werdens, das als solches prozessual ist, bildet Aristoteles zufolge eine „prozeßfreie Prozeßursache“,¹¹⁰ also ein Prozessfreies, das zugleich als Quelle aller Prozessualität aufzufassen sei, die einen Gegenstand der Naturphilosophie bilden kann. Mit „Prozess“ wird in der hier verwendeten Übersetzung durch Hans Wagner das griechische κίνησις (kinesis) übersetzt. Die Ungenauigkeit der Übersetzung springt ins Auge; allein schon die semantische Bedeutung der grammatischen Form von „Bewegung“ artikuliert die Tätigkeit des Sich-Bewegens, verweist also im Unterschied zum begrifflich zunächst objektindifferenten Prozess auf ein sich Bewegendes. Die modernisierende Übersetzung von κίνησις mit „Prozess“ verhält sich gar ironisch zur aristotelischen Intention und Rezeptionsgeschichte, weil das Prozessdenken im 20. Jahrhundert, besonders in Gestalt des Whitehead’schen Denkens, sich als Prozessdenken im fundamentalen Unterschied zu einem jeglichen Substanzdenken begreift, als dessen Ahnherr Aristoteles stets einen mindestens indirekt mitgemeinten polemischen Referenzpunkt bildet. Die Übersetzung ist auch irreführend, weil die unbewegliche Substanz und damit die „prozeßfreie Prozeßursache“ im griechischen Original als ούσία ακίνητος (ousia akinetos) bezeichnet wird. Wo im Folgenden also von „Prozess“ die Rede ist, ist derselbe stets im Sinne von „Bewegung“ zu denken. Die Frage nach dem Prozessfreien stellt sich in der Physik in mehrfältiger und hier nicht in ihren Einzelheiten zu verfolgender Weise; sie stellt sich aber auch konkret als die Frage nach dem Prozessfreien im Sinne der Metaphysik (sowohl der

 Im nächsten Kapitel wird sich von den explizierten theoretischen Voraussetzungen her erst zeigen können, inwiefern der gebildete Mensch im Gesamtzusammenhang der aristotelischen Philosophie von der Aktualität der Bildung her zu verstehen ist und diese nicht aus der Materialität der physischen Konstitution hinreichend erklärbar ist. Solange man nicht in De anima und der Metaphysik zentrale, an die Relation von Akt und Potenz gebundene, Begriffe wie den der Entelechie und die teleologische Ausrichtung der aristotelischen Philosophie in Betracht zieht, nimmt das Verhältnis die Gestalt letztlich scheinhaften einseitigen Bedingtheit an.  Ebd. III 3: 201a.

2.2 Die klassische Ontologie: Von der Metaphysik zur Ontologie des Lebens

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Sache als auch dem Werktitel nach verstanden), wodurch in der Physik die Notwendigkeit eines unbewegten Bewegers klar zur Sprache gebracht wird: „Da es Prozessualität zu jeder Zeit geben muß und sie niemals aussetzen kann, muß es ein Ewiges geben, welches die letztendliche Quelle dieser Prozessualität darstellt: sei es in der Form eines einzigen Gegenstands, sei es in der Form einer Mannigfaltigkeit von Gegenständen.“¹¹¹ Die Frage nach diesem Ewigen als der letzten Ursache dessen, was die Physik behandelt, stellt sich nicht als Frage der Physik und damit der Naturphilosophie: „Was nun die Frage nach etwaiger Einzigkeit und Prozeßlosigkeit des Seienden angeht, so ist sie gar keine Frage, welche die Natur betreffen könnte“,¹¹² denn das prozessfreie bzw. nicht bewegt werdende Seiende entzieht sich der methodisch an die sinnliche Erfahrung gebundenen Physik, „ergibt doch die sinnliche Erfahrung nichts von alledem, sondern gerade die Prozeßhaftigkeit einer Menge von Dingen“.¹¹³ Für den Übergang von der Physik zur Metaphysik ist zentral die Unterscheidung zweier Prozess- bzw. Bewegungsquellen, die Aristoteles durchführt: „Als Prozessualitätsquelle kommt in Frage einmal ein Gegenstand aus der Klasse der selbst prozeßhaften Gegenstände, nämlich ein solcher, der selbst Quelle seiner Prozesse ist, sodann aber als alles umfassende Prozeßquelle diejenige, die von jeder Prozessualität selbst frei ist.“¹¹⁴ Als selbst prozesshafte Prozessquellen führt Aristoteles „die Gattung der Organismen und speziell der Tiere“¹¹⁵ an, schränkt jedoch deren Fähigkeit, über sich selbst zu verfügen, ein, indem er sagt, dass „im Innern der Tiere natürliche Prozesse, für welche die Tiere nicht selbst die Quellen darstellen“,¹¹⁶ ablaufen; sie sind also nicht von jeder Prozessualität frei und in letzter, wie immer weitläufig vermittelter Instanz selbst von einer absoluten Prozessquelle abhängig. Aristoteles exemplifiziert dies am Beispiel der Nahrung, deren Umwandlung in vom Körper benötigte Energie eine Umformung dessen darstelle, „was dem Organismus mit entgegengesetzter Bestimmtheit gegenübersteht“.¹¹⁷ Diese Umwandlung bedürfe selbst wiederum einer dem Organismus innewohnenden Prozessquelle, welche diesen als „Qualitätsveränderung“¹¹⁸ aufgefassten „Übergang aus möglicher Wärme zu wirklicher Wärme (am Nah-

       

Ebd. VIII 8: 258b. Ebd. I 2: 184b – 185a. Ebd. I 3: 254a. Ebd. VIII 6: 259a – b. Ebd. VIII 6: 259b. Ebd. Ebd. VIII 7: 260a. Ebd.

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

rungsmittel) bewirkt“.¹¹⁹ Welches Vermögen diesen Übergang zu vollziehen imstande ist, wird Gegenstand des folgenden Kapitels sein und einen Rekurs sowohl auf den Begriff der Selbstbewegung in De anima als auch die Akt-Potenz-Relation erfordern. In diesem Zusammenhang entscheidend ist vielmehr, wovon Aristoteles die selbst prozesshaften Prozessquellen abgrenzt und die Tatsache, dass das Problem der Metaphysik, nämlich die Frage nach dem ewigen und einzigen Seienden, sich aus der Reflexion eines physikalischen Grundbegriffs, nämlich der Prozessualität, ergibt. Die Prozessualität selbst wiederum muss von einem Begriff her verstanden werden, in dem der unbewegte Beweger der Metaphysik bereits anklingt, nämlich dem der κίνησις (Bewegung), welche Aristoteles zufolge den Urtyp aller Prozessualität darstelle: „Wenn nun drei Prozeßtypen zu unterscheiden sind: Veränderung der Größe, Veränderung der sinnlichen Qualität und Veränderung des Orts, welch letztere Bewegung heißt, dann ist dieser letztere als der Urtyp aller Prozessualität anzusehen.“¹²⁰ Konsequent zu Ende gedacht muss als Quelle aller Prozessualität, die nicht als letzter Grund anzunehmen ist, eine entstehungslose und damit unbewegte Entität stehen, welche alle Entstehung und Bewegung initiiert, d. h. ein unbewegter Beweger. Den unbewegten Beweger definiert Aristoteles als „ein Ewiges, das Substanz (ούσία, ousia) und Wirklichkeit (Aktualität, ενέργεια, energeia) ist“.¹²¹ Dieses Ewige sei kein Mittleres, also kein als selbst Bewegtes zwischen bewegendem Bewegtem und von ihm Bewegten Stehendes, und auch kein Letztes, das als solches den Endpunkt einer Kette von Bewegungen und daher ein Bewegtes bildet.¹²² Der unbewegte Beweger, als Wirklichkeit aufgefasst, ist kein Wirkliches gegenüber der als ein bloß Scheinhaftes aufgefassten physischen Realität; er nimmt dieser nichts von ihrem Realitätsgehalt, sondern bildet „lediglich“ ihren letzten Grund als alle – in Wirklichkeit und Möglichkeit als ontologische Momente zerfallende – empirische Wirklichkeit ermöglichende metaphysische Wirklichkeit. Er ist Wirklichkeit qua ενέργεια als Ewiges, weil er sowohl immer als auch ausschließlich Wirklichkeit ist, er ist also notwendig ungeteilt, da die Teile selbst wieder bewegt werden müssten: „Da es aber etwas gibt, das in Bewegung hält und selbst unbewegt ist und in Aktualität existiert, so kann dieses sich in keiner Hinsicht anders verhalten.“¹²³

    

Ebd.: 260b. Ebd.: 260a. Met. Λ 7 (12. Buch): 1072a. Vgl. ebd. Ebd.: 1072b.

2.2 Die klassische Ontologie: Von der Metaphysik zur Ontologie des Lebens

79

Da der unbewegte Beweger „in Bewegung hält“, ist er nicht im Sinne eines singulären Ereignisses zu denken; die Bewegung ist nicht einmal von einem Ewigen angestoßen worden und nimmt seitdem ihren Gang, sondern sie wird in Gang gehalten, weil der unbewegte Beweger nicht nur ein Wirkliches (ein höheres Wirkliches könnte im Sinne der einmaligen Initialisierung einer anschließend fortlaufenden Bewegung gedacht werden), sondern selbst Wirklichkeit ¹²⁴ ist, Wirklichkeit als solche also erfüllt statt nur deren zeitlichen Anfang oder ihren sie verursachenden Anstoß zu bilden. Szlezáks Übersetzung von ενέργεια mit „Wirklichkeit“ wird auch von Georg Picht gestützt, der darauf hinweist, dass nicht ενέργεια mit dem bereits vorhandenen Begriff „Wirklichkeit“ übersetzt, sondern der Begriff „Wirklichkeit“ zur Übersetzung von ενέργεια überhaupt erst geprägt worden sei: „Nur wenige wissen, daß die deutsche Mystik im 14. Jahrhundert dieses deutsche Wort geprägt hat, um den aristotelischen Begriff ενέργεια zu übersetzen.“¹²⁵ Der unbewegte Beweger als Wirklichkeit erfüllendes Prinzip derselben garantiert mit der von ihm instantiierten Bewegung zugleich die Wirklichkeit der Wirklichkeit, die sich uns in der Erfahrung darbietet. Der unbewegte Beweger ist also nicht nur das definitorisch und epistemologisch identitätsstiftende Prinzip der Physik insofern, als das Denken der Ursachen der Bewegung bei einem unbewegten Ersten ankommen muss, will es den infiniten Regress vermeiden, sondern es ist das real identitätsstiftende Prinzip, weil die Deduktion des unbewegten Bewegers gemäß der realistischen Methodik und der sie kenn-

 Vgl. Schopenhauers Hinweis auf die semantische Bedeutung der Endsilbe „-keit“ in Schopenhauer 1988a: 467.  Picht 1992: 38. – Es soll trotz aller Plausibilität dieser Übersetzung nicht unerwähnt bleiben, dass Aryeh Kosman in seinem Buch The Activity of Being. An Essay on Aristotle’s Ontology die englische Komplementärvariante zu „Wirklichkeit“, nämlich „actuality“, massiv angreift und behauptet, dass die aristotelische Ontologie nur dann richtig verstanden werden könne, wenn man actuality durch activity (sowie potentiality durch ability und substance durch being) ersetze (vgl. Kosman 2013,viii f.), wobei ένέργεια jedoch auch teilweise im Sinne von activity zu übersetzen sei. (vgl. ebd.: 9) Kosmans Neuinterpretation kann hier nicht im einzelnen verfolgt werden; die begriffliche Umstellung markiert jedoch eine Umkehrung des Vorrangs des kosmologischen vor einem handlungstheoretischen Grundverständnis, was sich in Kosmans Definition der Bewegung (motion) als „something’s ability to be something“ (ebd.: 46) zeigt, welche Bestimmung in Verbindung mit der Übersetzung von ένέργεια mit activity mutmaßen lässt, dass hier das „something“ nach „someone“ modelliert werde (dazu vgl. ebd.: 69). Die ένέργεια wird bei Kosman tendenziell ent-kosmologisiert und anthropomorphisiert; sie bildet dann kein ontologisches Strukturmoment mehr, das auf verschiedenen Ebenen wirkt, sondern wird als activity nach dem Modell eines Akteurs in diesen als ein Aktivitätszentrum verlegt. In der kosmologischen Interpretation muss die ενέργεια dann re-kosmologisiert bzw. der Kosmos anthropomorphisiert werden. Das είδος wird im Falle des Menschen nicht mehr von der Form-Materie-Relation her bestimmt, sondern diese vom humanspezifischen είδος her.

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

zeichnenden Identität von Sache und Begriff den metaphysischen Ursprung der Physik freilegt. Die ενέργεια zu denken heißt, die Wirklichkeit als Wirklichkeit zu denken; aufgrund der Identität von Erkenntnis und Sein ist der Aristotelische Realismus eine Ontologie des Lebens und als solche eine Ontologie der Wirklichkeit des Lebens. Das Verhältnis zwischen ενέργεια und νόησις wird dies verdeutlichen. Der unbewegte Beweger ist nicht reine ενέργεια im Sinne eines blinden Bewegungsprinzips; wäre er es, so wäre Aristoteles eher als Vorläufer Schopenhauers denn als Vorläufer Hegels zu lesen, als welchen Picht ihn systematisch einführt und interpretiert. Zwar bestimmt Aristoteles ihn – modern gesprochen – als Ursprung (αρχή), als solchen jedoch zugleich als Denktätigkeit (νόησις): „Wir streben eher nach etwas, weil wir es (für schön) halten, als daß wir es dafür hielten, weil wir es erstreben; denn Prinzip (Ausgangspunkt, άρχή, arche) ist die Denktätigkeit (νόησις, noesis).“¹²⁶ Was prima facie eine psychologische Erörterung über die menschliche Denktätigkeit darstellt,wird von Aristoteles kosmologisch auf das Prinzip von Himmel und Natur angewandt, über welches Aristoteles in Übertragung des Angeführten sagt: „Seine Lebensweise ist aber so, wie unsere beste es für kurze Zeit ist.“¹²⁷ Das Bestimmtwerden des Denkgegenstandes durch das Denken, die Aristoteles vornimmt, ist daher kosmologisch zu interpretieren als Bestimmtwerden der Bewegung durch den als Geist als dem aufgefassten Beweger: „Sich selbst aber denkt das Denken (der Geist) kraft der Teilhabe am Gegenstand (am Intelligiblen); denn es wird denkbar (intelligibel) durch Berühren und Denken (seines Gegenstandes, so daß Denken und Denkgegenstand (Geist und Intelligibles) dasselbe (werden).“¹²⁸ Wenige Zeilen weiter schreibt Aristoteles dem Denken den „Charakter des Göttlichen“¹²⁹ zu und bestimmt den νους als Gott. Die Bestimmung der ενέργεια als αρχή und νους und die Bestimmung des letzteren als Gott verbindet sich kurz darauf dem Begriff des Lebens, wenn Aristoteles über den νους sagt: „Auch Leben kommt ihm ganz gewiß zu; die Wirklichkeit des Denkens nämlich ist Leben (oder. die Aktualität des Geistes ist nämlich Leben), jener (der Gott) ist aber diese Wirklichkeit (Aktualität). Die ihm an sich zugehörige Wirklichkeit (Aktualität) ist bestes und ewiges Leben.“¹³⁰ Den unbewegten Beweger macht Georg Picht daher gleichermaßen als Zentrum und Schlussstein des aristotelischen Denkens aus: „Hält man hingegen die Lehre νους als dem unbewegten Beweger nach den eindeutigen Aussagen des Aristoteles selbst für den

    

Met. Λ 7 (12. Buch): 1072a. Ebd.: 1072b. Ebd. Ebd. Ebd.

2.2 Die klassische Ontologie: Von der Metaphysik zur Ontologie des Lebens

81

Schlußstein und Höhepunkt seiner gesamten Philosophie, so rückt die Lehre von der Seele notwendig ins Zentrum, weil der νους das höchste Vermögen der Seele ist.“¹³¹ Die Lehre von der Seele interpretiert Picht – und dieser Interpretation schließen wir uns hier an – wiederum als Kernstück der aristotelischen Ontologie des Lebens. Die kosmologische Dimension der Ontologie des Lebens ist damit angedeutet; um die in Bezug auf Plessner wesentlich interessantere „anthropologische“ Variante der Ontologie des Lebens wird es im nächsten Kapitel gehen.

2.2.4 Substanz und Akzidens In der Auseinandersetzung mit der Physik wurde das Substanzproblem bereits gestreift. Die offen gebliebene Frage nach der grundlegenden Bestimmung des Substanzbegriffs, die Aristoteles in der Metaphysik vornimmt und die für De anima wegweisend bleibt, ist daher nun aufzugreifen. Wie wird also der Substanzbegriff in der Metaphysik fundamental bestimmt? Die „erste Substanz“ meint in der Metaphysik das Seiende als Seiendes statt das Einzelding, wie es in den Kategorien der Fall ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Unterscheidungen zwischen den beiden Arten von Substanzen, die Aristoteles in den Kategorien trifft, damit hinfällig wären; vielmehr wird der Substanz-Begriff in der Metaphysik „vervielfältigt“. Allen Bedeutungen von Substanz ist die im Hinblick auf Plessner wichtige Gemeinsamkeit eigen, dass Substantialität das definiens eines jeglichen Seienden in seinem Charakter als Seiendes ist. Aristoteles zufolge wird etwas „seiend“ genannt, weil es Substanz ist, anderes, weil es eine Beschaffenheit (ein Widerfahrnis, πάθος, pathos) der Substanz, anderes, weil es ein Weg zur Substanz oder ein Vergehen, eine Privation, eine Qualität, ein Hervorbringendes oder Erzeugendes von Substanz ist oder von etwas, das mit Beziehung auf die Substanz ,seiend‘ genannt wird, oder eine Negation eines solchen oder einer Substanz; daher sagen wir auch vom Nichtseienden, daß es das Nichtseiende ,ist‘.¹³²

Es gibt also kein Seiendes, das nicht substanzrelativ ist; anders gesagt: Ein jegliches Seiendes ist nur dadurch Seiendes, dass es zumindest substanzrelativ ist, wenn es nicht selbst Substanz ist, weshalb Christof Rapp diese Abhängigkeit von der Substanz in seinem Aufsatz Substanz als vorrangiges Seiendes als das „Prinzip der ontologischen Dependenz“¹³³ bezeichnet, welchem das Prinzip der natürli-

 Picht 1992: 134.  Met. Γ 2 (4. Buch): 1003 b.  Rapp 1996a: 29 f.

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

chen Priorität¹³⁴ entspricht. Picht behauptet gar, dass ούσία mit „Seiendheit“ treffender zu erfassen sei als mit der Bezeichnung „Substanz“: „ούσία heißt weder ‚Substanz‘ noch ‚System‘; das Wort bezeichnet vielmehr das, wodurch sowohl Substanzen als auch Systeme erst möglich werden, nämlich die ‚Seiendheit‘, also den Inbegriff der konstitutiven Merkmale von dem, was ist.“¹³⁵ Dadurch, dass wie im Falle von Privation oder Negation Substanzrelatives als Seiendes gilt, werden Seiendes und Dingliches fundamental unterschieden. Da Aristoteles auch die Qualität unter den Begriff des Seienden subsumiert, fallen auch die Akzidenzien und damit die Eigenschaften von Substanzen unter diesen Begriff. Was Szlezák im obigen Zitat als Beschaffenheit übersetzt, πάθος, wird an anderen Stellen der Metaphysik ¹³⁶ auch mit „Eigenschaft“ übersetzt. Explizit werden die Akzidenzien als Eigenschaften bestimmt, wo Aristoteles das Verhältnis von Substanz und Akzidens am Ausdruck des „gebildeten Menschen“ expliziert. An dieser Stelle sagt Aristoteles, dass dem Menschen, „der eine Substanz ist, ,gebildet‘ akzidentell zukommt“¹³⁷ und dass beide Bestimmungen (,Mensch“ und gebildet“) einem Einzelding akzidentell zukommen, z. B. dem Koriskos. Nur daß die beiden Bestimmungen nicht in derselben Weise zukommen, sondern die eine wohl als Gattung und als Bestimmung in der Kategorie Substanz, die andere als Zustand und Eigenschaft der Substanz.¹³⁸

 Rapp unterscheidet zwischen einer natürlichen und definitorischen und einer daraus sich ergebenden epistemischen Priorität. Das Prinzip der natürlichen Priorität fasst Rapp konzise: „Die Qualitäten, Quantitäten usw. existieren nicht ohne die Substanz, sie hören auf, Seiendes zu sein, wenn die Substanz aufgehoben würde.“ (ebd.: 36) Die definitorische Priorität hingegen meint, „daß die Definition einer nicht- substantialen Bestimmung immer die Definition der jeweiligen Substanz beinhalten muß, so wie etwa die Definition von „gehen“, weil es immer nur als Akzidens eines Lebewesens vorkommt, immer die Definition bestimmter Lebewesen beinhalten muß“ (ebd.: 35). Die Definitionen bewegen sich im Raum des Logos, ohne dass eine prästabilierte Harmonie zwischen der Definition und dem in Wirklichkeit Seienden unterstellt wird; insofern ist die Definition fallibel, solange nicht vorausgesetzt wird, dass sie durch die natürliche Priorität in zutreffender Weise bestimmt wird. Das Prinzip der natürlichen Priorität hingegen ist zunächst epistemisch neutral, weil es nur die Wertigkeit von Bestimmungsgliedern für ein Bestimmungsverhältnis angibt, ohne über die Richtigkeit der Bestimmungen etwas auszusagen und insofern ein elementares Sinnkriterium in Bezug auf den Gehalt von semantischen Ausdrücken darstellt, wie Rapps resümierende Bestimmung zeigt: „[O]hne eine zugrundeliegende Substanz nämlich stellen Prädikate wie ‚gehen‘ diesem Abschnitt zufolge überhaupt nichts Seiendes dar.“ (ebd.: 36)  Picht 1992: 175.  Vgl. z. B. Met. Γ (4. Buch) 2: 1004b, Met. Γ (4. Buch) 12: 1020a und 1020b.  Met. Δ (5. Buch) 4: 1015a.  Ebd..

2.2 Die klassische Ontologie: Von der Metaphysik zur Ontologie des Lebens

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Die Eigenschaften von Substanzen sind durch das Wesen der Substanzen bedingt, ohne wiederum deren Wesen auszumachen, d. h. ohne ein der Substanz Wesentliches zu bilden, weshalb Aristoteles sie auch definiert als das, „was einem Wesen zukommt, ohne zu seinem Wesen (ούσία, ousia) zu gehören“.¹³⁹ Der Unterscheidung zwischen Substanz und Akzidens korrespondiert die zwischen Notwendigkeit und Zufälligem; die Akzidenzien werden von Aristoteles auch als das Zufällige definiert: „Das Akzidens (das Zufällige) ist also eingetreten oder es ist vorhanden, aber nicht insofern es selbst, sondern insofern etwas anderes (eingetreten oder vorhanden ist); denn der Sturm ist die Ursache dafür, daß der Reisende nicht dorthin kam, wohin er fahren wollte.“¹⁴⁰ Weil die Akzidenzien das gegenüber den Substanzen Zufällige und an ihnen Auftretende bilden, sind sie nicht aus sich selbst heraus verständlich und epistemologisch an ein zugrundeliegendes Reales qua Substanz gebunden, dem sie ihre Realität überhaupt erst verdanken: „Wenn aber alles akzidentell ausgesagt wird, so kann es kein Erstes geben, von dem es ausgesagt wird, wenn doch stets die akzidentelle Bestimmung die Prädizierung von einem Zugrundeliegenden bezeichnet.“¹⁴¹

2.2.5 Der Substanzbegriff zwischen Einzeldingontologie und Wesensontologie. Die Bedeutung der Form-Materie-Relation Welche Arten von Substanzen unterscheidet Aristoteles nun aber in der Metaphysik? Das Seiende als Seiendes ist bereits als „erste Substanz“ angesprochen worden. Darüber hinaus bestimmt Aristoteles Substanz fundamental als ein reales Seiendes im Unterschied zu Abstraktionen, die sich auf Gemeinsames von Substanzen beziehen, „denn kein Gemeinsames bezeichnet ein bestimmtes Etwas, […] die Substanz aber ist ein bestimmtes Etwas“.¹⁴² Die genaue Natur dieses bestimmten Etwas ist jedoch ein strittiger Gegenstand der Aristoteles-Forschung. So unterscheidet Rapp drei Varianten des Substanzbegriffs, ohne eine Gewichtung zwischen denselben vorzunehmen: Hierbei ist bemerkenswert, daß der Begriff insgesamt drei unterschiedlichen Typen von Entitäten beigelegt wird: (1.) konkreten Einzeldingen, wie Sokrates, einem bestimmten Pferd, (2.) den untersten Arten oder Spezies (infimae species),wie den Arten Mensch, Pferd usw., (3.) der Form einer Sache, wie der menschlichen Form des Sokrates.¹⁴³

    

Met. Δ (5. Buch) 29: 1025a. Ebd. Met. Γ 4 (4. Buch), 1007a – b. Ebd.: B (2. Buch) 6: 1003 a. Rapp 1996b: 8.

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

Walter Mesch hingegen stellt in seinem Aufsatz Die Teile der Definition (Z 10 – 11) zwei gegenstrebige Tendenzen in der Forschung dar, welche jeweils einen interpretatorischen Suprematie-Anspruch erheben, nämlich die einzeldingontologische Position (Punkt 1 nach Rapp), die das Prinzip der ontologischen Dependenz starkmacht und laut Mesch „[b)is vor wenigen Jahrzehnten“¹⁴⁴ dominierend gewesen sei, und die formtheoretische bzw. eidologische Position (Punkt 3 nach Rapp), die vom Vorrang der Form (des είδος, eidos) gegenüber dem Stoff (υλη, hylê) als dem wesentlichen definiens einer der aus beiden zusammengesetzten Substanz ausgeht. Punkt 2 nach Rapp, die Arten und Gattungen, stehen der Einzeldingontologie näher als der formtheoretischen Position, weil sie mit jener darin übereinstimmen, ein realiter existierendes Seiendes als solches begrifflich zu bezeichnen statt es in seiner begrifflichen Bestimmung von seiner Wesensform her zu erklären; insofern lässt sich sagen, dass die Arten und Gattungen prinzipiell der einzeldingontologischen Position wesentlich näher stehen, da sie analytisch vom korrelativen Verhältnis von Einzelding und Allgemeinem qua Art/Gattung her konzeptionalisierbar sind, ohne formtheoretische bzw. eidologische Voraussetzungen mit akzeptieren zu müssen. Die ersten beiden Begriffe der Substanz, die Rapp nennt, entsprechen den beiden Bedeutungen aus den Kategorien, die bereits zur Sprache gekommen sind; die dritte hingegen wird in der Metaphysik und De anima erst entfaltet. Explizit trifft Aristoteles die Unterscheidung, auf die Mesch sich bezieht, im 8. Kapitel des Buches Δ (5. Buch) der Metaphysik. Daselbst nennt Aristoteles erstens die „einfachen Körper […] wie Erde, Feuer, Wasser und was von dieser Art ist, und überhaupt Körper und die aus ihnen bestehenden Lebewesen und göttlichen Dinge und deren Teile“;¹⁴⁵ zweitens, „was als Ursache des Seins in solchen Dingen enthalten ist, die nicht von einem Zugrundeliegenden ausgesagt werden, wie die Seele für das Lebewesen“.¹⁴⁶ Der zweiten Bedeutung von Substanz, die Aristoteles hier anspricht, sekundiert eine längere Passage, welche die von Mesch angesprochene eidologische Deutung des Substanzbegriffs deutlich stützt: Da aber die Seele der Lebewesen (denn sie ist die Substanz des Beseelten) die Substanz, die durch die Formel ausgedrückt wird und die Form und das ‚Was es war zu sein‘ für einen Körper von dieser bestimmten Beschaffenheit ist (jedenfalls wird jeder Teil, sofern er richtig definiert wird, nicht ohne seine Funktion definiert werden, die ihm nicht zukommt ohne Wahrnehmung), so sind die Teile der Seele früher als das konkrete Lebewesen, entweder alle oder einige davon. Und ebenso ist es natürlich beim Einzelding. Der Körper hingegen und

 Mesch 1996: 135.  Met. Δ (5. Buch) 8: 1017b.  Ebd.

2.2 Die klassische Ontologie: Von der Metaphysik zur Ontologie des Lebens

85

seine Teile sind später als diese Substanz, und in diese Teile als in ihre Materie zerfällt nicht die Substanz, sondern das Konkrete.¹⁴⁷

Dem Anschein nach verwickelt sich Aristoteles mit dieser Passage in unauflösbare Widersprüche, behauptet er doch, dass das Konkrete, also das Einzelding, zerfalle, nicht aber die Substanz. Dies liegt daran, dass Aristoteles hier mit „die Substanz des Beseelten“ eine bestimmte Bedeutung von Substanz im Auge hat, nämlich diejenige, auf welche Mesch mit dem Begriff der Form zielt und die hier als Seele angesprochen wird. Indem die Seele der Lebewesen die „Substanz des Beseelten“ ist, ist sie nicht nur „früher“ als das konkrete Lebewesen, sondern das die Wesentlichkeit desselben Ausmachende und damit auch das dieses als solches Ermöglichende, welches anders als das Einzelding nicht zerfallen kann. Die Seele wohnt jedoch nicht einfach dem Leib inne, sondern bildet mit ihm zusammen das konkrete Lebewesen als einem wiederum gegenüber Materie und Form Dritten, weshalb Aristoteles an anderer Stelle sagt, dass es noch etwas geben müsse „neben dem konkreten Ding, nämlich die Gestalt (μορφή, morphé) und die Form (είδος, eidos)“¹⁴⁸ und dass „das konkrete Ding beides (Materie und Form) ist“.¹⁴⁹ „Beides“ ist es nicht, weil es Form und Materie im summativen Sinne ist, sondern indem es sowohl Form als auch Materie ist, ist es beides als ein Konkretes und und damit gegenüber seinen Konstituentien Drittes. Das Konkrete im Sinne des individuellen Menschen z. B. ist dann gemäß der verschiedenen Bedeutungen von „Substanz“ (Substanz als Einzelding und Form als die Substantialität der Substanz Darstellendes) selbst wiederum Substanz; was mit dem Formbegriff dann bezeichnet wird, ist die Substanz der Substanz.¹⁵⁰ Diese Lesart legen vor allem die Ausführungen über den Seelenbegriff in De anima nahe, wo Aristoteles die Seele als „Wesenheit im Sinne der Form des natürlichen Körpers“¹⁵¹ bestimmt und als

 Met. Z (7. Buch) 10: 1035b.  Met. B (2. Buch): 999b.  Ebd.  Diese These findet sich auch bei Frank Lewis: „In particular, the cause of being of an individual substance will be the substance of that substance.“ (Lewis 1996: 40) Die Substanz als Form ist die Substanz der Substanz; nach Lewis gilt nämlich, dass „questions about the thing’s kind involve the content of the relevant form,which is the substance of the thing and the cause of its being“. (ebd.: 42) Lewis’ missverständlicher Begriff der Ursache (cause) zielt auf das die Wesenheit des Dings Bestimmende und widerspricht insofern der hier dargelegten Deutung nicht, denn „cause of its being“ meint cause of its being as unity: „Aristoteles supposes that the source of a thing’s unity is not an element of elements, but rather a form“, (ebd.: 39) mit dem Formbegriff zielt Lewis also nicht auf die Verursachung des Seins eines Seienden, sondern auf das Bestimmungsmoment des Seins als erste Substanz.  De anima II 1: 412a.

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

„das eigentliche Sein für einen so und so beschaffenen Körper, wie wenn ein Werkzeug, z. B. ein Beil, ein natürlicher Körper wäre: Seine Wesenheit wäre das eigentliche Sein des Beils und dieses Sein die Seele.“¹⁵² Das Verhältnis zwischen Form und Materie ist bisher nur berührt worden, seine Explikation jedoch setzt eine andere Herangehensweise an die Aristotelische Philosophie voraus, die es ermöglicht, die elementaren Relationen, die bisher angesprochen wurden, wesentlich konkreter und präziser zu fassen. Im Folgenden ist daher im Anschluss an Nicolai Hartmanns Ausführungen über die aristotelische Ontologie zu zeigen, dass sowohl das Verhältnis zwischen Metaphysik und Physik als auch die Gesamtanlage der aristotelischen Ontologie, deren inhaltlicher Kern der Substanzbegriff und das Verhältnis von Form und Materie bildet, sich einzig im Rekurs auf Akt und Potenz als fundamentale, die gesamte aristotelische Ontologie strukturierende Modalitätsstufen entfalten lässt: Es ist eine erstaunliche Tatsache, daß Aristoteles in seiner Lehre vom „Seienden als Seienden“ von den sorgfältig aufgestellten und entwickelten „zehn Kategorien“ kaum Gebrauch macht. Die ούσία steht wohl im Zentrum der Erörterung, aber nicht wie ein Prinzip, das man anwendet, sondern wie ein verzweigtes Gewirr von Problemfäden, das zu entwirren ist. Um es aufzulösen, führt er vier andere Prinzipien ein, die mit jenen Kategorien nichts zu tun haben, die sich als zwei Gegensatzpaare darstellen: Form und Materie, Potenz und Aktus. Die ersteren beiden sind offenkundig konstitutiver Art, die letzteren treten mit dem Anspruch auf, Modalitätsstufen zu sein.¹⁵³

Bisher hat sich die Auseinandersetzung mit Aristoteles in einem, Hartmann zufolge, konstitutiven Rahmen gehalten. Erst im Rückgang auf die Akt-Potenz-Relation und die modalen Bestimmungen und Zusammenhänge innerhalb der Aristotelischen Ontologie, so soll gezeigt werden, lässt sich eine Ontologie, die in schwer verständlichen Unterscheidungen zu terminieren scheint, material bestimmen. Dabei lassen sich zwei Grundbegriffe, die in Plessners Stufen eine wichtige Rolle spielen, überhaupt erst verstehen: das Konzept der Entelechie und das der Teleologie.

 Ebd. 412b.  Hartmann 1966a: 3.

2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet

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2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet 2.3.1 Die metaphysische Akt-Potenz-Relation Wie bereits gezeigt, muss es Aristoteles zufolge neben allem Bewegten ein Letztes geben, das „ein Ewiges, das Substanz (ουσια, ousia) und Wirklichkeit (Aktualität, ενέργεια, energeia) ist“.¹⁵⁴ Dieses Ewige, das ουσια und ενέργεια ist, ist zugleich im metaphysischen Sinne αρχη, anfangsloser Anfang oder, wie Aristoteles sagt, letzte und schlechthin prozessfreie Prozessursache. Zentral in diesem Zusammenhang ist die modale, gleichwohl aber ontologische und nicht formale Bestimmung des unbewegten Bewegers als ενέργεια. Der Begriff der ενέργεια, wie er hier verwendet und der Vollständigkeit halber in aller Kürze angesprochen wird, führt in Tiefen der aristotelischen Theologie hinein, die uns hier nicht zu interessieren brauchen. In Λ 7 (12. Buch) 1072 b bestimmt Aristoteles das, was bewegt wird, als etwas, das sich auch anders verhalten könne, „so daß die erste Ortsbewegung, mag sie auch der Wirklichkeit nach (oder, in Aktualität) existieren, in der Hinsicht jedenfalls, daß sie bewegt wird, sich auch anders verhalten kann“.¹⁵⁵ Von dem, was sich anders verhalten könne, grenzt Aristoteles im nächsten, weiter oben bereits zitierten Satz, den unbewegten Beweger ab: „Da es aber etwas gibt, das in Bewegung hält und selbst unbewegt ist und in Aktualität existiert, so kann dieses sich in keiner Hinsicht anders verhalten.“¹⁵⁶ Der unbewegte Beweger ist also ενέργεια ohne δύναμις; darin gründet jedoch nicht seine Defizienz, sondern seine Dignität: er ist das einzig im Modus der Wirklichkeit Existierende; nicht wirklich, nicht Akt oder ενέργεια zu sein, stellt keine Potenz des unbewegten Bewegers dar, weil die als solche stets unvollendete Nicht-Identität mit sich selbst keine Potenz, kein Vermögen-zu darstellt; die Identität mit sich selbst herzustellen, würde Prozessualität erfordern und damit die Differenz zwischen Unbewegtem und Bewegtem sowie die korrelative zwischen Metaphysik und Physik (physikalisch) einebnen.

 Met. Λ 7 (12. Buch): 1072a.  Met. Λ 7 (12. Buch): 1072b.  Ebd.

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

2.3.2 Die physikalische Akt-Potenz-Relation Aus heutiger Perspektive liegt die Annahme nahe, dass in der Physik die Relation von Akt (ενέργεια, energeia) und Potenz (δύναμις, dynamis) eine andere Bestimmung erfährt als in der Metaphysik oder in De anima. Georg Picht weist in seiner grandiosen Interpretation von De anima, die zugleich eine in den weiteren Ausführungen als Leitfaden fungierende lebensontologische Gesamtinterpretation des aristotelischen Denkens darstellt, darauf hin, dass nicht der Seelenbegriff vom Naturbegriff her zu explizieren ist, sondern die Seelenlehre umgekehrt die Grundlage noch der Physik bildet, ohne in derselben mehr als nur angerissen zu werden: „Ohne die aristotelische Lehre von der Seele wäre der Begriff der organischen Natur nicht ausgebildet worden. Wer die organische von der anorganischen Natur unterscheidet, setzt die aristotelische Ontologie der Seele voraus.“¹⁵⁷ Dass die Physik (Sache und Werk) lediglich einen Teil einer umfassenderen Theorie bildet und, als Sache verstanden, keineswegs eine eigenständige, aus genuin eigenen Prinzipien zureichend begründbare wissenschaftliche Disziplin oder gar, wie zeitgenössische reduktionistische Ansätze behaupten, eine Reduktionsbasis der Metaphysik darstellt, zeigt sich am Verhältnis von Akt und Potenz am Beispiel des Prozessbegriffs. In der Physik definiert Aristoteles Prozess bzw., in Orientierung am griechischen Originaltext, κίνησις (Bewegung), grundlegend als „Verwirklichung einer Möglichkeit des Gegenstands, der seinerseits durch die Möglichkeit charakterisiert ist, diesen Prozeß zu verursachen“¹⁵⁸ und der deshalb „selbst (bereits) im Modus der Wirklichkeit steht und nicht als solcher, sondern nur seinem Möglichkeitsmoment nach in Verwirklichung begriffen ist“.¹⁵⁹ Ein Verursachendes kann daher als solches nur im Modus der Wirklichkeit im Modus der Möglichkeit sein; der Möglichkeitsbegriff ist also nicht, etwa stochastisch, formalisierbar, weil die Verursachungsmöglichkeit dem Verursachenden als wirkliches (aktuales) Vermögen innewohnen muss und die Beziehung zwischen dem Verursachenden und der Verursachung insofern eine intrinsische ist; ebenso ist die Verwirklichung an die „Möglichkeit des Gegenstands“ gebunden. Mit der Genitivkonstruktion zielt Aristoteles nicht auf einen dispositionellen Zustand, in dem ein mögliches Prozessobjekt sich befindet, sondern er zielt auf eine im Gegenstand als solchem material gründende Empfänglichkeit für eine auf ihn einwirkende Ursache. An anderer Stelle führt Aristoteles daher aus, dass das Möglichkeitsmoment am

 Picht 1992: 334.  Phys. III 3: 202a.  Phys. III 1: 201 a.

2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet

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Gegenstand beidseitig gegeben sein müsse und nennt folglich den Prozeß die „Verwirklichung (des Möglichkeitsmoments) beider Gegenstände“.¹⁶⁰ Die Spiegelbildlichkeit der Aktualität des Möglichkeitsmoments an beiden Prozessgliedern wird damit klar artikuliert. Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge sind somit in der aristotelischen Physik keine anonymen bzw. neutralen Kausalrelationen, die aufgrund determinierter und determinierender Gesetzmäßigkeiten bestimmbar wären. Die Beziehungsglieder können somit nicht als prinzipiell gegenüber einander indifferent angesetzt werden, weshalb die Anlehnung an einen zeitgenössischen Dispositionsbegriff irreführend wäre;¹⁶¹ ein solcher Dispositionsbegriff neutralisiert nämlich nicht nur die Relation zwischen A und B, sondern gar die Relata insofern ihrer eigenen Identität nach, als sie in ihre materielle Konstitution als ihren hinreichenden Erklärungsgrund aufgelöst werden können. Die Zweistelligkeit in der aristotelischen Sprechweise („beider Gegenstände“) resultiert aus der pädagogischen Idealisierung des Modells der κίνησις, in dem zwei Gegenstände A und B als Prozessglieder angenommen werden, wäre jedoch, wie der Fundamentalcharakter der Begriffsbestimmung von „Prozess“ qua κίνησις logisch impliziert, beliebig numerisch erweiterbar. Der Nexus zwischen einer Prozessursache und ihrem Gegenstand ist also nicht abstrakt universaler, sondern spezifischer Natur; ein universaler Nexus im modernen Sinne könne, wie Thomas Buchheim treffend herausstellt, „keinen ursächlichen Nexus zwischen den Dingen, die es erfüllen“,¹⁶² begründen. Die spezifische Verfasstheit der Gegenstände, die es ihnen ermöglicht, miteinander einen Nexus zu bilden, fasst Aristoteles im Begriff der φύσις (physis), der zumeist mit „Natur“ übersetzt wird.¹⁶³ Die φύσις ist nicht die kontingente Verfasstheit des jeweiligen Einzeldings, die zufällig mit einem anderen einen Nexus bilden kann, sondern die φύσις (physis) meint den umfassenden Zusammenhang der natürli-

 Phys. I 3: 202a.  Die Differenz artikuliert Bubner in seinem Aufsatz Antike und moderne Wissenschaftstheorie. Eine Skizze bündig: „Weiterhin ist als philosophiegeschichtliche Tatsache zu konstatieren, daß die Substanzenontologie des Aristoteles nicht das neuzeitliche Konzept der Kausalität kannte. Man hat in der Konzentration auf die Kausalursache eine Verkümmerung der Lehre von den vier Ursachen gesehen, deren Primat in der aristotelischen Ontologie der causa formalis gebührte, während sich die neueren Naturwissenschaften unter erklärter Verwerfung der Formalursachen ausschließlich mit der causa efficiens beschäftigten.“ (Bubner 1992: 130)  Buchheim 1996: 122.  Picht weist darauf hin, dass diese Übersetzung problematisch und ungenau ist, da sie unsere gegenwärtigen Vorstellungen von „Natur“ in einen Begriff hineinprojiziert, der etwas anderes meint: „Alles, was überhaupt ούσία hat, liegt innerhalb der φύσις. Es ist irreführend, wenn wir dieses griechische Wort durch das Wort ‚Natur‘ übersetzen; denn ‚Natur‘ bedeutet für das neuzeitliche Denken die Gesamtheit der Objekte der Erkenntnis.“ (Picht 1992: 75)

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

chen Gegenstände. Das häufig zitierte und zentrale Beispiel des Aristoteles, anhand dessen sich der φύσις-Begriff explizieren lässt, ist der Satz „ein Mensch zeugt einen Menschen“, der Buchheim zurecht dazu veranlasst zu sagen, „daß die Physis, von der Aristoteles spricht, nicht nur als die eines Dinges begriffen wird […], sondern als das gleiche Eidos mehrerer Dinge in einem generativ-ursächlichen Nexus und deshalb zugleich auch als Materie zum je verursachten Werden des einen aus dem anderen“.¹⁶⁴ Das zitierte Beispiel der Zeugung führt Aristoteles in Met. Z (7. Buch) 6 1032a an, wo er erläuternd sagt, dass „das, woraus etwas wird, eine Natur [ist], als auch das, gemäß dem es wird (denn das Entstehende hat eine Natur, z. B. eine Pflanze oder ein Lebewesen), und wodurch es wird, ist die Natur im Sinne der Form, die artgleich ist“. Die φύσις qua Natur bildet also einen alles in ihr als Einzelnes Auftretende übergreifenden und die Form (είδος, eidos) der Einzeldinge in ihrem Verhältnis zueinander organisierenden Nexus. Eine detaillierte Entfaltung des bisher Angedeuteten und der Rolle von Akt (ενέργεια) und Potenz (δύναμις) innerhalb des aristotelischen Denkens macht den Rekurs auf die Metaphysik und vor allem De anima erforderlich.

2.3.3 Die Grundzüge der Ontologie des Lebens in De anima In der Metaphysik und in De anima entfaltet Aristoteles sowohl eine Ontologie des Lebens als auch eine Anthropologie; die Grundbegriffe bilden die Denkfiguren von ενέργεια (Akt) und δύναμις (Potenz), welche sowohl die Ontologie als auch die Anthropologie strukturieren und als Modalbegriffe Vermögen designieren, welche gemäß der realistischen Methodik, der gemäß Begriff und der Sache nach dasselbe seien, die Reallogik des Seins artikulierbar machen. Die anthropologische Einteilung der Natur ergibt sich aus der hierarchisch-essentialistischen Unterscheidung der Seelenkräfte und der ihr korrespondierenden Logik von Vermögen (δύναμις, Potenz) und Wirklichkeit (ενέργεια, Akt) in De anima; die Ontologie des Lebens ergibt sich wiederum aus dem Fundamentalcharakter der Kategorien von ενέργεια und δύναμις, aufgrund dessen sie auf verschiedenen theoretischen Ebenen zur Anwendung gelangen können und dies de facto tun. In De anima bestimmt Aristoteles die Seele als den elementaren Seinsgrund der Lebendigkeit im Sinne eines nicht bloß analytisch-epistemologischen Unterscheidungskriteriums, sondern im Sinne eines real-substantiellen Unterscheidungsgrundes: „Die Seele ist der lebenden Körper Ursache und Grund.“¹⁶⁵

 Buchheim 1996: 121.  De anima II 4: 415b.

2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet

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Ursache und Grund der lebenden Körper ist die Seele nicht, wie die Formulierung in ihrer grobschlächtigen Auslegung suggeriert, im Sinne ihrer kausalen Hervorbringung, sondern weil sie wesen Körper zu lebenden im Unterschied zu toten Körpern oder bloßen Dingen macht. Die elementarste Form der Seele, die Ernährungsseele, wohnt toten Körpern Aristoteles zufolge nicht mehr inne: „Notwendig hat jedes Wesen, das lebt, die Ernährungsseele, und es hat sie von der Geburt bis zum Tode.“¹⁶⁶ Der Ernährungsseele ordnet Aristoteles als spezifische Leistungen sowohl die Verdauung als auch die Zeugung zu.¹⁶⁷ Die verschiedenen Seelenkräfte ordnen das Reich der lebendigen Natur und bilden den Leitfaden der Taxonomie der Formen des Lebendigen. Aufgrund der allgemeinen Definition der Seele als einer „Wesenheit im begrifflichen Sinne“¹⁶⁸ bildet die Unterscheidung zwischen Lebensformen zugleich eine Unterscheidung zwischen Wesensformen gemäß der Unterschiedlichkeit der spezifischen seelischen Verfasstheit. Als in der Natur auftretende Seelenkräfte führt Aristoteles das „Ernährungs-, Wahrnehmungs-, Strebungs-, Ortsbewegungs- und Überlegungsvermögen“¹⁶⁹ an. Auf der untersten Stufe des Lebendigen stehen die Pflanzen, bei denen nur das Wachstum ermöglichende Ernährungsvermögen und darüber hinaus „kein anderes Seelenvermögen“¹⁷⁰ vorhanden sei. Dem Begriff des „Seelenvermögens“ entspricht, dass Aristoteles keine starre Zuordnung von Lebensformen und für sich getrennt existierenden und jeweils nur einzelnen Lebensformen oder gar Individuen zukommenden Seelenformen vornimmt, sondern die Ernährungskraft der Pflanzen als Teilhabe an einem „Teil der Seele“ definiert: „Unter der Ernährungskraft verstehen wir den Teil der Seele, an dem auch die Pflanzen teilhaben.“¹⁷¹ Bei den Tieren seien darüber hinaus auch ein Wahrnehmungsvermögen (Tastsinn) und ein Strebungsvermögen (Erstreben des Lustvollen, Vermeidung von Unlust, Begierde) und ein Vermögen der Ortsveränderung bzw. Selbstbewegung vorhanden.¹⁷² Die Unterschiedlichkeit der seelischen Vermögen von Pflanzen und Tieren ist jedoch nicht substantieller Natur, denn beide „scheinen der Art nach die gleiche Seele zu haben“.¹⁷³ Der ontologisch signifikante Bruch findet beim Menschen statt, da dieser sich beiden gegenüber durch „das

       

De anima III 12: 434a. Ebd. II 4: 415 a. Ebd. II 1: 412 b. De anima II 3: 414a. Ebd. II 2: 413b. Ebd. Ebd.: 414 b. Ebd. I: 409a.

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

Vermögen zur Überlegung und den Geist“¹⁷⁴ auszeichne. Das Denken unterscheidet Aristoteles explizit und fundamental vom Wahrnehmen, da es im Unterschied zu diesem nicht mehr an den Körper gebunden sei: „Denn das Wahrnehmungsvermögen besteht nicht ohne den Körper, der Geist aber ist von ihm getrennt.“¹⁷⁵ Der Geist (νους) trete zwar aus der Sphäre des Organischen heraus, nicht aber aus der Sphäre des Seelischen, sondern er bilde als „Geist der Seele“ sowohl eine selbständige als auch die höchste Form des Seelischen: „So besitzt er auch keine andere Natur als diese, daß er Vermögen ist. Der sogenannte Geist der Seele – ich nenne Geist das, womit die Seele nachdenkt und vermutet – ist der Wirklichkeit nach, bevor er denkt, nichts von den Dingen.“¹⁷⁶ Der Mensch tritt also durch das Denkvermögen bzw. den Geist scheinbar aus dem Reich der Natur heraus, bleibt aber durch die übrigen Seelenkräfte, die er mit anderen Lebensformen teilt, zugleich Teil der Natur. Er ist durch die beiden elementaren Kräfte ausgezeichnet, nach denen die Seele der Lebewesen bestimmt sei, „durch die des Unterscheidens, der Leistung des Denkens und der Wahrnehmung, und ferner durch die Veranlassung der Ortsbewegung“,¹⁷⁷ also durch das Vermögen der Selbstbewegung und das der Überlegung (νόησις), deren Organ der νους ist. Die Sonderstellung des Menschen in der Natur gründet in diesem ihn auszeichnenden Bruch, der wiederum im νους als einem exklusiv ihm zukommenden Seelenvermögen gründet. Die ontologische Ambivalenz des νους rührt daher, dass er als höchste seelische Form¹⁷⁸ mit den niederen Seelenvermögen verbunden bleibt, jedoch zugleich eine seelische Form sui generis darstellt, insofern er nicht den niederen

 Ebd.  Ebd. III 4: 429b.  Ebd. 429a.  Ebd. III 9: 432a.  Aristoteles spricht daher auch von der „Denkseele“, vgl. ebd. Der Denkseele bzw. dem Geist entspricht im Griechischen der νοΰς (nous). Die metaphysische Ambivalenz des Begriffs νοΰς hat Picht klar herausgearbeitet; sie hier zu verfolgen, würde zwar ermöglichen, die aristotelische Philosophie in ihrer Ganzheit und in ihren theologischen Verästelungen ins Visier zu nehmen, würde jedoch zugleich zu weit vom Thema wegführen. In der Metaphysik bestimmt Aristoteles den νοΰς als Teil der Seele, den er von der „ganzen“ Seele abgrenzt, vgl. Met. Λ (12. Buch) 3: 1070a 25 ff. Picht weist jedoch in seiner Vorlesung, in welcher die Beziehung zwischen Aristoteles und Hegel einen durchlaufenden Topos bildet, darauf hin, dass der Begriff des νοΰς darüber hinaus eine theologische Bedeutung im aristotelischen Denken hat, die theoriestrukturell dem Hegelschen Geist entspreche: „Die höchste Gestalt der Seele – Hegel ersetzt den Begriff ‚Seele‘ durch den neuzeitlichen Begriff ‚Bewußtsein‘ – ist bei Hegel der Geist, bei Aristoteles der νοΰς. In seiner reinen und vollendeten Wirklichkeit ist der Geist bei Hegel und der νοΰς bei Aristoteles nicht endlicher Geist des Menschen sondern Gott.“ (Picht 1992: 34) Dieser Interpretation kann hier jedoch leider nicht (sinnvoll) weiter nachgegangen werden.

2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet

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Seelenkräften unterworfen ist. Bildet die Seele das die Wesentlichkeit des lebendigen Körpers ausmachende Vermögen, so bildet der Geist (der Seele) das die Wesentlichkeit des Menschen ausmachende Vermögen. Gemäß der oben angesprochenen kosmologischen Bestimmung des νους als das Gottähnliche im Menschen, sagt Aristoteles, der Geist könne „abgetrennt werden wie das Ewige vom Vergänglichen“.¹⁷⁹ Der Geist besteht demzufolge in einer Unabhängigkeit vom Körper, deren explanative Uneinholbarkeit Aristoteles zu Formulierungen drängt, die von Unsicherheit und inhaltlicher Bestimmtheit gleichermaßen zeugen: „Der Geist scheint als eine Wesenheit hineinzugelangen und nicht der Zerstörung zu verfallen. […] Der Geist aber ist wohl etwas Göttlicheres und etwas Leidensunfähiges.“¹⁸⁰ Den direkt daran anschließenden nächsten Abschnitt lässt Aristoteles beginnen mit dem Satz: „Daß nun die Seele unmöglich bewegt wird, ist aus dem Bemerkten klar. Wird sie aber überhaupt nicht bewegt, dann offenbar auch nicht von sich selbst.“¹⁸¹ Der Sprung, den Aristoteles hier in der Besetzung der Subjektstelle in den Sätzen vollzieht, ist aufschlussreich: Nicht nur der Geist, sondern die Seele –und damit ist die Seele überhaupt, nicht nur die menschliche Seele gemeint –wird nicht bewegt und ist daher selbst nicht bewegtes Bewegendes und die Selbstbewegung der Körper Ermöglichendes. Mittels der Seele aber ist der Mensch mit der Natur und den übrigen Lebensformen wesenhaft verbunden, während der Geist eine Wesensform sui generis ermöglicht, die auch dem Leiden enthoben ist, welches den beseelten Körper kennzeichnet. Bei Geist (νους bzw., in der Vollzugsform des Denkens, νόησις) und Seele (ψυχή) handelt es sich nicht einfach um zwei distinkte Vermögen, deren Verhältnis das einer Ergänzung bildet, sondern um zwei teleologisch verschränkte Entitäten, wie es sich in der Doppelnatur des Menschen andeutet, weshalb Picht sagt: „Der Mensch kann seinem Sich-Bewegen nur durch reine Erkenntnis Ziele setzen. Deshalb kann bei Aristoteles das Vermögen, sich selbst zu bewegen, oder das Leben, von der Erkenntnis der Wahrheit nicht abgetrennt werden“,¹⁸² und: „Das Leben ist gleichursprünglich auf Wahrheit und auf Bewegung bezogen“,¹⁸³ wobei hier hinzuzusetzen wäre: das menschliche Leben bzw. das Leben, wie es sich in der Gestalt des Menschen realisiert. Weil der νους des Menschen dessen Teilhabe am Göttlichen in der νόησις ermöglicht, zugleich aber der Mensch durch die ψυχή mit der gesamten lebendigen Natur verbunden ist, ermöglicht der νους die Einheit des göttlich-kosmischen Lebens mit dem natürlichen Leben, der ζωή, aus welcher der

    

De anima II 2: 413b. Ebd. I 4: 408b. Ebd. Picht 1992: 192. Ebd.: 217 f.

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

Mensch durch seinen νους, einen Bestandteil desselben bildend, heraustritt; der νους im göttlich-kosmologischen Sinne leistet gerade die Integration des Menschen in die Natur, aus der er durch seine Gottesähnlichkeit herauszutreten scheint. Aufgrund der weiteren, metaphysisch-kosmologischen bzw. theologischen Bedeutung des νους sagt Picht, „daß der νους in der Einheit seiner beiden Funktionen das είδος der Seele und damit von Leben überhaupt ist. Deswegen kann Aristoteles das Wesen des göttlichen νους als ζωή bezeichnen.“¹⁸⁴ Den allgemeinen Ort der Seele, aufgefasst als den Geist und die niederen einzelnen Seelenkräfte umgreifendes Vermögen, bildet in der aristotelischen Ontologie die Form-Materie-Relation. In De anima erfährt diese Relation jedoch zunächst eine Konkretisierung im Rahmen der Akt-Potenz-Relation, aber auch eine Erweiterung. Die ψυχή als „Wesenheit im Sinne der Form des natürlichen Körpers, der seiner Möglichkeit nach Leben hat“,¹⁸⁵ lässt sich als das είδος der aus είδος (Form) und σώμα (Materie) zusammengesetzten Substanz bezeichnen. Aristoteles definiert den natürlichen Körper explizit als „zusammengesetzte Wesenheit“: „Und so ist jeder natürliche Körper, der am Leben Anteil hat, Wesenheit und zwar im Sinne zusammengesetzter Wesenheit.“¹⁸⁶ Die zusammengesetzte Wesenheit ist das aus Seele und Körper zusammengesetzte konkrete Lebewesen: „Aber wie die Pupille und die Sehkraft zusammen das Auge sind, so sind die Seele und der Körper zusammen das Lebewesen. Daß nun die Seele nicht abtrennbar ist vom Körper, oder einige ihrer Teile, wenn sie von der Natur geteilt ist, das ist offensichtlich“.¹⁸⁷ Die Nicht-Abtrennbarkeit der Seele scheint der bereits angesprochenen Unabhängigkeit derselben vom Körper zu widersprechen; der scheinbare Widerspruch verschwindet jedoch, wenn man zwischen dem Sein und der Bestimmung der Seele unterscheidet: ihrem Sein nach existiert sie nicht abgetrennt vom Körper als ätherisches Wesen in einem eigenen Reich, aber sie ist insofern vom Körper unabhängig, als sie den Körper bestimmt und nicht umgekehrt, weshalb Aristoteles sagt, dass, „wenn der Stoff Möglichkeit ist, die Form Erfüllung, so ist, da das Zusammengesetzte der beseelte Körper ist, nicht der Körper die Erfüllung der Seele, sondern diese die eines bestimmten Körpers“.¹⁸⁸ Weil die Seele die Erfüllung des konkreten, aus Form und Materie zusammengesetzten Körpers ist, „so muß sie Begriff und Form sein, und nicht Materie und Unterlage“.¹⁸⁹ Die ψυχή ist Form im doppelten Sinne: Form im Unterschied zur

     

Ebd.: 362. De anima II 1: 412a. Ebd. Ebd.: 413a. Ebd. II 2: 414a. Ebd.

2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet

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Materie in der Form-Materie-Relation und Form als Substanz des jeweiligen individuellen Körpers. Der ψυχή kommt also ein spezifischer Charakter insofern zu, als sie für den jeweiligen Organismus identitätskonstitutiv ist, sie ist aber dennoch kein lediglich individuelles, bloß dem jeweiligen Körper innewohnendes Prinzip, sondern ein alle lebendigen Körper umfassendes Prinzip. Als ein solches Prinzip bestimmt Aristoteles die Seele daher folgerichtig und explizit als das dem Körper gegenüber Frühere; will man diese dem Anschein nach vor allem zeitliche Relation aufschlüsseln, so muss man dies vom Verhältnis Akt (ενέργεια) und Potenz (δύναμις) her versuchen, um damit das Problem der Teleologie und den Begriff der εντελέχεια (Entelechie) in den Blick zu bekommen, das sich im oben zitierten Begriff der „Erfüllung“ ankündigt.

2.3.4 Erste und Zweite Entelechie Eine grundsätzliche, sowohl zeitliche als auch prioritäre Bestimmung des Verhältnisses von Akt (ενέργεια) und Potenz (δύναμις) im Zusammenhang der Frage nach dem Leben, gibt Aristoteles im zweiten Buch von De anima: „Denn früher als die Vermögen sind dem Begriffe nach die Betätigungen und Ausübungen.“¹⁹⁰ In der Rückwendung auf den Begriff des Lebens bedeutet dies: Das Leben aktualisiert sich im Medium der lebendigen Einzeldinge im Sinne der ersten Substanzen (denen die Betätigungen entsprechen); es aktualisiert sich jedoch deshalb, weil allen Aktualisierungen von Lebendigkeit eine Aktualität im Sinne der ενέργεια als durchlaufendes Bestimmungsprinzip vorausgeht und sie umgreift. „Früher sein“ heißt hier auch: als ενέργεια auf der kosmologischen Ebene und als είδος auf der Ebene der Lebensformen ermöglichend sein, d. h. wirken. Das Frühere ist nicht ermöglichende Möglichkeit, sondern ermöglichende Wirklichkeit. Als solches ist das είδος Substanz der Substanz,¹⁹¹ denn weder kann das konkrete Ding als solches sich in seinem Sosein und (Zu-diesem‐)Werden selbst ermöglichen, noch  Ebd. II 4: 415a.  Es ist dann Substanz im Sinne der zweiten Substanz, d. h. der Artform. Auf ein sowohl umstrittenes als auch ungelöstes Problem der Bestimmung des Substanzbegriffs, das sich daraus ergibt, weist Rapp hin: „Wenn aber das eidos Substanz ist und ‚nichts von dem allgemein Ausgesagten‘ Substanz sein soll, dann folgt, daß auch das eidos nicht allgemein sein kann.“ (Rapp 1996c: 157 f.) Rapp weist jedoch darauf hin, dass Z 13 insofern eine verwirrende Sonderstellung einnehme, als der „Zusammenhang, der allein die Allgemeinheit des eidos begründete, nämlich die Forderung nach Definierbarkeit und Erkennbarkeit der Substanz, […] bei der Charakterisierung des Allgemeinen in Kapitel 13 überhaupt keine Rolle“ (Ebd.: 172 f.) spiele, sondern lediglich das Allgemeine kritisiert werde, „insofern es die in T5 bis T10 gegebenen Kennzeichnungen erfüllt, und nicht das Allgemeine als adäquater Gegenstand von Definitionen“ (Ebd.: 173).

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

kann es die Gestalt (μορφή), sondern beide sind in ihrem Sein vom είδος bestimmt. Die Substanzrelativität, die Aristoteles in der Metaphysik als realen Seinsgrund der Qualifizierung von „etwas“ als „seiend“ anführt, ist auf das Leben, kosmisch als ενέργεια und auf der Ebene der lebendigen Körper als ψυχή und diese als είδος des Körpers aufgefasst, übertragbar. Die είδος-Bestimmtheit des lebendigen Körpers inauguriert ein gegensinniges Zeitverhältnis zwischen einer logischen Bestimmung der Sache durch den Begriff und der substantialen Bestimmung der Sache durch das είδος, das Picht konzise darstellt: Der logische Begriff soll mit dem bezeichneten Gegenstand übereinstimmen. Beim είδος ist es umgekehrt: hier soll der Gegenstand mit dem είδος übereinstimmen. Wenn eine Rose sich entfaltet und blüht, so gelangt sie zur Übereinstimmung mit dem είδος „Rose“, aber nicht zur Übereinstimmung mit dem logischen Begriff, für den wir das Wort „Rose“ als Zeichen einsetzen.¹⁹²

Die Mimesis des logischen Begriffs an das reale Bestimmtwerden des Gegenstands durch dessen είδος bildet nicht nur den Kern des sogenannten Realismus des Aristoteles, sondern führt ins Zentrum seiner Teleologie,welches die Lehre von der Entelechie bildet. Die teleologische Verfasstheit des Lebens lässt sich von der folgenden Passage her ins Auge fassen, in welcher auch die Unterscheidung zwischen der ersten und zweiten Entelechie bereits enthalten ist: Ursache und Grund haben verschiedene Bedeutungen, und so ist die Seele Ursache nach den drei unterschiedenen Arten. Denn Bewegungsanstoß ist sie ebenso wie Endzweck, und auch als Wesen der beseelten Körper ist die Seele Ursache. Daß sie es als Wesen ist, leuchtet ein; denn das Wesen ist für alles die Seinsursache, Sein aber ist für die lebenden Dinge das Leben, und Ursache und Grund dafür ist die Seele. Ferner ist sie Begriff oder Erfüllung des der Möglichkeit nach Bestehenden. Klar ist aber auch, daß die Seele Ursache ist als Endzweck.¹⁹³

Bewegungsanstoß und Sein kann die Seele nur als das die ενέργεια auf der Ebene der Lebensform repräsentierende είδος sein. Die Seele ist, wie Picht die zentrale Stelle in De anima 412 a, II 1 übersetzt, „die erste Entelechie eines physischen Körpers, der der Möglichkeit nach Leben hat“¹⁹⁴ und kann nur als solche Ursache der Selbstbewegung und zugleich die Aktualisierung der Lebendigkeit in der Selbstbewegung dieses Körpers sein. Der Rekurs auf Pichts Übersetzung ist hier angebracht, weil Willy Theiler in seiner hier meist verwendeten Übersetzung von

 Picht 1992: 42.  De anima II 4: 415b.  Picht1992: 310.

2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet

97

De anima έντελέχεια durchgängig mit „Erfüllung“ übersetzt, obwohl die Übersetzung mit „erste Entelechie“ vom griechischen Originaltext¹⁹⁵ her definitiv näherliegt; den Begriff der „ersten Entelechie“ (έντελέχεια ή πρώτη) übersetzt Theiler mit „vorläufige Erfüllung“, womit die Differenz zwischen der Zweckmäßigkeit der Bewegung, welche von der Seele als Ursache und Wesen bestimmt ist und dem zu erreichenden Endzweck allerdings besser getroffen wird als mit der Unterscheidung zwischen „erster“ und „zweiter“ Entelechie. Den zentralen Bestandteil des Aristoteles-Zitats bildet für Picht jedoch die von ihm öfter zitierte und teilweise kursiv gesetzte Wendung „der Möglichkeit nach Leben hat“¹⁹⁶ (δυνάμει ζωήν έχοντος), woraus Picht folgert: „Der Begriff ‚Leben‘ muß demnach die Wirklichkeit des Seele-Seins bezeichnen.“¹⁹⁷ „Leben“ ist dann nicht einfach das Gegenteil des Todes, sondern das körperlich-leibliche Erscheinen von Seelischem in seiner entelechialen Verfasstheit. Körper und Leib werden im Griechischen noch nicht begrifflich geschieden, der Sache nach war Aristoteles der Unterschied klar und ist von ihm in essentia mittels der Lehre von der Entelechie ausbuchstabiert worden. Dementsprechend übersetzt Picht den oben mit „physischer Körper“ zitierten aristotelischen Ausdruck σώματος φυσικού an anderer Stelle in modernerer Variante mit „physischem Leib“. Die begriffliche Nicht-Unterscheidung von „Leib“ und „Körper“ im griechischen σώμα wird im Begriff der ersten Entelechie systematisch nach- und eingeholt, der die Übersetzung von σώμα mit „Leib“ eher gerecht wird als die mit „Körper“. In der Selbstbewegung wird der Unterschied zwischen einem bloß von außen her durch physikalische Einflüsse bewegbaren Körper und dem Leib als dem lebendigen Körper gefasst. In der Selbstbewegung des Körpers, der als solcher Leib ist, manifestiert sich die erste Entelechie (έντελέχεια ή πρώτη oder έντελέχεια ατελής), die Picht mittels des Begriffs der „Latenz“ charakterisiert: Die Selbstbewegung des Lebens ist bestimmt durch den Drang alles Lebendigen nach der Entwicklung der in ihm angelegten Gestalt.Weil es danach drängt, seine Gestalt auszubilden, ernährt es sich. Es hat den Drang, (das,) was in ihm latent ist, zu manifestieren, und eben dieser Drang ist das Prinzip seiner Selbstbewegung. Diese Selbstbewegung ist έντελέχεια ατελής.¹⁹⁸

Den Schauplatz der ersten Entelechie bildet das Organische, das Leben des Organismus als solchem und im Hinblick darauf, was seine Lebendigkeit ausmacht. Was Aristoteles in der ersten Entelechie, deren Gravitationszentrum die ψυχή    

„διό ή ψυχή έστιν έντελέχεια ή πρώτη σώματος φυσικού δυνάμει ζωήν έχοντος.“ Vgl. Picht 1992: 318. Ebd. Ebd.: 322.

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

bildet, zum Gegenstand macht, ist das, was in Plessners Philosophischer Anthropologie der „Ontologie des Organischen“ entspricht, die ihre Entfaltung vor allem im dritten und vierten Kapitel der Stufen findet. Die erste Entelechie ist bei Aristoteles jedoch keine spezifisch anthropologische, da die Selbstausdifferenzierung der ψυχή in den verschiedenen Seelenkräften durch die verschiedenen Lebensformen zur Ausbuchstabierung anthropologischer Spezifika noch nicht hinreicht. Nicht ohne Grund exemplifiziert Aristoteles die Differenz zwischen erster und zweiter Entelechie am Beispiel von Schlafen und Wachen: „Mit dem Dasein der Seele ist auch Schlaf und Wachen gegeben. Das Wachen entspricht dem Betrachten, der Schlaf dem Besitzen und Nichtbetätigen.“¹⁹⁹ Auch im Schlaf durchwirkt die Seele den lebendigen Körper, wodurch der Körper lebendiger Körper im Unterschied zum bloßen Ding ist. Darüber hinaus suchen uns im Schlaf Vorstellungsbilder in Träumen heim, ohne dass diese durch Wahrnehmung, also durch eine Form der Betätigung, entstünden.²⁰⁰ Der Schlaf ist also nicht der Zustand gänzlicher Inaktivität der Seele oder des Ruhens aller Potenzialität, da die Vorstellungsbilder gerade von einer Aktivität im Schlaf zeugen, doch im Schlaf ruht der Bezug des Menschen als Lebewesen zur Wahrheit, weil die Potenzialität nicht durch Betätigung mit der Realität vermittelt wird: „Vorstellungsbilder erscheinen auch den Schlafenden. Aber die Vorstellung gehört auch nicht zu den immer die Wahrheit erfassenden Kräften, wie das Wissen oder das geistige Erfassen.“²⁰¹ Die erste Entelechie zielt, modern gesprochen, auf die vegetativen Grundfunktionen, die alles Lebendige kennzeichnen und die elementare Zweckmäßigkeit der physischen Organisation, kurz: die Selbstorganisation des Organismus, die darin zum Ausdruck kommt. Die zweite Entelechie steht zur ersten Entelechie in einem geradezu „entelechialen“ Verhältnis, da sie die erste Entelechie auf höherer Stufe erfüllt. Aufgrund der zweiten Entelechie ist die Seele im umfassendsten Sinne Ursache als Endzweck, d. h. bereits als Ursache von einer teleologischen Intentionalität gesättigt, die sich in der Sinneswahrnehmung als dem allen Lebewesen Gemeinsamen zeigt,²⁰² sich jedoch erst in der Denktätigkeit des Menschen (νόησις) erfüllt.  De anima II 1: 412a.  Vgl. hierzu Aristoteles’ kleine Schrift Über Träume (De insomniis): „[U]nd wenn es allen Lebewesen unmöglich ist, bei geschlossenen Augen und im Schlaf etwas zu sehen, und ebenso auch bei den übrigen Sinnen, so ist es klar, daß wir im Schlaf gar nichts wahrnehmen. Es ist also nicht vermöge der Sinneswahrnehmung, daß wir den Traum wahrnehmen.“ (Aristoteles 1994: 458 b)  De anima III 3: 428a.  Der folgende Satz des Aristoteles auf der Selbstbewegung fähige Lebewesen gemünzt: „Das Lebewesen aber muß notwendig das Wahrnehmungsvermögen haben, wenn die Natur nichts vergebens schafft.“ (De anima III 12: 434a)

2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet

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Die Anfangsgründe einer in der Ontologie des Lebens gründenden Anthropologie, welche die Spezifik der menschlichen Lebensform entlang der Gestalten der έντελέχεια erklären will, lässt sich bei Aristoteles daher nur unter Explikation der inneren Differenziertheit der zweiten Entelechie ausmachen, die Picht zufolge die „vollendete Entelechie, also das είδος der Seele“²⁰³ sei. Die Unterscheidung zwischen erster und zweiter Entelechie ermöglicht es Picht zufolge, die „Differenz zwischen der Seele als Prinzip des Lebens und der Seele als Vermögen der Erkenntnis zu überbrücken und so die Auflösung der Fundamentalfrage nach dem Verhältnis von Bewegung und Wahrheit vorzubereiten“.²⁰⁴ Dieses Verhältnis von Bewegung und Wahrheit wäre ein nicht eskamotierbarer Topos einer philosophischen Anthropologie aristotelischer Provenienz, die letztlich nur in einem kosmologischen Rahmen durchführbar wäre. Dem Verhältnis zwischen Schlafen und Wachen korrespondiert das hier mitzubedenkende Verhältnis zwischen Bewegung und Betätigung. Als Prinzip des Lebens ist die Seele zunächst das Prinzip der Selbstbewegung natürlicher Körper. Aristoteles unterscheidet dabei grundlegend zwischen Bewegung und Betätigung: „Denn die Bewegung ist die Betätigung des Unvollendeten, die Betätigung schlechthin ist eine andere, die des Vollendeten.“²⁰⁵ Unter den Betätigungen unterscheidet er wiederum hierarchisch zwischen dem (sinnlichen) Wahrnehmen und dem (geistigen) Betrachten. Die sinnliche Wahrnehmung ist bereits eine Erfüllung höherer Stufe, in ihr erfüllt sich die Bewegung der Sinnesorgane, mittels derer wahrgenommen wird: „Die Wahrnehmung ist entweder Möglichkeit oder Verwirklichung, z. B. Sehkraft oder Sehen; doch gibt es Erscheinung (Vorstellung) auch ohne diese beiden, wie im Schlaf.“²⁰⁶ Von den Vorstellungsbildern unterscheidet die Wahrnehmung sich dadurch, dass sie die sinnliche Wahrnehmung eines real Existierenden und nicht bloß Imaginären ist. Das Sehen ist Erfüllung, weil es die Verwirklichung der Möglichkeit darstellt, von der Sehkraft und dem Auge als dem physischen Organ des Sehens Gebrauch zu machen. Im Sehen realisiert das Lebendige eine spezifische physische Potenzialität, es hat also nicht nur der Möglichkeit nach Leben, sondern es realisiert die Möglichkeit, die es dank der ψυχή hat, „der Wirklichkeit (Betätigung) nach“,²⁰⁷ oder, wie Picht sagt: „In der Sprache der aristotelischen Ontologie entspricht das Schlafen dem Zustand der δύναμις, das Wachen dem Zustand der ένέργεια.“²⁰⁸ Die Wahrnehmung ist als

     

Picht 1992: 392. Ebd.: 306. De anima III 7: 431a. Ebd. Ebd. II 5: 417a. Picht 1992: 306.

100

2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

Betätigung die Erfüllung eines spezifischen Potentials lebendiger Wesen und mehr als nur Manifestation von Lebendigkeit als solcher.²⁰⁹ Die geistige Betrachtung unterscheidet sich wiederum von Wahrnehmung und Vorstellung fundamental; weil ihr Organ der nicht physisch restringierte Geist ist, ist sie nicht nur Erfüllung, sondern im anthropologischen und theologischen Sinne Vollendung. Wie schon an anderer Stelle gezeigt, tritt der Geist aus der Sphäre des Physischen und damit vor allem aus der Determinationsreichweite des Physischen heraus; er tritt damit jedoch nicht in den Gegensatz zur Bewegung, sondern in die Unabhängigkeit von der Sphäre der Bewegung: Aber auch nicht der überlegende Teil und der sogenannte Geist ist die Veranlassung für die Bewegung, denn der betrachtende Geist betrachtet nichts, was sich auf das Handeln bezieht, und sagt nichts aus über zu Meidendes und zu Erstrebendes, während Bewegung immer dem angehört, der etwas meidet oder erstrebt.²¹⁰

Der betrachtende Geist erkennt nicht nur Einzelnes wie die Wahrnehmung es tut, die aufgrund ihrer Gebundenheit an die Sinne zugleich ein Erleiden bildet, sondern Allgemeines; durch ihn verfügt der Mensch im eigentlichen Sinne über Wissen, da sich „die Wahrnehmung in ihrer Betrachtung auf das Einzelne, das Wissen aber auf das Allgemeine richtet. Dieses aber befindet sich in gewisser Weise in der Seele selbst.“²¹¹ Weil das Wissen, durch welches der Geist zur Betrachtung gelangt, sich in der Seele selbst befindet, ist geistige Betrachtung sowohl Betrachtung des Allgemeinen durch den Geist als auch Betrachtung des Geistes durch diesen selbst. In der geistigen Betrachtung, der νόησις, wird der menschliche Geist (νοῦς), aufgefasst als der Seelenteil, „mit dem die Seele erkennt und denkt“,²¹² seiner selbst wie auch der Seele im Sinne der ψυχή inne. Was dadurch also seiner selbst inne wird, ist nicht nur der menschliche Geist, sondern, da die ψυχή als Wesenheit (ούσία) des Lebens bestimmt wird, im Medium des

 Diese Unterscheidung, wie sie hier getroffen worden ist, entspricht in den Grundzügen der Explikation der Unterscheidung, wie Hubertus Busche sie vornimmt, demzufolge die Differenz zwischen erster und zweiter Entelechie die zwischen einem einer Disposition und der Ausübung der dispositiven Fähigkeiten im Tun ist. Der erste Zustand (die erste Entelechie) „stellt eine έξις (hexis) dar, d. h. ein Erworbenhaben und jederzeit abrufbares Ausübenkönnen von Fähigkeiten. […] Der zweite Zustand dagegen besteht im wirklichen Ausüben der Fähigkeiten, ist folglich ganz allgemein der wache oder aufgeweckte Zustand auf allen drei Systemebenen.“ (Busche 2001: 128)  De anima III 9: 432b.  De anima II 5: 417b. – Die Behauptung, das Wissen sei in der Seele selbst enthalten, geht auf des Aristoteles intime Vertrautheit mit der Anamnesis-Lehre Platons zuruck, worauf Picht ausfuhrlich hinweist, vgl. Picht 1992: 314.  De anima III 4: 429a.

2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet

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gottähnlichen menschlichen Geistes das Leben in seiner höchsten entelechialen Gestalt. Das bereits angesprochene Verhältnis von menschlichem und göttlichem νοΰς ist hier entscheidend: Die höchste Erkenntnis des menschlichen νοῦς ist die Erkenntnis des göttlichen νοῦς als des Prinzips des Kosmos, welches die ένέργεια ist. Die von Picht angesprochene und oben zitierte Differenz zwischen Bewegung und Wahrheit wird hier überbrückt, weil die Selbsterkenntnis der Seele zugleich die Erkenntnis der Natur (φύσις) und des Grundes der Lebewesen darstellt, von dem Aristoteles in den ersten Zeilen von De anima spricht: „Aber auch zum Blick in das gesamte Sein scheint ihre Kenntnis Wichtiges beizutragen, am meisten zum Blick in die Natur. Denn die Seele ist gewissermaßen der Grund der Lebewesen.“²¹³ Die Übersetzung Theilers krankt an dieser Stelle daran, dass die im Griechischen enthaltene Wendung προς άλήθειαν άπασαν nicht wörtlich übersetzt wird und die explizite Bezugnahme auf den Wahrheitsbegriff (άλήθεια) dadurch verschwiegen wird. Picht übersetzt die Stelle philologisch sorgfältig folgendermaßen: „Ihre [der Seele – S. E.] Erkenntnis scheint nämlich sowohl im Hinblick auf die Wahrheit insgesamt wie vor allem im Hinblick auf die Natur Großes beizutragen; sie ist nämlich in einer noch näher zu bestimmenden Bedeutung der Ursprung der Lebewesen.“²¹⁴ Die von Theiler mit „Grund der Lebewesen“ und von Picht treffender mit „Ursprung der Lebewesen“ übersetzte Wendung lautet im Griechischen αρχή τών ζώων und stellt einen Zusammenhang zwischen Ursprung bzw. Grund (αρχή) und deren Erkenntnis her, die wiederum mit der Erkenntnis der Wahrheit (άλήθεια) in einen direkten Zusammenhang gebracht wird. Die „Prinzipien und Ursachen“ des Seienden, welche die Metaphysik gemäß der aristotelischen Definition sucht, sind die αρχαι (Prinzipien) und αιτία (Ursachen). In der Ordnung der Begriffe wäre die Seele als αρχή – wie in der Ordnung der Werke De anima – demzufolge das geheime Zentrum der aristotelischen Metaphysik. Diese Deutung wird auch durch den folgenden Satz aus der Metaphysik bestätigt, der aufgrund seiner zentralen Bedeutung im aristotelischen Denken noch einmal zitiert zu werden verdient: „Wir streben aber eher nach etwas,weil wir es (für schön) halten, als daß wir es dafür hielten, weil wir es erstreben; denn Prinzip (Ausgangspunkt, άρχή, arche) ist die Denktätigkeit (νόησις, noesis).“²¹⁵ Der bereits angesprochenen doppelten Bedeutung von νόησις und νοῦς als göttlichemund menschlichem Denken gemäß ist der νοῦς sowohl das kosmische Prinzip der Bewegung als auch das Prinzip der Lebendigkeit. Bewegung, deren Wesenheit die ψυχή bildet, und Wahrheit, die durch den νοΰς erkannt wird, ge-

 Ebd. I 1: 402a.  Picht 1992: 136.  Met. A 6 (4. Buch): 1072a.

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

langen im Denken (νόησις), das zugleich ένέργεια und vollendete Entelechie ist, zur Einheit. Die aristotelische Anthropologie, sofern man von einer solchen sprechen will, terminiert daher in der Theologie bzw. Kosmologie.²¹⁶

2.3.5 Die Rolle von δύναμις und ένέργεια in der Ontologie des Lebens Bisher ausgeklammert wurde die Frage nach dem, was Plessner die „Zeithaftigkeit des lebendigen Seins“ nennt und wonach zu fragen naheliegt, wenn man sich die Struktur der Entelechie vergegenwärtigt. Wenn Aristoteles die Seele als Ursache und als Endzweck bestimmt, scheint er sie widersprüchlich, weil von zwei entgegengesetzten Zeitpolen her zu bestimmen, nämlich als Früheres, welches das Spätere bestimmt (Ursache) und als Späteres, welches das ihm vorhergehende als das in der Realisierung seines Zweckes sich Befindende, d. h. als das Noch-Nicht seiner selbst, bestimmt (Endzweck). Bei der Bestimmung der Seele als Endzweck handelt es sich jedoch nur dem Anschein nach um eine widersprüchliche oder aporetische Bestimmung vom entgegengesetzten Zeitpunkt innerhalb eines Prozessverlaufs her; die Aporie ergibt sich vielmehr erst dann, wenn man die eidologische Struktur der Entelechie, die in der Doppelbestimmung der Seele als Ursache und Endzweck ihre Pointe findet, mittels chronologischer Bestimmungen einzuholen versucht. Weil die Entelechie eidologisch bestimmt ist, ist (raum‐) zeitlich und phänomenal sich Zeigendes nicht das die Organisation von Lebewesen ontologisch Bestimmende, sondern durch das είδος Bestimmtes. Die είδος-Bestimmtheit, die in der Denkfigur der Entelechie artikuliert wird, meint keine ausschließliche Bestimmtheit des aus υλη (Materie) und είδος (Form) zusammengesetzten Lebewesens durch dieselbe. In einer solchen Fassung des Entelechie-Begriffs müssten z. B. Krankheiten einen Teil eines das Lebewesen absolut durchwaltenden είδος darstellen. Diese Beeinflussbarkeit des Organismus durch die Umwelt versucht Aristoteles durch die Unterscheidung zwischen der Seele und dem Träger der Seele einzuholen; nicht die Seele erleidet, z. B. im Falle des Alters oder bei Krankheiten, einen Schaden, sondern der Träger der Seele, d. h.

 Was hier in anthropologischer Orientierung umrissen werden sollte, koinzidiert mit Pichts äußerst konziser, prospektiv gehaltener Interpretationssynopsis: „Aristoteles fragt nach dem, was dem Ursprung der Lebewesen als Ursprung zugrunde zu liegen scheint: der Einheit von Bewegung und Wahrheit. Wir werden beim Ausblick auf die Theologie des Aristoteles sehen, daß alle hier eingeführten Begriffe dort in der Gotteslehre wiederkehren: Gott ist als νοϋς, als die vollkommene Präsenz der reinen Wahrheit, zugleich der unbewegte Beweger, und indem er beides in Einem ist, ist er Leben, genauer gesagt: das Leben des Lebens.“ (Picht 1992: 218)

2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet

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der Körper in seiner stofflichen Affizierbarkeit durch materielle Einflüsse.²¹⁷ Worauf die eidologische Bestimmung des Lebewesens mittels des EntelechieBegriffs zielt, ist die Zweckmäßigkeit der physischen Organisation desselben, weshalb Aristoteles als Exempla Fälle wie Ernährung, Wachstum oder Wahrnehmung heranzieht, in denen die – teleologisch verstandene und insofern nicht nur anscheinende – Zweckmäßigkeit der Natur sich im Organismus realisiert. Der Idee einer teleologischen Zweckmäßigkeit der physischen Organisation entspricht die aristotelische Bestimmung der Seele als Ursache und Endzweck. In dieser Bestimmung fungiert das είδος als das nicht-temporale Frühere (Ursache) insofern, als es das Bestimmungsprinzip des in der existierenden Gestalt realisierten Endzwecks bildet; zugleich bildet das είδος der Seele, wie gezeigt, ein das Werden des lebendigen Körpers durchlaufend bestimmendes Prinzip. Aus der doppelten Bestimmung der Seele als Ursache und Endzweck ergibt sich eine Struktur, die in der Formel „Etwas wird zu dem, was es seiner Anlage nach ist“ sich fassen lässt; diese Struktur wird von Aristoteles in dem Begriff der Entelechie zusammengefasst, einer künstlichen Schöpfung, deren philologisch präzise Analyse Picht gibt: Das είδος ist nach Aristoteles nicht etwas Übersinnliches außerhalb des Wirklichen, sondern es ist im Wirklichen selbst als das Ziel, dem dieses zustrebt, enthalten. ‚Ziel‘ heißt auf griechisch τέλος, ‚enthalten‘ heißt εχειν. Deshalb hat Aristoteles die Weise, wie das Wirkliche die Idee in sich enthält, als έν-τελ-έχεια bezeichnet.²¹⁸

Die Verwirklichung, deren Gestalt im Seienden vor ihrem empirischen Verwirklichtsein bereits präformiert ist, ist deshalb nicht plötzliche oder zufällige Entstehung, sondern Erfüllung des είδος und als solche έντελέχεια.²¹⁹ Möglichkeit ist etwas nicht schlicht als bloße Möglichkeit (modern gesprochen: als schlechthin Kontingentes), sondern als Möglichkeit der (bestimmend-bestimmten) Wirklichkeit bzw. mögliche Wirklichkeit – und zwar aufgrund der Wirklichkeit des Lebens als ένέργεια. Der Vorrang der ένέργεια vor der δύναμις spielt im aristotelischen Denken auf drei Ebenen eine Rolle, auf die im Folgenden kurz eingegangen werden soll: 1) auf der Ebene der Kosmologie bzw. Theologie, 2) auf der Ebene der Ontologie des Lebens, deren Zentralbegriff die έντελέχεια bildet,

 „So tritt das Alter ein, nicht weil die Seele einen Schaden erlitten hat, sondern ihr Träger wie bei Trunkenheit und Krankheit.“ (De anima I 4: 408b)  Picht 1992: 40.  Vgl. Picht 1992: 392 f.

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

3) auf der Ebene der Lebenspraxis bzw. im Handeln.

2.3.5.1 Zur Kosmologie Die έντελέχεια bildet den Schlüssel zum kosmologisch verstandenen Vorrang der ενέργεια vor der δύναμις, weil an der έντελέχεια der Übergang von der Sphäre des Lebens zu der des Kosmos sich aufzeigen lässt. Dies zeigt sich an einer für die Bestimmung des Entelechie-Begriffs zentralen Stelle, an der Aristoteles von Ernährung, Wahrnehmung und Denken als Vermögen der Seele handelt: Wer über diese Vermögen eine Betrachtung anstellen will, muß erfassen, was jedes von ihnen ist, und dann dem Anschließenden und allem Weiteren nachgehen. Wenn man nun sagen soll, was jedes von ihnen ist, z. B. was das Denkvermögen oder das Wahrnehmungsvermögen oder das Ernährungsvermögen, ist vorher noch zu sagen, was das Denken oder Wahrnehmen ist. Denn früher als die Vermögen sind dem Begriffe nach die Betätigungen und Ausübungen. Steht es so und muß man noch früher als sie die Objekte betrachten, dann muß man aus demselben Grunde zuerst über diese handeln, so über Nahrung, Wahrnehmbares und Denkbares. Also muß man zuerst über Nahrung und Zeugung sprechen.²²⁰

Aristoteles entfaltet hier dem Anschein nach ein Stufenmodell, in dem die Identität von Seins- und Begriffshierarchie zur Deckung gelangt: Von der Nahrung über die Wahrnehmung zum Denken entfaltet sich das Sein in solcher Auffassung im aufsteigenden Gang der Betätigungen. In einer solchen durchaus konventionell erscheinenden Betrachtung bildet die Ernährung die genetische Voraussetzung der Wahrnehmung; der Vorrang der ενέργεια vor der δύναμις wäre dann in einem konventionellen Sinne pragmatisch interpretierbar, zugleich aber würde in einer solchen pragmatischen Betrachtung strukturell das Henne-oder-Ei-Problem entstehen, weil Betätigungen als möglichkeitsermöglichend gedacht werden müssten, ohne selbst durch eine δύναμις ermöglicht zu sein. Dieses Problem findet auf zwei Ebenen seine Auflösung: auf der kosmologisch-theologischen durch die Auffassung der ενέργεια als unbewegten Beweger, auf der Ebene der Lebewesen durch die είδος-Bestimmtheit der Entelechie. Die kosmologisch-theologische Variante der aristotelischen Teleologie gründet in der Hingeordnetheit alles Seins auf das Göttliche: „Denn die natürlichste Leistung ist bei den lebenden Wesen, die ausgewachsen und nicht verstümmelt sind oder durch Urzeugung entstehen, die, daß sie ein anderes gleichartiges erzeugen, das Tier ein Tier, die Pflanze eine Pflanze, damit sie nach Vermögen am Ewigen und Göttlichen Anteil haben. Denn nach diesem strebt alles, und auf diesen Endzweck hin wirkt gemäß der Natur alles, was wirkt; der End De anima II 4: 415a.

2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet

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zweck ist in doppeltem Sinne zu verstehen: als Endzweck von etwas und für etwas.“²²¹ Das Göttliche, worauf die entelechial verfassten Lebewesen (den „Endzweck von etwas“ realisierend) teleologisch hingeordnet sind, ist das sie letztendlich Ermöglichende und Bestimmende; um des Göttlichen willen sind die Organismen „Endzweck für etwas“. Die Entelechie ist daher nicht nur immanente Erfüllung eines Lebewesens, sondern Erfüllung der ενέργεια im kosmologischtheologischen Sinne; das Lebewesen ist in dieser Sichtweise der Möglichkeit (δύναμις) nach Bestehendes und Wirkliches aufgrund der Wirklichkeit des Göttlichen, der ενέργεια, ist.

2.3.5.2 Zur Ontologie des Lebens Die δύναμις ist zwar ontologisch der ενέργεια untergeordnet, sie ist prinzipiell nur δύναμις aufgrund der ενέργεια und durch die ενέργεια; ontologisch gesehen sind die Organismen jedoch als aus μορφή (Materie) und είδος (Form) zusammengesetzte Wesenheiten ihrer Wirklichkeit (ενέργεια) nach im Ganzen entelechial verfasst²²² und als solche Endzweck in sich (bzw. „Endzweck von etwas“, falls man als dieses „etwas“ sie selbst auffasst, d. h. ihre physische Organisation findet ihren Zweck in ihrem Lebensvollzug), welcher Ausdruck dem ontologisch gefassten Begriff der Entelechie am ehesten nahekommt. Die Pointe des Vorrangs des είδος, in dem die entelechiale Gestalt der Lebewesen gründet, besteht darin, dass Prozesse wie Ernährung und Wahrnehmung, die der gewöhnlichen (heutigen) Erfahrung nach Bedingendes, teleologisch gesehen dem Sein nach Bedingtes sind. Dass sie in der Weise vollzogen werden, in der sie vollzogen werden müssen, um die Lebensfähigkeit der Lebewesen zu gewährleisten, gründet nicht in den Zufälligkeiten der ὕλη (Materie), aber auch nicht nur in der Determination des είδος im engeren Sinne, da das είδος die Lebewesen als vorrangiges konstitutives Element bestimmt, nicht aber wie die ψυχή die Lebendigkeit als solche ausmacht. Die permanente Realisierung des von den die ὕλη betreffenden Wechselfällen der Umstände her maximal Unwahrscheinlichen, d. h. die Konstanz in der Gestalt und Funktionsweise von Organismen sowie ihre metabolische Regulation und dia-

 Ebd.: 414a – b.  „ή δ’ ούσία έντελέχεια· τοιούτου αρα σώματος έντελέχεια.“ – De anima II 1: 412a. In Theilers Übersetzung: „Die Wesenheit ist Erfüllung, Erfüllung also eines solchen Körpers.“ Der Vordersatz „ή δ’ ούσία έντελέχεια“ lässt sich auch ohne weiteres übersetzen mit ‚Die Substanz aber ist Entelechie‘; was in dieser Übersetzung deutlicher hervortritt, ist die eidologische Bestimmung der Entelechie als das eigentlich Reale durch die Bestimmung derselben als Substanz.

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

chrone Identifizierbarkeit, basieren darauf, dass nicht nur das είδος,²²³ sondern auch die ψυχή,²²⁴ also das ontologische Prinzip von Leben überhaupt, von Aristoteles explizit als έντελέχεια bestimmt werden. Mit dem Begriff der έντελέχεια versucht Aristoteles die teleologische Verfasstheit sowohl des Lebens (έντελέχεια als ψυχή) als auch des Lebewesens (έντελέχεια als είδος) begrifflich zu erfassen. Die doppelte Bestimmung der έντελέχεια als ψυχή und als είδος eröffnet einen größeren teleologischen Zusammenhang, da die έντελέχεια als ψυχή auf die Lebendigkeit im Ganzen und damit auf die Natur zielt und somit ein teleologischer Zusammenhang zwischen der Natur im Ganzen²²⁵ und der entelechialen Verfasstheit des Organismus als Bestandteil derselben hergestellt wird, kurzum: Umwelt und Organismus bilden aufgrund des entelechialen Charakters der ψυχή und des είδος nicht bloß eine beliebige, sondern vielmehr diejenige Einheit, die im Begriff der Natur sich fassen lässt. Einheit meint hier, in Begriffen der Gegenwart formuliert, ein Passungsverhältnis zwischen dem Organismus und der Umwelt, in die er eingelassen ist; ein solches Passungsverhältnis setzt voraus, dass die Funktion der Organe und die physische Organisation des Organismus zur Umwelt in einer Relation stehen, die im Allgemeinen, d. h. solange der Organismus nicht auf der hyletischen Ebene geschädigt wird,²²⁶ die Lebbarkeit des Lebens ermöglicht. Diese Einheit wird, auf  „έστι δ’ ή μέν ύλη δύναμις, τό [ίο] δ’ είδος έντελέχεια, καί τούτο διχώς, τό μέν ώς έπιστήμη, τό δ’ ώς τό θεωρεΐν.“ In Theilers Übersetzung: „Die Materie ist Möglichkeit, die Form Erfüllung, und zwar in doppeltem Sinne, einmal wie das Wissen, das andere Mal wie das Betrachten.“ (ebd. II 1: 412a)  „διό ή ψυχή έστιν έντελέχεια ή πρώτη σώματος ψυσικοϋ δυνάμει ζωήν έ’χοντος.“ In Theilers Übersetzung: „Deshalb ist die Seele die vorläufige Erfüllung des natürlichen Körpers, welcher der Möglichkeit nach Leben besitzt.“ (ebd.: 412a)  Gemeint ist hier die Natur im eingeschränkten modernen Sinne, d. h. Natur unter Absehung von der Sphäre der Freiheit und von einer möglichen theologischen Dimension, die Picht zufolge dem Begriff der φύσις inhärieren: „Es ist irreführend, wenn wir dieses griechische Wort durch das Wort „Natur“ übersetzen; denn „Natur“ bedeutet für das neuzeitliche Denken die Gesamtheit der Objekte der Erkenntnis. Die Erkenntnis selbst und was zu ihr gehört, liegt nicht in der Sphäre der Natur sondern in der ihr entgegengesetzten Sphäre der Freiheit. Der griechische Begriff der φΰσις hingegen umspannt die Sphäre der Natur und die Sphäre der Freiheit. Die Menschen, ja sogar die Götter haben ihren Sitz innerhalb der φύσις. Platon, dem man ohne jede Berechtigung einen Dualismus unterstellt, den er nie gelehrt hat, sagt ausdrücklich von den Ideen, daß sie ihren Stand in der φύσις haben. Die φύσις selbst hat nach Aristoteles ihren Ursprung in der ενέργεια Gottes. Dieser Ursprung liegt nicht jenseits der φύσις; er ist vielmehr ihre άρχή ένυπάρχουσα – der in ihr als ihr Grund enthaltene und sie in alle Ewigkeit durchwaltende Ursprung.“ (Picht 1992: 75)  Zwar gelten die Affekte als Wallungen der Seele, doch als solche, die mit ihr nur vermittels ihres Anderen, also des Körpers, zukommen können: „ Auch die Affektionen und Affekte der Seele scheinen alle mit dem Körper verbunden zu sein : Zorn, Milde, Furcht, Mitleid, Wagemut, dazu Freude und Lieben wie Hassen.“ (De anima I 1: 403a). Aristoteles gelangt zur Ansicht, „daß die

2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet

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der angesprochenen Grundlage der Identität von Begriff und Artung der Sache, als reale und als begriffliche durch die έντελέχεια ermöglicht, da diese umgekehrt realiter die Konstanz und Identität der Lebewesen ermöglicht. Probleme und Fragestellungen, um die mittlerweile Evolutionstheorien kreisen, vor allem aber auch die Frage danach, was die Lebendigkeit des Lebendigen ausmache, auf welche die Philosophische Anthropologie Plessners im 20. Jahrhundert eine Antwort zu geben versucht, finden bei Aristoteles ihre systematische Antwort im Begriff der έντελέχεια. In der Metaphysik bestimmt Aristoteles das είδος bzw. die Form als von der Materie „der Gattung nach verschieden“.²²⁷ Wäre die έντελέχεια hyletischer Natur oder Produkt hyletischer Genesis, also auf der Ebene der Veränderung und Bewegung der Materie, erklärbar, so fiele sie, gemäß der aristotelischen Zuordnung der Wissenschaften zur Gattung ihrer Gegenstände, in den Bereich der Naturphilosophie. Sowohl έντελέχεια als auch είδος aber bezeichnen die hyletisch nicht determinierte Zielbestimmtheit der natürlichen Entwicklung von Lebewesen, wobei είδος das bezeichnet, wodurch und von woher die Entwicklung dem Zustand in teleologischer Bestimmtheit zustrebt, den Aristoteles als έντελέχεια bezeichnet. Es wäre daher falsch, die έντελέχεια mit dem είδος umstandslos gleichzusetzen, weil die έντελέχεια kein Bestandteil des aus είδος und υλη zusammengesetzten Lebewesens ist, das als Werdendes notwendig auch Entstehendes ist: „Das Entstehende muß nämlich immer zerlegbar sein, und ein Teil davon muß dies, der andere dies sein, ich meine ein Teil muß Materie, der andere Form sein.“²²⁸ Warum also hat Aristoteles diese Identifikation von είδος und έντελέχεια expressis verbis vorgenommen?²²⁹ Die Paradoxie der Identifikation²³⁰ Affekte materiegebundene Begriffe sind“ (ebd.) und definiert dementsprechend den Begriff des Zorns: „Zorn ist eine Art Bewegung des so und so beschaffenen Körpers oder Körperteiles oder Vermögens unter der und der Einwirkung zu dem und dem Zweck.“ (ebd.) Allerdings gesteht Aristoteles jedoch dem an der Untersuchung des Körpers orientierten Naturforscher und dem dem heutigen Psychologen am ehesten vergleichbaren Dialektiker zu, dass deren unterschiedliche Sichtweise auf die Affekte der unauflöslich ambivalenten Konstitution der menschlichen Natur geschuldet seien: „Von diesen [den Affekten – S. E.] gibt der eine die Materie wieder, der andere die Form und den Begriff.“ (ebd.: 403b) Der Dualismus, der in der heutigen Frontstellung zwischen pharmakologischen und psychotherapeutischen Grundhaltungen zur Behandlung seelischer bzw. psychologischer Probleme zum Ausdruck kommt, wird hier bereits abgesegnet.  Met. Δ 28 (5. Buch): 1024b.  Met. Z 8 (7. Buch): 1033b.  Vgl. Fußnote 222.  Diese Paradoxie entfaltet Adorno, Heideggers Seinsbegriff explizit kritisierend, in seiner Vorlesung Ontologie und Dialektik: „Was das „Ist“ sagt, muß immer schon zugleich in dem Subjektsbegriff – ich meine natürlich das grammatische Subjekt hier und nicht das Subjekt im erkenntnistheoretischen Sinn – enthalten sein, damit das Prädikat von ihm ausgesagt werden

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

besteht darin, dass sie nur Distinktes identifizieren kann und im Akt der Identifikation eine in der Benennung der miteinander identifizierten Elemente implizierte Unterscheidung, die in der Differenz der Begriffe bzw. Namen zum Ausdruck kommt, mitlaufen lassen muss, diese Unterscheidung aber zugleich aufhebt. Der hermeneutische Weg aus der Paradoxie heraus führt hier über das von Aristoteles nicht verwendete „insofern“: είδος und έντελέχεια sind identisch insofern, als beide Instantiierungen der kosmischen ενέργεια sind und die έντελέχεια im είδος enthalten ist, sowohl als dessen Endzustand im faktischen Wirklichkeitsgeschehen als auch in der generalisierten Form, der die Lehre entspricht, wonach ein jegliches είδος auf den Endzustand bzw. die Vollendung hinstrebe, welche die έντελέχεια darstelle. Die Verbindung zwischen έντελέχεια und ενέργεια wird von Aristoteles in der Metaphysik klar artikuliert: „Die Bezeichnung energeia (Wirklichkeit, Verwirklichung, Aktualität), die wir mit entelecheia (Vollendung) zusammenbringen, wurde vor allem von den Bewegungen auch auf anderes übertragen.“²³¹ In dieser Engführung von ενέργεια und έντελέχεια zeigt sich, warum der griechische Begriff der φύσις, wie oben angedeutet, sich nicht ohne weiteres mit „Natur“ übersetzen lässt. Die kosmologische Relation zwischen δύναμις und ενέργεια ragt in die έντελέχεια hinein; die έντελέχεια ist eine Gestalt der ενέργεια und als solche realisierte Potenzialität bzw. verwirklichte Möglichkeit, zugleich aber, da die έντελέχεια ein Zustand eines Lebewesens ist (die Perfektibilität gründet hier im είδος), selbst wiederum im Verhältnis zu einer höheren, auf sie zurückgehenden Vollendung (έντελέχεια) die konkrete Gestalt eines bestimmten Bewegungszustands (eine Gestalt der κίνησις) und insofern eine Potenz (δύναμις). In ihrer generalisierten Form, d. h. als Lehre verstanden, zielt die έντελέχεια auf eine zweckmäßige Präformiertheit des natürlichen Lebens (die Perfektibilität gründet hier in der ψυχή), welche die Lebbarkeit des Lebens im Sinne der funktionalen organismischen Konstanz ermöglicht. Die generalisierte Realisierung eines kosmischen τέλος, welche das Werk der ενέργεια ist, korrespondiert mit der konkreten Realisierung und ermöglicht diese. Die verwirklichte Möglichkeit bezeichnet Aristoteles auch als „Werk“ (εργον, ergon). Der Werkbegriff kommt zwar vorrangig in Beispielen aus dem Bereich der menschlichen Praxis zur Anwendung, wird von Aristoteles in der Metaphysik je-

kann.“ (Adorno 2008: 300) Auch für das Identitätsurteil gilt,was für sämtliche Urteile gilt, nämlich „daß jegliche Analyse von Urteilen auf zwei Momente führt, deren keines auf das andere zu reduzieren ist“ (ebd.). Um diese Irreduzibilität innerhalb der Identifikation geht es in der formal identifikatorischen Verhältnisbestimmung des Identischen, das hier dem Leibniz’schen Gesetz der Nichtunterscheidbarkeit des Identischen nicht standzuhalten vermag.  Met. Θ (9. Buch) 3: 1047a.

2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet

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doch explizit auf das „Leben in der Seele“²³² bezogen und mit der bereits als Gestalt der έντελέχεια angesprochenen wissenschaftlichen bzw. theoretischen „Betrachtung“ parallelisiert. Über beide sagt Aristoteles: „[W]o es aber kein anderes Werk neben der Wirklichkeit (wirklichen Betätigung) gibt, da ist die Wirklichkeit im Wirkenden (Tätigen) selbst gegeben“.²³³ Der „Wirklichkeit im Wirkenden“ entspricht die έντελέχεια, die als solche eine konkrete Gestalt der ενέργεια ist, weshalb Picht ενέργεια mit „Im-Werk-Sein“ übersetzt;²³⁴ überdies übersetzt Picht die folgende,von ihm zitierte Passage aus De anima: „ή δε ενέργεια το έργον“ mit „[D]as Im-Werk-Sein ist das Werk“, und den Zusatz: „καί, συντείνει προς την εντελέχειαν“ mit „und spannt sich in Richtung auf die Entelechie“.²³⁵ Die gewöhnungsbedürftige und womöglich irritierende Bestimmung der ενέργεια als έργον macht eine Verbindung sichtbar zwischen der Ontologie des Lebens und der praktischen Philosophie, die in der Auffassung der Verwirklichung des Möglichen als Vollendung (εντελέχεια) Gestalt annimmt. Auf der organismischen Ebene ist, auf das Beispiel des Verhältnisses von Sehen und Auge angewandt, das Im-WerkSein des Organs Auge das Sehen. Picht sagt daher: „Das Sehen ist das Werk des Auges.“²³⁶ Im Sehen findet das Organ Auge seine Vollendung (εντελέχεια), zugleich ist das Sehen als Im-Werk-Sein Wirklichkeit (ενέργεια) gegenüber der bloßen Möglichkeit (δύναμις) des Sehens, die dem Auge beispielsweise im Schlaf zukommt. Die εντελέχεια ist Vollendung innerhalb eines Prozesses bzw. einer Bewegung, die in ihr zu einer sie nicht abschließenden Erfüllung kommt, d. h. sie tritt nicht aus dem Prozess heraus, sondern bleibt Teil desselben. Die als „Im-WerkSein“ verstandene εντελέχεια ist eine Vollendung, die nicht derjenigen entspricht, welche man mit dem Begriff des „Werkes“ zu assoziieren geneigt ist, weil ihr sowohl der Charakter des Heraustretens aus der Bewegung und der Abgeschlossenheit des Werkes abgehen, welche dem Bauwerk, auf das Aristoteles in seinen Beispielen häufig rekurriert, zukommen. Darin unterscheidet sich die teleologische Vollendung auf der Ebene des Lebens und der Lebewesen von der praktischen Vollendung im geschaffenen Werk (z. B. in der Baukunst), welches Vollendung im Sinne des έργον ist. Beide jedoch, έργον und εντελέχεια, sind in je spezifischen Bereichen (Natur und Praxis) auftretende Gestalten der (Selbst‐) Vollendung der ενέργεια. Im Unterschied zum έργον realisiert sich in der εντε-

 Ebd.: 8: 1050b.  Ebd.: 1050a.  Vgl. Picht 1992: 39. Dementsprechend nennt Picht das Denken „das ‚Im-Werk-Sein‘ des νοΰς“ (ebd.: 73), bezeichnet „Wissen und Erkennen als Vollzug, als ‚Im-Werk-Sein‘ der Seele“ (ebd.: 138).  Ebd.: 40. – Zum Zusammenhang zwischen ενέργεια und εντελέχεια vgl. außerdem ebd.: 305.  Ebd.

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

λέχεια ein τέλος, das nicht von menschlicher Vernunft rational gesetzt worden ist; daher bildet der Begriff der εντελέχεια den Zentralbegriff der Naturteleologie. Das Eingelassensein der έντελέχεια in einen Fortgang von teleologisch präformierten Verwirklichungen, die den ontologischen Vorrang gegenüber dem jeweiligen Vermögen, auf dem sie fußen, hat Nicolai Hartmann zum Anlass genommen, die aristotelische Teleologie und die Lehre von der έντελέχεια im Besonderen einer kategorialanalytischen Kritik zu unterziehen. Hartmann zufolge „findet man in den Aristotelischen Bestimmungen ein Bild der Welt, in dem für das eigentliche Werden kein Platz ist“,²³⁷ was verwunderlich sei, „da sich ja andererseits nicht verkennen läßt, daß es dem Aristoteles gerade um die Bestimmung des Werdens geht“.²³⁸ Die aristotelische Bestimmung des Werdens wird Hartmann zufolge durch die Priorität der ενέργεια vor der δύναμις ausgehöhlt: „Und die Dynamis ist überall, wo sie auftritt, nur ein Übergang, eingelagert zwischen Energeia und Energeia. Bringt man auch diesen Satz auf seinen rein modalen Sinn, so besagt er, daß alle Möglichkeit nur Möglichkeit ‚auf Grund‘ eines Wirklichen ist. Von einem bloß Möglichen geht keine Möglichkeit aus.“²³⁹ Potenzialität ist demzufolge keine reale, eine eigene Hervorbringungskraft enthaltende Potenzialität sondern bloß eine Aktualität, die weiterer, teleologisch determinierter Verwirklichungen harrt: „Dem Eidos nach früher – Aristoteles sagt ‚dem λόγος nach‘ (d. h. der Wesensbestimmung nach) früher – ist die Energeia darum, weil die Potenz nicht Potenz schlechthin ist, sondern bestimmte Potenz ‚von etwas‘, um dessen Wirklichwerden es sich handelt.“²⁴⁰ Die είδος-Bestimmtheit stellt sich für Hartmann als ausschließliche dar; die Eliminierung von Kontingenz gründet also nicht darin, dass der Potenz nicht die Möglichkeit zu Beliebigem inhäriert, sondern darin, dass die Potenz einzig vom είδος ihre den chronologischen Bruch zwischen Vergangenheit und Zukunft übergreifende Bestimmung erhält: „Daß die Möglichkeit von etwas Bestimmten auch in sehr anderen Bedingungen liegen kann, die keine Identität der inneren Form (des Eidos) mit dem Resultat zeigen, ist nach dieser Auffassung ausgeschlossen.“²⁴¹ An anderer Stelle spricht Hartmann daher konsequenterweise nicht von der Potenz als einer Potenz zu etwas, sondern bezeichnet sie als „Bestimmung zu etwas“:

 Hartmann 1966a: 6.  Ebd.  Ebd.: 77. – Dem entspricht die aristotelische Bestimmung der δύναμις in Met. Δ 12 (5. Buch): 1019a. Dessen als vermögend, „was eine Einwirkung erfährt, daß es diese zu erfahren „vermögend“ (fähig) ist kraft des Vermögens, kraft dessen es die Einwirkung erfährt“.  Hartmann 1966a: 77.  Ebd.

2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet

111

Potenz, als Anlage verstanden, ist nicht Möglichkeit, sondern die ‚Bestimmung zu Etwas‘ und die immanente Tendenz, dieses Etwas zu werden. Energeia aber ist nicht Wirklichkeit, sondern die Vollendung dieses Etwas; und zwar in der doppelten Bedeutung des zunächst vorgezeichneten, dann aber des verwirklichten Zweckes.²⁴²

Die aristotelische Welt stellt sich in Hartmanns Augen also dar als eine determinierte Welt, in der jegliches Werden die von bloß scheinhaften Potenzen grundierte Realisierung bereits vorbestimmter Endzustände ist.²⁴³ Der Nexus zwischen Potenz und Akt ist gemäß Hartmanns Definition der Finalität ein Finalnexus: Das wird verständlich, wenn man bedenkt, daß Finalität in erster Näherung sich als Umkehrung der Kausalität darstellt, nämlich als die zeitliche Umkehr der Dependenzrichtung im Prozeß: Abhängigkeit des Früheren vom Späteren. Das bedeutet nicht nur die Umkehrung des Kausalnexus, sondern auch der Zeitfolge. Und da die Zeitfolge in Wirklichkeit durch keine Macht der Welt umgekehrt werden kann, so muß man vielmehr sagen: der Finalnexus ist eine Determination, welche der Richtung des Zeitflusses und der Prozeßabläufe entgegen läuft.²⁴⁴

Mit Blick auf Plessner, der in den Stufen den Begriff der „Zukunftsfundiertheit“²⁴⁵ einführt, wäre hier von einer „Zukunftsbestimmtheit“ zu sprechen, die in der Doppelbestimmung der Seele als Ursache und Endzweck gründet. In dieser Doppelbestimmung kommt dem Endzweck der Vorrang zu: die Seele ist Ursache, weil und insofern sie zugleich Endzweck ist. Dem Begriff des Endzwecks entspricht die von Hartmann angesprochene „Umkehrung des Kausalnexus“, aufgrund welcher die reale Zeitfolge nur vom Finalnexus der Determination her richtig gedeutet werden kann.Was Hartmann die „Abhängigkeit des Früheren vom Späteren“ nennt, ist genau genommen die Zukunfts- bzw. Zielbestimmtheit des Früheren (δύναμις) durch die von ihm im zeitlichen Verlauf zu realisierende Gestalt, wobei dieser zeitliche Verlauf im Ganzen wesentlich ένέργεια ist wie auch die manifesten Gestaltformen die Realisierung des jeweiligen τέλος sind. Weil der zeitliche Verlauf im wesentlichen ένέργεια, also eine Verkettung von Aktualitäten ist, verbindet sich die teleologische Zukunftsbestimmtheit mit einer Vergangenheitsbestimmtheit im Sinne der kategorischen Vorgängigkeit der ένέργεια vor jeglicher δύναμις; in diesem Modell der Verursachung wird das Deduktionsprinzip des unbewegten Bewegers ohne Bezugnahme auf denselben abstrakt generalisiert: „Aber der Zeit nach früher als diese Dinge sind andere, der Wirklichkeit nach

 Ebd.: 4.  Picht stimmt zurecht darin mit Hartmann überein, wenn er sagt: „Die Priorität der Entelechie vor dem Entstehen wird der Priorität der Zeit nach entgegengesetzt.“ (Picht 1992: 315)  Hartmann 1966b: 3  Vgl. SOM: 177 und 212.

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

Existierende, aus welchen diese entstanden sind; denn stets entsteht das der Wirklichkeit nach Seiende aus dem der Möglichkeit nach Seienden durch ein der Wirklichkeit nach Seiendes, z. B. ein Mensch aus einem Menschen“.²⁴⁶ Betrachtet man die Differenz zwischen δύναμις und ένέργεια ausschließlich im zeitlichen Sinne, demzufolge δύναμις nur noch nicht verwirklichte ένέργεια wäre, dann wäre die Differenz zugleich keine ontologische mehr, weil sie die „teleologische Struktur der Determination in den Realprozessen“²⁴⁷ nicht aufbricht: Potenz ist das, was noch nicht zum Akt übergegangen ist. Die ontologische Marginalisierung der Potenz trägt jedoch selbst wiederum eine ontologische Signatur, da die kausale Priorität der ένέργεια die ontologische Grundlage der teleologischen Struktur der naiven Erfahrung bildet, die das zeitliche Nacheinander der in der Realität erfahrenen Prozesse für eine Widerspiegelung ontologischer Determination hält. Die grundlegende Unterscheidung, die Hartmann zwischen Form und Materie als statischen Prinzipien und Akt und Potenz als dynamischen Modalkategorien trifft, auf deren Explikation „fast die ganze Schwere des Seinsproblems“²⁴⁸ liege, wird mit Tilgung des dynamischen Charakters der Relation von δύναμις und ένέργεια allerdings entkernt. Die als „Vollendung“ verstandene έντελέχεια wird hier eher zur „Vollstreckung des eigenen Seins“, dem sein zu realisierender Imperativ unvertilgbar innerviert. In der έντελέχεια vollzieht sich dann eine Verwirklichung einer Potenz, die ontologisch mit einer Entwirklichung der Wirklichkeit durch die ontologische Exklusion alles nicht eidologisch Bestimmten koinzidiert: Und ebenso ist dann auch die Energeia nicht der reine Seinsmodus eines beliebigen Wirklichen, einerlei wie es zustande kommt, sondern durchaus nur die Verwirklichung eines ‚Eidos‘, d. h. einer Formsubstanz, die als Zweck vorgegeben ist. Dieses Vorgegebensein reimt sich genau mit der Priorität der Energeia, sofern diese in der Dynamis vorbesteht. Das ist von ausschlaggebender Bedeutung: gemäß diesem Energeia-Begriff ist zum Beispiel ein Bruchstück, das als solches ja nicht Verwirklichung eines Eidos ist, nichts ‚Wirkliches‘; und ebenso wenig wirklich ist eine gleichgültige, d. h. ‚zufällige‘ oder ‚automatische‘ Bewegung, eine Zerstörung oder ein Zerfall. All sowas ist eben kein Gelingen und Zustandekommen, keine Vollendung (Entelecheia) von etwas, was entstehen sollte und worauf es abgesehen war.²⁴⁹

In der Perspektive dieser Kritik des Akt-Potenz-Verhältnisses als eines Verhältnisses, in dem der ενέργεια nicht nur der Vorrang vor der δύναμις zukommt, sondern diese die Marionette jener darstellt, erscheint die έντελέχεια nicht mehr

   

Met. Θ 8 (9. Buch), 1049b. Hartmann 1966b: 4 Ebd.: 3. Hartmann 1966b: 49.

2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet

113

als Vollendung, sondern als eine Verschiebung auf einer Zeitachse, welche verschiedene Zeitpunkte einer ontologisch differenzlosen Wirklichkeit aufzeichnet – kurzum: die έντελέχεια verliert ihren spezifischen Sinn, weil die Relation von δύναμις und ένέργεια so abstrakt bestimmt wird, dass sie auf jede Kausalrelation, ungeachtet des jeweiligen Gegenstandes (z. B. Belebtes im Unterschied zu Unbelebtem), anwendbar wird. Auf die Ontologie des Lebens bezogen ergäbe eine solche Kritik, dass die Lebendigkeit des Lebendigen in der Akt-Potenz-Lehre als dem intentional dynamischen Gerüst der aristotelischen Ontologie aufgrund der Marginalisierung der Potenz zum bloßen Noch-Nicht der Wirklichkeit gemacht und damit gleichsam um seine Lebendigkeit gebracht wird. Hartmann hält Aristoteles nicht vor, die Ambivalenz im Begriff der δύναμις nicht erkannt zu haben, sondern die ihm bewusste „Dialektik des inneren Widerstreits“²⁵⁰ des Begriffs der κίνησις nicht ausgetragen zu haben, die sich im Realsein der Übergangsstadien zeigt; die κίνησις garantiere nämlich das Wirklichsein der Übergangsstadien,²⁵¹ die ansonsten nicht einmal Übergangsstadien wären,²⁵² sondern bloß die negative – im Sinne des Substanzbegriffs: nicht seiende – Rückseite der Wirklichkeit, die als ontisch und ontologisch differenzloses Positivum aufträte. Diese Marginalisierung dessen, was nicht Verwirklichung eines Zwecks (Vollendung) ist, resultiert Hartmann zufolge aus einer Übertragung der Verursachung, die im Bereich der menschlichen Praxis und Tätigkeit auftritt, auf den Bereich der Natur, d. h. auf einer Anthropomorphisierung der Naturteleologie: „Die Ursächlichkeit aber, soweit man sie anerkennt und der Erörterung wert erachtet, hat vollkommen das Gesicht eines zielbewußt lenkenden Prinzips angenommen, so wie wir es vom Tun des Menschen her kennen.“²⁵³ In der Analyse des menschlichen Tuns, als deren Kernstück Hartmann das siebte Kapitel des Buches Z ausmacht, habe Aristoteles „das erste klar durchgeführte Stück einer durchaus objektiven Kategorialanalyse des Finalnexus geliefert […] und damit zugleich den Weg zur Überwindung seiner eigenen Metaphysik gewiesen“.²⁵⁴ Der menschlichen Praxis entstammt die dritte und letzte der hier zu skizzierenden  Ebd.: 50.  Das Wirklichsein der Übergangsstadien findet ebenfalls seine Legitimation im aristotelischen Text, nämlich in der Bestimmung der δύναμις als „Prinzip der Bewegung oder Veränderung“ in Met. Δ 12 (5. Buch): 1019a.  „Nun aber haben die Übergangsstadien doch auch ein Wirklichsein, wennschon sie nicht Verwirklichung des Endzieles sind. Hier bricht also deutlich schon bei Aristoteles selbst ein anderer Wirklichkeitsbegriff durch, und dieser ist neutral und ateleologisch. Aber nicht das ist die Folgerung, die Aristoteles zieht. Er schließt umgekehrt: die Kinesis ist unvollendete Wirklichkeit (ένέργεια ατελής), die noch nicht zum Ende gekommene Verwirklichung.“ (Hartmann 1966b: 50)  Ebd.  Ebd.: 66.

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

Varianten des Verhältnisses von δύναμις und ενέργεια, um die es im Folgenden in einer äußerst knappen Betrachtung geht, deren Knappheit darin gründet, dass zwar das Verhältnis von δύναμις und ενέργεια geschärft wird, die Ontologie des Lebens jedoch dadurch keine entscheidende Vertiefung erfährt.

2.3.5.3 δύναμις und ένέργεια in der menschlichen Praxis Der zentrale Begriff der menschlichen Praxis ist der bereits angesprochene Begriff des Werks; die in der Praxis erreichbare Vollendung (έντελέχεια) nimmt die Gestalt eines Werks an: „Denn Ziel ist das Werk, die Wirklichkeit aber ist das Werk, daher ist auch der Name ‚Wirklichkeit‘ (energeia) nach dem ‚Werk‘ (ergon) gebildet und zielt auf die Vollendung (entelecheia).“²⁵⁵ Das paradigmatische Werk, das in der menschlichen Praxis vollbracht, ist der aristotelischen Wahl der Beispiele nach das Bauwerk und dessen Korrelat auf der Ebene der es hervorbringenden Handlung der Baumeister. Über den Baumeister sagt Aristoteles, „daß einer auch kein Baumeister sein kann, solange er nicht baut“.²⁵⁶ Damit ist nicht gemeint, dass der Baumeister nur in dem Augenblick, in welchem er sich als Baumeister betätigt, über die Fähigkeit zu bauen verfüge; vielmehr artikuliert dieser Satz auf missverständliche Weise den Vorrang der Betätigungen vor den Vermögen: der Baumeister kann nur durch die Tätigkeit des Bauens (d. h. zugleich: die Übung) das ihn als Baumeister kennzeichnende Vermögen ausbilden bzw. erwerben, weshalb es nach Aristoteles unmöglich ist, „solche Künste zu besitzen, ohne sie einmal gelernt und erworben zu haben“.²⁵⁷ Die Ausbildung eines komplexen Vermögens auf dem Wege der Habitualisierung erworbener Fähigkeiten ermöglicht es dem Baumeister, sowohl im Zustand der Aktivität, d. h. der Ausübung des Vermögens, Baumeister zu sein als auch im Zustand der Passivität bzw. der Ruhe, d. h. in den Phasen der NichtAusübung dieses Vermögens; aufgrund dieser doppelten Potenz sagt Aristoteles, „daß es also möglich ist, daß etwas vermögend ist zu sein, aber nicht ist, und vermögend nicht zu sein, aber ist“.²⁵⁸ Wäre der Baumeister nur Baumeister in dem Augenblick, in welchem er sich als Baumeister betätigt, würde es keinen Sinn machen zu sagen, dass er die Fähigkeit des Bauens erworben habe und situativ aktualisiere, da das jeweilige Vermögen im Akt jeweils neu entstehen müsste; wer nicht Baumeister ist, während er nicht baut, müsste auf mysteriöse Weise plötzlich wieder Baumeister zu sein vermögen, und dies auch nur, während er sich als ein    

Met. Θ (9. Buch) 8: 1050a. Met. Θ (9. Buch) 3: 1046b. Ebd.: 1046b – 1047a. Ebd.: 1047a.

2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet

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solcher betätigt.²⁵⁹ Aufgrund des doppelten, aktiv-passiven Charakters des Vermögens ist dieses auch im Status der Nichtaktualisiertheit real und, gerade weil es real ist, auch substantieller Natur. Aufgrund dieser Substantialität der Vermögen ist es möglich, „daß etwas vermögend ist zu sein, aber nicht ist, und vermögend nicht zu sein, aber ist, und ebenso in den anderen Kategorien, daß etwas, das vermögend ist zu gehen, nicht geht, und etwas, das vermögend ist nicht zu gehen, geht“.²⁶⁰ Der dispositionelle Charakter der durch Akte der Habitualisierung ausgebildeten Vermögen ist nicht teleologisch neutral; ihm wohnt die Aktgerichtetheit der Vermögen konstitutiv inne. Die Privilegierung der Wirklichkeit gegenüber der Möglichkeit findet ihren Ausdruck in der Identifikation von Wirklichkeit und Existenz und der damit einhergehenden Virtualisierung der Existenz dessen, was der Möglichkeit nach ist; was der Möglichkeit nach ist, ist immerhin der Möglichkeit nach und wird implizit unterschieden von dem, was schlicht nicht ist: „Denn von dem, was nicht ist, ist manches der Möglichkeit nach; es existiert nicht, weil es nicht der Wirklichkeit nach ist.“²⁶¹ Dass etwas nicht existiere heißt nicht nur, dass es bloß Mögliches im Unterschied zu Wirklichem sei, sondern dass es als bloß Mögliches nicht vollendet, nicht έντελέχεια, sondern nur έντελέχεια in potentia ist. Daher taucht in diesem Zusammenhang der an anderer Stelle zitierte Satz auf: „Die Bezeichnung energeia (Wirklichkeit, Verwirklichung, Aktualität), die wir mit entelecheia (Vollendung) zusammenbringen, wurde vor allem von den Bewegungen auch auf anderes übertragen.“²⁶² Möglichkeit bzw. Vermögen sind jedoch, obwohl sie nicht der Wirklichkeit nach sind, Ermöglichungsbedingung von Wirklichkeit und als solche real; sie sind es, weil sie reale Möglichkeit nur aufgrund der alle Verhältnisse durchwaltenden ενέργεια sind. Trotz der Priorität der ενέργεια vor der δύναμις sind Vermögen in dieser Auffassung nicht einfach epiphänomenale Zustände einer endlosen Kette von Aktualisierungen, welche zusammengenommen das bilden, was wir Praxis nennen. Die Aktintentionalität der selbst wiederum durch Betätigung erworbenen Vermögen zeugt zwar von der Priorität der ενέργεια gegenüber der δύναμις, doch die Vermögen sind als die Vermögen, etwas zu tun, und als conditio sine qua non des Tuns nicht kontingente Potenz im Unterschied zu determiniertem Realem, sondern die bestimmt vorausliegende Möglichkeit²⁶³ einer bestimmten Verwirklichung derselben, die anders nicht Verwirklichung genannt werden könnte. Die

    

Vgl. ebd.: 1047a. Ebd. Ebd.: 1047b. Ebd.: 1047a. Daher spricht Nicolai Hartmann von einer „Anlage“, vgl. Hartmann 1966a: 4.

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2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

den Vorrang der ενέργεια nicht aufhebende Irreduzibilität der Vermögen hat auch Dirk Setton in seinem Buch Unvermögen. Die Potentialität der praktischen Vernunft herausgestellt: Um diese explanatorische Rolle spielen zu können, muss einerseits die Irreduzibilität der dynamis (dem Vermögen, seine Versprechen zu halten) gegenüber der energeia (dem Akt des Haltens eines Versprechens) vorausgesetzt werden – denn sonst besäße der Begriff des Vermögens schlicht keine erklärende Kraft: Er wäre auf den der energeia reduzierbar.²⁶⁴

Setton unternimmt in seinem Buch den Versuch, der in einer systematischen Weiterführung der Hartmann’schen Kritik in direkter Auseinandersetzung mit Aristoteles zu leisten wäre und hier gleichwohl nur angedeutet werden konnte, nämlich eine Kritik des aristotelischen Aktualismus in praktischer Absicht, die darauf abzielt, die Irreduzibilität der δύναμις nicht nur anzuerkennen, sondern als der ενέργεια gleichwertig aufzufassen und demgemäß zu rehabilitieren.²⁶⁵ Als praktisches Komplement der gleichermaßen teleologisch wie aktualistisch verstandenen έντελέχεια fungiert bei Setton die allerdings normativ von außen an das Handeln herangetragene „Gelingensfixiertheit“, welche die Potenzialität des Unvermögens verdeckt und die er zurecht einer hier nicht in ihren umfangreichen Einzelheiten zu verfolgenden Kritik unterzieht.²⁶⁶

 Setton 2012: 16.  Vgl. ebd.: 15: „Obgleich also Aristoteles für die ontologische Unreduzierbarkeit der dynamis argumentiert, stellt sie für ihn keine gleichwertige Seinswfeise dar: Sie bleibt sekundär – und Aristoteles’ Ontologie somit eine solche, der man die Position eines verfeinerten Aktualismus zuschreiben könnte.“  Vgl. dazu: „Andererseits soll die Bindestrichkonstruktion [in der Rede vom „Un-Vermögen“, S. E.] deutlich machen, dass das hier gemeinte Unvermögen von der Vorstellung eines abgeleiteten und theoretisch irrelevanten Unvermögens, das gelingensfixierte Ansätze in Anschlag bringen, strikt zu unterscheiden ist. Die Rede von einem ‚Un-Vermögen‘ soll dabei vor allem verständlich machen, dass dasjenige Strukturmerkmal einer praktischen Fähigkeit, wodurch unser Handeln konstitutiv den Möglichkeiten des irrationalen Scheiterns, der Krise oder gar der Selbstblockade ausgesetzt ist, zugleich die eigentümliche Produktivität und Offenheit eines rationalen Vermögens konstituiert – und darin über das engere Phänomen der Irrationalität hinausweist.“ (ebd.: 11)

3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie in eine philosophisch-theologische Anthropologie 3.1 Prolegomena Edith Stein verarbeitet in ihrem philosophischen Denken eine Vielzahl von Einflüssen, die Systematik, Methode und terminologische Orientierung maßgeblich bestimmen und daher eine synoptische Betrachtung verdienen. Als von fundamentaler Reichweite wird sich dabei der Einfluss von Thomas von Aquin und Edmund Husserl erweisen. Die Heterogenität der philosophischen Bemühungen beider Denker, die dem Anschein nach überhaupt nicht sinnvoll zusammenstimmen können, zeigt, wie Stein versucht, das theologische Erbe, für welches Thomas von Aquin steht, mit den philosophischen Errungenschaften ihres akademischen Lehrers Husserl zu versöhnen; die Versöhnung von scholastisch geprägter Theologie und Phänomenologie markiert den Versuch, die Theologie innerhalb der Moderne und damit zugleich in die Moderne hinein zu retten. Dieser Versuch wird durchgeführt als Ontologie, in Steins Vokabular als „Seinslehre“, und der perennierende Versuch Steins, eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Sein zu finden, geht auf den Einfluss Martin Heideggers zurück. Die Orientierung am Seinsbegriff verbindet sich bei Stein jedoch nicht mit dem Begriff des Daseins oder dem des Menschen, sondern mit dem Begriff der Person, mit dem Stein – ebenso wie Plessner – an Max Schelers Werk anschließt. Diese Anknüpfung ist von zentraler Bedeutung, da Stein sowohl eine theologische als auch eine philosophische Anthropologie entwickelt, innerhalb welcher der Personbegriff jeweils eine tragende Rolle spielt. Von den hier angedeuteten Einflüssen her und unter systematischer Beachtung derselben soll im Folgenden die Transformation der klassischen Ontologie in eine moderne Ontologie nachverfolgt werden, die letztlich die Gestalt einer philosophisch-theologischen Anthropologie annimmt, aber lediglich in philosophischer Perspektive thematisiert wird.

3.2 Das philosophisch(‐theologische) Erbe Steins I: Thomas von Aquin Unter den Denkern, die ihr philosophisches Denken maßgeblich beeinflusst haben, hebt Stein Edmund Husserl und Thomas von Aquin hervor:

DOI 10.1515/9783110459159-004

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3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

Die Verfasserin, deren philosophisches Denken von Edmund Husserl gebildet wurde, ist in den letzten Jahren in der Gedankenwelt des Aquinaten heimisch geworden. Es ist nun für sie eine innere Notwendigkeit, die verschiedenen Modi des Philosophierens, die durch diese beiden Namen bezeichnet sind, in sich zum Austrag kommen zu lassen.¹

Verdankt Stein Husserl nützliches philosophisches Rüstzeug, so ist doch Thomas derjenige, der die Heimat gewährt, welche die Phänomenologie nicht zu bieten vermag, definiert diese sich in der Husserl’schen Gestalt doch gerade durch das Nomadentum des Suchers, welches von Husserl theoretisch durch Selbstrevisionen und Neuanfänge hindurch gelebt worden ist. Konsequenterweise ist es auch Thomas, an den Stein gleich im ersten Teil ihres Hauptwerkes Endliches und ewiges Sein, betitelt „Die Frage nach dem Sein“, anschließt: „Als Zugangsweg soll eine erste vorläufige Darstellung der Akt- und Potenz-Lehre des hl. Thomas von Aquino dienen.“² Über die Akt-Potenz-Lehre kommuniziert Stein jedoch auch durchweg indirekt mit Aristoteles, an den Thomas nicht nur mit seiner Akt-Potenz-Lehre direkt anknüpfe,³ sondern auf dessen Spuren er auch noch in seiner Reflexion der Frage nach dem Sein wandele: „Der hl. Thomas hat die Frage nach dem Sein aufgegriffen, wie er sie bei Aristoteles fand. Seine Auffassung der Philosophie als einer Wissenschaft, die rein auf Grund der natürlichen Vernunft vorgeht, gestattete ihm diese Anknüpfung.“⁴ Diese Auffassung der Philosophie als Wissenschaft teilt Stein nicht nur, sondern sie ermöglicht ihr gar, in verschiedenen Werken eine philosophische (Der Aufbau der menschlichen Person. Vorlesung über philosophische Anthropologie) und eine theologische Anthropologie (Was ist der Mensch? Theologische Anthropologie) zu entwickeln. Doch wie genau schließt Stein an Thomas von Aquin an? Das Proprium des thomasischen Denkens macht Stein offenbar weder in der Grundfrage noch in den Grundbegriffen des Aquinaten aus, sondern in der theologischen Ausgestaltung der aristotelischen Unterscheidung von δύναμις (Potenz) und ενέργεια (Akt). Elementar sei im thomasischen Denken der „Doppelsinn von Potenz und Akt“,⁵ ein Doppelsinn, der sich aus der fundamentalen Heterogenität zweier Sphären, der göttlichen und der menschlichen, ergibt und die radikale Trennung beider zum Ausdruck bringt, ohne sie hermeneutisch gegeneinander gänzlich abzuschließen. Das Unaufschließbare wenigstens annä-

 PuA: 4.  EES: 9.  „Mit seiner Lehre von Akt und Potenz steht der hl. Thomas durchaus auf dem Boden der aristotelischen Philosophie.“ (ebd.: 10)  Ebd., 11., vgl. auch ebd.: 12.  PuA: 7.

3.2 Das philosophisch(‐theologische) Erbe Steins I: Thomas von Aquin

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herungsweise aufzuschließen, sei die Aufgabe der einer realen Scheidelinie theoretisch Ausdruck verleihenden Lehre der analogia entis, deren Name der Kompromiss zwischen der Unergründlichkeit Gottes und dem innigen Bemühen um eine Erschließung der göttlichen Sphäre gemäß den unzulänglichen menschlichen Fassungskräften in der terminologischen Kodifizierung angenommen hat: [N]ichts kann im gleichen Sinn von Gott und Geschöpfen gesagt werden. Wenn trotzdem die gleichen Ausdrücke für beide gebraucht werden dürfen, so liegt es daran, daß diese Termini zwar nicht einsinnig (univok), aber auch nicht schlechthin zweideutig (äquivok) sind, sondern in einem Übereinstimmungsverhältnis stehend (analog). Und so könnte man der Scheidelinie selbst den Namen „Analogia entis“ geben, die Bezeichnung für das Verhältnis von Gott und Geschöpf.⁶

Die Differenz zwischen der göttlichen und der geschöpflichen Sphäre wird von Thomas bündig durch die Unterscheidung zwischen einem einfachen Wesen, das seiner Wesenheit nach reiner Akt ist, und den übrigen Wesen getroffen, die ihrer Wesenheit nach aus Form und Materie zusammengesetzt sind und denen daher sowohl Akt als auch Potenz zukomme. Die Differenz ist jedoch keine des Nebeneinander, sondern der Abhängigkeit dessen, dem Akt und Potenz zukommt, von dem Wesen, das reiner Akt (actus purus, Gott) und Bestimmungsgrund dessen ist, was zu ihm als von ihm zu Bestimmendes sich potentiell verhält.⁷ Der Doppelsinn von Akt und Potenz tritt bei Thomas zutage in der Unterscheidung der göttlichen Sphäre, in welcher die Differenz von Akt und Potenz in der Ununterschiedenheit Gottes als actus purus aufgehoben wird, und einer kreatürlichen Sphäre, durch deren Geschöpfe die Differenz als ein in verschiedenen Graden⁸ ausgeprägter Riss hindurchgeht und deren Bestimmung daher eine nach dem jeweiligen Verhältnis von Akt und Potenz sich stratifizierende ist. Die Akt-Potenz-Verhältnisse begründen also eine Rangordnung der Lebewesen in ihrer sie verbindenden teleologischen Hinordnung auf Gott, der ihr Sein bestimmt. Der Mensch nimmt in dieser Rangordnung keineswegs die höchste Stelle als das Gott aufgrund seines Denkvermögens am ehesten ähnelnde Wesen

 EES: 10.  „Alles nun, was etwas von einem anderen (= Prinzip) empfängt, verhält sich zu diesem potentiell. Und das von diesem her Empfangene ist sein Akt. Also muß die Washeit oder Form selbst, die das Vernunftwesen ausmacht, ich potentiell zum Sein verhalten, das sie von Gott empfängt.“ (Thomas von Aquin 1988: 45)  „Sie unterscheiden sich also im Verhältnis zueinander je nach der Stufe der Potenz und des Aktes, in der Weise, daß das (je) höhere Vernunftwesen, das näher zum ersten Prinzip steht, mehr vom Akt und weniger von der Potenz hat, und entsprechend bei den anderen.“ (ebd.: 47)

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3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

ein, sondern er ist den Engeln als reinen, körperlosen Vernunftwesen⁹ hierarchisch untergeordnet. Nicht nach oben hin, also zu Gott, sondern nach unten hin, zu den nicht vernunftbegabten Wesen, schließt der Mensch die Rangordnung ab: „Diese Rangordnung schließt mit der menschlichen Seele ab, die im Bereich der vernunftbegabten Substanzen auf der untersten Stufe steht.“¹⁰ Der Rang des Menschen resultiert aus seiner ihn von den Engeln und Gott unterscheidenden Zusammengesetztheit aus Materie und Form. In der theologisch-anthropologischen Ausgestaltung der Akt-Potenz-Lehre, welche in einer Ontologie des Lebens als einer skalierten Kosmologie des Lebens terminiert, besteht die genuine Errungenschaft Thomas’, die Stein in ihrem Werk vertieft. Die von Aristoteles übernommene Unterscheidung von Form und Materie¹¹ bildet hingegen die Grundlage der thomasischen Substanzenlehre, mittels welcher die ontologisch-kosmologischen Akt-Potenz-Verhältnisse am Beispiel der verschiedenen Lebensformen, die keine reinen Vernunftwesen sind, inhaltlich stufenförmig spezifiziert werden.¹² Die thomasische Substanzenlehre hier im Einzelnen weiterzuverfolgen, ist weder möglich noch nötig. Sowohl der grundbegriffliche Leitfaden als auch der metaphysisch-theologische Grundriss, den Edith Stein von Thomas von Aquin übernimmt, ist skizziert worden. Im Anschluss an die Beleuchtung weiterer Quellen der Philosophie Steins wird in einer systematischen Rekonstruktion der Philosophie Steins die vertiefende Ausgestaltung dieses Grundrisses wiederaufgenommen werden.

 Die Engel unterscheiden sich von Gott als von ihm geschaffene Wesen durch ihre Geschöpflichkeit (vgl. Thomas von Aquin 2013: 217); vom Menschen unterscheiden sie sich als reine Intelligenzen durch ihre Unkörperlichkeit, aufgrund welcher ihre – und nicht bei Aristoteles die menschliche – Erkenntnis nicht durch die Sinne vermittelte reine Vernunfterkenntnis sei und daher dem göttlichen Erkennen ähnlicher als die menschliche Erkenntnis: „Ein Engel erkennt aber die körperhaften Dinge nicht mit einer Erkenntnis, die aus den Dingen gewonnen wird; er ist ja nicht mit Vermögenskräften zur sinnlichen Wahrnehmung ausgestattet, durch deren Vermittlung eine Erkenntnis von sinnlich Wahrnehmbarem in den Intellekt gelangt. Also erkennt ein Engel mit einer Erkenntnis, mit der etwas Dingliches zustande kommt, und diese ähnelt dem göttlichen Erkennen.“ (Thomas von Aquin 2009: 124)  Thomas von Aquin 1988: 47.  Thomas vereindeutigt diese Unterscheidung gegenüber Aristoteles, indem er sie am Beispiel des Menschen als Differenz zwischen Seele (Form) und Körper bzw. Leib (Materie) spezifiziert.Vgl. ebd.: 9.  „So findet sich bei den Vemunftwesen Potenz und Akt, nicht jedoch Form und Materie, außer in äquivokem Sinne.“ (ebd.: 45)

3.3 Das philosophische Erbe Steins II: Die Phänomenologie Edmund Husserls

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3.3 Das philosophische Erbe Steins II: Die Phänomenologie Edmund Husserls Die Phänomenologie bildet den methodischen Weg zum theologisch-scholastischen Ziel: „Sie [die Verfasserin – S. E.] muß versuchen, von diesem Ausgangspunkt den Weg in den großen Dom der Scholastik zu finden.“¹³ Dieser befremdende Anspruch an die Phänomenologie verbindet sich zuweilen mit einem merkwürdigen und unspezifischen Verständnis derselben, das in der von Stein artikulierten Überzeugung Ausdruck findet, dass die „phänomenologische, d. h. die Methode, wie sie E. Husserl ausgebildet und im II. Band seiner Logischen Untersuchungen zuerst angewendet hat, […] nach meiner Überzeugung von den großen Philosophen aller Zeiten bereits angewendet wurde“.¹⁴ Worauf Stein damit zielt, ist die sachliche Gesättigtheit aller großen Philosophie, d. h. die Realisierung von Husserls Devise „Zu den Sachen selbst“, welche auch Stein sich auf die Fahne schreibt. In nichts zeigt der Einfluss des späten, die transzendentale Wendung mit den Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie bereits vollzogen habenden Husserl¹⁵ sich deutlicher als darin, dass Stein stets unser Erleben, nach Husserl das Erleben des „reinen Ich“,¹⁶ als methodischen Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen wählt. So heißt es in Der Aufbau der menschlichen Person: „Das Ausgangsmaterial für unsere Untersuchung des Menschen ist also das, was wir in lebendiger Erfahrung vor Augen haben.“¹⁷ In Endliches und ewiges Sein bestimmt Stein als Ausgangspunkt der Untersuchung des Verhältnisses von Akt und Potenz die „Tatsache des eigenen Seins“¹⁸ das im Medium des eigenen Bewusstseins unmittelbar erfahrbar sei und daher den festen Boden bilde, von dem eine jede Untersuchung auszugehen habe: „Was als Feld der Untersuchung übrig bleibt, ist das Feld des Bewußtseins im Sinne des Ichlebens“. ¹⁹ Bewusstsein im Sinne des Ichlebens, mit dem Stein an Husserls Begriff des „reinen Ich“ anschließt, wird vom cartesischen Bewusstsein dadurch unterschieden, dass  Ebd.  AmP: 28.  Die Ideen-Schrift Husserls erschien 1913, Stein war von 1916 – 1918, also während der Ausarbeitung der Ideen III und der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Assistentin Husserls.  „Im Gegensatz zu diesem verborgen hinter dem unmittelbar bewußten Erleben stehenden Ich nennt er das im Erleben unmittelbar bewußte das ‚reine Ich‘. Nur von diesem soll vorläufig die Rede sein, solange die Betrachtung sich im Bereich des unmittelbar Bewußten, des uns Nächsten und von uns Unabtrennbaren, hält.“ (EES: 51)  Ebd., 29.  EES: 40.  Ebd.: 41.

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3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

das Bewusstsein in der phänomenologischen Bedeutung keine Begründungsinstanz sei, sondern eine Realität sui generis, die als solche ungeachtet der Korrespondenz ihrer Inhalte mit der Realität der natürlichen Erfahrung zu erforschen sei. Soll die Zweifelsbetrachtung bei Descartes noch zur Gewissheit führen, so soll in der Phänomenologie gar nicht erst gezweifelt und folglich auch nicht die Existenz des in Zweifel Gezogenen bewiesen werden, sondern die Wahrnehmung in ihrer Unmittelbarkeit und direkten Gegebenheit als ein in der Erfahrung Unhintergehbares angenommen und betrachtet werden: „[I]ch kann es dahingestellt sein lassen, ob das Ding, das ich mit meinen Sinnen wahrnehme, wirklich existiert oder nicht – aber die Wahrnehmung als solche läßt sich nicht durchstreichen“.²⁰ Aufgrund ihrer nur nachträglichen und insofern bloß artifiziellen Bezweifelbarkeit bildet die im Bewusstseinsleben sich manifestierende „Gewißheit des eigenen Seins […] die ursprünglichste Erkenntnis: nicht die zeitlich erste, denn die ‚natürliche Einstellung‘ des Menschen ist vor allem anderen der äußeren Welt zugewandt“.²¹ Sie ist die ursprünglichste, weil wir immer in ihr stehen, sofern wir uns als existierend erleben, und nur von ihr aus, in ihrer jeweiligen Aktualität, sie selbst nachträglich objektivieren können;²² sie ist ohne Anfang und Ende, weil sie mit unserem Erleben zusammenfällt und es kein retrospektives Davor oder prospektives Danach gibt, das nicht als Erleben oder bloß negativ als qualitätslose Leere oder als bloßes Abstraktum gedacht werden kann. Die Auffassung des Ich als Monade in Husserls Cartesianischen Meditationen erläuternd, sagt Stein daher: „Darum kann das Dasein des Ich in seiner Faktizität als absolut bezeichnet werden. Und diese Faktizität erstreckt sich über den gegenwärtigen Moment hinaus. Das wache Ich findet sich immer schon im Dasein und findet sein gegenwärtiges Dasein als kontinuierliche Fortsetzung eines abgelaufenen.“²³ Dem Ich wohnt in seinem Erleben eine Grenze inne, die das Erleben aus dem gravitationslosen Raum der reinen Phänomenalität und transzendenzlosen Wahrnehmung herausholt. Diese Grenze bildet die Intentionalität, die sich bei Stein jedoch von der Husserl’schen Intentionalität dadurch unterscheidet, dass in ihr der Übergang von der Epistemologie zur Ontologie und vom Ich zur Personalität vollzogen wird. Husserl spricht in den Cartesianischen Meditationen zwar vom „personalen Ich“, lässt aber dabei den Vorrang des Ich bzw. des ego als des

 Ebd.  Ebd.  Ebd.  Zur Gebundenheit der – notwendig immer nachträglichen – Objektivierung an die stets ursprüngliche Aktualität: „Das Bewußtsein kann nicht nachträglich hinzukommen, wenn es nicht ursprünglich da war: Es kann nur eine Steigerung des Bewußtheitsgrades und der Übergang zur Reflexion nachträglich eintreten.“ (PuA: 171) – Dazu vgl. auch ebd.: 229.

3.3 Das philosophische Erbe Steins II: Die Phänomenologie Edmund Husserls

123

phänomenologisch zu erschließenden Subjekts des Bewusstseinserlebens unangetastet, weshalb das „personale Ich“ nicht die spezifisch menschliche Person meint: „Indem aus eigener aktiver Genesis das Ich sich als identisches Substrat bleibender Ich-Eigenheiten konstituiert, konstituiert es sich in weiterer Folge auch als stehendes und bleibendes personales Ich – in einem allerweitesten Sinn – der auch von untermenschlichen Personen zu sprechen gestattet.“²⁴ Auch der Begriff der Eigenheitlichkeit hat ironischerweise eine formale Bedeutung bei Husserl als Differenzbezeichnung, obgleich wir als Eigenheiten von Personen das schlechthin Individuelle im durchaus materialen Sinn und die damit einhergehenden personalen Idiosynkrasien aufzufassen pflegen. Eigenheitliches im Sinne Husserls ist schlicht das, was ein Ich zu diesem oder jenem im Unterschied zu einem anderen Ich macht. Der Begriff der Eigenheit zielt nicht auf die je eigene Erfahrung eines jeweiligen intentionalen Ich, sondern auf Habitualisierungsleistungen des menschlich-personalen Ich der Lebenswelt: „In diesem beständigen Wandel der menschlichen Lebenswelt wandeln sich offenbar auch Menschen selbst als Personen, sofern sie korrelativ immer neue habituelle Eigenheiten annehmen müssen.“²⁵ Von „Personen“ spricht Husserl hier in einem eher umgangssprachlichen Sinn als von Akteuren der Lebenswelt, nicht von Entitäten, deren Genesis oder ontologischer Status in der phänomenologischen Konstitutionslogik aufzuschließen wären. Dass in der phänomenologischen Betrachtung unterhalb der Ebene der Personalität geforscht und deren Ermöglichungsbedingungen in den Grundlagen der Egologie aufgesucht werden sollen, spürt Husserl deutlich und nimmt Bezug auf das Befremden, welches die Erzeugung der Kluft zwischen Person und Ego in der egologischen Betrachtung der Phänomenologie aufreißt: So verstehe ich, der Meditierende, am Anfang nicht, wie ich, da die anderen Menschen insgesamt eingeklammert sind, überhaupt zu Anderen und mir selbst kommen soll. Im Grunde verstehe ich auch noch nicht und erkenne es nur widerwillig an, daß ich selbst, mich als Menschen und als menschliche Person einklammernd, nun doch als ego erhalten bleiben soll.²⁶

Die Person als ontische Ermöglichungsbedingung des Ich, welches Gegenstand der transzendentalen Egologie ist, ist nicht die Referenzgröße phänomenologischen Konstitutionslogik. Konstitutionslogisch geht Husserl vielmehr den umgekehrten Weg, weshalb das aus den Konstitutionsleistungen des Egos erwach-

 CM: 101.  Ebd.: 162.  Ebd.: 176.

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3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

sende „menschlich-personale Ich“ wesentlich ein „Ich“ bleibt, wenn auch ein durch spezifisch personale Konstitutionsleistungen gekennzeichnetes: Indem ich als dieses ego die für mich seiende Welt als Phänomen (als Korrelat) konstituiert habe und fortgehend weiter konstituiere, habe ich unter dem Titel Ich, im gewöhnlichen Sinne des menschlich-personalen Ich, innerhalb der gesamten konstituierten Welt eine verweltlichende Selbstapperzeption in entsprechenden konstitutiven Synthesen vollzogen und halte sie in beständiger Fortgeltung und Fortbildung.²⁷

In der Konsequenz einer solchen Konstitutionslogik liegt auch die Auffassung der (objektiven) Welt als das, was sich „auf dem Untergrunde meiner primordinalen Welt in mehreren Stufen“²⁸ konstituiere. Intersubjektivität wird als Aporie geradezu in der Konstitutionslogik aufgenommen, indem sie nicht als das Andere des Ich, sondern als schlicht aus der Sphäre des ego ausgeschlossenes Anderes definiert wird: „Als erste [Stufe, S. E.] ist abzuheben die Konstitutionsstufe des Anderen oder Anderer überhaupt, das ist aus meinem konkreten Eigensein (aus mir als dem primordinalen ego) ausgeschlossener ego’s.“²⁹ Der Andere und dessen Realität, die konstitutionslogisch eingeholt werden soll, wird demzufolge notgedrungen transzendentalegologisch restringiert. Was buchhalterisch unterschieden wird, Ich und Anderes, wird ich-scholastisch dem transzendentalen Ego als dem Weltkonstituens zugeschlagen.³⁰ Das Bewusstseinserleben ist jedoch nicht nur die Sphäre der Konstitution der Welt, sondern hat selbst eine konstitutionale Struktur,vermittels derer es über sich selbst hinausreicht. Dieses dem Bewusstseinserleben inhärierende Über-sichhinaus fasst Husserl mit dem Begriff der Intentionalität, der bei Husserl eine engere Bedeutung hat als bei Edith Stein, die ihn ontologisch transformiert, um den Übergang vom Bewusstsein zur Personalität zu vollziehen. Husserl unterscheidet dabei zwischen einer „noetischen Intentionalität“ bzw. „Horizontintentionalität“, also einer die immanente Logik des Bewusstseins bestimmenden Intentionalität, „ohne die ein Objekt nicht Objekt sein könnte“,³¹ und einer noematischen Intentionalität, die das Bewusstsein als Bewusstsein von etwas  Ebd.: 130.  Ebd.  Ebd.: 137.  „Wir haben abscheiden gelernt die Selbstkonstitution des ego für sich selbst und in seiner primordinalen Eigenwesentlichkeit und die Konstitution aller Fremdheiten verschiedener Stufe aus Quellen der Eigenwesentlichkeit. Es resultierte die universale Einheit der in meinem eigenen ego sich vollziehenden Gesamtkonstitution in ihrer Wesensform, als deren Korrelat die objektiv seiende Welt für mich und ein ego überhaupt beständig vorgegebene ist und sich in Sinnesschichten fortgestaltende ist; das aber in einem korrelativen apriorischen Formstil.“ (ebd.: 164)  Ebd.: 21.

3.3 Das philosophische Erbe Steins II: Die Phänomenologie Edmund Husserls

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qualifiziert. Der Begriff der Horizontintentionalität bezeichnet die Tatsache, dass jedes Erlebnis „einen im Wandel seines Bewußtseinszusammenhanges und im Wandel seiner eigenen Stromphasen wechselnden Horizont – einen intentionalen Horizont der Verweisung auf ihm selbst zugehörige Potentialitäten des Bewußtseins“³² habe. Mit dem Begriff der „noetischen Intentionalität“ bezeichnet Husserl den Subjektpol einer notwendig noetisch-noematischen Struktur: „Der Gegenstand ist sozusagen ein Identitätspol, stets mit einem vorgemeinten und zu verwirklichenden Sinn bewußt, in jedem Bewußtseinsmoment Index einer ihm sinngemäß zugehörigen noetischen Intentionalität, nach der gefragt, die expliziert werden kann.“³³ Aufgrund des noematischen Pols und der noetisch-noematischen Struktur habe „das jeweilige cogito nicht in unterschiedsloser Leere sein cogitatum bewußt, sondern in einer deskriptiven Mannigfaltigkeitsstruktur von einem ganz bestimmten, gerade diesem identischen cogitatum wesensmäßig zugehörigen noetisch-noematischen Aufbau“.³⁴ Der noematische Aspekt der Intentionalitätsstruktur wird meistens als der Aspekt in den Blick genommen, der die strukturelle Weltbindung des Bewusstseins garantiert, weshalb Husserl vom „noematisch-ontischen Gehalt“³⁵ des erfahrenen Anderen spricht. Die Explikation der noetisch-noematischen Struktur der Intentionalität verlegt das Verhältnis zwischen ego und cogitatum in prinzipieller Einseitigkeit ins ego. Unsere Beziehung zur Sphäre der Intersubjektivität und Kultur wird als eine des Ich, wenn auch des personalen Ich, aber nicht als ein Verhältnis der die Person qua ego grundsätzlich übersteigenden Ganzheit zur Welt aufgefasst.³⁶ Eine deutliche Abgrenzung von Husserl vollzieht Stein in Potenz und Akt. Studien zu einer Philosophie des Seins im Kapitel „Versuch einer Bestimmung des Geistigen“, wo sie als die drei Grundcharakteristika des geistigen Lebens „Intentionalität, Intelligibilität und Personalität“³⁷ anführt. Die begriffliche Anknüpfung an Husserl, welche Intentionalität als Charakteristikum des geistigen Lebens indiziert, bildet zugleich die Grundlage der Überschreitung des Husserl’schen Horizonts,

 Ebd.: 82.  Ebd.: 83.  Ebd.: 79.  Ebd.: 122 f.  Entsprechend bescheiden gibt Husserl sich trotz seines fundamentalphilosophischen Anspruchs, wenn es um die Erschließung der Kulturwelt geht: „Die genauere Erforschung der Sinnesschicht, welche der Menschheits- und Kulturwelt als solcher ihren spezifischen Sinn gibt, sie also zu einer mit spezifisch geistigen Prädikaten ausgestatteten macht, müssen wir uns versagen.“ (ebd.: 162)  Vgl. PuA: 83. – Unter Intelligibilität versteht Stein das Hingeordnetsein des Geistes auf die Welt, welcher umgekehrt das weltliche „intelligibile“ als ein auf den Geist Hingeordnetes entspricht. Zur näheren Bestimmung vgl. Kap 3.8.5.

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3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

denn Stein geht es darum, die Intentionalität als Medium der Personalisierung des Ich aufzufassen, welches gerade nicht mehr im Husserl’schen Sinne aufgefasst werden kann: „Auf geistigem Gebiet heißt das: Es muß etwas mehr vorhanden sein als ein pures, qualitätloses Subjekt geistigen Lebens (ein ‚reines Ich‘, wie es im ersten Kapitel im Anschluß an Husserls Terminologie genannt wurde).“³⁸ Als das Leben der freien, geistigen Person bezeichnet Stein – Husserl zunächst scheinbar die Treue haltend – die intentionalen Akte.³⁹ Das Leben der geistigen Person führt diese jedoch in eine die Reflexivität des phänomenologischen ego cogito prinzipiell übersteigende Reflexivität hinein, welche der Person praktisch die Aufgabe der Selbstformung im Leben, d. h. in der Lebensführung, auferlegt und ihr philosophisch aufgibt, ihre Konstitution als Person unter Miteinbeziehung ihrer leiblichen Verfasstheit zu reflektieren. Die Bestimmung der Personalität als differentia specifica, die den Menschen von den übrigen Lebewesen unterscheidet, weist aufgrund der die Person mit jenen Lebewesen wiederum verbindenden Naturwüchsigkeit auf eine philosophische Anthropologie hin und erheischt eine solche: „Daß der Mensch Person ist, das unterscheidet ihn von allen Naturwesen.“⁴⁰ Um die Entfaltung dieses Unterschieds in Steins philosophischer Anthropologie wird es im Ausgang vom Begriff der Person im Folgenden gehen.

3.4 Person als theologisch-anthropologischer Grundbegriff 3.4.1 Steins Dissertation Zum Problem der Einfühlung und der Einfluss Schelers: Das verdrängte Desiderat Edith Stein hat den Begriff der Person, obwohl eine solche Beeinflussung sowohl zeitgeschichtlich als auch biographisch naheliegt, nicht von Max Scheler übernommen, der Stein offenbar eher beeindruckt als beeinflusst hat.⁴¹ Systematisch und in größerem Umfang geltend gemacht hat Schelers Einfluss, genauer seine Theorie der Erfahrung des fremden Bewusstseins, sich einzig in Steins Dissertation Zum Problem der Einfühlung, in welcher Stein in der Auseinandersetzung mit Schelers Wertlehre den Mangel einer durchgeführten Theorie der Person zwar als solchen anerkennt und eine solche Theorie folglich als Desideratum betrachtet,

 PuA: 85.  „Was aber ist das Ich? Wir nannten es freie, geistige Person, die intentionalen Akte sind ihr Leben.“ (AmP: 83)  AmP: 78.  „Der erste Eindruck, den Scheler machte, war faszinierend. Nie wieder ist mir an einem Menschen so rein das ‚Phänomen der Genialität‘ entgegengetreten.“ (Stein 2002: 210)

3.4 Person als theologisch-anthropologischer Grundbegriff

127

zugleich aber eingesteht, eine solche Lehre in besagter Schrift nicht durchführen zu können: Wir fanden eine durchgängige Korrelation von Person und Welt, genauer gesprochen Wertewelt. Es genügt für unsere Zwecke, diese Korrelation aufgewiesen zu haben. Es geht daraus hervor, daß eine durchgeführte Lehre von der Person (auf die wir hier natürlich keinen Anspruch erheben) nicht ohne eine vorliegende Wertlehre möglich ist, und daß sie von einer solchen Wertlehre aus gewonnen werden kann.⁴²

Steins Dissertation stellt also eine Vorarbeit zu einer Theorie der Person dar, statt selbst eine solche zu entwickeln. Dies zeigt sich auch darin, dass Stein, in der Unterscheidung zwischen Ich bzw. Bewusstsein und dem Kern der empirischen Person auf den Spuren der Husserl’schen Egologie wandelnd, implizit den methodischen und essentiellen Vorrang von Ich und Bewusstsein postuliert,wenn sie behauptet, dass „das reine Ich, nicht die Person dem Menschen aus den Augen sieht und daß das cogito, das rein geistige Gerichtetsein im körperlichen Gerichtetsein sichtbar wird“⁴³ und dass außerdem das „reine Ich Kern der empirischen Person“⁴⁴ sei. Allerdings hält in dem Buch eine Unentschiedenheit Einzug, die vermutlich auf den Einfluss Schelers zurückgeht, denn als Kern der empirischen Person beschreibt Stein an anderen Stellen des Buches nicht das reine Ich, sondern das, was sie als „personale Struktur“ bezeichnet. Den Begriff der personalen Struktur entwickelt Stein nicht in der Unterscheidung desselben vom Begriff des Ich, sondern vom Begriff der Seele, die wiederum vom Bewusstseinsstrom deutlich unterschieden wird: „Unser einheitlich abgeschlossener Bewußtseinsstrom ist nicht unsere Seele. Sondern in unseren Erlebnissen […] gibt sich uns ein ihnen zugrunde Liegendes, das sich und seine beharrlichen Eigenschaften in ihnen bekundet, als ihr identischer ,Träger‘: das ist die substanzielle Seele.“⁴⁵ Die substanzielle Seele ist weder eine Qualität des Bewusstseins noch eine das Bewusstsein ätherisch fundierende Substanz, sondern die Seele eines psychophy-

 Stein 2008: 126. – Die Korrelativität von Person und Welt geht auf Scheler zurück, der sie explizit in Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik einführt: „Als das Sachkorrelat der Person überhaupt nannten wir die Welt. Und also entspricht jeder individuellen Person auch eine individuelle Welt.Wie jeder Akt aber zu einer Person gehört, so ‚gehört‘ auch jeder Gegenstand wesensgesetzlich zu einer Welt.“ (Scheler 1980: 392)  Stein 2008: 102.  Ebd.  Ebd.: 55 f.

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3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

sischen Individuums⁴⁶ und aufgrund ihrer Verbindung mit Sphären, die über ihre reine Immanenz hinausgreifen (z. B. die Sphäre der Körperlichkeit), die substanzielle Einheit, in deren Akten „mein reines Ich lebt“.⁴⁷ Deshalb hängt Stein zufolge der „Gehalt des Erlebnisstroms […] von der Struktur der Seele“⁴⁸ ab. Aufgrund ihrer Affiliation mit dem Leib ist die Seele auch als substanzielle Einheit aufgrund der psychophysischen Kausalität anders als die personale Struktur nicht der Determination durch Umstände enthoben; die personale Struktur nennt Stein daher den „innerhalb ihrer [der Seele, S. E.] individuellen Gestalt“⁴⁹ anzutreffenden „unwandelbaren Kern“.⁵⁰ Die Seele sei Stein zufolge von den Umständen abhängig, in denen der Mensch sich befindet, ihre Erlebnisse und Beschaffenheiten „beeinflußbar durcheinander und durch die Zustände und die Beschaffenheit des Leibes“.⁵¹ Folglich ist es konsequent, von „Fähigkeiten der Seele“⁵² zu sprechen, die durch Gebrauch, etwa durch Übung, entwickelbar und modifizierbar seien. Im Unterschied zur personalen Struktur, welche die seelischen Fähigkeiten durch ihre unwandelbare Struktur begrenzt, ist die Seele somit denselben Einflüssen ausgesetzt, denen der Mensch ausgesetzt ist, ohne die Wirkung dieser Einflüsse zu begrenzen; sie ist somit im starken Sinne identitätskonstitutiv: „Die personale Struktur grenzt einen Bereich von Variationsmöglichkeiten ab, innerhalb dessen sich ihre reale Ausprägung ,je nach den Umständen‘ entwickeln kann.“⁵³ Die sowohl begrenzende als auch ermöglichende Kapazität der personalen Struktur gründet in ihrer intrinsischen Bindung der Person an eine Wertewelt; Person und Wert sind einander in einer Art prästabilierten Harmonie oder prästabilierten Disharmonie zugeordnet, die darüber entscheidet, ob zwischen Person und Sache eine lebendige Beziehung möglich ist. Weil der personalen Struktur der identitätskonstitutive Vorrang gegenüber der Seele zukommt, können personale Eigenschaften durch Habitualisierung in der Lebenspraxis zu seelischen werden,

 Vgl. ebd: 56 f., außerdem ebd.: 66: „Die Seele als die sich in den einzelnen psychischen Erlebnissen bekundende substanzielle Einheit ist – wie das geschilderte Phänomen der „psychophysischen Kausalität“ und das Wesen der Empfindungen zeigt – auf Leib fundiert, bildet mit ihm das ‚psychophysische Individuum‘.“  Ebd.: 56.  Ebd.  Ebd.: 128.  Ebd.  Ebd.: 127.  Ebd.:128.  Ebd.

3.4 Person als theologisch-anthropologischer Grundbegriff

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nicht aber umgekehrt, weil sonst die Seele als am Individuum Erscheinendes determinans seines eigenen determinans werden müsste.⁵⁴ In Steins Terminologie kreuzen sich mehrere systematische Linien. Husserls Begriff des reinen Ich bleibt als Substrat des Erlebens erhalten, erfährt aber durch den Begriff der Seele eine Vertiefung, die in der klassischen Phänomenologie eher ein Abgleiten in phänomenologisch nicht streng aufweisbare Derivationen oder eidetische Spekulationen metaphysischer Art bedeutet. Die Seele bildet in ihrer Bindung an den Leib das Medium der Habitualisierung, die insgesamt von der ihr zugrundeliegenden personalen Struktur determiniert wird, statt selbst, wie im Form-Begriff der klassischen Ontologie, als Bestimmendes zu fungieren. Die personale Struktur wird vor allem durch ihren Fundamentalcharakter bestimmt, worin sich zeigt, dass Stein um den Begriff der Personalität nicht herumkommt, wenngleich sie ihn auch nicht systematisch zu entwickeln vermag. Sowohl mit den Begriffen der Seele und des psychophysischen Individuums als auch mit dem der personalen Struktur tastet Stein sich in Richtung einer philosophischen Anthropologie vor, ohne die Entwicklung einer solchen bereits als systematische Notwendigkeit zu antezipieren. Hat man den fundamentalen Stellenwert einer ausgearbeiteten Lehre von der Person vor Augen, überrascht mehr als die Tatsache, dass Stein diese Lehre in ihrer Dissertation nicht ausführlich entwickelt, das Faktum, dass sie in ihren späteren Schriften nur spärlich an Max Scheler anschließt. Wie der oben zitierte Begriff „Lehre von der menschlichen Person“ indiziert, hat Stein etwas anderes im Sinn als das, was Plessner in seinem frühen Aufsatz Über die Erkenntnisquellen des Arztes (1923) eine „Wissenschaft von der menschlichen Person“⁵⁵ nennt. Die Schwierigkeiten, die der Entwicklung dieser Wissenschaft im Wege stehen, finden ihren Ursprung in den Grenzen von Steins philosophischer Muttersprache, d. h. in der Inkompatibilität der phänomenologischen Ego-Fixiertheit und -Gebundenheit mit einem das common sense-Verständnis von Person philosophisch ernstnehmenden Denken,⁵⁶ das mit ersterem auch in Steins Augen unvereinbar zu sein scheint: „Indessen sträubt sich etwas in uns, dies merkwürdig substratlose

 „Natürlich werden auch die personalen Eigenschaften – die Güte, die Opferwilligkeit, die Tatkraft, die ich in meinen Handlungen erlebe – zu seelischen, wenn sie an einem psychophysischen Individuum wahrgenommen werden. Aber sie sind auch als Eigenschaften eines rein geistigen Subjekts denkbar und behalten ihr Eigenwesen auch im Zusammenhang der psychophysischen Organisation bei. Ihre Sonderstellung offenbart sich darin, daß sie außerhalb des Kausalzusammenhangs stehen.“ (Stein 2008: 127)  Plessner 1985b: 50.  Vgl. die Einleitung in Krüger 1999.

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3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

,geistige Subjekt‘ als das anzuerkennen,was man gemeinhin eine Person nennt.“⁵⁷ Stein teilt also das Unbehagen an der Husserl’schen Phänomenologie, das Scheler in seiner Habilitationsschrift Die transzendentale und die psychologische Methode. Eine grundsätzliche Erörterung zur philosophischen Methodik (1900) zur programmatischen Formulierung einer alternativen Forschungsorientierung veranlasst hat. Die von Scheler formulierte Frage hingegen nimmt sie nicht konsequent auf: Mit einem Ich, das lediglich eine zusammenhängende wissenschaftliche Erfahrung ermöglichte, waren die Ansprüche, die wir an eine philosophische Theorie der Persönlichkeit zu stellen haben, lange nicht erschöpft. Die Frage lautet vielmehr: Wie ist eine zusammenhängende geistige Welt in der Form einer personalen möglich?⁵⁸

3.4.2 Exkurs: Naturphilosophie und philosophische Anthropologie Steins Dissertation Zum Problem der Einfühlung stammt aus dem Jahr 1916. In ihrem 1917 erschienen Aufsatz Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik geht Stein dem Problem der Person weiter nach, allerdings ohne in das Gebiet der philosophischen Anthropologie vorzudringen. Diese Entwicklung kann hier nicht im Einzelnen verfolgt werden. Stattdessen soll hier, da Plessner seine Philosophische Anthropologie als Naturphilosophie entwickelt, in einem kleinen Exkurs ein Blick auf das Verhältnis zwischen Naturphilosophie und philosophischer Anthropologie in Steins 1920 gehaltenen und unter dem Titel Einführung in die Philosophie veröffentlichten Vorlesungen geworfen werden, weil die darin getroffene Verhältnisbestimmung auch im späteren Werk nicht revidiert, wenngleich auch nicht systematisch vertieft wird. Die Sphäre der Kreatürlichkeit und damit die philosophische Anthropologie bilden in Steins Vorlesung zwar den Gegenstand einer ontologischen Betrachtung, die Ontologie wird von Stein aber derart in sich differenziert, dass die philosophische Anthropologie nicht in die Ontologie der Natur und damit in die Naturphilosophie fällt, die im ersten Teil, Die Probleme der Naturphilosophie, dargelegt wird, sondern in die Ontologie des Geistes, die im zweiten Teil, Die Probleme der Subjektivität, entfaltet wird: Es gibt eine Ontologie der Natur und eine Ontologie des Geistes. Genauer gesprochen: während die empirischen Naturwissenschaften untersuchen, was für Gegenstände in der Natur vorkommen und wie sie beschaffen sind, fragt die Ontologie der Natur, was ein ma-

 Stein 2008: 114.  Scheler 1971: 302.

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terielles Ding überhaupt (d. h. seinem Wesen nach) ist, was ein Organismus überhaupt ist etc.⁵⁹

Unter die materiellen Dinge fallen in Steins Naturphilosophie zunächst ganz allgemein sämtliche materiellen und damit räumlichen Gebilde, worunter die Organismen als körperliche Naturdinge zunächst auch fallen. Deshalb sagt Stein, dass „sowohl Kulturobjekte wie Lebewesen, unangesehen ihrer besonderen Eigentümlichkeiten, auch Naturdinge sind und an allem teilhaben, was Natur als solche ausmacht“.⁶⁰ Natur als solche fällt dann zusammen mit der Gesamtheit der für uns existierenden Objektwelt, sofern die Objekte „selbstgenugsam und ,von Natur aus‘ keinen fremden Zwecken unterworfen“⁶¹ sind, d. h. sofern sie als Substanziales begegnen und nicht als Eigenschaft an Substanzialem, von dem sie ihrem Sein nach abhängig sind, wie etwa die aus der Tiefe eines Dinges kommende Farbe desselben.⁶² An anderer Stelle sagt Stein, die über den Substanzbegriff laufende Differenz zwischen Dingen und Naturdingen einebnend, weil letztere im generellen Dingbegriff aufgehen lassend, dass die Schilderung der derart weit aufgefassten Naturdinge „auch auf die Lebewesen Anwendung“⁶³ finde. Diese äußerst allgemeine Dinganalyse führt Stein in ihrer Durchführung nicht zu einer Auffindung eines Unterschieds zwischen lebendigen und nicht lebendigen Dingen, der sich in der Anschauung an den Dingen selbst zeigt, wie dies bei Plessner der Fall ist, sondern die Analyse der, wiederum mit Plessner gesprochen, „Charaktere der Lebendigkeit“⁶⁴ wird von Stein, obwohl in der oben zitierten Passage vom „Organismus überhaupt“ die Rede ist, erst im zweiten Teil, Die Probleme der Subjektivität, durchgeführt, in den auch die Unterscheidung zwischen Körper und Leib bzw. die Einführung beider Begriffe im Zusammenhang mit der Betrachtung der Personalität fallen. Im naturphilosophischen Teil wird die Differenz zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem nicht nur nicht entfaltet, sondern sie wird gar intentional ausgeblendet:

 EP: 9.  Ebd.: 26.  Ebd.  „Eine Farbe kann glänzend oder stumpf sein, das Ding kann Strahlen aussenden usf. Glänzen, Leuchten, Strahlen und dgl. sind nicht nur sichtbare Beschaffenheiten, die die Ausdehnung des Dinges bedecken, sich über sie ausbreiten, sondern sie kommen aus der Tiefe des Dinges selbst, sie erscheinen als Ausfluß seiner materiellen Beschaffenheit.“ (ebd.: 37)  Ebd.: 26.  Vgl. SOM: 92. Plessner setzt sich an der Stelle mit Driesch auseinander, in dessen Hauptwerken der Begriff allerdings nicht auftaucht.

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Die Lebewesen als solche, soweit sie nicht von sich aus gestaltend in das Naturgeschehen eingreifen, betrachten wir mit als zur reinen Natur gehörig. Doch sehen wir, daß das, was sie zu Lebewesen macht, besondere Eigentümlichkeiten sind, die nicht allem Natursein eignen; und da uns zunächst das interessiert, was notwendig und unaufhebbar zu allem Natursein gehört, so schalten wir auch die Lebensphänomene vorläufig aus und behalten nur als erstes Objekt unserer Betrachtung das übrig, was man als ,tote Natur‘ zu bezeichnen pflegt.⁶⁵

Die Nicht-Unterscheidung zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem innerhalb der Naturphilosophie ergibt sich nicht mit prinzipieller Notwendigkeit aus der Art und Weise, in der Stein von der phänomenologischen Methode Gebrauch macht, steht aber damit in einem interessanten Zusammenhang. Stein betreibt Phänomenologie im Sinne der Husserl’schen Transzendentalphänomenologie, d. h. als Beschreibung der Phänomene in Abhängigkeit vom sie erlebenden Ego: „Aber wohl gemerkt: wenn ich in der Einstellung auf das Erlebnis – der phänomenologischen Einstellung – den fliegenden Vogel beschreibe, so beschreibe ich kein Naturding, gebe keiner natürlichen Erfahrung Ausdruck, sondern gebe nur getreu wieder, was im Wahrnehmungserlebnis beschlossen liegt.“⁶⁶ Wichtiger als die Tatsache, dass der Begriff des Naturdings hier in Diskordanz zu den oben zitierten Passagen verwendet wird, nämlich zur Bezeichnung dessen, was in der natürlichen Wahrnehmung als Naturding identifiziert wird, ist, dass der Unterschied zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem dem eben angeführten Zitat zufolge in die noetisch-noematisch strukturierte intentionale Sphäre und damit in die Abhängigkeit vom erlebenden Ego fallen muss, für welches die gesamte Gegenstandswelt ein „Erlebniskorrelat“⁶⁷ ist. An die Stelle der Naturbeschreibung im Sinne der Beschreibung von Natur, wie diese sich in der Anschauung von sich aus zeigt, tritt die Beschreibung des Naturerlebnisses, welches Stein zum Ausgangspunkt naturwissenschaftlicher Forschung erklärt, obwohl diese offenkundig innerhalb einer durch die der Vorentscheidungen der natürlichen Wahrnehmungen bestimmten Welt und auf der Grundlage der natürlichen Wahrnehmung operiert: Wir halten uns an das, was uns im ursprünglichen Erlebnis als Natur entgegentritt und den selbstverständlichen Ausgangspunkt für alle naturwissenschaftliche Forschung bildet. Wir behalten ferner im Auge, daß die Aussagen, die wir nun machen werden, keine Naturbeschreibung darstellen, d. h. keine Beschreibung der wirklichen, als Wirklichkeit erfahrenen und gesetzten Natur, sondern Beschreibung des ,Naturphänomens‘, dessen, was zum Naturerlebnis unaufhebbar gehört.⁶⁸

   

EP: 26. Ebd.: 18. EP: 19. Ebd: 23.

3.4 Person als theologisch-anthropologischer Grundbegriff

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Stein fragt konsequenterweise nicht danach, wie Natur als solche aufgebaut sei, sondern danach, wie Natur sich für ein erkennendes Bewusstsein aufbaue: „[W]ie ist es zu verstehen, daß sich für das erkennende Bewußtsein so etwas wie Natur aufbaut?“⁶⁹ So kantisch die Frage klingt, die als solche die Erschließung des Unterschieds zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem vom erkennenden Bewusstsein her nicht prinzipiell verunmöglicht, so kantisch fällt die phänomenologische Deskription der natürlichen Gegenstandswelt in einem die Freilegung dieses Unterschieds verunmöglichenden Sinne aus, da Stein sich in dieser Deskription eher auf dem Abstraktionsniveau der Dingbestimmung in Kants transzendentaler Ästhetik als auf dem Konkretionsniveau Plessners bewegt. Dies zeigt sich besonders darin, dass Stein zufolge die Analyse der Naturdinge sowohl eine „reine Raumlehre“ als auch eine „reine Zeitlehre“ erforderlich macht;⁷⁰ das Zwischenergebnis der an den Ermöglichungsbedingungen naturwissenschaftlicher Forschung orientierten Überlegungen lautet dementsprechend: „Natur und Naturgeschehen sind einer mathematischen Behandlung so weit fähig, als sie in Raum und Zeit ausgedehnt sind, als sie an einem homogenen Kontinuum Anteil haben.“⁷¹ Wiederum im Kantischen Geist werden Mathematik und Physik, für die der Unterschied zwischen Lebendigem und Unlebendigem unwichtig ist, als role models naturwissenschaftlicher Forschung vorausgesetzt, da anders die Frage nach diesem Unterschied innerhalb der Naturphilosophie sich von selbst aufdrängen würde und nicht in der Theorie der Subjektivität ihre Verortung finden würde. Bemerkenswert ist diese Ausblendung vor dem Hintergrund, dass die von Stein phänomenologisch freigelegte Eigentümlichkeit materieller Dinge, nicht nur eine geometrische Stelle im Raum einzunehmen, sondern „ihn zu erfüllen“,⁷² eine spezifisch phänomenologische Feststellung darstellt. Diese wiederum ebnet den Weg zu einer Betrachtung, welche die spezifische Art und Weise, in der belebte und unbelebte Gegenstände sich als solche in der Wahrnehmung zeigen, „innerphänomenologisch“ und ohne Rückgriff auf die natürliche Wahrnehmung zu elaborieren vermag. Ebenso antezipiert Stein – wie die Anführungszeichen im folgenden Zitat zeigen –, dass das Innere eines Dinges nicht sein Inneres im starken, metaphysisch wesenhaften, Sinne ist, ohne Inneres und Äußeres als Innen und Außen und damit im Plessner’schen Sinne als Richtungsgegensätze zu denken, was sich daraus erklärt, dass Stein das „Innere“ mit dem für den aristotelischen Substanzbegriff maßgeblichen Charakter des Bleibenden zusammenbringt: „Es ist die Eigentümlichkeit des ,Inneren‘ der Naturdinge, ihrer Sub   

Ebd.: 54. Vgl. ebd.: 39. Ebd.: 59. Ebd.: 27.

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stanz oder ihres dauernden Bestandes an materiellen Eigenschaften, daß sie nicht selbst greifbar sind, sondern sich durch äußere Erscheinungen bemerkbar machen.“⁷³ Der kantische und aristotelische Überlieferungsbestand verbindet sich so mit dem Husserl’schen Konzept der Phänomenologie zu einer phänomenologischen Betrachtung der Natur vom Subjekt aus. Wie soll nun auf der Basis einer methodisch am Erleben des Subjekts ansetzenden Naturphilosophie eine Ontologie der Natur möglich sein, die nicht letztlich eine Phänomenologie des Naturerlebens darstellt? Steins Antwort fällt einfach und direkt aus: indem Philosophie Wesensforschung und als solche Ontologie sei: „Und sofern sie [die Philosophie, S. E.] Wesensforschung ist, können wir sie als Ontologie bezeichnen.“⁷⁴ Da die philosophische Wesensforschung eine Pluralität von Gegenstandsbereichen zum Thema ihrer Betrachtungen machen kann, gibt es nicht nur eine Ontologie, sondern eine gebietsabhängige Pluralität von Ontologien, z. B. eine Ontologie des Rechts, der Sprache etc.⁷⁵ Stein spricht von „verschiedenen materialen Ontologien“,⁷⁶ die begründen und erklären sollen, „wie bestimmte Erkenntnisarten und bestimmte Gegenstandsregionen möglich sind“.⁷⁷ Gemäß der Bestimmung der Ontologie der Natur als der Untersuchung der Frage, was ein materielles Ding oder ein Organismus überhaupt seien, ist die phänomenologische Wesensforschung nicht auf einen letzten Grund, sondern auf das in der natürlichen Wahrnehmung unexplizierte und die positiven Wissenschaften grundierende Vorverständnis von Gegenstandsbereichen gerichtet, das in der Fraglosigkeit der natürlichen Erfahrung verdeckt bleibt: Bei allen Untersuchungen einer positiven Wissenschaft werden die Wesenswahrheiten des betreffenden Gebiets als Selbstverständlichkeiten vorausgesetzt, mag sich auch der positive Forscher selbst niemals darüber klar geworden sein. Wenn man daran geht, bestimmte materielle Dinge auf ihre Beschaffenheit zu prüfen, so setzt man als bekannt voraus, was ein materielles Ding ist.⁷⁸

Will man die Analyse, die dieser Art des Fragens entspringt, als Präsuppositionsanalyse bezeichnen, so sollte man die Differenz zur Präsuppositionsanalyse im Sinne der Plessner’schen Philosophischen Anthropologie, wie Krüger sie entfaltet, nicht unterschlagen. Geht es bei Plessner um das Selbst- und Weltverhältnis

     

Ebd.: 37. Ebd.: 9. Vgl. ebd.: 10. Ebd.: 99. Ebd. Ebd.: 10.

3.4 Person als theologisch-anthropologischer Grundbegriff

135

der Person im Ganzen ihrer Lebensführung,⁷⁹ so geht es bei Stein um gegenstandsspezifische hermeneutische Voraussetzungen, deren Woher und Wohin, nämlich die Personalität, innerhalb ihrer naturphilosophischen Vorlesung aufgrund des erkenntnistheoretisch-phänomenologischen Rahmens nicht thematisch werden kann. Um dieses Woher und Wohin, diesen Ausgangs- und Fluchtpunkt, die Lehre von der Personalität, welche die spätere philosophische Entwicklung Steins und ihre Ontologie und philosophischen Anthropologie⁸⁰ entscheidend bestimmt, geht es im Folgenden im Ausgang von ihrer doppelten philosophisch-theologischen Bestimmung.

3.4.3 Konvergenz von Philosophie und Theologie im Personbegriff Die Durchführung des Projekts einer Lehre von der Person bestimmt Steins in den 1930er Jahren entstandenen anthropologischen Werke Was ist der Mensch? Theologische Anthropologie (1932) und Der Aufbau der menschlichen Person. Vorlesung über philosophische Anthropologie (1932/33). In die selbe Entstehungszeit fällt ihre ontologische Grundlegung in Potenz und Akt. Studien zu einer Philosophie des Seins (1931), die ihre ausführliche und die genannte Studie systematisch fortsetzende Ausformulierung in ihrem opus magnum Endliches und ewiges Sein (1937) erfahren hat. Die Entwicklung der philosophischen Anthropologie und der Ontologie Steins fallen also in denselben Zeitraum und lassen sich daher weder als nur zufällig sich wechselseitig erhellende, erläuternde und interpretierende Entwürfe lesen, noch bedarf deren Engführung eines interpretatorischen Gewaltakts. Wie die obengenannten Werktitel zeigen, formuliert Stein parallel eine philosophische und eine theologische Anthropologie aus, die einander ergänzen statt bevormunden sollen. Die Theologie bildet dabei die notwendige Ergänzung der Philosophie, die sich nicht immanent, d. h. aus den Kräften der Vernunft vollenden lasse⁸¹ und ihre Vollendung durch die Theologie erfahren müsste. Philo Dazu vgl. insbesondere Krügers Aufsatz Expressivität als Fundierung zukünftiger Geschichtlichkeit. Zur Differenz zwischen Philosophischer Anthropologie und anthropologischer Philosophie in Krüger: 2009. Zum hier angesprochenen Zusammenhang insbesondere Krüger 2009a:134 f. Dass in der Einholung der lebensweltlichen Präsuppositionen nicht das solitäre Projekt der Philosophischen Anthropologie besteht, sondern Philosophische Anthropologie und Pragmatismus in diesem Problemzugang harmonieren und daher beide dem Problem der Lebensführung sich philosophisch von der Lebensführung selbst her zu stellen vermögen, stellt Krüger ebenfalls heraus, vgl. Krüger 2009b: 342 f.  Der Redlichkeit halber sei hinzugefügt: auch ihrer theologischen Anthropologie.  „Die Grundwahrheiten unseres Glaubens – von der Schöpfung, vom Sündenfall, von der Erlösung und Vollendung – zeigen alles Seiende in einem Licht, wonach es unmöglich erscheint,

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3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

sophie und Theologie verfolgen Stein zufolge mit je eigenen Mitteln je spezifische Zwecke, die sich aus den jeweiligen Mitteln ergeben, und sind daher nicht ineinander überführbar oder durcheinander ersetzbar. Stein fasst diese doppelte Differenz, explizit auf Thomas von Aquin sich berufend,⁸² konzise als eine Differenz von Gegenstand und Methode, worin Philosophie und Theologie sich unterschieden.⁸³ Der Gegenstand der Theologie sei Gott, der der Philosophie „die geschaffene Welt“,⁸⁴ die Quelle der theologischen Erkenntnis die Offenbarung, die der Philosophie hingegen die natürliche Erkenntnis. Die natürliche Erkenntnis habe dabei der geoffenbarten Wahrheit, welche Stein als höchstrichterliche Instanz auch der Philosophie gegenüber ins Feld führt, zu dienen; sie verhält sich darin wie die Ontologie (metaphysica generalis) zur Theologie (metaphysica specialis): Die Philosophie schöpft aus natürlicher Erkenntnis. Sie berücksichtigt die Glaubenswahrheiten als Maßstab, der es ihr ermöglicht, an ihren eigenen Ergebnissen Kritik zu üben: Da es nur eine Wahrheit gibt, kann nichts wahr sein, was zur offenbarten Wahrheit in Widerspruch steht. Sie dient ferner der Theologie, indem sie ihr den begrifflich-methodischen Apparat zur Verfügung stellt, dessen sie zur Darstellung der Glaubenswahrheiten bedarf.⁸⁵

Mit „Philosophie“ ist explizit nicht die „moderne“ Philosophie gemeint; von dieser grenzt Stein sich, an die Kritik des „Modernismus“ in der Enzyklika Pascendi dominici gregis von Pius X. anschließend, dezidiert ab, indem sie ihr als Prinzip ihrer Unwissenheit die „Unkenntnis der Scholastik“⁸⁶ vorhält und als „Heilmittel gegen das Übel […] die Pflege der scholastischen Philosophie als Grundlage der kirchlichen Studien, insbesondere das Studium des Hl. Thomas von Aquino“⁸⁷ empfiehlt. Dieses Verhältnis zwischen Philosophie und Theologie erfährt eine sinngemäße, aber gründlichere Ausbuchstabierung in Endliches und ewiges Sein. Stein unterscheidet darin zwischen den Glaubenswahrheiten und den der natürlichen Vernunft zugänglichen Wahrheiten, die Notwendigkeit der Vernunft als einer universellen Letztinstanz anerkennend, die es ermögliche, über die Gräben von daß reine Philosophie, d. h. eine Philosophie aus bloß natürlicher Vernunft, imstande sein sollte, sich selbst zu vollenden, d. h. ein ‚perfectum opus rationis‘ zu leisten. Sie bedarf der Ergänzung von der Theologie her, ohne dadurch Theologie zu werden.“ (EES: 30)  „Thomas hat den Unterschied und die selbständige Berechtigung beider Wissenschaften in vollendeter Klarheit im Prolog seiner theologischen Summa entwickelt.“ (AmP: 27)  „Sie unterscheiden sich nach Gegenstand und Methode.“ (ebd.: 27)  Ebd.  Ebd.  Stein 2005: 204.  Ebd.

3.4 Person als theologisch-anthropologischer Grundbegriff

137

Glaubensunterschieden hinweg eine substantielle Verständigungsbasis zu finden.⁸⁸ In dieser natürlichen Vernunft gründe der Sinn des thomasischen Versuchs, einen „Erweis der Wahrheit des katholischen Glaubens“⁸⁹ darzulegen. Dieser Erweis nützt dem Gläubigen nichts, der in dessen Aufstellung oder Nachverfolgung kaum mehr als eine Zeitverschwendung erblicken könnte; der Ungläubige allerdings könne, so die Prämisse dieses vernunftbasierten Erweises, deutlich einsehen, dass die natürliche Erkenntnis nicht nur an eine Grenze stoße, sondern diese Grenze auch eine Rückseite habe, von welcher die Offenbarung Zeugnis ablege. Der Sinn dieses Wahrheitserweises liege darin, dem strikt der Vernunft sich verschreibenden Philosophen auf dessen Terrain zu begegnen, „weil sich nur so ein Stück gemeinsamen Weges mit den Ungläubigen ergibt; wenn sie einwilligen, diese Strecke mit uns zu gehen, werden sie sich in der Folge vielleicht noch weiter führen lassen, als es ihre ursprüngliche Absicht war“.⁹⁰ Dieser Glaube an die Verführbarkeit der Vernunft durch die ihrer Gesetzmäßigkeit entsprechend dargelegte Begründung der Glaubenswahrheit gründet in der Vernunft selbst, in ihrer auf ihre Selbstüberschreitung angelegten Verfasstheit, weshalb eine Grenzen akzeptierende Vernunft – auch selbstgesetzte Grenzen wie die aus der Kantischen Vernunftkritik resultierenden – zur Unvernunft würde: „Die Vernunft würde zur Unvernunft, wenn sie sich darauf versteifen wollte, bei dem stehen zu bleiben, was sie mit ihrem eigenen Licht entdecken kann, und die Augen vor dem zu schließen, was ein höheres Licht ihr sichtbar macht.“⁹¹ Der Vernunft als dem Organ der Philosophie inhäriere ein τέλος, das Thomas „perfectum opus rationis“ ⁹² nennt und das sich für Stein durch das Streben nach „letzte[r] Klarheit“⁹³ auszeichnet. Um diesem Ideal gerecht werden zu können, müsse der Philosoph Gläubiger sein: „Wenn der Philosoph seinem Ziel, das Seiende aus seinen letzten Gründen zu verstehen, nicht untreu werden will, so wird er durch seinen Glauben genötigt, seine Betrachtungen über den Bereich dessen hinaus, was ihm natürlicherweise zugänglich ist, auszudehnen.“⁹⁴ Die Implikationen dieser Ausführungen sind eminent: Das Kantische Projekt der Vernunftkritik würde demnach einen Verrat an der Metaphysik darstellen, da es der Vernunft Grenzen zieht, die Metaphysik im klassischen Sinne und somit das Seiende „aus seinen letzten Gründen zu verstehen“ unmöglich macht. Ein jedes

      

Vgl. EES: 21. Ebd. Ebd.: 36. Ebd.: 30. Zitiert nach: ebd.: 27. Ebd. Ebd.: 29.

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3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

philosophisches Projekt, das nicht selbst in einer letztlich christlichen Metaphysik terminiert, sondern beispielsweise die Ermöglichungsbedingungen von Metaphysik etwa im Rahmen einer philosophischen Anthropologie offenzulegen versuchte, wäre ein leeres Spiel, das immer nur unzureichend begründen könnte, wodurch es selbst ermöglicht ist. Mehr noch: der Philosoph, sofern er nicht Gläubiger ist, wäre seiner geistigen Konstitution nach paradoxerweise unfähig, dem Erkenntnisideal der Philosophie zu genügen. Gleichwohl müsse die derart Grenzen überschreitende Philosophie sich ihrer eigenen, genuin philosophischen, Grenzen bewusst sein, da es an ihr sei – und das macht sie zur christlichen Philosophie –, „die Einheit einer umfassenden Lehre herzustellen“,⁹⁵ d. h. Vernunft- und Glaubenswahrheiten philosophisch zusammenzuführen. Indem sie diese Einheit mit den Mitteln der Philosophie, d. h. mittels der Vernunft, herstelle, vollende die Philosophie sich „durch Theologie, nicht als Theologie“.⁹⁶ Philosophische Gestalt müsse diese Vollendung annehmen, weil die Ergänzung der Philosophie qua natürliche Vernunft durch die Theologie qua Offenbarung sich dadurch vollziehe, dass in der Offenbarung Gott in einer für uns fasslichen Sprache zu uns spreche, weshalb Stein die geoffenbarte Wahrheit definiert als „Wahrheit, von Gott in der Weise des menschlichen Erkennens in Begriffe und Urteile gefasst, in Worten und Sätzen ausgedrückt“.⁹⁷ Diese Ausführungen Steins zur Ergänzungsbedürftigkeit der Philosophie wären nur halb so interessant, würden sie nicht direkt in das Zentrum ihrer anthropologischen Terminologie zurückführen, genauer zum Person-Begriff: „Die Offenbarung spricht in einer dem natürlichen Menschenverstand zugänglichen Sprache und bietet Stoff zu einer rein philosophischen Begriffsbildung, die von den Offenbarungstatsachen als solchen ganz absehen kann und deren Ergebnis Gemeingut aller späteren Philosophie wird (z. B. die Begriffe ,Person‘ und ,Substanz‘).“⁹⁸ Nicht das Scheler’sche Projekt einer Wissenschaft von der Person, welches Stein in Zum Problem der Einfühlung als verbindlich anerkannt und durch welches sie das Desiderat einer durchgeführten Lehre von der Person begründet sieht, wird hier wie in den übrigen Schriften der 1930er Jahre fortgeführt oder auch nur als philosophischer Wegweiser angeführt, sondern der Rückgang auf die theologischen Wurzeln des Personbegriffs bildet den Ausgangspunkt Steins. Auf die theologische Ausgestaltung des Personbegriffs und die diese durchwaltenden Probleme, etwa der Dreipersönlichkeit in der Trinitätslehre, kann und braucht hier nicht im Einzelnen eingegangen werden. Worauf es hier vielmehr    

Ebd.: 33. Ebd.: 32. Ebd.: 35. Ebd.: 31.

3.5 Die Begriffe Akt und Potenz

139

ankommt, ist, dass bei Stein der Unterscheidung zwischen ewigem und endlichem Sein in Potenz und Akt die zwischen einer unendlichen Person (Gott) und der Mannigfaltigkeit endlicher Personen, zu denen die Menschen zählen, entspricht. Dieser Unterschied ist nicht im Sinne einer deskriptiven Differenz zu begreifen, sondern im Sinne einer ontologischen Spaltung: „Der vollkommenen Einheit des göttlichen Seins steht die Gebrochenheit und Gespaltenheit des geschöpflichen Seins gegenüber. Aber trotz des Abgrundes zwischen beiden ist doch eine Gemeinsamkeit, die es erlaubt, hier und dort von Sein zu sprechen.“⁹⁹ Nicht nur von Sein ist hier und dort zu sprechen, sondern gemäß der analogia entis-Lehre auch von Personalität: „Worin liegt die Gemeinsamkeit zwischen Gott und endlichen Personen, die es ermöglicht, in beiden Fällen von ,Person‘ zu sprechen? In der Analogie des Seins: des Personseins und des geistigen Lebens.“¹⁰⁰ Im Folgenden soll in Absehung vom theologischen Personbegriff die spezifisch anthropologische Bestimmung der menschlichen Person als ganzer, d. h. in ihrer geistig-geschöpflichen Doppelnatur, von der Relation von Akt und Potenz her in den Blick genommen werden.

3.5 Die Begriffe Akt und Potenz Der Name der Akt-Potenz-Relation indiziert bereits, dass die Definition von Akt und Potenz eine strikt korrelative sein muss. In Potenz und Akt ordnet Stein das Begriffspaar der materialen Ontologie zu, die sie von der formalen Ontologie unterscheidet, in welche wiederum Kategorien wie „Gegenstand überhaupt“ oder „Etwas überhaupt“ fallen. Gemäß der Zuordnung des Begriffspaars zur materialen Ontologie bestimmt Stein Akt und Potenz grundsätzlich als „materiale Erfüllungen der [jeweiligen, S. E.] Seinsform“.¹⁰¹ Akt bzw. Aktualität und Potenz bzw. Potenzialität sind daher Abkürzungen „für aktuelles und potentielles Sein“¹⁰² oder „wirkliches und mögliches Sein“.¹⁰³ Mittels der Unterscheidung zwischen Wirklichkeit (Aktualität) und Möglichkeit (Potenzialität) allein lässt das Verhältnis zwischen Akt und Potenz sich nicht hinreichend erfassen, da es sich dabei um eine Relation mit einer zeitlichen Struktur handelt – außer im Falle Gottes, dessen Sein reine Aktualität ist und daher zu keinem Noch-nicht oder Nicht-Mehr in Beziehung steht.

 Ebd.: 46.  PuA: 87.  PuA: 37.  Ebd.  Ebd.

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3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

Grundlegend für die Bestimmung des Akts ist Steins Aussage, dass der Akt „als das Wirkliche und Wirksame aus einer zeitlich vorausliegenden realen Möglichkeit – einer ,Seinsanlage‘ hervorgehe“ [Hervorhebungen, S. E.].¹⁰⁴ Diese Doppelbestimmung des Verhältnisses als ein reales und zeitliches verunmöglicht lineare Erklärungen und Deduktionen: Wäre das Verhältnis ein bloß zeitliches, so wäre mit jeder Potenzialität die jeweilige Aktualität virtuell mitgegeben, weil nichts zwischen beide treten könnte, wie es allerdings z. B. bei einer Verletzung oder einer externen Behinderung eines Körpers, eine Fähigkeit auszuüben, der Fall ist. Ebenso wenig wäre die reale Möglichkeit im Falle einer bloßen Zeitdifferenz zwischen Akt und Potenz (potentiell) unbestimmter Natur, z. B. im Falle der Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Aktualisierungsmöglichkeiten, die sich gegenseitig ausschließen. Umgekehrt kann das Verhältnis nicht allein über den Realitätscharakter der Möglichkeit bestimmt werden, und das nicht nur, weil Zeitlichkeit die formale Bedingung einer jeglichen in der Zeit stattfindenden Aktualisierung ist, sondern auch, weil die Realität einer Möglichkeit lediglich eine materiale Bedingung und keine sichere Voraussagen erlaubende Deduktionsbasis darstellt; verwirklicht konnte etwas nur deshalb werden, weil die Möglichkeit real war, d. h. nur die Retrospektive kann die Beziehung zwischen dieser Verwirklichung und der Realität ihrer Möglichkeit herstellen. Der zeitlich-materiale Doppelcharakter der Potenzialität kommt in dem bei Stein an unzähligen Stellen verwendeten Begriff der Vorstufe zum Ausdruck, mittels dessen sie zwischen logischer und realer Möglichkeit unterscheidet: „Wir haben ja unter Potenzialität nicht die bloße logische Möglichkeit des Übergangs vom Nichtsein zum Sein verstanden, sondern eben eine Vorstufe zum Sein, die selbst schon eine Weise des Seins ist.“¹⁰⁵ Eine Weise des Seins ist die Vorstufe, weil es keine Potenzialität gibt, die nicht letztlich wieder in einer Aktualität ruhte; der Realitätscharakter der Möglichkeiten lässt sich somit nicht logisch auflösen, wie dies der Fall wäre, wenn eine gleichermaßen reale und reine Potenzialität als zeitlich-ursprüngliche Aktualitätsermöglichung postuliert würde.¹⁰⁶ Von der logischen und realen Möglichkeit unterscheidet Stein, an Thomas anschließend, als dritten Möglichkeitstypus die „Wesensmöglichkeit“: „Das ist aber nicht eigentlich die Möglichkeit des Wesens, sondern die in ihm begründete Möglichkeit seiner Verwirklichung. Das Wesen schließt in sich ein eigenes Sein,

 Ebd.: 13.  EES: 52.  In der klassischen Ontologie tritt aber gerade an diese Stelle der unbewegte Beweger des Aristoteles und der mittelalterliche actus purus (Gott), also die reale und reine Aktualität als Antwort auf die sonst umso unbegreiflicher offenbleibende Frage, warum überhaupt etwas und vielmehr nichts sei.

3.5 Die Begriffe Akt und Potenz

141

das nicht nur als ein Weg zur Wirklichkeit als zu seinem Ziel zu verstehen ist, sein wesenhaftes Sein.“ ¹⁰⁷ Für die Wesensmöglichkeit gilt, dass das noch nicht verwirklichte Sein mehr ist „als die logische Möglichkeit, daß es in einem Gegenstand wirklich werden kann, und auch mehr als die niedere Vorstufe zum wirklichen Sein, die wir als Potenz bezeichneten“.¹⁰⁸ Obwohl das noch nicht verwirklichte Sein nicht Vorstufe im Sinne der Potenz ist, ist es erstens insofern Vorstufe, als „das wirkliche Sein nur von ihm aus zu erreichen ist“,¹⁰⁹ und zweitens, insofern „das Wesen etwas Unselbständiges und Ergänzungsbedürftiges ist und weil zu ihm die Möglichkeit des Eingehens in die Gegenstandswirklichkeit“¹¹⁰ gehöre. Das noch nicht verwirklichte Sein des Wesens ist somit das nicht-aktuelle Wirkliche seines Seins bzw. seiner selbst; vom Wesen als dem „grundlegend Wirkliche[n]“¹¹¹ her lasse sich verstehen, wieso „der Name Akt vom wirklichen Sein auf das, wodurch ein Wirkliches wirklich ist, übertragen wurde“.¹¹² Stein exemplifiziert die Bedeutung der Wesensmöglichkeit am Beispiel der menschlichen Entwicklung, in der jemand im Laufe des Übergangs vom Jüngling zum Mann ein anderer wird. In diesem Fall biete es sich an, von „zwei Wesen“¹¹³ zu sprechen, da „wir dem wesenhaften Sein nach das, was vor der Veränderung war, von dem, was nachher ist, als ein anderes unterscheiden müssen“.¹¹⁴ Was zeitlich sich entfaltet hat, hat sich auf der Grundlage einer realen Entwicklungsmöglichkeit entfaltet. Um die Entwicklung als die Entwicklung dieser Person nachvollziehen zu können und nicht als eine mystische Verwandlung auffassen zu müssen, müssten wir die Wesensmöglichkeit als ein Drittes zwischen dem Davor und dem Danach voraussetzen: Wir müssen aber außerdem ein drittes voraussetzen, das die beiden andern und den Übergang von einem zum andern umfaßt und begründet, denn dieser Übergang ist ein wesensmöglicher.Von dem umfassenden und begründenden Wesen wird man sagen müssen, daß es während der ganzen Lebensdauer in jedem Augenblick wirklich sei, die Teilwesen dagegen nur während der ihnen entsprechenden Dauerabschnitte.¹¹⁵

Die Wesensmöglichkeit schafft eine doppelte Verbindung: (1) metaphysisch-kosmologisch die von Urbild und Abbild, und (2) ontologisch-anthropologisch die

        

Ebd.: 80 f. Ebd.: 80. Ebd.: 81. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd: 82. Ebd. Ebd.

142

3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

Verbindung des konkreten Individuums mit dem Urbild durch die Wesensform (είδος). Vorrangig um die zweite wird es im Folgenden gehen. Mit dieser Definition der Wesensmöglichkeit befindet man sich zudem mitten im Problem der personalen Identität und des Werdens der Person. Dieses Problem wird allerdings erst im Abschnitt über den Menschen abgehandelt werden, in dem die Relation von Akt und Potenz, die hier in Grundzügen skizziert worden ist, ihre Ausbuchstabierung in der anthropologischen Analyse erfahren wird. Der Weg dorthin wird nun vom zum Menschen hinführenden ontologisch-anthropologischen Stufenbau her zu nehmen sein.

3.6 Der „onto-anthropologische“ Stufenbau 3.6.1 Die Pflanze Steins ontologische Grundeinteilung der Wesenheiten, in welcher sie sich vorbehaltlos Thomas von Aquin und dessen Unterscheidung dreier „Hauptstufen“¹¹⁶ anschließt, nämlich (1) der stofflichen bzw. zusammengesetzten Dingen (tote Dinge, Lebewesen, also auch der Mensch), (2) der rein geistigen oder einfachen Dinge (z. B. Engel) und (3) des ersten Seienden, d. h. Gott, enthält bereits die anthropologische Bestimmung des Standorts des Menschen im Sein. Die Stufen differenzieren danach, wie die Seinsweise der jeweiligen Entitäten durch AktPotenz-Verhältnisse strukturiert wird, wobei Gott als reiner Akt fungiert und die hier relevanten zusammengesetzten Dinge die Spannweite der Potenzialität eröffnen gemäß der Grundregel: Je stärker ein Lebewesen stofflich, also durch seine Körperlichkeit bestimmt wird, desto größer ist der Anteil an Potenzialität und desto geringer die Möglichkeit, diese von einem Innenleben her zu bestimmen und zu gestalten. Die Potenzialität ist so verstanden nicht die Potenzialität von Organismen, nicht ihre eigene Potenzialität, sondern eine Potenzialität, die sich durch das Fehlen von Aktualität negativ definiert. Könnte diese Defizienz durch die Lebewesen in der Sphäre des Handelns bzw. des Aktes behoben werden, so müssten sie einen Spalt schließen können, der gerade konstitutiv für sie ist; sie wären die real gewordene Unmöglichkeit von nachträglich zu solchen sich machenden Göttern, fähig, den sie konstituierenden Mangel aufzuheben, durch dessen Absenz der actus purus definiert ist. Konsequenterweise wird in der thomasischen Ontologie die Frage danach, durch welche Aktualität die Organismen

 Ebd.: 38. Die hier skizzierte Einteilung findet sich auf der selben Seite.

3.6 Der „onto-anthropologische“ Stufenbau

143

bestimmt werden, demgemäß durch Gott beantwortet.¹¹⁷ Die Architektonik der ontologisch-anthropologischen Einteilung, insbesondere die Unterscheidung zwischen geschöpflichem Sein (leibkörperlich existierende Lebewesen) und nichtgeschöpflichem Sein (Gott, Engel), wird im Rahmen der Akt-Potenz-Relation und anhand der die Hierarchie des Seins bestimmenden Akt-Potenz-Verhältnissen bestimmt. Doch auch innerhalb der geschöpflichen und im engeren Sinne anthropologischen Sphäre fungiert die Akt-Potenz-Relation als Leitfaden der Verhältnisbestimmung zwischen den Lebensformen. In Der Aufbau der menschlichen Person. Vorlesung über philosophische Anthropologie bestimmt Stein den Menschen folgendermaßen: „Er ist materielles Ding, Lebewesen, Seelenwesen und geistige Person.“¹¹⁸ In dieser Bestimmung fasst Stein den gesamten Stufenbau der Natur zusammen, wie sie ihn von Thomas von Aquin übernommen hat. Entscheidend ist dabei, dass die Aufzählung aufgrund des Gesetzes der Kontinuität, das die Stufenordnung bestimmt, nicht bloß summativer, sondern integrativer Art ist: „Sodann waltet durch alle Stufen hindurch ein Gesetz der Kontinuität.“¹¹⁹ Trotz der Kontinuität gebe es keine fließenden Übergänge zwischen den Stufen, sondern diese seien prinzipiell gegeneinander abgegrenzt, wobei auf der jeweils höheren bewahrt bleibe, was der jeweils niederen Stufe eigen sei.¹²⁰ Aufgrund dieser prinzipiellen Abgrenzung der Stufen gegeneinander lässt sich synoptisch sagen, dass in dieser Perspektive der Mensch die ontologische Summe der Natur darstellt, weil er nicht nur geistige Person, sondern auch seine Vorstufen ist. Indem er aber zugleich als geistige Person deren Überwindung ist; enthält er die Seinsprinzipien seiner Vorstufen genauso in sich wie deren Aufhebung in seinem spezifischen Sein. Doch zunächst zu den zu ihm hinführenden Stufen. Stein schließt in ihrer philosophischen Anthropologie nicht nur an Aristoteles und Thomas von Aquin an, sondern folgt darüber hinaus in vielen Punkten, vor allem in der Abgrenzung des Organischen vom bloß Materiellen und der Bestimmung des pflanzlichen Seins, Hedwig Conrad-Martius, weshalb die Grundbegriffe, die Steins philosophische Anthropologie tragen, in ihrem in Potenz und Akt enthaltenen Kapitel „Die endlichen Dinge als Stufenreich geformter in Aus-

 Vgl. Thomas von Aquin 1988: 45.  AmP: 30 f.  Ebd.: 40.  „Die Stufen sind prinzipiell gegeneinander abgegrenzt, sodaß mit jeder etwas Neues gegeben ist. Aber sie stehen nicht zusammenhanglos nebeneinander: Einmal ist in der jeweils höheren das bewahrt, was der niederen eigen ist (nur für die reinen Geister gilt das, wegen ihrer Freiheit von Materie, nicht von dem, was den irdischen Geschöpfen auf Grund ihrer Materialität eigen ist).“ (ebd.: 40)

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3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

einandersetzung mit H. Conrad-Martius’ Metaphysischen Gesprächen entwickelt werden. So greift Stein Conrad-Martius’ Unterscheidung zwischen materiellem und organischem Werden auf, um den Unterschied zwischen Dinglichem und Lebendigem zu explizieren. Was das organische Werden im Unterschied zum bloß materiellen und den Organismus im Unterschied zum „toten Ding“ kennzeichne, sei die Formung¹²¹ bzw. die von innen her erfolgende Selbstgestaltung des Organismus: „Dieses Sichgestalten von innen her ist eine eigentümliche Seinsweise, die Seinsweise des Lebendigen.“ ¹²² Die konkrete Bestimmung dieses Sichgestaltens erfolgt nicht abstrakt über den Begriff der Form, sondern über die Begriffe des Akts und seiner substanzialen Bestimmung als Lebensseele: Wenn die ,Lebensseele‘ als Akt des Organismus bezeichnet wird, so ist damit das gemeint, was dem ganzen organischen Gebilde das Sein gibt, und zwar das eigentümliche Sein, das wir ,Leben‘ nennen.Wenn im Verhältnis dazu das, was durch die Seele ,belebt‘ wird, ,Potenz‘ genannt wird, so ist damit nicht mehr die bloße Materie gemeint, sondern bereits ein geformtes materielles Gebilde.¹²³

Diese dem Organismus sein eigentümliches Sein verleihende Lebensseele bestimmt Stein an anderer Stelle auch aristotelisch als „Ernährungsseele“, biologisch gesprochen als das Prinzip der Assimilation und Transformation fremden Stoffs zum Zwecke der Selbsterhaltung und Selbstorganisation. In solchen Prozessen formt das belebte materielle Gebilde sich, es ist ein geformtes Gebilde aufgrund endogener Formungsprozesse, die strikt zu unterscheiden sind von der „Umformung eines Stoffes durch äußere (materielle) Einwirkungen“,¹²⁴ etwa im Fall des „Gestaltwerden[s] von Steinen unter dem Einfluß der Witterung“.¹²⁵ Nicht nur, weil er nicht Akt ist, ist das steinerne Gebilde kein Lebewesen, sondern auch, weil ihm keine „geschöpfliche Potentialität“ ¹²⁶ zukomme, deren Sinn im Übergang

 „Was die Organismen vor ändern materiellen Dingen (‚toten‘ Dingen) auszeichnet, ist, daß die Formung Lebensprozeß ist.“ (ebd.: 38)  Ebd.  PuA: 189. – An dieser Stelle ist der Hinweis darauf angebracht, dass Stein den Begriff des Lebens in einem weiteren Sinn verwendet als es hier den Anschein hat. Der historische Standort Steins schlägt in bemerkenswerter darin durch, dass sie den äußerst wirkmächtigen Begriff des Lebens theologisiert und vom Leben Gottes spricht. Der actus purus steht zwar als erstes Seiendes außerhalb des Reichs der Substanzen, aber nicht außerhalb des Lebens, im Gegenteil, er ist selbst Leben: „Das wirkliche (= aktuelle) Sein des Geistes ist Leben und ist lebendiges Verstehen. Gott als ‚reiner Akt‘ ist wandellose Lebendigkeit.“ (EES: 101)  PuA: 47.  Ebd.  Ebd.: 9.

3.6 Der „onto-anthropologische“ Stufenbau

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von der Potenz zum Akt bestehe. Von einer Potenzialität des Steins lässt sich im eigentlichen Sinne nicht sprechen, weil alle den Stein betreffenden Möglichkeiten bloß solche des Bestimmtwerdens durch Umstände sind. Weil der Stein keine Möglichkeiten in sich trägt, die er verwirklichen kann, kann er sich nicht in einem Übergang befinden, sondern nur in wechselnden Zuständen. Der Stein ist weder Akt (ενέργεια) noch Potenz (δύναμις) noch durch ein ihm inhärierendes τέλος bestimmt. Edith Stein grenzt die bloß umweltlich bestimmte Existenzweise des nicht-lebendigen Dings durch den Begriff der Idee vom lebendigen Ding ab, das eine solche verkörpere und sich gemäß einer solchen verkörpere, d. h. forme: „Es ist ein Stoff da, aus dem das Gebilde wird, und etwas, wozu es wird, aber nicht ein Ziel, nur ein Ergebnis. Eine Idee, wonach es gebildet wird, fehlt, obgleich es einer solchen Idee entspricht, und das, wodurch es wird, ist die materielle Einwirkung von außen.“¹²⁷ Der Idee, wonach etwas, nämlich ein Lebewesen, gebildet ist, inhäriert zugleich ein Ziel, zu dem hin dieses Lebewesen sich entwickelt. Sowohl Idee als auch Ziel sind bereits bei der Pflanze als Momente ihrer Bestimmung vorhanden; die „Hineinformung der aufgenommenen Materie in die eigentümliche Gestalt des sich formenden Organismus“¹²⁸ folgt Stein zufolge daher einer Idee bzw. einer Leitidee, deren das Werden der Pflanze bestimmendes Vorhandensein das „Eigentümliche des Pflanzlichen“ ausspreche: Das Erste, das Aufstreben zum Licht, zum Manifestwerden, kann man als das Treibende im Formungsprozeß selbst verstehen, die ,Seele der Seele‘; die Formung ist ja eine Selbstoffenbarung, eine Entfaltung in die Sichtbarkeit hinein. Das ist aber zugleich die Leitidee, die das Eigentümliche des Pflanzlichen als solchen ausspricht.¹²⁹

Die Idee ist hier nicht nur das Bestimmende und der teleologische Fluchtpunkt des Sichgestaltens, denn das „Sich-Aussprechen“ der Pflanze in ihrer sichtbaren Entfaltung, die zugleich Entfaltung der Idee in die Sichtbarkeit hinein ist, reicht in die Dimension dessen hinein,was als Ausdrucksgeschehen benannt werden kann. Das Sich-Aussprechen der Idee ist das „Manifestwerden“ derselben in der Gestalt der Pflanze. Dem Begriff des Manifestwerdens bzw. der Manifestation liegt die in Steins Denken zentrale Unterscheidung zwischen wirklichem und wesenhaftem Sein zugrunde. Das wirkliche Sein ist wirkliches Sein nur, weil es als solches bestimmt ist durch ein wesenhaftes Sein, welches nicht seine unsichtbare Verdoppelung

 Ebd.: 47.  Ebd.: 189.  Ebd.

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darstellt, sondern die Idee, gemäß welcher das wirkliche Sein gestaltet ist und sich gestaltet. Die Manifestation des wirklichen Seins ist ein Werden und Gestalt-Annehmen gemäß einer das Sein bestimmenden Idee bzw. Wesenheit: „Die ‚Verwirklichung‘ der Wesenheit besagt nicht, daß sie wirklich wird, sondern daß etwas wirklich wird, was ihr entspricht. Die Möglichkeit des wirklichen Seins ist in ihr begründet.“¹³⁰ Die theologischen Implikationen dieser Bestimmungen explizierend, sagt Stein an anderer Stelle: „Es ist ,dasselbe‘, was in ,urbildlicher Wirklichkeit‘ von Ewigkeit her in Gott war und was in der Zeit in den Dingen wirklich wird.“¹³¹ Die Behauptung der Identität von „theologischer“ und „empirischer“ Wirklichkeit ist zugleich eine Behauptung ihrer Differenz; weder werden zwei Welten parallelisiert, noch wird das wirkliche Sein theologisch verdoppelt, sondern das Werden des wirklichen Seins wird aufgefasst als die zeitliche Entfaltung und (im uneigentlichen Sinne) Sichtbarwerdung dessen, was wesenhaft nicht zeitlicher und empirischer Natur ist. Damit wird auch behauptet, dass es keinen Übergang vom Nichtsein zum Sein gebe, sondern lediglich ein Übergang von einem wesenhaften Sein (An-sich-Sein) in das wirkliche Sein (das ein Sein für uns ist). Die Möglichkeit des Wirklichwerdens ist „mehr als die logische Möglichkeit, daß es in einem Gegenstand wirklich werden kann“¹³² oder eben nicht kann; vielmehr ist diese dem wesenhaften Sein eigene Möglichkeit eine „Wesensmöglichkeit“,¹³³ d. h. – scheinbar paradox formuliert – eine notwendige Möglichkeit. Der Übergang bzw. das Wirklichwerden des wesenhaften Seins muss sich in der Zeit – genauer wäre es wohl zu sagen: in die Zeitlichkeit hinein – vollziehen, weshalb Stein das wesenhafte Sein auch als Vorstufe des wirklichen bezeichnet, dabei allerdings darauf beharrt, dass es nicht aufzufassen sei „als die niedere Vorstufe zum wirklichen Sein, die wir als Potenz bezeichneten“,¹³⁴ sondern als nicht bloß nomologisch zu präsupponierende Vorstufe (das wäre die oben angesprochene und von Stein verworfene logische Möglichkeit): „Vorstufe ist es allerdings, weil das wirkliche Sein nur von ihm aus zu erreichen ist; außerdem, weil das Wesen etwas Unselbständiges und Ergänzungsbedürftiges ist und weil zu ihm die Möglichkeit des Eingehens in die Gegenstandswirklichkeit gehört.“¹³⁵ Wie in direkter Anwendung dieser Bestimmung des Verhältnisses von wesenhaftem und wirklichem Sein auf das pflanzliche Sein sagt Stein: „Es ist das-

     

EES: 68. Ebd.: 108. Ebd.: 80. Ebd. Ebd.: 80. Ebd.: 81.

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selbe, was erst Samenkorn war und jetzt Pflanze ist.“¹³⁶ Die zeitliche Differenz zweier für verschiedenen gehaltener Entitäten wird in der Selbigkeit metaphysisch aufgehoben; Samenkorn und Pflanze sind, zu verschiedenen Zeitpunkten und als separate Entitäten existierend, ein Selbiges, das kein Empirisches ist, sondern die Idee, deren Widerschein das empirische Sein ist. Der Wirklichkeit der Existenz der Pflanze wird ihre (Wesens‐)Möglichkeit als Wirklichkeit bzw. wirkliche Möglichkeit vorgeordnet, weshalb mit der Möglichkeit der Wirklichkeit die Wirklichkeit der Möglichkeit, die zuletzt wesentlich immer Wirklichkeit ist, das Frühere ist: „Der Zeit nach aber ist das Wirkliche in der Weise früher, daß in dem Einzelwesen, das sich entwickelt, die Möglichkeit der Wirklichkeit vorangeht, d. h. der Same der vollentwickelten Pflanze. Aber diesem Möglichen geht wieder ein Wirkliches voraus: eine Pflanze derselben Art, von der der Same stammt.“¹³⁷ Dem Anschein nach verwirklicht sich also ein höheres Wirkliches, ein wesenhaftes Wirkliches innerhalb der uns zugänglichen Wirklichkeit. Doch die Relation zwischen wesenhaftem und wirklichem Sein ist, wenngleich sie als Manifestation zu denken ist, dennoch nicht im Sinne einer deterministischen oder epiphänomenalistischen Ontologie zu verstehen, die das Verhältnis zwischen wesenhaftem und wirklichem Sein als ein Verhältnis zwischen einem eigentlichen bzw. metaphysischen Unsichtbaren und seiner sichtbaren, aber ontologisch insignifikanten Gestalt konzeptualisiert. Zum wesenhaften und wirklichen Sein tritt als Vermittlungsfigur in Steins Ontologie die Wesensform hinzu, die das Gravitationszentrum von Steins Adaptation der Aristotelischen Terminologie bildet. Die Aristotelischen Grundbegriffe, an die Stein explizit anknüpft, sind die Begriffe ενέργεια, εργον und εντελέχεια, über welche Stein sagt, dass durch sie „die Sinnmannigfaltigkeit, die in dem Wort ,Akt‘ zusammengefaßt ist, durch die Ausdrücke εργον, ενέργεια, εντελέχεια (Werk, Wirken, Wirksamkeit oder Wirklichkeit, Seinsvollendung) auseinandergefaltet wird“.¹³⁸ Um diese Sinnmannigfaltigkeit begrifflich weiter auszudifferenzieren, unterscheidet Stein terminologisch zwischen ενέργεια und ενέργεια ον, also zwischen dem „Leben selbst“¹³⁹ und der konkreten Gestalt, in der das Leben sich materialisiert und die Stein „das wirkliche und wirksame Seiende“¹⁴⁰ sowie „die Wesensform und das in ihrer Kraft wirksame Lebensganze“¹⁴¹ nennt. Durch die Unterscheidung zwischen ενέργεια und ενέργεια ον wird stärker zwischen dem Lebendigen und dem Leben, welches

     

Ebd.: 191. Ebd.: 195 f. Ebd.: 197. Ebd.: 224. Ebd. Ebd.

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das Lebendige ontologisch trägt und dessen Verkörperung das Lebendige darstellt, unterschieden. Die Leistung der Verkörperung des Lebens im Lebendigen fasst Stein dem Aristotelischen Sprachgebrauch getreu als εργον auf, worunter zweierlei verstanden wird, nämlich (1) „das Lebewesen auf der jeweiligen Entwicklungsstufe“,¹⁴² und (2) „jede seiner ,Leistungen‘, jede Lebenstätigkeit“.¹⁴³ Die engere Bedeutung von εργον, nämlich „Werk“, ist hier der weiteren zu subsumieren, die in dem Begriff der Lebenstätigkeit enthalten ist. Εργον ist damit jede Lebenstätigkeit und jede Lebenstätigkeit ist zugleich eine Verwirklichung von Möglichkeiten; der Begriff ist also gerade nicht spezifisch menschlichen Leistungen vorbehalten, wie es eine zentrale Stelle Steins aufgrund der Wahl des Beispiels suggeriert: „Die Möglichkeit oder Fähigkeit (δύναμις, Potenz) hat die Wirklichkeit zum Ziel (τέλος) – so die Denkfähigkeit das Denken; wenn die Verwirklichung der Möglichkeit ein ,Werk‘ ist, wird sie auch εργον genannt.“¹⁴⁴ In der weiteren, anthropologisch gegenüber dem Unterschied von Lebensformen neutralen Bedeutung fallen „Werk“ und „Wirken“ zusammen; unter dem Werkbegriff wird dann jede Selbstaktualisierung des Lebens im Lebensvollzug des Lebendigen gefasst: Die einzelne ,Leistung‘ heißt εργον in dem weiteren Sinn des Wortes ,Werk‘, wonach es zugleich Taten (gute oder schlechte ,Werke‘ des Menschen) und selbständige, von dem schaffenden Geist abgetrennte Gebilde bezeichnen kann. Wenn wir das Wort auf Taten beziehen, leuchtet es ohne weiteres ein, daß ,Werk‘ und ,Wirken‘ (εργον und ένέργειά) zusammenfallen.¹⁴⁵

Der Begriff der εντελέχεια, für den Stein im Deutschen zumeist „Seinsvollendung“ verwendet und mit dem „das Ziel des ganzen Entwicklungsganges“¹⁴⁶ bezeichnet wird, bestimmt die ενέργεια sowohl von ihrem teleologischen Endpunkt, d. h. von der Gestalt her, die das aktuell wirksame Lebendige (ενέργεια ον) durch die Realisierung der Lebenstätigkeiten (εργα) annimmt, als auch in dem, was modern gesprochen ihr „Sich-vorweg-Sein“ genannt werden könnte. Stein verwendet den Begriff der „Zielgestalt“, um ein Doppeltes am lebendigen Sein zu erfassen, nämlich den über die Aktualität hinausweisenden Aspekt und das die Aktualität des lebendigen Seins in Richtung der Zukunft transzendierende und durchwirkende Moment:

    

Ebd. Ebd. Ebd.: 18. Ebd.: 197. Ebd.: 224.

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Und den ,Keim‘ dazu trägt er [der Mensch, S. E.] in sich, mag er das Ziel erreichen oder nicht. Seine εντελέχεια – jetzt als Zielgestalt, nicht als Seinsvollendung verstanden – ist von Anbeginn seines Seins an in ihm wirksam, aber sie ist nicht das allein Wirksame, und darum kann es sein, daß ihre formende Kraft sich nicht voll auswirken kann. Es muß also von der reinen Form, die über der Entwicklung als Leitbild steht, das in der Entwicklung selbst wirksame, sie in der Richtung auf das Ziel bestimmende lebendige Gesetz unterschieden werden.¹⁴⁷

Was Stein hier das „lebendige Gesetz“ nennt, entspricht der oben angesprochenen „Wesensform“.¹⁴⁸ Die Wesensform bezeichnet das lebendige Gesetz von innen, wovon zeugt, dass Stein zufolge der Wesensform eine „zielgerichtete Kraft inne [wohne], der es das ,ausgewirkte Wesen‘ verdankt, wenn es dem Ziel entspricht“.¹⁴⁹ Der Begriff der Wesensform ist scholastischen Ursprungs und wird von Stein auch im scholastischen Sinne gebraucht. Er wird daher als Substanz (ούσία) bestimmt,¹⁵⁰ woraus sich das Fehlen jeglicher Bezugnahme auf den Vitalismus¹⁵¹ erklärt. Die Wesensform verbindet das Wirken in der physischen Welt mit der metaphysischen Welt und begründet die Selbigkeit von real Existierendem und dem Urbild, dessen Verkörperung es darstellt; die Identität in der Verschiedenheit begründet den unaufhebbaren Nexus zwischen zwei Welten, die sonst irrtümlich als unabhängig voneinander existierende Parallelwelten aufgefasst werden könnten: „Wenn die Dinge als ,Abbilder‘ der reinen Formen erscheinen und diese als ,Urbilder‘, auf deren Verwirklichung die Wesensformen hinwirken, so ist es nicht gut möglich, an eine ,zufällige‘ Übereinstimmung zweier an sich völlig getrennter Welten zu denken.“¹⁵² Der Begriff der Wesensform hat hier also eine doppelte Bedeutung: Er bezeichnet (1) das Verhältnis zwischen Urbild und Abbild

 Ebd.: 202.  Vgl. ebd.  Ebd.  „Wenn Aristoteles in dieser abschließenden Zusammenfassung die ούσία der Dinge als die Natur im eigentlichsten Sinne bezeichnet, so ist darunter offenbar nicht das Ding selbst gemeint, sondern das, was er vorher τό είδος καί ή ούσία nennt, die ‚substantial Form‘ oder ‚Wesensform‘ nach scholastischem Sprachgebrauch.“ (ebd.: 162)  Eine solche Bezugnahme kommt in Conrad-Martius’ Metaphysischen Gesprächen, an welche Stein sich anlehnt, an einer Stelle in distanzierender Form vor, wo Psilander Montanus gegenüber sagt, es sei unter Absehung von strikt physischen Ursachen „doch im Grunde das der Pflanze innewohnende Leben oder, wenn man sich da vitalistisch ausdrücken soll, das die Auslösung lebendiger Bewegungen möglich machen muss“ (Conrad-Martius 1921: 16). Mit dieser Aussage wird jedoch innerhalb des Gesprächs lediglich die klärende Antwort durch Montanus vorbereitet, der auf den von Psilander bereits in die Nähe des modischen Jargons gerückten Vitalismus dabei nicht mehr Bezug nimmt.  EES: 202 f.

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(qua Realität) im Sinne der metaphysischen Manifestation des ersteren im letzteren; er bezeichnet (2) die ούσία (Substanz) als das die Form und den Entwicklungsgang von Lebewesen Bestimmende, d. h. das seine Realität bestimmende Wirkliche, das bei Aristoteles im Verhältnis von είδος (auf der Ebene des Organismus) und ένέργεια (das Leben als das die Lebendigkeit des Lebewesens Ausmachende bezeichnend) aufgefasst wird. Zu (1): Die metaphysische Relation zwischen Urbild und Verwirklichung desselben (Abbild) erklärt Stein mittels der Unterscheidung zwischen reiner Form oder Wesenheit und Wesensform. In der Entfaltung der Relation bedient Stein sich des Begriffs der Teilhabe in doppelter Abgrenzung sowohl von Platon¹⁵³ als auch von Aristoteles,¹⁵⁴ dem Stein vorhält, sich der Platonischen Erbschaft dadurch zu entledigen, dass er das Problem der Teilhabe eskamotiere. Wiederum sucht Stein die Lösung im Rekurs auf den scholastischen Überlieferungsbestand, gemäß dem die Dinge an der reinen Wesenheit vermöge ihrer Wesensform teilhaben: „,Mitteilbar‘ an eine Vielheit von Einzeldingen ist nicht die Wesensform, sondern die reine Form oder Wesenheit, an der die Dinge durch ihre Wesensform ,teilhaben‘.“¹⁵⁵ Die Wesensform ist damit Bestimmungsgrund des einzelnen Lebewesens, der es überhaupt erst zu einem solchen macht, und an der Wesenheit Teilhabendes; sie ist somit ein ontologisches Vermittlungsglied zwischen der reinen Form (Wesenheit, Idee) und dem empirisch existierenden Lebewesen, das kein empirisches Faktum oder ein Positivum darstellt, sondern eine vermöge der Wesensform in der Gestalt eines Lebendigen ausgewirkte Idee sei: Wir stoßen hier auf den Gegensatz der ,reinen Form‘ – der ,Idee‘ der Pflanze oder der bestimmten Pflanzenart, die ,über‘ dem Entwicklungsgang steht, der ,Wesensform‘, die in der einzelnen Pflanze wirksam ist, und dem sich wandelnden ,ausgewirkten Wesen‘, das der reinen Form mehr oder weniger entspricht.¹⁵⁶

Zu (2): Gerade weil die Wesensform durch die Wesenheit nicht restlos bestimmt wird, ist sie nicht lediglich das Medium der Verwirklichung der Wesenheit oder des wesenhaften Seins in der Erscheinung oder eine Emanation desselben. Es handelt sich gerade aufgrund dieser Irreduzibilität der Wesensform um keinen Epiphänomenalismus – ein solcher würde eine Teilhabe, deren Sinn notwendig ein ak-

 Vgl. PuA: 272.  „Wir stehen vor der Rätselfrage des ‚Teilhabens der Dinge an den Ideen‘. Aristoteles hat diese Schwierigkeit lösen wollen, indem er die Ideen (als ‚reine Formen‘ verstanden) ganz wegstrich.“ (EES: 210)  Ebd.: 408.  Ebd.: 218.

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tiver sein muss, ausschließen –, denn die Wesensform wird von Stein gänzlich nicht-reduktiv bestimmt: „Jedes Gebilde wie jeder Stoff ist Verkörperung einer Washeit, einer ,reinen Form‘. Die Verwirklichung wird geleistet durch die Wesensformen.“¹⁵⁷ Die Wesensform, die diese Verwirklichung der reinen Form leistet, wird von Stein als Seele und als Substanz (ούσία) bestimmt: „Die Fähigkeit der Lebewesen, andere ihrer Art zu erzeugen, wird von Aristoteles als ein Vermögen der Seele angesehen. Die Seele ist ja die ,Wesensform‘ (ούσία) der beseelten Körper und als solche Ursache ihres Seins.“¹⁵⁸ Aristotelisches und scholastisches Gedankengut gehen hier eine Liaison ein, da die Wesensform gut aristotelisch als Substanz und Seele bestimmt wird, zugleich aber über die Teilhabe am wesenhaften Sein scholastisch gedacht wird. Wichtig ist hier zu exponieren, dass Stein, wenn sie sagt, dass die Seele die „Wesensform der beseelten Körper“ sei, die Wesensform nicht als die Wesensform der Gesamtheit der beseelten Körper oder der beseelten Körper überhaupt verstanden wissen will, sondern als die Wesensform des jeweiligen einzelnen beseelten Körpers bzw. Lebewesens: Nun stellen wir noch einmal die Frage: hat jedes Einzelwesen seine eigene Wesensform (nur dann verdient es den Namen ,Einzelwesen‘) und sein eigenes Leben? Sodann: empfängt es Form und Leben von dem Erzeugenden? Auf die erste Frage antworten wir wie früher: Ja, es trägt seine Form in sich und gestaltet sich von innen heraus nach dem ihm eigenen Bildungsgesetz, und diese Gestaltung, von der ersten Lebensregung bis zur Erreichung der Vollgestalt und darüber hinaus, solange die Gestalt in dauerndem ,Stoffwechsel‘ erhalten wird, ist sein ‚Leben‘, das mit seinem ,Dasein‘ gleichbedeutend ist. Das Hervorbringen reifer Früchte ist darin eingeschlossen.¹⁵⁹

Der anthropologische Status der Pflanze gerät durch diese Bestimmungen in eine Ambivalenz: Dem pflanzlichen Einzelwesen kommt als Lebewesen und muss als Lebewesen eine individuelle Wesensform zukommen, während zugleich das Sein der Pflanze die Verkörperung einer Washeit darstellt, ohne dass die Pflanze dieser Washeit gegenüber eine Individualität ausbilden könnte, durch die zwischen Urbild und Abbild ein Bruch bzw. eine ontologische Kluft entstünde. Dies zeigt sich in der Bestimmung der Wirklichkeit des pflanzlichen Seins als einer Verwirklichung von Möglichkeiten: „Das Leben der Pflanze ist eine beständige Verwirklichung von Möglichkeiten.“¹⁶⁰ Die Möglichkeiten, welche die Pflanze in ihrem Sein verwirklicht, sind allerdings Möglichkeiten, die darin begründet liegen, dass sie Pflanze ist, die also ihrer Natur als Pflanze inhärieren. Dementsprechend

   

Ebd.: 209. Ebd.: 163. Ebd.: 228. Conrad-Martius, zitiert nach ebd.: 224.

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3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

basal ist die Formung, welche die Pflanze vollzieht: „Bei den Pflanzen ist die Formung noch reine Stoffgestaltung. Sie sind noch nicht ,zu sich selbst‘ und damit zu innerer Gestaltung gekommen.“¹⁶¹ Es handelt sich weder im schwachen noch im emphatischen Sinne um ihre Möglichkeiten; die Möglichkeiten können auch im schwachen Sinne nicht ihre sein, da der Pflanze „keine geschlossene (geinnerte, zentrierte) Individualität besitzt, sondern eine wesenhaft offene“¹⁶² zukomme, wie Conrad-Martius in Die Seele der Pflanze (1934) an einer von Stein zitierten Stelle sagt. Die einzelne Pflanze stellt demzufolge ein Individuum ohne Individualität dar, die Pflanze als solche ist „als niederste Stufe der individuellen Washeiten anzusehen“,¹⁶³ weil die Individuen als individualitätslose im eigentlichen Sinne keine Individuen sind. Das Erscheinungsdatum der von Stein zitierten Schrift lässt die Vermutung zu, Conrad-Martius habe sich der Philosophischen Anthropologie Plessners bedient. Das ist jedoch vermutlich nicht der Fall, da die terminologisch nicht explizit getroffene Bestimmung thematisch bereits in den Metaphysischen Gesprächen von 1921 vorhanden war, auf die Stein sich in Potenz und Akt weitläufig beruft. In den Metaphysischen Gesprächen wird die Offenheit noch als „Verteiltheit“ gefasst, der die „Geinnertheit“ des Tieres gegenübergestellt wird: „Denn was in sich persönlich wohnt – nicht in jener objektiven und verteilten Weise, wie die Pflanze, sondern in der geinnerten, in der persönlichen und subjektiven wie das Tier – muß ja jedes Schicksal, das diese Habe äußerlich oder innerlich betrifft, mit haben?“¹⁶⁴ Die Verteiltheit der Pflanze resultiere daraus, dass sie auch in Bewegungen, die sie zu vollziehen scheint, nicht von einem Zentrum her diese Bewegung als Subjekt der Bewegung vollziehen könne; ihr fehle die „Möglichkeit, eine Bewegung überhaupt aktiv zu vollziehen. Sie, die gar nicht eigentlicher Träger und eigentliches Subjekt der Bewegung sein kann. Es fehlt ihr die ontische Möglichkeit, das körperliche Sein von innen her zu beherrschen.“¹⁶⁵ Die ontische Möglichkeit entziehe sich der naturwissenschaftlichen Betrachtung, die an einer Bewegung „nur noch ihren körperlichen Vollzug, nicht aber ihre höchst wunderbare ontische Artung“¹⁶⁶ wahrnehme. Diese ontische Artung erschließe sich erst einer Betrachtung, die auf „das Ganze des betreffenden Lebewesens“¹⁶⁷ gehe. Naturwissenschaften und Wesensanalyse werden jedoch nicht einfach gegeneinander ausgespielt, da die

      

Ebd.: 358. Ebd.: 226. Ebd.: 81. Conrad-Martius 1921: 212. Ebd.: 12. Ebd.: 13. Ebd.

3.6 Der „onto-anthropologische“ Stufenbau

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Maxime, die am Anfang der Gespräche formuliert wird, lautet, „durch die dem Naturwissenschaftler zugänglichen Differenzen in der körperlichen Konstitution wirkliche, den Wesensgrundlagen entsprechende Klassen von Typen“¹⁶⁸ zu finden. Die Durchführung scheitert daran, dass zwar Differenzen auf physischer und ontischer bzw. ontologischer Ebene äußerlich korreliert werden, nicht aber systematisch zueinander in Beziehung gesetzt werden, sondern der Sprung in die Wesenstypologie vorschnell vollzogen wird. Ob Plessner Conrad-Martius’ Schrift kannte und eigene programmatische Orientierungen in der Auseinandersetzung mit ihr entwickelt habe, kann hier nicht entschieden werden; interessante Verwicklungen sollen jedoch kurz thematisiert werden. Im Vorwort zu den Stufen behauptet Plessner, dass ConradMartius in ihren Metaphysischen Gesprächen unter dem Einfluss Schelers philosophiert habe – eine Behauptung, die wenig Sinn ergibt, da 1921 von Scheler noch keine anthropologischen Schriften vorgelegen haben und Scheler überdies in einer 1923/24 gehaltenen und unter dem Titel Altern und Tod in den Nachgelassenen Schriften veröffentlichten Vorlesung, die von dem später in Die Stellung des Menschen im Kosmos terminologisch inaugurierten „Gefühlsdrang“ und der Absenz eines Zentrums bei Pflanzen handelt, auf Conrad-Martius’ Metaphysische Gespräche verweist.¹⁶⁹ Conrad-Martius wiederum verweist, wenn auch distanzierend und anders als Edith Stein, die in ihren ontologischen und anthropologischen Werken der 1920er Jahre weder auf Driesch noch auf den Vitalismus Bezug nimmt, in den Metaphysischen Gesprächen auf den Vitalismus;¹⁷⁰ die Schriften Drieschs waren ihr also zumindest teilweise bekannt. Auf Driesch bezieht Plessner sich wiederum Plessner in den Stufen explizit als auf den Inaugurator der Unterscheidung zwischen einer offenen und geschlossenen Organisationsform.¹⁷¹ Conrad-Martius jedoch unterscheidet nicht zwischen Organisationsformen, die sie wiederum auf Seinstypen bezieht, sondern grenzt ihre Analyse der Seinstypen durch den Mund von Montanus gerade explizit gegen eine naturwissenschaftliche Zugangsweise ab, nach deren möglicher Brauchbarkeit Psilander fragt: Es gilt zunächst und vor allem, die beiden möglichen Seinstypen selbst, den pflanzlichen und den tierischen, in ihrer spezifischen Abgegrenztheit zu fassen, ganz allgemein und ab gelöst von jeder Realitätsfrage. Es gilt das eigne Wesen der ontischen Grundstrukturen zu finden

 Ebd.: 4.  Scheler 1997: 295.  Conrad-Martius 1921: 16.  „Die Verwendung der Begriffe ‚offene und geschlossene Form‘ zur Unterscheidung pflanzlicher und tierischer Organisation stammt von Driesch.“ (SOM: 219)

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und zu fixieren. Diese Untersuchung ist aber, wie wir sofort sehen würden, eine ganz und gar unnaturwissenschaftliche und typisch philosophische.¹⁷²

Selbst wenn Plessner Conrad-Martius’ Schrift gelesen und Anregungen davon empfangen hätte, die systematische Durchführung seiner Philosophischen Anthropologie kann nicht als einem solchen Ansatz verpflichtet betrachtet werden. Was in diesen Andeutungen jedoch sichtbar wird, ist die Virulenz einer denkgeschichtlichen Problemkonstellation, die Philosophierende mit überaus verschiedenartiger systematischer Ausrichtung in Atem gehalten hat. Edith Stein zitiert Conrad-Martius’ Charakterisierung des pflanzlichen Seins, wie sie von dieser in den 1930er Jahren vorgenommen wurde, vermutlich ohne Kenntnis der Stufen, obwohl Plessner und Stein sowohl Kommilitonen als auch privat miteinander bekannt waren. Dies ist Steins Autobiographie zu entnehmen, in welcher sie Plessner als zielstrebigen Neuankömmling im Husserl-Kreis schildert.¹⁷³ Ob und inwieweit Stein die philosophische Entwicklung Plessners verfolgt hat, verraten ihren späteren Schriften nicht; Spuren einer Rezeption lassen sich in ihren Schriften jedenfalls nicht finden. Auf der Linie ihrer philosophischen Orientierung lag Plessners denkerische Entwicklung im Unterschied zu der ConradMartius’ sicherlich nicht, und die autobiographisch naheliegenden und zu erwartenden, aber nur äußerst spärlich vorhandenen Scheler-Referenzen zeugen davon, dass für Stein in der Ausbildung ihrer philosophischen Anthropologie die philosophischen Entwürfe, die unter dem Namen „philosophische Anthropologie“ Prominenz erlangt haben, ebenso wenig von großer Bedeutung waren wie die Werke Drieschs. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass Stein sich auf Conrad-Martius in Unkenntnis von Plessners terminologischer Ausarbeitung des

 Conrad-Martius 1921: 5 f.  Stein schildert ihre Bekanntschaft mit Plessner folgendermaßen: „Zwei neue Leute waren aufgetaucht, dabei einer, der Philosophie als Fach hatte und zielbewußt auf die akademische Laufbahn lossteuerte: Helmuth Plessner. Mit ihm kam ich auch außerhalb der Universität manchmal zusammen. […] An das Ehepaar Steinberg wurde nun auch Herr Plessner von seinen Eltern empfohlen, und die freundlichen Leute machten es sich zum Vergnügen, uns manchmal zusammen zum Mittag- oder Abendessen einzuladen. Sie hören andächtig zu, wenn die beiden Philosophen beim Gänsebraten unverständliche Gespräche führten. Ich mußte später immer lächeln, wenn ich an diese Einladungen zurückdachte. Denn es kam mir nachträglich der wohl nicht unbegründete Verdacht, die gute Justizrätin habe wohl gehofft, es werde sich in ihrem gastlichen Hause ein Pärchen zusammenfinden. Uns beiden lag aber nichts ferner als das. Wenn Herr Plessner mich aus dem alten Bürgerhause im Innern der Stadt zur Schillerstraße hinausbegleitete, entwickelte er mir sein ‚System‘ und suchte mir zu erklären, in welchen Punkten er nicht mit Husserl gehen könne; aber es war ihm noch nicht gegeben, sich verständlich zu machen.“ (Stein 2002: 253 f.)

3.6 Der „onto-anthropologische“ Stufenbau

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Begriffs der „Offenheit“ zur Charakterisierung des Umweltverhältnisses der Pflanzen beruft. Inwiefern kann nun die Pflanze sowohl wesenhaft „offen“ und „Verwirklichung von Möglichkeiten“ sein? Das Fehlen der Individualität schwächt den Sinn des Begriffs der Verwirklichung stark ab, unterminiert diesen aber nicht gänzlich, da der Pflanze Stein zufolge eine Wesensform zukomme. Dennoch stellt sich die Frage nach dem Charakter der Verwirklichung umso dringlicher, wenn man das Fehlen einer Individualität und eines Zentrums von der biologischen Genesis der Pflanze her in den Blick nimmt, d. h. ihre Entstehung als Lebewesen aus etwas, was selbst kein Lebewesen war und das folglich einer Wesensform im eigentlichen Sinne ermangelte.¹⁷⁴ Dieses Problem der biologischen Genesis formuliert Stein mittels des aristotelischen Verhältnisses von Stoff und Form, letztere scholastisch als Wesensform auffassend. Als zusammengesetzte Substanz ist die Pflanze nicht durch ihre Wesensform allein bestimmt, sondern auch – und als Verkörperung der niedersten Stufe des Stufenreichs der Natur in eminentem Maße – stofflich bestimmt: Und die Eigenart und Beschaffenheit des Samenkorns wie der Nahrungsstoffe ist bestimmend für Eigenart und Beschaffenheit der Pflanze. Die Wesensform aber scheint eine andere. Daraus ergibt sich zweierlei: 1. Wir können sagen: Dasselbe, was vorher Samenkorn war, ist jetzt Pflanze. 2. Es scheint, daß hier doch eine stoffliche Grundlage vorhanden ist, die bleibt, wenn die neue Form angenommen wird.¹⁷⁵

Das Lebewesen entsteht in dieser Sichtweise im Übergang von einem Nicht-Lebendigen, das „bestimmend für Eigenart und Beschaffenheit der Pflanze“ sei, zu einem Lebendigen, obwohl zugleich das so entstandene Lebewesen „das, was es ist, auf Grund seiner Wesensform [sei], wenn es auch eine gewisse Verwandtschaft mit den Stoffen aufweist, die für seine Entstehung notwendig waren“.¹⁷⁶ Dabei komme „nicht das ,Leben‘ zu der Wesensform, die dem unbelebten Stoff war, hinzu, sondern es tritt die ,lebendige Form‘ (die Form des Lebewesens, und zwar eines Lebewesens von bestimmter Art) an Stelle der vor der ,Belebung‘ vorhan Die Verlegenheit bez. der Wesensform zeigt sich darin, dass Stein von einer „anderen Wesensform“ beim Lebewesen spricht, aber die Differenz zu einer etwaigen „Wesensform des Samens“ nicht elaborieren kann: „Noch wurzelhafter ist die Umwandlung, wenn aus dem Samen ein neues Lebewesen entsteht. Es liegt hier nicht nur eine Änderung einzelner Eigenschaften, ein Wechsel der Beschaffenheit vor, sondern von dem Augenblick an, wo die ‚Entwicklung‘ einsetzt, wo Lebenstätigkeiten beginnen, scheint eine andere Wesensform vorhanden zu sein. Es ist ein Lebewesen entstanden aus etwas, was vorher kein Lebewesen war (nur die ‚Möglichkeit‘ dazu in sich hatte).“ (EES: 190)  Ebd.  Ebd.: 191.

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3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

denen“.¹⁷⁷ Der Übergang vom Nicht-Lebendigen zum Lebendigen bleibt so letzten Endes als Übergang unverständlich und wird als Differenz ausbuchstabiert; die Differenz zwischen beiden wird jedoch klar bezeichnet durch den Unterschied zwischen bloßer Stofflichkeit (Same) und dem Auftreten des Verhältnisses zwischen Stoff und (Wesens‐)Form am Lebendigen. Entscheidend ist hier, dass NichtLebendiges in Lebendiges übergeht, dass aber nicht Lebendiges zu Nicht-Lebendigem, es zu Lebendigem machend, schlicht hinzukomme, sondern Lebendiges als solches in ein neuartiges und für Lebendiges spezifisches, durch seine Wesensform (Seele) bestimmtes Verhältnis zur in seine Konstitution eingehenden Stofflichkeit trete.¹⁷⁸ Dem Stoff wird dabei einerseits eine weitreichende, das Lebendige in seinem Entstehen und seiner späteren Beschaffenheit betreffende Bestimmungsmacht konzediert, er geht im Übergang also als bestimmender Faktor nicht schlicht unter; diese Bestimmungsmacht tritt allerdings von dem Zeitpunkt an, da das Lebewesen seine aus Form und Materie zusammengesetzte Gestalt annimmt, hinter der Bestimmungsmacht der Wesensform deutlich zurück.¹⁷⁹ Die Widersprüchlichkeit dieser Bestimmungen findet, wenn nicht ihre Auflösung, so doch ihre Erklärung wiederum im Verhältnis von ούσία und έντελέχεια. In unserer Auseinandersetzung mit Aristoteles war das Verhältnis von είδος und ούσία von zentraler Bedeutung. Bei Stein hingegen rückt lediglich die ούσία ins Zentrum, ohne dass Stein den Begriff des είδος in der von Aristoteles geprägten Variante aufnähme. Vielmehr schließt Stein, wo sie von είδος spricht, an den

 Ebd.  Vgl. EES: 222: „[D]er Keim ist der Anfang des neuen Gebildes: er ist es, der andere Stoffe ‚aufnimmt‘ und in ein neues Sein überführt. Das neue und andersartige Sein ist das ‚Leben‘, und die Form, die das Leben gibt, ist die ‚lebendige Form‘ oder ‚Seele‘.Weil das ganze Gebilde eines ist, muß auch das, was ihm Einheit gibt, eines sein. Das, was vor dem Beginn des Lebens vorhanden war, ist nach der Belebung nicht mehr dasselbe, was es vorher war. […] Das spricht für die Auffassung, daß die Seele nicht nur das Leben gibt – als etwas zu dem bereits vorhandenen, andersartigen Sein Hinzukommendes –, sondern das ganze Sein bestimmt.“  „Der Zusammenhang von Form und Kraft leuchtet hier auf: Wesensformen sind als solche gestaltungskräftig. Von hier aus versteht man es, daß die Form als das eigentlich Seiende bezeichnet wird, dem der Stoff sein Sein verdankt, und daß man schwanken kann, ob man nicht sie allein und nicht erst das Ganze ούσία oder Substanz nennen solle. Die Entscheidung für das Zweite wird dadurch nahegelegt, daß sie wesenhaft stoffgestaltend und darum niemals ohne Stoff ist.“ (ebd.: 206) An anderer Stelle bestimmt Stein noch deutlicher die Wesensform als das Wassein und Sosein vorrangig Bestimmende: „Was das Ding zu dem Bestimmten macht, was es ist, das ist seine Wesensform. Weil aber die Wesensformen der sogenannten „zusammengesetzten Substanzen“ sich notwendig in stofflicher Fülle auswirken, so gehört diese ihre stoffliche Fülle zu dem, was sie sind, und ihre Stoffbestimmtheit ist als Teil ihres individuellen Wesens anzusehen.“ (ebd.: 220)

3.6 Der „onto-anthropologische“ Stufenbau

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Platonischen Begriff der Idee bzw. des Urbildes an¹⁸⁰ oder bestimmt das είδος als ούσία im Sinne der scholastischen Wesensform.¹⁸¹ Die Probleme, die Stein mit dem aristotelischen είδος-Begriff aufgrund ihrer scholastischen Prägung hat, zeigen sich auch darin, dass sie das είδος und μορφή für gleichbedeutend hält und beide der ούσία zu- und unterordnet,¹⁸² beide damit hinter dem weitgefassten und fundamentalisierten Begriff der ούσία zurücktreten lässt. Die Wesensform wird von Stein explizit als ούσία bestimmt, auch wo sie eine dem είδος bei Aristoteles vergleichbare Bedeutung hat, d. h. auf der Ebene des Lebewesens als das ins Verhältnis zum Stofflichen tretende Prinzip fungiert. Diese begriffliche Straffung verdankt sich Steins Prägung durch Thomas von Aquin, dessen Philosophie im Ganzen als eine auf mehreren Ebenen (Theologie, Kosmologie, Naturphilosophie) entfaltete Substanzenlehre angesehen werden kann. Dementsprechend bestimmt Stein die innerhalb des Stoff-Form- Verhältnisses auftretende Form (scholastisch: forma substantialis)¹⁸³ als Wesensform und diese wiederum als Kraft,¹⁸⁴ vermöge derer etwas in Bewegung sich Befindendes sich als sich selbst Bewegendes qualifiziert. Die als Kraft aufgefasste ούσία vollbringt die Leistungen (εργον), die teleologisch hingeordnet sind auf eine bestimmte „Zielgestalt“, die den „Sinn“ der Verwirklichungsleistungen und damit die έντελέχεια, darstellt: „Der Sinn ist die Zielgestalt, auf die die Seele durch ihre Wesensbestimmtheit hingeordnet ist; die Kraft oder Seinsmacht ist ihr gegeben, um das zu werden, was sie sein soll.“¹⁸⁵ Um die έντελέχεια zu verwirklichen – der finale Charakter der Aussage bringt die

 Vgl. Ebd.: 63, 150. Diese Übersetzung von είδος mit Urbild steht in einem schwer nachvollziehbaren Zusammenhang mit einem von Stein angeführten Zitat aus der Metaphysik, wo είδος mit ούσία übersetzt wird, vgl. ebd.: 151. Auch da, wo Stein Aristoteles’ Philosophie erläutert, übersetzt sie είδος merkwürdigerweise platonisch mit Urbild: „Es schien, als bleibe dann gar nichts; aber es muß nun doch noch etwas anderes am Aufbau des Dinges beteiligt sein, und dieses [gegenüber dem Stoff und den Bestimmungen des Stoffes, S. E.] ‚Dritte‘ muß das sein, was ihm Halt und Grund gibt und es zu dem ausgezeichneten Seienden macht, das es ist. Aristoteles nennt es μορφή (Form) oder είδος (Gestalt, Urbild).“ (Ebd.: 124) Wenige Seiten weiter kritisiert Stein dann aber, dass Aristoteles ein solches Drittes verworfen habe, vgl. ebd.: 136).  Vgl. Ebd.: 123.  „Man pflegt mit ‚Form‘ den aristotelischen Ausdruck μορφή wiederzugeben. Aristoteles braucht ihn öfters wechselweise mit είδος, aber wir sahen schon, daß dies nur möglich ist, wenn man είδος nicht im Sinn der platonischen Idee faßt; denn μορφή bezeichnet nicht etwas vom Ding Getrenntes, sondern etwas zu ihm Gehöriges. Man sagt dafür heute auch ‚Wesensform‘, weil ‚Form‘ in der neueren Philosophie einen ganz anderen Sinn angenommen hat.“ (ebd.: 140 f.)  Vgl. auch Ebd.:221.  „Eine solche Form ist lebendig: d. h. ihr Sein ist Bewegung aus sich selbst heraus; und kraftbegabt: d. h. zu bestimmt geartetem Wirken fähig.“ (EES: 205 f.)  Ebd.: 366.

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teleologische Struktur in der Satzform zum Ausdruck –, ist der Seele die Kraft gegeben, das urbildlich bestimmte Wesen („Wesensbestimmtheit“) zu verwirklichen. Wäre das Gelingen der Realisierung jedoch mit der Wesensbestimmtheit garantiert, würde die Pflanze kein Lebendiges darstellen; Stein zufolge zeugen aber „Entwicklungshemmungen und Mißbildungen“¹⁸⁶ im Pflanzenreich davon, dass auch „die Pflanzenwelt […] unter dem Gesetz der Sünde“¹⁸⁷ stehe, unabhängig davon, ob diese Missbildungen exogen oder endogen verursacht sind. Das Gesetz der Sünde wird von Stein auch ontologisch gefasst, nämlich als Auseinandertreten von Stoff und Form: Bei den Lebewesen treten Form und Stoff auseinander. Die Form ist ,lebendige Form‘ oder ‚Seele‘. Sie hat die Macht, das Ganze auf eigentümliche Weise zu gestalten und zu beleben. Ihr Sein ist Leben, und Leben ist fortschreitende Stoffgestaltung und damit fortschreitende Verwirklichung des Wesens, das in der eigentümlichen Formung des Stoffes besteht.¹⁸⁸

Damit wird Entscheidendes gesagt: Zum einen, dass das Auseinandertreten von Stoff und Form bei gleichzeitigem Hingeordnetsein des aus beiden sich zusammensetzenden Lebewesens den Unterschied zwischen lebendigem und bloß dinglichem Sein ausmacht. Kreatürliches Leben¹⁸⁹ ist dadurch Leben, dass es seine έντελέχεια, seine Zielgestalt, verfehlen kann; dingliches Sein, z. B. Maschinen, können nur dysfunktional in dem Sinn sein, dass sie von außen gesetzte Zwecke unzureichend oder gar nicht erfüllen; ihnen wohnt allerdings keine Zielgestalt inne, d. h. sie sind nicht das Abbild eines Urbildes, das ihre Stellung in einem kosmischen Ganzen bestimmt. Um einen lebendigen statt um einen mechanischen Prozess handelt es sich bei der Verwirklichung der Zielgestalt, weil die Stoffgestaltung durch die ούσία bzw. die Wesensform, die auch als Seele und Kraft bestimmt werden, zu leisten sei.¹⁹⁰ In der Entfaltung der Kraft im Lebendigen fällt das Sein in seiner metaphysischen Bedeutung mit dem Leben zusammen, weil  Ebd.: 232.  Ebd.  Ebd.: 238.  Dabei ist zu beachten, dass Stein, wie aus der oben angesprochenen Entstehung des Lebendigen (Pflanze) aus dem Nicht-Lebendigen (Samen) hervorgeht, den Samen nicht als zum Bereich des Lebendigen gehörend betrachtet und diesen auf Pflanze,Tier und Mensch beschränkt.  Wie in der Aristotelischen so meint auch in Steins Philosophie έντελέχεια sowohl mehr auch etwas anderes als Drieschs Begriff der Entelechie (nicht umsonst vermeidet Driesch die griechische Schreibweise), der auf einen spezifischen Faktor zielt, der ein Ding zu einem lebendigen Ding macht, denn die Wesensform im zweiten Sinne zielt nicht nur auf das, was Lebendiges zu solchem macht, sondern auf das, was Lebendiges in seiner spezifischen Entwicklung bestimmt. Was Stein zufolge ein Wesen zu einem Lebewesen macht und in seinem Sein und Entwicklungsgang bestimmt, ist die Wesensform, die Stein auch explizit als „Seele“ bestimmt.

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„Sein […] als das Sichauswirken der Wesensform, als die Entfaltung zum ausgewirkten Wesen“¹⁹¹ zu verstehen sei, welche Entfaltung die Gestalt des Lebens annehme, weshalb diese Entfaltung sich zeige „als die Verwirklichung der im Wesen begründeten Möglichkeiten (darin ist die Zeitlichkeit eingeschlossen und die ,Macht zum eigenen Sein‘) und bei der besonderen Gattung des Seienden, die wir als ,Stoff bezeichnen, [als] das Sich Hineingestalten in den Raum, Sich-ausbreiten, Sich-darbieten und Sich-auswirken im Raum“.¹⁹² Das ausgewirkte Wesen ist nicht das endliche Sein, sondern „wirkliches“ im Unterschied zu „wesenhaftem“ Sein; das wirkliche Sein entfaltet sich zwar als endliches Sein, jedoch gemäß seiner ihm als wirklichem Sein und in seinem Wirklichsein inhärierenden Möglichkeiten, und es wird, indem es als „endliches“ angesprochen wird, in einem unauflösbaren Verhältnis zum ewigen Sein bestimmt,¹⁹³ weshalb Stein das endliche Sein als „Entfaltung eines Sinnes“¹⁹⁴ bestimmt, der im Verhältnis von wirklicher Gestalt und wesensbestimmter, also letztlich metaphysisch bestimmter Zielgestalt gründet.¹⁹⁵ Die Zielgestalt ist dabei das Moment, wodurch ein wirkliches Sein über sich selbst hinaus ist gemäß seinem Bestimmtsein durch das wesenhafte Sein, auf welches es gleichwohl nicht als auf eine begrifflich einholbare Referenzgröße explanativ bezogen werden kann, weil das Abbild kein Bild des Urbildes geben kann (was in einer Erklärung des Abbildes durch das Urbild der Fall sein können müsste); es ist über sich hinaus, indem das zeitlose, wesenhafte Sein im der Zeitlichkeit unterworfenen wirklichen Sein widerspiegelt: „Endliches Sein ist Entfaltung eines Sinnes; wesenhaftes Sein ist zeitlose Entfaltung jenseits des Gegensatzes von Potenz und Akt; wirkliches Sein Entfaltung aus einer Wesensform heraus, von der Potenz zum Akt, in Zeit und Raum.“¹⁹⁶ Wollte man das endliche und das wirkliche Sein gleichsetzen, so müsste man den Sinn in das Spiel von Potenz und Akt hineinziehen und das endliche Sein als Verwirklichung von Möglichkeiten („fortschreitende Verwirklichung seines Wesens“, siehe obiges Zitat) auffassen, welche letzteren dann allerdings das wesenhafte Sein sein müssten.

 Ebd.: 236.  Ebd.  „Das endliche Sein als solches verlangt danach, vom Ewigen her begriffen zu werden.“ (Stein 2006a: 493)  EES: 284. – Die metaphysische Bedeutung des Sinnbegriffs wird auch an anderen Stellen deutlich, so z. B., wenn Stein behauptet, die Abbilder seien das „Abgeleitete, das durch das Abbildverhältnis seinen Daseinssinn empfängt“ (ebd.: 111).  Der Begriff der Zielgestalt spielt nicht nur in der Explikation des pflanzlichen, sondern auch das menschlichen Seins eine gewichtige Rolle: „Der Sinn ist die Zielgestalt, auf die die Seele durch ihre Wesensbestimmtheit hingeordnet ist; die Kraft oder Seinsmacht ist ihr gegeben, um das zu werden, was sie sein soll.“ (ebd.: 366)  Ebd.: 284.

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Zum anderen – darauf soll hier nur kursorisch eingegangen werden – wird an der zitierten Stelle von Stein gesagt, dass der Seinsbegriff nicht als alleiniger philosophischer Fundamentalbegriff fungieren kann, weil die Verwirklichung von Sein die Gestalt von Leben annehmen müsse. Die implizite Heidegger-Kritik, die hier enthalten ist, weist eine gewisse Nähe zu Plessners späterer Heidegger-Kritik auf.Während Plessner allerdings gegen Heidegger darauf beharrt, dass Leben Sein berge,¹⁹⁷ behauptet Stein, dass Sein, das im Unterschied zu Heidegger auf scholastische Weise metaphysisch gedacht wird, sich notwendig als Leben verwirklichen müsse. So fragt Stein, die klassische ontologische und implizit naturphilosophische¹⁹⁸ Entleerung des Begriffs des „Daseins“ im Blick habend: „Was bleibt vom Menschen übrig, wenn von Leib und Seele abgesehen wird?“¹⁹⁹ Stein hält Heidegger vor, in seinem Versuch, seine Fundamentalanthropologie gegen eine jede Anthropologie abzuschotten, die Spezifik der menschlichen Endlichkeit nicht entfalten zu können. Der Mensch sei ens creatum und als solches Teil der Natur und Endliches inmitten von Endlichem, das als solches, d. h. unabhängig von seiner kreatürlichen Spezifikation, auf Ewiges bezogen und durch Ewiges bedingt und getragen sei. Das spezifische Endliche, das kraft seiner Personalität und seines Geistes auf Transzendenz bezogen sei, sei der Mensch, nicht ein jegliches Endliches: ,Ens creatum‘ hat nicht nur die Bedeutung eines tatsächlichen Geschaffenen, sondern eines auf Grund seiner Endlichkeit wesenhaft durch das Unendliche Bedingten. Darin ist also der Sinn von Endlichkeit eingeschlossen: ‚etwas und nicht alles sein‘. Dieser Sinn von Endlichkeit findet seine Erfüllung aber nicht nur im Menschen, sondern in jedem Seienden, das nicht Gott ist. So gehören Endlichkeit als solche und Transzendenz nicht ohne weiteres zusammen. Transzendenz bedeutet das Durchbrechen der Endlichkeit, das einem personal-geistigen und als solchem erkennenden Wesen in und mit seinem Seinsverständnis gegeben ist. Heidegger spricht wohl einigemal von der spezifischen Endlichkeit des Menschen, aber ohne jemals zu erörtern, was er darunter verstanden haben will.²⁰⁰

Diese Kritik Steins trifft sich mit Plessners Heidegger-Kritik darin, dass eine Dialektik der Anthropologie-Vermeidung (in beider Sinn implizit auch eine Vermeidung naturphilosophischen Denkens) bei Heidegger offengelegt wird: Weil Heidegger sich der philosophischen Anthropologie verweigert, wird er von an-

 Vgl. Plessner 2003b: 388 f.  Implizit naturphilosophisch, weil das klassische, von Aristoteles geprägte Vokabular, seine genetische Verwurzeltheit in der aristotelischen Naturphilosophie nie ganz abstreifen kann.  Stein 2006a: 464.  Ebd.: 489.

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thropologischen Unterscheidungen, die seine Fundamentalontologie²⁰¹ durchwalten, eingeholt. Diese Unterscheidungen nehmen dann die Gestalt von Vorurteilen an, die nicht begründet werden und die darüber hinaus gegenüber Begründungsansprüchen unsichtbar gemacht zu werden versuchen. Mit Plessner stimmt Stein auch darin überein, dass ein menschliches Endliches als Person zu spezifizieren wäre und damit innerhalb des grundbegrifflichen Horizonts der philosophischen Anthropologie, den diese Scheler verdankt. Darauf wird später ausführlicher zurückzukommen sein.

3.6.2 Die zweite Stufe im Stufenreich: Das Tier oder Die Entstehung der Subjektivität 3.6.2.1 Der Aufbruch des Inneren Wir haben gesehen, dass sich anhand der Pflanze die Grundbegriffe der Ontologie des Lebens, wie Stein sie in ihren Hauptwerken entfaltet, bereits skizzieren lassen. Diese Ontologie wird ausbuchstabiert entlang der „thomistische[n] Auffassung der Seele […], die – mit Aristoteles – in der Seele die Wesensform alles Lebendigen sieht und verschiedene Stufen solcher Formung unterscheidet, je nachdem dadurch nur lebendige Stoffgestaltung oder auch ein ,inneres‘ Leben hervorgebracht wird“.²⁰² Das innere Leben erscheint gemäß der klassischen Ontologie innerhalb der Natur erstmals auf der Stufe des Tieres: „Das, was wir für das Tier gegenüber der Pflanze als wesentlich Neues fanden, war der Aufbruch eines ‚Inneren‘.“²⁰³ Dieser Aufbruch des Inneren bildet sich vermöge der spezifischen Tierseele aus, deren Differenz zur Pflanzenseele den Charakter eines ontologischen Aufstiegs statt einer bloßen Andersartigkeit annimmt: „Nach dieser Abstufung ihrer Leistungen unterscheiden sich Pflanzen-, Tier- und Menschenseele (= Lebens-, Empfindungs- und Vernunftseele), und zwar so, daß die höhere dasselbe leistet wie die niederen und hinzufügt, was ihre besondere Aufgabe ist.“²⁰⁴ Weil die Differenz zwischen den Lebensformen keine bloß natürliche und naturalistisch konzipierbare, sondern eine der Wesensformen ist, findet keine Entwicklung vom pflanzlichen Dasein heraus ins tierische hinein statt. Übergänge wären denkbar unter rein naturalistischen Voraussetzungen als Selbstdifferenzierung der Gattung in verschiedene Arten, d. h. unter der Voraussetzung einer alle Arten übergreifende, etwa durch die Natur verbürgte Identität in der Differenz. Weil im Tier zur    

Ebd. EES: 313. PuA: 218. EES: 313 f.

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Lebensseele jedoch eine Empfindungsseele hinzutritt, verkörpern beide als Lebensformen asymmetrische Voraussetzungen, aufgrund welcher Lebensformen nur im Verhältnis der unüberbrückbaren Differenz zueinander auftreten können: Es sind gewisse Pflanzenspezies für andere vorausgesetzt und gewisse Tierspezies für andere, aber nicht gewisse Pflanzenspezies für gewisse Tierspezies und auch nicht die Pflanzenspezies als Gesamtheit für die gesamte Tierspezies, so wie die materielle Natur für die belebte, für Pflanzen- und Tierwelt, vorausgesetzt ist: Es ist kein Übergang vom einen zum andern möglich.²⁰⁵

Die Differenz der Seelenformen und damit der Wesensformen markieren eine unüberschreitbare ontologische Grenze, die in der Natur als dem Reich der Abbilder der Urbilder sich abbildet statt von der Natur selbst (jedenfalls im naturalistischen Sinn des Begriffs) hervorgebracht zu werden. Der „Aufbruch des Inneren“, der phänomenologisch im Verhalten des Tieres aufscheint, gründet ontologisch in der Wesensform bzw. der substantialen Form des Tieres und deren spezifischen Leistungen: „Das Sein der substantialen Form ist hier nicht nur Leben als Gestaltung toter Materie zum Organismus, sondern inneres Leben, Sichfühlen im Leib und eine Beherrschung des Leibes in ‚freier‘ Bewegung, die nicht nur unmittelbar im Dienst der Formung des Organismus steht.“²⁰⁶ In dieser Formung, die eine Formung des tierischen Leibes durch das Tier selbst²⁰⁷ ist statt bloß eine Formung der Art, die durch das einzelne Tier hindurchgeht, spricht sich ein „Eigenwesen“²⁰⁸ des nicht nur des Tieres als solchen, sondern auch des individuellen Tieres aus, das es von der Pflanze unterscheidet, bei welcher „die Erhaltung der Art der hauptsächliche Lebenssinn“²⁰⁹ bilde. Die Seele des Tieres, d. h. seine Wesensform, tritt in ein Verhältnis zur physischen Konstitution des Tieres, weshalb Stein das Tier eine „leiblich-seelische Gestalteinheit“²¹⁰ nennt. Was dergestalt im Tier sich ausprägt, ist eine Individualität; das Tier ist nicht mehr nur Durchgangspunkt, sondern es hat – und deshalb bildet es eine „Gestalteinheit“ – in sich einen sein Verhalten organisierenden „Mittelpunkt“, der sich allerdings nicht wiederum selbst gegeben ist, d. h.

 PuA: 218.  Ebd.  So werde „der Körper des Tieres Leib […] dadurch, daß die Seele in ihm – in einem von allem Räumlichen unterschiedenen Sinn des ‚in‘ – ihr eigenes inneres Leben hat und ihn nicht nur formen, sondern den geformten handhaben kann in äußerer Tätigkeit“. (EES: 229 f.)  Ebd.: 230.  Ebd.  Ebd.: 315.

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das Verhalten des Tieres trägt den Charakter der Antwortlichkeit, nicht aber den der Freiheit: Es steht als dieses Ganze in seiner Umwelt und setzt sich als Ganzes in der ihm eigenen Weise damit auseinander. Es setzt sich damit auseinander vom innersten Punkt seines Seins her, wo der Umschlag erfolgt von äußeren Eindrücken zu antwortendem Verhalten. Es ist dies ein lebendiger Mittelpunkt, in dem alles zusammenströmt und von dem alles ausgeht: das Spiel von ,Gereiztwerden‘ und Antworten ist Ichleben. Aber es ist kein bewußtes Erleben und kein freies Stellungnehmen: dieses Ich ist dem ,Getriebe‘ seines Lebens ausgeliefert und hingegeben, es steht nicht persönlich aufgerichtet dahinter und darüber.²¹¹

Den Charakter der Antwortlichkeit des tierischen Verhaltens resultiere aus einer „Empfindlichkeit für das, was ihr [der Tierseele, S. E.] von außen begegnet, die wie eine Vorstufe intellektuellen Geöffnetseins, ein Reagieren darauf mit Leib und Seele, das wie eine Vorstufe freien Handelns und persönlicher Beherrschung des Leibes ist“.²¹² Seine Verkörperungsleistungen sind Aktionen und Reaktionen und als solche „‚Ausdruck‘ des Seelischen“,²¹³ das im Ausdruck ein Verhältnis zu Eindrücken verkörpert, weshalb Stein über die Eindrücke auch sagt, sie hinterließen „‚Spuren‘ in der Seele: eine Geneigtheit und Bereitschaft zur Wiederholung der entsprechenden Stellungnahmen, auch eine dauernde Gestimmtheit (das, was die Scholastik ‚habitus‘ nennt)“.²¹⁴

3.6.2.2 Ontologische Bestimmung des Tieres: Substanz, Potenz und Akt Den Aufbruch des Inneren entfaltet Stein phänomenologisch und im weitesten Sinne psychologisch, so, wenn sie von der „Qual, die aus den Augen eines verwundeten Tieres schaut“,²¹⁵ spricht, die „einer andern Welt […] als dieser ganze tierische Leib“²¹⁶ angehöre. In unserem Zusammenhang interessanter ist jedoch Steins ontologische Explikation der tierischen Seinsweise. Eine Rückbindung des tierischen Seins an die Natur, d. h. eine im modernen Sinne naturphilosophische Explikation desselben, vollzieht Stein nicht; einer zitierten Stelle aus einem Buch von Conrad-Martius, an welcher diese auf die Ausbildung von Nervenzentren bei Tieren spricht,²¹⁷ geht Stein nicht weiter nach. Die naturphilosophische Expli-

      

Ebd. PuA: 219. EES: 359. Ebd. PuA: 218. Ebd. Vgl. EES: 230.

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kation der tierischen Seinsweise fällt somit vollständig in die Entfaltung der ontologischen Begrifflichkeit und bleibt damit den naturphilosophischen Ursprüngen des aristotelischen Kategorienbestandes verhaftet.²¹⁸ „Das, woraus etwas wird, ist das, was wir Stoff nennen“²¹⁹ – mit diesem Satz benennt Stein den Stoff als das naturphilosophische, gegenüber jeglicher Spezifikation in Lebensformen indifferente Substrat des Werdens. Dieses Substrat ist nicht aus sich selbst heraus entfaltungsfähig, weshalb Pflanze und Tier werden, indem dieses Substrat seine Formung zum pflanzlichen Körper, der sich selbst nicht gegeben ist, und zum sich selbst gegebenen tierischen Leib erfährt. Stein zufolge ist das, „wodurch es wird, etwas naturhaft Seiendes“.²²⁰ Nicht der Stoff ist das konkrete Prinzip des Werdens, sondern das „naturhaft Seiende“; was dieses wiederum wird, hängt von dessen Wesensform, von seiner Substanz, ab. Der Substanzbegriff wird jedoch dem Naturbegriff subsumiert, denn Stein verwendet Natur in dreifacher Weise, als das (1) „woraus es ist“,²²¹ d. h. im Sinne des Stoffes, (2) „das, was wird, z. B. Pflanze oder Tier“;²²² (3) „das, wodurch es ist: die gleichartige, als Urbild (είδος) bezeichnete Natur“.²²³ Das Tier wird hier in einem Zusammenhang mit der Pflanze genannt und kosmologisch eingebettet in die Natur als Natur, die aufgrund der Natur und seiner Natur als naturhaft Seiendes seine lebendige und urbildliche Natur zugleich realisiert. Dieses abstrakt gefasste Verhältnis des Tieres als eines naturhaft Seienden zu seiner natürlichen Umwelt und zu sich selbst spezifiziert Stein ontologisch und damit – aufgrund des eben Dargelegten – auch naturphilosophisch genauer mittels der Termini von Akt und Potenz gemäß der Maxime, es müsse „sich auch das Sein der Tierseele als ein eigentümlicher Modus der Aktualität bzw. als ein eigentümliches Verhältnis von Akt und Potenz kennzeichnen lassen“.²²⁴ Die Tierseele bildet als die substantiale Form innerhalb der Form-MaterieRelation das Form-Moment und zugleich als Wesensform die Substanz der im tierischen Leben verkörperten Leib-Seele-Einheit. Aufgrund ihrer handelt es sich beim tierischen Körper um einen Leib, genauer um zu einem Leib geformten Stoff  Damit gehen zwei Probleme einher: (1) Naturphilosophie ist hier bloß ein durchscheinender Rest, dessen systematische Aufnahme und Weiterentwicklung ausbleibt. (2) Die historische Transformation von Begriffen kann in völlig gegenläufiger, also genuin nicht-naturphilosophischer Absicht erfolgen, was die in (1) angesprochene Problematik so weit verschärfen kann, dass naturphilosophische Gehalte keine Gehalte, sondern nur mehr ideenarchäologische Relikte sind.  Ebd.: 150.  Ebd.  Ebd.  Ebd: 150.  Ebd.  PuA: 219.

3.6 Der „onto-anthropologische“ Stufenbau

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bzw. Materie.²²⁵ Im Prozess der Formung fungiert für das Tier die Umwelt wiederum als „‚Materie‘ für die formende Kraft der Tierseele“.²²⁶ Der daraus resultierende Anschein, die Umwelt sei für die Tierseele schlicht zu formende Materie und daher Potenz für die Seele als Akt, trügt, denn der ontologische Status der Tierseele bzw. der tierischen Wesensform ist Stein zufolge zutiefst ambivalent: Einerseits wird sie als „Aktionszentrum in diesem Ganzen“²²⁷ bestimmt,welches in demselben „räumlich […] durch ihren Leib“²²⁸ und „in ihrem Leib“²²⁹ wirke, im Leib also verkörpert ist und den Körper verleiblicht;²³⁰ zugleich aber sei die Seele „nicht nur Akt für die Potenz der Leibesmaterie“,²³¹ sondern darüber hinaus, obzwar sie „Akt für eine ganze Fülle von Potenzen ihrer Umwelt“²³² sei, auch „auf formende Akte aus der Umwelt angewiesen […], um in ihren spezifischen Akt überzugehen“,²³³ mit anderen Worten: Die „Aktualisierung dessen, was potentiell in ihr ist, steht nicht in ihrer Macht“.²³⁴ Das Aktionszentrum des Tieres, welches nicht zugleich ein Machtzentrum ist und somit auch kein Organ von Autonomie sein kann, ist ontologisch zwischen Akt und Potenz gespannt, weder Akt-Zentrum im starken Sinne, noch bloße Potenz der Umwelt und Spielball äußerer Einflüsse. Da der Tierseele „eigenes spezifisches Sein nur aktuell werden kann durch aktuelles Sein, das nicht ihr eigenes ist“,²³⁵ ist das Aktionszentrum des Tieres wesentlich Reaktionszentrum: „Alle ihre [der Tiere, S. E.] Aktionen in der äußeren  Vgl. PuA: 219.  Ebd.  Ebd.: 220.  Ebd.  Ebd.  Stein verwendet in der Tat in Potenz und Akt den Begriff des Leibkörpers, wenngleich – der Kenntnis des Autors nach – nur an einer Stelle und somit ohne eine systematische Ausdeutung seines Erschließungspotenzials, wo sie sagt, dass „die ganze Seele als Form dieses Leibkörpers bezeichnet“ (PuA: 224) werden könne. Dass Stein den Begriff überdies nur in einem Abschnitt verwendet, in dem sie von der tierischen Seinsweise handelt,wohingegen Plessner die Grundlagen seiner Rollentheorie und der Verhaltensgrenzen in Lachen und Weinen im Ausgang vom Begriff des Körperleibs entwickelt, zeugt ebenfalls von der Beiläufigkeit einer Wortprägung, welcher keinen terminologischen Status für sich beanspruchen kann. Auch die Anordnung der beiden Elemente des Kompositums „Leibkörper“ (statt „Körperleib“) indiziert, dass Stein hier vor allem auf den Leibcharakter des tierischen Körpers und damit auf das spezifische Neue in der Seinsweise des tierischen gegenüber dem pflanzlichen Sein zielt statt auf ein im weiteren Verlauf zu elaborierendes anthropologisches Novum, das auf der Stufe des Menschen eine wiederum neue Qualität gewinnt.  Ebd.: 220.  Ebd.  Ebd.  Ebd.  Ebd.

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Welt und auch alle ihre inneren Bewegungen sind Reaktionen, Aktuellwerden ihres eigenen Seins in der Berührung mit fremdem.“²³⁶ Gemäß der klassisch ontologischen Bestimmung der Potenz als Unvollkommenheit und Graben zwischen der Aktmächtigkeit und der Gebundenheit an Äußeres (hier an die Umwelt, im theologisch-finalen Sinne an Gott) ist das Sein des Tieres ontologisch ironischerweise umso mehr von Potenzialität geprägt, je stärker es in sich heteronom verfasst ist und die Umwelt nicht seinen genuin eigenen Aktualisierungskapazitäten unterworfen ist. Der Passivität des Reagierens entspricht dessen Gestalt als innerer Widerhall, den Stein „Empfindung“ nennt;²³⁷ die Innerlichkeit des Tieres ist reduziert auf ein im Empfinden und Fühlen Gegebensein von Umweltlichem, sie ist nicht eröffnend, sondern bloß das Reich stummer Qualitäten von auf das Tier Einwirkendem. Die Seele des Tieres, d. h. dessen Substanz, wird jedoch nicht im Spiel der Potenzen aufgelöst, sondern sie formt sich innerhalb dieses Spiels als ein sowohl dieses Begrenzende als auch durch dieses begrenzt Werdendes. Die Potenz unterminiert nicht den Akt-Charakter der Seele und somit ihre Substantialität, sondern Stein zufolge bezeichnen Substanz, Potenz und Akt „drei Stufen im Aufbau der Seele“.²³⁸ Was die Substantialität der Substanz garantiert, ist, dass sie ein „Zeitfüllendes ist, also Dauerndes, das seine Dauer mit einem im Wechsel beharrenden qualitativen Bestände füllt“.²³⁹ Nicht selbst bloß Innerzeitliches zu sein, in den Wechsel der eigenen Zustände nicht im Sinne der Selbstauflösung hineingezogen werden zu können, sondern diesen Wechsel und die diesen umgreifende Dauer zu ermöglichen als Beharrendes, unterscheidet die Seele qua Substanz wesenhaft vom Wechselnden, welches Stein als „qualitative Modifizierungen des beharrenden Bestandes“²⁴⁰ bestimmt. Die Unterscheidung zwischen der Substanz bzw. Seele als dem Beharrenden und den qualitativen Modifizierungen ist jedoch keineswegs starr, denn die Substanz müsse „in einem der wechselnden qualitativen Modi aktuell sein, muss […] immer mindestens eine der zugehörigen Potenzen“²⁴¹ aktualisieren, da sie ansonsten rein formaler Natur und kein wirkliches Seiendes wäre.²⁴² Dieser qualitative Modus, in dem die Substanz

 Ebd.  Ebd.  Ebd.  Ebd.: 221.  Ebd.  Ebd.  Die Selbstgenügsamkeit des Formalen wird aber gerade von Stein bestritten: „Die Gehalte seelischer Akte können nur im lebendigen Vollzug der Akte durch ein seelisches Subjekt ins Dasein treten.“ (PuA: 222)

3.6 Der „onto-anthropologische“ Stufenbau

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notwendig existieren muss, nennt Stein einen „seelischen Akt“. ²⁴³ Formales und Materiales bilden daher als unauflösliche Einheit das Wesen der Seele: „Substantiale Form oder Wesen der Seele ist demnach der beharrende qualitative Bestand, der ein Quantum, die seelische Kraft, qualifiziert, und die formale Struktur, die ihn an einen Bestand von Potenzen und wechselnden seelischen Akten bindet.“²⁴⁴ Was Stein hier als Qualifizierung des Quantums und als den Inbegriff der seelischen Kraft anspricht, ist das, „was ihr Wesen ausmacht“.²⁴⁵ Dieses sei nicht zu trennen ist von dem, „was ihr als dauernde Eigenschaft zukommt“,²⁴⁶ nämlich die Realisierung von Potenzen in seelischen Akten. Die „formale Struktur“, von der Stein spricht, ist realiter nicht denkbar ohne die qualitativ bestimmten Potenzen,²⁴⁷ von denen Stein an anderer Stelle als von „vorübergehenden Zuständlichkeiten, die wir ihres Seinsmodus wegen Akte nennen“,²⁴⁸ spricht und zu denen als zu „dem, was aktuell beharrt, wesensmäßig ein Bestand an Potenzen hinzugehört“,²⁴⁹ wobei das Hinzugehörende nicht wesenskonstitutiv ist, sondern das, was vorhanden sein muss, damit das Wesen sich realisieren kann. Die Begriffe von Akt und Potenz sind im Ausgang vom Wesen der tierischen Seele ambivalent zu fassen: Die Potenzen der Umwelt sind als Potenzen insofern Akte, als sie die Seele des Tieres aktual bestimmen; ihnen kommt also, wenn sie bestimmend wirken, als Potenzen Akt-Charakter zu. Doch auch da, wo die Potenzen die Seele des Tieres und sein Verhalten als reaktives Verhalten bestimmen, ist die seelische Kraft des Tieres nicht unterminierbar, bildet diese doch als die beharrende qualifizierende Kraft „Form und Akt im Verhältnis zu dem wechselnden Bestand“²⁵⁰ an Potenzen. In der Sphäre des Verhaltens spiegelt diese Unaufhebbarkeit der qualifizierenden Kraft der Seele sich darin wider, dass das Tier im Zustande des Bestimmtwerdens durch Äußeres etwas erleidet. Die Seele bzw. Substanz ist also auch da, wo sie von den Potenzen aktual bestimmt wird, immer noch eine beharrende Aktualität, wenngleich eine heteronom bestimmte. Die Substanz stellt hier einen Ermöglichungsgrund dar, der über die Verwirklichung von Potenzen nur in äußerst beschränktem Maße verfügen kann, diese also

 Ebd.  Ebd.: 221.  Ebd.: 220.  Ebd.  „Die Spezies seelischer Akte bilden die Mannigfaltigkeit qualitativer Modi, in deren Wechsel eine Substanz aktuell sein kann.“ (Ebd.: 221)  Ebd.: 220.  Ebd.: 221.  Ebd.

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nicht im Sinne einer Macht zur Ermöglichung ermöglichen kann: „Wie die Materie der Körper und ihre Akzidenzien nur durch die Vereinigung mit einer substantialen Form von der Potentialität zu aktuellem Sein übergehen, so auch die seelischen Akzidenzien und diese ,Materie der Seelen‘.“²⁵¹ Sie bildet einen Ermöglichungsgrund, allerdings vor dem Hintergrund einer doppelten Abhängigkeit: (1) Sie muss die Verwirklichung der Potenzen vollziehen (die Potenzen aktualisieren) und somit im Akt der Potenzen sich bemächtigen als (2) von den Potenzen selbst wieder abhängige Entität, die von den Potenzen als Aktualitäten teilweise in ihrer eigenen Aktualität bestimmt wird. Mit dem „Aufbruch des Inneren“ verkompliziert sich nicht nur das Verhältnis von Substanz, Potenz und Akt, auch der Entelechie-Begriff erfährt eine Modifikation. In einer den Begriff der έντελέχεια gleichermaßen allgemein wie fundamental bestimmenden Passage, in welcher Stein zwar auf den menschlichen Organismus im Konkreten zielt, aber mit allgemeinen Ausführungen zum Lebendigen beginnt, auf die hier Bezug genommen wird, schreibt Stein über den körperlichen Gestaltwandel: Dieses Sichgestalten von innen her ist eine eigentümliche Seinsweise, die Seinsweise des Lebendigen. Das von innen her Gestaltende wird von Thomas von Aquino als innere Form bezeichnet. Er nennt es im Anschluß an Aristoteles auch Seele, und zwar hier, wo es nur Prinzip des Lebens ist, Lebensseele (anima vegetativa). Aristoteles hat schließlich dafür noch den Namen Entelechie. Und wir verstehen das daraus, daß der Gestaltungsprozeß ein τέλος hat, daß er auf eine bestimmte Gestalt abzielt.²⁵²

Der Begriff der inneren Form mitsamt der Verwicklungen, die sich daraus ergeben, dass Akt und Potenz nicht trennscharf dem Inneren und der Umwelt überschneidungsfrei zugerechnet werden können, gewinnt seine eigentliche Bedeutung nämlich zum ersten Mal in der Explikation der tierischen Seinsweise, in welcher das Innere als verhaltensbildendes und insofern, ontologisch gesprochen, teleologisches Moment aufbricht; das im Begriff der έντελέχεια enthaltene τέλος ist nicht mehr nur ein τέλος der blind durch das Tier hindurchgehenden Natur, sondern auch ein τέλος der Seele des Tieres (Wesensform, ούσία). Die Gestaltung des Körpers wird um die Gestaltung des Körpers in Relation zur Umwelt und zur Umwelt in Relation zum Körper erweitert, soweit eine Gestaltung in der Macht des Tieres steht. Im nicht-harmonistischen Sinne bildet das Individuum mit seiner Umwelt eine Einheit, deren Realisierung Stein als „Leben“ fasst:

 Ebd.  AmP: 38.

3.6 Der „onto-anthropologische“ Stufenbau

169

Wie die körperliche Materie mit ihren Qualitäten den Raum füllt, so das seelische Leben mit dem, was es qualifiziert, die Zeit. Wie die Seele als Entelechie die Zusammenfassung der belebten Materie in die Form des Individuums, zum in sich beschlossenen Organismus, bedingt, so faßt sie auch ihr ,Leben‘ zu einer individuellen Einheit zusammen.²⁵³

Die Aufgabe der Zusammenfassung ihres Lebens zu einer Einheit erwächst der tierischen Seele aus der Komplikation, έντελέχεια sowohl für den Leib (wie im Fall der Pflanze) als auch – aufgrund des „Aufbruchs des Inneren“ – für sich selbst zu sein: Die individuelle Einheit des seelischen Lebens ist einmal dadurch bedingt, daß die Seele nicht nur für den Leib, sondern auch für sich selbst Entelechie ist, d. h. ein Telos in sich trägt, dem ihr Leben zustrebt, und daß sie sich als ein ,Organismus‘ aufbaut, d. h. als ein Ganzes, in dem alle Teile nach einer festen Ordnung zusammenwirken.²⁵⁴

Der „Aufbruch des Inneren“,²⁵⁵ expliziert als eine basale Reflexivität der Seele, die für sich selbst Entelechie ist, gewinnt eine Qualität, die Stein diesen Aufbruch auch als „Durchbruch zur Subjektivität“ bezeichnen lässt: „Der Durchbruch nach innen, der die Tierseele von der Pflanzenseele scheidet, ist ein Durchbruch zur Subjektivität.“²⁵⁶ Letztere Formulierung hat eine signifikante ontologische Bedeutung, wird mit dem Durchbruch zur Subjektivität eine neue Qualität im ontologischen Stufenschema der Natur bezeichnet: Das Leben bricht im Tier zur Subjektivität durch, weshalb Stein die Einführung des Begriffs in einer differentiellen Betrachtung des Verhältnisses des Tieres als Lebensform im Verhältnis zur Lebensform der Pflanze verortet. Dieser „Durchbruch“ enthält im Unterschied zum mehrfach zitierten „Aufbruch“ eine stärkere Akzentuierung der Stellung des Tieres in der Natur und zur Natur (womit die, gleichwohl reflexionslose, Selbstgegebenheit in der Empfindung einhergeht), wohingegen der „Aufbruch“ stärker eine neue Qualität im phänomenologischen Sinne bezeichnet und in der phänomenologischen Analyse der Verhaltensstruktur des Tieres ohne explizite Bezugnahme auf einen ontologischen Aufbau der Natur sich ausmachen lässt. Der „Durchbruch zur Subjektivität“ zeigt sich als ein über ein bloßes Empfinden hinausgehendes reaktiven Verhalten des Tieres, das auf eine Umwelt antwortet, welche es allerdings nicht versteht: „[E]s wird nur ,affiziert‘ und ,reagiert‘

 PuA: 222.  Ebd.  Um die entsprechende Textstelle hier noch einmal zur Vergegenwärtigung anzuführen: „Das, was wir für das Tier gegenüber der Pflanze als wesentlich Neues fanden, war der Aufbruch eines ‚Inneren‘.“ (PuA: 218)  Ebd.: 222.

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3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

in aktuellen und habituellen Stellungnahmen und gelangt auch darin zu einer niederen Vorstufe des intellektuellen Erkennens und Wissens.“²⁵⁷ Es ist ein Wollendes und seelisch Affiziertes, das etwas begehrt und etwas erleiden kann, das über einen Leib statt bloß über einen zwar lebendigen, aber in keiner Selbstempfindung sich nochmals gegebenen Körper verfügt; es verfügt also mit dem Leib zugleich über einen zu einem Seelischen in ein Verhältnis tretenden Körper,²⁵⁸ der in den „Wirkungszusammenhang seiner Umwelt“²⁵⁹ hineingestellt ist – für es existiert jedoch keine Welt, die es sich vergegenständlichend und/oder distanzierend anzueignen vermag. Die Subjektivität, deren Durchbruch die tierische Seinsweise kennzeichnet, ist eine Vorstufe der Personalität, welche mit dem Menschen in die Natur tritt. Um diese geht es im folgenden Abschnitt.

3.7 Der Mensch als Gipfelpunkt des onto-anthropologischen Stufenbaus: Der Durchbruch zur Personalität und zur geistigen Person 3.7.1 Einleitung Dem bereits angeführten Prinzip der Aufhebung gemäß, welches besagt, dass auf einer höheren Seinsstufe die seelischen Qualitäten der niederen Seinsstufen erhalten bleiben, die neue Lebensform aber im Ganzen eine inkommensurable Qualität annehme, die nicht durch das Hinzukommen einer neuen Eigenschaften oder dem additiven Auftreten eines eigenschaftlichen Surplus erklärbar ist, tritt mit dem Menschen ein Lebewesen auf die Bühne der Natur, das aufgehört hat, Tier zu sein, ohne deshalb aus der Natur, welcher das Tier verhaftet bleibt und in gewisser Weise verfallen ist, vollständig herauszutreten: „Zum Wesen des Menschen als solchen gehört die Doppelnatur: geistige Person und leiblich gestaltet zu sein. Als Geist gehört er zur selben Gattung des Seienden wie die anderen ge-

 Ebd.: 223.  „Durch den Leib und im Leibe oder am Leibe trifft die Tierseele alles, was sie trifft.“ (ebd.: 223 f.) – De facto verwendet Stein in Endliches und ewiges Sein auch den Begriff des „Pflanzenleibs“, grenzt ihn aber sachlich klar von der Bestimmung des tierischen Leibes ab, z. B. indem sie in Bezug auf die Pflanze sagt, dass „wir demnach auch die Form nicht als ‚Akt‘ bezeichnen können, sondern nur als etwas ‚Aktuelles‘, d. h. als das, was in dieser so gearteten Pflanze wirklich und wirksam ist und es macht, daß die Pflanze eine so geartete und wirkliche ist“. (EES: 223) An der gleichen Stelle spricht auch von einer bloß „passiven Potenz“ (ebd.) der Pflanze und unterminiert damit systematisch den Begriff des Leibes, den sie nominell verwendet.  Ebd.

3.7 Der Mensch als Gipfelpunkt des onto-anthropologischen Stufenbaus

171

schaffenen Geister. Als leib-körperlich-seelisch gestaltet gehört er zur Gattung der Lebewesen.“²⁶⁰ Diese Doppelnatur ist nicht im Sinne einer Gespaltenheit zu verstehen, als sei der Mensch sowohl Gattungswesen als auch Person, ohne dass die Verbindung zwischen beiden als unexplizierbarer Hiatus hinzunehmen wäre, sondern die Zugehörigkeit zur Gattung der Lebewesen gibt dem Menschen seine Menschwerdung als Aufgabe auf: „Was der Mensch zu formen hätte, das wäre seine ganze animalische Natur. Und das Ergebnis dieser Formung wäre der voll ausgebildete, personal durchgeformte Mensch.“²⁶¹ Die Naturwüchsigkeit, die den Menschen scheinbar an die Natur kettet, welcher er nicht zu entwachsen vermag, ist keine Fessel, sondern durch sie wird die Menschwerdung historisiert – und jedes substanzielle Werden setzt eine Historisierbarkeit des Werdens des Werdenden im Ganzen voraus –, indem sie gedacht wird als eine Entwicklung, die schöpferisch vollzogen werden muss. Die Differenz zwischen dem Menschen und dem Tier gründet in der Spezifik der menschlichen Seele, die Stein auch „Menschenseele“ nennt. Die entscheidende, den Unterschied zwischen Mensch und Tier begründende Eigenschaft dieser Seele ist, dass sie als solche eine geistige Seele bzw. Geist sei: Die Menschenseele als Geist erhebt sich in ihrem geistigen Leben über sich selbst. Aber der Menschengeist ist von oben und von unten bedingt: er ist eingesenkt in das Stoffgebilde, das er zu seiner Leibgestalt beseelt und formt. Die menschliche Person trägt und umfaßt ‚ihren‘ Leib und ‚ihre‘ Seele, aber sie wird zugleich davon getragen und umfaßt.²⁶²

Die Seele wird von Stein jedoch nicht leichthin mit dem Geist identifiziert, sondern der Geist als „Potenz der Seele“ verstanden: „Und wenn man von menschlichem Geist oder Intellekt spricht, so meint man damit eine Potenz der Seele“. ²⁶³ Geist und Intellekt bilden spezifische Potenzen der Menschenseele, die als Seele den universellen Untergrund des Lebendigen, die „,Wesensform‘ (ούσία) der beseelten Körper“,²⁶⁴ bildet, und Seele des Menschen einzig aufgrund des Geistes ist, der als differentia specifica zwischen dem Menschen und dem Tier fungiert. Geist und Intellekt, die in dem zitierten Satz Steins durch das „oder“ mit dem Anschein wechselseitiger Substituierbarkeit ausgestattet werden, können jedoch nicht einfach gleichgesetzt werden.Vielmehr tut sich dem Leser von Steins Schriften ein kompliziertes terminologisches Geflecht auf, da Stein sich einer Reihe philoso-

    

EES: 424. AmP: 80. EES: 310. AmP: 99. EES: 163.

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3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

phiehistorisch schwerbeladener Begriffe bedient, die teilweise nicht streng definitorisch geschieden, aber an zentralen Stellen verwendet werden. Bei diesen Begriffen, deren relationale Bestimmung nötig ist, um den Begriff des Geistes explizieren zu können, handelt es sich neben dem des Geistes um die Begriffe des Verstandes, des Intellekts, der Vernunft und des Bewusstseins. Zunächst zum Begriff des Bewusstseins.

3.7.2 Der Begriff des Bewusstseins Der Begriff des Bewusstseins fungiert bei Stein nicht als philosophischer Fundamentalbegriff in dem Sinne, dass das Proprium des Menschen und die seine Überlegenheit gegenüber dem Tier begründende Dignität im Bewusstsein zu finden wären. Hierin zeigt sich der Vorrang des Einflusses von Thomas von Aquin gegenüber dem Einfluss Husserls, bei welchem Bewusstsein als philosophischer Fundamentalbegriff auftritt und damit als einzig möglicher Ansatzpunkt eines metaphysischen Denkens überhaupt in Frage kommen kann. Stein depotenziert aber den Begriff des Bewusstseins jedoch nicht, indem sie ihn anders als in der Phänomenologie auffasst, sondern gerade dadurch, dass sie das Bewusstsein phänomenologisch ernstnimmt und es auf die Sphären von Wahrnehmung, Erlebnis und Intentionalität beschränkt. So spricht Stein z. B. von der ursprünglichen Erlebnisrichtung, ehe noch ein rückwärts gewandter Blick (eine ,Reflexion‘) –aufmerkend, beachtend, beobachtend oder zergliedernd – dem Erlebnis sich zuwendet, wie die ursprüngliche Form des ,Bewußtseins‘ das Ichleben begleitet, ohne sich als eine besondere ,Wahrnehmung‘ davon abzuspalten und sich ihm zuzuwenden.²⁶⁵

Bewusstsein ist so verstanden „Bewusstsein von“ und als solches gegenständlich gebunden; es ist aber nicht per se das Proprium des Menschen. Dennoch kommt ihm eine spezifische Qualität zu, weshalb Stein unterscheidet zwischen der „niederen Form des dumpfen sinnlichen Spürens“²⁶⁶ und „der höheren des wachen Bewußtseins“,²⁶⁷ den qualitativen Unterschied damit aber innerhalb einer funktionalen Äquivalenz bestimmt. Dies zeigt sich in Steins Bestimmung des tierischen Empfindens als Bewusstsein niederer Stufe: „Empfinden ist Bewußtsein niederer Stufe.“²⁶⁸ Der tierische „Durchbruch zur Subjektivität“ ist an ein

   

Ebd.: 319. Ebd.: 318. Ebd. PuA: 167.

3.7 Der Mensch als Gipfelpunkt des onto-anthropologischen Stufenbaus

173

solches Bewusstsein niederer Stufe gebunden, der Durchbruch zur Personalität ist auf dieser Basis, aber auch der Basis des menschlichen Bewusstseins noch nicht möglich. Denn das Selbstbewusstsein, in dem Empfindungen, wie sie das tierische Leben kennzeichnen, in einer anderen Qualität als beim Tier gegenständlich werden, bleibt schon von seinem Namen her strikt gegenständlich gebunden, was Stein durch die Verwendung des Bindestrichs hervorhebt: „Aber wir könnten unser eigenes Bild nicht in anderen wiederfinden, wenn wir von uns selbst nicht durch eine ursprünglichere, unbildliche Erkenntnis wüßten: durch jenes „,Selbstbewußtsein‘, das unmittelbare Innesein des eigenen Selbst und Seins, das zu unserem Selbst und Sein gehört“.²⁶⁹ Aber das menschliche Selbstbewusstsein bleibt dennoch in doppelter Weise depotenziert: Es ist erstens kein Bewusstsein, das zur Suprematie über das Leben gelangt und sich der Seele zu bemächtigen vermag, sondern eine Qualität seelischen Seins, und es ist zweitens als „unmittelbares Innesein“²⁷⁰ nicht konstitutiv für das seelische Sein als solches. Vielmehr ist das Seelische für den Lebensvollzug des Organismus auch da entscheidend, wo es nicht zum Bewusstsein kommt und somit nicht als Qualität auftritt: „Die Entfaltung und Gestaltung der Seele vollzieht sich großenteils, ohne daß mir etwas davon zum Bewußtsein kommt.“²⁷¹ Wo Leben nicht nur zum Bewusstsein kommt, sondern darüber hinaus verstanden wird, da ist die Vernunft am Werk.

3.7.3 Bewusstsein und Vernunft Die spezifische Reflexivität, die als Potenz der Vernunft das menschliche Leben sowohl bereichert als auch gerade zu einem menschlichen macht, unterscheidet sich fundamental vom Innesein, durch welches Stein das Bewusstsein kennzeichnet: Es gibt also ein Ichleben und ein zugehöriges ,Innesein‘, das kein Begreifen und kein Verstehen seiner selbst ist. Darum kann hier auch von keinem ,Vernehmen‘ die Rede sein und von

 EES: 298.  Die ursprünglichste Form des Bewusstseins ist daher für Stein auch präreflexiver Natur: „Das Woher und diese Schichtenordnung der Seele selbst offenbaren Sich durch das Erleben, das aus ihnen aufsteigt, und in ihm, weil sie sich in ihm öffnen, darin zu ihrem „aktuellen“, gegenwärtiglebendigen Sein gelangen. Das geschieht schon in der ursprünglichen Erlebnisrichtung, ehe noch ein rückwärts gewandter Blick (eine „Reflexion“) – aufmerkend, beachtend, beobachtend oder zergliedernd – dem Erlebnis sich zuwendet, wie die ursprünglichste Form des „Bewußtseins“ das Ichleben begleitet, ohne sich als eine besondere „Wahrnehmung“ davon abzuspalten und sich ihm zuzuwenden.“ (ebd.: 319)  Ebd.

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3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

keiner Vernunft. Denn von Vernunft sprechen wir da, wo eine innere Gesetzlichkeit des Seins herrscht und verstanden ist. […] Vernunftbegabt aber nennt man ein Geschöpf, das die Gesetzlichkeit des eigenen Seins verstehen und sich mit seinem Verhalten danach richten kann. Dazu gehört Verstand als die Gabe des Verstehens und Freiheit als die Gabe, das eigene Verhalten selbst aus sich heraus zu gestalten. Wenn zum Personsein Vernunftbegabung gehört, dann muß die Person als solche Verstand und Freiheit besitzen.²⁷²

Die entscheidenden Hinweise, die dieser Passage für eine Deutung des Vernunftbegriffs zu entnehmen sind, bestehen in der Geschöpflichkeit des vernünftigen Menschen und der Bindung der Vernunft an den Verstand. Stein spricht, wo sie von der Vernunft spricht, zumeist von der Vernunft des als ein natürliches Wesen aufgefassten Menschen, nicht von der Vernunft der Person. Auffällig oft ist daher die Rede vom „Erwachen der Vernunft“,²⁷³ wodurch die Vernunft in eine im weitesten Sinne entwicklungspsychologische Perspektive gerückt wird, was insbesondere die Bezugnahme Steins auf die Kindheit als den vor-vernünftigen Zustand zeigt: „Das Kind wird daran gewöhnt, zu bestimmten Stunden zu schlafen und zu essen, es ,lernt‘ unter Anleitung gehen und ,sprechen‘ (damit ist vorläufig nur gemeint: bestimmte Worte äußerlich nachzubilden), ehe es zur Vernunft erwacht ist, d. h. seinen Willen einsetzen und verstehen kann, was von ihm verlangt wird.“²⁷⁴ Der lebensgeschichtliche Übergang von der Gewöhnung bzw. Dressur zur Vernunft wird zugleich zum sachlichen Übergang vom Kind zum Erwachsenen. Als Zwischenglied fungiert der Verstand, der schon vorhanden sein muss, wo ein Wesen noch kein Vernunftwesen ist, denn dem obigen Zitat zufolge ist das Wesen, zu dem der Verstand gehört, vernunftbegabt, d. h. der Ausbildung der Vernunft fähig, statt ein immer schon vernünftiges Wesen zu sein, jedoch: Es ist in potentia vernünftig vermöge des vor dem Erwachen der Vernunft bereits aktiven Verstandes. Den Verstand bezeichnet Stein daher in Anlehnung an Thomas als die Potenz des Erkennens (synonym verwendet mit dem Intellekt bzw. intellectus), ²⁷⁵ das in actu von der Vernunft vollzogen wird: „‚Verstand haben‘ bezeichnet für uns nicht ,intelligentes esse‘ schlechthin, sondern ,intellegere posse‘: die Möglichkeit zu aktueller Erkenntnis überzugehen“.²⁷⁶ In dieser ontogenetischen Historisierung des Vernunftbegriffs und der Bindung der Vernunft an den Verstand als deren Disposition erweist Stein sich als bemerkenswert modern und schlägt dem Anschein nach den Weg ein, den Jürgen Habermas mit seinem Konzept prozeduraler und kommunikativer Vernunft zu

    

Ebd.: 309. Ebd.: 426 und 201, des Weiteren vgl. ebd.: 372. Ebd.: 361. Vgl. PuA: 103. Ebd.

3.7 Der Mensch als Gipfelpunkt des onto-anthropologischen Stufenbaus

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Ende gegangen ist.²⁷⁷ Habermas beansprucht mit der Prozeduralisierung und Ausdifferenzierung des Vernunftbegriffs, dessen Begründung er bei Kant ausmacht,²⁷⁸ einen „unverkürzten Begriff der Vernunft zu rekonstruieren“.²⁷⁹ Aus Steins Sicht muss Habermas’ Vernunftbegriff aber gerade in seiner produktiven Aneignung und Verarbeitung wissenschaftlicher Entwicklungen als verkürzend erscheinen, da Stein Vernunft sowohl im Sinne eines naturwüchsigen und in der Individuation zu entwickelnden Vermögens verwendet, dabei aber die Fassung des Vernunftbegriffs, wie er bei Thomas von Aquin maßgebend ist und von Stein in der bereits abgehandelten Unterscheidung zwischen philosophischer und theologischer Anthropologie zum Tragen gekommen ist, ebenfalls beibehält. Die natürliche Vernunft bildet in der thomasischen Tradition den Ermöglichungsgrund des Übergangs zur Glaubenswahrheit gerade dadurch, dass sie in der vernunftgemäßen Erkenntnis an Grenzen stößt, die, wie die Vernunft einzusehen imstande ist, im Glauben überschreitbar werden. Der Begriff der Vernunft führt in das Zentrum von Steins philosophischer Anthropologie, weil der Mensch, sofern er geistige Person ist, mittels der Vernunft als dem Abbild des göttlichen Logos erkenne: „Der Mensch ist nur durch Gott, und ist, was er ist, durch Gott. Weil er Geist ist und weil er als Geist mit dem Licht der Vernunft, d. h. mit dem Abbild des göttlichen Logos ausgerüstet ist, kann er erkennen.“²⁸⁰ Weil der Mensch, als Vernunftwesen aufgefasst, zugleich als Gat-

 Habermas begreift das durch die modernen Erfahrungswissenschaften inaugurierte Schicksal der aufs Ganze gehenden und das Ganze als solches zu erfassen strebenden Vernunft, die als adäquates Organ von Totalität auftritt, als Chance, Vernunft entsubstanzialisiert und prozedural als Grundlage einer vernünftigen Einrichtung der Gesellschaft zu fassen: „Die Rationalität schrumpft zur formalen insofern, als sich die Vernünftigkeit der Inhalte zur Gültigkeit der Resultate verflüchtigt. Diese hängt ab von der Vernünftigkeit der Prozeduren, nach denen man Probleme zu lösen versucht – empirische und theoretische in der Gemeinschaft der Forscher und im organisierten Wissenschaftsbetrieb, moralisch-praktische Probleme in der Gemeinschaft der Bürger eines demokratischen Staates und im Rechtssystem.“ (Habermas 1992: 42) Zum evolutionären Status der prozeduralen Rationalität vgl. ebd.: 44. Zur begrifflichen Fassung vgl. Habermas 1982: 109 f.  Vgl. dazu Habermas’ Kant-Charakteristik in Die Philosophie als Platzhalter und Interpret: „Die Transzendentalphilosophie erschöpft sich nicht in Erkenntnistheorie. Die Kritik der reinen Vernunft übernimmt mit der Analyse der Grundlagen der Erkenntnis auch die Aufgabe einer Kritik des Mißbrauchs unseres auf Erscheinungen zugeschnittenen Erkenntnisvermögens. Kant setzt anstelle des substantiellen Vernunftbegriffes der metaphysischen Überlieferung den Begriff einer in ihre Momente auseinandergetretenen Vernunft, deren Einheit nurmehr formalen Charakter hat.“ (Habermas 1996: 10) Und noch schlagender: „In Kants Begriff einer formalen und in sich differenzierten Vernunft ist eine Theorie der Moderne angelegt.“ (Ebd: 11 f.)  Habermas 1984: 605.  AmP: 9 f.

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3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

tungswesen und in seiner Verbundenheit mit dem göttlichen λόγος zum Gegenstand von Steins Betrachtung wird, führt der Begriff der Vernunft nicht nur ins Zentrum der Lehre vom Menschen, sondern zugleich über philosophische Anthropologie hinaus und in die theologische Anthropologie hinein. Die Zusammengehörigkeit von Vernunft und Geist wird von Stein in Bezug auf die Geistnatur der göttlichen Person artikuliert, welcher der Personbegriff seinen Ursprung verdanke.²⁸¹ Sie findet ihren Ausdruck in der Behauptung, dass wenn die menschliche Person „als Träger einer vernunftbegabten Natur bezeichnet wurde, so scheint auch damit ihre Geistnatur ausgesprochen zu sein, denn ,Geist‘ und ,Vernunft‘ scheinen untrennbar zueinander zu gehören“.²⁸² Obwohl die Abgrenzungen zwischen Vernunft und Geist Klarheit und Trennschärfe missen lassen,²⁸³ kann der Versuch einer Unterscheidung getroffen werden. Sowohl die Vernunft als auch der Geist spielen eine entscheidende Rolle in der Bestimmung der Beziehung des Menschen zu Gott, aber auf grundlegend unterschiedliche Weise. Stein definiert, darin Thomas folgend, Gott als reinen Geist,²⁸⁴ Person und Urbild des endlichen Personseins zugleich: „Das göttliche Personsein ist Urbild alles endlichen Personseins.“²⁸⁵ Die Begriffe des Geistes und der Person verbinden den Menschen seinem Was-Sein nach per hiatum mit Gott, indem an ihnen das Verhältnis zwischen Urbild und Abbild ontologisch bestimmt wird; der Begriff der Vernunft tut dies nicht und kann dies nicht tun, sondern bildet ein kognitives Vermittlungsglied, das zwar auch abbildlich auf den göttlichen λόγος bezogen bleibt, aber nicht zur Bestimmung des Was-Seins herange-

 „Geschichtlich läßt sich zeigen, daß das Bemühen, die Offenbarungslehre von der Allerheiligsten Dreifaltigkeit begrifflich zu fassen, Veranlassung zur Bildung der philosophischen Begriffe ‚Hypostase‘ und ‚Person‘ gegeben hat. Damit war etwas Wesentliches nicht nur für das Verständnis der Offenbarung von der Dreipersönlichkeit Gottes, sondern auch für das Verständnis des menschlichen Seins und des DinglichWirklichen überhaupt gewonnen. Von dieser Seite her wollen wir nun auch versuchen, die Offenbarung für die Erkenntnis des endlichen Seins fruchtbar zu machen.“ (EES: 303)  Ebd.: 307.  In ihrer populär gehaltenen Vorlesung Der Aufbau der menschlichen Person lässt Stein Vernunft und Geist, deren Differenz hier gerade herausgearbeitet werden soll und auf der Basis ihrer theoretisch anspruchsvolleren Schriften Kontur gewinnt,wieder ineinanderlaufen, indem sie die Vernunft der Geistnatur zuschlägt: „Die Geistnatur des Menschen – Vernunft und Freiheit – verlangen Geistigkeit des pädagogischen Aktes: ein dem stufenweisen Erwachen der geistigen Aktivität Rechnung tragendes Miteinanderwirken von Erzieher und Zögling, bei dem die führende Tätigkeit des Erziehers mehr und mehr der Eigentätigkeit des Zöglings Raum gibt, um ihn schließlich ganz zur Selbsttätigkeit und Selbsterziehung übergehen zu lassen.“ (AmP: 14)  Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass Gott auch als „reines Sein“ und als „reiner Akt“ bestimmt wird, vgl. PuA: 269. Zur Bestimmung Gottes als „reiner Geist“ vgl. AmP: 101 und 115.  EES: 299.

3.8 Der Mensch als lebendiges Geistwesen

177

zogen wird, sondern zur engeren – gleichwohl das Sein des Menschen als solchen wesentlich mitbestimmenden – Bestimmung des Was des Erkanntwerdenkönnens. Weil der menschliche λόγος ein Abbild des göttlichen λόγος ist, kann die Vernunft als Organ einer rationalen Theologie und der Erkenntnis von Glaubenswahrheiten fungieren, aber sie bildet nicht den Kern der analogia entis- Lehre, welche auf die Frage antwortet, inwiefern dem Menschen eine Geistnatur zukommen könne, wenn doch Gott per definitionem ein rein Geistiges sei. Die Vernunft kann nicht im ontologischen Sinn als „Analogon des reinen Seins“²⁸⁶ in Betracht kommen, da sie als erworbene Fähigkeit eines natürlichen Wesens im Sinne der Naturwüchsigkeit historisiert worden ist. Sie ermöglicht zwar die metaphysische Erkenntnis, aber der ontologische Status des Menschen als zwischen die Natur und Gott gespanntes Wesen wird vom Verhältnis von Geist und Seele her bestimmt: „Die Geistnatur der Seele ist für ihre Vereinigung mit Gott (d. h. für ihr Gnaden- und Glorienleben) vorausgesetzt. Sie erhebt sich damit zu einem Sein, das dem der reinen Geister an die Seite zu stellen ist. Daß es aber eine ,Erhebung‘ ist, das scheidet sie von den reinen Geistern.“²⁸⁷

3.8 Der Mensch als lebendiges Geistwesen. Die Doppelnatur des Menschen und die Trias von Leib, Seele und Geist 3.8.1 Die Seele als Mitte Stein bestimmt, wie bereits angesprochen, die menschliche Natur fundamental als Doppelnatur: „Zum Wesen des Menschen als solchen gehört die Doppelnatur: geistige Person und leiblich gestaltet zu sein.“²⁸⁸ Obwohl die Definition der Doppelnatur von fundamentaler Bedeutung ist, spricht Stein von der Trias von Leib, Geist und Seele. Nicht der Geist allein bildet das Prinzip des Aufstiegs vom Tier zum Menschen als der nächsthöheren Stufe der Natur, sondern die Seele, genauer die Menschenseele, welche als solche die Erhebung zum Geist bedeute: „Der Aufstieg von der Tierseele zur Menschenseele war bezeichnet als Erhebung zum Geist.“²⁸⁹ Damit stellt sich die Frage, wie die Seele als Prinzip des Aufstiegs vom Tier zum Menschen und damit als Prinzip einer ontologischen Differenz

   

PuA: 269. EES: 387. Ebd.: 423. PuA: 168.

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zwischen Lebensformen, die zugleich Seinsstufen²⁹⁰ sind, sich zum Geist verhält, mittels dessen ebenfalls die Differenz nicht nur zwischen Mensch und Tier, sondern zwischen der menschlichen bzw. geistigen Person und ihrem Leib und damit ihrer organischen Natur elaboriert wird. Das Verhältnis von Seele und Geist zeigt sich vor allem in ihrem jeweiligen Verhältnis zur Natur: Die Menschenseele ist als solche die Seele eines Lebewesens, die es von anderen Lebewesen wie den Tieren unterscheidet; sie steht somit für die Kontinuität im Bruch, während der Geist vor allem den Bruch innerhalb der Natur bezeichnet. Im Unterschied zum Dualismus kann die Seele nur als „Mitte“ und Prinzip der Vermittlung des Geistes mit dem Leib Zusammenhang stiften: Und die Seele ist hier ,Mitte‘ in einem neuen Sinn: die Vermittlung zwischen Geistigkeit und Leib-Sinnenhaftigkeit. Es ist aber die überlieferte Dreiteilung Leib-Seele-Geist nicht so zu verstehen, als sei die Seele des Menschen ein drittes Reich zwischen zwei ohne sie und unabhängig voneinander schon bestehenden: in ihr selbst treffen Geistigkeit und Sinnenhaftigkeit zusammen und sind ineinander verflochten.²⁹¹

Die Seele qua Mitte ist im doppelten Sinne für den Menschen wesenskonstitutiv, nämlich in einem vitalen und in einem personalen Sinne. Im vitalen und elementaren Sinn ist die Seele – und hier schließt Stein wiederum direkt an ConradMartius an²⁹² – zunächst generell die „Seinsmitte des Lebewesens“ ²⁹³ (Hervorhebung, S. E.). Diese „Seinsmitte des Lebewesens“ bestimmt Stein auch als „Seinsmitte der lebendigen Stoffgebilde“;²⁹⁴ gemeint ist damit nicht die räumliche Mitte eines Dinges, sondern, phänomenologisch gesprochen: die Mitte als Gestalteinheit eines lebendigen Dinges; scholastisch gesprochen: die Form und Seele dieses lebendigen Dinges, welche den Unterschied zwischen Dinglichem und Lebendigem ausmacht: Als stoffüberlegene Form, lebendige Form oder Seele haben wir das in der Gestaltung der Lebewesen Wirksame angesprochen, das sich als ,Mitte‘ einer Gestalteinheit auswirkt: sie selbst von innen her umgrenzend und abschließend, bereits vorhandene Stoffe zu ihrem

 Vgl. EES: 234 und 232, PuA: 104 und 271, wo jeweils Potenzialität als Seinsstufe aufgefasst wird.  EES: 316.  Zur Anknüpfung an Conrad-Martius vgl. EES: 236 f. – Obwohl Stein auf alle Fälle systematisch und meist nominell an Conrad-Martius anschließt, wo von der Seele als „Mitte“ die Rede ist, zitiert sie in einer Fußnote aus Alexander Pfänders 1933 erschienenem Buch Die Seele des Menschen eine Passage, in welcher ebenfalls die Seele als Mitte angesprochen wird. Vgl. ebd.: 318.  Ebd.: 314.  Ebd.: 315.

3.8 Der Mensch als lebendiges Geistwesen

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Aufbau in sich aufnehmend und umformend, schließlich neue selbständige Gebilde derselben Art aus sich hervorbringend. Hier ist Formung Leben als Eigenbewegung. ²⁹⁵

Das aristotelisch-scholastische Gedankengut (Form, Seele) verschmilzt hier begrifflich mit dem spezifisch modernen Begriff der „Mitte“, den Stein ConradMartiusʼ Metaphysischen Gesprächen entnommen hat. Wiederum auf ConradMartius sich beziehend, sagt Stein, dass reine Stoffnaturen keine „eigene ,Mitte‘“²⁹⁶ und daher keine „Potenz zum eigenen Sein“²⁹⁷ hätten. Greifen wir hier die ontologische Terminologie auf, wie Stein sie in der Bestimmung des pflanzlichen Seins entwickelt hat, so ist die Mitte zugleich ενέργεια ον und εντελέχεια, das Einzelne Bewegendes (nicht das einzelne sich Bewegende) und Bewegung zweckmäßig Organisierendes. Das Lebendige als ein sich aus toten Stoffen, die in der Umwelt vorhanden sind, Formendes und organisch Aufbauendes, hat eine Mitte; Stein nennt diese Mitte „Lebensmitte“ und das Eigentümliche der Seele: „Lebensmitte zu sein ist demnach das Eigentümliche der Seele.“²⁹⁸ Bei den Tieren und Menschen findet in durchaus verschiedener Qualität darüber hinaus eine Formung des Leibes von einer Mitte her statt, d. h. die Mitte tritt als Zentrum in ein Verhältnis zum Leib, auf den sie organisierend einwirkt und von dem sie Wirkungen empfängt, weshalb Stein zufolge „die Tier- und Menschenseele darüber hinaus Wesensgrundlage eines ,inneren‘ Lebens sind“.²⁹⁹ Einzig beim Menschen wird dieses innere Leben sich selbst gegenständlich, weshalb gemäß dem Gesetz der Aufhebung der früheren ontologischen Stufen im höherstufigen Seinsgebilde die Menschenseele als anima vegetativa und als Geist auftrete: Die Menschenseele als Geist erhebt sich in ihrem geistigen Leben über sich selbst. Aber der Menschengeist ist von oben und von unten bedingt: er ist eingesenkt in das Stoffgebilde, das er zu seiner Leibgestalt beseelt und formt. Die menschliche Person trägt und umfaßt ,ihren‘ Leib und ,ihre‘ Seele, aber sie wird zugleich davon getragen und umfaßt.³⁰⁰

Die doppelte Bedingtheit des Menschengeistes entspricht der doppelten Gestalt der Menschenseele als einer vitalen („von unten“ bedingten) und einer personalen („von oben“ bedingten).

     

Ebd.: 358. Ebd.: 236. Ebd.. PuA: 160. EES: 218. EES: 310.

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Es sei hier angemerkt, dass Stein die Bestimmung der Seele als Mitte dem Plessner’schen Begriff der Mitte stärker annähert, als dies bei Conrad-Martius der Fall ist, auf die Stein sich in ihren Ausführungen zur Mitte stets bezieht. Stein fasst die Differenz zwischen dem persönlichen und dem personalen Leben in ihrer Erläuterung von Passagen Conrad-Martius’ klar als anthropologische Differenz: „Wenn hier [bei Conrad-Martius, S. E.] von einem ‚persönlichen Leben‘ des Tieres gesprochen wird, so wird ihm doch noch keine Personalität und keine ‚persönliche Seele‘ zuerkannt.“³⁰¹ Bei Conrad-Martius aber tritt die Seele grundlegend als anima vegetativa auf, ist als solche aber bereits auf das im strengen Sinne nur vom Menschen realisierte τέλος der Personalität hin angelegt; so fragt in den Metaphysischen Gesprächen Montanus, ob die „Seele nicht als ein rechtes Zentrum oder als eine eigentliche Mitte für die Totalität des gestalteten und aufgebauten Ich“³⁰² sich darstelle. Zwar spricht Conrad-Martius in dem oben angeführten Zitat vom Ich statt von der Person, doch der Personbegriff ist in den Metaphysischen Gesprächen allgegenwärtig, und zwar in einer solchen Ubiquität, dass Personalität nicht als Humanspezifikum aufgefasst wird, sondern von der Unterordnung der Natur unter personale Zwecke bei Mensch und Tier die Rede ist: „Ist nicht die Pflanze dazu geschaffen, dass sich in ihr einmal die plastische oder wenn man so will auch künstlerische Seite der Natur frei und erschöpfend ergehen kann – die beim Tier und beim Mensch ändern, personalen Zwecken untergeordnet werden muß.“³⁰³ Diese großzügige Einschätzung des Tieres wird zwar durch die Verwendung von Anführungszeichen abgeschwächt, wo Conrad-Martius von der „zu einer Art personalen ,Einheit‘ zusammengefaßte[n] Einheit des Tieres spricht“,³⁰⁴ doch die terminologische Grenzüberschreitung, die zugleich eine Grenzverwischung darstellt und Conrad-Martius’ philosophische Anthropologie von der Plessners irreduzibel unterscheidet, bleibt in der weiten Fassung des Attributs „personal“ erhalten. Schon bei Conrad-Martius findet also der Begriff der Mitte nicht nur Verwendung, um die Differenz zwischen bloß Stofflichem und Lebendigem, sondern auch zwischen dem Lebendigen und dem Personalen zu bezeichnen. Stärker auf die personale Sphäre zielt allerdings der engere Begriff der Mitte, d. h. der personalen Seele, bei Stein; die Seele in diesem Sinne meint nicht mehr die Mitte des lebendigen Dings als Gestalteinheit, sondern die „Mitte des ganzen leiblich-seelischen-geistigen Gebildes, das wir ,Mensch‘ nennen“³⁰⁵ und dessen Kennzeich-

    

PuA: 161. Conrad-Martius 1921: 39. Ebd.: 24. Ebd: 13. Stein 2006b: 501.

3.8 Der Mensch als lebendiges Geistwesen

181

nung nötig sei, um „im Stufenbau des Seienden die Eigentümlichkeit des menschlichen Seins herauszuarbeiten“.³⁰⁶ Ist die menschliche Seele die „Mitte des ganzen leiblich-seelischen-geistigen Gebildes“, so kommt sie nicht zu Leib und Geist hinzu; Leib und Geist sind keine von ihr unabhängig existierenden Entitäten, sondern vielmehr bildet die Seele das Gravitationszentrum des menschlichen Seins: „Der Mensch ist aus einer Bildungswurzel dreifach gestaltet: Zum Geist ist er erhoben, durch den Leib in die äußere Welt hineingestaltet, in der Seele aber ist er recht eigentlich zu Hause. Sie ist die Mitte seines Seins, aber er lebt daraus wie aus einem jenseitigen Grunde, denn niemals geht die Seele ganz in die Aktualität des Lebens ein“.³⁰⁷ In der Seele zu Hause seiend, ist der Mensch von der Seele als der „Seinsgrundlage des aktuellen Lebens“³⁰⁸ her zum Geist erhoben, durch den er wiederum erhoben ist zu Gott und durch den er sein seelisches Sein transzendiert, ohne aus ihm, und das heißt auch: aus seiner Geschöpflichkeit herauszugelangen. Stein bestimmt die Menschenseele an anderer Stelle auch als „nicht nur ein Mittleres zwischen Geist und Stoff, sondern ein geistiges Geschöpf, nicht nur ein Gebilde des Geistes, sondern bildender Geist“. ³⁰⁹ Wie das Mittlere zwischen Geist und Stoff selbst ein Geistiges sein kann, klärt sich in den weiteren Ausführungen nicht auf, sondern wird zunehmend unklarer, da „ihre [der Seele, S. E.] Geistigkeit selbst die Spuren der Stoffgebundenheit an sich trägt, schließlich weil sie verborgener Grund ist, aus dem das geistige Leben aufsteigt, darum ist sie gattungsmäßig von den reinen Geistern unterschieden“.³¹⁰ Die „Spuren der Stoffgebundenheit“, welche die Menschenseele gattungsmäßig von den reinen Geistern (als welche definitorisch und im Plural die Engel fungieren) unterscheidet, überblenden durch die metaphorische Verharmlosung des Stofflichen („Spuren“), dass gerade diese Spuren die Seele zu einem „verborgenen Grund“ machen, da sonst ein reiner Geist nur seiner selbst ansichtig werden müsste. In Potenz und Akt verwendet Stein den ebenfalls auf eine Unergründlichkeit der Seele und damit unseres Lebensgrundes zielenden Begriff des „jenseitigen Grundes“, um die Seele des Menschen zu charakterisieren: „Sie ist die Mitte seines Seins, aber er lebt draus wie aus einem jenseitigen Grunde, denn niemals geht die Seele ganz in die Aktualität des Lebens ein.“³¹¹ Die „Menschenseele als Geist“, von der oben die Rede war, ist also auch als Geist nicht ‚gattungsrein‘. Weil sie kein reiner Geist und damit keine reine Ak-

     

Ebd. PuA: 158. Ebd. EES: 360. Ebd.: 360 f. PuA: 158.

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3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

tualität sein kann, ist der Begriff der Potenz in der Bestimmung der Seele von zentraler Bedeutung. In die Aktualität des Lebens geht die Seele niemals „ganz“ ein, weil die Kehrseite und Grenze der Aktualität des seelischen Lebens die Gespaltenheit der Seele in Potenz und Akt ist. Die Seele bildet nicht nur die Seinsgrundlage des aktuellen Lebens, sondern als solche auch die Seinsgrundlage des Geistes, zu dem der Mensch erhoben ist, ohne in dieser Erhebung aus seinem Verankertsein im Leben heraustreten zu können. Doch nicht nur die Seele zerfällt in Aktualität und Potenzialität, auch den Geist selbst bestimmt Stein als Potenzialität: Der Mensch, das gesamte leiblich-seelische Individuum, ist über das Tier erhoben und damit über sich selbst, soweit er Tier ist, erhoben durch etwas, das in ihm ist: das personal gestaltete Ich mit seiner Verstandes- und Willensaktualität und der zugehörigen Potentialität: ,Geist‘ (,mens‘, im Unterschied zu ,intellectus‘ und zu ,anima‘) im Sinne der höchsten Form der Geistigkeit, und doch in diesem Sinne nicht ,reiner Geist‘, weil jenem leiblich-seelischen Ganzen eingesenkt und verhaftet, das für sich nicht durchsichtig und nicht frei und auch für den Geist nicht unbegrenzt durchschaubar und beherrschbar ist.³¹²

Eine konzise Bestimmung des Geistes als Potenzialität bedarf daher einer Betrachtung des Geistes in seinem Verhältnis zur selbst wiederum Potenzialität und Aktualität seienden Seele.

3.8.2 Leib und Seele als ontische und ontologische Ermöglichungsbedingungen Um das Verhältnis von Geist und Seele bestimmen zu können, muss noch einmal genauer gefragt werden, ob und inwiefern die „Spuren der Stoffgebundenheit“ der Seele nicht nur als zu verzeichnendes ontologisches Faktum festgehalten werden müssen, sondern darüber hinaus die Genesis der „Menschenseele als Geist“ und damit das Verhältnis von Seele und Geist auch ontisch betreffen. Denn sowohl die Formung des Leibes als auch die der Seele haben eine Geschichte und sind damit einer genetischen Perspektive prinzipiell, wenn auch nicht erschöpfend, zugänglich: Die Formung des Leibes und der Seele geschieht zunächst – d. h. vor der Geburt und in der ersten Lebenszeit – ähnlich wie beim Tier – als unwillkürliches Geschehen. Diese unwill-

 Ebd.: 170.

3.8 Der Mensch als lebendiges Geistwesen

183

kürliche Formung hört während des ganzen Lebens nicht auf, es tritt ihr aber eine andere zur Seite, greift in sie selbst ein und gewinnt ihr Boden ab, sobald die Erziehung einsetzt.³¹³

Wenn Leib und Seele in der Erziehung einer Formung unterliegen, werden die Grenzen zwischen der Ontologie und der Entwicklungspsychologie eingerissen, ohne dass die Ontologie in der Entwicklungspsychologie aufginge, da sie begrifflich bereitstellt (ihre Validität und Reliabilität der Einfachheit halber vorausgesetzt), was eine jede Betrachtung der Seinsweise des Menschen erst ermöglicht. Die Formung von Leib und Seele unterscheidet Stein von der „persönlichen Formung“, die erst möglich werde, „wenn das eigentliche Geistesleben beginnt: wenn das Ich ,erwacht‘ und seiner selbst im vollen Sinne bewusst ist – ein Bewusstsein, das in echtes Verstehen des eigenen Lebens und alles begegnenden Sinnes übergehen kann“.³¹⁴ Seele und Geist werden gleichermaßen in eine entwicklungslogische Perspektive gerückt, indem ihnen Erziehung, die im und durch den Erziehungsprozess erwachende Vernunft³¹⁵ sowie die Ausbildung eines Selbstbewusstseins des Ich als Ermöglichungsbedigungen vorgeordnet werden. Dennoch enthebt Stein wenige Zeilen später die Seele der mit dem Leib geteilten Bedingtheit und erklärt sie zur Ermöglichungsbedingung der Formung des Leibes: Möglich wird solche freie Formung dadurch, daß auch hier die Seele die Form des Leibes ist, deren Verhalten sich natürlicherweise im Leib ausdrückt, daß aber in dieser Seele das Ich wohnt, daß ihre Verhaltungsweisen sein Leben sind, daß es sie – in einem gewissen Umfang – selbst hervorrufen und in noch weiterem Umfang unterdrücken, in der Entstehung hemmen kann. Auch das Hineinwirken in den Leib kann willkürlich in Angriff genommen und gehemmt werden. […] Das ermöglicht die willkürliche Gestaltung des Leibes.³¹⁶

Wie die – wenn auch nur spurenhaft – stoffgebundene und ihrer eigenen Genesis nicht mächtige Seele der Genesis dessen sich bemächtigen können soll, was dem gleichen Gestaltungsprozess – der Erziehung – unterworfen ist,vermag Stein nicht klarzumachen. Die entwicklungslogische Perspektive wirft auch insofern Probleme auf, als Stein zufolge die Person „sich beständig wandelt, obwohl der Kern, der von innen her den ganzen Gestaltungsprozess bestimmt, sich nicht in dieser Weise gestaltet und wandelt“.³¹⁷ Stein steht hier vor dem Problem, einsichtig machen zu müssen, wie im Werden das Werdende zu dem werden kann, was es schon ist. In ihrer Vorlesung Der Aufbau der menschlichen Person gesteht Stein die

    

EES: 360. Ebd.: 361. Vgl. ebd. Ebd.: 361. PuA: 122 f.

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3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

Unlösbarkeit dieses Problems ein, das sie zunächst als faktischen Sachverhalt formuliert, um dann die Unbegreiflichkeit dieses Sachverhalts durch die natürliche Erkenntnis und die Notwendigkeit eines Sprungs ins Transzendente einzugestehen: Das Individuum ist nicht erst Pflanze, dann Tier, dann Mensch, sondern vom ersten Augenblick seines Daseins an Mensch, wenn auch das spezifisch Menschliche erst in einem gewissen Entwicklungsstadium sichtbar zu Tage tritt. So wird man auch sagen müssen, daß die geistige Seele vom ersten Moment des menschlichen Daseins an existiere, wenn auch noch nicht zu aktuellem, personalgeistigem Leben entfaltet. […] Daß sie [die Seele, S. E.] ihr Dasein in einem materiellen Leib beginnt, ist nur als ein Faktum hinzunehmen: Es ist weder aus dem Wesen der Materie noch aus dem Wesen des Geistes zu begreifen. Hier ist einer jener Punkte, wo die natürliche Erkenntnis versagt und nur ein Sprung ins Transzendente das Unbegreifliche begreiflich macht.³¹⁸

Was später „sichtbar zu Tage tritt“ ist bereits vorhanden, aber „noch nicht“ entfaltet. Das Sein der Menschenseele und die sichtbare Entwicklung derselben im personalen Leben treten im Leben des Menschen also ontisch auseinander; ontologisches Faktum ist Stein zufolge aber, dass die Seele die Form des Leibes sei. In dem die klassische Ontologie belastenden Auseinandertreten des Ontischen und des Ontologischen spiegelt die zu Steins Lebzeiten sich vollziehende Suprematieerlangung der Psychologie gegenüber Philosophie und Theologie wider.

3.8.3 Der phänomenologisch-ontologische Zugang zum geistigen Leben der Person Nicht nur die Bestimmung des Verhältnisses von Leib und Seele ist von einer Ambivalenz geprägt, die sich aus Steins historischem Standort ergibt, und von der gegenüber ihrer historisch-systematischen Leitfigur Thomas von Aquin veränderten Bewusstseinslage gekennzeichnet; auch auf den Begriff der Person trifft dies zu. In dem oben angeführten Zitat verwendet Stein nicht den von Scheler maßgeblich geprägten Begriff der Person, sondern den Begriff des Ich, der in Husserls Phänomenologie eine tragende Rolle spielt. Wie zum Beginn dieses Kapitels in der Hinführung zum Begriff der Person gezeigt, versteht Stein das menschliche Ich als personales Ich. Der spezifische systematische Ort des Ichbegriffs ist die Intentionalität: „Der intentionale Akt scheint zwei Pole zu haben: einen Ichpol und einen Gegenstandspol.“³¹⁹ Innerhalb dieser Relation konstituiert

 AmP: 132.  PuA: 125.

3.8 Der Mensch als lebendiges Geistwesen

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sich das geistige Leben der Person: „Wir haben das geistige Leben durch die Intentionalität charakterisiert: Die Person ist darin einem Gegenständlichen zugewendet, ihr Akt zielt darauf hin.“³²⁰ Diese Bestimmung des Geistes, die den Ausgangspunkt der Bestimmung des Geistigen in Potenz und Akt (1931) bildet, erfährt in Steins Hauptwerk Endliches und ewiges Sein (1937) eine andere Akzentuierung. Die phänomenologische Orientierung wird nicht aufgegeben, aber die ontologische Abhebung des Geistes als eine „innere Mitte“ von allem Stofflichen rückt in das Zentrum der Aufmerksamkeit: Das Geistige hat ein ,Inneres‘ in einem Sinn, der dem Räumlich-Stofflichen durchaus fremd ist.Wenn es ,aus sich herausgeht‘ – das geschieht auf mannigfache Weise: als Zuwendung zu Gegenständen (das, was Husserl die ,Intentionalität‘ des geistigen Lebens nennt), als rein geistiges Sicherschließen für fremde Geister und verstehendes und mitlebendes Eingehen in sie; aber auch als Sichhineingestalten in den Raum (durch die Gestaltung des Leibes und bildendes Gestalten fremder Stoff) –, so bleibt es doch darum nicht weniger in sich selbst.Von dieser inneren Mitte aus gestaltet es sich und schließt alles, was es ist und was es sich zueignet – in einer Zueignung, die wiederum nur dem Geistigen möglich ist -, zur Einheit zusammen.³²¹

Dem geistigen Leben, das als Leben einer Person in Leib und Seele eingesenkt ist, ist aber umgekehrt nicht mit phänomenologischer Genügsamkeit analytisch beizukommen, wie die Rede von dem als „Gestaltung des Leibes“ sich materialisierenden „Sichhineingestaltens in den Raum“ zeigt; die Phänomenologie muss durch die Begriffe von Leib und Seele zur Ontologie erweitert werden: „Vor allem ist eine ausreichende Analyse der menschlichen Person nicht möglich vom rein Geistigen her, sondern erst, wenn man ihre Gestaltung in Leib und Seele in Betracht zieht.“³²² Die Phänomenologie kann zwar ein Instrumentarium zur Analyse der intentionalen Struktur des Geistigen bereitstellen und eine phänomenologische Freilegung der „Gehalte, in deren Erleben die Person lebt“,³²³ ermöglichen, sie kann aber weder im „rein geistige[n] Sicherschließen für fremde Geister und verstehende[n] und mitlebende[n] Eingehen in sie“,³²⁴ von dem Stein spricht, dem Problem der Intersubjektivität³²⁵ anders als in prinzipiell subjektphilosophischer

 Ebd.: 125. – An anderer Stelle: „Geistiges Leben war uns gleichbedeutend mit Intentionalität, ‚Akte‘ mit aktueller Zuwendung zu einem Objekt.“ (ebd.: 168)  EES: 192 f.  PuA: 147.  Ebd.: 124.  EES: 192.  Stein hat 1916 in ihrer Dissertation Zum Problem der Einfühlung das Intersubjektivitätsproblem mittels des Geistbegriffs zu lösen versucht. Wir hätten, so Stein in ihrer Dissertation, „indem wir den fremden Leib als Orientierungszentrum der räumlichen Welt auffaßten, […] das zugehörige

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3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

und „intermonadischer“³²⁶ Weise sich stellen, noch kann sie die Substanz des Geistigen und des geistigen Lebens der Person erschließen, weil sie den „jenseitigen Grund“,³²⁷ aus dem heraus diese lebt, in der phänomenologischen Fassung der Intentionalität aus dem Blick verliert. Eine Passage in Potenz und Akt zeigt allerdings deutlich, wie das epistemologische Erbe trotz der häufigen Rekurse auf Husserl gerade da ontologisch unterlaufen wird, wo direkt an es angeknüpft wird; mit einer Formulierung aus Plessners Macht und menschliche Natur ließe sich sagen, dass erst in der ontologischen Sprengung der Erkenntnistheorie die „Durchgegebenheit in das Andere seiner selbst“³²⁸ sichtbar wird: „Subjekt und Objekt sind die beiden möglichen Gegenstandsformen. Der Unterschied ist kein logischer (logisches Subjekt können beide sein), sondern ein ontologischer. Subjektivität ist die ursprüngliche Gegenstandsform des Geistigen. Geistiges Objekt sein als Dasein für ein Subjekt ist demgegenüber etwas Abgeleitetes.“³²⁹ In dieser ontologischen Überschreitung der Phänomenologie, die gerade dann

Ich als geistiges Subjekt hingenommen, denn wir haben ihm damit ein objektkonstituierendes Bewußtsein zugeschrieben, die Außenwelt als sein Korrelat betrachtet; alle äußere Wahrnehmung vollzieht sich in geistigen Akten. Desgleichen sie wir mit jedem Einfühlungsakte im wörtlichen Sinne, d. h. mit jedem Erfassen eines fühlenden Aktes, bereits in das Reich des Geistes eingedrungen.“ (Stein 2008: 108) Stein behauptet also ein „Hineinreichen des Geistes in die physische Welt, ein ,Sichtwerden‘ des Geistes im Leibe, ermöglicht durch die psychische Realität, die den Akten als Erlebnissen eines psychophysischen Individuums zukommt, und die Wirksamkeit auf die physische Natur in sich schließt.“ (ebd.: 109) Das Verstehen wird unter dieser Voraussetzung und gemäß der angesprochenen Trias von Innenwelt, Außenwelt und Überwelt statt Mitwelt als die Begegnung zwischen zwei Innenwelten, deren eine innerhalb der Außenwelt (der Andere) begegnet. In Potenz und Akt handelt Stein auch das Verstehen der Tiere durch den Menschen ab (das Verstehen vorpersonalen Lebens also) und behauptet dabei, dass „ein Ineinandergreifen der Seelen“ (PuA: 253) stattfinde im Mit-Spüren: „Was ihm [dem Tier, S. E.] begegnet, was es bedroht, spüre ich ,gleichsam‘ mit.“ (ebd.) Auch hier begegnen sich Innenwelten, wenn auch solche von sehr unterschiedlicher Art und Komplexität. Da Stein im Mit-Spüren und im geistigen Verstehen früher erarbeitete Lösungen des Intersubjektivitätsproblems parat zu haben meint, stellt sich das Problem in ihren anthropologischen und ontologischen Schriften der 1930er Jahre nicht mehr als Aporie dar.  Stein spricht in Endliches und ewiges Sein von einer „intersubjektive[n], in Wechselverständigung stehende[n] Gemeinschaft von ‚Monaden‘“. (EES: 235)  Andere Ausführungen zeugen von der keiner direkten Beeinflussung bedürfenden Wirkungskraft der gleichzeitig zu Steins Wirken virulenten Psychoanalyse und Lebensphilosophie: „Der dunkle Grund, aus dem sich alles menschliche Geistesleben erhebt – die Seele –, tritt im Ichleben ans Tageslicht des Bewußtseins (ohne damit ‚durchsichtig‘ zu werden). Dadurch enthüllt sich das Ichleben als ein seelisches und zugleich – durch das Ausgehen von sich selbst und das Aufsteigen zum Licht – das seelische Leben als geistiges.“ (ebd.: 363)  MmN: 231.  PuA: 84.

3.8 Der Mensch als lebendiges Geistwesen

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stattfindet, wenn die Differenz zwischen Subjektpol und Objektpol in vermeintlicher Treue zur Phänomenologie als ontologische Differenz gefasst wird, bricht das ontologische Erbe sich gegen alle phänomenologischen Grenzziehungen Bahn. In Steins Analyse des geistigen Lebens der Person spielen daher auch tragende Begriffe der Husserl’schen Phänomenologie und ihrer Analyse der transzendentalen Bewusstseinsstruktur wie die der Protention oder Retention keine Rolle. An die Stelle der zeitlichen Struktur des Bewusstseins tritt der zeitliche Aufbau der Person und die ontologische Terminologie von Akt, Potenz und Habitus: Vom geistigen Leben der Person, von ihren Akten, wissen wir ja, daß sie sich in einem zeitlichen Nacheinander aufbauen und daß immer andere ,Teile‘ von ihnen in Aktualität übergehen und wiederum in Inaktualität zurücksinken. Auch die Person, die dahinter steht, hat einen zeitlichen Aufbau.Wir sahen ja, daß der ,Charakter‘ sich allmählich entwickelt und daß es dabei auch einen Wechsel von Potenz, Akt und Habitus gibt.³³⁰

Der Ausdruck „Wechsel von Potenz, Akt und Habitus“ schreibt diese als ontologische Konstanten fest, da mit diesen Begriffen der Rahmen aller inhaltlichen Wechsel und Veränderungen vorgegeben ist. Damit stellt sich die Frage, in welcher Weise Potenz und Akt ontologische Konstanten sind, wenn Leib, Seele und Geist ontologische Grundbegriffe sind? Die Antwort ist in der Unterscheidung zwischen Entitäten und deren Seinsmodi zu finden.

3.8.4 Potenz und Akt als personale Seinsmodi Stein unterscheidet zwischen reinem Akt (dem actus purus der Ontologie Thomas von Aquins), reiner Potenzialität (welcher die reine Materie entspricht) und dem Lebendigen (den aus Form und Materie zusammengesetzten Substanzen, die in Akt und Potenz als Seinsmodi sich konstituieren). Potenzialität und Aktualität bestimmt Stein am Anfang ihres einführenden Kapitel „Die Problematik von Potenz und Akt“ in systematisch grundlegender Absicht als Seinsmodi: „So wie Aktualität und Potenzialität hier gefasst sind, sind es Seinsmodi: reine Aktualität der göttliche Seinsmodus, die geschöpflichen Seinsmodi verschieden abgestufte Mischungen von Aktualität und Potentialität“.³³¹ Diejenige Potenzialität, die überhaupt in einem Spannungsverhältnis zur Aktualität steht, ist die „ge-

 Ebd.: 126.  Ebd.: 9.

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schöpfliche Potentialität“; ³³² um ein Spannungsverhältnis statt bloß um eine Mischung von Potenzialität und Aktualität handelt es sich, weil Stein zufolge der „Seinsmodus der konkreten Individuen […] Potentialität und Aktualität zugleich“³³³ ist, womit etwas qualitativ anderes bezeichnet ist als die Simultaneität zweier Eigenschaften. Das Verhältnis von Akt und Potenz zum Eigenschaftsbegriff erfordert einen Rekurs auf den Begriff der Seele, in dem sich eine fundamentale Differenz zwischen Steins und Plessners Begriff der Seele aufzeigen lässt.Während bei Plessner die nichträumliche Dingmitte als Substanzkern eines räumlichen Dinges mit eigenschaftstragenden Seiten selbst Eigenschaftscharakter gewinnt und der Eigenschaftsbegriff phänomenologisch konsequent gedacht wird, verwendet Stein ihn fast durchgängig³³⁴ in der klassischen Bedeutung, wonach Eigenschaften dingliche – in Plessners Terminologie: an den eigenschaftstragenden Seiten des Dingkörpers phänomenal auftretende – Eigenschaften sind, wie das Grün des Blatts. Von den dinglichen Eigenschaften unterscheidet Stein „dauernde Eigenschaften“, die nicht dem dinglichen Gegenstand, sondern der Seele als der „dingartigen“³³⁵ Substanz eines lebendigen Dinges zukommen, z. B. Verstandesgaben wie „Leichtigkeit der Auffassung, Schärfe des Urteils, Fähigkeit, Zusammenhänge zu entdecken“.³³⁶ Was Dinglichem (dem Körperding) und Dingartigem (der Seele) gemeinsam ist, ist die Substantialität. Als Träger von Eigenschaften können in der klassischen Ontologie nur Substanzen fungieren, die selbst nicht eigenschaftlich erfassbar sein können; die Seele kann dementsprechend keine Eigenschaft sein ³³⁷ noch eigenschaftlich in Erscheinung treten, denn Letzteres können nur die „seelischen Eigenschaften“,³³⁸ die Stein auch als „Attribute“³³⁹ bezeichnet; die Seele kann damit allenfalls indirekt eigenschaftlich in Erscheinung treten. Die Seele, als Mitte aufgefasst, ist also bei Stein phänomenologisch nur über die im Verhalten sich manifestierenden Eigenschaften ihrer selbst er-

 Ebd.  Ebd.: 40.  Vgl. EES: 131, 184 f., 189, 399, 410, 412 und PuA: 23.  Die Seele ist Stein zufolge „ein dingartiges Ganzes mit Eigenschaften, die sich in ihrem Verhalten bekunden“ (EES: 364); an anderer Stelle nennt sie die Seele „ein ‚Dingartiges‘, ‚Substantielles‘ mit dauernden Eigenschaften, mit Fähigkeiten, die der Ausbildung und Steigerung fähig und bedürftig sind“ (ebd.: 320).  Ebd.: 312.  „Die Seele ist keine Eigenschaft.“ (PuA: 155)  Diese treten nur vermittelt, nämlich im Verhalten, in Erscheinung: „Das Tier ist eine leiblichseelische Gestalteinheit, seine Eigenart ist auf doppelte Weise ausgeprägt, in leiblichen und seelischen Eigenschaften, und bekundet sich in leiblichem und seelischem Verhalten.“ (EES: 315)  Vgl. ebd.: 354.

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schließbar, d. h. sie tritt erkörpert und damit vermittelt in Erscheinung.³⁴⁰ Diese Erschließbarkeit ist keine phänomenologische im Sinne Plessners, in dessen objektiver Transformation der Phänomenologie im Erscheinen die Sache selbst erscheint.³⁴¹ Bei Stein hingegen zeigen sich im Erscheinen körperliche bzw. dingliche Eigenschaften oder seelische Gehalte (im intentionalen Sinn wie im Fall der Freude) und verweisen zugleich auf etwas, was jenseits allen Erscheinens liegt, nämlich die Seele selbst. Dieser doppelte, phänomenologisch-ontologische Boden, ist eine unvermeidbare Konsequenz von Steins Festhalten am klassischen Substanzbegriff. Die Eigenschaften bilden Attribute, die aber die Substanz als ihren nie selbst sichtbar werdenden und sichtbar werden könnenden Träger, dem sie anhaften und der das sie Ermöglichende und wesentlich Ausmachende bildet, gleichsam „hinter“ sich selber verstecken. Nicht nur die Seele und Substanzen im Allgemeinen sind keine Eigenschaften, auch Potenz und Akt sind als Seinsmodi keine Eigenschaften. Dies festzuhalten ist wichtig, weil Steins Sprachgebrauch hier schwankend ist und sie in Potenz und Akt eine mehrfache Bedeutung von Aktualität und Potenzialität exponiert, innerhalb welcher Aktualität und Potenzialität auch als „Akzidenzien einer Substanz“, die per definitionem Eigenschaften der Substanz sind, bezeichnet werden: Was die formale Ontologie über Akt und Potenz ergibt, haben wir herauszustellen gesucht: Es sind einmal verschiedene Seinsmodi (Aktualität und Potentialität), von denen der eine auf den andern bezogen ist; sodann – als Tätigkeit und Fähigkeit – Akzidenzien einer Substanz, die in einer gewissen Wechselbeziehung stehen; schließlich bezeichnet Akt das an einem Seienden, was es zu einem Seienden macht, d. h. ihm Aktualität gibt und bestimmt, was es ist.³⁴²

Die drei Bedeutungen sind keineswegs koextensional, da die Seinsmodi (erste Bedeutung) und das Substantiale (dritte Bedeutung) strikt korrelativ zu denken sind,weil die Substanzialität der Substanz in der Aktualisierung von Potenzen sich naturgemäß artikuliert. Die Seinsmodi von Akt und Potenz definieren den Modus des Was-Seins, wohingegen die „Akzidenzien einer Substanz“ (zweite Bedeutung) die empirische Materialisierung von Potenzialität und Aktualität im phänomenal beobachtbaren Verhalten bezeichnen. Letztere Bedeutung von Aktualität und

 Diese erscheinungsmäßige Zeichenvermitteltheit der Seele selbst, ihr Verschwinden hinter ihren Eigenschaften, bildet die Grundlage der unverlierbaren Innerlichkeit und der Unsterblichkeit der Seele, die in Erscheinung treten, von denen Erscheinungen aber nicht zerstört werden kann.  Dazu vgl. die an anderer Stelle vorgelegte Analyse der Deutung des mimischen Ausdrucks in Kapitel 1.3.  PuA: 68.

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Potenzialität ist daher eine derivative; wäre sie dies nicht, so wären Aktualität und Potenzialität tatsächlich dem Eigenschaftsbegriff zu subsumieren, statt eine modal-ontologische Bestimmung der Eigenschaften zu bilden, die Stein hier nicht hinreichend klar von den Eigenschaften selbst als den Akzidenzien der Substanz unterscheidet. (Onto‐)Logisch schlüssiger legt Stein ihre Gedanken an den Stellen dar,wo sie die Akzidenzien, die Seinsmodi und die Substantialität der Seele in eine alle drei Momente unterscheidende und zusammenführende Perspektive rückt: „Wie die Materie der Körper und ihre Akzidenzien nur durch die Vereinigung mit einer substantialen Form von der Potentialität zu aktuellem Sein übergehen, so auch die seelischen Akzidenzien und diese ,Materie der Seelen‘.“³⁴³ Die Eigenschaften bleiben hier strikt dinglich gebunden, werden aber aufgrund der diese Eigenschaften bedingenden und gestaltenden Potenzialität und Aktualität der Seele als der Substanz und Form des Körpers nicht zu Epiphänomenen bloßer Dinge reduziert, sondern in ihrer einheitsbildenden Funktion betrachtet. Ein Lebendiges ist irreduzibel eine Gestalteinheit, die nicht in Substanz und Akzidens zerfällt, sondern als Einheit von Substanz und Akzidens gemäß den Seinsmodi von Aktualität und Potenzialität erscheint. Und weil Aktualität und Potenzialität Seinsmodi sind, sind die Verhaltensmöglichkeiten von Lebendigem reale statt bloß logische Möglichkeiten. Sie sind also Möglichkeiten dadurch und insofern, als sie Möglichkeiten des Lebendigen sind, etwas zu tun oder zu sein (d. h. verkörpern). Der Potenzialitätsbegriff ist daher ein ontologischer und kein modallogischer, da die Modallogik, deren Interesse sich auf die interne Konsistenz von Aussagen und Zusammenhängen von Aussagen beschränkt, den Begriff der Potenzialität in eine abstrakte Optionalität (Möglichkeiten des Lebendigen wären Optionen, dieses oder jenes zu tun, ohne dass dafür Seinsmodi in Anschlag zu bringen wären oder vom Lebendigen in seiner Begrenztheit und Lebendigkeit auszugehen wäre) und Kasuistiken auflösen würde. Der Seinsmodus der Ontologie verschwindet in der Modallogik hinter dem Schleier von Propositionen über Möglichkeiten, die nicht als Möglichkeiten einer bestimmten Lebensform als solcher, d. h. im Ausgang von ihrem zu ontologisch elaborierten Was-Sein, in den Blick kommen, sondern anekdotisch bleiben oder ein Gesamtbild dieses Lebendigen bloß induktiv zu generieren versuchen können und dem Lebendigen als solchem daher gerade äußerlich bleiben müssen. Als ontologische Begriffe sind Akt(ualität) und Potenz(ialität) insofern Begriffe einer Ontologie des Lebendigen, die Potenzialität ist „geschöpfliche“ Potenzialität.

 Ebd.: 222.

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3.8.5 Die konstitutiven Wahrheiten des Geistes: transzendentale, ontologische, logische und Wesenswahrheit Um die geschöpfliche Potenzialität humanspezifisch konkretisieren zu können, muss die Betrachtung des Begriffs des Geistes wieder aufgenommen werden, um dessen Reichweite und Grenzen zu bestimmen. Bisher ist zur Sprache gekommen, dass der Geist ambivalent bestimmt worden ist: als Spezifikation der Seele („Menschenseele als Geist“) und als Entität sui generis. Inwiefern der Geist endlich und der Geschöpflichkeit eingesenkt ist und inwieweit dem Menschen die Emanzipation von seiner Geschöpflichkeit erlaubt, ist im Folgenden darzulegen. Es soll dabei, auch der Kürze wegen, aber vor allem, weil Stein in ihrem Hauptwerk philosophisch reifer und selbstsicherer ihre Gedanken ausbuchstabiert hat, vorrangig von der Explikation des Begriffs des Geistes in Endliches und ewiges Sein der Ausgang genommen werden. Diese Reife – sofern Reife so viel bedeutet wie Zusich-selbst-Kommen – zeigt sich darin, dass Stein in Endliches und ewiges Sein die Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Geist, jeglichen Anklang an Hegel in der Begriffswahl zum Verschwinden bringend, fallen lässt, und die Begriffsarbeit in strenger Anlehnung an Thomas von Aquin durchführt. Diese Fokusverlagerung ist deshalb unproblematisch, weil Stein keine Revision ihrer Grundgedanken aus Potenz und Akt vollzieht, sondern lediglich eine Modifikation. Der Geist steht ontologisch in den bereits angesprochenen Bezügen zu Leib und Seele, welche das Lebendige als zusammengesetzte Substanz konstituieren, aber auch zu Gott als dem ersten Seienden, das keine Substanz, sondern reiner Geist ist.³⁴⁴ Diese Entitäten bilden nicht einfach Dingartiges, sondern die „Grundformen wirklichen Seins“: „Die Ausdrücke ,Seele‘ und ,Leib‘ erhalten in den verschiedenen Bereichen des ,Lebendigen‘ eine verschiedene inhaltliche Erfüllung. Darüber hinaus aber bezeichnen sie verschiedene Grundformen wirklichen Seins, denen als dritte die des ,Geistes‘ an die Seite zu stellen ist.“³⁴⁵ Bei dieser Trias von Leib, Seele und Geist handelt sich um eine Transformation der in Potenz und Akt eingeführten und an Plessners Unterscheidung zwischen Innenwelt, Außenwelt und Mitwelt erinnernden Trias von Innenwelt (Seele), Außenwelt (Leib, Leibgebundenheit) und Überwelt (Gott).³⁴⁶ Der Geist bildet diejenige Grundform wirklichen Seins, welche die menschliche Natur in einen nicht epistemologisch zur Versöhnung zu bringenden Bruch stellt, gerade weil sie ihn mit Gott, der reiner Geist ist, verbindet und in dieser Verbindung von ihm trennt. Diese Verbindung ist

 Vgl. EES: 218 f.  Ebd.: 214.  Vgl. PuA: 18 und 69.

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eine per hiatum, was im Ausdruck der analogia entis zum Ausdruck kommt, denn unter dem Oberbegriff des Geistes wird die Differenz zwischen dem Geist als einer „Gattung des Seienden“, welche den Menschen als einer der „geistigen Substanzen“³⁴⁷ (neben den Engeln als einfachen, auf keine Verkörperung angewiesenen Geistern) kennzeichnet, und dem reinen Geist (Gott) versammelt. Der Geist ist – wie der Stoff ³⁴⁸ – eine Gattung des Seienden, jedoch eine ausgezeichnete Gattung des Seienden: Die Zuordnung zum Geist gehört nicht bloß zu einer Gattung des Seienden, sondern zu allem Seienden – zu jedem Einzelnen und zum Ganzen. […] ,Geist‘ aber bezeichnet eine Gattung des Seienden, denn nicht alles Seiende ist Geist. Indessen ist es eine ausgezeichnete Gattung, weil es dem Geist eigen ist, für alles Seiende geöffnet zu sein, davon erfüllt zu werden und in der Beschäftigung mit ihm sein Leben, d.i. Sein eigentlichstes (aktuelles) Sein zu haben.³⁴⁹

Die Differenz zwischen „Existenz“ und „Sein“ entsteht durch den Geist. Existenz definiert Stein als „Sein unabhängig von einem erkennenden (endlichen) Geist, als Sein auf sich selbst gestellter Gegenstände gefaßt. Den Gegensatz dazu bildet das gedankliche Sein, das denkende Geister voraussetzt.“³⁵⁰ Diese Passage lässt sich für sich genommen idealistisch deuten, als wäre Existenz schlicht noch nicht gedachtes Sein, doch diese Deutung lässt die anthropologische Fundamentalität des Geistes außer Acht, der den Unterschied zwischen dem Menschen und dem Tier ausmacht. Das Geöffnetsein des Geistes für alles Seiende macht das Existierende, das für das Tier bloß Existierendes, also zu ihm als ein umweltliches Element in einem transzendenzlos instrumentellen Verhältnis Stehendes ist, zu einem Seienden in dem Sinne, dass ein jegliches Existierendes in Relation zum Menschen aufgrund seines Geistes Sein ist. Stein definiert daher Sein als Offenbarsein für den Geist: „Sein ist (ohne daß damit sein voller Sinnbestand erschöpft wäre) Offenbarsein für den Geist.“³⁵¹ Hinzuzufügen wäre: für den Geist, der aufgrund seines wesenhaften Geöffnetseins für Seiendes überhaupt erst Geist ist. Sein ist, um die an früherer Stelle angesprochene Bestimmung der drei Grundcharakteristika des Geistes hier wieder aufzunehmen, ein intelligibile, denn „ein intelligibile sei: etwas, was in einen erkennenden Geist ,eingehen‘, von ihm ,umfaßt‘

 „So ist ein Sein des Ich nicht denkbar, ohne das dieses eine Substanz hatte, geistiges Sein erfordert geistige Substanz. Demnach durfen wir unsere Frage dahin beantworten, das es zur Person gehort, geistige Substanz zu sein.“ (ebd.: 86)  Vgl. EES: 236.  Ebd.: 257.  Ebd.: 282.  Ebd.: 257 f.

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werden kann. Beides scheint mir mit der transzendentalen Wahrheit gleichbedeutend zu sein“.³⁵² Die „transzendentale Wahrheit“, als welche Stein die Relation zwischen Sein und Geist fasst, ist zugleich eine ontologische Wahrheit, weil die Relation zwischen Geist und Sein als transzendentale selbst eine ontologische ist, d. h. der Rückgang hinter diese transzendentale und ontologische Wahrheit markiert notwendig einen Rückgang hinter bzw. eine Unterschreitung dessen, was der Begriff „Geist“ meint; übrig bleibt dann bestenfalls die Beziehung zwischen Existierendem und einem bloßen Verstand. Zugleich wird mit dem Rückgang hinter den Geist anthropologisch unter das Level des Menschen zurückgegangen, da ein „vor-geistiges“ Weltverhältnis gerade den Weltbezug vor-menschlicher Lebensformen kennzeichnet. Die transzendentale und die ontologische Wahrheit bilden das Fundament der logischen Wahrheit, denn es müsse „allem [Hervorhebung, S. E.] Seienden – auch ontologische und transzendentale Wahrheit zukommen“;³⁵³ es gilt folglich für alles Seiende – für das Dingliche wie für die reinen Formen – dass „zu ihrem Sein […] das Offenbarsein oder die Zuordnung zu einem erkennenden Geist, die für die logische Wahrheit Voraussetzung ist“,³⁵⁴ gehöre. Es ist daher nicht der kognitive Akt, welchen die herkömmlicherweise als adaequatio rei et intellectus aufgefasste logische Wahrheit zur Voraussetzung hat und durch den sie gestiftet wird, sondern das Seiende selbst steht transzendental und ontologisch in einer adaequatio entis et mens: „Das Seiende als solches, wie es in sich ist, ist Bedingung der Möglichkeit für die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit dem erkennenden Geist, die ,logische‘ Wahrheit und Falschheit. Und als Grundlage der logischen Wahrheit wird das Seiende selbst – in transzendentalem Sinne – wahr genannt.“³⁵⁵ Sein und Seiendes bilden hier keine ontologische Differenz im Sinne Heideggers, sondern eine ontologisches Korrelat, das Sein des Seienden ist das Offenbarsein des Seienden für den Geist. Mit der ontologischen Wahrheit verschwindet jedoch nicht die Diskrepanz zwischen meiner aktuellen und wirklichen Idee eines Gegenstandes und der idealen Wesenhaftigkeit dieses Gegenstandes. Die Übereinstimmung beider Ideen nennt Stein „Wesenswahrheit“: Die Übereinstimmung eines Wirklichen mit der entsprechenden reinen Form wollen wir als Wesenswahrheit bezeichnen. Sie ist von der ontologischen Wahrheit […] noch unterschieden,

   

Ebd.: 256. Ebd.: 263. Ebd. Ebd.: 256.

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aber für sie vorausgesetzt, weil ein Ding nur insoweit ,in Wahrheit‘ etwas ist, als es mit einer reinen Form in Übereinstimmung ist.³⁵⁶

Diese Wesenswahrheit geht der logischen Wahrheit voraus, welche Stein als „Wahrheit des Urteils“³⁵⁷ bezeichnet, denn Urteile setzen Ideen voraus, die sie nicht erst logisch hervorbringen können. Was damit in die Wahrheitsrelation einbricht, ist das Divinatorische der Idee, das Angewiesensein auf eine prästabilierte Harmonie zwischen subjektiver Idee und reiner Form. Weil die Wesenswahrheit für die ontologische Wahrheit vorausgesetzt, zugleich aber nicht epistemologisch garantiert ist, behauptet die ontologische Wahrheit nicht trivialerweise die Identität von Erkennen und Sein schlechthin, sondern die Identität von Erkennen und Sein, sofern im aktualen Erkennen Sein für den Geist offenbar ist. Die prinzipielle Bestimmung des Seins als Offenbarsein für den Geist bedarf daher immer noch der Aktualisierung desselben durch den erkennenden Geist; damit wird aber der prinzipielle Charakter der Bestimmung nicht relativiert, weil eine Relativierung nur durch eine Aufhebung des transzendentalen und ontologischen Bandes möglich wäre, wie dies im Konstruktivismus dar Fall ist. Sowohl die transzendentale als auch die ontologische und die Wesenswahrheit haben einen gemeinsamen Grund: alle „drei Ausdrücke sprechen eine Zuordnung von ,Geist‘ und ,Seiendem‘ aus“.³⁵⁸ Erst in der logischen Wahrheit erhält das Subjekt (des Urteilens) als solches konstitutive Kraft und Bedeutung, denn in ihr wird das Verhältnis des Gründens-in umgekehrt, da in der logischen Wahrheit „ein Seiendes […] in einem anderen Seienden (dem erkannten Seienden und der entsprechenden Erkenntnis) begründet ist“.³⁵⁹ Dieses Seiende ist ein Seiendes im Sinne eines Urteilselements und daher im Urteilsakt des Urteilenden begründet. Als Instanz des Urteilens fungiert das Erkennende, als dessen Gegenstand das Erkannte, d. h. die logische Wahrheit „setzt das Sein des erkannten Gegenstandes und das (mindestens mögliche) Sein eines erkennenden Geistes voraus“.³⁶⁰ Was damit benannt ist, ist die neuzeitliche, mit der Wende von der Ontologie zur Epistemologie in den Ruf der Unhintergehbarkeit als Ansatzpunkt gelangte Subjekt-Objekt-Relation. Dieser Ansatzpunkt bleibt hier zwar weiterhin unhintergehbar, wird aber dennoch entfundamentalisiert, indem die Relation zwischen Subjekt und Objekt nur noch zum Schauplatz

 Ebd.  „Die Wahrheit des Urteils aber ist nichts anderes als logische Wahrheit: Übereinstimmung des Urteilssinnes mit einem bestehenden Sachverhalt.“ (ebd.: 259)  Ebd.: 256.  Ebd.: 256 f.  Ebd.: 259.

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von kognitiven Vorgängen a posteriori wird; die Relation bleibt als die die Sphäre der Intentionalität polar konstituierende aber insofern grundlegend, als die logische Wahrheit sich ihrer nicht entschlagen kann, doch ist sie selbst in den drei angesprochenen Wahrheitsrelationen fundiert. Nur der Vollständigkeit halber sei diejenige (genuin theologische) Wahrheitsrelation erwähnt, die Stein als „göttliche Wahrheit“ fasst und in welcher die „Gesamtheit alles geschaffenen Seienden in ihrer Zuordnung zum göttlichen Geist“³⁶¹ thematisiert wird. Eine genauere Betrachtung dieses Wahrheitstypus würde jedoch in theologische Spitzfindigkeiten hineinführen, welche vom hier verfolgten Gedanken ablenken und diesen auch nicht indirekt fördern würden. Stattdessen geht es im Folgenden um die „künstlerische Wahrheit“, die mit dem „Kern der Person“ auf intime Weise verbunden ist, wie sich zeigen wird.

3.8.6 Die künstlerische Wahrheit und der Kern der Personalität Anthropologisch von zentraler Bedeutung ist die „künstlerische Wahrheit“, in deren Explikation Stein den darin in nuce enthaltenen Zusammenhang zwischen dem Geist und der Personalität entfaltet, weil die entscheidende Gemeinsamkeit zwischen dem Künstler und Gott nicht allein in der (qualitativ abgründig verschiedenen) schöpferischen Potenz besteht, sondern auch darin, dass ein jegliches Schöpfertum Personalität voraussetze, denn „[n]ur eine Person kann erschaffen, d. h. kraft ihres Willens ins Dasein rufen“.³⁶² Es geht dabei also mehr um den Künstler als Person denn um die Person als Künstler, mit dem Vorrang des Personalen werden dann Strukturmerkmale des künstlerischen Handelns bzw. der künstlerischen Wahrheit generalisierbar, von der Hervorbringung von Kunst im engeren Sinne ablösbar und auf die Person als solche übertragbar, z. B. Vernunft und Freiheit: „Vernunft und Freiheit aber sind die Wesensmerkmale der Person.“³⁶³ Dass Vernunft hier inhaltlich gleichbedeutend mit Geist ist, steht außer Zweifel, und die gelegentlichen Äquivokationen Steins, die aus ihrer Entfaltung des Personbegriffs entlang der thomasischen Terminologie resultieren,³⁶⁴ sind bereits thematisiert worden. Dass Stein von „künstlerischer“ statt von „ästhetischer“ Wahrheit spricht, dürfte über die Prägung durch Thomas von Aquin hinaus von einem Interesse daran herrühren, die Einwanderung ästhetischer Topoi ins

   

Ebd.: 267. Ebd.: 293. Ebd.: 294. Vgl. das Thomas-Zitat ebd.: 304 f.

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Zentrum der Ontologie mittelalterlicher Prägung zu verhindern, was in der Anlehnung an aristotelische Beispiele,³⁶⁵ die in der ästhetischen Prägung der griechischen Antike wurzeln, leicht geschehen kann. Die künstlerische Wahrheit bedarf der Personalität, weil sie in einem anspruchsvolleren Sinn eines Zentrums bedarf, von welchem her eine Wahrheitsrelation praktisch initiiert und theoretisch verstehbar wird, die mit jeglichem Widerspiegelungsparadigma inkompatibel ist und in der ein über jegliches Erkennen hinausgehendes praktisch-schöpferisches Verhältnis zur Welt sich manifestiert. Dieses Verhältnis ist nicht das Verhältnis des Geistes zur Welt, sondern das der Person zur Welt. Der Geist bildet das Organ des personalen Zugriffs auf die Welt, wie sie in der künstlerischen Produktion statthat; dieses Organ bildet, obwohl es mit Organen im Allgemeinen die Vermitteltheit seiner Existenz durch es Umgreifendes teilt, d. h. Organ von etwas ist (der darüber hinaus leiblich-seelisch verfassten Existenz der Person), den Ursprung der schöpferischen Tätigkeit, d. h. den Anfangs- und Endpunkt des Schöpferischen in seiner ideellen Reichweite: „Das Werk ist ,geschaffen‘ und d. h. verursacht; es ist durch ein wirkliches Geschehen, die schöpferische Tätigkeit, zustande gebracht worden, und diese Tätigkeit hat ihren Ursprung im Geist des Künstlers.“³⁶⁶ Bevor und nachdem der Geist schöpferisch in das Verhältnis zwischen Person und Welt eingegriffen hat, ist künstlerisches Material bloße Materie, weshalb der Bildhauer „zuerst“ die Idee haben und dann das passende Material zur Realisierung derselben suchen könne oder „beim Anblick des Marmorblocks“ den Einfall zu einem Kunstwerk haben könne. Der Prozess der Materialbearbeitung ist nur dann und solange ein künstlerischer, wie alle Materialbearbeitung unter der „Anleitung“ des Geistes stattfinde, weshalb „der Name ,praktische Erkenntnis‘ sich hier in einem ganz wörtlichen und eigentlichen Sinne erfüllt“.³⁶⁷ Das Ins-Werk-Setzen des Werkes, d. h. seine Realisierung in der physischen Bearbeitung von physischem Material, ist Sache der leiblich-seelisch-geistigen Person, die gerade als verkörperte Ganzheit ihrer Konstituentien³⁶⁸ Person ist.³⁶⁹ Das Kunstwerk steht in einem doppelten ideellen Bezug: zur Idee seines Schöpfers und zu reinen Formen bzw. Ideen. Die ideelle Axiologie gibt wenig

 Das Beispiel des Künstlers ist in der Metaphysik zentral und wird unter den Namen der Baukunst und der Arztkunst an einer Vielzahl von Stellen bemüht, vgl. z. B. Met. 1026a, 1047a, 1032n, 1034 b, 1046a+b, 1049a und 1050a.  EES: 260.  Ebd.: 261.  Die stilistisch bessere Verwendung des Begriffs des Aspekts wird hier in den Wind geschlagen, um nicht die Differenzen zwischen Stein und Plessner zu verwischen.  Vgl. ebd.: 261.

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Rätsel auf, welcher Idee der Vorrang zukomme, ist die Idee des Künstlers doch nur als mit der reinen Idee übereinstimmende Idee von Wert und damit ontologisch gesättigt: „Künstlerische Wahrheit ist Übereinstimmung des Werkes mit der reinen Idee, die ihm zu Grunde liegt. Darin liegt eine Verwandtschaft mit der ,ontologischen‘ Wahrheit“.³⁷⁰ Die Subjektivität des Künstlers bleibt der Objektivität der reinen Idee verpflichtet, soll das Kunstwerk mehr als eine Ausgeburt von Hirngespinsten sein. Die Freiheit der „Einbildungskraft“ besteht daher nicht in der freien Erzeugung des ihr Beliebenden, sondern sie ist „an die Wesensgesetze gebunden und hat die Aufgabe, Wesensmöglichkeiten, nicht Wesensunmöglichkeiten herauszuarbeiten“,³⁷¹ ihr schöpferisches Gesetz wird ihr von reinen Ideen und Wesenswahrheiten vorgegeben. Aufgrund ihrer ontologisch-metaphysischen Gesättigtheit ist die künstlerische Wahrheit, etwa die künstlerische Darstellung Napoleons, in welcher das Urbild Napoleons in der ästhetischen Abbildlichkeit zur Erscheinung gebracht wird, eine „höhere“ Wahrheit als die geschichtliche Wahrheit, um die sich der Geschichtsschreiber bemüht, der notgedrungen „an den äußeren Tatsachen hängen bleibt“.³⁷² In der Unterscheidung zwischen künstlerischer und geschichtlicher Wahrheit hält Stein der Aristotelischen Poetik die Treue, welcher der Vorrang des Ästhetischen vor dem Historischen entnommen ist.³⁷³ Dass der Geistbegriff bzw. die Vernunft als Geist den Grundbegriff der Personalität bildet, spricht sich auch darin aus, dass das „Wohlgefallen“ die subjektiv-geistige Seite eines darauf nicht reduzierbaren objektiven Verhältnisses zwischen Geist und reiner Form bildet; das Wohlgefallen, welches notwendig als das Wohlgefallen am Schönen aufzufassen ist, ist dabei keine isolierte und vom Geist in seiner Ganzheitlichkeit isolierbare Regung, die psychologisch hinreichend erschließbar wäre, sondern es steht zusammen mit dem Wahren und dem Guten in einer intimen Beziehung zum Geist als solchem. Die Grundstruktur des Geistes kommt in der Beziehung zum Wahren, Guten und Schönen zum Ausdruck, weil es eine dreifache Grundtätigkeit des Geistes ist, welche diese Beziehungen stiftet: im Erkennen (der Wahrheit), dem Streben (nach dem Guten) und dem Wohlgefallen (am Schönen): Mit Wahrheit und Gutheit hat die Schönheit gemeinsam, daß sie das Seiende zu einem bestimmten Seienden in Beziehung setzt und zwar – wiederum wie die Wahrheit – in Be-

   

Ebd.: 261. Ebd.: 325. Ebd.: 262. Vgl. das 9. Kapitel der Aristotelischen Poetik.

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ziehung zum Geist: denn sie ist das am Seienden, wodurch es geeignet ist, Wohlgefallen zu erwecken; Wohlgefallen aber ist ein geistiger Akt.³⁷⁴

Die „künstlerische Wahrheit“ gründet daher in der triadischen Grundstruktur des Geistes; in ihr akzentuiert sich aber stärker das schöpferische Moment, welches im Begriff der die „künstlerische Wahrheit“ ermöglichenden „praktischen Erkenntnis“ seinen Ausdruck findet, nämlich das Moment des Strebens. Die Trias ist eine verwirklichte Einheit, das Streben ist nicht bloß ein Streben nach dem Guten und die Erkenntnis des Wahren nicht frei vom Streben nach dem Wahren, ebenso entspricht in der künstlerischen Wahrheit dem Wohlgefallen am Schönen das Streben nach dem Schönen, welches zugleich das Bestreben ist, das Schöne hervorzubringen. Auch dieses Streben fasst Stein gemäß der Relation von Potenz und Akt: „Die Vollendung eines Unvollendeten ist das eigentliche Ziel des Strebens, Übergang von der Potenz zum Akt seine Erfüllung.“³⁷⁵ Weil die Verwirklichung dieser Vollendung nicht mit der Verwirklichung von Potenzen koinzidieren muss und dies nicht tut, wo nicht Wesenswahrheiten und Wesensmöglichkeiten zum Ausdruck gelangen, ist das Gelingen nicht der Willkür anheimgestellt und die Potenz der künstlerischen Wahrheit selbst prinzipiell selbst potenzieller Natur, kurz: Die Aktualisierung der Potenz ruht auf dem schwankenden Grunde einer selbst prinzipiell potenziellen Potenz des Geistes. Das Streben des Geistes ist also ein Streben nach Erfüllung, die in der Überführung einer Potenzialität in eine entsprechende Aktualität besteht; erst der Vollzug dieser Überführung stellt eine έντελέχεια dar. Durch die Bindung des schöpferischen Geistes an die Wesensmöglichkeiten wird der Begriff der ästhetischen Potenz ontologisch codiert: Potenz ist nur dann sachhaltig, wenn sie nicht beliebige Potenz ist, sondern Potenz zur Wahrheit, welche ihrer Erfüllung in der Aktualisierung bedarf. Diese Potenz zu aktualisieren, ist keine arbiträre Möglichkeit des Geistes, weil Stein den Geist dadurch definiert, dass Aktualität seine ursprüngliche Seinsweise sei: „Die ursprüngliche Existenzweise des Geistes ist Aktualität, ist Leben; zum Leben gehört Wirken; darum gehören Aktualität und Aktivität zusammen: Aktualität wirkt sich in Aktivität aus, Aktivität hat Aktualität zur Voraussetzung.“³⁷⁶ Die Aktualität verhält sich nicht derivativ zu einer gestaltungskräftigen, gleichsam Aktualisierungsmöglichkeiten wählenden Potenz, die als solche existierte, sondern die Aktualität ist movens und Wesen des Geistes.³⁷⁷

 EES.: 276.  Ebd.: 273.  PuA: 77.  Sie entspricht damit auf der Ebene der Seinsmodi strukturlogisch der Form auf der Ebene der Konstituentien.

3.8 Der Mensch als lebendiges Geistwesen

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Da dieses Wesen nicht jederzeit sich realisiert, der Geist also nicht beständig in actu ist und insofern sich nicht als Totalität gegeben sein kann,³⁷⁸ als er sich nur durch Potenzen hindurch aktualisieren kann in einer Art „ursprünglicher Verspätung“ (Derrida), die als „ursprüngliche Selbstverspätung“ zu präzisieren wäre, ist sein Wesen zugleich sein inneres τέλος und der Kern der Person: „Die volle Entfaltung ist als Telos in der Entelechie, dem ursprünglichen Kern der Person, vorgezeichnet.“³⁷⁹ Was wesenhaft ist, was es im Sein werden muss, ist genau dann nicht nur geschöpflicher, sondern personaler Natur, wenn die Selbstverwirklichung der Person mit der des Geistes koinzidiert und in dessen Struktur teleologisch beschlossen liegt. Diese innere Teleologie macht die Wirklichkeit der geistigen Person aus und unterscheidet sie zugleich von der allgemeinen Wirklichkeit des Lebendigen, die formal gesehen ebenfalls in Aktualität und Potenzialität zerfällt.³⁸⁰

3.8.7 Anwendung der künstlerischen Wahrheit auf die Lebensführung Was Stein über die künstlerische Wahrheit ausführt, ist generalisierbar und auf die Lebensführung der Person übertragbar, weil in der Lebensführung der Geist ebenfalls als schöpferisches Prinzip fungiert: „Das geistige Leben ist das eigentlichste Gebiet der Freiheit: hier vermag das Ich wirklich aus sich heraus etwas zu erzeugen.“³⁸¹ Dieses „etwas“ ist das Ich bzw. die Person selbst, indem sie ihr Leben führt und darin Freiheit praktisch realisiert. Die gleichwohl durch die leibliche Verfasstheit und die Zuständlichkeit des Leibes restringierte Möglichkeit, die Lebensführung zu bestimmen, spricht Stein in ihrer Vorlesung Der Aufbau der menschlichen Person an, wo sie vom „Leben aus und in der geistigen Welt“³⁸² handelt. Aus der geistigen Welt und in die eigene leibkörperliche hinein lebt die Person in der Verwirklichung der Möglichkeit, „daß Kräfte, die aus der geistigen Welt geholt werden, für körperliche Leistungen verwendet werden“.³⁸³ Obwohl Stein auch die Möglichkeit des „Übergang[s] in die rein geistige Existenzweise“³⁸⁴  Darin spricht die Geschöpflichkeit des Menschen sich aus, die auch die Freiheit des Geistes zu einer bedingten macht: „Alle geschöpfliche Freiheit ist bedingte Freiheit.“ (EES: 316)  PuA: 263.  „Das, was wirklich ist oder werden kann, ist ‚in actu‘ oder ‚in potentia‘, aktuell oder potenziell. Aktuelles und potenzielles Sein, wirkliches und mögliches Sein drücken also die Seinsweisen von etwas aus, das in sie eingehen kann.“ (EES: 47)  Ebd.: 317.  AmP: 128.  Ebd.  Ebd.

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anspricht, die zu ihrer Voraussetzung das Heraustreten der geistigen Seele aus der „natürlichen Einheit mit dem Leib“³⁸⁵ habe, gesteht sie die Unmöglichkeit ein, „dies Innere [der Seele, S. E.] nicht von dem Ganzen loszulösen, das empfindet, denkt und will und das den Körper zum lebendigen und personal gestalteten Menschenleib macht“.³⁸⁶ Dass die Lebensführung jedoch nur als geistig gestaltete eine sinnerfüllte sein könne, sagt Stein überaus klar, sie definiert gar den Geist als Sinn und Leben mit dem praktischen Fluchtpunkt der Lebensführung: Geist ist Sinn und Leben – in voller Wirklichkeit: sinnerfülltes Leben. […] Bei den Geschöpfen ist zu scheiden zwischen der Lebensfülle, die durch den Sinn gestaltet wird, und dem Sinn, der sich in der Lebensfülle verwirklicht. Stoff im Sinn der Lebensfülle ist nicht Ungeistiges, sondern gehört zum Geist selbst. Ungeformte Lebensfülle ist Kraft zu geistigem Sein (Potenz), die noch zur Seinsvollendung geführt werden muß. Sinn ohne Lebensfülle ist Idee, die erst in einem Lebendigen wirklich wird.³⁸⁷

Die Bedeutung des Geistes für die Lebensführung offenbart dessen ontologischen Doppelstatus als Aktualität und Potenzialität: Potenz ist der Geist ontologisch insofern, als die Idee erst im Lebendigen wirklich werden muss, die Verwirklichung derselben aber von der Person als leiblich-seelisch-geistiger Ganzheit vollzogen werden muss.³⁸⁸ Akt ist der Geist ontologisch insofern, als nur durch ihn Ideen „in einem Lebendigen wirklich“ werden können, das Lebendige, d. h. die Person als das geistige Lebendige, also nur durch ihn als Lebendiges Geistigkeit personal verkörpern kann;³⁸⁹ ebenso kann die Person nur durch den Geist und seine Regentschaft zu sich selbst kommen, bildet er doch ihr primäres Selbstgestaltungsmedium. Auch als Akt ist der Geist Potenz, weil das Verhältnis von Geistigem und lebendiger Verwirklichung nicht linearer Art ist, d. h. das Geistige ist Potenz aufgrund der Reflexivität seiner selbst in der Deliberation und dem Entwerfen von Möglichkeiten, die als Möglichkeiten selbst wiederum Aktualisierungen von Geistigkeit mit Möglichkeitscharakter sind. Diese operative Potenzialisierung des Geistes für ihn selbst, die zugleich eine Potenzierung dessel Ebd.  Ebd.: 129. – Dass die anthropologische Differenz die elementarsten leiblichen Vollzüge bereits betrifft, zeigt sich auch in Steins Bestimmung der menschlichen Wahrnehmung, die kein bloß sinnliches Geschehen mehr ist: „Die Wahrnehmung ist schon Erkenntnis, geistiges Tun.“ (EES: 316)  Ebd.: 323.  Vgl. auch die Bestimmung des Geistes als Potenzialität in Kapitel 3.8.2.  Die Notwendigkeit der Verwirklichung zeugt von der Entäußerungsbedürftigkeit des Geistes, der in dieser Entäußerung seine Autonomie nicht aufgibt, sondern ins Werk setzt: „Im Schaffen und durch das Schaffen gelangt der Menschengeist und zugleich das Werk zu seiner vollen Wirklichkeit.“ (EES: 176)

3.8 Der Mensch als lebendiges Geistwesen

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ben darstellt, ist mit der Reflexivität des Geistes gegeben (der insofern Akt ist, als die Potenzialität nur als Aktualität der Potenzialität de facto gegeben ist), doch der Geist stellt als operative Potenzialität in dieser Reflexivität zugleich eine virtuelle Aktualität dar, die aktualitätsermöglichend und -bestimmend sein kann. Entscheidend an Steins phänomenologischem Zugriff ist, dass der Geist zwar ontologisch als in den Leib eingesenkter und wie die gesamte Person aus dem „jenseitigen“ Grund der Seele heraus Lebender kein Absolutum bilden kann, dennoch aber in seiner Autonomie insofern unantastbar und im uneigentlichen Sinne „reiner Geist“³⁹⁰ ist, als Leiblich-Seelisches den Geist allenfalls vermittelt affizieren, nicht aber inhaltlich determinieren könne: „Das Seiende gibt als Gehalt dem erkennenden Geist Vollkommenheit, ohne mit seinem Sein in ihn einzugehen; und das ist es, was ihm den Charakter des Wahren gibt.“³⁹¹ Hinzuzufügen wäre: und was die Verbindung der Lebensführung mit dem Schönen und Guten ermöglicht. Aber dass der Geist zur Verwirklichung seiner selbst des vollen Einsatzes der Person bedarf, die Allmacht des für sich genommen autonom operierenden Geistes an der leiblich-seelischen Verfasstheit des Menschen, seiner Lebendigkeit, gebrochen wird, macht Akt und Potenz zu Seinsmodi der lebendigen Person statt zu frei wählbaren Seinsweisen eines engelhaften Wesens. Lebensführung wird in eine Ambivalenz von Seinsmodi gestellt. Wollte man diese Ambivalenz klassischontologisch gegen die Existenzialontologie Heideggers wenden, könnte man sagen: Die Geworfenheit ist die Geworfenheit in die Ambivalenz von Akt und Potenz, die der Person die Aufgabe stellt – eine Aufgabe, die problematisch genug ist und nicht noch der wenig produktiven Überfrachtung mit dem Tod und dem Ganz-seinkönnen des Daseins bedarf. Dieser Ambivalenz entspricht der ontologische Status des Menschen, der Stein zufolge weder Engel noch Tier, sondern beides in einem sei: „Der Mensch ist weder Tier noch Engel, weil er beides in einem ist. Seine LeibSinnenhaftigkeit ist anders als die des Tieres, und seine Geistigkeit ist anders als die des Engels.“³⁹² Der Kreis schließt sich an dieser Stelle: Die Doppelnatur von Natur und Geist, von der am Anfang dieses Kapitels die Rede war, kehrt hier wieder, allerdings nicht unter dem Vorzeichen der Zerfallenheit, sondern dem des

 Der reine Geist ist in Bezug auf den Menschen zu spezifizieren als „endlicher“ reiner Geist, er wäre sonst nicht Geist eines leiblich-seelisch Verfassten: „Ein Geistwesen ohne körperlichen Leib ist reiner Geist, nicht Seele.“ (ebd.: 313) Engel und Götter sind reine Geister, die menschliche Person aber verfügt lediglich über einen endlichen reinen Geist insofern, als „das reine Geistesleben keine Leiblichkeit als Mittel seiner Verwirklichung“ (ebd.: 334) benötige.  Ebd.: 253.  EES: 316.

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Zugleichseins.Was Engel und Tier in einem ist, ist nicht beides und ist beides nicht, sondern ist ein Drittes: menschliche Person.

3.9 Sozialer Typus und Rolle: Eine sozialphilosophische Andeutung Lange vor der Ausformulierung ihrer Anthropologie und Ontologie, aber kurz nach ihrer ersten dezidierten Auseinandersetzung mit dem Begriff der Person in Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik (1917), hat Edith Stein in ihrer 1919 erschienenen Abhandlung Individuum und Gemeinschaft den Begriff des sozialen Typus entwickelt, der den Keim einer von ihr jedoch nicht entwickelten Rollentheorie enthält. Der hier zu verfolgende Gedanke, wonach Steins Begriff des sozialen Typus eine unausgeführte Rollentheorie zumindest am denkerischen Entwicklungshorizont als Möglichkeit erscheinen lässt, findet sich, wie einem Hinweis von Beate Beckmann-Zöller zu entnehmen ist,³⁹³ bereits bei Alasdair MacIntyre, verdankt letzterem aber keinerlei maieutischen Beistand. Die Entwicklung einer Rollentheorie hätte vorausgesetzt, dass Stein zu einer konsequent genetischen Betrachtung der Genesis der Person bereit gewesen wäre. Die Zuordnung der „Beschreibung der allgemeinen Typen des Kindes, des Jünglings, der Geschlechter, der Berufsgruppen“³⁹⁴ – allesamt auch Rollenbegriffe – zur „differentiellen Psychologie“³⁹⁵ zeigt, wie weit Stein davon entfernt ist, die Typenlehre rollentheoretisch zu verflüssigen. Das Verhältnis zwischen Individuum und Typus wird gemäß der klassischen Relation von Einzelnem und Allgemeinem gedacht, welcher das Verhältnis zwischen dem Eigenen und dem allen Gemeinsamen korrespondiert: Der einzelne Mensch ist als Glied einer Gemeinschaft Verkörperung eines Menschentypus, genauer: Er hat im Aufbau seines personalen Seins etwas, was ihm mit allen Gliedern dieser Gemeinschaft gemeinsam ist und ihn von den Angehörigen anderer Gemeinschaften unterscheidet (er ist als Schwabe vom Bayern typisch verschieden); er hat aber außerdem etwas Typisches an sich, was seiner Gliedstellung in der Gemeinschaft entspricht und ihn von anderen Gliedern seiner Gemeinschaft unterscheidet (z. B. als Vater von den Kindern, als Herrscher von den Untertanen). Da jeder Mensch einer ganzen Reihe von Gemeinschaften angehört, verkörpert jede auch eine ganze Mannigfaltigkeit von Typen: Er ist Münsteraner, Westfale, Deutscher; er ist Familienvater, Arzt, Zentrumsmann, Vorsitzender der Akademi-

 Beckmann-Zöller 2010: LIV.  luG: 251.  Ebd.

3.9 Sozialer Typus und Rolle: Eine sozialphilosophische Andeutung

203

kerortsgruppe. Es ist öfters gesagt worden, das Individuum sei ein ,Schnittpunkt‘ solcher Typen.³⁹⁶

Was heute Rollenbild genannt wird, heißt hier noch „Menschentypus“; wo in der Rollentheorie die Rollenbilder solche einer Gesellschaft sind, wird der Typus innerhalb der sozialen Gemeinschaft verortet und die Gemeinschaft dabei als „naturhafte, organische Verbindung von Individuen“³⁹⁷ verstanden (die Gesellschaft hingegen als „die rationale und mechanische“³⁹⁸ Verbindung derselben).³⁹⁹ Mit dem Begriff des Typus⁴⁰⁰ verbleibt Stein damit auf der organischen Seite einer künstlichen Gegenüberstellung, was sie zwar davon dispensiert, die Genesis des Individuums als Entfremdungsprozess denken zu müssen, es ihr aber gleichwohl verwehrt, die Entäußerung des Individuums produktiv zu denken, wozu ein Gesellschaftsbegriff und ein Konzept der Vergesellschaftung nötig wären, die nicht innerhalb einer typologisch fundierten Wesensdichotomie verortet sind. Wo heute die Genesis der Person in der Adaptation von Rollenbildern rekonstruiert wird, verkörpert die Person hier ein Sowohl-als-auch: sie verkörpert Typisches als Glied einer Gemeinschaft und verkörpert in ihrer Individualität ein substanzielles Jenseits eines jeden Typischen, d. h. ein intimes und wesenhaftes Seelisches. Das Desiderat einer Soziologie der Individuation scheint auf, aber die philosophische Orientierung an Thomas von Aquin verhindert, dass dieses Desiderat philosophische Dringlichkeit erlangen und als solches durchbrechen kann. Die Ontologie und die im Geist ihren Kern findende Person begrenzen also die Sozialphilosophie statt dass die letztere die ersteren verflüssigte, denn Stein zufolge „weist alles soziale Leben und alle sozialen Formen letztlich auf den allen Einflüssen des Wechselverkehrs entzogenen Kern der Person zurück“.⁴⁰¹ Es gibt also den Keim einer Rollentheorie, die in der Ontologie ihre Ermöglichungsbe-

 AmP: 138.  IuG: 111.  Ebd.  Diese Gegenüberstellung des Organischen (Gemeinschaft) und des Mechanischen (Gesellschaft) ist, wie Beckmann-Zöller betont, „zu unkritisch“ (Beckmann-Zöller 2010: LIII) von Ferdinand Tönnies übernommen: „Das Verhältnis selber, und also die Verbindung wird entweder als reales und organisches Leben begriffen – dies ist das Wesen der Gemeinschaft, oder als ideelle und mechanische Bildung – dies ist der Begriff der Gesellschaft.“ (Tönnies 1887: 3)  Die Auffassung dessen, was später rollentheoretisch thematisierbar wird, in der Gestalt von Typen rührt ebenfalls von Tönnies her, der die „äusseren Gestaltungen des Zusammenlebens, wie sie durch Wesenwillen und Gemeinschaft gegeben sind, […] als Haus, Dorf und Stadt“ (Tönnies 1887: 282) bezeichnet und von diesen als von den „bleibenden Typen des realen und historischen Lebens überhaupt“ (ebd.) spricht.  luG: 246.

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3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

dingung und Grenze (doppeltes Entzogensein des Geistes und des „jenseitigen Grundes“ der Seele) findet. Die systematische Orientierung an Husserl in Individuum und Gemeinschaft verhindert zudem, das Verhältnis zwischen beiden anders als vom Erleben des Individuums her zu begreifen und das „Sein des sozialen Gebildes“ Gemeinschaft zum primären Untersuchungsgegenstand zu machen.⁴⁰²

3.10 Ergebnisse Synoptisch seien die Ergebnisse dieses Kapitels hier noch einmal versammelt: (1) Stein überschreitet den Horizont der klassischen Ontologie, welche sie weiterzuentwickeln beansprucht, durch ihre gleichzeitige Anknüpfung an Husserls Phänomenologie hin zu einer Bewusstseinsphilosophie, die gemeinhin als historische Nachfolgerin und systematische Überwindung der klassischen Ontologie aufgefasst wird. Ontologie und Phänomenologie werden jedoch nicht bruchlos zu einem neuartigen Ganzen integriert, sondern die Aneignung der klassischen Ontologie macht eine Durchbrechung des phänomenologischen bzw. des egologischen Rahmens nötig, was sich darin zeigt, dass das Verhältnis zwischen der „Menschenseele als Geist“ und der vegetativen Seele ambivalent bleibt. Die Seele fungiert in ihrer Lebendigkeit als jenseitiger Grund, gleichzeitig ist der Mensch mittels des Geistes „zu Gott erhoben“.⁴⁰³ (2) Steins Ontologie enthält den Ansatz zu einer Ontologie des Lebendigen mit ihrer Bestimmung des Leib-Seele-Verhältnisses, diese Ontologie des Lebendigen wird jedoch nicht konsequent naturphilosophisch durchgeführt, was eine naturphilosophische Elaboration des Personbegriffs erfordern würde, sondern dasjenige Lebendige, welches wir als menschliche Person ansprechen, findet sein systematisches Zentrum in einem autonomen Geist, dessen Verhältnis zur Natur ambivalent und letztlich undurchschaubar bleibt. Die Ontologie des Lebendigen verdankt ihre unzureichenden naturphilosophischen Gehalte ihrer Verwurzelung im nicht genuin naturphilosophisch weiterentwickelten aristotelischen Kategorienbestand, der in der Metaphysik, der Physik und in De anima seine klassisch-ontologische Fassung erhalten hat.

 „Wir werden bei unserer Fragestellung nicht das objektive Sein des sozialen Gebildes untersuchen, wie es uns in der Welt gegenübertritt, sondern wir wollen es gleichsam von innen betrachten. Das Material, das uns zur Zergliederung vorliegt, ist das, was als Glieder der Gemeinschaft erleben.“ (ebd.: 113)  „Zum Geist erhoben‘ heißt ,zu Gott erhoben‘ und zu gottähnlichem Sein erhoben. Darum wird den reinen Geistern eine ,geistige‘ Seele zugesprochen und auch die Seele des Menschen, soweit sie solche Erhebung erfahren hat, ,geistig‘ genannt.“ (PuA: 163)

3.10 Ergebnisse

205

(3) Warum eine Weiterentwicklung der Naturphilosophie durch Stein ausbleiben musste, lässt sich bereits an der Vorlesung Einführung in die Philosophie von 1920 ablesen: In den naturphilosophischen Horizont fällt eine allgemeine Dinganalyse, die an den Naturwissenschaften orientiert bleibt, während die Subjektivität ein phänomenologisch zu erforschendes Terrain bildet, das einer naturphilosophischen Betrachtung entzogen bleibt. Die naturphilosophische Scheu Steins zeigt sich außerdem darin, dass sie an Conrad-Martius anknüpft, ohne Conrad-Martius’ Auseinandersetzung mit dem Vitalismus zu beachten und Conrad-Martius naturphilosophisch geprägte Termini überhaupt zu überprüfen. (4) Die naturphilosophische Scheu führt auch dazu, dass der ontologische Status des Geistes ambivalent und unklar bleibt. Der Geist bildet den Kern der Person und ist seinem Wesen nach Aktualität, zugleich aber eine Potenzialität der Menschenseele und in die Lebendigkeit des Menschen eingesenkt, mehr noch: er wird teilweise mit der Vernunft gleichgesetzt und in eine Entwicklungsperspektive gerückt. Stringent ist Stein jedoch in der Elaborierung des Geistes als eine in sich autonom verfahrende Entität. Der Geist ist vor allem das Medium, welches den Menschen in einen elementaren dreifachen Bezug zu etwas hin öffnet: (1) in der transzendentalontologischen Wahrheit zur Welt hin, (2) im verstehenden Mitvollzug zum Anderen hin (Ermöglichung der personalen Intersubjektivität), (3) im Verhältnis zu Gott, zu welchem der Mensch per hiatum erhoben und aufgrund dessen er Gott ebenbildlich ist. (5) Die naturphilosophische Unelaboriertheit ist gleichwohl notwendig und gewollt, denn nicht die Naturphilosophie hat bei Stein das letzte Wort, sondern die Theologie. Die angesprochene Unterscheidung zwischen „durch Theologie“ (als dem letzten Ratschluss, zu dem die Philosophie aus ihren eigenen, gleichwohl reichen Mitteln nicht fähig ist) und „als Theologie“,⁴⁰⁴ letztere verstanden als die Wissenschaft, die der Philosophie mit einer eigenen Identität und einem strikt konkurrenzlogisch zu verstehenden Herrschaftsstatt einem Vollendungsanspruch entgegentritt, hat Stein von Thomas von Aquin übernommen.⁴⁰⁵ Stein bezweifelt das Privileg der Theologie, über die

 Vgl. Kap. 3.4.3  Bei Thomas bildet diese Bestimmung des Verhältnisses zwischen Philosophie als eigenständiger in sich wertvoller Wissenschaft und der sie vollendenden Theologie bereits den Grund dafür, dass Günther Mensching in Thomas einen Wegbereiter der Emanzipation der Philosophie von der Theologie sieht. Vgl. Mensching 1997: 63 f. – Vgl. dazu auch Paul Tillichs Unterscheidung des thomasischen Wegs der Religionsphilosophie im Unterschied vom augustinischen und franziskanischen in Tillich 1978: 126 – 129. – Ausgehend vom an Kondylis anknüpfenden historischen Exkurs zur Genesis der Ontologie müsste man sagen, dass Thomas ein Vordenker der

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3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

letzten Gründe Aufschluss zu geben, nicht, vielmehr befinde sich die Philosophie „in ihrem jeweiligen Zustand – als geschichtliches Gebilde – in Abhängigkeit von Glauben und Theologie als von äußeren Bedingungen ihrer Verwirklichung“.⁴⁰⁶ Steins Ziel ist eine „eine christliche Philosophie, die den Glauben als Erkenntnisquelle benutzt“,⁴⁰⁷ wo die Philosophie mit ihren eigenen Mitteln, den Mitteln der Vernunft, nicht weiter komme – und das,woran die Philosophie verzweifeln muss, bezeichnet Stein als das Unergründliche, dem Przywara den von Stein affirmativ aufgegriffenen Namen einer „reductio ad mysterium“ gegeben hat: „Weil der letzte Grund alles Seienden ein unergründlicher ist, darum rückt alles, was von ihm her gesehen wird, in das ‚dunkle Licht‘ des Glaubens und des Geheimnisses, und alles Begreifliche bekommt einen unbegreiflichen Hintergrund. Das ist es, was P. Przywara als ‚reductio ad mysterium‘ bezeichnet hat.“⁴⁰⁸ „Unergründlichkeit“ ist hier der Name für eine prinzipiell nur durch den Glauben und auch durch ihn nicht restlos aufhellbare Grenze der Philosophie. (6) Die Unergründlichkeit spielt jedoch auch eine Rolle innerhalb der philosophischen Anthropologie Steins und verbindet auch diese gemäß der Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie wiederum mit der letzteren. Der „jenseitige Grund“, von dem die Rede war, ist nicht nur jenseits aller Natur, sondern verläuft durch die lebendige Natur hindurch, deren Zentrum die verschiedenen Seelenarten bilden. Die Seele begrenzt auch die Selbstdurchsichtigkeit des Menschen; die „Menschenseele als Geist“ ist nicht nur Geist, sondern, weil Stein zufolge jede Seinsform auf der jeweils höheren Stufe „das bewahrt, was der niederen eigen ist“,⁴⁰⁹ sie ist zugleich in das Reich des naturhaft Lebendigen eingesenkt. Paradoxerweise komme dem Menschen auch deshalb „etwas von der Unergründlichkeit des göttlichen Seins“ zu: Die reinen Geister sind wie Strahlen, durch die das ewige Licht sich der Schöpfung mitteilt. Größer ist der Abstand und weiter zu den geistigen Wesen, die in eine stoffliche Hülle eingesenkt sind und wie ein Quell aus verborgener Tiefe emporsteigen. Aber gerade diese Verborgenheit und Quellhaftigkeit gibt ihnen etwas von der Unergründlichkeit des göttlichen Seins.⁴¹⁰

Emanzipation der Ontologie (metaphysica generalis) qua Philosophie von der Theologie (metaphysica specialis) gewesen sei.  EES: 31.  Ebd.  Ebd.: 32.  AmP: 40.  Ebd.: 394.

3.10 Ergebnisse

207

„Unergründlichkeit“ wird also von Stein als theologische Denkfigur ausgewiesen und bereits auf den Menschen übertragen. Zum deus absconditus tritt bereits der homo absconditus hinzu und ironischerweise wurzelt die Unergründlichkeit des Menschen bei Stein wie später bei Plessner in der Natur, allerdings in der entitär verstandenen Natur, die wiederum als „natura absconditus“ auftritt, d. h. der Mensch ist nicht unergründlich aufgrund seiner Natur, sondern aufgrund der ihn neben anderem (z. B. dem Geist) konstituierenden Natur in ihm, die zuletzt wieder ein ens creatum im Menschen als einem ens creatum ist und auf den unergründlichen Schöpfer zurückweist. Der große Unterschied kann hier vorweggenommen werden: Der jenseitige Grund Steins ist die entitär zu verstehende Natur des Menschen, sofern sie ihn als Menschen konstituiert und begrenzt, die in der Begrenzung aber zugleich als das ihm Fremde und Unheimliche auftreten kann. Die durch einen jenseitigen Grund bedingte Unergründlichkeit ist nicht zu verwechseln mit Plessners Unergründlichkeit, die den jenseitigen Grund nicht mehr entitär zu identifizieren können meint und insofern die Unergründlichkeit radikaler denkt. Bei Stein wurzelt die Unergründlichkeit von Seiendem letzten Endes in einer der göttlichen Schöpfung, d. h. die unergründliche Natur findet ihren letzten Grund in der wiederum unergründlichen „Natur“ Gottes. Dieser doppelte Boden, so wird sich zeigen, fehlt bei Plessner; sein Fehlen ermöglicht gerade eine Naturphilosophie im eigentlichen Sinne des Wortes, um die es im folgenden Kapitel gehen wird. (7) Weil Stein Schelers Projekt der Wissenschaft von der menschlichen Person mit den begrifflichen Mitteln der klassischen Ontologie bearbeitet und in eins damit Philosophie und Theologie bzw. rationales Denken und Glauben zu versöhnen versucht hat, musste sie einen Personbegriff entwickeln, der mehrere, zumindest geistesgeschichtlich legitime, theoretische Ansprüche produktiv aufzunehmen versucht. Daraus resultieren komplexe Mehrfachbestimmungen wie die doppelte Unergründlichkeit zeigt, welche sich vom Personbegriff her weiter schärfen lässt: Die menschliche Person ist ens creatum und als solches zugleich aufgrund seines Geistes per hiatum zur Teilhabe am göttlichen λόγος fähig. Im Begriff des ens creatum findet die differentia specifica zu reinen Geistwesen wie Gott oder den Engeln ihren deutlichen Ausdruck, im Begriff des Geistes die differentia specifica zur bloßen Natur, die den Menschen unaufhebbar, wenn auch nicht vorrangig bestimmt.⁴¹¹ Der Mensch ist nach „oben“ und nach „unten“ unergründlich, aber er ist auch nicht die statische Mitte, weil bei Stein scholastische Momente in

 Vgl. Kapitel 3.8.6.

208

3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

den Strudel der Moderne hineingeraten. Vom Tier unterscheidet er sich unaufhebbar dadurch, dass er nicht die Potenz seiner Umwelt werden kann, weil ihm ein Aktualitätskern zukommt, der Personalität als solche ausmacht. Wenn Stein sagt, dass die menschliche Person sich hingegen grundsätzlich „beständig wandelt, obwohl der Kern, der von innen her den ganzen Gestaltungsprozess bestimmt, sich nicht in dieser Weise gestaltet und wandelt“,⁴¹² könnte dies zunächst eher scholastisch klingen. Doch der Geist als Akt ist keine feste Aktualität, sondern auch als Akt ein Seinsmodus seiner eigenen Potenz, die zugleich das Konstituens seiner unaufhebbaren Reflexivität ist, welche als Signum der Moderne den Geist und damit die Person bei Stein „dynamisiert“. Dem entspricht auch, dass Stein der ästhetischen Prägung der Moderne gemäß den Künstler als den Typus anführt,⁴¹³ anhand dessen sie den Personbegriff und einen für sie vorrangig konstitutiven Wahrheitstypus maßgeblich erläutert. Und obwohl Stein hier eine „innere Teleologie“, welche den „ursprünglichen Kern der Person“⁴¹⁴ bilde, entwickelt, bleibt der Geist zugleich eine Spezifikation der zwiefältig unergründlichen Seele – an mehreren Stellen wurde deshalb Bezug genommen auf Steins Bezeichnung der „Menschenseele als Geist“ –, die ihn zum Engel und Tier „in einem“⁴¹⁵ oder: zur menschlichen Person macht.

   

PuA: 122 f. Vgl. Kapitel 3.8.6. PuA: 263. EES: 316.

4 Plessners Transformation der Ontologie 4.1 Prolegomena Die beiden vorigen Kapitel enthielten die Darstellung der Ontologien des Aristoteles und Edith Steins, die Ontologien klassischen Schlags waren und als solche die Gestalt von Metaphysiken und Kosmologien annehmen. Die im Folgenden aufzuarbeitende und zu exponierende Ontologie Helmuth Plessners wird demgegenüber als eine nicht-metaphysische¹ Ontologie sich erweisen. Der Unterschied zwischen einer metaphysischen und einer nicht-metaphysischen Ontologie lässt sich unabhängig von der Aufweisung am Einzelfall grundsätzlich bestimmen: Eine nicht-metaphysische² Ontologie wird (1) nicht als Metaphysik durchgeführt, d. h. sie bedient sich keiner jeglicher Erfahrung unzugänglichen Entitäten zur Begründung von Zusammenhängen (innerhalb der Theorie) und der Wirklichkeit (dem explanandum der Theorie) noch geht sie von solchen (also von explananda) aus, sie ist also dem Inhalt nach keine Metaphysik. Plessners Ontologie des Organischen kann darüber hinaus (2) von der Metaphysik überlieferte Begriffe sich auf nichtmetaphysische Weise aneignen, ohne eine Metaphysik der Natur zu implizieren oder verdeckt mitzuführen. Gemäß der oben dargelegten Bestimmung der Ontologie durch Pererius,³ deren Anspruch sich die hier vorgelegte Interpretation Plessners im Geiste anschließt, darf die Ontologie als begriffliche Grundlagenwissenschaft vor dem terminologischen Arsenal der Metaphysik nicht Halt machen. Sie muss es prüfen und kritisieren, und sie kann es sich aneignen, sie darf nur nicht selber Anspruch, Intention oder Gestalt nach Metaphysik werden. In dieser Bedeutung erfüllt die Ontologie ihren Anspruch erst, wenn sie die begrifflichen Grundlagen der Metaphysik (historisch: der natürlichen Theologie) einholt, ohne sich selbst zu der Metaphysik zu machen, deren Grundlagen sie untersuchen soll. Um eine solche Ontologie zu entwickeln, in welcher die Unterschiede, die den Menschen konstituieren und ihn von anderen Lebensformen wie von Unbelebtem unterscheiden, eingeholt statt eingeebnet oder substanzialistisch verdinglicht  Für die klassische Ontologie ist kennzeichnend, dass sie Metaphysik und Kosmologie zugleich ist. Daher wird im Folgenden der Kürze halber der Terminus Metaphysik inklusiv, die Kosmologie mitbezeichnend, verwendet.  Es ist hier die Rede von einer „nicht-metaphysischen“ statt von einer „nachmetaphysischen“ Ontologie, weil der gleichermaßen geschichtsphilosophische und dem Nachgeborenen in fragwürdiger Weise schmeichelnde evolutionistische Unterton, der im Begriff des Nachmetaphysischen enthalten ist oder es jedenfalls sein kann, vermieden werden soll.  Vgl. Kapitel 2.1. und 2.2. DOI 10.1515/9783110459159-005

210

4 Plessners Transformation der Ontologie

werden, reicht es nicht aus, die klassischen Ontologien als Gestalten eines verbindlichen Typus von Philosophie aufzufassen, an dem nur wenige Stellschrauben neu zu justieren wären, sondern nötig wäre eine „Neuschöpfung der Philosophie“.⁴ Dieser „Neuschöpfung der Philosophie“ hat Plessner 1931 in Macht und menschliche Natur, seiner dem landläufigen Verständnis nach einer ontologischen Lesart seiner Gesamtphilosophie schreiend widersprechenden Schrift, den Namen einer „regionalen Ontologie des Organischen“⁵ gegeben, der scheinbar Heideggers 1929 formulierten Einwand nachträglich nicht nur legitimiert, sondern gar als prophetische Antezipation erscheinen lassen mag. Plessners Vorhaben wäre jedoch schlecht interpretiert, würde man den Ausdruck „regional“ von der Reichweite des Ansatzes her verstehen; vielmehr ist die Ontologie des Organischen insofern regional orientiert im Ansatz am Erscheinen von Organischem, um von dort aus die verschiedenen Formen des Lebendigen in ihrer spezifischen Differenz voneinander sowie in ihrem Unterschied zum Nicht-Lebendigen zu bestimmen. Worum es dabei geht, ist die Bestimmung der Natur des Lebendigen und des Lebendigen als Natur. Der regional ansetzenden Orientierung entspricht methodisch die phänomenologische Deskription als erster Schritt in einem mehrstufigen methodischen Verfahren, das von der Phänomenologie des Lebendigen zu einer „Erforschung der Strukturgesetze des Ausdrucks“⁶ führe, die zu ihrer Durchführung wiederum einer philosophischen Hermeneutik bedürfe.⁷ Weil in Ausdrucksphänomenen, sofern sie naturphilosophisch verstanden und im Ausgang von phänomenologischen Beobachtungen expliziert werden, Ausdruck nicht in einem gegenständlich entbundenen Semantizismus des Ausdrucks auf einen „Ausdruck von“ (Freude, Trauer etc.) beschränkt werden kann, sondern unweigerlich auch „Ausdruck am bzw. im“ (Leib) bedeutet, womit der Ausdrucksbedeutung im primären Lebensvollzug begegnende natürliche Elemente als mediale Träger zugewiesen werden, verbinden Phänomenologie und Hermeneutik sich in ihrer gegenständlichen Rückbindung zu einer die Gestalt einer Philosophischen Anthropologie annehmenden Hermeneutik der Natur. ⁸ Mit dem Ausdruck, der weder bei Plessner noch

 SOM: 30.  MmN: 227.  SOM: 23.  „Philosophische Hermeneutik als die systematische Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit des Selbstverstehens des Lebens im Medium seiner Erfahrung durch die Geschichte läßt sich nur in Angriff nehmen – oder gar durchführen – auf Grund einer Erforschung der Strukturgesetze des Ausdrucks.“ – Ebd.: 23.  Davon zu unterscheiden ist Heideggers „Hermeneutik des Daseins“ (SuZ: 38), die in Sein und Zeit ihre von der naturalen Verfasstheit des hermeneutisch auszuleuchtenden Daseins abstrahierende

4.1 Prolegomena

211

in der einschlägigen Plessner-Forschung als Terminus kodifiziert zu sein scheint, soll hier keine philosophische Methode zur Philosophie stilisiert werden,⁹ sondern „Hermeneutik“ meint hier im schlichten Sinne der Bedeutung des Wortes eine Deutung der Natur, die zugleich eine Selbstdeutung der Natur durch den Menschen als eines auf das Andere seiner selbst durchgegebenen ist, gleichwohl aber nicht darauf reduzierbaren Lebewesens, als welches Plessner den Menschen in Macht und menschliche Natur charakterisiert: „Auf das Andere seiner Macht und seines Selbst durchscheinend ist der Mensch in eine Ebene mit physischen Dingen durchgegeben und erscheint von ihm aus dem Reich eines besonderen Seins belebter Körper, der Pflanzen und Tiere, eingegliedert.“¹⁰ Der Ausdruck Hermeneutik der Natur verbindet im doppelten Genitiv die Fokussierung von Natur als solcher und im Ganzen mit der Akzentuierung des naturphilosophischen Primats in der systematischen Orientierung. Was mit dem Ausdruck „das Andere seiner

Darlegung findet. Dabei wird das Dasein von Heidegger als höherstufiger Referenzpunkt angesetzt, auf den eine phänomenologische Ontologie zurückzugehen habe, ohne bis zu dessen lebendiger Verfasstheit vorzudringen; „Philosophie ist universale phänomenologische Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des Daseins, dessen Analytik der Existenz das Ende des Leitfadens alles philosophischen Fragens dort festgemacht hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt.“ (SuZ: 436) – Das Entspringen wird nicht naturphilosophisch thematisiert und müsste sich in der naturphilosophischen Perspektivierung zeigen als ein Dem-Entspringen, was der Mensch zugleich ist; das Entsprungene wäre also von seinem Ursprung, dem es, ohne von ihm loszukommen, entspringt, nicht abzuschneiden. Insofern lässt sich gegen Heidegger einwenden, dass die Philosophische Anthropologie gerade mit einer „regionalen Ontologie des Organischen“ fundamentaler ansetze als die Fundamentalontologie, die ihr Fundament, das Dasein, bereits im Ansatz einer fundamentalen Betrachtung entzogen hat.  Auf den methodischen Charakter der „Hermeneutik als Etappe für die Fundierung der Philosophischen Anthropologie“ (Krüger 2006: 197) hat Krüger nachdrücklich hingewiesen, ebenso aber auch auf Plessners Konzipierung der Philosophischen Anthropologie als Hermeneutik: „Das Besondere an Plessners Weg besteht darin, dass er die Hermeneutik als eine philosophische Anthropologie konzipiert.“ (ebd.: 198) Entscheidend ist hier die Wortstellung: die Hermeneutik wird als Philosophische Anthropologie konzipiert, nicht die Philosophische Anthropologie als Hermeneutik, d. h. die Erfüllung eines hermeneutischen Bedürfnisses bedarf der Ausgestaltung der über eine methodisch verstandene Hermeneutik hinausgehenden Philosophischen Anthropologie. Umgekehrt: Eine methodisch verstandene Hermeneutik, welche die phänomenologische Deskription überspringt, überlässt sich als Interpretation der Beliebigkeit von Vorurteilen, die auch dadurch nicht zu retten sind, dass man sie in einer Gadamer-Reminiszenz als „Vor-Urteile“ bezeichnet. Es sind daher zwei Begriffe von Hermeneutik zu unterscheiden, die auch bei Krüger, den vermeintlichen Widerspruch nicht vollziehend, mitlaufen: Hermeneutik als Methode der Auslegung im engeren Sinne und Hermeneutik als systematisches Vorhaben der Auslegung eines Gegenstandsbereichs, ohne dass methodisch damit etwas vorentschieden wäre.  MmN: 227.

212

4 Plessners Transformation der Ontologie

selbst“,¹¹ den Plessner in Macht und menschliche Natur bezeichnenderweise dort verwendet, wo er auf die exzentrische Positionalität und damit auf die naturphilosophische Grundlegung seiner Geschichtsphilosophie Bezug nimmt, gemeint ist, ist nicht ein schlechthin Anderes, sondern erfüllt gerade in der naturphilosophischen Rückbindung von Macht und menschliche Natur an die naturphilosophische Grundlegung in den Stufen den am Anfang der derselben formulierten Anspruch, „den Menschen als geistig-sittliche und als natürliche Existenz auf Grund einer Erfahrungsstellung zu begreifen“.¹² Um nichts anderes geht es auch einer Hermeneutik der Natur, die ihrem Namen nicht gerecht werden kann, wenn sie nicht als Hermeneutik der Natur zugleich eine Hermeneutik des Ausdrucks(‐verhaltens) darstellt. Die Philosophische Anthropologie wird dabei als Naturphilosophie und diese wiederum als Ontologie des Lebendigen in den Blick genommen; die Ontologie des Lebendigen kann dann nicht mehr zum Element der Philosophischen Anthropologie verharmlost werden. Diese Ontologie des Lebendigen ist eine prinzipiell neuartige Ontologie. Es macht keinen Sinn, wie Beaufort zu fragen, „welche Ontologie die Stufen zugrunde legen“¹³ – sie legen keine bereits bekannte zugrunde, denn sie bedürfen einer neuen, um die „Neuschöpfung der Philosophie“ zu leisten, von welcher Plessner spricht. „Sie bedürfen einer“ bedeutet nicht: Sie brauchen eine Ontologie als Grundlage, sondern: Sie müssen selbst als Ontologie durchgeführt werden. Mit einer solchen Neuschöpfung würde eine Reproduktion typologisch bereits bekannter Ontologien sowie deren marginale Modifikation sich schlecht vertragen. Die Neuschöpfung der Philosophie im Ganzen und die der Ontologie sind nicht voneinander zu trennen, sondern tragen sich gegenseitig und kulminieren in einem gemeinsamen Grundbegriff, nämlich dem der seienden Möglichkeit, um dessen grundlegende, zentrale Motive und Stränge der Philosophischen Anthropologie bündelnde Kraft es in diesem Teil gehen wird. Das Fundament von Plessners Ansatz und der oben angesprochenen Hermeneutik der Natur bildet die phänomenologische Deskription, welche nicht ohne weiteres am von Husserl überlieferten phänomenologischen Erbe anschließt, sondern selbst eine Transformation der Husserl’schen Phänomenologie sowohl

 „Als exzentrische Position des In sich – Über sich ist er das Andere seiner selbst: Mensch, sich weder der Nächste noch der Fernste – und auch der Nächste mit seinen ihm einheimischen Weisen, auch der Fernste, das letzte Rätsel der Welt.“ (MmN: 230)  SOM: 14.  Beaufort (2000: 20) – An anderer Stelle konkretisiert Beaufort die Frage: „Ist jedoch von Ontologie die Rede, dann muß heute gleich weiter gefragt werden, welche Art von Ontologie – kantianisch? idealistisch? realistisch? phänomenologisch? hermeneutisch? daseinsanalytisch?“ (ebd.: 15)

4.2 Die generelle Erscheinungsweise von Dingen

213

enthält als auch darstellt. Plessners phänomenologische Deskription der Anschauung wird daher in ihren allgemeinsten Grundzügen dargestellt, um von ihr Husserls egologische Phänomenologie abzugrenzen.

4.2 Die generelle Erscheinungsweise von Dingen und die Transformation der Phänomenologie Plessner trifft die Unterscheidung zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem im Ausgang von einer Phänomenologie der generellen Dingwahrnehmung. Lebendiges und Nicht-Lebendiges zeigen sich in der Anschauung als lebendige und nicht-lebendige Dinge. Ihre Unterscheidung stellt somit eine Binnendifferenzierung der Erscheinungsweise von Dingen überhaupt dar. Für alle Dinge, belebte wie unbelebte, gilt, dass sie bestimmten Erscheinungsgesetzlichkeiten unterstehen: „Frosch oder Palme unterliegen denselben Erscheinungsgesetzlichkeiten der Dinglichkeit (von der breiten Zone durchgehender physikalischer Gemeinsamkeiten zu schweigen) wie Stein oder Schuh.“¹⁴ Die elementarste Erscheinungsgesetzlichkeit besteht darin, dass alle Wahrnehmungsdinge eigenschaftlich erscheinen und nur deshalb als dieses bestimmte Ding erscheinen, weil sie als Einheit von Eigenschaften erscheinen: „Jedes in seinem vollen Dingcharakter wahrgenommene Ding erscheint seiner räumlichen Begrenzung entsprechend als kernhaft geordnete Einheit von Eigenschaften.“¹⁵ „Kernhaft geordnet“ sind die Eigenschaften als Eigenschaften „von etwas“. Plessner veranschaulicht das am Beispiel des Verhältnisses vom Blatt und seinem Grün: „Das Blatt hat das Grün an seiner Oberfläche, aber das Grün hat nicht auch umgekehrt das Blatt.“¹⁶ Ein „dinglich befreites“ Grün ist keine Eigenschaft mehr, sondern der Name einer Farbe, die an Gegenständen eigenschaftlich erscheinen muss. Plessner unterscheidet das Ding im Ganzen, das nie vollständig anschaulich präsent sei, von den Seiten desselben, die er auch die „eigenschaftstragenden Seiten“¹⁷ nennt; anschaulich erscheinen Dinge seitenhaft und ausschnitthaft, weil sie perspektivisch erscheinen. Dingausschnitte seien jedoch keine Fragmente, von denen her ein Ganzes zu erschließen oder aus denen es gleichsam im Nacheinander der Wahrnehmungsakte additiv zusammenzusetzen wäre, sondern ein Dingausschnitt ist für Plessner ein „Ausschnitt aus einer selbst nicht auf ein Mal erscheinenden, trotzdem als das seiende Ganze anschaulich mitgegebenen    

SOM: 89. Ebd.: 82. Ebd.: 82. Ebd.: 84.

214

4 Plessners Transformation der Ontologie

Struktur“.¹⁸ Die Anschauung muss demnach das anschaulich Gegebene innerhalb ihrer selbst auf das Ganze desselben hin überschreiten. Ein grundsätzliches Problem der Phänomenologie, die Unüberführbarkeit des Aufzeigens in eine Erklärung, die den phänomenologisch Blinden sehen macht, zwingt Plessner dazu, diese Überschreitung mit verschiedenen Begriffen zu umkreisen,¹⁹ bevor er, um die „sinnlich nicht belegbare Weise der Zugehörigkeit des reellen Phänomens zum ganzen Dinge“²⁰ begrifflich einzuholen, den Begriff der „Transgredienz des Erscheinungsgehalts“²¹ einführt. Zwei Richtungen der Transgredienz unterscheidet Plessner: „,in‘ das Ding ,hinein‘“,²² auf den „substantiellen Kern des Dinges“²³ zielend, und „,um‘ das Ding ,herum‘“,²⁴ auf die „möglichen anderen Dingseiten“²⁵ zielend. Die beiden Ausdrücke sind räumlichen Charakters²⁶, meinen aber nicht nur die am Ding räumlich aufweisbaren Seiten und die räumlich bestimmbare Mitte, den geometrischen Zentralpunkt des Dinges, sondern zielen auf den dingkonstituierenden Charakter des Verhältnisses von Zentrum und Seiten: „Auf das Zentrum und die Seiten im räumlichen Sinne kann man den Finger legen. Auf Zentrum und Seiten als dingkonstituierende Charaktere kann man das aber nicht.“²⁷ Es existiert also ein räumliches, d. h. als geometrischer Ort räumlich aufweisbares Zentrum, und ein unräumliches Zentrum, eine raumhafte bzw. „kernhafte“ Mitte,²⁸ deren anschauliches Korrelat nicht die räumlichen Seiten des Dinges, sondern die eigenschaftstragenden Seiten des Dinges sind. Bei Kern und Eigenschaft handele es sich um Innen (Kern) und Außen (Seiten), welche dingkonstituierende Charaktere universaler Natur sind, d. h. sie sind konstitutiv für die Wahrnehmung sowohl lebendiger als auch unbelebter Dinge, denen die gleichen Wesenscharaktere, wenn auch in verschiedener Weise, zu-

 Ebd.: 82.  „Das reelle (belegbare) Phänomen weist auf dieses tragende Ganze von sich aus hin, es überschreitet gewissermaßen seinen eigenen Rahmen, indem es als Durchbruch, Aspekt, ErScheinung, Manifestation des Dinges selbst sich darbietet.“ (ebd.: 82)  Ebd.: 82.  Ebd.  Ebd.: 82 f.  Ebd.: 83.  Ebd.  Ebd.  Vgl. ebd.: 83 f.  Ebd.: 84.  Vgl. ebd.: 82.

4.2 Die generelle Erscheinungsweise von Dingen

215

kommen.²⁹ Den elementaren Wesenscharakter sämtlicher Dinge, den Plessner in der Differenz von Kern (Innen) und Seiten (Außen) fasst, nennt er Doppelaspekt. Lebendiges erscheint „im Doppelaspekt“ und damit im „Zwiespalt eines nie erscheinenden, d. h. nie Außen werdenden Innen und eines nie Kerngehalt werdenden Außen“³⁰ – dies wird weiter unten eine genauere Explikation erfahren -, nicht-lebendige Dinge erscheinen „kraft des Doppelaspekts“.³¹ Die Doppelaspektivität ist jedoch prinzipiell dingkonstituierend im objektiven, nicht im subjektiven Sinne; die oben entfaltete Aspektdivergenz ist nicht Resultat der Anschauung als eines subjektiven Akts des Anschauenden, sondern Wesensmerkmal des Erscheinens des Gegenstands in der Anschauung. Darum bezeichnet der Doppelaspekt im Allgemeinen „prinzipiell divergente Gegenstandssphären, die nie, wesensmäßig nie in einander überführbar sind“³² statt Kategorien des Erscheinens von Gegenständen zu bezeichnen. Bei dem Verhältnis der beiden Gegenstandssphären zueinander handelt es sich Plessner zufolge um ein „gegenseitiges Bedingungsverhältnis“.³³ Dass es sich um ein reales Bedingungsverhältnis handele, das die Wirklichkeit des Wirklichen unhintergehbar ausmache, zeigt sich für Plessner gerade in Wahrnehmungstäuschung und Halluzination, in welchen den Gegenständen „substantielle Kernigkeit“³⁴ eigne, die den Anschauenden dazu verführe, „Wirklichkeit zu glauben, wo keine ist“.³⁵ Plessner fasst Wirklichkeit damit in durchaus Aristotelischer Intention, aber mit dieser Intention adäquater gerecht werden könnenden methodischen Mitteln, als das Wirklichsein bzw. die Aktualität auf, welche das Ding im Fluss der Erfahrung mit einer Unhinterfragbarkeit ausstattet, welche die intellektuelle Erfassung der Realität und gegebenenfalls der Irrealität des Dinges überhaupt erst ermöglicht. Nur weil die substantielle Kernigkeit dem Ding real zukomme und ihm dadurch Wirklichkeitscharakter verleihe, kann das Subjekt von der scheinhaft-wirklichen Wirklichkeit des Nicht-Realen übertölpelt werden. Die explikative Entfaltung des gegenseitigen Bedingungsverhältnisses von Substanzkern und Eigenschaft ist nicht Sache der Anschauung, sondern der „gedankliche[n] Überlegung“;³⁶ Plessner spricht auch von einer „nachträgliche[n]

 „Wesenscharaktere des Körperdings bleiben die gleichen, ob es sich um nichtbelebte oder belebte Dinge handelt.“ (ebd.: 89)  Ebd.: 88.  Zur Differenz von „im“ und „kraft des Doppelaspekts“ vgl. ebd.: 89.  Ebd.  Ebd.: 85.  Ebd.: 87.  Ebd.  Ebd.: 84.

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4 Plessners Transformation der Ontologie

Besinnung“.³⁷ Beide sind nicht von nachträglicher Art in dem Sinne, dass in ihnen eine Projektion vermeintlicher intellektueller Denknotwendigkeiten in die Anschauung stattfände, wie sie die Festschreibung von in der Anschauung erscheinenden, fraglos existierenden Seinsbereichen leichter Hand vornimmt, sondern sie sind aufzufassen als die Explikation der „Voraussetzungen jenes Anspruches der Anschauung, der über die Fassungsgrenze der Sinne hinausgeht, ohne für die sinnliche Anschauung selbst bemerkbar zu werden“.³⁸ Es ist deshalb zu unterscheiden zwischen dem „anschaulichen Sachverhalt von Substanzkern und Eigenschaft“³⁹ [Hervorhebung, S. E.] und einem nicht anschaulichen, aber in der Anschauung selbst anschaubaren und diese ontologisch tragenden Sachverhalt von Substanzkern und Eigenschaft, dessen Existenz jenseits aller Anschauung liegt. Dieser „anschauliche Sachverhalt“ ist nicht anschaulich im Sinne der Sinnlichkeit, die nur die jeweiligen Gegenstände der Anschauung kennt, nicht aber sie konstituierende „Sachverhalte“. Gerade weil dies nicht der Fall ist, sondern im Begriff des Transgredienzverhältnisses das die Anschauung konstituierende, aber nicht selbst sinnlich Anschaubare erfasst wird, kann Plessner behaupten, dass „das Kern-Eigenschaftsverhältnis eine dem angeschauten Dingbestand schon als Angeschautem eingelagerte Struktur ist“,⁴⁰ anders gesagt: „Der Doppelaspekt konstituiert das Anschauungsgebilde des Dingkörpers, aber als echte Bedingung verliert er sich in dem von ihm Bedingten.“⁴¹ Was Plessner mit der „Transgredienz des Erscheinungsgehalts“ meint, verdient eine Abgrenzung von Husserls Begriffen der „Appräsentation“ und „Protention“, da der Unterschied zwischen beiden Begriffen den Unterschied im Ganzen sichtbar werden lässt, der phänomenologisch zwischen Husserl und Plessner besteht. Diese Selbstüberschreitung der Anschauung auf das Ganze hin ist Husserls „Appräsentation“ nicht ganz unähnlich und doch fundamental davon verschieden, da Husserls Appräsentation eine „recht komplizierte intentionale Leistung“⁴² bezeichnet, deren Funktion in einer Überschreitung der Anschauung durch das Bewusstsein besteht, weshalb Husserl sie auch als ein „Als-mitgegenwärtig-bewusst-machen“⁴³ bestimmt. Ihren kritischen Ort findet die Appräsentation in der Theorie der Intersubjektivität, wo sie die vom Ich ausgehende und an das Ich gebunden bleibende antezipatorische Erfassung des Anderen (nicht

      

Ebd.: 88. Ebd. Ebd.: 86. Ebd.: 87. Ebd.: 89. CM: 140. Ebd.: 139.

4.2 Die generelle Erscheinungsweise von Dingen

217

dessen Erschließung, die eine rationale Bewusstseinsleistung wäre) als eines meiner Gleichen meint, zu dem mir allerdings ein direkter Zugang, d. h. eine unmittelbare Hineinversetzung in seine Erlebnisse, fehlt: Eine gewisse Mittelbarkeit der Intentionalität muss hier vorliegen, und zwar von der jedenfalls beständig zugrundeliegenden Unterschicht der primordinalen Welt auslaufend, die ein Mit da vorstellig macht, das doch nicht selbst da ist, nie ein Selbst-da werden kann. Es handelt sich also um eine Art Mit-gegenwärtig-machens, eine Art Appräsentation. ⁴⁴

Der Andere erscheint hier nicht als der Andere, wie er sich von sich aus zeigt, sondern als der Andere, wie er sich mir zeigt. Die Sphäre der Appräsentation ist also die des Bewusstseins, dessen synthetische Leistungen Husserl erforscht, um zu „transzendentalen Wesensstrukturen und Wesensgesetzen“⁴⁵ zu gelangen, die notwendig solche eben dieses Bewusstseins bleiben.⁴⁶ Die klassischen Aporien der Intersubjektivität, die in der Husserl’schen Phänomenologie den Anderen doch zuletzt zur Fußnote der Subjektivität degradiert, brechen hier deutlich auf. Der Andere bleibt Teil der Wesensstruktur der Intentionalität des Ego, die Husserl mit der „gesamten wirklichen und möglichen Intentionalität“ in eins setzt: „Die wesensmäßige Bezogenheit des ego auf eine Mannigfaltigkeit von vermeinten Gegenständen bezeichnet danach eine Wesensstruktur seiner gesamten wirklichen und möglichen Intentionalität.“⁴⁷ Nicht besser steht es um den ebenso in den Erlebnisstrukturen des Bewusstseins verorteten Begriff der Protention, die ihre Verortung erhält im „intentionalen Horizont der Verweisung [des Erlebnisses, S. E.] auf ihm selbst zugehörige Potentialitäten des Bewußtseins“:⁴⁸ Zu jeder äußeren Wahrnehmung gehört die Verweisung von den eigentlich wahrgenommenen Seiten des Wahrnehmungsgegenstandes auf die mitgemeinten, noch nicht wahrgenommenen, sondern nur erwartungsmäßig und zunächst in unanschaulicher Leere antizipierten Seiten – als die nunmehr wahrnehmungsmäßg kommenden, eine stetige Protention, die mit jeder Wahrnehmungsphase neuen Sinn hat.⁴⁹

 CM: 139.  Husserl (1992: 285)  Konsequenterweise kann Husserl den Begriff der Appräsentation auch im Bereich der Urteilstheorie verwenden: „Mein Urteil – das ich soeben gefällt hatte, aber in der Explikation verwerfen muß, das also von dem Moment an nicht mehr mein jetziges Urteil, sondern mein soeben gewesenes ist – hat jetzt gemäß der Explikation den und den expliziten Sinn, ebenso mein früher vergangenes Urteil und in ähnlicher Weise das appräsentierte Urteil des Anderen.“ (ebd.: 64)  CM: 191. – Zur egologischen Gebundenheit von Wesensgesetzen im Allgemeinen vgl. auch ebd.: 28.  Ebd.: 82.  Ebd.

218

4 Plessners Transformation der Ontologie

Hier wird der Unterschied zu Plessner überaus deutlich: Die Protentionen sind nicht nur Erlebnismodalitäten, sondern bleiben auf den Außen-Aspekt des Wahrnehmungsgegenstands beschränkt, d. h. auf die anschaulich gegebenen Seiten im Verhältnis zu den noch nicht zur Wahrnehmung gekommenen Seiten. Eine prinzipielle Aspektdivergenz existiert in Husserls Sichtweise nicht in der Sphäre der Gegenstandskonstitution, da es innerhalb der Gegenstandssphäre keine Innen-Außen-Differenz gibt, sondern nur Seiten, die auf weitere Seiten verweisen; vielmehr wird das Innen bei Husserl in Form der eigenen Erlebnissphäre einem jeglichen Außen in Gestalt der durch die Wahrnehmung zugänglichen Gegenstandssphäre gegenübergestellt, wobei diese Gegenüberstellung durch eine Kluft zwischen Ego (Innen) und Gegenstandswelt (Außen) gekennzeichnet ist. Genau darauf zielt Plessner auch in seiner Husserl-Kritik, wie er sie in den Stufen formuliert: Nicht weil wir unsere Sinne nicht überall haben und mit einem auf das Totalding konzentrisch gerichteten Sinnensystem es nicht wahrnehmen können, gilt dieses Gesetz [der notwendigen Einseitigkeit der Erscheinung, S. E.], sondern weil im Wesen der Erscheinung eines Etwas, das mehr als nur Scheinendes ist, die Aspektivität, das Von einer Seite Sein liegt […] Aspektivität als dem Objekt selbst zugehörige Begrenztheit, als die ihm im Erscheinen strukturell zugehörige Seitenhaftigkeit ist nicht mit dem Bilde zu verwechseln, das als Wahrnehmungs- oder Vorstellungsbild im Bewußtsein bleibt.⁵⁰

Der Unterschied zwischen Plessners und Husserls phänomenologischen Ansätzen lässt sich komprimiert benennen als der zwischen einer Phänomenologie der Erscheinungsweise von Dingen und einer Phänomenologie der Wesensstrukturen des Bewusstseins. Erst innerhalb der objektiven Transformation der Phänomenologie, wie Plessner sie vornimmt, kommt das Ding als solches, als durch die Doppelaspektivität von Innen (Substanzkern) und Außen (Eigenschaften) in den Blick. In der Freilegung der Struktur, die Sinnliches zu Anschaulichem macht, ohne selbst anschaubar zu sein, wird eine Ontologie der Dinglichkeit antezipierbar, deren Durchführung eher eine Analyse des Erscheinens von Dingen als eine Kategorienlehre des Erscheinens der Dinge für einen Beobachter (ein ego, ein transzendentales Subjekt) erfordert. Allerdings wird hier noch keine als eine solche ansprechbare Ontologie sichtbar, da eine solche ein begriffliches Instrumentarium erfordert, das eine differenzierte Dinganalyse, minimal also die elaborierte Unterscheidung zwischen nichtlebendigen und lebendigen ermöglicht. Die Binnendifferenzierung der Dinganalyse, die es ermöglicht, zwischen lebendigen und nicht-lebendigen Dingen zu unterscheiden, soll nun genauer in den

 SOM: 83.

4.3 Doppelaspekt und Grenze

219

Blick genommen werden, um den Begriff der Ontologie an der Ontologie des Lebendigen zu präzisieren.

4.3 Doppelaspekt und Grenze Das Kernstück der phänomenologischen Deskription bildet die Analyse der lebendigen Dinge, „die nicht nur „kraft des Doppelaspekts“, sondern im Doppelaspekt erscheinen, bei denen also die Divergenz der gegenstandsbedingenden Sphären selbst den Gegenstand der Anschauung bildet“.⁵¹ An anderer Stelle bestimmt Plessner die Differenz zwischen „kraft des Doppelaspekts“ und „im Doppelaspekt“, indem er im Doppelaspekt erscheinende Dinge als solche bestimmt, „an welchen eine prinzipiell divergente Außen-Innenbeziehung als zu ihrem Sein gehörig gegenständlich auftritt“.⁵² Wenn ein Ding im Doppelaspekt erscheint, erscheint der Doppelaspekt zugleich gegenständlich am betreffenden Ding. „Im“ Doppelaspekt von Physischem und Psychischem erscheint ein Mensch grundsätzlich als Erscheinendes und „an“ ihm erscheint der Doppelaspekt, weil er den Doppelaspekt im Verhalten in konkrete Ausdrucksgestalten transformiert, z. B. in den ängstlichen Gesichtsausdruck. Das „am“ bringt den Bezug zu einem Anschauenden in der Anschauung ins Spiel, ist jedoch nicht das Resultat des Bewusstseins des Anschauenden, sondern Qualität des Erscheinens für ein jegliches Bewusstsein. Physisches und Psychisches bilden so eine anschauliche Bedeutungseinheit am Ding, das im Doppelaspekt von Psychischem und Physischem erscheint, aber sie können nicht in der Erscheinung des Dinges das jeweils Andere werden, sondern sie bilden in ihrer gleichzeitigen Differentialität und Untrennbarkeit die Erscheinung des lebendigen Dinges als solchem. „Im“ und „am“ bezeichnen in ihrer so gefassten strikten Komplementarität fundamental die Differenz zu einem jeglichen „durch“, das z. B. zum Einsatz käme, wenn das Erscheinen durch das Bewusstsein vermittelt gedacht würde. Die das „im“ beibehaltende (Zwangs‐)Umsiedlung des Doppelaspekts vom Erscheinenden in das Bewusstsein würde die Komplementarität von „im“ und „am“ eliminieren, weil sie den Idealismus an die Stelle der phänomenologischen Deskription treten ließe; Erscheinung wäre dann Erscheinung im Medium des Bewusstseins und der Doppelaspekt würde allenfalls für das Bewusstsein am Ding auftreten. Das „im“ und „am“ kennzeichnen in ihrer Gemeinsamkeit das lebendige Ding, das im Doppelaspekt prinzipiell divergenter Aspektrichtungen erscheint, die auch

 Ebd.: 89.  Ebd.

220

4 Plessners Transformation der Ontologie

an ihm erscheinen: „Körperliche Dinge der Anschauung, an welchen eine prinzipiell divergente Außen-Innenbeziehung als zu ihrem Sein gehörig gegenständlich auftritt, heißen lebendig.“⁵³ Ineinander überführbar sind Innen und Außen dagegen bei bloß stofflichen Dingen wie einem umgestülpten Handschuh, den Plessner als Beispiel für einen Gegenstand anführt, bei dem Inneres und Äußeres konvertibel sind, da „die Umstülpung die Richtungspolarität ,kongruenter Gegenstücke‘, wie Kant es nennt, von links und rechts überwindet“.⁵⁴ Bei lebendigen Dingen müssen die eigenschaftstragenden Seiten (Außen) mit dem Substanzkern (Innen) zur Deckung gebracht werden können, damit beide ineinander überführbar wären; die Eigenschaften müssten zu dem werden können bzw. funktional an die Stelle dessen treten können, dessen Eigenschaften sie sind, der Mensch und seine Hautfarbe etwa müssten „kongruente Gegenstücke“ bilden. Innen und Außen würden zur Deckung kommen, wenn es tatsächlich einen homunculus im Gehirn gäbe, also ein Physisches, das im räumlichen Innen des Körpers als dessen wiederum physisches Wesenhaftes existierte; auch die Seele, die einen Sitz im Gehirn hat, ist eine Vorstellung, welche den Doppelaspekt verdinglicht und das Wesen des Innen vom Außen innerhalb des „innersten Innen“ her imaginiert.⁵⁵ Die Einheit des im Doppelaspekt erscheinenden lebendigen Dinges ergibt sich allerdings nicht aus einer Kongruenz von Gegenstücken, sondern daraus, dass „zwei Richtungen der Transgredienz […] wesenhaft zusammengehören, obwohl nie zusammenfallen: die Transgredienz vom Phänomen ,in‘ das Ding ,hinein‘ und ,um‘ das Ding ,herum‘. Die erste zielt auf den substantiellen Kern des Dinges, die zweite Richtung zielt auf die möglichen anderen Seiten.“⁵⁶ Beide Richtungen der Transgredienz konstituieren – wie die Aspekte des Innen und Außen im Falle des Wahrnehmungsdinges überhaupt – in unauflöslicher Gegensinnigkeit das lebendige Ding in der Anschauung. Dessen Einheit in der Anschauung ist demzufolge keine bruchlose Einheit, sondern eine Einheit, die sich aufgrund der Gegensinnigkeit der Aspekte von Innen und Außen darbietet als „Zwiespalt eines nie erscheinenden, d. h. nie Außen werdenden Innen und eines nie Kerngehalt werdenden Außen“.⁵⁷ Was nur „kraft des Doppelaspekts“ erscheint, erscheint nicht im

 Ebd.  Ebd.: 80.  Die Beliebtheit solcher Vorstellungen zeugt davon, dass die Überlegung, von der Plessner in dem Zusammenhang spricht, Not tut: „Erst die Überlegung kann einen von der Sinnlosigkeit des Versuchs überzeugen, zu welchem trotzdem die Anschauung immer wieder verführt, durch reales Eindringen in das Ding, durch ein schichtmäßiges Entblättern seinem zentralen Kerngehalt näherzukommen.“ (ebd.: 85)  Ebd.: 82 f.  Ebd.: 88.

4.3 Doppelaspekt und Grenze

221

Zwiespalt, sondern in einer in sich indifferenten Differenz von Innen und Außen im räumlichen Sinne.Weil die Differenz von Innen und Außen bei Lebendigem als die von Psychischem und Physischem sich zeigt, erscheint sie als prinzipielle Aspektdivergenz und als Zwiespalt. Eine Präzisierung der prinzipiellen Aspektdivergenz wird vom noch zu explizierenden Begriff der Grenze bzw. der „funktionalen Mitte“ (Krüger) her möglich sein; worauf es hier ankommt, ist der phänomenologische Unterschied zwischen der Relativdivergenz der Aspekte bei Nicht-Lebendigem und der prinzipiellen Aspektdivergenz als phänomenologischem Kennzeichen von Lebendigem, auf die Plessner dezidiert hinweist mit seiner Bemerkung, „daß das In ihm Hinein und das Über ihm Hinaus nicht als räumliche Gegensinnigkeit verstanden werden kann, weil die prinzipielle Divergenz dadurch in eine Relativdivergenz verwandelt wäre“.⁵⁸ In den Eigenschaften des Körpers als eines räumlichen und damit seitenhaft perspektivierten erscheinen auch Eigenschaften, die selbst nicht räumlicher Art, vom Räumlichen aber nicht abtrennbar sind; die Seiten sind somit doppelt gegeben, als räumliche Seiten und in ihren Eigenschaften: „Dingkonstituierende Momente und räumliche Momente sind also, obzwar in der Anschauung voneinander untrennbar, nicht identisch.“⁵⁹ Dingkonstituierend ist das Eigenschaftliche der Anschauung, räumlich dessen materielles Substrat, das in der Anschauung nur eigenschaftlich zugänglich ist; Räumliches im Sinne des Materiellen begegnet z. B. durch Festigkeit und Widerstand, im analytisch-geometrischen Sinne von Räumlichkeit ist es kein Gegenstand der Anschauung, sondern der aus ihr heraustretenden Beobachtung und Analyse.Vom Innen-Aspekt her formuliert: Wiederum in seinen Eigenschaften, und zwar nur in seinen Eigenschaften,⁶⁰ komme das unräumliche Innen, z. B. „das unräumlich Wirkliche seelischen Lebens“⁶¹ oder die „kernhafte Mitte“,⁶² wie Plessner den notwendig unräumlichen Substanzkern auch nennt, zur Erscheinung. Der Begriff der Eigenschaft ist somit ein für die Analyse der Doppelaspektivität zentraler Begriff, weil die „eigenschaftstragenden Seiten“ als Dingseiten räumlicher Art sind, ihr Eigenschaftscharakter (ihre Farbe oder ihre Festigkeit) ein dingkonstituierender Aspekt ist, dessen Richtungsgegensatz der ebenfalls eigenschaftlich erscheinende InnenAspekt (Substanzkern) ist. Im Doppelaspekt treten Innen (Substanzkern) und Außen (eigenschaftstragende Seiten) jeweils eigenschaftlich auf – sie „gewinnen“

    

Ebd.: 139. Ebd.: 84. Vgl. ebd.: 84. Ebd.: 84. Vgl. ebd.: 82.

222

4 Plessners Transformation der Ontologie

Eigenschaftsstellung, wie Plessner sagt⁶³ – sowie das Ding im Ganzen als irreduzibles Ineinander dieser Eigenschaften in Eigenschaftsstellung erscheint: „Ausdrücklich ist in der These festgelegt, daß die Doppelaspektivität gegenständlich am Ding, in Eigenschaftsstellung also, auftreten muß, damit das Ding den Namen eines lebendigen verdient.“⁶⁴ Dem lebendigen Ding, das derart in Eigenschaftsstellung erscheint, kommt als Ganzem eine weitere Eigenschaft zu, die aus der hier entfalteten formalen Veränderung seiner Erscheinungsweise resultiert, nämlich die „rätselhafte Eigenschaft des Lebens“: „Nur haben die belebten gegenüber den unbelebten das Plus jener rätselhaften Eigenschaft des Lebens, die trotz ihrem Eigenschaftscharakter nicht nur material die Erscheinung des betreffenden Dinges, sondern darüber hinaus formal seine Erscheinungsweise verändert.“⁶⁵ Die Rätselhaftigkeit, die Plessner der „Eigenschaft des Lebens“ hier zuschreibt, indiziert eine Erklärungsbedürftigkeit, die nicht mit der phänomenologischen Deskription des Doppelaspekts allein abgegolten werden kann. Plessner spricht sowohl von der „Eigenschaft des Doppelaspekts“ als auch von der „Eigenschaft des Lebens“, doch beide sind, obwohl einander wesensnotwendig zugeordnet, nicht identisch. Soll diese Eigenschaft des Lebens nicht schlicht in ihrer Rätselhaftigkeit, als gleichwohl eigenschaftlich erscheinende qualitas occulta des Doppelaspekts hingenommen werden, müssen zumindest Ermöglichungsbedingungen der dahingehenden Erscheinungsweise des lebendigen Dinges im Doppelaspekt angegeben werden können, die sich dem methodischen Rahmen einfügen, innerhalb dessen die Doppelaspektivität freigelegt worden ist. Als diese Ermöglichungsbedingung macht Plessner die vom organischen Körper realisierte Grenze aus. Doch bevor wir uns der Einführung des Grenzbegriffs zuwenden, soll von der Analyse der Doppelaspektivität her Plessners Kritik der traditionellen Ontologie, welche den Aspekten Seinsbereiche zuordnet, entfaltet und damit die ontologische Motiviertheit der neu eingeführten Begrifflichkeit aufgezeigt werden.

 „Dadurch daß ein Aspekt Eigenschaftsstellung gewinnt, wird, wie oben bereits gesagt, die Erscheinung eines lebendigen Dingkörpers gegen die eines unbelebten nicht material, sondern formal verändert.“ (ebd.: 104)  Ebd.: 50.  Ebd.: 90.

4.4 Die Doppelaspektivität als Grundlage der Kritik

223

4.4 Die Doppelaspektivität als Grundlage der Kritik des cartesianischen Alternativprinzips, der mechanischen Reduktion der Natur und des methodischen Dualismus 4.4.1 Kritik der Naturwissenschaften Plessner unterscheidet zwischen zwei typologischen Varianten einer fehlgehenden Deutung der Erscheinungsweise des Lebendigen an den Beispielen der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise und des cartesianischen Dualismus, die zwar keinen ontologischen Sinn mehr beanspruchten, aber auf einer ursprünglich ontologischen Unterscheidung basierten: Ursprünglich zwar ist die Scheidung alles Seins in res extensa und res cogitans ontologisch gemeint. Sie erhält jedoch von selbst eine methodologisch fortwirkende Bedeutung, die sie in gewissem Sinne der ontologischen Kritik entzieht. Mit der Gleichsetzung von Körperlichkeit und Ausdehnung ist die Natur ausschließlich der messenden Erkenntnis zugänglich gemacht. Alles, was an ihr zur intensiven Mannigfaltigkeit der Qualitäten gehört, muß als solches für cogitativ gehalten werden, da zur einzigen Gegensphäre der Ausdehnung die res cogitans bestimmt ist. Es gibt demnach nur die beiden Möglichkeiten, entweder die qualitativen Daseins- und Erscheinungsweisen der Körper mechanisch aufzufassen, sie also in Quantitäten aufzulösen, oder aber bei Vermeidung dieser Analyse sie für Inhalte von Cogitationen, für Inhalte und Produkte unserer Innerlichkeit zu erklären.⁶⁶

Die Naturwissenschaften stehen für die mechanische Reduktion, von der Plessner spricht, und werden strikt von der Naturphilosophie unterschieden, welche die Basis der Neuschöpfung der Philosophie bildet. Die Naturphilosophie habe eine „nicht empirisch restringierte Betrachtung der körperlichen Welt, aus der sich die geistig-menschliche Welt nun einmal aufbaut“,⁶⁷ zu leisten. Nicht restringiert ist die Betrachtung der körperlichen Welt als Analyse der Erscheinungsweise der körperlichen Welt, wie sie im Ausgang von der phänomenologischen Deskription und in deren Entfaltung hin zu einer noch im einzelnen darzulegenden Kategorienanalyse des Lebens zu leisten ist: „Eine derartige Betrachtung der Körperwelt und ihrer Erscheinungsweisen gibt die exakte Naturwissenschaft nicht.“⁶⁸ Durch die Naturwissenschaften und deren Methode wird der Außen-Aspekt, die Körperlichkeit, in der „Identifikation von Körperlichkeit und Ausdehnung und Messbarkeit“⁶⁹ Plessner zufolge fundamentalisiert und das im Doppelaspekt er   

Ebd.: 39 f. Ebd.: 26. Ebd. Ebd.: 39.

224

4 Plessners Transformation der Ontologie

scheinende Ding allein in seiner physischen Verfasstheit in den Blick genommen. Die Dominanz der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise geht einher mit der Dominanz einer Fundamentalisierung, welche die Reduktion des Lebendigen auf die Körperlichkeit zur Konsequenz hat. Diese Reduktion stellt in sich bereits eine doppelte Reduktion dar, da Plessner zwischen Substanzkern und eigenschaftstragenden Seiten unterscheidet, die Eigenschaften der Seiten aber bereits in ihrem Eigenschaftscharakter der direkten empirischen Erforschung sich verschließen. Insofern bleiben von den eigenschaftstragenden Seiten nur noch die räumlichen „Seiten“ und damit das Körperliche in seiner räumlich-materiellen Gestalt übrig; die Eigenschaften derselben hingegen bilden ein Korrelat, das aber in seiner qualitativen Eigentümlichkeit ein Zuordnungsphänomen bleibt und nur indirekt, über die Erforschung des physikalischen Substrats des physikalisch nicht reduzierbaren Gesamtphänomens, zum Forschungsgegenstand werden kann. Die methodische Handhabung der Natur durch die Naturwissenschaften ist zwar nicht ontologischer Natur, die ihr zugrundeliegende Auffassung der Natur ist es jedoch durchaus, wie die Philosopheme philosophierender Naturwissenschaftler zeigen.⁷⁰ Der ontologische Sinn des der Forschung zugrundeliegenden Naturverständnisses ermöglicht erst, den empirischen Zugang zur Natur für explanativ zureichend zu halten; darüber hinaus hat die Auflösung des Körperlichen in messbare und technologisch handhabbare Quantitäten durch die Neurowissenschaften längst die Gestalt einer durchaus ontologisch zu deutenden Reduktion der res cogitans auf die res extensa angenommen. Zwar konnten die Auswüchse des Reduktionsbegehrens, dessen schlagendste Gestalt keimhaft im methodischen Monismus bereits vorhanden ist und den Namen des eliminativen Materialismus⁷¹ trägt, Plessner noch nicht bekannt sein, doch bereits in Die Einheit der Sinne hat Plessner sich mit dem Problem des Verhältnisses zwischen Quantität und Qualität und der Reduktionsmöglichkeit des Qualitativen aufs Quantitative grundsätzlich befasst. Das Problem, das Plessner in dem Zusammenhang umreißt, besteht in den Stufen unverändert fort; es ist das Problem der bloßen Korrelierbarkeit irreduzibler Gegebenheitsweisen: „Nach der Entdeckung des Weber-

 Das schlagendste Beispiel stellt die von Charles Percy Snow losgetretene und in Kreuzer 1987 versammelte Debatte um die „zwei Kulturen“ dar.  Paul Churchland spricht in Neurophilosophy at Work deutlich aus, dass die Lösung ontologischer Probleme und die Beseitigung ontologischer Lücken in unserer Realitätsauffassung von den Naturwissenschaften zu leisten wären, die er den als aprioristisch bezeichneten philosophischen Argumenten gegenüberstellt: „But whether an apparent gap represents a mere gap in our current understanding and imaginative powers, or an objective gap in the ontological structure of reality, is always and ever an empirical question – to be decided by unfolding science, and not by preemptive and dubious arguments a priori.“ (Churchland 2007: 194)

4.4 Die Doppelaspektivität als Grundlage der Kritik

225

Fechnerschen Gesetzes über den Zusammenhang zwischen Reizstärke und Empfindungsstärke schien sich die Kluft zwischen physikalischer und psychologischer Betrachtung geschlossen zu haben. Aber für die Theorie der Qualitäten war damit nichts gewonnen.“⁷² Der Zusammenhang zwischen Reizstärke und Empfindungsstärke ist demzufolge eine bloße Zuordnung zweier Werte zueinander, ohne dass der qualitative Empfindungswert als solcher in physiologisch korrelierende Empfindungsintensitäten auflösbar wäre.⁷³ An anderer Stelle ironisiert Plessner den Glauben an eine Auflösbarkeit des Qualitativen ins Quantitative, die zugleich als hinreichende Erklärung des ersteren durch die ihm zugeordneten quantitativen Werte fungieren könne, am Beispiel der Erregungen von Organen: Ihre Erregungen haben nicht Abbild-, sondern Zeichenwert, so daß das qualitativ mannigfaltige Bewußtseinsbild nicht bloßer Schein, sondern echte erscheinende Wirklichkeit darstellt, die sich so gibt, wie sie an und für sich ist. Nur müßte, um solche Übereinstimmung zwischen dem subjektiven Phänomen und der objektiven Natur zu garantieren, eine prästabilierte Harmonie dank der Güte Gottes herrschen, die einen Glauben voraussetzt, den die Philosophie, wenn sie es vermeiden kann, nicht unter ihre Prinzipien wird aufnehmen wollen.⁷⁴

Der methodische Monismus der Naturwissenschaften ist keineswegs ontologisch neutral: Er anerkennt in der von Plessner diskutierten Variante zweierlei, nämlich die ausschließliche ontologische Signifikanz bzw. die Priorität des nur naturwissenschaftlich Bearbeitbaren einerseits, die Plessner im Begriff der Fundamentalisierung eines in bestimmten Theorien „verkörperten“ Erkenntnisprinzips fasst,⁷⁵ und andererseits die Auffassung, dass naturwissenschaftlich zugängliche Entitäten realiter einen Seinsbereich eigener Art bilden, der sonst gar nicht als Be-

 EdS, 24.  Die Vergeblichkeit des Versuchs, eine Zuordnung, innerhalb welcher auf einer von zwei Ebenen analytische Zerlegungen möglich sind, für vollständige Erklärungen auszugeben, spricht Plessner auch in den Stufen am Beispiel des Physikers auf: „Wenn der Physiker erklärt, „was“ die Farbe Rot „ist“, wenn der Physiologe die Stärke einer Schallempfindung mißt, wenn der Psychologe die Perseverationstendenz bestimmter Vorstellungen fixiert, – so stellt sich überall als eigentlicher Sinn die Herausarbeitung der quantitativ faßbaren Bedingungen dar, an welche das Auftreten der qualitativ nur für das Erleben aufgeschlossenen Phänomene gebunden ist.“ (SOM: 30)  EdS: 62.  „Kaum eine bedeutende Entdeckung oder Theorie, die nicht in diesem Sinne fundamentalisiert, d. h. zum Objektprinzip oder Erkenntnisprinzip der Dinge, wenigstens ansatzweise, gemacht worden wäre: Darwins Zuchtwahlgedanke, Marx’ Überbauidee, Einsteins Relativitätsprinzip, Plancks Quantentheorie, Freuds Verdrängungs- und Sublimierungsbegriff.“ (SOM: 38)

226

4 Plessners Transformation der Ontologie

zugseinheit klar definierter Forschungsmethoden zugänglich wäre.⁷⁶ Im ersten Sinne sieht sich dieser Monismus darüber hinaus von einer ontologisch zu verstehenden Axiologie getragen, derzufolge das Qualitative ein bloßes Epiphänomen oder schlicht forschungslogisch irrelevant sei statt nur forschungspraktisch nicht operationalisierbar zu sein; er behauptet damit, dass zumindest das Wesentliche dessen, was es über Qualitatives, Seelisches oder Geistiges zu wissen gebe, durch die Erforschung dessen zu leisten ist, was auf dem Wege naturwissenschaftlicher Erkenntnisbildung zu finden ist. Die operative Kluft inauguriert eine damit einhergehende ontologische: Wäre das Psychische dem Physischen dem ontologischen Sein nach gleichartig, wäre es mit den gleichen Methoden erforschbar. Diese Annahme bildet auch die Prämisse des salomonisch der Privilegierung des Physischen oder Psychischen sich enthaltenden „methodologischen Dualismus“, den Jürgen Habermas jüngst wieder zu Prominenz gebracht hat⁷⁷ und dem er zugleich ein Ontologisierungsverbot mit auf den Weg gegeben hat, dessen Überflüssigkeit darin besteht, verbieten zu sollen, was es bereits voraussetzt, nämlich den fest verwurzelten Dualismus der Alltagsontologie. Der Naturphilosophie, wie Plessner sie konzipiert, geht es nicht um das forschungspraktisch handhabbare lebendige Ding, sondern um das lebendige Ding, wie es sich in der nicht theoretisch überformten, sogenannten „naiven“ Erfahrung als unreduziertes Wirkliches zeigt, und zwar „‚wirklich‘ nicht im Sinne der Kriterien der empirischen Naturwissenschaft, sondern im Sinne der Anschauung“.⁷⁸ Damit ist nicht eine Frontstellung gegen die Naturwissenschaften bezeichnet, sondern vielmehr zielt Plessner ab auf die „Grundanschauungen, in denen Lebendigkeit im Unterschied zur Unbelebtheit erfaßt wird“.⁷⁹ Diese Grundanschauungen nehmen die Gestalt des Unterschieds zwischen Anschauungen an, denen die lebendigen Dinge im Doppelaspekt erscheinen, und solchen, welche kraft des Doppelaspekts erscheinen.⁸⁰ Die Doppelaspektivität in der Theoriebildung auszublenden, ist für die Naturwissenschaften funktional notwendig, aber

 Was diesen Methoden sich nicht restlos fügt, bleibt als „subjektiver Rest“ übrig: „So werden um der restlosen Quantifizierung der Körper willen alle Qualitäten subjektiviert und zu Nur-Erscheinungen, weiterhin zu Empfindungen umgedeutet.“ (ebd.: 43)  „Der methodologische Dualismus der Erklärungsperspektiven von Teilnehmern und Beobachtern darf nicht zu einem Dualismus von Geist und Natur ontologisiert werden.“ (Habermas 2005: 166)  SOM: 114.  Ebd.: 116.  „Wesensmerkmale im Sinne der die biologische Erkenntnis möglich machenden Kategorien sind am gegenständlichen Sein in der Anschauung gewonnen und, wenn auch bei Gelegenheit der Erfahrung erst entdeckt, für die Erfahrung des Biologen bereits leitend in der Auswahl seiner Gegenstände. (ebd.: 113 f.)

4.4 Die Doppelaspektivität als Grundlage der Kritik

227

sie geraten damit ontologisch in eine Zwickmühle: Sie müssen ontologisch keineswegs neutrale Auffassungen dessen, was ein belebtes Ding sei, voraussetzen, ohne ihre Vorentscheidungen begründen zu können, sofern Forschung faktisch noch stattfinden soll. In dieser Lage bieten sich zwei Strategien an: Erstens anzunehmen, dass die Dinge und ihre Behandlungsweise in der Forschungsart konvergieren und die Naturwissenschaften folglich die Dinge ihrer eigentlichen Seinsverfassung gemäß bearbeiteten (Reduktionismus); oder zweitens einzugestehen, worauf Plessner in der oben zitierten Passage rekurriert, nämlich, dass man ontologisch enthaltsam sein müsse und naturwissenschaftliche Aussagen über Gegenstände keinen ontologischen Sinn hätten. Letzteres würde darin resultieren, dass man eine Alltagsontologie unhinterfragt akzeptiert, an deren Zustandekommen die Naturwissenschaften zwar nicht aktiv, aber passiv unweigerlich mitarbeiten (methodischer Dualismus, der die dualistische Alltagsontologie voraussetzt und anerkennt bzw. zementiert). Im ontologischen Neutralitätsbestreben wird zugegeben, was der Fall ist, nämlich, dass die Naturwissenschaften nicht Philosophie werden können, ohne aufzuhören, als Naturwissenschaften zu operieren. Dieses Eingeständnis basiert jedoch wiederum auf der Auffassung der Doppelaspektivität des erscheinenden Dinges im Sinne der ontologischen Zwei-Reiche-Lehre des Alltagsdualismus, weil die auferlegte Bescheidenheit von naturwissenschaftlicher Seite wiederum daraus resultiert, dass sie mittels ihrer Methoden einen andersartigen Seinsbereich nicht bearbeiten kann. Die naturwissenschaftliche Unmöglichkeit, die Entfundamentalisierung der Alltagsontologie, die ihrem methodischen Verfahren zugrunde liegt, mit ihren eigenen Mitteln in die Hand zu nehmen, begünstigt somit indirekt die Fundamentalisierung in einer vermeintlich großzügigen arbeitsteiligen Geste gegenüber der Philosophie: Die Empirie macht eben von dem cartesianischen Prinzip soweit Gebrauch, als ihr dadurch vollkommene Bewegungsfreiheit geschaffen wird. Sie überläßt die Diskussion aller jener sonderbaren Fragen von der Realität und Erkennbarkeit der Außenwelt, des fremden Ichs und des Verhältnisses von Körper und Seele, die erst aus der Immanenzsituation und dem ,Sprung‘ zwischen zwei verschiedenen Seinsarten verständlich werden, den Philosophen, handelt jedoch der Immanenzsituation im Ganzen gemäß, indem sie die zwiefache Erfahrung von einer Körper- und einer Innenwelt fundamentalisiert.⁸¹

 Ebd.: 51.

228

4 Plessners Transformation der Ontologie

4.4.2 Plessners Kritik des cartesianischen Alternativprinzips Die umgekehrte Aspektreduktion, die ausschließliche oder privilegierte Fokussierung der Innerlichkeit mitsamt ihrer Erhebung zu einem für sich bestehenden und in sich geschlossenen oder mit höherer Dignität ausgestatteten Seinsbereich, terminiert in dem, was Plessner das „cartesianische Alternativprinzip“ nennt. Das Attribut „cartesianisch“ ist dabei paradigmatisch zu verstehen und strikt von einem „cartesischen“ Alternativprinzip zu unterscheiden, mit dem in historischphilologischer Orientierung die Philosophie Descartes’ bezeichnet werden würde. Dass eine philologische Analyse der cartesischen Philosophie zu einer konkretistischen Reduktion des typologisch Relevanten aufs historisch Ausweisbare führen würde, hat Plessner selbst – im doppelten Sinne des Wortes – bemerkt: Das Äquivalenzprinzip von Ausdehnung und Meßbarkeit – diesen erläuterten Sinn darf man der Extension in dem Augenblick geben, in welchem es sich nicht mehr um Interpretation des historischen Descartes, sondern um das Prinzipielle seiner Weltteilung handelt – mußte allerdings zur Auflösung physischer in rein quantitative bzw. rechnerisch darstellbare Verhältnisse führen.⁸²

Im Folgenden wird hier an Plessners Sprachgebrauch direkt angeknüpft und das cartesianische Alternativprinzip der Lesbarkeit wegen als das von Physischem (res extensa, Körperlichkeit) und Psychischem (res cogitans, Innerlichkeit) gefasst. Aus dieser maßgeblich von Descartes geprägten, über ihn aber weit hinausreichenden Bedeutung der Privilegierung des Psychischen ergibt sich die „Fundamentalität des cartesianischen Alternativprinzips“,⁸³ das aufgrund seiner Fundamentalität für die gesamte Geschichte der neuzeitlichen Philosophie⁸⁴ bestimmend gewesen sei und von Plessner daraufhin befragt wird, ob sein Fundamentalcharakter ihm auch sachlich zukomme oder „lediglich“ aufgrund seiner geistesgeschichtlichen Wirkung und Rolle:

 Ebd.: 42. – Als weitere Belege mögen auch die folgenden Stellen dienen: „Sieht man zunächst einmal die Dinge in großen Umrissen, so darf man sich wohl dem allgemeinen Urteil anschließen, daß es Descartes gewesen ist, der die Unterscheidung von physisch und psychisch (in einer allerdings etwas anderen Fassung) fundamentalisiert hat.“ (ebd.: 39) Ebenso: „Der Satz, daß die res cogitans der res extensa vorgelagert sein muß, damit diese (immer natürlich im Geiste der cartesianischen Alternative und nicht nach dem historischen Descartestext gesprochen) gegeben sein kann, erfährt weitere Bestimmung. Gegeben sein heißt jetzt: mir selbst gegenwärtig sein.“ (ebd.: 46)  Ebd.: 76.  „In gewissem Sinne ist die gesamte Geschichte der neueren Philosophie in ihren theoretischmetaphysischen Problemen eine große Auseinandersetzung mit dem Alternativprinzip des Descartes.“ (ebd.: 72).

4.4 Die Doppelaspektivität als Grundlage der Kritik

229

Einer Sache Fundamentalcharakter zuerkennen bedeutet doch mehr und verlangt auch mehr. Etwas kann sehr wichtig für die Entwicklung unserer Einsichten sein, fundamental wichtig, wie man sagt, ohne gleich den Charakter eines echten Fundamentes zu haben. Echtes Fundament trägt, ohne selbst getragen zu sein.⁸⁵

Diese Bestimmung des Fundamentalcharakters einer Sache enthält die überaus weitreichende Rückfrage an die neuzeitliche Philosophie, ob sie sich in ihrer theoretischen Grundkonfiguration nicht von einem die Form eines Alternativprinzips annehmenden Scheinfundament, und das heißt auch: von einem Scheinproblem getragen gewähnt hat. Plessners Verdikt über das cartesianische Alternativprinzip, mit ihm könne „niemand historische, soziale, kulturelle Größen fassen, die aus sinnlichen Stoffen, an Psychisches appellierend und mit Psychischem durchtränkt geistig-sinnhaft, wertvoll und wertlos sind und, an den Sphären der ausgedehnten Natur, der Innerlichkeit partizipierend, aus unwirklichem Sinngehalt bestehen“,⁸⁶ stellt eine ebenso klare Antwort dar wie die eingeforderte „Neuschöpfung der Philosophie“,⁸⁷ die er mit seiner Philosophischen Anthropologie zu leisten bestrebt ist. Nachzugehen bleibt der Frage, wie es zur Ausbildung des cartesianischen Alternativprinzips gekommen ist und in welchem Verhältnis es zur Doppelaspektivität des lebendigen Dinges steht. „Fundamentalisierung“ hat grammatikalisch, von der Bedeutung des Suffixum „-ung“ her gesehen, einen pragmatischen Sinn. Plessner rekonstruiert das cartesianische Alternativprinzip diesem Sinn gemäß, indem er zeigt, dass ein ontisches Vorgelagertsein zu einem ontologischen überhöht worden ist. „Anfänglich eine Zone des Seins von gleichem Rang wie die Zone der res extensa und ihr in jedem Sinne gleichgeordnet, zeigt sie sich ihr vorgelagert, um die Möglichkeit der Qualitäten sicherzustellen.“⁸⁸ Wie die Finalsatzstruktur zeigt, resultiert die Hierarchisierung anfänglich gleichrangiger Seinszonen und die Transformation von deren Verhältnis in eins, in welchem dem Psychischen ein prioritärer Status zukommt, aus spezifischen Begründungszwängen und -intentionen; dem Psychischen wird die Fähigkeit konzediert, Qualitäten real zu ermöglichen („sicherzustellen“), folglich fungiert es in der Theorie als Ermöglichungsprinzip. Dieser Vorgang der Priorisierung stellt die Ontologisierung eines ontischen Vorgelagertseins dar: „Aus dem noch ontischen Vorgelagertsein als Vorgegebenheit der Innerlichkeit zu Zwecken der Ermöglichung der phänome-

   

Ebd.: 38. Ebd.: 73. Ebd.: 30. Ebd.: 50.

230

4 Plessners Transformation der Ontologie

nalen Welt ist ein Vorgelagertsein meiner selbst geworden.“⁸⁹ Ontisch vorgelagert ist das Psychische als das ohne jegliche methodische Zurüstungen Zugängliche, als Medium der Selbsterfahrung und Ort, von dem aus wir zur Welt Zugang finden, ohne erst zu ihm Zugang finden zu müssen. Es ist als Psychisches immer präsent, weil in ihm für uns die Welt (und wir selbst) überhaupt erst Präsenz erlangt und in ihm erst in sogenannten „psychischen Vorgängen“ oder „Denkakten“ die methodischen Zurüstungen ersonnen werden. Weil die Welt uns notwendig in der psychischen Vermittlung präsent ist, wird sie kurzerhand zum Begründenden dessen,was in ihr zur Präsenz gelangt, erhoben. Der In-Charakter bzw. der mediale Charakter des Psychischen wird fundamentalisiert, wo das Psychische vom „ontischen Vorgelagertsein“ zum „Vorgelagertsein meiner selbst“ geworden ist; es wird dann gleichermaßen zum Ort oder Seinsbereich wie zum Begründungs- und Erklärungsprinzip, in Plessners Worten: „zum Inbegriff möglicher Erfahrung“.⁹⁰ Das Psychische, Funktion des Subjekts, übernehme damit „selbst die Funktion des Subjekts“. ⁹¹ Mit dieser Fundamentalisierung gehen Probleme einher, die sich innerhalb eines Paradigmas, das von ihr erst hervorgebracht wird, logischerweise nicht lösen lassen. Das Psychische ist sich, obwohl es doch alle Erfahrung erst ermöglichen soll, seiner Abhängigkeit vom Körper bewusst, der eine nicht eskamotierbare Rolle darin spielt, den Kontakt zwischen dem Psychischen und der Welt zu ermöglichen. Plessner spricht dieses Dilemma als die Frage nach dem „conjunctum“⁹² von Psychischem und Physischem an: „Mein Körper ist ein ausgedehntes Ding und zugleich der Träger der Sinne, durch welche das Ich Kunde von einer ihm selbst transzendenten ,Außen‘welt erhält.“⁹³ Müssen dann also nicht auch die Sinne in den „Inbegriff möglicher Erfahrung“ eingehen? Plessner spitzt diese Abhängigkeit als „Gesetz des Zerfalls“ zu: „Selbst die Erweiterung des Immanenzbereichs zum Inbegriff möglicher Erfahrung hebt dieses Gesetz des Zerfalls in eine ichmitbedingte Gegenstandssphäre und eine transobjektive, vom Ich abgekehrte Sphäre des Ansichseins nicht auf.“⁹⁴ In diese Gegenstandssphäre fällt auch das andere Ich bzw. das Fremdpsychische hinein, wodurch das Faktum

 Ebd.: 46.  Ebd.: 50.  Ebd.  „Die ontologische Verhärtung dieses [des psychischen, S. E.] Aspekts führt jedoch, wie bei Descartes, zu einem Dualismus, der den Menschen als res cogitans von der res extensa absolut trennt und damit aus dem erfahrbaren Doppelaspekt von außen und innen ein rätselhaftes conjunctum macht.“ (Plessner 1985a: 326)  SOM: 52.  Ebd.: 50.

4.4 Die Doppelaspektivität als Grundlage der Kritik

231

der Intersubjektivität theoretisch die Gestalt einer Aporie erhält: „Fremdwahrnehmung von Psychischem bleibt ausgeschaltet, weil sie äußere Wahrnehmung ist, die nach dem Alternativprinzip nur auf Psychisches geht.“⁹⁵ Unabhängig vom in Frage stehenden Fundamentalcharakter des cartesianischen Alternativprinzips tritt der Fundamentalcharakter der innerhalb seiner entstehenden Probleme zutage. Das Psychische ist als fundamentalisierter Aspekt, als Aspekt also, der mehr als Aspekt sein will, dreierlei: (1) als vom Körper abgehobener Seinsbereich sui generis sowohl selbständiges, wenn auch nicht existentiell unabhängiges (vom Körper abtrennbares) Medium von Erfahrungen („Funktion des Subjekts“), (2) Grundlegung der Möglichkeit von Erfahrung („Inbegriff möglicher Erfahrung“ und etwas, das „selbst die Funktion des Subjekts“ übernommen hat) und darüber hinaus (3) selbst ein Erfahrungsbegriff insofern, als „das Psychische“ als Begriff und durch den Begriff bezeichneter Seinsbereich erst aus seiner Vergegenständlichung gewonnen werden kann. Die Fundamentalisierung des Psychischen stellt neben dem an die Naturwissenschaften anschließenden Lösungsversuch die zweite Variante des Versuchs dar, die Doppelaspektivität als von einem ihrer Aspekte her ermöglicht oder getragen zu denken. Wie im Fall der Naturwissenschaften ist auch die Fundamentalisierung des Psychischen aufgrund der Absurditäten, zu denen ein starker, die Unabhängigkeit im Unterschied zur Selbständigkeit des Psychischen postulierender Dualismus führen würde, der Intention nach methodischer Natur: „Aus der ontologischen Konzeption einer res cogitans ist unter Beachtung des Weges, auf dem man zu ihr kommt, eine methodologische Konzeption geworden.“⁹⁶ Die methodische Konzeption führt jedoch immer noch das Problem des Übergangs bzw. der Transformation des Außen ins Innen mit sich, da ihre Orientierung eine genuin erkenntnistheoretische ist, für die die Frage nach der Wirklichkeit keine Kategorialanalyse der Wirklichkeit, sondern eine Kategorialanalyse der Erkenntnis der Wirklichkeit erfordert. Das paradoxe Problem, das sich aus dieser erkenntnistheoretischen Orientierung ergibt, besteht in einer Ontologisierung des Psychischen, die laut Plessner durch eine die Doppelaspektivität nicht reduzierende Ontologie zu kurieren wäre: „Sobald man natürlich die erkenntnistheoretische Orientierung der Kategorienlehre als einseitig und die wirkliche Weite der kategorialen Funktionen einengend erkannt hat, tritt […] das Problem des Zusammenhangs der Kategorien als ontologisches Problem auf.“⁹⁷ Eine solche Ontologie muss ein doppeltes Desiderat erfüllen: Sie ist als

 Ebd.: 61.  Ebd.: 40.  Ebd.: 113.

232

4 Plessners Transformation der Ontologie

Naturphilosophie durchzuführen und von einer unrestringierten Betrachtung der Natur in der ursprünglichen Anschauung, also frei von der Ontologisierung des psychischen Aspekts durchzuführen, der die Erfahrung des Psychischen – im Sinne des doppelten Genitivs – zum Ausgangspunkt der Theoriebildung macht: Will die philosophische Hermeneutik die Möglichkeit der Lebenserfahrung begreifen, so kann sie natürlich nicht auf Grund von Erfahrungen und Erfahrungsbegriffen arbeiten. Deshalb greift an dieser Stelle die phänomenologische Deskription ein, die zur ursprünglichen Anschauung hinführt und in ihr verweilt (wobei sie sich allerdings von jeder Ontologisierung des Erschauten freizuhalten hat).⁹⁸

Nur so könne vermieden werden, dass die erkenntnistheoretische Orientierung, welche im Ausgang von Descartes die „gesamte Geschichte der neueren Philosophie“⁹⁹ maßgeblich bestimmt habe, nicht die „Naturseite menschlicher Existenz […] unter Zubilligung ihrer Auch-Wichtigkeit als das Nicht-Eigentliche bagatellisiert“.¹⁰⁰ Die vermeintliche Fundamentalität der Aspekte gründet in der Fundamentalität des Doppelaspekts, letzterer allerdings als einheitliches Phänomen, nicht als exklusive Alternative aufgefasst. Die anscheinende Notwendigkeit, die Aspekte im Sinne der Alternative zu deuten, resultiert aus der sachlichen, anschaulich irreduziblen „fundamentalen Unmöglichkeit, von einer Erfahrungsstellung in die andere ohne absoluten Bruch zu gelangen“.¹⁰¹ Diese fundamentale Unmöglichkeit ist aber nicht gleichbedeutend mit der Unmöglichkeit, den anschaulich sich zeigenden Bruch in einer Erfahrungsstellung und von dem her zu begreifen, was dessen Einheit in der ursprünglichen, nicht theoretisch überformten Anschauung stiftet. Darauf zielen die folgenden Fragen, auf die Plessner mit dem Begriff und der Aufweisung des Phänomens der Grenze antwortet: Haben diejenigen Gegenstände, welche im Doppelaspekt erscheinen, nur alternative Bestimmtheiten, so daß die Einheit des Gegenstandes nicht bestimmt gegeben, sondern nur bestimmbar aufgegeben ist, oder sind bestimmte Einheitscharaktere dem Doppelaspekt immanent bzw. vorgegeben? Ist der Doppelaspekt vielleicht sogar von solchen vorgegebenen Einheitscharakteren bedingt und in ihrem Wesen mit angelegt?¹⁰²

 Ebd.: 23.  Ebd.: 72.  MmN, 228 f.  SOM, 60.  Ebd.: 78.

4.5 Die Grenze und das Verhältnis von Substanz und Wirklichkeit

233

4.5 Die Grenze und das Verhältnis von Substanz und Wirklichkeit Der Begriff der Grenze bildet die theoretische Antwort auf die Frage nach der Ermöglichung der Doppelaspektivität basierend darauf, dass die Grenze als aufweisbares Phänomen die Doppelaspektivität realiter ermöglicht. Plessner unterscheidet zwischen der anschaulichen Grenze im Sinne der Begrenzung, der „Raumgrenze“¹⁰³ also, die an jedem Dingkörper gegenständlich auftrete und die Differenz zwischen dem Körper und seiner Umgebung räumlich konstituiere, und der Grenze „als Eigenschaft“,¹⁰⁴ deren phänomenologisches Korrelat die „kernhafte Mitte“ bzw. der „Substanzkern“ bildet.¹⁰⁵ Die Differenz ist keine absolute, denn die Grenze als Eigenschaft des Körpers ist Eigenschaft und Raumgrenze zugleich, als letztere den Körper im Raum begrenzend und von anderen Körpern oder einer Umgebung – Plessner spricht auch vom den Körper „umgebenden Medium“¹⁰⁶ – abgrenzend. Die Grenze, die als Eigenschaft des lebendigen Körpers statt als Eigenschaft eines jeden Dingkörpers an diesem gegenständlich erscheint, ist Grenze als Raumgrenze und als Aspektgrenze: Diese Grenze muß sowohl Raumgrenze oder Kontur sein, weil sie ja gegenständlich in der Erscheinung auftreten soll, als auch Aspektgrenze, in welcher der Umschlag zweier wesensmäßig ineinander nicht überführbarer Richtungen erfolgt. Aus dieser Forderung geht hervor, daß die organische Formgrenze als Gestalt einen übergestalthaften, mit Gestalt nicht erschöpften Charakter haben muß.¹⁰⁷

Die Raumgrenze kommt jedem Dingkörper zu, und jeder Dingkörper ist als solcher zunächst Gestalt. Fraglich ist, wie der „Umschlag“, von dem Plessner spricht, zu denken sei, und was einen „übergestalthaften“ Charakter eines lebendigen Dinges

 Ebd.: 102.  Ebd.: 102.  Plessner berührt in der phänomenologischen Deskription mit der Mitte der Anschauung das Problem der funktionalen Mitte als dem Grenzübergang, ohne es in der Phänomenologie der Dingstruktur funktional explizieren zu können. Der Zusammenhang und damit die doppelte Bedeutung des Begriffs der „kernhaften Mitte“ zeichnet sich in der Bestimmung des synonym verwendeten Begriffs des „Substanzkerns“ bereits ab: „So wenig die zentrale Bindung der eigenschaftstragenden Seiten nur eine Metapher für das unräumliche Verhältnis von Substanzkern und Eigenschaft ist, so wenig läßt sie sich im Raum aufweisen.“ – Der Substanzkern steht in keinem dualistischen Verhältnis zu den Eigenschaften, weil die unräumliche Mitte im funktionalen Sinn selbst eigenschaftlich erscheint, vgl. dazu auch den dreifachen Eigenschaftsbegriff Plessners am Anfang von Kapitel 4.6.2.  Ebd.: 101.  Ebd.: 102.

234

4 Plessners Transformation der Ontologie

kennzeichnet. Eine Antwort auf diese Fragen wäre nicht unter konsequenter Beibehaltung der methodischen Vorgehensweise Plessners möglich, wenn eine solche nicht wiederum der phänomenologischen Deskription sich eröffnete, denn die Entfundamentalisierung würde sonst wieder von einem ontologisch zu verstehenden Fundament getragen werden. Die klassische phänomenologische Deskription muss jedoch an dem phänomenologischen Faktum verzweifeln, dass niemals „im anschaulichen Bilde der Erscheinung die organische Grenze manifest wird denn als Gestalt“.¹⁰⁸ Plessner bestimmt die Grenze im „übergestalthaften“ Sinne, wie oben gezeigt, als „Charakter“ des Dinges, an anderer Stelle als „außergestalthafte[s] Moment“¹⁰⁹ desselben. Gleichwohl heißt es in der oben zitierten Passage, dass die Grenze, welche Aspektgrenze sei, „gegenständlich in der Erscheinung auftreten“¹¹⁰ solle. Gegenständlich in der Erscheinung tritt die Grenze, welche Plessner zufolge als Aspektgrenze die richtungsneutrale Umschlagszone¹¹¹ der nicht ineinander überführbaren Richtung ist, als Eigenschaft an Körpern auf, die eine Grenze nicht nur als räumliches Merkmal haben, sondern ihre Grenze realisieren (müssen). Ihre Grenze zu realisieren bedeutet wesentlich, zu dieser Grenze, da diese sich nicht von selbst, gleichsam automatisch, realisiert, in ein Verhältnis treten zu müssen.¹¹² Über die Grenze, die Eigenschaft des lebendigen Körpers ist, sagt Plessner, dass sie „reell dem Körper“¹¹³ angehöre, d. h. dass nicht die räumliche Grenze den Übergang des Körpers zur Umgebung bilde, sondern der die Grenze realisierende Körper „dieser Übergang selbst ist“.¹¹⁴ Doch nicht nur der Körper „ist“ dieser Übergang, die Grenze selbst ist der Übergang zwischen den Aspekten, die gleichwohl nicht ineinander überführbar sind. Die Grenze als Übergang ist Ansatzzone eines unaufhebbaren Richtungsgegensatzes, weshalb Plessner statt von einer Transgredienz der Aspekte von einer „doppelsinnigen Transzendierung“¹¹⁵ spricht. Aufgrund dieser doppelsinnigen Transzendierung gelangt im Ausdruck Psychisches im Physischen zum Ausdruck; umgekehrt schreibt Physisches sich in die Psyche ein, weil die doppelsinnige Transzendierung die Aspekte des Psychischen und Physischen über sich hinaus- und in den jeweils anderen hineintreibt,

 Ebd.  Ebd.  Ebd.  „Der Richtungsunterschied beider Gebiete gegeneinander bleibt dabei erhalten, wenn sich im Durchgang durch die neutrale Zone der Richtungssinn umkehrt.“ (ebd.: 100)  Vgl. Ebd.: 103.  Ebd.  Ebd.  Vgl. ebd.: 130, 139, 143.

4.5 Die Grenze und das Verhältnis von Substanz und Wirklichkeit

235

was nur dadurch möglich ist, dass das Lebendige als seine Grenze Realisierendes die richtungsneutrale Umschlagszone¹¹⁶ und der „Grenzübergang“¹¹⁷ ist; deshalb erscheint Lebendiges im Doppelaspekt und nicht der von keinem internen dynamischen Verhältnis bestimmte Doppelaspekt am bloßen Körperding. Die Grenze als Grenzübergang macht den Unterschied zwischen „von“ im Sinne des Genitivus possessivus ¹¹⁸ (der Aspekte des in ihnen erscheinenden lebendigen Dinges) und „am“ (die am Ding beobachtbaren Aspekte). Plessner spricht daher auch vom „Grenzübergang“,¹¹⁹ den der lebendige Körper „selbst als Eigenschaft hat“¹²⁰ und der ihm „den Wert der Ganzheitsform“¹²¹ verleihe.Während die bloß räumliche Grenze sowohl gegen den Körper als auch gegen die Umgebung indifferent ist, ist die Grenze das, was die Differenz zwischen dem Lebendigen und dem es umgebenden Medium konstituiert und „das durch sie begrenzte Gebilde als solches von dem Anderen als Anderem prinzipiell unterscheidet“.¹²² Phänomenologisch kommt der Grenze ein Doppelstatus zu: Se erscheint gegenständlich am Ding als ein differenzkonstituierendes Moment und als „ontisch zum belebten Ding selber gehörende, die Erscheinungsweise vom Ding aus bestimmende Aspektgrenze“¹²³ Die Aspektgrenze ist zu fassen als gegenüber den Aspekten und deren Richtungsgegensatz neutrale Zone, weil sie gegenständlich am Ding erscheint, an ihm aber anders erscheint als die Aspekte des Dinges, weil sie sonst innerhalb der Doppelaspektivität und damit als Aspekt erscheinen würde, der als erscheinender Aspekt die Doppelaspektivität aus einer ihrer Richtungen heraus ermöglichen würde. Als seine Grenze Realisierendes erscheint Lebendiges, weil es eben nicht als Anschauungsbild erscheint, sondern in der Anschauung von sich aus als ein sich Verhaltendes zeigt. Als ontologischer Begriff ist der Begriff der Grenze von zentraler Bedeutung im Denken Plessners. Obzwar ontisch zum belebten Ding gehört, fundiert sie eine ontologische Differenz, nämlich die zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem,

 Vgl. ebd.: 100 und 102. Plessner spricht an den genannten Stellen einmal (100) von der Richtungsneutralität der Ansatzzone, das andere Mal (102) von der „Umschlagszone“, verwendet aber nicht den Terminus „richtungsneutrale Umschlagszone“.  Vgl. SOM: 103.  Wenn Plessner das Wahrnehmungsding generell als „kernhaft geordnete Einheit von Eigenschaften“ (SOM: 81) bestimmt, ist der Sinn des Genitivs ein anderer: Die Eigenschaften müssen in einer geordneten Einheit zusammentreten, sie fallen aber nicht in eine lebendige Einheit, die sich zu sich selbst vermitteln muss. Vgl. dazu Kapitel 4.2.  Ebd.  Ebd.  Ebd.  Ebd.: 103.  Ebd.: 102.

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4 Plessners Transformation der Ontologie

welcher die Differenz zwischen Gestalt (dinglichem Körper) und Ganzheit (organischem Körper) korrespondiert. Während also die Grenze sachlich ein ontisches Phänomen ist, ist der Begriff der Grenze ein ontologischer Grundbegriff, weil damit der sachliche Ermöglichungsgrund der Doppelaspektivität bezeichnet wird, nachdem er am Phänomen selbst aufgewiesen worden ist. Die Frage, ob es sich bei der Differenz zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem um eine ontologische handele, steht auch in Beauforts Plessner-Interpretation im Raum: „Zu fragen ist also, ob es berechtigt ist, die Unterscheidung belebt/unbelebt zu einer Unterscheidung von ontologischem Rang zu erheben, zu einer ontologischen Differenz?“ ¹²⁴ Darauf wäre auf der Basis der hier entfalteten Analyse zu antworten: Um eine ontische Differenz handelt es sich nicht, weil nicht der Unterschied zwischen Belebtem und Unbelebtem an den Körpern erscheint, sondern vielmehr dasjenige ontisch an ihnen erscheint, was diesen Unterschied ausmacht. Die Differenz selbst ist als eine zwischen grundsätzlichen Seinsarten eine ontologische.¹²⁵ Keinen Zweifel daran lässt Plessner dadurch, dass er die Differenz zwischen „Ganzheit“ und „physischem Ding“ als die Differenz zweier Wesenheiten formuliert: „Gefragt ist nach der Verwirklichung einer Wesenheit; gegeben sind (in formaler Charakteristik) die Wesenheiten ,Ganzheit‘ und ,physisches Ding‘.“¹²⁶ Trotz der terminologischen Nachbarschaft zu Edith Stein ist hier mit „Verwirklichung der Wesenheit“ nicht die Überführung eines Urbildes in ein Abbild oder die Gestaltwerdung einer metaphysischen Essenz in der mundanen, körperleiblichen Existenz gemeint, sondern lediglich die Annahme einer Gestalt gemäß einer „Reihe der Bedingungen […], unter welchen allein eine Gestalt Ganzheit ist“ ¹²⁷ – Ganzheit als Gestalt und im Unterschied zu bloßer Gestalt. Dass es sich um verschiedene Wesenheiten und damit um eine ontologische Differenz handelt, zeigt sich auch in der Unterschiedlichkeit der Wesensmerkmale, welche die Gegenstände als an ihnen aufweisbare charakterisieren. Plessner unterscheidet zwischen indikatorischen und konstitutiven Wesensmerkmalen, wobei die empirischen Wesensmerkmale eine Spezies der indikatorischen sind. Über die empirischen Wesensmerkmale, die der empirische Forscher umstandslos für das Sein selbst nimmt, sagt Plessner, sie hätten „nur indikatorischen Wert für

 Beaufort 2000: 61.  Um eine empirische Differenz handelt es sich ebenfalls nicht, weil eine solche mit Erfahrungsbegriffen operiert, die sie, um fundamentale Differenzen mittels ihrer erfassen zu können, rückwirkend apriorisieren und nachträglich in die phänomenologische Deskription vorprojizieren müsste.  SOM: 121.  Ebd.: 122.

4.5 Die Grenze und das Verhältnis von Substanz und Wirklichkeit

237

eine andere Seinssphäre, deren Erscheinungen sie sind“.¹²⁸ Die indikatorischen Wesensmerkmale im Allgemeinen bilden den Ansatzpunkt der phänomenologischen Untersuchung, weshalb alles, was in einer solchen Untersuchung erscheint, zunächst indikatorischer Natur sei: „Die phänomenologische Untersuchung muß ihrer Natur nach bei den indikatorischen Wesensmerkmalen einsetzen, wobei es noch zweifelhaft bleibt, ob sie in der Lage ist, darüber hinaus zu den konstitutiven vorzudringen.“¹²⁹ Von den indikatorischen zu den konstitutiven bzw. apriorischen Wesensmerkmalen zu gelangen, ist phänomenologisch überhaupt nur möglich, weil beiden die „Eigenschaft der Anschaulichkeit“ zukomme: „Die Eigenschaft der Anschaulichkeit ist also den indikatorischen und den konstitutiven Wesensmerkmalen gemeinsam, weshalb auch die Zurückführung jener auf diese gelingt.“¹³⁰ Das konstitutive Wesensmerkmal schlechthin ist also die Grenzrealisierung bzw. der Grenzübergang, der Plessner zufolge „als Fundament und Prinzip der konstitutiven Merkmale der organischen Natur“¹³¹ anzusehen sei. Sowohl die Differenz zwischen Organischem und Anorganischem als auch die zwischen Ganzheit und Gestalt wird durch die Grenze bestimmt. Der Sachverhalt der Grenzrealisierung unterscheidet sich von dem der Doppelaspektivität, die eine „eigenschaftlich an dem Körper auftretende Bestimmtheit seiner Erscheinung“¹³² bilde, dadurch, dass es sich bei ihm um eine „nur erschaubare, nicht feststellbare Eigenschaft [handelt], insofern das Grenzverhältnis im Unterschied zum Begrenzungsverhältnis nicht demonstriert (dargestellt), sondern nur intuiert (erschaut) werden kann“.¹³³ Deshalb sagt Plessner über die Summe der feststellbaren Wesensmerkmale, dass diese „der Bestimmung einer letztlich nur erschaubaren Einheit dessen, was Leben und lebendig heißen darf, dient, nicht aber diese Einheit durch die Wesensmerkmale begrifflich festlegen soll“.¹³⁴ Die darstellbaren Gehalte „erscheinen“,¹³⁵ sie sind die „eigentlichen Gegenstände der Wahrnehmung“; ¹³⁶ die erschaubaren Gehalte „erscheinen selbst nicht, denn ihnen fehlt das, was erscheinen könnte“,¹³⁷ da sie weder dinglich sind noch Eigenschaft eines Dinges im Sinne der Eigenschaften der Seiten des Dinges in der Doppelaspekti         

Ebd.: 117 f. Dazu vgl. auch ebd.: 114. Ebd.: 115. Ebd.: 114. Ebd.: 106. Ebd.: 128. Ebd. Ebd.: 111. Ebd.: 120. Ebd.. Ebd.

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4 Plessners Transformation der Ontologie

vität; ebenso fehle ihnen „jener in seinem Selbst nicht erscheinende gegebenheitsüberlegene, in der oder jener Gegebenheitsweise faßbare, identifizierbare Kern“,¹³⁸ der immer der Kern des jeweiligen Dinges, nicht aber der Kern eines Ordnungstypus ist. Entscheidend ist die Differenz zwischen „selbst erscheinen“ (darstellbare Gehalte) und „nicht selbst erscheinen“ (erschaubare Gehalte). „Der Ordnungstypus Ganzheit gehört zur Klasse der nur erschaubaren Gehalte“,¹³⁹ die Evidenz, die ihm zukomme, sei „intuitive Evidenz“: Alle nur anschauungsmäßig zu gewinnenden Gehalte zerfallen in die zwei Klassen der eine Gegebenheitsweise (unmittelbar) gebenden und der sie selbst nicht gebenden Gehalte. Die erste Klasse umfaßt die Empfindungen, an deren Gehalt die Gegebenheitsweise selbst ausgesprochen, manifest ist. Die zweite Klasse umfaßt die Wesen, Ideen und Wesenheiten, welche einer sog. Wesensanschauung oder Schau entsprechen. In dieser Klasse bestehen zwei Möglichkeiten: entweder sind die Wesen an eine Gegebenheitsweise gebunden, wie die materialapriorischen Wesenscharaktere und -gesetze (etwa des optischen, akustischen, taktilen Sinneskreises), oder sie sind nicht derart gebunden und lassen sich an verschiedenen Gegebenheitsweisen d. h. gleichgültig gegen sie zur intuitiven Evidenz bringen.¹⁴⁰

Von „aller intuitiv-ontologischen Lebensmetaphysik“¹⁴¹ wiederum, die Plessner in Gestalt der Philosophie Bergsons in den Stufen kritisiert, unterscheidet sein Ansatz sich darin, dass er konstitutive Wesensmerkmale von Lebendigem offenlegt statt, wie Bergson, das „Wesen des Lebens“¹⁴² inhaltlich durch ein vermeintlich erschautes, den engen Kontakt zur Erscheinungsweise des Lebendigen aufgebendes, weil letztlich begriffliches Prinzip zu begründen, hinter dem eine Differentialanalyse der Wesensphänomene des Lebens zurücktrete: Demgegenüber stützt sich die Theorie der konstitutiven Wesensmerkmale „doch nur auf echt intuitive Sachverhalte, nicht auf irgendwelche Begriffe, und sucht unter Vereinigung dieser Sachverhalte die Wesensphänomene des Lebens in ihrer Differenzierung zu begreifen.“¹⁴³

 Ebd. – Dass Gehalte nicht erscheinen, bedeutet allerdings nicht, dass sie in keinem Verhältnis mehr zur Wahrnehmung stünden, denn dann wären sie auch nicht mehr erschaubar; Plessner spricht von einem Eingehen in die Wahrnehmung, das nicht mit einem sinnlichen Wahrnehmbarwerden in der Anschauung zu verwechseln sei: „Der Ordnungstypus Ganzheit gehört zur Klasse der nur erschaubaren Gehalte. Insofern geht er wohl in die Wahrnehmung des Organischen ein, darf aber den Fortgang der die Biologie bildenden Erfahrung nicht bestimmen, da er sich jeder Feststellung entzieht.“ (ebd.:130)  Ebd.: 120.  Ebd.: 119.  Ebd.: 22.  Ebd.  Ebd.: 115.

4.6 Substanz und Wirklichkeit

239

4.6 Substanz und Wirklichkeit 4.6.1 Das lebendige Ding als Substanz und die Substanzialität der Substanz Die bisher entfaltete Analyse der Philosophischen Anthropologie Plessners ist gewiss noch nicht vollständig, sie ist jedoch bereits in den Stand gesetzt, die Begriffe der Substanz und der Wirklichkeit sowohl entgegen als auch im Einklang mit den Errungenschaften der klassischen Ontologie neu zu bestimmen. Der traditionelle Substanzbegriff enthält eine doppelte Wesensbestimmung: die Bestimmung von Wesenheiten in ihrem Wesen und eine Bestimmung dieses Wesens im Rekurs auf das, was die Wesenheiten wesentlich und damit auch in ihrer Zusammengesetztheit ausmacht, also Form und Materie. Der Wirklichkeitscharakter der Substanz steht traditionell nicht in Frage, vielmehr antwortet die Analyse der Substanz darauf, was Wirklichkeit wesenhaft bestimmt, welches also ihre bestimmenden Momente (Form – Materie) sind und in welchem Verhältnis (akzidentell – nicht akzidentell) diese zueinanderstehen. In der darauf aufbauenden traditionellen Analyse der Wirklichkeit wird dann der Mensch zwar als in der Doppelaspektivität Erscheinendes vorgefunden, die beiden Aspekte aber werden – darin besteht der entscheidende Unterschied zu Plessner – realistisch als ihn sowohl konstituierende als auch spaltende Seinsbereiche aufgefasst; mit dem Problem der Substanz verbindet sich daher immer das Problem der ontologischen, im Sinne der an sich seienden Einheit der Substanz, ohne dass dieses Einheitsproblem im Lebensvollzug sich aufdrängen würde. Die Analyse der Substanz entfaltet wiederum, was dieses Wirkliche real bestimmt bzw. die Bestimmung der Substantialität der Substanz. Der Realismus im Aristotelischen Sinne ist daher kein epistemologischer Realismus, der behauptet, dass das Wirkliche unabhängig von einem erkennenden Subjekt existiere, sondern ein methodischer Realismus, der die Wirklichkeit des Wirklichen nicht epistemologisch einklammert, sondern dieses Wirkliche in seiner Realität ontologisch bestimmt. Aus diesem Grund werden Form und Materie als Substanz im klassischen Sinne Konstituierendes in Plessners Ansatz als indikatorische Wesensmerkmale in die Sphäre der phänomenologischen Deskription aufgehoben, da beide nicht als für sich bestehende Entitäten oder Seinsarten genommen werden, sondern ihren Ort in der Doppelaspektivität des lebendigen Dings, um welches es hier ausschließlich gehen soll, finden: Verfolgt man dieses eigentümliche, nach der These dem Leben spezifische Verhältnis von Materie und Form an den individuellen Dingen der Anschauung – Materie hier nur als die geformte Fülle, als die mehr oder minder durchlässige, widerstandsfähige, gefärbte, weiche

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4 Plessners Transformation der Ontologie

oder harte Masse genommen –, so kommt man auf die indikatorischen Wesensmerkmale,von denen schon oben im allgemeinen gesprochen und deren Deduktion als notwendig bezeichnet wurde.¹⁴⁴

In der phänomenologischen Deskription, die sich weigert, den die Doppelaspektivität konstituierenden Bruch umstandslos in eine ontologische Differenz zwischen verschiedenartigen Entitäten zu übersetzen, zeigen Materie und Form sich als ontischer Sachverhalt aspektiv am lebendigen Ding. Im Doppelaspekt als dem Verhältnis von Substanzkern (Innen) und eigenschaftstragenden Seiten (Außen) erscheint der Substanzkern des lebendigen Dinges eigenschaftlich an diesem, ohne es im klassischen Sinne ontologisch durch die Wesenhaftigkeit des Substanzkerns zu begründen, weshalb Plessner sagt, dass das „Innere – wohlgemerkt – nicht die Substanz des Dinges ist, sondern mit zu seinen (sonst aufweisbaren) Eigenschaften gehört“.¹⁴⁵ Das bedeutet aber nicht, dass der Substanzbegriff von Plessner leichthin verworfen und die ontologische Frage nach dem Was-Sein des erscheinenden Lebendigen gänzlich dispensiert würde. Vielmehr ist das Seiende, als dessen Eigenschaft der Substanzkern auftritt, das erscheinende lebendige Ding selbst; dieses ist die eigentliche Substanz, während dem Substanzkern der Substanz innerhalb der Erscheinung ein Eigenschaftswert zukommt. Plessner setzt ontologisch an der problematischen Erscheinungsweise des Wirklichen an, nicht an einer Wirklichkeit, deren sie real bestimmende Prinzipien in den zu Seinsbereichen erklärten Aspekten gefunden werden. Die Bestimmung des lebendigen Dinges in seiner Erscheinungsweise als Substanz fügt sich dem phänomenologischen Ansatz Plessners in einer doppelten Negation ein: Wie gesehen ist weder der Innen-Aspekt im klassischen Sinne als Substanz aufzufassen, weil er ontologisch gegenüber dem Außen-Aspekt nicht privilegiert wäre, noch ist der Außen-Aspekt als Substanz aufzufassen, wie es in der an die Naturwissenschaften anschließenden Fundamentalisierung der Fall wäre; dieser Auflösung der Substanz ins Physische eines materiellen Substrats erteilt Plessner allerdings eine klare Absage: Die Unangemessenheit der rechnenden Methode zu diesem zunächst bloß anschaulichen Sachverhalt von Substanzkern und Eigenschaft kommt immer wieder dadurch zum Vorschein, daß die Substanz des Dinges weder als Inbegriff ihrer Eigenschaften noch auch als Inbegriff dessen, worauf sie nach exakter Methode reduziert werden können, aufzufassen ist. […] Substanz des Dinges ist nicht das, woraus es besteht.¹⁴⁶

 Ebd.: 123.  Ebd.: 100.  Ebd.: 86.

4.6 Substanz und Wirklichkeit

241

Nicht nur kritisiert Plessner solche Ansätze inhaltlich,¹⁴⁷ er hält ihnen vor, dass die in Theorieform gebrachten Angriffe auf den Substanzbegriff parasitär von dessen unleugbarem, durch die Anschauung verbürgten Sinngehalt lebten: „Keine dieser Theorien hätte auch nur Sinn, wenn sie nicht irgendwie das Phänomen einer als Substanz-Eigenschaft auftretenden anschaulichen Ordnung am sinnlichen Bestand selbst vorfände und als anstößig empfände.“¹⁴⁸ Dass die aspektiv erscheinende Substanz-Eigenschaft von der Substanz, die in Gestalt des lebendigen Dinges die Anschauung erfüllt, abhänge, sagt Plessner hier freilich nicht, wiewohl diese Ergänzung von den obigen Ausführungen her naheliegt. Offen bleibt die Frage, was die Substanzialität des lebendigen Dinges begründet, wenn nicht ein (seelischer) Substanzkern oder seine physische Verfasstheit? Gemäß der hier entfalteten Analyse fungiert funktional die Grenze als das Äquivalent der die Substanzialität der Substanz garantierenden forma substantialis. Die Grenze erfüllt ein Desiderat, das Plessner in Bezug auf die Substanzhaftigkeit des Kerns benennt, „braucht doch das im Kern substanzhaft geschlossene und gebundene physische Ding noch einen zweiten, ,noch tiefer innen‘ seienden Kern, um in ihm selbst gesetzt zu sein“.¹⁴⁹ Die Grenze erfüllt die Kriterien, denen ein solcher „Kern unterhalb des Kerns“ zu genügen hätte: sie ist nicht dinglicher Natur und nicht sinnlich wahrnehmbar, ermöglicht aber als Grenzübergang die Doppelaspektivität und die Übergestalthaftigkeit des Lebendigen, derentwegen es als Ganzheit erscheint, sowie die ‚Verdoppelung‘ des synthetischen Zentrums“,¹⁵⁰ von dem Plessner im Zusammenhang der zitierten Passage spricht.

4.6.2 Das erscheinende lebendige Ding als Substanz Auch vom Erscheinen des lebendigen Dinges im Doppelaspekt her lässt die Differenz zwischen der traditionellen Auffassung von Substanz und der Auffassung des lebendigen Dings als Substanz sich veranschaulichen. Der Eigenschaftsbegriff übernimmt bei Plessner drei Rollen: (1) Eigenschaften kommen den räumlichen Seiten des Dinges in der Anschauung zu, (2) der Substanzkern tritt eigenschaftlich in Erscheinung, und (3) das Ding erscheint als lebendiges, wenn die Grenzrealisierung als der Grenzübergang eigenschaftlich an ihm auftritt. Entscheidend ist hier, dass Eigenschaften bei Plessner generell dem Ding nicht zukommen, sondern    

Vgl. auch ebd.: 86 f. Ebd.: 87. SOM: 160. Ebd.: 159.

242

4 Plessners Transformation der Ontologie

an ihm eigenschaftlich erscheinen, weshalb umgekehrt das Ding in Eigenschaftsstellung erscheine.¹⁵¹ Von der traditionellen Ontologie lässt sich ebenfalls sagen, dass Eigenschaften an Gegenständen erscheinen, doch in einem anderen Sinn, da Eigenschaften den Substanzen, sofern sie nicht im Begriff derselben enthalten sind, in der Regel akzidentell zukommen. Die Kontingenz der Eigenschaften ist aber nicht Bestandteil der Anschauung, in welcher Lebendiges begegnet; in dieser Anschauung nämlich, deren phänomenologische Deskription Plessner gibt, kommen Eigenschaften dem lebendigen Ding qua Substanz selbst zu, d. h. sie kommen nicht als Eigenschaften zu einer ihnen vorgängigen Substanz hinzu, sondern konstituieren es in der Anschauung: Die sinnlichen Daten, eingebettet in die übergreifenden und dominierenden Gestaltcharaktere, erschöpfen sich weder in der Bildung eines bunten Phantoms von dünner und gleichsam flächiger Ordnung noch erscheinen sie als einer Substanz äußerlich aufgeheftete und beliebig von ihr ablösbare, d. h. sie verkleidende Momente.¹⁵²

Die Sichtweise, die Plessner hier angreift, ist mit der Art der Gegenstandsperspektivierung, wie die klassische Ontologie sie vornimmt, durchaus kompatibel, wie der Begriff des Akzidentellen bei Aristoteles gezeigt hat.¹⁵³ Im traditionellen Verständnis der Substanz wird deren realer Seinscharakter, ihre Realität behauptet, während Eigenschaften das an ihr Wechselnde und zu ihr Hinzukommende und deshalb das bloß Akzidentelle bilden. Demgegenüber artikulieren Sätze wie die von Plessner angeführten „die Rinde des Baumes ist rissig, sein Blatt ist grün“¹⁵⁴ nicht ein kasuistisch variierbares, kontingentes Verhältnis zwischen konstellativ austauschbaren Entitäten, die in der im Satz benannten Relation stehen können oder nicht, sondern sie artikulieren einen anschaulich erfassten Sachverhalt in seinem irreduziblen „Wirklichkeitswert“;¹⁵⁵ein solcher Sachverhalt

 Vgl. ebd.: 81 und 104.  Ebd.: 81.  Vgl. Kapitel 2.2.4.  Ebd.: 82.  „Wenn der Physiker erklärt, ,was‘ die Farbe Rot ,ist‘, wenn der Physiologe die Stärke einer Schallempfindung mißt, wenn der Psychologe die Perseverationstendenz bestimmter Vorstellungen fixiert, – so stellt sich überall als eigentlicher Sinn die Herausarbeitung der quantitativ faßbaren Bedingungen dar, an welche das Auftreten der qualitativ nur für das Erleben aufgeschlossenen Phänomene gebunden ist. Natürlich liegt es nahe, diese Phänomene ihres Wirklichkeitswertes zu entkleiden und sie – eben weil sie in ihrem inneren qualitativen Was sich der empirischen Begriffsbildung entziehen – zu „bloßen“ Empfindungen des Subjekts, zu bloß subjektiv durch die Organisation des Menschen bedingtem Schein zu machen.“ (ebd.: 29 f.) –

4.6 Substanz und Wirklichkeit

243

kann nur sekundär und aus einer analytischen Distanz heraus als Verhältnis zwischen einem Ding und seinen Eigenschaften im aristotelischen Sinn charakterisiert werden. Dieses Ding würde in der klassischen Sichtweise als Substanz bestimmt werden. Dabei tut sich jedoch eine Lücke zwischen zwei Substanzbegriffen auf: Die klassische Benennung der Substanz (des begegnenden lebendigen Dinges) als Substanz setzt voraus, dass Substanz als solche und für sich, unabhängig von ihren akzidentellen Eigenschaften, in der Realität besteht; die Substanz im Plessner’schen Denken hingegen gewinnt in der Realität ihren Sinn aus dem Sinn ihrer jeweiligen Wirklichkeit und damit der Art und Weise, wie dieses Ding in der „ursprünglichen“ Anschauung begegnet. Als Substanz im Plessner’schen Sinne begegnet es als Begegnendes; das bedeutet nun nicht, dass die Möglichkeit, über Lebendiges zu urteilen, an dessen situative Präsenz gebunden ist, sondern dass der Sinn eines solchen Satzes an den Sinn von Wirklichkeit vor ihrer Bearbeitung und Verarbeitung zur Realität gebunden bleibt. „Der Baum“ ist dann nicht primär ein Gegenstand einer bestimmten Art ist, sondern dieser Gegenstand mit diesen, seinen Eigenschaften ist ein lebendiges Ding und erst sekundär, nämlich auf dieser Grundlage, ein Gegenstand, dem bestimmte Eigenschaften im Allgemeinen zukommen oder zukommen können. Weil die Eigenschaften „zu diesem selbst daseienden Baum als seine Bestimmtheiten“¹⁵⁶ gehören, bildet das Wahrnehmungsding Baum eine „kernhaft geordnete Einheit von Eigenschaften“¹⁵⁷ vice versa. Diese Einheit gründet phänomenologisch in der Unzerreißbarkeit und Unauflöslichkeit des Doppelaspekts, der in der aristotelischen Logik bereits neutralisiert, d. h. konstitutionslogisch in Entitäten zerlegt ist. Der Plessner’sche Satz hat, mit Dewey gesprochen, dessen Konzept des „qualitativen Denkens“ Plessner in den Stufen nahesteht, einen „direkten Sinn“¹⁵⁸ – man könnte auch schlicht von einem pragmatischen Sinn sprechen, welcher der Situation innewohnt, deren Einholung die phänomenologische Deskription anvisiert. Dieser Sinn wird für Plessner durch die summative Zuordnung von Eigenschaften zu einem Gegenstand in der aristotelischen Logik gerade verfälscht,¹⁵⁹ da der Gegenstand nicht mehr als eine „kernhaft geordnete Einheit von Eigen-

Plessner verwendet diesen in der Auseinandersetzung mit den Stufen gerne unterschätzten Begriff an mehreren Stellen, abgesehen von der angeführten Stelle an ebd.: 35, 82, 108 und 229.  Ebd.: 82.  Ebd.: 81.  Vgl. Dewey 2003: 95.  Probleme, wie Aristoteles sie in Met. Z 5 (Gibt es eine Definition kombinierter Dinge?) diskutiert, stellen sich in der Bestimmung des anschaulichen Verhältnisses zwischen dem Ding und seinen Eigenschaften nicht.

244

4 Plessners Transformation der Ontologie

schaften“, sondern als ein bloßes Konglomerat von jeweils kontingenten Eigenschaften erscheine: Eine noch deutlicher hierher gehörige Erwägung ist die Tatsache, dass die Interpretation der klassischen Logik qualitative Bestimmungen als feste Eigenschaften von Objekten ansieht und sich folglich entweder einer attributiven oder einer klassifikatorischen Doktrin der Bedeutung von Aussagen verpflichtet fühlt. Nehmen wir den Satz: ,Der rothäutige Indianer ist stoisch.‘ Dies wird entweder so interpretiert, als bedeute es, dass der fragliche Indianer außer durch die Eigenschaft der Röte auch noch durch die Eigenschaft des Stoizismus charakterisiert ist oder zur Klasse der stoischen Gegenstände gehört.¹⁶⁰

4.6.3 Der Begriff der Wirklichkeit Worüber in der alltäglichen Lebenspraxis im direkten Sinn gesprochen wird, ist nicht die Realität, sondern die Wirklichkeit. Die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Realität hat Plessner in mehreren Konstellationen ausbuchstabiert: phänomenologisch in der eigenen Theoriebildung, zweitens in der mit der objektiven Transformation der Phänomenologie einhergehenden Abgrenzung von der Bewusstseinsphänomenologie sowie drittens in der Frontstellung gegen die naturwissenschaftlich inspirierte Fundamentalisierung, in welcher die Wirklichkeit in der den Gegenstand der Forschungspraxis bildenden empirischen Realität aufgehen solle. Die Frontstellung gegen die Bewusstseinsphänomenologie verführt Plessner allerdings nicht dazu, den Begriff des Bewusstseins zu verwerfen. Vielmehr führt Plessner eine äußerst folgenreiche Differenzierung in die Phänomenologie ein, die von der im Schlusskapitel der Stufen entfalteten „vermittelten Unmittelbarkeit“ her einzuholen ist: „Ein Wirkliches kann als Wirkliches gar nicht anders mit einem Subjekt in Relation stehen, es sei denn von sich aus als das dem Subjekt Entgegengeworfene, als Objekt, d. h. als Er-scheinung, Manifestation …; als vermittelte Unmittelbarkeit.“¹⁶¹ Die „Unmittelbarkeit“ bezeichnet hier die Erscheinungsweise des Wirklichen, seine Vermitteltheit bezieht sich sowohl auf die faktische Vermitteltheit des Erscheinens im Bewusstsein als auch auf die Einholbarkeit dieser Vermitteltheit, die für dieses Erscheinen als solches allerdings nicht immanent, d. h. im Erscheinen selber, konstitutiv ist. Die daran anschließende folgenreiche Differenzierung besteht in Plessners Unterscheidung zwischen der Bewusstseinsimmanenz als dem situativen Verhältnis, in dem der Mensch natürlicherweise zur Wirklichkeit steht, und dem „Satz der Immanenz“, mittels desselben Plessner

 Dewey 2003: 95.  SOM: 329.

4.6 Substanz und Wirklichkeit

245

das traditionelle, neuzeitliche Verständnis des Verhältnisses nicht des Lebendigen zur Wirklichkeit, sondern des Bewusstseins und der Wirklichkeit bezeichnet. Die Bewusstseinsimmanenz als Situation des Menschen definiert Plessner folgendermaßen: „Seine Situation ist die Bewußtseinsimmanenz. Alles, was er erfährt, erfährt er als Bewußtseinsinhalt und deshalb nicht als etwas im Bewußtsein, sondern außerhalb des Bewußtseins Seiendes.“¹⁶² Die Anschauung ist also keine Anschauung jenseits des Bewusstseins oder unabhängig vom Bewusstsein, sondern Anschauliches ist im Bewusstsein, aber nicht als Bewusstseinsinhalt, sondern als „Sein in der Erscheinung“.¹⁶³ Weil Bewusstseinsimmanenz die Situation des Menschen ist, in welcher „Sein in der Erscheinung“ ihm begegnet, fällt die Begegnung in das Medium des Bewusstseins als des Mediums der Anschauung, in welcher Mensch und wirkliches Sein sich direkt begegnen. Sie begegnen sich in der Anschauung aber nicht als zwei Entitäten in einem Bewusstseinsbehälter, sondern Anschauung und Bewusstsein als Medium bilden selbst eine ungegenständliche Wirklichkeit, innerhalb derer die Wirklichkeit der Begegnung sich ereignet;¹⁶⁴ Bewusstseinsimmanenz als Situation bedeutet, dass die Wirklichkeit

 Ebd.: 328.  Den Begriff verwendet Plessner in der Analyse der Doppelaspektivität an zwei Stellen: Ebd.: 160 und 242.  Es wäre bereits eine epistemologische Verzerrung dieser Situation, würde man aus dem „Sein in der Erscheinung“ ein „Sein für die Anschauung“ machen, wie Beaufort dies tut, der an derselben Stelle gleichwohl von einem „ontologischen“ Interesse von Plessners Naturphilosophie spricht: „Ihr Interesse ist ein ontologisches, wobei ,Sein‘ hier bedeutet: für die Anschauung konstituiert sein, oder, im Falle von Wahrnehmungsgegenständen:für die Wahrnehmung konstituiert sein.“ (Beaufort 2000:51) Dementsprechend lässt Beaufort den Stellenwert der Wirklichkeit in Plessners Denken gegenüber dem der Realität zurücktreten: „Plessners Welt ist zunächst eine reale, keine wirkliche Welt. Sie als gesellschaftlich konstituiert zu erkennen, bedarf er der konstitutionstheoretischen Anstrengung.“ (ebd.) Die Bedeutung der Wirklichkeit in den Stufen überspringt Beaufort, weil er phänomenologische Deskription (der Wirklichkeit) und Konstitutionsanalyse (der Realität) trennt und dadurch blind für die Pointe des gesamten phänomenologischen Ansatzes Plessners wird, dem es um eine Konstitutionsanalyse von Wirklichkeit auf der Basis phänomenologischer Deskription geht. Weil Beaufort vorschnell von der Wirklichkeit zur Realität übergeht, kann er die „vermittelte Unmittelbarkeit“ sozialkonstruktivistisch interpretieren und die Vermitteltheit der vermittelt-unmittelbaren Wirklichkeit als eine gesellschaftliche denken, um Plessners Ontologie der Wirklichkeit sozialkonstruktivistisch und -ontologisch zugleich zu deuten: „Wirklichkeit ist also für Plessner – und hier finden wir in einer ersten Formulierung die endgültige Antwort auf die Frage, die uns schon lange bewegt hat, die Frage nach Plessners Ontologie – gesellschaftlich konstituierte Wirklichkeit, Sein ist gesellschaftlich konstituiertes Sein.“ (Ebd: 213 f.) Auf dieser Deutungsgrundlage ist aber nicht mehr verstehbar, wie Wirklichkeit eine Ermöglichungsbedingung der naturwissenschaftlichen Realitätskonstruktion bilden kann; sollte sie es als gesellschaftlich konstituierte sein,würden Beaufort zufolge die Stufen

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4 Plessners Transformation der Ontologie

in keinem Außerhalb ihrer selbst – d.i. der Situation – sich konstituiert. Das „Sein in der Erscheinung“ ist Bewusstseinsinhalt erst von der Realität her, die durch das Bewusstsein vergegenständlicht und deren Erscheinung in ihrer Vermitteltheit betrachtet wird. Genau dies ist in der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie der Fall, die aus der Möglichkeit, die Erscheinungsweise des Seins vom Bewusstsein her zu betrachten, die Vorgelagertheit des Bewusstseins und damit des Selbst als des Trägers von Bewusstsein folgert. So wird jedoch das „Sein in der Erscheinung“ zum Bewusstseinsinhalt verharmlost, womit die Wirklichkeit einem epistemologischen Realitätsprinzip unterworfen wird, welches seinen Grund im ontischen Vorgelagertsein des Selbst findet: „Was also erscheint, ist Inhalt meines Selbst, Bewußtseinsinhalt, Vorstellung. Aus dem noch ontischen Vorgelagertsein als Vorgegebenheit der Innerlichkeit zu Zwecken der Ermöglichung der phänomenalen Welt ist ein Vorgelagertsein meiner selbst geworden.“¹⁶⁵ Erst von dieser Formulierung des Verhältnisses von Mensch und Wirklichkeit her können sich die klassischen Aporien ausbilden, denen zufolge die Wirklichkeit der Behälter des Bewusstseins ist, weil es in ihr auftritt, und umgekehrt das Bewusstsein der Behälter der Welt sein muss, die auf mysteriöse Weise „ins“ Bewusstsein gelangt. Wirklichkeit im phänomenologischen Sinne ist das, was in der Anschauung begegnet, ohne durch das Bewusstsein gefiltert und „zugerichtet“ zu sein, weil die ursprüngliche Anschauung,von welcher Plessner phänomenologisch ausgeht und auf deren Einholung er mit seiner phänomenologischen Deskription zielt, noch nicht vergegenständlichtes Bewusstsein ist – im Unterschied zum Bewusstsein im herkömmlichen Verständnis, dessen Inhalt in Erfahrung übersetzte und somit vergegenständlichte Anschauung ist. So sagt Plessner über die Natur, deren Verständnis erklärtes Ziel seiner Philosophischen Anthropologie ist: „Sie ist darum nicht Erlebnis, sondern durchaus volle Wirklichkeit, die dem Menschen zum Erlebnis wird und ihn als Fundament und Rahmen seiner Existenz von der Geburt bis zum Tode trägt.“¹⁶⁶ Die Abgrenzung der Natur vom Erlebnis der Natur enthält die Abgrenzung der objektiv transformierten Phänomenologie von der Ausgestaltung der Phänomenologie in der Form, in welcher Husserl sie seit der Ideen-Schrift vorgenommen hat. Der Gegenstand der objektiv transformierten Phänomenologie Plessners ist das Erlebnis der Wirklichkeit, wohingegen es Husserl zuletzt um das Erlebnis der Wirklichkeit geht, weshalb Husserl von einem

indirekt eine Begründung der gesellschaftlichen Konstituiertheit der Naturwissenschaften – also etwas, was Plessner an keiner Stelle als Ziel ausgibt oder durchzuführen versucht.  SOM: 46.  Ebd.: 27.

4.6 Substanz und Wirklichkeit

247

„noematischen Sinn“ von Erlebnissen als solchen spricht und die Wirklichkeit in die Intentionalität zurücknimmt.¹⁶⁷ Solange Wirklichkeit nicht vergegenständlicht wird, tritt sie in kein Differenzverhältnis zur Realität. Plessner exemplifiziert dies am oben bereits angesprochenen Beispiel von Halluzinationen und Wahrnehmungstäuschungen,¹⁶⁸ die sich nicht als Unwirkliches von Wirklichem unterscheiden und demzufolge innerhalb der Wirklichkeit kein Differenzverhältnis der Wirklichkeit zu sich selbst manifestieren, sondern als Wirkliches im vollen Sinne des Wortes eine von ihnen unterscheidbare „eigentliche“ Wirklichkeit gerade überblenden: „Substantielle Kernigkeit zeigt gerade auch der Gegenstand der Wahrnehmungstäuschung und der Halluzination. Sonst wäre eben das Subjekt nicht verführt worden, Wirklichkeit zu glauben, wo keine ist.“¹⁶⁹ Der Ort und das nicht-begriffliche tertium comparationis, von dem her beide Wirklichkeiten unterschieden und aufeinander bezogen werden können, bildet die Realität. Die Realität, d. h. die vom lebensweltlichen Geltungshorizont und der in ihm situierten natürlichen Wahrnehmung überformte Wirklichkeit, kann als Ausgangspunkt und methodischer Ansatzpunkt für eine Philosophische Anthropologie, wie Plessner sie vor Augen hat, nicht dienen, weil sie durch Unterscheidungen konstituiert und strukturiert wird, in deren Rücken Plessner gerade zu gelangen versucht; sie wird in der nicht empirisch restringierten Betrachtung der Natur sogar explizit als Ausgangspunkt verworfen: „Die Theorie der Geisteswissenschaften braucht Naturphilosophie d. h. eine nicht empirisch restringierte Betrachtung der körperlichen Welt, aus der sich die geistig-menschliche Welt nun einmal aufbaut, von der sie abhängt, mit der sie arbeitet, auf die sie zurückwirkt.“¹⁷⁰ Ein wirkungsmächtiger Bestandteil dieser Realität sind die empirischen Naturwissenschaften; diese gehen die Realität (qua Lebenspraxis im weitesten Sinne) auf der Basis der Wirklichkeit (als Grundlage der Unterscheidungen zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem, auf denen elementare Vorentscheidungen in der Realität beruhen) von der Realität (als der einen Teil der allgemeinen Lebenspraxis bildenden empirischen Forschungspraxis) aus an. Infolgedessen resultiert die Reduktion, die der empirische Forscher mit der Zurückführung der Anschauung auf deren organische Bedingungen vollzieht, in der Elimination des Wirklichkeitswertes der Anschauung und des hermeneutischen Bodens, auf welchem auch der Naturwissenschaftler steht:

   

Vgl. Husserl 1976: § 91. Vgl. Kap. 4.2. SOM: 87. Ebd.: 26.

248

4 Plessners Transformation der Ontologie

Eine heute mehr und mehr durchschaute Täuschung ging dahin, in den anorganischen Modalen wie Farben, Tönen usw., da sie als solche nur der sinnlichen Anschauung zugänglich sind, Eigenschaften der Sinne bzw. Sinnesorgane zu sehen und ihnen einen eigenen Wirklichkeitswert zu bestreiten. Der Kritik hält diese Ansicht nicht stand. Denn aus der Einsicht, daß zum Auftreten einer Qualität nicht nur auf der Objektseite, sondern ebensosehr auf der Seite des Wahrnehmenden eine ganze Reihe von Bedingungen erfüllt sein muß, kann man nicht schließen, daß die Existenz der Qualität lediglich in den Wahrnehmungsbedingungen aufgeht.¹⁷¹

Die Auflösung des Wirklichkeitswertes der Anschauung und damit der Wirklichkeit in der Anschauung gilt in der von Plessner kritisierten Auflösung der anschaulichen Wirklichkeit in der Überformungs- und Nachträglichkeitswirklichkeit der Realität als wissenschaftlicher Erfolg; die Wirklichkeit wird übersprungen – und gleichwohl benötigt, um sie überspringen zu können – und zugleich von der Realität aus vermeintlich „erklärt“. Die Realität der Naturwissenschaften ist nicht mehr „ursprüngliche Wirklichkeit in ihrem An sich. Sie ist schon unterworfene, dem Subjekt durch seine Beobachtungen, Erfahrungen und Berechnungen gefügig gemachte Wirklichkeit“.¹⁷² Das Ansehen der „eigentlichen“ Wirklichkeit bzw. des Wesens der Wirklichkeit erhält die Realität der Naturwissenschaften dadurch, dass sie explanativ in Form von Reduktionen hergestellt wird: „Der Empiriker wird eines Tages erklären können, daß es keine ,Anpassung‘ mehr gibt, sondern nur noch ,Regulationen‘, keine ,Regulationen‘ mehr, sondern nur noch bestimmt geartete, chemisch zu definierende Vorgänge“.¹⁷³ In dieser Gefügigmachung und methodisch-manipulativen Zurichtung der Wirklichkeit geht deren Erschließungskraft unter, während von der Wirklichkeit ihren Ausgang nehmende Unterscheidungen wie die zwischen dem Lebendigen und dem NichtLebendigen gerade in die Realität hineinragen statt in der Realität erst gewonnen zu werden. Notwendig unelaborierbar werden dann die konstitutiven Wesensmerkmale, deren ‚vollständiges‘ Auftreten das wirkliche Vorhandensein eines Lebendigen (,wirklich‘ nicht im Sinne der Kriterien der empirischen Naturwissenschaft, sondern im Sinne der Anschauung) phänomenal verbürgt“.¹⁷⁴ Aber auch die andere Seite der Fundamentalisierung des Doppelaspekts hält eine Überformung von Wirklichkeit durch Realität parat.Wirklichkeit und Realität des Psychischen sind nicht im starken Sinne als Differenz aufzufassen, sondern gehen in jeweiligem Ausgriff aufeinander ineinander über. Über die anschaulich direkt wahrgenommene Wirklichkeit sagt Plessner, dass sie „nur dann Wirklich   

Ebd.: 108. Ebd.: 336. Ebd.: 118. Ebd.: 114.

4.6 Substanz und Wirklichkeit

249

keit darstellt und ausmacht, wenn sie auch unabhängig von den Prinzipien ihrer Konstitution in einem Bewußtseinsaspekt für sich konstituiert bleibt“.¹⁷⁵ Ein transzendentaler Idealismus kann in diesem Verständnis nicht Wirklichkeit begründen, sondern nur die Realität der Wirklichkeit, die trotz aller Analysen transzendentaler Konstitution sich als das gibt, was sie ist, nämlich „volle Wirklichkeit“.¹⁷⁶ Psychische Wirklichkeit hört jedoch nicht auf zu existieren, sobald sie zum Gegenstand der Reflexion wird bzw. in die Realität der Reflexion eingeht; sie bleibt auch als reflektierte Wirklichkeit Wirklichkeit: „Im Akt der Reflexion, des Aufmerkens, Beobachtens, Suchens, Erinnerns bringt das lebendige Subjekt auch seelische Wirklichkeit zustande“.¹⁷⁷ Das epistemologische Verhältnis zwischen der Wirklichkeit und der Realität verkompliziert sich im Schlusskapitel der Stufen, in welchem Plessner es von der exzentrischen Positionalität her grundlegend in Angriff nimmt. Über die Realität sagt Plessner dort, dass sie „die Innehaltung jener Distanz fordert, die das personale Subjektzentrum allein dank seiner exzentrischen Position, seiner doppelten Abgehobenheit vom eigenen Leib besitzt“.¹⁷⁸ Die exzentrische Positionalität ermöglicht gerade die vergegenständlichende Abstandnahme von der Wirklichkeit, die es ermöglicht, sie als Realität zu behandeln. Das Verhältnis von Wirklichkeit und Realität, wie es am Ende der Stufen eingeholt wird, ist für die bisher analysierte ontologische Grundlegung jedoch nicht entscheidend. Maßgeblich für diese ist vielmehr, dass Plessner Wirklichkeit gerade epistemisch freilegt durch den Verzicht auf eine Epistemologie, um von der Wirklichkeit her die ontologische Konstitution der Wirklichkeit aufzuschließen, denn die ontische Gegenständlichkeit der Grenze wird am Wirklichen als Reales aufgewiesen; Plessner spricht demgemäß von der „Realität der Grenze“,¹⁷⁹ welche für das Lebendige in seiner Wirklichkeit konstitutiv ist. Diese Ontologie hat somit einen doppelten Boden: sowohl der Doppelaspekt als auch die Grenze treten ontisch am Lebendigen auf – als irreduzibles Wirkliches (Doppelaspekt) und als die Realität des Wirklichen innerhalb der Wirklichkeit Konstituierendes, das am Wirklichen nicht sinnlich, sondern intuitiv sich zeigt (Grenze) – und fungieren daher in der Analyse des Lebendigen als ontologische, in der Analyse der Wirklichkeit gewonnene und in einer Bestimmung der Realität des lebendigen Seins in Anspruch

    

Ebd.: 304. Ebd.: 27. Ebd.: 297. Ebd.: 336. Ebd.: 133.

250

4 Plessners Transformation der Ontologie

zu nehmende Grundbegriffe.¹⁸⁰ Die Philosophische Anthropologie ist nur möglich aufgrund ihrer Analyse der Wirklichkeit der Dinge, in welcher die Grundunterscheidungen allein sich gewinnen lassen, welche zugleich die Realität ontologisch bestimmen. Vom aristotelischen Wirklichkeitsbegriff weicht der Plessner’sche dabei bedeutend ab. Bei Plessner werden in der Wirklichkeit und vor allem an Wirklichem ontische Sachverhalte festgestellt und ontologische Differenzen und Bestimmungen gewonnen. Bei Aristoteles ist die Wirklichkeit selbst als ενέργεια sowohl der Raum, innerhalb dessen ontologische Bestimmungen gewonnen werden, als auch selbst bereits ein ontologisches Prinzip, da Aristoteles es, wie Plessner sagt, „mit der Physis als einer in ihren Erscheinungen manifesten Wirklichkeit zu tun“¹⁸¹

 Auch Volker Schürmann verkennt den ontologischen Status der phänomenologischen Deskription bei Plessner. Ähnlich wie Beaufort in seiner Zerklüftung von phänomenologischer Deskription und Konstitutionsanalyse zerreißt Schürmann das Band zwischen Phänomenologe und Ontologie, indem er Plessners forschungslogische Maxime, phänomenologisch Aufgewiesenes nicht umstandslos zu ontologisieren, in einer gegen Gutmann gerichteten Passage zum Anlass nimmt, ontische Sachverhalte zu phänomenologisch unzugänglichen zu erklären: „Es ist ganz offenkundig, dass Plessner phänomenologisch und nicht über Onta redet. Durchgehend ist von Körperdingen in der Anschauung die Rede; es geht nicht um ontisches Sein, sondern um das Sein in der Anschauung.“ (Schürmann 2011: 220) Schürmann kann diese disjunktive Unterscheidung zwischen Anschauung und Sein – beides in einer Ebene zu erfassen, ist der Sinn des Begriffs der Erscheinung, wie Plessner ihn verwendet – nur deshalb treffen, weil er mit dem merkwürdigen Begriff der „Onta“ Dinge außerhalb und unabhängig von aller Anschauung bezeichnet und alles Ontische, also auch das ontisch am Phänomen Aufweisbare, jenen „Onta“ subsumiert und ihrer der Anschauung externen Sphäre zuschlägt. Plessners Ausdruck „Sein in der Erscheinung“, mit dem er gerade eine solche Zwei-Reiche-Lehre von Anschauung und Sein zu überwinden trachtet, wird von Schürmann phänomenologisch vereindeutigt in einem epistemologischen Sinn, was dadurch erleichtert wird, dass Schürmann sich auf den ebenfalls bei Plessner vorkommenden Begriff der Anschauung konzentriert, die im Unterschied zum Begriff der Erscheinung immer den Anschauenden, das Subjekt der Anschauung, stärker fokussiert. „Epistemologisiert“ man die phänomenologische Deskription, versteht man sie also als dem Husserl’schen Gründungsakt notgedrungen verhaftet, so sieht man sich auch eher genötigt, Plessner im Rekurs auf Macht und menschliche Natur gegen sich selbst in Schutz nehmen zu wollen: „Plessners methodischer Zugriff redet nicht nur über Grenzen, sondern ist auch selbst eine (stets prekäre) Grenzoperation. Bereits in der Krisis-Schrift von 1918, und bestätigt dann in Macht und menschliche Natur von 1931, ist klar, dass Plessner kein Phänomenologe sein will.“ (ebd.: 199) Nicht erst Macht und menschliche Natur, sondern bereits die Stufen bestätigen dies. Liest man sie so, wie es hier vorgeschlagen wird, versteht man auch den Mittel-Charakter der phänomenologischen Deskription, die es ermöglichen soll, den ontischen Sachverhalt der Grenze am lebendigen Ding selbst aufzuweisen, dessen ontologischer Status nicht innerhalb dieser Aufweisung selbst liegt, sondern in ihrem Sinn: als dieser ontisch aufweisbare Sachverhalt die ontologische Unterscheidung zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem zu tragen.  Ebd.: 350.

4.7 Exkurs I: Zu den Begriffen des Ontischen und des Ontologischen

251

habe. Die Erscheinungen werden als Erscheinungen der ενέργεια – als erscheinende ενέργεια – als Erscheinungen zugleich depotenziert und metaphysisch überformt. Die Wirklichkeit bleibt bei Plessner hingegen an die Anschauung gebunden, ohne jedoch idealistisch von dieser vereinnahmt zu werden; dies kommt in Plessners, der Anschauung des Erscheinenden und der angeschauten Erscheinung gleichermaßen ihr Recht lassender Formulierung zum Ausdruck: „Was wirklich vorhanden ist, ist auf jeden Fall jetzt.“¹⁸² Was „jetzt“ ist, ist nicht „jetzt“ unabhängig von dem Beobachter, für den es „jetzt“ ist; es ist allerdings „jetzt“ gemäß seines Ansichseins, d. h. als das, was es an ihm selbst ist, wie Plessner an einer oben zitierten Stelle sagt.

4.7 Exkurs I: Zu den Begriffen des Ontischen und des Ontologischen Die Doppelbestimmung der Grenze als ontischer Sachverhalt und als ontologischer Terminus bedarf einer grundsätzlichen Erläuterung, welche die oben formulierte Replik auf Volker Schürmann vertieft.¹⁸³ Von „Ontischem“ lässt sich in mehrfacher Bedeutung sprechen. Wenn Plessner die Grenze als „ontisch zum belebten Ding selber gehörende, die Erscheinungsweise vom Ding aus bestimmende Aspektgrenze“¹⁸⁴ bezeichnet, wird ein eigenschaftlich am Lebendigen erscheinender Sachverhalt, gleichwohl nicht eine sinnlich und damit empirisch gegebene Entität (eine solche wäre z. B. eine Hand) gemeint. Ein ontischer Sachverhalt kann auch ein empirisch feststellbarer Sachverhalt sein, wie dies für die Selektion als elementare Verhaltensweise des Lebendigen gilt. Empirisch feststellbar heißt hier jedoch ebenfalls nicht „direkt sinnlich beobachtbar“, sondern es bedeutet, dass sich in der Wirklichkeit des Lebendigen – genauer: am Lebendigen selbst – ein Sachverhalt beobachten lässt, der Selektion genannt werden kann, aber die Selektion selbst lässt sich nicht als solche direkt beobachten. Das bleibt gegen alle konkretistischen Missdeutungen des Begriffs des Ontischen festzuhalten, die exemplarisch in Schürmanns Begriff der „Onta“ zum Ausdruck kommen, der im Unterschied zum Ontischen auf Einzeldinge zielt; aus dem Bereich des Ontischen, worunter zumeist dasjenige verstanden wird, das kategorial als vom Bewusstsein unabhängig Existierendes anzusprechen ist, wird so die

 Ebd.: 173.  Vgl. Fußnote 180.  SOM: 102.

252

4 Plessners Transformation der Ontologie

Menge der bewusstseinsunabhängig existierenden Dinge (Onta).¹⁸⁵ Die Doppelaspektivität wird in der phänomenologischen Deskription als ontischer Sachverhalt ausgewiesen und ist nicht in ein jeweiliges psychophysisches Konkretum, z. B. diesen Ausdruck der Freude, übersetzbar, weil ein solcher Ausdruck erst im Lebensvollzug situativ deutbar ist, nicht in einer Deskription, welche auf die Kategorien zielt, mittels deren dieser Lebensvollzug philosophisch expliziert werden kann. Die Grenze bildet als phänomenologisch am Lebendigen aufgewiesene eine gleichermaßen raumhafte und raumbedingende ontische Eigenschaft des Lebendigen, ist aber als Sachverhalt weder dinglich noch sinnlich zu verstehen und nicht im Raum vorfindbar. Als Aspektgrenze, also als gegen den Richtungsgegensatz von Physischem und Psychischem indifferente, das nichträumliche und raumhafte Woher und Wohin der Aspekte Darstellende, bildet die Grenze darüber hinaus einen ontologischen Begriff. Sie erscheint nicht mehr nur eigenschaftlich, sondern ist selbst eigenschaftskonstitutiv und bildet nicht den Übergangsbereich zwischen Körper und Medium, sondern ist konstitutiv für den lebendigen Körper, der diesen Übergang „in seiner Begrenzung vollzieht und dieser Übergang selbst ist“.¹⁸⁶ Aufgrund des Doppelcharakters der Grenze, ontisch am Ding aufweisbar zu sein und ontologisch dessen Sein zu bestimmen und vitale Vollzüge zu ermöglichen, erfüllt die Grenze als ontologischer Begriff im vollen Sinne das, was philosophisch Kategorie genannt und von Plessner in einer dezidiert gegen Kant gewendeten Weise im spezifisch ontologischen statt im epistemologischen Sinne aufgefasst wird: Kategorie heißt im philosophischen Sprachgebrauch eine Form, die sich der Erfahrung fügt, die aber nicht aus der Erfahrung stammt; eine Form, deren Bereich nicht mit der Aktsphäre des Subjekts zu Ende geht, sondern übergreift auf die Sphäre der Objekte, weshalb ihr nicht

 Es ist hier an eine grundlegende Anmerkung Adornos zur Verwendung der Begriffe „ontisch“ und „ontologisch“ zu erinnern, die zwar auf Heidegger gemünzt und unter bewusstseinsphilosophischen Prämissen formuliert ist, sich aber trotzdem auf den hier behandelten Zusammenhang übertragen lässt, da es unabhängig von jeder philosophischen Methodik unsinnig ist, Einzeldinge als „ontisch“ oder „ontologisch“ zu bezeichnen: „Daß Dasein ontisch oder ontologisch ,sei‘, kann strikt überhaupt nicht geurteilt werden, denn das mit Dasein Gemeinte ist ein Substrat und insofern der Sinn des Begriffs Dasein ein nicht Begriffliches. Dagegen sind ,ontisch‘ und ,ontologisch‘ Ausdrücke für verschieden geartete Gestalten der Reflexion, anwendbar einzig auf Bestimmungen von Dasein, oder auf deren Stellung in Theorie, nicht aufs gemeinte Substrat unmittelbar. […] Nichts zwischen Himmel und Erde ist an sich ontisch oder ontologisch, sondern wird es erst vermöge der Konstellationen, in welche Philosophie es bringt.“ (Adorno 1998: 493)  SOM: 104.

4.7 Exkurs I: Zu den Begriffen des Ontischen und des Ontologischen

253

nur die Erfahrung, die man von den Gegenständen macht, sondern ebenso die Gegenstände selber unterstehen.¹⁸⁷

Es ließe sich nun mit guten Gründen einwenden, dass diese Bestimmung des Kategorienbegriffs nicht notwendig als der Kantischen Transzendentalphilosophie zuwiderlaufend gedeutet werden müsse, da diese in keinem bloßen transzendentalen Idealismus versande, doch Plessner gibt an anderer Stelle deutlich zu verstehen, dass er – den subjektphilosophischen Rahmen gänzlich verlassend – seine Vitalkategorien bzw. organischen Modale gemäß dem Sinn des Kategorienbegriffs, den dieser „vor Kant“ hatte, verstanden wissen will: Man übertreibt wohl nicht, wenn man unter diesem Postulat einer Einsicht in die Notwendigkeit der verschiedenen lebenswesentlichen Merkmale, d. h. der Mannigfaltigkeit der organischen Modale, den gegenwärtigen Zustand der Lehre von den Wesensmerkmalen des Lebens mit dem der Kategorien vor Kant vergleicht.“¹⁸⁸

Auf der Grundlage dieser Ausführungen lässt sich zusammenfassend und verdeutlichend sagen: Der Begriff „ontisch“ ist vor allem eine Kategorie der Erscheinung von Lebendigem (Lebendiges erscheint ontisch im Doppelaspekt und weist die Eigenschaft der Grenze auf), wohingegen der Begriff „ontologisch“ eine Kategorie des Seins von Erscheinendem als Erscheinendem ist (die Grenze bildet als ontisch dem Lebendigen angehörende Aspektgrenze die ontologische Ermöglichungsbedingung der Doppelaspektivität des Lebendigen, das deshalb im Doppelaspekt erscheint). „Ontologisch“ ist eine Kategorie des Erscheinenden als Erscheinenden nicht, weil dessen Sein „bloßes“ Erscheinen wäre, sondern weil dessen Sein als Wirkliches erscheint. Beide Begriffe gewinnen den Sinn, in welchem Plessner sie verwendet, aus seiner Transformation der Ontologie: Sie sind Kategorien des Erscheinens und damit auch der Anschauung, aber nicht des Erscheinens für ein Subjekt und somit nicht des Anschauenden, sondern des Erscheinens der „Gegenstände selber“¹⁸⁹ in der Anschauung. Plessners Transformation der Phänomenologie bildet die Grundlage der Explikation der Wesensmerkmale des Lebens, die zwar dem Kategorienbegriff „vor Kant“ eher entsprechen als dem Kantischen, aber deshalb noch lange nicht „hinter“ Kant zurückfallen. Zur resümierenden Verdeutlichung: Die Grenze im indikatorischen Sinn ist ein ontischer Sachverhalt, im konstitutiven Sinn ist sie ein ontologischer.Wo Plessner

 Ebd.: 66.  Ebd.: 113.  Ebd.: 65.

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4 Plessners Transformation der Ontologie

die Grenze als ontisch zum belebten Ding gehörend bezeichnet, wird innerhalb der phänomenologischen Deskription eine Aussage darüber getroffen, was zu belebten Dingen im Allgemeinen als für deren Sein in der Erscheinung konstitutiv gehört.Wo Plessner die Grenze ontologisch bestimmt, wird angegeben, was für das lebendige Sein in der Erscheinung im Sinne eines realen Bestimmungsgrundes konstitutiv ist. Der reale Bestimmungsgrund liegt daher nicht außerhalb oder „hinter“ der Wirklichkeit, sondern wird in der Wirklichkeit am Erscheinen von Wirklichem selbst freigelegt; das philosophische Verfahren dieser Freilegung bildet Plessners „Deduktion der Kategorien oder Modale des Organischen“.¹⁹⁰ Vorausgreifend: Selektion ist ein ontischer Sachverhalt – ontisch deshalb, weil die Selektion sich nicht durch Selektion als solche selbst ermöglichen kann. Als ontologische Ermöglichungsbedingung der Selektion wird die Potenzialität des lebendigen Seins aufgezeigt werden, das seiende Möglichkeit-Sein des im Modus des Sich-vorweg existierenden lebendigen Seins. Ebenso ist die „harmonische Äquipotentialität“ ein ontologischer Begriff, mittels dessen allein eine spezifische Gestalt der Grenzrealisierung verständlich gemacht werden kann, die eine entscheidende Rolle in der Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit spielt, wie sich noch zeigen wird.¹⁹¹

4.8 Exkurs II: Hauckes Fehldeutung der Stufen Kai Haucke hat mit seinem Buch Plessner zur Einführung, das aufgrund seines Erscheinens in der prominenten Einführungsreihe des Junius-Verlags vermutlich nach wie vor eine erste Orientierung für viele zu bieten verspricht, die sich mit Plessner auseinandersetzen wollen, eine Lesart vorgelegt, welche den Zugang zu den Stufen eher verstellt als ihn zu befördern. Haucke zufolge ist die Transformation des klassischen Substanzbegriffs das Hauptanliegen, das Plessner mit den Stufen verfolge: „Bei aller naturwissenschaftlichen Materialfülle geht es in diesem Buch philosophisch um eine Transformation des Substanzbegriffs.“¹⁹² Diese Deutung resultiert daraus, dass Haucke Plessners Auseinandersetzung mit dem cartesianischen Alternativprinzip als die Frage auffasst, auf welche die Stufen mittels einer Transformation der Aristotelischen Substanz-Akzidens-Relation zu antworten versuchen:

 Ebd.: 122.  Vgl. Kapitel 4.10.  Haucke 2000: 23.

4.8 Exkurs II: Hauckes Fehldeutung der Stufen

255

Will man Plessners großes und schwer zu lesendes Buch wenigstens im Ansatz verstehen lernen, dann ist die Vergegenwärtigung solcher Zusammenhänge, wie verkürzt sie auch sein mag, unabdingbar. Es ist, so kann man resümieren, letztlich das ontologische Problem, welches innerhalb der modernen Subjektivität verborgen ist, das den Prozess kopernikanischer Wenden nicht zur Ruhe kommen lässt, weil das bewegende Motiv dieses Prozesses, trotz des jeweiligen avantgardistischen Selbstverständnisses, das ganz Neue gefunden zu haben, in einer sehr traditionellen Vorstellung besteht. Gesucht wird immer eine feste Wirklichkeit, eine Substanz, die sich nicht mehr in Akzidenzien verflüchtigt.¹⁹³

Formuliert man das Problem, dem Plessner sich zweifelsohne stellt, derart, erzeugt man den irrtümlichen Eindruck, dass Plessners Philosophische Anthropologie auf die Philosophie der „modernen Subjektivität“ antworte und womöglich selbst eine neuartige Philosophie der Subjektivität darstelle. Darin zeigt sich das entscheidende Problem von Hauckes Lesart: Die Fokussierung auf den Substanzbegriff, welcher die Antike mit der neuzeitlichen Erkenntnistheorie als systematischen locus classicus verbindet, verdeckt gerade die Bedeutung der „Neuschöpfung der Philosophie“.¹⁹⁴ Diese „Neuschöpfung der Philosophie“ wird von Plessner gerade nicht als Reaktion auf die moderne Erkenntnistheorie verstanden, sondern in einem Konglomerat von Bemühungen (Kulturwissenschaft, Hermeneutik etc.) verortet, die allesamt aus der als aporetisch empfundenen neuzeitlichen Erkenntnistheorie auszubrechen versuchen. Was Plessner und die von ihm genannten Bestrebungen mit der philosophischen Tradition über alle Differenzen hinweg verbindet – der Hauptunterschied besteht darin, dass die neuzeitliche Tradition eine Grundlegung von Erkenntnis und Wirklichkeit anstrebt, während es Plessner der angeführten programmatischen Passage zufolge um eine naturphilosophisch-anthropologische Hermeneutik der Lebenserfahrung geht –, ist der Versuch, aus dem Sein des Lebendigen in der Erscheinung (diese bildet die Sphäre der Wirklichkeit) eine Naturphilosophie des Lebendigen als Philosophische Anthropologie zu gewinnen. Haucke trifft zwar ins Schwarze, wenn er die klassische Tradition als den Versuch beschreibt, durch Begründung eine „feste Wirklichkeit“¹⁹⁵ philosophisch einzuholen, doch Plessners Versuch, die Wirklichkeit das

 Ebd.: 22 f.  Der Zweck heißt: Neuschöpfung der Philosophie unter dem Aspekt einer Begründung der Lebenserfahrung in Kulturwissenschaft und Weltgeschichte. Die Etappen auf diesem Wege sind: Grundlegung der Geisteswissenschaften durch Hermeneutik, Konstituierung der Hermeneutik als philosophische Anthropologie, Durchführung der Anthropologie auf Grund einer Philosophie des lebendigen Daseins und seiner natürlichen Horizonte; und ein wesentliches Mittel (nicht das einzige), auf ihm weiterzukommen, ist die phänomenologische Deskription.“ (SOM: 30)  Haucke 2000: 23.

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4 Plessners Transformation der Ontologie

Lebendigen in Gestalt einer „Logik der lebendigen Form“¹⁹⁶ zu denken, zielt nicht auf eine Transformation des Substanzbegriffs, sondern sie enthält eine solche „lediglich“.¹⁹⁷ Die Transformation des Substanzbegriffs wird nicht umsonst in dem, was Plessner in der oben zitierten Passage als das „Mittel“ der phänomenologischen Deskription bezeichnet, bereits vollzogen – eine vollständig entwickelte „Philosophie des lebendigen Daseins“¹⁹⁸ greift jedoch weit darüber hinaus und findet in dieser Transformation nicht ihren systematischen Gravitationspunkt. Die phänomenologische Deskription bildet ein Mittel zur Entfaltung der Analyse der Erscheinungsweise sowohl lebendiger als auch nicht-lebendiger Dinge; mittels ihrer wird eine Formanalyse der Erscheinung durchgeführt, nicht Erscheinung durch ein ihr Zugrundeliegendes begründet. Ohne die oben dargelegte Rekapitulation dieser Analyse hier noch einmal zu wiederholen, mögen wenige Hinweise genügen: Plessner zufolge erscheint Lebendiges im Doppelaspekt von „Innen (substantialer Kern) und Außen (Mantel der eigenschaftstragenden Seiten)“;¹⁹⁹ dabei handele es sich nicht um zwei Seinsbereiche, sondern um den „bloß anschaulichen Sachverhalt von Substanzkern und Eigenschaft“.²⁰⁰ Der Substanzkern bildet also nicht das Innere des im Doppelaspekt von Substanzkern und Eigenschaft Erscheinenden,²⁰¹ sondern findet seinen „Ort“ in der Doppelaspektivität selbst; er bildet somit auch keinen konstitutiven „Bestandteil“ des realen Dinges in dem Sinne, wie Form und Materie es in der Lehre von den zusammengesetzten Substanzen tun.²⁰² Wie ist es dann zu verstehen, dass Plessner von der „Abhängigkeit der Eigenschaft von der Kernsubstanz des Dinges“²⁰³ spricht, wo letztere selbst wiederum eigenschaftlich am Ding erscheint, da Plessner zufolge das, was erscheint, „nur in Eigenschaften zur Erscheinung“²⁰⁴ komme? Plessner verwendet an dieser Stelle einen Begriff, den Haucke in seiner Analyse ebenso wie dessen terminologisches Korrelat überspringt, nämlich den Begriff des „Substanzwerts“, dessen Korrelat der Begriff des Wirklichkeitswerts ist:

 Plessner 1985a: 327.  Vgl. Kapitel 4.5 und 4.6.  SOM: 30.  SOM: 128.  Ebd.: 86.  Die Substanz bildet nicht das Innere des Dinges selbst, weil „die erscheinende Gesamtheit des Dingkörpers als Außenseite eines unaufweisbaren Innern sich darbietet, welches Innere – wohlgemerkt – nicht die Substanz des Dinges ist, sondern mit zu seinen (sonst aufweisbaren) Eigenschaften gehört“. (ebd.: 100)  Daher sagt Plessner: „Substanz des Dinges ist nicht, woraus es besteht.“ (Ebd.: 86)  Ebd.: 82.  Ebd.: 84.

4.8 Exkurs II: Hauckes Fehldeutung der Stufen

257

Für dieses Transgredienzverhältnis zwischen Phänomen und Kerngehalt einer seelischen Realität dürften räumliche Bilder nur einen metaphorischen Wert haben, obwohl die Beziehung zwischen dem Phänomen und dem realen Kerngehalt, welche den Bestimmtheiten des Phänomens Eigenschaftswert, dem realen Kerngehalt Substanzwert verleiht, im Falle des unräumlich Wirklichen wie im Falle des räumlich Wirklichen dieselbe ist.²⁰⁵

Der Kerngehalt konvergiert mit den Bestimmtheiten des Phänomens darin, dass ihm ein Eigenschaftswert zukommt und unterscheidet sich von ihnen durch den spezifischen Eigenschaftswert des Substanzwerts, der ontologisch im inkommensurablen ontischen Sachverhalt der Mitte gründet. Den Substanzwert von Dingen überhaupt macht es aus, dass „raumbedingten Charakteren raumbedingende, räumlichen Bestimmtheiten raumhafte in der Anschauung wesensnotwendig zugeordnet“²⁰⁶ würden; den Substanzwert des Lebendigen macht es darüber hinaus aus, dass die unräumliche Mitte die Funktion der Grenzrealisierung übernimmt und die Lebendigkeit des Lebendigen durch dieselbe vermittelt ist bzw. sich durch sie hindurch antagonistisch vermittelt. In beiden Fällen, beim lebendigen wie beim nicht-lebendigen Ding, ist der Kerngehalt gerade kein substanzieller Punkt; Haucke behauptet jedoch genau dies: „Ganz im Sinne der klassischen aristotelischen Ontologie ergibt sich die spezifische Einheit des Dinges durch den Bezug aller seiner Eigenschaften und Aspekte auf einen inneren, substanziellen Punkt, der selbst keine Eigenschaft und kein Aspekt ist, daher auch nicht räumlich anschaulich wird.“²⁰⁷ [Hervorhebung, S. E.] Für die phänomenologische Deskription, wie Plessner sie entwickelt, ist aber gerade die oben aufgezeigte Mehrfältigkeit des Eigenschaftsbegriffs konstitutiv, aufgrund derer auch ein vermeintlicher „substanzieller Punkt“ eigenschaftlich erscheinen muss, auch wenn, wie Haucke wohl sagen würde, er kein Aspekt ist, denn bei Plessner tritt auch die Mitte als Grenzübergang der Aspekte eigenschaftlich in Erscheinung, ohne in der Doppelaspektivität aufzugehen.²⁰⁸ Lebendiges erscheint, wie gezeigt,²⁰⁹ „im Doppelaspekt“ der Richtungsgegensätze Innen/Außen und ist „durch und durch verbunden“²¹⁰ mit der „ontisch zum belebten Ding selber gehörende[n], die Erscheinungsweise vom Ding aus bestimmende[n] Aspektgrenze“,²¹¹ welche die raumhafte Mitte bildet. Ein Ding,

      

Ebd. Ebd.: 85. Haucke 2000: 36. Vgl. SOM: 103. Vgl. zum Folgenden auch Kapitel 4.3. Ebd.: 82. SOM: 102.

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4 Plessners Transformation der Ontologie

das nur im Doppelaspekt erschiene, würde nicht als Einheit ²¹² erscheinen, weil die Richtungsgegensätze von Innen und Außen bloß als räumliche ineinander überführbar wären wie beim umgestülpten Handschuh, wo das Innen Außen und das Außen Innen werden kann, und über solche, nicht-lebendige Gegenstände sagt Plessner, dass sie nicht „im“, sondern „kraft“ des Doppelaspekts erscheinen.²¹³ Von Psychischem zu sagen, dass es Physisches werden könne, ist nur im übertragenen Sinn möglich, nämlich in der Verkörperung von Psychischem im Physischen (und Verkörperung bedeutet logisch, dass Psychisches in Physischem zum Ausdruck kommt und nicht, dass es selbst Physisches werde), doch genau diese Verkörperung lässt sich nur von der positionalen Mitte als der psychophysisch neutralen „Ansatzzone“²¹⁴ her verständlich machen, die mit keinem Richtungsgegensatz identisch werden kann. Was also als Lebendiges im Doppelaspekt erscheint, erscheint nicht allein im Doppelaspekt. Hauckes Übersetzung des Doppelaspekts von Innen (Psychischem) und Außen (Körperlichem) in Substanz und Akzidens verdinglicht den Doppelaspekt, indem Physisches und Psychisches substanzialisiert werden. Plessner hingegen verdinglicht die Doppelaspektivität nicht, sondern sagt über den Doppelaspekt: „Der Doppelaspekt konstituiert das Anschauungsgebilde des Dingkörpers, aber als echte Bedingung verliert er sich in dem von ihm Bedingten.“²¹⁵ Haucke missversteht aber die Art der Bedingtheit des Dinges durch den Doppelaspekt, denn es handelt sich um eine Bedingtheit des Lebendigen in der Erscheinung, in welcher der Doppelaspekt sich verliert. Haucke deutet demgemäß das Bedingungsverhältnis umstandslos im Stil der realistischen Ontologie des Aristoteles und kann deshalb erst die Doppelaspektivität als Reprise der Substanz-AkzidensRelation deuten: „Statt von Substanz und Akzidens, Bedeutung und Zeichen oder Subjekt-Objekt-Dualismus zu sprechen, nennt Plessner die absolute Unterscheidung zwischen Innen und Außen schlicht Doppelaspekt.“²¹⁶ [Hervorhebung, S. E.] Der Doppelaspekt als Ermöglichungsbedingung des Erscheinens von Lebendigem

 Der Ausdruck „als Einheit“ kommt bei Plessner vor, wo er seine zentrale Bestimmung der positionalen Mitte formuliert: „Die Inexistenz der Mitte (des realen Kerns, des Subjekts des Habens) ist also allein als die wirkliche Möglichkeit des Körpers oder sein Vermögen (Potenz) real. In diesem Vermögen sind alle Elemente des Körpers gleichmäßig zur Einheit gebunden und als Einheit gewährleistet.“ (SOM: 162) Das anschaulich Inexistente, was in der phänomenologischen Deskription schon als konstitutiv für das „Sein in der Erscheinung“ sich erweist, ist als positionale Mitte für die Anschauung konstitutiv. Darauf basiert der ontisch-ontologische Doppelcharakter der Mitte, vgl. Kapitel 4.6.  Vgl. SOM: 89.  SOM: 102.  Ebd.: 89.  Ebd.: 43.

4.8 Exkurs II: Hauckes Fehldeutung der Stufen

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wird hier direkt übersetzt in die realistische Unterscheidung zwischen Innen (Seele) und Außen (Körper), die Plessner demzufolge bloß begrifflich neu anstreichen würde. Plessner spricht in den Stufen jedoch durchgängig davon, dass Lebendiges „im Doppelaspekt“²¹⁷ erscheine; Haucke liest Plessner hingegen, als würde Lebendiges nur in der naiven Anschauung im Doppelaspekt erscheinen als etwas, das seinem eigentlichen Sein nach in Aspekte (Innen/Außen qua Substanz/ Akzidens) zerfalle; die phänomenologische Deskription aber ist gerade nicht die Abbildung der naiven Anschauung in Begriffen, sondern zielt auf deren Struktur.²¹⁸ Mit der Übersetzung des Doppelaspekts in die Substanz-Akzidens-Relation und damit ins ontologisch Dyadische beraubt Haucke das Wirkliche als erscheinendes Wirkliches genau der Substantialität, die den „Wirklichkeitswert“ des „Seins in der Erscheinung“ ausmacht. Damit leugnet Haucke darüber hinaus indirekt, dass die Deutung des mimischen Ausdrucks, welche in den Stufen systematisch weiterentwickelt wird, sowohl innerhalb der Phänomenologie als auch innerhalb der Philosophie überhaupt irgendeinen neuartigen Sinn habe; Plessners „Neuschöpfung der Philosophie“ wird hier gar zu einer Neuauflage der Aristotelischen Ontologie dezimiert. Diese dem Plessner’schen Projekt diametral entgegengesetzte Ontologisierung von Plessners phänomenologischer Deskription²¹⁹ setzt Haucke fort, wenn er behauptet, dass die „Divergenz von Innen und Außen […] zwar nicht identisch mit der Differenz von Geistseele und Körper, wohl aber ihr analog“²²⁰ sei. Den InnenAspekt, also die eigenschaftstragenden Seiten des erscheinenden Dinges, die Plessner auch als das Erscheinen von Psychischem bezeichnet, identifiziert Haucke kurzerhand mit der Substanz. Implizit ist in dieser Identifikation die Behauptung enthalten, dass das, was das Proprium des Lebendigen ausmache, innerhalb der Doppelaspektivität als Aspekt direkt erscheine. Dies läuft jedoch nicht nur den Stufen, sondern auch Hauckes eigener Deutung zuwider, in deren Zentrum die „sinnhafte Relation der Aspekte zu einer substanziellen Mitte“²²¹ steht: „Gleichwohl bleibt sie Substanz, Mitte, von der die Aspekte abhängig bleiben, denn ohne Zusammenhang, ohne etwas, was sich in keinem der Aspekte erschöpft, was selbst nie Aspekt sein kann, […] sind die Aspekte nichts.“²²² Die Substanz findet also bei Haucke einen doppelten Ort: in den Aspekten und jenseits von Aspektivität überhaupt. Dieses Jenseits der Doppelaspektivität bildet aber bei

     

Ebd.: 70, 78, 80, 89, 128, 160. Zum Begriff der Struktur in diesem Kontext vgl. ebd.: 82. Vgl. ebd.: 23. Haucke 2000: 43. Ebd.: 75. Ebd.: 59.

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4 Plessners Transformation der Ontologie

Plessner gerade die Mitte, die Haucke meist „substanzielle Mitte“ nennt²²³ und aufgrund ihrer Doppelverortung als Ermöglichungsbedingung der Doppelaspektivität wie auch als Aspekt und damit als Moment des Doppelaspekts auftreten lässt, was bedeutet, dass die Ermöglichungsbedingung der Doppelaspektivität innerhalb des durch sie Ermöglichten erscheinen müsste. Plessners Unterscheidung zwischen indikatorischen²²⁴ und konstitutiven Wesensmerkmalen wird damit eingestampft, weil das konstitutive Wesensmerkmal der Grenzrealisierung in Hauckes Lesart nur von der „substanziellen Mitte“ her verstanden werden kann, die bei ihm aber auch als substanzieller Aspekt auftritt. Haucke liest in Plessner einen Dualismus hinein, den er zugleich – aporetischerweise mit dualistischen Mitteln – überwinden will, indem er die „substanzielle Mitte“ mit zwei inkommensurablen Funktionen ausstattet und damit mit einem doppelten Substanzbegriff (Innen/Mitte) arbeitet.²²⁵ Die Orientierung an Aristoteles verleitet Haucke dazu, den phänomenologischen Sinn der Doppelaspektivität zu verkennen und Plessners Freilegung der Wirklichkeit des Lebendigen, die als solche in sich substantialer Natur ist und nur vermöge des phänomenologischen Ansatzes in ihrem Wirklichkeitscharakter statt als Realität zugänglich wird, durch eine Begründung und Rettung der Wirklichkeit des Lebendigen durch die Substanz zu ersetzen. Denn Haucke zufolge bedürfe es einer Neufassung der ontologischen Begrifflichkeit in der Weise, dass den Akzidenzien prinzipiell eine substanzielle Funktion zugestanden wird, gerade weil der Substanz nur dann jene sich selbst tragende Wirklichkeit zukommt, wenn sie in einer Fülle von Aspekten zur Erscheinung gelangt, die die substanzielle Unmittelbarkeit vermitteln. Gelingt eine solche Erneuerung ontologischer Konzepte, so erscheint Plessners These weit weniger aporetisch. Denn dann wird das substanzielle Innen, obgleich es selbst nicht erscheint, in der Erscheinung sichtbar gemacht durch die substanzielle Rolle, die die Aspekte oder Akzidenzien spielen. ²²⁶

 Vgl. Ebd.: 25, 36, 75 f., 82, 87, 114, 134 f., 147, 150 – 152. Alternativ verwendet Haucke aber auch die Begriffe den Begriff der „vitalen Mitte“, so ebd.: 81, 83, 85, 115 f., 122, 125, 128 f., 147 f.Wo Haucke Plessners Explikation des menschlichen Seins behandelt, verwendet er auch öfter den Begriff der „absoluten Mitte“ (ebd.: 133 f., 145 f., 150 – 152, 160, 163), den Plessner im letzten Kapitel der Stufen verwendet (SOM: 294, 303).  Den indikatorischen Wesensmerkmalen ordnet Plessner gerade den Doppelaspekt im Unterschied zur klassischen Form-Materie-Relation zu, vgl. ebd.: 123.  An der Refundamentalisierung des Substanzbegriffs stößt sich auch Olivia Mitscherlich: „Anstatt den Wahrheitsbezug offenzuhalten, schießt Hauke [sic!] jedoch über das Ziel hinaus und hypostasieret die Substanz zum neuen Wahrheitsgrund der philosophischen Erkenntnis.“ (Mitscherlich 2006: 249, FN 256)  Haucke 2000: 58.

4.8 Exkurs II: Hauckes Fehldeutung der Stufen

261

Dazu ist Mehreres anzumerken: (1) Die Wirklichkeit des Lebendigen, wie sie sich als „Sein in der Erscheinung“²²⁷ gibt und von Plessner vermittels der phänomenologischen Deskription freigelegt wird, muss Haucke zufolge auf eine „Substanz“ zurückgeführt werden, die diese Erscheinung von einem „Jenseits“ derselben her trägt. Diese Substanz erscheint der oben angeführten Passage zufolge nicht selbst, obwohl Haucke an anderer Stelle, wie oben gesehen, die geist-seelische Substanz kurzerhand mit dem Innen-Aspekt identifiziert; vielmehr spricht Haucke hier von der „substanziellen Rolle“ von Aspekten, deren in der Gleichsetzung des Innen-Aspekts mit der Substanz behauptete Substanzialität hier verdunkelt statt erhellt wird. Es bleibt unklar, wie die akzidentellen Aspekte eine „substanzielle Rolle“ spielen sollen, wenn die Substanzialität dieser Rolle nicht von der „substanziellen Mitte“ garantiert würde; eine solche „substanzielle Rolle“ könnten Akzidenzien allenfalls in Verkörperungen der „substanziellen Mitte“ spielen, die dann aber gerade in dem klassischen Sinn – als Inkorporation der Form (Seele) in der Materie (Körper) – konzipiert würde, die Plessner explizit verwirft.²²⁸ Was bei Plessner de facto geschieht, stellt keine Begründung der Substantialität der Wirklichkeit durch eine sie grundierende Substanz dar, sondern Plessner elaboriert den Unterschied zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem innerhalb der in sich substantialen Wirklichkeit, welcher als erscheinender Wirklichkeit ein Substanzwert zukommt und die daher zusätzlicher Begründung durch eine sie fundierende Substanz bedarf. (2) Haucke liest Plessner nicht nur von vornherein von Aristoteles her, um Plessners Verhältnis zur klassischen Ontologie als hermeneutisch fruchtbare Kontrastfolie zu verwenden, sondern er reduziert Plessner zu einem neuen Aufguss von Aristoteles und behauptet hier implizit, dass Plessner so gelesen werden müsse. Dieser Eindruck entsteht aber erst, wenn man eine „substanzielle Funktion“ der Aspekte in ein Verhältnis zu einer selbst „substanziellen Mitte“ setzt, Plessner also schon vorgreifend in ein Aristotelisches Schema gezwängt hat. Dann hat man das Verhältnis zwischen der Mitte und dem Doppelaspekt aus einer phänomenologischen Relation, die einen komplexen dreifachen Eigenschaftsbegriff enthält,²²⁹ der in der Unterscheidung zwischen sinnlich und nicht-sinnlich sich nicht erschöpft, in die zweistellige konventionelle Unterscheidung zwischen Sinnlichem (Aspekte) und Nicht-

 Vgl. Kap. 4.6.3  Vgl. DmA: 104 f.  Vgl. Kapitel 4.6.2.

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4 Plessners Transformation der Ontologie

Sinnlichem (substanzielle Mitte) übersetzt. Die Aspekte bedürfen dann der doppelten Rettung, die Haucke in seinen Widersprüchen vollzieht: (3) Die Aspekte bedürfen (a) der Rettung vor dem „Quasi-Nichtsein“ der die Substanz begleitenden und bloß sinnliche Eigenschaften derselben bildenden Epiphänomenen. Die Substanzialität der Aspekte muss daher Haucke zufolge die „Substanz“ davor bewahren, aporetisch zu werden, d. h. nicht als wirklichkeitsbedingende zweite Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit der vorwissenschaftlichen und vorreflexiven Erfahrung überflüssig gemacht zu werden, die in den selbst substanziellen Aspekten zur Erscheinung kommt. Was bei Plessner jedoch als substantial²³⁰ sich zeigt, ist gerade diese Wirklichkeit, die eigenschaftlich erscheint in der Doppelaspektivität und der Grenzrealisierung durch die Mitte, ohne ihre Substanzialität, d. h. ihren „Wirklichkeitswert“, entweder der Doppelaspektivität oder der Mitte zu verdanken. Die Wirklichkeit wird von Haucke allerdings durch die Realität der Substanz abgesichert, ohne dass die Explikation des Erscheinens von Wirklichem – jedenfalls in Plessners Art und Weise der Durchführung – einer solchen bedürfte oder sie mit ihren methodischen Mitteln erbringen könnte. Diese Absicherung entspricht dem Bedürfnis des klassischen Epistemologen, dessen ontologisch codierte Sprache Haucke spricht, wenn er behauptet, dass „sich nur über die sinnhafte Relation zwischen Kern und Aspekten eine echte, d. h. unabhängige Realität von Dingen konstituiert“.²³¹ Haucke hält hier am klassischen Entweder-Oder fest: Entweder gründet die Wirklichkeit der Wirklichkeit in einer Substanz, oder die Wirklichkeit verflüchtigt sich in Akzidenzien und ist folglich keine Wirklichkeit im eigentlichen Sinne. (4) Die Aspekte bedürfen (b) der paradoxen Rettung vor einer übersteigerten Selbständigkeit, der gemäß sie keine „substanzielle Funktion“ mehr hätten, sondern selbst in der starken Lesart des Begriffs Substanzen wären und aus der Substanz-Akzidens-Relation der Widersinn einer Substanz-Substanz-Relation würde. Dieses Dilemma versucht Haucke dadurch zu lösen, dass er behauptet, die Beziehung der Substanz zu den Akzidenzien sei selbst substanzieller Natur,²³² mit Substanz also nicht nur die „substanzielle Mitte“ und

 Das „Substantiale“ hat Substanzwert, ohne im Sinne der klassischen Ontologie verstanden werden zu müssen; das „Substanzielle“ verkörpert die Natur der Substanz im Unterschied zum bloß Akzidentellen und ist ontologischer Art.  Haucke 2000: 91.  „War Substanz traditionell dasjenige, was selbständig, unabhängig, daher ohne Vermittlung mit anderem einfach und unmittelbar zu existieren vermag, Akzidens hingegen das nur Anhängende, Abhängende, Unselbständige und Vermittelte, so wird durch die Bestimmung der

4.8 Exkurs II: Hauckes Fehldeutung der Stufen

263

die Aspekte,²³³ sondern sogar noch die Relation zwischen beiden bezeichnet. Die oben angesprochene, unter der Entweder-Oder-Alternative einer Fundierung der Wirklichkeit in einer Substanz oder einer Verflüchtigung von Wirklichkeit überhaupt vollzogene Substanzialisierung wird hier durch eine der oben angesprochenen Substanzialisierung widerstreitende, gleichwohl aber aufgrund der angesprochenen Probleme benötigte Sowohl-als-auch-Substanzialisierung ergänzt, die noch durch die Substanzialisierung der Relation zwischen beiden ergänzt wird. Die Substanzialisierung der Aspekte treibt allerdings in beide Richtungen merkwürdige Blüten: Bei Plessner heißt es, dass „die Aspektdivergenz, welche als Vorbedingung jeder dingkörperlich erscheinenden Einheit aufgewiesen wurde, nicht selbst auch in Erscheinung tritt“.²³⁴ Bei Haucke tritt die Aspektdivergenz nicht nur in Erscheinung, weil das Erscheinende durch die konstitutiv fehlgedeuteten Aspekte definiert wird, sie wird darüber hinaus mit dem Antagonismus zwischen Mitte und Peripherie identifiziert,²³⁵ obwohl die Mitte phänomenologisch gar nicht selbst Bestandteil der Doppelaspektivität ist, sondern als Mitte der Anschauung die psychophysisch neutrale „Ansatzzone der absoluten Richtungsdivergenz“²³⁶ und als positionale Mitte²³⁷ konstitutives Moment (phänomenologisch gesprochen: Wesensmerkmal) einer lebendigen Ganzheit ist, ohne dass die Wirklichkeit des Lebendigen durch eine „Substanz“ im entitären Sinne (Hauckes „substanzielle Mitte“) begründet würde. Zudem setzt Haucke die Aspekte mit den Organen gleich,²³⁸ d. h. die bei Plessner phänomenologisch

Substanz als seiende Möglichkeit die Beziehung zu den Akzidenzien selbst substanziell.“ (ebd.: 24)  „Plessners zentraler Begriff der Doppelaspektivität verweist auf die Substanzialität der Aspekte, insofern mit ihm der Kern oder die Substanz schon als Aspekt angesprochen wird.“ (ebd.: 58)  SOM: 88.  „Denn erst ein organischer Antagonismus verkörpert hinlänglich die absolute Divergenz des Doppelaspektes.“ (Haucke 2000: 126) Was Haucke als „organischen Antagonismus“ bezeichnet, ist bei Plessner jedoch ein Spannungsverhältnis, das als Relation keine Verkörperung der relationalen Momente sein kann, sondern das Medium von Verkörperungsleistungen eines sie Umgreifenden (Lebewesen, Person) ist, das sich durch den Antagonismus hindurch verkörpert, nicht als dyadischer Antagonismus.  SOM: 102.  Zur näheren Bestimmung des angesprochenen Verhältnisses von Mitte und Peripherie vgl. Kapitel 4.10.1.  „Wenn die Organe sich als Aspekte unmittelbar auf die substanzielle Mitte beziehen und sich damit als Möglichkeiten eines inneren Wesens bekunden, zugleich aber in ihrer Eigenart als Aspekte mit anderen Aspekten vermittelt sind, dann können beide Verweisungsrichtungen in einen Ausgleich kommen, sofern die Organe nicht nur aspektive Möglichkeiten des Wesens sind,

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4 Plessners Transformation der Ontologie

aufgewiesene „Vorbedingung jeder dingkörperlich erscheinenden Einheit“ wird vom „Sein in der Erscheinung“ losgelöst und mit Elementen der Realität ²³⁹ identifiziert. Auch hier wird die Wirklichkeit, deren „Sein in der Erscheinung“ Plessner gerade in einer Strukturanalyse des Erscheinens erschließen möchte, von der ihr zugrundeliegenden Realität her bestimmt, welche die Seinsqualität des „Seins in der Erscheinung“ ontologisch begründet. Was Haucke mit seiner Fixierung auf den Substanzbegriff verfehlt, ist Plessners Elaborierung des Verhältnisses des Lebendigen zur Wirklichkeit, genauer gesagt die von ihm weitläufig entfaltete Antwort auf die von Plessner nicht explizit gestellte Frage: Wie gestaltet sich die Wirklichkeit des Lebendigen in dessen lebendigem Verhältnis zur Wirklichkeit, in welcher es lebt? Von einem „lebendigen“ Verhältnis des Lebendigen zur Wirklichkeit zu sprechen, ist deshalb nicht tautologisch, weil mit dem Ausdruck des „lebendigen Verhältnisses“ gerade die methodische Umstellung bezeichnet wird, die Plessner in der Deutung des mimischen Ausdrucks gegenüber aller klassischen Erkenntnistheorie vollzieht. Die Stufen bilden die auf dieser methodischen Grundlage vollzogene Analyse der Wirklichkeit des Lebendigen und des „Gegebenseins“ von Wirklichkeit überhaupt. Haucke übersieht in diesen Punkten jedoch den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Realität und verkennt damit auch die Inkommensurabilität des Plessner’schen Ansatzes mit dem naturwissenschaftlichen Zugang zur Wirklichkeit.Weil Haucke von einer „naturwissenschaftlichen Wirklichkeitsauffassung“²⁴⁰ spricht und nicht sieht, dass Plessners Ontologie des Lebendigen eine Ontologie der Wirklichkeit des Lebendigen ist, die gerade die Ermöglichungsbedingungen des naturwissenschaftlichen Zugangs zur empirischen Realität freilegt, ordnet Haucke Plessners Philosophischer Anthropologie und den Naturwissenschaften denselben Gegenstand zu, ohne den unterschiedlichen Charakter des Zugangs beider zur Wirklichkeit hinreichend zu bedenken. Daher erscheint es Haucke „problemlos möglich, von der Ontologie zur Naturwissenschaft überzugehen“,²⁴¹ während de facto Plessners Ontologie schlicht ein völlig anders gelagertes Projekt

sondern auch in ihren physischen Eigenschaften auf die Mitte bezogen werden.“ (Haucke 2000: 82)  Organe können sowohl Elemente von Wirklichkeit als auch von Realität sein, je nach Gegebenheitsweise. Hier ist allerdings von Elementen der Realität die Rede, weil den Organen in Hauckes Redeweise eine Begründungsfunktion zukommt aufgrund der substanziellen Rolle der Aspekte.  Ebd.: 42.  Ebd.: 37.

4.8 Exkurs II: Hauckes Fehldeutung der Stufen

265

darstellt, in dem die Ermöglichungsbedingungen des Übergangs von der Wirklichkeit zur Realität innerhalb der Wirklichkeit freigelegt werden. Für Haucke handelt es sich um eine asymmetrische Übergangsmöglichkeit: „Von der Naturwissenschaft zur Ontologie gibt es keinen Weg: Die Substanz ,verfehlt der exakte Wissenschaftler notwendig‘.“²⁴² Worauf die von Haucke zitierte Aussage Plessners allerdings zielt, ist nicht die Behauptung der Unmöglichkeit, von der Naturwissenschaft zur Ontologie überzugehen oder naturwissenschaftlich das Wesen der Substanz zu erkennen, sondern die Unfähigkeit der Naturwissenschaften, von ihrer Festschreibung der Realität her das Verhältnis des Lebendigen zur Wirklichkeit, das die Voraussetzung ihrer Gegenstandsbestimmung in Form der Identifizierung von Lebendigem als solchem bildet, zu begründen. Wenn Haucke von der „naturwissenschaftlichen Wirklichkeitsauffassung“²⁴³ spricht, verortet er das Plessner’sche und das naturwissenschaftliche Projekt zunächst auf derselben Ebene und hebt diese Gleichverortung wiederum auf in der bloß einsinnigen Übergangsmöglichkeit, die er behauptet. De facto findet jedoch keinerlei Übergang statt, weder von der Ontologie zu den Naturwissenschaften noch umgekehrt, da beiderseits keinerlei Bestreben zu einem Übergang besteht und es sich um gänzlich unterschiedliche theoretische Orientierungen handelt. Der Naturwissenschaftler verfehlt daher nicht die „Substanz“, wie Haucke behauptet und Plessner zu behaupten unterstellt, sondern er nimmt die Wirklichkeit als Wirklichkeit überhaupt nicht in den Blick und verfehlt daher die „Substantialität“, die Plessner innerhalb der Sphäre des Wirklichen als das die Substantialität des Realen Fundierenden²⁴⁴ freilegt: „Insofern der naive Ansatz, durch Aufbrechen eines Dinges sein Inneres als sein Eigentliches, sein Wesen und seinen Kern zu bekommen, in der Richtung vorbildlich für die naturwissenschaftliche Elementaranalyse der Atomisierung ist, verfehlt der exakte Wissenschaftler notwendig die Substantialität.“ ²⁴⁵ [Hervorhebung, S. E.] Wer die Substantialität des Wirklichen verfehlt, kann überhaupt erst den Substanzbegriff von der Ontologie naiv in die Realitätsanalyse transponieren und die Zusammengesetztheit der Substanz in

 Ebd.  Ebd.: 42.  Haucke verwischt diese Differenz der Ebenen, indem er die ontologisch erschlossene Wirklichkeit der Wahrnehmung als „fundierendes Apriori auch der naturwissenschaflichen Wirklichkeitsauffassung“ (Ebd:: 42) bezeichnet. Die Wirklichkeit fundiert jedoch die Realität samt ihrer Substantialität und bildet insofern eine Ermöglichungsbedingung von naturwissenschaftlicher Realitätserschließung, ihre Explikation fundiert jedoch keine Erschließungsleistungen innerhalb der Realität, die einer naturwissenschaftlichen Logik folgen, da sie sonst über ihre Ermöglichungsfunktion hinaus in diese Logik selbst Eingang finden müsste.  SOM: 86.

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4 Plessners Transformation der Ontologie

eine Elementaranalyse übertragen und dabei noch meinen, philosophische Probleme auf dem Wege der „Atomisierung“ lösen zu können.

4.9 Abgrenzung von anderen Lesarten (Beaufort, Holz) Von wenigen, explizit ontologischen, Lesarten Plessners soll die hier dargelegte Lesart in gebotener Kürze abgegrenzt werden. Es handelt sich dabei um die Interpretation, die Jan Beaufort in Die gesellschaftliche Konstitution der Natur. Helmuth Plessners kritisch-phänomenologische Grundlegung einer hermeneutischen Naturphilosophie in Die Stufen des Organischen und der Mensch vorgelegt hat, und um die Lesart, die Hans Heinz Holz in Mensch-Natur. Helmuth Plessner und das Konzept einer dialektischen Anthropologie vorgelegt hat.²⁴⁶ Beaufort unterscheidet zwischen verschiedenen Ontologien in Plessners Werk, nämlich der Ontologie der Deutung und der Ontologie der Stufen, die „zwei ontologische Paradigmata“²⁴⁷ repräsentierten, nämlich das „Buytendijksche einer der Daseinsanalyse verwandten Ontologie der Leiblichkeit“²⁴⁸ und das „Plessnersche einer kritischen und systematischen Lebensphilosophie“.²⁴⁹ Beaufort zerreißt damit die methodische Kontinuität zwischen der Deutung des mimischen Ausdrucks und den Stufen, die darin besteht, dass Plessner in der Deutung das phänomenologische setting entwirft, welches in der phänomenologischen Deskription der Stufen zur Anwendung gebracht wird und die Unterwanderung einer naiv ontologisierenden Phänomenologie ermöglicht. Die diese Kontinuitäten übersehende Vorsichtigkeit Beauforts hat ihren Grund offenbar in der grundsätzlichen Intention, Fehlontologisierungen zu vermeiden: „Plessners Ansatz wäre falsch verstanden, wenn man sie [sic!] als Lebensphilosophie im Sinne einer ontologischen Lebensphilosophie, die die schlichte Gleichsetzung von Leben und Sein erlaubte, betrachten würde.“²⁵⁰ So berechtigt Beauforts Skrupel in diesem Fall sind, so fatal sind deren Konsequenzen, denn unter der Hand führt Beaufort die Ontologie in die Epistemologie über, wenn er über Plessners Naturphilosophie sagt: „Ihr Interesse ist ein ontologisches, wobei ,Sein‘ hier bedeutet: für die Anschauung konstituiert sein, oder, im Falle von Wahrnehmungsgegenständen: für

 Gottfried Schweiger schließt sich in seinem Buch Dialektische Naturphilosophie Holz in einem so weitreichenden Maß an, dass seine Ausführungen zu Plessner keiner gesonderten Kritik bedürfen. Vgl. Schweiger 2011.  Beaufort 2000: 26.  Ebd.  Ebd.: 26 f.  Ebd.: 33.

4.9 Abgrenzung von anderen Lesarten (Beaufort, Holz)

267

die Wahrnehmung konstituiert sein.“²⁵¹ Deshalb kann Beaufort überhaupt erst die Subjekt-Objekt-Relation in die Stufen hineinprojizieren und von einem „Primat des Objekts“ sprechen, worunter er subjektunabhängige, bereits konstituierte Gegenstände im Allgemeinen versteht: „Der Primat des Objekts war der Grund, weshalb ich das konstitutionstheoretische Verfahren der Stufen zunächst als Konstitutionsanalyse angesprochen habe. Denn es nimmt seinen Ausgang von bereits konstituierten Gegenständen“.²⁵² Die so verstandene Konstitutionsanalyse zielt nicht auf eine Konstitution der Dinge in der Anschauung, sondern für den Anschauenden. ²⁵³ Der Grund, weshalb Beauforts Lesart aus dem Ruder läuft, findet sich in der fichteanisierten²⁵⁴ Interpretation der Grenze, die Beaufort als „die vom Subjekt gesetzte Grenze“²⁵⁵ bezeichnet; an anderer Stelle sagt er, „daß für Plessner auch jene Grenze am Lebendigen das Ergebnis einer Setzung ist“.²⁵⁶ Was Beaufort hier fichteanisch verzerrt, ist Plessners These: „[W]enn ein Körper außer seiner Begrenzung den Grenzübergang selbst als Eigenschaft hat, dann ist die Begrenzung zugleich Raumgrenze und Aspektgrenze und gewinnt der Kontur unbeschadet seines Gestaltcharakters den Wert der Ganzheitsform.“²⁵⁷ Dass der Eigenschaftsbegriff auf die Erscheinungsweise von Wirklichem statt auf dessen subjekt- und erscheinungsunabhängiges Sein zielt, verkennt Beaufort. Dieser Fichteanisierung und Epistemologisierung Plessners gemäß macht Beaufort die „entscheidende, Plessners ontologischen Standpunkt berührende Frage“²⁵⁸ gar nicht in den grundlegenden Unterscheidungen der Stufen aus (belebt/unbelebt,²⁵⁹ indikatorische/konstitutive Wesensmerkmale des Lebendigen, zentrische/exzentrische Positionalität etc.), sondern in Fragen wie der folgenden:

 Ebd.: 51.  Ebd.: 214.  Beauforts Beteuerung, Plessner sei „eben kein Idealist und die Stufen des Organischen […] kein idealistisches Buch“ (ebd.: 195), verwundert angesichts dieser interpretatorischen Leitlinie, doch wenig später zeigt sich, dass Beaufort eine bei Plessner nicht zu findende Synthese im Auge hat: „Lebensphilosophie geht den Weg zwischen materialistisch-empiristischer und idealistischapriorischer Philosophie.“ (ebd.)  Beaufort spricht unverhohlen vom „Fichteaner Plessner“. (ebd.: 203)  Ebd.  Ebd.: 194.  SOM: 103.  Beaufort 2006.: 109.  Dabei wirft Beaufort die Frage auf, ob diese Differenz nicht den Status einer ontologischen habe: „Zu fragen ist also, ob es berechtigt ist, die Unterscheidung belebt/unbelebt zu einer Unterscheidung von ontologischem Rang zu erheben, zu einer ontologischen Differenz?“ (ebd.: 61) – Fällt die Antwort positiv aus, so kann sie nur naturphilosophisch gegeben werden. Dabei spielt der Unterschied zwischen positional und nicht-positional eine tragende Rolle, nicht aber der zwi-

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4 Plessners Transformation der Ontologie

Wird exzentrische Positionalität so konzipiert, daß sie das Lebewesen mit geschlossener Organisationsform vom zentralistischen Typ, das der Mensch wie das höhere Tier nach wie vor ist, dergestalt über die zentrische Position hinaushebt, daß ihm eine nicht länger daseinsrelative Realität, eine absolute Realität gegeben ist?²⁶⁰ [letztere Hervorhebung, S. E.]

Kaum eine Frage lässt sich so sehr als eine erkenntnistheoretische bezeichnen wie die Fragen danach, welche Realität oder wie „die“ Realität „gegeben“ sei. In der Frage nach einer absoluten Realität konvergieren Ontologie und Metaphysik im Medium der Erkenntnistheorie. Abschließend soll noch eine Verdrehung Beauforts in Plessners Begründungsgang angesprochen werden. Beaufort kehrt den Weg, den Plessner von der Naturphilosophie zum Politischen nimmt, kurzerhand um: „Denn der Ausgang von der Politik hat Folgen für Plessners Ontologie: Sie ist als kritische, vermittelte, politische Ontologie zu verstehen. Das Sein der Dinge ist gesellschaftlich konstituiertes Sein.“²⁶¹ Wie Beaufort vom Gesellschaftlichen kurzerhand zum Politischen gelangt, erfährt keine Erläuterung; die Gleichsetzung von beidem bedarf einer Begründung, um nicht völlig willkürlich und letzten Endes grundlos zu bleiben. Auch der „Ausgang von der Politik“ wird in den Stufen, in denen der Begriff der Mitwelt entwickelt wird, nirgends angesprochen. Was macht also Plessners Ontologie, als deren zentrale und durch die exzentrische Positionalität ermöglichte Frage Beaufort an anderer Stelle die Frage nach der „absoluten Realität“ angesprochen hat, zu einer politischen? Beauforts Antwort lautet, dass die „die personale Mitweltsphäre […] als wirklichkeitskonstituierendes Subjekt erkannt und benannt“²⁶² werde. Wie eine „Mitweltsphäre“, die Beaufort auch explizit als „Struktur“²⁶³ bezeichnet, als ein „wirklichkeitskonstituierendes Subjekt“ fungieren könne, erklärt Beaufort nicht; stattdessen verwendet er den Begriff der Mitwelt an anderer Stelle im sozialgeschichtlichen und konstitutionstheoretischen Sinn, führt also eine geschichtliche Konstitutionsanalyse ein, die das letzte Wort in Plessners Ontologie haben soll: „Plessners Mitwelt ist die soziale Welt, in der sich Menschen als Personen begegnen und in der sich die Wirklichkeit des Ich und Du verschmelzenden Wir konstituiert.“²⁶⁴ Hier wird die Ontologie zu einer historischen Ontologie, welcher zugleich in der axiologischen Privilegierung derselben gegenüber Naturphilosophie – ganz entgegen dem Begründungsgang schen zentrischer und exzentrischer Positionalität, der die naturphilosophische Beantwortung der Frage voraussetzt und den Bereich des Lebendigen „bloß“ typologisch differenziert.  Ebd.  Ebd.: 237.  Ebd.: 228.  Ebd.  Ebd.: 230.

4.9 Abgrenzung von anderen Lesarten (Beaufort, Holz)

269

der Stufen – das letzte Wort erteilt wird: „Indem sich menschliches Leben gesellschaftlich konstituiert, konstituiert sich dem Menschen die Welt gesellschaftlich – das ist das letzte Wort der Plessnerschen Ontologie. Eine Naturphilosophie hat dem Rechnung zu tragen.“²⁶⁵ Weniger sprunghaft und daher konsistenter falsch ausformuliert ist die Interpretation, die Hans Heinz Holz vorgelegt hat. Im Unterschied zu Beaufort lässt Holz Erkenntnistheorie und Ontologie systematisch und planmäßig ineinanderlaufen: „Diese philosophische Wesensfrage, die eine zugleich ontologische und erkenntnistheoretische ist, leitet die anthropologischen Systemschriften Plessners.“²⁶⁶ Holz begründet diese These damit, dass Plessner seine „streng erkenntniskritische“²⁶⁷ Frühschrift Die Krisis im transzendentalen Anfang „immer als die methodisch wissenschaftstheoretische Propädeutik und Grundlage seines weiteren Werks“²⁶⁸ betrachtet habe. Das Konzept der exzentrischen Positionalität bilde die Brücke zwischen der besagten Frühschrift und den Stufen, weil vermittels seiner „die konstitutive Funktion des Subjekts im gegenständlichen Verhältnis mitgedacht wird“.²⁶⁹ Holz verwechselt, wenn er in diesem Zusammenhang von „objektiver Transzendentalität“²⁷⁰ spricht, die humanspezifische Ermöglichungskapazität der exzentrischen Positionalität, ein jegliches gegenständliches Verhältnis als subjektiv vermitteltes zu denken, mit einer notwendigen objektivitätsstiftenden Funktion überhaupt, die er der exzentrischen Positionalität konzediert, als wäre die Welt der zentrischen Positionalität eine objektivitätslose. Tieren wären dann gegenständliche Verhältnisse überhaupt fremd, nicht nur gegenständliche Verhältnisse, die aufgrund von Vergegenständlichungsleistungen gegenständlicher Art sind. Die exzentrische Positionalität fundiert in einer solchen Interpretation die Erscheinung von Wirklichkeit, welche die von Holz übersprungene phänomenologische Deskription strukturell einzuholen versucht. Holz vermeidet damit nicht die Ontologisierung des Erschauten, sondern ontologisiert es, indem er es epistemologisiert, weil Ontologie und Epistemologie in seiner Lesart nicht voneinander trennbar sind.  Ebd.: 34.  Holz 2006: 73.  Ebd.  Ebd.  Ebd.: 75.  Ebd. – Obwohl Holz die „konstitutive Funktion des Subjekts“ bereits ins Spiel gebracht hat, definiert er „Transzendentalität“ in vermeintlicher Übereinstimmung mit Plessner als „Fundierung eines Sachverhalts in den vorempirischen – das heißt […] apriorischen – Bedingungen seiner Möglichkeit, aber er sucht dies nicht erkenntnistheoretisch in den Formbestimmtheiten der Verstandestätigkeit, sondern ontologisch in den jede Erkenntnismöglichkeit schon bedingenden allgemeinsten Formbestimmtheiten der Sache selbst“. (ebd.)

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4 Plessners Transformation der Ontologie

An die Stelle der phänomenologischen Deskription, ohne deren methodologisches Verständnis Plessners Grenzbegriff nicht verstanden werden kann, treten bei Holz apriorische und logische Bestimmungen der Grenze: Jedes körperliche Seiende ist in seiner Einzelheit gegenüber seinem Umfeld begrenzt. Grenze ist eine materiale Bestimmtheit, weil in der Extensionalität des Körperseins begründet; und sie ist eine apriorische Bestimmtheit, weil sie ein logisches Erfordernis oder die Bedingung der Gegebenheit von körperlichen Seienden ist.²⁷¹

Weil Holz Plessners Grenzbegriff nicht versteht, geht er auch in der Deutung des Begriffs der Positionalität fehl, indem er sie bezeichnet als „den Schlüssel […], der ihm [Plessner, S. E.] die Konstruktion einer einheitlichen Theorie der Natur ermöglicht, die unabhängig von den wechselnden Hypothesen der empirischen Naturwissenschaften ein ontologisches Modell von Formtypen des materiellen Seins entwirft“.²⁷² Bei Plessner fungiert Positionalität jedoch (1) als das gemeinsame Merkmal alles Lebendigen, das es gerade dadurch von Unbelebtem unterscheidet und somit gerade nicht bloß abstrakt als Grundlage einer Unterscheidung von „Formtypen des materiellen Seins“;²⁷³ Positionalität fungiert (2) als eine Spezifikation der Verhältnisse zwischen Typen von Lebewesen zu ihrem Positionsfeld, sie ermöglicht also gerade keine „einheitliche Theorie der Natur“, sondern eine Differentialanalyse von Organismus-Umwelt-Verhältnissen und damit eine Typologie von Lebensformen. Holz reduziert die Ontologie des Organischen, obwohl er den Begriff von Plessner expressis verbis übernimmt,²⁷⁴ auf eine „Regionalontologie des Materiellen“.²⁷⁵ Diese Regionalontologie sei die „philosophische Grundlage jeder möglichen empirischen Anthropologie“.²⁷⁶ Wie aber soll ein Weg von einer Ontologie des Materiellen zum Menschen führen, wenn Holz zufolge die Anthropologie „zum Zweig einer umfassenden Dialektik der Natur“²⁷⁷ werde, die den hier dargelegten Bestimmungen zufolge nur eine Dialektik der materiellen Natur sein kann? Die Antwort lautet: gar nicht, weil Holz den Weg von der exzentrischen Positionalität und der „konstitutive[n] Funktion des Subjekts in den gegenständlichen Ver-

 Ebd.: 96.  Ebd.  Holz bestimmt an anderer Stelle Positionalität als „eine ontologische Kategorie der res extensa oder der Materie“ (ebd.: 119) und als „die Kategorie, die die konstitutive Bedingung der Regionalontologie des Materiellen ausdrückt“. (Ebd.: 127)  Ebd.: 133.  Ebd.: 127.  Ebd.: 105.  Ebd.: 75.

4.9 Abgrenzung von anderen Lesarten (Beaufort, Holz)

271

hältnissen“²⁷⁸ her bereits umgekehrt hat. Noch deutlicher zeigt diese Umkehrung sich in Verbindung des transzendentalen Ansetzens am Subjekt mit der Ästhesiologie der Sinne: „Die transzendental auf das Subjekt als Moment und Glied natürlicher gegenständlicher Verhältnisse gerichtete Beschreibung des In-Seins führt auf die gründende (und begründende) Rolle der Sinne in einer Ontologie des Lebendigen.“²⁷⁹ Holz möchte Plessners Ansatz jedoch nicht mit „subjektividealistischen“²⁸⁰ Ansätzen vermengen, von denen Plessner sich dadurch unterscheide, dass er den Grund der Anthropologie „in der Form eines gegenständlichen Verhältnisses, in dem sich das Lebewesen befindet“²⁸¹ suche. Was macht nun aber die Ontologie des Lebendigen zu einer dialektischen Ontologie? Laut Holz hat „jede entwickelte ,höhere‘ Form […] aber an den kategorialen Bestimmtheiten der ,niederen‘ noch teil, weil sie sich aus dieser herausbildet“.²⁸² Auf dieser Entwicklungsgesetzlichkeit beruht Holz zufolge ein bei Plessner vorhandenes „Modell der Einheit der organischen Natur, vom reizempfindlichen Einzeller bis zum Menschen“.²⁸³ Beachtlich ist dies vor dem Hintergrund, dass Holz, wie oben gezeigt, die Kategorie der Positionalität als Schlüsselprinzip einer einheitlichen Theorie der Natur eingeführt hat. Und so wird dann auch die exzentrische Positionalität und mit ihr Positionalität überhaupt einer dialektisch bestimmten Naturgeschichte einverleibt: „In der exzentrischen Positionalität erreicht die organische Natur ihre volle Entfaltung; damit sind ihre apriorischen Möglichkeiten ausgeschöpft.“²⁸⁴ Das letztlich die Einheit der Natur bei Plessner gewährleistende Prinzip ist Holz zufolge also eine Dialektik der Natur. Eine dialektische Interpretation legt Plessner selbst stellenweise nahe, z. B. wenn er über den Menschen sagt, er könne als Lebewesen „nur dialektisch begriffen werden mit Hilfe der die tierische Natur bewahrend-durchbrechenden exzentrischen Position“.²⁸⁵ Damit ist aber eine an der erscheinenden Wirklichkeit gewonnene Differentialanalyse von Organisationsformen und Positionsformen in ihrer Beziehung zueinander gemeint, nicht bloß eine Freilegung der „materiellen Bedingungen […], unter denen eine doch immer nur vom Menschen her zu kon-

       

Ebd. Ebd.: 79. Ebd. Ebd.: 78. Ebd.: 113. Ebd.: 114. Ebd. Plessner 1985a: 330.

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4 Plessners Transformation der Ontologie

struierende dialektische Einheit von Subjekt und Objekt, von Erleben und Gegenstandswelt, von Denken und Sein als Welt begriffen werden kann“.²⁸⁶

4.10 Die Organisation des Lebendigen 4.10.1 Mitte und Peripherie: Die Selbstvermittlung des Lebewesens zur Einheit und die innere Teleologie Eine Analyse der Organisation des Lebendigen, welche das Kernstück von Plessners Ontologie des Organischen und die Ergebnisse der phänomenologischen Deskription in einer Strukturanalyse der Lebendigkeit zur Anwendung bringt, erfordert eine vertiefende Explikation des Begriffs der Mitte, die oben als unräumliche und raumhafte Mitte des Erscheinens von Lebendigem und als Grenzübergang angesprochen, worden ist, ohne als Grenzübergang im funktionalen und damit vollgültigen ontologischen Sinn entfaltet worden zu sein. Eine solche Bestimmung der Mitte als Moment der Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit ist im Folgenden vorzunehmen. Phänomenologisch hat Plessner den Begriff der Mitte in doppelter Weise bestimmt: als die räumliche Mitte eines Dinges in der Anschauung (den geometrischen Mittelpunkt des körperlichen Gebildes) und als kernhafte Mitte bzw. Substanzkern des lebendigen Dinges.²⁸⁷ Soweit bleibt die Mitte, wenngleich räumlich ortlos, innerhalb der Doppelaspektivität verortet. Ein dritter Begriff der Mitte – der positionalen Mitte – bzw. des Kerns dient der näheren Bestimmung der für die Doppelaspektivität konstitutiven Grenzrealisierung, welche lebendige Körper vollziehen: Die Untersuchung hat gezeigt, daß der Dingkern, konstitutiv zwar für den Doppelaspekt, in welchem das lebendige Ding als Ding erscheint, mit der Eigenschaft der Doppelaspektivität an ihm unmittelbar nichts zu tun hat. Trotzdem wird er hineingezogen, weil die Doppelaspektivität phänomenal das Über den seienden Körper hinaus bzw. In ihm hinein Sein bedeutet.²⁸⁸

Korrelat dieser nicht im Raum aufweisbaren²⁸⁹ positionalen bzw. funktionalen²⁹⁰ Mitte sind nicht die eigenschaftstragenden Seiten, sondern die Peripherie: der

 Holz 2006: 86.  „Die räumliche Mitte ist nicht die kernhafte „Mitte“, als die sie trotzdem die Anschauung vermeint.“ (SOM: 85)  Ebd.: 130.  „Ist der Kern im Raum aufweisbar? Offenbar nicht, denn dann wäre er selbst zur Eigenschaft des von ihm getragenen, gehabten Seins geworden.“ (ebd.: 161)

4.10 Die Organisation des Lebendigen

273

lebendige Körper „wird damit als Mitte und Peripherie in Einem bezeichnet“.²⁹¹ Plessner spricht wechselweise von Mitte und Kern, doch dem Begriff der Mitte kommt insofern der Vorrang zu, als der Kern „seine Funktion nur als Mitte“ ²⁹² entfalte.²⁹³ Mitte und Peripherie sind nicht für sich bestehende Entitäten, sondern im lebendigen Körper „zu einer Wirklichkeit verbunden, insofern er als Element der Peripherie zum Feld mitgehört, als Mitte dagegen sich dem Feld gegenüber befindet“.²⁹⁴ Der lebendige Körper ist daher in sich gebrochene Wirklichkeit, die sich in sich selbst zur Einheit vermitteln muss, in dieser zu leistenden Vermittlung aber kein gegen das Positionsfeld in sich abgeschlossenes und mit sich selbst identisches Ding ist, sondern als körperliche Wirklichkeit in sich selbst antagonistisch verfasst ist. Die Vermittlung muss daher im eigentlichen Sinn geleistet werden und kann scheitern. Die Organe eines Lebewesens nehmen in dem Verhältnis des Organismus zum Positionsfeld, das in seiner antagonistischen Gebrochenheit zu einer Einheit zu vermitteln ist, eine doppelte Rolle ein, da die Organe zwar Teile des Organismus, als solche aber auch gegen das Positionsfeld offen sind: In seinen Organen geht der lebendige Körper aus ihm heraus und zu ihm zurück, sofern die Organe offen sind und einen Funktionskreis mit dem bilden, dem sie sich öffnen. Offen sind die Organe gegenüber dem Positionsfeld. So entsteht der Kreis des Lebens, dessen eine Hälfte vom Organismus, dessen andere vom Positionsfeld gebildet wird.²⁹⁵

 Den Begriff der „funktionalen Mitte“, der bei Plessner nicht vorkommt, aber der Sache nach ins Schwarze trifft, verwendet Krüger systematisch. Vgl. Krüger 1999: 96, 121.  Ebd.: 203.  Ebd.: 161.  Heinrich Rombach hat in seiner Strukturanthropologie, den Begriff des Dingkerns, begünstigt durch seine Fehldeutung desselben, zum Anlass genommen, Plessner als evolutionäre Vorstufe auf dem Weg zu seiner Strukturanthropologie anzusehen, denn Plessner denke den „Ichkern“ – der Begriff taucht in den Stufen nicht auf – noch ontisch-verdinglichend statt struktural: „Da er doch einen ontischen Ichkern annimmt, bleibt seine Anthropologie im Verstehenshorizont des Substanzialismus, tut nur einen ersten, zaghaften Schritt in Richtung des strukturalen Ansatzes.“ (Rombach 1987: 296) Der Begriff des Substanzkerns, den Plessner de facto in seiner Analyse des lebendigen Dinges verwendet, ist weiter gefasst als der des Ichkerns, den Rombach Plessner unterschieben möchte: „Körperliche Dinge erscheinen im Doppelaspekt eines nie Außen werdenden Innen, des substanzialen Kerns, und eines nie Innen werdenden Außen, des Mantels eigenschaftstragender Seiten.“ (SOM: 160) Der Substanzialismus, den Rombach Plessner nachsagt, würde aber voraussetzen, dass ein substanzialer Kern nicht an Lebendigem als solchem erscheint, sondern das Ich als solches substanziell konstituiert.  Ebd.: 203.  Ebd.: 191 f.

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4 Plessners Transformation der Ontologie

Das selbst weder räumliche noch physische „Organ“ der Vermittlung der Organe im Organismus und zum Positionsfeld ist die Mitte als der Grenzübergang der Aspekte.²⁹⁶ Die Mitte ist somit nicht mit ihren Mitteln, welche eben die physischen Organe bilden, zu verwechseln: „Im Zentrum, sei es Nervennetz oder Gehirn, steckt nicht die raumzeithafte Mitte der Positionalität. Der nervöse Apparat ist nur das Mittel der Unterbrechung zwischen dem Gesamtkörper und – dem Körper als sensorisch-motorischem Antagonismus, der die Fülle der Organe umspannt.“²⁹⁷ Weil die Organe den Organismus mit dem Positionsfeld verbinden, als Teile des Organismus jedoch in einem antagonistischen Verhältnis zum Positionsfeld dem Körper zugleich angehören, entzündet sich an diesen das dem Verhältnis zwischen dem lebendigen Körper und dem Positionsfeld eingelagerte Problem des Verhältnisses von Mitte und Peripherie und damit das Problem der (Selbst‐)Organisation oder „Einheit des Organismus, wie sie als Kern und Mitte der Mannigfaltigkeit der Teile gegenübersteht“.²⁹⁸ Die Organe beziehen sich Plessner zufolge auf den Körper „als Einheit, vermitteln seine Einheit in ihm selber und konstituieren damit eben jenes Ganze, von welchem sie als ,Teile‘ loslösbar, dem sie ‚eigentlich‘ entbehrlich sind“.²⁹⁹ Doch sie tun dies nur im uneigentlichen Sinne, denn sie sind weder das materielle Substrat noch die materielle Manifestation der Mitte – ein antagonistisches Verhältnis zwischen Mitte und Peripherie könnte sich in diesen Fällen nicht ausbilden –, sondern indem sie sich auf den Körper als Einheit beziehen, sind sie selbst auf die Mitte als auf die den Körper zur Einheit organisierende Instanz bezogen: „Mitte schließt alle Elemente eines Gebietes zur Einheit zusammen, sie ist der Durchgangspunkt für alle die Einheit gegenüber ihren Elementen bildenden Beziehungen.“³⁰⁰ Diese Einheit zu stiften, ist die „Funktion der Mitte“,³⁰¹ die in dieser Funktion zugleich die „Funktion der Grenze“,³⁰² „gegen das ,Außen‘ ebensosehr abzuschließen als aufzuschließen, d. h. in das Außen hineinzuführen (das Außen hereinzuführen)“,³⁰³ auf der Ebene der Selbstvermittlung des Organismus zum Positionsfeld realisiert. Diese Integrations- bzw.Vermittlungsleistung kann sie als zugleich in ihren Teilen vertretene Mitte vollziehen: „Ein physisches Ding von positionalem Charakter ist in ihm selber oder seine Einheit ist nicht nur funktional in allen seinen Teilen und mit ihnen wirklich,

       

Vgl. dazu Kapitel 4.5. SOM.: 244. Ebd.: 186. Ebd.: 166. Ebd.: 161. Ebd. Ebd.: 155. Ebd.

4.10 Die Organisation des Lebendigen

275

sondern – obzwar nur potentia – als Einheit (Mitte, Kern) in jedem Teile vertreten.“³⁰⁴ Den positionalen Charakter des lebendigen Dinges, der hier angesprochen wird, bestimmt Plessner aufgrund der ihm immanenten Richtungsgegensinnigkeit der vermittelnden „Träger der Einheit“³⁰⁵ näher als das Zugleich von Über-ihmhinaus-Sein und In-ihm-Hinein-Sein: „Zum positionalen Charakter gehört, daß das Ding über ihm hinaus, in ihm hinein ist.“³⁰⁶ Es ist „über ihm hinaus“, weil es als Lebendiges in Ausdruck und Verhalten zur Umwelt offen und auf Umweltliches gerichtet ist, und es ist „in ihm hinein“, weil es im Ausdruck und Verhalten sich zugleich gegen die Umwelt stellt und seine Grenze realisiert, indem es sie im „Über ihm hinaus Sein“ gegen Anderes zugleich zieht. Indem es beides zugleich ist und dieses Beides-Zugleichsein strukturell im lebendigen Sein begründet ist, ist das lebendige Ding, obgleich es in sich und zu sich selbst vermittelte Einheit ist, unmöglich im starken Sinne mit sich identisch; anders gesagt: Selbst „als Einheit (Mitte, Kern) in jedem Teile vertreten“³⁰⁷ kann das Lebewesen den Antagonismus der Organe nicht zur endgültigen Versöhnung bringen und damit aufheben, denn es müsste, um dies zu vollbringen, den Organismus aus seinem gegensinnigen Verhältnis zum Positionsfeld und damit aus diesem selbst herauslösen. Überdies setzt eine Identität im starken Sinne voraus, dass der Begriff der Mitte anders gefasst wird denn als „funktionale Mitte“ (Krüger), nämlich – wie Haucke dies tut – als Substanz; das genaue Gegenteil hat Plessner jedoch im Sinn, wenn er die Mitte als das „leere Hindurch der Vermittlung“³⁰⁸ bezeichnet. Plessner fasst die durch die Mitte hindurch hergestellte Einheit des lebendigen Körpers als dreifache Einheit, nämlich als „Einheit für sich (Kern, Subjekt des Habens), Einheit in der Mannigfaltigkeit der Teile (Wirkeinheit, Gestalt, übersummenhafte Gesamtfunktion, Objekt des Habens), Einheit in jedem Teil (harmonisch äquipotentielles System)“.³⁰⁹ Die den Antagonismus zwischen Mitte und Peripherie im Körper entfachende Geöffnetheit der Organe gegenüber dem Positionsfeld macht dabei den Körper zum Subjekt wie auch Objekt des Habens. Dieses Zugleichsein von beidem fasst Plessner als eine synthetische Eigenschaft des Körpers, die in einem Dritten gründet, nämlich darin, dass der Körper zu einem

 Ebd.: 167.  „Es dürfen nämlich in der Einheit des organischen Körpers nur die in Wirkeinheit begriffenen Organe als Träger der Einheit, welche sie zum Ganzen vermitteln, voneinander bzw. vom Ganzen abgehoben werden“ (ebd.: 191)  Ebd.: 132.  Ebd.: 167.  Ebd.: 292. Vgl. auch ebd.: 290: „Eine positionale Mitte gibt es nur im Vollzug. Sie ist das, wodurch ein Ding zur Einheit einer Gestalt vermittelt wird: durch das Hindurch der Vermittlung.“  Ebd.: 187.

276

4 Plessners Transformation der Ontologie

„Mittel des Habens“ werde: „Der Körper vereinigt dann synthetisch die Eigenschaft, Subjekt des Habens zu sein, mit der Eigenschaft, Objekt des Habens (sein Körper) zu sein, dadurch, daß er zum Mittel des Habens wird.“³¹⁰ „Mittel des Habens“ ist der Körper als „Einheit von Haben und Gehabtsein“;³¹¹ das Haben ist stets das Haben des Körpers – und d. h. seiner selbst, er ist dann Subjekt des Habens; das Gehabtsein ist ebenfalls das Gehabtsein des Körpers – d. h. durch ihn selbst, er ist dann Objekt des Habens. Was in dieser Unterscheidung bereits durchscheint, aber erst 1936 in Lachen und Weinen seine systematische Entfaltung innerhalb der Verhaltenssphäre des Menschen findet, ist die Unterscheidung zwischen Leibsein und Körperhaben. Das Subjekt des Habens hat den Leib als Leibkörper und wird umgekehrt vom Körper gehabt, wo der Körper im Lachen und Weinen die prekäre und fragile Regentschaft der Person durchbricht. Das ineinander verschränkte Verhältnis von Subjekt des Habens und Objekt des Habens entspricht dem Verhältnis von Mitte und Peripherie, in welches die antagonistische Verfasstheit des Lebendigen fällt. Das dritte Moment der dreifachen Einheit des Organismus, die harmonische Äquipotentialität, erweitert den Antagonismus um die Vertretung des Ganzen in den Teilen, ohne den Antagonismus dabei aufzuheben. Zugleich wird mit dem Konzept der harmonischen Äquipotentialität ein teleologisches Terrain betreten, das vor dem Hintergrund einer Teleologie-Kritik steht, die nun kurz dargestellt werden soll.

4.10.2 Plessners „immanente Teleologie“ und die metaphysische Teleologie Das Problem der Selbstorganisation des Organismus, dessen Explikation hier in den Begriffen der Mitte, der Peripherie und der Organe als Diener zweier Herren ihren begrifflichen Leitfaden findet, ist klassisch und zugleich teleologisch als entelechiales Verhältnis von Potenz und Akt konzipiert worden. Entelechie im dargelegten Wortsinn, verstanden als Sein-Ziel-in-sich-Enthalten, bedeutet im klassischen Sinn, dass jegliches Werden unter einem Gesetz der Zukunft steht, vermittelt durch die in ihr zu realisierende Idee, die in Gestalt von Zweckursachen das Gesetz der Zukunft in der Gegenwart von der zukunftsbezogenen Vergangenheit her zur Geltung bringt. Verwirklichung bedeutet Übergang einer selbst schon Akt seienden und als dieser Akt von der zu realisierenden Idee her bestimmten Potenz zu einer weiteren, herzustellenden Aktualität.

 Ebd.: 188 f.  Ebd.: 189.

4.10 Die Organisation des Lebendigen

277

In der kosmologischen Lesart, wie sie für die gesamte klassische Ontologie durch die hier behandelten Entwürfe von Aristoteles und Edith Stein hindurch kennzeichnend ist, wohnt das τέλος dem Organismus nicht im starken Sinne inne, sondern verwirklicht sich in ihm und durch ihn hindurch. Edith Steins Unterscheidung zwischen ενέργεια und ενέργεια ον unterwandert den Primat der ενέργεια nicht, sondern konkretisiert die ενέργεια durch den Begriff der Wesensform des Organismus, ohne allerdings den Organismus in seiner funktionalen und organisatorischen Eigengesetzlichkeit in den Blick zu nehmen, was die Voraussetzung einer immanenten Teleologie des Lebendigen bilden würde, die Plessner entfaltet; vielmehr gerät bei Stein die Organisation des Organismus gegenüber der aristotelischen Philosophie gar stärker aus dem Fokus, da bei Aristoteles naturphilosophisch (aber nicht metaphysisch) dem Begriff der έντελέχεια der Vorrang zukommt. Steins gesamte Metaphysik und Teleologie kann als die Entfaltung des folgenden Satzes angesehen werden, der daher noch einmal vollständig zitiert zu werden verdient: „Endliches Sein ist Entfaltung eines Sinnes; wesenhaftes Sein ist zeitlose Entfaltung jenseits des Gegensatzes von Potenz und Akt; wirkliches Sein Entfaltung aus einer Wesensform heraus, von der Potenz zum Akt, in Zeit und Raum.“ ³¹² Die zeitliche Entfaltung ist Abbild eines wesenhaftes Seins, das sich in der mundanen Sphäre als Übergang von der Potenz zum Akt realisiert, wobei die Potenz als solche bereits Widerschein eines actus purus oder Manifestation einer ενέργεια ist, d. h. aktbedingt und selbst im bloß dispositionellen Sinn aktbedingend ist (wobei der actus purus die Sphäre des Lebendigen extramundan bestimmt, die ενέργεια dies zwar auch tut, aber gegenüber dem Schöpfungscharakter des Seins dessen Was-Gehalt stärker akzentuiert, indem dieser als Manifestation der ενέργεια aufgefasst wird). Aufgrund des Vorrangs der ενέργεια vor der δύναμις bzw. des Aktes vor der Potenz ist die zeitliche Entfaltung auch verstehbar als Selbstentfaltung der ενέργεια, die in dieser Selbstentfaltung Zustände durchläuft, welche im Verhältnis zu ihnen nachfolgenden als solche der bloßen Potenz, eine kommende Aktualität ermöglichende sich darstellen. Der hier herrschende ontologische Vorrang des Akts spricht sich am klarsten darin aus, dass der Organismus bei Stein eine Manifestation der ενέργεια darstellt (die ενέργεια verkörpert sich im bzw. lokal als Organismus), wohingegen bei Plessner umgekehrt der Organismus einen Ordnungstypus verkörpert, der sich bestenfalls im übertragenen Sinne (nicht in Form einer Manifestation) im Organismus, keinesfalls sich aber als Organismus verkörpern kann. Diese Form von Teleologie

 EES: 284.

278

4 Plessners Transformation der Ontologie

bildet den in den Stufen nicht explizit aufgenommenen Hintergrund dessen, was Plessner grundsätzlich unter Teleologie versteht. ³¹³ Die expliziten Bezugspunkte Plessners in den Stufen bilden jedoch nicht die in den ersten beiden Teilen dieser Studie entfalteten kosmologisch-metaphysischen Varianten teleologischen Denkens, sondern zwei naturalistische Varianten teleologischen Denkens, die aufgrund ihrer metaphysischen Gehalte als Derivate der klassischen Variante aufgefasst werden können: Die eine macht Plessner in der Evolutionstheorie aus, welcher er vorhält, mit „teleologischen Perspektiven“³¹⁴ zu operieren, indem sie die „übergreifende Einheit der Art“³¹⁵ zur Begründung sämtlicher Vorgänger auf der Individualebene heranziehe und womöglich gar in sozialpolitisch-ideologischer Absicht den Vorrang des Kollektivs vor dem Individuum annehme.³¹⁶ Die andere naturalistische Variante, die Plessner kritisiert, findet sich im Streit zwischen den Epigenetikern und den Präformationisten über die Entwicklungslogik und -gesetzlichkeit des Lebendigen. Die Präformationisten bezeichnet Plessner als die „Partei der Teleologen“,³¹⁷ die aufgrund der Annahme einer Präsenz des noch nicht existierenden Späteren im Früheren (z. B. des Individuums in der Keimzelle) der klassischen Teleologie insofern nahestehen, als sie das Urbild in Form der Keimzelle „naturalisieren“ und Entwicklung als Verwirklichung eines virtuell in seinen Vorformen bereits Realen auffassen. Eine Nähe sowohl zur klassischen als auch zur präformationistischen Teleologie deutet sich allerdings in Plessners Begriff der „Formidee“ zumindest an. Mit dem Begriff der Formidee begibt Plessner sich jedoch keineswegs auf teleologischen Boden. Zwar sei jede organische Form „wesensnotwendig Gestalt von einem bestimmten Typus, Ausprägung einer konkret in individueller Gestalt anschaubaren Formidee“,³¹⁸ doch die Formidee ist als individuative Ausprägung eines Typus zu verstehen,³¹⁹ dessen Realisierung das Einzelding in seiner individualen Selbstorganisation und nicht im Sinne einer Manifestation des Typus selbst im Individuum vollzieht; weil die Selbstorganisation keine Manifestation, sondern eine Volllzugsleistung von organismischen Individuen ist, kann Plessner die Formidee mit der Individualität, welche Individualität jedoch nur in Bezug auf einen Typus ist, in einen Zusammenhang bringen: „Das bloße Einzelding muß, falls es lebt, Ausprägung einer Formidee sein oder den Charakter der Individua-

      

Vgl. SOM.: 113 und 354, des weiteren: EdS: 29, LuW: 265 und 361, CH: 138 und 154. SOM: 214. Ebd.: 214. Vgl. Ebd.: 214. Ebd.: 143. Ebd.: 136. Plessner spricht daher von der „Formidee des Typus“. (SOM: 139)

4.10 Die Organisation des Lebendigen

279

lität haben“.³²⁰ Das Verhältnis von Individuum, Formidee und Typus lässt sich am ehesten am Beispiel des klassischen Verhältnisses von Individuum (Exemplar), Spezies und Gattung begreifen, wo das logische Verhältnis zwischen den Instantiierungsweisen von Lebendigkeit eines der Darstellung und nicht der Kausalität ist; dies deckt sich auch mit Plessners Bestimmung des Darstellens als „Übersetzbarkeit eines Sachverhalts von einer Gegebenheitsweise in eine andere“.³²¹ Individuen lassen sich eher als Übersetzungen der Gegebenheitsweise der Formidee und diese wiederum als Übersetzungen der Gegebenheitsweise des Typus verstehen denn als kausale Resultate der untereinander wiederum in Kausalrelation stehenden Formidee und des Typus. Der Typus ist, wie die Formidee, „kein empirisch zu erklärendes Faktum“;³²² umgekehrt erklärt der Typus aber auch nicht empirische Fakten, sondern erlaubt lediglich die Zuordnung eines Einzeldings oder einer Individualität zu einem es übergreifenden Formengefüge, das die Identifikation des Dings als Ding der Art von … gestattet. Die besondere Art von Typus, die Plessner im Auge hat, ist der Ordnungstypus der Ganzheit. Die Analyse des „Ordnungstypus“ Ganzheit ermöglicht die Benennung der Kriterien, denen gemäß etwas als Ganzheit im Unterschied zu einer bloßen Gestalt zu benennen ist. Ganzheit ist die Gestalt, an welcher in der Anschauung „eine gegenständliche aufweisbare Grenze [erscheint], welche zugleich Ansatzzone der absoluten Richtungsdivergenz“ ³²³ ist. Der Typus der Ganzheit ist so weit analytisch entfaltbar, fungiert aber auch unabhängig von einer solchen Entfaltung als unauslöschbarer Hintergrund des intuitiven Verstehens von etwas als etwas dieser oder jener Art. Jene analytische Entfaltung ist aber Plessner zufolge intuitiv fundiert, weil die Ganzheit prinzipiell nur erschaubar sei und im Lebensvollzug de facto als solche erschaut werden müsse, um nicht mit einer unbelebten Gestalt verwechselt zu werden; eine solche unbelebte Gestalt erscheint nicht im Doppelaspekt und weist in der Anschauung keine unräumliche Mitte auf, welche als „funktionale Mitte“ (Krüger) fungiert. Eine unräumliche Mitte erschauen heißt, etwas als lebendige Einheit, im Grenzübergang der nicht ineinander überführbaren Aspekte sich Darstellendes wahrzunehmen. Wo jemandem etwa aufgrund einer pathologischen Verzerrung der Wahrnehmung eine Ganzheit (ein Lebendiges) als Gestalt sich zeigt, ein Lebendiges also als bloßes Ding wahrgenommen wird, lässt die Wahrnehmung sich durch keine kriterienbasierte Anleitung korrigieren, weil die Ganzheit, d. h. das Lebendige als Lebendiges, nur

   

Ebd.: 137. Ebd.: 119. Ebd. Ebd.: 102.

280

4 Plessners Transformation der Ontologie

erschaut, nicht aber seine Lebendigkeit anhand des bloßen Wahrnehmungsdings aus gewissen Bewegungsmustern ,errechnet‘ werden kann. Anders als mit den Begriffen der „Formidee“ und des „Ordnungstypus“ begibt Plessner sich mit der Bestimmung des Verhältnisses von Mitte und Peripherie und der in diesem Verhältnis sich vollziehenden „Selbstvermittlung der Einheit des belebten Körpers durch ihre Teile“³²⁴ auf teleologisches Terrain. Plessner spricht dabei von einer „inneren“ bzw. „immanenten Teleologie“³²⁵ und von der „Entelechie als Seinsmodus“,³²⁶ die er Drieschs „Entelechie als Naturfaktor“ gegenüberstellt. Diese Formulierung, die Plessner nur an einer Stelle verwendet, ist von fundamentaler Bedeutung innerhalb seines naturphilosophischen Ansatzes, weil die „Entelechie als Seinsmodus“ und die dreifache Einheit des Organismus zwei Seiten einer Medaille darstellen. Die „Entelechie als Seinsmodus“ geht zudem nicht in der Vermittlung des Antagonismus zur Einheit auf, da die Entelechie sonst in den Herrschaftsbereich der Mitte qua Subjekt des Habens fallen und der Antagonismus als Schein-Antagonismus entlarvt würde. In der klassischen Ontologie kommt in der Entelechie die Energeia zu sich selbst; die Mitte wäre daher als Subjekt des Habens real, der Antagonismus wäre bloß das temporäre oder fatale, also gänzliche, Hindernis des Zu-sich-selbst-Kommens der Mitte in der Selbstvermittlung. Plessner hingegen bestimmt die Mitte als das den Organismus in seiner Gebrochenheit zur Einheit Vermittelnde, aber zugleich als ein solches – nicht autarkes – Vermittelndes, das nicht in neo-klassischer Weise als Aktzentrum aufzufassen ist, sondern wesentlich als Potenz: Die Inexistenz der Mitte (des realen Kerns, des Subjekts des Habens) ist also allein als die wirkliche Möglichkeit des Körpers oder sein Vermögen (Potenz) real.³²⁷

Der Begriff der Potenz ist hier in strikter Komplementarität zum Begriff der Ganzheit zu verstehen: Als Potenz ist die unräumlich-raumhafte Mitte inexistent und real, weil sie einerseits in ihrer Erschaubarkeit das Lebendige in der Anschauung konstituiert, also für das Lebendige als solches in spezifischer Weise dingkonstituierend ist,³²⁸ und weil andererseits in der das Ding als Lebendiges konstituierenden Mitte der Anschauung der Grenzübergang eigenschaftlich zur Erscheinung gelangt, welcher in Gestalt der „funktionalen Mitte“ (Krüger) in der Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit als Subjekt des Habens fungiert.

    

Ebd.: 185 Vgl. ebd.: 170, 177 und 190. Vgl. ebd.: 146. Ebd.: 162. Zum generellen Begriff der dingkonstituierenden Charaktere vgl. ebd.: 84.

4.10 Die Organisation des Lebendigen

281

Diese doppelte Mitte ist real, aber nicht existent im Sinne der räumlich-geometrischen Realität, sondern real insofern, als es nicht für bloße Körperdinge, sondern für die Wirklichkeit des lebendigen Dinges konstitutiv ist. Als „Vermögen (Potenz) real“ ist die Mitte, weil sie das Lebendige in der Anschauung als solches konstituiert, indem sie es als etwas konstituiert, was anschaulich keine blanke Positivität oder Gestalt ist, mit Plessner: was als Lebendiges der Anschauung den doppelten Charakter des „In ihm hinein“ und „Über ihm hinaus“ trägt. Dieser doppelte Charakter des Lebendigen ist es, der es in der Anschauung zu einem seinem Erscheinen nach „Über-sie-hinaus“ macht; Lebendiges erscheint als Lebendiges im Überschuss der Erscheinung gegenüber der Anschauung und ist deshalb anschaulich als „Vermögen (Potenz)“ des Körpers real als seine „wirkliche Möglichkeit“. Eine wichtige begriffliche Unterscheidung ist hier zu treffen: Potenz als Vermögen ist nicht Vermögen zu diesem oder jenem Akt; demnach ist der lebendige Körper, der als solcher Potenz ist, auch nicht Potenz, weil er über Optionen einzelner Verkörperungen verfügt, sondern er verfügt über Verkörperungsmöglichkeiten als Möglichkeiten, weil er wesentlich Potenz ist ³²⁹ oder, wie Plessner auch sagt, weil er „seiende Möglichkeit ist: „Man kommt nicht darum herum, lebendiges Sein als seiende Möglichkeit und in seiner Beziehung zur seienden Wirklichkeit des vorhandenen greifbaren Körpers näher zu bestimmen.“³³⁰ Warum die Immanenz der Plessner’schen Teleologie eines Primats der Potenz auch bedürfe statt ihn nur zu behaupten, wird erst im Rekurs auf die noch zu entfaltende „Zeithaftigkeit des lebendigen Seins“ und die damit zusammenhängende Bestimmung desselben als „seiende Möglichkeit“ klarwerden. „Seiende Möglichkeit“, „immanente Teleologie“ und „Entelechie als Seinsmodus“ bilden eine naturphilosophische Begriffstrias, die im dritten Moment der dreifachen Einheit des Organismus, der harmonischen Äquipotentialität, ihren gemeinsamen Kristallisationspunkt finden. Die harmonische Äquipotentialität, die Plessner nominell von Driesch übernimmt, aber systematisch gerade in gegensätzlicher Weise auffasst, soll im Folgenden von Drieschs Fassung abgegrenzt werden und eine positive Fassung erhalten, um zunächst die Begriffe der „immanenten Teleologie“ und der „Entelechie als Seinsmodus“ adäquat erhellen zu können.

 Plessner hat auf die Inklination zum Missverstehen antezipatorisch reagiert: „Gewiß heißt es in der Sprechweise der Empirie, der lebendige Körper ,habe‘ Potenzen, er sei befähigt, Schäden auszugleichen, er besitze formbildende Vermögen, so daß man zunächst zu der Annahme berechtigt scheint, die Potenz als anhängende Bestimmtheit des (aktuellen) Seins des Körpers zu betrachten.“ (ebd.: 173)  Ebd.

282

4 Plessners Transformation der Ontologie

4.10.3 Die harmonische Äquipotentialität als Kernstück der Ontologie des Organischen Driesch entwickelt den Begriff der harmonischen Äquipotentialität in seiner Philosophie des Organischen in der Auseinandersetzung mit vergleichsweise primitiven Organismen. So sagt Driesch, dass Tubularia, ein Genus der Seerosen, „in der Tat den Typus des harmonisch-äquipotentiellen Systems in vollendeter Weise darstellt“,³³¹ und begründet dies folgendermaßen: „Man kann ihren Stamm durchschneiden, wo immer man will: ein bestimmter Distrikt des Stammes wird stets einen neuen Kopf bilden, und zwar durch das Zusammenwirken aller seiner Teile.“³³² Harmonische Äquipotentialität bezeichnet in diesem Sinne den Primat der organismischen Funktion vor den Teilen des Organismus, die im Fall schwerwiegender Pathologien sich funktional zusammenschließen, um die intakte Einheit des Organismus zu restituieren. Eine solche Restitution setzt eine durch die Einheit des Gesamtorganismus zweckmäßig bestimmte Potenz der Elemente des Organismus voraus. Solche Anpassungsleistungen der Elemente zugunsten des Ganzen beruhen Driesch zufolge darauf, dass „die Potenz jedes Elements […] in der Möglichkeit vieler, ja unbestimmt vieler einzelner Akte“³³³ bestehe. Diese multiple Potenz der Elemente und ihre unter mechanistischen Prämissen unbegreifliche Fähigkeit, in den Dienst der Intaktheit des Ganzen zu treten, führt Driesch zu seiner Variante des Entelechie-Begriffs und zur Einführung des bereits angesprochenen Faktors E. Hier ist nun eine Differenz zu Plessner zu beachten, die in Drieschs 1939 erschienenem Essay Entelechie und Seele deutlich hervortritt. Driesch vermeidet die affirmative Verwendung des Begriffs der Teleologie³³⁴ und bedarf seiner doch: „Der Begriff des Vitalismus ist nicht identisch mit dem der ,Teleologie‘ oder ,Zielstrebigkeit‘. Er ist enger, denn der bloße Begriff der Teleologie wäre auch mit einer Maschinentheorie vereinbar. Der Vitalismus proklamiert eine dynamische Teleologie im Unterschied von einer ,statischen‘“.³³⁵ Drieschs Gegenüberstellung von dynamischer und statischer Teleologie entspricht der Gegenüberstellung des Lebendigen und des Maschinellen; als phänomenologischen Grund dieser grundsätzlichen Unterscheidung führt Driesch die – je nach

 Driesch 1909: 130.  Ebd.  Ebd.: 122.  In der Philosophie des Organischen grenzt Driesch den Vitalismus an einer Stelle vom teleologischen Denken ab, ohne aber ausführlicher auf den Begriff der Teleologie einzugehen. Vgl. ebd.: 147.  Driesch 1939: 267.

4.10 Die Organisation des Lebendigen

283

Organismus und Störung graduell verschiedene – Regenerationsfähigkeit von Organismen durch Übernahme gestörter Funktionen durch organismische Elemente von multipler Potenz an. Diese dynamische Teleologie ist aber bei Driesch keine „innere Teleologie“, weil die Dynamik durch einen Naturfaktor (die Entelechie) erklärt wird, der als solcher ortlos bleibt und auf erklärungsbedürftige, aber durch Driesch nicht erklärte³³⁶ Weise den Organismus zu einem Natürlichen im Unterschied zu einem bloß Materiellen oder Maschinellen macht, dies aber nur kann, insofern der Naturfaktor als Natur im Organismus wirkt. Der Begriff des Naturfaktors ist hier gerade deshalb wörtlich zu nehmen,weil der Begriff der Natur ein wesentlich weiterer Begriff ist als der des Organismus, wodurch die „dynamische Teleologie“ eine dynamische Naturteleologie ist, welche die Differenz zwischen Organischem und Nicht-Organischem begründet, aber die „innere Teleologie“ in einer Teleologie der Natur im Ganzen aufhöbe, die sich durch die Individuen hindurch verwirklichte. Plessner greift den Begriff der harmonischen Äquipotentialität in der Behandlung von Restitutions- und Adaptationsphänomenen auf, also in scheinbarer Treue zu Drieschs Anwendungsfeld des Begriffs, beansprucht dabei aber, die

 In Entelechie und Seele konzediert Driesch, dass „das grosse [sic!] Problem, wie denn eigentlich Entelechie auf Materie wirkt und von ihr Wirkungen empfängt, wie sie ,mit‘ der Materie arbeitet“ (ebd.: 275), bestehen bleibe. Dass Driesch denkerisch noch der Metaphysik verhaftet ist, zeigt sich auch darin, dass er die Form-Materie-Relation beibehält und dabei lediglich den Formbegriff durch den Entelechie-Begriff ersetzt; den Organismus definiert er folglich als aus Materie und Entelechie zusammengesetztes Wesen: „Die naturtheoretische Betrachtung führt zum Entelechiebegriff, insonderheit zum Begriff der Handlungsentelechie meines Leibes, die psychologische zum Seelenbegriff; und hier muss nun wieder das Bewusste vom Unbewussten geschieden werden. Der Mensch und jeder Organismus ist bei dieser Auffassung der Dinge ein duales, aus Materie und Entelechie bestehendes Wesen.“ (Driesch 1939: 272) Driesch bleibt freilich bei der angesprochenen Auffassung, die er auch den „Satz von der dualen Natur des Organismus“ (ebd.: 276) nennt, nicht stehen, sondern führt dem phänomenologisch geprägten Zeitgeist gemäß den Begriff des Ego ein, mit dem Driesch zwar auf das Problem des Suizids reagieren kann, der von einem Ego verübt wird, welches in dem Akt des Suizids die organismische Entelechie verneint. Doch die Verlegenheit, in die Driesch sich selbst terminologisch zugleich bringt, spiegelt sich in der Frage wider, „was denn nun eigentlich das von uns als ,Ich‘ oder ,Ego‘ bezeichnete dritte die tierische organische Person zusammensetzende Gebilde sei“. (ebd.: 277) Der Frage kann und soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Sinn und Zweck dieses Exkurses ist vielmehr, am Beispiel von Drieschs Sprachgebrauch die Unklarheiten hervortreten zu lassen („tierische organische Person“), die sich daraus ergeben, dass Driesch mit phänomenologischen Begriffen („Ego“) auf eine anthropologische Zwangslage (Was macht den Menschen zum Menschen und damit zu einem die Entelechie verneinen könnenden Wesen?) vor dem Hintergrund der in der Zwischenzeit entwickelten Philosophischen Anthropologie Plessners antwortet, der bei Driesch habilitierte und im Anschluss an Scheler den von Driesch unglücklich aufgegriffenen Begriff der Person zum philosophischen Grundbegriff erhoben hat.

284

4 Plessners Transformation der Ontologie

Ergebnisse der Analyse Drieschs „auf synthetischem Wege“³³⁷ zu bestätigen. Die Phänomene der Restitution, die Driesch ins Auge fasst, sind Plessner zufolge „ontisch begründet“³³⁸ und als derart begründete prinzipiell einer empirischen Betrachtung zugänglich. Was Plessner jedoch vorschwebt, ist die Ergänzung der ontischen Begründung, die durch naturwissenschaftliche Beobachtung erreichbar ist, durch eine ontologische Analyse, die „synthetisch“ bestätigt und nur synthetisch bestätigen kann, was empirisch sich zeigt, weil sie am lebendigen Körper nicht Beobachtbares, sondern lediglich Erschaubares freilegt: „Ihre [der Restitution, S. E.] Auffassung im Sinne einer Potenzmanifestation aber ist nur einer Kategorialanalyse, wenn man will, einer ontologischen Analyse in der für die erschaubare Washeit ,Leben‘ und ,Lebendigkeit‘ spezifischen Seinsschicht erlaubt und keiner empirischen Analyse.“³³⁹ Die Äquivokation von Kategorialanalyse und ontologischer Analyse bestätigt an dieser Stelle den ontologischen Grundcharakter von Plessners Naturphilosophie, die den programmatischen Ausführungen in der methodischen Propädeutik der Stufen gemäß auf eine „Lehre von den Wesensgesetzen oder Kategorien des Lebens“³⁴⁰ ziele, die bereits in den Stufen auf den Namen einer „Ontologie des Organischen“ hätte getauft werden können, den sie erst – und beiläufig – in Macht und menschliche Natur erhalten hat. Für das Verständnis der harmonischen Äquipotentialität von entscheidender Bedeutung ist dabei das Verhältnis zwischen dem Erschaubaren (als Grundlage ontologischer Einsicht) und dem Beobachtbaren (als Gegenstand der empirischen Analyse). Beide sind trotz ihrer Inkommensurabilität nicht gegeneinander ausspielbar, denn Plessner zufolge bildet ein am lebendigen Körper feststellbares Beobachtungsphänomen eine „Voraussetzung“³⁴¹ bzw. eine empirische Ermöglichungsbedingung der harmonischen Äquipotentialität, nämlich die „qualitative Differenzierung des Körpers“.³⁴² Diese qualitative Differenzierung fasst Plessner als die „Differenzierung des Körpers in ihm gegenüber unabhängige, obwohl für ihn notwendige Organe“.³⁴³ Notwendig sind die Organe schlicht als Hilfswerkzeuge, deren der Körper zur Selbstvermittlung zur Einheit und zur Aufrechterhaltung der organischen Gesamtfunktionen bedarf, da der Körper „nur in der

      

SOM: 163. Ebd. Ebd.: 164. Ebd.: 76. Vgl. ebd.: 165. Ebd. Ebd.: 167.

4.10 Die Organisation des Lebendigen

285

Vermittlung durch die Organe, ohne die er nicht ,mehr‘ zu leben vermag“,³⁴⁴ überhaupt sei. Dass Plessner die Organe als gegenüber dem Körper „unabhängig“ bezeichnet, erzeugt zwangsläufig Missverständnisse, solange man „unabhängig“ mit „unentbehrlich“ gleichsetzt. Plessner geht es nicht um die Frage nach der Entbehrlichkeit oder Unentbehrlichkeit von Organen, welche er als empirische Frage ansieht,³⁴⁵ sondern um „die einheitsbildende Funktion der Organe“,³⁴⁶ die von der Frage der Entbehrlichkeit „ganz unabhängig ist“.³⁴⁷ Zu unterscheiden sei zwischen Einheitsbildung und Gestaltbildung: Gestaltbildend seien Organe unmittelbar als beobachtbare physische Teile des Organismus und als solche „in bezug auf seine Gesamtheit einfache Teile“.³⁴⁸ Als am lebendigen Körper beobachtbare und der naturwissenschaftlichen Erforschung zugängliche Teile seien sie darüber hinaus „in bezug auf ihn als Selbst Glieder […], welche er hat (und die ihm entbehrlich oder nicht entbehrlich sind)“.³⁴⁹ Einheitsbildend hingegen und nicht der naturwissenschaftlichen Erforschung zugänglich seien Organe als Mittel des lebendigen Körpers, „durch deren Vermittlung seiner Ganzheit zur Ganzheit er in seinen Teilen vertreten wird“;³⁵⁰ in dieser einheitsbildenden Funktion beziehen sie „sich überdies auf ihn als Einheit, vermitteln seine Einheit in ihm selber und konstituieren damit eben jenes Ganze, von welchem sie als ,Teile‘ loslösbar, dem sie ‚eigentlich‘ entbehrlich sind“.³⁵¹ Diese Vertretung des Ganzen und der Mitte als Subjekt des Habens in den Teilen als Objekt des Habens fasst Plessner als harmonische Äquipotentialität, in welcher „die Vereinigung der beiden ersten Bestimmungen“,³⁵² des Subjekts und des Objekts des Habens, liegen müsse, „so daß man sagen kann, der lebendige Körper sei als Einheit in jedem Teil Einheit für sich und Einheit in der Mannigfaltigkeit“.³⁵³ Der Antagonismus der Organe wird in der harmonischen Äquipotentialität allerdings keineswegs aufgehoben und der Antagonismus nicht in der Versöhnung zum Verschwinden gebracht, weil die harmonische Äquipotentialität nicht ohne ihre Rückseite, die „harmonische Divergenz“ der spezialisierten Organe, gedacht werden kann:

         

Ebd.: 171. Vgl. ebd.: 166. Ebd.: 166. Ebd. Ebd.: 168. Ebd. Ebd. Ebd.: 166. Ebd.: 187. Ebd.

286

4 Plessners Transformation der Ontologie

Das Ganze des lebendigen Körpers ist unmittelbar selbst in seinen Teilen potentiell vorhanden. Diese seine Form der Vertretung heißt das harmonisch äquipotentielle System. Das Ganze ist jedoch selbst auch vermittelt in seinen Teilen aktuell vorhanden. Diese seine Form der Vertretung liegt vor in der harmonischen Divergenz spezialisierter Organe.³⁵⁴

Der Antagonismus zwischen der Mitte und den Organen begrenzt die harmonische Äquipotentialität, die total wäre, wenn die Mitte die Spezialisierung rückgängig machen und in der völligen Dienstbarkeit aller organismischen Elemente zum Verschwinden bringen könnte. Die Mitte wäre dann selbst total und eine Art deus in machina; ihre Allmacht machte sie gleichsam zu einem Gott, der aufgrund seiner Allmacht über eine nicht potenziell dysfunktionale Maschine verfügte.³⁵⁵ Der Begriff der „harmonischen Divergenz spezialisierter Organe“ findet sich bei Driesch nicht. Mittels seiner setzt Plessner die harmonische Äquipotentialität zu dem Antagonismus der Organe in Beziehung als eine erschaubare „Kannqualität“³⁵⁶ des lebendigen Dinges, das deswegen Potenz bzw. „seiende Möglichkeit“ ist. Diese Kannqualität ist keineswegs empirischer, sondern ontologischer Art: Die harmonische Äquipotentialität bildet die nicht auf empirischem Wege erforschbare oder ermittelbare Ermöglichungsbedingung, den Antagonismus der Organe auszuhalten und zur Einheit zu vermitteln. Damit wird die harmonische Äquipotentialität wesentlich fundamentaler gefasst als bei Driesch, nämlich als irreduzibles Moment der Gesamteinheit des Organismus statt bloß als analytisch an Restitutionsphänomenen ablesbare Eigenschaft. Dies sei am aktuellen Beispiel der Transplantationsmedizin veranschaulicht. Die Spezialisierung der Organe und ihre Entbehrlichkeit finden aufgrund der modernen Transplantationsmedizin³⁵⁷ leicht eine irreführende Bestätigung, welche sich in dem im Feuilleton florierenden Begriff des Körpers als „Ersatzteillager“

 Ebd.: 168.  Dieser Überschätzung der Mitte nähert Haucke sich an, wenn seine Substanzialisierung der Mitte ihn dazu verführt, den für die harmonische Äquipotentialität konstitutiven Antagonismus zwischen Mitte und Peripherie in den „Verkörperungen der Mitte“ in den Organen aufzulösen: „Erst diese Äquipotenzialität, durch die sich alle körperlichen Teile auf eine substanzielle Mitte beziehen und damit nicht nur durch die Mitte vertreten, sondern selbst Verkörperungen der Mitte sind, erst diese Form von Einheit lässt den physischen Wirkzusammenhang lebendig werden.“ (Haucke 2000: 75) Der Antagonismus wird hier nicht nur einer linearisierenden Glättung unterzogen, sondern gemäß einer Logik der Manifestation zum Verschwinden gebracht.  „Denn es handelt sich ja nicht um ein anhängendes Können, um Können oder Nichtkönnen eines in sich außerdem schon Bestehenden, sondern um die Kannqualität als solche.“ (SOM: 172)  Andere Beispiele, gerade aus der Stammzellforschung, ließen sich hier auch diskutieren, doch damit würde der Fokus auf die Organe, welche eine zentrale Rolle spielen in der harmonischen Äquipotentialität, aufgegeben und ein allzu weites Feld betreten werden, das nur mit Zeit und Mühen bestellt werden kann, die hier nicht aufgebracht werden können.

4.10 Die Organisation des Lebendigen

287

widerspiegelt – eine Formulierung, die suggeriert, dass Teile der Körpermaschine schlicht durch andere Teile ersetzt würden und problemlos ersetzbar wären. Die prinzipielle, wenngleich keineswegs unproblematische und nur in einem äußerst geringen Zeitfenster gegebene Konservierbarkeit eines vom Körper losgelösten Organs zeugt von dessen Spezialisiertheit und ermöglicht es, vom Leben des Organs selbst als eines Organismus im Organismus zu reden, der anders keine noch so kurze Zeitspanne außerhalb eines ihn tragenden Körpers „überleben“ könnte. Die grundsätzliche Fähigkeit, ein transplantiertes und somit fremdes Organ „einzuverleiben“ und zu einem eigenen zu machen, bestätigt die harmonische Äquipotentialität des lebendigen Körpers im Prinzipiellen, da ansonsten ein Körper transplantierte Organe grundsätzlich nicht integrieren können dürfte. Mehr noch: Sie lässt sich ohne die harmonische Äquipotentialität und die Potenz des Ganzen, „vermittelt in seinen Teilen aktuell vorhanden“³⁵⁸ zu sein, nicht verstehen. Sie lässt sich auch nicht aus der Restitutionslogik Drieschs verstehen, da hier keine Funktionsübernahme im eigentlichen Sinne stattfindet, denn eine solche würde beispielsweise erfordern, dass das Herz die Funktion der Niere übernehmen könnte (was aufgrund der Spezialisiertheit der Organe unmöglich ist), sondern vielmehr eine fremde Niere vom Körper einverleibt, angeeignet und zu einem Organ desselben gemacht wird. Die harmonische Äquipotentialität bildet also eine Restitution, Adaptation und Organintegration übergreifende und den Antagonismus von Subjekt und Objekt des Habens vermittelnde Eigenschaft des Lebens, die „in ihrer Potentialqualität der erschaubaren, nicht der darstellbaren Seinsschicht des Körpers angehört“³⁵⁹ und die als solche in den Bereich der Ontologie bzw. „Kategorialanalyse“ des Lebendigen fällt. Restitution, Adaptation und Organintegration konvergieren in der harmonischen Äquipotentialität als ihrer spezifischen Ermöglichungsbedingung. Das ontisch Bedingte, z. B. die Adaptation, setzt ontologisch harmonische Äquipotentialität voraus, die selbst wiederum ontologisch die Vereinigung zwischen Mitte (Subjekt des Habens) und Organen (Objekt des Habens) ermöglicht und durch die Mitte als das ontologisch fundamentale Organon der Grenzrealisierung bestimmt ist. Anders gesagt: Harmonische Äquipotentialität bildet die ontologische Spezifikation der ontologisch basalen antagonistischen Selbstvermittlung sowie die ontologische Bedingung der Möglichkeit, den Antagonismus in der Vertretung teilweise im Dienste der Einheitsbildung zu zähmen. Auch für sie gilt daher, was Plessner über die Grenzrealisierung durch die Mitte sagt: „Wesensnotwendig für das Leben heißt, für es möglichkeitsbedingend

 Ebd.: 168.  Ebd.: 163.

288

4 Plessners Transformation der Ontologie

zu sein.“³⁶⁰ Umgekehrt fungiert die harmonische Äquipotentialität gerade in „ihrem allmählichen Zurücktreten hinter die reale Spezialisierung im Lauf der normalen Entwicklung […] als Möglichkeitsbedingung des Lebens“;³⁶¹ dieses Zurücktreten, das Plessner als „einsichtige[n] Wesenssachverhalt“³⁶² bezeichnet, bilde das Altern. Die harmonische Äquipotentialität bildet also in gegenläufiger Sicht eine doppelte ontologische Ermöglichungsbedingung: in der Zustandebringung der organischen Selbstvermittlung und im (graduellen) Zurücktreten im Alterungsprozess, wodurch die organische Selbstvermittlung gerade zunehmend fragiler wird und das Lebewesen auf der ontischen Ebene Kapazitäten der Selbstregulation verliert. Die harmonische Äquipotentialität ist bisher rein immanent betrachtet worden. In der Gleichsinnigkeit und Gegensinnigkeit zum Positionsfeld, von welcher in dem angeführten Zitat die Rede ist, differenziert sich mit dem Verhältnis von Organismus und Positionsfeld auch die antagonistische Selbstvermittlung des Lebewesens positionalen Charakters aus. Plessner bestimmt die Gleichsinnigkeit dadurch, dass der Organismus in ihr einen Inhalt im Feld bilde, d. h. „sich in Allem in die durchgehende Kette von Ursachen und Wirkungen“³⁶³ eingliedernd, „in umkehrbar gegensinnigen (physikalisch-chemischen) Beziehungen“³⁶⁴ zu ihm steht, wohingegen die Gegensinnigkeit darin bestehe, dass er, „dem Feld zugeordnet, [..] in nichtumkehrbar gegensinnigen Beziehungen von Reiz und Reaktion, Beziehungen des Zueinanderpassens, aufeinander Einspielens, individueller Entsprechung, spezifizierter Harmonie“³⁶⁵ stehe.

4.10.4 „Immanente Teleologie“ und „Entelechie als Seinsmodus“. Eine resümierende Betrachtung An der harmonischen Äquipotentialität lässt sich die Transformation der Ontologie, die Plessner vornimmt, besonders genau ablesen, weil sie nicht nur eine zentrale ontologische Kategorie in der Analyse des Lebendigen bildet, sondern darüber hinaus den Kristallisationspunkt dessen, was Plessner „immanente Teleologie“ und „Entelechie als Seinsmodus“ in Abgrenzung von aller metaphysischen Teleologie und Drieschs „Entelechie als Naturfaktor“ nennt. „Immanente

     

Ebd.: 122. Ebd.: 169. Ebd. Ebd.: 204. Ebd. Ebd.

4.10 Die Organisation des Lebendigen

289

Teleologie“ ist schlicht eine teleologische Ausbuchstabierung der Selbstvermittlung des Lebewesens zu einer Ganzheit und der harmonischen Äquipotentitalität. Beide Begriffe besagen genau das, was Plessner der „immanenten Teleologie“ als Leistung konzediert, nämlich dass sie „die Einheit der Glieder im Ganzen des organischen Körpers manifestiert“.³⁶⁶ Die dreifache Einheit des Organismus, wie sie hier entfaltet worden ist, bildet die Antwort auf Plessners Frage, wie es dem Organismus möglich sei, „ein Mittel seiner selbst zu sein, ohne damit seine immanente teleologische Selbstgenugsamkeit preiszugeben?“³⁶⁷ Der Begriff der teleologischen Selbstgenügsamkeit steht somit in einem gleichermaßen ironischen wie subversiven Verhältnis zum klassischen Begriff der Teleologie, deren begriffliches Gravitationszentrum der Begriff der Entelechie bildet, demzufolge ein als ούσία aufgefasstes είδος sich in einer Zielgestalt verwirklicht bzw. erfüllt. Die Gegenwart des lebendigen Seins ist in dieser Auffassung eingespannt zwischen eine Vorstufe und eine Zielgestalt, die kosmologisch oder theologisch über das Lebewesen hinausweist. In der ένέργεια bei Aristoteles und im Urbild bei Edith Stein findet die klassische Teleologie den Einheitspunkt des Lebewesens als Lebewesen (anders steht es z. B. um den Kern der Person, welchen bei Stein der Geist bildet) gerade außerhalb des Lebewesens bzw. – um die verräumlichende Redeweise zu vermeiden – nicht innerhalb des Lebewesens selbst, nämlich im kosmologisch-metaphysischen (Aristoteles) oder theologischen Wesen des Lebens (Stein). Mit der „teleologischen Selbstgenügsamkeit“ und der „Entelechie als Seinsmodus“ gibt Plessner diese spezifische ontologische Struktur der metaphysischen Entelechie aber gerade preis; diese metaphysische Struktur steht noch im Hintergrund von Plessners späterer Ablehnung der Teleologie, die in seinem 1965 verfassten Nachtrag zu den Stufen in der Formulierung zum Ausdruck gelangt, eine Philosophie des Lebendigen habe sich „bei sorgfältiger Ausschaltung jeder Art von teleologischer Deutung […] auf die Analyse der Möglichkeitsbedingungen“³⁶⁸ des faktisch existierenden Lebendigen zu beschränken, ohne sich Spekulationen über extraterrestrische Formen von Lebendigkeit hinzugeben. Größere Verstehensprobleme als der Begriff der „immanenten Teleologie“ bereitet der Begriff der „Entelechie als Seinsmodus“, denn der logischen Struktur des Begriffs Entelechie (εντελέχεια)³⁶⁹ scheint unauslöschlich eine finalistische

 Ebd.: 177.  Ebd.: 189 f. – Vgl. dazu den Begriff „Mittel des Habens“ in Kapitel 4.10.1.  Ebd.: 354.  Hier noch einmal die bereits andernorts angeführte Stelle Pichts: „Das είδος ist nach Aristoteles nicht etwas Übersinnliches außerhalb des Wirklichen, sondern es ist im Wirklichen selbst als das Ziel, dem dieses zustrebt, enthalten. ,Ziel‘ heißt auf griechisch τέλος, ,enthalten‘ heißt

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4 Plessners Transformation der Ontologie

und deterministische Bedeutung eingeschrieben zu sein, der gemäß in der klassischen Ontologie Verwirklichung stets die Verwirklichung einer vorherbestimmten Möglichkeit bzw. Aktualisierung einer Potenz bedeutet. Die „Entelechie als Seinsmodus“ wäre eine Entelechie dem Namen nach, die sachlich etwas meint, was ihren Namen aber gerade nicht mehr tragen kann, und insofern terminologisch irreführend. Ein Seinsmodus ist die Entelechie im Plessner’schen Sinne, weil das τέλος nicht schlicht zum Verschwinden gebracht oder weggekürzt wird, sondern weil hier eine Transformation der metaphysisch-teleologischen Struktur im doppelten Sinne stattfindet; (1) In der harmonischen Äquipotentialität wird das Lebewesen sich selbst zum τέλος und die Teleologie wird insofern reflexiv, als die Mitte in ihrer Selbstvertretung in den Teilen (Organen) einheitsbildend wirkt. Weil an die Stelle des τέλος als Zielgestalt die Selbstvermittlung des Lebewesens zur Ganzheit tritt, agiert das Lebewesen selbst innerhalb der seiner Lebendigkeit selbst inhärierenden Grenzen. Die „Entelechie als Seinsmodus“ erweist sich in der harmonischen Äquipotentialität gleichermaßen als immanent und reflexiv teleologisch. (2) In der „Entelechie als Seinsmodus“ findet eine Transformation der exemplarisch in der Urbild-Abbild-Relation fassbaren klassisch-ontologischen Struktur in eine der Lebendigkeit des Lebewesens immanenten Offenheit statt, die Plessner als Zukunftsfundiertheit fasst. Die Selbstvermittlung behält die zeitliche Zukunftsgerichtetheit der Entelechie bei,³⁷⁰ transformiert aber die noch nicht seiende, aber in potentia bereits in der Gegenwart enthaltene Zukunft in die Zukunftsfundiertheit des lebendigen Seins.³⁷¹ Die Zukunftsfundiertheit unterscheidet Plessner explizit von der Zukunftsbezogenheit, in welcher die Zukunft noch als etwas vom Lebendigen Unterschiedenes aufgefasst wird, zu dem es als einem von ihm Unterschiedenen in einer äußer-

εχειν. Deshalb hat Aristoteles die Weise, wie das Wirkliche die Idee in sich enthält, als έν-τελ-έχεια bezeichnet.“ (Picht 1992: 40)  Von einer „Zukunftsgerichtetheit“ statt von einer „zeitlichen Struktur“ ist hier zu reden, weil die zeitliche Struktur der Entelechie im Ganzen genommen auch die Aktualität der Potenzialität enthält, die rekursiv zum unbewegten Beweger oder zum actus purus führt. Bei Plessner hingegen führt die Aktualität der Potenzialität zum Begriff der Mitte statt über den Bereich der Lebenserscheinungen hinauszuführen.  „Lebendiges Sein beharrt im Werden, indem es ihm selbst vorweg ist. Es ist gegenwärtig, insofern es kommt, die Basis seiner Fundierung in der Zukunft liegt, aus der Zukunft her, ,im Vorgriff lebt.“ (SOM: 279)

4.10 Die Organisation des Lebendigen

291

lichen Relation steht.³⁷² Das lebendige Sein ist zukunftsfundiert, aber nicht zukunftsdeterminiert, sondern es ist als zukunftsfundiertes Sein potenzielles Sein: „Bedingt die Erfüllung des Bezugs zum Modus der Zukunft die Erfüllung des Bezugs zum Modus der Gegenwart, so ist eine reale Möglichkeit gegeben: unter dieser Bedingung einer Zukunftsfundierung steht potentielles Sein.“³⁷³ Die reale Möglichkeit wird hier von Plessner kontraintuitiv bestimmt, da der landläufigen Intention nach die reale Möglichkeit entweder von der souveränen Substanzialität eines über Möglichkeiten verfügenden Wesens oder von der die Gegenwart von der Vergangenheit her bestimmenden Aktualität her gedacht wird, welcher die reale Möglichkeit ihr fundamentum in re verdankt. Die reale Möglichkeit des lebendigen (= potentiellen) Seins gründet jedoch nicht in seinem Gewordensein und darin erworbenen Vermögen (Potenzen), sondern in der Zeithaftigkeit seines Potenz-Seins, das als solches zukunftsfundiert ist. Hier schließt sich ein Kreis, und Plessners Bestimmung der Mitte als Potenz muss hier wiederaufgenommen werden: „Die Inexistenz der Mitte (des realen Kerns, des Subjekts des Habens) ist also allein als die wirkliche Möglichkeit des Körpers oder sein Vermögen (Potenz) real.“³⁷⁴ Diese Bestimmung ist allerdings unter dem Aspekt der Zeithaftigkeit des lebendigen Seins wieder aufzunehmen, unter welchem das Lebendige seine Spezifikation als seiende Möglichkeit erfährt.

4.10.5 Zeithaftigkeit und Vorwegsein An einer Stelle in den Stufen verbindet Plessner die harmonische Äquipotentialität direkt mit der Zeithaftigkeit des lebendigen Seins, ohne dass ihm diese Funktion von Plessner an der betreffenden Stelle zugedacht gewesen wäre: „Sein im Modus der Potenz hat eben noch jene spezifische Schwere und Fülle, die in Potentialität als reinem Nochnichtsein nicht zum Ausdruck kommt. Kannqualität als Seinsqualität, seiende Möglichkeit gilt es zu begreifen.“³⁷⁵ (Hervorhebung, S. E.] „Kannqualität als Seinsqualität“ wird in der harmonischen Äquipotentialität und der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Mitte und Peripherie begriffen, doch die Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit wird nicht primär unter dem

 „Lebendiges Sein ist zukunfsfundiert, nicht auf Zukunft bezogen. Aber in seiner Zukunftsfundiertheit ein Werden, ein Etwas Werden, eine Entwicklung durchlebend geht das Individuum seinem Tode entgegen.“ (Ebd: 212)  Ebd.: 177.  Ebd.: 162.  Ebd.: 172.

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4 Plessners Transformation der Ontologie

Aspekt der Zeithaftigkeit als einer Wesensgesetzlichkeit des Lebens, sondern – gemäß der Hervorbringung und Erhaltung von Einheit als dem Ziel der Selbstvermittlung – unter dem Aspekt der Simultaneität³⁷⁶ in der Vertretung erfasst: „Indem in jedem Element des lebendigen Raumdinges und zugleich [Hervorhebung, S. E.] gegenüber jedem Element die Einheit als Vermögen vertreten ist, sind die Elemente äquipotentiell und bilden als Insgesamt ein harmonisch äquipotentielles System.“³⁷⁷ Die Vertretung der „Einheit als Vermögen“ „in“ und „gegenüber“ jedem Element des lebendigen Dinges zugleich scheint Plessners Grundbestimmung des Lebens als in der Gestalt des Lebensvollzugs stattfindender „Übergang […] von unentfalteten Potenzen zu Aktualitäten“³⁷⁸ wie mit einem Zauberschlag sich zu entwinden. Dafür scheint zu sprechen, dass das Lebewesen Plessner zufolge sich ontologisch dadurch auszeichnet, dass es „die Bedingungen des Übergangs in das Sein an ihm hat“.³⁷⁹ Es hat diese Bedingungen nicht in purer Beliebigkeit, sondern es hat sie als Mitte, die Plessner auch als „Subjekt des Habens“³⁸⁰ bestimmt. Wäre die Mitte der alleinige Bestimmungsgrund der Selbstvermittlung des Lebendigen, so würden der Organismus im Ganzen und die Organe ihrer Allmacht unterstehen, doch die Vertretung der Mitte in den Organen schwebt nicht im luftleeren Raum einer dem Übergang von Potenzen zu Aktualitäten entzogenen Einheit, sondern untersteht ebenfalls dem Gesetz der Selektion. Die Definition des Lebens als Übergang von unentfalteten Potenzen zu Aktualitäten findet ihren Ort in der Bestimmung der Selektion, derentwegen die Entfaltung von Potenzen gerade eine „Einengung von Möglichkeiten“³⁸¹ darstelle.

 Plessner expliziert die Vertretung auch mittels des Repräsentationsbegriffs: „Zum Tatbestand der Vertretung gehören Zwei, der Vertretene, das Objekt der Repräsentation, und der Vertreter, das Subjekt. Im vorliegenden Fall soll der physische Körper, wie er da ist, in ihm selber diese Verdoppelung durchmachen. Objekt und Subjekt der Repräsentation wirklich in Einem sein. Er muß Eigenschaften zeigen, die keine andere Auffassung als diese der Selbstvertretung zulassen. Die Untersuchung hat dargetan, wie zunächst die Verdoppelung überhaupt in der Form des Subjektes, welches seinen physischen Körper ,hat‘, durchgeführt wird.“ (ebd.: 167) – Subjekt und Objekt „in Einem“ ist das Lebewesen, indem es beides zugleich ist. Diese Formulierung verführt dazu, eine temporäre Identität beider anzunehmen, doch vielmehr basiert die grundsätzliche Identität auf der Möglichkeit der temporären und in sich fragilen Repräsentation; Identität im starken Sinne würde eine absolute Repräsentation, also eine Vollmacht des Vertreters über das Vertretene voraussetzen.  Ebd: 162.  Ebd.: 215.  Ebd.: 172.  „Die raumhafte Mitte, der Kern bedeutet das Subjekt des Habens oder das Selbst.“ (ebd.: 237) Vgl. auch ebd.: 160 f., 187 und – in spezifischem Zuschnitt auf den Menschen – 243.  Ebd.: 215.

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293

Die andere Seite der Bestimmung des Lebens lautet daher: „Leben ist Selektion“,³⁸² und in der Selektion, also dem Zugleich der irreversiblen Realisierung von Potenzen, deren Rückseite die irreversible Auslassung anderer Möglichkeiten bildet, vollzieht sich das Leben. In der Selektion macht Plessner einen Widerspruch zur Potenzialität aus, da Selektion den Spielraum von Potenzialität einschränke: „Die Abnahme der Chance mit steigendem Alter, Potenzen noch zur Entfaltung zu bringen, steht in Widerspruch zu der (im konstanten Verhältnis von Ganzem und Teil begründeten) konstanten Potentialität des Individuums.“³⁸³ Auch die mit dem Alterungsprozess einhergehende Verringerung der Vertretungsmöglichkeiten des Ganzen in den Teilen, d. h. die Abnahme der Restitutions- und Adaptionsmöglichkeiten, welche gerade durch die harmonische Äquipotentialität begründet werden, scheint im Widerspruch zur „konstanten Potentialität des Individuums“ zu stehen. Was hier zueinander ins Verhältnis tritt, sind das Ontische des Alterungsprozesses und die ontologische Bestimmung des Lebens als seiende Möglichkeit, denn die „Kannqualität als Seinsqualität“ verschwindet nicht in den Selektionen, die durch sie ermöglicht werden.³⁸⁴ Die Selektion schafft eine Realität in Form einer Gegenwart, die damit aufgehört hat, zukünftige Gegenwart zu sein. Weil die Zukunftsfundiertheit aber nicht auf Zukunft bezogen ist, tritt die Gegenwart gewordene Zukunft zu derselben in kein ironisches Verhältnis. Auch hier gilt wieder: der ontische Sachverhalt der Selektion³⁸⁵ als Einrückung von zukünftigen Möglichkeiten in eine entstehende und gestaltete Gegenwart ficht den ontologischen Sachverhalt der Zukunftsfundiertheit nicht an. Die Bestimmung des Lebens als Übergang von unentfalteten Potenzen zu Aktualitäten kann also für eine Bestimmung der Lebendigkeitsstruktur des Lebewesens nicht hinreichen. Solange man das Leben bloß als einen solchen Übergang fasst, tritt es in ein unauflösliches Spannungsverhältnis zur harmonischen Äquipotentialität und der in ihr stattfindenden Vertretung des Ganzen in seinen Teilen. Plessner sieht deutlich, dass die harmonische Äquipotentialität und die in der Zeit sich entfaltende Potenzialität lebendigen Seins eines Konvergenzpunkts bedürfen, was in der von ihm mit Blick auf die Vertretung der Mitte in den Organen gestellte und als notwendig zu beantwortenden Frage sich zeigt, „ob die anklingende Differenz im Zeitbezug der Wirkungsgemeinschaft der Organe und des

 Ebd.  Ebd.  Erst in einem Zustand, in dem Leben nicht gelebt, sondern nur noch künstlich erhalten wird, tritt an die Stelle des Nochnichtseins, das als solches auch ein Nichtsein sei („Sein in purer Kannqualität ist Nochnichtsein, ein Nichtsein, das die Bedingungen des Übergangs in das Sein an ihm hat.“, Ebd.: 172), das bloße Nicht(mehr)sein von Kannqualität.  Vgl. hierzu auch Exkurs 4.7.

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in ihnen manifesten Plans auf eine besondere Stellung des lebendigen Seins zur Zeit hinweist“.³⁸⁶ Was zur Lösung des Problems nötig sei, ist keine Philosophie der Zeit und kein Denken von Zeitlichkeit, sondern die Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem lebendigen Sein als seiender Möglichkeit und der seienden Wirklichkeit des Körpers: „Man kommt nicht darum herum, lebendiges Sein als seiende Möglichkeit und in seiner Beziehung zur seienden Wirklichkeit des vorhandenen greifbaren Körpers näher zu bestimmen.“³⁸⁷ Statt die zeitliche Entfaltung von Potenzen, die in Akte übergehen, ins Auge zu fassen, gilt es dann, die zeithafte Entfaltung ³⁸⁸ des lebendigen Seins als seiende Möglichkeit im Verhältnis zur Aktualität bzw. Wirklichkeit als korrelativem Konstitutionsmodus zu thematisieren. Plessner zufolge ist der Organismus „zeithaft aus seinem eigenen Wesen heraus“.³⁸⁹ Zeithaft „aus seinem eigenen Wesen heraus“ ist der lebendige Körper nicht, weil die Grenzrealisierung Zeithaftigkeit hervorbrächte, denn dann wäre die Mitte der Grund der Zeithaftigkeit, welche die Mitte jedoch als Moment der Selbstvermittlung des Organismus zu einer Ganzheit wiederum betrifft. Die Mitte steht also nicht als kausale Instanz außerhalb der Zeithaftigkeit, ist aber als in sich aktives Moment der Zeithaftigkeit und als „Subjekt des Habens“ nicht lediglich ein Tropfen im Strom der Zeithaftigkeit. Die bereits angesprochene antagonistische „Selbstvermittlung der Einheit des belebten Körpers durch ihre Teile“³⁹⁰ ist die zeitliche Entfaltung des Lebendigen als eines in sich Zeithaften, dem als solchem Zeitmodi (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) nicht einfach nur wesenhaft zukommen, sondern ihn gleichsam als Formideen der Zeitlichkeit real konstituieren. Die Antwort auf die Frage, wie die Mitte selbst ein Moment der Zeithaftigkeit im doppelten Sinne des Genitivs –Zeithaftigkeit Konstituierendes / von Zeithaftigkeit Konstituiertes – darstellen kann, findet sich daher im Begriff des Vorwegseins.

 Ebd. – Bei Plessner kann von seiner Konzeption der harmonischen Äquipotentialität her die bei Driesch als naturphilosophische Kategorie nicht existierende Zeithaftigkeit als fundamentales und erklärungsbedürftiges Problem des lebendigen Seins in den Blick genommen werden, und dies auch, weil der Unterschied zwischen dem Lebendigen und dem Nicht-Lebendigen bereits in der (bei Driesch ebenfalls nicht vorhandenen) Konzeption der Grenzrealisierung gefasst worden ist.  Ebd.: 173.  Weil die Zeithaftigkeit weder beobachtbar noch darstellbar, aber dennoch den Organismus in der Anschauung differentiell, d. h. im Unterschied zu Nicht-Lebendigem als lebendigen konstituiert, ist die Einheit des lebendigen Körpers erschaubare Ganzheit und nicht darstellbare Gestalt. Zeithaftigkeit und Erschaubarkeit bilden genauso wie eine Zeitlichkeit (der manifesten physischen Entfaltung) und Darstellbarkeit eine Einheit, wenngleich eine gegensätzliche.  Ebd.: 177. – Diese Stelle hat in der Plessner-Forschung offenbar wenig Beachtung gefunden. Explizit zitiert gefunden hat der Autor dieser Studie sie lediglich bei Meyer-Hansen 2013: 184.  SOM: 185

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Der Begriff des Vorwegseins spielt in den Stufen eine Doppelrolle: mit ihm wird zum einen der Prozessbegriff von seiner verengten, bloß physikalischen Auffassung befreit und Prozesshaftigkeit als immanente Entwicklung von Lebewesen als solchen expliziert,³⁹¹ zum anderen wird der Potenzbegriff durch das Vorwegsein bestimmt. In der Bestimmung von Prozessualität nimmt Plessner die Begriffe der Formidee und der Zweckursache in einer gegen Driesch und die Metaphysik gewandten Variante auf. Wenn Plessner sagt, dass der Körper „im Prozeß begriffen, […] ,sich‘ zum Resultat“³⁹² habe, wird in einer scheinbar klassisch teleologischen Form lediglich die Selbstbezüglichkeit der Vermittlung des Körpers zur Einheit gefasst, die nur von ihm selbst geleistet werden kann aufgrund des Fehlens äußerer, in diese Vermittlung eingreifender Faktoren.³⁹³ Was dem Prozess als Ziel vorweg sei, nennt Plessner die „Formidee“,³⁹⁴ die er als „Wesenszugehörigkeit des Vorwegseienden zu dem Ding, dem es vorweg ist“,³⁹⁵ bezeichnet. Die Formidee fasst Plessner also nicht als im physikalischen Sinne Ursache sein könnende Ursache auf, weshalb er ihr die „Charaktere der Zweckursache“ zuschreibt: „Die Formidee als das dem im Prozeß begriffenen Dinge Vorwegseiende nimmt notwendig die Charaktere der Zweckursache an, als deren motivierte Wirkung die Entwicklung des Dinges zutage tritt.“³⁹⁶ Die „Charaktere der Zweckursache“ unterscheiden sich von der Zweckursache selbst durch ihren Als-ob-Charakter; nicht die klassische Metaphysik steht hier Pate, sondern Kants „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“, deren Anverwandlung in der Bestimmung der bloß erschaubaren Ganzheit Plessner phänomenologisch nicht weniger geprägt haben dürfte als die Phänomenologie selber. Doch wesentlicher als der KantBezug ist an dieser Stelle, dass die Bestimmung des Sich-Vorwegseins des Lebewesens, das seiende Möglichkeit ist,vom Vorweg als Moment des Lebensprozesses in einer entscheidenden Hinsicht sich unterscheidet: Wo Plessner Prozess und Entwicklung definiert, bleiben seine Bestimmungen irreflexiv: das Ding ist im Werden „dem Prozeß als Ziel vorweg“, ³⁹⁷ die Formidee hingegen ist „dem Ding selber vorweg“,³⁹⁸ und Plessner spricht, wie gezeigt, von der „Wesenszugehörig-

 Vgl. ebd.: 141– 145.  Ebd.: 140.  „Dieser Prozeß hat sein Gefälle lediglich aus ihm selber, d. h. aus den Bedingungen, denen er selbst sein Dasein dankt. Er bedarf keines ihn von außen lenkenden Faktors, sondern er lenkt sich selbst.“ (ebd.: 142)  Vgl. ebd.  Ebd.  Ebd.: 143.  Ebd.: 141.  Ebd.

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keit des Vorwegseienden zu dem Ding, dem es vorweg ist“,³⁹⁹ obwohl das Lebewesen – und hier wird die Bestimmung reflexiv – „sich zum Resultat“⁴⁰⁰ [Hervorhebung, S. E.] habe. Es hat nicht „sich“ zum Resultat in Gestalt einer noch nicht wirklichen, aber vorherbestimmten und nur noch zur Wirklichkeit zu bringenden Zielgestalt, sondern es hat sich im Sinne der bestimmten, aber nicht determinierten Offenheit zum Resultat, nämlich als unbestimmt-bestimmter Fluchtpunkt der hier explizierten Selbstverhältnisstruktur. Bei dieser Divergenz der Bestimmungen handelt es sich um keinen Widerspruch, sondern um das Verhältnis von allgemeiner (Wesenszugehörigkeit zum im Prozess begriffenen Ding als solchem) und spezifischer Bestimmung des Lebendigen. Die spezifische Bestimmung fasst das Vorwegsein nicht als Vorwegsein des lebendigen Dinges im Lebensprozess, sondern als Sichvorwegsein⁴⁰¹ des lebendigen Dinges in der Selbstvermittlung zur Ganzheit. Die Bestimmung des Vorwegseins des Lebewesens, das Plessner als Potenz bestimmt, wird entlang des Verhältnisses von Potenz (Möglichkeit) und Akt (Wirklichkeit) formuliert, in denen die Zeithaftigkeit ihre materiale Bestimmung erfährt, weil das, was „aus seinem eigenen Wesen heraus“⁴⁰² zeithaft ist und seine grundlegendste Wesensbestimmung als Lebendiges in der Grenzrealisierung findet, nicht in ein bloß zeitliches Verhältnis von Jetzt und Nochnicht gestellt sein kann. Die Bestimmung der seienden Möglichkeit entlang des Verhältnisses von Potenz und Akt müsse dabei unter dem forschungsleitenden Aspekt der Zukunftsfundiertheit vollzogen werden: „Es wird nämlich der Charakter der Potenz nicht getroffen, solange man nicht imstande ist, sie als ein vom Nochnicht abhängiges Jetzt zu erfassen.“⁴⁰³ „Jetzt“ und „Nochnicht“ bilden Plessner zufolge „erfüllte Modi“ der seienden Möglichkeit: „Seiende Möglichkeit, reale Potenz, ist auf jeden Fall, steht also im Modus des Jetzt. Der Bezug zum Modus Jetzt ist erfüllt. Möglichkeit bedeutet ein sein Können, steht also im Modus Nochnicht. Der Bezug zum Modus Nochnicht ist ebenfalls erfüllt.“⁴⁰⁴ Für die Aktualität gilt hier, dass sie „nicht mehr im unversöhnlichen Gegensatz zur Potentialität gedacht werden

 Ebd.: 142.  Ebd.: 140.  Obwohl Plessner nur den Begriff des „Vorwegseins“ in der nominalisierten Version verwendet, wird hier, um Plessners oben angeführte Unterscheidung zwischen Prozess und Entwicklung konsequent durchzuhalten und durchzuführen, im Folgenden vom Sich-Vorwegsein bzw. später vom Sich-Vorwegsein- zu die Rede sein.  Ebd.: 177.  Ebd.: 174  Ebd.: 176.

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muss, sondern Potentialität zur Voraussetzung hat: erfüllte Potentialität.“⁴⁰⁵ Aufgrund der erfüllten Potenzialität ist das Nochnicht mehr als die Bezeichnung einer Zeitdifferenz zwischen Vorstufe und Zielgestalt. Das „Nochnicht“ ist im doppelten Sinne zu verstehen: Es ist ein erstens Modus der seienden Möglichkeit insbesondere in dem Sinne eines selbst Erfüllbaren, eines Nichtseins also, das vom Lebewesen aus ihm selbst heraus in Sein übergeführt werden kann: „Möglichsein ist ein Nichtsein, das – wie es oben hieß – die Bedingungen des Übergangs an ihm selbst hat.“⁴⁰⁶ Diese empirische Erfüllbarkeit von Potenzen setzt die erfüllte Potenzialität der seienden Möglichkeit voraus. Es ist zweitens eine modale Bestimmung des Vorwegverhältnisses, das die Gegenwart der seienden Möglichkeit zu einer zukunftsfundierten macht und den Richtungssinn von der Gegenwart zur Zukunft hin umkehrt: „Möglichkeit faßt also eine Richtungseinheit, die gegen die Bestimmtheitsrichtung des Seienden in der Zeit Vergangenheit Gegenwart Zukunft gekehrt ist. Im Können des Seins wird letztlich nichts anderes als ein Vorwegverhältnis statuiert, in welchem die Abhängigkeitsrichtung von der Zukunft zur Gegenwart läuft.“⁴⁰⁷ Dieses zeithafte Vorwegverhältnis bestimmt Plessner auch als ein „reales Bedingungsverhältnis“, das „in die Zeit“ komme: „Es kommt ein reales Bedingungsverhältnis in die Zeit, wobei das Bedingende nicht das zeitlich Vorhergegangene ist, da sonst ihre Ordnung der Abhängigkeit umgedreht werden würde.“⁴⁰⁸ Die Zeithaftigkeit bildet somit den ontologischen Bestimmungsgrund nicht nur des Seins in der Zeit, sondern auch der Zeitlichkeit. Auch Heidegger, in dessen Sein und Zeit Zeitlichkeit einen grundbegrifflichen Status innehat, kennt die Vorweg-Struktur, begründet sie aber von der Sorge her, insbesondere der Sorge um sich, die er als „Sein zum eigensten Sein können“ fasst: „Das Sein zum eigensten Sein können besagt aber ontologisch: das Dasein ist ihm selbst in seinem Sein je schon vorweg.“⁴⁰⁹ Das von Plessner in der „Zeithaftigkeit“ des lebendigen Seins gefasste Vorwegsein des Lebendigen als eines Lebendigen dagegen ist auf keinen besseren Begriff zu bringen als den der „Entelechie als Seinsmodus“; von dieser Entelechie her wird das Vorweg gemäß der dem lebendigen Sein selbst  Ebd.:180. – Die gewaltigste Form der Unversöhnlichkeit, auf die Plessner hier anspielt, findet sich in der mittelalterlichen Ontologie, an die Edith Stein affirmativ anschließt, in der Unterscheidung zwischen Gott als dem reinen Akt und allem übrigen, in verschiedenen Graden der Potenzialität unterworfenen Wesen. Aber auch schon bei Aristoteles wird die Aktualität in Form der Entelechie von der Potenzialität als ihrer bloßen Vorstufe abgeschnitten.  Ebd.  Ebd. – Die ontologische Differenz Heideggers wird hier übrigens naturphilosophisch vorweggenommen, weil das Sein, von dem Plessner spricht, das Sein des lebendigen Dinges ist, das als Ding Seiendes ist, dem es aber als Lebendigem in diesem Sein um dieses selbst geht.  Ebd.  SuZ: 191.

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immanenten Zweckhaftigkeit aufgefasst, statt von einem äußeren oder zeitlich vorgelagerten manifesten Zweck her aufgefasst zu werden.

4.10.6 Die Zeithaftigkeit von der Akt-Potenz-Relation her gelesen Das Vorwegverhältnis, welches die Zeithaftigkeit wesentlich bestimmt, lässt sich, so soll hier über Plessners Entfaltung der Zeithaftigkeit hinausgehend behauptet werden, genauer und feingliedriger bestimmen als Plessner dies getan hat, indem das Vorwegsein von Akt (Wirklichkeit) und Potenz (Möglichkeit) als ontologischen Strukturmomenten her ausbuchstabiert wird. Die seiende Möglichkeit wird dann nämlich fokussierbar als Potenz, die in sich dem Vorrang der Potenz vor dem Akt, der sie gleichwohl als Kehrseite der Potenz mitkonstituiert, manifestiert. Als Konstitutionsmomente sind Akt und Potenz⁴¹⁰ nicht identitär bestimmbar, sondern jeweils das Andere ihrer selbst; sie in ihrer positiven Bestimmung zugleich als das negative Moment ihrer jeweiligen Bestimmung aufzufassen, erfüllt Plessners Direktive, sie nicht gegeneinander aufzurechnen,⁴¹¹ sondern als Bestimmungen zu entfalten. Zunächst zur Erinnerung: Bei Stein sind Potenz(ialität) und Akt(ualität) Seinsmodi und als solche abbildliche Verwirklichungen eines göttlichen (urbildlichen) Seins, das reiner Akt und Schöpfer des in Potenz und Akt als Modi zerfallenden Seins ist. Die Unterscheidung von Akt und Potenz bildet daher ein ontologisches Strukturierungsprinzip:⁴¹² Gott als reiner Akt ist das erste Seiende, alles andere Sein zerfällt in Akt und Potenz. Vorstufe und Erfüllung sind die Namen der konkreten Zustände des Lebendigen, in denen die Modi von Akt und Potenz sich materialisieren. Ein Vorwegsein lässt sich unter diesen Prämissen nur als Erfüllung eines Ziels (τέλος) in einer Zielgestalt (έντελέχεια) im klassisch teleologischen Sinne fassen. Akt und Potenz gehen nicht als Momente in den of-

 Akt und Potenz werden im Folgenden der Kürze halber auch als Chiffern für Aktualität und Potenzialität verwendet.  „Auch dürfen in einer echten Synthesis die Bestimmungen der Potentialität und Aktualität nicht gegeneinander aufgerechnet werden, sondern müssen in voller Schwere des Sinnes erhalten bleiben.“ (ebd.: 172)  „So wie Aktualität und Potentialität hier gefaßt sind, sind es Seinsmodi: reine Aktualität der göttliche Seinsmodus, die geschöpflichen Seinsmodi, verschiedene abgestufte Mischungen von Aktualität und Potentialität (das besagt – äquivalent, nicht identisch – von Sein und Nichtsein); reine Potentialität ist der Seinsmodus der bloßen Materie, kommt daher, wie diese selbst, faktisch nicht vor.“ (PuA: 9)

4.10 Die Organisation des Lebendigen

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fenen⁴¹³ Selbstvermittlungsprozess eines Lebewesens ein, sondern sie sind stattdessen auf ein Vorweg im Sinne eines definiten, noch nicht realisierten Zustands bezogen, der als Verwirklichung eines vorherbestimmten und daher determinierten Zustands aufgefasst wird. In dieser Determination kommt eine Zukunftsbezogenheit zum Vorschein, die sowohl durch die Vergangenheit (aufgrund des Vorrangs des Akts und des Aktcharakters der Potenz) als durch ein Absolutes (ένέργεια, actus purus) bestimmt ist. Das Bestimmtsein durch die Vergangenheit kann wiederum einen doppelten Sinn haben: ontologisch als Bestimmtsein durch eine immanent depotenzierte Potenz, deren eigentlicher Charakter ein Akt-Charakter ist, wie Nicolai Hartmann Aristoteles vorhält;⁴¹⁴ physikalisch und im strikt zeitlichen Sinne, wenn die Potenz in eine Disposition übersetzt wird, von welcher her in der Zukunft stattfindendes gemäß Kausalitätsgesetzen idealiter errechnet und prognostiziert werden kann. Wie lassen sich nun demgegenüber Akt und Potenz als Bestimmungsmomente des zeithaft Lebendigen darlegen? Mit dem Vorwegsein wird implizit der Überschuss-Charakter des Lebendigen gegenüber seiner gegenwärtigen Zuständlichkeit freigelegt; ein Lebendiges kann sich nicht vorweg sein,wenn es nicht mehr ist als sein gegenwärtiges Sosein. Dieses Mehr-Sein stellt keine metaphysische Behauptung dar, sondern bildet eine formale Bedingung von Entwicklung, die in ihrer Materialisierung im Vorwegsein gefasst wird und nicht in einer „reinen Immanenz“ des Organismus verortet wird, da die Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit innerhalb eines ihn damit limitierenden, zugleich ihm aber auch Selbstvermittlungsmöglichkeiten bietenden Positionsfeldes stattfindet. Akt und Potenz lassen sich unter dem Vorrang der Potenz als gleichermaßen modale und konstitutive Bestimmungen dieses Vorwegseins fassen, wenn man sie so versteht, dass (1) Akt als Akt Potenz und Nicht-Akt ist, nämlich im Vorwegsein; dass (2) zugleich die im Modus des Vorwegseins existierende gegenwärtige Wirklichkeit als Aktualität zugleich Potenz (im konstitutiven Vorwegsein) und Nicht-Potenz (in ihrer Gegenwärtigkeit) ist; dass (3) Potenz als Potenz Akt und Nicht-Potenz ist (im Sinne der Nicht-Beliebigkeit von Potenz, in welcher der traditionelle Akt-Charakter des Seins als Moment erhalten bleibt); dass (4) zugleich Potenz Akt und Nicht-Akt ist, wodurch das Können allererst ein wirkliches Können ist, das als solches nicht zwangsläufig in einer bestimmten

 Offen heißt hier: offen zur Potenzialität, nicht aber unbeschränkt, als könnte ein Jedes alles werden.  Vgl. Kapitel 2.3.5.2.

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Gestalt realisiert sein muss. Diese Offenheit ermöglicht den Unterschied zwischen Selektion und vollständiger, bloß zu errechnender Determination. Dieser ontologische Doppelcharakter der Potenz ist es, der „jene spezifische Schwere und Fülle, die in Potentialität als reinem Nochnichtsein [Hervorhebung, S. E.] nicht zum Ausdruck kommt“,⁴¹⁵ bewahrt. Was in diesen Unterscheidungen zur Darstellung gebracht werden soll, ist keine arithmetische Symmetrie zweier gleichwertiger Variablen, sondern eine dialektische Dynamik lebendiger Entwicklung, innerhalb welcher Akt und Potenz nicht einfach nur die Rückseite voneinander, sondern jeweils das Andere ihrer selbst bilden, weil sie konstitutiv für ein lebendiges Ding sind, das sich entwickelt und als sich Entwickelndes in keinem seiner Momente zum Stillstand gelangen kann. Akt und Potenz sind in diesem Verständnis keine Zustände, die ineinander übergehen, sondern Momente eines durch seine Zustände hindurch sich selbst vermittelnden Lebewesens. Als solche Strukturmomente der Lebendigkeit konstituieren sie als nicht weiter auflösbare dialektisch-ontologische Struktur noch die Zustände, in denen Lebendiges sich befindet, ohne in ihnen aufzugehen, die es also durchlebt. Was in dieser Sichtweise aufgehoben wird, ist die disjunktive Fassung von δύναμις und ένέργεια, wie Nicolai Hartmann sie treffend darstellt: Das potentiell Seiende kann nicht zugleich aktuell sein, und das aktuell Seiende nicht potentiell; alles Seiende kann nur entweder den einen oder den anderen Seinszustand haben, aber nicht beide zugleich. Dynamis und Energeia stehen disjunktiv zueinander; sie schließen einander aus. Und da eine von beiden doch einem jeden Seienden zukommen muß, so bewirkt ihr Verhältnis, daß die ganze Welt des Realen in potentiell Seiendes und aktuell Seiendes gespalten dasteht.⁴¹⁶

An die Stelle der Spaltung tritt in der dialektisch-ontologischen Auffassung die wechselseitige Durchdringung von Durcheinander und Ineinander von Potenz und Akt. Die dialektische Verfasstheit ergibt sich aus der Zeithaftigkeit, während die Disjunktion auf der Innerzeitlichkeit von Zuständen basiert, die aufeinander und auseinander im kausalen Sinne folgen. Weil Lebendiges seiende Möglichkeit (Potenz) ist, ist es verkörperte Wirklichkeit der Möglichkeit. Die Möglichkeit der Wirklichkeit, die in der Ontologie des Organischen immer die Möglichkeit der seienden Möglichkeit meint, welche Plessners Bestimmung zufolge als „Vermögen (Potenz) real“⁴¹⁷ sei, beruht onto-

 SOM: 172.  Hartmann 1966a: 4.  Ebd: 162.

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logisch auf der Wirklichkeit der Möglichkeit, die gerade im Sich-Vorwegsein der seienden Möglichkeit „Wirklichkeitswert“ gewinnt. Die Wirklichkeit der Möglichkeit könnte nur dann auf der Möglichkeit der Wirklichkeit beruhen, wenn sie bloß eine Wirkung innerhalb einer kausal verstandenen Reihe von Wirklichkeitszuständen oder -ereignissen bildete; sie wäre dann bloß eine kausale Disposition. Im ontologischen Sinn kann die Wirklichkeit der Möglichkeit nicht kausal erklärt werden, da auch sie methodisch an die Differenz zwischen dem Beobachtbaren (der räumlichen Mitte) und dem nur Erschaubaren (der raumhaften Mitte, die als Potenz real ist) gebunden bleibt: Die Wirklichkeit der Möglichkeit ist nur erschaubar am wirklichen Lebendigen, das seiende Möglichkeit ist. Damit lässt sich Hartmanns Aristoteles-Kritik⁴¹⁸ auf Plessner nicht übertragen. Hartmann hat Aristoteles vorgehalten, alle δύναμις unter dem Primat der ενέργεια zu betrachten und die δύναμις somit zu einer Disposition zu degradieren, die δύναμις also als durch die ενέργεια bestimmte δύναμις zu einer konkreten Wirklichkeit⁴¹⁹ zu denken, wobei die Wirklichkeit durch δύναμις und ενέργεια sowohl in ihrem Sein, ihrem Verursachtsein und ihrer teleologischen Bestimmung definiert wird. Bei Plessner zerfällt die Wirklichkeit des Lebendigen allerdings nicht in δύναμις und ενέργεια als einander bedingende (die Möglichkeit bildet die Vorstufe der Wirklichkeit, die Wirklichkeit die Verwirklichung der Möglichkeit und konkret bestimmende Ermöglichung der zukünftigen Wirklichkeit) Momente eines aktuellen Jetzt, das von δύναμις und ενέργεια als von seinen Bestimmungsmomenten her gedacht wird, welche die gegenwärtige Wirklichkeit des Lebendigen von der Vergangenheit her in Richtung auf eine bestimmte zukünftige Wirklichkeit hin bestimmen. Die zukünftige Wirklichkeit des Lebendigen wird vielmehr gerade aufgrund der Zukunftsfundiertheit offengehalten, die Plessner von einem Bezogensein auf Zukunft unterscheidet.⁴²⁰ In dem Bezogensein auf Zukunft ist Zukunft konkrete Gestalt von Zukünftigem, das Lebendige in seiner wirklichen Gegenwärtigkeit wäre nicht Wirklichkeit der (als solche zukunftsfundierten und offenen) Möglichkeit, sondern die bestimmte verwirklichte Möglichkeit (im Sinne der Vorstufe) späterer Wirklichkeit. Die Bestimmung einer jeglichen Wirklichkeit als Möglichkeit späterer Wirklichkeit setzt aber ein in die Wirklichkeit vorprojiziertes ontologisches Schema voraus, das ein Lebendiges grundsätzlich, und damit implizit im Voraus, als das Noch-Nicht dessen bestimmen kann, von welchem her es

 Vgl. Kap. 2.3.5.2  Die „Wirklichkeit“, die hier gemeint ist, meint mehr als ihr ontologisches Bestimmungsmoment der ένέργεια.  Vgl. SOM: 212.

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das Noch-Nicht⁴²¹ retrospektiv als sein Vorher-Schon bestimmen kann. Hartmanns Kritik an Aristoteles bezieht ihre Legitimität aus Aristoteles Privilegierung der zweiten Substanz, also der ούσία, die zugleich das είδος und damit das Wesen des aus είδος und μορφή zusammengesetzten Lebendigen ist. Plessner hingegen, wollte man die ontologische Terminologie des Aristoteles auf ihn übertragen, geht es in den Stufen gerade um die erste Substanz (πρώτη ούσία), um das lebendige Ding selbst und damit um die seiende Möglichkeit in ihrem Wirklichkeitswert, der weder von einer zweiten Substanz⁴²² noch von den Naturwissenschaften her adäquat erhellt werden kann. Die erste Substanz als Wirkliches zu entfalten statt sie nur als das konkrete Ding selbst zu benennen, erfordert die methodische Durcharbeitung der Wirklichkeit, wie Plessner sie in den Stufen umfangreich entfaltet und die ihn zum Begriff der seienden Möglichkeit führt. Überdies unterscheidet sich Plessner hinsichtlich des Verhältnisses zwischen δύναμις und ενέργεια darin maßgeblich von Aristoteles, dass δύναμις und ενέργεια bei Plessner keine distinkten ontologischen und/oder analytisch feststellbaren Zustände bilden (können), die als Übergänge von der Potenz zum Akt beschreibbar wären. Vielmehr bilden δύναμις und ενέργεια bei Plessner Momente, die nicht zuständlich ineinander übergehen, sondern immanente Momente eines Dritten, das selbst der Übergang zwischen beiden ist. Das meint Plessner, wenn er sagt, dass der lebendige Körper, der eben darum ein lebendiger ist, „außer seiner Begrenzung den Grenzübergang selbst als Eigenschaft hat“.⁴²³ Der Ausdruck der Furcht ist allenfalls psychologisch nach dem Schema von δύναμις und ενέργεια zu begreifen, im Rahmen von Plessners Ansatz geht es sowohl um den Sinn (in der Deutung) und die Strukturgesetze der Ausdrücklichkeit (Stufen). Was Ausdrucksgestalt (die konkrete lebendige Erscheinung im Doppelaspekt) und Strukturgesetz des Ausdrucks (das grundsätzliche Erscheinen von Lebendigem im Doppelaspekt) miteinander verbindet, ist der Grenzübergang als das Grundcharakteristikum von Lebendigkeit.⁴²⁴ Der Wirklichkeitswert des lebendigen Ausdrucks beruht auf diesem Grenzübergang, der als Potenz real ist, weil sonst Lebendiges nicht mehr lebendig wäre. Würde Hartmanns Kritik an Aristoteles sich auf Plessner übertragen lassen, müsste nicht nur das Aristotelische Schema als gültig vorausgesetzt werden, sondern mit der Voraussetzung von dessen Gültigkeit

 Das Aristotelische Noch-Nicht ist, von einer Vergangenheit her bestimmt, auf eine Zukunft bezogen, das Plessner’sche „Nochnicht“ Moment der Zukunftsfundiertheit und gerade nicht „auf Zukunft bezogen“.  Der Rekurs auf eine zweite Substanz steht hier auch stellvertretend für Edith Steins Begriff der Wesensform.  Ebd.: 103.  Vgl. Kapitel 4.5.

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der Grenzübergang (die Mitte) nicht als Potenz, sondern als Aktualität real sein. Eine solche Bestimmung des Wirklichen bringt das Lebendige um seine Lebendigkeit, indem es zugleich dessen metaphysischer Überhöhung die Bahn ebnet: das Wirkliche konvergiert dann mit dem Realen, weil eine höhere Realität in ihm sich manifestiert. Das Wirkliche in seinem Wirklichkeitswert ernstzunehmen heißt, die Aristotelische Intention,Wirklichkeit zu denken, von der Aristotelischen Metaphysik freizuhalten.

4.10.7 Das Sich-Vorwegsein und die Konstitution des Positionsfeldes Die so durchgeführte Betrachtung könnte den Eindruck erwecken, als sollte hier suggeriert werden, dass das Lebendige in seiner reinen Immanenz als seiende Möglichkeit zu betrachten wäre. Dieses Lebewesen ist aber als Ding positionalen Charakters nicht unabhängig und außerhalb eines Positionsfeldes zu denken, und dies nicht nur, weil es real nicht unabhängig und außerhalb eines Positionsfeldes existieren kann, sondern auch weil das Positionsfeld in die Selbstvermittlung des Organismus hineinreicht: In seinen Organen geht der lebendige Körper aus ihm heraus und zu ihm zurück, sofern die Organe offen sind und einen Funktionskreis mit ihm bilden, dem sie sich öffnen. Offen sind die Organe gegenüber dem Positionsfeld. So entsteht der Kreis des Lebens, dessen eine Hälfte vom Organismus, dessen andere vom Positionsfeld gebildet wird.⁴²⁵

Das Positionsfeld bildet daher keine zunächst indifferente und erst innerhalb der praktisch realisierten Vollzüge des Organismus zum Positionsfeld Signifikanz gewinnende Umwelt, sondern es steht in einem immanenten Bezug zum SichVorwegsein und damit zu Akt und Potenz als Konstitutionsmomenten des Lebendigen: Diese Struktur des Vorweg lebt der Organismus, es bedarf also keines besonderes von ihm ausgehenden antezipatorischen Aktes. Kraft dieses Vorwegseins konstituiert sich das Positionsfeld, dem der Organismus als Inhalt und Mittelpunkt, gleichsinnig und gegensinnig zu ihm gestellt, angehört.⁴²⁶

Mit anderen Akzentuierungen: „Kraft dieses Vorwegseins konstituiert sich das Positionsfeld“ bedeutet gerade nicht, dass das Sich-Vorwegsein das Positionsfeld

 SOM: 191 f.  Ebd.: 208.

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konstituierte; würde Plessner dies behaupten, so würde er eine naturphilosophische Variante eines im Solipsismus endenden Idealismus ausformulieren, in welchem dem Organismus eine geradezu demiurgische Dignität zukäme. Auch dem Konzept einer Autopoiesis, das die strikte immanente Operationslogik eines Organismus in empirischer Sicht und gemäß dem Paradigma der Anpassung betrachtet,⁴²⁷ entspricht das Sich-Vorwegsein des Lebendigen nicht, das den Bezug zum Positionsfeld nicht ausklammert und auch dem Positionsfeld nichts von seiner Realität nimmt. Das Positionsfeld konstituiert sich kraft des Vorwegseins, weil das Positionsfeld keine Umwelt ist,⁴²⁸ die erst zu einem Positionsfeld durch eine konstituierende Tätigkeit seitens des Organismus zu machen wäre (mittels einer solchen Tätigkeit wird das Positionsfeld „bearbeitet“, aber nicht konstituiert), sondern es bildet als ein ⁴²⁹ Fluchtpunkt des Überschuss-Charakters der auf ein Außerhalb des Körpers hingeordneten Organe einen wesenhaften, für die Lebendigkeitsstruktur selbst konstitutiven Bezugspunkt lebendiger Entwicklung; aufgrund seiner ist das Lebewesen in seine Umwelt qua Positionsfeld eingepasst und Teil des nicht empirisch hervorgebrachten Lebenskreises. Der ÜberschussCharakter erklärt sich aus dem In-ihm-hinein- und Über-ihm-hinaus-Sein, welches als das Sein eines positionalen Körpers immer noch ein (wenn auch in sich gegensinniges) Sein zu einem Positionsfeld hin ist: Man versteht die Lagerung des Positionsfeldes aus dem Wesen der Positionalität, wonach der lebendige Körper ebensosehr er selbst (in seinen Grenzen wie jeder begrenzte Körper) als auch über ihm hinaus – in ihm hinein ist. Infolgedessen rechnete er selbst mit zum Inhalt des Positionsfeldes, auch wenn er als dessen Mittelpunkt aus ihm herausgehoben ist.⁴³⁰

Die Zusammengehörigkeit des Sich-Vorwegseins mit der Positionalität des lebendigen Körpers stellt die Selbstvermittlung des Organismus zur Einheit in ihrer Zeithaftigkeit in einen konstitutiven Bezug zur Umwelt. Die „immanente Teleologie“ bedarf damit nicht einer Erweiterung über den Organismus hinaus,⁴³¹

 Exemplarisch Maturana/Varela: „Therefore, all that is unique with respect to adaptation in living systems is that in them the autopoietic organization constitutes the invariant configuration of relations around which the selection of their structural changes takes place during their history of interactions.“ (Maturana/Varela 1980: xxi)  Vgl. SOM: 208.  Aufgrund der immanenten Teleologie des Organismus bildet der letztendliche Fluchtpunkt seiner Organtätigkeit seine Selbstvermittlung zur Einheit.  Ebd.: 202 f.  Das Sich-Vorwegsein bildet die Alternative zu einer Teleologie, welche die Entwicklung des Organismus im Verhältnis zu einer Umwelt betrachtet, welcher jener sich in nachträglicher

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sondern die „immanente Teleologie“ enthält in sich, genauer: im Antagonismus der auf die Umgebung des Organismus hingeordneten Organe, den konstitutiven Bezug auf das Positionsfeld, weil der Organismus „Mitte und Peripherie in Einem“⁴³² ist. Für den Organismus gilt daher, dass er, „insofern er als Element der Peripherie zum Feld mitgehört, als Mitte dagegen sich dem Feld gegenüber befindet“.⁴³³ Er befindet sich also nicht indifferent in einer Umwelt, sondern befindet sich im Positionsfeld als zum Feld geöffnet und gegen das Feld gestellt.⁴³⁴ Diese Ambivalenz fasst Plessner auch in der Unterscheidung zwischen Gleichsinnigkeit und Gegensinnigkeit der Stellung zum Positionsfeld.⁴³⁵ Weil der Organismus „Mitte und Peripherie in Einem“ ist, bedeutet Sich-Vorwegsein zugleich Über-ihmhinaus-Sein; weil das Über-ihm-hinaus-Sein im für die Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit konstitutiven Antagonismus der Organe angelegt ist, bedeutet Sich-Vorwegsein als Über-ihm-hinaus-Sein zugleich Sich-Vorwegsein-zu; dieses Sich-Vorwegsein-zu fasst Plessner als „Vorbemächtigung“: Gerade daß die Existenz des Positionsfeldes eine Vorbemächtigung der Welt durch den Organismus ist, welcher in sich selbst ein ihm Vorwegsein bedeutet, macht die Annahme besonderer lenkender Instinkte, Urteilsvermögen und ähnlicher anpassungsschaffender seelischer oder physischer Faktoren unnötig. Das Vorgriffelement ruht auf der Vorwegstruktur des lebendigen Seins.⁴³⁶

Zweckmäßigkeit immer wieder anzupassen hätte, womit metaphysisch nicht weniger behauptet würde als mit einer prästabilierten Harmonie.  Ebd.: 203.  Ebd.  Das Faktum, dass das Im-Feld-Sein zugleich ein Im-Feld-gegen-das-Feld-Sein ist, fasst Plessner in der Negation zweier Aporien, nämlich denen der „absoluten Immanenz“ und der „absoluten Transzendenz“. In „absoluter Immanenz“ bewegte der Organismus sich „in seinem Positionsfeld wie die Monade in ihrer Welt, wie ein Solipsist, zwar in einem Umfeld, doch nicht in der von ihm unabhängigen, wirklichen Welt“ (ebd.); in „absoluter Transzendenz“ hingegen bildete „das Positionsfeld bloß die Gegensphäre zum natürlichen Ort des Organismus, ohne ihn zugleich mit zu enthalten, gewissermaßen nur das ,Drüben‘, aus dem ihn Gegenwirkungen treffen und auf das er mit Gegenwirkungen zurücktrifft“. (ebd.) Anders gesagt: In absoluter Immanenz wäre der Organismus eine monadisch geschlossene Substanz in einer ihr notwendig fremd bleibenden Umwelt, wohingegen in absoluter Transzendenz der Lebenskreis physikalistisch eingeebnet würde, wodurch der Organismus überhaupt erst in eine Ebene mit der in Kausalrelationen aufgehenden Umwelt gerückt werden kann.  Vgl. Ebd.: 204. – Die Vermittlung von Gleichsinnigkeit und Gegensinnigkeit fasst Plessner auch als die „synthetische Vereinigung gleichsinniger und gegensinniger Stellung zum Positionsfeld“. (ebd.: 205). Mit der synthetischen Vereinigung ist kein Drittes jenseits von Gleich- und Gegensinnigkeit gemeint, sondern vielmehr ihre Zugleich-Verwirklichung.  Ebd.: 211.

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Aufgrund der „Vorbemächtigung“, welche eine Spezifikation des in der Zeithaftigkeit gründenden Sich-Vorwegseins ist, ist das Sich-Vorwegsein kein Sich-Vorwegsein des Lebewesens zu einer Umwelt, sondern zu seinem Positionsfeld. Darauf basiert die oben vorgenommene Akzentuierung („Kraft dieses Vorwegseins konstituiert sich das Positionsfeld“) innerhalb des Plessner’schen Zitats. Die Akzentuierung des Ausgangszitats umkehrend: Das Positionsfeld konstituiert sich kraft des Vorwegseins, weil es nicht vom Organismus erschaffen wird, sondern, obzwar es in eine Selbstvermittlungsstruktur des Organismus eingeht, deren anwesend-abwesender Bestandteil qua Fluchtpunkt es aufgrund des Sich-Vorwegseins bereits ist, seine Selbständigkeit gegen die Selbständigkeit des Organismus behauptet: Nur in diesem Sinne der Vermittlung eines bereits unmittelbar Bestehenden halten sich die Organe in ihren Wesensgrenzen und ,öffnen‘ den Organismus gegen das Medium, gliedern ihn in das Positionsfeld ein und nehmen ihm damit seine Selbständigkeit. Denn jetzt muß der Organismus Teil eines umfassenden Ganzen werden, dessen Ausmaße und Artung wohl insofern in seiner Macht liegen, als seine Organe diesem Ganzen streng eingepaßt sind und das Ganze also mit nichts kommen kann, worauf der Organismus nicht antworten könnte,wie auch das Ganze das Zwecksystem seines Körpers nur ergänzt und ganz eigentlich mit ihm zusammenfällt, – aber er ist eben Teil, ergänzungsbedürftig, seine Autarkie ist dahin.⁴³⁷

Seine Selbständigkeit behauptet der Organismus darin, dass die Organe ihn „gegen“ das Medium öffnen. Was Plessner als Hinfälligkeit der „Autarkie“ des Organismus bezeichnet, läuft dem Sich-Vorwegsein der seienden Möglichkeit nicht zuwider, sondern macht gerade das Sich-Vorwegsein zu einem Sich-Vorwegsein-zu statt zu einem bloßen und aufgrund seiner Autarkie in sich leeren Selbstsein. Seiende Möglichkeit ist der Organismus gerade dadurch, dass seine Potenzialität von der „immanenten Teleologie“ her ihre Begrenzung erhält, wodurch sie überhaupt erst „erfüllte Potentialität“⁴³⁸ sein kann. „Erfüllbare Potentialität“ ist abhängige Potenzialität, erfüllbar durch und in der gleich- und gegensinnig auf das Positionsfeld bezogenen Selbstvermittlung, aber nicht erfüllbar durch ihr gegen ein Positionsfeld abgeschlossenes Selbstsein als reine Potenzialität. Als reine oder absolute Möglichkeit müsste sie ihre eigene Erfüllung darstellen, die sie als (bloße) Möglichkeit gar nicht sein kann. Was in den bisherigen Ausführungen mitgeschwungen ist, ohne explizit thematisiert worden zu sein, ist die Eingepasstheit des Organismus in das Positionsfeld. Von dem Sich-Vorwegsein der seienden Möglichkeit her wird dessen Eingepasstheit in die als Positionsfeld aufzufassende Umwelt auf neue Weise

 Ebd.: 193.  Ebd.: 180.

4.10 Die Organisation des Lebendigen

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verstehbar, weil es eine systematische Einbettung erfährt, die Plessner selbst nicht vorgenommen hat. Die markantesten Passagen Plessners zur Eingepasstheit finden sich auffälligerweise nicht in den Abschnitten über die harmonische Äquipotentialität und die „Zeithaftigkeit des lebendigen Seins“, sondern in der Bestimmung der Vitalkategorien⁴³⁹ und des Lebenskreises,⁴⁴⁰ obwohl die harmonische Äquipotentialität die Einheit durch den Antagonismus der Organe hindurch vermittelt, in ihr also die Mitte sich der Organe und mittels der Organe, welche der Umwelt strikt eingepasst und zu ihr hingeordnet seien, der Umwelt bemächtigt. Die strenge Eingepasstheit der Organe ist die Eingepasstheit in eine Umwelt, die gerade deswegen Positionsfeld ist und die Positionsfeld statt Umwelt ist aufgrund des Sich-Vorwegseins der seienden Möglichkeit. Die Eingepasstheit ist die Eingepasstheit einer seienden Möglichkeit. Eingepasstsein und Vorwegsein sind, obwohl Plessner die Begriffe in verschiedenen Zusammenhängen einführt und abhandelt, untrennbar miteinander verbunden; wären sie es nicht, so müsste die Eingepasstheit durch die Selektion hergestellt werden, sie wäre dann allerdings Anpassung, und zwar eine Anpassung, die wiederum ohne die Eingepasstheit⁴⁴¹ des sich Anpassenden gar nicht möglich wäre. Die Selektion kann ihre eigene Ermöglichungsbedingung nicht hervorbringen. Kurzum: Die Eingepasstheit gründet im Sich-Vorwegsein des Lebendigen, in seiner Bestimmtheit von der – gleichwohl nicht unbeschränkt⁴⁴² – offenen Zukunft her, denn was sich nicht vorweg ist, müsste sein Eingepasstsein nachträglich, also in Ermangelung desselben auf der Basis seiner eigenen Unmöglichkeit, etablieren. Von einem Eingepasstsein des Organismus zu sprechen, ist auch allemal glücklicher als von einer Adaptiertheit zu sprechen, wie Plessner dies an einer Stelle tut,⁴⁴³ wo er die Adaptiertheit als Voraussetzung der Adaption anführt. Damit unterbietet Plessner aber das theoretische Potenzial seiner eigenen naturphilosophischen Konzeption, weil die Adaptiertheit als Voraussetzung der Adaption das Paradigma der Adaption nicht verlässt, sondern dieses nur über die  Vgl. SOM: 64 f.  Vgl. ebd.: 193.  Plessner verwendet zwar auch den Begriff der „Adaptiertheit“ (ebd: 205 f.), der jedoch im Unterschied zum Begriff des Eingepasstseins die Differenz zur Adaption nicht stark genug markiert. Da Plessner aber auch dort, wo er von „Adaptiertheit“ spricht, nicht auf das Sich-Vorwegsein des Lebendigen Bezug nimmt, bleiben seine Ausführungen ontologisch ungesättigt und formaler Art.  Denn sonst müsste jeder Organismus in jede mögliche Umwelt eingepasst sein, womit somit sowohl die Spezialisiertheit der Organe aufgehoben wäre als auch empirisch Unsinniges behauptet würde.  Ebd.: 205 f.

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4 Plessners Transformation der Ontologie

im Lebensvollzug geleistete Adaption hinaus transzendentalistisch formalisiert. Dies zeigt sich darin, dass Plessner zufolge die Adaptiertheit auf „übergreifende, Lebenssubjekt und Welt gleichmäßig beherrschende Gesetzmäßigkeiten“⁴⁴⁴ hinweise. Plessner verfährt hier allerdings insofern theoretisch stringent, als das Eingepasstsein sich nicht auf derselben logischen und ontologischen Ebene wie die harmonische Äquipotentialität und die Zeithaftigkeit des lebendigen Seins befindet, die innerhalb der Deduktion der Wesensmerkmale des Lebens aufgewiesen werden. Die Eingepasstheit fällt deshalb nicht in die Deduktion, weil sie nicht zur Klasse erschaubarer Gehalte gehört. Sie fällt also nicht selbst in die immanente Logik des Lebendigen, sie ist aber – und deshalb ist oben gesagt worden, dass sie im Sich-Vorwegsein gründe – vom in die Deduktion der Wesensmerkmale fallenden Sich-Vorwegsein her verstehbar und erhellbar. Sie bildet eine apriorische, d. h. notwendige Präsupposition, die einen realen Sachverhalt erfasst, der ontologisch erhellbar, aber nicht ontologisch deduzierbar ist.

4.11 Zwischenfazit Mit diesem Durchgang durch eine Reihe von Grundbegriffen und denkerischen Motiven ist Plessners naturphilosophische Transformation der Ontologie in ihren wesentlichen Zügen skizziert worden. Als zentral in dieser Transformation haben sich vor allem vier Begriffe erwiesen: (1) Plessners Transformation der Phänomenologie, die nicht im Husserl’schen Sinne als eine Fortführung des erkenntnistheoretischen Projekts der neuzeitlichen Philosophie von Descartes bis zum Neukantianismus zu verstehen ist – seine gewiss problematische Einheit hier vorausgesetzt –, entfaltet die Bedingungen, gemäß denen Wirkliches als „Sein in der Erscheinung“ sich zeigt. Der Erscheinungsbegriff überspringt weder das Bewusstsein, weil Erscheinung nicht außerhalb der Anschauung erscheint, er reduziert aber auch das Erscheinende nicht darauf, Erscheinendes für das Bewusstsein zu sein, sondern zielt auf das präreflexive Erscheinen von Sein und dessen Struktur, für die vor allem kennzeichnend ist, dass Sein im Doppelaspekt von Psychischem und Physischem erscheint. Weil Plessner die Ontologisierung der doppelaspektiven Erscheinung und ihre vorschnelle Aufspaltung in zwei Seinsgebiete vermeidet, kann er innerhalb der phänomenologischen Deskription neben der bloß räumlichen Mitte eines geometrischen Dinges eine raumhafte, gegen den Richtungsgegensatz von Psychischem und Physischem

 Ebd.: 65.

4.11 Zwischenfazit

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neutrale raumhafte Mitte exponieren, die phänomenologisch als „kernhafte Mitte“ sich zeigt und konstitutiv die „Funktion der Grenze“⁴⁴⁵ bildet,⁴⁴⁶ die dem Körper nicht nur als dinglichem Gebilde angehört, sondern von ihm – und damit in ihm hinein und über ihm hinaus⁴⁴⁷ – vollzogen wird. (2) Lebendige Körper, die außer einer räumlichen noch eine raumhafte positionale bzw. funktionale Mitte „besitzen“, sind nicht nur physische Gestalten, sondern darüber hinaus durch die Mitte als das psychophysisch neutrale „Hindurch der Vermittlung“⁴⁴⁸ beider zur nur erschaubaren Ganzheit vermittelt. Die ausschließliche Erschaubarkeit des Ganzheitscharakters der Gestalt, die lebendig ist und sich entwickelt, verbindet die phänomenologische Deskription, die formale Analyse der Struktur des Erscheinens von Lebendigem, mit der Bestimmung der „Daseinsweisen der Lebendigkeit“ als ihrem pragmatisch-funktionalen Komplement, der materialen Analyse der Lebendigkeitsstruktur des Lebendigen. Das Verbindungsglied zwischen beiden bildet der phänomenologisch-funktionale Doppelcharakter der Mitte. (3) Die Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit findet im Medium des unaufhebbaren Antagonismus von Mitte (Subjekt des Habens) und Peripherie (Objekt des Habens, materialisiert in den Organen) statt. Obwohl der Antagonismus für die Daseinsweise des Lebewesens konstitutiv und unaufhebbar ist, ist die jeweilige Einheit fragil und nicht abschließbar herzustellen, gleichwohl aber gleichermaßen konstitutiv für die Daseinsweise des Lebendigen. Plessner zufolge ist eine „dreifache Einheit“ konstitutiv für den Lebensvollzug: die „Einheit für sich (Kern, Subjekt des Habens), Einheit in der Mannigfaltigkeit der Teile (Wirkeinheit, Gestalt, übersummenhafte Gesamtfunktion, Objekt des Habens), Einheit in jedem Teil (harmonisch äquipotentielles System)“.⁴⁴⁹ Während die ersten beiden Elemente der Einheitsbildung des lebendigen Ganzen den Polen des Antagonismus zugeordnet werden können, bildet die harmonische Äquipotentialität, die Plessner in einer wesentlich fundamentaleren, über die bei Driesch auf Phänomene der Restitution und Adaptation hinausreichende Weise auffasst, den Schlüssel zu seiner Ontologie des Organischen. Die beiden klassischen ontologischen Denkfiguren, die Plessner sich in einer neuartigen Weise aneignet, um die harmo-

 Ebd.: 155.  Vgl. zur „funktionalen Mitte“ Krüger 1999: 96.  „Das Über ihm Hinaussein, das In ihm Hineinsein, konstitutive Merkmale eines Körpers, der ,in‘ seinen Grenzen ist, macht ihn zu einem in den Kaum hinein, in die Zeit hinein Seienden.“ (SOM: 183)  Vgl. ebd.: 290, 292.  Ebd.: 187.

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4 Plessners Transformation der Ontologie

nische Äquipotentialität, also die über den Antagonismus hinausreichende Vertretung der funktionalen Mitte in den Teilen (Organen), zu explizieren, sind die „immanente Teleologie“ (an einer Stelle auch „innere Teleologie“ genannt) und die „Entelechie als Seinsmodus“, die er Drieschs „Entelechie als Naturfaktor“ gegenüberstellt. Was Plessner mit diesen beiden ontologischen Denkfiguren begründet, ist die Möglichkeit der harmonischen Äquipotentialität, die selbst wiederum eine Ermöglichungsbedingung der dreifachen Einheit bildet.Was die Betrachtungen in dieser Untersuchung erbracht haben, ist, dass die harmonische Äquipotentialität systematisch erst dann vollständig entfaltet und in ihrer Tragweite verstanden werden kann, wenn man die ontologische Transformation, die Plessner hier vollzieht, im Auge behält. (4) Sowohl der „immanenten Teleologie“ als auch der „Entelechie als Seinsmodus“ wohnt der Begriff des τέλος und damit dessen immanenter Bezug auf Zukünftigkeit inne. In der klassischen Ontologie bildet die zu realisierende zukünftige Gestalt das eidologische deteminans für das gegenwärtig Seiende; das Sein von x ist das Werden zu y. Bei Plessner hingegen tritt an die Stelle der über das Sein des Organismus hinausgreifenden teleologischen Bestimmtheit die immanente strukturelle Bestimmtheit des Organismus, die er im Begriff des Vorwegseins fasst. Weil Plessner mittels des Begriffs des Vorwegseins den Prozessbegriff im Allgemeinen bestimmt wie auch die Entwicklung von Lebendigem im Besonderen, haben wir das Vorwegsein des Lebendigen gemäß der reflexiven Verwendung durch Plessner an einer zentralen Stelle als SichVorwegsein bestimmt. Mit dem Sich-Vorwegsein wird weder ein Resultat der Selbstvermittlung des Lebendigen zur Ganzheit noch eine Voraussetzung derselben im zeitlichen Sinne bezeichnet, sondern die Zeithaftigkeit des lebendigen Seins selber, das als in sich Zeithaftes zukunftsfundiert und daher sich vorweg ist statt auf Zukunft als ihm äußerlicher Zeithorizont bezogen zu sein, d. h. formal im Bezug zu einem Noch-nicht zu stehen. Das dieser Konzeption entgegengesetzte klassische Modell bildet die Auffassung von Lebendigkeit als stetigem, zeitlich sich entfaltendem Übergang von der Potenzialität zur Aktualität, welche letztere die Zukunft bildet, auf welche Potenzialität bezogen ist. Sich vorweg hingegen ist das Lebendige nicht als factum brutum, sondern als seiende Möglichkeit, die aufgrund ihrer Zukunftsfundiertheit nicht auf Zukunft bezogen ist, sondern in ihrer lebendigen Gegenwärtigkeit strukturell auf Zukünftigkeit hin organisiert ist. Das besagt auch, dass Lebendiges seine lebendige Gegenwart nicht als eine in sich abgeschlossene, sondern nur als eine offene, in ihrer internen Organisation über sich hinausreichende realisieren kann. (5) Das Sich-Vorwegsein realisiert sich in der physischen Organisation des Lebendigen im Ganzen (im Verhältnis von Mitte und Peripherie) und in den

4.12 Seiende Möglichkeit als ontologische Bestimmung von Personalität

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Organen als der verkörperten Peripherie, die gegenüber dem Positionsfeld offen ist. Das qua Konstitution auf-das-Positionsfeld-Hingeordnetsein ermöglicht es, das Sich-Vorwegsein als – der Terminus kommt ebenfalls bei Plessner nicht vor – Sich-Vorwegsein-zu zu bestimmen. Das Sich-Vorwegseinzu bildet dabei eine sowohl systematisch stringentere, die holistische Transzendenz des Organismus als Ganzem gegenüber seiner bloß körperlichen Faktizität aufnehmende und ontologische Fassung des „Tendenzcharakters“450 des Lebens – mit dem Unterschied allerdings, dass das Sich-Vorwegsein-zu die Zeithaftigkeit der seienden Möglichkeit über die Offenheit der Organe mit dem Positionsfeld in einer ontologischen Weise verbindet, statt das Positionsfeld in empiristischer Manier als Umwelt zu konzeptualisieren, die durch das in ihr existierende Lebewesen erst auf der Basis und im Medium empirischer Vollzüge zum Positionsfeld gemacht wird.

4.12 Seiende Möglichkeit als ontologische Bestimmung von Personalität 4.12.1 Vermittelte Unmittelbarkeit als Grundcharakter des Lebens und als Charakteristikum vormenschlicher Lebensformen Bisher war vom Lebendigen die Rede, nicht aber spezifisch vom Menschen. Dies soll nun auf der Grundlage des Begriffs der seienden Möglichkeit nachgeholt werden. Der Begriff der seienden Möglichkeit, so die These dieses Abschnitts, kann nämlich wie der Begriff der vermittelten Unmittelbarkeit auf zwei Ebenen in Anschlag gebracht werden: in der ontologischen Bestimmung von Lebendigem überhaupt und als ontologische Bestimmung des Menschseins. Die These mag zunächst überaus problematisch erscheinen, sie wird jedoch im Anschluss an die Explikation der vermittelten Unmittelbarkeit, deren strukturelle Analogie mit der seienden Möglichkeit sichtbar gemacht werden soll, ihre Begründung erhalten. Vermittelte Unmittelbarkeit ist bei Plessner zunächst der Name für strukturellen Grundsachverhalt von Leben überhaupt als „vermittelte Unmittelbarkeit des Ganzen“: „Mittel seiner selbst und Zweck seiner selbst ist nur das Leben: ein in ihm selbst vermitteltes Sein; über ihm hinausgehoben und damit Zweck, ihm selbst aber in seinen Mitteln, die das Hinausgehobensein als Organisation von ihm absetzt, verfallen: vermittelte Unmittelbarkeit des Ganzen.⁴⁵⁰ Als vermittelte ist Unmittelbarkeit immer mehr als Unmittelbarkeit, sie trägt das Gepräge eines

 Ebd.: 190.

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4 Plessners Transformation der Ontologie

Woher und des Sichvorweg-Seins, welches sich „aus der real gesetzten Grenze“⁴⁵¹ ergebe, aufgrund derer „das Lebendige als solches die Struktur der vermittelten Unmittelbarkeit besitzt“.⁴⁵² Grenzrealisierung und Selbstvermittlung des Organismus zur Einheit sind zwei Aspekte des basalen Sachverhalts, lebendig zu sein, d. h. als Organismus in Beziehung zu einem Medium (ob dieses nun umweltlicher oder weltlicher Natur ist) zu stehen und sich selbst gegen- und gleichsinnig in und durch dieses Verhältnis hindurch zu konstituieren und zu realisieren. Vermittelte Unmittelbarkeit ist überdies der Name eines anthropologischen Strukturgesetzes, das auf der exzentrischen Positionalität als dem spezifischen Positionalitätsmodus des Menschen basiert. Das Gepräge des Woher und des Sichvorweg-Seins nimmt beim Menschen – anders als bei Pflanzen und Tieren – aufgrund der exzentrischen Positionalität einen gänzlich anderen Charakter an, da an die Stelle des Verhältnisses zum Medium eine Beziehung ⁴⁵³ zur Welt tritt, die dadurch eine Beziehung ist, dass sie sich selbst als solche wiederum potentiell gegeben ist. Die angedeutete Differenz zu den Pflanzen und Tieren soll hier kursorisch umrissen werden. Bei Pflanzen gibt es nur ein Verhältnis zur Umwelt, aber keine Beziehung: „Bei der Pflanze tritt eine positional begründete Beziehung zwischen Lebenssubjekt und Medium nicht auf. Eine (direkte) Beziehung spricht sich am Organismus zwar aus, aber sie ist nicht als Beziehung da.“⁴⁵⁴ Diese positionale Bezogenheit auf die Umwelt ohne Beziehung zur Umwelt gründe in der offenen Organisationsform der Pflanze: „Offen ist diejenige Form, welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen unmittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum unselbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht.“⁴⁵⁵ Morphologisch gründe die offene Organisationsform im Fehlen jeglicher „Zentralorgane, in denen der ganze Körper gebunden bzw. repräsentiert wäre“,⁴⁵⁶ in Zentralorganen also, welche die Unmittelbarkeit des Verhältnisses in einer Unterbrechung und Brechung durch ein Zentrum aufheben würden. Erst wo ein solches nervöses Zentrum auftrete, seien Empfindung und Handlung überhaupt möglich: „Empfindung und Handlung (d. h. durch Assoziationen modifizierbare,  Ebd.: 324.  Ebd.  Diese Differenz ist insofern nicht unwichtig als Plessner explizit darauf verweist, dass Pflanzen in keiner Beziehung zum sie umgebenden Medium stünden: „Bei der Pflanze tritt eine positional begründete Beziehung zwischen Lebenssubjekt und Medium nicht auf. Eine (direkte) Beziehung spricht sich am Organismus zwar aus, aber sie ist nicht nicht als Beziehung da.“ (ebd.: 324 f.)  Ebd.: 324 f.  Ebd.: 219.  Ebd.: 220.

4.12 Seiende Möglichkeit als ontologische Bestimmung von Personalität

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zentral vermittelte Bewegungen) widersprechen dem Wesen offener Form.“⁴⁵⁷ Plessner verweist explizit darauf, dass Reizleitungsvorgänge nicht als nervöse Prozesse missverstanden werden dürfen.⁴⁵⁸ Diese Reizleitungsvorgänge stellen ein bloßes Hindurch dar, die Pflanzen bilden daher einen unselbständigen Teil des Lebenskreises und markieren keinen Bruch innerhalb desselben.Was ihnen fehlt, ist nicht nur das morphologische Zentrum, sondern mit einem solchen Zentrum die „Sphäre zentral geschlossener Lebendigkeit“.⁴⁵⁹ Das Tier verfügt hingegen nicht nur über eine zentrische Schließung, sondern es steht aufgrund ihrer in einer eigenen Sphäre der Lebendigkeit. Die geschlossene Organisationsform des Tieres definiert Plessner wie folgt: „Geschlossen ist diejenige Form, welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen mittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum selbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht.“⁴⁶⁰ Die Organisationsform ist eine geschlossene, aber keine abgeschlossene, sie ist also als geschlossene offen gegenüber der Umgebung, aber im Unterschied zur pflanzlichen Organisation gekennzeichnet durch den „Gegensatz der sensorischen und motorischen Organisation, […] wie er durch Zentren, ganz überwiegend also durch solche nervöser Art,vermittelt ist“.⁴⁶¹ Plessner unterscheidet zwei Weisen, in der die zentrisch-geschlossene Organisation sich realisieren könne: (1) „unter Verzicht auf zentrale Zusammenfassung einzelner Zentren […], die im losen Verband miteinander stehen und in weitgehender Dezentralisierung den Vollzug der einzelnen Funktionen vom Ganzen unabhängig machen“,⁴⁶² oder (2) „streng zentralistisch unter der Herrschaft eines Zentralnervensystems“;⁴⁶³ der ersteren Variante ordnet Plessner die „Umgehung des Bewußtseins“,⁴⁶⁴ der letzteren die „Einschaltung des Bewußtseins“⁴⁶⁵ zu. Ob mono- oder polyzentrisch organisiert, in beiden Fällen wird der Kontakt zwischen Organismus und Umwelt

 Ebd.: 225.  Vgl. ebd.: 224.  Ebd.: 225.  Ebd.: 226.  Ebd.: 230.  Ebd.: 241.  Ebd.  Ebd. – An anderer Stelle spricht Plessner allerdings vom Bewusstsein „der dezentralistisch organisierten Tiere“ (ebd.: 274) als der „niedrigsten Stufe des Bewußtseins“ (ebd.). Diese Diskrepanz der Bestimmungen soll hier nicht weiter verfolgt werden; sachlich wäre sie in unserem Rahmen ohnehin nur von Belang,wenn die Gesamtbestimmung des Tieres uneinheitlich wäre und eine Sphärenverschiebung nach unten (zur Pflanze hin) oder nach oben (zum Menschen hin) stattfinden würde, was nicht der Fall ist.  Ebd.: 241.

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4 Plessners Transformation der Ontologie

im Organismus gebrochen und dadurch ein mittelbarer.Wo die Organisationsform zentrisch geschlossen ist, besteht zwischen dem Lebewesen und seiner Umwelt eine Beziehung: „Der zentrale Kern, Bezugspunkt des von ihm zentrisch gebundenen Lebewesens, wird aktueller Durchgangspunkt einer von ihm ausgehenden und zu ihm zurückgehenden Beziehung, deren Vollzug durch den Organismus erst das Leben des Organismus ausmacht.“⁴⁶⁶ Diese auf der Ebene der Organisationsform existierende Beziehung ist dem Tier jedoch nicht positional gegeben, d. h. die Organisationsform konstituiert eine Mittelbarkeit, die positional für das Tier nicht einholbar ist, weil „die zwischen dem Tier und dem Umfeld gegebene vermittelte Beziehung für es selber nicht den Charakter der Mittelbarkeit haben“⁴⁶⁷ könne. Es kann den Charakter der Mittelbarkeit nicht haben, weil das Tier „zentrisch in dieser Vermittlung restlos aufgeht und ,sich‘ noch verborgen ist“;⁴⁶⁸ die vermittelte Unmittelbarkeit wird sich hier selbst nicht gegenständlich oder durchsichtig, weil „das Ding im Umfeld Korrelat des sensomotorischen Funktionskreises, Ausgangspunkt der Reize und Angriffspunkt der Aktionen“⁴⁶⁹ bleibt und Objekt nur ist als „Aktionsobjekt“.⁴⁷⁰ Dingcharaktere, konstante, der situativen Aktionsrelevanz enthobene Eigenschaften von Dingen sowie ihr Dinglichkeitscharakter überhaupt sind dem tierischen Bewusstsein nur insoweit zugänglich, „als sie motorische Äquivalente sind“.⁴⁷¹ Dem Tier fehlt der „Sinn für’s Negative“,⁴⁷² weshalb ihm „das Bewußtsein des Gegenstandes als einer Sache versagt“⁴⁷³ bleibt. Tierische Aktionen können im Wesentlichen nur zwei Motivationsarten entspringen: Trieben⁴⁷⁴ oder Empfindungen. Bei niederen Tieren bleibt die Motivation triebhafter Natur, bei höheren Tieren, bei denen „die individuelle Zuordnung von Reiz und Reaktion den Weg über das Bewußtsein“⁴⁷⁵ nimmt, erfolgen Aktionen „auf Grund von Empfindungen“.⁴⁷⁶ Plessner spricht auch davon, dass die „Aktionen unter die Kontrolle der Empfindung kommen“⁴⁷⁷, doch auch in dieser „Situation des Bewußtseins, in welcher das Lebewesen aus einem Im-

 Ebd.: 280.  Ebd.: 326.  Ebd.: 327.  Ebd.: 270.  Ebd.: 271.  Ebd.: 275.  Ebd.: 272.  Ebd.  „Triebe, Signale und Trieberfüllungen sind die Inhalte des Positionsfeldes niederer Tiere.“ (ebd.: 249)  Ebd.  Ebd.  Ebd.

4.12 Seiende Möglichkeit als ontologische Bestimmung von Personalität

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pulszentrum heraus agiert“,⁴⁷⁸ verlässt es dieses Zentrum nicht, seine Positionalität bleibt zentrisch.⁴⁷⁹ In Bezug auf die vermittelte Unmittelbarkeit ist die Pointe der zentrischen Positionalität, dass die Vermittlung zur Unmittelbarkeit kein Element der Wahrnehmungs- oder Lebenswirklichkeit des Tieres bildet und auch keins bilden kann. Zwischen dem Tier und der Welt können praktische Hindernisse (motorische Äquivalente) stehen, nicht aber das Tier selbst aufgrund einer Gegebenheit für sich selbst.

4.12.2 Vermittelte Unmittelbarkeit und exzentrische Positionalität Die vermittelte Unmittelbarkeit ist ein Grundzug des Lebens, der sich bei höheren Tieren durch die Ausbildung eines Zentralnervensystems und Bewusstseins verkompliziert und verfeinert, aber nicht selbst durchsichtig wird, und auch für den Menschen, der „wie das Tier dem Gesetz der geschlossenen Lebensform und ihrer Positionalität unterworfen“⁴⁸⁰ ist, nimmt „die durch ihn vermittelte Beziehung zum Umfeld den Charakter der Unmittelbarkeit an“.⁴⁸¹ Dass auch beim Menschen die Unmittelbarkeit in der vermittelten Unmittelbarkeit nicht aufgehoben wird, sichert der Wirklichkeit ihren Wirklichkeitscharakter: Ein Wirkliches kann als Wirkliches gar nicht anders mit einem Subjekt in Relation sein, es sei denn von sich aus das dem Subjekt Entgegengeworfene, als Objekt, d. h. als Er-scheinung,

 Ebd.  Der Begriff der „zentrischen Positionalität“ wird von Plessner in den Stufen nicht geprägt, sondern wird erst 1973 in Der Aussagewert einer Philosophischen Anthropologie verwendet, wo Plessner vom „zentrischen Typus der Positionalität“ (Plessner 2003b: 391) spricht. In Lachen und Weinen (vgl. LuW: 249) spricht Plessner in Abgrenzung von der „exzentrischen Position“ des Menschen von einer „zentrischen Position“ und bezeichnet die exzentrische Positionalität als Überformung der zentrischen: „Insoweit auch der Mensch auf tierischem Niveau lebt – und die exzentrische Position schließt die zentrische Position der Tiere in sich, indem sie diese überformt –, gebärdet er sich ausdruckshaft grundsätzlich nicht anders als die Tiere.“ (ebd.) In den Stufen hingegen spricht Plessner von der „Positionalität der geschlossenen Form“, vgl. SOM: 240 und 281. „Geschlossene Form“ ist hier gleichzeitig der Name der Organisations- wie der Positionsform, die beim Tier noch zusammenfallen, vgl. SOM: 289, wo Plessner von der „geschlossenen Form tierischer Organisation“ spricht, oder SOM: 252, wo vom „Organisationsprinzip der geschlossenen Form“ die Rede ist. Auch in seiner späten Selbstdarstellung spricht Plessner noch von der geschlossenen statt von der zentrischen Positionalität: „Offene Form der pflanzlichen Positionalität steht der geschlossenen der tierischen gegenüber“, (Plessner 1985a: 326) allerdings mit dem Zusatz: „Und diese zentrisch der exzentrischen des Menschen.“ (Ebd.)  SOM: 325.  Ebd.: 328.

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4 Plessners Transformation der Ontologie

Manifestation von …; als vermittelte Unmittelbarkeit. Sonst verliert sich der Wirklichkeitscharakter, die Objektivität, wie es auch für das Tier der Fall ist.⁴⁸²

Vermittelte Unmittelbarkeit bezeichnet zunächst generell und speziesübergreifend die Struktur des Bewusstseins von Wirklichkeit; sie bezeichnet aber auch im Besonderen die Situation des menschlichen Bewusstseins, welchem die Vermittlung zur Unmittelbarkeit selbst thematisch werden kann und welches selber in die Situation der Bewusstseinsimmanenz⁴⁸³ fällt. In dieser humanspezifischen Form vermittelter Unmittelbarkeit wird die Vermitteltheit der Unmittelbarkeit durchschaut, indem die Vermittlung zur Unmittelbarkeit erfasst wird, es wird aber noch nicht von der vermittelten Unmittelbarkeit selbst Abstand genommen. Die vermittelte Unmittelbarkeit ermöglicht es, die Wirklichkeit des Wirklichen im Unterschied zu einem bloßen Wirklichen (des Tieres) zu erfassen, aufgrund der exzentrischen Positionalität aber entsteht darüber hinaus die Differenz zwischen Wirklichkeit und Realität: „Darum ist die Exzentrizität, auch wenn sie sich im Vollzug des Wissens (der Vermittlung) vergißt, nicht getilgt. Kraft ihrer faßt das Wissen unmittelbar etwas Mittelbares: die Realität in der Erscheinung, das Phänomen in der Wirklichkeit.“⁴⁸⁴ Das Wissen fasst die Realität in der Erscheinung, weil es die Realität der Erscheinung aufgrund der Exzentrizität zu fassen vermag; erst wo die Realität der Erscheinung feststellbar ist, ist die Realität in der Erscheinung als Realität statt als Wirklichkeit erfassbar. Um aber die Wirklichkeit von der Realität objektivieren zu können, bedarf es der exzentrischen Positionalität. Diese Ermöglichungsreihe lässt sich schematisch wie folgt darstellen: Vermittelte Unmittelbarkeit (Tier) → bloße Immanenz (Wirklichkeit) Vermittelte Unmittelbarkeit (Mensch) → immanente Transzendenz (Wirklichkeit als Wirklichkeit) Exzentrische Positionalität → Transzendenz gegenüber der immanenten Transzendenz (Wirklichkeit als Realität und in der Realität; Wirklichkeit der Realität als Realität und Wirklichkeit) Die Transzendenz gegenüber der immanenten Transzendenz lässt sich in Anlehnung an Plessners Bestimmung der Exzentrizität „als der uneinholbaren Ab-

 Ebd.: 329. – Vgl. auch ebd.: 332.  „Seine Situation ist die Bewußtseinsimmanenz.“ (Ebd.: 328)  SOM: 328 f.

4.12 Seiende Möglichkeit als ontologische Bestimmung von Personalität

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ständigkeit des Menschen zu sich selbst“⁴⁸⁵ auch fassen als Abständigkeit zu der vermittelten Unmittelbarkeit in der vermittelten Unmittelbarkeit; sie muss eine Abständigkeit in der vermittelten Unmittelbarkeit sein, weil in der exzentrischen Positionalität die Bewusstseinsimmanenz nicht verschwindet, sondern eine durch sie bestimmte neue Qualität annimmt.⁴⁸⁶ Exzentrische Positionalität bedeutet dann nicht einfach nur Potenzierung der vermittelten Unmittelbarkeit, also Vermittlung und Objektivierung ihrer selbst auf einer höheren Stufe, sondern ein Heraustreten aus der vermittelten Unmittelbarkeit innerhalb ihrer.⁴⁸⁷ Obwohl Plessner anhand der vermittelten Unmittelbarkeit die Situation der Bewusstseinsimmanenz expliziert, ist die strukturlogische Bedeutung der vermittelten Unmittelbarkeit nicht auf die Erschließung dieses Gegenstandsfeldes zu beschränken, denn in seiner Selbstdarstellung sagt Plessner, dass sie „für den ganzen Bereich der exzentrischen Position gilt“.⁴⁸⁸ Sie gilt für den ganzen Bereich, sie konstituiert ihn jedoch nicht, denn eine solche Konstituierung ist nur naturphilosophisch-anthropologisch, d. h. mittels der exzentrischen Positionalität, nicht aber strukturlogisch zu leisten: „Der Zerfall in die beiden Ansichten der Unmittelbarkeit und Vermitteltheit ist mit der exzentrischen Positionalität des Menschen gegeben.“⁴⁸⁹ Die humanspezifische vermittelte Unmittelbarkeit bildet daher zum einen eine die Situation der Bewusstseinsimmanenz strukturlogisch erschließende Spezifikation der exzentrischen Positionalität, welche letztere zunächst und allgemein die „globale“ Beziehungsstruktur des menschlichen Organismus zu seinem Positionsfeld bezeichnet, welche für das Bewusstsein und die

 LuW: 206.  Mit diesem Unterschied zwischen Wirklichkeit und Realität, der eine bahnbrechende Errungenschaft innerhalb der Natur darstellt, entstehen übrigens auf der Grundlage der exzentrischen Positionalität sämtliche Probleme der Epistemologie, z. B. die Probleme der Realität der Außenwelt oder der Objektivität der Erkenntnis, weil die Realität verdächtigt werden kann, die Wirklichkeit zu verklären und entstellend zu überformen oder umgekehrt die Wirklichkeit verdächtigt werden kann, uns über die Welt zu täuschen, die von der Realität aus zu beurteilen wäre. Die Situation der Bewusstseinsimmanenz wird aporetisch mit dem Begriff des „Bewusstseinsinhalts“, in dem Realität und Wirklichkeit sich unentwirrbar verschlingen, weil Wirklichkeit in dem Begriff in ihrer objektivierten Form gefasst wird, ohne in ihrer ursprünglichen Bedeutung zum Verschwinden gebracht zu werden. – Zum Begriff des „Bewusstseinsinhalts“ in den Stufen, vgl. SOM: 328.  Hier wird die Simultaneität des Innerhalb- und außerhalb-Stehens antezipiert, die Plessner in Macht und menschliche Natur als den Bruch der ihrer Exzentrizität im geschichtlichen Horizont sich bewusst gewordenen Lebensphilosophie zur Entfaltung bringt: „Innerhalb ihrer Perspektive steht Lebensphilosophie außerhalb ihrer Perspektive.“ (MmN: 222) Zur Entfaltung dieser Simultaneität vgl. ebd.: 223 f.  Plessner 1985a: 331.  SOM: 331.

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4 Plessners Transformation der Ontologie

Situation der Bewusstseinsimmanenz bestimmend ist. Als für den „ganzen Bereich“ der exzentrischen Positionalität gültige strukturlogische Figur kann sie jedoch nicht bloß von zentraler Bedeutung für die Erschließung eines nebengeordneten Teilbereichs innerhalb der Sphäre exzentrischer Positionalität sein, wie die Benennung ihrer als eines von drei anthropologischen Grundgesetzen in den Stufen dem Augenschein nach suggeriert.Von der exzentrischen Positionalität her verstanden, spezifiziert sich die vermittelte Unmittelbarkeit daher zum anderen von einem Grundzug von Leben überhaupt zu einem Grundzug des menschlichen Lebens und fungiert deshalb nicht nur als ein anderen anthropologischen Grundgesetzen nebengeordnetes Gesetz, sondern als ein diesen gegenüber privilegiertes, da die natürliche Künstlichkeit und der utopische Standort ebenfalls Gestalten vermittelter Unmittelbarkeit sind,⁴⁹⁰ als solche aber nicht erschöpfend aus dem „Grundgesetz“ erklärt werden können, das sie zugleich verkörpern, weshalb Plessner die exzentrische Positionalität als Explikationskategorie einführt. Die vermittelte Unmittelbarkeit nicht nur als eine Qualität des Bewusstseins, sondern als einen Grundzug der menschlichen Existenz und daher als eine über das Bewusstsein hinausreichende, strukturlogische Spezifikation der exzentrischen Positionalität aufzufassen, lässt sich kaum bestreiten, wenn man Plessners oben zitiertes Diktum, die vermittelte Unmittelbarkeit sei „mit der exzentrischen Positionalität“ gegeben, weiterverfolgt. Eine aufschlussreiche Stelle dazu findet sich in Lachen und Weinen: „Im Rahmen der vermittelten Unmittelbarkeit, d. h. der exzentrischen Position, wie sie sich als Verhältnis von Ich und Körper darstellt, lassen sich Probleme schärfer fassen und einer künftigen Lösung entgegenführen, bei denen man im alten Rahmen mit seinen groben Alternativen gleich an die Grenzen alles Erkennens stieß.“⁴⁹¹ Das Miteinander-Gegebensein von vermittelter Unmittelbarkeit und exzentrischer Positionalität drückt Plessner hier in einem „das heißt“ aus und nennt wenige Zeilen später die vermittelte Unmittelbarkeit und die exzentrische Positionalität „elementar-ursprüngliche Seinsweisen“.⁴⁹² Bleibt man hier beim Wortlaut stehen, so hat man es mit bloß nebengeordneten Seinsweisen zu tun, die man in inflationär veralltäglichtem „Heideggerisch“ als

 Wenn Plessner sagt, dass die vermittelte Unmittelbarkeit für den „ganzen Bereich“ der exzentrischen Positionalität gelte, schließt dies die beiden anderen anthropologischen Grundgesetze mit ein und ist auch genau so gemeint: „,Die Stufen des Organischen‘ schließen mit der Benennung von drei anthropologischen Grundgesetzen, deren erstes, das der vermittelten ‚Unmittelbarkeit‘, für den ganzen Bereich der exzentrischen Position gilt, wie die beiden anderen der natürlichen ‚Künstlichkeit‘ und des ,utopischen Standortes‘.“ (Plessner 1985a: 331)  LuW: 248.  Ebd.

4.12 Seiende Möglichkeit als ontologische Bestimmung von Personalität

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„gleichursprünglich“ bezeichnen kann, um einen Haken unter das vermeintlich durchdrungene Problem zu setzen. Doch die Auffassung beider als „gleichursprünglich“ würde die Spezifikation der exzentrischen Positionalität in der vermittelten Unmittelbarkeit bloß verwischen und die Differenz zwischen beiden in einer Indifferenz der Gleichursprünglichkeit zugleich bestehen und verschwinden lassen. Hierarchisiert man hingegen die Differenz in quasi-deduktiver Weise zugunsten der exzentrischen Positionalität, so gerät man in den Zirkel der Zurückführung einer elementar-ursprünglichen Seinsweise auf eine andere, die wiederum als Fundament oder gar Ursache jener, ihr subordinierten, angesetzt werden müsste. Der Zerfall in die Unmittelbarkeit und die Vermitteltheit wäre dann nicht „mit der exzentrischen Positionalität des Menschen gegeben“,⁴⁹³ sondern durch sie als ihre Ursache. Statt beide in einem Ursache-Wirkungs-Verhältnis zu sehen, ist die exzentrische Positionalität als eine elementar-ursprüngliche Seinsweise naturphilosophisch-anthropologischer Art zu verstehen, die vermittelte Unmittelbarkeit hingegen als eine elementar-ursprüngliche Seinsweise strukturlogischer Art; die Ebenendifferenz begründet keine Rangfolge, sondern gerade die Intransgredienz der Kategorien, d. h. die Unmöglichkeit, sie ineinander überzuführen oder durch einander zu ersetzen. Es kann daher auch nur auf den ersten Blick paradox erscheinen, dass von zwei „elementar-ursprünglichen Seinsweisen“ eine, nämlich die exzentrische Positionalität, eine größere Fundierungsreichweite, nämlich eine naturphilosophisch-anthropologische, hat als die andere. Als explosiv und aporetisch kann diese Differenz sich erst darstellen, wenn man die verschiedenen Fundierungen durch ein Fundament ersetzen will, aus dem alles andere abzuleiten sei. Spezifikation bedeutet nicht Aufhebung von Differenz oder Nivellierung, sondern Materialisierung in einer konkreten – ob physischen oder nicht-physischen – Gestalt. In freier Anverwandlung einer semiotischen Grundunterscheidung ausgedrückt: Der Spezifikant (vermittelte Unmittelbarkeit) kann nicht die Begründung des Spezifikats (exzentrische Positionalität) leisten; umgekehrt kann das Spezifikat den Spezifikanten nicht hervorbringen; zudem können beide voneinander unterschieden, aber nicht voneinander getrennt werden, da sie konstitutiv für die semiotische Grundrelation sind, die nicht aufgehoben werden kann, ohne dass Gegenstand und Bedeutung in eins aufgehoben werden. Die Spezifikation bezeichnet daher eine interne Relation zwischen Spezifikant und Spezifikat im Unterschied zur metaphysischen Realisierung des Urbilds im Abbild, wo die Relation nur insofern eine interne ist, als sie vom Urbild gestiftet wird. Der Begriff der Spezifikation enthält logisch – da die Spezifikation eine solche nur sein

 SOM: 331.

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4 Plessners Transformation der Ontologie

kann, weil sie nicht mit dem, was sie spezifiziert, identisch ist –, was diese Paradoxie zum Verschwinden bringt, nämlich dass beide Konzepte, die als „elementar-ursprüngliche Seinsweisen“ weder koextensionaler Natur noch durcheinander substituierbar sind, Unterschiedliches leisten sollen: Die vermittelte Unmittelbarkeit muss daher nur zur Explikation eines Sachverhalts dienen, der mit der exzentrischen Positionalität gegeben ist, weil er unaufhebbar in das Dasein von Lebewesen eingebettet ist, denen die exzentrische Positionalität zukommt; dies ist in der Explikation der Bewusstseinsimmanenz der Fall. Die vermittelte Unmittelbarkeit muss und kann hingegen nicht als Explikationsbasis ihrer eigenen Vermittlung fungieren; sie wäre dann nicht mehr Bestimmung des spezifischen Charakters der Unmittelbarkeit als einer ihrer selbst als vermittelt ansichtigen, sondern ein Prinzip der Transzendierung dessen, was der Begriff besagt und was in der exzentrischen Positionalität als der Möglichkeit der Transzendenz noch gegenüber der Erfassung der Vermitteltheit der Unmittelbarkeit in einer höherstufigen Vermittlung fassbar wird. Wäre die vermittelte Unmittelbarkeit selbstbegründungsfähig, so könnte Plessner den Begriff der Mitwelt genauso gut anhand der vermittelten Unmittelbarkeit wie anhand der exzentrischen Positionalität explizieren, doch die Bestimmung der Mitwelt bleibt an die in der exzentrischen Positionalität strukturell angelegte Transzendenz gegenüber der vermittelten Unmittelbarkeit gebunden und bildet selbst kein Konkretum, das sich als Unmittelbarkeit fassen lässt: Das spezifische Substrat der Mitwelt beruht also doch nur auf ihrer eigenen Struktur. Mitwelt ist die vom Menschen als Sphäre anderer Menschen erfaßte Form der eigenen Position. Man muß infolgedessen sagen, daß durch die exzentrische Positionsform die Mitwelt gebildet und zugleich ihre Realität gewährleistet wird.⁴⁹⁴

Als „Substrat“ und „Form der eigenen Position“ kann die Mitwelt kein Konkretum und folglich keine Unmittelbarkeit überhaupt bilden; sie bildet keinen empirischen Bestandteil der Bewusstseinsimmanenz, sondern primär den Rahmen der sozialen Welt, die nur sekundär als „Mitwelt“ bezeichnet werden kann.⁴⁹⁵ Eine weitere Vertiefung dieser Problematik ist hier nicht möglich. Die Ausführungen zum Verhältnis der vermittelten Unmittelbarkeit und der exzentrischen Positionalität sollten lediglich der Schärfung der mehrfältigen Rolle der vermittelten Unmittelbarkeit dienen, um die doppelte Rolle des Begriffs der seienden Mög-

 Ebd.: 302.  Er fasst sich dann als „Glied der Mitwelt“ auf: „Die Existenz der Mitwelt ist die Bedingung der Möglichkeit, daß ein Lebewesen sich in seiner Stellung erfassen kann, nämlich als ein Glied dieser Mitwelt.“ (ebd.: 302 f.)

4.13 Seiende Möglichkeit als ontologischer Grundbegriff

321

lichkeit vorzubereiten, der ebenfalls eine grundbegriffliche Rolle in der Explikation von Leben überhaupt und der Daseinsweise des Menschen spielen könnte – und sollte.

4.13 Seiende Möglichkeit als ontologischer Grundbegriff und die Ontologie der menschlichen Person Indem Plessner sagt, man komme „nicht darum herum, lebendiges Sein als seiende Möglichkeit und in seiner Beziehung zur seienden Wirklichkeit des vorhandenen greifbaren Körpers näher zu bestimmen“,⁴⁹⁶ führt er diesen Begriff als einen unumgehbaren Begriff der Bestimmung des lebendigen Seins ein. Wo Plessner vom Lebendigen als seiender Möglichkeit handelt, geht es um Modalitäten des lebendigen Seins, um „Sein im Modus der Potenz“,⁴⁹⁷ das gleichwohl unterschätzt und verkannt werde, wo von seiner Potenzialität als einer „Potentialität als reinem Nochnichtsein“⁴⁹⁸ gesprochen werde. Plessner ist hier gerecht zu werden versucht worden mittels der Analyse des lebendigen Seins als eines material-modalen, kurz: als eines dialektisch-ontologischen Ineinander von Potenz und Akt. Vom klassischen Akt-Potenz-Denken unterscheidet Plessners Entwurf sich – und zwar entscheidend – darin, dass die Relation von Potenz und Akt nicht mehr als eine des Übergangs von der Potenz in den Akt gedacht wird. Edith Stein hat zwar bereits, wie gezeigt, von Potenz und Akt als Seinsmodi gesprochen, zugleich aber die klassische Auffassung beider als Modalitäten distinkter entitärer Zustände beibehalten. Die Auffassung von Potenz und Akt als eine Relation des Übergangs eines distinkten Zustandes der Potenz in einen distinkten Zustand des Aktes hat Plessner hinter sich gelassen, indem er Akt und Potenz nicht mehr als „das Verhältnis zwischen seienden Elementen“,⁴⁹⁹ sondern sie konsequent als „eine Seinsweise“⁵⁰⁰ und demzufolge „das Vermögen, die Potenz als eine Art des Seins“⁵⁰¹ aufgefasst und entfaltet hat. Die im Folgenden zu begründende These besagt – Plessners Ontologie des Organischen über sich selbst hinaustreibend und die Potenz als Art des Seins wie die vermittelte Unmittelbarkeit auf die Explikation der menschlichen Daseinsweise übertragend und ausweitend –, dass über die Bestimmung des lebendigen Seins als Potenz und seiende Möglichkeit hinaus

     

Ebd.: 173. Ebd.: 172. Ebd. Ebd.: 175. Ebd. Ebd.

322

4 Plessners Transformation der Ontologie

auch das lebendige Sein des Menschen ontologisch als seiende Möglichkeit zu bestimmen wäre.⁵⁰² Die ontologische Bestimmung des Menschen als seiende Möglichkeit führt nominell keine Neuerung gegenüber der Bestimmung des Lebendigen überhaupt als seiende Möglichkeit ein; der Terminus „seiende Möglichkeit“ gewinnt daher kontextuell, je nach dem in Rede stehenden Gegenstand, seinen Sinn, d. h. ein Grundbegriff der Ontologie des Organischen erfährt eine Transposition, ohne einen neuen und dem spezifischen Gegenstand allein geltenden Namen zu erhalten. Die ontologische und die naturphilosophische Bestimmung konvergieren darin, dass sie beide einander von verschiedenen Warten aus beleuchtende anthropologische Bestimmungen sind. Damit wird zugleich behauptet: Die ontologische Bestimmung des Menschen ist ein wesentliches Moment seiner anthropologischen Bestimmung, die ohne diese ontologische Bestimmung insuffizient bleiben muss. „Seiende Möglichkeit“ ist eine ontologische Bestimmung, weil sie eine Was-Bestimmung ist; sie antwortet auf die Frage, was der Mensch sei, ohne in dieser Beantwortung eine entitär zu verstehende Substanz wie Geist, Wille, Seele etc. in Anspruch zu nehmen, d. h. sie bestimmt den Menschen nicht durch etwas im Menschen und erst recht nicht durch ein höheres, in sein Sein von außen eingreifendes Sein. Sie bestimmt das Wesen des Menschen deshalb auch nicht von Partikularpotenzen oder substanzialisierten Eigenschaften her, sondern sie bestimmt das Wesen der menschlichen Person strukturgesetzlich. In der Übertragung auf den Menschen nimmt die Ontologie des Organischen daher die Gestalt einer Ontologie der menschlichen Person an: Wiederum unter diesem Aspekt einer universellen Wissenschaft vom Ausdruck erweist es sich als notwendig, die Probleme einer philosophischen Anthropologie, einer Lehre vom Menschen und von den Aufbaugesetzen seiner Lebensexistenz aufzusuchen und zu verfolgen. Hierher gehören die Fragen der Wesensstruktur der Persönlichkeit und der Personalität

 Erste Schritte in diese Richtung deuten sich bei Haucke (Haucke 2002) an, werden aber keineswegs konsequent gedacht, sondern das Sein der seienden Möglichkeit wird durch einen Ausdrucksüberschuss gegenüber der bloßen Erscheinung bestimmt; Kants Erscheinungsbegriff und Plessners Ausdrücklichkeit als Lebensmodus des Menschen gehen dabei eine konfuse Liaison ein: „Eine seiende Möglichkeit ist nichts anderes als ein Wirkliches, das erscheint und zum Ausdruck bringt, daß es mehr ist, als was es in der Erscheinung ist […] Es ist in der Erscheinung präsent als etwas, das sich in keiner Erscheinung erschöpft.“ (Haucke 2002: 118) Doch nicht nur Plessner und Kant werden über die methodisch bedingten Abgründe ihrer Erscheinungsbegriffe hinweg vermischt, der klassische Substanzbegriff, von dem Haucke sich (und über sich vermittelt auch Plessner) lösen kann, wird mit dem Ding an sich identifiziert, muss letztlich herhalten, um die seiende Möglichkeit eine seiende Möglichkeit sein zu lassen: „Die Substanz, das Ding an sich ist in der Erscheinung präsent, je schon vermittelt mit seinen Akzidenzien, nicht pure Wirklichkeit, sondern seiende Möglichkeit – Spiel, Irrealität, Ambivalenz.“ (ebd.: 127)

4.13 Seiende Möglichkeit als ontologischer Grundbegriff

323

überhaupt, ihrer Ausdrucksfähigkeit und Ausdrucksgrenzen, der Bedeutung des Leibes für Art und Reichweite des Ausdrucks, die Fragen der Wesensformen der Koexistenz von Personen in sozialen Bindungen und der Koexistenz von Person und ,Welt‘, also die bedeutungsvolle Frage des menschlichen Lebenshorizontes und seiner Variierungsfähigkeit, die Frage der möglichen Weltbilder.⁵⁰³

Die Reihe von Fragen, die Plessner anspricht, können eine elaborierte Beantwortung einzig in der Fortsetzung von Schelers Projekt einer „Wissenschaft von der menschlichen Person“ erfahren, an welches Plessner hier⁵⁰⁴ in der Vertiefung von Motiven aus seinen Frühschriften⁵⁰⁵ anknüpft, um dieser Vertiefung in den Stufen die Gestalt einer Philosophischen Anthropologie zu verleihen. Die strukturgesetzliche Antwort auf die aufgeworfenen Fragen sucht Plessner in der Explikation der exzentrischen Positionalität. Die exzentrische Positionalität findet, wie nun gezeigt werden soll, ihre komplementäre ontologische Bestimmung im Begriff der seienden Möglichkeit bzw. der realen Potenz. Statt einander widerstreitende Bestimmungen des Menschen darzustellen, bilden die seiende Möglichkeit und die exzentrische Positionalität im strikten Sinne komplementäre Bestimmungen. Die exzentrische Positionalität bestimmt nicht das Wesen des Menschen, sondern sie bestimmt naturphilosophisch die Qualität des Verhältnisses des natürlichen Lebewesens Mensch zu seiner sich für ihn als Welt spezifizierenden Umwelt in dessen struktureller Bedingtheit; die seiende Möglichkeit bestimmt das Wesen des Menschen, d. h. sein Was-Sein, ontologisch. Plessner sagt in Lachen und Weinen, mit der exzentrischen Positionalität sei „die formale Bedingung angegeben, unter der die menschlichen Wesensmerkmale und Monopole in ihrer (dem Sinne nach) unauflöslichen Verbundenheit erscheinen“.⁵⁰⁶ Hier ist Plessner gegen sich selbst zu verteidigen. Würde die exzentrische Positionalität tatsächlich nur eine formale Bedingung personaler Existenz angeben, so könnte sie keine „Ermöglichungsbedingung“ im strikten Sinne darstellen, als welche sie sowohl konsequent von Krüger als auch hier im Anschluss an Krüger aufgefasst wird. Eine Ermöglichungsbedingung im strikten Sinne des Ausdrucks muss eine materiale Bedingung sein, sie lässt sich nicht zur bloßen Denkvoraussetzung oder nomologischen Notwendigkeit verkürzen, welche letztere als „formale Bedingung“ angesprochen werden kann. Von einer bloß formalen Bedingung lässt sich nicht sinnvoll aussagen, dass das Bewusstsein der

   

SOM: 24. Vgl. ebd., wenige Zeilen weiter. Vgl. Kapitel 1.1. LuW: 245.

324

4 Plessners Transformation der Ontologie

durch sie „bedingte Aspekt“⁵⁰⁷ sei oder dass der Andere „als Glied einer sozialen Umgebung, als Mitmensch […] in der besonderen Struktur der personalen Sphäre seinen Grund“⁵⁰⁸ habe. Was oben „materiale Bedingung“ genannt wird, nennt Krüger „die strukturfunktionale Ermöglichung der Spezifik menschlicher Lebewesen“,⁵⁰⁹ womit mehr angegeben wird als eine bloß „formale“ Bedingung, ohne dass der Rückgriff auf inhaltliche Bestimmungen wie den Geist erfolgte. Die exzentrische Positionalität mit Krüger (und sachlich, wenn auch nicht durchgängig im Wortlaut, mit Plessner) im strukturfunktionalen Sinn aufzufassen – der Begriff steht in keinerlei Widerspruch zu Plessners Bestimmung der exzentrischen Positionalität, sondern bringt diese terminologisch „zu sich“ –, ermöglicht es erst, seiende Möglichkeit und exzentrische Positionalität als komplementäre Bestimmungen aufzufassen. Das Sein der seienden Möglichkeit bzw. der Person ist theoriestrukturell in ihrer Doppelrolle mit der vermittelten Unmittelbarkeit verglichen worden, doch eine engere Verwandtschaft dieser ontologischen Bestimmung besteht sachlich zum Gesetz der natürlichen Künstlichkeit. Die seiende Möglichkeit, die als reale Potenz nicht selbstgenügsam, sondern darauf angewiesen ist, sich als Potenz durch Lebensvollzüge bzw. durch Verwirklichungen in der personalen Lebensführung zu realisieren, um reale Potenz statt bloße leere Möglichkeit (eine solche kann nicht im Modus der Lebendigkeit, sondern nur als deren artifizieller Nullpunkt existieren) zu sein, ist temporär heimatschaffend (auch wenn die Ferne abenteuerlich als Heimat fungieren soll) unter der Voraussetzung konstitutiver Heimatlosigkeit: Weil dem Menschen durch seinen Existenztyp aufgezwungen ist, das Leben zu führen, welches er lebt, d. h. zu machen, was er ist – eben weil er nur ist, wenn er vollzieht – braucht er ein Komplement nichtnatürlicher, nichtgewachsener Art. Darum ist er von Natur, aus Gründen seiner Existenzform künstlich. Als exzentrisches Wesen nicht im Gleichgewicht, ortlos, zeitlos im Nichts stehend, konstitutiv heimatlos, muß er „etwas werden“ und sich das Gleichgewicht – schaffen.⁵¹⁰

Besteht das Ideal der Lebensführung darin, eine endgültige Heimat zu erschaffen, die Heimaterschaffung also zu finalisieren, so jagt eine Person permanent Surrogaten der Vollendung in der unantastbaren Idylle hinterher. Besteht das Ideal der Lebensführung hingegen darin, unter der Anerkennung der natürlichen Künstlichkeit und der Unabschließbarkeit des (geführten und zu führenden) Le   

SOM: 303. Ebd.: 306. Krüger 2001: 10. Vgl. auch ebd.: 249. SOM: 310.

4.13 Seiende Möglichkeit als ontologischer Grundbegriff

325

bens im Leben die konstitutive Heimatlosigkeit als Rückseite der Potenzialität zu begreifen statt die Hinfälligkeit eines jeden, vor allem eines bejahbaren, status quo existenzialistisch als Verfallenheit ans Nichts aufzufassen, tritt an die Stelle der unerreichbaren Vollendung die prinzipiell erreichbare Erfüllung in der Lebensführung, die in der Orientierung an konkreten Vollzügen im aristotelischen Sinne als Entelechie bezeichnet werden kann. Entelechie als Erfüllung, die keine Vollendung darstellen soll, wäre gerade die nicht im Ganzen abschließende und abschließbare Aktualisierung nicht im Ganzen aufhebbarer Potenzialität.

5 Das Politische in der Ontologie der Person 5.1 Überblick über die Forschungsliteratur Das Politische,wie es Plessner als Problem in den Grenzen der Gemeinschaft und in Macht und menschliche Natur sich vorgesetzt hat, ist in der Plessner-Forschung häufig konventionell behandelt worden, weshalb zwar teilweise ein systematischer Zusammenhang mit den Stufen konzediert wird, das Politische als Ermöglichungsbedingung von Politik aber nicht naturphilosophisch gedacht wird; andere Studien changieren zwischen historischer Rekonstruktion und systematischer Erschließung, ohne dass eine klare Entscheidung sie prägte. Ein treffliches Beispiel für die Konfusion von historischer und systematischer Deutung bildet Rüdiger Krammes Buch Helmuth Plessner und Carl Schmitt. Eine historische Fallstudie zum Verhältnis von Anthropologie und Politik in der deutschen Philosophie der zwanziger Jahre, dessen Titel suggeriert, dass es sich um eine Studie über einen bestimmten Zeitabschnitt handele, dessen zentrale These allerdings in der Behauptung „einer theoretischen Wahlverwandtschaft“¹ Plessners und Schmitts besteht. Eine solche Wahlverwandtschaft übersteigt nicht nur notwendig historische Koinzidenzen, sie wird zugleich von Kramme aufgehoben, indem er sie, von einer von Plessner „angestrebte[n] Wahlverwandtschaft“² sprechend, zu einer strategischen Leistung Plessners verklärt. Der historischen Intention Krammes entspricht seine zweifelhafte Behauptung, dass „Plessner und Schmitt in der Analyse der Gegenwart übereinstimmen“³ und dass beider „Theoriekonzepte in ihrem politischen Kontext als Argumentationskontinuum gelesen werden können“.⁴ Kramme erweitert diese historische These allerdings um die Behauptung einer grundlegenden systematischen Übereinstimmung und Gleichsinnigkeit der Philosophien Plessners und Schmitts: „Plessners Ausführungen lassen sich als notwendige anthropologische Erläuterungen der Schlüsseltheoreme Schmitts lesen und umgekehrt“,⁵ Schmitts Theorie des Politischen könne gar „als Operationalisierung der von Plessner anthropologisch übersetzten Gegenwartsdiagnose gelesen werden“.⁶ Indem Kramme von einer „anthropologisch übersetzten Gegenwartsdiagnose“ spricht, muss er mindestens zwei Über-

     

Kramme 1989: 9. Ebd.: 221. Ebd.: 208. Ebd.: 217. Ebd.: 22. Ebd.: 208.

DOI 10.1515/9783110459159-006

5.1 Überblick über die Forschungsliteratur

327

setzungsleistungen selbst vollziehen und in Plessner hineinprojizieren: Die naturphilosophische Systematik der Stufen muss eine Reaktion auf die politische Situation der 1920er darstellen und anthropologisch Plessners „Versuch, die Identitätssicherung und Selbstbehauptung des Bürgertums theoretisch zu fundieren“⁷ beinhalten; wie die exzentrische Positionalität, die natürliche Künstlichkeit⁸ und das Gesetz des utopischen Standorts ein ihnen derart fremdes Bedürfnis erfüllen sollen, erläutert Kramme nicht. Umgekehrt muss eine bereits vorhandene Zeitdiagnose, damit sie anthropologisch übersetzt werden kann, vor der Entwicklung der Stufen bereits ausgebildet gewesen sein. Als Kandidat kommen lediglich die Grenzen der Gemeinschaft in Betracht, da Macht und menschliche Natur drei Jahre nach den Stufen erschienen ist, d. h. die Stufen hätten eine (die Gegenwartsdiagnose womöglich dabei modifizierende) Übersetzung der Grenzschrift ins Anthropologische zu bilden, welche These durchaus abenteuerlich anmutet. Auf der Linie dieser genetischen Epiphänomenalität der Stufen liegt Krammes These, wonach „Funktion und Stellenwert“⁹ der Philosophischen Anthropologie sich „einer besonderen Auffassung von Politik“¹⁰ zuordne, die Krammes Ausgangsthese zufolge mit Schmitts Auffassung von Politik zu koinzidieren hätte. Auf diese These und ihre Falschheit¹¹ kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden, worauf es hier ankam, war zu zeigen, dass Kramme das Politische bei Plessner als philosophische Grundlegung einer bestimmten und an die historische Situation der 1920er Jahre gebundenen Politik auffasst. Eine Theorie des Politischen kann daraus keine Impulse beziehen. Anders als Kramme hat Bielefeldt, wie sein Buch Kampf und Entscheidung. Politischer Existentialismus bei Carl Schmitt, Helmuth Plessner und Karl Jaspers

 Ebd.: 224.  Kramme nimmt sich die Freiheit, die natürliche Künstlichkeit „natürliche Kulturbedürftigkeit“ (ebd.: 110) zu nennen; der Weg zu einer Kompensationstheorie, deren Motiv die Sicherung statt die Entsicherung ist, ist damit geebnet.  Ebd.: 229.  Ebd. – Zugleich wird Politik allgemein als Mittel zur Durchsetzung partikularer Sicherheitsund Identitätsbedürfnisse, also in Ablösbarkeit von konkreten historischen Bedürfnissen, bestimmt: Die Mittel zur Erfüllung des Bedürfnisses „nach Sicherheit und Identität“ (ebd.: 134) seien „Entscheidung“ und „Haltung“, der sie um- und übergreifende Begriff: Politik. (ebd.)  Honneth hat eine ausführliche Kritik der Position Krammes vorgelegt, welche die „entscheidende Differenz“ (Honneth 2002: 24) gegenüber der prima facie-Wahlverwandtschaft artikuliert. – Auch Norbert Axel Richter (Richter 2005: 187 ff.) sieht klar, dass die Schmitt-Bezugnahmen Plessners eher äußerlicher als identifikatorischer Natur waren und spricht deshalb bei Plessners Bezugnahmen von einer „Kategorientransformation“ im Unterschied zu einem „Kategorientransfer“ (ebd.: 188). Eine explizite Kritik von Krammes formuliert Richter in Richter 2001: 788 ff.

328

5 Das Politische in der Ontologie der Person

(1994) zeigt, einen klaren Blick für die gegensätzlichen Intentionen Plessners und Schmitts,¹² als deren beider Gemeinsamkeit mit Jaspers Bielefeldt, alle drei Ansätze als „existentialistisch“ qualifizierend, zurecht das Anliegen ausmacht, der „Politik gegen […] harmlos-harmonisierenden Idealismus ihren inneren Ernst zu wahren“.¹³ Seinem politikwissenschaftlich geprägten Zugang zum Werk Plessners entsprechend, hält Bielefeldt Plessner vor, er löse in Macht und menschliche Natur „den Staatsbegriff tendenziell dadurch auf, daß er Staatlichkeit als bloßen Modus der allgemeinen existentiellen Ungesichertheit und Konflikthaftigkeit im menschlichen Zusammenleben überhaupt versteht“.¹⁴ Trotz dieser komparatistischen Orientierung am Staatsbegriff, der in Bielefeldts Analysen eine tragende Rolle spielt, hat Bielefeldt einen klaren, nicht von der Führung durch Signalwörter abhängigen Blick für den Zusammenhang zwischen der Naturphilosophie und der Theorie des Politischen bei Plessner: Weil Plessner in den ,Stufen des Organischen‘ den Weg zur radikalen Frage des Menschen nach sich selbst bereitet, kommt diesem Buch eine Schlüsselstellung für die Entwicklung der philosophischen Anthropologie zu. Dies hat auch Auswirkungen auf seine politische Philosophie, obwohl das Politische hier praktisch nirgendwo direkt thematisiert wird.¹⁵

Doch Bielefeldts oben angesprochene Explikationsintention erlegt ihm nicht als Desiderat auf, den Zusammenhang zwischen naturphilosophischer Grundlegung und der Reflexion des Politischen weitreichend zu verfolgen, weshalb Bielefeldt sich darauf beschränkt, das Politische mit der Mitwelt und der exzentrischen Positionalität für gegeben zu halten,¹⁶ es aber zugleich als den aus der fundamentalen Ambivalenz der menschlichen Natur, der Gespaltenheit in Innen und Außen, in Eigenes und Fremdes hervorgehenden „Kampf zwischen zwei Gegensätzen“¹⁷ aufzufassen. Der Sprung von der Ambivalenz zwischen Umweltgebundenheit und Weltoffenheit, auf den Bielefeldt sich im Ausgang von den Stufen bezieht, verkürzt den Zusammenhang zwischen beiden Werken um die Rolle des Bruchs von Leibsein und Körperhaben in der Personalisierung, den Krüger als unhintergehbar herausgearbeitet hat und von dem wir auch hier ausgehen. Weil Bielefeldt den Bruch nicht im Rückgriff auf Lachen und Weinen ausformuliert und an die naturphilosophische Grundlegung in den Stufen rückbindet, ist das Poli     die 

Bielefeldt 1994: 69 f. Ebd.: 115. Ebd.: 97. Ebd.: 76. „Er ist daher notwendig das politische Lebewesen: „Die exzentrische Positionsform bedingt Mitweltlichkeit oder Sozialität des Menschen, macht ihn zum zôon politikôn…““ (ebd.: 81) Ebd.: 90.

5.1 Überblick über die Forschungsliteratur

329

tische sowohl im abstrakt bleibenden Sinne der strukturell-anthropologischen Notwendigkeit die in der menschlichen Natur gründende Schicksalhaftigkeit wie auch Politik im empirischen Sinne, kurz: Transzendentale Begründung und empirische Realität fallen zusammen, da beide als Kampf bestimmt werden, der politische Existentialismus wird in die Philosophische Anthropologie projiziert. Gerhard Arlts Buch mit dem vielversprechenden Titel Anthropologie und Politik. Ein Schlüssel zum Werk Helmuth Plessners (1996) enthält eine Deutung, die sich auf den Zusammenhang zwischen den Grenzen der Gemeinschaft, den Stufen und Macht und menschliche Natur beschränkt und die Bedeutung von Lachen und Weinen verkennt, weshalb die Unterscheidung zwischen Leibsein und Körperhaben in Arlts Überlegungen keine Rolle spielt. Anders als Kramme sieht Arlt, dass es Plessner in Macht und menschliche Natur um die philosophische Emanzipation vom „kursierende[n] (Un‐)Begriff der Politik in seiner verkürzten, rein instrumentellen Bedeutung“¹⁸ geht. Arlt sieht den sachlichen Zusammenhang zwischen den Stufen und Macht und menschliche Natur, ¹⁹ psychologisiert aber Plessners „anthropologische Bestimmung des Politischen“²⁰ unter der Hand, indem er Plessners Konzeptualisierung der Verschränkungsnotwendigkeit von Eigenem und Fremdem dahingehend charakterisiert, dass Plessner „das Fremde selbst zu benennen und im psychodynamischen Motivationsgefüge des Menschen zu fundieren“²¹ suche. Abgesehen davon, dass Plessners Bestimmung des Fremden in Macht und menschliche Natur weder der Intention nach noch der Formulierung nach psychologischer Art ist, hätte es sich genau umgekehrt zu verhalten: Theorie muss ein Fundierungsverhältnis einholen statt es zu leisten, sie kann nichts fundieren, was nicht sachlich fundiert wäre, ohne in Ideologie abzudriften. Eine solche Fundierungsleistung wäre allenfalls ein Desiderat geschichtlicher Praxis, nicht aber der Theorie. Insofern schleicht sich in Arlts Betrachtung eine Bevorzugung von Macht und menschliche Natur bei gleichzeitigem Hinwegsehen über Lachen und Weinen ein. Die „naturphilosophische Frage wird abgelöst durch die Perspektive auf Geschichte und Gesellschaft als die den Menschen übergreifenden und prägenden Mächte“,²² ohne dass die Gültigkeit der naturphilosophischen Perspektive suspendiert würde; diese wird aber auch nicht wieder als Begrenzung bzw. Brechung der Geschichtlichkeit in die Betrachtung des Politischen hineingeholt, sondern mit resignativem Pathos als bloß kreatürlicher Rest stehengelassen: „Die schwerfällige Anatomie des Menschen, seine Leiblichkeit, an der er

    

Arlt 1996: 106. Vgl. ebd.: 84 f. Ebd.: 122. Ebd.: 123. Ebd.: 83.

330

5 Das Politische in der Ontologie der Person

seine Grenze erfährt, widersteht allem geschichtlichen Wandel. Trotz der Geschichtlichkeit, die ihm eignet, kann er sich nicht nach seinem Bilde formen. Es bleibt ein Erdenrest zu tragen peinlich.“²³ Nele Schneidereit versucht in Die Dialektik von Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe einer kritischen Sozialphilosophie (2010), „mit Plessner den Begriff sozialer Wirklichkeit zu konkretisieren, den ich mit Tönnies begriffslogisch entwickelt habe“.²⁴ Die Engführung Tönnies’ mit Hegel bestimmt auch Schneidereits Begriff der Dialektik, für den kennzeichnend ist, dass Begriffslogik und Reallogik zusammenfallen: Mit Dialektik bezeichne ich hier die Entfaltung der Idee des Sozialen in ihre begrifflichen und realen Widersprüche Gemeinschaft und Gesellschaft bzw. die Standpunkte eines sozialen Ganzen und des Individuums sowie deren Aufhebung im Begriff sozialer Wirklichkeit unter Beibehaltung seiner sich widersprechenden grundlegenden sozialen Aspekte.²⁵

Die Identifikation von begrifflichen und realen Widersprüchen führt dazu, dass die Unmöglichkeit von Versöhnung, welche Schneidereit für ein Charakteristikum einer sich selbst ernstnehmenden Dialektik hält, die unmögliche Versöhnung gleichwohl begriffslogisch implementiert, weil das Verhältnis von Gemeinschaft und Gesellschaft unter dem Primat des Begriffs jegliches explosives Potenzial einbüßt. Die Unmöglichkeit der Versöhnung ist erst dann nicht mehr trivial, wenn der Antagonismus von Gemeinschaft und Gesellschaft ernstgenommen wird und nicht lediglich unhintergehbare begriffliche Koordinaten festlegt, innerhalb derer Praxis sich bewegt, ohne sie sprengen zu können. Um diesen Antagonismus geht es Plessner in den Grenzen der Gemeinschaft wie auch die von Schneidereit zitierte Formulierung aus Plessners Nachwort zu Ferdinand Tönnies zeigt, wo Plessner von der „unverbrüchliche[n] dialektische[n] Verbindung von Gemeinschaft und Gesellschaft als Verwirklichungsweisen sozialen Daseins“²⁶ spricht, diese aber in einen Finalsatz einbettet, in welchem es um Gemeinschaft als Ideal und als in ihrer Einseitigkeit und Überhöhtheit zu bekämpfendes Ideal geht, nicht um Gemeinschaft als begriffliches und reales Konstitutionsmoment sozialer Wirklichkeit: Mir ging es um die unverbrüchliche dialektische Verbindung von Gemeinschaft und Gesellschaft als Verwirklichungsweisen sozialen Daseins, um die Bestreitung möglicher Vereinseitigung des Gemeinschaftsideals, den Nachweis also der Unaufhebbarkeit der Öffent-

   

Ebd.: 55. Schneidereit 2010. Ebd.: 20. Plessner 2001a: 177. – Zitiert in Schneidereit 2010: 138.

5.1 Überblick über die Forschungsliteratur

331

lichkeit, der Distanzen, der Diplomatie, von Gewalt und Macht im zwischenmenschlichen Verkehr.²⁷

Übergeht man die antagonistische Gegensätzlichkeit von Gemeinschaft und Gesellschaft und ihren Ethos-Charakter, so kann man in der entkernten Interpretation der Grenzen der Gemeinschaft eine „Sozialontologie des alltäglichen Daseins“²⁸ entwickelt sehen. Eine solche Ontologie ist dann aber im strikten Wortsinn eine des Sozialen und keine des Politischen, und sie kann auch keine des Politischen sein, weil das Politische nur als konkreter Fall innerhalb des durch die Dialektik von Gemeinschaft und Gesellschaft bestimmten Sozialen denkbar bleibt. Die Naturphilosophie gerät in dieser Lesart in eine Randposition, weil die begrifflichen Koordinaten der Sozialphilosophie bereits feststehen und die Stufen lediglich ein anthropologisches Supplement der am Hegel’schen Modell der bürgerlichen Gesellschaft geschulten Dialektik von Gemeinschaft und Gesellschaft bilden: „Plessners philosophische Anthropologie hellt das moralische, reflexive Subjekt der Hegelschen bürgerlichen Gesellschaft als (stets historisch bedingte) menschliche Grundsituation auf und weist es als strukturnotwendiges Moment einer kritischen Sozialphilosophie aus.“²⁹ Volker Schürmann hat in seinem Aufsatz Unergründlichkeit und Kritik-Begriff. Plessners Politische Anthropologie als Absage an die Schulphilosophie (1997) das Politische durch dessen Überführung ins Diskursive entschärft. Schürmann zufolge sei eine Anthropologie, da sie sich „schon im Ansatz ihrer Frage für eine bestimmte Auffassung entschieden“³⁰ habe, „in diesem Sinne politisch relevant“.³¹ Dass Schürmann eine an Plessner orientierte Diskurspolitik im Auge hat, geht auch aus der programmatischen Deutung in seinem Buch Die Unergründlichkeit des Lebens. Lebens-Politik zwischen Biomacht und Kulturkritik (2011) hervor, wo Schürmann hervorhebt, dass mit Plessner „gegen angewandte Ethiken eine Artikulationstheorie des Politischen formulierbar“³² werde, welcher Schürmanns im Untertitel angeführter Begriff der Lebens-Politik im Wesentlichen entspricht: Lebens-Politik wäre dann der Artikulations-Prozess jenes gesellschaftlichen ,Grenzregimes‘, der sich – gleichsam täglich umkämpft und umstritten – je epochal in der Auszeichnung bestimmter Naturkörper als Personen manifestiert. Bei emanzipatorischer Absicht wäre

     

Plessner 2001a: 177 f. Schneidereit 2010: 157. Ebd.: 133. MmN: 221, auch von Schürmann zitiert in: Schürmann 1997: 358. Ebd. Schürmann 2011: 232.

332

5 Das Politische in der Ontologie der Person

dabei die Errungenschaft der Moderne zu bewahren, dass die deklarierte und verbindlich gemachte Staatsbürgerschaft diejenige Form von Personalität ist, die eine Schutzfunktion der Unergründlichkeit des und der Einzelnen ist. Die ,Unantastbarkeit der Würde‘ ist der verbriefte Schutz der Einmaligkeit der Person.³³

Die staatsbürgerschaftliche Frömmigkeit Schürmanns öffnet gerade der Verharmlosung des Politischen Tür und Tor,³⁴ gegen die Bielefeldt sich mit seiner Deutung Plessners gewandt hatte. Auf der Linie dieser liegt Schürmanns sich auseinander ergebende Aufweichung und Fundamentalisierung der Unergründlichkeit als verselbständigtes Prinzip. Um eine Aufweichung handelt es sich, weil die Unergründlichkeit in der (symbol‐)politischen Überschätzung diskursiver Praktiken zu einer diskurspolitischen Maxime verharmlost wird; um eine Fundamentalisierung handelt es sich, weil Schürmann, die naturphilosophische Grundlegung in den Stufen in die systematische Nachrangigkeit manövrierend, das Prinzip der Unergründlichkeit trotz der anderweitig behaupteten Isosthenie von Unergründlichkeit und Exzentrizität³⁵ zum Ermöglichungsgrund letzterer erklärt: „Das Theorem der Unergründlichkeit expliziert nicht nur ein wesentliches Moment dessen, was Exzentrizität meint, sondern ist darüber hinaus in sehr eigentümlicher Weise selbst Ermöglichungsgrund von Exzentrizität.“³⁶ Auch in Norbert Axel Richters Grenzen der Ordnung. Bausteine zu einer Theorie des politischen Handelns nach Plessner und Foucault (2005) spielt der Begriff der Artikulation eine zentrale Rolle, allerdings wird er von Richter weitläufig entfaltet und in einem Spannungsfeld verschiedener Entwürfe der politischen Philosophie verortet. Richter geht es in seinem Buch darum, entgegen der „Reduktion des Politischen auf politische Ordnung“³⁷ in im weitesten Sinne korporatistischen Theorien „das Feld des Politischen als Feld von Artikulations- und Handlungsmöglichkeiten angemessen zu beschreiben“,³⁸ doch anders als Schürmann hat Richter dabei durch und durch agonale Praxis im Visier. Richters systematische  Ebd.  Das Nötige hierzu findet sich mit adäquater Schärfe bei Tamponi 2012.  „Die einen Dezisionismus verhindernde Isosthenie der beiden Prinzipien der Unergründlichkeit und Exzentrizität ist der für Plessners Konzept alles entscheidende Punkt: Die NichtEntscheidbarkeit eines Primats eines dieser beiden Prinzipien ist der methodologische Ausdruck der Verbindlichkeit des Prinzips der Unergründlichkeit.“ (ebd.: 357)  Schürmann 1997: 347, Fußnote 2.  Richter 2005: 231. – Richters diesbezügliche begrüßenswerte Grundthese, in welche die Erkenntnis, dass politische Ordnung ein Resultat und keine die Möglichkeit und Unterminierung von Ordnung gleichermaßen ermöglichende Bedingung empirischer Politik ist, lautet: „Als Theorie über die Bedingungen der Möglichkeit politischer Ordnung oder als Theorie politischer Institutionen ist sie eine unzureichende Theorie des Politischen.“ (ebd.)  Ebd.

5.1 Überblick über die Forschungsliteratur

333

Betrachtung der Agonalität des Politischen setzt im späteren, auf Analysen von Schmitt, Habermas und Foucault folgenden Plessner-Kapitel ein, in dem Richter in der Auseinandersetzung mit Macht und menschliche Natur den Begriff der „strukturellen Agonalität“ einführt.³⁹ Begriffe wie der der strukturellen Agonalität verleiten gern zum Konstatierungspositivismus des „Es ist eben so“, doch Richter hat mit seiner Bezugnahme auf Plessner mehr im Sinn, nämlich die Agonalität in der reflexiven Wendung gegen das Subjekt von zunächst bloß ausdrücklichen Artikulationen⁴⁰ als politisches agens in Anschlag zu bringen, indem er das Prinzip der Unergründlichkeit in der sinngemäßen Transformationsfigur der Ironizität in einer „Dialektik der Artikulation“⁴¹ gegen die bloß zustandsexpressive und primitive politische Artikulation in Anschlag bringt: Das politische Handeln scheint in dieser Polarität [von Authentizität und Ironizität, S. E.] zunächst ganz auf die Seite der Identität und ihres authentischen Ausdrucks zu gehören, wenn mit Plessner Politik als derjenige ,Zustand des menschlichen Lebens‘ gesehen wird, ,in dem es sich nicht nur äußerlich und juristisch, sondern von Grund und Wesen aus seine Verfassung gibt und sich gegen und in der Welt behauptet‘. Das politische Verhalten ist dann nämlich in erster Linie Artikulation dieser Verfassung. Aber schon bei Plessner war die Dialektik von Unbestimmtheit und Selbstbehauptung, die auf der Ebene der Artikulation als Dialektik von Authentizität und Ironizität wiederkehrt, weder zur einen noch zur anderen Seite hin aufgelöst worden.⁴²

Die Brechung der eindimensionalen Direktheit eines bloß selbstexpressiven und selbstbehauptenden Ausdrucksverhaltens denkt Richter also vom in der zitierten Passage nicht namentlich angeführten Prinzip der Unergründlichkeit als von ei-

 Vgl. ebd.: 174.  „Der Begriff Artikulation akzentuiert gerade dieses undialektische Moment in der Form des subjektiven Ausdrucks: In der Artikulation wird ,deutlich ausgesprochen‘, wer das artikulierende Subjekt jeweils sei.“ (ebd.: 214) In ihrer undialektischen, nicht reflexiv gewordenen Gestalt erzeugt Artikulation Identität in genau dem schlechten Sinne: „Das undialektische, ein Abbildungsverhältnis suggerierende Form der Artikulation ist nicht so sehr eine ideologische Subjektivitätsform als vielmehr Ausdruck dessen, daß sich das Subjekt empirisch als homogene Einheit konstituiert hat: und zugleich die Form, in der das möglich war.“ (ebd.: 215) Die von Richter nicht explizierte Nähe zu Adorno und dessen gleichwohl eher logisch als ausdruckstheoretisch formuliertem Begriff der Hybris – verstanden als subjektivistische, die Identität mit sich selbst behauptende Form von Artikulation im weitesten, auf Sprachliches wie auf Selbstbehauptung im Ganzen zielenden Sinne – liegt auf der Hand: „Hybris ist, daß Identität sei, daß die Sache an sich ihrem Begriff entspreche.“ (Adorno 1966: 150) Die weitreichende, keineswegs triviale und eine alles andere als aporetische, von Plessner zu Adorno und umgekehrt verlaufende Übersetzungsarbeit, kann hier nicht geleistet werden.  Vgl. Richter 2005: 215 – 217.  Ebd.: 220.

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5 Das Politische in der Ontologie der Person

nem ironischen⁴³ Prinzip her. Das Prinzip der Unergründlichkeit fasst Richter einerseits in Komplementarität mit dem der exzentrischen Positionalität⁴⁴ und folglich Macht und menschliche Natur als systematisch mit den Stufen komplementäres Werk,⁴⁵ unterscheidet aber zugleich zwischen der Philosophischen Anthropologie als einer Naturphilosophie des Lebendigen und einer für seine Zwecke relevanten „Anthropologie des Politischen“, die er in Macht und menschliche Natur ausformuliert sieht: Während das Konzept der exzentrischen Positionalität und die daraus abgeleiteten anthropologischen Grundgesetze dazu bestimmt waren, das gesamte Gegenstandsfeld der philosophischen Anthropologie auszuleuchten, zielt die Schrift von 1931 [..] auf eine Anthropologie des Politischen. Die neue Formel der verbindlichen Unergründlichkeit wird dabei zum Scharnier zwischen Anthropologie und Politiktheorie.⁴⁶

Die Verbindung, die Richter zwischen der Philosophischen Anthropologie und der „Anthropologie des Politischen“ aufmacht, ist interessant, weil sie in Richters Auslegung von einer Verschiebung getragen wird, die sich als die Differenz zwischen der oben bereits erwähnten strukturellen Unbestimmtheit des Menschseins (aufgewiesen in der Philosophischen Anthropologie) und der die „Anthropologie des Politischen“ spezifisch charakterisierenden „Dezentrierung“ zeigt; den Stufen gegenüber „wird in Macht und menschliche Natur (1931) eine Dezentrierung vorgenommen, ohne daß zugleich der Erkenntnisgehalt der früheren Arbeiten verworfen werden müßte“.⁴⁷ „Dezentrierung“ und „Ironizität“ machen in Richters Augen also das die „Anthropologie des Politischen“ auszeichnende Spezifikum aus, welches in den Stufen seine gleichwohl weiterhin gültige Grundlegung erfahren habe.⁴⁸ Dieses Ermöglichungsverhältnis bleibt aber abstrakt, weil die Gültigkeit der Stufen zwar anerkannt wird, das Prinzip der Unergründlichkeit als Motor der Agonalität und Ironizität aber letztlich zum tragenden Prinzip einer

 Auf den romantischen Ironie-Begriff, wie Friedrich Schlegel ihn formuliert hat, kommt Richter zwar nicht zu sprechen, doch dessen untergründige Wirkmächtigkeit lässt sich von Schlegels Bestimmung der Ironie als „permanente Parekbase“ (Schlegel 1988: 28) her leicht begreifen.  Vgl. Richter 2005: 148 f.  „Die verbindliche Annahme des Prinzips der Unergründlichkeit stellt den Menschen ungefähr in dieselbe bestimmte Unbestimmtheit, in der er gemäß den Stufen des Organischen durch die Geltung der drei anthropologischen Grundgesetze seiner Natur nach stehen sollte.“ (ebd.: 168)  Ebd.  Ebd.: 166.  „Die exzentrische Position verschafft dem Menschen sowohl zu sich selbst als auch zu den Gegenständen seiner Umwelt eine Distanz, die es ihm ermöglicht (und ihn zugleich dazu zwingt), sich selbst als jemanden zum Ausdruck zu bringen und mit Gegenständen als begrenzt verfügbaren Objekten zu hantieren.“ (ebd.: 180)

5.2 Von Plessners Ontologie des Ausgleichs

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„Anthropologie des Politischen“ erklärt wird, die das Politische letztlich mit dem politischen Handeln, das Richter mit seiner Dialektik der Artikulation im Auge hat, zusammenschmelzen lässt. Aufgrund dieser Orientierung kann Richter mit den späteren Schriften Plessners nicht viel anfangen und marginalisiert diese mittels der Unterscheidung zwischen einer eigentlich politischen und einer späteren soziologischen Phase: „Die sozialphilosophische Öffnung der anthropologischen Spieltheorie erfolgt seinerzeit in Richtung auf die soziologische Rollentheorie und nicht mehr, wie in den politischen Schriften der Zwischenkriegszeit, in Richtung auf ein Konzept politischer Agonalität.“⁴⁹ Die Ermöglichungsbedingungen des Politischen im weiteren Sinne, die Körperleiblichkeit als tragendes Medium der Personalisierung und die Person als nicht in sich politisch verfasste, sondern als politisch zur ihrer Verfassung gelangende aufzufassen, ist auf der Grundlage dieser Marginalisierung nicht mehr möglich. Darum soll es nun aber im Folgenden gehen.

5.2 Von Plessners Ontologie des Ausgleichs als der Grundlage einer Theorie des Politischen Überschrift und Vorhaben dieses Kapitels können leicht Missverständnisse evozieren, die ich in dem Maße, in dem es einem Autor möglich ist, verunmöglichen möchte. Wenn hier von der Ontologie Plessners als der Grundlage einer Theorie des Politischen die Rede ist, geht es nicht um eine auf der Ontologie als ihrer Grundlage entwickelten Theorie des Politischen. Eine Theorie des Politischen wird hier nicht entwickelt, vielmehr wird eine bereits entwickelte, nämlich die bei Plessner angelegte und von Hans-Peter Krüger in Zwischen Lachen und Weinen durch Zusammenführung der verschiedenen Fäden und Motive von Plessners Gesamtwerk ausformulierte Theorie, vorausgesetzt. Worum es hier geht, sind Verbindungslinien zwischen Plessners ontologischer Systematik, der hier auf die Beschreibung des Menschen übertragenen Begriffe der seienden Möglichkeit bzw. der realen Potenz sowie der Theorie des Politischen, die Krüger auf der Basis der Philosophischen Anthropologie Plessners entwickelt hat. Die Ontologie soll als die begriffliche und systematische Schnittstelle zwischen der Naturphilosophie und dem Grundbegriff einer Theorie des Politischen, dem privat-öffentlichen Doppelgängertum, exponiert werden, und sie soll, obwohl die Naturphilosophie oben als Ontologie expliziert worden ist, insofern als scheinbar zur Naturphilosophie eine Differenz bildende Schnittstelle bilden, als der transformierte, auf den

 Ebd.: 195 f.

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Menschen angewandte Begriff der realen Potenz einen Terminus darstellt, der in seiner humanspezifischen Fassung bisher weder Teil der Naturphilosophie noch der Theorie des Politischen war. Die Explikation der Naturphilosophie als Ontologie wird andererseits im strengen Sinne beibehalten, weil der Begriff der realen Potenz auf grundlegende ontologische Begriffe wie den der „Entelechie als Seinsmodus“ zurückbezogen wird.

5.2.1 Verschränkung und Ausgleich Indem der Mensch ontologisch als seiende Möglichkeit bestimmt wird, wird er – gemäß Plessners Bestimmung alles Lebendigen in der Naturphilosophie als „SichVorweg“ und doch in seiner Inkommensurabilität als exzentrische Lebensform – bestimmt als eine Potenz-zu, genauer: als eine Potenz zu sich selbst, die ihrer selbst nicht abschließend gewiss sein kann, ohne aufzuhören, Potenz zu sein. Die Realität des Menschen als seiender Möglichkeit ist die Realität einer Potenz, die sich nur durch und in Aktualisierungen, d. h. durch Lebensvollzüge und damit im Medium der Lebensführung, zu dem hin ⁵⁰ verwirklichen kann, was als Wirklichkeit Möglichkeit bleibt. Was ontologisch seiende Möglichkeit genannt werden kann, wird in der Lebensführung als Person angesprochen. Die Person bleibt in der Lebensführung nicht bei sich selbst, sondern sie muss den doppelten Weg nach innen (in der „Eröffnung eines Innen“)⁵¹ und außen (in Verkörperungsleistungen) gehen.⁵² Sie muss den doppelten Weg gehen, weil sie keinen festen Ort hat: weder im Innen, das nur in seiner substanziellen Auffassung als mit sich selbst identisch bleibende Heimat aufgefasst werden kann, findet die Person ein dauerhaftes Refugium, noch findet sie im Außen eine Idylle, in welcher

 Vom Begriff der „Selbstverwirklichung“ wird hier Abstand genommen, weil er suggeriert, dass in der Selbstverwirklichung ein Selbst sich zu dem macht, was es bereits ist, oder als substanzielles Selbst die um ihr Endziel wissende Verwirklichung selbst in der Hand habe und abschließend erlangen könne. „Selbstverwirklichung“ zielt in der landläufigen Auffassung begrifflich auf die Artikulation des erreichten oder erstrebten Ziels, in der Lebensführung mit sich im Reinen zu sein und die Lebensführung demgemäß vollauf bejahen zu können, und verkürzt dabei die Potenzialität der Lebensführung auf die jeweilige bejahte Aktualität oder eine partikulare Vorstellung einer für allein angemessen gehaltenen, bestimmten zukünftigen Gestalt, welche das Leben anzunehmen habe. Plessner verwirft eine so verstandene und ihm logischerweise unbekannte Selbstverwirklichung in den Stufen bereits indirekt: „Infolgedessen lebt der Mensch weder einfach das zu Ende, was er ist, er lebt sich nicht aus (das Wort in seiner Unmittelbarkeit radikal verstanden), noch macht er sich nur zu dem, was er ist.“ (SOM: 310)  Ebd.: XVII.  Vgl. hierzu CH: 196.

5.2 Von Plessners Ontologie des Ausgleichs

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sie zur Ruhe kommen kann. Dass die Person beide Wege gehen muss, ohne auf einem von beiden ein endgültiges Ziel erreichen zu können, setzt sie keinem Zwang aus, der ihre Potenzialität unterminiert; vielmehr stellt gerade aufgrund ihrer wesenhaften Potenzialität, ihres Potenz-Seins, der doppelte Zwang sich „in der menschlichen Personalität als Zwang und Chance“⁵³ dar.Wäre der Zwang, den Weg nach außen zu gehen, bloßer Zwang, so wäre die Person bloß eine permanent reaktive Aktualität, ein blankes Positivum, das unverstandenen Widerfahrnissen unablässig ausgesetzt wäre und sich lediglich einer Reiz-Reaktions-Logik gemäß zu ihnen verhalten könnte. Könnte die Person immer nur einen der beiden Wege gehen und müsste nacheinander einseitige Möglichkeiten disjunktiv realisieren, so würde sie zwischen zwei Wegen oszillieren statt zwei Sphären zu verschränken. Die Denkfigur der Verschränkung hat Plessner in den Stufen noch nicht systematisch entwickelt; Plessner spricht in den Stufen nur in Überschriften von „Verschränkung“, und auch nur in dem Abschnitt, wo er vom Hiatus als „Konstitutionsform des Lebens“ handelt,⁵⁴ nicht aber in der Entfaltung der exzentrischen Positionalität. Erst in Macht und menschliche Natur gewinnt der Begriff seine zentrale Stellung dort wo Plessner die „Verschränkung der Perspektiven des Miteinander und Gegeneinander“⁵⁵ als das prekäre Desiderat einer Meisterung⁵⁶ des zwischen Vertrautheit und Fremdheit gespannten Politischen offenlegt. In Lachen und Weinen, wo der Verschränkungsgedanke zu seiner vollen Reife gelangt, denkt Plessner die Verschränkung auf Basis der wechselseitigen Verschränktheit von Leib und Körper. Der Leib als das gleichsam verkörperte Innen, das als Körper „selber ein Stück Außenwelt“⁵⁷ ist, bildet den Ort der Verschränktheit zweier Ordnungen, die stets aufs Neue und ohne finale Schließung in der Lebensführung zu verschränken sind: „Beide Ordnungen sind ineinander verschränkt und bilden eine merkwürdige Einheit.“⁵⁸ Der Doppelaspekt von Innen (Psychischem) und Außen (Physischem) wird hier in der systematischen Ausarbeitung des Begriffs des Körperleibs material entfaltet, ohne dass eine umstandslose Übersetzung stattfände: Der Leib, der immer auch Körper bleibt, ist nicht „das Innen“, sondern müsste, wenn man die Terminologie der Stufen darauf

 Ebd.  SOM: 152 und 154.  MmN: 196.  „In beständigen Umbrüchen erobert der Mensch zwischen Umwelt und Welt, zwischen der heimischen Zone vertrauter Verweisungen und Bedeutungsbezüge, die ,immer schon‘ verstanden worden sind, und der unheimlichen Wirklichkeit der bodenlosen Welt seine Umwelt aus der Welt. An der Verschränkung zeigt er sich als Meister.“ (ebd.: 197 f.)  LuW: 240.  Ebd.

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übertragen wollte, als „Innen-Außen“ angesprochen werden. Umgekehrt ist der physische Körper kein schlichtes Außen, sondern das Außen des Innen und als solches, wie die Genitivkonstruktion andeutet, ein Außen, welches dem Innen selbst als nicht in ihm aufgehendes und von ihm beherrschbares antagonistisches Moment innewohnt. Der nur noch als Körper von der Person empfundene Körperleib, der sich gegen die Intentionen der Person im Verhaltenskollaps des ungespielten⁵⁹ Lachens und Weinens verselbständigt,⁶⁰ wird in seiner antagonistischen Verselbständigung gegen die Person zum Ausdrucksmoment jenseits jeglichen aktiven Ausdrückens aufgrund der Ausdrücklichkeit als Lebensmodus; nicht mehr die Person als ihrer selbst mächtige Verhaltenseinheit antwortet, sondern der Körper der Person antwortet von jenseits der Verhaltensmöglichkeiten der Person her und über deren Verhaltens- und Verkörperungsmöglichkeiten hinweg personal. ⁶¹ Wie hängt die „merkwürdige Einheit“, von der Plessner spricht, nun mit der Potenzialität der menschlichen Person als seiender Möglichkeit zusammen, welche diese Einheit verkörpert? Die Person ist schließlich nicht identisch mit dem Körperleib, in dem die „merkwürdige Einheit“ der beiden Ordnungen zur Erscheinung gelangt, sondern die Person ist das, was die Verschränkung der Verschränktheit der beiden Ordnungen vollzieht; sie kommt nicht zur Verschränktheit als die Verschränkung vollziehendes Agens hinzu, sondern Personalität besteht in der Verschränkung, d. h. die Person ist Person, weil und indem sie die Verschränkung vollzieht (und damit ein lebendiges Verhältnis zwischen den Gliedern der „Verschränktheit“ stiftet) – oder auf spezifische Weise in einer menschlichen

 Die konsequente Unterscheidung zwischen gespieltem und ungespieltem Lachen und Weinen geht auf Hans-Peter Krüger zurück, der der systematischen Differenz zwischen dem schauspielerischen Lachen und Weinen und dem Lachen und Weinen der Verhaltenskrisen auf der terminologischen Ebene ihr Recht gewährt. Vgl. Krüger 1999.  Krüger bringt dies phänomenologisch auf den Punkt: „Diese leiblos gewordene Verkörperung ist nicht mehr der eigene Körper, den ich unmittelbar erleben und direkt willentlich betätigen kann, eben weil er mein eigener Körperleib ist, sondern wie ein anderer Körper, irgendein anderer, der darin allen anderen Körpern gleicht, daß er wie diese außer meiner meiner Macht steht.“ (Krüger 1999: 158)  Die Verhaltensmöglichkeiten reichen über die Verkörperungsmöglichkeiten im engeren Sinne, z. B. in der sprachlichen Artikulation hinaus. Plessner hat beide als Arten der Artikulation, die als Oberbegriff der heterogenen Vollzugsarten dienen könnte, im Visier: „Wiewohl vom Menschen aus motiviert, treten sie als unbeherrschte und ungeformte Eruptionen des gleichsam verselbständigten Körpers in Erscheinung. Der Mensch verfällt ihnen, er fällt – ins Lachen, er läßt sich fallen – ins Weinen. Er antwortet in ihnen auf etwas, aber nicht mit einer entsprechenden Formung, die der sprachlichen Gliederung, der mimischen Gebärde, Geste oder Handlung an die Seite zu stellen wäre. Er antwortet – mit seinem Körper als Körper wie aus der Unmöglichkeit heraus, noch selber eine Antwort finden zu können.“ (LuW: 234 f.)

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Verhaltenskrise im ungespielten Lachen oder Weinen daran scheitert. Weil die Person das ist, was die Verschränkung vollzieht, ist alle Lebensführung personaler Art und sind Personen Lebewesen, zu deren Lebendigkeit als solcher es strukturell gehört, ihr Leben zu führen. Der personalisierende und individualisierende Verschränkungsvollzug bringt nicht einfach eine „merkwürdige Einheit“ zu sich selbst, als wäre die Verschränkung die Überführung einer „merkwürdigen“ in eine „gelungene“ Einheit und damit letztlich eine Glättung oder eine Auflösung eines Widerstreits in Harmonie. Eine solche „glättende Verschränkung“ würde letztlich den traditionellen Vorrang des Akts vor der Potenz durch die Hintertür als teleologisches Ideal der personalen Genesis einführen und sowohl die Abständigkeit der Person zu sich selbst als auch die Unabschließbarkeit personaler Entwicklung nicht mit der hinreichenden systematischen Strenge denken. Mit der Kategorie der Verschränkung wird das Feld der Personalisierung und Individualisierung betreten, doch ein umfassenderer Blick auf die praktische Kategorie der Verschränkung erfordert eine weitere Perspektive, die von Plessners Begriff des Ausgleichs her zu gewinnen ist, genauer gesagt: von seiner Ontologie des Ausgleichs, die in den Stufen ihre Grundlegung erfahren hat, ohne in der Plessner-Forschung als ontologisch-naturphilosophische Fundamentalkategorie wahrgenommen worden zu sein. Dass der Status dieses Begriffs unbemerkt geblieben ist, dürfte nicht wenig damit zu tun haben, dass Plessner diese Kategorie nicht ins Zentrum der Stufen rückt und von ihr – wie auch von den Begriffen der „Entelechie als Seinsmodus“ und der „immanenten Teleologie“ – nur äußerst sparsam Gebrauch macht. „Ausgleich“ soll im Folgenden als die ontologische Kategorie aufgewiesen werden, von welcher her sich ein Bogen von Plessners naturphilosophischer Grundlegung zu seinem Begriff des privat-öffentlichen Doppelgängertums spannen lässt. Dabei soll in den nächsten Abschnitten vor allem das strikt komplementäre Verhältnis zwischen den Kategorien des Ausgleichs und der Verschränkung genau gefasst werden.

5.2.2 Plessners Ontologie des Ausgleichs. Verbindung des Doppelgängertums mit der Ontologie des Organischen Der Begriff des Ausgleichs tritt keineswegs erst oder nur in Plessners gern zitierter und missverstandener „Ethik des Ausgleichs“⁶² auf, sondern findet bereits seinen  Bielefeldt bringt die Ethik des Ausgleichs fälschlicherweise mit der Aristotelischen μεσότηςLehre in Verbindung und übersieht dabei, dass Plessner keine ethische Mitte der tugendhaften Vervollkommnung im Blick hat, sondern die Mitte der Mitte, welche die Person ist. Vgl. Bielefeldt 1994: 74. – Uta Eichler fasst Plessners Ethik des Ausgleichs gar als „angewandte Ethik“ auf, die

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theoretisch grundlegenden Ort in den Stufen. Nicht verschwiegen, aber auch nur knapp angedeutet werden soll hier, dass die Figur des Ausgleichs sich durch Plessners gesamtes Denken zieht, bevor die Verbindung zwischen den Stufen und Lachen und Weinen exponiert wird. In den Grenzen der Gemeinschaft bildet die Kategorie des Ausgleichs keine Kategorie der Versöhnung, sondern die einer Vermittlung, die Plessner geradezu polemisch einklagt. Die Figur des Ausgleichs hat Plessner zufolge eine doppelte Funktion, denn Ausgleich bedeute sowohl Ausgleich im Sinne der Kompensation eines Mangels, die sich politisch in der Totalisierung der Gemeinschaft Bahn breche, als auch Ausgleich als Ausgleich dieser Fehlkompensation. Die fehlkompensatorische Variante lautet wie folgt: „Das Idol des Zeitalters ist die Gemeinschaft.Wie zum Ausgleich für die Härte und Schalheit unseres Lebens hat die Idee alle Süße bis zur Süßlichkeit, alle Zartheit bis zur Kraftlosigkeit, alle Nach-

gleich der Philosophischen Anthropologie keiner ontologischen Begründung mehr fähig sei, und vertritt einer der hier entfalteten Auffassung diametral entgegengesetzte: „Die ,Ethik des Ausgleichs‘ als ,angewandte Ethik‘ ist mit dem Politischen verknüpft. Ebenso wie nach Plessner Anthropologie nicht mehr ontologisch begründet werden kann, ist einer Ethik, die ihre Grenzen reflektiert, die Rückführung auf eine Ontologie verwehrt.“ (Eichler 2010: 322) Ihre Behauptung entwickelt Eichler in keiner Analyse der Stufen, sondern versucht deren Legitimation aus einer zusammenhanglos zitierten Stelle zu gewinnen, an welcher Plessner sich von der Existenzialontologie Heideggers und dessen Privilegierung spezifischer Lebenshaltungen und Weisen der Lebensführung abgrenzt. Vgl. Ebd., Fußnote 34 und Plessner 2001b: 187. Wenn es sich darüber hinaus bei der Ethik des Ausgleichs um eine „angewandte Ethik“ handeln soll, stellt sich die Frage, wo Plessner deren Grundlage formuliert; die Grenzen enthalten eine solche nicht nur, Plessner definiert den sozialen Radikalismus gar als „Opposition gegen das Bestehende, insofern es als immer einen einen gewissen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Kräften der menschlichen Natur einschließt und den Gesetzen der Verwirklichung, dem Zwang des Möglichen gehorcht“. (GdG: 14) Plessners Einwand gegen den Radikalismus, der selbst viel eher als eine angewandte Ethik auftritt als Plessners Kritik, zielt gerade darauf, die Möglichkeit zu retten, dass die Einheit der menschlichen Person sich als Einheit zu realisieren vermag. Der soziale Radikalismus bildet demgegenüber eine angewandte Ethik der dualistischen Reduktion dieser Einheit: „Der Dualismus, dem die Einheit der menschlichen Person verloren geht, führt in der Ethik stets zur Machtverneinung und damit zur Degradierung der Politik, zur Verdrängung des Zivilisationstriebes, der Werte der Künstlichkeit.“ (ebd.: 130) In den Stufen auftretende Begriffe und Formulierungen (z. B. die natürliche Künstlichkeit) klingen hier schon deutlich an, und das Ziel der Ethik des Ausgleichs besteht weniger in der Ausformulierung einer positiven Ethik als darin, das anthropologisch Unhintergehbare gegen die positive, wertrigoristische [vgl. ebd.: 25 f.] Ethik des Gemeinschaftskultus unter ethischen Vorzeichen ins Feld zu führen. Paradox formuliert: Es geht darum, die Natur des Menschen auf der Grundlage der natürlichen Künstlichkeit gegen die tollwütig gewordene künstliche Künstlichkeit des Gemeinschaftsradikalismus zu verteidigen, die sich das Ansehen ursprünglicher Natürlichkeit zu geben versucht.

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giebigkeit bis zur Würdelosigkeit in sich verdichtet.“⁶³ Die Idolatrie der Gemeinschaft erweise sich, wie die sprachliche Form („wie zum..“) indizieren soll, als Pseudo-Ausgleich. Die als Krankheit erfahrene Gesellschaft, welche durch Kälte und Härte, in summa durch Gleichgültigkeit gegenüber den Individuen, sich kennzeichnet, soll mittels eines Gemeinschaftskultus therapiert werden, dem Plessner wiederum therapeutisch die Vermittlung von Gemeinschaft und Gesellschaft unter dem Primat des Gesellschaftlichen verordnet.⁶⁴ Auf diese Vermittlung zielt Schneidereits oben besprochenes Buch, in dem der Ausgleich jedoch eher im Sinne der Versöhnung denn als Ausgleich unter der Voraussetzung der Unausgleichbarkeit gedacht wird, wie Plessner dies tut.⁶⁵ Der Ausgleich, wie Plessner ihn denkt, ist also nicht harmonistisch verkürzbar zu einem Nullsummenspiel falsch verstandener Versöhnungsversuche. Ausgleich im Sinne Plessners kann Unausgleichbarkeit nicht aufheben, weil Plessner Vermittlung zur Ganzheit in keinem seiner Werke finalistisch denkt, sondern jede Ganzheitlichkeit oder erreichte Einheit als jeweils fragile und unabgeschlossene begreift. In Macht und menschliche Natur tritt der Begriff des Ausgleichs hinter dem der Verschränkung des Eigenen ins Fremde zurück, mittels dessen Plessner „in den Mittelpunkt der Anthropologie die Unergründlichkeit des Menschen“⁶⁶ rückt. Die Pointe des Verschränkungsbegriffs besteht darin, das Eigene als von einem seine Selbstmächtigkeit brechenden Fremden in ihm selbst Bestimmtes und Durchquertes auf sich zu nehmen. Diese Verschränkung zu leisten heißt, in ein dramatisches und gefährliches Unternehmen mit Wagnis-Charakter einzutreten, wohingegen Plessner mit dem Begriff des Ausgleichs eher auf nötige Ausbalancierungen zielt, die einer immanenten Gesetzmäßigkeit der Selbstorganisation (Stufen) oder der Personalisierung und Individualisierung (Grenzen der Gemein-

 Ebd.: 28.  „Erinnern wir uns jetzt daran, daß Öffentlichkeit als Ort der unverbunden sich begegnenden Personen durch Wertferne bezeichnet ist, die freilich nicht Wertfreiheit, sondern die ewig unauflösbare Spannung zwischen Norm und Leben bedeutet. Um konkrete Bedingungen einer unbedingt verläßlichen Ordnung zu erhalten, in deren Schutz jeder seinen Zwecken nachgehen kann, ohne in Kollision mit dem anderen zu geraten, muß ein Ausgleich sowohl zwischen Norm und Leben, also zwischen dem, was menschenwürdig, logisch, sittlich, religiös, ästhetisch notwendig ist, und dem, was die Situation jetzt und hier verlangt, als auch zwischen den Trägern der Lebensinteressen, die über das Menschenwürdige nicht weniger als über das tatsächlich Nötige verschiedener Meinung sind, gefunden werden.“ (ebd.: 97)  „Eine zwiefache Gebrochenheit steckt in dem Gebaren der Öffentlichkeit, die Unausgleichbarkeit des Gegensatzes von Situation und Norm und Privatperson und ,Amts‘person, Mensch und Funktionär.“ (ebd.: 96)  MmN: 161.

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schaft) Genüge tun. „Gewagtheit und Bedrohtheit“ ⁶⁷ kennzeichnen Plessner zufolge die „Situation des Menschen“,⁶⁸ die Ausgleichsbedürftigkeit kennzeichnet jedoch die Natur des Menschen. Die Verschränkung bildet insofern den Ausgleich innerhalb der gefährdeten Lage des Menschen, sie bildet einen Ausgleichsversuch sui generis, der, zwischen die immanente Gesetzmäßigkeit des diesen Ausgleich Vollziehenden und ein sowohl dieser Gesetzmäßigkeit externes Anderes gespannt als auch einem den Machtmöglichkeiten des den Ausgleich vollziehenden Lebewesens gänzlich entzogenen Anderen ausgesetzt, unternommen wird. Auf die Ausgleichsfigur kommt Plessner am Ende von Macht und menschliche Natur zurück, wo er,wenig überraschend, eine Rückbindung der Situation des Menschen an die Natur des Menschen im Rückgang auf die Stufen vornimmt und die „in eine Unendlichkeit verschränkte und damit ausdrücklich sich als solche manifestierende Endlichkeit“⁶⁹ des Menschen als Bruch exponiert, der gemäß der natürlichen Künstlichkeit „auf natürliche Weise künstlich ausgeglichen zu werden verlangt“.⁷⁰ Diese Form des Ausgleichs ist gleichermaßen naturphilosophisch begründet und explosiver, daher auch geradezu existenzieller Art, denn sie erlaubt keine Annäherung von Verschränkung und Ausgleich an eine erreichbare Versöhnung oder finale Einheit. Ein solcher Ausgleich ist kein Ausgleich der Unergründlichkeit, sondern ein Ausgleich, der dem Menschen aufgegeben ist,weil die Unergründlichkeit nicht einfach nur ein normatives Prinzip oder eine beliebig annehmbare oder ablehnbare Maxime, sondern ein methodisches Prinzip mit einer naturphilosophischen Grundlage ist. In Die verspätete Nation begründet Plessner den deutschen Sonderweg durch den Mangel des religiösen und nationalen Ausgleichs, den Frankreich und England erreicht hätten: Aus Gründen seiner politischen und religiösen Geschichte hat Deutschland – das Deutschland des Reiches – kein Verhältnis zu den Jahrhunderten, welche für die Bildung und Festigung der Welt entscheidend waren. Im Vergleich zu den anderen großen maßgebenden Staatsvölkern der neueren Zeit steht es traditionslos da. Es ist nicht wie Frankreich und

 Ebd.: 198.  Ebd.  Ebd.: 199.  Ebd. – Krüger (2006: 27) unterscheidet typologisch Plessner und Scheler voneinander als Denker der Verschränkung (Plessner) und Denker des Ausgleichs (Scheler), obwohl Verschränkung und Ausgleich in Plessners Denken systematische Zwillinge bilden. Die Zentralisierung des Verschränkungsbegriffs, die Krüger vornimmt, ist insofern plausibel, als damit das terminologische Proprium Plessners sich in Vergleichsfällen pointiert angeben lässt, bringt aber Plessnerintern den Begriff des Ausgleichs um seine fundamentale Bedeutung.

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England durch seine Vergangenheit seit dem 16. Jahrhundert zu einem gesicherten Lebensstil gekommen. Jeder Ausgleich in religiöser und nationaler Hinsicht blieb ihm versagt.⁷¹

Nur auf einen weiteren Aspekt soll hier in aller Kürze eingegangen werden,weil Die verspätete Nation mittels der Kategorie des Ausgleichs die Idolatrie der Gemeinschaft in der Gestalt der Volksidee historisch bzw. retrospektiv betrachtet, dies aber mittels der Ausgleichsfigur gerade auf der Grundlage der fundamentalen Bedeutung derselben tut. Anders gesagt: Der aporetische Charakter des Gemeinschaftskults, den Plessner in der Grenzschrift angreift, wird in Die verspätete Nation als Motor einer Bewegung exponiert, deren Ausgleichslosigkeit ihren Verhängnischarakter begründet: Die fehlende Möglichkeit, das deutsche Schicksal im Bilde eines Auftrags, einer Stellvertretung zu sehen, d. h. es nach einer Idee von Staat und Verfassung zu deuten, machte zum Ausgleich die Idee des Volkes, die staats- und verfassungspolitisch noch unbelastete Idee eines organischen Grundes für mögliche politische Formen zur politischen Idee.⁷²

Von Lachen und Weinen an erhält die Kategorie des Ausgleichs schließlich ihre das Politische mit der Naturphilosophie und Ontologie des Organischen vermittelnde Ausformulierung. Dieser Verbindung ist nun im Ausgang von der Ontologie des Organischen der Stufen aus nachzugehen. In unserer Darstellung der Naturphilosophie des Lebendigen als Ontologie stellte sich die Selbstvermittlung des Organismus als Ganzheit als ein zentraler Sachverhalt und Ausdruck zugleich heraus. Dieser Ausdruck ist in seiner ontologischen Bedeutung hier aufzunehmen und am Sachverhalt der Selbstvermittlung der menschlichen Person zur Ganzheit zu spezifizieren, denn menschlichen Personen ist diese Selbstvermittlung zur Ganzheit unter inkommensurablen Bedingungen aufgegeben, die ihren Status als ζώον πολιτικόν begründen und ihren grundbegrifflichen, transponierbaren und vom Gegenstand her inhaltlich modifizierenden Explikationsrahmen bereits in der Ontologie des Organischen finden. Die Kategorie des Ausgleichs bildet dabei die Nahtstelle zwischen der Ontologie und dem privat-öffentlichen Doppelgängertum.⁷³  Plessner 1982: 91. – An anderer Stelle mutmaßt Plessner, dass ein solcher Ausgleich nicht faktisch nicht gefehlt hat, sondern, wäre er 1918 in Form einer eigenen Staatsidee vorhanden gewesen, die politischen Paroxysmen deutscher Geschichte hätte verhindern können,vgl. ebd.: 56.  Ebd.: 57.  Dass die Kategorie des Ausgleichs in die Naturphilosophie hineinreicht, hat auch Arlt gesehen, ohne dabei den größeren Rahmen zu sehen, in dem die Stufen und das mit Lachen und Weinen beginnende spätere Werk Plessners selbst Aspekte einer Naturphilosophie des Politischen darstellen; Arlt beschränkt die Tragweite des Ausgleichsbegriffs daher auf die Selbstvermittlung des

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Die Kategorie des Ausgleichs spielt in den Stufen eine vierfache Rolle. Sie tritt im elementarsten Sinne auf (1) in der Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit. In dieser Selbstvermittlung bildet der Ausgleich den Oberbegriff von Eingepasstsein und Anpassung, da einerseits „der wechselseitige Ausgleich zwischen Lebewesen und Medium an sich schon besteht“⁷⁴ (Eingepasstsein) und anderseits der Organismus je aufs Neue den „faktische[n] Ausgleich mit der Umwelt“⁷⁵ (Anpassung) vollziehen muss. Die Selbstvermittlung bildet insofern eine Ausgleichsleistung zwischen Organismus und Positionsfeld, weshalb Plessner zufolge der Organismus „in und mit dem Medium und gegen das Medium, […] im Kampf mit ihm und im Ausgleich zu ihm existiert“.⁷⁶ Innerhalb der Selbstvermittlung, auf der Mikroebene derselben, muss es darüber hinaus (2) zu einem Ausgleich zwischen Ganzem und Teil kommen.⁷⁷ Weniger naheliegend ist die dritte (3) Bedeutung des Ausgleichs, die Plessner als „Ausgleich einer Unfertigkeit“⁷⁸ in der lebendigen Entwicklung ausmacht, welche wir im vorigen Kapitel als das Sichvorwegsein der seienden Möglichkeit im naturphilosophischen Sinne expliziert haben.⁷⁹ „Ausgleich einer Unfertigkeit“ meint in diesem Fall die dem Ding in dem Prozess, der seine lebendige Entwicklung ist, „vorwegseiende Formidee“,⁸⁰ die keinen äußeren Bestimmungsfaktor dieser Entwicklung bildet, sondern vermöge derer das Ding sich vorweg ist und in diesem Sichvorwegsein sich selbst zu seinem – paradox gesprochen – durch die Formidee bestimmten Gegenstand und offenen Resultat hat. Dieser Ausgleich seiner Unfertigkeit, in welchem die zum Ausgleich kommenden Glieder keine definite Bestimmtheit haben wie im Fall von Organismus und Positionsfeld, sondern der Organismus in einer durch sich selbst als seine – zu verwirklichende, aber nicht in Form einer fertigen Gestalt teleologisch gegebenen – Idee und eine die leere Selbstbezüglichkeit sprengende, real zu leistende Vermittlung gestellt ist, ist die ontologische Ausgleichsfigur, welche die „immanente Teleologie“ und die „Entelechie als Seinsmodus“ begründet, denn Entelechie im oben explizierten Sinn von Erfüllung ist der ontologische Ausdruck für das, was Plessner den „Ausgleich einer Unfertigkeit“ nennt. Die Organisationsidee ist keine Idee im Sinne des Urbilds, deren Organismus zur Ganzheit: „Die jeweilige Position des Organismus ist das Ergebnis eines Vermittlungsprozesses, in dem Innen und Außen zum Ausgleich kommen. Sie begründet seinen Ganzheitscharakter.“ (Arlt 1996: 59)  SOM: 192.  Ebd.: 202.  Ebd.: 212.  Vgl. ebd.: 189.  Ebd.: 142.  Vgl. Kapitel 4.13.  SOM: 142.

5.2 Von Plessners Ontologie des Ausgleichs

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Abbild der Organismus bildet, sondern die Organisationsidee bildet eine dem Organismus als solchem inhärierende Gesetzmäßigkeit der Selbstorganisation, die zu realisieren bedeutet, zu leben; das Sich-vorwegsein-zu⁸¹ ist ein Sich-vorwegsein zum Positionsfeld und darin zugleich ein Sich-vorwegsein zu sich selbst. Diese drei Formen des Ausgleichs waren im vorigen Kapitel permanent präsent und sind in ihrer (Onto‐)Logik verfolgt worden, ohne als Bewegungen eines übergreifenden ontologischen Gesetzes angesprochen worden zu sein. Die vierte (4) Variante des Ausgleichs findet sich auf der Ebene der Positionsformen, die Plessner als Ausgleichsformen auffasst: „Auf zweierlei Weise ist der Ausgleich möglich, in offener und in geschlossener Form.“⁸² Auf dieser Ebene wird die Selbstvermittlung zur Ganzheit, die oben als Verhältnis von Organismus und Positionsfeld angesprochen worden ist, als jeweils typologisch präzisiert gemäß den Organisationsideen, welche die jeweiligen Lebensformen verkörpern: Die Lösung des Konflikts findet das lebendige Ding in seiner Form, deren Ausprägung in der jeweiligen Gestalt ihres Typus sinnlich faßbar wird, ohne allerdings selbst in Erscheinung zu treten. Sie bezeichnet hier die Organisationsidee […], nach welcher der lebendige Körper seine dingliche Selbständigkeit mit seiner vitalen Unselbständigkeit vereinigt.⁸³

Die ersten drei Ausgleichsformen bilden als solche ontologische Ausgleichsformen, d. h. mit ihnen werden Ausgleichsformen angesprochen, welche der Selbstvermittlung des Lebendigen zur Ganzheit inhärieren. Sie sind innerhalb der Ontologie des Organischen behandelt worden, die aber noch nicht als Element einer das Organische ins Politische hinein übergreifenden Ontologie des Ausgleichs entfaltet werden konnte. Dazu musste die Ontologie des Organischen erst mit dem privat-öffentlichen Doppelgängertum im nicht mehr auf Lebendiges überhaupt beschränkten, sondern auf das Sein des Menschen übertragenen ontologischen Begriff der seienden Möglichkeit verbunden werden. Dies setzt eine genauere Betrachtung des Körperleibs als des Mediums von Verschränkungsleistungen im Spiel von Leibsein und Körperhaben voraus, um diese Verschränkungsleistungen als die Personalisierungs- und Individualisierungspraxis der Ontologie des Ausgleichs exponieren zu können.

 Vgl. Kapitel 4.15.  SOM.: 219.  Ebd.: 218.

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5.3 Körperleiblichkeit als Medium der Personalisierung und ontologische Grundlage des privat-öffentlichen Doppelgängertums Im Kompositum „Körperleib“ werden nicht zwei schlicht gegeneinander abgrenzbare Entitäten zu einer dritten verschmolzen. Wird das angenommen, so werden „Leib“ und „Körper“ mit jeweils in sich geschlossenen und ihrem Sein nach distinkten Ordnungen oder Entitäten identifiziert, d. h. die Doppelaspektivität wird wieder in eine Zwei-Reiche-Lehre übergeführt und dualistisch reduziert. Stattdessen bildet die Referenzgröße und das Integrations- und Gravitationszentrum von Leib und Körper die menschliche Person als Ganzheit: Lachen und Weinen als Ausdrucksformen begreifen heißt, vom Menschen als Ganzem ausgehen, nicht von Partikularem, das sich quasi selbständig aus dem Ganzen loslösen läßt wie Körper, Seele, Geist, Sozialverband. Als Ganzer ist uns der Mensch, d. h. der Mitmensch, und sind wir uns selber zugänglich im Konnex des Verhaltens, des Umgangs mit unseresgleichen und der Umwelt. In diesem Konnex leben wir, von ihm leben wir, er ist die (geschichtlich freilich variabel geformte) Basis aller Erfahrung.⁸⁴

Wie die menschliche Person das agens der Einheitsbildung bildet, so benennt das Kompositum „Körperleib“ sowohl die prozessuale Grundlage als auch ein Medium personaler Verhaltensbildung in Form der doppelten Gegebenheit des Körperleibs als Leib und Körper, nämlich „als Leib im Körper“.⁸⁵ Dieses Leibsein im Körper findet seine Grenze in der Unverfügbarkeit eben dieses Körpers, den der Mensch prinzipiell – das macht ihn zu seinem Leib – und zumeist hat: „Ein Mensch ist immer zugleich Leib (Kopf, Rumpf, Extremitäten mit allem, was darin ist) – auch wenn er von seiner irgendwie ,darin‘ seienden unsterblichen Seele überzeugt ist – und hat diesen Leib als diesen Körper.“⁸⁶ Die Intransgredienz der Richtungsgegensätze, mittels welcher Plessner die Doppelaspektivität in den Stufen charakterisiert hat, findet ihr Äquivalent in der Sphäre der personalen Verhaltensbildung in der Intransgredienz von Leib und Körper als deren existenzieller Materialisierung. Krüger hat Plessners Unterscheidung zwischen Leib und Körper aufgenommen, terminologisch stringenter⁸⁷ als Plessner gefasst und mittels des bei Plessner angelegten, aber nicht von ihm

 Ebd.: 223 f.  Luw: 238.  Ebd.  Diese Bemerkung bezieht sich auf den inkonsequenten Sprachgebrauch Plessners, der teilweise statt von Leibsein und Körperhaben auch – widersinnigerweise – von „Körper-Sein“ und „Körper-Haben“ spricht, vgl. ebd.: 242.

5.3 Körperleiblichkeit als Medium der Personalisierung

347

verwendeten Begriffs der „Aspektrichtung“ in einer Weise auf den Punkt gebracht, in welcher der phänomenologische Sinn der Doppelaspektivität gewahrt bleibt und in einer existenziellen Perspektive, d. h. in der Beziehung meiner selbst zu meinem eigenen Körperleib, fruchtbar gemacht wird: Der eigene Körper begegnet in einem differentiellen Spektrum von Modi: In der einen Aspektrichtung gehe ich mit meinem Körper ebenso um wie mit anderen Körpern auch,was man ,Körperhaben‘ nennen kann. Ich habe ihn, insofern ich auf dem Umweg der Reflexion, durch Vermittlung (seitens Medien oder seitens anderer) und durch Teilnahme an soziokulturellen Verfahren, darunter einer medizinischen Praktik, mit ihm umgehe. Er wird darin mit anderen Körpern vergleichbar, durch sie vertretbar und austauschbar. Im Falle von Krankheiten, deren Vorbeugung und Linderung, kann man froh sein, wenn sich der eigene Körper wie andere Körper auch unter einem bestimmten Aspekt erneut haben lässt. In der anderen Aspektrichtung bin ich aber schon immer und wieder Leib, was man ,Leibsein‘ heißen kann. Ich bin dies auf spontane, unmittelbare und willkürliche Weise hier und jetzt, d. h. ohne reflexive, vermittelnde und prozedurale Umwege. Im Leibsein bin ich – nolens volens – mir nicht mit anderen Körpern vergleichbar, nicht durch sie austauschbar oder vertretbar.⁸⁸

Körper und Leib als Aspektrichtungen bilden zwar immanent unterscheidbare, aber nicht analytisch voneinander separierbare Elemente personaler Verhaltensbildung, weil der Leib im Leibsein immer Körper und als solcher vom Abgleiten in die Unverfügbarkeit bedroht bleibt wie er umgekehrt als Körper in Habitualisierungsvollzügen, z. B. beim Erlernen des Klavierspiels, gehabt werden kann, wodurch Verkörperungen in Verleiblichungen überführbar sind: Was Verkörperung war, d. h. umwegig erlernt wurde, sedimentiert im Habitualisierungsprozess in den Leib hinein. Die Aufführung der Meisterpianistin zehrt noch heute von dem, was sie vor dreißig Jahren als fünfjähriges Kind erlernt hat. Vielleicht hat sie seinerzeit noch frühreif einen Aspekt verkörpert, den sie inzwischen aus Lebenserfahrung zu verleiblichen vermag.⁸⁹

Auch den Begriff der Verleiblichung, der bei Plessner nominell eine marginale Rolle spielt,⁹⁰ hat Krüger,vor allem in Das Spektrum menschlicher Phänomene, dem ersten Band von Zwischen Lachen und Weinen, systematisch terminologisiert. Die Verleiblichung markiert das Gegenbild von Lachen und Weinen als das Gelingen der Verschränkung von Leib und Körper in Habitualisierungsleistungen; sie bildet

 Krüger 2009c: 72.  Ebd.: 73.  Nur an wenigen Stellen verwendet Plessner meines Wissens diesen Begriff, erstmals in Die Einheit der Sinne [EdS: 288], einmal in Lachen und Weinen (LuW: 217) und in seinem Die Einheit der Sinne weiterführenden Spätwerk Anthropologie der Sinne (AdS: 383)

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5 Das Politische in der Ontologie der Person

ebenso das, gleichwohl richtungskontrastive („rezentrische“),⁹¹ Komplement der (exzentrischen) „Verkörperung“.⁹² Die Intransgredienz der Aspektrichtungen der Leiblichkeit und der Körperlichkeit stellt sich dar als ein Verhältnis, das sowohl innerhalb des Verhältnisses der Person zu sich selbst und zu Anderen auftritt als auch für diese Verhältnisse konstitutiv ist. Dieses Verhältnis wird durchzogen vom Vorrang des Körpers, welcher in dem sehr spezifischen Sinn besteht, dass auch das Leibsein, wie sehr auch immer durch die Bestimmung des irreduziblen und jemeinigen Empfindens der jeweiligen Person intimisiert, der Körperlichkeit sich nicht entwinden kann, die als solche die Person zwar keineswegs grundsätzlich oder stets verrät, es ihr aber verunmöglicht, sichtbar und zugleich gänzlich tabula rasa zu sein.⁹³ Das Verhältnis zum Leib verortet Plessner daher in der „körperlichen Situation des Menschen“: „Nachahmen und Sichverstellen müssen von der körperlichen Situation des Menschen her gesehen werden, seinem Verhältnis zum eigenen Leib, zu sich und den anderen.“⁹⁴ Dieses Verhältnis zum eigenen Leib, der wir sind und den wir doch haben müssen, ist kein Geschenk Gottes, sondern es muss im korrelativen Doppelprozess von Individualisierung und Personalisierung⁹⁵ entwickelt werden. In dieser dem Individuum zunächst auferlegten, zumeist aber dann von ihm aktiv angenommenen und, soweit möglich, in eigene Regie genommenen Entwicklung entstehen keine verkörperten Rollenkonglomerate, sondern, und zwar in Abhängigkeit und Abhebung von den soziokulturellen Rollen, individuierte Personen, weshalb der Prozess der Personalisierung von der Seite des ihn Vollziehenden her zugleich ein Prozess der Individualisierung ist und Krüger zufolge „Personalität das Medium darstellt, dem gegenüber sich Menschen individualisieren“.⁹⁶ Während Plessner in den Grenzen der Gemeinschaft noch, Gesellschaft als Individualisierungsprinzip gegen einen Gemeinschaftskult kämpferisch verteidigend, vom „Schicksal der Individualisierung“⁹⁷ spricht, kann Krüger den Zwang zur Individualisierung im

 Vgl. Krüger 1999: 102.  Zur Komplementarität von Verleiblichung und Verkörperung vgl. Krüger 1999: 39, 66, 102. Krüger 2001: 343.  Diesen Sachverhalt hebt Krüger in der Analyse der Individualisierung ebenfalls hervor: „Für die Individualisierung ist die leibliche Sinnbildung primär, aber soziokulturell überlebt die Verkörperung in ihrer praktischen Bedeutung.“ (Krüger 1999: 216)  Plessner2003 h: 453.  Dieser Doppelprozess ist bei Plessner zwar angelegt, als solcher aber systematisch entwickelt und ausformuliert worden von Krüger, vgl. Krüger 1999.  Krüger 1999: 193.  GdG: 60.

5.3 Körperleiblichkeit als Medium der Personalisierung

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Ausgang von der elementaren Rollenhaftigkeit menschlicher Existenz nüchterner artikulieren: Die Individualisierung ist keine Frage bloßer Willkür oder subjektiver Gespreiztheit. […] Individualisierung setzt vielmehr in allen Kulturen leibseitig an den sensomotorischen Rückbezügen der Rolle auf den eigenen Körperleib, etwa an eine Sucht oder Leidenschaft, an und hat mindestens privaten Spielraum.⁹⁸

Individualisierung und Personalisierung setzen „leibseitig“ an, vollzogen werden sie aber in der Vermittlung der „Expressivität des Leibes“⁹⁹ mit der „Instrumentalität des Körpers“.¹⁰⁰ Diese Vermittlung entfaltet Plessner als das Spiel von Leibsein und Körperhaben, in dem wir den uns existenziell zugänglich Leib, in dem wir uns verkörpern, zugleich haben müssen als Körper, um uns über die Verkörpertheit unserer Existenz hinaus intentional verkörpern zu können. Jegliche intentionale Verkörperung stößt jedoch an die Grenze, die der Körper aufgrund seiner Unverfügbarkeit, d. h. aufgrund der Grenzen der Verleiblichung des Körpers, bildet. Doch auch der Körper, der uns im ungespielten Lachen und Weinen überwältigt und von jeder Verleiblichung abgeschnitten ist, wird nicht zum Ding, sondern bleibt sowohl für (und gewissermaßen gegen uns) und für die Anderen eine Aspektrichtung des ¹⁰¹ im Modus der Ausdrücklichkeit erscheinenden Körperleibs. Da die Aspektrichtungen nicht als Seinsbereiche in der Wirklichkeit auftreten, sondern als Aspekte der körperleiblichen Wirklichkeit, ist ihr Sinn kein Seinssinn, keine Bedeutung im denotativen Sinn, sondern ein phänomenologisch elaborierter Richtungssinn. Diesen Begriff führt Plessner in der Analyse des Verhältnisses von Doppelaspektivität und Grenze ein, welche er in den Stufen

 Krüger 1999: 192 f.  LuW: 248.  Krüger 1999: 147. – Plessner spricht zwar auch von der „instrumentale[n] Auffassung des eigenen Körpers“ (LuW: 245), aber auch von der „Instrumentalität des Leibes“ (ebd.: 248 f.) und im Bezug auf das menschliche Dasein global vom „instrumentale[n] und expressive[n] Charakter seines Daseins“ (ebd.: 374). Gegenüber diesem schwankenden Sprachgebrauch hat Krüger die „Instrumentalität des Körpers“ terminologisiert in Anlehnung an den Begriff des Körperhabens und die exklusive Möglichkeit des Körpers, als Instrument im Dienste des Leibes und des Leibseins eingesetzt zu werden, wohingegen eine „Instrumentalität des Leibes“ auf eine instrumentale Verwendung von etwas abzielen würde,was sich per definitionem dadurch auszeichnet, überhaupt in Abstraktion von seinem irreduzibel privaten und genuinen Intimitätscharakter als instrumental handhabbarer Körper aufgefasst werden zu können.  Dem „des“ entspricht phänomenologisch das „am“, d. h. das Erscheinen am lebendigen Körperleib selbst.

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5 Das Politische in der Ontologie der Person

durchführt.¹⁰² Der Richtungssinn bildet das spezifische Charakteristikum der Richtungsgegensätze von Innen und Außen im Unterschied zur richtungsneutralen Zone, welche die Grenze bildet.¹⁰³ Die Grenze wiederum ist hier, um alle irreführenden verräumlichenden Auffassungen derselben zu vermeiden, als der Grenzübergang zu verstehen, den das Lebewesen im Allgemeinen und die menschliche Person in besonderer Weise „selbst als Eigenschaft hat“.¹⁰⁴ Leib und Körper sind als Aspektrichtungen nicht der Richtungsgegensätzlichkeit enthoben, weshalb Plessner bereits in der Deutung des mimischen Ausdrucks, gleichsam seine späteren Ausführungen in Lachen und Weinen antezipierend, von der „gegensinnigen Gegebenheit des Körperleibes“¹⁰⁵ spricht. Als Aspektrichtungen bilden Leib und Körper interne Differenzierungen des Mediums Körperleib, in dem die Richtungsgegensinnigkeit des Doppelaspekts die Gestalt des privat-öffentlichen Doppelgängertums annimmt. Die Doppelaspektivität ist als Grundfigur von Plessners Ontologie des Organischen ausgewiesen worden, das privat-öffentliche Doppelgängertum soll im Folgenden ebenfalls ontologisch, nämlich von seinem „Ursprung“ in der Struktur der Körperleiblichkeit her, aufgewiesen werden.

5.4 Ontologische Wurzeln des anthropologisch fundamentalen privat-öffentlichen Doppelgängertums und Plessners Kritik der soziologischen Rollentheorie 5.4.1 Die Struktur der Körperleiblichkeit und das privat-öffentliche Doppelgängertum Die Konvergenz von Ontologischem und Politischem in der Verfasstheit des Körperleibs gründet darin, dass sowohl in der anschaulichen Erscheinung von Personen in der Wirklichkeit als auch in der Hermeneutik der eigenen Lebensvollzüge den Aspektrichtungen von Körper und Leib die Sinnrichtungen des Öffentlichen und des Privaten eingeschrieben sind. Aufgrund dieser doppelten Sinnrichtung

 Vgl. SOM: 100.  „Insofern die richtungsneutrale Zone selbst kein Gebiet einnehmen darf, welches die Ausschließlichkeit des Richtungsgegensatzes an dem betreffenden Gebilde aufhöbe und neben das Außen und Innen ein real aufweisbares Zwischen setzte, ist sie Grenze.“ (ebd.)  Ebd.: 103.  DmA: 113.

5.4 Ontologische Wurzeln

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zeigt sich bei Personen die Doppelaspektivität in der Gestalt des privat-öffentlichen Doppelgängertums. Die Sinnrichtungen fallen nicht in den Richtungsgegensatz der Aspekte, der Körper ist daher nicht „das Öffentliche“ und der Leib nicht „das Private“, aber die Aspektrichtungen des Leibes und des Körpers sind – um wieder einen Begriff aus den Stufen aufzugreifen – die „Ansatzzonen“¹⁰⁶ von Privatem und Öffentlichem. In den Stufen bildet die Mitte die Ansatzzone der Richtungsgegensätze von Innen und Außen, sie fällt also nicht in die Richtungsgegensätzlichkeit, was in dieser Adaptation des Begriffs aber der Fall zu sein scheint. Von „Ansatzzonen“ der Sinnrichtungen lässt sich bei Körper und Leib jedoch insofern sprechen, als die Sinnrichtungen in gleicher Weise an die personal geleistete Verschränkung von Leibsein und Körperhaben gebunden sind wie Leib und Körper als Aspektrichtungen an die Person, welche deren Verschränkung vollzieht. Öffentliches und Privates sind nicht identisch mit Aspektrichtungen, aber sie existieren als Sinnrichtungen in strikter Komplementarität mit ihnen, ohne von ihnen hervorgebracht zu werden, weil sie als Hervorgebrachtes von ihnen ablösbar wären. Im Falle einer solchen Ablösbarkeit wäre das privat-öffentliche Doppelgängertum aber nicht mehr fundamental, sondern arbiträr. Mit der Unterscheidung zwischen Sinnrichtungen ¹⁰⁷ und „Aspektrichtungen“ (Krüger) – beide Begriffe kommen bei Plessner nicht vor – sollen nicht zwei verschiedene und getrennt voneinander behandelbare Sachverhalte angesprochen werden, sondern ein Sachverhalt, das Spiel von Leibsein und Körperhaben, in einer geringfügig geänderten Akzentuierung: Öffentliches und Privates sind

 SOM: 102.  Den Begriff der Sinnrichtung hat Krüger in einer allerdings anderen Bedeutung verwendet, nämlich in Auseinandersetzung mit Scheler zur Bezeichnung der Sinnrichtung von „Gefühlsbewegungen“.Vgl. Krüger 2009d: 165 und 177. – Thomas Ebke verwendet den Begriff in seinem Buch Lebendiges Wissen des Lebens zur Erläuterung des hiatus irrationalis „Die Grenze steht, darin den Doppelaspekt des unbelebten Wahrnehmungsdinges verschärfend, für eine absolute Disparität von Sinnrichtungen, d. h. von nicht-materiellen Relationen. Seine Grenzen zu realisieren oder, wie Plessner schreibt, zu ‚vollziehen‘, bedeutet für das Lebendige, in eine durchaus widersprüchliche Bewegung eingelassen zu sein: Eine Dynamik, die das Lebendige ‚in doppelter Richtung transzendiert, es einerseits über es hinaus setzt (streng genommen: außerhalb seiner setzt), andererseits in es hineinsetzt (in ihm setzt)‘. Aktive und passive Verhaltensmomente schlagen ineinander um, ohne harmonisiert werden zu können.“ (Ebke 2012: 68) Ebke verfährt mit dem Begriff der Sinnrichtungen, die er treffend als „nicht-materielle Relationen“ definiert, allerdings nicht konsequent, da er ihn an anderer Stelle zur Bezeichnung der Aspektrichtungen und synonym mit diesen verwendet, vgl. ebd.: 65. Zudem versteht Ebke unter den Sinnrichtungen nicht nur „nichtmaterielle Relationen“, sondern zugleich nicht-materielle Bewegungsmomente, womit der jeweilige Sinn als reales movens statt als strikt komplementäre Bedeutungsdimension der Aspektrichtungen aufgefasst wird.

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5 Das Politische in der Ontologie der Person

Sinnrichtungen der Aspektrichtungen im Verhalten, während der Richtungssinn der Aspektrichtungen ontologisch an die Materialität des Körperleibes selbst gebunden bleibt. Die Sinnrichtungen, welche den Aspektrichtungen eingeschrieben sind, ohne mit ihnen zu koinzidieren, haben das mediale Substrat des Körperleibs zur Voraussetzung. Sinnrichtungen sind dabei kein semantischer Überbau der Aspektrichtungen, weil sie eine nicht-arbiträre Bedeutungsdimension der doppelaspektiven Erscheinungsweise und damit der Expressivität sind, die nicht etwa ein Derivat der Sprache bildet, sondern deren Derivat die Sprache bildet. Die Sinnrichtungen codieren sich existenziell, d. h. Privates und Öffentliches sind nicht semantisch primitiv, ihre Bedeutung ist nicht mit der Körperleiblichkeit selbst gegeben, sondern der Körperlichkeit ist der Imperativ zu ihrer Gestaltung im Medium von Bedeutungen eingeschrieben, die aufgrund der Sinnrichtungen keiner Definitionswillkür unterworfen werden können. Anders gesagt: Aufgrund des privat-öffentlichen Doppelgängertums geht die konkrete semantische Konfiguration von Öffentlichem und Privatem in das Spiel von Personalisierung und Individualisierung ein und ergibt sich aus ihm; auf diesen scheinbar paradoxen Sachverhalt zielt Plessners Begriff „elementarer Rollenhaftigkeit“.¹⁰⁸ Von Öffentlichem und Privatem als in der Struktur der Körperleiblichkeit wurzelnden und mit der Körperleiblichkeit unaufhebbar gegebenen Sinnrichtungen her lässt sich das Verhältnis zwischen Öffentlichem und Privatem im Sinne der elementaren Rollenhaftigkeit begreifen, ohne sie aus einer empirischen Rollensozialisation herleiten zu müssen, welche sie bereits voraussetzt. Fasst man den Rollenbegriff bloß empirisch auf, so müsste die Einübung von Rollen die Rollenhaftigkeit ermöglichen, welche ihre Einübung ermöglicht – der Zirkel tritt offen zutage. Versuchte man die elementare Rollenhaftigkeit in der empirischen Rollensozialisation aufzulösen, würde man damit auch das privat-öffentliche Doppelgängertum in der fundamentalen Bedeutung, die Plessner ihm anthropologisch konzediert und die hier ontologisch vertieft wird, aufheben. Die ontologisch-politische Verfasstheit des Körperleibs gründet demzufolge darin, dass sowohl anschaulich in der Erscheinungsweise von Personen in der Wirklichkeit als auch in der Hermeneutik der eigenen Lebensvollzüge (keine Introspektion) den Aspektrichtungen von Körper und Leib die Sinnrichtungen des Öffentlichen und des Privaten eingeschrieben sind. Aufgrund dieser doppelten Sinnrichtung zeigt sich bei Personen die Doppelaspektivität in der Gestalt des privat-öffentlichen Doppelgängertums. Fundamental ist dieses Doppelgängertum also, weil es in den Aspektrichtungen der Körperleiblichkeit selbst wurzelt. Und weil es sich um ein anthropo-

 CH: 199.

5.4 Ontologische Wurzeln

353

logisch fundamentales Doppelgängertum handelt, hat Plessner, der es am Bilde des Schauspielers erläutert, es nicht am Beispiel des Schauspielers gewonnen: „Dieses Doppelgängertum erläutert sich, da Rolle hier als Maske verstanden wird, am Bilde des Schauspielers.“¹⁰⁹ Den am Bilde des Schauspielers gewonnenen Rollenbegriff nennt Plessner daher auch den „theatralische[n] Rollenbegriff“,¹¹⁰ der das in der anthropologisch grundlegenden „Rollenhaftigkeit latente Spielelement, das in die Konstitution der Person durch die Verkörperung eingeht und in ihr gebunden bleibt“,¹¹¹ zur Voraussetzung hat. Weil die Verkörperung die Verkörpertheit der Person in der doppelten Aspektrichtung von Leib und Körper voraussetzt, kann die elementare Rollenhaftigkeit als Basis von Plessners Kritik der soziologischen Rollentheorie fungieren, die sich herschreibe von einem „durch unser Sozialverständnis […] genährtes Vorurteil“,¹¹² wonach „die elementaren Lebensbeziehungen, wie Kindschaft, Mutterschaft, Vaterschaft, überhaupt verwandtschaftliche Zugehörigkeiten, der Rollensphäre entzogen seien und ,Rolle‘ nur an solchen gesellschaftlichen Aufgaben hänge, deren Bewältigung eine besondere Leistung darstellt“.¹¹³ Das gesellschaftliche Rollenspiel wurzelt also nicht zuletzt in der gesellschaftlichen Praxis, sondern das Rollenspiel der gesellschaftlichen Praxis findet seine Ermöglichungsbedingung in der Struktur der (sprachlich sich objektivierenden und potenzierenden) Körperleiblichkeit und der sie kennzeichnenden Irreduzibilität zweier unauflöslich verbundener, nicht ineinander überführbarer und nicht durcheinander ersetzbarer Aspektrichtungen (Körper/Leib) und der diesen eingeschriebenen Sinnrichtungen (Öffentliches/ Privates). Die Differenz des Privaten und des Öffentlichen ist – hier wird nun der weite Rückweg zur phänomenologischen Deskription genommen – als deren Sinn diesen Aspektrichtungen bereits eingeschrieben, weil die Expressivität des Leibes eine anschauliche Sinngrenze im Verstehen bildet, das nicht per se den aporetischen Charakter hat, welchen ein gegenüber der Körperleiblichkeit blinder Idealismus in Form einer unverlierbaren und letztlich die Subjektivität gegen die Mitwelt abschließenden Innerlichkeit zu behaupten geneigt sein könnte; einer solchen solipsistischen Monadizität steht jedoch die Körperlichkeit des unaufhebbar expressiven Leibes als Verunmöglichungsgrund aporetischer Privatheit im Weg. Deshalb kann und muss Plessner behaupten, dass dem funktionalen Rollenbegriff der Soziologie „das Doppelgängertum privat-öffentlich zugrunde

    

Plessner 1985e: 232. CH: 199. Ebd. Ebd.: 198. Ebd.

354

5 Das Politische in der Ontologie der Person

liegt“,¹¹⁴ denn „die Doppelgängerstruktur als solche hält sich überall durch“.¹¹⁵ Daraus erkläre sich wiederum der universelle Nutzen einer soziologischen Funktionsanalyse anhand des Rollenbegriffs, in welchem zwischen Rollenträger und Rollenfigur unterschieden wird: „An dieser Struktur von Doppelgängertum, in welchem Rollenträger und Rollenfigur verbunden sind, glauben wir eine Konstante zu erkennen, welche für jeden Typus menschlicher Vergesellschaftung offen ist und eine ihrer wesentlichen Voraussetzungen bildet.“¹¹⁶ Aufgrund des privat-öffentlichen Doppelgängertums bildet der Rollenbegriff nicht nur eine theatralische und auch nicht nur eine „gesellschaftlich-politische Kategorie“,¹¹⁷ sondern eine ontologisch fundierte anthropologische Fundamentalkategorie. Was die Fundamentalität des privat-öffentlichen Doppelgängertums wesentlich kennzeichnet, ist die fundamentale Gegensinnigkeit der Sinnrichtungen, welche in der doppelten Gegensinnigkeit der Körperleiblichkeit wurzeln – der Gegensinnigkeit der Aspektrichtungen und der Sinnrichtungen. Diese Gegensinnigkeit ist keineswegs per se antagonistischer Natur, sie kann zu einer antagonistischen erst in einer Krise des sie Umgreifenden, nämlich der Person, geraten; sie kann aber auch als antagonistische gewollt und dieser Antagonismus wiederum stilisiert werden.¹¹⁸ Gegensinnigkeit meint hier lediglich, dass, so wie die Aspektrichtungen Leib und Körper nicht ineinander überführbar und durcheinander substituierbar, die Sinnrichtungen „privat“ und „öffentlich“ dies auch nicht sind und es zuletzt auch da nicht sind, wo deren Auflösung einem intentional total öffentlich geführten Leben angestrebt oder wenigstens akzeptiert wird.¹¹⁹ Weil das

 Ebd.: 201.  Plessner 2003 h: 453.  CH: 204.  „Überall da, wo Repräsentation einen wesentlichen Bestandteil sozialen Lebens bildet, im Kult der Gottheit oder des Staates, erweitert sich der theatralische Rollenbegriff zu einer gesellschaftlichpolitischen Kategorie.“ (CH: 199)  Die naturphilosophische Fundiertheit des privat-öffentlichenm Doppelgängertums impliziert keine Entscheidung darüber, welche Ausgestaltung desselben natürlich sei oder als natürlich zu gelten habe: „Dem Doppelgängertum als solchen, als einer jedwede Selbstauffassung ermöglichenden Struktur, darf die eine Hälfte der anderen keineswegs in dem Sinne gegenübergetellt werden, als sei sie ,von Natur‘ die bessere. Er, der Doppelgänger, hat nur die Möglichkeit, dazu zu machen.“ (CH: 204) Hinzufügen ließe sich: Oder die Privilegierung einer Hälfte zu verweigern.  Selbst wo Personen eine Depersonalisierung vollziehen, indem sie ihr Leben vollständig öffentlich, d. h. restlos exhibitionistisch zu führen versuchen,würden diese Personen, so wenig sie noch solche sind, die Personalität noch beanspruchen mit der Behauptung, dass es eine unverlierbare Innerlichkeit gebe, die in keiner Ostension aufgehen könne. Sie lägen damit paradoxerweise anthropologisch so richtig wie sie sich mit einer solchen Behauptung bzw. Anspruchshaltung dadurch lächerlich machen würden, dass sie etwas artikulierten, was in einem grundlegend, nicht gegensinnigen, sondern antagonistischen Verhältnis zu ihren Verkörpe-

5.4 Ontologische Wurzeln

355

privat-öffentliche Doppelgängertum fundamental ist, sind Ausgleichsleistungen zwischen Privatem und Öffentlichem es nicht weniger; deren Notwendigkeit gründet darin, dass keine der beiden Sphären totalisierungsfähig ist, da noch das genuin Eigene im Leibsein sowohl nicht nur für den Anderen prinzipiell unverfügbar, sondern auch für mich selbst prinzipiell nicht im Ganzen verfügbar ist, wie Krüger eindringlich gezeigt hat: Das Eigene, an dem ich doch hänge, von dem mein ganzes Leben abhängt, entzieht sich jetzt meiner Verfügbarkeit.Wenn jetzt und hier überhaupt etwas hilft, dann braucht es den Umweg über die Aneignung von etwas Anderem. Derjenige Leib, der etwa nur noch in einem schier unendlichen Schmerz der Bauchgegend zu bestehen scheint, verlangt nach einer Erlösung, und sei es die Verkörperung durch einen Chirurgenschnitt. Oder auch diejenige unbedingte Leidenschaft der Liebe, die in unbedingten Hass umgeschlagen ist, braucht ein Gegengewicht an Verkörperung zum Aufruhr des Leibes, soll dieses Unbedingte nicht töten. Die Unmittelbarkeit des Leibes kann uns verschlingen, wenn sie für uns unbedingt wird, d. h. durch keine gegensinnige Verkörperung mehr bedingt werden kann.¹²⁰

Die ontologische Dimension des privat-öffentlichen Doppelgängertums lässt sich allerdings erst dann erschöpfend begründen, wenn man die Verschränkung von Leibsein und Körperhaben in den sie fundierenden oben begrifflich angedeuteten naturphilosophisch-ontologischen Rahmen stellt, welchen Plessners Ontologie des Ausgleichs bildet.

5.4.2 Die naturphilosophische Ontologie des Ausgleichs und das privat-öffentliche Doppelgängertum Was die Ontologie des Organischen mit der Theorie des Politischen unauflöslich verbindet, ist die Tatsache, dass die organische (Selbst‐)Vermittlung zur Ganzheit im Falle menschlicher Personen nicht jenseits des privat-öffentlichen Doppelgängertums vollzogen werden kann, sondern dass diese Vermittlung in ihrer doppelten Gestalt der Personalisierung und Individualisierung im Medium und Bruch des privat-öffentlichen Doppelgängertums, das mit der Struktur der Körperleiblichkeit gegeben ist, vollzogen werden muss. Die naturphilosophische Bestimmung des Körpers als die Vereinigung der „Eigenschaft, Subjekt des Habens zu sein, mit der

rungsleistungen stünde. Der wenig schmeichelhafte und doch zutreffende Begriff, der sich für Phänomene dieser Art eingebürgert hat, lautet nicht umsonst attention whores. Besagt wird damit, dass für die Sinnressource Anerkennung auf die für die Intaktheit personalen Lebens grundlegende Ausgleichsleistung zwischen öffentlicher und privater Existenz weitgehend verzichtet wird.  Krüger 1999: 95.

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5 Das Politische in der Ontologie der Person

Eigenschaft, Objekt des Habens (sein Körper) zu sein, dadurch, daß er zum Mittel des Habens wird“,¹²¹ ist noch für das privat-öffentliche Doppelgängertum der Person und die Aufgabe, die Expressivität des Leibes mit der Instrumentalität des Körpers zu vermitteln, grundlegend. In der naturphilosophischen Grundlegung, die vom Lebendigen überhaupt handelt, koinzidieren bei Plessner die Mitte und das Subjekt des Habens: „Die Inexistenz der Mitte (des realen Kerns, des Subjekts des Habens) ist also allein als die wirkliche Möglichkeit des Körpers oder sein Vermögen (Potenz) real.“¹²² Auf der personalen Ebene potenziert sich diese Potenzialität allerdings durch die exzentrische Positionalität, durch welche die Person nicht mehr bloß Subjekt und Objekt des Habens zugleich ist, sondern aufgrund welcher vom Menschen gilt, dass „sein im Hier-Jetzt Sein, d. h. sein Aufgehen im Erleben nicht mehr in den Punkt seiner Existenz fällt. Sogar im Vollzug des Gedankens, des Gefühls, des Willens steht der Mensch außerhalb seiner selbst.“¹²³ Von diesem Außerhalb her werden Subjekt und Objekt des Habens in Exzentrierungsleistungen über ihren engeren naturphilosophischen Sinn hinaus ihrer selbst als spezifisch personaler Doppelcharakter und als die aspektive Ausdifferenzierung des Körperleibs in die „Expressivität des Leibes“ und die „Instrumentalität des Körpers“ ansichtig. Dieses Verhältnis von Leib und Körper stellt nicht eine schlichte Tatsache, sondern zugleich ein Gestaltungsdesiderat dar, und diese Gestaltung ist die Aufgabe der personalen Lebensführung, in welcher die naturphilosophische Ontologie des Ausgleichs personale Gestalt annimmt. Doch auch wo die Ontologie des Ausgleichs eine spezifisch personale Form annimmt, bleibt das Problem des natürlichen Körpers grundlegend, da die Verschränkung von Leibsein und Körperhaben die Wiege menschlichen Handelns bildet: „Der Zwang zum Ausgleich seines körperleiblichen Doppelaspekts ist die Wiege des Handelns, dem sich der Mensch in seiner Motorik nicht entziehen kann, wenn er sein möglichstes, das menschenmögliche versucht.“¹²⁴ Diesen Ausgleich nennt Plessner an anderer Stelle auch den „Ausgleich zwischen der privaten und der öffentlichen Hälfte seiner selbst“.¹²⁵ Das privat-öffentliche Doppelgängertum ist der Ontologie des Ausgleichs in ihrer personalen Variante nicht nur unauslöschlich eingeschrieben, sondern es bildet darüber hinaus die Wiege des Handelns statt das Resultat von Handlungen. Das Resultat von Handlungen kann nur darin bestehen, die Sinnrichtungen zu codieren, nicht jedoch darin, sie hervor-

    

SOM: 189. Ebd.: 162. Ebd.: 298. AdS: 386. CH: 204.

5.4 Ontologische Wurzeln

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zubringen oder ihre konstitutive Bedeutung zu stiften. Diese Fundamentalität des privat-öffentlichen Doppelgängertums und der in ihr gründenden „elementaren Rollenhaftigkeit“ lässt sich daher auch nicht aus den Handlungen ableiten, die sich als Sprachhandlungen bezeichnen lassen; diese können ebenfalls Sinn nur codieren, nicht aber solchen ursprünglich stiften. In diesem Sachverhalt gründet Plessners Hinweis auf die Fundamentalität der Struktur des Doppelgängertums als der Grundlage funktioneller Analysen auch von Gesellschaften, welche die Unterscheidung zwischen Öffentlichem und Privatem nicht kennen.¹²⁶ Wie die Ontologie des Ausgleichs naturphilosophisch am Doppelcharakter des Körpers, Subjekt und Objekt des Habens zu sein, ansetzt, so reagiert auch alles menschliche Handeln auf diesen Doppelcharakter. Die Pointe der Personalisierung und Individualisierung besteht jedoch darin, die ontologische Potenzialität der Mitte, welche beim Menschen als Personalität sich zeigt, derart zum Ausgleich zu bringen, dass der natürliche Körper zum personalen Körper wird, ohne dass seine Natürlichkeit kulturalistisch aufgelöst würde. Am Anfang alles Handelns steht nämlich nicht schlicht die „fertige“ Doppelaspektivität des Körperleibs, d. h. die „Instrumentalität des Körpers“ im Sinne einer instrumentalen Beherrschbarkeit des Körpers, sowie die Sphären des Privaten und des Öffentlichen als fertige Bereiche des Politischen, die nur auszugestalten wären, sondern eine Asymmetrie, die wir als Vorrang des Körpers gefasst haben: Für uns sind wir primär Leib, in der von uns geeigneten bzw. in einen Innenperspektive übersetzbaren Außenperspektive her jedoch sind wir zunächst ausdruckshafter Körper (fremder Leib; in sozialer Perspektive, die wir in Selbstdistanzierung prinzipiell einzunehmen in der Lage sind) oder gegenständlicher Körper (naturwissenschaftlich betrachtet, aber auch in der maximal vergegenständlichenden Objektivierung des Körperleibes durch uns selbst). So existenziell wir uns im Leibsein scheinbar unmittelbar selbst gegeben sind, so existenziell ist doch zugleich diese Außenperspektive, denn die Körpernatur des notwendig expressiven Leibes setzt uns dem Blick von außen unaufhebbar aus, bevor wir über die Kapazitäten verfügen, diese elementare Tatsache zu bewältigen; in diesem eng gefassten Sinn lässt sich von einem Primat des Körpers sprechen.¹²⁷ In unserer doppelten Ausgesetztheit als beobachtbarer, fragiler

 „Merkwürdigerweise versagt nun auch gegenüber diesen altertümlichen Typen von Gesellschaft, die den Funktionalismus der Arbeit nicht kennen und von keiner Gespaltenheit in private und öffentliche Existenz wissen, die funktionelle Analyse nicht.“ (ebd.: 203)  Der privilegierte Zugang zu unserem leiblichen vermittelten Selbstgefühl kann nur zu dessen ontologischer Privilegierung verführen, wenn man darüber hinwegsieht, wir unseren Leib nur im personalen Sinne zu unserem machen, paradox gesprochen: verleiblichen können, indem wir uns unseren Körper aneignen, der uns gerade frühkindlich durch unsere Unverfügbarkeit terrorisiert,

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5 Das Politische in der Ontologie der Person

Körper und als expressiver Körper (Leib), in der Tatsache der verkörperten Existenz noch vor aller intentionalen Verkörperung gründet der Zwang zum Ausgleich noch bevor wir im Körper das Korrektiv einer wahrlich „leibhaftig“ in sich kreisenden Subjektivität suchen und finden müssen. Umgekehrt müssen wir leibliche Regungen Neugeborener als Artikulation körperlicher Bedürfnisse auffassen und auf sie in einer Art permanentem Notarzteinsatz zunächst technisch, durch Fütterung und Pflege, reagieren, bevor wir es mit einem uns ausgesetzten Körperleib zu tun haben, dem gegenüber wir uns selber als ausgesetzt erfahren können.¹²⁸ Der Begriff der Exzentrizität gewinnt in diesem Zusammenhang eine weitere Bedeutung, wenn man die Verkörperung auf die unaufhebbare Verkörpertheit der menschlichen Existenz anwendet: Exzentrizität ist dann auch das ausdruckshafte Über-ihm-hinaus-Sein des körperleiblichen Wesens als Ausgangsbedingung von Ausgleichsleistungen. Sie macht Verschränkungsleistungen notwendig, die keine Ontologie der Verschränkung als Alternative zur Ontologie des Ausgleichs begründen, sondern vielmehr bildet die Verschränkung von Leibsein und Körperhaben die Praxis des ontologisch notwendigen Ausgleichs der „Expressivität des Leibes“ und der „Instrumentalität des Körpers“ unter den Vorzeichen eines Primats des Körpers im schwachen Sinne.

5.5 Die genuin politische Dimension des privat-öffentlichen Doppelgängertums Plessner führt den Begriff des privat-öffentlichen Doppelgängertums zusammen mit dem der elementaren Rollenhaftigkeit in Die Frage nach der conditio humana ein, um die soziologische Rollentheorien anthropologisch zu fundieren. Diese Tatsache ließe sich zum Anlass nehmen, um mit kritischem Verdacht zu fragen, warum das privat-öffentliche Doppelgängertum überhaupt die Keimzelle einer Theorie des Politischen darstellen solle, wo doch diese Differenz zunächst nur besagt, dass Personen elementar soziale Wesen seien. So hat Jan Beaufort, ohne diesen Einwand zu erheben, ihm entsprochen, indem er zugleich den Menschen von Plessner her als ζώον πολιτικόν aufzufassen bestrebt ist, dabei aber die Ge-

aber auch in seiner nicht ganz aufhebbaren Fremdheit zur erstaunlich unbefangenen Erforschung reizt.  Phaseneinteilungen innerhalb der Frühontogenese interessieren uns hier nicht, sondern nur die banale und doch ständig übersehene grundsätzliche Bedeutung der Tatsache, dass Menschen nicht als Erwachsene zur Welt kommen. Zur genaueren Analyse der Frühontogenese im Rahmen der Philosophischen Anthropologie siehe Krüger 2011: 40 und vor allem 140 – 145.

5.5 Die genuin politische Dimension des privat-öffentlichen Doppelgängertums

359

sellschaft als die „Sphäre des Politischen“¹²⁹ ansetzt. Das Politische wird damit vom empirischen Sozialen (der Gesellschaft) her erklärt, das privat-öffentliche Doppelgängertum spielt in Beauforts Deutung nicht einmal nominell eine Rolle.¹³⁰ Hans-Peter Krüger hingegen sieht den Vorrang des Öffentlichen vor dem Privaten in der Konstitution des Verhältnisses beider: Das Politische entspringt dem Öffentlichen und gewinnt erst an dem Problem, welche Verschränkung von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung hier und heute die angemessenste ist, sein gewichtiges Thema, das der öffentlichen Partizipation aller bedarf. Es ist diese Frage ,einer Ethik des Ausgleichs, der wahren Mitte‘, die zu Recht im Mittelpunkt der Phänomene des Politischen steht.¹³¹

Krüger knüpft hier an Plessners Grenzen der Gemeinschaft an, doch diese bilden auch die systematische Mitte zwischen der Ontologie des Ausgleichs aus den Stufen und dem privat-öffentlichen Doppelgängertum, wie Plessner es später entwickelt hat. Auf der Ebene des privat-öffentlichen Doppelgängertums entspricht der „Verschränkung von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung“ die Verschränkung von Leibsein und Körperhaben, die nur als Verkörperungsleistung vollzogen werden kann und als solche an der Inkorporiertheit des in Verkörperungen Überzuführenden ansetzt. Das privat-öffentliche Doppelgängertum setzt an der irreduziblen Komplementarität beider Aspektrichtungen an, aber unter den Vorzeichen der Ausgesetztheit des Körperleibs, d. h. seiner unaufhebbaren prinzipiellen Öffentlichkeit. Das privat-öffentliche Doppelgängertum in der Lebensführung zum Ausgleich zu bringen heißt, die ontologische Ausgleichsbedürftigkeit der Person als Naturwesen, ihre Realität als Potenz,¹³² zu verwirklichen; diese steht nicht im Mittelpunkt, sondern an der Wurzel der Phänomene des Politischen. Die Aufweisung des privat-öffentlichen Doppelgängertums als Wurzel des Politischen statt bloß des Sozialen bedarf des Rückgangs auf die in das Doppelgängertum hinreinragende Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden,

 Vgl. Beaufort 2000: 234.  Auch Arlt (1994) geht über das privat-öffentliche Doppelgängertum, wenn auch nicht nominell, so doch in der Sache hinweg, obwohl er im Untertitel seines Buches den Zusammenhang zwischen Anthropologie und Politik zu elaborieren vorgibt. Den Zusammenhang zwischen dem Doppelgängertum und der Doppelaspektivität spricht Arlt zwar an (ebd.: 77), versäumt es aber dabei, die Rollentheorie zum Politischen in Beziehung zu setzen. Dabei hätte es nahegelegen, diese Verbindung herzustellen, bildet doch das Verhältnis zwischen Eigenem und Fremdem, über welches Arlt das Politische definiert, einen Schnittpunkt zwischen Sozialem und Politischem: „Worin gründet das Politische? In der Eigenschaft des Menschen, sich zur eigenen Vertrautheit gegen das Fremde ermächtigen zu müssen.“ (ebd.: 121)  Krüger 1999: 213.  Vgl. SOM: 162.

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5 Das Politische in der Ontologie der Person

das Plessner in Macht und menschliche Natur als die politische Fundamentaldifferenz eingeführt hat. In der Verschränkung von Leibsein und Körperhaben, in welchem sowohl das privat-öffentliche Doppelgängertum als auch die elementare Rollenhaftigkeit zu ihrer geschichtlichen Verwirklichung im Rollenspiel der Lebensführung gelangen, finden zwei weitere Verschränkungen statt, in denen und durch welche hindurch die Ausgleichsleistungen von Personen vollzogen werden: (1) die Verschränkung der Sinnrichtungen des Privaten und des Öffentlichen und (2) die Verschränkung der Sphären des Eigenen und des Fremden. In Macht und menschliche Natur bringt Plessner in Anlehnung an Freud die zur Verschränkung zu bringende Verschränktheit von Eigenem und Fremdem im Eigenen zur Sprache: „Denn das Fremde ist das Eigene, Vertraute und Heimliche im Anderen und als das Andere und darum – wir erinnern uns hier an eine Erkenntnis Freuds – das Unheimliche.“¹³³ Das Unheimlichwerden des Eigenen in der Erfahrung des Fremden im Eigenen und des Eigenen als auch Fremdem basiert auf der Vertretbarkeit der menschlichen Person, die Plessner bereits in den Stufen als innere, durch die exzentrische Positionalität bedingte Brechung der Individualität, d. h. der individuierten Personalität, herausgearbeitet hat.¹³⁴ Diese strukturelle Verwandtschaft, deren Konvergenzpunkt in der Konstitution von Identität über und durch Differenz in ihr selbst besteht, sollte Plessner-Interpreten stärker interessieren als die eher zeitgeschichtlich als systematisch erklärbare Bezugnahme Plessners auf Carl Schmitts Freund-Feind-Relation, über die Plessner sagt, dass sie „nicht notwendig den Sinn einer spezifisch politischen Relation [habe], weil sie alle Verhältnisse des Menschen durchwaltet“.¹³⁵ Sie bildet nach Plessner nicht die politische Grundrelation, sondern eine universale Relation, in welcher das Politische wurzele: „Aber in ihr wurzelt als einer Konstante der menschlichen Situation das Politische in seiner expliziten Form eines zwischenmenschlichen Verhaltens, das auf der Sicherung und Mehrung der eigenen Macht durch Einengung bzw. Vernichtung des fremden Machtbereichs gerichtet ist“.¹³⁶ Das Ver-

 MmN: 193, vgl. Krüger 1999: 138.  Vgl. SOM: 343.  MmN: 194. – Das Gleiche hält übrigens Kondylis Schmitt vor: „Die Beziehung von Freundschaft und Feindschaft charakterisiert die soziale Beziehung in ihrer Gesamtheit und nicht nur die politische Beziehung. […] In einem logischen Sprung identifiziert Carl Schmitt eigentlich die politische mit der sozialen Beziehung, das heißt, er nimmt eine Beziehung mit so universaler Reichweite und verwendet sie, um einen Bereich zu bestimmen, der enger ist als der gesamte Bereich der Gesellschaft.“ (Kondylis 2012: 403 f.) Anders als Plessner zielt Kondylis mit seiner Kritik der unzulässigen Verengung der Freund-Feind-Relation auf das Politische darauf ab, die besagte Relation als sozialontologische Grundrelation einzuführen. Vgl. ebd., die Ausgestaltung dieser Sozialontologie findet sich in Kondylis 1984.  MmN: 194.

5.5 Die genuin politische Dimension des privat-öffentlichen Doppelgängertums

361

hältnis zwischen Eigenem und Fremdem erweist sich für das Politische als fundamentaler als die Freund-Feind-Relation, weil die gegenseitige Durchdringung von Eigenem und Fremdem in der Personalität¹³⁷ die Verbindung stiftet zwischen der Vertretbarkeit der Person und Plessners Angriff auf die „Monopolisierung eines bestimmten historisch gewordenen Menschentums“¹³⁸ in Macht und menschliche Natur. Die Ontologie des Ausgleichs vollzieht sich im privat-öffentlichen Doppelgängertum nicht nur in der Verschränkung von Leibsein und Körperhaben, sondern zugleich in der Verschränkung der Sphären von Eigenem und Fremdem. Das privat-öffentliche Doppelgängertum bildet nicht nur die Grundlage der Rollentheorie, sondern ist darüber hinaus konstitutiv für die Sphäre des Politischen, ohne diese zu erschöpfen oder für sie allein konstitutiv zu sein. Die Sinnrichtungen kreuzen sich in beiden Sphären, der des Eigenen und des Fremden, ohne in einer von ihnen aufzugehen – auch da nicht, wo bestimmte Verkörperungen des privat-öffentlichen Doppelgängertums als in vollständiger Harmonie mit dem aufgefasst werden, was als die Sphäre des „Eigenen“ bezeichnet werden mag. Umgekehrt kann die Entfremdung in die Sphäre des Eigenen fallen, gerade weil diese von der des Fremden besetzt wird. Der Bereich der Sphäre ist wesentlich weiter als der Bereich der Sinnrichtungen und nicht durch eine terminologisch von außen fixierbare Grenze bestimmt oder an ein spezifisches Substrat gebunden, als welches im Fall der Sinnrichtungen die körperleibliche Doppelaspektivität fungiert.¹³⁹ So reicht die „Sphäre des Menschen“, von welcher das letzte Kapitel der Stufen bereits dem Titel nach handelt, weit über die Natur des Menschen und das, was sich mittels der zentralen Begriffe des Kapitels (exzentrische Positionalität, die drei anthropologischen Grundgesetze) im engeren, naturphilosophischen Sinne strukturell fassen lässt; in die Sphäre des Menschen fällt alles, was sich mittels dieser Begriffe im weitesten Sinne erschließen lässt, weshalb z. B. der Kulturbegriff im Rahmen der natürlichen Künstlichkeit eingeführt wird; die Kultur fällt in die Sphäre des Menschen, aber nicht die Kultur in ihrer kulturwissenschaftlich erforschbaren empirischen Gestalt, sondern lediglich ihre naturphilo Der Mensch „ist sich selber Hintergrund des Menschlichen überhaupt, von dem er als ,dieser und kein anderer‘ hervortritt. Als reines Ich oder Wir steht das einzelne Individuum in der Mitwelt. Sie umgibt den Einzelnen nicht nur wie die Umwelt, sie erfüllt ihn nicht nur wie die Innenwelt, sondern sie steht durch ihn hindurch, er ist sie. Er ist die Menschheit, d. h. er als Einzelner ist absolut vertretbar und ersetzbar.“ (SOM: 343)  MmN: 193.  „Die Sphäre der Vertrautheit ist also nicht von ,Natur‘ begrenzt und erstreckt sich (gleichsam außergeschichtlich) bis zu einer gewissen Grenze, sondern sie ist offen und erschließt ihm dadurch die Unheimlichkeit des Anderen in der unbegreiflichen Verschränkung des Eigenen mit dem Anderen.“ (MmN: 193)

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5 Das Politische in der Ontologie der Person

sophischen Ermöglichungsbedingungen sind Gegenstand der Stufen. ¹⁴⁰ Die Sphäre des Politischen reicht zwar wesentlich weiter als das privat-öffentliche Doppelgängertum und die körperleibliche Doppelaspektivität, sie bleibt aber gleichwohl an diese als ihr mediales Substrat gebunden. Was Plessner in der Ontologie des Ausgleichs strukturell aufweist und im privat-öffentlichen Doppelgängertum vertieft, erlaubt keine Übersetzung der Ausgleichsbedürftigkeit in eine bestimmte Gestalt der Verwirklichung, keine Privilegierung einer besonderen Gestaltung des privat-öffentlichen Doppelgängertums. Der Ausgleichsbedürftigkeit ist kein Ideal des gelungenen Ausgleichs eingeschrieben, ebenso wenig lässt sich aus ihr ein bestimmtes Ideal ableiten, weshalb Bielefeldts Begründung der „Ethik des Ausgleichs“ im Rekurs auf die Aristotelische μεσότης -Lehre aus der Nikomachischen Ethik irreführend ist.¹⁴¹ Was zwischen Plessner und dem Aristoteles der Nikomachischen Ethik steht, findet sich in Plessners Philosophischer Anthropologie und reißt einen Graben zwischen der Ethik des Ausgleichs und der μεσότης-Lehre auf: die natürliche Künstlichkeit. Die natürliche Künstlichkeit, welche als Bindeglied zwischen Plessners Ethik und einer Ontologie des Ausgleichs fungieren kann, steht der Aristotelischen Naturphilosophie wesentlich näher als der Nikomachischen Ethik, weil auch Plessners Ethik des Ausgleichs keine Tugendteleologie enthält, sondern gerade die „immanente Teleologie“ der Stufen in einer am Problem der Selbstorganisation von Lebendigem gewonnenen statt in einer tugendethischen Perspektive aufnimmt.¹⁴² Sowohl in Plessners Ethik des Ausgleichs als auch in seiner Ontologie des Ausgleichs geht es um ein Gleichgewicht, das keine Tugendideale verwirklicht, sondern vielmehr ein Selbstseinkönnen gemäß der exzentrischen Positionalität: Existentiell bedürftig, hälftenhaft, nackt ist dem Menschen die Künstlichkeit wesensentsprechender Ausdruck seiner Natur. Sie ist der mit der Exzentrizität gesetzte Umweg zu einem zweiten Vaterland, in dem er Heimat und absolute Verwurzelung findet. Ortlos, zeitlos, ins

 Die Probleme, die sich mit dem Begriff der Sphäre ergeben und die regelmäßig übergangen werden, sind nicht zu unterschätzen. Im Historischen Wörterbuch der Philosophie wird der Begriff als Modeschlagwort des frühen 20. Jahrhunderts bezeichnet, seine noch am ehesten terminologische Prägung bei Scheler verortet, dem Plessner ihn vermutlich entlehnt hat. Vgl. HWPh Bd. 9, 1375. Wie weit der Begriff gefasst ist, zeigt sich bei Scheler wahrlich: „Der [Mensch hat] Welt. Er weist auch noch das als Sphäre seiner Sphäre nach, was er aus der Begrenzung seiner Sinne nicht wissen kann.“ (Scheler 1997b:130) Womöglich spielt der Begriffe der „Sphäre des Menschen“ keine allzu geringe Rolle in Schelers Vorbehalten gegen die Stufen, hat Scheler ihn doch bereits 1926 in seiner nachgelassenen Schrift Zur Konstitution des Menschen (ebd.: 135) verwendet; ob Plessner diese Schrift kannte, entzieht sich meiner Kenntnis.  Vgl. Bielefeldt 1994: 73 f.  Die Bedeutung des Problems der Selbstorganisation als zentrales Motiv der Aristotelischen Ontologie des Lebens aufzuweisen, war das Vorhaben des zweiten Kapitels. Vgl. Kapitel 2.3.4.

5.5 Die genuin politische Dimension des privat-öffentlichen Doppelgängertums

363

Nichts gestellt schafft sich die exzentrische Lebensform ihren Boden. Nur sofern sie ihn schafft, hat sie ihn, wird sie von ihm getragen. Künstlichkeit im Handeln, Denken und Träumen ist das innere Mittel, wodurch der Mensch als lebendiges Naturwesen mit sich im Einklang steht.¹⁴³

Wenn Plessner in den Grenzen der Gemeinschaft von der Notwendigkeit des Ausgleichs zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft spricht, tut er dies eher als Arzt denn als Tugendethiker. Und der Arzt ist in diesem Fall ein Ontologe des Ausgleichs, der, indem er das Politische in der Ontologie der Person aufweist, einen kritischen Maßstab gegenüber allen die Notwendigkeit des Ausgleichs zur Notwendigkeit dieser Gestalt des Ausgleichs verfälschenden, konkretistischen Reduktion des Politischen auf bestimmte politische Idealbilder findet. Denn Ausgleichsleistungen im Sinne der Ontologie des Ausgleichs haben gerade nicht die Mitte als das Prinzip der μεσότης-Lehre zu ihrem τέλος, sondern die Mitte, die als Potenz real ist und sich daher notwendig als Potenz zum Ziel hat. Der Begriff des homo absconditus ist daher nicht von einem normativ verstandenen Prinzip der Unergründlichkeit herzuleiten,¹⁴⁴ sondern das Prinzip der Unergründlichkeit bezieht seine Legitimität daraus, dass das Durchgegebensein des Menschen auf das Andere seiner selbst, von dem Plessner in Macht und menschliche Natur spricht, das Durchgegebensein auf die lebendige Natur ist,¹⁴⁵ die ontologisch als Potenz bestimmt wird.

 SOM: 316.  Dies macht z. B. Schürmann (Vgl. Kap. 5.1). Mitscherlich behauptet zwar, dass Plessner „sich in der Naturphilosophie unter den Gesichtspunkt der Grenzhypothese und in der Geschichtsphilosophie unter das Prinzip menschlicher Unergründlichkeit stellt“ (Mitscherlich 2006: 59 f.) bleibt aber aus guten Gründen skeptisch gegenüber der normativistischen Interpretation des Unergründlichkeitsprinzips (vgl. ebd.: 251, FN 257). Doch Mitscherlichs Auffassung des Prinzips der Unergründlichkeit als „Methodenprinzip“, mittels dessen Plessner „auch noch die apriorische Bestimmung, daß die menschliche Wirklichkeit unergründlich sei“ (ebd.: 278), verwechselt die strukturelle Unergründlichkeit, auf welcher der Begriff des homo absconditus zielt, mit einer apriorischen Unergründlichkeit, die vom methodischen Gang der Stufen her gar nicht zu gewinnen ist.  Vgl. MmN: 230.

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5 Das Politische in der Ontologie der Person

5.6 Die rollentheoretische Adaptation des privat-öffentlichen Doppelgängertums als des Ermöglichungsgrundes des Politischen Was in Macht und menschliche Natur noch nicht rollentheoretisch formuliert wird, weil es nicht entlang des privat-öffentlichen Doppelgängertums und dessen Verkörpertheit in der Körperleiblichkeit betrachtet wird, wird in Lachen und Weinen in einer Weise gefasst, die im Unterschied zur sphärisch gefassten Differenz zwischen Eigenem und Fremdem jede fehlgehende Psychologisierung verunmöglicht. Eine solche Psychologisierung kann man erst in Angriff nehmen, wenn man Plessners Sphären-Begriff missversteht und ihn psychologisch verengt: Der Mensch sieht ,sich‘ nicht nur in seinem Hier, sondern auch im Dort des Anderen. Die Sphäre der Vertrautheit ist also nicht von ,Natur‘ begrenzt und erstreckt sich (gleichsam außergeschichtlich) bis zu einer gewissen Grenze, sondern sie ist offen und erschließt ihm dadurch die Unheimlichkeit des Anderen in der unbegreiflichen Verschränkung des Eigenen mit dem Anderen.¹⁴⁶

Weil Eigenes und Fremdes selbst Elemente der Sphäre der Vertrautheit bilden, kann der Mensch im Eigenen im Fremden sein, sowohl hier als auch dort und im Hier dort oder im Dort hier sein,¹⁴⁷ weil Hier und Dort weder im handgreiflichen („im“ Körper) noch im metaphorischen Sinne („im“ Bewusstsein) geographisch lokalisierbar sind, weshalb das „Dort des Anderen“ nicht mit dem Anderen identisch ist, dessen Dort wiederum ein sich selbst ins Dort des Anderen hin entzogenes Hier sein kann. Auch Krüger weist in seiner an Plessner anschließenden Rollentheorie explizit darauf hin, dass Eigenes und Fremdes nicht im Sinne des eigenen und fremden Bewusstseins aufgefasst werden dürfen, ersetzt dabei allerdings den Rekurs auf den Sphärenbegriff durch eine rollentheoretische Erdung des Eigenen und Fremden in körperlichen und leiblichen Bewegungsrichtungen: Man verwechsle diesen Zugang zum Eigenen und Anderen von einem selbst aus dem Schauspiel der Rolle her nicht mit reinen Bewußtseinszuständen, die entweder unmittelbar da seien oder auf sich reflektieren könnten. Es handelt sich um leibliche und körperliche Bewegungsrichtungen, die sensomotorisch in die Welt hinein und aus ihr zurück […] ausgeführt werden müssen und zu deren Verschränkung […] Spielraum und Spielzeit auszubilden vonnöten ist, damit die Selbstbezüge entstehen und sich ausgleichen können.¹⁴⁸

 Ebd.: 193.  Vgl. ebd.  Krüger 1999: 138.

5.6 Die rollentheoretische Adaptation des privat-öffentlichen Doppelgängertums

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In die rollentheoretisch grundlegende Differenz zwischen Leib und Körper als Aspektrichtungen ragen die Sphären des Eigenem und Fremdem hinein. Weil dieses Hineinragen kein Hineinragen in etwas ist, von dem diese Sphären genetisch oder ontologisch unabhängig wären, lassen sich die Sphäre der Rollentheorie und der Theorie des Politischen eben nicht trennen, sondern sind selbst ineinander verschränkt. Dies lässt sich an der rollentheoretischen Aufnahme des oben angesprochenen Vorrangs des Körpers veranschaulichen: In der Ausgesetztheit des Körpers ist dieser zunächst ein Fremdes,von uns Anzueignendes, und auch als Angeeignetes nie ein vollständig – mit sich selbst bruchlos identisches – Eigenes, da auch kein noch so privilegierter, durch Empfindungen und Gefühle gegebener Zugang zum Leib diesen „entkörpern“, d. h. aus seiner Ausgesetztheit in eine Innerlichkeit hinein- oder zurückholen kann. Den ontogenetischen Anfang bildet nicht das Eigene, sondern die Aneignung des Eigenen in der Ausgesetztheit, die das Eigene ent-eignet, bevor es überhaupt ein Eigenes geworden ist und werden konnte. Die Sphäre von Eigenem ist jedoch mit dem noch nicht angeeigneten Eigenen bereits gegeben, doch semantisch konfiguriert sich die Sphäre erst im Prozess der Aneignung; sie ist auch als Sphäre nicht fertig, sondern wird – paradox gesprochen – innerhalb ihrer selbst konstituiert, wodurch sich ihre Grenzen verschieben und ihre Inhalte verändern. Die sphärenkonstitutive Aneignung dieses Verhältnisses zwischen Eigenem und Fremdem vollzieht sich im Rollenspiel, in dem sie nicht aufgeht. Es lässt sich daher von einer reziproken Codierung der Sphären des Eigenen und des Fremden einerseits und des privat-öffentlichen Doppelgängertums im Rollenspiel andererseits sprechen. Die uns vertraute Situation, in welcher wir uns als Personen jedoch befinden, hat zum Ansatzpunkt das Eigene, das wir mit einer Selbstverständlichkeit „bewohnen“, die uns im Alltag dafür blind macht, dass das Eigene ein Angeeignetes ist, obwohl wir uns sehr wohl dessen bewusst sind, dass es weiterhin und permanent aufgrund der Inkorporiertheit unserer Existenz ein dem der sozialen bzw. mitweltlichen Sphäre Ausgesetztes ist. Dieses Ausgesetztsein bedeutet aber nicht, z. B. im Fall des personal noch nicht bemächtigten Körperleibs, dass der Leib in seiner öffentlichen Ausgesetztheit bloßer Körper wäre, sondern dass der Leib, der auch Körper ist, auch als Leib in der privat-öffentlichen Doppelaspektivität erscheint. Eindeutige und überschneidungsfreie Zuordnungen zwischen den Sphären und den Aspektrichtungen sind hier nicht möglich. Lebensweltlich ist uns demzufolge das privat-öffentliche Doppelgängertum in mehrfacher, man könnte auch sagen: hybrider Weise gegeben: in der Verkörperung, die an den Anderen beobachtbar ist, und in der eigenen Verkörperung, die gleichwohl in der Übernahme fremder Perspektiven objektivierbar und insofern beobachtbar ist, sowie in der je eigenen und unvertretbaren Leibhaftigkeit der körperlichen Situation und in der Reflexion dieser sich aneinander

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5 Das Politische in der Ontologie der Person

modellierenden und brechenden Verhältnisse. Wie diese Verhältnisse sich gegenseitig beeinflussen und für die Selbstverhältnisse von Personen konstitutiv sind, die aufgrund des privat-öffentlichen Doppelgängertums nicht monadisch in sich selbst verharren können, Selbstverhältnisse also nur durch die Einarbeitung von Fremdem im Perspektivenwechsel sein können, hat Krüger am Beispiel der spielerischen (Schein‐)Identifikation mit Rollen gezeigt, in welcher das Eigene sich durch die distanziert bleibende Anverwandlung des Fremden von diesem her modelliert, ohne sich als Eigenes zu verlieren: Indem man aber umgekehrt bei sich gegen die Verkörperung der Rolle bleiben will, nicht in, sondern nur mit dem Träger der Erwartungen anderer spielt, instrumentiert man aus der Distanz heraus zu sich selbst als Rollenträger. Da man sich nur zum Scheine mit ihm identifiziert, läuft man auch im Rückbezug von ihm her wie ein Fremder auf sich zurück, in dem einen das Andere von einem selbst begegnet.¹⁴⁹ [sic!]

Krüger adaptiert hier rollentheoretisch, was Plessner – Krüger verweist selbst wenige Zeilen weiter unten selbst darauf – in Macht und menschliche Natur ausgeführt hat. Durch den systematischen Ansatz am privat-öffentlichen Doppelgängertum, der elementaren Rollenhaftigkeit der menschlichen Existenz und der Fundierung beider im Spiel von Leibsein und Körperhaben vertieft Krüger allerdings Plessners frühere Ausführungen umfassend und führt die verschiedenen Linien, die sich bei Plessner verstreut finden, zusammen. Dabei tritt der bei Plessner durchweg präsente Begriff der Sphäre hinter dem Begriff des Mediums und der medialen Rolle sowohl der Körperleiblichkeit als auch der Sprache zurück, die – wiederum paradox formuliert – als mediale Materialisierung der exzentrischen Positionalität fungiert und in dieser Funktion im Folgenden als solche fokussiert werden soll.

5.7 Die mediale Potenzierung von Potenzialität: Sprache, Mitwelt und Geist Was das Verhältnis zwischen den Aspektrichtungen des Leibes, der wir existenziell sind, und denen des Körpers, der uns, indem wir ihn als Leib sind, zugleich in seiner Körperlichkeit entzogen bleibt, potenziert, ist die reflexive Gegebenheit dieses Verhältnisses, aufgrund welcher wir zu diesem Verhältnis in ein Verhältnis treten können. Um diese reflexive Gegebenheit der Körperleiblichkeit für die in ihr und durch sie hindurch ihr Leben führende Person strukturell einzuholen, ist es im

 Ebd.: 138.

5.7 Die mediale Potenzierung von Potenzialität: Sprache, Mitwelt und Geist

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Folgenden nötig, die mediale Selbstgegebenheit der Person um Sprache und Mitwelt im Anschluss an Krüger als Personalisierungsmedien zu erweitern. Dieser Exkurs ist auch unabdingbar, um die humanspezifische Transformation der naturphilosophischen Potenzialität adäquat zu fassen: Es bietet sich an, an eine bereits zitierte und hier noch einmal angeführte Passage anzuschließen: „Die Individualisierung ist keine Frage bloßer Willkür oder subjektiver Gespreiztheit. […] Individualisierung setzt vielmehr in allen Kulturen leibseitig an den sensomotorischen Rückbezügen der Rolle auf den eigenen Körperleib, etwa an eine Sucht oder Leidenschaft, an und hat mindestens privaten Spielraum.¹⁵⁰

Die Verschränkung von Leib(‐sein) und Körper(‐haben) wird nicht von einer Person vollzogen, die in ihrer Körperleiblichkeit aufgeht, sondern von einer Person, die zu ihrer Körperleiblichkeit in ein Verhältnis tritt, das über das „leibseitige“ Ansetzen hinausreicht. Dieses Verhältnis sieht Plessner durch die exzentrische Positionalität ermöglicht, es soll aber mit Krüger im folgenden Exkurs von der Sprache als einem möglichen gegenüber der Körperleiblichkeit Dritten¹⁵¹ her in den Blick genommen werden, um allein dem möglichen Anschein einer Reduktion der Person auf ihre körperleibliche Verfasstheit entgegenzuwirken. Damit wird Plessners Philosophische Anthropologie nicht in Richtung Sprachphilosophie verlassen, sondern einer bestimmten Form der medialen „Materialisierung“ der exzentrischen Positionalität nachgegangen. Die Person bedarf, um sich als Person und um die Körperleiblichkeit als Personalisierungsmedium zu vergegenständlichen und auf dieser Grundlage zu gestalten, der Sprache, welche Plessner als die zweite makroskopische Äußerungsweise des Menschen bezeichnet: „Makroskopisch stellt sich die Äußerung des Menschen in zwei Bereichen dar, in der Sprache und in der Gebärde.“¹⁵² Plessners Ausführungen zur Sprache bleiben jedoch meist auf den vertikalen Vergleich mit dem Tier und die Darstellung der Sprache als Monopol des Men-

 Ebd.: 192 f.  Hier darf keineswegs unterschlagen werden, dass es je nach Konstellation verschiedene Dritte geben kann. Als gegenüber Körper und Leib Drittes exponiert Krüger im direkten Anschluss an Plessner, der vom Menschen spricht und dabei die menschliche Person meint (vgl. SOM: 73 f.), die Personalität. (Vgl. Krüger 2010: 61 f.) Umgekehrt bilde gegenüber der „Wiederholung des dualistischen Ausschlusses von Anderem (Körperlichem) aus dem Selbst (dem reflektierenden Bewusstsein oder der reflektierenden Sprache“ (Krüger 2001: 77) die lebendige Natur das Dritte, das einen Vergleich zwischen hominitas und humanitas erst ermögliche statt ihn von der Privilegierung (das menschlichen Privilegs) der Sprache, d. h. von der humanitas her, vorzuentscheiden. Vgl. ebd.: 76 f.  LuW: 255.

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5 Das Politische in der Ontologie der Person

schen beschränkt,¹⁵³ die notwendige Vertiefung der grundsätzlichen, wenn auch knapp gehaltenen Überlegungen Plessners zum Verhältnis zwischen der Position des Sprechers und der Verwendung der Personalpronomina¹⁵⁴ hat Krüger vollzogen. Um eine Vertiefung handelt es sich bei Krügers Ausführungen, weil die Sprache systematisch nicht nur an die exzentrische Positionalität, sondern auch an die Struktur der Körperleiblichkeit zurückgebunden wird: Anscheinend verlangt gerade der Zusammenhang zwischen leiblichem Ausdruck und körperlicher Handlung, inwiefern es nämlich um Verschränkungen von Leiblichem und Körperlichem in Handlungsausdrücken und Ausdruckshandlungen geht, Sprache. Wir nehmen sie als das Dritte implizit im Selbstgespräch und im Streitfälle explizit in der Rede und Widerrede in Anspruch. Dieses Dritte erlaubt es uns, dasjenige, was in der äußeren Wahrnehmung gerade aktual realisiert wird, als eine Variante perspektivisch anderer Möglichkeiten zu nehmen, die das sprachliche Medium virtualisiert enthält. Insofern erscheint die dritte, eben exzentrische Position, von der her sich der Unterschied und Zusammenhang zwischen Ausdrücken und Handlungen fassen lässt, als das Medium der Sprache.¹⁵⁵

Krüger zeigt auf, dass die Sprache kein Drittes im bloß nebengeordneten Sinne ist, sondern dass sie ein Medium bildet, das die Objektivierung, Virtualisierung und Distanzierung des Verhaltensmediums der Körperleiblichkeit erlaubt. Dies begründet keine Überlegenheit der Sprache, welche eine ausschließliche Fixierung auf dieselbe erlaubte,¹⁵⁶ sondern die Fähigkeit der Sprache, für die Verhaltensbildung und Lebensführung relevante Sphären miteinander zu verschränken, wie Krüger dies am Beispiel der sprachlich ermöglichten Perspektivenübernahme in ihrer Rückbindung an den Körperleib zeit: Man kann die Doppeldeutigkeit des Ich-Pronomen [das leiblich unvertretbare und das körperlich vertretbare Ich zu bezeichnen, S. E.] im Austausch mit den Perspektiven anderer, die in der zweiten oder dritten Person Singular oder Plural auftreten, erlernen und nach allen der Sprache zu Gebote stehenden Reflexionsbeziehungen differenzieren und elaborieren. Soll aber diese Reziprozität der Perspektiven nicht syntaktisch oder formalsemantisch von den Personen abgelöst werden, die miteinander kommunizieren, soll sie also pragmatisch im

 Vgl. Plessner 2003 h: 62 f. und Plessner 2003a: 272 und 274 f., Plessner 2003j: 285, Plessner 2003k: 314 – 318, Plessner 2003 l, CH: 173 – 179, wo die Bedeutung der Sprache für die Ontogenese durch die Thematisierung ihrer Rolle in Vergegenständlichungen angesprochen, aber im Hinblick auf den komplexen Gesamtprozess der Personalisierung systematisch entfaltet wird. In Immer noch Philosophische Anthropologie? greift Plessner den linguistic turn als eine Ausblendung des Organismus überhaupt in der blickfixierten Hinwendung zur Sprache an, beschränkt sich aber auf diese kritische Andeutung, vgl. Plessner 2003d: 245 f.  Vgl. Plessner 2003 m: 338 f.  Krüger 2001: 119. – Vgl. auch Krüger 1999: 102.  Vgl. dazu Krüger 2001: 78 – 80.

5.7 Die mediale Potenzierung von Potenzialität: Sprache, Mitwelt und Geist

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Verhaltens- respektive Handlungskontext Sinn machen, dann muß ihr Rückbezug auf den sensomotorischen Zugang jeder Person zu ihrem Körperleib gewährleistet werden, was üblicherweise durch Mimik und Gestik erfolgt.¹⁵⁷

Diese doppelte Bewegung der Virtualisierung von Perspektiven und Verhaltensmöglichkeiten einerseits, in welcher der unmittelbare sensomotorische Funktionskreis verlassen wird, und der Rückbeziehung auf den sensomotorischen Zugang der Person zum Körperleib andererseits fasst Krüger auf als das für alle Personalisierung konstitutive Wechselspiel der „entgegengesetzte[n] Funktionsrichtungen“¹⁵⁸ der Exzentrierung (Verkörperung) und der Rezentrierung (Verleiblichung),¹⁵⁹ die sich „von der Funktion her gegenseitig als Kontrast brauchen, um überhaupt erscheinen zu können“¹⁶⁰ und in der Orientierung an Verhaltenspotenzialen der Person die Grundlage einer Sprachpragmatik im eigentlichen Sinne des Wortes bilden. Diese Sprachpragmatik hat daher selbst das Rollenspiel in seiner anthropologischen Bedeutung, d. h. in seiner Gebundenheit an die elementare Rollenhaftigkeit der menschlichen Existenz, zur Voraussetzung: „Als das anthropologische Minimum, das medial die Mitwelt erscheinen läßt – das die Mitwelt tragen und in einer Differenz zwischen Außen- und Innenwelt bildbar werden läßt – hat Plessner das Rollenspiel begriffen.“¹⁶¹ Während Plessners Ausführungen zur Mitwelt in den Stufen abstrakt bleiben und die exzentrische Positionalität als Ermöglichungsbedingung daher stellenweise überstrapazieren, formuliert Krüger die Frage nach der Mitwelt aus als „eine Frage nach den Medien, die ,zwischen mir und mir, mir und ihm‘ (dem anderen) die Verschränkung der Zentrierungsrichtungen im Verhalten ermöglichen“.¹⁶² Dabei hebt Krüger ausdrücklich hervor, dass nicht alle Medien als Mitwelt fungieren können: „Nicht alles kann Medium sein, aber auch nicht alle möglichen Medien können umgekehrt ausgerechnet als Mitwelt fungieren, deren, wie man sagen könnte, Stiftungsfunktion von Welthaltigkeit (nicht nur Umweltartigkeit) übernehmen.“¹⁶³ Das im Rahmen der Verschränkung von Perspektiven entscheidende Medium bildet das „Medium der Sprache“,¹⁶⁴ deren Potenzial innerhalb der Verhaltensbildung Plessner selbst nicht ausdrücklich an die von Krüger ausformulierte Unterscheidung der Verhaltensrichtungen von Exzentrierung und Re       

Krüger 1999: 101. Ebd.: 102. Vgl. ebd.: 149. Ebd. Ebd.: 125. Ebd.: 122. Ebd. Ebd.: 102.

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zentrierung rückgebunden hat,¹⁶⁵ sondern, wie die angesprochene Nebenordnung zweier makroskopischer Äußerungsweisen indiziert, vornehmlich in ihrer die Verhaltenspotenziale gleichwohl prinzipiell ermöglichenden Vergegenständlichungsleistung betrachtet hat.¹⁶⁶ Krüger bringt diese Stränge in eine Perspektive: Die Verschränkung zwischen sensomotorischen Rückbezüglichkeiten auf den eigenen Körperleib und den sprachlichen Reflexionsbeziehungen zwischen Personen kommt durch ein aktuales Über-Setzen von beiden Seiten her zustande. Einerseits spielen wir nämlich in und mit dem eigenen Körperleib zur Schau und andererseits tragen wir etwas in und mit der Sprache hinüber, benutzen wir also eine Metapher. ¹⁶⁷ [Hervorhebung im Original]

In diesem „Über-setzen“ werden nicht nur „sensomotorische Rückbezüglichkeiten“ mit „sprachlichen Reflexionsbeziehungen“ verschränkt, sondern auch über diese Verschränkung die Sinnrichtungen des Öffentlichen und des Privaten codiert. Mit anderen Worten: Das privat-öffentliche Doppelgängertum, das kein Resultat der Sprache ist, wird sprachlich konfiguriert. Durch die sprachliche Vermittlung der Aspektrichtungen mit den Sinnrichtungen und beider mit den sprachlichen Reflexionsbeziehungen wird der Übergang von den Ermöglichungsbedingungen des Politischen zu einer manifesten politischen Semantik ermöglicht. Das politische Vokabular der Grenzen der Gemeinschaft wahrt in Begriffen wie denen des „Takts“¹⁶⁸ oder des „Zeremoniells“¹⁶⁹ noch die Verbin-

 Eine bloße Andeutung findet sich in Die Frage nach der conditio humana: „Imitation und Vergegenständlichung, von denen Spracherwerb und Sprachgebrauch leben, haben die gleiche menschliche Wurzel: Sinn für Reziprozität der Perspektiven im Verhältnis von meinem leibhaften Dasein zum Dasein des anderen.“ (CH: 179)  Vgl. Plessner 2003n: 437, Plessner 2003o: 315 f., Plessner 2003 m: 345, Plessner 2003p: 364, CH: 191 f.  Krüger 1999: 125.  „Takt ist das Vermögen der Wahrnehmung unwägbarer Verschiedenheiten, die Fähigkeit, jene unübersetzbare Sprache der Erscheinungen zu begreifen, welche die Situationen, die Personen ohne Worte in ihrer Konstellation, in ihrem Benehmen, in ihrer Physiognomie nach unergründlichen Symbolen des Lebens zu reden. Takt ist die Bereitschaft, auf diese feinsten Vibrationen der Umwelt anzusprechen, die willige Geöffnetheit, andere zu sehen und sich selber dabei aus dem Blickfeld auszuschalten, andere nach ihrem Maßstab und nicht dem eigenen zu messen.“ (GdG: 107) – Takt ist insofern das Grundvermögen und die Bereitschaft zur Diplomatie. „Takt“ meint außerdem die Achtsamkeit, Grenzen nicht zu überschreiten und das Bemühen, die Unversehrtheit von Identität durch die Vermeidung übergriffigen Verhaltens zu wahren. In diesem Begriff fasst Plessner außerdem das, was in einem marktgängigen Jargon, der jeden sprachlichen Takt missen lässt, „interkulturelle Kompetenz“ genannt wird.  Während im „Takt“ tendenziell eher der Respekt vor der Privatheit bzw., abstrakter gesprochen, vor der Identität Anderer im Vordergrund steht, zielt Plessner mit dem Zeremoniell auf den Schutz der Privatheit vor deren Auflösung in der Öffentlichkeit. Der Bezug zu sinnstiftenden

5.7 Die mediale Potenzierung von Potenzialität: Sprache, Mitwelt und Geist

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dung zu deren sinnstiftenden Verhaltensformen, die in einem formalistisch-prozeduralen Vokabular zum Verschwinden gebracht werden. Das Band zwischen den Sinnrichtungen, die im privat-öffentlichen Doppelgängertum Gestalt annehmen, und dem Sinn einer elementaren politischen Semantik ist hier noch nicht zerschnitten. So elementar die Bedeutung der Sprache ist, so wichtig ist es, deren Grenzen nicht aus den Augen zu verlieren. Zentral für das Verständnis der Sinnrichtungen (wie der Aspektrichtungen) ist, dass sie nicht „bewohnbar“ sind. Der Mensch holt sich von ihnen her ein, aber er holt sich nicht von einem aus der Prozesshaftigkeit des Lebensvollzugs extrahierbaren und isolierbaren Teil (Öffentliches/Privates) der im privat-öffentlichen Doppelgängertums ein unzerreißbares Ganzes bildenden Sinnrichtungen her ein, weil das Doppelgängertum ausschließlich ganz realisierbar ist in Verkörperungsvollzügen; daher bestimmt Plessner „den Menschen als ein Wesen, das sich nie einholt, weil es sich verkörpern muss“.¹⁷⁰ Die Sprache könnte eine solche Selbst-Einholung nur ermöglichen bzw. eine solche nur mittels der Sprache vollzogen werden, wenn sie die Selbst-Einholung von außen her, als ein allen Verkörperungsleistungen genetisch und strukturell enthobenes Vermögen höherer Dignität,vollziehen könnte. Sie müsste dann ein Vermögen sein, in dem die (prospektive) Bestimmung bzw. Koordination und die (retrospektive) Erschließung von personalen Vollzügen vollständig zusammenfielen. In einem solchen sprachlichen Idealismus wären Verkörperungen nur noch Epiphänomene sprachlicher Leistungen und als solche unverständlich; wo jedoch die „sensomotorischen Rückbezüglichkeiten“ (Krüger) unverständlich werden, wird die Sprache es nicht weniger, auch wenn sie als das allein Verständliche und Verstehen Ermöglichende privilegiert wird.

Verhaltensformen ist auch hier noch deutlich präsent: „Für den Abendländer ergibt sich also neuer Zwang zur Verteidigung des Zeremoniells aus Gründen einer Hygiene der Seele. Seine Bewertung, vielleicht Überbewertung der Persönlichkeit zieht folgerichtig die Ausbildung verstärkten Schutzes der Psyche vor Preisgabe, Verletzung und Erniedrigung in der Öffentlichkeit nach sich.“ (ebd.: 88) Platonischer gefasst ist das Zeremoniell eine Praxis, die „feste Regeln für das Verhalten des einzelnen bedeutet und alle individuellen Unterschiede aus seinen Kreisen verbannt, gewissermaßen eine Umprägung der Persönlichkeit in statischer Richtung vornimmt und das flüchtige Dasein zu bleibenden Symbolen verzaubert“. (ebd.) – Der Weg zur einer Theorie kommunikativen Handelns kann von hier aus in Angriff genommen werden, ohne mit einer Sprachtheorie anzusetzen. Stattdessen könnte an den sinnstiftenden Verhaltensformen angesetzt werden, ohne diese kommunikationspragmatisch so zu verdünnen, dass Übergänge in beide Richtungen von der Verkörperung im Verhalten zur Sprache und umgekehrt scheinbar nur noch gewaltsam oder durch Themenwechsel herstellbar sind.  CH: 204.

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5 Das Politische in der Ontologie der Person

Zu erweitern ist das Verhältnis zwischen den Medien Sprache und Mitwelt um den Geist, der allerdings nicht als Medium fungiert, aber auch nicht in klassischer Weise als ein der lebendigen Natur enthobenes Vermögen gefasst wird. Dies ist in Abhebung von Edith Stein zu sagen, bei welcher die menschliche Person vermöge des Geistes ontologisch zwischen die Natur und Gott gespannt¹⁷¹ und mit der Person Gottes gemäß der analogia-entis-Lehre per hiatum ihrem Was-Sein nach verbunden ist.¹⁷² Zwischen die Natur und Gott gespannt, ist der Mensch weder bloß Lebewesen noch selber göttlich, aber er ist das, was er ist, vermöge der von Gott gegebenen Geistigkeit seiner Seele, die ihn zwar nicht des Reichs des Lebendigen enthebt, aber ihm selber als Eigenschaft bzw. substantiale Form zukommt und wesentlich als Aktualität bestimmt wird: „Die ursprüngliche Existenzweise des Geistes ist Aktualität, ist Leben; zum Leben gehört Wirken; darum gehören Aktualität und Aktivität zusammen: Aktualität wirkt sich in Aktivität aus, Aktivität hat Aktualität zur Voraussetzung.“¹⁷³ Was Stein hier im Begriff der Aktualität im Hinblick auf Gott, aber in einer grundsätzlichen und über engere theologische Zusammenhänge hinausreichend zusammenfasst, ist nichts anderes als die Trias von ένέργεια, εργον und έντελέχεια. Die Entelechie, deren Entfaltung selbst wiederum im „ursprünglichen Kern der Person“¹⁷⁴ vorgezeichnet sei, findet

 Dieses Gespanntsein zwischen Natur und Gott wird bei Scheler und Stein nicht bruchlos gedacht. Beide erweisen sich darin als Kinder der Moderne. Bei Stein ist alles geschöpfliche Sein gebrochen: „Der vollkommenen Einheit des göttlichen Seins steht die Gebrochenheit und Gespaltenheit des geschöpflichen Seins gegenüber.“ (EES: 45) Auch Scheler denkt die geschöpfliche Gebrochenheit in der Triebhaftigkeit als der Machtgrenze des Geistes: „Geist und Wollen des Menschen kann – ich sagte es – nie mehr bedeuten als ,Leitung‘ und ,Lenkung‘. Und das bedeutet immer nur, daß der Geist als solcher den Triebmächten Ideen vorhält, und das Wollen den Triebimpulsen – die schon vorhanden sein müssen – solche Vorstellungen zuwendet oder entzieht, die die Verwirklichung dieser Ideen konkretisieren können. Ursprüngliche determinierende Lenkdetermination hat also das zentrale geistige Wollen nicht auf die Triebe selbst, sondern auf die Abwandlung der Vorstellungen.“ (Scheler 1995: 54) Ohne eine Diskussion über den Beginn der Moderne anstoßen zu wollen, möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass Scheler hierin Schopenhauer folgt, der den Intellekt als dem Willen höriges Organ und Medium der Motive bestimmt hat, ohne dass dem Intellekt eine eigene willensbestimmende Kraft zukäme. Schopenhauer zufolge gilt, dass des Menschen „Intellekt seiner ursprünglichen Bestimmung, als Medium der Motive dem Willen dienstbar zu seyn, noch ganz treu geblieben ist und deshalb mit der Welt und Natur, als integrierender Theil derselben, eng verbunden, folglich weit entfernt davon ist, sich vom Ganzen der Dinge gleichsam ablösend, denselben gegenüber zu treten“. (Schopenhauer 1988b: 185)  Vgl. Kap 3.7.3.  PuA: 77.  Ebd.: 263.

5.7 Die mediale Potenzierung von Potenzialität: Sprache, Mitwelt und Geist

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daher ihre Erfüllung in der Vollendung geistiger Aktualität, welche die Existenzweise des Geistes ausmacht. Von dieser klassischen Sichtweise unterscheidet Plessners Begriff des Geistes sich grundlegend. Bei Plessner gibt es keinen Geist als intrinsische Eigenschaft der Person, vermöge deren diese zwischen die Natur und Gott gespannt ist, sondern die Transzendenz des Geistes bildet sich innerhalb der Immanenz in der Natur aus und bleibt an die Natur gebunden. Auch zur Bestimmung des Geistes verwendet Plessner den Begriff der Sphäre: Geist sei „die mit der eigentümlichen Positionsform geschaffene und bestehende Sphäre und macht daher keine Realität aus, ist jedoch realisiert in der Mitwelt, wenn auch nur eine Person existiert“.¹⁷⁵ Der Geist erfährt damit eine doppelte Bestimmung: Er bezeichnet erstens als mit der menschlichen Positionsform geschaffene „Sphäre“ eine innerhalb der Organismus-Umwelt-Relation eröffnete Dimension derselben, welche diese in besonderer Weise zu einer „Relation“ macht, nämlich zu einer für ein natürliches Wesen selbst gegebenen Relation. Als mit der menschlichen Positionsform geschaffene Sphäre ist er nicht nur ein Überbau-Phänomen, sondern „die Sphäre, kraft deren wir als Personen leben, in der wir stehen, gerade weil unsere Positionsform sie erhält.“¹⁷⁶ Er ist zweitens als Moment der lebendigen Natur sowohl medial durch die Körperleiblichkeit (vertikal) und die Sprache (horizontal)¹⁷⁷ vermittelt, ohne mit einem von beiden identisch zu sein. Krüger fasst Plessners Geist nicht als Sphäre, sondern als „Spezifikation der Mitwelt im Rahmen der exzentrischen Positionalität“¹⁷⁸ auf.¹⁷⁹ Diese Sichtweise ist mit der Plessners nicht inkompatibel, vielmehr stellt sie eine Konkretisierung der Bestimmung der Stufen vom späteren Plessner her dar. Will man den Sphärenbegriff beibehalten und mit Krügers Definition verbinden, wäre Geist aufzufassen als die humanspezifische Sphäre, in der die Körperleiblichkeit (vertikale Betrachtung) und die Mitwelt bzw. Sprache (hori-

 SOM: 303.  Ebd.: 304. – Für den Geist gilt daher, dass er den Menschen von der tierischen Umwelt entbindet, ohne ihn von der lebendigen Natur im Ganzen zu entbinden, d. h. ohne den Menschen in die Sphäre des Geistes, die ihm allein offensteht, abheben zu lassen.  Diese terminologische Unterscheidung zwischen horizontaler und vertikaler Betrachtung geht wiederum auf Krüger zurück. Vgl. Krüger 2001: 271 f.  Krüger 2009e: 159.  Plessner hat die Trias von Geist, Mitwelt und Sprache in den Stufen nicht systematisch als solche entwickeltt. In den Stufen führt Plessner Geist und Mitwelt eng, die vermittelnde Rolle der Sprache findet jedoch keinen Eingang in Plessners Überlegungen. Dies ist erst bei Krüger der Fall, der Geist, Sprache und Mitwelt in einer Perspektive sehen kann, weil er im Unterschied zu Plessner über einen Medienbegriff verfügt, der es erlaubt, eine Einheit bildende Motive systematisch zu bündeln und als Einheit zu entwickeln.

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5 Das Politische in der Ontologie der Person

zontale Betrachtung)¹⁸⁰ sich als Medien der Personalisierung kreuzen wie die Organisationsform und die Positionalitätsform menschlicher Personen sich in ihnen kreuzen und sich durch ihre Wechselwirkung potenzieren. Der hier gedrängt angedeutete komplexe Zusammenhang zwischen Sprache, Geist, Mitwelt und Körperleiblichkeit, der nicht übergangen werden sollte, kann hier gleichwohl nicht weiterverfolgt werden, ohne die Linie dieser Untersuchung zu verlassen und die Verschränktheit des Ontologischen ins Politische aus dem Blick zu verlieren. Dieser Exkurs war jedoch nötig, um die naturphilosophische Fassung des Potenzialitätsbegriff in seiner medial auf humanspezifische Weise vermittelten Transformation begreifen zu können bzw. ein solches Begreifen vorzubereiten.

5.8 Die ontologisch-politische Potenzialität der Person 5.8.1 Potenzialität als Begrenzung. Liminale Potenzialität Wer versucht, das privat-öffentliche Doppelgängertum, in das er gleichsam existenziell hineingestellt ist, in Ausgleichsleistungen zu meistern, handelt oder verhält sich als Person. Die Person bildet das Woher und Wohin der Ausgleichsleistungen, sie fasst die sie konstituierenden Momente im Rollenspiel – sei es im Spiel von Rollen oder im von Rollen distanzierten Spiel mit und gegen Rollen – zusammen und bildet als ihre Integrationsinstanz „die raumzeitlich funktionale Mitte des eigenen Körperleibs“¹⁸¹ (Krüger), oder sie bildet noch im Kollaps der Verhaltensbildung im ungespielten Lachen und Weinen den Sinnfluchtpunkt eines körperlichen Geschehens, das in seiner Verselbständigung gegenüber dem Woher die dessen sich bemächtigende Antwort auf die Situation bildet. In ihren Ausgleichsleistungen, die Aktualisierungen von Potenzen durch die Person in dem Sinne bilden, dass die Person sich im Ausgleich selbst zur Erfüllung hat und deshalb die „Entelechie als Seinsmodus“ realisiert, bleibt die Person wesentlich Potenz und damit in Verkörperungen und Verleiblichungen der Körperlichkeit ausgeliefert, wenn auch nicht unterworfen; als unterworfene wäre die Person nicht mehr reale Potenz, sondern Potenz der Umwelt wie die Pflanze und das Tier bei Edith Stein und damit keine Person mehr. In der Ausgesetztheit des Körpers und dem Primat des Öffentlichen im privat-öffentlichen Doppelgängertum findet keine Unterwerfung der Person unter den Körper und keine Reduktion der

 Diese Unterscheidung geht wiederum auf Krüger zurück. Vgl. Krüger 2001: 271 f.  Krüger 1999: 96.

5.8 Die ontologisch-politische Potenzialität der Person

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privaten Sphäre auf die je eigenen Gefühle und Gedanken statt, sondern die Wirklichkeit der Person als einer seienden Möglichkeit wird in ihrer Begrenztheit durch die „Beziehung zur seienden Wirklichkeit des vorhandenen greifbaren Körpers“ bestimmt, wie Plessner dies auch in seiner Naturphilosophie als Maxime formuliert hat: „Man kommt nicht darum herum, lebendiges Sein als seiende Möglichkeit und in seiner Beziehung zur seienden Wirklichkeit des vorhandenen greifbaren Körpers näher zu bestimmen.“¹⁸² Reale Potenz ist die Person, weil sie sich selbst in ihren Aktualisierungen Potenz ist und auch da, wo sie in der Potenzialität ihres Kollabierens im ungespielten Lachen und Weinen sich gegeben ist, Potenz bleibt dadurch, dass der verselbständigte Körper in seinem Ausdrucksgehalt noch immer eine ihr entzogene und doch in dieser Entzogenheit aufgrund seines Ausdruckswertes eine ihr eigene, für das privat-öffentliche Doppelgängertum konstitutive Potenz ist. Um zu zeigen, wie Plessner hier die klassische Akt-Potenz-Relation transformiert, ist ein äußerst summarischer Rekurs auf Thomas von Aquin nötig: Die Unterscheidung zwischen Akt und Potenz, wie Thomas von Aquin sie durchführt, nämlich als gegenläufige Stufung von zunehmender Potenzialität bei abnehmender Seinsmächtigkeit, wonach die reine Materie die reine Potenzialität und Gott den actus purus darstelle, ist nicht dialektisch, sondern differentiell und gradualistisch angelegt. Plessner hat demgegenüber eine sowohl ontologische als auch negative Dialektik von Akt und Potenz ausgearbeitet,¹⁸³ welche als indirekte Transformation des klassischen Akt-Potenz-Verhältnisses gelesen werden kann. Dialektisch wird die Auffassung von Akt und Potenz, wenn Leib und Körper für sich als personkonstitutive Akt-Potenzen aufgefasst werden, dadurch, dass sie füreinander und in sich Potenzialitäten und Aktualitäten bilden, die sich zugleich durcheinander konstituieren und aneinander begrenzen, d. h. Aktualität und Potenzialität sind durch das jeweils Andere, das ihr Anderes ist, weil sie innerhalb des sie umfassenden Ganzen der Person auftreten.¹⁸⁴

 SOM: 173.  Vgl. Kapitel 4.14.  Die dialektische Auffassung unterscheidet Plessner von Thomas von Aquin wesentlich darin, dass die Zusammengesetztheit der Substanz aus distinkten Entitäten (Form, Materie) Probleme wie das der kausalen Relation und des kausalen und somit individuativen Primats aufwirft, ohne sie zu beantworten. Die Komplikationen, die sich daraus ergeben, zeigen sich darin, dass Thomas zufolge „das Sein der zusammengesetzten Form nicht nur der Materie, sondern dem Zusammengesetzten selbst zukommt. Wegen der Wesenheit aber spricht man vom Sein eines Dinges. Daher darf die Wesenheit, wodurch man ein Ding Seiendes nennt, nicht nur die Form sein, noch auch nur die Materie, sondern beides, obwohl vom derartigen Sein auf ihre Weise nur die Form Ursache ist.“ (Thomas von Aquin 1988: 11)

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5 Das Politische in der Ontologie der Person

Diese naturphilosophische Dialektik von Aktualität und Potenzialität schreibt sich in das privat-öffentliche Doppelgängertum in der Gestalt des angesprochenen Vorrangs der Potenzialität des Körpers und damit der „öffentlichen Hälfte“ der Person ein,¹⁸⁵ in welcher die Sphären des Eigenen und des Fremden sich unaufhebbar kreuzen. Anders gesagt: Die ontologische Potenzialität der Person ist selbst politisch, insofern der Körperleib die Ansatzzone der Sphäre des Politischen in genau dem Sinne ist, in dem die Raumgrenze die Ansatzzone der Doppelaspektivität ist.¹⁸⁶ Der Körperleib erscheint eigenschaftlich im Doppelaspekt und bringt darin medial das privat-öffentliche Doppelgängertum zur Erscheinung, welches sich daher anschaulich als ein Konstitutionsmoment der Wirklichkeit des Lebendigen zeigt, das wir als Person ansprechen. Zugleich bilden Körper und Leib als „Aspektrichtungen“ (Krüger) Aktualitäten und Potenzialitäten füreinander sowohl im Sinne der Begrenzung als auch des Sich-Vorwegseins-zu und – hiermit wird auf die positive Bestimmung der Potenzialität vorausgegriffen – Aktualitäten und Potenzialitäten für die Person im Ganzen, die sich wiederum zu dem, wodurch sie sich unter anderem (vor allem der Sprache) medial realisiert, verhalten kann und muss. Zur Verdeutlichung: Im ungespielten Lachen und Weinen bricht das Leibsein sich an der Körperlichkeit des Leibes, die nicht mehr beherrschbar ist, d. h. der Akt-Charakter der Person, welchem in einer traditionellen Auffassung der Vorrang zukäme, wird systematisch in die Konzeption der Person als seiender Möglichkeit aufgenommen, die seiende Möglichkeit schon dadurch ist, dass sie nicht vollständig Herr über die für sie konstitutive Potenz des Körpers sein kann, die daher ihre Potenzialität im Ganzen mitkonstituiert; die Person bricht sich in sich an dem, was sie als sie selbst entscheidend mitkonstituiert.¹⁸⁷ Dieses sie Mitkonstituierende ist ihr Körper, der in der Beobachtung als ihr „Außen“ angesprochen werden kann, der aber vor allem seiner Realität nach ihr Eigenes und Fremdes zugleich ist,

 Nicht umsonst resultieren die Versuche, den Vorrang des Privaten vor dem Öffentlichen lebenspraktisch zu instituieren, in der sozialen Abschottung, d. h. in einer künstlichen „Ent-öffentlichung“ von unaufhebbar Öffentlichem. Die Abschottung stellt den Versuch dar, die Körperleiblichkeit zum schlechthin Eigenen zu machen und die unaufhebbare gegenseitige Durchkreuzung der Sphären von Öffentlichem und Privatem in der Körperleiblichkeit in genau diesem Medium ihrer Kreuzung zur Aufhebung zu bringen.  Vgl. SOM: 102.  Das intime Verhältnis der Person zu ihrem Körper jenseits spezifischer Intimitäten spricht Plessner in Lachen und Weinen diskret an: „Hier dagegen, bei Lachen und Weinen,verliert zwar die menschliche Person ihre Beherrschung, aber sie bleibt Person, indem der Körper gewissermaßen für sie die Antwort übernimmt. Damit verrät sich eine Möglichkeit des Zusammenwirkens zwischen der Person und ihrem Körper, die für gewöhnlich geheim bleibt, weil sie nicht beansprucht wird.“ (LuW: 237)

5.8 Die ontologisch-politische Potenzialität der Person

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in welcher der öffentliche Aspekt ihres Doppelgängertums sich für sie, gegen sie und für Andere „materialisiert“. Diese Potenzialität kann die Person nicht beherrschen, sie braucht es aber auch nicht, solange sie ihre kreatürliche Hinfälligkeit nicht in Wahnphantasmen vergessen machen will oder – und hier wird ihre personale kreatürliche Hinfälligkeit selbst politisch –die Vulnerabilität, die mit dem öffentlichen Aspekt des Doppelgängertums gegeben ist, in einer dieses Aspekts sich zu bemächtigen versuchenden totalen Privatheit auflösen will. Aber Lachen und Weinen bilden keinen Endpunkt, keinen finalen Zusammenbruch, sondern ein Moment des personalen Lebens und insofern Aktualitäten, die sich brechen an der Potenzialität, welche die Person als seiende Möglichkeit ist. Daher ist die Aktualität der situativen Verhaltensgrenze kein factum brutum, sondern selbst Element einer personalen Wirklichkeit, welches im Ganzen der personalen Lebensführung in die personale Realität Eingang finden kann, ohne die Personalität per se zu unterminieren. Die Person durchlebt ihre Verhaltensgrenzen und lebt durch sie hindurch. Personen brechen sich in der Potenzialität, die ihr Körper als ontologisches Negativitätsprinzip gegenüber der Selbstmächtigkeit der Person in Analogie zur Potenz im klassisch-ontologischen Sinn darstellt, aber sie brechen sich zugleich an einer Potenzialität, die aufgrund des Antwortcharakters des ungespielten Lachens und Weinens ihre eigene, gleichwohl nicht domestizierbare, ist. Es lässt sich daher sagen: Die Person bewältigt die sie im Verhaltenskollaps überwältigende Potenzialität,¹⁸⁸ die sich im Körper verkörpert und welchem in diesem Kollaps eine situative Absolutheit als Konstitutionsmoment der Person gegenüber der Autonomie der Person gewinnt, als reale Potenz bzw. seiende Möglichkeit, indem sie die sie begrenzende Potenzialität in Ausgleichsleistungen organisiert und damit – in der Regel – in ihre individuative Entwicklung zu integrieren vermag. Die „merkwürdige Einheit“,¹⁸⁹ von der Plessner spricht, stellt sich im Lichte dieser Betrachtung als eine Einheit im Bruch und durch den Bruch hindurch dar, merkwürdig, weil die Gebrochenheit der Einheitsmächtigkeit als ihr konstitutives Apriori systematisch modulierend. Hier lassen sich nun Fäden aus Lachen und Weinen, wo Plessner den Begriff der „merkwürdigen Einheit“ prägt, und Macht und menschliche Natur im Begriff der Selbstmächtigkeit zusammenführen, in dem ein existenzielles und ein

 Das Überwältigtsein spricht Plessner dem Lachen und Weinen gemeinsam zu: „Stärker als jedes andere mimische Ausdrucksbild ergreifen uns Lachen und Weinen der Mitmenschen und machen uns zu Partnern ihrer Erregung, ohne daß wir wissen warum. Dieser mitreißenden Kraft entspricht auf der Seite des Lachenden und Weinenden jene Hingerissenheit, jenes Überwältigtsein vom eigenen Ausdruck, das seiner distanzierten Verwendung im Sinne der Gebärdensprache ebenso entgegen ist wie seiner beliebigen Erzeugung.“ (ebd.: 262)  Ebd.: 240.

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5 Das Politische in der Ontologie der Person

strukturelles Verständnis des Politischen konvergieren. Die „Konzeption des Menschen als Macht nach dem Prinzip der offenen Immanenz oder der Unergründlichkeit“¹⁹⁰ verbindlich nehmen heißt für Plessner, „den Durchbruch zum eigenen Mächtigkeitsgrunde (das Bewußtsein der Menschhaftigkeit)“¹⁹¹ nicht für eine bestimmte Ausprägung des Menschseins zu reservieren, wodurch die jeweilige Bestimmtheit in der die Möglichkeiten der humanitas unterminierenden Festschreibung zur bloßen Partikularität herabsänke, sondern das Eigene in der „Durchgegebenheit in das Andere seiner Selbst im Kern des Selbst“¹⁹² von seiner Selbstbezogenheit zu befreien. Der Durchbruch, der dadurch ermöglicht werde, sei hingegen ein „Durchbruch in eine um ihre Selbstmächtigkeit wissende Haltung des auf die Bodenlosigkeit des Wirklichen gewagten Wissens“.¹⁹³ In der strukturellen Lesart des Politischen entspricht der „Bodenlosigkeit des Wirklichen“ die Unmöglichkeit, das privat-öffentliche Doppelgängertum zu einem gesicherten und permanenten Ausgleich zu bringen. Der „Durchgegebenheit in das Andere seiner Selbst“ entspricht die strukturelle Eigenschaft des privat-öffentlichen Doppelgängertums in dem doppelten Sinne, dass (1) die Aspektrichtungen des Privaten und des Öffentlichen füreinander und dadurch für die Person unaufhebbare, Krisen auslösen könnende Grenzen bilden und dass (2) der Körper als die Ansatzzone des Öffentlichen im ungespielten Lachen und Weinen die Verschränktheit der Ordnungen des Öffentlichen und Privaten in der Personalität jenseits von Verschränkungsleistungen zum Ausdruck bringt. Wo Plessner in Macht und menschliche Natur den Rückweg zu den Stufen nimmt, indem er konzeptionell die Selbstmächtigkeit durch die Natur begrenzt,¹⁹⁴ wird die Natur in Lachen und Weinen, wiederum ein zentrales Motiv der Stufen aufgreifend, an die Ausdrücklichkeit als Lebensmodus des Menschen zurückgebunden im Antwortcharakter des „entgleitende[n] Hineingeraten[s] und Verfallen[s] in einen körperlichen Vorgang“: Durch das entgleitende Hineingeraten und Verfallen in einen körperlichen Vorgang, der zwanghaft abläuft und für sich selbst undurchsichtig ist, durch die Zerstörung der inneren Balance wird das Verhältnis des Menschen zum Körper in eins preisgegeben und wiederhergestellt. Die effektive Unmöglichkeit, einen entsprechenden Ausdruck und eine passende

 MmN: 190.  Ebd.: 189.  Ebd.: 213.  Ebd.: 214.  „Auf das Andere seiner Macht und seines Selbst durchscheinend ist der Mensch in eine Ebene mit physischen Dingen durchgegeben und erscheint von ihm aus dem Reich eines besonderen Seins belebter Körper, der Pflanzen und Tiere, eingegliedert.“ (ebd.: 227)

5.8 Die ontologisch-politische Potenzialität der Person

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Antwort zu finden, ist zugleich der einzig entsprechende Ausdruck, die einzig passende Antwort.¹⁹⁵

Die Ausgesetztheit des Körpers bringt, ohne darin mit der Spezifität der sprachlichen Artikulation auf etwas zu antworten, den Kollaps sowohl des Ausgleichs als auch der Verschränkung von Eigenem und Fremdem zum Ausdruck und antwortet auf diese unscharfe, aber verständliche Weise ausdrücklich. Ausdruckswert und Antwortcharakter können im körperlichen Geschehen, das den Kontrollverlust der Person jenseits von Verkörperungsvollzügen verkörpert, konvergieren; der Ausdruck kann eine Antwort darstellen und als solche aufgefasst werden, aber die Möglichkeit, dass der Ausdruck einen Überschuss gegenüber der Antwort enthält, begründet die Peinlichkeit und Intimität des ungespielten Lachens und Weinens.

5.8.2 Potenzialität als ausgleichender Umgang mit Begrenztheit Plessners systematische Orientierung an der Begrenztheit der Einheitsmächtigkeit der Person in ihrer Verfasstheit als Person enthält zugleich die Orientierung am Potenzialitätscharakter der Person, die als das Aktzentrum, als welches sie als Agens von Personalisierungsvollzügen gedacht werden muss, nur im Lichte der ihre Selbstmächtigkeit brechenden und sie mitkonstituierenden Potenzialität gedacht werden kann. Die in Verhaltenskrisen die Person überwältigende Körperlichkeit bildet zwar eine die Selbstmächtigkeit der Person innerhalb ihrer Konstitution begrenzende Potenz, doch sie bildet aufgrund der dadurch nicht eliminierten, grundsätzlichen „Instrumentalität des Körpers“ (Krüger) zugleich eine Potenzialität für die Person, z. B. im Körperhaben des gespielten Lachens und Weinens, in welchen die körperlichen Eruptionen der Verhaltenskrisen verleiblichend-spielerisch angeeignet werden, und vor allem in sprachlich vermittelten Personalisierungs- und Individualisierungsleistungen. Dadurch erschöpft die Potenzialität sich nicht in bloßer Liminalität, ist nicht bloße Begrenzung im Sinne einer nicht selbst wiederum positivierbaren Negativität, sondern, wie Plessner, wenngleich in naturontologischer Perspektive, sagt, „Kannqualität als Seinsqualität“.¹⁹⁶ Naturphilosophisch bestimmt Plessner das lebendige Sein „in purer Kannqualität“ als „Nochnichtsein“: „Sein in purer Kannqualität ist Nochnichtsein, ein

 Ebd.: 213.  SOM: 172.

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Nichtsein, das die Bedingungen des Übergangs in das Sein an ihm hat.“¹⁹⁷ Die Person ist im Unterschied zum natürlichen Sein im Allgemeinen, weil sie reale Potenz ist, nicht zureichend als „Nochnichtsein“ bestimmbar, da die „Bedingungen des Übergangs in das Sein an ihm“¹⁹⁸ zu haben im Falle des personalen Seins bedeutet, sowohl die liminale Potenzialität der Körperlichkeit als auch die Potenzialität der Verhaltensgestaltung in der Individualisierung und Personalisierung vergegenständlichen und damit Potenzialität potenzieren zu können.Weil personales Sein Potenzialität potenzieren könnendes Sein ist, ist es im emphatischen Sinne Seinkönnen. Was Plessner über die Potenzialität von Lebewesen sagt, dass sie Potenzen seien, „weil sie das Lebewesen hat“¹⁹⁹ und das Lebewesen sie habe, „weil sie den Gesamtbestand seines realen Seins bilden“,²⁰⁰ stellt sich aufgrund spezifisch personaler Leistungen der Vergegenständlichung durch die Sprache als Medium der Potenzierung lebendiger Potenzialität dar. Diese Potenzierung lebendiger Potenzialität ist, im Unterschied zur prinzipiellen Potenzialität lebendigen Seins, als ontologisches Charakteristikum von Personen in der exzentrischen Positionalität verankert, die, wie Krüger sagt, „strukturfunktionale“²⁰¹ Ermöglichungsbedingungen des menschlichen Seins angibt, welches wir hier ontologisch, seinem Was-Sein nach, als reale Potenz gefasst haben. Die exzentrische Positionalität allein reicht zur Bestimmung der Potenzialität der menschlichen Person nicht aus, sondern muss in ihrer bereits angesprochenen medialen Materialisierung in Sprache und Mitwelt betrachtet werden, die Krüger herausgearbeitet hat.²⁰² Innerhalb der Sprache, aber aufgrund der exzentrischen Positionalität, finden die personalen Distanzierungs- und Virtualisierungsleistungen statt, die es uns im Lebensvollzug ermöglichen, Möglichkeiten als Möglichkeiten zu begreifen und sie konjunktivisch zu modalisieren, weshalb Krüger von der „Emanzipation der Sprache von diesem Verhaltenskontext aus der exzentrischen Positionalität durch Perspektivenwechsel“²⁰³ spricht. Hinzuzufügen wäre: Die „Emanzipation der Sprache“ ist eine Emanzipation in der Sprache „aus der exzentrischen Positionalität“. Sprachlich bewegen wir uns auch dort noch in Verhaltensvollzügen, wo wir diese in praktischer Orientierung sprachlich objektivieren und distanzieren; wir verhalten uns dann anders, nämlich in der Situation zugleich sprachlich zur Situation, ohne dem Reizcharakter der

      

Ebd. Ebd. Ebd.: 173. Ebd. Vgl. Krüger 2001: 10 und 249. Vgl. Kap. 5.7 Krüger 2001: 365.

5.8 Die ontologisch-politische Potenzialität der Person

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Situation gänzlich hilflos und in stummer Direktheit ausgeliefert zu sein. Wie wir sprachlich mit Möglichkeiten umgehen und überhaupt erst Möglichkeiten als solche erkennen und begreifen können, unterscheidet sich aber davon, wie wir uns selbst als seiende Möglichkeit bzw. reale Potenz begreifen. Die Sprache ist wie die Mitwelt²⁰⁴ ein gegenüber Leib und Körper Drittes, und zwar ein solches Drittes, das von einem anderen, ebenfalls gegenüber dem Doppelaspekt Dritten her praktisch in Anspruch genommen wird, nämlich von der Person. Auf die Sprache, deren Verwendung durch Personen die Mitwelt sowohl voraussetzen als auch praktisch in Anspruch nehmen muss, müssen wir hier zurückkommen, weil sie das spezifische Dritte der Verhaltensbildung ist, von welcher und in welcher (als Medium) die „Verschränkungen von Leiblichem und Körperlichem in Handlungsausdrücken und Ausdruckshandlungen“²⁰⁵ koordiniert werden: Dieses Dritte [die Sprache, S. E.] erlaubt es uns, dasjenige, was in der äußeren Wahrnehmung gerade aktual realisiert wird, als eine Variante perspektivisch anderer Möglichkeiten zu nehmen, die das sprachliche Medium virtualisiert enthält. Insofern erscheint die dritte, eben die exzentrische Position, von der her sich der Unterschied und Zusammenhang zwischen Ausdrücken und Handlungen fassen lässt, als das Medium der Sprache.²⁰⁶ [Hervorhebungen, S. E.]

Der springende Punkt in Krügers Ausführungen sind nicht die im Plural angesprochenen „Möglichkeiten“, sondern das, wozu die Sprache als mediale Materialisierung der exzentrischen Positionalität uns sowohl grundsätzlich als auch exklusiv befähigt. Diese Befähigungen sind keine aus der Sprache selbst resultierenden Fähigkeiten, die wie die Möglichkeiten der Verhaltensbildung im Plural angesprochen werden können, sondern sie sind die elementare Potenz, die uns als seiende Möglichkeit qualifiziert. Sie qualifiziert uns – in spezifischer, nicht ausschließlicher Weise²⁰⁷ – als seiende Möglichkeit, nicht zur seienden Möglichkeit, da letztere sonst aus dem Vermögen der Sprache abgeleitet würde, statt im Medium der Sprache sich als das qualifizieren, was sie von der exzentrischen Posi-

 Wo im Folgenden von der Sprache die Rede ist, sind Mitwelt und Geist immer mitgemeint, weil die Sprache sich so wenig ohne die Mitwelt in Anspruch nehmen lässt wie es einen Leib ohne Körper geben kann, auch wenn der Nexus zwischen Sprache und Welt ein realer und kein bloß analytischer ist.  Krüger 2001: 119.  Ebd.  „Unter den Wesensmerkmalen des Menschen, die am häufigsten angegeben werden, steht die Sprache mit an erster Stelle.Wie die Untersuchung lehrt, mit Recht. Nur ist ,Sprache‘ zu eng für das, was den Kern des Wesensmerkmals der Expressivität bildet.“ (SOM: 339)

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5 Das Politische in der Ontologie der Person

tionalität her ist. Die sprachlich potenzierte Potenzialität wäre sonst keine „Kannqualität als Seinsqualität“²⁰⁸ mehr, sondern eine bloß naturgeschichtlich gewachsene Option. In und mittels der Sprache potenziert die seiende Möglichkeit sich, indem in ihr als der medialen Materialisierung der exzentrischen Positionalität der naturphilosophische Sachverhalt der Expressivität seine spezifische Konfiguration erfährt, d. h. die Sprache bildet eine Modulation von Expressivität und zugleich nimmt aufgrund der Spezifik exzentrischer Positionalität die Struktur menschlicher Expressivität in der Sprache eine humanspezifische Gestalt an, die sich durch ihre spezifische strukturelle Indirektheit²⁰⁹ von der tierischen unterscheidet.²¹⁰ Die exzentrische Positionalität als „strukturfunktionale“ (Krüger) Bestimmung der menschlichen Person und die ontologische Bestimmung der menschlichen Person als seiende Möglichkeit sind strikt korrelative Bestimmungen, die sich in der Sprache als dem Medium treffen, in welchem die Potenzialität sich materialisiert und mittels dessen sie sich auf eine eigentümlich menschliche Weise entfaltet. Die Sprache bleibt in ihrer praktischen und anthropologischen Auffassung strukturell an die Ontologie des Organischen und konkret an die liminale Potenzialität gebunden. In der naturphilosophisch-ontologischen Trias von Haben, Gehabtsein und harmonischer Äquipotentialität als den Konstitutionsmomenten der Selbstvermittlung des Lebendigen zur Ganzheit markiert das Gehabtwerden – in der Übertragung: der Person – durch den Körper, den sie als Leib nie ganz haben kann, im ungespielten Lachen und Weinen eine Verhaltensgrenze, die vermittels der Sprache selbst wiederum zu einem Bestandteil von Praktiken narrativer Identitätsbildung gemacht werden kann. Vermittels der Sprache kann die Person das Gehabtsein haben, ohne es damit aufheben zu können. In solchen narrativen Praktiken können Lachen und Weinen verarbeitet werden; die Ereignisse, welchen sie (im Fall des Weinens: dramatische) Signifikanz verliehen haben, können z. B. nachträglich im Medium der Sprache zu Elementen von Geschichten werden können, die wiederum ein konstitutives Element unserer (jeweiligen/kollektiven) Geschichte im Ganzen sind. Gerade weil die Potenzialität der Sprache sich an den

 Ebd.: 172.  Indirektheit als solche kennzeichnet die Sprache nicht exklusiv, sondern ist mit dem UmweltBezug gegeben, der sich auf den Begriff der vermittelten Unmittelbarkeit bringen lässt und bereits den UmweltBezug von Tieren kennzeichnet: „Beim Tier ist dies erreicht. Die Beziehung zwischen ihm und dem Umfeld spricht sich zwar am Organismus unabhängig davon aus, ob er dezentralistisch oder zentralistisch organisiert ist, gemäß dem Gesetz der geschlossenen Form als indirekte Beziehung aus.“ (ebd.: 325)  „Sie macht das Ausdrucksverhältnis des Menschen, in dem er mit der Welt lebt, zum Gegenstand von Ausdrücken.“ (ebd.: 340)

5.8 Die ontologisch-politische Potenzialität der Person

383

Verhaltensgrenzen und im Hinausfallen²¹¹ aus der sprachlichen Artikulation in die Körperleiblichkeit an dieser als einem nicht marginalisierbaren Medium der Personalisierung bricht, sind die von Krüger angesprochene „Rekontextualisierung der Sprache im menschlichen Lebensvollzug“²¹² und die ergänzende Rekontextualisierung des menschlichen Lebensvollzugs in der Sprache nötig. Die Sprache und der Körperleib als elementare Medien der Personalisierung ermöglichen irreduzible und komplementäre Äußerungsweisen,²¹³ die sich durcheinander konstituieren, indem sie sich aneinander brechen. Mit dieser gegenseitigen Brechung, die eine wechselseitige Begrenzung darstellt und keine wesenhafte Kluft, wird kein „Dualismus zwischen Sprachlichem und Nichtsprachlichem in unserem Verhalten“²¹⁴ eingeführt, sondern die Notwendigkeit der Verschränkung beider auf die Potenzialität der Person bezogen, die reale Potenz gerade dadurch ist, dass sie keine ihrer selbst vollständig mächtige Instanz über oder jenseits der Äußerungsweisen ist, sondern selbst ein Verhältnis zu diesen Verhältnissen hat und ist. Die Sprache bildet insofern eine Potenz der Aktualisierung (z. B. in der Möglichkeit kommunikativer Vollzüge, aber auch in der Versprachlichung als transformatorischer Aktualisierungspraxis, die etwas sprachlich gegenwärtig macht und dadurch eine Aktualität erzeugt) und darin eine Potenz der Potenzierung (z. B. in der prinzipiellen Möglichkeit der Virtualisierung und damit auch der Gestaltung und ferngerichteten Verkettung von Verhaltensmöglichkeiten) von Potenzialität.²¹⁵ Doch gemäß der funktionalen Gebundenheit der Sprache an die körperleiblichen Lebensvollzüge gilt, was Krüger über die doppelte Gebundenheit der Exzentrierung an die Rezentrierung und die „Zentrierung […] auf die raumzeitlich funktionale Mitte des eigenen Körperleibes“²¹⁶

 Vom Hinaus- statt vom Zurückfallen ist hier die Rede, um die Sprache nicht in der üblichen Weise als eigentliche Äußerungsform zu privilegieren.  Krüger 1999: 51.  Die Auffassung von Sprache und Körperleib als Medien mit spezifischen Äußerungsweisen geht, wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, auf Krüger zurück, dessen Weiterentwicklung Plessners sich von diesem vorteilhaft darin unterscheidet, sich nicht auf die Unterscheidung von Sprache und Gestik/Mimik als makroskopischen Äußerungsweisen zu beschränken. Vgl. LuW: 255.  Krüger 1999: 76.  Was hier von der Sprache gilt, hat Plessner ausdrücklich vom Geist gesagt, der in der hier dargelegten und an Krüger anschließenden Lesart, der Sprache als Medium darf: „In der Intuition, die sich in der Geggenrichtung zur intellektuell-praktischen Bemeisterung der Dinge zurückwendet, erinnert sich der Mensch der nicht weiter auflösbaren Schwungkraft des Lebens. Darum ist er aus der Tierreihe herausgehoben, darum erscheint das Leben in ihm gleichsam noch einmal potenziert, darum ist er des Lebens Leben: Geist.“ (Plessner 2003i: 58)  Krüger 1999: 96.

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5 Das Politische in der Ontologie der Person

sagt, nämlich dass sich das „hier und heute“²¹⁷ lebende Wesen „kategorisch (unbedingt) auf seine funktionale Mitte hin zentrieren muss. Daran gemessen kann die umgekehrte Zentrierungsrichtung auf eine funktionale Mitte im Positionsfeld hin nur konjunktivischen Status haben.“²¹⁸ Mit anderen Worten: Im kategorischen Konjunktiv existieren heißt, naturphilosophisch paradox zu existieren: das ontologische Sich-Vorwegsein-zu als Über-sich-hinaus-Sein ontisch zu verkörpern und über diese Verkörperung vermöge der Sprache verfügen zu können; sprachlich die „Instrumentalität des Körpers“ (Krüger) zu modulieren, der zugleich in Verhaltenskrisen über einen verfügt. Die Sprache gerät in der Philosophischen Anthropologie nicht außerhalb von Praktiken der Verhaltensbildung ins Visier,²¹⁹ weil sie gerade nicht von der lebendigen Natur als dem Boden, darin sie wurzelt, herausgerissen und in einem sprachphilosophischen Herbarium analysiert wird. Mittels der Sprache als einem medialen Dritten gegenüber Ausdruck und Handlung bringt die Person sich in eine Distanz zum Unmittelbarkeitscharakter von Situationen, in denen sie sich befindet. Ein Motiv aus Macht und menschliche Natur, ²²⁰ die strukturelle Doppelheit des Innerhalb- und Außerhalb-einer-Perspektive-Seins, ist hier wiederaufzunehmen: Mittels der Sprache können wir innerhalb von Situationen und Vollzügen außerhalb von Situationen und Vollzügen sein. Reale Potenz sind wir als die Lebewesen, die wir sind, weil dieses Können kein Bonus gelungener Sozialisation oder individueller Lebenskunst ist, sondern weil die sprachlichen Vollzüge sowohl an die Struktur des menschlichen Welt- und Umweltbezugs in seiner naturphilosophischen Verfasstheit als auch an die praktische Verhaltensbildung gebunden sind. Das Innerhalb-der-Perspektive-außerhalb-der-Perspektive-Seins verwirklicht sich nicht in völliger Simultaneität. Von dieser Doppelheit her, in welcher sich die Doppelheit von vermittelter Unmittelbarkeit und exzentrischer Positionalität realisiert, lässt sich die menschliche Potenzialität in engerer Anbindung an die

 Ebd.  Ebd.  Dass sie in der Weise, etwa als formalistische Zeichensprache, analysiert werden kann, erschüttert nicht die Bedeutung der Reflexionsleistung, welche die Philosophische Anthropologie vollzieht, sondern besagt lediglich, dass spezielle sprachliche Operationsweisen möglich sind, welche nicht den primären Fokus der Philosophischen Anthropologie als einer Naturphilosophie bilden. Solche sprachlichen Leistungen verhalten sich zu den grundsätzlichen Abstraktionsleistungen in der Virtualisierung und Distanzierung von Verhaltenskontexten derivativ, indem sie eine graduelle Steigerung des Abstaktheitsgrades darstellen und sich in ihrer spezifischen Eigenart vom Zwang zur Rezentrierung von Exzentrierungsleistungen entlasten, ohne ihre Verwender lebensweltlich oder existenziell von solchen Leistungen entlasten zu können.  Vgl. MmN: 222.

5.9 Abschließender Rückgang auf die Ontologie des Ausgleichs

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naturphilosophischen Überlegungen Plessners bestimmen und die humanspezifische „Potenz als eine Art des Seins“²²¹ sich in neuer Weise darstellen. Das SichVorwegsein-zu des organischen Körpers erweitert sich in der menschlichen Potenzialität um ein Sich-Vorwegsein-zu dem, was er nicht mehr ist, und dieses „Nicht-mehr“ kann zur determinierenden Variable des „Zu“ seines Sich-Vorwegseins-zu werden. Der Sportler, der einen Titel verloren hat, den er wiedergewinnen will, kennt kein zukünftiges Selbst, das nicht die Schande der Niederlage bzw. des Verlustes getilgt hat. Das Innerhalb-einer-Perspektive-Sein wird von der Vergangenheit und der Zukunft her getragen, und es trägt beide: die Vergangenheit mit sich, die Zukunft als zu verwirklichendes Bild.

5.9 Abschließender Rückgang auf die Ontologie des Ausgleichs Sprache und Mitwelt spielen eine entscheidende Rolle in der Art und Weise, wie „die Potenz als eine Art des Seins“ sich im menschlichen Leben und der menschlichen Personalität realisiert. Mittels ihrer sind ihrer Natur eigentümliche und die menschliche Person als natürliches Wesen individuierende Ausgleichsleistungen möglich. Diese Ausgleichsleistungen, die körperleiblich als Verschränkungen von Leibsein und Körperhaben vollzogen werden müssen, bilden Erfüllungen personaler Potenzialität und als solche personale Varianten des grundlegenden, alle Lebensformen kennzeichnenden, ontologischen Sachverhalts, den Plessner in seiner Ontologie des Organischen mit dem Begriff der „Entelechie als Seinsmodus“ fasst. Sie bilden – naturphilosophisch und personal – solche Erfüllungen im prozessualen Sinn.²²² Doch solche Erfüllungen realisieren keine immanente oder transzendente Wesenhaftigkeit, sondern in ihnen entfaltet sich eine Tendenz, ein Sich-vorweg-Sein-zu und führt darin das „zu“ in einen bloß tendenzhaft vorgezeichneten „Zustand“ über. Im Falle menschlicher Personen ist die „Bewegung, die einer ihr vorgegebenen oder vorlaufenden Tendenz folgt“,²²³ reflexiv einholbar, sprachlich virtualisierbar und dadurch gestaltbar. Personen sind dazu in der Lage, ihr „zu“ sprachlich vorzuzeichnen und damit

 SOM: 175.  „Für die lebendige Bewegung ergibt sich infolgedessen zwangsläufig der Tendenzcharakter als ein auszeichnendes Merkmal, durch welches sie von der toten Bewegung unterschieden wird: lebendig erscheint derjenige in Bewegung, die einer ihr vorgegebenen oder vorlaufenden Tendenz folgt und deren reeller Verlauf somit im Charakter der Erfüllung gegeben ist.“ (ebd.: 125)  Ebd.

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5 Das Politische in der Ontologie der Person

zu bestimmen; sie können selbst eine Tendenz setzen, die nicht durch ihre organische Verfassung gesetzt ist und sie können die Veränderung ihrer organischen bzw. körperlichen Verfassung (ob dem Wege körperlicher Ertüchtigung oder chirurgischer Veränderung) gemäß ihren Zielen selbst zum Ziel erklären, kurz: ihnen ist ihre körperleibliche Verfassung, die bei anderen Lebensformen mit ihrem Sein zusammenfällt, vermittels der Sprache zumindest intentional, oft aber auch praktisch verfügbar.²²⁴ Der „Tendenzcharakter“ als Charakteristikum des lebendigen Seins gelangt in all dem aber nicht zur Aufhebung, sondern zur Gestaltung im Rahmen einer begrenzten Verfügbarkeit. Es liegt nun nahe, solche entelechialen Vollzüge von Personen als Aktualisierungen von Potenzen aufzufassen und die Person als Aktzentrum aufzufassen, von dem her das personale Sein in Regie genommen und, abgesehen von temporären Zusammenbrüchen im ungespielten Lachen und Weinen, im Allgemeinen bestimmt wird. Damit würde man den Entelechie-Begriff in der personalen Lebensführung in neoklassischer Weise wiederaufleben leben, weil die Person als Aktzentrum die intentional entelechiale Vollzüge steuernde Instanz wäre, die sich selbst als die durch die Vollzüge modifizierte Endgestalt derselben setzen würde; sie würde teleologisch instantiieren, was in einer Art durchgängig personal kontrollierten Kreisprozesses von ihr her und zu ihr zurück, die Lebensführung zur Vollstreckung ihres Willens machen würde. Kurz: Die Person wäre nicht reale Potenz bzw. seiende Möglichkeit, sondern eine – auf diese Autarkie zielt der klassische Geistbegriff ²²⁵ – ihrer selbst mächtige, durch Aktualisierungen der ihrer Selbstmächtigkeit inhärierenden Potenzen hindurch sich selbst modifizierende Instanz, die im Rahmen sie nicht grundlegend definierender Machtgrenzen nahezu beliebig – der Tod bleibt problematischerweise unverfügbar – über diverse Potenzen verfügt statt selbst Potenz zu sein und als solche in sich durch eine Potenzialität begrenzt zu sein, über die sie nicht verfügen kann. Zwei von drei Momenten der dreifachen Vermittlung, die Plessner naturphilosophisch entfaltet, scheinen dann auf die Person übertragbar zu sein und das Sein der Person ontologisch, wenn nicht erschöpfend, so doch im Ganzen hinreichend zu bestimmen und damit die in der klassischen Ontologie behauptete Selbstmächtigkeit der Person zu bestätigen: In der harmonischen Äquipotentialität (erstes Moment), in welcher das „Subjekt des Habens“ (der Mitte, des realen Kerns; zweites Moment)²²⁶

 Und selbst da, wo die Geschlechtlichkeit nicht der Hybris biologischer Verfügungsgewalt in Form einer Geschlechtsumwandlung unterworfen wird, kann eine „Geschlechtsumwandlung“ soziokulturell vollzogen werden wie das Beispiel der albanischen „Mannfrauen“ zeigt.  Vgl. Kap. 3.8.1,wo der Geist zwar nicht gänzlich der Natur enthoben, aber doch per hiatum mit Gott verbunden ist und insofern als vorrangiges Identitätsprinzip gegenüber der Natur fungiert.  Vgl. SOM: 162.

5.9 Abschließender Rückgang auf die Ontologie des Ausgleichs

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in den Teilen des Organismus vertreten ist, scheint die Teil-Ganzes-Relation vom Ganzen, in Übertragung: von der Person her, ihre Steuerung und Beherrschung, kurz: im Ganzen ihre zweckmäßige und intentionale Organisation zu erfahren. Doch diese Lesart würde Plessner nicht gerecht werden. Dass die harmonische Äquipotentialität eine Potenzialitätsfigur ist, mittels welcher die dem Organismus grundsätzlich inhärierende Möglichkeit bzw. Potenzialität, eine Vertretung des Ganzen in Teilen zu vollziehen, angesprochen wird, ist daher nicht so banal wie der prima-facie-Rekurs auf ihren Wortlaut es glauben machen könnte. „Harmonische Äquipotentialität“ meint weder begrifflich noch stellt sie faktisch eine mit der zeitlichen Totalität der Existenz zusammenfallende Vertretung dar, die einer vollständigen und jederzeitigen oder auch nur prinzipiell (durch eine der Person inhärierende Eigenschaft) gegebenen Kontrolle der Teile durch das Ganze gliche, wie sich an Plessners oben angesprochenen Ausführungen zum Altern und zu irreparablen Verletzungen zeigt.²²⁷ Eine naive Übertragung der als Ausdruck oder gar Prinzip der Selbstmächtigkeit von Lebewesen verstandenen harmonischen Äquipotentialität auf die personale Ebene würde die Differenz von Leibsein und Körperhaben zugunsten des Leibes aufheben, da nicht mehr nur der Leib immer auch Körper, sondern auch der Körper immer kontrollierbarer Leib wäre; Lachen und Weinen wären dann unverständliche Willkürreaktionen oder intentional zu (v)erklären und der Körper wäre etwas, was wir hätten, ohne von ihm gehabt werden zu können. Genau dieses Gehabtwerden, das Plessner in der dreifachen Vermittlung naturphilosophisch als Objekt des Habens anspricht, ist jedoch ein zentraler und nicht eskamotierbarer Aspekt der Ontologie der Person, der oben bereits als Primat des Körpers angesprochen worden ist. Damit ist Folgendes gemeint: Personen müssen über die Verschränkung von Leibsein und Körperhaben stets aufs Neue zu einem Ausgleich von Haben und Gehabtsein gelangen, weil sie nicht in einem natürlichen, konstanten und unerschütterlichen Gleichgewicht beider Aspektrichtungen existieren können. Sie können dies nicht, weil der Leib als Körper der Selbstmächtigkeit der Person (1) im ungespielten Lachen und Weinen (Verhaltens‐)Grenzen setzt, (2) als physische Realität mit Eigengesetzlichkeiten eine Grenze markiert (exemplarisch wäre hier an Begrenzungen medizinischer Art zu denken, auf die psychotherapeutisch nicht adäquat geantwortet werden kann) und (3) die „öffentliche Hälfte“ (Plessner) der Person in der Ausgesetztheit des Körpers von der Person nicht als Eigenes und als Fremdes, sondern als Eigenes zugleich als Fremdes erfahren wird.²²⁸

 Vgl. Kap. 4.10.3  Diese Gespaltenheit gründet im privat-öffentlichen Doppelgängertum und ist prinzipieller Natur, ihr widerspricht es also nicht, wenn eine Person, wie man zu sagen pflegt, mit sich selbst im

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5 Das Politische in der Ontologie der Person

Die harmonische Äquipotentialität und die „Entelechie als Seinsmodus“ legen es aufgrund tief verwurzelter Intuitionen nahe, die seiende Möglichkeit, die in der Gestalt einer menschlichen Person auftritt, unter dem Primat des Akts aufzufassen wie Max Scheler und Edith Stein dies tun, indem sie den Primat des Akts aus dem Geist als dem Wesen der Person begründen. Auch wenn man den Geist, wie Stein, als Spezifikation der Menschenseele auffasst und den Geist damit nicht vollständig denaturalisiert, muss man den Entelechie-Begriff in sich verdoppeln und zwischen spezifisch geistigen und spezifisch natürlichen Erfüllungsweisen unterscheiden, die in der klassischen Ontologie aufgrund des Begriffs inhärierender Eigenschaften bzw. Vermögen auf undurchsichtige Weise per hiatum miteinander verbunden sind. In der Philosophischen Anthropologie Plessners hingegen wird der phänomenologisch bestehende hiatus zwischen der tierischen und der menschlichen Lebensform nicht theoretisch verdoppelt durch die jeweilige Zuschreibung intrinsischer Eigenschaften („Geist“), sondern die Eigenart der menschlichen Lebensform wird als Spezifikation des Organismus-Umwelt-Verhältnisses aufgrund einer bestimmten Positionalitätsform (exzentrische Positionalität) bei gleichen Organisationsformen (zentrisch-geschlossene Organisation) begriffen. Aufgrund der exzentrischen Positionalität erweitert sich die Organismus-Umwelt-Relation zu einer Organismus-Umwelt-Welt-Relation, aber die naturphilosophische Betrachtung des Menschen wird dabei nicht verlassen oder aufgehoben, auch wenn zur Entfaltung der Spezifik der menschlichen Lebensform ein spezifisches Vokabular (z. B. Geist, Sprache, Mitwelt) erfordert wird. Das bedeutet auch: Die humanspezifischen Erfüllungen, die im Medium von Körperleib und Sprache vollzogen werden und dadurch spezifisch menschliche Ausgleichsleistungen ermöglichen, stellen keine der Natur entwachsenen, von einer autonom operierenden Vernunft anvisierte Verwirklichungen intentional vorgezeichneter Zustände dar. Was die „Entelechie als Seinsmodus“ als Charakteristikum des Lebendigen mit der „Entelechie als Seinsmodus“ als Charakteristikum der menschlichen Person verbindet, ist die Realität des Grenzübergangs. Der Grenzübergang ist ein doppelter: (1) naturphilosophisch der Grenzübergang zwischen den Aspektrichtungen von Leib und Körper und (2) personal der Sinnrichtungen von Privatem und Öffentlichem und damit der Sphären von Eigenem und Fremdem. Der lebendig vollzogene Grenzübergang fällt nicht in die Grenzen des Organismus, d. h. in die ihn in der Umwelt gegen die Umwelt abschließenden Vollzüge; seine lebendigen Vollzüge bilden also keine interne Eigenschaft eines bloß innerhalb

Reinen ist, denn das Prinzipielle ist nicht das Jederzeitige, d. h. eine Person muss nicht jederzeit das Eigene als Fremdes erfahren, um es grundsätzlich auch als Fremdes zu erfahren.

5.9 Abschließender Rückgang auf die Ontologie des Ausgleichs

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seiner eigenen Grenzen operierenden Systems, sondern Lebewesen verfügen über „eine Grenze, dank der sie sich raumhaft und zeithaft im Umfeld positionieren“.²²⁹ Den Grenzübergang vollziehen heißt daher, wie Plessner es nennt, Über-ihnhinaus-Sein.²³⁰ Umgekehrt heißt den Grenzübergang vollziehen, „in ihm hinein“ bzw. „ihm entgegen“²³¹ zu sein: „Beide Momente erst bestimmen das Wesen der Grenze als das, was in das Andere führt und zugleich gegen es abschließt“.²³² Diesem ontologischen Sachverhalt des Grenzübergangs entspricht phänomenologisch, dass „die Doppelaspektivität phänomenal das Über den seienden Körper hinaus bzw. In ihm hinein Sein bedeutet“.²³³ Die Grenze haben wir aufgewiesen als einen ontischen und ontologischen Sachverhalt.²³⁴ Plessner spricht auch vom „ontischen Antagonismus, der im Wesen der Grenzverwirklichung ausgesprochen ist: Bleiben, was es ist, Übergehen in das, was es nicht ist (über ihm hinaus) und in das, was es ist (in ihm hinein)“.²³⁵ Um diesen „ontischen Antagonismus“ zu verstehen, bedarf die Ontologie des Organischen der realen Grenze als des Dritten, welches Lebendiges von NichtLebendigem unterscheidet und dem Antagonismus überhaupt erst einen Ort verleiht bzw. ihn ermöglicht; gibt es kein Lebendiges, so gibt es auch keinen Antagonismus, sondern nur Unterschiede. In der Ontologie der Person fungiert als dieses Dritte „die raumzeitlich funktionale Mitte des eigenen Körperleibs“²³⁶ (Krüger), die den personalen Grenzübergang der Aspektrichtungen und der Sinnrichtungen ermöglicht. Die Person ist als die diesen Grenzübergang vollziehende Instanz nicht als Ding oder Eigenschaft existent, sondern „als die wirkliche Möglichkeit des Körpers oder sein Vermögen (Potenz) real“.²³⁷ Das meint Plessners „Inexistenz der Mitte“,²³⁸ zugleich verbindet diese Realität als Potenz die Person mit der Ontologie des Organischen, welche Verbindung in besonderer Weise sich in der angesprochenen liminalen Potenzialität zeigt. Die Realität der Potenz ist daher eine doppelte: (1) die Potenz ist real, weil etwas ein Lebendiges ist und aufhört, Lebendiges zu sein, sobald die Potenz nicht mehr real ist (Ontologie des

         

Krüger 2001: 269. Vgl. SOM: 127 ff. Zur korrelativen Verwendung beider Ausdrücke vgl. ebd.: 129. Ebd.: 133. Ebd.: 130. Vgl. Kap. 4.5 SOM: 138. Krüger 1999: 96. SOM: 162. Ebd.

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5 Das Politische in der Ontologie der Person

Organischen);²³⁹ (2) die Potenz ist real, weil die Person sich im privat-öffentlichen Doppelgängertum als der spezifischen Form seiner Lebendigkeit diese Lebendigkeit in den zentralen (nicht ausschließlichen) Medien von Sprache und Mitwelt als der medialen Materialisierung der exzentrischen Positionalität realisiert. Doch wie sehr auch immer wir uns im Medium der Sprache von unserer Lebendigkeit dem Anschein nach zu emanzipieren können scheinen, die Person muss wieder den Rückweg zu sich als einem Lebewesen finden in dem, was Krüger die „Rekontextualisierung der Sprache im menschlichen Lebensvollzug“²⁴⁰ genannt hat. Was in diesem Lebensvollzug immer wieder zu leisten ist, ist die Verschränkung von Leibsein und Körperhaben und der Ausgleich von Öffentlichem und Privatem. In der Ontologie des Ausgleichs konvergieren deshalb zuletzt die Ontologie des Organischen und die Ontologie der menschlichen Person, welche die Ermöglichungsbedingungen des Politischen als Lebewesen in sich trägt und sich in der Struktur ihrer Körperleiblichkeit wieder zeigt als das, als welches Aristoteles den Menschen bezeichnet hat: als ζώον πολιτικόν.

 Diese Potenz geht durch Aktualisierungen hindurch, aber als Akt könnte sie nur real sein, wenn ihr Akt-Charakter ihre grundsätzliche Bestimmung angeben könnte, mit der klassischen Ontologie gesprochen: wenn das Lebendige vergöttlicht würde.  Krüger 1999: 51.

Schlussbetrachtung Den Ausgangspunkt dieser Studie bildete die systematische Intention, dass Plessner eine Transformation der klassischen Ontologie vorgenommen habe, die zu elaborieren ist, wenn man die Tragweite von Plessners „Neuschöpfung der Philosophie“ adäquat erfassen können will. Dieser Intention inhärieren weitreichende Annahmen, denn es wird dabei vorausgesetzt, dass es bei Plessner keine „Neuschöpfung der Philosophie“ gegeben habe, die sich zureichend unter Umgehung ontologischer Fragestellung elaborieren lasse. Weil Plessners „Neuschöpfung der Philosophie“ hier nicht wie ein Museumsexponat betrachtet wird, wird die womöglich für „steil“ gehaltene, implizite These nicht bestritten, wonach die Anerkennung der Verbindlichkeit dieser „Neuschöpfung der Philosophie“ es verbietet, ontologische Fragestellungen, Intentionen und Denkfiguren dem systematischen Philosophieren konstruktivistisch zu amputieren. Ontologie wurde hier nicht aufgefasst als philosophische Disziplin, deren Feld man je nach Belieben oder Forschungsschwerpunkt betreten oder nicht betreten kann. Ontologie wurde auch nicht aufgefasst als Komplex von Fragen, der sich aufgrund anders gelagerter Erkenntnisinteressen dem Philosophieren eskamotieren lässt, ohne dass ontologische Vorentscheidungen in einem solchen ontologiekritischen Philosophieren oder den vermeintlich über Ontologie erhabenen Alternativen mitlaufen. Damit wird zunächst vor allem behauptet, dass sich gegenüber ontologischem Denken keine konstruktivistische Definitionsmacht herbeireden lässt, die es dem Belieben des Einzelnen anheimstellt, eine Philosophische Anthropologie von einer naturphilosophischen Basis oder etwa im direkten Ausgang von einer freischwebenden Geistesphänomenologie her zu entwickeln. Diese systematische Intention erstreckt sich auch auf das Aristoteles-Kapitel, welches funktional eine historische Hinführung zu den modernen Entwürfen Steins und Plessners darstellt. Die Auseinandersetzung mit Aristoteles war zwar „nur“ propädeutischer Natur, doch ließ sich nicht umgehen, weil Aristoteles nicht nur die zentralen Begriffe geprägt hat, deren Stein und Plessner sich bedienen – Erstere überaus ausführlich, Letzterer an wenigen, aber bisher in ihrer systematischen Bedeutung unterschätzten Stellen. Die hier vorgelegten Betrachtungen zu Aristoteles wären in dieser Form nicht möglich gewesen ohne Georg Pichts Vorlesungen zu De anima, die eine umfassende Gesamtdeutung der Aristotelischen Philosophie enthalten und sich keineswegs auf das genannte Werk beschränken. Was hier im durchgängigen Rückgriff auf Picht sichtbar gemacht und bekräftigt werden sollte, ist, dass Aristoteles nicht nur für die Auseinandersetzung mit Stein und Plessner elementare Begriffe wie δύναμις (Potenz) und ένέργεια (Akt), die Begriffe der Substanz, der Entelechie oder des Geistes geprägt hat, sondern, indem DOI 10.1515/9783110459159-007

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Schlussbetrachtung

er diese Begriffe als miteinander zusammenhängende entwickelte, bereits eine „Ontologie des Lebens“¹ entworfen hat und entwerfen musste. Der Begriff, welcher eine philosophische Wahlverwandtschaft des Aristoteles mit Stein und Plessner vielleicht am klarsten zutage treten lässt, ist der Begriff der Entelechie (έντελέχεια), denn einzig von der Entelechie her lässt sich die Bewegung (κίνησις) als das Aristotelische Äquivalent von Steins Beseeltheit des Leibes und Plessners Grenzrealisierung begreifen. Denn die κίνησις ist nur deshalb nicht die bloß äußerlich am sich bewegenden Körper feststellbare Bewegung, weil sie das einheitsstiftende Prinzip dieses Körpers selbst ist: Der Begriff der εντελέχεια wurde von Aristoteles […] geprägt, um zu bestimmen, was die eigentliche, ursprüngliche und herrschende Bedeutung der Begriffe ,Eines‘ und ,Sein‘ ist. Einheit und Sein müssen, das besagt dieser Begriff, als immanente Bewegungsstruktur dessen, was sich aus sich selbst bewegt, verstanden werden. Nur wenn man Einheit als εντελέχεια denkt, fallen Form und Materie nicht auseinander; denn Form ist dann jenes Bewegtsein der Materie, in dem sie sich im Vollzug des Lebens so organisiert, daß die dem Bewegungsablauf selbst immanente Struktur als Gestalt allmählich hervortritt.²

Die Einheit, welche Picht hier anspricht, ist der klassische Vorläufer der Ganzheit, die Plessner phänomenologisch und ontologisch von der bloßen Gestalt unterscheidet. Die εντελέχεια wäre bei Aristoteles das materiale Prinzip, welches den Unterschied zwischen Gestalt und Ganzheit stiftet, wohingegen bei Plessner die εντελέχεια der Seinsmodus der Ganzheit ist, die als Lebendiges in einem spezifischen und distinkten Verhältnis zu seinem Positionsfeld steht. Die Spezifik dieses Verhältnisses gründet bei Plessner in der Grenzrealisierung, welche das Lebendigkeitsmerkmal der Selbstbewegung phänomenologisch und ontologisch vertieft, indem es von einem Dritten her (der Grenze) verstanden wird, ohne dass die Form-Materie-Relation in der aporetischen Weise bemüht werden müsste, wie sie von Haucke als Äquivalent der Doppelaspektivität herangezogen wird – mit der Konsequenz, dass die Form dann als Aspekt und als Grenze, also die Doppelaspektivität Ermöglichendes, angesetzt muss.³ Anders gesagt: Bei Plessner muss, weil die Beziehung triadisch (Doppelaspekt, Grenze) angelegt ist, nicht eine Seele (Form) innerhalb der Beziehung (Form, Materie) auftreten und sie zugleich deren reale Spezifik (Lebendigkeit) stiften. Picht nennt Hegel den „große[n] Aristoteliker unter den Philosophen des deutschen Idealismus“⁴ und fügt hinzu:    

Vgl. Kapitel 2.3.3 – 2.3.5. Picht 1992: 335. Vgl. Kapitel 4.8. Ebd.: 4.

Schlussbetrachtung

393

Wer heute Hegel wieder entdeckt, muß wissen, daß er damit den philosophischen Entwurf des Aristoteles übernimmt. Er muß wissen, daß er sich im Horizont der griechischen Ontologie bewegt. Nun ist es aber keineswegs selbstverständlich, daß dieser Horizont auch unserem eigenen Denken inmitten der geschichtlichen Krise, die wir erleben, die Maße setzen und die tragenden Begriffe vorschreiben müßte. Es ist keineswegs selbstverständlich, daß wir die Wirklichkeit so auffassen, wie sie ist, wenn wir, wie es die Hegelianer tun, sie in aristotelischen Kategorien auffassen.⁵

Mit dem komprimierten Verweis auf Transformationsbeziehungen zwischen Plessner und Aristoteles sollte die summarische These vorbereitet werden, dass auch Plessner Aristoteliker ist. Diese angesprochenen Transformationsbeziehungen machen Plessner weniger zum Überwinder des Aristoteles, sondern vielmehr zum Aristoteliker, weil er sich die Aristotelische Intention, ob bewusst oder unbewusst, zu eigen macht und auf der Grundlage einer objektiven Transformation der Phänomenologie eine neuartige Ontologie des Lebens entwickelt. In diesem spezifischen Sinne und nicht in der von Haucke⁶ behaupteten Weise ist Plessner Aristoteliker. Und um dies durch einen weiteren Rückgriff auf Picht zuzuspitzen: Indem und in der Weise, wie Plessner Aristoteliker ist, ist seine Ontologie des Organischen im Kern emanzipatorischer Art, denn die Intention der Ontologie war ursprünglich eine emanzipatorische, keine dogmatische: Im schroffen Gegensatz zu den Methodenbegriffen der neuzeitlichen Naturwissenschaft waren Platon und Aristoteles überzeugt, daß man zu einer wahren Erkenntnis der Natur nur gelangt, wenn man das, was ein Ganzes ist, nicht durch falsche Begriffsbildungen zerstört, sondern als Grundbegriffe nur solche Begriffe zuläßt, die das, was ist, unversehrt lassen.⁷

Die Kritik und Abwehr falscher Begriffsbildungen, die Etablierung von Bündnissen zwischen reduktiven, aus den Naturwissenschaften kurzschlüssig übernommenen Begriffen und ihrer sich bedienenden Politiken, sind nicht der zentrale Impetus Plessners – Plessners Entwurf wäre sonst defensiv statt produktiv motiviert –, aber doch ein zentraler, der seine naturphilosophische „Neuschöpfung der Philosophie“ motiviert.⁸ Wo eine Neuschöpfung der Philosophie in Angriff genommen wird, bilden falsche Begriffsbildungen (unabhängig von deren womöglich legitimer Intention) das, wovon auf der Grundlage richtiger Begriffsbildungen Emanzipation möglich sein bzw. werden soll. Unter die „falschen Begriffsbildungen“ fällt aufgrund des dem systematischen Philosophieren

   

Ebd.: 4 f. Vgl. dazu Kapitel 4.8. und Haucke 2000: 22 f. Picht 1992: 287. Vgl. Kap. 4.4.1.

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Schlussbetrachtung

inhärierenden evolutionistischen Selbstverständnisses auch die Aristotelische Philosophie. Da jedoch grundlegende Intentionen und Orientierungen derselben auch noch für Plessners „Neuschöpfung der Philosophie“ bestimmend bleiben, lässt Plessner sich als Vollender dieser Intentionen und daher als Aristoteliker begreifen.⁹ Auch Edith Steins Philosophie ist dem Aristotelischen Erbe verpflichtet, doch anders als Plessner setzt Stein sich umfassend und dezidiert mit Aristoteles auseinander. Ihre Auseinandersetzung mit Aristoteles bleibt jedoch stets durch Thomas von Aquin vermittelt, dessen kosmologisches Konzept Stein übernimmt, weshalb ihre philosophische Anthropologie zugleich eine „Kosmo-Theologie“ des Lebens genannt werden kann. Entscheidend ist allerdings, dass die philosophische Anthropologie bei Stein den Fluchtpunkt der Verknüpfung Thomas von Aquins mit Max Schelers Wissenschaft von der menschlichen Person bildet. Wegen des kosmo-theologischen Fluchtpunkts haben wir den entlang der Akt-Potenz-Relation entfalteten Stufenbau, in welchem der vertikale Vergleich zwischen Pflanze, Tier und Mensch enthalten ist, als „onto-anthropologischen Stufenbau“ bezeichnet.¹⁰ Das Wesen einer jeden Lebensform wird in den ontologischen Termini, die Stein in der thomasischen Modifizierung von Aristoteles übernommen und um den scholastischen Begriff der Wesensform¹¹ ergänzt hat, begrifflich dargestellt. Vergegenwärtigt man sich Steins philosophische Anthropologie vor dem Hintergrund von Plessners Aussage, wonach die klassische Ontologie phänomenologisch richtiggelegen und sich nur „falscher Begriffsbildungen“ (Picht) bedient habe, so verwundert es nicht mehr allzu sehr, dass sich bei Stein Äquivalente zu Plessner finden lassen: Wie bei Plessner die Pflanze aufgrund der offenen Organisationsform über kein eigenes Zentrum verfügt, welches sie dem Positionsfeld entgegensetzen könnte, wodurch ihr eine immerhin rudimentäre Identität zukäme, so fasst auch Stein sie als Abbild ihres Urbildes im Sinne der bloßen Manifestation; Samenkorn und Pflanze sind daher wesenhaft dasselbe in verschiedenen Zuständen und zu verschiedenen Zeitpunkten. In Ambivalenzen, die Plessner in der Bestimmung des pflanzlichen Seins erspart bleiben, gerät Stein durch den Begriff der Wesensform, der gerade die Entfaltung von Individualität ermöglicht und das Verhältnis von Abbild und Urbild delinearisiert, sich aber auf die Pflanze schlecht anwenden lässt. Stein spricht deshalb von der Verwirklichung von Möglichkeiten im pflanzlichen Sein, was sie dazu zwingt, einen Begriff uneigentlicher Möglichkeiten  Der Terminus „Aristoteliker“ wird hier von seinen negativen Konnotationen befreit: Wenn wir ernsthaft Aristoteliker sein wollen, müssen wir Ontologie als emanzipatorisches Projekt verstehen.  Vgl. Kapitel 3.6.  Vgl. Kapitel 3.6.

Schlussbetrachtung

395

zuzulassen, von Möglichkeiten der Pflanze also, die nicht ihre Möglichkeiten sind. Indem Plessner sich auf keine der Akt-Potenz-Relation verpflichtete Kosmologie festlegt, kann er das Verhältnis zwischen Pflanze und Umgebung als eines der Beziehungslosigkeit entfalten. Zwar könnte man hier auch von einer Beziehung der Beziehungslosigkeit sprechen, doch eine solche Paradoxie wäre rhetorischer Natur. Das Tier kennzeichnet sich Stein zufolge durch den „Aufbruch des Inneren“, der darin gründet, dass zur Pflanzenseele im Tier eine Empfindungsseele hinzutrete.¹² Der Empfindung, die zunächst den Kontakt zur Umwelt ermöglicht, entspricht die Wesensform des Tieres, die nicht im bloßen Registrieren von Reizen sich erschöpft, sondern es dem Tier ermöglicht, sich zu den Reizen und zum Leib als dem Medium der Reizvermittlung in Beziehung zu setzen. Was in dieser Beziehung zur Umwelt sich ausbildet, ist eine rudimentäre „Individualität“. Mit der Wesensform, die sich im Tier individualisiert, tritt eine Differenz zwischen das Individuum und die Gattung: Das Tier ist seine Natur (Individuum) und die Natur des Tieres, die in ihm als individualer Verkörperung des Urbildes konkrete Gestalt annimmt. Die Grenzen der Identität und Individualität des Tieres zeigen sich jedoch in der Ironie, dass das Tier als „Aktionszentrum“ wesentlich im Reaktionsmodus sich befindet, d. h. das Aktionszentrum ist keine Grundlage einer das Tier gegenüber der Umwelt in den Stand der Autonomie setzenden Aktualität. Das tierische Individuum ist daher auch als Individuum vor allem Exemplar der Gattung. Die Aktualisierungsleistungen von Tieren sind daher Aktualisierungen von Dispositionen, sie beruhen auf dispositionellen Zuständen des Tieres, welche es zugleich der Umwelt aussetzen; Stein spricht deshalb von „vorübergehenden Zuständlichkeiten, die wir ihres Seinsmodus wegen Akte nennen“.¹³ Gemäß der thomasischen Ontologie verhalten sich Seinsmächtigkeit und Potenzialität umgekehrt proportional zueinander, d. h. die Potenzialität nimmt ontologisch zu, wo die Seinsmächtigkeit des Individuums gerade abnimmt. Die Ironie des tierischen Seins besteht darin, dass es als Individuum – obwohl es durch eine Potenzialitätszunahme gegenüber höheren Lebensformen gekennzeichnet ist – eher Potenz seiner Umwelt als diese Potenz für das Tier ist, welches diese Potenz zum Gegenstand seiner Aktualisierungsleistungen machen kann. Dies hat nicht wenig damit zu tun, dass Stein dem Tier zwar eine Individualität konzediert, ihm aber „bewusstes Erleben“ abspricht. Weil es nicht über die Potenz des Bewusstseins verfügt, wird es zur Potenz der Umwelt und damit eines Aktualitätsganzen, dessen Teil es nicht ausschließlich, aber überwiegend ist.

 Zum Folgenden vgl. Kapitel 3.6.2.  PuA: 220.

396

Schlussbetrachtung

Plessner stellt die Existenz eines tierischen Bewusstseins nicht in Frage; ein solches gründet ihm zufolge in der tierischen Organisationsform, welche durch die Ausbildung eines Zentrums gekennzeichnet ist.¹⁴ Die zentrisch-geschlossene Organisationsform bildet bei Plessner die Grundlage seiner Analyse der Sphäre des Tieres. Die Grenzen der tierischen Verhaltensbildung führt Plessner nicht auf eine interne Begrenztheit dieses Zentrums selbst zurück, d. h. er erklärt sie nicht zirkulär durch die Eigenschaften (Reizunterworfenheit, Fehlen von Bewusstsein etc.) einer Eigenschaft (der Seele), sondern durch die Art der Beziehung, welche das Tier zu seinem Positionsfeld hat. Dieses Positionsfeld trägt, darin stimmt Plessner wesentlich mit Stein überein, den Charakter der Umwelt statt der Welt. Die Beziehung des Tieres zur Umwelt bricht sich im Zentrum, das seinen Ort im Tier hat und zwischen Tier und Umwelt vermittelt; diese Brechung führt auch Plessner zufolge zu einem Aufbruch eines Inneren, aber nicht – obwohl Plessner den höheren Tieren Bewusstsein zuspricht – zu einem Ausbruch aus demselben. Ein gänzlicher Ausbruch ist auch dem Menschen nicht möglich, der aufgrund des Geistes bei Stein und der exzentrischen Positionalität bei Plessner immerhin der Freigänger der Natur ist. Stein ordnet der Pflanze eine Pflanzenseele, dem Tier eine Tierseele und dem Menschen eine Menschenseele zu. Letztere spezifiziert sich Stein zufolge zum Geist, weshalb sie von der „Menschenseele als Geist“ spricht.¹⁵ Der Begriff des Geistes fungiert als der zentrale, gleichwohl nicht durchgängig konsequent vom Begriff der Vernunft abgegrenzte,¹⁶ Begriff, mittels dessen Stein den Menschen als das Wesen charakterisiert, das als ens creatum ¹⁷ per hiatum ¹⁸ mit Gott verbunden ist. Aufgrund des Geistes ist der Mensch menschliche Person, seine Personalität wird also wiederum eigenschaftlich begründet und diese Eigenschaft im ontoanthropologischen Stufenbau verortet. Diese doppelte Bestimmung der menschlichen Person als Naturwesen und als geistige Person ermöglicht es Stein, eine philosophische Anthropologie zu entwickeln, welche die Leiblichkeit des Menschen als zentralen Topos begreifen kann¹⁹ und dennoch den Menschen unhintergehbar durch seine Gottebenbildlichkeit bestimmen kann.²⁰

 Vgl. Kap. 4.12.1.  Vgl. vor allem Kap. 3.8.1.  Zum verwickelten Verhältnis zwischen Geist, Vernunft und Bewusstsein vgl. Kapitel 3.7. Der Begriff der Vernunft spielt auch eine gewichtige Rolle in der Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie, vgl. Kap. 3.4.3  Vgl. Kap. 3.6.1  Vgl. Kap. 3.7.3 und 3.8.5  „Die menschliche Person trägt und umfaßt ,ihren‘ Leib und ,ihre‘ Seele, aber sie wird zugleich davon getragen und umfaßt.“ (EES: 310), auch zitiert auf S. 148.

Schlussbetrachtung

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Stein vollzieht damit eine doppelte Transzendierung des engeren phänomenologischen Horizonts der Husserl’schen Phänomenologie: nach „unten“ zum Leib hin, nach „oben“ zu Gott hin. Die Sprengkraft dieser doppelten Transzendierung wird von Stein nicht harmonistisch geleugnet; die menschliche Person ist nicht Person allein aufgrund ihres Menschseins, sondern sie ist sich selbst eine Aufgabe, die ebenfalls nicht individualistisch bestimmt wird, weshalb Stein die Bedeutung der Erziehung in der Personalisierung klar ins Auge fasst.²¹ Niemand ist, was zu sein seine Aufgabe ist, allein dadurch, dass er ein Mensch ist; die pädagogischen und geistlichen Schriften Steins bilden die Konsequenz dieser Einsicht: „Denn wer nicht zu sich selbst gelangt, der findet auch Gott nicht und kommt nicht zum ewigen Leben.“²² Zu sich selbst kann man nicht als bloß dieses oder jenes Individuum gelangen, sondern einzig als menschliche Person. Als modern erweist Stein sich darin, dass sie in diesem Zusammenhang wieder den Künstler als Leitbild auffasst, weil in ihm Erziehung in Selbsterziehung gemäß einer Idee übergeht: Die ‚Idee‘ leuchtet dem Künstler auf, zieht ihn an, läßt ihm keine Ruhe und drängt ihn zum Schaffen. Und so scheint auch von dem, was als Ziel und Vollendung über dem Lebewesen steht, ein ‚Zug‘ auszugehen, der seine Entwicklung lenkt. Beim reifen Menschen, ja schon vom Erwachen der Vernunft an, kann dieser Zug gespürt werden: das Bild dessen, was man werden soll, kann mehr oder minder deutlich erfaßt und das freie Verhalten danach gerichtet werden (in Vollkommenheitsstreben und Selbsterziehung). Aber alle untermenschliche Entwicklung, die frühe Entwicklung des Menschen und wohl auch der größere Teil seiner späteren Entwicklung geht nicht in der Form des bewußten und vernünftigen Strebens nach einem erkannten Ziel vor sich, sondern nach einer – vom Standpunkt des Lebewesens aus – unwillkürlichen und verborgenen Zweckmäßigkeit.²³

Als „anti-modern“ erweist Stein sich allerdings darin, dass sie die menschliche Person von einer substanzialistischen Teleologie her begreift: „Die volle Entfaltung ist als Telos in der Entelechie, dem ursprünglichen Kern der Person, vorgezeichnet.“²⁴ Da der Kern der Person allerdings die „Menschenseele als Geist“ ist, führt die innere Teleologie der Person auf direktem Wege zum Geist, durch den der Mensch wiederum per hiatum mit Gott in Form einer Berufung verbunden ist: Die Berufung zur Vereinigung mit Gott ist Berufung zum ewigen Leben. Schon natürlicherweise ist die Menschenseele als rein geistiges Gebilde nicht sterblich. Als geistig-persönliche

    

Vgl. EES: 391. Vgl. Kap. 3.8.2 EES: 426. Ebd.: 201. PuA: 263.

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Schlussbetrachtung

ist sie überdies einer natürlichen Lebenssteigerung fähig, und der Glaube lehrt uns, daß Gott das ewige Leben, d. h. den ewigen Anteil an Seinem Leben schenken will. ²⁵

Die grundlegend doppelte Bestimmung der menschlichen Person, sich als Person entfalten zu müssen und sich gemäß ihrer spezifischen, theologisch vermittelten Bestimmung entfalten zu müssen (im Sinne auch des Sollens), hindert Stein daran, die Leiblichkeit und Natürlichkeit des Menschen in ihrer Philosophie systematisch, und das heißt hier: als strukturelle Ermöglichungsbedingungen statt nur als Begrenzungen zu denken. Der Mensch ist auch Naturwesen, der Leib ist auch ein konstitutives Moment der Person, letztlich bleibt Stein aber bei der „Auch-Wichtigkeit“,²⁶ die Plessner in Macht und menschliche Natur angreift, stehen. Sie kann daher nicht konsequent die Frage stellen oder gar ausarbeiten, ob der Kern der Person und die personale Geistigkeit naturphilosophisch entwickelt werden können? Dass der personale Geist eine Eigenschaft und Gott der metaphysische Urgrund ist, welcher auch noch den personalen Geist gestiftet hat, ist theologisch vorentschieden. Diese Vorentscheidung trägt auch noch Steins Heidegger-Kritik, welche sich exemplarisch auf eine jede Philosophie erstreckt, die den Menschen auf sich selbst zu stellen versucht: „Weil der Mensch nicht nur für sein eigenes Sein, sondern auch für andersartiges Verständnis hat, darum ist er nicht auf sein eigenes Sein als den einzig möglichen Weg zum Sinn des Seins angewiesen.“²⁷ Das angedeutete andersartige Sein ist das göttliche,²⁸ die sub-

 EES: 422.  Vgl. MmN: 229, auch hier zitiert auf S. 29.  Stein 2006a: 481.  Wo von schwerwiegenden inhaltlichen Voraussetzungen her gedacht wird, werden „einzig mögliche“ Wege schnell begangen. Stein greift Heideggers Exponierung des Daseins als „einzig möglichen Weg“ an, ohne in Betracht zu ziehen, dass sich daraus noch nicht notwendig ergibt, dass ihr Weg ein möglicher sei. Beide Wege – der theologische und der existenzialontologische – können als durchaus mögliche Wege aufgefasst werden, ohne dass beide lediglich relativistisch nebeneinander gestellt werden in einer Galerie von Optionen. Möglichkeiten als existenziale Möglichkeiten jenseits einer Existenzialontologie Heidegger’schen Stils denken zu können, wird von Plessners Verbindlichnehmen der Unergründlichkeit her möglich. Dieser Gedanke kann hier nicht ausführlich entwickelt werden, weil eine solche Entwicklung erforderte, die Unergründlichkeit weit über die strukturelle Fundiertheit im privat-öffentlichen Doppelgängertum hinaus zu verfolgen. Gemäß der hier entwickelten Systematik müsste aber auch eine Entwicklung des angedeuteten Gedankens stets im Blick behalten, dass die Unergründlichkeit nicht ein normatives Philosophieren jenseits der Philosophischen Anthropologie in ihrer naturphilosophischen Gestalt legitimiert, sondern in einem großen Gedankenbogen darauf bezogen bleiben müsste, weshalb Plessner in Macht und menschliche Natur die Unergründlichkeit explizit in der Anthropologie verortet: „Darum rückt in den Mittelpunkt der Anthropologie die Unergründlichkeit des Menschen, und die Möglichkeit zum Menschsein, in der beschlossen liegt, was den Menschen allererst

Schlussbetrachtung

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stanzielle Differenz im Menschen eine, die ihn nicht in sich verdoppelt, sondern zu einem sui generis Anderen in Bezug setzt. Gerade die Bestimmung der „Menschenseele als Geist“, welche die Verbindung zwischen dem Menschen und Gott in einer dem Menschen als individuierter Person inhärierenden, aber von Gott gestifteten Eigenschaft gründen lässt,²⁹ verunmöglicht es Stein, einen in der ontologischen Struktur der menschlichen Person gründende Einheit der Personalität als solcher und des Politischen zu denken. So sehr die Wesensform (Seele) des Menschen sich im Menschen und damit diesen individuiert, die Individuation bricht nicht aus dem Urbild-AbbildVerhältnis aus, welches Steins ontologisch-theologische Grundfigur bildet. Die menschliche Person gerät zwar in ein doppeltes Verhältnis der Bedürftigkeit: zur Gemeinschaft bzw. dem Staat und zu Gott, aber die Abhängigkeit von Gemeinschaft bzw. Staat setzt die Person vorrangig einem Zwangsverhältnis zum empirischen Politischen aus. Das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft haben wir in Kapitel 3.9 skizziert.³⁰ Stein schließt in der Bestimmung dieses Verhältnisses nahtlos an Tönnies an, indem sie die ontologischen Seelentypen (Pflanzen-, Tier-, Menschseele) soziologisch in „Menschentypen“ transformiert. Die Menschentypen werden organologisch der Gemeinschaft als ihrem „natürlichen Ort“ zugeordnet, welcher im Kontrast zur im schlechten Sinne rationalen, weil bloß mechanischen, Gesellschaft steht. Die Menschentypen, deren zeitgenössischer soziologischer Nachfolger die Rollen(bilder) sind, ordnet Stein bestimmten Gemeinschaftskonstellationen zu. Von der Gesellschaft werden die Menschentypen von Stein abgeschnitten, weil Gesellschaft als solche keine konkrete Handlungssphäre, sondern bloß einen mechanischen Überbau bildet. Die genetische Betrachtung menschlicher Personalität, die Stein zur grundlegenden Bedeutung von Erziehung führt, kann nicht konsequent durchgeführt,weil die Seele und der Geist der Person der Gemeinschaft zugeordnet und Gemeinschaft und Gesellschaft dadurch als antagonistische Wesenheiten aufgefasst werden. Die Entwicklung von Personen und die Formung ihrer Seele findet in Gemeinschaften statt, Gesellschaft hingegen bildet kein Individuations- und Vermittlungsprinzip, sondern eine Bedrohung der organischen Innerlichkeit, in welcher Seele und Gemeinschaft sich treffen.

zum Menschen macht, jenes menschliche Radikal, muß nach Maßgabe der Unergründlichkeit fallen.“ (MmN: 161)  Hierbei ist zu beachten, dass eine jegliche Individualseele eine Wesensform ist, in der ein Typus sich konkretisiert. Sie ist aber gerade nicht nach dem Modell der Übersetzung zu denken, welches Plessner zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen Individuum und Formidee heranzieht, sondern nach dem von Plessner abgelehnten Modell der Kausalität.  Zum Folgenden vgl. Kapitel 3.9.

400

Schlussbetrachtung

Plessner hingegen hat, wie Stein, zentrale Aristotelische Motive in seiner Ontologie des Organischen aufgenommen und diese zu einer umfassenden Ontologie des Lebens weiterentwickelt, deren zentraler Begriff der der menschlichen Person ist. Stein und Plessner haben an Schelers Projekt einer Wissenschaft von der menschlichen Person angeknüpft, doch sie haben dies auf der Basis einer unterschiedlichen Auffassung der phänomenologischen Methode getan.Während Stein das Husserl’sche ego von innen heraus zur lebendigen Natur und zu Gott hin erweitert hat,³¹ hat Plessner eine objektive Transformation der Phänomenologie vollzogen, die einer ausführlicheren Darstellung bedurfte als sie bisher erfahren hat, um die volle Tragweite von Plessners „Neuschöpfung der Philosophie“ erfassen zu können. Dies ist in den Kapiteln 4.1 bis einschließlich 4.9 geleistet worden. Die umfassende Betrachtung von Plessners phänomenologischem Ansatz diente der Beantwortung einer einzigen Frage: Wie erscheint Lebendiges als solches in der nicht durch das Bewusstsein vergegenständlichten Wirklichkeit? Die Beantwortung dieser Frage erforderte eine Analyse des Erscheinens, die sich darüber im Klaren ist, dass Erscheinen Erscheinen in der Anschauung bedeutet, ohne dieses Faktum zum Anlass zu nehmen, die Ebene der Erscheinung zu verlassen und sich letztlich in kantisch-transzendentalphilosophischer Manier im Anschauenden zu verlieren, das im Begriff der Anschauung impliziert ist. Der Begriff der Wirklichkeit, der in diesen Analysen gewonnen wurde, erlaubte eine grundlegende Kritik der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise und eine Bestimmung ihres epistemologischen Orts, welcher die Realität bildet, welche die Wirklichkeit genetisch voraussetzt, sie aber nicht immanent erklären oder das allein in ihrer Sphäre sichtbar Werdende ersetzen kann.³² In der phänomenologischen Betrachtung des Lebendigen war aber vor allem der ontisch-ontologische Doppelcharakter der Grenze als der eigenschaftlichen Mitte der Anschauung und als konstitutives Wesensmerkmal des anschaulich Erscheinenden im Phänomen der Grenzrealisierung positiv freizulegen.³³ Was sich in seinem Erscheinen durch diese doppelte Grenze auszeichnet, dem kommt sowohl ein Substanz- als auch ein Wirklichkeitswert zu,³⁴ d. h. die Substanz ist das, das den Wirklichkeitscharakter von Erscheinendem bestimmt, statt das Wesen des Wirklichen oder eine das Wirkliche begründende Eigenschaft zu bilden, und umgekehrt ist deshalb das Wirkliche als solches in sich substanziell, d. h. es bedarf keiner Gründung in einer höheren Wirklichkeit bzw. in der Realität. Diese Verhältnisse konsequent ausbuchstabieren zu können, setzt Plessners tiefgreifende Transformation der On   

Vgl. Kapitel 3.3 und 3.4. Vgl. Kapitel 4.4. Vgl. Kapitel 4.5. Zum Begriff des Wirklichkeitswerts vgl. Kapitel 4.14, 4.8 und vor allem 4.6.2 und 4.6.3.

Schlussbetrachtung

401

tologie voraus, welche nicht nur zu einer Philosophie oder Theorie des Lebendigen, sondern zu einer phänomenologischen Theorie der Wirklichkeit des Lebendigen führt. In der durch die ausführliche Analyse von Plessners phänomenologischer Vorgehensweise vorbereiteten funktionalen Analyse hat der Begriff seine tiefgreifende ontologische Bestimmung in der Entfaltung des Verhältnisses von Mitte und Peripherie im gesamten Abschnitt 4.10 erfahren. Die Grenze, wie sie als Mitte der Anschauung auftritt, wurde dabei als funktionale Mitte des Organismus bzw. als Subjekt des Habens bestimmt und die Selbstvermittlung als antagonistische entfaltet. Dieser Antagonismus gründet darin, dass das Objekt des Habens selbst Teil des Organismus ist und sich im Hingeordnetsein der Organe auf das Positionsfeld ausdrückt.³⁵ Die Antwort auf die scheinbar unerklärbare und schwer fassliche Tatsache, dass der Regelfall lebendiger Selbstorganisation aufgrund ihres antagonistischen Charakters permanent vom Scheitern der Selbstorganisation und damit von der Lebensunfähigkeit bedroht ist, hat Plessner in der inneren Teleologie und der „Entelechie als Seinsmodus“ gefunden, d. h. in Aristotelischen Konzepten, die er sich in einer gänzlich neuen Weise angeeignet hat.³⁶ Was beide Konzepte vereint, ist ihre Abstinenz gegenüber äußeren Faktoren; so kritisiert Plessner einerseits Drieschs Entelechie-Begriff wegen der Einführung eines Naturfaktors³⁷ und begreift andererseits die innere Teleologie der Selbstvermittlung des Lebewesens zur Ganzheit als eine gleichermaßen selbstbezügliche wie dem Positionsfeld gegenüber offene, die in keinem den Organismus von außen harmonisierenden „Faktor“ gründet. Dass die „innere Teleologie“ und die „Entelechie als Seinsmodus“ nicht bloß die Tatsache des Gelingens der organismischen Selbstorganisation begrifflich dekorieren, zeigt sich vor allem in Plessners Begriff der harmonischen Äquipotentialität, also der Realisierung der Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit durch die und in der Vertretung des Ganzen in seinen Teilen. Was damit ohne Widerspruch zum antagonistischen Charakter der Selbstvermittlung erklärbar wird, ist z. B. das ansonsten schwer begreifliche angesprochene Phänomen der Organintegration.³⁸ Die harmonische Äquipotentialität ist eine spezifische Konkretionsgestalt der „inneren Teleologie“ und der „Entelechie als Seinsmodus“, die verstehbar macht, was in einer bloß physiologischen Analyse lediglich feststellbar und in Prozesse zerlegbar bleibt. Mit dem Begriff der harmonischen Äquipotentialität deutete sich bereits an, dass Plessners Begriff der seienden Möglichkeit, den er in den Stufen später an wenigen Stellen    

Vgl. 4.10.1. Vgl. Kapitel 4.10.2 und 4.10.4. Vgl. S. 237. Vgl. S. 240 f.

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Schlussbetrachtung

verwendet, von zentralerer Bedeutung sein könnte als die Anzahl der Verwendungen desselben vermuten lassen. Harmonische Äquipotentialität zielt auf „Kannqualität als Seinsqualität“.³⁹ Die Analyse der „Kannqualität als Seinsqualität“, die den Organismus in seiner Selbstorganisation betrachtet und die Organe als die den Organismus räumlich zum Positionsfeld in Beziehung setzende Kontaktstelle, musste um eine Betrachtung der Rolle der Zeit in der Selbstorganisation ergänzt werden.⁴⁰ Plessner hat in diesem Zusammenhang den Begriff der „Zeithaftigkeit des lebendigen Seins“ eingeführt, deren genaue Analyse den Schlüssel zu Plessners Ontologie der Potenzialität bildet. Der inneren Teleologie gemäß wird das lebendige Sein nicht als auf eine noch nicht reale, aber in ihrer manifesten Gestalt vorbestimmte Zukunft bezogen verstanden, sondern es wird als ein in seiner über sich selbst hinaus seienden Gegenwärtigkeit von seiner Zukunft her indefinit bestimmtes und daher zukunftsfundiertes Sein aufgewiesen.⁴¹ Ein solches Sein lässt sich zwar auch dem klassischen Entelechie-Begriff gemäß als Übergang von Potenzen zu Akten beschreiben, wobei jeweils der Akt des Telos der Potenz bildet. Indem Plessner aber die Zukunft als die Gegenwart immanent fundierendes Moment des lebendigen Seins begreift, schöpft er gerade den Sinn des Entelechie-Begriffs tiefer aus als die gesamte Tradition vor ihm es getan hat, denn Erfüllung wird dann als das Woraufhin des Gegenwärtigen in seinem zukunftsfundierten Sich-Vorweg-Sein selbst gedacht. Die Teleologie ist deshalb im eigentlichen Sinne eine „innere“ Teleologie. Akt und Potenz sind dann keine Zustände mehr wie noch bei Aristoteles und auch keine Seinsmodi wie bei Edith Stein, sondern sie gehen in die Zukunftsfundiertheit und die Zeithaftigkeit des lebendigen Seins als ontologische Strukturmomente desselben ein. Akt und Potenz sind dann außerdem keine distinkten, in zeitlicher Relation zueinander stehende Zustände, sondern in der Zeithaftigkeit gründende Momente des Lebendigen überhaupt, weil jegliche Aktualität in sich potenziell ist aufgrund ihrer Nicht-Abgeschlossenheit und jede Potenzialität überhaupt erst eine solche dadurch ist, dass sie in sich über sich hinaus ist, und zwar auf ihr Nochnicht hin, ohne dass dieses Nochnicht ein konkretes Etwas und damit im Sinne der klassischen Determination als geschlossenes Telos zu denken wäre. Die in ihrer komplizierten dialektischen Struktur entfalteten Bestimmungen sind phänomenologische Charakteristika des Lebendigen, das seiende Möglichkeit ist, weil es nicht als beliebige Möglichkeit erscheint (sonst wäre seine Erscheinung in sich unbestimmt und semantisch indifferent), und seiende Möglichkeit, weil der Cha-

 SOM: 172.  Hierzu und zum Folgenden vgl. Kapitel 4.10.5 und 4.10.6.  Vgl. S. 243 ff. – Das Folgende fassen die Kapitel 4.10.4 und 4.10.5 zusammen.

Schlussbetrachtung

403

rakter der Lebendigkeit seinem Erscheinen als Ausdruckshaftigkeit und damit als Über-sich-hinaus-Sein eingeschrieben ist.⁴² Ausführlich offenzulegen, was hier verkürzt umrissen wurde, war der Sinn der Kapitel 4.10.4 und 4.10.5. Die Zeithaftigkeit zielt also anders als die Zeitlichkeit auf eine für den Organismus konstitutive Vorweg-Struktur, in der jedoch die Bezüge zum Raum und damit zum Lebensraum des Organismus, den Plessner gemäß dem positionalen Charakter des Lebens Positionsfeld nennt, nicht untergehen. Um die Zeithaftigkeit des lebendigen Seins mit der Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit wieder zusammenzuführen, mussten wir die konstitutive Bezogenheit des Organismus auf das Positionsfeld in einer Präzisierung von Plessners Vorwegsein entfalten. Dazu war es nötig, dieses Vorwegsein als Sich-Vorwegsein-Zu zu spezifizieren.⁴³ Damit ist Plessners Ontologie des Organischen resümierend als Ontologie der Potenzialität umrissen. Den Begriff der seienden Möglichkeit hat Plessner in seiner Ontologie des Organischen eingeführt. Hier ging es darum, diesem Begriff den Status eines systematischen Grundbegriffs in Plessners Philosophie zu verleihen. Im nächsten Schritt war die Frage zu stellen, ob der Begriff der seienden Möglichkeit nicht auch als eine ontologische Bestimmung des Menschen fungieren könne. Der positiven Beantwortung der Frage galt Kapitel 4.13, wo der Begriff der seienden Möglichkeit als eine Was-Bestimmung und daher als eine ontologische Bestimmung ausgewiesen wurde, die als Komplement der exzentrischen Positionalität als einer „strukturfunktionalen“ (Krüger) Bestimmung verstanden werden muss. Seiende Möglichkeit bzw. reale Potenz erweist sich als eine ontologische Bestimmung, welche den „aufschließend-exponierenden“ Wert der exzentrischen Positionalität nicht unterminiert, sondern die Sphäre des Menschen mit der Sphäre des Organischen begrifflich in eine Ebene rückt, ohne sie gleichzuschalten und um ihre spezifische Differenz zu bringen. Bisherige Versuche, Plessner als Denker des Politischen zu lesen – die Kritik einiger Ansätze findet sich in Kapitel 5.1. – haben sich oft am in Macht und menschliche Natur eingeführten Begriff der Unergründlichkeit orientiert. Wir haben uns demgegenüber an Krügers Begründung des Politischen im Ausgang vom Spiel von Leibsein und Körperhaben orientiert und den Verschränkungsbegriff durch den Begriff des Ausgleichs ersetzt,⁴⁴ weil Letzterer bei Plessner auf mehreren Ebenen bei Plessner zur Anwendung gelangt, nämlich sowohl in der Analyse der antagonistischen Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit als auch in  Vgl. dazu das Beispiel der Furcht auf S. 253 f.  Vgl. Kapitel 4.15.  Zur Mehrfältigkeit des Ausgleichsbegriffs vgl. Kapitel 5.2.2, auf das hier überaus kursorisch Bezug genommen wird.

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Schlussbetrachtung

der Entfaltung des Spiels von Leibsein und Körperhaben. Auf dieser Grundlage war es uns möglich, die Ontologie des Organischen und das in der Struktur der Körperleiblichkeit gründende privat-öffentliche Doppelgängertum als Binnendifferenzierungen einer naturphilosophischen Ontologie zu fassen. Eine zentrale Rolle in dieser Neulektüre Plessners spielte die konsequent medientheoretische Auffassung der Sprache und des Körperleibs. Dadurch war es im Anschluss an Krüger möglich, die Sprache neu als „mediale Materialisierung der exzentrischen Positionalität“ zu fassen, statt die exzentrische Positionalität so fundamental wie üblich zu verstehen, wodurch man schnell in das Dilemma gerät, das Verhältnis zwischen der exzentrischen Positionalität und der Sprache – gerade wenn man von der weithin akzeptierte Fundamentalität Letzterer anerkennt – nach der Henne-oder-Ei-Frage zu modeln. Der Anschluss an Krügers Auffassung von Leib und Körper als „Aspektrichtungen“ hat uns außerdem in einem darüber hinausgehenden Schritt ermöglicht, die mediale Struktur der Körperleiblichkeit und das privat-öffentliche Doppelgängertum mittels des in dieser Untersuchung kodifizierten und der phänomenologischen Systematik Plessners verpflichteten Begriffs der „Sinnrichtungen“ des Öffentlichen und Privaten in ihrer unaufhebbaren Komplementarität zu erfassen. Die „Ausdrücklichkeit als Lebensmodus des Menschen“⁴⁵ ließ sich mittels dieser Weichenstellungen auf eine weitreichende, die Ontologie des Organischen und das privat-öffentliche Doppelgängertum als einen organischen Zusammenhang begreifende, Grundlage stellen. Dabei zeigte sich, dass die ontologische Bestimmung des Menschen als seiende Möglichkeit sich konsequent nur denken lässt, wenn die Körperleiblichkeit, welche den Ansetzungspunkt innerhalb der Ontologie des Organischen bildet, nicht als factum brutum, sondern als mediales Substrat elementarer Verkörperungen aufgefasst wird, die sich selbst wiederum in anderen Medien wie der Sprache und der Mitwelt notwendig komplementär verkörpern. Seiende Möglichkeit ist der Mensch dann, weil er nicht Mensch sein kann, ohne sich zu verkörpern, und sich nicht jenseits der seiner Körperleiblichkeit eingeschriebenen Sinnrichtungen des Öffentlichen und Privaten verkörpern kann, die in den Medien des Körperleibs, der Sprache und der Mitwelt sich codieren. Dabei war es nötig, den Begriff der Potenzialität in doppelter, positiver wie negativer, Weise zu fassen: (1) Als liminale Potenzialität,⁴⁶ die darin besteht, dass eine jegliche Verkörperung, unabhängig vom in ihr betriebenen Aufwand an Verleiblichung und

 SOM: 323.  Zum Folgenden vgl. Kapitel 5.8.1.

Schlussbetrachtung

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Versprachlichung, die (mitunter schicksalhafte) blanke Körperlichkeit des Leibes nicht aufheben kann. Die Verhaltensgrenzen, an welche Verkörperungen stoßen können und von Zeit zu Zeit stoßen müssen, finden – und dieser Ausdruck sagt das Entscheidende über unsere Verhaltensgrenzen aus – ihren Ausdruck im ungespielten Lachen und Weinen, d. h. im Antworten jenseits unserer Fähigkeit, intentional auf Situationen zu antworten. Wo die Verhaltensgrenzen von anderen wahrgenommen werden, tritt das Private öffentlich in seiner Verletzbarkeit zutage – aber zugleich als nicht bloß Privates, weil diese Verletzbarkeit kein Geheimnis Einzelner ist. (2) Als Potenzialität im Sinne des ausgleichenden Umgangs mit Begrenztheit, die Potenzialität dadurch potenziert, dass sie Begrenztheit vergegenständlichen und sprachlich sowie generell in Verhaltensspielen (z. B. in spielerischen Verkörperungen theatralischer Art) thematisieren und aufnehmen kann. Die Begrenztheit bleibt potenziell krisenhaft und wird doch zu einem Konstitutionsmoment der Person. Dabei geht es eher um die Integration der liminalen Potenzialität als um deren Kompensation.⁴⁷ In der Potenzierung von Potenzialität findet die Personalisierung und Individualisierung ihren Höhepunkt, welche sich sowohl im Medium des privat-öffentlichen Doppelgängertums bewegt als auch Privates und Öffentliches im begrifflichen Sinne konzeptualisiert, d. h. die Begriffe des Privaten und Öffentlichen erwirbt und von diesen her wiederum sich modelliert. Hierbei spielt die Sprache eine zentrale Rolle, weshalb wir sie in Kap. 5.8.2 als Medium der Potenzierung lebendiger Potenzialität bezeichnet haben. Weil die Sprache als mediale Materialisierung der exzentrischen Positionalität ein die menschliche Potenzialität formendes Moment von Verkörperungsleistungen im wörtlichen Sinne ist, handelt es sich bei der hier entfalteten Lesart nicht nur um eine Phänomenologie, sondern um eine Hermeneutik der menschlichen Natur. Eine solche Hermeneutik der menschlichen Natur muss eine (als generelle Hermeneutik der Natur auffassbar) phänomenologische Ontologie des Organischen enthalten. Diese hat uns zum Grundbegriff der seienden Möglichkeit führt, welcher in seiner humanspezifischen Transformation nicht zu einer semantisch neutralen Körperleiblichkeit führt, sondern zu einer in sich sinnhaften Körperleiblichkeit, in welcher menschliche Personen sich konstituieren und verkörpern. Die Explikation der immanenten Sinnhaftigkeit der Körperleiblichkeit führte uns auf das privat-öffentliche Doppelgängertum als die irreduzible strukturelle

 Auf das, was hier Integration genannt wird, zielt auch Krügers Begriff der Souveränität, vgl. Krüger 1999: 33, 155 und 179.

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Schlussbetrachtung

Grundlage von Personalisierung und Inividualisierung. Niemand kann jemand sein, ohne dies innerhalb der spannungsreichen Differenz zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen als den Sinnrichtungen der Aspektrichtungen des Leibes und des Körpers geworden zu sein. Eine Theorie der Politik folgt daraus nicht und lässt sich daraus auch nicht ableiten, aber keine Theorie der Politik sollte darüber hinwegsehen, dass sich das Verhältnis zwischen Öffentlichem und Privatem nicht eskamotieren oder marginalisieren lässt, weil wir im Spannungsverhältnis dieser Sphären überhaupt erst zu Personen geworden sind. Plessners Begriff der Potenzialität, darauf soll resümierend noch einmal kurz hingewiesen werden, stimmt mit dem Steins darin überein, dass beide Begriffe keine logische,⁴⁸ sondern ontologische Begriffe von Potenzialität sind. Doch Stein versteht die ontologische Möglichkeit immer noch als „Möglichkeit von“, d. h. als Möglichkeit der Person und des Geistes als deren Wesen. Eine ontologische Möglichkeit im Sinne Plessners ist erst sekundär eine „Möglichkeit von“, die eine solche nur sein kann, weil sie die Potenzialität eines Lebewesens ist, das als solches Potenz ist. Deshalb tritt der Begriff der seienden Möglichkeit bei Plessner bereits innerhalb der allgemeinen Naturphilosophie auf und spezifiziert sich im Menschen, statt die Differenz zwischen dem Menschen und den übrigen Lebensformen zu bilden, welche letztere nur begrenzt über Möglichkeiten verfügen und im kosmologischen Sinne umso mehr Potenz sind, je mehr ihnen Potenzialität abgeht. Wo Möglichkeiten wie sprachliche Vollzüge in einer ontologischen Potenzialität im Stile Plessners gründen, lassen sie sich von bloßen Optionen, d. h. diesen oder jenen sprachlichen Vollzügen, unterscheiden, die ein konsumistisches Derivat von Möglichkeiten im anspruchsvollen Sinn bilden. Die Grundlage einer Kritik von Möglichkeitskonzepten, die den Begriff der Möglichkeit kasuistisch-optionalistisch verballhornen, ist mit Plessners Konzeption gegeben. Die Fundamentalität des privat-öffentlichen Doppelgängertums setzt die Person in der Personalisierung und Individuierung dem Politischen im Sinne der Ermöglichungsbedingung von Politik aus. Dieses Ausgesetztsein ist ein (weder notwendig fatales noch notwendig nicht fatales) Fatum, auf welches die Lebensführung zu antworten hat, indem die Person sich ihm stellt, d. h.: indem sie den Zwang zur Personalisierung auch als Chance der Individualisierung begreift.⁴⁹ Dieser Ausgleich ist permanent zu vollziehen und in diesem Bemühen permanent vom Scheitern bedroht; Ausgleich bedeutet nicht Stillstand, sein Resultat ist kein Endzustand. Auch wo der Ausgleich im Einzelnen versöhnlich geleistet werden

 „Das ist keine bloß logische Möglichkeit, sondern eine reale: Der Kern der Person ist die Grundlage für ihr aktuelles Leben, er ist wirklich.“ (PuA: 129)  Vgl. S. 283, wo die Untrennbarkeit von Zwang und Chance thematisiert wird.

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kann, findet keine Versöhnung statt. Darin trifft sich Plessner, wenn auch mit völlig anderer Akzentuierung, mit Adorno, und darin unterscheidet er sich wiederum grundlegend von Edith Stein, welche eine Entschärfung der Lebensführung durch die erlösende Glaubensgewissheit für möglich hält: Als das, was im Glauben für wahr gehalten wird, wird der Inhalt der Offenbarung bezeichnet. […] Die Glaubensgewißheit ist aber eine ganz andere als die der natürlichen Erkenntnis, sie ist die festeste Gewißheit, deren wir in statua viae teilhaftig werden können, und wird von keiner natürlichen Erkenntnis erreicht.⁵⁰

Wegen der Verbindlichkeit der Glaubensgewissheit und die Unverlierbarkeit der Seele bleibt das Individuum seiner seelischen Konstitution wie seiner praktischen Pflichten nach unaufhebbar auf Gott verwiesen: „Der Mensch ist nur durch Gott, und ist, was er ist, durch Gott. Weil er Geist und weil er als Geist mit dem Licht der Vernunft, d. h. dem Abbild des göttlichen Logos, ausgerüstet ist, kann er erkennen.“⁵¹ Es gerät dadurch in Konflikt mit dem Staat, der das Prinzip der Gesellschaft repräsentiert, sofern der Staat sich gesetzlich über den Glauben zu erheben versucht: „So kann der Staat schließlich auch Kultusformen und öffentliches Bekenntnis zu irgendeiner Konfession vorschreiben oder verbieten. Aber auf das Verhältnis der Seele zu Gott kann kein Gebot oder Verbot einer äußeren Macht einen Einfluß üben.“⁵² Diese Konfliktträchtigkeit gründet in der theologischen Identität der menschlichen Person, aus welcher Stein eine klare normative Priorität ableitet: Jeder Mensch untersteht zunächst und vor allem dem höchsten Herrscher, und daran kann kein irdisches Herrschaftsverhältnis etwas ändern. Wenn der Gläubige einen Befehl von Gott empfängt – sei es unmittelbar im Gebet, sei es durch Vermittlung seiner Stellvertreter auf Erden –, so muß er gehorchen, gleichgültig, ob er damit dem Willen des Staates zuwiderhandelt oder nicht.⁵³

Die normative Priorität der Glaubensgewissheit gegenüber dem politischen Leben deckt sich genauso gut mit der Aufforderung zum Widerstand gegen einen „gottesfeindlichen“ Staat wie mit dem Rückzug der Seele in ihr natürliches Milieu, die Gemeinschaft. Die in Kapitel 3.9. angesprochene Gegenüberstellung von Individuum/Gemeinschaft und Gesellschaft lässt darauf schließen, dass auch der im Glauben gründende Widerstand gegen den „falschen“ Staat sich bei Stein nur

   

Stein 2005: 32. AmP: 9. Stein 2006c: 86. Ebd.: 127.

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Schlussbetrachtung

politisch transformieren lässt, wenn Staat und Gesellschaft als das kalte und mechanische Prinzip kurzerhand identifiziert und in Opposition gegen die Gemeinschaft gebracht werden, denn Stein kann die Gesellschaft nicht als „Bündnispartner“ der Individuen denken: „Die Besonderheit der Gesellschaft sehen wir darin, daß in ihr – im Gegensatz zur Gemeinschaft – die Individuen wohl füreinander Objekt, aber eben Objekte und nicht wie in der Gemeinschaft mitlebende Subjekte sind.“⁵⁴ Hier wird zwar nicht der soziale Radikalismus beschworen, aber weil die Gemeinschaft der einzig mögliche „Bündnispartner“ des Individuums ist,⁵⁵ bleiben politisch zwei Optionen für den Krisenfall: der fluchtartige Rückzug in die Gemeinschaft (als Rückzug ins Kloster von Stein gelebt) oder eben doch – unter der Voraussetzung, kein Übergang von der Gemeinschaft zur Gesellschaft, d. h. keine Vergesellschaftung von Gemeinschaft, möglich ist – der Gemeinschaftsradikalismus. Der (proto‐)politische Gegensatz zu Steins Glaubensgewissheit ist im Denken Plessners das Ausgesetztsein der Person: in der Lebensführung und, noch elementarer, in der Körperlichkeit des Leibkörpers, dessen Leidensfähigkeit ihre eigenen Offenbarungen parat hält. Das privat-öffentliche Doppelgängertum ist der Name der Situation des unaufhebbaren Ausgesetztseins, in welcher das Existenzelle der Körperleiblichkeit und das dem Existenziellen nicht enthobene Zeremonielle der Personalisierung und Individualisierung aufgrund der strukturellen Verfasstheit der Ontologie des Ausgleichs und ihrer medialen Vermitteltheit durch den Körperleib sich kreuzen. Die Gewissheit, die uns Plessner zufolge mit der privat-öffentlichen Doppelgängerstruktur der Körperleiblichkeit gegeben ist, ist dennoch keine geringe; in ihr materialisiert sich die exzentrische Positionalität medial und die aus dieser Struktur sich ergebende Position, die Plessner als die unsrige bestimmt, ist zugleich eine Aufgabe: Ohne Gewißheit der Binnenlage meiner selbst in meinem Körper keine Gewißheit unmittelbaren Ausgeliefertseins meiner selbst als Körper an Wirkung und Gegenwirkung der anderen körperlichen Dinge. Und umgekehrt: Ohne Gewißheit des Draußenseins meiner selbst als Körper im Raum der körperlichen Dinge keine Gewißheit des Drinseins meiner selbst in einem Leib, d. h. keine Beherrschung des eigenen Körpers, keine Abstimmung seiner Motorik auf die Umgebung, keine ,richtige Auffassung‘ von der Umgebung. Eines läßt sich nicht vom anderen trennen, eines bedingt das andere, wie es von ihm bedingt wird. Mit gleichem Recht hält jedes Individuum an der absoluten Beziehung der Umwelt auf seinen Leib bzw. auf das ,in‘ ihm beharrende Zentrum von Wahrnehmen, Denken, Wollen (sein Ich) fest, wie es sie

 Ebd.: 7.  Kollektiver Widerstand setzt Solidarität voraus, doch eine solche ist nur in Gemeinschaften möglich: „In der Gesellschaft ist jeder absolut einsam, eine ,Monade, die keine Fenster hat‘. In der Gemeinschaft herrscht Solidarität.“ (IuG: 111)

Schlussbetrachtung

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zugunsten der relativen Gegenseitigkeitsbeziehung aller Dinge, einschließlich des Leibes (mitsamt seinem Ich) preisgibt. Diese Position, Mitte und an der Peripherie zugleich zu sein, verdient den Namen der Exzentrizität.⁵⁶

Bewältigen lässt sich diese Situation nur in Form von Ausgleichsleistungen. In der genetisch-strukturellen Betrachtung der Personalisierung, wie sie sich vom privatöffentlichen Doppelgängertum als einer Spezifikation der hier angesprochenen Situationen her zeigt, bildet sich die oft leichtfertig verkürzte Relation von Gemeinschaft und Gesellschaft in der Gemeinschaft selbst bereits ab: Auch in der Gemeinschaft sind wir immer in unserer Körperlichkeit, mit unserer öffentlichen Hälfte den Anderen ausgesetzt ohne Geborgenheitsgarantie. Auch in der Gemeinschaft personalisieren und individualisieren wir uns, indem wir uns notgedrungen bereits vergesellschaften. Indem wir dies vorrangig oder nahezu ausschließlich in der Gemeinschaft machen, retten wir nicht unsere Innerlichkeit oder unsere Seele, sondern wir trivialisieren das privat-öffentliche Doppelgängertum, welches für uns konstitutiv ist, im Lebensvollzug: Die Gemeinschaft wird dem Privaten und Heimeligen, die Gesellschaft dem Öffentlichen und Bedrohlichen bzw. Fremden zugeordnet. Wo die oben von Plessner angesprochene Situation angenommen wird und das Individuum sich ihr in der Lebensführung stellt, verschwindet die Dichotomie. Weil die Ontologie des Ausgleichs keinen durch die Seele oder Gott garantierten finalen Ausgleich bereithält, bleibt nur das Wagnis der Unergründlichkeit, denn die Unergründlichkeit ist wie die in der Struktur von Personalität gründende Notwendigkeit, unsere konstitutive Unfertigkeit immer wieder zu Ausgleichen zu bringen, Zwang und Chance. Ihr wird man nicht durch Zwang gerecht, und sie ist als Chance vertan, wo Personen sich auf Halbheiten vereidigen lassen. In ihrem Kern findet die Person Plessner zufolge nicht zu sich und/oder zu Gott, sondern sie stößt auf das, was das Politische wie ihre eigene Lebensführung als Zwang und Chance erscheinen lässt, nämlich die in ihrer Natur gründende Unergründlichkeit, der sie ausgesetzt ist, indem sie auch der Welt ausgesetzt ist: „Als ein in der Welt ausgesetztes Wesen ist der Mensch sich verborgen – homo absconditus. Dieser ursprünglich dem unergründlichen Wesen Gottes zugesprochene Begriff trifft die Natur des Menschen.“⁵⁷

 LuW: 373 f.  Plessner 2003p: 365.

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