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German Pages 160 Year 2015
Michael Dürfeld Das Ornamentale und die architektonische Form
2008-04-10 13-27-36 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 033d175785883300|(S.
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Für die vertrauensvolle Unterstützung danke ich meinen Eltern und meiner Frau.
Michael Dürfeld (Dr.-Ing.) ist Architekturwissenschaftler und lebt in Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Interferenz von Architekturtheorie, Kunsttheorie und Systemtheorie.
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Michael Dürfeld Das Ornamentale und die architektonische Form. Systemtheoretische Irritationen
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Michael Dürfeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-898-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALT EINFÜHRUNG Ornament & Entwurf Vom Ornament zum Ornamentalen 11 Zur Aktualität des Ornamentalen 11 | Die vergessene Neue Ornamentik 15 | Der Luhmann’sche Ornamentbegriff als Scharnier 21
GRUNDLAGEN Systemtheorie & Architektur Von einer kategorialen zu einer operativen Architekturtheorie 27 Systemtheorie als Beobachtungsinstrumentarium 27 | Raum als Medium 32 | Allgemeine Systemtheorie und rationale Planungsmethodik 38 | Entwerfen als Formbildungsprozess 43
FACETTEN Ornament & Wahrnehmung Zur Fundierung des Ornamentalen 55 Ordnungswille und Ornamentik bei August Schmarsow 55 | wahrnehmen – rechnen – ordnen – ornamentieren 60 | Die Abwertung des Ornamentalen in der Moderne 68 | Kosmos – Vom Ordnungssinn im Ornamentalen 72
Ornament & Kalkül Zur Formulierung des Ornamentalen 79 Das Ornamentale und das Mathematische bei Paul Valéry 79 | Kunstwerk und Ornament als Unterscheidungskette 83 | Die Laws of Form 88 | Formenkalkül und Evolution 92
Ornament & Geometrie Zur Form des Ornamentalen 97 Symmetrie und Rapport 97 | Rhythmus, Dynamik, Ordnung 104 | Fraktale Ornamentik und Virtualität 109
Ornament & Struktur Zur Funktion des Ornamentalen 113 Die Struktur/Ornament-Figur in der Architektur 113 | Neue Ornamentik 117 | Das Ornamentale als inneres Ornament 121 | Atmosphäre 126
AUSBLICK Ornament & Theorie 131
Literatur 145
Für meinen Bruder
»Vielmehr fasziniert mich die Idee, daß eine Theorie wie eine Praxis komplizierter wird, wenn man ihr die Möglichkeit läßt, ihre eigenen Aussagen nach ihren eigenen Standards zu verbessern.« (Niklas Luhmann)
( ,1)h+581*
ORNAMENT & ENTWURF Vom Ornament zum Ornamentalen
»Rehabilitieren lässt sich nicht das Ornament, aber das Ornamentale.« (Hoffmann 1970: 12)
»Die Grundform des Entwickelns von Formen aus Formen ist das […] Ornament.« (Luhmann 1995: 193/194)
Zur Aktualität des Ornamentalen Spätestens seit der Fertigstellung des Ricola-Lagerhauses 1991 durch das schweizerische Architekturbüro Herzog & de Meuron entwickelte sich Anfang der 90er Jahre in der architektonischen Entwurfs- und Baupraxis ein neues Interesse an ornamentalen Form-Experimenten. Während in der von der sogenannten Postmoderne beeinflussten Architektur der 80er Jahre das Ornament v.a. Verwendung fand, um sich von der klassischen Architektur der Moderne abzugrenzen, findet es in den Projekten von Herzog & de Meuron als ein Oberflächenphänomen an der minimalistischen Box seinen Ort im Diskurs der Moderne. Da der Ornamentträger – das Gebäude – solchermaßen in der Tradition des klassisch-modernen Formenvokabulars verankert wurde, konnte das Phänomen Ornament nicht mehr allein einer historisierenden Architektur zugeordnet und in eine Abseite des Architekturdiskurses geschoben werden. Zehn Jahre später versucht die Zeitschrift l’architecture d’aujourd’hui (vgl. l’architecture d’aujourd’hui 2001) mit einer Ausgabe über das Ornament die vielfältigen ornamentalen Experimente in der Architektur der 90er Jahre zu überblicken. Dabei zeigt sich ein unübersichtliches Feld verschiedenster ornamentaler Phänomene: ornamentale Bauplastiken, reliefartige Oberflächenstrukturierungen, konstruktive malerische Wandornamentierungen und Bodenornamentierungen. Weniger in diesen vorge11
DAS ORNAMENTALE UND DIE ARCHITEKTONISCHE FORM
stellten Projekten, die doch – was vielleicht einem eher französischen Geschmack zu schulden ist – dekorative Aspekte des Ornamentalen betonen, als in den Textbeiträgen wird die Mannigfaltigkeit ornamentaler Phänotypen erst richtig deutlich. Dabei wird das Ornament in Beziehung zu anderen Phänomenen gestellt: zur Morphologie und Morphogenese lebender Organismen, zur architektonischen Struktur dekonstruktivistischer Architekturen, zum Detail, zum Tattoo und zur Camouflage, zur Grundrissfigur eines Hauses oder einer ganzen Stadt und zum Graffiti. Die dazu herangezogenen Referenzen und Belege verteilen sich zeitlich über die gesamte Geschichte der Architektur und des Kunsthandwerks und über alle Kontinente hinweg. Nach Durchsicht des Heftes bleibt ein unzufriedener Eindruck: Weder zeigt sich eine spezifisch architektonische Dimension des Ornamentalen, noch lässt sich ein für die 90er Jahre typisches Ornamentprofil herauslesen.1 In Anbetracht dessen kann man von einer neuen Unübersichtlichkeit ornamentaler Erscheinungen in der Architektur sprechen und es stellt sich die Frage, wie diese so unterschiedlichen Ornamentphänomene noch mit einem Ornamentbegriff gefasst werden können. Eine Ornamentinterpretation als Schmuck und Verzierung, wie sie sich in den Architekturdiskurs eingeschrieben hat, wird auf jeden Fall den vielfältigen Phänomenen des Ornamentalen nicht gerecht. Ohne eine grundlegende Reformulierung des Ornamentbegriffs – so der Anfangsverdacht – wird man die so unterschiedlichen Ausprägungen und Funktionen des Ornamentalen in der Architektur nicht in den Be-Griff bekommen. Beobachtet man die architekturtheoretischen Forschungen, die sich seit den letzen fünf Jahren verstärkt mit dem Phänomen der Neuen Ornamentalität beschäftigen, so fällt auf, dass sie alle die neue Aktualität des Ornamentalen mit dem zeitgleichen Interesse am architektonischen Entwurfsprozess als einem Formfindungsprozess verbinden. Dabei erhält der Begriff der Entwurfsstrategie eine starke Prominenz (vgl. Daidalos 1999, Thesis 1999, Baumeister 2000, Banse/Friedrich 2000). Entwurfsstrategien bezeichnen »das Instrumentarium, mit dessen Hilfe der Architekt zu seiner Form gelangt und zugleich den Versuch, sich von diesem Instrumentarium und seiner Anwendung zur Steuerung des Entwurfsprozesses einen Begriff zu machen. Sie bezeichnen die methodische Disziplin, die sich der Architekt selbst auferlegt, und den Versuch, in dem Entwurfsprozess eine gewisse methodische Stringenz zu erkennen« (Confurius 1999: 4). Die Einbettung des Ornamentalen in den architektonischen 1
Dies wird noch verstärkt, indem der Bereich der Architektur großzügig einerseits zum Möbeldesign und andererseits zur künstlerischen Plastik erweitert wurde und mit Ettore Sottsass und Robert Venturi zudem eher typische Positionen der 80er Jahre erscheinen. 12
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Entwurfsprozess führt zu einer Verwendung des Ornamentbegriffs als einem Beobachtungsinstrumentarium heterogenster architektonischer Entwurfsstrategien: für minimalistische, poststrukturalistische und biomorphe Strategien gleichermaßen, wobei jeder Forschungsansatz ein eigenes Ornament-Profil entwickelt: ein minimalistisches Ornament, ein kritisch-performatives Ornament oder ein metaphorisches Ornament. Ein kurzer Blick auf die drei Ornamentkonzepte macht ihre Unterschiedlichkeit deutlich. Das Konzept eines minimalistischen Ornaments hat die Architekturtheoretikerin Margit Ulama ausgearbeitet (vgl. Ulama 2002).2 In der grundsätzlichen Konzeption und Rezeption, die die einfache Gestalt in unterschiedlichsten Relationen betrachtet, sieht sie eine Verwandtschaft zwischen der Kunst der 60er und der Architektur der 90er Jahre. Die Arbeiten von Donald Judd, Robert Morris und Carl André aus den 60er Jahren werden Bauwerken von Herzog & de Meuron, Riegler Riewe und Elsa Prochazka gegenübergestellt. Alle diese Arbeiten stellen den Wahrnehmungsprozess in den Vordergrund und die Behandlung und Gestaltung der Oberfläche des Gebäudes erhält eine entscheidende Bedeutung. Das Ornamentale als die klassische Domäne der Oberflächengestaltung, das traditionell der Faszination der Wahrnehmung diente, erhält so eine neue Relevanz: Die minimalistische Box wird mit einer ornamentalen Hülle überzogen. Mit der Differenz von Ornament und Ornamentträger, bzw. ornamentaler Hülle und minimalistischer Box, ordnet sich zudem diese Ornamentlesart in eine architekturtheoretische Tradition ein, die in Böttichers Unterscheidung von Kern- und Kunstform und Sempers Bekleidungstheorie ihren Ursprung hat. Der Bezug auf die minimal art zeigt, dass die Funktion des Ornamentalen dabei weniger in Dekoration, noch in Material- oder Funktionsgerechtigkeit, als in einer Faszination der Wahrnehmung gesehen wird: Je intensiver die Faszination der Wahrnehmung, umso komplexer wird das Verhältnis von Hülle und Kern. Doch nicht nur für minimalistische Entwurfsstrategien, sondern auch für so scheinbar gegensätzliche dekonstruktivistische – genauer: kritischperformative – Entwurfsstrategien wird eine neue Relevanz des Ornamentalen beobachtet. So geht Jörg H. Gleiter in seinem Buch Rückkehr des Verdrängten – Zur kritischen Theorie des Ornaments in der architektonischen Moderne (vgl. Gleiter 2003) von der These vom Statuswandel des Ornaments in der architektonischen Moderne aus. Am Punkt des technologischen Paradigmenwechsels wird das Ornament im Spannungs2
Schon 1995 zeigte die Architekturzeitschrift ARCH+ über das schweizerische Architekturduo Herzog & de Meuron in seinem Untertitel Ornament und Minimalismus einen Weg auf, das Phänomen Ornament mit einer minimalistischen Entwurfsstrategie zu verbinden (vgl. ARCH+ 1995). 13
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feld zwischen der Maschinenproduktion zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der Virtualisierung der Kultur im Computerzeitalter diskutiert, d.h. zwischen der vermeintlichen Abschaffung des Ornaments durch Loos und Eisenmans performativen Entwurfsverfahren. Jörg Gleiters Untersuchungen stehen in der Tradition einer kritischen Theorie des Ornaments, die Michael Müller 1977 mit seinem Buch Die Verdrängung des Ornaments (vgl. Müller 1977) begründet hat. Mit Hilfe von Psychoanalyse, Semiotik, Rhetorik, kritischer Theorie und poststrukturalistischen Überlegungen versucht Gleiter die Frage zu entwickeln, inwiefern die Ornamentproblematik der Moderne nicht als Vorgeschichte zur spezifischen Problematik der medialisierten Massenkultur und ihrer digitalen Bildlogik heute zu lesen wäre. Neben minimalistischer Box und dekonstruktivistischem Labyrinth erhält das Ornamentale auch für den organischen Blob ein neue Relevanz zugeschrieben. So erscheint im gleichen Jahr wie Margit Ulamas Aufsatz über das minimalistische Ornament in der Ausgabe der Architekturzeitschrift ARCH+ mit dem Titel Formfindungen das Ornamentale im Zusammenhang mit der Diskussion um den zum Biomorphismus gemauserten Blob (vgl. ARCH+ 2002). Und auch hier geht es primär um Formfindungsstrategien, diesmal jedoch in einem Spektrum von biomorph bis technoform. In dem Versuch, eine Entwicklung von der geometrischen Form durch konstruktiv/ingenieurwissenschaftliche Entwurfsstrategien (z.B. eines Buckminster Fuller) zur dynamisierten Form durch evolutionäre Entwurfsstrategien (z.B. eines Makoto Sei Watanabe) aufzuzeigen, besetzt das Ornamentale den entscheidenden Zwischenschritt der metaphorischen Form. Wenn die Redakteure formulieren, dass die metaphorische Form das Thema der Formfindung um die Frage der Rhetorik erweitert und in deren Gefolge auch das Ornamentale wiederkehrt, wird die ornamentale Form als eine spezifisch künstlerische Form gekennzeichnet. In einer solchen künstlerischen Produktionsstrategie sitzt das Ornamentale zwischen technoformen und biomorphen Entwurfsstrategien. Damit befindet es sich aber auch im Interferenzbereich zweier grundlegender Architekturkonzeptionen: einmal in einer Konzeption von Architektur als Technik, ein anderes Mal in einer Konzeption von Architektur als Natur. Entsprechend bedeutet dies für den architektonischen Entwurfsprozess, dass er sich im Interferenzbereich von systemischer Konstruktion und evolutionärer Selbstorganisation bewegt, und genau dazwischen befindet sich das Ornamentale (vgl. Dürfeld 2003). Da jeder Ansatz sein eigenes ganz spezielles Ornamentprofil entwickelt, welches nicht auf die anderen Ornamentphänomene übertragbar ist, bleibt die Frage nach einem Ornamentbegriff, der gleichermaßen alle verschiedenen Phänomene zusammen fassen kann, weiterhin unbeant-
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wortet. Gerade die Unterschiedlichkeit der Entwurfsstrategien, für die dem Ornamentphänomen eine Relevanz zugesprochen wird, lässt darauf schließen, dass das Verhältnis von Ornamentalität und Entwurf ein sehr viel grundsätzlicheres ist. Um eine gemeinsame Basis dieser heterogenen Ornamentprofile herzustellen, bedarf es folglich einer Untersuchung, die genereller das Verhältnis von Ornament und Entwurf beobachtet. Die enge Verbindung von Ornament und Entwurf veranlasst dazu, eine Begriffsverschiebung vom Ornament zum Ornamentalen vorzunehmen. Damit soll deutlich werden, dass der Untersuchungsgegenstand nicht länger das Ornament als ein Schmuck- und Verzierungselement, sondern das Ornamentale als eine spezifische Qualität des architektonischen Entwurfsprozesses ist. Des Weiteren lassen die obigen drei Entwurfsstrategien, indem sie alle das Ornamentale nicht nur mit dem architektonischen Entwurfsprozess im Allgemeinen, sondern zu künstlerischen Produktionsstrategien im Besonderen in Verbindung bringen – zur Produktionsstrategie der minimal art, zur Verfremdungsstrategie der russischen Formalisten oder zu rhetorischen Verfahren –, die spezifische Qualität des Ornamentalen für den architektonischen Entwurfsprozess im Künstlerischen vermuten. Wenn das Ornamentale eine spezifisch künstlerische Qualität des architektonischen Entwurfsprozesses beschreibt, ergeben sich zwei zentrale Fragestellungen: Zum einen muss nach der künstlerischen Qualität des Ornamentalen im Allgemeinen gefragt werden. Hier geht es darum, eine Vorstellung zu entwickeln, wie Ornamentalität als grundlegendes Prinzip der künstlerischen Formengenerierung beobachtet werden kann. Zum anderen muss nach der spezifisch architektonischen Qualität des Ornamentalen gefragt werden. Hier geht es um mögliche Konsequenzen für den architektonischen Entwurfsprozess und sein Verhältnis zum Prinzip Ornamentalität, die durch einen solchermaßen reformulierten prozessorientierten Ornament-Begriff entstehen.
Die vergessene Neue Ornamentik Ist die neue Unübersichtlichkeit der 90er-Jahre-Ornamentalität ein wirklich neues Phänomen, oder muss nicht mit einem Blick auf die Ornamentdebatte der 60er und 70er Jahre eher von einer ›neuen‹ Neuen Ornamentik gesprochen werden? Interessante Parallelen zu der Situation Mitte der 60er Jahre weisen sich auf: Ein gutes halbes Jahrhundert nach Adolf Loos’ Verdikt über das Ornament mussten Architekten und Planer damals feststellen, dass in der gestalteten Umwelt eine ungeahnte Präsenz ornamentaler Formen zu beobachten war. Materialgerechtigkeit, Konstruktionsreinheit und Funktionalität waren schon lange keine Garan-
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ten mehr für architektonische Schönheit, die ohne Ornament auskam; vielmehr gerieten diese Kategorien ebenso in den ornamentalen Formenrausch: Im Materialkult feierte der ornamentale Reiz gemusterter Oberflächen seine Triumphe, die expressiv übersteigerte Konstruktion, die ihr Gefüge exhibitionistisch vorwies, nahm ornamentalen Charakter an und wo das Ornament im alten Sinn verschwunden war, gebärdete sich die reine Form ornamental. Es war die Ausstellung ornament ohne ornament?, die 1965 den Versuch unternahm, diese unterschiedlichen Phänotypen des Ornamentalen auf einen Genotyp zurück zu führen.3 Damals wurde der Genotyp in der mathematischen Symmetrieoperation gesehen. Geradezu überrascht stellte man fest, dass den verschiedenen Erscheinungsformen aus der Welt der Natur und der Technik oft gleiche oder verwandte Gesetzmäßigkeiten des formalen Aufbaus innewohnen. Das Ornamentale erschien dabei – vom Formalen her betrachtet – als Teil eines komplexeren Ganzen: der Symmetrie. Mit dem Zurückführen des Ornamentalen auf die mathematische Symmetrie-Struktur verschob sich der Beobachtungswinkel auf das Ornament: Nicht mehr länger stand seine Schmuckfunktion im Vordergrund, sondern die sehr viel allgemeinere und abstraktere Funktion der Formengenerierung wird zum Ausgangspunkt aller folgender Betrachtungen. Damit vollzieht sich schon hier eine erste grundlegende Verschiebung vom Ornament zum Ornamentalen. Gleichzeitig verschaffte man sich die Möglichkeit für ein Vergleichskriterium ornamentaler Erscheinungen in der Natur und Kultur, ohne auf die vielfältigen Zeichen-, Symbol- oder Zweck-Funktionen des Ornamentalen eingehen zu müssen. Das ornament ohne ornament wurde zu einem »Sammelbegriff, der Formen der Natur sowie funktionelle und künstlerische Formen umfasst, welche mathematisch gesehen die Symmetriestruktur gemeinsam haben« (Buchmann 1965: II, 29). Während in der Züricher Ausstellung mit Hilfe des Symmetriebegriffs versucht wurde, die neuen ornamentalen Erscheinungen an das klassisch-moderne Formenvokabular zurück zu binden, versucht der Urbanist Jürgen Claus mit dem Begriff des strukturellen Ornaments (Claus 1970: 49)4 geradezu eine Expansion der Kunst voran zu treiben: Action – Environment – Kybernetik – Technik – Urbanistik sind die Gebiete, in denen sich das strukturelle Ornament im Rahmen einer Strategie der Strukturen ausbreitet. Das Ornament wird zu einem strategischen Mittel, 3
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Hier ist auch eine Abbildung des Gullideckels zu finden, dessen ornamentales Muster Herzog & de Meuron als Fassadenmotiv für das Wohn- und Geschäftshaus Schützenmattstraße in Basel 1992-1993 benutzen werden (Buchmann 1965: I, 27). Den Begriff des strukturellen Ornaments prägte Jürgen Claus für einen Raum der Biennale in San Marino im Juli 1967. 16
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die Welt der Erscheinungen zu strukturieren. Entsprechend sieht auch Claus im Ornament nicht länger mehr ein Schmuckelement, sondern sehr viel genereller eine ordnende Gestaltqualität – genauer: Das Ornament wird zur Gestaltqualität einer Struktur. Der Kunsttheoretiker Klaus Hoffmann geht 1970 mit seiner Konzeption einer Neuen Ornamentik für den Kunstdiskurs einen entscheidenden Schritt weiter: Er grenzt sich nicht nur gegen eine alte Ornamentik ab, die sich als Schmuck und Verzierung sieht, sondern auch dezidiert gegen die Ornamentik der klassischen Moderne von 1900-1960. Die Neue Ornamentik, die Klaus Hoffmann für eine Richtung in der bildenden Kunst der 60er Jahre als charakteristisch betrachtet, beschränkt sich entsprechend »weder auf eine untergeordnete Verzierungsrolle noch lediglich auf eine Gliederung bekannter Gegenstände, ebenso wenig auf eine Variation der herkömmlichen Ornament-Muster« (Hoffmann 1970: 12). Der Unterschied zwischen der Ornamentik der klassischen Moderne und der seit den 60er Jahren liegt Hoffmann zufolge darin, dass die klassische Moderne das Ornamentale als Hilfsmittel zur Erlangung des Ziels ›Abstraktion‹, ›Konkretion‹, ›Formell‹ oder ›Informell‹ zu sehen wäre, während die Neue Ornamentik über dieses Potential nun frei verfügen kann. Das Ornament ist somit von jeglicher Funktionalisierung befreit. Hoffmann folgert daraus: »Rehabilitieren lässt sich nicht das Ornament, aber das Ornamentale« (ebd.). Die Rehabilitierung des Ornamentalen versucht Hoffmann nun mit den in den 60er Jahren aktuellen Theorien von französischem Strukturalismus (Claude Levi-Strauss, Roland Barthes, Pierre Francastel), deutscher Strukturforschung (Carl von Lorck, Willi Drost) und Informationsästhetik (Kurd Alsleben, Max Bense)5 begrifflich zu fassen und stellt die entscheidenden Weichen für einen prozessorientierten Ornamentbegriff. In Anbetracht dieser Parallelen erstaunt es, dass die aktuellen Auseinandersetzungen nicht nur die Ornamentdebatte, sondern fast die gesamte Praxis und Theorie der Architektur der 60er/70er Jahre auffallend unbehandelt lassen: Die Konzeption eines minimalistischen Ornaments greift zwar explizit auf eine künstlerische Produktionsstrategie der 60er Jahre zurück und kann damit sehr eindrücklich die Verschiebung von einer eher fremdreferentiellen Wahrnehmung in der ersten Moderne6 zu einer primär selbstreferentiellen Wahrnehmung in der zweiten Moderne7 betonen, jedoch bleibt die Frage nach dem Ornamentalen sowohl in der 5 6 7
Mit einzelnen Verweisen auf McLuhan und Wittgenstein. D.h. die minimalistische Box wird als Zeichen für Verzicht und Reduktion wahrgenommen. D.h. die minimalistische Box wird als Objekt zur Faszination der Wahrnehmung wahrgenommen. 17
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minimal art als auch in der Architektur der 60er Jahre unbearbeitet. Auch wenn die Untersuchung zu einer kritischen Theorie des Ornaments den Zeitraum von Adolf Loos’ Ornamentverdikt bis zu Peter Eisenmans performativen Entwurfsstrategien überspannt und über einen eher kulturwissenschaftlichen Diskurs auf einen Statuswandel des Ornaments hinweisen kann, so bleibt doch weitestgehend unbehandelt, inwieweit daran gerade auch die praktischen und theoretischen Experimente der 60er und 70er Jahre beteiligt waren. Noch am intensivsten diskutiert werden die Entwicklungen der 60er und 70er Jahre in der ARCH+, jedoch will dort der Bezug zwischen dem eher naturwissenschaftlichen Diskurs und dem künstlerischen Phänomen des Ornamentalen nicht recht gelingen, so dass die Teile unverbunden nebeneinander stehen bleiben. Doch auch die kunsttheoretisch bzw. kunsthistorisch geprägte Ornamentdiskussion führt das Projekt der 60er Jahre – das Phänomen der Neuen Ornamentalität einer Nach-Moderne umfassend in den Griff zu bekommen – nicht weiter. Stattdessen geht man einen Schritt zurück und untersucht nun zunächst das Ornamentphänomen als einen Katalysator der Moderne. Der Ornamentbegriff wird als ein Schlüsselbegriff für die Genese der Moderne aus dem 19. Jahrhundert heraus beobachtet. Die seit Mitte der 80er Jahre erscheinenden Aufsatzsammelbände zur Ornamentdiskussion bearbeiten diese Thematik in verschiedenen Facetten: So legt der Band Ornament und Askese von 1985 (Pfabigan) den Schwerpunkt auf Adolf Loos und das Wien der Jahrhundertwende, während der 1993 erschienene Band Kritische Theorie des Ornaments (Raulet/Schmidt) den Beobachtungszeitraum einerseits auf das 18. Jahrhundert ausweitet und andererseits einige Überlegungen aus dekonstruktivistischer Sicht einführt.8 Der Aufsatzband Ornament und Geschichte von 1996 (Franke/Paetzold) sowie der 2001 veröffentlichte Band Die Rhetorik des Ornaments (Frank/Hartung) beschäftigten sich wiederum ausschließlich mit Studien zum Strukturwandel des Ornaments in der Moderne. Selbst die poststrukturalistisch geprägten Beiträge in dem 2001 veröffentlichten Sammelband Vom Parergon zum Labyrinth (Raulet/Schmidt) stellen keine Verbindung zu der strukturalistisch geprägten Diskussion einer Neuen Ornamentik her. Auch bei den jüngsten kunsthistorisch geprägten Monografien zum Ornamentdiskurs in der Architektur verbleibt man bei der Frage nach der Relevanz des Ornamentalen für die Moderne: So untersucht die amerikanische Kunsthistorikerin Debra Schafter in ihrem 2003 erschienenen Buch The order of ornament, the structure of style. Theoretical foundations of modern art and architecture (Schafter) die Interde8
Im Aufsatz Die Gewaltstruktur des Ornaments in dekonstruktivistischer Sicht von Burghart Schmidt findet man einen der wenigen Hinweise auf die Diskussion der Neuen Ornamentik (vgl. Schmidt 1993). 18
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pendenzen zwischen den Ornamentdefinitionen Ruskins, Owen Jones’, Sempers und Riegls und den damals aktuellen Theoriemodellen in der Botanik, Linguistik und Psychologie. Ihr Hauptinteresse gilt dabei der Tatsache, dass im Rahmen der Suche nach einem neuen, umfassenden Stil das Ornament am Ende des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen Forschungsgegenstand wurde, da man es als reinste Verkörperung von Stil betrachtete. Auch die Kunstgeschichtlerin Maria Ocòn Fernàndez deutet in dem ein Jahr später erschienenen Buch Ornament und Moderne (Fernández) den Ornamentdiskurs als das Feld, innerhalb dessen einige zentrale Fragen der Moderne zuerst diskutiert wurden. Der Untersuchungszeitraum hier umfasst den Ornamentdiskurs von 1850 bis 1930. Es ist bezeichnend, dass Fernandez bei ihrem Überblick der Rezeptionsgeschichte der Moderne in der Ornamentforschung die Ornamentdiskussion Mitte der 60er bis Anfang der 70er Jahre als unbedeutend betrachtet und lediglich in einer Fußnote erwähnt. Ihr Einstiegspunkt in die Diskussion liegt erst Ende der 70er Jahre mit Michael Müllers 1977 veröffentlichter Monographie Die Verdrängung des Ornaments (Müller) und Ernst H. Gombrichs großer Zusammenstellung The Sense of Order von 1979 (Gombrich). Dieser kurze Überblick zeigt nur allzu deutlich, dass es sich bezüglich einer kritischen Betrachtung des Projekts der Neuen Ornamentik um eine Forschungsleerstelle handelt. Mit der Vernachlässigung der 60er/70er Jahre entgeht jedoch den Untersuchungen eine entscheidende Phase in der Ornamentdiskussion. Denn schon hier wurde die Frage aufgeworfen, was denn mit dem Phänomen des Ornamentalen in Kunst und Architektur passiert, wenn es – nach Vollendung der Moderne spätestens Ende der 50er Jahre – seiner Funktion als Katalysator der Moderne beraubt ist. Welche Funktionen und welche Ausprägungen übernimmt das Ornamentale in einer Nach-Moderne?9 Ohne auf die Ausstellung ornament ohne ornament (1965) und die dort propagierte mathematische Symmetriestruktur des Ornaments, ohne auf Jürgen Claus’ Konzeption eines strukturellen Ornaments (1967) im Rahmen einer Strategie der Strukturen und ohne auf Klaus Hoffmanns Neue Ornamentik (1970) einzugehen, bleibt sowohl eine Untersuchung über die Beziehung zwischen einer künstlerischen Produktionsstrategie der 60er Jahre und architektonischen Entwurfsstrategien der 90er Jahre, als auch eine Untersuchung über die Entwicklung von einem objektfixierten zu einem prozessualen Kunstwerkbegriff anhand eines Statuswandels des Ornaments, wie auch Untersuchungen über den Einfluss neuer Naturwissenschaften auf den Ornamentbegriff unvollständig.
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Vom Ornamentalen als Katalysator der Moderne gelangt man so zum Ornamentalen als Katalysator des Entwurfes. 19
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Dass das Ornament-Projekt der 60er Jahre scheiterte, zeigt nur allzu deutlich die postmoderne Ornamentik in der Architektur der 80er Jahre, die das Ornament in der Mehrzahl wieder als Schmuck- und Verzierungselement betrachtet, welches – noch im besten Fall mit einer ironischen Zeichenfunktion ausgestattet – am Bauwerk appliziert wird (vgl. Jensen/Conway 1982). Das Scheitern ist jedoch kein Grund für eine Indifferenz gegenüber sämtlichen dort vollzogenen Forschungen, vielmehr erfordert es die Situation, nach den Gründen des Scheiterns zu fragen. Dass Klaus Hoffmann sein Konzept einer Neuen Ornamentik 1970 nicht weiter ausführte und es stattdessen bei Hinweisen beließ, lag weniger an der Aktualität der Theorien, d.h. an deren relativer Unerprobtheit, sondern eher daran, dass der strukturalistische Schwerpunkt der verwendeten Theorien für die entscheidenden Problemkomplexe eines prozessorientierten Ornamentbegriffs (noch) kein entsprechendes Instrumentarium bereitstellen konnte. Denn das Dilemma strukturalistischer Theorien liegt darin, dass sie ein statisches Modell anbieten, welches verschiedene Ordnungsmodelle beschreiben kann (Chaos – Ordnung, Entropie – Negentropie) und die Richtung einer Entwicklung angeben kann, d.h. vom Chaos zur Ordnung oder umgekehrt, aber gerade nicht beschreiben kann, wie der Prozess von Chaos zu Ordnung, von Entropie zu Negentropie verläuft. Anders formuliert: Strukturalistischen Theorien entgeht der Blick auf den Prozess der Transformation, sie stehen vor dem Problem, nur Endzustände bzw. Richtungen erfassen zu können, aber nicht Prozesse der Transformation. Entsprechend statisch ist dann auch die Struktur des verwendeten Ornamentmodells. Wenn man denn das Projekt der 60er Jahre fortführen will – und einiges spricht dafür, dass es sehr aufschlussreich für unsere heutige Situation sein wird – dann benötigt man ein theoretisches Begriffsinstrumentarium, welches die Aporien strukturalistischer Forschungsansätze überwindet und Begriffe bereitstellt, die – wie Jürgen Claus 1970 formulierte – dem Prozesscharakter des künstlerischen Werkes entsprechen. Nun beschränkt sich das Dilemma strukturalistischer Theorien nicht auf das Ornamentphänomen, sondern ist ein generelles wissenschaftstheoretisches Problem und entsprechend führt dies verstärkt Anfang der 60er Jahre in den verschiedensten Wissenschaften zu einem Paradigmenwechsel, der – schon etwa seit der Jahrhundertwende vorbereitet – an verschiedenen Phänomenen ablesbar wird: In der Physik hat die Chaosforschung den Wechsel von einem statischen zu einem dynamischen Weltbild beschleunigt, in der Biologie wurde der Paradigmenwechsel mit der Verschiebung des Konzepts der Selbstorganisation zum Konzept der Autopoiesis vollzogen, H. v. Foerster stellte die Kybernetik erster Ordnung auf eine Kybernetik zweiter Ordnung um, in der Mathematik wird der Paradigmenwechsel mit der Entdeckung der
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fraktalen Geometrie virulent, in der Erkenntnistheorie wird von einer phänomenbezogenen zu einer operativen, konstruktivistischen Wahrnehmungstheorie umgestellt und in der Philosophie markieren dekonstruktivistische Theorien den Paradigmenwechsel. In der Architektur fand der Paradigmenwechsel seinen Ausdruck im Wechsel von strukturalistischen zu poststrukturalistischen Entwurfsstrategien im Sinne einer Prozessualisierung der Architektur seit etwa Mitte der 80er Jahre. In der Architekturtheorie orientierte man sich diesbezüglich einerseits am Dekonstruktivismus eines Jacques Derrida und andererseits am Konstruktivismus der Neuen Naturwissenschaften. Die eingangs herausgearbeiteten Konzepte eines kritisch-performativen und eines metaphorischen Ornaments markieren Ergebnisse dieser beiden Richtungen. Dabei übersah man jedoch bis heute, dass neben dem dekonstruktivistischen Ansatz Derridas und dem konstruktivistischen Ansatz der Neuen Naturwissenschaften ein weiterer Theorieansatz zur Verfügung steht, der durch eine intensive Auseinandersetzung mit den erkenntnistheoretischen Aporien strukturalistischer Theorien ein ausgezeichnetes Begriffsinstrumentarium für die Beschreibung von Prozessen der Transformation herausgebildet hat: die Systemtheorie Niklas Luhmanns.
Der Luhmann’sche Ornamentbegriff als Scharnier Bei einer systemtheoretischen Beobachtung des Problems ist nicht nur von Interesse, dass die Systemtheorie ein Beobachtungsinstrumentarium für Prozesse der Transformation an die Hand gibt, sondern auch wie die Systemtheorie dieses Instrumentarium konstruiert – d.h. aus welchen Bausteinen sie besteht. Anders als bei den oben genannten Wissenschaften, die den Paradigmenwechsel fachintern vollzogen haben, entnimmt Niklas Luhmann nämlich die theoretischen Ressourcen für den Paradigmenwechsel nicht der fachsoziologischen Überlieferung, sondern den oben genannten verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen: Evolutionstheorie, Theorie autopoietischer Systeme, Komplexitätstheorie, Kommunikationstheorie, Chaostheorie und Kybernetik zweiter Ordnung führt Luhmann von außen in die Soziologie ein und baut sie in sein Konzept einer Gesellschaftstheorie ein. Mitte der 80er Jahre wird die Systemtheorie mit differenz- und beobachtungstheoretischen Komponenten angereichert und führt sie in die Nähe einer Logik der Differenz. Genau diese erkenntnistheoretische Positionierung der Systemtheorie Niklas Luhmanns zwischen einerseits (radikalem) Konstruktivismus und andererseits Dekonstruktivismus macht sie für eine architekturtheoretische Rezeption interessant: Ermöglicht das doch gerade ein Anknüpfen an die Ende der
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80er Jahre verstärkt einsetzende architekturtheoretische Rezeption sowohl dekonstruktivistischer Theorien v.a. in Anschluss an Jacques Derrida als auch konstruktivistischer Theorien v.a. aus dem Forschungsbereich der Neuen Naturwissenschaften. Die theoretischen Ressourcen der Luhmann’schen Systemtheorie von der Komplexitätstheorie zur Evolutionstheorie sind ja seit den 60er Jahren in der Architekturtheorie immer wieder als Irritationspotential benutzt worden. Mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns als einem Beobachtungsinstrumentarium verfügt man jedoch einerseits über eine hochauflösende Theorie der Differenz, jenseits einer Rhetorik der Differenz, und andererseits über grundlegende konstruktivistische Konzepte, jenseits bloßer Analogien und Metaphern. Was für den Inhalt und die Konstruktion der Theorie gilt, trifft gleichermaßen auch für den Ornamentbegriff bei Niklas Luhmann zu: In der scheinbar so lapidaren Ornamentdefinition als Grundform des Entwickelns von Formen aus Formen, die Niklas Luhmann in der Kunst der Gesellschaft gibt, sind die gesamten theoretischen Ressourcen der Systemtheorie komprimiert enthalten. Wenn Luhmann nur einige Zeilen später formuliert, dass als spezifisch künstlerische Organisierung der Medien Raum und Zeit das Ornamentale dient, dann zeigt sich nicht nur ein Ornamentbegriff, der als grundlegendes künstlerisches Generierungsprinzip interessante Überschneidungen zu den hier entwickelten Prolegomena zum Verhältnis von Ornament und Entwurf aufweist, sondern auch ein kleines aber entscheidendes Scharnier zwischen Systemtheorie und Architekturtheorie. Vor einer intensiven Auseinandersetzung mit diesem Scharnier muss das Vorhaben einer ›Anwendung‹ von soziologischer Systemtheorie in der Architekturtheorie in einem Gesamtrahmen kritisch eingeordnet werden. Dass eine Reflexion und Rezeption der Systemtheorie in der Architekturtheorie keineswegs selbstverständlich ist, zeigt nur allzu deutlich die fast vollständige Indifferenz der Architekturtheorie gegenüber der Systemtheorie Niklas Luhmanns. In dem folgenden Grundlagenteil wird deshalb zunächst eine methodische Einordnung des Vorhabens durchgeführt. Als Konsequenz aus dem Befund einer fehlenden Rezeption der Luhmann’schen Systemtheorie in der Architekturtheorie werden einigegrundlegende Interferenzbereiche von Achitekturtheorie und Systemtheorie thematisiert. Im Hauptteil der Forschungsarbeit werden vier Facetten des Luhmann’schen Ornamentbegriffs entfaltet. Dafür wird die Luhmann’sche Ornamentdefinition fallweise in klassische architekturtheoretische Themenkomplexe dekomprimiert. Auf diesem Wege wird zum einen herausgearbeitet, wie Luhmann bezüglich Fundierung, Formulierung, Form und Funktion des Ornamentalen auf jeweils unterschiedliche, aber sich ergänzende theoretische Konzeptionen zurück-
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ORNAMENT & ENTWURF
greift. Zum anderen werden daran anschließend Anknüpfungspunkte eines solchermaßen prozessorientierten Ornamentbegriff für die Architekturtheorie herausgearbeitet. Auch wenn die hier angestellten Beobachtungen zum Ornamentbegriff grundlegend formentheoretische Untersuchungen sind und als solche noch keine systemtheoretischen, so intendieren sie doch auch schon immer den systemtheoretischen Blick auf die Architektur. Dies macht die ganz spezifische Scharnierfunktion des Luhmann’schen Ornamentbegriffs aus. Die in dieser Untersuchung angestellten architekturtheoretischen Beobachtungen zum formentheoretischen Ornamentbegriff in der Systemtheorie Niklas Luhmanns können deshalb auch als Grundlage für eine systemtheoretische Beobachtung der Architektur betrachtet werden. Für die Architekturtheorie wird damit die Möglichkeit bereitgestellt, zum einen den differenztheoretischen Formbegriff in der Architektur zur Anwendung zu bringen und zum anderen dieses Potential für Untersuchungen zu einer Architektur der Gesellschaft zu nutzen.
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SYSTEMTHEORIE
& ARCHITEKTUR
Von einer kategorialen zu einer operativen Architekturtheorie
»Es geht also, was Kunst betrifft, nicht um eine hilfreiche Theorie. [...] Denn auch dies ist eine Konsequenz aus der allgemeinen Theorie funktionaler Gesellschaftsdifferenzierung: dass eine Direktsteuerung eines Funktionssystems durch ein anderes ausgeschlossen ist, dass aber zugleich die wechselseitige Irritabilität zunimmt.« (Luhmann 1995: 9)
»Denn auch die Architektur muß unanschaulich werden, um zu entdecken, nicht was und warum sie ist, sondern wie sie zustande kommt.« (Baecker 1990a: 88)
Systemtheorie als Beobachtungsinstrumentarium Obwohl die Luhmann’sche Systemtheorie – wie der erste flüchtige Blick in der Einführung gezeigt hat – einige Anknüpfungspunkte für eine interessante Rezeption in der Architekturtheorie bereithält, ist der Architekturdiskurs durch eine nahezu konsequente Indifferenz bezüglich der Luhmann’schen Systemtheorie geprägt.10 Für diese Rezeptionssituation ist der Zeitpunkt nicht unbedeutend, zu dem Niklas Luhmann grundlegende Umbauten und Transformationen an der allgemeinen Systemtheorie hin zu einer Theorie sozialer Systeme durchführt:
10 Vereinzelte Bezugnahmen auf Luhmanns Systemtheorie gibt es im Rahmen der Schrumpfungsdebatte (vgl. Fitz 2005 und Sewing 2005). 27
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»Von einer organismischen Theorie offener Systeme wurde sie zu einer kybernetischen Theorie geschlossener Systeme. Von einer handlungsorientierten Theorie wurde sie zu einer autopoietischen Kommunikationstheorie. Von einer realistischen Theorieform gelangte sie zu einer konstruktivistischen, die ihr ontologisches Fundament gegen ein epistemisches vertauschte.« (Huber 1996: 104)
Als Luhmann Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre diese Updates durchführte, war einerseits die allgemeine Systemtheorie als eine technizistische Planungstheorie im Auftrag eines Funktionalismus in der Architektur diskreditiert, andererseits sträubte man sich energisch gegen jede professionelle soziologische Beeinflussung von Außen. Stattdessen wurden Felder der Sozial- und Geisteswissenschaften durch die Architekturtheorie besetzt, was zu einer Architektonisierung sozialer Diskurse und zu einem »metaphysischen Vorgang der Transsubstantiation von Sozialem in Gebautes« (Sewing 1997: 85) führte. Als Folge davon sind die entscheidenden Weiter- und Umbauten durch Luhmann zu einer Theorie sozialer Systeme im Architekturdiskurs entsprechend nicht mehr wahrgenommen worden. Seit 1976 beobachtet Niklas Luhmann in Form von Vorträgen und Aufsätzen die Kunst unter immer wieder anderen, sehr spezifisch systemtheoretischen Blickwinkeln: So fragt er zunächst nach dem für das Kunstsystem spezifischen symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium (vgl. Luhmann 2001a). Mitte der 80er Jahre lotet dann Luhmann die Möglichkeit aus, die Theorie autopoietischer Systeme (vgl. Luhmann 1986) auf die Kunst zu übertragen. Daran anschließend führt Luhmann zunächst die Medium/Form-Unterscheidung (vgl. Luhmann 2001b), die er von Fritz Heider übernommen hatte, und dann den differenztheoretischen Formbegriff (vgl. Luhmann 1990) von George Spencer Brown in kunstspezifische Überlegungen ein. Evolutionstheorien (vgl. Luhmann 1993a) und Differenzierungstheorien (vgl. Luhmann 1994) sind die beiden letzten Einzelthemen, die Niklas Luhmann bearbeitet, bevor er 1995 schließlich die Monografie Die Kunst der Gesellschaft veröffentlicht11. Ausgehend von der Hypothese, »daß die Einheit der Kunst erst im Zuge der funktionalen Ausdifferenzierung eines Kunstsystems entstanden ist 11 Mit der Monografie entfällt jedoch keineswegs die Relevanz der vorherigen Aufsätze und Vorträge. Sie müssen vielmehr als eine Ergänzung betrachtet werden, da längst nicht alles in die Monografie Eingang gefunden hat. Eine Herausforderung an die Architekturtheorie läge dann darin, jede dieser Einzelbeschäftigungen auf eine architekturtheoretische Relevanz zu überprüfen. Im Rahmen dieser Arbeit können nur unsystematisch einzelne Punkte herausgegriffen werden. 28
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und darin ihren Grund hat« (Luhmann 1995: 290), ordnet Niklas Luhmann die Architektur in das Kunstsystem ein – genauer: Die Architektur wird als Teil des Teilsystems Bildende Kunst des Kunstsystems eingeordnet: »Der Trend zur Einzigartigkeit des Kunstwerks bei Generalisierbarkeit seiner thematischen Bedeutung setzt die Ausdifferenzierung eines autonomen Kunstsystems voraus. Das Kunstsystem ist in seiner Einzigartigkeit und thematischen Offenheit, in seiner operativen Konkretion und in seinem Unfestgelegtsein zugleich das, was in jedes einzelne Kunstwerk hineincopiert wird. Wenn dies aber durch die Reproduktion der Grenzen des Systems ermöglicht wird, die mit jedem Einzelwerk (mit allen kunstspezifischen Beobachtungsoperationen) vollzogen wird, kommt es dafür auf die Art der Materialisierung des Beobachtens nicht mehr an. Die Gelegenheiten, die das Material bietet, mögen sich nach wie vor unterscheiden, und daraus können sich einleuchtendere oder weniger einleuchtende Chancen für die Realisierung von Kunst ergeben. Aber wenn sich darauf hin ein Literatursystem, ein Musiksystem, ein System für bildende Künste ausdifferenzieren, dann nur als Teilsystem des Kunstsystems.« (Ebd.: 292)
Dies gibt jedoch inhaltlich weit weniger Anknüpfungspunkte einer architekturtheoretischen Anwendung an die Hand als zu erwarten wäre, denn die Verweise auf die Architektur in der Kunst der Gesellschaft sind nur sehr spärlich und völlig unausgearbeitet. Sein Belegmaterial entnimmt er vornehmlich aus der Malerei und der Literatur. Hier kommt wohl besonders stark das Desinteresse Luhmanns an räumlichen Ordnungen zum Tragen. So gibt er in einem Interview mit H. D. Huber 1990 zu, dass er immer schon Schwierigkeiten mit räumlichen Ordnungen habe: »So gern ich in Brasilien bin und mich für die politischen Verhältnisse dort interessiere, aber Brasilien als Einheit interessiert mich nun wieder nicht. Oder nehmen Sie die Stadt Bielefeld, das ist kein System. Also alle räumlichen, regionalisierenden Einheiten interessieren mich nicht so sehr. Wie man sich über Raum im Verhältnis zu Kommunikation Gedanken machen kann, das ist z.B. so ein Bereich.« (Huber 1991: 132/133)
Bei diesem geringen Interesse an der Architektur ist es nicht weiter verwunderlich, wenn Luhmann vollständig darauf verzichtet, zu problematisieren, ob und unter welchen Bedingungen die Architektur überhaupt zur Kunst gerechnet werden kann. Aber wenn Architektur nicht zum Kunstsystem gerechnet wird, wie und wo verortet man sie stattdessen in der Gesellschaft? Ist Architektur nur eine Technik, die – wie Dirk Baecker in seinem Aufsatz Die Dekonstruktion der Schachtel: Innen und Außen in der Architektur (vgl. Baecker 1990a) vorschlägt – sich durch das Bilden 29
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von Abschirmungen im Medium der Räumlichkeit eine eigene Form schafft? Kann man dann diese Technik einem oder mehreren Funktionssystemen zuschlagen? Oder muss man gar ein eigenständiges Funktionssystem Architektur annehmen? Zwar formuliert Dirk Baecker die Selbstreferenz der Architektur bewusst im Hinblick auf die Konstruktion von und die Kommunikation über Architektur, er lässt aber die Frage nach einem Sozialsystem Architektur bewusst offen. Kennzeichnend für ein Sozialsystem ist es, dass es nur aus Kommunikationen besteht. Architektur als soziales System zu betrachten hieße dann, dass nicht nur über Gebäude kommuniziert würde, sondern Gebäude selbst als Kommunikationen aufgefasst würden. Gerade aber weil Dirk Baecker die Selbstreferenz der Architektur im Hinblick auf die Konstruktion von und die Kommunikation über Architektur formuliert, liegt die Vermutung nahe, seine sehr konzentrierten und fundierten Ausführungen in diesem Aufsatz als Prolegomena zu einer Architektur der Gesellschaft zu lesen. In diesem Falle würde man die Architektur als ein eigenständiges Funktionssystem der Gesellschaft, wie das Wissenschaftssystem, das Politiksystem, das Wirtschaftssystem etc. beobachten. Für diese Variante stellen Dirk Baeckers Überlegungen interessante Ansatzpunkte bereit. So könnte man durchaus als einer Arbeitshypothese davon ausgehen, dass das spezifische Problem welches die Architektur als ein Funktionssystem der Gesellschaft für die Gesellschaft löst, und welches nur durch die Architektur gelöst werden kann und durch kein anderes System der Gesellschaft, der Entwurf und die Produktion von Abschirmungen im Medium der Räumlichkeit wäre. Der Code der Architektur wäre entsprechend die Unterscheidung Innen/Außen bzw. Schließung/Öffnung, das Medium wären die Abschirmungen und die Programme der Architektur könnte man vielleicht am treffendsten als Entwurfsstrategien bezeichnen. Um jedoch von einem Architektursystem sprechen zu können, müsste ein noch sehr viel umfangreicherer Kriterienkatalog abgearbeitet werden. Anhand eines solchen Kriterienkatalogs müsste u.a. geprüft werden, ob, seit wann und in welcher Form die Architektur eine eigene Geschichtsschreibung, eine eigene Reflexionstheorie, eigene Organisationen und eine eigene Profession herausgebildet hat. Das Vorhandensein von Architekturgeschichtsschreibungen, Architekturtheorien, Architektenkammern und Lehrstühlen an wissenschaftlichen Hochschulen lassen auf einen ersten flüchtigen Blick vermuten, dass diese Kriterien durchaus als erfüllt anzusehen wären, jedoch müsste dies alles sehr viel genauer ausgearbeitet werden. Wie schon hier deutlich wird, ergeben sich bei der Frage nach einer Architektur der Gesellschaft umfangreichste Forschungen, die nur in einer eigenständigen architektursoziologischen Arbeit bewältigt werden könnten.
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Da von Seiten der Architekturtheorie noch keine Anwendungsversuche systemtheoretischer Überlegungen vorliegen, muss ein kurzer Blick auf die Rezeption und Reflexion in der Kunst- und Literaturwissenschaft dazu dienen, die vorliegende Untersuchung weiter einzuordnen. Die kunst- und literaturwissenschaftliche Adaption der Luhmann’schen Systemtheorie beginnt – abgesehen von vereinzelten frühen Anwendungsversuchen – Mitte der 80er Jahre und hat einen Hochpunkt in den 90er Jahren. Bezüglich der Rezeptionsart unterscheidet der Literaturwissenschaftler Henk de Berg vier Adaptionstypen (vgl. de Berg 2000). Den ersten und wohl am weitesten verbreiteten Typus bezeichnet er als genetisch-soziologische Hermeneutik. Ihm geht es darum, literarische Texte vor dem Hintergrund des systemtheoretischen Gesellschaftsmodells zu interpretieren. Der zweite Adaptionstypus entwickelt Konzepte von Textverstehen auf der Basis von Luhmanns differenz- und beobachtungslogischen Überlegungen. Das Ziel besteht darin, das Verhältnis von Text, Kontext und Autorintention neu zu bestimmen. Der dritte Adaptionstypus stellt eine Verbindung von Luhmann’scher Systemtheorie und Empirischer Literaturwissenschaft dar und im vierten Adaptionstypus schließlich steht das Verhältnis von Bewusstsein und Kommunikation im Mittelpunkt. Insgesamt betrachtet, fällt dabei die vergleichsweise schwache Resonanz jener Untersuchungen Luhmanns auf, die sich spezifisch mit Fragen der Kunst befassen. Selbst dort, wo explizit auf sie verwiesen wird, stellen seine allgemeinen systemtheoretischen Konzepte zumeist die wichtigeren Argumentationsfiguren bereit. Die vorliegende Arbeit ist in den Grundzügen dem zweiten Adaptionstypus zuzuordnen, wobei jedoch explizit an einem kleinen aber entscheidenden Detail der Luhmann’schen Kunsttheorie – dem Ornament-Begriff – eingehakt und von dort aus weiter nach Konsequenzen für die Praxis und Theorie der Architektur gefragt wird. Aber auch ein Anwendungsversuch, der sich v.a. auf die im Luhmann’schen Ornamentbegriff steckenden formentheoretischen Überlegungen konzentriert, muss den Gesamtrahmen der systemtheoretischen Gesellschaftskonzeption beachten. Aus systemtheoretischen Überlegungen zur wechselseitigen Irritation operational geschlossener Systeme bedeutet dies, dass ein ›Theorie-Import‹ von einem System in das andere ausgeschlossen ist: »Es geht also, was Kunst betrifft, nicht um eine hilfreiche Theorie. Damit soll nicht ausgeschlossen sein, daß das Kunstsystem in seinen eigenen Operationen davon profitieren kann, ein Theorieangebot zu erhalten, das Kontext und Kontingenz der Kunst gesellschaftstheoretisch zu klären versucht. Aber ob eine solche Umsetzung gelingt oder durch welche Missverständnisse sie beflügelt werden kann, muß im Kunstsystem selbst entschieden werden. Denn ›gelingt‹ kann 31
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hier nur heißen: ›als Kunstwerk gelingt‹. [...] Denn auch dies ist eine Konsequenz aus der allgemeinen Theorie funktionaler Gesellschaftsdifferenzierung: dass eine Direktsteuerung eines Funktionssystems durch ein anderes ausgeschlossen ist, dass aber zugleich die wechselseitige Irritabilität zunimmt.« (Luhmann 1995: 9)
Die Luhmann’sche Ornament-Definition wird in dieser Studie als eine solche Irritation behandelt. Entscheidend für das Gelingen einer solchen Anwendung wird also sein, ob sich das neu hergestellte Begriffsnetzwerk für die Architekturtheorie bewährt. Das Interesse an einer systemtheoretischen Anwendung besteht in dem Versuch, das Irritationspotential des im Luhmann’schen Ornamentbegriff eingeschlossenen erkenntnistheoretischen Paradigmenwechsels in der Architekturtheorie freizusetzen. Dies ist gemeint, wenn von Systemtheorie als Beobachtungsinstrumentarium gesprochen wird. Als Konsequenz aus dem Befund einer fehlenden Rezeption der Luhmann’schen Systemtheorie in der Architekturtheorie werden im Folgenden einige grundlegende Interferenzbereiche von Architekturtheorie und Systemtheorie thematisiert.
Raum als Medium Ein Hauptproblem für die Rezeption der Luhmann’schen Systemtheorie in der Architekturtheorie besteht darin, dass einerseits der Raum spätestens für die Architekturtheorie der Moderne als eine oder sogar die bestimmende Kategorie gilt, aber andererseits Luhmann gerade versucht, »die Systemtheorie, als Grundlage der Gesellschaft so zu formulieren, dass sie in der Bestimmung der Gesellschaftsgrenzen nicht auf Raum und Zeit angewiesen ist« (Luhmann 1998: 30). Der Raum – so könnte man zuspitzen – hat keinen Ort in der Luhmann’schen Theorie, da soziale Systeme im Medium des Sinns arbeiten und damit nicht im Raum begrenzt sind. Dabei verändert das Konzept der selbstreferentiellen, operativen Geschlossenheit den Begriff der Systemgrenze: »Bei lebenden Systemen, also bei einer autopoietischen Organisation von Molekülen im Raum, kann man noch von räumlichen Grenzen sprechen. Ja, Grenzen sind hier besondere Organe des Systems, Membranen von Zellen, Haut von Organismen, die spezifische Funktionen der Abschirmung und der selektiven Vermittlung von Austauschprozessen erfüllen. Diese Form von Grenze (die natürlich nur für einen externen Beobachter sichtbar ist und im System einfach nur lebt) entfällt bei Systemen, die im Medium Sinn operieren. Diese Systeme sind überhaupt nicht im Raum begrenzt, sondern haben eine völlig andere, nämlich rein interne Form von Grenze. [...] Es gilt erst recht für das Kommuni-
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kationssystem Gesellschaft, wie seit der Erfindung der Schrift oder spätestens seit der Erfindung des Telefons evident ist. Die Grenze dieses Systems wird in jeder einzelnen Kommunikation produziert und reproduziert, indem die Kommunikation sich als Kommunikation im Netzwerk systemeigener Operationen bestimmt und dabei keinerlei physische, chemische, neurophysiologische Komponenten aufnimmt. Jede Operation trägt, anders gesagt, zur laufenden Ausdifferenzierung des Systems bei und kann anders ihre Einheit nicht gewinnen. Die Grenze des Systems ist nichts anderes als die Art und Konkretion seiner Operationen, die das System individualisieren. Sie ist die Form des Systems, deren andere Seite damit zur Umwelt wird.« (Ebd.: 76/77)
Die Dimension des Raumes wird somit in der Systemtheorie Luhmanns zu einer gänzlich vernachlässigbaren Dimension.12 Erst Mitte der 90er Jahre ist ein verstärktes Interesse von Seiten der systemtheoretischen Forschung am Begriff des Raums festzustellen. Ausschlaggebend war hier v.a. Luhmanns Buch Die Kunst der Gesellschaft, in dem er nämlich dem Raum zusammen mit der Zeit eine Medienqualität der Messung und Errechnung von Objekten zusprach. Eine Reihe von Aufsätzen nehmen diesen Gedanken auf, um zu versuchen, die so lange vernachlässigte Dimension des Raumes in die Systemtheorie einzubetten: Klaus Kuhm beschäftigt sich mit dem Raum als Medium gesellschaftlicher Kommunikation (vgl. Kuhm 2000), Rudolf Stichweh versucht anhand der Medium/Form-Differenz die klassischen Begriffe Raum, Region und Stadt in der Systemtheorie (vgl. Stichweh 1998) einzuordnen, Niels Werber untersucht medientheoretisch das Verhältnis von Raum und Technik (vgl. Werber 1998) und Alexander Filippov fragt: Wo befinden sich Systeme? (vgl. Filippov 2000). In diesen Aufsätzen geht es einerseits darum, der Systemtheorie den Raumbegriff einzuverleiben, und andererseits mit einer solchermaßen mit dem Raumbegriff erweiterten Systemtheorie eine Verbindung zur klassischen Stadtsoziologie wieder herzustellen. Entsprechend befassen sich diese Aufsätze weniger mit der Kunst oder der Architektur, sondern thematisieren Luhmanns Einordnung von Raum und Zeit als einer Medienfunktion. Entsprechend sind diese Untersuchungen auch entweder im Bereich der Medientheorie oder in einer Geschichte der soziologischen Raumtheorien (Simmel, Lefebvre, Giddens)
12 Raum, so Niklas Luhmann, werde dadurch konstituiert, dass man davon ausgeht, dass zwei verschiedene Dinge nicht zur gleichen Zeit die gleiche Raumstelle einnehmen können. Raumstellen organisieren in dem Sinne eine Widerspruchsvermeidung. Luhmann zufolge scheint der Raum damit das Grundmodell für die Entwicklung der Logik zu sein: »Am Raum lernt man Logik« (Luhmann 1987: 525). Einmal Logik erlernt, ist man jedoch im Folgenden nicht mehr auf Raum angewiesen. 33
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verortet. Wie Dirk Baecker jüngst in seinem Aufsatz Fraktaler Raum (vgl. Baecker 2004b)13 festgestellt hat, hat die soziologische Systemtheorie bis heute kein eigenständig ausgearbeitetes Raumkonzept entwickelt. Der Leichtigkeit, mit der man sich in unübersichtlichen Räumen bewegt oder verschachtelte Räume gestaltet, steht »ein Mangel an theoretischer Begrifflichkeit gegenüber, der zu beschreiben erlaubt, worin diese Raumdimension besteht, die man praktisch ohne größere Schwierigkeiten bewältigt« (Baecker 2004b: 215). Dirk Baecker spricht in diesem Zusammenhang auch von einer fraktalen Dimension des Raumes: »Nicht nur in der Physik, sondern auch in der Architektur, in der Stadtplanung, in den Kamerafahrten des Films und den Bühnenbildern des Theaters hat man es längst und hatte man es immer schon mit Räumen zu tun, in denen mit Verdichtung und Entspannung, Verschachtelung und Streckung, Beschleunigung und Verlangsamung gearbeitet wird, die die dritte Dimension gleichsam mehrfach und widersprüchlich in Anspruch nehmen, als könne sie zwischen der ersten, der zweiten und der vierten Dimension oszillieren, um sich schließlich irgendwo zwischen 3,4 und 3,7 einzupendeln. Mit einer Anleihe bei der Mathematik könnte man von einer ›fraktalen‹ Dimension des Raums sprechen und damit darauf hinweisen, dass die tatsächliche Dimension ausschließlich von den Fähigkeiten eines Beobachters abhängt, sich den Raum iterativ durch Schlussfolgerungen vom Detail aufs Ganze und wieder zurück aufs Detail zu erschließen – und dabei festzustellen, dass das Ganze seinen Ort ›selbstähnlich‹ im Detail hat und sonst nirgendwo vorkommt. Mit einer solchen Begriffsbestimmung würde man aus einer kategorialen Sprache der Beschreibung von Gegenständen in eine operative Sprache der Suche nach generativen Mechanismen von Phänomenen wechseln. Darauf ist man jedoch im Fall des Raums, der uns nach wie vor gefühlsmäßig eher ›umgibt‹, als dass wir ihn durch Blick und Bewegung, Abgrenzung und Richtung ›konstruieren‹, noch weiter entfernt als in anderen Fällen.« (Ebd.: 215/216)
Dirk Baecker greift hierfür auf die medientheoretische Konstruktion des Formbegriffs zurück. Dieser Formbegriff unterscheidet sich grundlegend von traditionellen Formbegriffen, da Form weder von Materie noch von Inhalt, sondern von Medium unterschieden wird. Die Unterscheidung Medium/Form bezieht sich auf den Aufsatz Ding und Medium (1926) des Psychologen Fritz Heider (vgl. Heider 2005), der die Unterscheidung zunächst für die Wahrnehmungsmedien des Sehens und Hörens ausgearbeitet hat. Heider hat die Unterscheidung benutzt, um die Wahrnehmung von Objekten zu erklären, die mit dem Körper nicht direkt in Kontakt 13 Auch Dirk Baeckers Aufsatz Fraktaler Raum ist in seinem Buch Wozu Soziologie? nicht dem Abschnitt Kunst, sondern dem Abschnitt Medien zugeordnet. 34
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stehen – wie z. B. die visuelle oder die akustische Wahrnehmung. Laut Heider ist diese Wahrnehmung dank eines Mediums (Licht oder Luft) möglich, das selbst nicht wahrgenommen wird, aber die Eigenschaften des betreffenden Objekts (die Formen) übermittelt, ohne sie zu verändern: unter normalen Bedingungen werden nicht das Licht oder die Luft wahrgenommen, sondern die von ihnen übermittelten Bilder oder Laute. Die Systemtheorie hat diese Gedanken aufgenommen und weiterentwickelt, um die für jede dingorientierte Ontologie zentrale Leitunterscheidung Substanz/Akzidenz oder Ding/Eigenschaft zu ersetzen.14 Als Medium wird entsprechend eine lose verknüpfte Menge von Elementen verstanden, die eine Mehrzahl von Verbindungen untereinander eingehen können. Werden die Elemente zu einer solchen Verbindung fest gekoppelt, spricht man von einer Form: »Eine Form ist eine feste Kopplung desselben Typs von Elementen, die im Medium lose gekoppelt vorliegen. Der Medienbegriff bestimmt sich demnach aus der Differenz zur Form, und dies als Differenz zwischen loser und enger Kopplung.« (Baecker 2002b: 111) Dabei verweist der Begriff der Elemente nicht auf naturale Konstanten, sondern auf Einheiten, die von einem Beobachter konstruiert, d.h. unterschieden werden, zum Beispiel die Worte in einem Text. Der Text kann dementsprechend als eine Form im Medium der Wörter betrachtet werden. Das einzelne Wort wäre demnach ein Element und das Medium des Textes besteht aus der Vielzahl von Worten. Die Aussage des Textes wird durch die Auswahl und spezifische Kopplung der Worte erreicht. Nur die Form also enthält eine Aussage, nicht schon die Elemente. Dieses sehr einfache Beispiel zeigt, dass Medien einschränken, was an Formen möglich ist. Die Worte schränken ein, was an Texten möglich ist. Als diese Einschränkung sind sie nicht die Ursache der Formen, sondern deren Voraussetzung: »Der Schwerpunkt dieses Medienbegriffs verlagert sich vom umgangssprachlichen Interesse an einer rätselhaften Vermittlung von Ursachen und Wirkungen auf eine Suche nach den Eigenschaften von Medien, die Formbildung möglich machen, ohne die Formen ihrerseits zu motivieren.« (Ebd.: 112) Des Weiteren zeigt sich, dass Formen immer stärker, also durchsetzungsfähiger als das Medium selbst sind. So wie Worte sich nicht gegen Satzbildung sträuben können, setzt das Medium den Formen keinen Widerstand entgegen. Weil das Medium aber nur eine lose Kopplung benötigt, ist es stabiler als die Form. Die Form muss ihre Durchsetzungsfä14 In einer Formulierung von Dirk Baecker beschreibt der Medienbegriff nicht »die Ontologie eines Gegenstandes, sondern die Ontogenese eines Beobachters« (Baecker 2004c: 271). Zur Auseinandersetzung mit dem Medienbegriff bei Fritz Heider und dessen Adaption durch Niklas Luhmann vgl. Brauns 2002. 35
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higkeit mit Instabilität bezahlen, sie zerfällt in das Medium zugunsten der Bildung neuer Formen. Damit zeigt sich gegenüber alteuropäischen Begriffspräferenzen ein paradoxes Verhältnis von Medium und Form: »Dort hatte man sich die Formen als stabil vorgestellt und hätte das Medium, die lose Kopplung der Elemente, als instabil empfunden. Aber nur umgekehrt macht es empirisch Sinn. Formen kommen und vergehen, gleichgültig ob es sich um Worte, Bilder, Verführungen, Zahlungen oder Orte und Plätze handelt. Das Medium jedoch, die Sprache, die Kunst, die Liebe, das Geld, der Raum, bleiben immer wieder neu verfügbar, gerade weil und selbst wenn dies nur in der Form einer Form, das heißt um den Preis des absehbaren Verfalls, der Fall ist.« (Baecker 2004b: 229)
Da die Elemente eines Mediums schon immer Formen in einem anderen Medium sind, oder anders formuliert: Medien aus schon immer geformten Elementen gebildet werden, denn anders könnte weder von loser noch von fester Kopplung die Rede sein, ergeben sich Möglichkeiten eines sogenannten evolutionären Stufenbaus von Medium/Form-Verhältnissen: »Im Medium der Geräusche werden durch starke Einschränkung auf kondensierbare (wiederholbare) Formen Worte gebildet, die im Medium der Sprache zur Satzbildung (und nur so: zur Kommunikation) verwendet werden können. Die Möglichkeit der Satzbildung kann ihrerseits wieder als Medium dienen – zum Beispiel für Formen, die man als Mythen, Erzählungen oder später, wenn das Ganze sich im optischen Medium der Schrift duplizieren läßt, auch als Textgattungen und als Theorien kennt.« (Luhmann 1995: 172)
Die Leistungsfähigkeit der Medium/Form-Differenz liegt darin, dass sie erlaubt, »sich ›Dinge‹ in der Diktion von Heider oder ›Formen‹ in der Diktion von Luhmann daraufhin anzuschauen, aus welchen Elementen sie bestehen, wenn diese Elemente die Bedingungen erfüllen müssen, auch im Aggregatzustand der losen Kopplung vorzukommen« (Baecker 2004b: 226). Und genau dies unternimmt Dirk Baecker nun auch für den Raum, d.h. er stellt die Frage, »welche Form der Raum im Medium des Raums hat?« (ebd.: 227). Dabei nimmt er die von Niklas Luhmann in der Kunst der Gesellschaft eingeführte Unterscheidung von Stelle und Objekt auf: »Im Anschluß an Luhmann würde ich vorschlagen, Stellen als das Medium des Raums zu betrachten. Denn was auch immer im Raum geschieht, es kann nur geschehen, wenn es eine Raumstelle besetzt oder verläßt. Stellen sind untereinander lose gekoppelt, denn sie haben unabhängig von den etwaigen Formen, die diese Stellen besetzen, keinerlei eigene Qualität. Deswegen haben wir oben da36
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von gesprochen, dass der Raum, jetzt verstanden als Medium, nichts bewirken kann. Nichts am Raum prädestiniert ihn dazu, dass gerade dort eine Stadt geplant, ein Haus gebaut, eine Grenze gezogen oder ein Café eröffnet wird. Nichts am Raum prädestiniert ihn dazu, dass gerade dort der Mord geschieht, die schöne Frau vorübergeht, der Unfall sich ereignet. Und dennoch beziehungsweise gerade deswegen werden bestimmte Stellen definiert, miteinander verbunden und aufeinander bezogen, sobald all dies geschieht. Die Dinge, die die Raumstellen besetzen, oder die Ereignisse, die sich an bestimmten Stellen ereignen, sind feste Kopplungen, Formen, die in das Medium der Raumstellen eingeprägt werden und andere feste Kopplungen, andere Formen nach sich ziehen beziehungsweise von sich weisen. Wo die Stadt geplant wird, werden auch andere Aktivitäten geplant, und zwar nicht orientiert am Medium des leeren Raums, sondern orientiert an den bereits geplanten Formen der Stadt, die jedoch, so zumindest die Absicht der Stadtplanung, ihrerseits mediale Spielräume definieren. Und wo der Mord geschehen ist, wird man sich anschließend nicht verlieben wollen – oder gerade doch, wenn man auf ›Gothic‹ steht. Es sind nicht die Raumstellen, die alles Weitere einschränken und nahe legen können, sondern ihre jeweilige und fest bestimmte Besetzung.« (Ebd.: 228)
Der Raum wird nicht als ein physikalisches Phänomen objektiven Vorhandenseins gesehen, sondern als Produkt eines Prozesses. Die Medium/Form-Unterscheidung stellt nicht auf Eigenschaften des Raums ab, sondern auf Besetzungen von Raumstellen. Diese »Operationalisierung des Raumbegriffs« sieht Baecker auch schon deutlich bei Heidegger ausgeprägt. Für diesen ist der Raum ebenso keine dritte Dimension eines vermeintlich physikalischen Seins, sondern das Korrelat eines Besorgens – genauer: das Korrelat der Handhabung eines ausrichtenden Entfernens. Aus Sicht der Systemtheorie stellt sich daran anschließend die Frage, ob der Raum so etwas wie ein symbiotisches Symbol liefert, mit dem alle anderen Sinndimensionen geerdet werden können: »Müssen wir davon ausgehen, dass die Lokalisierung hier oder dort in bezug auf diesen oder jenen Sachverhalt und dieses oder jenes Individuum und jetzt oder gleich eine mitlaufende Referenz jeden Sinns ist, die in Anspruch genommen wird, wenn Realitätsfragen gestellt werden?« (Ebd.: 231) Aus Sicht der Architekturtheorie stellt sich die Frage, ob sich mit einem solchermaßen operationalisierten Raumbegriff Möglichkeiten ergeben, die in die ontologische Sackgasse geratene Phänomenologie der Architektur, wie sie seit den 60er Jahren von Christian Norberg-Schulz maßgeblich in Anlehnung an Martin Heidegger entwickelt worden ist, zu befreien. Wenn Norberg-Schulz in Anlehnung an Heideggers Aufsatz Bauen, wohnen, denken (vgl. Heidegger 1991) den existenziellen Zweck des Bauens darin sieht, »aus einer Stelle einen Ort zu machen, das heißt, den potentiell in einer Umwelt vorhandenen Sinn aufzudecken« (Nor-
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berg-Schulz 1982: 18), dann erscheint die Luhmann’sche Unterscheidung von Stelle und Objekt architekturspezifisch als Unterschied von Stelle und Ort, und wenn Norberg-Schulz Länder, Regionen, Landschaften, Siedlungen, Gebäude als Stufen in der Abfolge von Umweltebenen (ebd.: 16/17) bezeichnet, findet man hier eine Form der Luhmann’schen Stufenfolge von Medium/Form-Verhältnissen. Der Untersuchungsansatz mit Hilfe der Medium/Form-Differenz betont jedoch – im Gegensatz zu der Interpretation Christian Norberg-Schulz’, der von einer Entdeckung der Welt spricht – die Tatsache, dass es sich immer nur um eine Konstruktion von Welt handelt. All dies müsste entsprechend tiefer ausgearbeitet werden – an dieser Stelle geht es jedoch nur darum, auf diese sich aus der Beschäftigung mit der Systemtheorie stellende Forschungsfrage hinzuweisen.
Allgemeine Systemtheorie und rationale Planungsmethodik Mit dem Aufkommen der allgemeinen Systemtheorie und Kybernetik in den 60er Jahren wird auch die Architektur einer entsprechenden Beobachtung unterzogen, wobei zentral der architektonische Entwurfsprozess in den Vordergrund rückt. Im sich neu entwickelnden Forschungsfeld einer rationalen Planungsmethodik wird eine methodische Erneuerung des Funktionalismus und ein Überwinden dessen offensichtlicher Defizite angestrebt. Die Defizite wurden dabei in unklaren methodischen Grundlagen des architektonischen Prozesses gesehen. Die rationale Planungsmethodik zerlegte die Aufgabe in kleinere, überschaubare Einheiten und bearbeitete diese in einem Dreischritt von Analyse, Synthese und Evaluation. Die Umstellung von produkt- zu prozessorientierten Denken im systemtheoretischen und kybernetischen Ansatz führt in der Architektur zu einem Wechsel von einer komponenten- zu einer systemorientierten Darstellung der Aufgabe. Der Architekturtheoretiker Christian Kühn spricht in diesem Zusammenhang von einer »doppelten Umstellung auf systemund prozessorientierte Methoden« (Kühn 1998: 79). Eine weitere Folge der Rezeption allgemeiner systemtheoretischer und kybernetischer Ansätze ist die Festschreibung des architektonischen Entwurfsprozesses als Problemlösungsprozess (problem solving process). Aus einer allgemein systemtheoretischen Sicht bestand die Aufgabe des Entwerfens ausgehend von einer Zwecksetzung darin, eine Menge von geeigneten Elementen zu einem System mit einer Struktur zu koppeln, welche den geforderten Zweck entsprechend erfüllen kann. Am eindrücklichsten hat der Mathematiker Christopher Alexander den Versuch unternommen, diesen
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kybernetischen Ansatz in die Architektur zu übertragen. Das generelle Entwurfsproblem der Architektur lag für Alexander darin, Strukturen zu schaffen, die es dem Nutzer ermöglichen, allen Verhaltenstendenzen freien Lauf zu geben. Die 1966 von Jan Moore und Barry Poyner entwickelte Activity Data Method ist ein weiteres Beispiel, wie kybernetische und systemtheoretische Forschungen auf die Architektur übertragen wurden. Hier zeigt sich die Abstammung der Kybernetik und Systemtheorie aus der Militärtechnologie besonders deutlich, denn die Activity Data Method ging auf Untersuchungen zur Errichtung baulicher Anlagen für die Armee zurück. Diese Methode sammelt Informationen über die Tätigkeiten, die in den zu entwerfenden Bauten stattfinden sollen, bringt diese in eine Beziehung und entwickelt dementsprechend ein Programm.15 Doch schon Anfang der 70er Jahre zeigte sich, dass der architektonische Entwurfsprozess Merkmale aufwies, die seine Problemlösung in dieser Art erschwerten, wenn nicht gar unmöglich machten. Die Designer Horst Rittel und Melvin Webber haben diese Merkmale mit den Begriffen der Bösartigkeit und der Einzigartigkeit beschrieben. Bösartig seien die Probleme, da sie sich durch ihre Analyse immer mehr ausdifferenzieren und damit, statt der Lösung näher zu kommen, immer weniger greifbar werden. Einzigartig seien die Probleme, weil sie sich nicht vorweg hinreichend mit ähnlichen Problemen vergleichen lassen und zudem noch sich während des Problemlösungsprozesses verändern (vgl. Rittel 1972 und Rittel/Webber 1973). Mehr und mehr wurde deutlich, dass auch die sich ständig steigernde informationsverarbeitende Kapazität des Computers diese Art von Komplexität nicht bewältigen konnte, zumal man sich ein sehr viel generelleres Problem eingehandelt hatte, als man den Entwurfsprozess als einen Problemlösungsprozess konzipiert hatte. Die Vorstellung, dass der architektonische Entwurfsprozess ein Problemlösungsprozess sei, setzte voraus, dass es ein quasi objektseitig gegebenes Problem gibt, welches dann gelöst werden könne. Erkenntnistheoretisch betrachtet ergibt sich jedoch ein Problem mit dem Problem, denn das zu lösende Problem wird erst durch den Problemlöser, d.h. durch den das Problem beobachtende Beobachter, also dem Problembeobachter konstruiert. D.h. das Problem geht nicht dem Beobachter voraus, sondern verdankt seine Existenz dem beobachtenden Beobachter: Ohne Beobachter gäbe es kein Problem oder anders formuliert: das Problem steckt im Beobachter. Im Architekturdiskurs war entsprechend spätestens Ende der 70er Jahre das Projekt einer allgemein-systemtheoretisch orientierten rationalen Entwurfsmethodik beendet. Der systemtheoretische Ansatz wur15 Für weitere und ausführlichere Beispiele der systemtheoretisch orientierten Planungsmethodik der 60er Jahre vergleiche Kühn 1998: S. 79-91 und Feldtkeller 1989: S. 54-64. 39
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de nun hauptsächlich in den Planungs- und Technikwissenschaften weiter verfolgt (vgl. Brunn/Fehl 1976). Auf der Problem-Seite versuchte man immer genauere Problembeschreibungen zu ermöglichen, um ›schlecht definierte‹ Probleme in ›gut definierte‹ zu transformieren, die es dann erlauben, den Zusammenhang von Problem und eindeutigrichtiger Problemlösung zu erfassen. Auf der Entwurfsprozess-Seite versuchte man sich dessen Komplexität zu nähern, indem man immer genauer seine spezifischen Charakteristika herausarbeitete, während auf der Entwurfsmodell-Seite neue, komplexere Entwurfsmodelle entwickelt wurden: Die frühen linearen Entwurfsmodelle wurden durch zyklische Entwurfsmodelle, die durch iterative und rekursive Arbeitsschritte erweitert wurden, ausgetauscht (vgl. Cross/Roozenburg 1992). Auch geht man nicht mehr davon aus, allein über methodische Prozeduren den Entwurfsprozess in den Griff zu bekommen. Gerhard Banse unterscheidet zum Beispiel genauer zwischen methodischen, heuristischen und kreativen Entwurfsmomenten und sieht in einer heuristischen Kompetenz das Verbindungsglied zwischen einer allgemeinen Methodik und dem individuellen Vollzug des Entwurfshandelns (vgl. Banse 1999). Doch auch mit dem Terminus der heuristischen Kompetenz wird das beobachtungstheoretische Problem lediglich zur Seite geschoben, ohne es wirklich fruchtbar zu machen. Dies gilt auch für den Ansatz von Christoph Feldtkeller, der in seinem 1989 erschienenen Buch Der architektonische Raum: eine Fiktion. Annäherung an eine funktionale Betrachtung den Versuch unternimmt, das Projekt einer rationalen Planungsmethodik der 60er Jahre kritisch wiederaufzunehmen. Feldtkeller sieht im allgemeinen Funktionsbegriff eine Möglichkeit, »Rationalität und Subjektivität (Interessenbezogenheit)« (Feldtkeller 1989: 79) zusammen zu bringen und damit das erkenntnistheoretische Dilemma, die Beobachterabhängigkeit des Entwerfens als eines Problemlösens, zu überwinden. Feldtkeller zufolge sei eine funktionale Betrachtung der Architektur nie wirklich in der Architektur angewendet worden, sie sei durch sog. funktionalistische Theorien in der Moderne geradezu vereitelt worden. Ziel ist also eine Rehabilitierung der funktionalen Betrachtung. Dabei schließt er an den Forschungen zur funktionalen Methode in den Wissenschaften an und verweist in einer Fußnote (ebd.: 78) auch sogleich auf Niklas Luhmann und seinen 1962 erschienenen Aufsatz Funktion und Kausalität. Und in der Tat ist Niklas Luhmanns Systemtheorie aus einer Kritik an der funktionalen Methode hervorgegangen. Indem Luhmann den kausal-wissenschaftlichen Funktionalismus durch einen Äquivalenzfunktionalismus ersetzte, hat er schon Anfang der 60er Jahre die funktionale Methode rehabilitiert:
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»Auch hier kommen wir einen entscheidenden Schritt weiter, wenn wir den kausal-wissenschaftlichen Funktionalismus durch den Äquivalenzfunktionalismus ersetzen. Das Ziel der Verifikation ist dann nicht mehr die Feststellung eines gesetzesmäßigen Zusammenhangs bestimmter Ursachen mit bestimmten Wirkungen, sondern der Feststellung der Äquivalenz mehrerer gleichgeordneter Kausalfaktoren. Die Frage lautet nicht: Bewirkt A immer (bzw. mit angebbarer Wahrscheinlichkeit) B, sondern: Sind A, C, D, E, in ihrer Eigenschaft, B zu bewirken, funktional äquivalent?« (Luhmann 1991a: 23)
Damit wird die funktionale Methode zu einer Erkenntnistheorie, dessen erkenntnistheoretische Leistungen darin bestehen, Vergleichsmöglichkeiten zu konstruieren: »Sie weitet das Denken in linearen Kausalitäten aus durch eine vergleichende Methode. Problemlösung erfordert im Denken und Handeln Orientierung an Alternativen. Die Problematik des Denkens besteht aus einer Konkurrenz verschiedener Möglichkeiten, einer Konkurrenz, welche die Möglichkeiten als Alternativen strukturiert. Das Problem ist sinnvoll, wenn ein Vergleich der Alternativen zur Lösung des Problems befähigt. Diesen Bedarf an Vergleichsmöglichkeiten kann die funktionale Methode befriedigen. Das ist ihre eigentümliche Erkenntnisleistung. [...] Die Rationalisierung der Problemstellung durch abstrahierende Konstruktion von Vergleichsmöglichkeiten ist der eigentliche Sinn der funktionalen Methode.« (Luhmann 1991b: 35)
Entscheidend jedoch ist, Methode und Theorie zu trennen. Die funktionale Methode erbringt nur dann auswertbare Ergebnisse, wenn sie in eine Theorie eingebettet ist, die ihr erst den spezifischen übergeordneten Problemgesichtspunkt vorgibt: »Diese Beispiele sollten zunächst nur eines deutlich machen: daß die äquivalenzfunktionale Methode zwar als analytische Technik abstrakt ausgearbeitet werden kann, dass sie aber nicht dazu bestimmt ist, im Leeren praktiziert zu werden. Sie ist auf Ergänzung durch eine sachliche Theorie angewiesen, die ihre Problemgesichtspunkte definiert und ihr dadurch zu Forschungsansätzen verhilft, die weder unbegründbar noch unbestimmt bleiben müssen.« (Ebd.: 38)
Die Theorie sozialer Systeme soll Niklas Luhmann zufolge dazu berufen sein, diese Ergänzungsaufgabe zu übernehmen. Die Systemtheorie, wie sie Niklas Luhmann entworfen hat, ist also – entgegen weitverbreiteter Meinung – keine funktionalistische Theorie, sondern die Theorie der funktionalen Methode. Wenn also Feldtkeller die funktionale Methode bezüglich der Architektur anwendet, welche Theorie legt er zugrunde, die ihre Problemgesichtspunkte definiert? Mit welcher Theorie ergänzt Feldtkeller die funk41
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tionale Methode und welche Problemgesichtspunkte werden dadurch definiert? Hier zeigt sich, dass Feldtkeller die funktionale Methode nur in einem sehr kleinen Bereich einsetzt, nämlich in dem Bereich, der die Architektur in ihrem Nutzungszusammenhang betrachtet: »Wenn ich im folgenden der Einfachheit halber von der ›Funktion‹ von Gebäuden rede, von ihrer ›funktionalen‹ Wirklichkeit, von ›funktionalem‹ Entwerfen usw., so bezieht sich dies auf die Funktion im Nutzungszusammenhang, die ich als die primäre Funktion bezeichne, denn sie ist die ursprüngliche, der sich die anderen gleichsam aufschalten.« (Feldtkeller 1989: 71) Man könnte also zuspitzen: Feldtkeller wendet die allgemeine funktionale Methode im Rahmen einer funktionalistischen Theorie an, einer Theorie, die Architektur allein in ihrem Nutzungszusammenhang, in ihrem instrumentellen Charakter beobachtet. Ergebnisse einer solchen Beobachtung können sich entsprechend auch nur auf diesen Teil der Entwurfsmomente beziehen. Dies erklärt, warum Feldtkeller am Ende schließlich nur wieder bei einem funktionalistischen Entwurfsmodell angelangt, welches die ästhetisch-semiotischen Entwurfsmomente von den instrumentellen abhängig macht. Einen Überblick über sämtliche Entwurfsmomente, die den architektonischen Entwurfsprozess ausmachen, kann er nicht gewinnen. In diesem Sinne ist der Untertitel richtig, es handelt sich eben nur um eine »Annäherung an eine funktionale Betrachtung«. Mit diesem Ansatz kann Feldtkeller nicht die ästhetisch-semiotischen Entwurfsmomente einfangen, sie liegen außerhalb seines Theorierahmens, denn dieser ist ja bestimmt darin, Architektur in ihrem instrumentellen Charakter zu betrachten. Die Aussagen von der Abhängigkeit der ästhetisch-semiotischen Entwurfsmomente sind durch den theoretischen Rahmen in keiner Weise gedeckt und in diesem Sinne, d.h. mit dieser Theorie, nicht nachweisbar. Feldtkeller unterzieht lediglich das technisch-instrumentelle Entwurfmoment einer funktionalen Betrachtung und keineswegs den ganzen architektonischen Entwurfsprozess. Parallel zu Feldtkellers funktionaler Betrachtung des technischen Entwurfmoments ergäbe sich somit die Aufgabe, auch das ästhetisch-semiotische Entwurfmoment einer funktionalen Betrachtung zu unterziehen. Dies lehnt jedoch Feldtkeller dezidiert ab: »Durchweg ergäbe sich das ästhetisch-semiotische Entwurfsmoment nicht von oben (für sich), aus irgendwelchen autonomen ästhetisch-semiotischen Ambitionen, gar über eine eigene funktionale Betrachtung, so als habe die Architektur zugleich zwei heterogene Aufgaben zu erfüllen, sondern von unten her, sozusagen als Fortführung des technischen Entwurfsmoments, oder – im Fall des Zitats und Symbols – wenigstens in Übereinstimmung mit ihm –, wie dieses immer bezogen auf die funktionale Wirklichkeit und den Herstellungsprozeß.« (Ebd.: 81) 42
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Wenn es denn darum gehen soll, dass sich die Architektur das Potential des Funktionsbegriffs zunutze machen soll – wie es ja Feldtkeller eindrücklich fordert –, müssten sogar noch vielmehr alle Entwurfsmomente gleichermaßen in die funktionale Methode einbezogen werden. Wie auch immer dies genau aussehen mag, ein Abhängigmachen der ästhetischsemiotischen von instrumentellen Entwurfsmomenten wäre damit ausgeschlossen, da sonst der Raum funktionaläquivalenter Möglichkeiten von vornherein eingeschränkt wird, was der funktionalen Methode ja zuwider läuft. Nutzung als Leitgedanke der Architektur, oder wie es Feldtkeller formuliert: als primäre Funktion der Architektur, kann dann ebenso nicht mehr proklamiert werden – ebenso wenig wie Ästhetik oder Semiotik. Offensichtlich führt die Frage nach einem Leitgedanken, der definieren könnte, was Architektur ist und wie Architektur zu entwerfen sei, nicht weiter.
Entwerfen als Formbildungsprozess Die Systemtheorie verschiebt die Frage nach einem Leitgedanken zu der Frage nach einer Differenz, einem Unterschied, der getroffen werden muss, damit sich erst Architektur ereignet. Interessanterweise macht Feldtkeller selbst auf diese Möglichkeit aufmerksam, wenn er den Informationsbegriff im Sinne von Gregory Bateson als einen Unterschied verwendet wissen will: »Zugrunde liegt vielmehr der allgemeine Informationsbegriff, geläufig ganz allgemein in der Bezugnahme auf Prozesse der Orientierung in der Umwelt, überhaupt des ›Erkennens‹ der Umwelt im allgemeinsten Sinn (zu denen die Prozesse der Kommunikation und erst recht der technischen Nachrichtenübertragung nur als spezielle Sonderfälle gehören). Nach der nachrichtentechnischen Informationstheorie beruht Information auf Unterscheidung, auf der Feststellung von Unterschieden. Gregory Bateson etwa bestimmt die kleinste Informationseinheit als ›Unterschied, der einen Unterschied macht‹, z.B. ein Neuron dazu bringt, zu ›feuern‹.« (Ebd.: 138)
Wie schon beim allgemeinen Funktionsbegriff, wendet auch Feldtkeller den allgemeinen Informationsbegriff nicht konsequent an. Er hat für Feldtkeller nur eine Relevanz bezüglich der Betrachtung des nachgeordneten präsentationellen Aspekts der Architektur (vgl. ebd.: 133). Die Systemtheorie Niklas Luhmanns stellt sich jedoch konsequent auf differenz- und beobachtungstheoretische Prämissen ein. Der systemtheoretische Ansatz Niklas Luhmanns muss von den frühen allgemein system-
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theoretischen Ansätzen sowie von den nachfolgenden Planungstheorien von funktionserfüllenden Strukturen grundlegend unterschieden werden. Und dies nicht, obwohl die Luhmann’sche Systemtheorie auf der allgemeinen Systemtheorie aufbaut, sondern gerade weil sie daran anschließt, und zwar an ihrem neuralgischen Punkt: der grundlegenden Beobachterabhängigkeit einer jeden Erkenntnis. Schon Anfang der 70er Jahre stellen sich die sog. konstruktivistischen Wissenschaften auf beobachtungs- und differenztheoretische Methoden und Untersuchungen um. Dirk Baecker spricht gar von einer (Wieder-)Entdeckung des Beobachters: »Das Faszinosum wie auch das Skandalon der Entdeckung des Beobachters liegt in dem so einfachen wie verwirrenden Umstand, dass man Blindheit und Einsicht aller kognitiven Prozesse zusammen als die eine Seite einer Medaille erkennen muß, deren andere Seite wir nicht kennen. [...] Erst auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung, der Beobachtung von Beobachtungen fällt auf, dass Sachverhalte immer nur Sachverhalte für einen Beobachter sind und dass der Beobachter nicht sieht, was er nicht sieht. Von der Aufklärung über den Roman und die Ideologiekritik bis zur Hermeneutik und Psychoanalyse macht man sich dies zunutze und beobachtet statt der Sachverhalte den Beobachter. Aber das Problem liegt tiefer. Das Problem liegt darin, wie Heinz von Foerster bündig formuliert, dass der Beobachter nicht sieht, dass er nicht sieht, was er nicht sieht. Einsicht und Blindheit sind die eine Seite einer Unterscheidung, deren andere Seite wir nicht kennen.« (Baecker 1993b: 18/19)
Die kybernetische Forschung hat schon Anfang der 70er Jahre entsprechende Konsequenzen vollzogen: 1973 wurde am Biological Computer Laboratory der University of Illinois unter der Leitung von Heinz von Foerster eine Kybernetik zweiter Ordnung entwickelt. In der Kybernetik zweiter Ordnung geht es um die Beobachtung von Beobachtern, um die Beobachtung beobachtender Systeme. Auf dem Gebiet der Soziologie hat Niklas Luhmann entsprechende theoretische Konsequenzen gezogen und seine Systemtheorie zu einer Beobachtertheorie zweiter Ordnung ausgebaut: Die soziologische Systemtheorie beobachtet Beobachter, d.h. sie beobachtet, mit welchen Unterscheidungen Beobachter beobachten. Dabei wird das Problem mit Hilfe eines differenztheoretisch angesetzten, Erkennen und Handeln übergreifenden Begriff des Beobachtens rekonstruiert: »Beobachten ist immer Handhaben einer Unterscheidung zur Bezeichnung der einen, aber nicht der anderen Seite. Die jeweils benutzte Unterscheidung dient der Beobachtung als ›Form‹ im Sinne von George Spencer Brown. Will man diese Form ihrerseits beobachten, braucht man einen neuen Einsatz der Beobachtungsoperation, denn wiederum ist Beobachtung nur in der Weise möglich, dass die eine Seite (jetzt: die Form), aber nicht die andere bezeichnet wird. Die 44
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jeweils operativ eingesetzte Unterscheidung ist also immer nur asymmetrisch benutzbar, sie gibt das Bezeichnete nur auf der einen Seite ihrer Form. Deren andere Seite wird als unmarkiert oder als unbezeichnet vorausgesetzt, denn sonst wäre die Unterscheidung keine Unterscheidung, und bleibt im Gebrauch der Unterscheidung ebenso wie die Einheit der Unterscheidung selbst unsichtbar. Deshalb gibt es eine Beobachtung der Welt nur in der Weise, dass etwas herausgehoben und etwas anderes eben dadurch verdeckt wird.« (Luhmann 1992a: 68)
Der systemtheoretische Ansatz Niklas Luhmanns versucht nun gerade das erkenntnistheoretische Dilemma, d.h. die Beobachterabhängigkeit des Entwurfsprozesses, fruchtbar zu machen, indem er einen FormBegriff verwendet, der die unterscheidungs- und beobachtertheoretischen Konsequenzen, die sich aus dem erkenntnistheoretischen Dilemma ergeben, in sich trägt. Damit soll weder der Sinn von Analysen, die den Entwurfsprozess als Problemlösungsprozess beobachten, bestritten werden, noch sollen diese Analysen ersetzt werden. Die Umstellung von einer Beobachtung des architektonischen Entwurfsprozesses als Problemlösungsprozess zu einer Beobachtung als Formbildungsprozess kann jedoch mit Hilfe anderer Unterscheidungen andere Seiten des Entwurfsprozesses beleuchten. Der bis heute einzige instruktive Versuch, solche beobachtungs- und unterscheidungstheoretischen Überlegungen für die Architektur fruchtbar zu machen, unternahm der Systemtheoretiker Dirk Baecker 1990 in seinem Aufsatz Die Dekonstruktion der Box – Innen und Außen in der Architektur. Entsprechend der beobachtungstheoretischen Prämisse erfolgt eine systemtheoretische Annäherung an die Architektur nicht über eine Beobachtung der Bauwerke, sondern über eine Beobachtung der Beobachter von Architektur. Entsprechend der differenztheoretischen Prämisse zielt die Beobachtung der Beobachter der Architektur dabei nicht darauf ab, ein bestimmtes Wesen, eine Idee oder einen architektonischen Leitgedanken ausfindig zu machen, der als einigendes Merkmal aller architektonischen Werke fungieren könnte, sondern nach einer Unterscheidung zu suchen, »die getroffen werden muss, damit Architektur sich ereignet, und die zu konstituieren erlaubt, was als Architektur konstruiert wird und worüber als Architektur kommuniziert wird« (Baecker 1990a: 82). Man beobachtet also die Form, mit der Architektur konstruiert und über die kommuniziert wird – kurz: man beobachtet die Form der Architektur. Durch diese Beobachtung verschiebt sich eine Analyse des architektonischen Entwurfsprozesses von einem Problemlösungsprozess zu einem Formbildungsprozess. In der Unterscheidung von Innen und Außen sieht Dirk Baecker schließlich die zentrale Unterscheidung, die als Unterscheidung sowohl in der Hinsicht der Konstruktion von Architek45
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tur, wie auch in der Hinsicht der Kommunikation über Architektur konstituierend ist: »Wie auch immer Architektur entworfen, dargestellt, benutzt und bewohnt werden mag, man weiß nur, daß es sich um Architektur handelt, wenn man hineingehen und wieder herauskommen kann und wenn sich bei diesem Hineingehen-und-wieder-herauskommen-Können die Verhältnisse ändern, das heißt drinnen anderes geschieht und erwartet werden kann als draußen.« (Ebd.: 83) Daraus folgt aber ein Grundproblem, denn wenn die Unterscheidung von Innen und Außen als konstitutiv für die Architektur gedacht würde, müsste die Architektur selbst als Einheit der Differenz von Innen und Außen gedacht werden können, aber »nur im Nacheinander kann man drinnen und draußen sein, kann man das Drinnen oder das Draußen entwerfen, und das Nacheinander setzt die Zeit an die Stelle der Welt« (ebd.: 85). Das Dilemma der Architekturtheorie bestand nun Baecker zufolge gerade darin, die Einheit der Differenz von Innen und Außen nicht denken zu können. Anstelle der Unterscheidung von Innen/Außen wurden andere Unterscheidungen gesetzt, wie die von privat/öffentlich, oben/unten, vorher/nachher, und um sich die Einheit des Entwerfens vorzustellen, bildeten die Architekten durch Grundriss und Detail die Möglichkeit heraus, Außen und Innen sequentiell, d.h. durch Inanspruchnahme von Zeit, zu bearbeiten. Den entscheidenden Wendepunkt sieht Dirk Baecker in der Moderne kommen, hier besonders bei dem Architekten Frank Lloyd Wright und seiner Destruction of the box. Bei dieser Destruction of the box treten die Wände und Decken auseinander und werden in eine neue Konstellation gebracht. Kurz bevor sie wieder zusammengebracht werden, zeigen sie sich als eigenständige Grundelemente der Architektur. Frank Lloyd Wright notiert 1954 zu diesem auf 1904 datierten Prozess: »Diese unverbundenen Seitenwände werden etwas Unabhängiges; sie sind nicht mehr einschließende Wände. Sie sind einzelne stützende Schirme, deren jeder jedoch verkürzt oder erweitert oder durchlöchert oder gelegentlich auch weggelassen werden kann.« (Wright 1963: 229) Die Wand als Abschirmung setzt die Unterscheidung von Innen und Außen. Als diese Setzung ist sie die Einheit der Unterscheidung und Dirk Baecker kann zusammenfassen: »Sobald es um eine Abschirmung geht, die Innen und Außen trennt, geht es um Architektur, was auch immer diese Architektur bezwecken, welches Material auch immer verwendet sein und wie auch immer sie aussehen mag. Die Abschirmung ist es, die der Architektur ihre elementare Form gibt.« (Baecker 1990a: 90) Um den architektonischen Entwurfsprozess als einen Formbildungsprozess näher zu beschreiben greift Baecker auf die medientheoretische Konstruktion des Formbegriffs zurück. Ist das basale Element der Architektur die Abschirmung, dann wird das Medium der Architektur durch
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die Mannigfaltigkeit aller möglichen Abschirmungen gebildet: Architektur ist Formbildung im Medium der Abschirmungen. Abschirmungen setzen die Differenz von Innen und Außen und sind deshalb nicht mit der Herstellung von Geschlossenheit zu verwechseln. Das Außen muss auch weiterhin erreichbar bleiben, d.h. das Innen auch verlassen werden können. Die Abschirmung beinhaltet also nicht nur das Schließen, sondern auch immer ihren Gegenpart, das Öffnen.16 Zudem muss festgehalten werden, dass die Unterscheidung von Innen und Außen asymmetrisch gebaut ist, d.h. dass es dem Architekten darum geht, ein Innen von einem Außen abzutrennen. Das Ziel des architektonischen Entwurfsprozesses ist das Innen, der Innenraum. Bei dem städtebaulichen Entwurfsprozess verhält es sich umgekehrt: Hier ist das Ziel des Entwurfes das Außen, der Außenraum. Diese Anforderungen an die Abschirmung weisen darauf hin, dass nicht schon die Baumaterialien das Medium der Architektur darstellen, sondern erst Konstruktionselemente, die als Schließung oder Öffnung im Kontext einer Abschirmung Verwendung finden können. Bezogen auf das vorherige Beispiel, können also die Konstruktionselemente in der Architektur wie die Worte im Medium der Sprache betrachtet werden: »Aus der Mannigfaltigkeit möglicher Schließungen und Öffnungen greift die Architektur bestimmte heraus, die sie im Entwurf und Gebäude zu einer Form verdichtet. Die Unterscheidung zwischen Schließung und Öffnung setzen wir an die Stelle der Differenz von Innen und Außen. Erstere bezeichnet Entwurf und Konstruktion der Architektur, letztere die Möglichkeit der Darstellung von und Kommunikation über Architektur. In der Form der Abschirmung kommen Entwurf und Konstruktion, Darstellung und Kommunikation zur Einheit.« (Baecker 1990a: 95)
Abschirmungen mit der Konsequenz einer Unterscheidung von Innen und Außen gibt es nicht nur in der Architektur, sondern auch in der Biologie und in der Soziologie. Diese Universalität der Innen/AußenUnterscheidung erfordert es, genauer nach dem Spezifikum der architektonischen Abschirmung zu fragen. Auch hierfür kann auf die Theorie der Medium/Form-Unterscheidung zurückgegriffen werden. Die besagte, dass Elemente ihrerseits auch immer Formen in einem anderen Medium sind, d.h. Medien aus immer schon geformten Elementen gebildet werden. Da die Abschirmung in der Architektur nicht nur regulative Idee, sondern ein wie immer ausgeprägtes reales Element ist, ist sie selbst schon eine Form in einem Medium. Dieses Medium ist das Medium der 16 Christoph Feldtkeller bezeichnet dies mit dem Doppelcharakter der Wand als zugleich Trennung und Nicht-Trennung (vgl. Feldtkeller 1989: 9). 47
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Räumlichkeit. Das Spezifikum der architektonischen Abschirmung liegt also in ihrem Medium der Räumlichkeit. Diese Feststellung hat zwei Konsequenzen: Erstens, wenn das Medium der Architektur die Abschirmung und der Raum nur das Medium des Mediums ist, erreicht man über eine binäre Codierung das Gegensatzpaar Schließung/Öffnung, welches man bei dem Raum nicht erreicht hätte. Im Medium der Räumlichkeit existiert noch gar nicht die Möglichkeit der Öffnung: »Erst in der Abschirmung im Sinne einer Schließung, die dann, im negierenden Rückschluß, auch die Öffnung greifbar macht, ist der Architektur Räumlichkeit zugänglich und verfügbar.« (Ebd.: 94) Zweitens, mit der Distanzierung des Raumes zum Medium des Mediums der Architektur ist eine Freisetzung der möglichen Abschirmungen, Schließungen und Öffnungen von eigener Räumlichkeit gewonnen: »Auch ein Schatten, auch eine gedachte Linie, auch ein unbestimmtes oder bestimmtes Gefühl der Beengung oder eine Korrespondenz zwischen zwei Punkten im Raum kann bereits als eine Abschirmung fungieren, der architektonischer Wert zukommt. Und ebenso kann bereits ein wandernder Sonnenstrahl, eine die gedachte Linie überkreuzende Diagonale, ein unbestimmtes oder bestimmtes Gefühl der Ausweitung oder der Verzicht auf einen korrespondierenden Punkt als Öffnung gelten, die Architektur erlebbar macht. Und auch ein Durchgang, eine Brücke, ein Winkel in einer Mauer erhält architektonischen Wert, sobald nur ein Innen vor einem Außen abgeschirmt wird, das als erreichbare Außenseite der Innenseite präsent gehalten wird.« (Ebd.: 95)
Nun wäre natürlich aus architekturtheoretischer Sicht zu fragen, ob Wrights Destruction of the Box (1904) als Zäsur für die Erkenntnis, dass die Wand als das basale Element der Architektur fungiert, tauglich ist oder ob nicht schon in früheren vor-modernen Architekturkonzeptionen die Abschirmung als zentrales Element und als zentrale Operation thematisiert wurde. Hierbei wäre auf jeden Fall an August Schmarsow zu erinnern, der einerseits Sempers vier Elemente der Baukunst auf eines – nämlich die Wand – reduzierte und andererseits Alois Riegls Architekturmodell des geschlossen Einraums öffnete. Aber der Blick müsste auch – um die Baecker'sche These sehr viel stärker im Architekturdiskurs zu verankern – in die 60er und 70er Jahre gerichtet werden, denn erst hier wird das Potential der Destruction of the box fruchtbar gemacht. Die Moderne hatte – wie Dirk Baecker zurecht behauptet – mit ihrer Konzeption des fließenden Raumkontinuums nur einen weiteren Verlegenheitsbegriff geschaffen, die Differenz von Innen und Außen nicht denken zu müssen, und verdeckte damit das Potential der Destruction. Insofern wäre aufzuzeigen, wie erst die in den 60er Jahren einsetzende Kritik an der Moderne das Potential erschließt und fruchtbar macht. Es wäre eine inte48
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ressante Aufgabe herauszuarbeiten, dass und wie die Thematisierung der Differenz von Innen/Außen bzw. der Wand als zentralen Element der Architektur, zur Grundlage unterschiedlichster Architekturkonzeptionen wird. Zu erinnern wäre dabei an die eher strukturalistischen Architekturkonzeptionen einer Philosophie der Türschwelle der Smithsons Brüder (1953) und eines Gestalt gewordenen Zwischen bei Aldo van Eyck (1959). Venturi wird 1966 in seinem Buch Komplexität und Widerspruch in der Architektur ein zentrales Kapitel nur der Differenz von Innen und Außen widmen und die Wand als architektonisches Ereignis betiteln. Rowe/Koetter werden schließlich 1973 die Wand in eine städtebauliche Dimension übertragen und eher gestalttheoretisch orientiert von dem bewohnbaren pochè sprechen. Und Rem Koolhaas entdeckt noch während seines Architekturstudiums an der AA School of Architecture 1971 die Faszination der Abschirmung in Form der Berliner Mauer: »The wall was heartbreakingly beautiful« (Koolhaas 1997: 222). In ihrer befreienden Potentialität sieht Koolhaas die Abschirmung als die eigentliche architektonische Strategie: »Were not division, enclosure (i.e. imprisonment), and exclusion – which defined the wall’s performance and explained its efficiency – the essential stratagems of any architecture?« (Ebd.: 226) Und ganz besonders interessant wird dann auch Peter Eisenmans Suche in den 60er Jahren nach einer selbstreferentiellen Architektur. Zusammengenommen ergibt sich damit ein interessantes Forschungsprojekt, aber an dieser Stelle sind v.a. die aus dem differenz- und medientheoretischen Ansatz resultierenden Konsequenzen für ein architektonisches Entwurfsmodell von Interesse. Nach Klärung dessen, was aus medientheoretischer Sicht als Element, Medium und Form in der Architektur zu bezeichnen ist, stellt sich die konkrete Frage nach dem Formbildungsprozess. Was macht der Architekt, wenn er eine lose Kopplung in eine feste Kopplung überführt, wenn er eine Form in einem Medium hervorbringt, d.h. wenn er entwirft? Dirk Baecker beschreibt diesen Formbildungsprozess als einen zweistufigen Selektionsprozess. Bei der ersten Stufe handelt es sich um das Hinund Herwechseln zwischen Schließung und Öffnung. Dieser Akt beschreibt die Selbstreferenz der Architektur. Die zweite Stufe begreift Dirk Baecker unter dem Begriff der Konditionierung. Unter der Konditionierung der Selektionsvorgänge beim Formbildungsprozess der Architektur werden alle Möglichkeiten verstanden, den Umgang mit der Selbstreferenz der Architektur, also mit der Formbildung im Medium der Abschirmungen, an Fremdreferenzen zu binden. Dirk Baecker unterscheidet in Anlehnung an die drei Vitruvianischen Kategorien utilitas, firmitas und venustas entsprechend drei Formen der Konditionierung: Konditionierung durch Verweis auf Funktionalität, auf Solidität und auf
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Plastizität. Zusätzlich führt er mit dem Verweis auf den menschlichen Maßstab eine vierte Konditionierung ein. Dieser Hinweis sei notwendig, »um die Abschirmungen der Architektur von anderen Setzungen der Innen/Außen-Differenz im Medium des Raumes unterscheiden zu können, etwa von Schränken, Futteralen und Kassetten einerseits oder vom Ozonschirm und von militärischen Abwehrschirmen andererseits« (Baecker 1990a: 102). Jede dieser Konditionierungen stellt für die Architektur Durchgriffsmöglichkeiten auf das zur Verfügung, was jenseits der Architektur liegt, nämlich auf soziale, auf konstruktiv-statische und auf künstlerische Fragen. Erst die grundlegende Umstellung auf differenz- und medientheoretische Überlegungen führt zu einem architektonischen Entwurfsmodell, welches, analytisch sauber und hochgradig differenziert, die einzelnen Entwurfsmomente zu trennen und sie im Hinblick auf ihre Funktion einer Konditionierung der einzelnen Abschirmungen zu beobachten erlaubt. Der grundlegende Erkenntnisgewinn besteht darin, dass die drei klassischen Leitideen utilitas, firmitas und venustas nicht mehr als Maßstäbe der Architektur aufgefasst werden können, sondern als ihre fremdreferentiellen Konditionierungen, als welche sie nicht mehr den Blick auf die Selbstreferenz der Architektur verstellen. Das zeigt sich besonders gut an einem Vergleich mit dem Entwurfsmodell von Christoph Feldtkeller, obwohl – ja gerade weil – auch er Architektur als eine Abschirmungstechnik beschrieben hat. Der differenztheoretische Ansatz beschreibt jedoch die Abschirmung als die Architektur generierende Operation, und zwar unabhängig vom Nutzungszusammenhang oder auch unabhängig von konstruktiven oder ästhetischen Entwurfsmomenten. Denn die Abschirmung – die Wand – behält ihren architektonischen Wert, auch wenn sie konstruktiv oder ästhetisch-semiotisch bestimmt wird. Nutzungsspezifische, konstruktive oder ästhetisch-semiotische Bestimmungen können nur in der Form der Abschirmung in der Architektur wirksam werden. Die Suche nach dem Ornamentalen als einem spezifisch künstlerischen Formengenerierungsprinzips in der Architektur berührt also die Frage nach der künstlerischen Konditionierung der basalen architektonischen Operation von Schließen und Öffnen. Bei dieser fremdreferentiellen Konditionierung durch Verweis auf Plastizität geht es – wie Dirk Baecker andeutet – zentral um Fragen der Wahrnehmung von Architektur – der Art und Weise, wie sie sich im Raum darstellt. Erst mit dieser künstlerischen Konditionierung wird dem Architekten – oder jetzt genauer: dem Baukünstler – der Zugriff auf das Medium des Mediums der Architektur ermöglicht: den Raum:
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»Der nichtkünstlerische Architekt kann die Einheit der Differenz von Schließung und Öffnung nur im Hinblick auf die Architektur selber fassen, der künstlerische Architekt kann sie auch im Hinblick auf den Raum fassen, der das Medium ist, in dem sie sich formuliert, und von dort aus Varianten in den Formen der Abschirmungen entwickeln, die er dann zu neuen architektonischen Formen koppeln kann. Die Architektur selbst ist Technik, denn sie kann die sie konstituierende Differenz von Innen und Außen nicht zur Disposition stellen. Doch die Elemente, aus denen die Architektur besteht, können vom Künstler variiert werden.« (Ebd.: 100)
Im Rahmen der Auseinandersetzung mit der künstlerischen Konditionierung weist auch Dirk Baecker auf das Ornament hin, verbleibt jedoch ganz in der Tradition des Architekturdiskurses und betrachtet es als Mittel »zur Gestaltung eines Details, [...] zur Schaffung eines Symbols, [...] zur oberflächengestaltenden Verzierung« (ebd.). In der dieser Studie zugrundeliegenden Frage nach dem Verhältnis von Ornamentalität und architektonischer Form trifft also das formentheoretische Architekturmodell Dirk Baeckers mit der formentheoretischen Ornamentinterpretation Niklas Luhmanns zusammen.
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ORNAMENT & WAHRNEHMUNG Zur Fundierung des Ornamentalen
»An diesem Leitfaden aber ergeht sich der Rhythmus zur Eroberung seiner eigensten Domäne und drängt von der Ornamentik und der mimischen Ausdrucksbewegung zur Tektonik und Architektur.« (Schmarsow 1998: 94/95)
»Das Ornamentale dient direkt der Organisierung von Raum und Zeit, der Füllung dieser Medien mit Redundanz und Varietät.« (Luhmann 1995: 185)
Ordnungswille und Ornamentik bei August Schmarsow Die Suche nach dem Ornamentalen in der Architektur als einer Abschirmungskunst ist eine Suche nach dem spezifischen Verhältnis von Ornamentalität – verstanden als einem künstlerischen Formengenerierungsprinzip – und architektonischem Entwurfsprozess – verstanden als einem Formbildungsprozess. Als Ausgangspunkt dieser Suche wird ein Kunstwissenschaftler gewählt, der nicht nur erstens die künstlerische Dimension der Architektur in ihrer Fähigkeit zur Raumschöpfung sah, zweitens die Wand als basales Element der Architektur betrachtete, drittens in der Operation des Schließens und Öffnens den entscheidenden raumgenerierenden Mechanismus verortete, sondern auch und ganz besonders viertens die Gestaltungsprinzipien für eine so verstandene Baukunst aus einer Betrachtung der Generierungsmechanismen ornamentaler Formen ableitete: August Schmarsow. Für die Suche nach einer spezifisch architektonischen Dimension des Ornamentalen bietet es sich an, Schmarsows Ge-
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danken ornamentaler Generierungsprinzipien in der Architektur aufzunehmen, da hier noch ein letztes Mal diese Verbindung als eine solche thematisiert wird, bevor in der Moderne mit dem Verdikt über das Ornament der Zusammenhang verloren geht. Mit August Schmarsow wird hier wieder ein Faden aufgenommen, um ihn jedoch v.a. über den Rekurs auf eine konstruktivistische Wahrnehmungstheorie im Sinne Niklas Luhmanns zu radikalisieren und auch für nachmoderne Entwurfsstrategien, die nicht mehr mit dem Begriff und dennoch mit dem Phänomen Ornamentalität operieren, anschlussfähig zu machen. August Schmarsows Anliegen ist, die Architektur als bildende Kunst zu rehabilitieren. Entgegen der These Eduard von Hartmanns, dass die Baukunst überhaupt nicht zu den freien Künsten gehöre, sie stattdessen eine unfreie Kunst sei und damit auch keinerlei wissenschaftliche Berechtigung vorliege, sie als freie schöne Kunst von der Tektonik und den übrigen Kunsthandwerken zu trennen, und auch entgegen Sempers Charakterisierung der Architektur als einer ›Bekleidungskunst‹ sucht Schmarsow 1893 in seiner Leipziger Antrittsvorlesung nach dem Wesen der architektonischen Schöpfung: »Bei aller Gelehrsamkeit unserer historischen Bildung fühlt man überall Entfremdung durch und vermisst den warmen Anteil des innern Menschen an ihren Werken und ein natürliches Verhältnis zu dieser Kunst. Sollte es da nicht an der Zeit sein, einmal die Frage nach ihrem Ursprung und innersten Wesen zu stellen?« (Schmarsow 2002: 320) Schmarsow versucht herauszufinden, worin die spezifisch künstlerische Dimension der Architektur liegt. Der Terminus ›Schöpfung‹ markiert dabei eindeutig eine künstlerische Schöpfung und keine technische. Seine Untersuchungsmethode ist die sogenannte genetische Betrachtungsweise, die er nicht aus der Kunstwissenschaft, sondern aus einem interdisziplinären Umfeld von Geschichts- und Naturwissenschaft bezog.17 Der Ausgangspunkt der genetischen Betrachtung ist das schaffende und genießende Subjekt: »Da wir selbst dreidimensionaler Körper sind, können wir gar nicht umhin, die kubische Körperhaftigkeit der Dinge an unserm eigenen Leibe zu erfahren.« (Schmarsow 1998: 11) Mit ihrer Hilfe entwickelt Schmarsow eine Ästhetik von Innen, die er Gustav Theodor Fechners Ästhetik von Oben und Ästhetik von Unten entgegensetzte (vgl. Fechner 1871 und 1876). Dabei ist diese Ästhetik von Innen durch einen doppelten Anspruch gekennzeichnet: Sie propagiert zum einen eine auf psychologischen Erfahrungen basierende Sicht auf die Architektur und zum zweiten aber auch eine Sicht auf den Innenraum der 17 Die genetische Betrachtungsweise ist auf den Historiker Karl Lamprecht zurückzuführen. Daneben waren v.a. die psychologischen Theorien von Hermann Lotze und Wilhelm Wundt von großem Einfluss. 56
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Architektur. Schmarsow folgert daraus, dass die Umschließung des selbigen das zentrale Kriterium im menschlichen Raumverständnis und damit auch in der Architektur sei: »Raumgefühl und Raumphantasie drängen zur Raumgestaltung und suchen ihre Befriedigung in einer Kunst; wir nennen sie Architektur und können sie deutsch kurzweg als Raumgestalterin bezeichnen.« (Schmarsow 2002: 324) Der ursprüngliche Zweck der Architektur sind entsprechend »Umschließungen unserer selbst, in denen die senkrechte Mittelachse nicht körperlich hingestellt wird, sondern leer bleibt, nur idealiter wirkt und bestimmt ist als Ort des Subjektes« (ebd.: 326). Die genetische Betrachtung sieht dabei ab von einer Funktion, die vor-liegen muss, damit sich Architektur ereignet. Ihr geht es rein um die Generierung von Raumgebilden, »und zwar gleichgültig aus welchem Material, von welcher Dauer und Konstruktion oder welcher Durchbildung der tragenden und getragenen Teile« (ebd.: 323). Auch der Hinweis auf einen »realen Zweck« (ebd.) sei Schmarsow zufolge verfrüht.18 Schmarsow schließt somit systematisch alle zu dieser Zeit üblichen Referenzen – Material, Konstruktion und Zweck –, die die Architektur konditionieren könnten, aus: »Die von außen kommenden Anregungen geben nur die Gelegenheitsursache, den Anlass zur Betätigung des menschlichen Könnens.« (Ebd.) Übrig bleibt dabei der Raum an sich als Grundlage beziehungsweise Material der Architektur. Dabei drückt sich in der Architektur wie in der Mathematik ein Ordnungswille aus, das Grundgesetz des Menschengeistes (ebd.: 325), kraft dessen der Mensch auch in der Außenwelt Ordnung sieht und Ordnung will. Das raumbildende Prinzip ist deshalb für Schmarsow, im Gegensatz zu Riegl, der das Konzept des Tiefenraums erst in der römischen Zeit mit dem Pantheon und der christlichen Basilika realisiert sah, in der Architekturgeschichte, wenn auch in jeweils anderen Ausformungen, durchgängig verwirklicht. Das Wesen der Architektur ist nach Schmarsow die Raumbildung, die Technik dazu beschreibt er als eine Abschirmungstechnik, wie sie im vorherigen Kapitel herausgearbeitet wurde. Der Raum an sich liegt als ein unendlicher »ungestaltet und unermesslich« (Schmarsow 1998: 184) der Architektur fern. Architektur gestaltet nur den besonderen Raum, den sie durch die Errich18 Gegenüber Riegls dualistischer Auffassung von Zweckmäßigem und Schönem nimmt Schmarsow den Begriff des Zweckmäßigen in den Begriff der architektonischen Schönheit auf: »Als bewusstes Menschenwerk muß sie [die architektonische Schöpfung] auch eine innere Zweckidee enthalten und diese ist der Inhalt des Formgebildes, das Gesetz der Kristallisation oder die Seele des Organismus, welches Gleichnis immer je nach dem Entwicklungsstadium der Kunst den Vorzug verdienen mag.« (Schmarsow 1998: 186) 57
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tung der vier Wände aus dem »allgemeinen da draußen« (ebd.: 182) herausschneidet. Deshalb ist für Schmarsow die Umwandung die erste und entscheidende Operation zur Generierung von Architektur: »Immer ist die Raumumschließung dieses Subjektes die erste Hauptangelegenheit, d.h. die Einfriedung oder Umwandung nach den Seiten zu, nicht die Bedachung nach oben oder gar die Bezeichnung und Ausbildung des Höhenlotes« (Schmarsow 2002: 326). Architektur konstruiert Raum im Raum durch Abschirmungen. Durch die ›Umwandung‹ grenzt die Architektur aus dem allgemeinen Raum einen besonderen aus. Auch denkt Schmarsow die Wand immer schon als die Einheit der Differenz von Schließen und Öffnen, wenn er im Gegensatz zu Riegl, der die Forderung nach absoluter Geschlossenheit an das Raumgebilde als künstlerischer Einheit stellte, die Relevanz der Öffnungen betont: »Wir sehen in der Raumöffnung, sei es an einer oder an mehreren Seiten, nicht allein eine negative Eigenschaft, sondern im Gegenteil einen Zuwachs mannigfaltiger Beziehungen, die über den Einraum hinausweisen und ihn mit andren verbinden.« (Schmarsow 1998: 188) Zwei Jahre später führt Schmarsow in seinem Vortrag Über den Werth der Dimensionen im menschlichen Raumgebilde die Idee der drei Dimensionen der Raumgestaltung weiter aus und zeigt die Beziehungen zwischen Architektur, Plastik und Malerei auf. Dabei entwirft Schmarsow ein komplexes System: Er geht von drei Kategorien aus, die für unsere Erfahrung der Welt wesentlich sind, identifiziert diese jeweils mit der Erfahrung einer der drei Dimensionen des Raums und ordnet sie einer Kunstgattung und deren schöpferischem Prinzip zu: Unser aufrechter Gang lässt uns die Höhendimension des Raumes – die erste Dimension – erfahren. Sie ist die psychologische Wurzel des plastischen Schaffens, der Körperbildnerin mit der Proportion als schöpferischem Prinzip. Die zweite Dimension des Raumes ist die der Breite. Sie wird vom Menschen durch seine paarweise Anordnung von Augen, Armen, Beinen etc. erfahrbar. Schmarsow rechnet sie der Flächenbildnerei mit der Symmetrie als Schaffensprinzip zu. Unsere frontale Ausrichtung identifiziert Schmarsow mit der Erfahrung der Tiefendimension des Raumes. Diese dritte Dimension ist nun die psychologische Wurzel der Architektur und deren schöpferisches Prinzip ist der Rhythmus.19
19 Als Beispiel nennt Schmarsow St. Peter, welcher als eine Abfolge der Betonung der drei Dimensionen zu lesen ist: Der Zentralbau betont die Höhenachse und damit die erste Dimension. Das später vorgelagerte Langhaus betont die Horizontale, die in die Tiefe weist und favorisiert damit die dritte Dimension. Die Kolonnaden gehen schließlich in die Breite und betonen somit die zweite Dimension. 58
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In seinem 1905 erschienenen Hauptwerk Künstlerische Grundbegriffe der Kunstwissenschaft am Übergang vom Altertum zum Mittelalter arbeitet Schmarsow die Gedanken weiter aus und legt v.a. ausführlich dar, wie sich die drei künstlerischen Gestaltungsprinzipien Proportion, Symmetrie und Rhythmus aus ornamentalen Generierungsmechanismen ableiten lassen.20 Für die Architektur gewinnt der Begriff des Raumrhythmus eine zentrale Stellung. Auch hier löst sich Schmarsow von Riegl, der den Rhythmus nur in der Ebene, d.h. im Nebeneinander oder Übereinander von Elementen verortete. Schmarsow hingegen spricht gerade dem Raum das Gestaltungsprinzip des Rhythmus zu: »An diesem Leitfaden aber ergeht sich der Rhythmus zur Eroberung seiner eigensten Domäne und drängt von der Ornamentik und der mimischen Ausdrucksbewegung zur Tektonik und Architektur.« (Schmarsow 1998: 94/95) Über den Begriff des Rhythmus verbindet Schmarsow den räumlichen Aspekt der Architektur mit einem zeitlichen Aspekt. Entsprechend fordert er dann auch, dass »in der ganzen Ornamentik und Architektur [...] der Vollzug einer Bewegung zu Hilfe kommen [muss], sei es wirklich, sei es imaginär, um den festen Bestand in ein transitorisches Erlebnis zu verwandeln« (ebd.). Zur Veranschaulichung dessen, was Schmarsow unter einer Raumkomposition versteht, benutzt er einen Vergleich mit der Musik und der Dichtung: »Die entwickelte Raumkomposition, die wir nur successiv im Durchwandeln der Theile zu erleben und im Zusammenhang zu erfassen vermögen, vergleicht sich schon durch den zeitlichen Verlauf der Anschauung nur mit einer musikalischen Komposition, oder einer Dichtung, womöglich der Aufführung einer Symphonie oder gar eines Dramas. Hat doch der perspektivische Durchblick durch weitere Raumtheile schon diesen Vollzug, wenigstens in der Vorstellung des Betrachters, zur Folge: er kann jeden Augenblick mehr und mehr in eine Reihe verschiedener Eindrücke aufgelöst werden, die doch fühlbar in Zusammenhang stehen, einer aus dem andern sich entwickeln und wieder im Ganzen aufgehen, aber nicht ohne dass Leben und Bewegung in uns angeregt, eine Bereicherung fließender Erinnerungsbilder in uns zurückgelassen wäre. Die Verkettung der Bilder erweckt die Analogie kausaler Beziehungen und verlockt die Phantasie in poetisches Wechselspiel.« (Schmarsow 1896: 61)
20 Schmarsow bezieht sich hierbei auf Sempers dreiteilige Klassifizierung der schöpferischen Prinzipien als Proportionalität, Symmetrie und Richtung, wobei er die dritte Kategorie durch den Terminus Rhythmus ersetzt. 59
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wahrnehmen – rechnen – ordnen – ornamentieren Als Schmarsow 1905 in den Künstlerischen Grundbegriffen formulierte, dass »die Auseinandersetzung des menschlichen Subjekts mit seiner Außenwelt [...] sich selbstverständlich nach dem Hausgesetz seiner eigenen Organisation entwickeln« (Schmarsow 1998: 33) müsse, konnte er nicht ahnen, dass die wissenschaftlichen Forschungen des gerade beginnenden 20. Jahrhunderts genau dies einerseits bestätigen würden, aber andererseits nur um den Preis der Aufgabe des Vertrauens, dass die ›Außenwelt‹ wirklich so ist, wie sie das ›Subjekt‹ wahrnimmt: Einsteins Relativitätstheorie zeigte schlagartig, dass jede Wahrnehmung strikt vom Beobachter abhängig ist, d.h. sich die Realität, die Welt je nach dem Beobachterstandort verschieden zeigen konnte. Heisenbergs Unschärferelation zeigte, dass jeder Versuch, die Raumstelle eines Ereignisses zu bestimmen, die Zeitstelle des Ereignisses unschärfer werden lässt und umgekehrt. Damit wird aber der wahrnehmungstheoretische Ansatz Schmarsows selbst problematisch, da er von einer phänomenbezogenen Wahrnehmungslehre und einer damit korrespondierenden repräsentationalen Erkenntnistheorie ausging: Aus der eigenen Leiberfahrung leitete er Grundsätze einer allgemeinen Welterfahrung ab, die zugleich die Grundlage einer schöpferischen Auseinandersetzung mit der Welt (ebd.) seien und die Grundprinzipien der Kunst bilden. Schmarsow steht damit in der abendländischen Tradition der Subjekt-Objekt-Beziehung, die davon ausgegangen ist, dass die Welt so ist, wie sie sich in der Wahrnehmung zeigt und dann durch begriffliche Analyse erschlossen und kommunikativ verfügbar gemacht werden kann. Zu einer solchen Phänomenologie der Welt gehörte dann ein ästhetischer Kunstbegriff, der es der Kunst erlaubte, Welt zu repräsentieren, in ihren perfekten Idealformen wahrnehmbar zu machen und sie mit neuen Informationsqualitäten auszustatten, die sich nicht von selbst einstellen. Architektur ist deshalb nach einer Formulierung Schmarsows »Raumgestalterin nach den Idealformen der menschlichen Raumanschauung« (Schmarsow 2002: 325). Bereits Kant hat jedoch seine Kritik der reinen Vernunft mit der Feststellung begonnen, »dass die Dinge, die wir anschauen, nicht das an sich selbst sind, wofür wir sie anschauen [...] und als Erscheinungen nicht an sich selbst, sondern nur in uns existieren können« (Kant 1998: B59). Das Problem war auch Schmarsow bewusst und er verwandelt die strenge metaphysische Trennung von Körper und Geist in ein wechselseitiges Beziehungsgeflecht: »Der Mensch darf aber nicht allein als Körper gefaßt werden, sondern auch als Geist, wenn wir einmal genötigt werden, die natürliche Einheit ausdrücklich zu zerlegen. Und auch die Außenwelt umfasst nicht allein die Außendinge an sich, 60
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sondern auch die mannigfaltigen Beziehungen zum Empfindungsleben des Menschen und die Anlässe zu psychischer und geistiger Durchdringung, die gerade der menschlichen Auffassung in ihrer ursprünglichen Eigenart entsprechen.« (Schmarsow 1998: 33)
Dieses sehr komplexe Beziehungsgeflecht kennzeichnet Schmarsow neben Alois Riegl und Heinrich Wölfflin als einen der großen Synthetiker der Jahrhundertwende, doch verdeckt auch diese holistische Gemengelage, wo alles mit allem zusammenhängt, die Frage, wie genau die Teile zusammenhängen: Wie sehen genau die spezifischen Operationen von Körper und Geist aus und in welchem Verhältnis zueinander bezüglich der Wahrnehmung stehen sie? Auch die grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Fragen bleiben weiterhin bestehen: Wenn nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass die Welt so ist, wie wir sie wahrnehmen, kann dann noch das Ornamentale, wie es Schmarsow tat, an die Wahrnehmung gebunden werden? Wenn die Wahrnehmung von Welt kontingent ist, kann dann noch von »Grundprinzipien« (ebd.) einer schöpferischen Auseinandersetzung mit der Welt gesprochen werden? Und kann man dann noch an einem daraus abgeleiteten Begriff des Ornamentalen festhalten? Zur Klärung dieses Problems und zur Re-Fundierung des Ornamentalen im menschlichen Wahrnehmungsprozess greift Luhmann auf eine konstruktivistische Wahrnehmungstheorie zurück und bezeichnet Raum und Zeit nicht, wie noch Schmarsow, als Formen der Anschauung, sondern als Medien der Messung und Errechnung von Objekten (Luhmann 1995: 179). Dies bedarf zunächst einer genaueren Klärung, um die Beziehung zum Ornamentalen herzustellen. Entgegen Schmarsows synthetischer Körper-Geist-Vorstellung stellen die Forschungen zu einer konstruktivistischen Wahrnehmungstheorie fest, dass zwischen dem, was Schmarsow Körper nannte und jetzt genauer als neuronales System bezeichnet wird, und dem, was Schmarsow Geist nannte und jetzt als psychisches System, Bewusstsein oder Kognition bezeichnet wird, strikt getrennt werden muss. Beide Systeme sind operational füreinander geschlossen, d.h. kein System kann das andere steuern. Ein zentraler Ausgangspunkt für diese konstruktivistischen Forschungen liegt in der Wiederentdeckung und Problematisierung eines neurophysiologischen Prinzips, das schon Mitte des 19. Jh. (also zu Lebzeiten Schmarsows!) durch den Neurophysiologen Johannes Müller entdeckt und formuliert worden ist: das Prinzip der undifferenzierten Kodierung. Die neurophysiologischen Forschungen erbrachten das erstaunliche Resultat, dass die Erregungszustände von Sinneszellen unabhängig von der physikalischen oder chemischen Natur des Reizes sind und nur auf die Verschiedenheit der
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Reizintensität ansprechen. In keiner Nervenzelle wird die Qualität der Erregungsursache kodiert, sondern nur die Quantität gemessen: »Ein Stäbchen in der Netzhaut absorbiert in einem gewissen Moment einen Photonenstrom von so und so vielen Photonen pro Sekunde. Es entwickelt dabei ein elektrochemisches Potential, das eine Funktion des Stromes ist, das heißt, dass das ›Wieviel‹ kodiert wird; aber die Signale, zu denen dieses Potential schließlich Anlaß gibt, geben weder einen Aufschluß darüber, dass Photonen die Reizursache waren, und schon gar nicht, aus was für einen Frequenzbereich der Photonenstrom bestand. Ganz genau dasselbe ist für alle anderen Sinneszellen der Fall. Nehmen sie die Haarzellen in der Cochlea oder die Meissnerschen Tastkörperchen oder die Geschmackspapillen oder was immer für Zellen Sie wollen, in keiner wird die Qualität der Erregungsursache kodiert, nur die Quantität der Erregung. Und in der Tat, ›da draußen‹ gibt es ja kein Licht und keine Farben, da gibt es elektromagnetische Wellen; ›da draußen‹ gibt es kein Laute und keine Musik, da gibt es longitudinale periodische Druckvorgänge; ›da draußen‹ gibt es keine Hitze oder Kälte, da gibt es eine höhere oder niedrigere kinetische Molekularenergie, und so weiter – und ganz bestimmt: ›da draußen‹ gibt es keinen Schmerz.« (von Foerster 1993b: 56)
Erst in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden die Folgen, die die Einsicht in dieses Prinzip mit sich bringt, gesehen. Erst jetzt fiel einigen Forschern die Ungeheuerlichkeit des Prinzips auf, »daß an der Pforte der Erkenntnis die vermeintlichen Boten der Welt aller jener Eigenschaften entblößt werden, die zu dem farbigen und tönenden Bild dieser Welt führen sollten« (von Foerster 2000: 58). Da also die Qualitäten der Sinneseindrücke nicht im Empfindungsapparat kodiert sind, schließt die Forschung daraus, dass das Zentralnervensystem so organisiert ist, dass es diese Qualitäten errechnet. Mit dem Terminus Errechnen wird die Umstellung von einer phänomenbezogenen Wahrnehmungslehre zu einer operativen, von einer repräsentationalen Erkenntnistheorie zu einer konstruktivistischen gekennzeichnet: »Die wahrgenommene Welt ist mithin nichts anderes als die Gesamtheit der ›Eigenwerte‹ neurophysiologischer Operationen.« (Luhmann 1995: 15) Aus dieser Wahrnehmungstheorie resultiert eine Neufundierung der Erkenntnistheorie: »In der Tradition des erkenntnistheoretischen Idealismus ging es um die Frage der Einheit in der Differenz von Erkenntnis und Realgegenstand. Die Frage lautete: wie kann die Erkenntnis einen Gegenstand außerhalb ihrer selbst feststellen? Oder: wie kann sie feststellen, dass etwas unabhängig von ihr existiert, wo doch alles, was immer sie feststellt, schon Erkenntnisleistungen voraussetzt und gar nicht unabhängig von Erkenntnis (das wäre ein Selbstwiderspruch) durch Erkenntnis feststellbar ist? Ob man nun transzendentaltheoretische oder dialektische Problemlösungen bevorzugte, das Problem lautete: Wie ist Erkenntnis 62
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möglich, obwohl sie keinen von ihr unabhängigen Zugang zur Realität außer ihr hat. Der radikale Konstruktivismus beginnt dagegen mit der empirischen Feststellung: Erkenntnis ist nur möglich, weil sie keinen Zugang zur Realität außer ihr hat. Ein Gehirn beispielsweise kann nur Information erzeugen, weil es umweltindifferent codiert ist, d.h. im rekursiven Netzwerk der eigenen Operationen eingeschlossen operiert. Ebenso müsste man sagen: Kommunikationssysteme (soziale Systeme) können nur deshalb Informationen erzeugen, weil die Umwelt nicht dazwischenredet. Und nach all dem dürfte sich dasselbe auch für den klassischen ›Sitz‹ (Subjekt) der Erkenntnistheorie von selbst verstehen: für das Bewusstsein.« (Luhmann 2001: 219)
Für das Errechnen stehen dem Zentralnervensystem nur zwei Eingangsdaten zur Verfügung: erstens die Reizintensität und zweitens die Koordinaten der Reizquelle. Da die Reizintensität jedoch nur in zeitlicher Abhängigkeit und die Reizquellenkoordinaten nur in räumlicher – genauer: topologischer – Abhängigkeit festgestellt werden können, ergibt sich, dass Raum und Zeit diejenigen Medien sind, die dem Rechenvorgang zugrunde liegen: »Raum und Zeit«, so wird Niklas Luhmann in der Kunst der Gesellschaft formulieren, »[sind] immer schon abgestimmt auf die quantitative Sprache des Gehirns, andererseits kann das Bewusstsein und erst recht die Kommunikation dies Errechnen nicht nachvollziehen; es muß die entsprechenden Leistungen über strukturelle Kopplungen voraussetzen, muß sie interpenetrieren lassen und gewinnt damit die Freiheit, für den Eigenbedarf eigene Messverfahren zu entwickeln, die auf Vergleichen beruhen und nur gelegentlich, also nicht konstitutiv, benutzt werden.« (Luhmann 1995: 179/180) Der Konstruktivismus kann deshalb proklamieren, dass die Welt, wie wir sie wahrnehmen, immer nur unsere Konstruktion ist. Wahrnehmung als Spezialkompetenz des Bewusstseins ist also ein kognitiver Prozess. Eine Theorie kognitiver Prozesse lässt sich jedoch nicht – wie Heinz von Foerster deutlich macht – allein aus einer Sensorik entwickeln. Erst wenn die Motorik in die Überlegungen mit einbezogen wird, erst eine Korrelation von Bewegung mit den von ihr verursachten Veränderungen der Sinneswahrnehmungen, erlaubt die Konstruktion kohärenter und stabiler Vorstellungen (von Foerster 2000: 58). Es wäre eine interessante Aufgabe, die Geschichte der Raumwahrnehmung in der Architektur vor dem Hintergrund einer solchen konstruktivistischen Wahrnehmungstheorie neu zu lesen. Ein Hauptprotagonist einer solchen Lektüre wäre dann auf jeden Fall auch wieder August Schmarsow. Dieser verstand das Körpergefühl, die Quelle der Empfindung und die letzte Instanz der Gestaltung, als ein aktives, motorisches. Die Architektur lasse sich deshalb auch nur adäquat beobachten, indem man sich bewegt. Bewegung wird für Schmarsow ein entscheidender 63
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Faktor bei der Rezeption von Kunst, wobei der Begriff der Bewegung bei Schmarsow sehr weit gefasst war und neben der körperlichen Bewegung auch eine imaginäre Bewegung, verstanden als ein Andichten, umfasste: »In der ganzen Ornamentik und Architektur muß der Vollzug einer Bewegung zu Hilfe kommen, sei es wirklich, sei es imaginär, um den festen Bestand in ein transitorisches Erlebnis zu verwandeln.« (Schmarsow 1998: 94) Die konstruktivistische Wahrnehmungstheorie zeigt nun aber, dass Schmarsows fester Bestand nun keineswegs fest ist, sondern immer nur eine Konstruktion unserer Wahrnehmung und dass zu dieser Konstruktion selbst eine (körperliche) Bewegung hinzutreten muss. Der transitorische Ereignischarakter einer jeden Nervenzellenentladung wird durch senso-motorische Operationen zu stabilen Eigenwerten zusammengerechnet, die – in Schmarsows Formulierung als fester Bestand – durch psycho-motorische Operationen wieder in ein transitorisches Erlebnis aufgelöst werden. Die spezifisch künstlerische Art der DeKonstruktion des festen Bestandes in ein transitorisches Ereignis kennzeichnet Schmarsow mit dem Begriff des Rhythmus. Demgegenüber ließe sich die wahrnehmungsspezifische Konstruktion eines festen Bestandes passend als Takt kennzeichnen. Luhmann zufolge ergibt sich für den Raum und die Zeit eine gewisse ›Gleichmäßigkeit‹, die die »Voraussetzung für das Erkennen von Diskontinuitäten, Zäsuren, Grenzen und für die Abschätzbarkeit von Distanzen – im Raum ebenso wie in der Zeit« (Luhmann 1995: 180) ist. Wie auch immer dies genauer ausgearbeitet wird, es verweist auf die enge Beziehung von Rhythmus und Ornamentalität in der Architektur. Auch Kunstwerke als wahrnehmbare Objekte müssen die Medien Raum und Zeit in Anspruch nehmen. Verbindet man diesen konstruktivistischen Ansatz mit einer medientheoretischen Raumkonzeption, kann man genauer formulieren, dass Kunstwerke die Medien Raum und Zeit benutzen, um jeweils von ihrer Stelle aus alle anderen Räume und Zeiten auszuschließen. Andererseits konstruieren diese Kunstwerke eigene imaginäre Räume und Zeiten, in denen sich die Medium/Form-Differenz wiederholt – jedoch mit größeren Freiheitsgraden. Luhmann kann – darin Worringer paraphrasierend – folgern, dass der Reichtum an Möglichkeiten der Kunst auf einer Imitation der Differenzstruktur von Raum und Zeit – aber nicht auf einer Imitation der Objekte der realen Raum/ZeitWelt beruht: »Auch die ›abstrakte‹ Kunst erzeugt und placiert Objekte. Ohne dies käme nichts zustande. Aber sie nimmt sich die Freiheit, diese Objekte nach der Logik von Raum beziehungsweise Zeit zu entfalten und dem einzelnen Kunstwerk selbst zu überlassen, herauszubringen, welches Arrangement überzeugt.« (Luhmann 1995: 184) Die Medien Raum und Zeit, die Medien der Errechnung von Objekten, lassen sich jedoch nicht
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benutzen, um Kunstarten zu unterscheiden oder gar zu charakterisieren. Es gibt nicht Raumkunst auf der einen und Zeitkunst auf der anderen Seite.21 Niklas Luhmann schlägt deshalb vor, sich an der Unterscheidung von ornamentalen und figurativen (repräsentativen, illusionären) Komponenten von Kunstwerken zu orientieren: »Das Ornamentale dient direkt der Organisierung von Raum und Zeit, der Füllung dieser Medien mit Redundanz und Varietät. Ornamente setzen einen durch sie selbst definierten und gleichsam von innen geschlossenen Raum voraus; und Entsprechendes gilt für die Ornamentalisierung von Zeit (etwa im Tanz oder im Aufbau oder Abbau von Spannung in einer Erzählung). Vom Herstellungsprozess her gesehen muss eine solche Eingrenzung erst einmal erzeugt werden in der Form eines eigens präparierten Teilraums (etwa der Fassade eines Gebäudes oder der Oberfläche eines Gefäßes) oder einer Teilzeit mit selbstbestimmten Anfang und Ende.« (Ebd.: 185)22
Im Gegensatz zum Ornamentalen setzt die repräsentierende Kunst zunächst einmal die Erzeugung eines imaginären Raums oder einer imagi-
21 Entsprechend formulierte schon Schmarsow: »Wir wissen ja freilich, dass der Mensch dem, was er Raum nennt, überhaupt nur beizukommen vermag, indem er die zeitliche Vorstellung auf die räumliche Anschauung überträgt. Aber wir wissen auch ebenso, dass er dem, was er Zeit nennt, nur mit Hilfe räumlicher Größen beikommen kann.« (Schmarsow 1998: 55) 22 Wie Niels Werber in seinem Aufsatz Raum und Technik herausstellte, kann Luhmann hier auf Simmels Konzept des ›Rahmens‹ zurückgreifen, der »das Kunstwerk gegen die umgebende Welt ab- und in sich zusammenschließt«. Die räumliche und temporale Ordnung folgt innerhalb der Grenzen des Werks »nur eigenen Normen« (Simmel 1903 zitiert nach: Werber 1998: 228). Einen Grund, warum Luhmann den gut eingeführten Begriff des Rahmens dennoch aufgibt und den des Ornaments stark macht, sieht Werber darin, dass manche Rahmen noch nicht hinreichen, um ein Werk als Kunst zu qualifizieren: »In der Realität der Massenmedien unterscheidet Luhmann massenmediale Unterhaltung von Kunst dadurch, dass Kunst Mehrfachrezeption ermutigt durch ›hinreichende Ambiguität‹ […]. Dagegen sei bei Unterhaltung bei Ende Spannung abgebaut. ›Deshalb lohnt keine zweite Lektüre‹ […]. Unterhaltung ist Überraschung […], nichts weiter. Dies bemerkt man aber nur nach der Gesamtrezeption des Werks nicht am Rahmen. Filme, Romane oder Theaterstücke können gleichermaßen Kunst oder Entertainment sein. Für diese Unterscheidung trivialer Unterhaltung von nichttrivialen Kunstwerken benötigt Luhmann also den Begriff des Ornaments.« (Werber 1997: 348) Ergänzend wäre zu zeigen, wie Simmels Rahmen und Luhmanns Ornament mit Derridas Parergon zusammenhängen. Vgl. dazu: Paetzold 2001: 231-242. 65
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nären Zeit voraus, »um damit größere Freiheiten zu haben, dies selbst geschaffene Medium sowohl repräsentierend als auch ornamental zu nutzen« (ebd.). Auch wenn die europäische Kunstentwicklung Luhmann zufolge seit der Frührenaissance die repräsentierende Variante bevorzugt hat und dem Ornamentalen dabei die Funktion der Verzierung zugewiesen hat, bleibt »das Ornamentale auch in einer pointiert repräsentierenden Kunst immer die Infrastruktur des Kunstwerkes, weil, wenn man überhaupt Raum und Zeit als Medien verwendet (und wie anders sollte ein Kunstwerk erscheinen können), es unerlässlich ist, auch diese Medien zu ordnen – was immer dann in ihnen repräsentiert wird« (ebd.: 186). Die Verknüpfung von konstruktivistischer Wahrnehmungstheorie, die Wahrnehmen als Rechnen kennzeichnet, hin zur Ornamenttheorie, die künstlerisches Ordnen als Ornamentieren kennzeichnet, bleibt interessanterweise bei Luhmann unausformuliert. Zum einen müsste man hierfür auf den Begriff des Rechnens – genauer: auf die etymologische Verwandtschaft der Begriffe rechnen und ordnen – verweisen. Heinz von Foerster machte auf diese Verwandtschaft immer wieder aufmerksam: »Als erstes darf ich sie daran erinnern, dass die etymologische Wurzel des englischen Wortes für ›Rechnen‹, computation, oder für ›Rechner‹, computer, die Operationen des Rechnens in keiner Weise auf numerische Ausdrücke beschränkt. Das Wort computer bzw. computation besteht aus dem lateinischen com = zusammen und putare = betrachten, bedeutet also ›Dinge zusammen betrachten‹. Das deutsche Wort rechnen kommt von einem im Hochdeutschen nicht mehr vorhanden Adjektiv, das ›ordentlich‹, ›genau‹ bedeutet. Rechnen heißt also im Deutschen ursprünglich ›in Ordnung bringen‹, ›ordnen‹.« (von Foerster 1993c: 244)
Erst der Hinweis, dass Rechnen immer als ein Ordnungsprozess zu verstehen ist, macht den Abzweigungspunkt von einer konstruktivistischen Wahrnehmungstheorie zur Ornamenttheorie plausibel. Zum anderen könnte man auch auf den Terminus des Nahwirkungsgesetzes verweisen. Das neurophysiologische Nahwirkungsgesetz der konstruktivistischen Wahrnehmungstheorie besagt, dass der Erregungszustand einer Nervenzelle ausschließlich durch die (elektro-chemischen) Zustandsgrößen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft (d.h. in einer topologischen Beziehung) und durch ihren unmittelbar vorhergehenden (d.h. in einer zeitlichen Beziehung) eigenen Erregungszustand bedingt ist. Nahwirkungsgesetze findet man nun aber nicht nur in der Neurophysiologie, sondern auch als Differentialgleichungen in der Arithmetik, als Topologien in der Geometrie und als Ähnlichkeitsbezüge in der (Fein-)Strukturanalyse des Kunstwerkes. Carl von Lorck hat für die Strukturanalyse den Begriff der
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›Nachbarschaft der Teile‹ eingeführt, um die Feinstrukturen in einem Kunstwerk zu beobachten: »Im Barockzeitalter ist durchgängig die Tendenz der Angleichung, das SichAnschmiegen der Nachbarteile der Feinstruktur zu beobachten. In der Graphik, in der Malerei, in den Skulpturen beugt sich jeder Kleinteil zu den anderen hinüber wie ein guter Nachbar. Wo ein Elementarteil sich dem anderen nähert, sucht er ihm ähnlich zu werden. Wo er von ihm entfernt ist, nimmt er die Form des nächsten an. Es ist gleichsam die Spielregel des Dominospiels, die in vielen Ketten von Kleinteilen befolgt wird und die über die Oberfläche des Kunstwerks wie ein Netz unzähliger Beziehungen ausspannt.« (von Lorck 1965: 23)
In den Bauwerken des Barock tritt von Lorck zufolge das gleiche Ordnungsprinzip auf. In den Verkröpfungen der vielgestuften Gesimse über den Pfeilern des Mittelovals von Vierzehnheiligen von Balthasar Neumann tritt der Angleichungsbezug exemplarisch hervor, »die Strukturfunktion einer Überleitung zwischen den Nachbarteilen, ein Anschmiegen und Verschmelzen der architektonischen Senk- und Waagerechten durch Scharen minimaler Stufen der Pfeiler- und Gesimsprofile« (ebd.: 25). Der Mathematiker und Philosoph Max Bense gibt dem von Lorck’schen Gesetz des barocken Angeglichenseins der nachbarlichen Teile eine mathematische Fassung in der Form des Infinitesimalkalküls: »Es entspricht dieser Umstand der aufkommenden Methode, Naturgesetze auf die Form von ›Nahwirkungsgesetzen›, d.h. von Differentialgleichungen, zu bringen, deren erweiterten Geist Leibniz in seinem ›Prinzip der Kontinuität‹ formuliert hat. Sofern die künstlerische Analyse tatsächlich das Angeglichensein der nachbarlichen Teile in der Kunst des Barock und des Rokoko durchgängig bestätigt, darf man von einem einheitlichen Geist der künstlerischen, mathematischen und empirischen Formen sprechen, derart, dass man sie als infinitesimale Formen bezeichnet.« (Bense 1949: 104)
Es ist die Ornamentik, die Carl von Lorck zufolge »auf eine spezielle Art das Grundprinzip [des Angeglichenseins] zum Ausdruck« (von Lorck 1965: 25) bringt: Während das Knorpelwerk ein »übertriebenes Angleichen der Nachbarteile in teigig verschmolzenen, weichen gerundeten Formgebilden« zeigt, bezeichnet von Lorck das »Meisterstück und Urbeispiel des Rokoko«, die Rocaille, als ein »geistvolles Scherzo der Ähnlichkeitsbezüge« (ebd.).
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Die Abwertung des Ornamentalen in der Moderne Mit dieser konstruktivistischen Schleife ist man wieder bei Schmarsow angelangt und kann seine Formulierung, es walte in der Architektur wie in der Mathematik »das Grundgesetz des Menschengeistes, kraft dessen er auch in der Außenwelt Ordnung sieht und Ordnung will« (Schmarsow 2002: 325), mit der er schon im Vorfeld einer Gestalttheorie die ordnende Funktion der menschlichen Wahrnehmung thematisierte, aufnehmen, ohne in ontologische oder holistische Sackgassen zu geraten. Auch ist man wieder deshalb bei Schmarsow angelangt, weil dieser versuchte nachzuweisen, dass Architektur eine Kunst sei, indem er nach dem Ornament, dem Ornamentalen in der Architektur suchte. Mit Blick auf Schmarsow kann Luhmann paraphrasiert werden: Wenn man Bauwerke als Kunstwerke auf ihr Formenspiel hin beobachten will, muss man nach ihrem Ornament fragen. Schmarsow – darauf wurde zu Anfang dieses Kapitels hingewiesen – fand das architektonische Ornament im Rhythmus des Raums. Die Beziehung zwischen dem Ornamentalen und der architektonischen Raumgestaltung bzw. die Vorstellung vom Ornamentalen als dem künstlerischen Ordnungs- beziehungsweise Organisationsprinzip schlechthin geht jedoch in der Architekturtheorie der Moderne verloren. Fünf Jahre nach Schmarsows Künstlerischen Grundbegriffen hält Adolf Loos seinen Vortrag Ornament und Verbrechen und leitet die grundlegende Abwertung des Ornamentalen ein. Zwar wird Schmarsows Idee der Architektur als Raumgestalterin als ein, wenn nicht: das zentrale Motiv für die Architektur der Moderne übernommen, jedoch bei gleichzeitiger Kappung der Verbindung zum Ornamentalen. Der Rhythmus behält zwar einen auch architekturtheoretischen Rang, doch ohne dass sein Ursprung in der Ornamentik beachtet wird. Übrig bleibt eine Architekturtheorie, die den Raum entdeckte und das Ornament verdeckte. Mit dem Verbot des Ornaments wird der Architekturtheorie Schmarsows das alles entscheidende Amalgam genommen und die für die Zeit der Jahrhundertwende so typisch synthetische Theorie zerbricht in ihre Einzelteile: In eine phänomenologische, eine wahrnehmungspsychologische und eine strukturalistische Richtung. Phänomenologie und Gestaltpsychologie jedoch geraten in der Moderne unter der Idee der Neuen Sachlichkeit in normative und ontologische Sackgassen: »›Die Sachen selbst‹ aber wurden der Phänomenologie und der mit ihr in vieler Hinsicht vergleichbaren Gestaltpsychologie immer mehr zur ›guten Gestalt‹ (deren Paradigma der rechte Winkel war), zur ›Idee‹, und der skeptische Blick zur ›Wesensschau‹. In beiden Theorien wird die Emphase des Sehens von der Gewissheit genährt, dass sich die Sachen dem Innehaltenden unverhüllt offenbaren, dass sich nun die Wahrheit zu erkennen gibt. Wie in der Architektur ist 68
ORNAMENT & WAHRNEHMUNG
in der Philosophie die neue Sachlichkeit nicht frei vom Gefühl der Erleuchtung im Zustande der Nüchternheit. Auch sie fühlte sich ein wenig auf dem Monte Verità.« (Böhringer 1985: 20)
Die von Hannes Böhringer zu recht attestierten Aporien erscheinen um so auffallender, als sowohl die wahrnehmungspsychologischen Forschungen als auch die phänomenologischen Untersuchungen auf den Ergebnissen der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts formierenden Gestalttheorie (vgl. Wertheimer 1923, 1925 und Metzger 1975) aufbauen und es genau diese war, die systematisch der ›Eimer-Theorie‹ (Karl Popper) der passiven Aufnahme von Reizen entgegentrat und stattdessen den Wahrnehmungsprozess als einen aktiven Struktur- und Ordnungsprozess beschrieb. Mittels verschiedener Gestaltgesetze (Gesetz der guten Gestalt, der Nähe, der Umschlossenheit, der Ähnlichkeit, der Erfahrung, etc.) wurden die spezifischen Charakteristika dieses Ordnungsprozesses, die Gesetzmäßigkeiten der Wahrnehmung, zusammengefasst. Die so herausgearbeiteten Gestaltgesetze basieren dabei auf der Feststellung, dass jedes Reizmuster so gesehen werden will, dass sich die ergebende Struktur möglichst einfach ist. So besagt das Prägnanzgesetz, welches auch als Gesetz der guten Gestalt bezeichnet wird, dass bei unvollständigen Formen die Tendenz besteht, diese bei der Wahrnehmung zu Formen mit guter Gestalt zu ergänzen, d.h. Unvollständigkeiten zu ergänzen, eine möglichst große Regelmäßigkeit durch einfache symmetrische Formen anzustreben und die Form bereits bekannten Formen anzupassen. Formen, die Merkmale wie strenge Symmetrie, Einfachheit der Form und Regelmäßigkeit der Gestaltung aufweisen, können also schneller und reibungsloser wahrgenommen werden, als Formen, die erst in und mit der Wahrnehmung zu einer guten Gestalt ergänzt werden müssen. Wahrnehmungstheoretisch gesehen ist die gute Gestalt ein Mittel, welches erst Wahrnehmen ermöglicht. Die kunsttheoretische Konzeption der Neuen Sachlichkeit macht nun aus dem wahrnehmungstheoretischen Mittel ein ästhetisches Ziel. Das Gesetz der guten Gestalt wird zur Ästhetik der guten Gestalt. Damit verliert die gute Gestalt jedoch ihren typischen Gesetzescharakter, d.h. ihren spezifisch operativen Charakter, und die Ordnung, die wir in unserer Wahrnehmung der Dinge sehen, wandert wieder in die Dinge selbst. Heinz von Foerster hat Zeit seines Lebens gegen diese Vertauschung gekämpft: »›Ordnung‹ ist ein weiterer Begriff, den wir, so trichtert man uns ein, in den Dingen selbst sehen sollen und nicht in unserer Wahrnehmung der Dinge. In den beiden Folgen A: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 und B: 8, 3, 1, 5, 9, 6, 7, 4, 2 erscheint die Folge A geordnet, die Folge B dagegen völlig durcheinander, bis man uns sagt, dass B die gleiche wunderschöne Ordnung aufweist wie A, denn 69
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B ist alphabetisch geordnet (acht, drei, eins ...). ›Alles hat seine Ordnung, sobald man es versteht‹, sagt einer meiner Freunde, ein Neurophysiologe, der Ordnung dort sieht, wo ich nur einen völlig verworrenen Haufen von Zellen zu erkennen vermag.« (von Foerster 1993c: 198)
Damit geht also nicht nur der operative Charakter der Gestalttheorie verloren, sondern der ontologische Charakter, der ja gerade überwunden werden sollte, wird reaktiviert. Dies hat auch Auswirkungen auf den Ornamentbegriff. Anstatt das Phänomen der Ornamentalität neu in einer wahrnehmungstheoretischen Lesart zu verorten, wurde die seit der Renaissance eingesetzte Abwertung des Ornamentalen in der Moderne nicht nur weitergeführt, sondern durch eine selektive Bezugnahme auf die Ergebnisse der Gestalttheorie noch verschärft. Rudolf Arnheim betitelt seine Überlegungen zum Ornament in Kunst und Sehen bezeichnenderweise mit der ontologischen Frage Was ist ein Ornament? Dabei bestimmt sich das Ornament-Werk einerseits im Unterschied zum Kunst-Werk und andererseits in Abhängigkeit von seinem Träger. Zusammen mit der normativen Verpflichtung der Moderne auf die einfache Gestalt führt dies neben der schon bestehenden funktionalen Reduktion des Ornamentalen auf seine Schmuckfunktion hin, zusätzlich zu einer phänotypischen Reduktion des Ornamentalen auf eben jene Charakteristika der einfachen Gestalt. Die kategorische Trennung von Kunstwerk und Ornamentwerk kann als eine Reaktion auf das sich schon bei Alberti stellende Problem betrachtet werden: Dessen Konstruktion des Ornaments als ein der Schönheit anhängender Schimmer führte zu der Frage, weshalb denn die Schönheit noch eines zusätzlichen Schimmers bedarf. Als Konsequenz trennte die Moderne Kunstwerk und Ornament konsequent.23 Das so vom Kunstwerk losgelöste Ornamentwerk muss nun neu verortet werden, wenn man es nicht als eine eigene Kunstgattung betrachten wollte. Kurz: Das Ornament muss sich einen neuen Träger suchen. Da das Kunstwerk ausscheidet, bleibt als Träger nur noch das Gebrauchswerk übrig. In der gestaltpsychologischen Formulierung liegt die Funktion des Ornaments in der visuellen Interpretation des Charakters eines Objektes, einer Situation oder eines Geschehens.24 Da das Ornamentwerk grundsätzlich ab23 Kunsttheoretische Untersuchungen der 90er Jahre zeigen, dass der Ornamentbegriff bei Leon Battista Alberti sehr viel komplexer konstruiert ist, als die im Architekturdiskurs eingeschriebene Auffassung vom Ornament als reinem additiven Schmuck- und Verzierungselement. Vgl. Rüther-Weiß 1991 und Biermann 1997. 24 »Einmal, es gibt keine Form, die nichts darstellt. Jede Form und jede Farbe ist Ausdrucksträger; sie trägt eine Stimmung, zeigt das Verhalten von Kräften und bildet so etwas Universales in der individuellen Erscheinung ab. 70
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hängig von seinem Träger ist, d.h. nur die Charakteristika seines Trägers interpretieren kann und dieser Träger ein Gebrauchswerk ist, welcher normativ auf die einfache Gestalt festgelegt ist, kann auch das Ornament nur jene drei Charakteristika aufweisen: strenge Symmetrie, Einfachheit der Form und Regelmäßigkeit der Gestaltung. Asymmetrische Ornamente mit einer komplexen Form und einer weniger regelmäßigen Gestaltung – wie die im Rokoko vorherrschende Ornamentform der Rocaille oder die floralen in sich verschwungenen Linienornamente des Jugendstils – werden ignoriert. Es ist diese reduktionistische Ornamentinterpretation, die es dann ermöglichen wird, den Begriff des Ornamentalen durch den Begriff der Struktur auszutauschen. Dies wird deutlich, wenn Arnheim sich mit der Architektur beschäftigt. Als Kunstwerk, so Arnheim, stehe die Architektur der Skulptur nahe und drücke wie diese eine Weltanschauung aus. Als Gebrauchswerk sei sie jedoch charakterisiert durch strenge Symmetrie, einfache Form und Regelmäßigkeit der Gestalt, d.h. genau durch die vorher herausgearbeiteten ornamentalen Charakteristika. Da Arnheim zufolge die Funktion des Ornamentalen in der Architektur sei, »die besondere Aufgabe des Gebäudes als ein festes, dauerhaftes Mittel des Schutzes und als ein von Menschen geschaffenes, anorganisches Objekt, das von Natur und Mensch zu unterscheiden ist« (Arnheim 1964: 119), zu zeigen, muss das Ornamentale den Gebrauchswerkcharakter des Gebäudes unterstreichen. Wie aber soll ein Ornament mit seinen Charakteristika der strengen Symmetrie, einfachen Form und Regelmäßigkeit der Gestalt das Gebrauchswerk-Gebäude charakterisieren, ohne das Kunstwerk-Gebäude damit zu beeinträchtigen? Wie kann man sich den Aufbau des Ornaments von außen durch den ihm übergeordneten Träger (ebd.: 116) vorstellen, wenn dieser Träger gleichzeitig ein Kunstwerk sein soll? Dies ist im Vergleich zu Alberti ein radikaler Wechsel: Dieser hatte zwar die Trennung von Kunstwerk und Ornament mit einer entsprechenden Abwertung des Ornaments eingeleitet, aber in seiner Architekturkonzeption, die auch zwischen einer Architektur als Gebrauchswerk und als Kunstwerk unterschied, hatte er das Ornament, genauer: den apparatus ornamentorum, eindeutig im kunstwerkspezifischen Teil der Architektur verortet. Als Arnheim 1977 in seinem Buch Die Dynamik der architektonischen Form das Ornamentproblem für die Architektur (auffallend flüchtig) erneut anspricht, ist der normative Duktus schon stark gelockert – was auch in der Überschrift »Ornamente nicht nur zur Ausschmückung« (Arnheim 1980: 252) deutlich wird: Er verzichtet auf die Wiedergabe der
Jedes Ornament muß daher einen Inhalt haben. Sein Inhalt wird allerdings von seiner Aufgabe berührt.« (Arnheim 1964: 115) 71
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drei Gute-Gestalt-Charakteristika des Ornaments und zieht sich stattdessen auf die allgemeinere gestaltpsychologische Prämisse zurück, dass »der visuelle Ausdruck ein unentbehrliches, in der Tat unausweichliches Attribut aller architektonischen Formen« (Arnheim 1980: 252) sei, und es damit auch keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Ausdruck »schmuckloser Geradlinigkeit in einer Betonsäule und dem Ausdruck verspielter Stuckarbeiten in einem Barocksaal« (ebd.) gebe. Der Unterschied sei rein stilistischer Natur. Arnheim lässt deshalb auch nur die Unterscheidung von zwei Arten von Ornamenten zu: »diejenigen, die die visuelle Wirksamkeit eines Gebäudes erhöhen, und die anderen, die die Anschaulichkeit beeinträchtigen« (ebd.: 254). Arnheim verweist dafür auf die Konzeption eines integrierten Ornaments (ebd.: 256), wie es von Frank Lloyd Wright propagiert worden ist. Wenn nun Wright das integrierte Ornament als »das offenbare abstrakte Bild der Struktur selbst« (Wright 1961: 63) bezeichnet, so wird deutlich, dass er den OrnamentBegriff im Struktur-Begriff aufgehen lassen will.
Kosmos – Vom Ordnungssinn im Ornamentalen Vor dem Hintergrund dieser normativen und ontologischen Sackgassen der Gestaltpsychologie wird nachvollziehbar, weshalb Luhmann gestaltpsychologische Einflüsse auf eine Ornamentinterpretation unberücksichtigt lässt – sie sogar ausdrücklich mit dem Hinweis, dass »mit den Begriffen Messung und Errechnung [...] nicht kulturell eingeführte Maßstäbe gemeint« (Luhmann 1995: 179) sind, ausschließt. Der Soziologe Rudolf Stichweh hat diese Einschränkung mit dem Verweis auf die parallele Konstitution sozialer Objekte, die »einem über Kommunikation laufenden Prozeß der Bestimmung unterliegen« (Stichweh 1998: 343), zurückgewiesen. Aber auch dieser Prozess der Konstitution sozialer Objekte braucht zunächst einmal die Irritation durch Wahrnehmung. Auf der basalen Stufe der Wahrnehmung – und nur auf die zielt hier Niklas Luhmann ab – geht es ausschließlich um die neurophysiologische Operationsweise des Zentralnervensystems. Um dennoch die ungewöhnliche wahrnehmungstheoretische Konzeption des Ornamentalen bei Niklas Luhmann an den kunsttheoretischen Ornamentdiskurs zu binden, wird kurz auf Ernst Gombrich und seiner Konzeption eines Ordnungssinns im Ornamentalen verwiesen. Ernst Gombrich löst sich von der normativen Verpflichtung der Neuen Sachlichkeit und stellt Ende der 70er Jahre mit dem Blick des Kunsthistorikers in seiner großen Monographie Ornament und Kunst – im Gegensatz zu Arnheims Ornamentreduktion auf strenge Symmetrie, einfache Form und regelmäßige Gestaltung – eine schillern-
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de Welt ornamentaler Phänotypen zusammen. Luhmann bescheinigt diesem in der Kunst der Gesellschaft, sehr viel »sensibler in der Frage der Einflüsse des Ornamentalen auf die Stilentwicklungen der Kunst« (Luhmann 1995: 194) zu sein, um dann jedoch kritisch anzumerken, dass Gombrich immer noch an der Trennung von Kunstwerk und Verzierung festhält. Dies ist einerseits richtig, andererseits verfehlt die Kritik ihr Ziel, da Gombrich das Ornamentale weitestgehend unabhängig von der Unterscheidung Kunstwerk/Ornament beobachtet. Gombrich unterscheidet vielmehr gleich zu Anfang zwischen Bedeutungswahrnehmung und Ordnungswahrnehmung: »Es scheint, dass diese Grundbegriffe im ganzen Gebiet der darstellenden bildenden Künste eine Rolle spielen. Selbstredend kann die Bedeutungswahrnehmung nie ausgeschaltet werden, aber für das Verstehen der Ornamentik müssen wir uns zunächst mit der Ordnungswahrnehmung befassen.« (Gombrich 1982: 14) Ernst Gombrichs Interesse liegt nun ganz auf der Ordnungswahrnehmung, oder wie er es bezeichnet: auf dem Ordnungssinn. Innerhalb des dekorativen Schaffens trägt Gombrich wie kein anderer vor ihm umfangreiches Material zusammen und arbeitet heraus, dass und v.a. wie der Ordnungssinn im Ornamentalen am deutlichsten, in nuce, sichtbar und wirksam wird. Diesen untersucht er in seiner Monografie allein im dekorativen Schaffen. Dies ermöglicht ihm, an der Unterscheidung Kunstwerk/ Schmuckwerk festzuhalten, ohne sie zur Grundlage seiner Untersuchungen des Ornamentalen zu machen, wie es z.B. die frühe Gestaltpsychologie Arnheims machte. Gerade Gombrichs zentraler Begriff des Ordnungssinns (der der englischen Originalausgabe auch den sehr viel signifikanteren Titel The Sense of Order gegeben hat) besitzt jedoch eine hohe Anschlussfähigkeit für Luhmann, da dieser vor der Aufgabe steht, zu zeigen, wie man das Kunstwerk als eine sinnförmige Kommunikation beobachten kann. Die Luhmann’sche Konzeption des Ornamentalen kann dementsprechend durchaus als ein Anknüpfen an einen Ordnungssinn im Ornamentalen und einer anschließenden Radikalisierung beobachtet werden. Der Ausgangspunkt für die Konzeption eines Ordnungssinns ist auch für Gombrich das Problem der Ordnung von Raum und Zeit, wie es Kant formuliert hatte: »Kant legte die erste Bresche in diese theoretische Festung, als er fragte, wie der Geist denn solche Eindrücke in Zeit und Raum ordnen könne, wenn Raum und Zeit erst auf dem Weg der Erfahrung erkannt werden müssen.« (Ebd.: 13) Gombrich schloss daraus, dass ohne ein bereits bestehendes Rahmenwerk oder Registratursystem (ebd.) wir die Welt nicht auffassen oder gar in ihr überleben könnten. Und auch Gombrich verweist darauf, sich bei der Lösung des Problems zu fragen, »wie die anderen Organismen in dieser Welt überleben« (ebd.) und verweist auf Forschungen aus der Ethologie und
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der Verhaltensforschung. Anders als Niklas Luhmann jedoch stellt Gombrich nicht die Wahrnehmungstheorie ganz auf eine konstruktivistische Linie um. In der Luhmann’schen Unterscheidung von ornamentalen und figurativen Komponenten findet man zwar Gombrichs Unterscheidung von Ordnungssinn und Bedeutungssinn – allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass Gombrich die Unterscheidung für das »Gebiet der darstellenden bildenden Künste« (ebd.: 14) beziehungsweise für Produkte des dekorativen Schaffens anwendet, während Luhmann sein Unterscheidungspaar einem künstlerischen Schaffen allgemein zuordnet. Oder anders formuliert: Nicht allein in dekorativen Werken wird der Ordnungssinn durch das Ornamentale gestiftet, sondern auch im Kunstwerk. Aus Sicht einer konstruktivistischen Wahrnehmungstheorie gibt es keinen Grund, an der Unterscheidung von Kunstwerk und Schmuckwerk festzuhalten. Alle Werke – sowohl die eines dekorativen als auch die eines künstlerischen Schaffensprozesses – müssen zunächst Raum und Zeit so ordnen, damit sie als speziell für die Beobachtung von Beobachtungen hergestellte Werke wahrgenommen werden und damit nicht als »Weltobjekte irgendwelcher Art« (Luhmann 1995: 70) verwechselt werden. Deshalb muss es auch einen Ordnungssinn nicht allein im Schmuckwerk, sondern auch im Kunstwerk geben. Da der Ordnungssinn im Ornamentalen steckt, d.h. durch das Ornamentale konstruiert wird, ist für Niklas Luhmann das Ornamentale der Ordnungssinn im Kunstwerk schlechthin. Oder anders formuliert: Jedes Kunstwerk hat sein Ornament. Die Ornamentik, der eine nur dienende Funktion zugedacht war, übernimmt bei Luhmann die Last der Sinngebung: »Wenn man Kunstwerke als Kunstwerke auf ihr Formenspiel hin beobachten will, muss man nach ihrem Ornament fragen.« (Ebd.: 196) Die Trennung von Ornament und Kunstwerk wird mittels einer konstruktivistischen Wahrnehmungstheorie als eine spezifisch künstliche entlarvt. Im Zuge der Aufhebung der Trennung wird die Abwertung des Ornamentalen rückgängig gemacht und das Ornamentale rehabilitiert: Die vorherige additive Funktion wandelt sich zu der grundlegenden Funktion für das Kunstwerk und das Ornamentale wird zur Grundlage eines jeden Kunstwerkes.25 25 Luhmann fokussiert den Blick auf das Kunstwerk als ein »System formaler Beziehungen« und knüpft damit an grundlegende Überlegungen an, die George Kubler 1962 in seinem Buch Die Form der Zeit angestellt hat. Kubler machte darauf aufmerksam, dass Cassirers Definition der Kunst als einer symbolischen Sprache den Kunstdiskurs so einseitig geprägt hat, dass die zweite Möglichkeit, Kunst zu beobachten, nämlich als ein System formaler Beziehungen, vernachlässigt worden ist. Ähnlich wie Luhmann insistiert Kubler schon 1962 darauf, dass »keine Bedeutung ohne Form ver74
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Durch ein ›Tieferlegen‹ des gestalttheoretischen Konzepts einer Ordnungswahrnehmung im neurophysiologischen Errechnen von Objekten im Zentralnervensystem gibt Luhmann dem Ornamentalen seine grundlegende Funktion als einem spezifisch künstlerischen Ordnungsprinzip wieder. Damit zieht Luhmann nicht nur die Konsequenz aus dem vom Gombrich zusammengetragenen beeindruckenden kulturhistorischen Material, welches nur allzu deutlich die »Einflüsse des Ornamentalen auf die Stilentwicklung der Kunst« (Luhmann 1995: 194) aufgezeigt hat, sondern löst damit auch Gombrichs zentralen Untersuchungsansatz, die Aufmerksamkeit bei der Interpretation des Terminus Ornament von der lateinischen Sprachwurzel zum griechischen Sprachgebrauch zu verschieben, ein: »Im politischen Denken besteht eine Tendenz, Ordnung mit Zwang gleichzusetzen und damit als Widerspruch zu Freiheit und Spontanität zu empfinden. Wen das stört, den möchte ich gerne an den schönen griechischen Sprachgebrauch erinnern, in dem das Wort ›Kosmos‹ sowohl Schmuck als auch Weltall bedeutet (ein Sprachgebrauch, der im Deutschen sowohl in ›Kosmetik‹, als auch in ›kosmisch‹ nachklingt). Geht doch der Zug nach Ordnung sowohl durch das Weltall als auch durch die menschliche Kunstfertigkeit.« (Gombrich 1982: 10)
mittelt werden kann« (Kubler 1982: 29). Dabei versucht auch schon Kubler – wie später Luhmann unter etwas modifizierten Begrifflichkeiten – Kommunikationstheorie und Evolutionstheorie zu verbinden, wobei dann Kubler von der »Infrastruktur jeder Kunst« (ebd.: 30) spricht: »Die Formen der Kommunikation sind leicht zu trennen von jeder Inhaltsvermittlung. In der Linguistik sind diese Formen Sprechlaute (Phoneme) und grammatikalische Einheiten (Morpheme). In der Musik sind es Noten und Intervalle; in der Architektur und Bildhauerei sind es Körper und Räume; in der Malerei sind es Farben und Flächen. Strukturen können unabhängig von Bedeutungen wahrgenommen werden. Wir wissen besonders aus der Linguistik, dass Strukturelemente im Laufe der Zeit mehr oder weniger regelmäßigen evolutionären Veränderungen unterworfen sind, ohne dabei die Bedeutung zu treffen. [...] Ähnliche Gesetzmäßigkeiten bestimmen wahrscheinlich die formale Infrastruktur jeder Kunst. Wenn jedoch Symbole gehäuft vorkommen, so stellen wir Interferenzen fest, die die regelmäßige evolutionäre Veränderung des formalen Systems unterbrechen können. Eine Interferenz von visuellen Bildern liegt fast in jeder Kunst vor. Sogar die Architektur, von der man allgemein annimmt, dass sie frei von figuralen Intentionen sei, wird durch die Bilder der bewunderten Gebäude der Vergangenheit, der fernsten wie der jüngsten, von einer Ausdrucksweise zur nächsten geführt.« (Kubler 1982: 29/30) 75
DAS ORNAMENTALE UND DIE ARCHITEKTONISCHE FORM
Luhmann wird dies in der Kunst der Gesellschaft folgendermaßen formulieren: »Aber zunächst wird nicht die Differenz von Ding und Verzierung betont, sondern gerade die Einheit, die Hervorhebung der Bedeutung. ›Kosmos‹ im griechischen Verständnis ist zugleich Ordnung und Schmuck.« (Luhmann 1995: 349) Der Hinweis auf die griechische Sprachwurzel ist also nicht neu, aber erlangt über die konstruktivistische Wahrnehmungstheorie eine neue Relevanz. So wies natürlich auch schon Semper in seinem 1856 veröffentlichten Aufsatz Über die formelle Gesetzmäßigkeit des Schmuckes und dessen Bedeutung als Kunstsymbol auf die griechische Sprachwurzel hin: »Die reiche und präzise Sprache der Hellenen hat dasselbe Wort zur Bezeichnung des Zierrates, womit wir uns und die Gegenstände unserer Neigung schmücken, und der höchsten Naturgesetzlichkeit und Weltordnung. Dieser tie[Kosmos] ist gleichsam der Schlüssel hellefe Doppelsinn des Wortes nischer Welt- und Kunstanschauung. Dem Hellenen war der Schmuck in seiner kosmischen Gesetzlichkeit der Reflex der allgemeinen Weltordnung, wie sie uns in der Erscheinungswelt den Sinnen fasslich entgegentritt, er galt ihm als allgemeinverständliches, sich selbst erklärendes Symbol der Naturgesetzlichkeit auch in der bildenden Kunst, der Architektur, das überall als wesentliches Element der formellen Ausstattung erscheint. Die Ästhetik der Hellenen, soweit sie das Gesetzliche des Formell-Schönen betrifft, fußt auf den einfachen Grundsätzen, die beim Schmücken des Körpers in ursprünglichster Klarheit und Fasslichkeit hervortreten.« (Semper 1856: 101f.)
Über die Interpretation der griechischen Sprachwurzel durch eine konstruktivistische Wahrnehmungstheorie drückt sich nicht mehr nur eine kulturelle, überlebte und damit allein historische Vorstellung aus, sondern wird eine Ornamentkonzeption deutlich, die für jegliches künstlerisches Schaffen grundlegend ist26. Die Schwierigkeiten bestehen nun darin, aus einer solchen weitgefassten Ornamentdefinition, wie sie die griechische Sprachwurzel mit sich bringt, genaue Charakteristika des Ornamentalen angeben zu können. Erst jüngst hat der Architekt und Theoretiker Kent Bloomer in seiner Monographie The Nature of Ornament. Rhythm and Metamorphosis in Architecture auf diese Schwierigkeit hingewiesen, als er lateinische und griechische Sprachwurzel erwähnte: »The English word ornament comes from the Latin word ornamentum, rooted in ornare, which in a modern interpretation means ›to confer grace upon some object of ceremony‹. The term ornament, by most accounts, originated inside the Greek term Kosmos, which meant something like ›universe‹, ›order‹, and
26 Niklas Luhmann wird entsprechend den Ursprung der Kunst auch im Ornament verorten (vgl. Luhmann 1995: 348/349). 76
ORNAMENT & WAHRNEHMUNG
›ornament‹. In such a Greek translation, ornament is implicated with concepts so vast that at first it may seem impossible to disentagle it from an inventory of all things.« (Bloomer 2000: 15)
Diese Schwierigkeit, das Ornamentale in der griechischen Sprachbenutzung abzugrenzen und zu profilieren, lässt Bloomer davor zurück schrecken, eine Definition des Ornaments anzugeben: »I do not try to define ornament, because a ›definition‹ would be too limiting for a term that alludes to an art form.« (Ebd.: 11) Bloomer ›belässt‹ es daher bei einer Reaktivierung der Begriffe Rhythmus und Metamorphose und knüpft damit gewissermaßen bei August Schmarsow wieder an. Das Problem besteht jedoch darin, dass Bloomer über den Bereich der gotischen Architektur hinaus mit den beiden Begriffen nur unzureichend und wenig überzeugend das Phänomen Ornamentalität zu fassen bekommt. Durch die Interpretation der griechischen Sprachwurzel durch die konstruktivistische Wahrnehmungstheorie ergeben sich neue Möglichkeiten, das Phänomen des Ornamentalen einerseits so abstrakt zu definieren, dass es der Vielzahl verschiedener ornamentaler Phänotypen gerecht wird, und andererseits mit Begriffen und Konzepten zu ergänzen, die die künstlerische Organisation von Raum und Zeit spezifizieren und die ornamentale Qualität des architektonischen Schöpfungsprozesses kennzeichnen.
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ORNAMENT & KALKÜL Zur Formulierung des Ornamentalen
»Das Ornament – Antwort auf die Leere, Kompensation des Möglichen, in gewisser Hinsicht vollständig, annulliert eine Freiheit.« (Valery 1998: 44)27 »Die Grundform des Entwickelns von Formen aus Formen ist das (sehr irreführend so genannte) Ornament. […] Ornamente sind Rekursionen, Rückgriffe und Vorgriffe, die sich als solche fortsetzen.« (Luhmann 1995: 193/194)
Das Ornamentale und das Mathematische bei Paul Valéry In Anlehnung an die Ergebnisse der konstruktivistischen Wahrnehmungstheorie formuliert Luhmann, dass Raum und Zeit Medien der Messung und Errechnung von Objekten seien und dass das Ornamentale der künstlerischen Organisierung dieser Medien diene. Damit bringt Luhmann ornamentale Prozesse in die Nähe zu mathematischen Rechenprozessen. Etymologisch konnte schon auf die Verwandtschaft von Rechnen und Ordnen verwiesen werden. Wie aber hat man sich genau den Rechenvorgang vorzustellen? Als Addition, Multiplikation oder als Integralrechnung? Dies ist deshalb wichtig, weil nur so der ganz besondere Charakter eines solchermaßen über die Mathematik operationalisierten Ornamentbegriffs herauszuarbeiten ist. Schon die konstruktivistische
27 Ich folge hier der Übersetzung von Karin Krauthausen 2004: 86. 79
DAS ORNAMENTALE UND DIE ARCHITEKTONISCHE FORM
Wahrnehmungstheorie hatte herausgearbeitet, dass die Rechenprozesse, die die Grundlage der menschlichen Wahrnehmung bilden, als rekursiv zu kennzeichnen sind. Mathematisch betrachtet ist der Begriff der Rekursion ein sehr junger. Erst zwischen 1905 und 1926 wurde er im strengen mathematischen Sinne maßgeblich durch David Hilbert entwickelt und gelangte dann v.a. im Rahmen kybernetischer Überlegungen, ausgehend von Norbert Wieners Standardwerk Cybernetics von 1948, in außermathematische Bereiche, wie z.B. einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie. Das neurophysiologische Prinzip der undifferenzierten Codierung führte ja zu der Frage, wie unsere kognitiven Prozesse organisiert sind, dass aus den lediglich quantitativen Reizen Qualitäten entstehen. Es wurde schon daraufhingewiesen, dass dies nur über eine Korrelation von Sensorik und Motorik errechnet werden kann. Entscheidend dabei ist nun, dass Sensorik und Motorik in einem zirkulären Verhältnis zueinander stehen: die vom Motorium erzeugten Änderungen im Sensorium sind wiederum für Veränderungen im Motorium verantwortlich usw. Auf die Notwendigkeit eines solchen rekursiven Zusammenspiels von Sensorik und Motorik hatte schon der französische Mathematiker Henri Poincaré in seinem Aufsatz L'espace et la geometrie von 1894 hingewiesen, um zu begreifen, wie die Vorstellung eines dreidimensionalen Raumes konstruiert wird, wenn auf der Retina Bilder von nur zwei Dimensionen zur Verfügung stehen. Seine Antwort war entsprechend, dass Mannigfaltigkeiten von höheren Dimensionen nur dann erlebt, verstanden und begriffen werden können, wenn die Veränderungen der Sensationen mit einer willkürlichen Veränderung der Position der Sinnesorgane korreliert werden: Erst die Auge/Hand-Korrelation beim Hantieren von Gegenständen ermöglicht Raumperzeption. Heinz von Foerster wird dann, im Rahmen seiner Kybernetik zweiter Ordnung, rekursive Verfahren als die typischen Verfahren nicht-trivialer Maschinen bezeichnen und Douglas R. Hofstadter schreibt rekursiven Systemen die Fähigkeit zu, aus jedem vorgegebenen Muster auszubrechen und damit ein Merkmal von Intelligenz zu zeigen (vgl. Hofstadter 1999: 164). Niklas Luhmann nimmt die Denkfigur der Rekursion als Kennzeichen für soziale Systeme auf und ersetzt damit zunehmend den Begriff der Reflexivität in seinen älteren Arbeiten.28 Aber auch die besondere Qualität des Ornamentalen kennzeichnet Luhmann damit: »Ornamente sind Rekursionen, Rückgriffe und Vorgriffe, die sich als solche fortsetzen.« (Luhmann 1995: 193/194) Da es hierbei nicht mehr um das rekursive Verrechnen von Zahlen gehen kann, formalisiert Luhmann die Ornamentdefinition in der Form eines mathematischen Kalküls: »Die Grundform des Entwickelns von Formen
28 Darauf macht u.a. Markus Krajewski 1999: 44 aufmerksam. 80
ORNAMENT & KALKÜL
aus Formen ist das (sehr irreführend so genannte) Ornament.« (Ebd.)29 Die Luhmann’sche Formulierung von der Grundform des Entwickelns von Formen aus Formen bezeichnet im allgemeinen mathematischen Sinne ein Kalkül; oder anders: Die Ornamentgenese – verstanden als eine Abstraktion der Kunstwerkgenese – wird als Kalkül beschrieben. Kalkül30 als Begriff der Mathematik und der Logik ist erst einmal nichts anderes als ein formales Regelsystem, d.h. ein System von Symbolketten und Regeln, wobei die Regeln Vorschriften für die Umwandlung einer Symbolkette in eine andere, als Produktionen einer formalen Grammatik sind. Die Anwendung der Regeln kann dabei ohne Kenntnis der Bedeutung der Symbole, also rein syntaktisch erfolgen. Formale Systeme, d.h. Kalküle werden verwendet, insbesondere um neue Aussagen aus bereits bekanntem Wissen herzuleiten. Die philosophischen Wurzeln des Kalküls lassen sich schon in Aristoteles’ Syllogistik finden, und setzten sich später unter dem Namen ars inveniendi fort, in dessen Linie vor allem Leibniz’ characteristica universalis steht. Zielstellung hierbei ist, durch reine Anwendung von vorher bestimmten Regeln, mit Hilfe von Sprache, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Die Grundlegung der Ornamentdefinition in einem mathematischen Kalkül betont schon in dieser sehr allgemeinen Bezugnahme, dass man es mit einer enormen Formalisierung, Abstrahierung und Operationalisierung des Ornamentbegriffs zu tun hat. Paul Valéry, der ähnlich wie Schmarsow die ordnende Wirkung des Ornamentalen für das Kunstwerk aus wahrnehmungstheoretischen Untersuchungen des 19. Jahrhunderts entwickelte und die Beziehung zwischen Rhythmus und Ornament betonte, stellte auch die Beziehung von Ornament und Mathematik prominent heraus: »Von diesem Standpunkt aus ist die ornamentale Auffassung in den einzelnen Künsten das, was die Mathematik für die anderen Wissenschaften bedeutet. [...] Damit baut sich das Kunstwerk sozusagen durch eine Abstraktion auf, und diese Abstraktion ist mehr oder weniger energisch, mehr oder weniger leicht zu bestimmen, je nachdem die der Wirklichkeit entnommenen Elemente mehr oder weniger verwickelt sind.« (Valéry 1998: 45/56)
29 Bei dieser Formulierung handelt es sich um eine Paraphrase der Kalküldefinition George Spencer-Browns: »Call Calculation a procedure by which, as a consequence of steps, a form is changed for another, and call a system of constructions which allows calculation a calculus.« (Spencer-Brown 1979: 11) 30 An folgende Unterscheidung ist zu erinnern: Der Kalkül bezeichnet das von der Mathematik und der Logik bereitgestellte Instrument bzw. System zur Durchführung von Berechnungen. Das Kalkül meint den Akt der Berechnung selber. 81
DAS ORNAMENTALE UND DIE ARCHITEKTONISCHE FORM
Auch Valéry benutzt den Mathematikvergleich, um den Ornamentbegriff auf ein entsprechendes Abstraktionsniveau zu heben. Kaum verwunderlich ist es dann, dass Valéry, wie später Luhmann, schon Ornamentalität und mathematisches Kalkül funktional analog betrachtet: »[...] im Kunstwerk macht sich eine Art Kalkül bemerkbar, auch eine Komplizierung der Formen, ein Streben danach, sie reizvoller zu gestalten. Mit dem abstrakten Ornament kommt die Darstellung der Dinge. Infolge dessen mussten der Intellekt und alle seine Ressourcen nach und nach auf den Plan treten, und mit ihm die reflektierte Beobachtung.« (Valéry 1995a: 197) Die Ähnlichkeit zur Luhmann’schen Ornamentformulierung geht jedoch noch sehr viel weiter als beider Hang zum Formalisieren und Herausarbeiten der funktionalen Analogie von Ornament und Kalkül. Denn auch schon Valéry hat das Kalkül als ein rekursives gedacht. Dies ist noch nicht genügend herausgearbeitet und gewürdigt worden, zeigt sich jedoch bei einer genauen Betrachtung Valérys Beschreibung des künstlerischen Konstruktionsprozesses: »Dieser Sinn, der bei gewissen Individuen in Gestalt einer wahren Leidenschaft und mit einzigartiger Kraft aufgetreten ist, der in den Künsten Voraussetzung jeden Vorankommens ist und die Erklärung dafür gibt, warum immer häufiger engere Begriffe, Abkürzungen und schärfere Kontraste in Gebrauch kommen, liegt in rationaler Form implizit allen mathematischen Begriffen zugrunde. Ihm sieht das Verfahren sehr ähnlich, das unter dem Begriff des mathematischen Reihen-Kalküls solchen Analysen ein weites Feld eröffnet hat und das vom Additionsverfahren bis hinauf zur Infinitesimalrechnung mehr zu bedeuten hat als das bloße Einsparen einer unbestimmten Anzahl überflüssiger Experimente, denn es steigt zu komplexeren Begriffseinheiten auf, insofern die bewusste Nachahmung meines Handelns ein andersgeartetes Handeln ist, das alle möglichen Angleichungen der ersten Handlungsstufe in sich faßt.« (Valéry 1998: 19)
Sehr viel aussagekräftiger als der in der deutschen Übersetzung gewählte Begriff des »Reihen-Kalküls« (Valéry 1998: 19) ist der französische Originaltext, der von einem »raisonnement par récurrence« (Valery 1989: 156) spricht, d.h. von einer ›Schlussfolgerung durch wiederholendes Auftreten‹. Der Hinweis Valérys, diesen Ausdruck einem Artikel des Mathematikers Henri Poincaré entnommen zu haben, ermöglicht es schließlich, mathematisch genauer das Kalkül als ein rekursives zu bestimmen. In dem von Valéry angesprochenen Artikel Sur la nature du raisonnement mathematique von 1894 spricht der Mathematiker Henri Poincaré der Mathematik nicht nur eine kreative Kraft (creative virtue) zu, sondern zeigt am Beispiel der elementaren Arithmetik, d.h. an den Definitionen für Addition und Multiplikation sowie den Gesetzen zur
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Assoziativität, Kommutativität und Distributivität auf, dass es einen in all diesen Beispielen wirksamen Mechanismus gibt: »Raisonnement par recurrence« – einen »Beweis durch Rekursion«. Ein solcher rekursiver Beweis enthält in einer einzigen Formel unendlich viel einzelne Syllogismen in einer Weise, dass das Ergebnis des einen Syllogismus die Prämisse des nächsten ist (vgl. Krajewski 1997, 1999 und Winkler 1999). 100 Jahre später kehrt dieser Gedanke bei Luhmanns Ornamentdefinition wieder auf.31 Valéry wie auch Luhmann beobachten Ornamentalität als rekursives Kalkül. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass Luhmann auf ein differenztheoretisches Kalkül – nämlich das von George Spencer-Brown – zurückgreift. Im mathematischen Formenkalkül George Spencer-Browns findet Luhmann das Verfahren der Rekursion in einer streng formalisierten Form, die nicht mehr mit Elementen rechnet, sondern nur noch mit Unterscheidungen.
Kunstwerk und Ornament als Unterscheidungskette Wenn Luhmann zur Charakterisierung des künstlerischen Schaffensprozesses auf ein mathematisches Kalkül – nämlich das Formenkalkül George Spencer-Browns aus dem Jahr 1969 – verweist, nimmt er implizit, d.h. es gibt bei Luhmann keinen expliziten Hinweis auf Valérys Verknüpfung von Kalkül und Ornament, einen Faden wieder auf, kann aber den Gedanken der funktionalen Analogie von Ornamentalität und rekursiven Berechnungsprozessen auf ein neues Niveau heben, indem er diesen Gedanken über das Formenkalkül George Spencer-Browns zum einen mit differenztheoretischen und zum anderen mit beobachtungstheoretischen Überlegungen ergänzt. Zusammen ergibt sich dadurch im 31 Dass es einhundert Jahre gedauert hat, bis dieser Gedanke wieder aufgenommen und konsequent weiter entwickelt wurde, mag v.a. darin liegen, dass zu der Zeit, als Valéry den Verdacht äußerte, Ornamentalität vor dem Hintergrund rekursiver Kalküle beobachten zu müssen, die mathematischen Gesetze der Ornamentalität auf dem Gebiet der Gruppentheorie formuliert wurden. Zum einen war man auf diesem mathematischen Gebiet sehr viel weiter in der Forschung als bezüglich dem Phänomen rekursiver Funktionen und zum zweiten ließen sich gruppentheoretische Ergebnisse sehr einfach an den kunsttheoretischen Ornamentdiskurs anschließen, der seit Riegl das Ornament mit den Begriffen der Symmetrie und des Rapports beschrieben hatte. Auch noch Max Bense sah Valérys Analogie von künstlerischen Schaffensprozess, Ornamentalität und mathematischen Kalkül ausschließlich verbunden über den Symmetrie- und Rhythmus-Begriff bzw. der Gruppentheorie (vgl. Bense 1949: 44-51). 83
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Ornamentalen nicht nur eine kunsttheoretische, sondern auch ganz allgemein eine erkenntnistheoretische Form. Genau eine entsprechende erkenntnistheoretische Dimension legt denn auch George Spencer-Brown seinen Laws of Form, in denen es vordergründig um eine Rekonstruktion der Boole’schen Algebra unter der Bedingung, dass für Arithmetik und Algebra nur ein einziger Operator verwendet werden darf, zu Grunde: »Das Thema dieses Buches ist, dass ein Universum zum Dasein gelangt, wenn ein Raum getrennt oder geteilt wird. Die Haut eines lebenden Organismus trennt eine Außenseite von einer Innenseite. Das gleiche tut der Umfang eines Kreises in einer Ebene. Indem wir unserer Darstellungsweise einer solchen Trennung nachspüren, können wir damit beginnen, die Formen, die der Sprachwissenschaft wie der mathematischen, physikalischen und biologischen Wissenschaft zugrunde liegen, mit einer Genauigkeit und in einem Umfang, die fast unheimlich wirken, zu rekonstruieren, und können anfangen zu erkennen, wie die vertrauten Gesetze unserer eigenen Erfahrung unweigerlich aus dem ursprünglichen Akt der Trennung folgen. Der Akt selbst bleibt, wenn auch unbewusst, im Gedächtnis als unser erster Versuch, verschiedene Dinge in einer Welt zu unterscheiden, in der anfänglich die Grenzen gezogen werden können, wo immer es uns beliebt. Auf dieser Stufe kann das Universum nicht unterschieden werden von der Art, wie wir es behandeln, und die Welt mag erscheinen wie zerrinnender Sand unter unseren Füßen.« (Spencer-Brown 1997: XXXV)
Noch bevor George Spencer-Brown die Gesetzmäßigkeiten, die der Entstehung von Formen zugrunde liegen, darstellt, schickt er diejenige Definition des Formbegriffs voraus, die Niklas Luhmann als Grundlage seiner differenztheoretischen Überlegungen benutzen wird: »Wir nehmen die Idee der Unterscheidung und die Idee der Bezeichnung als gegeben an, und dass wir keine Bezeichnung vornehmen können, ohne eine Unterscheidung zu treffen. Wir nehmen daher die Form der Unterscheidung für die Form. [...] Unterscheidung ist perfekte Be-Inhaltung. Das heißt, eine Unterscheidung wird getroffen, indem eine Grenze mit getrennten Seiten so angeordnet wird, dass ein Punkt auf der einen Seite die andere Seite nicht erreichen kann, ohne die Grenze zu kreuzen.« (Ebd.: 1)
Nachdem eine solche Unterscheidung getroffen wurde, können die »Räume, Zustände oder Inhalte« (ebd.) auf jeder Seite der Grenze bezeichnet werden. Die bezeichnete Seite ist die innere Seite – der marked space – während die nicht bezeichnete Seite die äußere Seite – der unmarked space – ist. Jede Bezeichnung ist also immer abhängig von einer Unterscheidung. Die Form der Unterscheidung unterscheidet sich gleichsam selbst in Unterscheidung und Bezeichnung. Sie ist paradox gebaut, indem sie in sich selbst wieder vorkommt, keinen Anfang erlaubt, son84
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dern nur einen infiniten Regress in der Suche nach der ersten Unterscheidung in der Welt auslösen kann. Da es also keinen absoluten Anfang gibt, kann der erste Schritt des Kalküls auch nur aus einer Weisung bestehen: »Draw a distinction« – »Triff eine Unterscheidung« (ebd.: 3). Heinz von Foerster hat dies 1969 in der ersten Besprechung der Laws of Form als den schöpferischen Akt bezeichnet: »Gesetze sind keine Beschreibungen, sie sind Befehle, Aufforderungen; ›Handle!‹ Daher ist die erste konstruktive Proposition in seinem Buch, die Aufforderung: ›Triff eine Unterscheidung!‹, eine Ermahnung, den alterursprünglichsten, den schöpferischen Akt zu vollziehen.« (von Foerster 1993e: 9)32 Schon im Grundlagenteil wurde kurz mit einem Zitat Luhmanns illustriert, wie er diesen differenztheoretischen Formbegriff aufnimmt und ihn in seine Beobachtungstheorie einbaut, indem er jede Verwendung einer Unterscheidung zur Bezeichnung ihrer einen und nicht ihrer anderen Seite Beobachtung nennt. Entsprechend ergibt sich sowohl bei der Produktion als auch bei der Rezeption von Kunstwerken ein Paradoxieauflösungszwang: »Jede Verwendung einer Unterscheidung zur Bezeichnung ihrer einen und nicht ihrer anderen Seite wollen wir Beobachtung nennen. Dieser Sprachgebrauch scheint sich heute einzubürgern. Er hat zwei wichtige Vorteile: Er macht zum einen auf den operativen Grundzug der Theorie aufmerksam. Ihre letzten Elemente sind Operationen. Und er umfasst sowohl Erleben als auch Handeln, sowohl Betrachten als auch Herstellen von etwas. Künstler und Kunstbetrachter kommen darin überein, dass sie formenabhängige Beobachter sind. Und sie kommen auch darin überein, dass sie auf die Logik des unterscheidenden Bezeichnens angewiesen sind, also mit Formen arbeiten müssen, die sie im Moment ihres Gebrauchs nur einseitig benutzen und nicht als Einheit sehen können. Als Beobachter sind Künstler und Kunstbetrachter (wie auch Sprecher und Zuhörer) formal isomorph instrumentiert. Sie beobachten in derselben Weise, vor demselben Problem der Invisibilität der Unterscheidung, die sie jeweils gerade zur Bezeichnung verwenden. Sie setzen sich demselben Paradoxieauflösungszwang aus – und haben vielleicht deshalb ein Interesse an Kommunikation.« (Luhmann 1992b: 67/78)
Als zweites interpretiert Luhmann den Form-Begriff als Zwei-SeitenForm. Damit bringt er zum ersten Mal die Zeit ins Spiel: »Eine Form hat zwei Seiten, soviel scheint festzustehen. Sie wird eingesetzt durch die Fixierung einer Grenze, die bewirkt, dass zwei Seiten getrennt werden mit der Folge, dass man die eine Seite nur durch eine weitere Operation 32 Niklas Luhmann wird mit Blick darauf lakonisch sagen können: »Ein Künstler ist nicht auf ›Inspiration‹ angewiesen, er muss nur anfangen können.« (Luhmann 1992b: 70) 85
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erreichen kann, die die Grenze kreuzt. Formsetzung ist also Unterscheiden, und Unterscheiden ist eine Operation. Und das setzt, wie alles Operieren, Zeit voraus.« (Luhmann 1993b 199) Durch Inanspruchnahme von Zeit, d.h. durch die Sequenzierung von Operationen, die daran gebunden sind, dass immer eine andere Seite, also eine gleichzeitig wirksame Unterscheidung mitgeführt wird, lässt sich die Formparadoxie auflösen: »Strukturell gesehen existiert die Zwei-Seiten-Form im Zeitmodus der Gleichzeitigkeit. Operativ gesehen ist sie nur im Nacheinander der Operationen aktualisierbar, weil die Operation von der einen Seite aus die Operation von der anderen Seite ausschließt. Die Form ist die Gleichzeitigkeit des Nacheinander.« (Ebd.: 202) Ganz im Sinne von George Spencer-Browns Formenkalkül stellt sich Luhmann den Operationsprozess, der zu einem Kunstwerk führt, als eine rekursive Unterscheidungskette vor. Der Künstler beginnt beliebig oder wie es Niklas Luhmann formuliert: »Jeder Zufall würde genügen« (Luhmann 1995: 55). Die zweite Operation ist nun aber schon nicht mehr beliebig, da die erste Operation eine Unterscheidung hinterlassen und damit die Möglichkeiten für Anschlussoperationen eingeschränkt hat. Jede weitere Operation verfährt in diesem Sinne, d.h. limitiert weitere Anschlussmöglichkeiten. Künstler und Rezipient beobachten gleichermaßen welche Operation jeweils am besten passend anschließen kann. Aus dieser Folge von Formentscheidungen verdichtet sich ein Ordnungsgefüge. Diese operative Theorie künstlerischer Produktion in Abhängigkeit vom Form-Begriff und von Zeitlichkeit veranschaulicht Niklas Luhmann in einem Gespräch mit dem Künstler Frederick D. Bunsen und Dirk Baecker: »Der Formbegriff ist auf alle Fälle eher ungewöhnlich gemeint und hat die Absicht, auf irgendetwas aufmerksam zu machen, was man alltäglich gar nicht sehen würde, wenn man auf die Gestalt der Dinge achtet. Es ist also kein Gestaltbegriff. Es geht nicht um die Frage, ob ein Ding rund ist oder viereckig oder grellfarbig oder schwachfarbig oder groß oder klein. Sondern mit Form meine ich immer die Produktion einer Differenz, also einer Grenzlinie. Das kann natürlich ein Kreis sein oder eine schnell oder langsam, gerade oder gestrichelte Linie. Aber immer mit dem Effekt, dass es zwei Seiten unterscheidet. Und mit der Folge, daß man Zeit braucht, um die Grenzen zu überschreiten, also nur mit einer besonderen gedanklichen oder faktischen Operation zur anderen Seite kommt. Und das bedeutet, dass man bei allen Entscheidungen, die man bei der Anfertigung eines Werkes oder auch bei der Analyse oder der Beobachtung eines Kunstwerkes trifft, immer auch die andere Seite der Form mitsehen muß; dass man also, wenn man sich um eine bestimmte Seite, einen bestimmten Teil eines Bildes oder einer bestimmten Szene eines Dramas besonders kümmert, immer mitüberlegen muß, was passiert denn woanders, wenn ich hier Intensität,
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Emphase, Farbe, Aufregung oder was immer hineinstecke. Der Formbegriff soll also diese Zeitstruktur des ›was dann nun‹ und ›was jetzt, wenn ich dies tue‹ bewusst machen, aber auch anspielen auf die Frage: Wo steckt denn der Zusammenhang, wenn ich etwas Bestimmtes tue und dabei etwas anderes passiert oder ich anderes tun muß, um meinen Anfang zu korrigieren, sei es zu vollenden, zu ergänzen oder zu zerstören. Das ist der Sinn des Formbegriffs, die Fragen nach Zeit, Differenz und der Einheit eines Zusammenhanges in etwas unkonventioneller Art zu stellen.« (Ebd.: 55)33
Die Grundform eines solchen Prozesses findet Luhmann nun im Ornament: »Die Grundform des Entwickelns von Formen aus Formen ist das […] Ornament. Allen Ornamenten liegt das Problem des Symmetriebruchs zugrunde, also das Problem der Form. Es geht um die Projektierung von Asymmetrien, die noch erkennen lassen, aus welchen Symmetrien sie entstanden sind. Ornamente sind Rekursionen, Rückgriffe und Vorgriffe, die sich als solche fortsetzen.« (Luhmann 1995: 193/194) Die rekursive Verschränkung von Unterscheidungen im Formenkalkül George Spencer-Browns entspricht einer »ornamentalen Verschränkung von Unterscheidungen« (ebd.: 366) im Kunstwerk.
33 Diese spezifische Zeitproblematik wird auch schon bei Valéry deutlich. Die Literaturwissenschaftlerin Karin Krauthausen zeigt, wie der differenztheoretische Formbegriff eine zu Valéry analoge Zeitstruktur des Kunstwerkes entwickelt: »Kunst erschafft Zeit. Das Kunstwerk schafft spürbare, gestaltete und zu gestaltende Zeit, Zeit als aktive Hervorbringung (wie Grätzel formuliert), aber vor allem Zeit als ornamentale Komposition […].« (Krauthausen 2003: 90) Zur Zeit des Rezipienten ergibt sich bei Luhmann entsprechend: »Wir müssen uns aber trotzdem die Frage stellen, ob es eigentlich die Intention ist, dem Betrachter das ganze Werk sozusagen in einem Blick vorzuführen; ob man aus dem Endprodukt dann die Zeit wieder herausziehen kann oder sagen kann: Das ist als Ganzes zum Beispiel schön oder gelungen oder interessant oder was immer. Wir müssen uns fragen, ob das eine Modellvorstellung ist, die noch adäquat ist, oder ob man nicht den Betrachter selbst notwendig in die Herstellungssequenz des Kunstwerkes einweisen müßte, auch ihm also die Zeit zumuten müßte, von einem zum anderen zu gehen und dabei immer wieder zu etwas zu kommen, möchte ich beinahe sagen, also immer wieder Sinn zu finden und keine leeren Plätze oder keine externen Referenzen, wo er nun sieht, aha, das kostet so und so viel – oder welche Bedeutung auch immer er dann von außen hereinziehen müsste? Er müßte also im Bild kreisen, kursieren können oder in der Geschichte immer neue Interpretationen wiederfinden können, aber eben nicht alles auf einmal sehen müssen.« (Luhmann/Bunsen/ Baecker 1990: 58) 87
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Die Laws of Form George Spencer-Brown formuliert zwei Gesetze, die regeln, wie Unterscheidungen aneinander anschließen können: Das erste Axiom – The Law of Calling – besagt, dass der Wert einer nochmaligen Nennung der Wert der Nennung ist. D.h. das wiederholte Treffen einer Unterscheidung ändert nicht den Wert der Unterscheidung. Aus diesem Gesetz leiten sich zwei Formen ab: die Form der Kondensation (condensation), die besagt, dass wiederholte Unterschiede zu dem Unterschied, den sie machen, zusammengezogen werden können, und als inverse Figur die Form der Bestätigung (confirmation), die besagt, dass Unterschiede durch ihre Wiederholung bestätigt werden können. Dirk Baecker hat dies für die Form der Kommunikation beispielhaft dargestellt: »Für unsere Überlegungen bedeutet dies, dass Kommunikationen im Hinblick auf die Erwartungen, die sie setzen und bestätigen oder enttäuschen, in ihrem Wert sowohl wiederholt als auch auf ihren Wert hin zusammengefasst werden können. Man kann aber auch versuchen herauszufinden, worum es eigentlich geht. Man trifft immer wieder bestimmte Freunde zum gemeinsamen Besuch von Konzerten. Irgendwann entdeckt man, dass der gemeinsame Besuch von Konzerten nichts anderes ist als die Feier und Bestätigung der wechselseitigen Freundschaft. Die Unterscheidung ist nicht unwichtig, da sie es unter anderem ermöglicht, die Wahl zu treffen zwischen dem Bedauern, dass ein Freund an einem bestimmten Abend nicht wieder mit ins Konzert geht, auf der einen Seite und dem Verdacht, dass der andere in seiner Freundschaft nachgelassen hat, auf der anderen Seite. Dementsprechend unterschiedlich wird man reagieren und dementsprechend unterschiedlich wird der Freund gut beraten sein, seine Absage zu formulieren.« (Baecker 2005a: 101)
Das zweite Axiom – The Law of Crossing – besagt, dass der Wert eines nochmaligen Kreuzens nicht der Wert des Kreuzens ist. D.h. wird eine Grenze, die zuvor gekreuzt worden ist, nun wieder zurück gekreuzt, ergibt sich ein für die beiden Operationen gemeinsamer Wert, der keinem der beiden Werte entspricht. Auch aus diesem Gesetz leiten sich zwei Formen ab: Die Form der Aufhebung (cancellation), die besagt, dass ein Unterschied, der bereits getroffen wurde, durch eine Anweisung, die Bezeichnung und Markierung wieder zu streichen, zugunsten des unmarkierten Zustandes verlassen werden kann. Als inverse Figur ergibt sich die Form der Kompensation (compensation), die besagt, das der unmarkierte Zustand durch eine sich selbstaufhebende Unterscheidung markiert werden kann. Erst dieses zweite Gesetz zeigt, wie man den unmarked space, der schon immer in jeder Unterscheidung als eine Leerstelle mit
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prozessiert worden ist, erreichen kann: nämlich durch das Zurückkreuzen einer Unterscheidung: »Wenn ich meinem Freund gerade noch gesagt habe, ›Ich möchte ins Kino gehen‹, und anschließend sage, ›Ich möchte nicht ins Kino gehen‹, gewinne ich dadurch die Möglichkeit, nichts zu wollen. Diese Möglichkeit kann kommunikativ ebenso gestaltet werden wie die Möglichkeit, etwas zu wollen. Ich bin auf nichts festgelegt, muss jedoch, wenn ich etwas will, einen neuen Unterschied treffen, und habe bei diesem wiederum die Möglichkeit, ihn anschließend aufzuheben. Ich will nicht ins Kino, nicht ins Konzert und auch nicht zu Hause bleiben: Damit ist der andere aufgerufen, sich dem, der etwas wollen könnte, aber nichts will, zuzuwenden und erst einmal herauszufinden, woher die Unlust kommt, einen der Unterschiede zu treffen, die man bisher so bewährt getroffen hat.« (Ebd.: 102/103)
Man hat es also mit vier Rechenoperationen zu tun, die auf zwei Gesetze zurückzuführen sind: Die Form der Kondensation und die Form der Bestätigung sind auf das Law of Calling zurückzuführen. George SpencerBrown bezeichnet mit diesen beiden Ausdrücken Rechenvorgänge der Zahl (number). Die Form der Aufhebung und die Form der Kompensation, die aus dem Law of Crossing abgeleitet sind, bringt George SpencerBrown auf den Begriff der Ordnung (order). Im vorherigen Kapitel wurde die Lücke zwischen einer konstruktivistischen Wahrnehmungstheorie, die Wahrnehmen als Rechnen beschreibt, und einer Ornamenttheorie, die künstlerisches Ordnen als Ornamentieren bezeichnet, geschlossen, indem auf die etymologische Verwandtschaft der Begriffe rechnen und ordnen verwiesen wurde. In einem zweiten Schritt wurde mit Blick auf Valéry der Ordnungsprozess genauer als ein rekursiver gekennzeichnet und dies wiederum mit Verweis auf Heinz von Foerster bestätigt. Das Unterscheidungskalkül George Spencer-Brown ermöglicht nun, eine weitere Spezifizierung des Ordnungsprozesses abzuleiten. Indem George Spencer-Brown den Rechenvorgang (calculation) aus zwei unterschiedlichen Vorgängen zusammensetzt – dem Zählen und dem Ordnen – lässt sich das Ordnen vor dem Hintergrund des Zählens genauer spezifizieren: »Beim Zählen geht es darum, herauszufinden, was sich bewährt und woraufhin es sich verdichten lässt, beim Ordnen geht es darum, jeden Unterschied, den man trifft, vor dem Hintergrund der Möglichkeit, ihn auch wieder aufzuheben, zu betrachten. Beide Begriffe rechnen mit beiden Seiten der Form, denn auch das Zählen funktioniert nur, wenn das Unbestimmte als Außenseite des Bestimmten jeweils mitgeführt wird. Man kann nicht zählen, ohne auf Schnitte zu achten. Aber beim Ordnen wird die Außenseite der Form zu einem seinerseits interessanten Argument, wenn man so sagen darf. Ordnung funktioniert nur, wenn die bei89
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den Möglichkeiten der Bestimmung und des Unbestimmten symmetrisch gehandhabt werden. Denn nur so kann man sich für oder gegen eine Ordnung entscheiden. Und nur deswegen ist eine Ordnung eine Ordnung.« (Ebd.: 103/104)
Eine andere Zuordnung der vier Rechenoperationen ergibt sich, wenn man sie daraufhin beobachtet, ob sie den Kalkül simplifizieren oder expandieren. In diesem Sinne gehören die Formen der Kondensation und der Aufhebung zusammen, da sie den Kalkül simplifizieren, und die Formen der Bestätigung und der Kompensation gehören zusammen, da diese den Kalkül expandieren. Die Möglichkeit, den beiden Simplifizierungen der Kondensation und der Aufhebung zwei inverse Formen gegenüber stellen zu können, ergibt sich nur, weil die Unterscheidungstheorie George Spencer-Browns – wie auch die Systemtheorie Niklas Luhmanns – eine konstruktivistische Theorie ist: »Die Vereinfachungen (Abstraktionen), die sie vornehmen, sind Vereinfachungen auf Konstruktionselemente, auf basale Operationen, die [in umgekehrter Richtung dann auch] geeignet sind, Netzwerke von Unterscheidungen, Systemzusammenhänge von Ereignissen zu generieren. Die Begriffe, auf die sie reduzieren, sind generische Begriffe.« (Baecker 1993a: 31) Die vier Rechenoperationen lassen sich entsprechend den beiden Unterscheidungen von zählen/ordnen und simplifizieren/expandieren genauer charakterisieren: kondensieren als simplifizierendes Zählen, bestätigen als expandierendes Zählen, aufheben als simplifizierendes Ordnen und kompensieren als expandierendes Ordnen. Dieser kurze Blick in die Laws of Form macht deutlich, dass es sehr interessant scheint, sich nicht nur mit dem Formbegriff als einem Differenzbegriff, sondern auch mit den genauen Gesetzen bzw. den daraus entwickelten vier Rechenverfahren zu beschäftigen und zu fragen, was unter Rechnen in der Kunst und in der Architektur verstanden werden könnte.34 Da Luhmann explizit die Kunstwerkgenese mit dem Formenkalkül George Spencer-Browns beschreibt, stellt sich die Frage, wie das Kunstwerk/Bauwerk rechnet? Was wird wie gezählt und geordnet? Genauer: Was und wie bestätigen und kompensieren künstlerische und baukünstlerische Formenexpansionen? Und wenn Kunst und Architektur auch immer schon mit Wissenschaft und Theorie zu tun haben, was und wie kondensieren sie und was und wie heben sie auf. Dies müsste für die Kunst und die Architektur noch entsprechend ausgearbeitet werden, doch es liegt nahe, anzunehmen, dass es Wahrnehmungen sind, die im Kunstwerk gezählt, geordnet und wiedereingeführt werden. In einer Paraphrase zu Dirk Baecker ließe sich das 34 Mit Bezug auf die vier Rechenoperationen stellt sich hier die 1990 von Dirk Baecker aufgeworfene Frage nach der Form der Architektur in einer neuen Form. 90
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Kunstwerk als Zahl, Ordnung und Wiedereintritt der Wahrnehmung beobachten: »Sie wiederholt, bestätigt und verdichtet sich (Zahl); sie streicht und setzt sich als alternative Möglichkeit ihrer selbst (Ordnung); und sie erkundet den durch sie selbst geschaffenen Raum ihrer eigenen Möglichkeit (Wiedereintritt).« (Baecker 2005a: 104) Die zählenden Rechenoperationen des Kondensierens und Konfirmierens (Bestätigen) können als Doppelerfordernis für den Umgang mit den operativen Elementen der Kunstwerkproduktion, den Wahrnehmungen betrachtet werden: »Einerseits müssen Identifikationen erzeugt werden, die es ermöglichen, in verschiedenen Situationen dasselbe zu beobachten, so daß Wiederholungen und rekursive Vor- und Rückgriffe möglich werden. Sinn muß zu mehrfach verwendbaren Formen kondensiert werden. Andererseits müssen solche Kondensate in immer neue Situationen eingepasst und, wenn dies gelingt, dadurch bestätigt werden.« (Luhmann 1995: 253) Das Zählen der Wahrnehmungen ist in diesem Sinne die Bedingung dafür, einzelne Wahrnehmungsereignisse miteinander rekursiv verknüpfen zu können, Sequenzen von Wahrnehmungen und so etwas wie Dauer herzustellen. Die ordnende Rechenoperation des Aufhebens macht in diesem Modell darauf aufmerksam, dass zum Rechnen des Kunstwerkes auch dazu gehört, dass es Wahrnehmungen aufheben, d.h. negieren kann. In der Rechenoperation der cancellation wäre dann die Besonderheit des Kunstwerkes zu finden, Wahrnehmung negieren zu können: »Im Gegensatz zur Kommunikation, die sich hierfür auf die Sprache stützt, können an Wahrnehmungen weder Information und Mitteilung unterschieden noch dementsprechend Ja/Nein-Codierungen vorgenommen werden […]. Im Gegensatz zu Sätzen über die Welt sind Wahrnehmungen bereits die Welt, die in ihnen wahrgenommen wird. Und im Gegensatz zu Mitteilungen, bei denen man die Wahl hat, ob man ihren Inhalt (ihre Information) und ihre Absicht annimmt oder ablehnt, das heißt mit Ja oder Nein beantwortet, ist eine Wahrnehmung, was sie ist, ohne dass man auf die Idee kommen würde, Ja oder Nein zu ihr zu sagen. Es mag einem gefallen oder missfallen, was man sieht oder hört, riecht oder schmeckt, ertastet oder erfühlt, aber man kann nicht in Abrede stellen, dass man es sieht oder hört, riecht oder schmeckt, ertastet oder erfühlt. Wahrnehmung, so kann man mit Paul Watzlawick, Janet H. Beavin und Don D. Jackson formulieren, ist ›analog‹, Kommunikation ›digital‹ verfasst.« (Baecker 2005b)
Dies kann dann das Kunstsystem ausnutzen und seine gesellschaftliche Funktion darin ausbilden, Wahrnehmung kommunikativ mit Negationspotential auszustatten:
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»Wer ein Bild sieht, eine Sonate hört, die Inszenierung eines Theaterstücks erlebt oder einen Roman liest, kann nicht nur zum Bild, zur Sonate, zum Theaterstück oder zum Roman Nein sagen, sondern auch zu dem, was jeweils als Wahrnehmungsinhalt vermittelt wird, und dies, obwohl und weil die Wahrnehmung selber bereits geschehen ist und nicht mehr bestritten werden kann. [...] Wenn man sich anschaut, worum es der Ästhetik von Aristoteles Poetik über Schillers Briefe und Heideggers Ursprung des Kunstwerks bis zu Adornos kritischer Theorie und Derridas Philosophie der Malerei geht, gewinnt man aus dem hier gewählten Blickwinkel den Eindruck, dass die ästhetische Urteilskraft des Werkes ebenso wie des Betrachters nicht in der Fähigkeit gesucht wird, zuzustimmen, zu loben und zu preisen, sondern darin, qualifiziert zu unterscheiden, selektiv abzulehnen und zuzustimmen und sich dafür in einem individuell immer neu auszuwiegenden und sozial abzustimmenden Verfahren sowohl auf Vernunft und Verstand als auch auf Intuition und Imagination verlassen zu können.« (Ebd.)
Man könnte auch formulieren, dass es darum geht, die einzelnen Wahrnehmungen, die einzelnen im Kunstwerk sedimentieren Unterscheidungen bei der ästhetischen Beurteilung ins Kalkül zu ziehen.
Formenkalkül und Evolution Das expandierende Ordnen führt zu einer Kompensation der Leere (Baecker 2005a: 103). Schon Valéry hatte das Ornament in seinem LeonardoAufsatz ganz in diesem Sinne interpretiert: »Das Ornament – Antwort auf die Leere, Kompensation des Möglichen, in gewisser Hinsicht vollständig, annulliert eine Freiheit« (Valéry 1998: 44).35 Diese Leere ist für Valéry eine Leere der Zeit und des Raums; das Ornamentale hat die Funktion, »eine leere Zeit oder einen nackten Raum zu füllen« (Valéry 1995b: 242). Das Ornamentale annulliert eine Freiheit, weil es einen Schnitt durch den leeren Raum und/oder die leere Zeit zieht; dort eine Markierung setzt, wo vorher eine Nichtmarkierung war. Die Freiheit, die das Ornamentale annulliert, ist die Freiheit der ersten Unterscheidung, die genau darin besteht, sich an keiner vorherigen Unterscheidung orientieren zu müssen. Die Freiheit der ersten Unterscheidung ist ihre Beliebigkeit; oder noch einmal mit Luhmann formuliert: »Jeder Zufall würde genügen« (Luhmann 1995: 55). Der genaue Blick auf die vier Rechenoperationen macht deutlich, dass das mathematische Vorgehen eines Verrechnens der verschiedenen Unterscheidungen nur bezüglich der Simplifizierung, also des Konden-
35 Ich folge hier der Übersetzung von Karin Krauthausen 2004: 86. 92
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sierens und Aufhebens, eindeutig ist. Dirk Baecker macht darauf – auch in Beziehung zur Systemtheorie – aufmerksam: »Das ist denn auch die Richtung, die der Mathematiker zu bevorzugen scheint. In der Richtung der Referenzexpansion, der Bestätigung und Kompensation, bleibt es jedoch offen, wann welche Operationen wie weit (im Hinblick auf Zahl und Ordnung) vorgenommen werden können. Der Formenkalkül ist ein Kalkül zur Lösung von Gleichungen, nicht zu ihrer Entfaltung, ein Analyse-, kein Konstruktionselement. Einen ähnlichen Hang zur Vereinfachung besitzt auch die Systemtheorie, die komplexe Verweisungszusammenhänge auf die Frage ›Selbstreferenz oder Fremdreferenz?‹ hinunterzubuchstabieren vermag. Auch die Systemtheorie ist ein Analyse- und kein Konstruktionsinstrument. Wie der Unterscheidungstheorie geht es ihr um Wissenschaft, nicht um Kunst, um Theorie, nicht um Technik.« (Baecker 1993a: 31)
Bei der Formenexpansion, die ja für den künstlerischen Schaffensprozess die entscheidende ist, geht also die mathematische Eindeutigkeit verloren. Es ist deshalb sehr erhellend, dass Luhmann die Kunstwerkgenese nicht nur mit dem Formenkalkül in Verbindung bringt, sondern auch ergänzend mit dem Begriff der Evolution: »In dem Maße, als die Unterscheidungen aneinander Halt gewinnen und rekursiv aufeinander Bezug nehmen, tritt also genau das ein, was man von Evolution erwartet: das Kunstwerk gewinnt Halt an sich selbst, kann zum Beispiel wiedererkannt und immer neu beobachtet werden. Destruktion bleibt natürlich möglich, aber Modifikation wird schwieriger und schwieriger. Es mögen zwar ungelöste Probleme oder schwache Stellen drinbleiben, die man dann aber als unverbesserbar in Kauf nehmen muss. Evolution bringt auch hier keine perfekten Zustände hervor.« (Luhmann 1995: 347f.)
Nur zwei Absätze weiter bringt Luhmann diese Beobachtungen auf den Punkt und spricht von der »Minievolution des Einzelwerkes« (ebd.: 348), freilich nicht ohne sofort darauf hinzuweisen, dass man aus systemtheoretischer Sicht von Evolution nur sinnvoll im Rahmen einer Evolution des Kunstsystems sprechen könne, da erst in der Systemevolution die Differenzierung der evolutionären Mechanismen für Variation, Selektion und Restabilisierung zum Zuge komme.36 Beim einzelnen Kunstwerk 36 Luhmann benutzt denn auch entsprechend das Konzept der Evolution in seiner Gesellschaftstheorie, um die Entstehung des Kunstsystems zu erklären. Dabei ordnet er die evolutionären Mechanismen von Variation, Selektion und Restabilisierung den Operationen, den Strukturen und dem System zu: Er spricht von Variation, wenn unerwartete, neue Operationen auftauchen und von Selektion, wenn der Strukturwert der Neuerung als wiederho93
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nun könne man nicht von einem »Kommunikationssystem Kunst« (Luhmann 1995: 89) sprechen. Entsprechend viel Wert legt denn auch Luhmann darauf, den Begriff der Selbstprogrammierung gegenüber dem Begriff der Autopoiesis deutlich abzugrenzen: »Selbstprogrammierung soll nicht heißen, das einzelne Kunstwerk sei ein autopoietisches, sich selbst erzeugendes System. Man kann jedoch sagen: es konstituiere die Bedingungen seiner eigenen Entscheidungsmöglichkeiten. Oder: es beobachte sich selbst. Oder vielleicht genauer: es sei nur als Selbstbeobachter beobachtbar. Nur wenn man erkennt, wie es die Regeln, nach denen sich die eigene Formenwahl richtet, aus eben dieser Formenwahl entnimmt, kann man ein modernes Kunstwerk adäquat beobachten.« (Ebd.: 331)
Verbleibt man jedoch bei einer rein formentheoretischen Analyse, d.h. konzipiert auch den Evolutionsbegriff formentheoretisch (vgl. Baecker 2005a), kann man die Korrespondenz zwischen Ornamentalität, künstlerischer Produktion, differenztheoretischem Formenkalkül und evolutionärem Prozess auch für die Architekturtheorie fruchtbar machen. Mittels der differenztheoretischen Formenanalyse von Ornament und Kunstwerk lässt sich nicht nur an eine fast einhundert Jahre zurückliegende kunsttheoretische Ornamentinterpretation Valérys nahezu nahtlos anknüpfen37, sondern auch in Bereiche des aktuellen Architekturdiskurses verweisen: Im Architekturdiskurs ist die Anwendung von sogenannten Evolutionsstrategien als eine konsequente Weiterführung der Anwendung von organischen, oder genauer gesagt: biologischen Prozessvorstellungen auf den architektonischen Entwurfsprozess zu sehen. Unter den Begriffen einer evolutionary architecture (vgl. Frazer 1995) und eines evolutionären lenswert akzeptiert oder als Einmalereignis auf sich selbst isoliert und zurückgewiesen wird. Stabilitätsprobleme kann es in beiden Fällen geben, weil neue Strukturen eingepasst bzw. abgelehnte Innovationen erinnert und gegebenenfalls bedauert werden müssen. Grundlegend für die Möglichkeit von Evolution zu sprechen, ist Luhmann zu Folge, dass sich Variation und Selektion in der Realität trennen und durch einen Beobachter unterscheiden lassen (vgl.: Luhmann 1995: 360ff.). 37 Auch Valery sah in den Evolutionstheorien die einzige Möglichkeit, komplexe Figuren zu fassen: »Ein Augenblick tritt ein, da die Figur so komplex wird, da das Ereignis derart neu erscheint, daß man darauf verzichten muß, sie im Ganzen zu fassen und mit ihrer Übertragung in kontinuierliche Größen fortzufahren. An welchem Punkt haben Männer wie Euklid ihre Untersuchung der Formen abgebrochen? Bis zu welchem Grade war die Stetigkeit der Figur unterbrochen, daß sie nicht weiter kamen? Ein Schlußpunkt der Forschung ist hier erreicht, an dem man unwillkürlich geneigt ist, nach den Evolutionstheorien zu greifen.« (Valéry 1998: 32) 94
ORNAMENT & KALKÜL
Entwerfens (vgl. Böhm/Kraft/Taraz-Beinholt 2002) werden Experimente verhandelt, die über Computerprogramme mit evolutionären Algorithmen versuchen, den architektonischen Formengenerierungsprozess größtmöglich autonom durchführen zu lassen. Für die architekturtheoretische Diskussion wird dabei von Interesse sein, dass ein formentheoretisch reformuliertes Konzept von Evolution ermöglicht, mit dem Begriff zu arbeiten, ohne sogleich damit auszudrücken, dass das einzelne Bauwerk ein lebendes, autopoietisches System sei und so in einen »digitalen Animismus« (Vidler 2002: 114) zu stürzen.
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ORNAMENT & GEOMETRIE Zur Form des Ornamentalen
»›Ornament‹ (ohne Ornament) ist ein Sammelbegriff, der Formen der Natur sowie funktionelle und künstlerische Formen umfasst, welche mathematisch gesehen die Symmetriestruktur gemeinsam haben.« (Buchmann 1965: II, 29) »Allen Ornamenten liegt das Problem des Symmetriebruchs zugrunde, also das Problem der Form. Es geht um die Projektierung von Asymmetrien, die noch erkennen lassen, aus welchen Symmetrien sie entstanden sind. Ornamente sind Rekursionen, Rückgriffe und Vorgriffe, die sich als solche fortsetzen.« (Luhmann 1995: 193/194)
Symmetrie und Rapport In die Befriedigung darüber, die ornamentfreudigen Stilmaskeraden der Gründerjahre abgelegt zu haben, mischte sich spätestens in den sechziger Jahren ein leises Unbehagen: »Die Schlachten sind geschlagen, der Sieg über das Ornament gehört der Geschichte an. Was weiter?« (Buchmann 1965: V, 14) – so fragte 1965 der Direktor des Kunstgewerbemuseums Zürichs angesichts der Ausstellung ornament ohne ornament?. Diese Frage erschien um so dringlicher, als dass fünfundfünfzig Jahre nach dem Verdikt Adolf Loos’ über das Ornament in der gestalteten Umwelt eine ungeahnte Präsenz ornamentaler Formen zu beobachten war. Materialgerechtigkeit, Konstruktionsreinheit und Funktionalität waren schon lange keine Garanten mehr für architektonische Schönheit, die ohne Or-
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DAS ORNAMENTALE UND DIE ARCHITEKTONISCHE FORM
nament auskam; vielmehr gerieten diese Kategorien ebenso in den ornamentalen Formenrausch: Im Materialkult feierte der ornamentale Reiz gemusterter Oberflächen seine Triumphe, die expressiv übersteigerte Konstruktion, die ihr Gefüge exhibitionistisch vorwies, nahm ornamentalen Charakter an und wo das Ornament im alten Sinn verschwunden war, gebärdete sich die reine Form ornamental. Schon 1951 stellt T.W. Adorno fest: »Aus der Entfernung ist der Unterschied von Wiener Werkstätte und Bauhaus nicht mehr so erheblich. Mittlerweile haben die Kurven der reinen Zweckform gegen ihre Funktion sich verselbständigt und gehen ebenso ins Ornament über wie die kubistischen Grundgestalten.« (Adorno 1989: 41) Noch bevor die Funktionalismuskritik in den späten 60er Jahren massiv den Architekturdiskurs prägte, unternahm die Ausstellung den Versuch einer Rehabilitierung des Ornamentalen aus der Moderne heraus. In einer – wohl im Architekturdiskurs der Moderne erstmaligen – nicht-polemischen, sondern differenzierten Weise setzte die Ausstellung ihr komplexes Unternehmen in vier Teilen um: In einem Teil wurde versucht, den Ornamentdiskurs wenigstens kursorisch in Form von zwei Zitatsammlungen, die sich einmal aus positiven Stellungnahmen zum Ornament (»Laudatio«) und einmal aus negativen Stellungnahmen (»Damnatio«) zusammensetzten, zu rekapitulieren. In einem zweiten Teil der Ausstellung wurden verschiedenste Ausprägungen und Funktionen des Ornamentalen zusammengestellt. Anhand von sechs Aspekten, die über Differenzpaare (endlos und begrenzt, Räume und Körper, Handwerk und Industrie, subjektiv und objektiv, organisch und kristallin, Form und Symbol) charakterisiert wurden, versuchte man, einige Aussagen »über das Ornament und seine Rolle im Dasein des Menschen« (Buchmann 1965: IV, 4) zusammenzustellen. Ergänzt wurden diese sechs Aspekte mit einem kleinen pädagogischen Teil, in dem versucht wurde darzulegen, wie über das Gestalten mit ornamentalen Formen im frühen Kindesalter die Fähigkeit zum Erkennen und Gestalten der Umwelt ausgebildet wird. Den innovativsten Teil der Ausstellung bildet jedoch der dem Ausstellungsrundgang im Foyer vorgeschaltete, weitgehend selbständige Ausstellungsteil mit dem Titel Symmetrie. Er diente in erster Linie der Begriffsklärung: »Es soll hier gezeigt werden, dass verschiedenen Erscheinungsformen aus der Welt der Natur und der Technik oft gleiche oder verwandte Gesetzmäßigkeiten des formalen Aufbaus innewohnen. Das ›Ornamentale‹ erscheint dabei – vom Formalen her betrachtet – als Teil eines komplexeren Ganzen, der Symmetrie.« (Ebd.: I, 3) Damit wurden die vielfältigen Phänotypen des Ornamentalen auf einen Genotyp zurückgeführt: die Symmetrieoperation. Mit der Umstellung des Ornament-Begriffs auf den mathematischen Symmetriebegriff kann der Ver-
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ORNAMENT & GEOMETRIE
such einer Mathematisierung der Kunst durch den Aufbau künstlerischer Formen aus mathematischen Formen gesehen werden. Wie Max Bense 1945 im Aufsatz über Die Mathematik in der Ornamentik formulierte, kommt in den Symmetrien »gleichsam am frühsten die Vereinigung ästhetischer und mathematischer Verhältnisse auf eine abstrakte, ungegenständliche Art zum Ausdruck. In jedem Symmetrieverhältnis erscheint der Mathematisierungsprozeß ästhetischer Absichten vollkommen durchgeführt, weil hier das Ästhetische rein als das Mathematische und das Mathematische rein als das Ästhetische auftritt; das Ästhetische und das Mathematische werden hier zu auswechselbaren Begriffen.« (Bense 1949: 58)
Obwohl es eine jahrtausendalte Tradition der gegenseitigen Befruchtung von Mathematik und Ornamentik gibt, ist die Entdeckung der genauen Gesetze zur mathematischen Struktur des Ornamentalen erst sehr jung: Im 19. Jahrhundert wurde u.a. durch Arthur Cayley mit der Gruppentheorie ein geeignetes Werkzeug zur mathematischen Behandlung der ornamentalen Kunstformen entwickelt. Nach der Gruppentheorie bildet ein System von Elementen eine Gruppe, wenn die Verknüpfung zweier Elemente wieder zu einem Element des Systems führt. Die Anzahl der Elemente einer Gruppe bestimmt die sogenannte Ordnung der Gruppe. Ist die Anzahl der Elemente eine endliche, so heißt die Gruppe eine endliche Gruppe. Die erste große außermathematische Anwendung der Gruppentheorie bestand in der Bestimmung aller 230 Raumgruppen durch den russischen Kristallographen Fedorov im Jahre 1890. Dies sind die Symmetriegruppen der dreidimensionalen Punktgitter. Den Brückenschlag von der Gruppentheorie zur Ornamentik stellte schließlich der Mathematiker G. Polya 1924 her: In einem Brief an den Kristallographen Paul Niggli betont Polya, dass sich seines Wissens zwar verschiedene Verfasser mit regulären Punktsystemen und regulären Ebenenteilungen im Sinne der Analogie der Kristallsymmetrie in der Ebene beschäftigt hätten, jedoch zwei interessante Punkte nicht behandelt worden wären: 1. die Einteilung der Symmetrien vom gruppentheoretischen Standpunkt und 2. die Bedeutung dieser Symmetrien für Kunstgeschichte und Kunstgewerbe. Eine erste lehrbuchmäßige Darstellung gab dann der Schweizer Mathematiker Andreas Speiser 1927 in der zweiten Auflage seines Werkes Die Theorie der Gruppen von endlicher Ordnung: »Die Ornamentik erweist sich sonach als eine geometrische Kunst. Sie wird in der neueren Zeit weit unterschätzt und das hat zur Folge, daß keine neuen Ornamente mehr erfunden worden sind […]. Durch die Möglichkeit, die wirksa-
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DAS ORNAMENTALE UND DIE ARCHITEKTONISCHE FORM
men mathematischen Methoden zu benutzen, ist die schöpferische Kraft der Ornamentik außerordentlich.« (Speiser 1937: 76)
Symmetrieoperationen umfassen im mathematischen Sinne denn auch weit mehr Operationen als die bekannte bilaterale Spiegelsymmetrie (vgl. Weyl 1955). Mathematisch gesehen sind Symmetrieoperationen Transformationen eines Objektes, die sein Erscheinungsbild unverändert lassen. Eine Form wird in der Mathematik als symmetrisch bezeichnet, wenn sie gegenüber Symmetrieoperationen invariant bleibt. Neben der schon erwähnten Spiegelung an einer Achse oder einem Punkt erfüllt auch die Translation, die eine Verschiebung einer Form in einer bestimmten Richtung um einen bestimmten Streckenbetrag bezeichnet, die Gleitspiegelung, die eine Spiegelung mit einer Translation verbindet, und die Rotation, bei der durch eine Drehung um eine Achse um einen bestimmten Winkel eine Form in sich selbst überführt wird, die Ansprüche an Symmetrieoperationen. Diese vier Symmetrieoperationen können verknüpft, d.h. hintereinander ausgeführt werden. Betrachtet man nun Ornamente als ein System von Elementen (z.B. Striche, Wellenlinien, Dreiecke), die verschoben, gedreht und gespiegelt werden, wobei die Ausgangsform immer unverändert bleibt, so kann Symmetrie als das allen diesen Ornamenten zugrundeliegende Merkmal bezeichnet werden. Analysiert man z.B. antike Bandornamente auf ihre Symmetrien, so findet man sieben Kombinationen aus Spiegelungen, Drehungen und Verschiebungen. Der Beitrag der modernen Mathematik besteht nun darin, aufgezeigt zu haben, dass es keine weiteren Kombinationen für das ebene Streifenornament gibt (sog. Vollständigkeits- oder Endlichkeitsaussage). Untersucht man in analoger Weise Flächenornamente, so zeigt sich, dass es hierfür siebzehn verschiedene Möglichkeiten der Verbindung der Symmetrieoperationen gibt. Der Ansatz der Ausstellung ornament ohne ornament?, in den »Symmetrien [...] die mathematischen Strukturen aller ›Ornamente ohne Ornament‹« (Buchmann 1965: II, 28) zu sehen, d.h. die mathematischen Symmetrieoperationen als strukturgenerierende Operationen des Ornaments zu bezeichnen, verschiebt grundlegend den Beobachtungswinkel auf das Phänomen Ornamentalität: Nicht mehr die Schmuckfunktion des Ornaments steht im Vordergrund, sondern die sehr viel allgemeinere und abstraktere Funktion der Formengenerierung wird zum Ausgangspunkt aller folgenden Betrachtungen. Damit vollzieht sich eine erste grundlegende Verschiebung vom Ornament zum Ornamentalen und leitet den Beginn einer Operationalisierung des Ornamentbegriffs ein. Erst die Arbeit mit dem mathematischen Symmetriebegriff ermöglichte es, architektonische Formen, die unter der typisch modernen (vorgeblichen) Maßga-
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ORNAMENT & GEOMETRIE
be von Funktionalität, Materialgerechtigkeit oder Konstruktionsreinheit entworfen worden sind, mit dem Begriff und Phänomen des Ornamentalen – wenn auch noch v.a. über die Begriffe der Symmetrie und der Struktur vermittelt – in Beziehung zu setzen. Für die Praxis der Architektur ermöglichte der Verweis auf die mathematische Symmetriestruktur des Ornamentalen, mit den formalen Organisationsprinzipen des Ornamentalen – ohne auf die vielfältigen Zeichen-, Symbol- oder ZweckFunktionen eingehen zu müssen – zu experimentieren. Das Spektrum ornamentaler Formen wurde so über die klassischen Band- und Flächenornamente der euklidischen Geometrie hinaus in der Architektur erweitert. Durch den Bezug zur Kristallographie und deren kristallsymmetrischen Strukturen konnte wieder die Idee einer räumlichen Ornamentik in der Architektur aufgenommen werden: »Das Medium der Plastik und der Architektur ist der Raum. Deshalb spielen Raumsymmetrien hier, vor allem in der Architektur, eine wichtige Rolle; denken wir an die klassischen Gewölbe oder an deren moderne Gegenstücke, die räumlichen Tragwerke. [...] Das Interesse der Architekten an raumgitterartigen Konstruktionen hat sich in letzter Zeit stark erhöht. Die Vorschläge reichen von der chemischen Erzeugung bewohnbarer Riesenmoleküle bis zu den bereits industriell herstellbaren Elementen zur Zusammenstellung von gitterartigen Tragwerken von Wachsmann oder Buckminster Fuller. Wir stehen hier wohl am Anfang einer neuen Entwicklung.« (Buchmann 1965: II, 9)
Des Weiteren wird mit Bezug auf die nicht-euklidische Geometrie die Möglichkeit gegeben, eine hyperbolische und elliptische Ornamentik in der Architektur zu erproben: »Speiser und andere Mathematiker haben immer wieder ihrem Bedauern darüber Ausdruck verliehen, dass so viele von der Mathematik aufgedeckte Gestaltungsmöglichkeiten von den Künstlern nicht fruchtbar gemacht wurden. [...] Dennoch darf wahrscheinlich die Vermutung gewagt werden, dass dem hyperbolischen Paraboloid in der ›neuen Raumkonzeption‹ eine besondere Bedeutung zukommt. Die konvex-konkav gekrümmten Flächen des hyperbolischen Paraboloids ›umschliessen‹ sowohl den Innen- als auch den Aussenraum. Da diese Flächen potentiell unendlich sind, kann man, etwas überspitzt, sogar sagen, dass sich das Problem von ›innen‹ und ›aussen‹ hier gar nicht mehr stellt.« (Ebd.: II, 15-17)
Schließlich konnte über strecksymmetrische Operationen eine Annäherung an eine organische Ornamentik gewonnen werden: »Dinge von strecksymmetrischem Aufbau sind meistens gewachsen oder erwecken doch den Eindruck des Gewachsenen. [...] Die Streckung einer Drehung in 101
DAS ORNAMENTALE UND DIE ARCHITEKTONISCHE FORM
der Ebene führt uns zur logarithmischen Spirale. [...] Eine wichtige Bewegung im Raum ist die Schraubung: Kopplung einer Drehung um eine Achse mit einer Translation längs dieser Achse. [...] Durch die Kombination der Schraubenlinie mit einer logarithmischen Spirale erhalten wir die – bei der Nautilus-Schale vorweggenommene – Schneckenlinie. [...] Als eine seltene Anwendung der Schneckenlinie in der Architektur darf das Guggenheim-Museum von Wright nicht unerwähnt bleiben.« (Ebd.: II, 11/12)
Die Kopplung des Ornamentbegriffs an den mathematischen Symmetriebegriff ermöglichte auf der einen Seite eine Überwindung der gängigen Schmuck- und Verzierungsinterpretation hin zu einer Interpretation als grundlegendes Formengenerierungsprinzip. Auf der anderen Seite führte der Symmetriebegriff aber auch zu einer Einschränkung: Da die symmetrischen Operationen die Ausgangsform unverändert lassen, kann der Aufbau ornamentaler Formen nur in einer Kopplung identischer Elemente zu einem größeren Formenkomplex vollzogen werden. Asymmetrische, freie, unregelmäßige, nichtgeometrische ornamentale Formen, d.h. ornamentale Formen, die durch eine laufende Formveränderung gekennzeichnet sind und damit viel eher an organisches Wachstum erinnern, findet man deshalb nicht. Die Formengenerierung mittels Symmetrie und Rapport muss als eine grundsätzlich sehr eingeschränkte bezeichnet werden. Das Ergebnis ist ein statisches, strukturelles Ornamentmodell – was nicht weiter verwundert, wenn man bedenkt, dass es schließlich aus der Kristallographie und der Festkörperphysik entstammt. Ein Großteil der in der Ausstellung gezeigten ornamentalen Formen wären denn auch treffender mit einer Formulierung von Hans Sedlmayr als ornamentale Muster zu bezeichnen: »Der Nachfolger des Ornaments wird das ›Muster‹. Das Muster ist selbst eine uralte Erscheinung, aber es war immer und ist auch jetzt etwas ganz anderes als ein Ornament. Das gilt auch dann, wenn es Übergänge zwischen Muster und Ornament gibt, wie zum Beispiel die zu Mustern angeordneten Ornamente. Aber auch das billigste, wertloseste Kattunkleid kann ein Muster tragen, während das Ornament – wo immer es auftritt – immer etwas Auszeichnendes besitzt. Während es ein echtes ›modernes‹ Ornament nicht gibt, gibt es sehr wohl moderne Formen des ›Musters‹. [...] Das Muster, selbst das eines Tarnanstrichs, kann sehr wohl geschmackvoll, es kann aber nie in dem Sinn bedeutungsvoll und künstlerisch sein wie ein Ornament. Es gehört als Phänomen wesentlich dem Bereich des aesthetischen Geschmacks zu. Vielleicht wird nirgends so klar wie an dem Gegensatz von Muster und Ornament – und an diesem grundsätzlichen Gegensatz ändert es nichts, daß es auch ornamentale Muster gibt –‚ daß mit der ›modernen Kunst‹ die Kontinuität zur alten abreißt und nicht nur – wie man es sich selbst und anderen beschwichtigend darstellt – eine neue stilistische Phase eingetreten ist. Niedere Bereiche usurpieren den Platz der höheren: 102
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der Zufall wird zum Schöpfer schlechthin erhoben, und das Muster beansprucht illegitim die Nachfolge des Ornaments.« (Sedlmayr 1985: 50-52)
Der Preis für die Rehabilitierung des Ornamentalen in der Architektur der 60er Jahre war die Reduktion auf das ornamentale Muster – in einigen Fällen auch bis auf das minimalistische Raster. Man könnte in diesem Zusammenhang natürlich auch auf Durand und seine rationalistische Entwurfslehre verweisen, die die architektonische Formenproduktion mittels Symmetrie und Rapport beschreibt. Das aus dem cartesischen Koordinatensystem entwickelte Raster Durands kann genauer als ein Minimal-Ornament beschrieben werden: In diesem Fall sind die SystemElemente die architektonischen Konstruktionselemente Wand und Stütze und die Symmetrieoperationen sind die bekannten Spiegelungen, Verschiebungen und Drehungen – mit der für Durand charakteristischen Einschränkung auf 90°-Drehungen –, sodass alle Elemente auf den Linien eines Rechteckrasters liegen. Man erkennt gut, dass sich die Elemente durch die Operation nicht verändern, also invariant bleiben: »Schönheiten der Baukunst. Sie ergeben sich ganz natürlich, wenn man sich nur mit der Anordnung befaßt.« (Durand 2002: 206) Man kann deshalb dieses Verfahren auch als das Baukastenprinzip bezeichnen, denn die Gestalt der Elemente bleibt während der Kopplung erhalten. Sie können sozusagen wieder später in den gleichen Kasten mit den alten Negativformen gelegt werden. Zu erinnern ist an die vielen Baukästen, die in den 20er Jahren entstanden, z.B. die von Hermann Finsterlin. Das Verfahren des Baukastens baut natürlich auf dem künstlerischen Verfahren der ars combinatoria auf (vgl. Hofmann 1989). Das Ergebnis eines solchen Entwurfsverfahrens ist – darauf macht Joachim Krausse aufmerksam – ein statischer, aus Flächen bestehender Raum: »Das Statische bei Durand und anderen Entwürfen dieser Art liegt in dem Aufbau des Raumes aus Flächen. Und dieser Gedanke hat nichts mit anthropologischen Konstanten zu tun, sondern er rührt von Platon her. Die platonischen Grundkörper, ihr Volumen und ihre Räume werden aus Flächen erzeugt. Ihnen allein und ihren inneren Proportionen gilt nachfolgend das ganze Interesse. Nicht ein einziges Mal überprüft jemand, wie es im Inneren eigentlich aussieht oder ob sich der Körper nicht vom Inneren her darstellen und generieren ließe. Die platonischen Körper sind Polyeder, also Vielflächner, und darauf beruht das ganze Kleben an der Statik. Wenn man das verändern will, muß man die Betrachtung des Objektes verändern. Deshalb gab es nie Übereinstimmung zwischen der Architektur und den organischen Formen. Weil dort das Wachstum eines von innen heraus ist, aus dem Keim, und die Architektur aus Flächen aufgebaut wird. Alle, die es dann mit organischen Formen oder mit dem Grundsatz ›von innen nach außen‹ zu tun hatten, bekamen enorme Schwierig-
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keiten, die passende Geometrie bzw. die Erzeugungsmittel zu finden. Durands Verhalten ist also nicht untypisch.« (Krausse/Kuhnert/Schnell 1997: 21f.)
Rhythmus, Dynamik, Ordnung Indem Luhmann mit den Begriffen Asymmetrie und Rekursion eine gegensätzliche Begrifflichkeit zur Charakterisierung des Ornamentalen einsetzt, wird ermöglicht, das in der strukturalistischen Ornamentdefinition Ausgeschlossene wieder aufzunehmen. Ich knüpfe dafür bei dem Architekten und Designer Wolfgang von Wersin an und kennzeichne – im Gegensatz zu einer rhythmischen Ornamentik, die auf Symmetrie und Wiederholung basiert – eine Ornamentik, die durch Asymmetrie und Rekursion gekennzeichnet ist, als eine dynamische. Dieser hatte 1940 in seinem Buch Das elementare Ornament zwei Hauptgruppen des Ornaments unterschieden: »Entsprechend den zwei grundlegenden Impulsen des Ornamentalen gliedert sich die Vielfalt der ornamentalen Bildungen in zwei große Hauptgruppen: In das vorwiegend rhythmische Ornament des Gleichtaktes – ohne Anfang und ohne Ende – und in die Ornamentformen, die einen in sich geschlossenen ornamentalen Organismus darstellen, und deren innerer Zusammenhang vorwiegend dynamisch bestimmt ist.« (von Wersin 1953: 13)
Dem Ornamentalen insgesamt schrieb von Wersin eine eigene Gesetzlichkeit zu, die sich weder von einer Funktion noch von einem Material ableiten lasse. Inhalt des Ornaments sei vielmehr der Ausgleich von Polaritäten und damit das Grundprinzip jeden künstlerischen Schaffensprozesses: »Aber das für das Ornament Besondere ist, daß es dieses Prinzip sozusagen ›in nuce‹, d.h. in gedrängtester Form veranschaulicht, daß schon durch die knappste und elementarste Formulierung dieses Grundsatzes die Voraussetzungen zu einer ornamentalen Wirkung gegeben sind, und daß die Erfindung im Ornament eben in dem Spiel mit diesen Gegensätzen auch in ihrer einfachsten Gestalt beruht.« (Ebd.: 5) Von Wersin unterscheidet dabei drei künstlerische Mittel: Rhythmus, Dynamik und Ordnung. Der Rhythmus ist »das stärkste künstlerische Mittel im Ornament« (ebd.: 7), mit dessen Hilfe die »Wiederkehr gleicher Einzelteile« (ebd.) im Ornament organisiert wird. Es ist dieses »rhythmische Ornament des Gleichtaktes« (ebd.: 8), welches von Wersin als das elementare Ornament bezeichnet und zu seinem Hauptuntersuchungsgegenstand macht: »Diese einfachsten Typen, die wir als das elementare Ornament bezeichnen wollen, sind die reinste Fassung der verschiedenen ornamentalen Möglichkeiten. Es ist daher 104
ORNAMENT & GEOMETRIE
berechtigt, sie zum Ausgangspunkt einer Betrachtung der Struktur des Ornaments zu machen, um so mehr, als sie uns heute in ihrer Allgemeingültigkeit und Zeitlosigkeit am nächsten stehen.« (Ebd.: 13) Für eine Gliederung des rhythmischen Ornaments unterscheidet von Wersin drei Hauptformen ornamentaler Polarität: die Polarität zwischen einer Einheit und ihrer Umgebung, die Polarität des Kontrastes und die Polarität der Überschneidung und Überkreuzung. Wenn diese aus den Polaritäten entwickelten Elemente im rhythmischen Ornament als Elemente einer fortlaufenden Reihe erscheinen, unterscheiden sich entsprechend drei Grundformen der Reihung: die Reihung mit Intervall oder die einfache Reihung, die Reihung mit Wechsel und die Reihung mit Überkreuzung. »In ihrer einfachsten Darstellung bilden diese drei Grundformen der Reihung drei klar ausgeprägte, scharf abgrenzbare Ornamentgattungen. Auf Grund der eindeutigen Bestimmtheit ihrer Voraussetzungen sind sie aber gleichzeitig die Ausgangs- oder Wurzelformen aller primär aus dem rhythmischen Gleichtakt hervorgegangenen Ornamente. Man kann sie so betrachten als die Anfangsglieder einer Art Genealogie des rhythmischen Ornaments; denn alle reicher entwickelten, komplizierten, bewegteren oder auch darstellerischen rhythmischen Ornamente lassen sich analysieren als bestimmte Stufen der Entwicklung dieser drei Grundformen.« (Ebd.: 15)
Unschwer erkennt man in diesen drei Hauptgruppen symmetrische Abbildungen. Dass diese Gruppen grundsätzlich den Gesetzen symmetrischer Abbildungen entsprechen, wird darin deutlich, dass von Wersin die Entwicklung und Bereicherung eines ornamentalen Themas nur bezüglich des Einzelgliedes zulässt. An dem Bau des Themas selbst darf nichts verändert werden (vgl. ebd.: 16). Auch hierfür gibt es drei Möglichkeiten: An die Stelle des einfachen Einzelmotivs tritt ein komplexeres, an die Stelle eines Einzelmotivs treten mehrere verschiedene Einzelmotive und an die Stelle des abstrakten Einzelmotivs tritt ein abbildendes Einzelmotiv. So ergibt sich von Wersins System einer Morphologie des elementaren Ornaments, wobei er nun auch ausdrücklich die so entstandenen Ornamente als Muster versteht. Interessant für die Fragestellung dieser Untersuchung ist von Wersins Versuch einer Gesetzlichkeit des Ornaments in der Hinsicht, dass er vor der Auseinandersetzung mit den genauen Gesetzlichkeiten des rhythmischen Ornaments dieses von der zweiten Hauptgruppe des dynamischen Ornaments unterscheidet. Mit dem Prinzip der Dynamik greift von Wersin auf das wahrnehmungspsychologische Konzept einer Dynamik der Form zurück, die davon ausgeht, dass Kräfte und Tendenzen wirksam nicht nur innerhalb der Umgebung der Form selbst erscheinen, sondern sie über ihre Grenzen hinaus 105
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strahlen. Im Gegensatz zum rhythmischen Prinzip des Gleichtaktes tritt das dynamische Prinzip »entscheidend in der freien Komposition der ornamentalen Gruppe« (ebd.: 8) auf: »Vor allem ist es bestimmend für die ornamentale Einzelform. Es ist die dynamische Qualität, die den einzelnen Gliedern im Ornament ihre Rolle zuweist. Die innerhalb einer als Ganzes ruhenden Form wirkende, allseitige Ausbreitungstendenz der Rosette, das scharf nach den zwei Hauptrichtungen weisende Ausdehnungsstreben der Raute, das nach der Spitze Gerichtete des Dreiecks, das wachsend in sich Endende der Spirale, das fortlaufend Führende der Rankenlinie, die gelassene Ausstrahlung der Palmette sind dynamisch bestimmte Züge ornamentaler Einzelheiten.« (Ebd.: 9)
Da in den »Erscheinungsformen des pflanzlichen Lebens [...] sich auf eine anschauliche Weise die Realität wirkender Naturkräfte mit jener abstrakt-dynamischen Ausdrucksform« (ebd.) verbinden, sind die organischen Ornamentformen besonders durch das dynamische Prinzip gekennzeichnet. Ist das rhythmische Ornament gekennzeichnet durch gleiche Einzelglieder, so ermöglicht das dynamische Prinzip ornamentale Kompositionen aus sehr verschiedenen Gliedern: »Die Einheit der ornamentalen Komposition auf der Grundlage des dynamischen Prinzips ist gegeben durch Beziehungen des Gleichgewichts zwischen ihren oft sehr verschiedenen Gliedern. Jedes Gleichgewicht weist wie die Waage selbst auf eine Achse hin. Und so ist die Achse – ob sichtbar oder nur imaginär – das entscheidende Merkmal der dynamischen Komposition.« (Ebd.: 10) Wenn von Wersin im Folgenden den Begriff der Symmetrie wählt, meint er nicht den mathematisch präzisen Begriff, sondern den im Sinne einer Achse, die als ein Drittes zwischen zwei verschiedenen Elementen eine sinnhafte Beziehung herstellt. Ausgewogenheit um eine Achse ist nicht an Symmetrie gebunden, sondern ganz im Gegenteil an asymmetrische Bedingungen: »Maßgebend ist das Gleichgewicht – auch unter Ungleichem –, und darum ist die unsymmetrische Bindung an sich ganz verschiedener Glieder zu einer geschlossenen Gruppe für das Wesen des Dynamischen besonders aufschlussgebend.« (Ebd.) Die zwei Hauptgruppen des Ornaments – das rhythmische und das dynamische Ornament – lassen sich also auch über den Symmetriebegriff voneinander abgrenzen: Während das rhythmische Ornament durch symmetrische Operationen generiert wird, sind die Grundlagen des dynamischen Ornaments asymmetrische Operationen. Unschwer lässt sich vor diesem Hintergrund einer solchen Charakterisierung erkennen, dass das strukturelle Ornamentmodell der 60er Jahre v.a. Bezug auf das rhythmische Ornament nimmt, während die Luhmann’sche Ornamentde-
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finition dazu das dynamische Ornament in den Blick nimmt.38 Dies macht auch deshalb Sinn, da der Luhmann’sche Ornamentbegriff nicht darauf abzielt, Strukturen zu beschreiben, sondern Prozesse der Transformation, also Prozesse der Strukturveränderungen, des Auf- und Umbaus von Strukturen. Oder anders formuliert: Luhmanns Interesse liegt nicht auf der Morphologie, sondern auf der Morphogenese des Ornaments. Dabei hilft natürlich das kristallographische Modell aus der Festkörperphysik wenig und ein Modellwechsel ist notwendig. Will man das Ornamentale als Grundprinzip der Formengenerierung bei der Kunstwerkgenese verwenden, d.h. für ein komplexes und dynamisches System – wie dies Luhmann und Valéry ja beabsichtigen – dann können Symmetrie und Rapport dies nicht mehr begrifflich fassen. Legt man jedoch den Beobachtungsschwerpunkt auf die Generierung von hochkomplexen Strukturen und dynamischen Systemen – wie es die moderne Naturwissenschaft in großen Teilen seit Beginn des 20. Jahrhunderts macht – so zeigt sich, dass das dafür zugrundeliegende Schlüsselverfahren auf Symmetriebrechung beruht: »In der Tat wäre eine ganz symmetrische Welt weitgehend strukturlos. Je komplexer die Strukturen werden, desto niedriger ist nämlich im allgemeinen ihre Symmetrie. Symmetriebrechung und das Auftreten von Ordnung gehen also 38 Betrachtet man nun die »Dynamik der Form« als das »eigentliche Gebiet der Architektur« (ebd.: 8), wie es Wolfgang von Wersin in seinem Buch 1940 am Rande anmerkte, Rudolf Arnheim 1970 in seinem Buch Die Dynamik der architektonischen Form ausformulierte und Gernot Böhme in den 90er Jahren in sein Konzept der Atmosphäre einband – dann liegt es nahe, der Luhmann’schen Ornamentdefinition gerade für die Architektur eine grundlegende Relevanz zuzusprechen. Vielleicht muss dabei die Dynamik der ornamentalen Form in der Architektur nicht allein in ihrem eigenen Formenaufbau gesehen werden, sondern v.a. darin, wie sie durch diesen inneren Formenaufbau immer auch ihre Umgebung formt. Diese Vermutung korrespondiert mit der Anmerkung Luhmanns, dass die Grenzen der Kunstwerke der Malerei, der Musik oder der Literatur die Aufmerksamkeit nach innen lenken, während die Grenze zwischen Innen und Außen in der Architektur (und der Skulptur) die Aufmerksamkeit nach außen lenkt: »Das Werk erlaubt keinen Tiefenblick, kein Eindringen unter die Oberfläche (was immer die Oberfläche über Masse, Volumen, Material verraten mag). Der imaginäre Raum wird nach außen projiziert in der Form von Einteilungen, die das Kunstwerk ihm vorschlägt. Aber auch hier ist der Raum ein werkspezifischer Raum, den man nur zu sehen bekommt, wenn man das Kunstwerk sieht, und aus den Augen verliert, sobald man den Blick auf Objekte der Umgebung konzentriert – auf das Unkraut im Schlosspark.« (Luhmann 1995: 79) 107
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Hand in Hand. Auf molekularer Ebene geschieht dies durch den Prozeß der ›spontanen Symmetriebrechung‹, durch den qualitativ neue Eigenschaften in der Materie auftreten, die in den Kräften nicht angelegt sind. Gleichzeitig taucht dabei zwangsläufig auch ein Element der Unberechenbarkeit und Unvorhersagbarkeit auf. Noch verwirrender sind dynamische Erscheinungen im makroskopischen Bereich. Die Bewegung eines strudelnden Flusses oder aufsteigenden Rauchs scheint von äußerster Unregelmäßigkeit zu sein, und Symmetriebrechung tritt hier am drastischsten auf. Die sich gerade entwickelnde Einsicht in das Verhalten chaotischer Systeme liefert erste Einsichten in Regelmäßigkeiten auch hinter solchen Erscheinungen. Aber mit dem Konzept des deterministischen Chaos tritt etwas völlig Neues in der Naturbeschreibung auf den Plan, die Einsicht in die praktische Unvorhersagbarkeit von Erscheinungen, die dennoch von einfachen, strengen Regeln beherrscht werden. Damit versagt auch die seit Leibniz selbstverständliche Beschreibung physikalischen Verhaltens mit den Regeln der Infinitesimalrechnung. Es treten selbstähnliche Objekte auf den Plan, die Invarianz unter Skalenänderungen aufzeigen und so merkwürdig mit den absoluten Skalen kontrastieren, wie sie für die mikroskopische Welt der Quantenphysik charakteristisch sind.« (Mayer-Kuckuk 1989: 13/14)
Dabei kommt nun dem dritten künstlerischen Prinzip – der Ordnung – die Aufgabe zu, die beiden anderen Prinzipien zusammenzubinden. Schon von Wersin schrieb der Ordnung eine Sonderstellung zu: »Gegenüber dem Emotionellen des Rhythmus und der Aktivität der Dynamik hat die Ordnung ihre Wurzel im Geistigen. Obgleich ihr nicht die selbständig gestaltende Bedeutung des rhythmischen und des dynamischen Prinzips im Ornament zukommt, bleibt doch ein wesentlicher Teil des Gebiets der Ornamentik nicht ohne sie deutbar.« (von Wersin 1953: 11) Die Einführung der Ordnung als ein drittes Prinzip ermöglicht es von Wersin, dem elementaren Ornament eine mathematisch-geometrische Ordnung zur Seite zu stellen, ohne dass das elementare Ornament mit dem geometrischen Ornament zusammenfällt. Eine Gleichsetzung von elementarem und geometrischem Ornament würde von Wersin zu folge die rhythmische Qualität des elementaren Ornaments verschleiern. Vielmehr sei das Abstrakt-Geistige mit dem Rhythmisch-Emotionellen des elementaren Ornaments wie »Kette und Schuß« (ebd.: 14) verflochten. Nimmt man diesen Gedanken auf und erweitert von Wersins auf das rhythmische Ornament fokussierten Blickwinkel auch auf das dynamische Ornament, so zeigt sich, dass auch dieses Ornament mit dem Abstrakt-Geistigen einer mathematisch-geometrischen Ordnung wie ›Kette und Schuß‹ verbunden ist. Man muss nur genau darauf achten, welche Geometrie man zugrunde legt: Während die Geometrie, die dem rhythmischen Ornament zugrund eliegt, als eine euklidische gekennzeichnet werden kann, basiert das dynamische Ornament auf der fraktalen Geometrie.
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Fraktale Ornamentik und Virtualität Da die fraktale Geometrie erst in den 70er Jahren entdeckt worden ist, entging von Wersin diese grundlegende Bedeutung der Ordnung. Ordnung als das Abstrakt-Geistige des Ornaments ist das grundlegende künstlerische Prinzip sowohl des rhythmischen als auch des dynamischen Ornaments. Die fraktale Geometrie ermöglichte es, scheinbar nichtgeometrisierbare, komplexeste natürliche Formen, wie Wolken, Wellen oder Gebirge, berechenbar und damit konstruierbar zu machen. Das Anliegen Mandelbrots hat Freeman Dyson in einer frühen kritischen Würdigung am treffendsten im Kontext der Mathematik als auch der Kunst verortet: »Das Wort Fraktal wurde von Mandelbrot erfunden, um eine umfangreiche Klasse von Objekten unter einem Begriff zu vereinen, die in der Entwicklung der reinen Mathematik eine historische Rolle gespielt haben ... Eine große Revolution der Ideen trennt die klassische Mathematik des 19. Jahrhunderts von der modernen Mathematik des 20. Jahrhunderts. Die Wurzeln der klassischen Mathematik liegen in den regulären geometrischen Strukturen von Euklid und den stetigen Dynamiken von Newton. Mit der Mengentheorie von Cantor und den raumfüllenden Kurven von Peano begann dagegen die moderne Mathematik. Historisch wurde die Revolution von der Entdeckung mathematischer Strukturen erzwungen, die nicht in die Muster von Euklid und Newton passten. Diese neuen Strukturen betrachtete man ... als ›pathologisch‹, ... als eine ›Galerie von Monstern‹ – dem Kubismus und der atonalen Musik verwandt, welche etwa zur selben Zeit die etablierten Geschmacksmaßstäbe in der Kunst umstießen. Die Mathematiker benutzten die von ihnen geschaffenen Monster zum Nachweis, dass der Variantenreichtum der reinen Mathematik weit über die einfachen, in der Natur sichtbaren Strukturen hinausgeht, und die Mathematik des 20. Jahrhunderts lebte im Glauben, die von ihren natürlichen Ursprüngen abgesteckten Grenzen vollständig überschritten zu haben. Doch ... die Natur hat – wie Mandelbrot herausarbeitet – mit den Mathematikern ihren Spaß getrieben. Vielleicht fehlte es den Mathematikern des vorherigen Jahrhunderts an Vorstellungskraft, der Natur jedenfalls nicht. Von den gleichen pathologischen Strukturen, die die Mathematiker erfanden, um sich vom Naturalismus des 19. Jahrhunderts zu lösen, erweist sich nun, dass sie vertrauten, uns umgebenden Objekten innewohnen.« (Dyson 1987: 15/16.)
Die Essenz der Mandelbrotschen Botschaft ist, dass viele natürliche Strukturen mit scheinbar uneingeschränkter Komplexität tatsächlich eine geometrische Regelmäßigkeit haben – die sog. Skaleninvarianz. Das bedeutet: Analysiert man diese Strukturen bei unterschiedlichen Größenmaßstäben, so stößt man immer wieder auf dieselben Grundelemente. Wenn jeder Teil eines Gebildes dem Ganzen geometrisch ähnlich ist, werden sowohl das Gebilde als auch der erzeugende Mechanismus 109
DAS ORNAMENTALE UND DIE ARCHITEKTONISCHE FORM
selbstähnlich genannt. Ein prägnantes Beispiel ist das SierpinskiDreieck39. Es entsteht, indem ein gleichseitiges Dreieck (Initiator) in vier kleine gleichseitige Dreiecke zerlegt wird (Generator), wobei das mittlere entnommen wird. Gleiches kann man dann mit den verbleibenden drei Dreiecken und wieder mit den nächsten Dreiecken durchführen. Der fraktale Formengenerierungsprozess ist also ein rekursiver: Jede Operation verwendet das Ergebnis der vorherigen Operation – jeder vorherige Output wird zum neuen Input. Die Operation, d.h. die Anweisung ›Ersetze das Dreieck durch vier kleine Dreiecke‹ nennt man Algorithmus. Bei diesem Beispiel handelt es sich um eine sogenannte exakte Selbstähnlichkeit, d.h. bei unendlicher Vergrößerung des untersuchten Objektes wird immer wieder die ursprüngliche Struktur erhalten, ohne jemals eine elementare Feinstruktur zu erhalten. Eine exakte Selbstähnlichkeit findet man bei den sogenannten linearen Fraktalen, zu denen die CantorMenge, die Koch-Kurve, das Sierpinski-Dreieck, die Minkowski-Kurve und die Peano-Kurve zählen. Demgegenüber weisen die sogenannten nicht-linearen Fraktale, zu denen die bekannten Julia-Mengen und Mandelbrotmengen zählen, lediglich eine einfache oder asymptotische Selbstähnlichkeit auf, d.h. die Skaleninvarianzeigenschaft ist eingeschränkt, aber eine Ähnlichkeit zwischen den Elementen ist immer noch vorhanden. Linearen und nicht-linearen Fraktalen ist gemeinsam, dass sie deterministisch sind, d.h. unabhängig vom Ausgangsbild erreichen sie immer ihr eigenes spezifisches Limesbild. Davon unterscheidet sich schließlich die dritte Gruppe der Fraktale: Die sogenannten zufälligen Fraktale sind indeterministisch und eignen sich deshalb besonders zur Simulation von ›unregelmäßigen‹ Formen, wie Gebirgen und Wolken. Eine Ornamentik, die auf der fraktalen Geometrie aufbaut, zeigt interessante Übereinstimmungen zu der Luhmann’schen Ornamentdefinition – werden doch sowohl die fraktale Geometrie als auch das Ornamentale in der Luhmann’schen Interpretation durch rekursive Verfahren generiert. Es ist genau dieses rekursive Verfahren, welches es erst ermöglicht, komplexe ornamentale Formen zu generieren. Darin liegt ein entscheidender Unterschied zwischen einer Ornamentik, die auf Grundlage der euklidischen Geometrie und durch die Verfahren der Symmetrie und des Rapports, und einer Ornamentik, die auf Grundlage der fraktalen Geometrie und durch Verfahren der Rekursion und Asymmetrie gebildet wird: Symmetrische Operationen, die die Grundoperation der euklidischen Ornamentik darstellen, lassen die Ausgangsform unverändert. Der entsprechende Aufbau von ornamentalen Formen besteht also genau be-
39 Benannt nach dem polnischen Mathematiker Waclaw Sierpinski (18821969). 110
ORNAMENT & GEOMETRIE
trachtet in einer Kopplung immer gleicher Formen zu größeren Formen. Der rekursive Mechanismus der fraktalen Geometrie jedoch verändert mit jeder Operation die Ausgangsform. Bei fraktalen Prozessen muss lediglich eine Ähnlichkeit zur Ausgangsform gewahrt bleiben. Man hat es also nicht mehr mit einer symmetrischen Abbildung zu tun. Formenkomplexität entsteht durch eine laufende Transformation der Form. Mittels symmetrischer Operationen werden also identische Formen an Formen geknüpft, während mittels rekursiver Operationen Formen aus Formen generiert werden. Die Verfahren der Rekursivität und Asymmetrie ermöglichen auf dem Gebiet der Geometrie in einem ganz anderen Maße als Rapport und Symmetrie eine komplexe Formenvielfalt, und dies bei einem minimalen Aufwand, denn rekursive Operationen definieren – wie Hofstadter formuliert – nicht etwas explizit, sondern durch einfachere Versionen seiner selbst (vgl. Hofstadter 1999: 164). Fraktale Prozesse ermöglichen bei einer Steigerung der Redundanz eine Steigerung der Varietät. Die ständige Wiederholung der immergleichen Rechenoperation, die einer enorm gesteigerten Redundanz entspricht, führt zu immer neuen Formen, d.h. zu einer gesteigerten Varietät. Es ist diese Leistungsfähigkeit der fraktalen Geometrie, die sie zur »Sprache für komplexe Strukturen« (Jürgens/Peitgen/Saupe 1989: 106) in Wissenschaft und Natur werden lässt. Dies erinnert an das soziologische Unternehmen Niklas Luhmanns, mit Hilfe der Systemtheorie ein Modell für die komplexen Formen und Prozesse der modernen Gesellschaft zu entwickeln. Beide Male wird versucht, die Komplexität eines Gegenstandes durch ein sehr abstraktes, aber auch einfaches Verfahren operationalisierbar zu machen. Luhmanns Ornament-Definition beschreibt ein operatives Verfahren der Formengenerierung mit Hilfe von Asymmetrie und Rekursion. Dieses Verfahren findet Verwendung in der Mathematik zur algorithmischen Berechnung komplizierter Rechenaufgaben, in den Naturwissenschaften zur Beschreibung komplexer dynamischer Systeme und in der Geometrie zur Berechnung und Konstruktion fraktaler Formen.40 Diese Parallelen brauchen hier nicht weiter ausgeführt werden, aber sie machen darauf aufmerksam, dass Niklas Luhmann die klassische aus der Kunsttheorie entstammende Ornament-Definition von Symmetrie auf Asymmetrie und von Rapport auf Rekursion umstellt, um mit dieser Verschiebung dem Ornamentalen in der Kunst genau das zuzuschreiben, was der fraktalen Geometrie der Wissenschaft zugeschrieben wird: ein Modell für komplexe Formen und dynamische Systeme abzugeben. Erst diese Umstellung von Rapport und Symmetrie auf
40 Verbunden damit ist das sehr viel ältere und allgemeinere Konzept der Selbstähnlichkeit, welches bis zu Leibniz zurückgeführt werden kann. 111
DAS ORNAMENTALE UND DIE ARCHITEKTONISCHE FORM
Rekursion und Asymmetrie eröffnet die Möglichkeit, das Ornamentale zur Sprache komplexer künstlerischer Formen und Verfahren zu machen – einer Sprache freilich, die sich von der Sprache der traditionellen euklidischen Geometrie grundsätzlich unterscheidet (vgl. Jürgens/ Peitgen/Saupe 1989). Die euklidische Geometrie kann man mit westlichen Sprachen vergleichen: Sie sind in einem endlichen Alphabet geschrieben und erst Wörter, die aus Buchstaben zusammengesetzt werden, tragen Bedeutung. Die traditionelle euklidische Geometrie kennt – in Analogie zum westlichen Zeichensatz – nur wenige Elemente, wie die gerade Linie, den Kreis, etc., die zu komplexeren Objekten zusammengefügt werden, die gleichsam erst die Bedeutung tragen. Die fraktale Geometrie hingegen ist eher mit den östlichen Sprachfamilien zu vergleichen, die aus einem schier unerschöpflichen Zeichenvorrat bestehen und wo jedes Schriftzeichen selbst die Bedeutung beinhaltet. In der fraktalen Geometrie entsprechen die Schriftzeichen, die Bedeutungseinheiten, dem Algorithmus. Als solche Verfahrensregeln und Anweisungen nach dem Muster ›Ersetze das Dreieck durch vier kleine Dreiecke‹ sind sie selbst Operationen, sind im strengen Sinne Ereignisse oder haben Ereignischarakter. Ereignisse sind dadurch gekennzeichnet, das sie gleich nach ihrem Auftauchen auch schon wieder verschwinden, also keinen dauerhaften Zustand haben. Die Elemente der fraktalen Geometrie entziehen sich also einer direkten Wahrnehmung und unterscheiden sich damit grundlegend von den Elementen der euklidischen Geometrie, wie Linie, Kreis etc. Für Paul Virilio, der in der Geometrie das grundlegende Material der Architektur sieht, ließ die Entdeckung der fraktalen Geometrie nichts weniger als den architektonischen Raum der Kubikmeter, der Oberflächen, der Volumina an sich in eine Krise geraten. Von einem Raum, der nicht mehr ein Ganzes ist, sondern gebrochen, lässt sich dann nur im Sinne eines virtuellen Raumes sprechen (vgl. Virilio 1999). Entsprechend fordert der Luhmann’sche Ornamentbegriff dazu auf, von einer Virtualisierung des Ornaments zum rein Ornamentalen zu sprechen.
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ORNAMENT & STRUKTUR Zur Funktion des Ornamentalen
»Wo die Funktionsbedingtheit der Struktur in Gestaltqualität umschlägt, ist der Platz des Ornaments. […] Ornament also als die Gestaltqualität in der Struktur.« (Claus 1970: 48)
»Sieht man genauer hin, dann bleibt allerdings das Ornamentale auch in einer pointiert repräsentierenden Kunst immer die Infrastruktur des Kunstwerkes, weil, wenn man überhaupt Raum und Zeit als Medien verwendet (und wie anders sollte ein Kunstwerk erscheinen können), es unerlässlich ist, auch diese Medien zu ordnen – was immer dann in ihnen repräsentiert wird.« (Luhmann 1995 186)
Die Struktur/Ornament-Figur in der Architektur Mit dem Ornament-Begriff bezeichnet Niklas Luhmann das Grundprinzip der künstlerischen Formengenerierung; er ist in diesem Sinne kein Gestalt-Begriff und bezeichnet auch nicht eine materielle Entität. Vielmehr ist er ein Form-Begriff, wobei Form hier immer in der spezifisch differenztheoretischen Lesart als Produktion einer Unterscheidung verstanden wird. Damit wird der Ornament-Begriff zu einem generischen Begriff, der als Konstruktionselement, als basale Operation geeignet ist, Netzwerke von Unterscheidungen, Systemzusammenhänge von Ereignissen zu generieren. Wenn Luhmann den Ornament-Begriff an den Struktur-Begriff koppelt und zu einer Einheit werden lässt – wie die Formulie113
DAS ORNAMENTALE UND DIE ARCHITEKTONISCHE FORM
rungen vom Ornamentalen als Infrastruktur des Kunstwerkes und von der ornamentalen Struktur eines Gedichtes anzeigen – dann kann auch der Strukturbegriff nicht mehr als materielle Entität verstanden werden. Damit wird aber ein für die Architekturtheorie maßgebliches Begriffsschema fragwürdig: Struktur/Ornament. Fragwürdig deshalb, weil mit einem solchen Zusammenziehen von Ornament und Struktur zunächst einmal alle diejenigen Ornamentkonzeptionen wenig kompatibel erscheinen, die auf einer Unterscheidung von Ornament und Struktur basieren. Dies betrifft an erster Stelle eine Ornamentkonzeption, wie sie im 19. Jahrhundert v.a. von Carl Bötticher und Gottfried Semper (vgl. Sankovitch 1998) entwickelt worden ist: Die dort vorherrschende kategorische Trennung von Struktur und Ornament, verbunden mit der Abwertung des Ornamentalen gegenüber dem Strukturellen in der Architektur, stellt geradezu einen Gegenpol zur Luhmann’schen Ornamentdefinition her: Wo Luhmann Struktur und Ornament in eine enge Beziehung setzt, trennt das 19. Jahrhundert beide, und wo Luhmann das Ornamentale als Primäres konstituiert, wird es im 19. Jahrhundert als Sekundäres abgewertet. Aber auch die dem Ornamentrevival der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts zugrundeliegende Ornamentkonzeption eines minimalistischen Ornaments kann nicht dazu dienen, die Luhmann’sche Ornamentkonzeption in einen architektonischen Rahmen zu binden. Sie dreht zwar die im 19. Jahrhundert festgeschriebene Wertigkeit von Struktur und Ornament um und räumt somit der ornamentierten Hülle vor der minimalistischen Box den Vorrang ein, verbleibt aber doch in dem Begriffsschema von Struktur/Ornament, d.h. trennt zwischen Ornament und Struktur. Das Zusammenziehen von Struktur und Ornament zu einer funktionalen Einheit in der Luhmann’schen Ornamentkonzeption erinnert eher schon an die (unausgesprochene) Konzeption der architektonischen Moderne, das Ornamentale in die Struktur des Bauwerkes zu ziehen und somit das gesamte Bauwerk zu einem Ornament werden zu lassen. Thomas Beeby hat seit Mitte der 60er Jahre darauf verwiesen und dies in seinem Artikel The Grammar of Ornament – Ornament as Grammar (vgl. Beeby 1977) auf den Punkt gebracht: Seit dem 19. Jahrhundert wechselt bei Frank Lloyd Wright, Mies van der Rohe und Le Corbusier Ornamentalität von ihrer gegenüber der Struktur untergeordneten Rolle zu einem eher grundlegenden Prinzip der architektonischen Formenbildung. Um dieses Phänomen begrifflich zu fassen, greift Beeby auf einen Artikel des englischen Architekten und Architekturkritikers Robert Kerr aus dem Jahre 1869 zurück. Dort unterschied Kerr zwischen einer structure ornamented und einem ornament constructured. Ersteres bezeichnet eine ornamentierte Struktur, d.h. eine architektonische Struktur, die mit einer zusätzlichen Ornamentation versehen wurde, letzteres
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ORNAMENT & STRUKTUR
bezeichnet ein gebautes Ornament, d.h. die grundlegenden Elemente eines architektonischen Entwurfes oder eines Bauwerkes oder einer Stadt sind so arrangiert, dass sie eine ornamentale Gestalt bilden. Beeby nun zeigt sehr instruktiv, wie nach dem Ersten Weltkrieg die Architekten der Moderne zunehmend vom Prinzip einer structure ornamented zu einem ornament constructured wechseln. Der Entwurfsprozess beginnt entsprechend mit einem geometrischen ornamental pattern, aus dem sich ganze Stadtentwürfe entwickeln. Beeby verweist dafür auf Le Corbusiers Plan von 1922 und vergleicht u.a. Wrights Entwurfsstrategie für den Unity Temple mit Sullivans graphischer Methode, ein Ornament zu entwickeln. Bei diesem Beispiel wird nicht nur deutlich, wie solchermaßen der architektonische oder städtische Grundriss als eine ornamentale Figur entwickelt wird, sondern auch, wie Wright die Ornamentalität in das Räumliche transformiert. Das Ergebnis eines solchen Entwurfsprozesses in ein Bauwerk, welches im Ganzen zu einem Ornament geworden ist.41 Auch wenn hier auf den ersten Blick eine Ähnlichkeit zur Luhmann’schen Ornamentkonzeption aufscheint, so besteht doch der grundlegende Unterschied darin, dass es in der Luhmann’schen Konzeption nicht darum geht, dass das Kunstwerk die Gestalt eines Ornaments annimmt, sondern dass das Kunstwerk durch das Ornamentale organisiert wird. Es geht hier nicht um ornamentale Gestalten in der Architektur, sondern um die Frage nach ornamentalen Prozessen. In der architekturtheoretischen Konzeption hingegen wird sowohl der Struktur- als auch der Ornamentbegriff statisch gedacht. Sucht man in der Geschichte der Architekturtheorie eine Ornamentkonzeption, die einerseits mit dem Strukturbegriff eine Einheit bildet und andererseits weder Ornament noch Struktur als materielle Entitäten begreift, bietet sich zunächst der Zeitraum vor der Erfindung der Struktur/Ornament-Figur an. Die Kunsthistorikerin Anne-Marie Sankovitch macht u.a. darauf aufmerksam: »Vor dem 19. Jahrhundert war das Ornament nicht mit einem greifbar materiellen Ding namens Struktur gepaart; die Struktur war keine ontologisch, repräsentativ oder ästhetisch unabhängige Entität, und das Ornament wurde nicht durchgängig auf einen diskreten, abtrennbaren Gegenstand reduziert, von der
41 Von hier aus ließen sich zwei weitere Verweise entwickeln: Zum einen geschichtlich zurück zu der Architektur des Rokoko, wo die architektonischstrukturellen Elemente in einen ornamentalen Formenrausch geführt werden und ihre tektonischen Qualitäten gegen reine ästhetische Qualitäten austauschen. Zum zweiten geschichtlich voraus zu einer dekonstruktivistischen Architektur, die in einem noch radikaleren Sinn die Tektonik in einer reinen Ornamentalität verschwinden lassen. Zu erinnern ist natürlich auch an die Idealstadtentwürfe der Renaissance, wie die eines Filaretes. 115
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Struktur grundverschieden und seiner eigenen inneren Logik gehorchend. Erst im modernen Diskurs wurde das Ornament (seine Funktion, seine Geschichte und seine Regeln) zu einem unabhängigen Gegenstand der Reflexion, und der moderne Diskurs machte es auch erst möglich, dass die Entität, der das Ornament appliziert wird, bei dessen Betrachtung unberücksichtigt bleiben konnte, wie es etwa in solchen Texten wie The Grammar of Ornament von Owen Jones (1856), den Stilfragen Alois Riegls (1893) oder der berüchtigten Schrift Ornament und Verbrechen von Adolf Loos (1908) geschah.« (Sankovitch 2001: 271)
Bei ihrer Suche nach einer Alternative für das Schema Struktur/ Ornament verweist die Kunsthistorikerin auf Alberti. In dessen Formulierung »In jeder Sache ist es der erste Schmuck, frei zu sein von jeder Ungebührlichkeit« (Alberti 1912: 305) werde deutlich, dass Alberti ornamentum nicht als einen vorhandenen materiellen Gegenstand, sondern als Abwesenheit einer Eigenschaft betrachtet. Des weiteren bezeichnet Alberti ornamentum nicht als Supplement der Struktur (structura), sondern der Schönheit (pulchritudo). Der Ornamentbegriff bei Alberti wird extrem fließend – Sankovitch wagt sogar zu formulieren: »alles ist Ornament, und alles ist Struktur« (Sankovitch 2001: 272). Entsprechend ist bis zum Ende des 18. Jahrhunderts für viele Architekturtheoretiker ein Bauwerk das Ergebnis der beiden sich überlappenden Fertigkeiten des Konstruierens und des Ornamentierens, ohne dass jedoch daraus zwei getrennte materielle Entitäten wie Struktur einerseits und Ornament andererseits produziert werden: Bis zu den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hatte der Begriff ›Ornament‹ eine »subtilere, fließende, sogar immaterielle Bedeutung« (ebd.: 271). Auch der Kunsttheoretiker Heinz Paetzold findet in den urbanistischen Diskursen der Renaissance und der Aufklärung Ansätze zu einem Ornamentverständnis, dementsprechend »das Ornament eher seinen Sitz im relationalen Gefüge der Stadt haben [sollte], und nicht ausschließlich am einzelnen Gebäude« (Paetzold 1996: 155). Einen weiteren Anknüpfungspunkt findet man aber auch in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Im vorherigen Kapitel wurde die Operationalisierung des Ornamentbegriffs über die Analogie zum mathematischen Symmetriebegriff in der Ausstellung ornament ohne ornament herausgearbeitet. Dadurch wurde nunmehr weniger das Ornament als Gestalt, sondern das Ornamentale als eine Prozessqualität in den Vordergrund gerückt. Zweifelsfrei ging es dabei nicht allein um mathematische Symmetrieoperationen, sondern besonders um die mathematische Symmetriestruktur: »Ornament (ohne Ornament) ist ein Sammelbegriff, der Formen der Natur sowie funktionelle und künstlerische Formen umfasst, welche mathematisch gesehen die Symmetriestruktur gemeinsam haben.« (Buchmann 1965: II, 29) Hinter der Frage nach der Relevanz des 116
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mathematischen Symmetriebegriffs für die vielfachen ornamentalen Phänomene stand also die grundlegendere Frage, ob der Strukturbegriff dies allein fassen kann. So fragte der Direktor des Kunstgewerbemuseums und der Kunstgewerbeschule Mark Buchmann in dem einführenden Text zur Ausstellung: »Müssen wir nun angesichts einer modernen Reaktivierung des Ornamentalen das innere Defizit eingestehen? Oder können wir uns noch hinter das Wort Struktur retten?« (Ebd.: I, 2) Und in der Tat wurde dann auch die mangelnde Indifferenz der in der Ausstellung verwendeten Begriffe Ornament, Struktur und Muster besonders kritisiert.
Neue Ornamentik Für die hier gestellte Frage nach dem Verhältnis von Ornament und Struktur ist besonders aufschlussreich die Kritik des Kunsthistorikers Hans Heinz Holz an der Züricher Ausstellung, die er am 15.08.1965 in der Basler Nationalzeitung eröffnete und im Rahmen der Ausstellung Ornamentale Tendenzen in Berlin 1968 unter dem Titel Die Repristination des Ornaments (Holz 1972) wiederholte. Holz wendet sich massiv gegen eine Gleichsetzung von Struktur und Ornament, da der »immer wieder bis zur Sinnentleerung angewandte Strukturbegriff« (ebd.: 249) zuviel unter dem Begriff des Ornaments versammelt. Holz trennt von Anfang an kategorisch zwischen den Begriffen strukturell und dekorativ: »Formantien, die sich aus der Herstellungsweise des Gegenstandes oder aus seiner Gebrauchsweise ergeben, die also Modi seiner Entstehung oder seiner Verwendung sind, sollte man als ›strukturell‹ bezeichnen; Elemente, die zu einer Gegenstandsform hinzutreten, als ›dekorativ‹ – sei es, dass sie die Struktur verdeutlichen oder sie überlagern.« (Ebd.: 140) Das Ornament rechnet Holz nun zu den dekorativen Elementen; er betrachtet es als eine »Art der Gattung Dekor« (ebd. 163). Aus dieser klassischen Differenz von Struktur und Ornament heraus entwickelt Holz definitorische Abgrenzungen zwischen den Begriffen Ornament, Muster und Struktur: Das Ornament unterscheide sich vom Muster, welches ebenso durch einen repetitiven Charakter geprägt sei, durch seinen Stilisierungswillen. Erst dieser erhebe das Muster, welches nur eine dem Gegenstand dienende Form sei, zu einer selbständigen Kunstform. Auch wo das Ornament mit dem Gegenstand verschmelze, mache es sich autonom und es ist diese Autonomie, die es von der Struktur, die einfach der Gegenstand in seinem Sosein ist, unterscheide (ebd.: 159/160). Während das Ornament in Beziehung zum Gegenstand autonom, aber akzidentiell ist, ist die Struktur die substantielle Form des Gegenstandes (ebd. 163). Dementsprechend kann das Ornament die Struktur akzentuieren (ebd.:
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151), sich aber nicht mit ihr decken – Holz spricht auch in diesem Fall von einem strukturierenden Ornament (ebd.: 148). Damit das Ornament seinen applikativen Charakter ausspielen kann, muss es primär eine reine Flächigkeit oder einen flach reliefartigen Auftrag (ebd.: 163) aufweisen. Deshalb könne man Holz zu Folge für den Fall, dass körperhafte Gebilde – Skulpturen und Bauwerke – als ein Ganzes eine ornamentale Gestalt bilden, nur uneigentlich (ebd.) von Ornament sprechen. Doch nicht nur der Strukturbegriff gerät in den Fokus der Betrachtung, sondern auch der Formbegriff: »Tatsächlich fragt man sich, ob im Eifer der Planung die Ausstellungsleiter nicht allzu viel Ornamentales entdeckt zu haben glauben, ob sie nicht dem Fehler verfallen sind, in fast jeder Form schon ein Ornament zu sehen.« (Ebd.: 248) Auch hier versucht Holz dagegen den Unterschied von Form und Ornament zu betonen: »Nicht jede Form kann als Ornament interpretiert werden. […] Form ist eine ontologische Kategorie, sie ist Bestandteil jedes Seienden. Wer jede Form bereits als Ornament nimmt, verwechselt Gattung und Art.« (Ebd.: 161/162) Gleichwohl muss Holz schon im Nachsatz: »Ornament ist eine Formmöglichkeit, und keine geringe«, eine enge Verknüpfung von Form und Ornament einräumen, die dann bei der Beobachtung gegenstandloser Kunst offen zutage tritt: »Die völlige Askese gegenüber der ornamentalen Zutat, die Reinheit der Funktionalität war wohl notwendig, um überhaupt wieder das formale Spiel gekoppelter Elemente möglich zu machen – und es war nicht das schmückende Kunstgewerbe, sondern die ›gegenstandslose Kunst‹, die diese Möglichkeit zurückeroberte. Was heute von ›konkreter Kunst‹ bis zu ›action painting‹, von ›op art‹ bis zu ›Signalen‹ versucht wird, ist nichts anderes als der Aufschluß von Flächen und Körpern für gliedernde Elemente, die ihren Zusammenhang mit dem Ornamentalen nicht verleugnen können. Vielleicht ist es so, daß reine Formbeziehungen häufig als Ornament wirken, wie umgekehrt das solcherart autonom gewordene Ornament in reine Kunst umschlägt (und dergestalt seine Autonomie rechtfertigt).« (Ebd.: 158)
In dieser strukturalen Beobachtungsperspektive verschiebt Holz den Begriff der Form zu dem der Formbeziehungen, d.h. wenn auch nicht jede Form als Ornament interpretiert werden kann, so wirken doch reine Formbeziehungen häufig als Ornament. Reine Formbeziehungen haben also durchaus ornamentalen Charakter – eine ornamentale Funktion. Der Begriff der Formbeziehungen entspricht dabei dem in der Strukturforschung verwendeten Begriff der Relation. Damit dekonstruiert Holz jedoch seine eingangs getroffene Unterscheidung zwischen strukturell und dekorativ, denn das formale Spiel gekoppelter Elemente muss als eine strukturelle Formantie bezeichnet werden. Wenn nun aber in diesem 118
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formalen Spiel ein ornamentaler Charakter wirksam ist, dann müsste das Ornament auch diesen strukturellen Formantien zugeordnet werden. Damit gerät jedoch Holz in Widerspruch zu sich selbst, der das Ornament als eine »Art der Gattung Dekor« (ebd.: 163) betrachtete, d.h. das Ornament zu den dekorativen Elementen rechnet. Eine Möglichkeit, diesen Konflikt zu lösen, besteht in einer begrifflich scharfen Unterscheidung zwischen dem Ornament als einer Gestaltform und dem Ornamentalen als einer Spielform, d.h. einer Prozessform. Wie das Ornament als eine Art der Gattung Dekor, so wäre das Ornamentale als eine Art der Gattung Struktur zu bezeichnen.42 Unschwer lässt sich erkennen, dass der Luhmann’sche Ornamentbegriff auf die zweite Version, das Ornamentale abzielt. Eine weitere Verbindung der Luhmann’schen Ornamentdefinition als Infrastruktur des Kunstwerkes zu strukturalistischen Ornamentdefinitionsversuchen der 60er Jahre zeigt sich besonders deutlich mit einem Verweis auf Rolf Wedewer, der – in enger Auseinandersetzung mit gerade jenen Thesen von Holz – Struktur als einen Infra-Begriff bezeichnet und auch daran die Frage nach dem Verhältnis von Ornament und Form festmacht: »Struktur als bestimmendes Ordnungsprinzip der formalen Erscheinungsweise ist ein Infra-Begriff, der sich nur in seiner Ausformung beschreiben lässt; man kann ›Struktur‹ nicht malen. […] Folgt jedoch das Ornament […] erkennbar entweder einem bereits markierten Strukturplan oder ist es ihm in seiner Anordnung und Formulierung ebenso deutlich unterworfen – dass es sich zu einer Totalität fügt –, dann, und nur dann vermag es den Rang einer künstlerisch verbindlichen Form zu erreichen. Im ersten Falle wird das Ornament zur bereichernden und differenzierenden Ausformung einer bestehenden Ordnung, zu einer Intensivierung somit auch – es bleibt jedoch ein Sekundärphänomen –; im zweiten wird das Ornament autonom in dem Sinne, dass es mit dem Begriff der Form zusammenfällt.« (Wedewer 1965: 3) 42 In ganz ähnlicher Weise unterscheidet auch der Kunsthistoriker Andreas Haus zwischen einem Decorum-Ornament und einem Pattern-Ornament: »Ich möchte hier unterscheiden zwischen Ornament als Decorum, d.h. als individuell sinnstützende, einem Gegenstand oder Inhalt zugeordnete Form, und dem Ornament als Pattern – als Muster, das als übergeordnete Struktur besteht, in die individuelle Inhalte und Gegenstände eingeordnet sind. Ein solches Muster- oder Pattern-Ornament ist gegenüber dem gestalthaften Decorum-Ornament sowohl naiver als auch geistiger, indem es mit Abstraktionssystemen und nicht mit begrifflicher Individuation arbeitet und als kontinuierliches Organisationsprinzip, sozusagen als ›Weltprinzip‹, alles andere einschließt. Darüber hinaus bewahrt es in seiner abstrakten Strukturalität auch für sich, jenseits einer imitativen Sinnbildlichkeit, eigene Bedeutung.« (Haus 2001: 179) 119
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Der »Umschlag des Ornaments in die Form« (ebd.: 4) findet statt, wenn Ornament und Struktur eine Einheit bilden.43 Es ist der Künstler und Theoretiker Jürgen Claus, der sich mit seinem 1967 auf der 6. Biennale von San Marino geprägten Begriff des strukturellen Ornaments explizit auf Wilhelm Worringer und den Ursprung des Ornaments als einem »strategischen Mittel, die Welt der Erscheinungen zu strukturieren« (Claus 1970: 46), bezieht. Von hier aus zieht Claus die Linie zu einer Strategie der Strukturen (ebd.), die der heutige Künstler zu beherrschen sucht. Dieser Ansatz ermöglicht es Claus, von Anfang an das Phänomen des Ornamentalen unabhängig von der Unterscheidung Struktur/Ornament bzw. Träger/Ornament zu beobachten: »Es geht also nicht um die Diskussion Träger – Ornament, nicht um das Ornament als Applikat, als die aufgesetzte Schmuckform. Es geht um visuelle, sichtbar gemachte Ordnungskategorien, die das Erlebnis des Menschen bestimmen, indem sie ihm Struktur geben.« (Ebd.: 47) Dass aber auch Jürgen Claus noch bei einem maßgeblich gestaltorientierten Ornamentbegriff bleibt, wird deutlich, wenn er formuliert: »Wo die Funktionsbedingtheit der Struktur in Gestaltqualität umschlägt, ist der Platz des Ornaments. Also ist nicht jede Struktur ornamental und nicht jedes Ornament strukturell bedingt. Beide können aber identisch werden. […] Ornament also als die Gestaltqualität in der Struktur.« (Ebd.: 48) Es ist der statische Strukturbegriff, der einen gestaltorientierten Ornamentbegriff nach sich zieht und Claus daran hindert, seine selbst aufgestellte Forderung nach »Begriffen, die dem Prozesscharakter der Kunstwerke« (ebd.: 49) entsprechen, einzulösen. Es fällt dem Kunsttheoretiker Klaus Hoffmann 1970 zu, den ersten und auch einzigen ausführlichen Versuch zu unternehmen, das Phänomen der Neuen Ornamentalität zu beschreiben und Definitionsversuche
43 Dass sich dazu erst das Ornament der bestehenden Struktur unterwerfen muss – wie Wedewer formuliert – liegt in dem Ansatz begründet, dem Ornament im geschichtlichen Verlauf zunächst eine abbildende, repräsentative und erst dann eine abstrahierende/stilisierende Funktion zuzuschreiben. Dieser Wilhelm Worringer diametral entgegengesetzte Ansatz wird vehement von Holz vertreten: »Die Deutungen M. Riemschneiders widerlegen die von Wilhelm Worringer […] temperamentvoll vertretende Auffassung, das Ornament sei als Ausdruck eines abstrakten ›Kunstwollens‹ früher als eine Assoziation mit Gegenstandsformen, die erst nachträglich hinzugebracht würden. Die Alternative ›abstrakt‹ – ›gegenständlich‹ (oder ›Ausdrucksmedium‹ – ›Sinnträger‹) ist falsch gestellt, genuin ist der emblematische Charakter.« (Holz 1972: 250/251) Wedewer hingegen löst sich in Anbetracht der gegenstandslosen Kunst und ihrer autonomen Ornamentik hiervon und bietet wenigstens einen Verweis auf Worringer an. 120
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zu unternehmen. Nachdem er die wichtigsten schon in der Diskussion befindlichen Kandidaten für eine Benennung des Phänomens, wie z.B. »Ornamentale Abstraktion«, »systematische Stilisierung«, »Ornament ohne Ornament«, »strukturelles Ornament«, geprüft hat, entscheidet sich Hoffmann für den Begriff »Neue Ornamentik« bzw. »Das Ornamentale« oder »Die Ornamentale«. Hoffmann geht mit seiner Konzeption einer Neuen Ornamentik (Hoffmann 1970) für den Kunstdiskurs einen entscheidenden Schritt weiter: Er grenzt sich nicht nur gegen eine alte Ornamentik, die als Schmuck und Verzierung gesehen wird, ab, sondern auch dezidiert gegen die Ornamentik der klassischen Moderne von 1900 bis 1960. Die Neue Ornamentik, die Klaus Hoffmann für eine Richtung in der bildenden Kunst der 60er Jahre als charakteristisch betrachtet, beschränkt sich entsprechend »weder auf eine untergeordnete Verzierungsrolle noch lediglich auf eine Gliederung bekannter Gegenstände, ebenso wenig auf eine Variation der herkömmlichen Ornament-Muster« (ebd.: 12). Der Unterschied zwischen der Ornamentik der klassischen Moderne und der seit den 60er Jahren liegt Hoffmann zufolge darin, dass die klassische Moderne das Ornamentale als Hilfsmittel zur Erlangung des Ziels »Abstraktion«, »Konkretion«, »Formell« oder »Informell« benutzt hat, während die Neue Ornamentik der Nachmoderne über dieses Potential nun frei verfügen kann. Das Ornament ist somit von jeglicher angewandten Funktionalisierung befreit; es findet nunmehr seine Verwendung im Kunstwerk in einer unangewandten Funktion, d.h. seine Funktion liegt in einer innerbildnerischen Gesetzlichkeit (ebd.: 152). Hoffmann folgert daraus: »Rehabilitieren lässt sich nicht das Ornament, aber das Ornamentale.« (Ebd.: 12) Die Rehabilitierung des Ornamentalen bei Hoffmann scheiterte, da keine entsprechende operative Begrifflichkeit entwickelt wurde. Hoffmann belässt es bezeichnenderweise nach drei Definitionsversuchen auch deshalb bei dem Verweis auf diejenigen Theorien, denen er zutraut, in Zukunft eine begriffliche Klärung des Phänomens der Neuen Ornamentalität zu ermöglichen: französischer Strukturalismus (Claude Levi-Strauss, Roland Barthes, Pierre Francastel), deutsche Strukturforschung (Carl von Lorck, Willi Drost) und Informationsästhetik (Kurd Alsleben, Max Bense, McLuhan).
Das Ornamentale als inneres Ornament Dieser sich aus strukturalen, strukturalistischen und informationsästhetischen Komponenten zusammensetzende Beobachtungsversuch wird auch bei Luhmann deutlich, wenn dieser über die Medium/Form-Unterscheidung genauer anzugeben versucht, worin die spezifisch künst-
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lerische Dimension des Ornamentalen liegt, d.h. wie das Ornamentale als artistisches Mittel im Sinne Kurd Alslebens (vgl. Alsleben 1962) konkret zu verstehen ist.44 Sehr instruktiv sind dabei Luhmanns Ausführungen zur Poesie: »Hier geht es um Worte als Medium, als lose gekoppelte Menge von Elementen. [...] Die poetische Formenbildung müßte dann darin bestehen, eine besondere Formenkombination von Worten herzustellen – sei es mit, sei es ohne die Struktur von grammatisch korrekten Sätzen –, die die Worte aufruft, einen nicht-alltäglichen Sinn preiszugeben. [...] Die Alltagssprache muß dieselben Worte in vielfältigen Zusammenhängen verwenden und ist deshalb auf ein Abschleifen des Sinngehalts und auf Sätze als Verständnishilfen angewiesen. Sie versucht zugleich, möglichst eindeutige Denotationen herzustellen, und erreicht dies Ziel über Namengebung und über Konstruktion von abstrakten Gegenständen, begrifflichen Korrelaten, Ideen. Die dichterische Sprachverwendung operiert in Gegenrichtung [...]. Sie reflektiert den Gebrauch von Sprache – so als ob Sprache wie anderes Material etwas sei, das man in der Welt vorfindet. Sie benutzt nicht die Denotationen, sondern die Konnotationen der Worte und setzt damit die Worte als Medium voraus, in dem einander wechselseitig auswählende Konnotationen Formen bilden können. [...] Konnotationen schließen an den bekannten Wortsinn an und kappen zunächst nur die externe Referenz, so daß zum Beispiel auch Oppositionen als Einheit erscheinen können, obwohl, ja weil, sie es in der Außenwelt nicht sind. Das erfordert ein Ausschalten, ein 44 Damit soll keinesfalls behauptet werden, dass es sich bei der Luhmann’schen Systemtheorie um einen Strukturalismus handelt. Nichts läge Luhmann ferner, schließlich konzipierte dieser seine Theorie sozialer Systeme in einer ausgeprägten Kritik am Strukturalismus als einer Wissenschafts- bzw. Erkenntnistheorie. Als eine Folge dieser Kritik verliert der Strukturbegriff in der Luhmann’schen Theoriearchitektur zwar seine Zentralstellung, ohne freilich dadurch schon entbehrlich zu werden: »Kein Systemtheoretiker wird leugnen, daß komplexe Systeme Strukturen ausbilden und ohne Struktur nicht existieren könnten. Der Strukturbegriff ordnet sich nun aber ein in ein vielfältiges Arrangement verschiedener Begriffe, ohne Führungsqualität zu beanspruchen. Er bezeichnet einen wichtigen Aspekt von Realität, vielleicht auch eine unentbehrliche Hilfe für den Beobachter – aber eben nicht mehr dasjenige Moment, in dem Erkenntnis und Gegenstand in den Bedingungen ihrer Möglichkeit zusammenfallen. Deshalb handelt es sich hier nicht um Strukturalismus.« (Luhmann 1987: 382) Unterschieden werden muss also genauer zwischen Luhmanns radikaler Zurückweisung des Strukturalismus als einer Erkenntnistheorie und seinen kritischen Modifikationen und Weiterentwicklungen am Begriff der Struktur. Es wird an dieser Stelle darauf verzichtet, die Luhmann’schen Spezifizierungen am Strukturbegriff nachzuzeichnen, da hier die informationstheoretische Formulierung von Interesse ist. 122
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›überraschendes‹ Ausschalten der normalen Sinnreferenz der Worte.« (Luhmann 1995: 199-202)
Zu diesem überraschenden Ausschalten der normalen Sinnreferenz verhilft nicht zuletzt die ornamentale Qualität von Wortkonstellationen: »Es mag sich dabei um den Wortklang handeln (oft erwähnte Beispiele: nevermore, vaste), aber auch um das Verhältnis von Kürzen und Längen, um Wiederholungen, Echos, Stereotypisierungen, Kontraste, Anagramme. Diese Ornamentalität, dieser klangliche Bezug auf andere Worte kann, so in Finnegans Wake, Text derart überwuchern, daß sinnverständliche Worte nur noch als Hinweis fungieren, daß es auf sie nicht ankommt. Rhythmen können so kompliziert werden, daß sie sich nicht im Lesen, sondern nur im Vorlesen erschließen lassen. Die Überzeugungsmittel bedienen sich also auch hier der Wahrnehmung, nicht des Denkens. Und hier, wie auch sonst, liegt die Funktion des Ornamentalen in einer anders nicht erreichbaren Steigerung von Redundanz und Varietät.« (Ebd.: 202)
Hier ist nun entscheidend, dass Luhmann die Medium/Form-Unterscheidung in eine informationstheoretische Lesart umformuliert: »Die Unterscheidung Medium/Form läßt sich auch an Hand der Unterscheidung Redundanz/Varietät erläutern. Die Elemente, deren lose Kopplung das Medium bildet, also zum Beispiel die Buchstaben einer Schrift oder die Worte eines Textes, müssen problemlos wiedererkennbar sein. Sie enthalten geringe Information, weil die Information, die das Kunstwerk auszeichnet, erst durch Formbildung gewonnen werden soll. Die Formbildung erst bewirkt Überraschung und garantiert Varietät, weil es dafür mehr als nur eine Möglichkeit gibt und weil das Kunstwerk, bei zögerndem Beobachten, dazu anregt, sich andere Möglichkeiten zu überlegen, also Formen versuchsweise zu variieren.« (Ebd.: 170)
Niklas Luhmann nimmt damit genau jenen theoretischen Strang auf, den Klaus Hoffmann zwar zunächst auch als einen Kandidaten für die Definition der Neuen Ornamentik erwähnt, aber sogleich für nicht geeignet einstuft, da er zu unspezifisch sei: »Die informations-theoretische Ästhetik sieht das Ornament-Thema aus dem Blickpunkt ›aller Epochen‹ und im Rahmen ihrer Methodik als numerische, strukturelle, mathematische Einheiten in den Begriffen Netz, Muster, Raster und Pattern.« (Ebd.: 160) Gerade dieser Blickpunkt auf alle Epochen macht diesen Ansatz für Luhmann so interessant, will er doch den Ornamentbegriff so tief legen, dass er als künstlerisches Formengenerierungsprogramm nicht nur für alle Epochen, sondern auch für alle Künste gleichermaßen gültig ist. Zudem war es auch die Informationsästhetik der 60er Jahre, die den norma123
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tiven Duktus der Gestaltpsychologie durch ein mathematisches Verfahren durchbrach. Wenn auch der Versuch einer numerischen Berechnung ästhetischer Gegenstände schließlich nicht überzeugen konnten, so führte doch die spezifische Herangehensweise, ästhetische Qualität als prozessbedingt zu denken, eine Fokussierung auf den künstlerischen Produktionsprozess bzw. auf den architektonischen Entwurfsprozess (vgl. Kiemle 1967). Auch Ernst Gombrich hatte in seiner großen Monographie Ornament und Kunst auf den informationstheoretischen Ansatz, der »psychologisch ergiebiger zu sein [scheint] als die früheren Bestrebungen der Gestalt-Schule« (Gombrich 1982: 21), hingewiesen. Dies liegt daran, dass die Informationstheorie danach fragt, wie Ordnung entsteht und nicht was Ordnung ist. Luhmann nimmt zwar die Unterscheidung von Redundanz und Varietät auf, geht aber im Rahmen einer Kritik an der klassischen Informationstheorie nicht mehr davon aus, Varietät und Redundanz für umgekehrt proportionale Größen zu halten, d.h. hohe Redundanz mit niedriger Varietät bzw. hohe Varietät mit geringer Redundanz zu koppeln, sondern geht davon aus, dass Formen erarbeitet werden können, die durch Zunahme der Redundanz eine höhere Varietät ermöglichen. Genau dies ist dann die Funktion des Ornamentalen in der Kunst. Sie erschöpft sich nicht in einer beliebigen Organisation von Raum und Zeit, sondern liegt in einer ganz besonderen Art und Weise der Organisation von Raum und Zeit, wodurch erst eine anders nicht erreichbare Steigerung von Redundanz und Varietät (Luhmann 1995: 202) im Objekt erreicht wird. Anders formuliert: Das Ornamentale hält das Kunstwerk so zusammen, dass Redundanzen gestrafft werden und mehr Varietät aufgenommen werden kann: »Wenn es gelingt, die Einheit von Raum und/oder die Einheit von Zeit dem Kunstwerk als Redundanzgarantie, als formale Selbigkeit aller Stellen zu Grunde zu legen, kann das Kunstwerk sehr viel mehr Varietät aufnehmen, ohne daß der Beobachter die Übersicht, die Möglichkeit des Fortgangs vom Einen zum Anderen verliert und das Kunstwerk deshalb als mißlungen betrachtet werden müßte. Dies kann mit optischen, akustischen und mit erzählerischen Mitteln erreicht werden, die sicherstellen, daß alles malbar, alles erzählbar wird, sofern nur Zeit und Raum den Übergängen den notwendigen Halt geben. Das deutlichste Beispiel ist erneut die Erfindung der Zentralperspektive, aber auch die mit Zeit parallelisierten Übergänge in den Erzählungen oder die Suggestion von Tonfolgen durch Melodie, Rhythmus, Auflösung von Dissonanzen, Verzögerungen in der Musik.« (Ebd.: 183/184)
Über die Redundanz/Varietät Unterscheidung gewinnt Luhmann die Möglichkeit, das Ornamentale in bzw. an seiner Funktion für die Produktion als auch für die Rezeption des Kunstwerkes zu definieren. Durch 124
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diese Funktionalisierung des Ornamentalen erweitert Luhmann enorm die Möglichkeiten von ornamentalen Mitteln. Das Ornamentale ist nicht mehr auf eine Gestaltform, auf einen Phänotyp festgelegt, sondern kann alle möglichen Ausprägungen annehmen, solange es die Funktion übernimmt, in das Kunstwerk Redundanzen einzubringen, die dazu genutzt werden, höhere Varietät zu erzeugen. So kann denn auch Luhmann bezüglich der Literatur Spannung bzw. Ironie als ein Ornament bezeichnen: »Thematisch löst die Anforderung, die Erzählung mit Spannung aufzuladen, die Figur der von außen einwirkenden Fortuna ab, die noch in der Frühmoderne ein altbewährtes Mittel war, Varietät im Rahmen von typmäßig festgelegten Redundanzen zu vergrößern. […] Spannung im Sinne von selbsterzeugter Ungewißheit zieht also Varietät, die früher extern zugerechnet werden mußte, in das Kunstwerk selbst hinein […] Wenn Spannung (wie ein Ornament) die Einheit des Kunstwerkes garantiert, kann das Charakteristische der Personen durch Individualität ersetzt werden, ohne daß Wiedererkennbarkeit verloren ginge. Das kombinatorische Niveau erlaubt mehr Varietät bei Erhaltung der für Information unentbehrlichen Redundanz. […] Eine Alternative könnte man in Anschluß an Georg Lukács diskutieren. Dann wäre Ironie der Nachfolgekandidat für Ornament: Ironie als durchgehaltene Tonart, in der das Auf und Ab der erzählten Ereignisse spielt. Spannung oder gegebenenfalls Ironie wären also innere Formen der Einheit des Romans, die kompatibel sind mit hoher Varietät der Erzählereignisse, ja diese geradezu fordern.« (Ebd.: 357-359)
Solche inneren Formen45 sind Luhmann zufolge das Produkt der Evolution des Kunstsystems. Parallel zur Marginalisierung des Ornamentalen als bloßer Verzierung entstehe ein funktionales Äquivalent im Inneren der Kunstwerke: »Indem das Ornament sich als Verzierung ins Äußerliche verliert, entsteht es im Inneren neu.« (Luhmann 1995: 196) Deshalb bezeichnet Luhmann die innere Form als eine »Art ›inneres Ornament‹«, auf welches auch hochentwickelte Kunst zurückgeführt werden könne, »wenn man nur darauf achtet, wie Unterscheidung mit Unterscheidung zusammenhängt« (ebd.: 367). Was wäre dann als ein inneres Ornament der Architektur zu bezeichnen?
45 Der Terminus der Inneren Form erinnert nicht zufällig an den der Inneren Führung, den Luhmann in seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Strukturbegriff in dem Buch Soziale Systeme benutzt hat: »In der Terminologie der Theorie autopoietischer Systeme übersetzt (die den Strukturbegriff allerdings anders verwendet), besagt dies, daß nur durch einschränkende Strukturierung ein System so viel ›innere Führung‹ gewinnt, daß es Selbstreproduktion ermöglichen kann.« (Luhmann 1987: 384) 125
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Atmosphäre Besetzte Raumstellen – darauf macht Niklas Luhmann nur am Rande der Kunst der Gesellschaft aufmerksam – sind charakterisiert durch das Entstehen von Atmosphäre. Den Begriff der Atmosphäre führt Luhmann ein, um zu verdeutlichen, dass Objekte nicht nur Raumstellen besetzen, sondern auch einschränken, wie das Umfeld dieser Objekte zu sehen ist oder welche Anschlüsse für soziales Verhalten möglich bzw. nahegelegt werden können: »Atmosphäre ist gewissermaßen ein Überschußeffekt der Stellendifferenz. Sie kann nicht in Stellenbeschreibungen aufgelöst, nicht auf sie zurückgerechnet werden, denn sie entstehen dadurch, daß jede Stellenbesetzung eine Umgebung schafft, die nicht das jeweilige Ding ist, aber auch nicht ohne es Umgebung sein könnte. Atmosphäre ist somit das Sichtbarwerden der Einheit der Differenz, die den Raum konstituiert; also auch die Sichtbarkeit der Unsichtbarkeit des Raumes als eines Mediums für Formbildungen.« (Ebd.: 181)
Auch Gernot Böhme geht in seiner Konzeption einer Ästhetik der Atmosphäre (vgl. Böhme 1995 und 1998a) davon aus, dass sie eine starke räumliche Priorität entwickelt: »Wo bisher die Zeit dominierte, rehabilitiert oder entdeckt sie [die Ästhetik der Atmosphäre] allererst Räumlichkeit. So, wenn der Abend oder die Nacht als räumliches Phänomen studiert werden oder Musik als Atmosphäre. Gegenüber telekommunikativer Ubiquität bringt sie daher Lokalität und leibliche Anwesenheit zur Geltung.« (Böhme 1998b: 114) Offensichtlich zeigt sich im Atmosphärischen nicht nur ein generelles künstlerisches, sondern auch ein spezielles architektonisches Konzept. So hebt Gernot Böhme weiter hervor, dass eine Ästhetik der Atmosphäre zum Studium der Beziehungen zwischen Umgebungsqualitäten und Befindlichkeiten (ebd.) wird und ihr Thema deshalb besonders Räume und Räumliches sind. Atmosphäre ist nach Böhme geradezu explizit der Gegenstand und das Ziel ästhetischen Tuns in der Architektur: »Die Ästhetik der Atmosphäre richtet die Aufmerksamkeit auf das, was in diesen Bereichen ästhetischer Arbeit immer schon geschah, obgleich eine am Ding orientierte Ontologie es verstellte: Was Gegenstand und Ziel ästhetischer Arbeit ist, ist buchstäblich das Nichts, das Zwischen, der Raum. Fassaden und Anblicke, das mag der Architekt mit dem Maler teilen, sein Eigentliches aber ist die Gestaltung des Raumes mit Enge und Weite, Richtung, Leichtigkeit und Schwere.« (Ebd.)
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Der Architekturtheoretiker Mark Wigley kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: Da atmosphärische Effekte sich gar nicht verhindern ließen, sei die Architektur von ihnen nicht nur durchdrungen, sondern durch Atmosphäre geradezu definiert (Wigley 1998: 27). Der Architekt komme gar nicht an dem Atmosphärischen vorbei – er kann sich ihm nicht entziehen. Gerade die Ablehnung jeglicher Atmosphäre erzeugt eine eigentümliche Atmosphäre. Anders als Wigley wird hier aus dieser Beobachtung nicht der Umkehrschluss gezogen, dass »jeder spezifische Vorsatz, Atmosphäre zu erzeugen […] nicht mehr atmosphärisch« (ebd.) sei, dass sich Atmosphäre nicht kontrollieren lasse. Ganz im Gegenteil: Wenn Atmosphäre durch eine Stellenbesetzung entsteht, dann hat die Art und Weise der Stellenbesetzung auch Einfluss auf die Art und Weise der so entstandenen Atmosphäre. In der Tat kann man sich der Atmosphäre »nicht auf direktem Wege nähern« (ebd.), wie es Wigley formuliert, doch über den Umweg der Stellenbesetzung. Die Atmosphäre eines Bauwerkes ist in diesem Sinne ebenso wenig handgreiflich wie die Spannung in einer Erzählung – und doch ist sie konstruierbar, nämlich durch die Erzählung selbst. Genauer: Spannung muss erst durch die Erzählung aufgebaut werden, bevor sie ihr die innere Form geben kann. Erst durch die Erzählung kann Spannung konstruiert werden, andererseits schränkt die so entstandene Spannung die weitere Erzählung ein. Wenn man auch nicht Atmosphäre an sich konstruieren kann, sondern nur über den Umweg von Stellenbesetzungen, so lässt sich doch der so gewonnene atmosphärische Effekt nutzen, indem er als eine Maßgabe dient für die nächste Stellenbesetzung. Oder anders formuliert: Die Art und Weise einer Stellenbesetzung orientiert sich nicht an der vorhergehenden Stellenbesetzung, sondern an der durch diese Stellenbesetzung mit entstandenen Atmosphäre. Es ist dann die Atmosphäre, die die Einheit des Bauwerks oder der Stadt sicherstellt. Wie Spannung als inneres Ornament einer Erzählung erst durch die Erzählereignisse konstruiert wird, so wird auch die Atmosphäre eines Bauwerkes erst durch die Stellenbesetzungen konstruiert. Und wie auch Spannung dann die weiteren Erzählereignisse einschränkt, so schränkt die einmal entstandene Atmosphäre die nachfolgenden Stellenbesetzungen ein. Wie der Rhythmus bei August Schmarsow, so kann auch die Atmosphäre die Funktion des Ornaments in der Architektur übernehmen und wie das Rhythmische bildet dann das Atmosphärische einerseits die Infrastruktur der Stadt-Baukunst und löst andererseits ihren »festen Bestand in ein transitorisches Erlebnis« (Schmarsow 1998: 94) auf.
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»Die Theorieanlage gleicht also eher einem Labyrinth als einer Schnellstraße zum frohen Ende.« (Luhmann 1987: 14)
»Und jetzt ist Ornamentalität wirklich das geworden, was es immer schon war: die sich selbst dirigierende Formenkombination, die Zeitlichkeit des Beobachtungsvollzugs, die in jedem erreichten Moment das sucht, was noch entscheidungsbedürftig ist.« (Luhmann 1995: 360)
Es ist die konstuktivistisch-operative Form der Luhmann’schen Systemtheorie, die den Ornamentbegriff von einem gestaltorientierten in einen prozessorientierten Begriff transformiert. Damit konnte das Künstlerische der architektonischen Form genauer als Ornamentalität gekennzeichnet werden. Zum Abschluß der Studie darf nicht versäumt werden, auch die Architektonik der Luhmann’schen Systemtheorie als ornamental zu kennzeichnen. Dafür werden die von Niklas Luhmann verwendeten architektonischen Metaphern aufgegriffen und an der ArchitektonikMetapher Immanuel Kants profiliert. Über das Hinzuziehen der Luhmann’schen Lehrgedicht-Metapher lässt sich schließlich das Labyrinthische der Theorie genauer als Ornamentalität begreifen.46 46 In diesem Zusammenhang ist auf die lesenswerte Veröffentlichung Philosophie und Systemtheorie. Zur Architektonik der Luhmann’schen Systemtheorie der Philosophin Riccarda Pfeiffer (vgl. Pfeiffer 1998) hinzuweisen. Wie bei Riccarda Pfeiffer wird auch hier die Frage nach der Architektonik der Systemtheorie Niklas Luhmanns in den erkenntnistheoretischen Grundlagen der Theorie verortet. Anders als die Philosophin, die die Metapher 131
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An zwei prominenten Stellen seines Buches Soziale Systeme verwendet Niklas Luhmann eine Reihe von architektonischen Metaphern: Im Untertitel bezeichnet er das Buch als »Grundriß« und im Vorwort kennzeichnet er seine Theorie als »selbsttragende Konstruktion« (Luhmann 1987: 11) und charakterisiert ihre »Theorieanlage« mit der Metapher des »Labyrinths« (ebd.: 14). Dies ist zunächst insofern überraschend, als dass der Angriff der Postmoderne auf die Ideen von Einheit, Ganzheit, Totalität, Harmonie, stabiler Ordnung und Präsenz der Erkenntnistheorie ihr Fundament entzog und folglich die architektonische Metaphorik, die genau für diese Werte stand, problematisch wurde. Dies ist umso erstaunlicher, als dass der von Wolfgang Welsch konstatierte Non-Fundamentalismus postmoderner Erkenntnistheorien auch für die Systemtheorie als Erkenntnistheorie zutrifft: »Wir haben keine festen Fundamente mehr. Nicht, dass wir sie verloren hätten. Sondern wir haben erkannt – und akzeptieren zunehmend –, dass alle vorgeblich ewigen und universalen Fundamente nur Justierungen sind, die zwar ihr Recht und ihre Tragfähigkeit, vor allem aber auch ihre Grenzen haben. Unterschiedliche Fundamente sind möglich, und Wechsel an der Tagesordnung. Das verändert die Auffassung und den Sinn jeglicher Rede von ›Fundament‹. Es geht nicht mehr um absolute Stabilität, sondern um relative Tragfähigkeit. Gerade schwankende, veränderliche, anpassungsfähige Fundamente können sich dabei als ›stabiler‹ erweisen, vermögen länger zu halten. [...] Unsere Begriffsarchitekturen und Lebensorientierungen müssen so schwebend und elastisch verfasst sein, wie die Wirklichkeit fließend und beweglich ist.« (Welsch 1993: 58/59)47
Peter Fuchs hält es entsprechend auch für notwendig, seinem Aufsatz Die Theorie der Systemtheorie – erkenntnistheoretisch einen grundsätzlichen zum Anlass nimmt, die erkenntnistheoretischen, d.h. philosophischen Grundlagen zu exemplifizieren, d.h. das Theoriegebäude v.a. inhaltlich aufzufüllen, sind die folgenden Überlegungen mit einem sehr viel strategischeren Unternehmen verbunden – nämlich die Luhmann’sche Metaphernreihe von der »selbsttragenden Konstruktion« über das »Labyrinthische« hin zum »Lehrgedicht« weiterzuführen und schließlich auf die Metapher des Ornamentalen hinzuweisen. 47 Je nachdem wie die Verfasstheit der Fundamente charakterisiert wird, folgt daraus ein entsprechendes Denken: Werden die Fundamente primär als schwach gekennzeichnet, so entwickelt sich daraus ein ›schwaches Denken‹ (Vattimo), betrachtet man ihre Haupteigenschaft als wechselnd, so resultiert daraus ein ›pragmatisches Denken‹ (Rorty), und erkennt man in den Fundamenten primär eine ästhetische Dimension, so führt dies zu einem ›ästhetischen Denken‹ (Welsch). 132
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Hinweis zur Problematik eines Schreibens über die Theorie voranzustellen: »Wenn es um die Frage der Bedingung der Möglichkeit von (soziologischer) Erkenntnis geht und wenn diese Frage gerichtet wird an die Systemtheorie der Bielefelder Provenienz, dann erhält man ein Antwortpaket, in das verschiedene Motive und Aspekte der Theorie hineinverschlungen sind, die untereinander keine hierarchischen (deduktiven oder induktiven) Beziehungen unterhalten, sondern eher heterarchisch verknotet sind und eine Gemengelage darstellen, in der Führungswechsel leitender Motive vorgesehen sind und in der sich von jedem gerade führenden Motiv aus Re-Arrangements des Erkenntnisproblems ergeben. Deswegen ist jeder (durch Textualität erzwungene) Bau von Sequenzen, in denen bestimmte Theoriemotive auf bestimmte folgen und anderen vorangehen, eigentümlich künstlich. In einer Metapher, die keinen Anspruch auf große Tragweite erhebt, könnte man vielleicht sagen, daß diese Theorie holographisch oder hologrammatisch abgebildet werden müßte, aber vorab nicht so abgebildet werden kann. Alle folgenden Überlegungen sollten unter dieser Kautele gelesen werden.« (Fuchs 2003: 205)
Vielleicht ist auch die Verwendung architektonischer Metaphern bei Luhmann in den Sozialen Systemen darauf zurückzuführen, dass erst Mitte der 80er Jahre, d.h. nach Abschluß der Sozialen Systeme, Luhmann mit einer intensiven Beschäftigung mit differenztheoretischen Theorien beginnt, die ihn und seine Theorie dann auch in die Nähe einer Theorie der Differenz eines Derrida führt48. Die häufig verwendete Netz-Metapher für die Luhmann’sche Theorie zeigt jedenfalls (neben ihrer Verbindung zur Informationstechnologie) auch eine Nähe zu der Metapher des ›webenden Architekten‹, die Derrida in seinem 1986 geschriebenen Aufsatz Am Nullpunkt der Verrücktheit – Jetzt die Architektur (vgl. Derrida 1994) verwendete. Andererseits ist aber auch v.a. von Seiten Dirk Baeckers ein Nebeneinanderstellen von architektonischer Metapher und Netzmetapher zu beobachten. So schreibt er bezüglich des ›Gebäudes des Konstruktivismus‹, der die erkenntnistheoretische Grundlage der Systemtheorie darstellt: »Es handelt sich allerdings um Schlusssteine in einem Gebäude, das allen Anforderungen an postmoderne Architektur genügt: Innen und Außen kann hier nur jeder Beobachter für sich unterscheiden, und wenn er sich bewegt, bewegt sich die Unterscheidung mit ihm. Von Multiperspektivität und Dezentralität zu 48 Die Systemtheorie bewegt sich zwischen Radikalem Konstruktivismus und Dekonstruktivismus. Eine interessante Aufgabe wäre es, die drei Gebäude des Konstruktivismus, des Dekonstruktivismus und der Systemtheorie nebeneinander zu stellen und zu vergleichen. 133
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reden verbietet sich nur deswegen, weil diese Begriffe noch eine Gesamtansicht suggerieren. Tatsächlich handelt es sich um ein Netzwerk, das selbst eines seiner Elemente ist, von denen jedes einzelne in heterarchischen Beziehungen zu allen anderen steht, die aller linearen und transitiven Logiken spotten. Die Zirkularität oder, mit Heinz von Foerster, der Verlust eines Freiheitsgrades, ist das ›Gesetz‹ der Relationierung dieser Elemente: es kann geschehen, was will, wenn nur jedes Ende zugleich ein Anfang ist. Notwendigkeit liegt nicht in dem, was geschieht, sondern zugleich restriktiver und permissiver nur darin, dass etwas geschieht.« (Baecker 1993b: 19)
Wolfgang Welsch sah in Kant den ersten philosophischen Dekonstruktivist der Moderne. Das spezifisch postmodern/dekonstruktiv gebrochene Verhältnis zur Vernunft macht Welsch bei Kant in Form einer Demütigung der Vernunft (Kant 1998: B 738) aus: Wie andere Theoretiker vor ihm, hatte Kant einen »Turm im Sinne […], der bis an den Himmel reichen sollte« (ebd.: B 735). Von diesem Turm hätte man einen entsprechenden privilegierten Blick auf die Welt. Aber Kant warnt vor der Baulust der menschlichen Vernunft, die »mehrmalen schon den Turm aufgeführt, hernach aber wieder abgetragen hat, um zu sehen, wie das Fundament desselben wohl beschaffen sein möchte« (Kant 1993: 2). Kant gibt sich entsprechend bescheidener und will nur noch ein »Wohnhause« errichten, »welches zu unseren Geschäften auf der Ebene der Erfahrung gerade geräumig und hoch genug« (Kant 1998: B 735) sei. Die Demütigung der Vernunft bei Kant liegt jedoch weniger in einem solchen Wechsel der Bautypologie vom Turm zum Wohnhaus vor, sondern vielmehr im Begriff der Architektonik selbst! Darauf hat Tassilo Eichberger in seinem 1999 erschienenen Buch Kants Architektur der Vernunft (vgl. Eichberger 1999) aufmerksam gemacht. Eichberger kann in seiner detaillierten Untersuchung nicht nur eindrücklich zeigen, »inwiefern die Metaphorik der Architektur und des Architekturentwurfes (respektive der Architekturzeichnung) methodenleitend und unverzichtbar für die Entfaltung der Kritischen Theorie ist« (ebd.: 23), sondern auch deutlich machen, dass Kant gerade mit dem Begriff der Architektonik die metaphysische Hypostase des im Systembegriff steckenden Weltbau-Begriffs vermeiden wollte. Dies wird jedoch erst erkennbar, wenn man genau beobachtet, dass und wie die exzessive Verwendung der Architekturmetaphorik bei Kant sich weniger auf das Produkt – die Theorie – als primär auf die Methode der Theorie bezieht. Dies macht Sinn, schließlich nennt Kant die Kritik der reinen Vernunft einen »Traktat von der Methode, nicht ein System der Wissenschaft selbst« (Kant 1998: B XXII). Anders formuliert: Der Begriff der Architektonik, des Architekturentwurfes soll nicht das System, sondern die Systemgenese qualifizieren. Es geht nicht um Architektur im Sinne eines fertigen Bauwerkes, sondern um den Entwurf 134
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von Architektur. Mit dem Begriff der Architektonik wollte also Kant vielmehr auf den Prozess des Entwerfens und dessen spezifische Charakteristika hinweisen. Diese lassen sich am besten herausarbeiten anhand der Architekturtraktate der Renaissance und v.a. anhand der perspektivischen Architekturentwürfe: »Der hier interessierende grundlegende Punkt ist dabei die Verbindung von Imagination einerseits und exakter wissenschaftlicher Methodik andererseits, die es ermöglichen soll, eine Antwort auf das Problem zu finden, welches man in einer Paraphrase Kants als die Frage formulieren könnte: >Wie ist Kunst und Architektur möglich